Entscheidungen der Verfassungsgerichte der Länder (LVerfGE). Band 14 Baden-Württemberg, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen: 1.1. bis 31.12.2003 9783110912678, 9783899492248


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Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs des Landes Baden-Württemberg
Nr. 1 24.3.2003 GR 3/01
Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin
Nr. 1 31.1.2003 VerfGH 34/00
Nr. 2 21.3.2003 VerfGH 6/01
Nr. 3 21.3.2003 VerfGH 175/01
Nr. 4 21.3.2003 VerfGH 112/02
Nr. 5 13.6.2003 VerfGH 161/00
Nr. 6 31.10.2003 VerfGH 125/02
Entscheidungen des Verfassungsgerichts des Landes Brandenburg
Nr. 1 20.2.2003 VfGBbg 112/02
Nr. 2 20.3.2003 VfGBbg 54/01
Nr. 3 20.3.2003 VfGBbg 108/02
Nr. 4 19.6.2003 VfGBbg 7/03 EA
Nr. 5 16.10.2003 VfGBbg 95/02
Nr. 6 16.10.2003 VfGBbg 4/03
Nr. 7 16.10.2003 VfGBbg 67/031
Nr. 8 18.12.2003 VfGBbg 101/03
Entscheidungen des Staatsgerichtshofs der Freien Hansestadt Bremen (in diesem Band keine Entscheidungsveröffentlichung)
Entscheidungen des Hamburgischen Verfassungsgerichts
Nr. 1 20.5.2003 HVerfG 9/02
Nr. 2 21.10.2003 HVerfG 10/02
Nr. 3 15.12.2003 HVerfG 4/03
Nr. 4 17.12.2003 HVerfG 1/03
Entscheidungen des Staatsgerichtshofs des Landes Hessen
Nr. 1 15.1.2003 P.St. 1648
Nr. 2 16.1.2003 P.St. 1585
Nr. 3 13.8.2003 P.St. 1857
Entscheidungen des Landesverfassungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern
Nr. 1 18.12.2003 LVerfG 13/02
Entscheidungen des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs (in diesem Band keine Entscheidungsveröffentlichung)
Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes
Nr. 1 2.4.2003 LV 6/02
Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes des Freistaates Sachsen
Nr. 1 10.7.2003 Vf. 43-II-00
Entscheidungen des Landesverfassungsgerichts Sachsen-Anhalt
Nr. 1 8.7.2003 LVG 4/01
Entscheidungen des Thüringer Verfassungsgerichtshofes
Nr. 1 4.4.2003 VerfGH 8/02
Nr. 2 14.7.2003 VerfGH 2/01
Sachregister
Gesetzesregister
Verzeichnis der Verfassungsgerichte der Länder
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Entscheidungen der Verfassungsgerichte der Länder (LVerfGE). Band 14 Baden-Württemberg, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen: 1.1. bis 31.12.2003
 9783110912678, 9783899492248

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Entscheidungen der Verfassungsgerichte der Länder Baden-Württemberg, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen

Entscheidungen der Verfassungsgerichte der Länder Baden-Württemberg, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen

Herausgegeben von den Mitgliedern der Gerichte

w G DE

RECHT

De Gruyter Recht · Berlin

Entscheidungen der Verfassungsgerichte der Länder Baden-Württemberg, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen LVerfGE 14. Band 1.1. bis 31.12. 2003

w G DE

RECHT

De Gruyter Recht · Berlin

Zitierweise Für die Zitierung dieser Sammlung wird die Abkürzung LVerfGE empfohlen, z. B. LVerfGE 1, 79 (= Band 1 Seite 79)

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Bibliografische Information Der Deutschen

Bibliothek.

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dclb.de abrufbar.

ISBN 3-89949-224-2 © Copyright 2005 by De Gruyter Rechtswissenschaften Verlags-GmbH, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspcicherung und \'erarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin

Vorwort

Der 14. Band der Entscheidungssammlung der Verfassungsgerichte der Länder enthält wieder eine Fülle interessanter Entscheidung aus dem Jahre 2003. Die Vielfalt der hier veröffentlichten Entscheidungen erweist sich erneut als ein aufschlussreicher Spiegel der bundesstaatlichen Ordnung Deutschlands, wie sie im Grundgesetz angelegt ist. Deutlich zeigen sich zum einen auch in diesem Band wieder die Besonderheiten der jeweiligen Bundesländer. Beispielhaft sind hier etwa die Entscheidungen des Verfassungsgerichts des Landes Brandenburg zur Gemeindegebietsreform oder des Hamburgischen Verfassungsgerichts zur Sperrwirkung einer Volksinitiative zu nennen. Zum anderen wird aber auch deutlich, wie sehr sich bei aller Unterschiedlichkeit der Bundesländer bestimmte verfassungsrechtliche Fragen annähernd gleich oder doch zumindest in einem ähnlichen Kontext stellen. Zu dieser Gruppe zählen beispielsweise die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin zur Haushaltsgesetzgebung oder die Entscheidungen des Landesverfassungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern und des Landesverfassungsgerichts Sachsen-Anhalt zur angemessenen Finanzausstattung der Kommunen sowie nicht zuletzt das Urteil des Verfassungsgerichtshofes des Freistaates Sachsen zum Sächsischen Polizeigesetz. Einen gewichtigen Raum nehmen auch wieder zahlreiche Entscheidungen zu Verfassungsbeschwerden bzw. Grundrechtsklagen ein, soweit das jeweilige Landesrecht diese Klagemöglichkeit zulässt. Ihnen einen angemessenen Platz im 14. Band zu gewähren und damit über den Stand der Rechtsprechung auf diesem Gebiet zu informieren, ist ein zwingendes Gebot. Hier wird der Bürger unmittelbar in seinen Freiheitsrechten betroffen. Umso mehr gilt es, mit der Veröffentlichung auch dieser Entscheidungen dessen Konflikt mit den Behörden seines demokratischen Staatswesens angemessen aufzuarbeiten. Die Entscheidungssammlung bildet so eine gemeinsame Plattform der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit. Sie hebt deren Bedeutung hervor und eröffnet die Möglichkeit zur juristischen Diskussion in Rechtsprechung und Schrifttum. Seit ihrem Beginn im Jahre 1996 hat diese Reihe sich als ein unverzichtbarer Bestandteil der verfassungsrechtlichen Literatur etabliert. Der Sammlung bleibt zu wünschen, dass sich ihr die 'fehlenden' Landesverfassungsgerichte bald anschlie-

VI

Vorwort

ßen mögen. Dem Verlag wie auch den beteiligten Verfassungsgerichten der Länder Baden-Württemberg, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, MecklenburgVorpommern, Niedersachsen, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Hessen gebühren für ihr wirkungsvolles Engagement schon jetzt Dank und Anerkennung.

Dr. Günter Patd Präsident des Staatsgerichtshofs des Landes Hessen

Inhalt Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs des Landes Baden-Württemberg Nr. 1

24.3.2003 GR 3/01

Wahlprüfungsbeschwerde

Seite 3

Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin Nr. 1

Nr. 2

Nr. 3

Nr. 4

Nr. 5

Nr. 6

Zur Strafbarkeit eines Ausländers wegen unberechtigten Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland während der Dauer eines verwaltungsgerichdichen Verfahrens; zur Auslegung von § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG (mit Sondervotum der Richterinnen Zünkler und Dr. Möcke)

19

Organstreit durch Fraktion; Prozessstandschaft für Abgeordnetenhaus; Parteifähigkeit nach Ende der Wahlperiode; Haushaltsrecht des Abgeordnetenhauses; Voraussetzungen für eine Kreditaufnahme durch das Land; kein Gesetzesvorbehalt bei Kreditaufnahme durch juristische Person des öffentlichen Rechts

35

Wahlen; Bewerber einer Bezirksliste einer Partei; Antrag auf Berufung in das Abgeordnetenhaus; Uberhangmandate; Ausgleichsmandate; Hare-Niemeyer; Verteilung der Mandate auf die Bezirkslisten einer Partei; verfassungskonforme Auslegung der Landeswahlordnung

63

21.3.2003 VerfGH 112/02

Genetischer Fingerabdruck; Recht auf informationelle Selbstbestimmung; Negativprognose trotz Strafrestaussetzung auf Bewährung

74

13.6.2003 VerfGH 161/00

Straßenreinigung; Entgelt; Grundstücksflächenmaßstab; Frontmetermaßstab; Reinigungsklassen; Anlieger; Hinterlieger; Eckgrundstück; Eckgrundstücksvergünstigung (mit Sondervotum des Vizepräsidenten Dr. Storost und der Richterinnen Bellinger und Zünkler)

86

Haushaltsgesetz; Verfassungswidrigkeit; erhöhte Kreditaufnahme; Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts; extreme Haushaltsnotlage

104

31.1.2003 VerfGH 34/00

21.3.2003 VerfGH 6/01

21.3.2003 VerfGH 175/01

31.10.2003 VerfGH 125/02

Inhalt

Λ ITT

Entscheidungen des Verfassungsgerichts des Landes Brandenburg Nr. 1

20.2.2003 VfGBbg 112/02

Ministerpräsidentenwahl: Antragsbefugnis und richtiger Antragsgegner im Organstreitverfahren im Falle der Zurückweisung eines Wahlvorschlags durch den Landtagspräsidenten

139

Nr. 2

20.3.2003 VfGBbg 54/01

Keine Gesetzgebungskompetenz des Landes Brandenbürg für Änderungen des brandenburgischen Kindertagesstättengesetzcs; zum Begriff der „Trägerschaft" lSd SGB VIII (mit Sondervotum der Richterin Prof. Dr. Harms-Ziegler und des Richters Dr. Knippel

146

Nr. 3

20.3.2003 VfGBbg 108/02

Zum Grundrecht auf ein zügiges Verfahren vor Gericht in einem Asylrechtsfall bei einer Verfahrensdauer von drei Jahren und fünf Monaten

169

Nr. 4

19.6.2003 VfGBbg 7/03 EA

Gemeindegebietsreform: Vorläufiger Schutz vor der Schaffung unumkehrbarer Verhältnisse; jedoch keine einstweilige Aussetzung des Inkrafttretens der eine Gemeinde auflösenden Gesetzesbestimmung

175

16.10.2003 VfGBbg 95/02

Beweisantrag der qualifizierten Minderheit im Untersuchungsausschuss: Maß der erforderlichen Konkretisierung bestimmt sich nach dem Untersuchungsauftrag

179

16.10.2003 VfGBbg 4/03

Zum Umfang der landesverfassungsgerichtlichen Uberprüfung des Ausschlusses eines Landtagsabgeordneten aus seiner Fraktion

189

16.10.2003 VfGBbg 67/031

Gemeindegebietsreform: Nichtigkeit der Auflösung einer Gemeinde bei Unterbleiben der Anhörung der Bevölkerung nach Art. 98 Abs. 2 Satz 3 Verfassung des Landes Brandenburg

199

Gemeindegebietsreform: Anhörung einer Gemeinde in dem ihre Eingemeindung betreffenden Gesetzgebungsverfahren; Eingemeindung in eine Regionalstadt zur Lösung der Stadt-Umland-Problematik

203

Nr. 5

Nr. 6

Nr. 7

Nr. 8

18.12.2003 VfGBbg 101/03

Entscheidungen des Staatsgerichtshofs der Freien Hansestadt Bremen (in diesem Band keine Entscheidungsveröffentlichung) Entscheidungen des Hamburgischen Verfassungsgerichts Nr. 1

20.5.2003 HVerfG 9/02

Parlamentarisches Fragerecht und Antwortpflicht

221

Nr. 2

21.10.2003 HVerfG 10/02

Keine Zulassung Online-Roulette durch SpielbankG

233

Inhalt

IX

Nr. 3

15.12.2003 HVerfG 4/03

Sperrwirkung einer Volksinitiative

246

Nr. 4

17.12.2003 HVerfG 1/03

Reichweite der Personalhoheit des Senats

254

Entscheidungen des Staatsgerichtshofs des Landes Hessen Nr. 1

15.1.2003 P.St. 1648

Grundrecht auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Ausgestaltung im Einzelnen)

275

Nr. 2

16.1.2003 P.St 1585

Grundrechtsklagefrist bei Einlegung außerordentlicher Rechtsbehelfe

280

Nr. 3

13.8.2003 P.St. 1857

Subsidiarität der Grundrechtsklage bei Nichtergreifen des Rechtsbehelfs des § 321a ZPO analog

287

Entscheidungen des Landesverfassungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern Nr. 1

18.12.2003 LVerfG 13/02

Kommunale Verfassungsbeschwerde; Anspruch der Gemeinden gegen das Land auf angemessene Finanzausstattung; Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers; Verteilungsmaßstab bei Infrastrukturinvestitionen; Maßstab in Gestalt der Einwohnerzahl ....

293

Entscheidungen des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs (in diesem Band keine EntscheidungsVeröffentlichung) Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes Nr. 1

2.4.2003 LV 6/02

Verfassungsbeschwerde gegen die Versagung eines anwaltlichen Beistandes in einem Untersuchungsausschussverfahren

311

Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes des Freistaates Sachsen Nr. 1

10.7.2003 Vf. 43-11-00

Verfassungsrechtliche Prüfung des Sächsischen Polizeigesetzes; Prüfungsmaßstab bei der abstrakten Normenkontrolle; Aufteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern; informationelle Selbstbestimmung; Freiheit der Person; freie Entfaltung der Persönlichkeit; Rechtsweggarantie; Bestimmtheitsgebot; prozeduraler Grundrechtsschutz; Verhältnismäßigkeitsprinzip; verfassungsimmanente Schranken

333

χ

Inhalt

Entscheidungen des Landesverfassungsgerichts Sachsen-Anhalt Nr. 1

8.7.2003 L V G 4/01

Zur Übertragung neuer Aufgaben vom Land auf die Kommunen und dem angemessenen Ausgleich bei der Aufgabenwahrnehmung

413

Entscheidungen des Thüringer Verfassungsgerichtshofes Nr. 1

Nr. 2

4.4.2003 Parlamentarisches Fragerecht und Antwortpflicht — VerfGH 8/02 Organstreitverfahren betreffend die Beantwortung einer mündlichen Anfrage eines Abgeordneten, die auf die Erkundung der Meinung der Thüringer Landesregierung zu Äußerungen ihres Ausländerbeauftragten gerichtet ist

437

14.7.2003 Pauschalierte Aufwandsentschädigung der LraktionsgeVerfGH 2/01 schäftsführer und Ausschussvorsitzenden im ThüringerLandtag - Abstrakte Normenkontrolle

458

Sachregister

481

Gesetzesregister

491

Verzeichnis der Verfassungsgerichte der Länder

501

Abkürzungsverzeichnis a.A. a.E. a.F. aaO abgedr. abl. ABl. Abs. abw. AH-Drs. AK-GG allg. Alt. Amtl. Begr. AmtsBl M-V AmtsO Änd. ÄndG Anh. Anm. AöR Art. AsylbLg AsylVfG Aufl. AuslG Az BAG BauGB BayObLGZ BayPAG BayVBl. BayVerfGH BayVerfGHE BavVfGHG BayVGH (N.F.)

BB BbgLPIG BbVerfG

andere Ansicht am Ende alte Fassung am angegebenen Ort abgedruckt ablehnend Amtsblatt Absatz abweichend Abgeordnetenhaus-Drucksache Alternativ-Kommentar zum Grundgesetz allgemein Alternative amtliche Begründung Amtsblatt Mecklenburg-Vorpommern Amtsordnung Änderung Änderungsgesetz Anhang Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Asylbewerberleistungsgesetz Asylverfahrensgesetz Auflage Ausländergesetz Aktenzeichen Bundesarbeitsgericht Baugesetzbuch Entscheidungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts in Zivilsachen Bayerisches Polizeigesetz Bayerische Verwaltungsblätter Bayerischer Verfassungsgerichtshof Entscheidungen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes Gesetz über den Bayerischen Verfassungsgerichtshof Entscheidungssammlung des Bayerischen \ 7 erwaltungsgerichtshofes mit Entscheidungen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs (neue Fassung) Der Betriebsberater Brandenburgisches Landesplanungsgesetz Verfassungsgericht des Landes Brandenburg

XII Bd., Bde. Bek. ber. Beschl. BezVG BFH BGB BGBl. BGH BGHSt BGHZ BGSG Bl. (d.A.) BRAGO BRAO BSHG BSR BT-Drs. Buchst. Bii-Drs. Buchst. BVerfG BVerfGF. BV erlGG BVerwG BVerwGE BWG BWVB1. BWVPr. bzw. CDL CVP d.h. ders. dies. DNA-IFG DJT DJ Ζ DOV DP Drs. dt. 13tZ D LT DVB1. DVP EA ebd. F.GGVG EGZPO

Abkürzungsverzeichnis Band, Bände Bekanntmachung berichtigt Beschluss Bezirksverwaltungsgesetz (Hamburg) Bundesfinanzhof Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen Bundesgrenzschutz Blatt (der Akten) Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte Bundesrechtsanwaltsordnung Bundessozialhilfegesetz Berliner Stadtreinigungsbetriebe Bundestagsdrucksache Buchstabe Bürgerschaftsdrucksache Buchstabe Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Gesetz über das Bundesverfassungsgericht Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Bundeswahlgesetz Baden-Württembergisches Verwaltungsblatt BadenAX urttembergische Verwaltungspraxis beziehungsweise Christlich-Demokratische Union Deutschlands Christliche Volkspartei das heißt derselbe dieselbe(n) DNA-Identitätsfeststellungsgesetz Deutscher Juristentag Deutsche Juristenzeitung Die Öffentliche Verwaltung Deutsche Partei Drucksache deutsch Deutsch-Deutsche Rechtszeitschrift Durchführungsübereinkommen Deutsches Verwaltungsblatt Deutsche Verwaltungspraxis Einstweilige Anordnung ebenda Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz Einführungsgesetz zur Zivilprozessordnung

Abkürzungsverzeichnis ESVGH

EuGRZ EUR f, ff FAG FDP/DVP Fn. FraktG GAL GBl. GE gem. GemO GeschOLandtag GeschOLT GG gg f GG-Kommentar GmbH GO G O LT GO-BT GO-SLT G OThürLandtag GR GVB1. (GVOB1.) GVG HbgVf HdB HessVerf (HV) H G 02/03 HGO HGrG HmbGVBl. HmbJVBl. HmbVerfG FlmbVWG IIRG Hrsg. HS. HStR HV HVerfGG ldF

XIII

EntscheidungsSammlung des Hessischen V G H und des V G H Baden-Württemberg (mit Entscheidungen der Staatsgerichtshöfe) Europäische Grundrechte-Zeitschrift EURO folgend, fortfolgende Finanzausgleichsgesetz (Baden-Württemberg, MecklenburgVorpommern) Freie Demokratische P a r t e i / D e m o k r a t i s c h e Volkspartei Fußnote Fraktionsgesetz (Brandenburg) Grün-Alternative Liste Gesetzblatt Das G r u n d e i g e n t u m gemäß Gemeindeordnung G e s c h ä f t s o r d n u n g des Landtags v o n B a d e n - W ü r t t e m b e r g G e s c h ä f t s o r d n u n g des Landtags Brandenburg Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland gegebenenfalls K o m m e n t a r z u m Grundgesetz f. d. Bundesrepublik Deutschland Gesellschaft mit beschränkter H a f t u n g Geschäftsordnung (auch: G e m e i n d e o r d n u n g für das Land Brandenburg) G e s c h ä f t s o r d n u n g des Landtags G e s c h ä f t s o r d n u n g des Deutschen Bundestages G e s c h ä f t s o r d n u n g des Sächsischen Landtages G eschäftsordnung z u m Thüringer Landtag Geschäftsregister des Staatsgerichtshofs B a d e n - W ü r t t e m b e r g Gesetz- und Verordnungsblatt Gerichtsverfassungsgesetz Verfassung der Freien und Hansestadt H a m b u r g Handbuch Verfassung des Landes Hessen Gesetz über d. Feststellung d. Haushaltsplans 2 0 0 2 / 2 0 0 3 (Berlin) Hessische G e m e i n d e o r d n u n g Haushaltsgrundsätzegesetz Hamburgisches Gesetz- u. Verordnungsblatt Hamburgisches Justizverwaltungsblatt Hamburgisches Verfassungsgericht Hamburgisches Gesetz über Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid Haushaltsrechtsgcsetz M e c k l e n b u r g - V o r p o m m e r n Herausgeber Halbs atz I s e n s e e / K i r c h h o f , H a n d b u c h des Staatsrechts Verfassung der Freien u n d Hansestadt Flamburg \ 7 erfassung des Landes Hessen Gesetz über das Hamburgische Verfassungsgericht in der Fassung

XIV IFG insbes. iSd iSv iVm JbSächsOVG JMB1 JR JW JWG JZ KABV KAG-LSA KG KiTaG KJ KP KStZ KV M-V LAG lfd. Lfg. LG lit. LKV LS LSA LSA-VerfGG LT-Drs. LTG LT-Prot. LV LVerfG LYerfG M-V LVerfGE LVerfGE Suppl. BbG. LVerfGG LVerfGG-LSA LVerf-LSA EVwG LWahlG LWahlO LWPrG MdA MDHS MdL MDR

Abkürzungsverzeichnis Investitionsförderungsgesetz Aufbau Ost insbesondere im Sinne des (der) im Sinne von in Verbindung mit Jahrbücher des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts Justizministerialblatt Juristische Rundschau Juristische Wochenschrift Jugendwohlfahrtsgesetz Juristenzeitung Kommunaler Abfallbeseitigungsverbund Kommunalabgabengesetz Sachsen-Anhalt Kammergericht Kindertagesstättengesetz (Brandenburg) Kritische Justiz Kommunistische Partei (Saar) Kommunale Steuer-Zeitschrift Kommunalverfassung Mecklenburg-Vorpommern Landesarbeitsgericht laufend Lieferung Landgericht litera Landes- und Kommunalverwaltung Leitsatz Sachsen-Anhalt Gesetz über das Landesverfassungsgericht (Sachsen-Anhalt) Landtagsdrucksache Gesetz über den Landtag des Saarlandes Landtagsprotokoll Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern/ auch: Baden-Württemberg Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern Entscheidungen der Verfassungsgerichte der Länder Supplementband Brandenburg zu: Entscheidungen der Verfassungsgerichte der Länder Gesetz über das Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern Gesetz über das Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt Landesverwaltungsgesetz (Schleswig-Holstein) Gesetz über die Landtagswahlen (Baden-Württemberg, Berlin) Landeswahlordnung (Berlin) Gesetz über die Prüfung der Landtagswahlen (Baden-Württemberg) Mitglied des Abgeordnetenhauses Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar Mitglied des Landtages Monatsschrift für Deutsches Recht

Abkürzungsverzeichnis Mio Mitt StGB MV mwN n.F. Nachw. NdsStGH NdsVBl. NF NJ NJW NJW-RR Nr(n). NStZ NStZ-RR NRWVerf NRWVerfGH NStZ NStZ-RR NVwZ NVwZ-RR NW NWVB1. NWVerfGII NZM OLG OVG OVGE OVG-LSA OWiG PAuswG PlenProt. PolG Prot. RDV Reg.Begr. Rn. RP Rspr. S. s. s.o. SaarlVerfGH SächsABl. SachsAnhVerfGH SächsDSG SächsGemO SächsGVBl. SächsPolG

XV

Millionen) Mitteilungen Städte- u. G e m e i n d e b u n d Brandenburg Mecklenburg-Vorpommern mit weiteren Nachweisen neue Fassung Nachweis(e) Nicdcrsächsischer Staatsgerichtshof Niedersächsische Verwaltungsblätter N e u e Folge N e u e Justiz N e u e Juristische Wochenschrift N e u e Juristische Wochcnschrift - Rechtsprechungsreport Nummer(n) N e u e Zeitschrift für Strafrecht N e u e Zeitschrift für Strafrecht — Rechtsprechungsreport Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen N e u e Zeitschrift für Strafrecht N e u e Zeitschrift für Strafrecht — Rechtsprechungsreport N e u e Zeitschrift für Verwaltungsrecht N e u e Zeitschrift für Verwaltungsrecht — Rechtsprechungsreport Nordrhein-Westfalen Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter \ r erfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen N e u e Zeitschrift für Miet- und W o h n u n g s r e c h t Oberlandesgericht Oberverwaltungsgericht Entscheidungen der Oberverwaltungsgerichte Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt Gesetz über Ordnungswidrigkeiten Personalausweisgesetz Plenarprotokoll Polizeigesetz Protokoll Recht der Datenverarbeitung Regierungsbegründung Randnummer Rheinland-Pfalz Rechtsprechung Seite siehe siehe oben Verfassungsgericht des Saarlandes Sächsischcs Amtsblatt Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt Sächsisches Datenschutzgesetz Sächsische G e m e i n d e o r d n u n g Sächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt Sächsisches Polizeigesetz

XVI SächsVBl SächsVerf SächsVerfGH SächsVerfGHG SGB SGG sog. SPD SpielbankG SpielO SPS StAnz. std. Rspr. StGB StGH StGHG StPO StraFO StrReinG StV StVO StVollzG SVerf ThürAbgG ThürDG ThürGOG ThürRKG ThürVBl. ThürVerf ThürVerfGH ThürYerfGHG u.a. UA UAG unveröffentl. Urt. V. Var. VB1BW Verf Verf RhlPf VerfBW VerfGBbg VerfGGBbg VerfGH NW VerfGHG VerfG MV VerfGGBbg

Abkürzungsverzeichnis Sächsische \ r erwaltungsblätter Verfassung des Freistaates Sachsen Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen Gesetz über den \ 7 erfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen Sozialgesetzbuch Sozialgerichtsgesetz sogenannt Sozialdemokratische Partei Deutschlands Gesetz über die Zulassung einer ö f f e n d i c h e n Spielbank (Hamburg) V e r o r d n u n g über die Spielordnung (Hamburg) Sozialdemokratische Partei Saar Staatsanzeiger Baden-Württemberg, Hessen ständige Rechtsprechung Strafgesetzbuch Staatsgerichtshof (Baden-Württemberg, Hessen) Gesetz über den Staatsgerichtshof (Baden-Württemberg, Hessen) Strafprozessordnung Strafverteidiger F o r u m Straßenreinigungsgesetz (Berlin) D e r Strafverteidiger Straßenverkehrsordnung Strafvollzugsgesetz Verfassung des Saarlandes Thüringer Abgeordnetengesetz Thüringer Disziplinargesetz Gesetz über die G e s c h ä f t s o r d n u n g des Thüringer Landtags Thüringer Reisekostengesetz Thüringer Verwaltungsblätter Verfassung des Freistaats Thüringen Thüringer Verfassungsgerichtshof Gesetz über den Thüringer Verfassungsgerichtshof unter anderem; und andere Urteilsausfertigung Gesetz über Einsetzung und Verfahren v o n Untersuchungsausschüssen des Landtags (Baden-Württemberg) unveröffentlicht Urteil v o m (von) Variante \ ? erwaltungsblätter (Baden-Württemberg) Verfassung Verfassung des Landes Rheinland-Pfalz \^erfassung des Landes B a d e n - W ü r t t e m b e r g Verfassungsgericht des Landes Brandenburg Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen Gesetz Nr. 645 über den Verfassungsgerichtshof des Saarlandes/ auch: Gesetz über den Verfassungsgerichtshof Berlin Landesverfassungsgericht M e c k l e n b u r g - V o r p o m m e r n Gesetz über das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg

Abkürzungsverzeichnis VerfGH VerfGHG VerfGH N W VerfNW VerfSachsAnh VersG VerwArch \ r fGBbg VG VGH vgl. vH. VOBl. Vorb. VvB WDStRL VwGO VwRR MO WRV z.B. ZAR ZG ZPO ZRP

Verfassungsgerichtshof (Bayern) Gesetz über den Verfassungsgerichtshof des Saarlandes \ 7 erfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt Versammlungsgesetz Verwaltungsarchiv Verfassungsgerichtshof des Landes Brandenburg Verwaltungsgericht \'erwaltungsgerichtsho f vergleiche vom Hundert Verordnungsblatt Vorbemerkung Verfassung von Berlin Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Verwaltungsgerichtsordnung \ r erwaltungsRechtsReport Mittelost Verfassung des Deutschen Reiches vom 11.8.1919 (Weimarer Reichsverfassung) zum Beispiel Zeitschrift für Ausländerrecht Zeitschrift f. Gesetzgebung Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik

XVII

Entscheidungen des Staatsgerichtshofes für das Land Baden-Württemberg

Die amtierenden Richterinnen und Richter des Staatsgerichtshofes für das Land Baden-Württemberg Eberhard Stilz, Präsident Hans Georgii, ständiger Stellvertreter Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang Jäger Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof Prof. Dr. K. Peter Mailänder Ute Prechtl Sybille Stamm Hans Strauß Prof. Dr. Joachim von Bargen

Stellvertretende Richterinnen und Richter Rita Grießhaber Michael Hund Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Eberhard Jüngel Dr. Siegfried Kasper Adelheid Kiesinger Dr. Franz-Christian Mattes Dr. Robert Maus Dr. Manfred Oechsle Prof. Dr. Alexander Roßnagel

3

Wahlprüfungsbeschwerde

Nr. 1 1. Auf die Wahlprüfungsbeschwerde hin hat der Staatsgerichtshof die angezweifelte Landtagswahl nicht in jeder Hinsicht, sondern nur hinsichtlich derjenigen Einwendungen zu überprüfen, die der Beschwerdeführer bereits mit seinem Einspruch beim Landtag zulässigerweise vorgebracht hatte und die er mit der Wahlprüfungsbeschwerde wiederholt (std. Rspr.). 2. Der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit wird durch die regionale Verteilung der Mandate auf die Regierungsbezirke gemäß § 2 Abs. 2 LWahlG nicht verletzt. Bezugsgröße für die Gleichheit des aktiven Wahlrechts ist die parteipolitische Zusammensetzung des Landtags. Der Regionalproporz ist landesverfassungsrechtlich nicht geboten. 3. Einer erneuten Überprüfung von § 2 Abs. 4 Sätze 1 und 2 LWahlG steht die Gesetzeskraft des Normenkontrollurteils des Staatsgerichtshofs vom 12.12.1990 entgegen. Die Gesetzeskraft nach § 23 Abs. 1 StGH tritt mit der Verkündung des Urteils ein; die Veröffentlichung im Gesetzblatt ist deklaratorisch. 4. Es bleibt offen, ob die Gesetzeskraft einer verfassungsgerichtlichen Normenkontrollentscheidung ihre Grenze findet, wenn sich die allgemeine Rechtsauffassung geändert hat und deshalb die maßgebende Verfassungsfrage nunmehr in anderem Licht erscheint. Bislang hat sich keine allgemeine Rechtsüberzeugung gebildet, dass dem verfassungsrechtlichen Gebot der Wahlrechtsgleichheit im System der Verhältniswahl optimal allein mit dem Zuteilungsverfahren nach Sainte-Lague/Schepers genügt werden könne. Bundesverfassungsgerichtsgesetz § 31 Abs. 2 Satz 3 Gesetz über die Landtagswahlen §§ 1 Abs. 1; 1 Abs. 2 Satz 1; 1 Abs. 3; 2 Abs. 1; 2 Abs. 2; 2 Abs. 3; 2 Abs. 3 Satz 2; 2 Abs. 4; 2 Abs. 4 Satz 1; 2 Abs. 4 Satz 2; 2 Abs. 4 Satz 3; 2 Abs. 5; 2 Abs. 7 Gesetz über die Prüfung der Landtagswahlen §§ 1 Abs. 1, Abs. 3 Gesetz über den Staatsgerichtshof §§ 23 Abs. 1, Abs. 1 Satz 1 Buchst, a, Abs. 1 Satz 2; 52 Abs. 1 Satz 1, Abs. 1 Satz 2 Buchst, b

LVerfGE 14

Staatsgerichtshof des Landes Baden-Württemberg

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Verfassung des Landes Baden-Württemberg Art. 26 Abs. 4; 28 Abs. 1; 68 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2, Abs. 4 Satz 2 U r t e i l v o m 24. M ä r z 2 0 0 3 - G R 3 / 0 1 in der Wahlprüfungsbeschwerde des Herrn Prof. Dr. H. Verfahrensbevollmächtigter: Rechtsanwalt Dr. S. beteiligt: 1. 2.

Landtag von Baden-Württemberg, vertreten durch seinen Präsidenten, Haus des Landtags, Konrad-Adenauer-Straße 3, 70173 Stuttgart Innenministerium Baden-Württemberg, Dorotheenstraße 6, 70173 Stuttgart

Verfahrensbevollmächtigte für Ziff. 2: Rechtsanwälte Prof. Dr. D. Entscheidungsformel: Die Wahlprüfungsbeschwerde wird zurückgewiesen. Das Verfahren ist kostenfrei. Auslagen werden nicht erstattet. Gründe: A. 1. Am 25.3.2001 wurde der 13. Landtag von Baden-Württemberg gewählt. Der Beschwerdeführer, ein Wahlberechtigter, legte Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl ein. Mit Beschluss vom 15.11.2001 wies der Landtag den Einspruch als unbegründet zurück und stellte fest, dass die Wahl, soweit angefochten, gültig ist. 2. Der Beschwerdeführer hat den Beschluss des Landtags am 17.12.2001, einem Montag, unter Beifügung von 492 Beitrittserklärungen anderer Wahlberechtigter beim Staatsgerichtshof angefochten. Er beantragt, den Beschluss des Landtags vom 15.11.2001 aufzuheben und die Landtagswahl vom 25.3.2001 für ungültig zu erklären, hilfsweise den Parteien SPD und FDP/DVP je ein zusätzliches Mandat zuzusprechen. Wie bereits mit seinem Einspruch macht er geltend: Die Regelungen in § 2 Abs. 2 und 4 des Landtagswahlgesetzes (LWahlG) seien mit dem Gebot der Wahlrechtsgleichheit unvereinbar. Sie führten nämlich zu einem unterschiedlichen Erfolgswert der Wählerstimme, je nachdem in welchem Regierungsbezirk und für welche Partei sie abgegeben werde. Das Landtagswahlgesetz lege durchgängig das LVerfGE 14

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Verteilungsverfahren nach d'Hondt zugrunde. Dessen Nachteil gegenüber anderen anerkannten Verfahren - etwa gegenüber dem Verteilungsverfahren nach Hare/Niemeyer — liege darin, dass Sitzbruchteile regelmäßig bei der größten Partei aufsummiert würden und zu einem ganzen Sitz führten. Die darin liegende Abweichung vom genauen Parteienproporz sei mathematisch unvermeidlich und daher rechtlich hinzunehmen, solange das Verteilungsverfahren nur einfach zur Anwendung gelange. Sie sei indes nicht mehr hinzunehmen, wenn das Verteilungsverfahren mehrfach nebeneinander zur Anwendung komme; denn damit werde der Vorteil der größten Partei vervielfacht und führe zu Abweichungen vom genauen Proporz um mehrere Sitze. Aus diesem Grunde sei schon § 2 Abs. 2 LWahlG mit dem Gebot der Wahlrechtsgleichheit unvereinbar: Durch die Verteilung der den Parteien zustehenden Sitze auf die vier Regierungsbezirke nach dem d'Hondtschen Verfahren werde zwar nicht der Parteienproporz, wohl aber der Regionalproporz gestört; der größte Bezirk (Stuttgart) werde bevorzugt. Erst recht erweise sich § 2 Abs. 4 LWahlG als verfassungswidrig, soweit Uberhangmandate hiernach nur im Regierungsbezirk und nicht landesweit ausgeglichen würden. Zum einen führe dies regelmäßig zu einer überproportionalen Repräsentanz der größeren Regierungsbezirke, weshalb der einzelnen Wählerstimme in diesem Bezirk ein gleichheitswidrig höherer Erfolgswert zukomme als einer in einem kleineren Bezirk abgegebenen Stimme. Indem aber das Ausgleichsverfahren bis zu viermal durchgeführt werde, führe dies - zum anderen und vor allem für die Partei mit Uberhangmandaten zu einer entsprechenden Vervielfältigung des „Vorteils des letzten Sitzes". Die darin als Kehrseite beschlossene Benachteiligung der kleineren Parteien verminderte sich auf das im Verfahren nach d'Hondt mathematisch unvermeidliche Maß, wenn die Uberhangmandate landesweit ausgeglichen würden. Auch diese Abweichung vom genauen Proporz würde noch vermieden, wenn statt des Verteilungsverfahrens nach d'Hondt dasjenige nach Hare/Niemeyer oder nach Sainte-Lague/Schepers gewählt würde. Der Zulässigkeit der Beschwerde stehe nicht entgegen, dass der Staatsgerichtshof im Normenkontrollurteil vom 12.12.1990 ( - GR 1/90 - , VB1BW 1991, 133) § 2 Abs. 4 S. 1 LWahlG bereits überprüft und gebilligt habe. Das Urteil sei nicht im Gesetzblatt veröffentlicht worden und könne schon deshalb keine Gesetzeskraft entfalten. Außerdem sei dem Staatsgerichtshof damals die dargestellte entscheidende Schwäche der Vorschrift verborgen geblieben. Das habe teilweise an fehlerhaften tatsächlichen und rechtlichen Annahmen und teilweise daran gelegen, dass seinerzeit nur die Ergebnisse der Landtagswahlen bis 1988 zur Uberprüfung gestanden hätten, bei denen durchweg nur wenige U'berhangmandate in nur einem oder zwei Regierungsbezirken angefallen seien. Infolge einer Veränderung der Parteienstruktur und des Wählerverhaltens habe aber die CDU als stärkste Partei erstmals bei der Landtagswahl von 1992 und dann erneut bei der Wahl von 1996 in allen vier Regierungsbezirken Uberhangmandate erzielt. Damit sei ihr der „Vorteil des letzten Sitzes" viermal zugefallen; beidesmal habe

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sie hierdurch 3 Mandate mehr erhalten als ihr nach dem genauen Parteienproporz zugestanden hätte (Fehlerquoten: +3,28 bzw. +3,18). Bei einem landesweit durchgeführten Mehrsitzausgleich hätte die CDU jeweils nur 1 Mandat zuviel erhalten (Fehlerquoten: +0,78 bzw. +0,64). Hieraufhabe zwischenzeitlich auch der Bayerische Verfassungsgerichtshof aufmerksam gemacht, der eine vergleichbare Rechtslage in Bayern in einem Urteil vom 24.4.1992 beanstandet habe. Schließlich habe seit der Wiedervereinigung 1990 die Binnenwanderung aus den östlichen Bundesländern wie auch innerhalb Baden-Württembergs sprunghaft zugenommen, was die landsmannschaftliche Verwurzelung der Bevölkerung in ihren jeweiligen Regionen weiter vermindert habe. Damit stelle sich die Frage neu, ob die Zwischenschaltung der Regierungsbezirke — die der Integration des Landes dienen solle — überhaupt noch länger zu rechtfertigen sei. So habe das Bundesverfassungsgericht die Notwendigkeit der Integration der Bevölkerung vormals zweier ganz unterschiedlicher Staaten zu von der Wahlrechtsgleichheit abweichenden Sonderregelungen 1990 nur für eine einzige Bundestagswahl akzeptiert, aber schon nicht für zwei Wahlen und schon gar nicht auf Dauer. Die Landtagswahl 2001 beruhe nach allem auf einer teilweise verfassungswidrigen Regelung. Die Beseitigung des Verfassungsverstoßes erfordere, den Parteien SPD und FDP/DVP jeweils einen weiteren Sitz zuzusprechen. Diese Korrektur sei zwingende Folge eines landesweiten Mehrsitzausgleichs, so dass die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers unberührt bleibe. 3. Der Staatsgerichtshof hat der Landesregierung und dem Landtag Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Der Landtag hat von einer Stellungnahme abgesehen. Für die Landesregierung hat sich das Innenministerium geäußert. Es beantragt, die Wahlprüfungsbeschwerde zurückzuweisen. Es hält sie für teilweise unzulässig, jedenfalls aber für unbegründet, und führt aus: Dass § 2 Abs. 2 LWahlG mit Art. 28 Abs. 1 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg (LVerf) vereinbar sei, habe der Staatsgerichtshof bereits festgestellt. Die Vorschrift genüge aber auch den Anforderungen des Gebots der Wahlrechtsgleichheit. Die Bevorzugung des Regierungsbezirks Stuttgart sei nicht so groß, wie der Beschwerdeführer behaupte, und lasse sich im Übrigen auf den dort üblicherweise höheren Anteil gültiger Stimmen sowie darauf zurückführen, dass dort die CDU nicht in demselben Maße dominiere wie in den anderen Regierungsbezirken. Die gleichwohl noch verbleibende Abweichung vom gleichen Erfolgswert der Stimmen sei durch die Entscheidung des Gesetzgebers, die Regierungsbezirke zu Zwecken der besseren Integration der verschiedenen Landesteile zwischenzuschalten, hinlänglich gerechtfertigt. Auch dies habe der Staatsgerichtshof bereits festgestellt, und der Landtag habe diese grundlegende Entscheidung in der 11., 12. und 13. Wahlperiode jeweils überprüft und an ihr festgehalten. LVerfGE 14

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Hinsichtlich § 2 Abs. 4 S. 1 LWahlG sei die Wahlprüfungsbeschwerde unzulässig. Der Staatsgerichtshof habe diese Vorschrift bereits im Normenkontrollurteil vom 12.12.1990 für gültig erklärt. Diesem Urteil komme Gesetzeskraft zu. Daran ändere nichts, dass die Entscheidungsformel nicht im Gesetzblatt verkündet worden sei; das sei lediglich deklaratorisch. Der Beschwerdeführer habe auch keine neuen Umstände vorgetragen, die den Weg zu einer erneuten verfassungsgerichtlichen Überprüfung frei machen könnten; vielmehr erhebe er lediglich Einwände gegen die Richtigkeit der seinerzeitigen Entscheidung. § 2 Abs. 4 S. 1 LWahlG halte aber auch einer erneuten Überprüfung stand. Anders als das bayerische sei das baden-württembergische Wahlrecht kein „verbessertes Verhältniswahlrecht", sondern verbinde gleichrangig Elemente der Verhältniswahl mit solchen der Persönlichkeitswahl. Es sei insofern dem Bundestagswahlrecht vergleichbar. Für dieses habe das Bundesverfassungsgericht jedoch festgestellt, dass Überhangmandate - als Ausfluss des Elements der Persönlichkeitswahl — überhaupt nicht ausgeglichen werden müssten, sofern die dadurch bedingte Abweichung vom Parteienproporz sich in Grenzen halte, also etwa nicht über 5 v.H. hinausgehe. Auch das Landtagswahlgesetz brauche daher von Verfassungs wegen überhaupt keinen Mehrsitzausgleich vorzusehen. Wenn der Landesgesetzgeber sich gleichwohl für einen solchen Ausgleich entscheide, so brauche dieser Ausgleich den mathematischen Parteienproporz nicht vollständig herzustellen. Schon deshalb sei § 2 Abs. 4 S. 1 LWahlG verfassungsgemäß. Hinzu komme: Die verbleibende Abweichung vom Parteienproporz sei darauf zurückzuführen, dass der Ausgleich von Überhangmandaten nicht landesweit, sondern auf der Ebene der Regierungsbezirke erfolge. Das aber sei Folge der Grundentscheidung des Gesetzgebers über die Zwischenschaltung der Bezirke, die als solche verfassungsgemäß sei. Damit müssten alle Alternativen zum geltenden Recht ausgeschieden werden, die dieser Grundentscheidung zuwider liefen, und damit auch die vom Beschwerdeführer favorisierten Modelle. Schließlich gelte auch diesen Modellen gegenüber unverändert die Feststellung des Staatsgerichtshofs im Urteil vom 12.12.1990, dass diese kein eindeutig besseres Zuteilungsverfahren darstellten als das geltende Recht. Hierzu müssten sie sich bei allen real in Betracht kommenden Fallgestaltungen und jeweils bei jeder Partei als überlegen erweisen; das lasse sich auch für die Landtagswahlen von 1992, 1996 und 2001 nicht feststellen. Zudem führten die Alternativmodelle jeweils zu höheren Mandatszahlen. Damit entfernten sie sich noch weiter von der Regelmandatszahl von 120 Abgeordnetensitzen. Es lasse sich auch nicht beanstanden, dass das Landtagswahlgesetz das Verteilungssystem nach d'Hondt zugrunde lege. Es sei richtig, dass dieses tendenziell die größeren Parteien bevorzuge, während die gängigen alternativen Systeme nach Hare/Niemeyer und nach Sainte-Lague/Schepers für die kleineren Parteien günstiger seien. Es sei verfassungsrechtlich jedoch nicht geboten, die tendenzielle Bevorzugung der größeren Parteien durch eine tendenzielle Bevorzugung der LVerfGE 14

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kleineren zu ersetzen, zumal das System nach d'Hondt zu stabileren Mehrheiten im Parlament beitrage. Im Übrigen sei nicht dargetan, dass die alternativen Systeme bei sämtlichen realen Wahlen für alle Parteien zu proporzgenaueren Ergebnissen führten. Selbst wenn sich einzelne Vorschriften des Landtagswahlgesetzes aufgrund einer veränderten Verfassungsinterpretation als verfassungswidrig erweisen sollten, so könnte doch keinesfalls das festgestellte Ergebnis der Landtagswahl vom 25.3.2001 korrigiert und einzelnen Parteien weitere Mandate zugesprochen werden. 4. Der Staatsgerichtshof hat das Innenministerium um Vergleichsberechnungen unter Zugrundelegung der Verteilungsmethoden nach d'Hondt, Hare/Niemeyer und Sainte-Lague/Schepers für die Landtagswahlen seit 1988 und für hypothetische Landtagswahlen auf der Grundlage der Zweitstimmenergebnisse bei den Bundestagswahlen seit 1990 gebeten. Das Innenministerium hat hierzu Berechnungen des Statistischen Landesamtes vorgelegt. B. Die Wahlprüfungsbeschwerde bleibt ohne Erfolg. I. 1. Die gestellten Anträge sind statthaft. Gegenstand der Wahlprüfungsbeschwerde kann der Antrag sein, den Beschluss des Landtags vom 15.11.2001 aufzuheben und die Landtagswahl vom 25.3.2001 ganz oder teilweise für ungültig zu erklären (vgl. § 1 Abs. 1 des Landeswahlprüfungsgesetzes — LWPrG). Das kann gegebenenfalls hilfsweise mit dem weiteren Begehren verbunden werden, den Parteien SPD und FDP/DVP je ein weiteres Mandat zuzusprechen. Ob ein Einspruch, der — wie im vorliegenden Falle — ausschließlich auf die Behauptung der Nichtigkeit von Vorschriften des Landtagswahlgesetzes gestützt wird, überhaupt dazu führen kann, das amtlich festgestellte Wahlergebnis durch die Zuerkennung bestimmter zusätzlicher Mandate zu korrigieren, betrifft eine Frage der Begründetheit (vgl. hierzu StGH, Urt. v. 25.6.1977 - GR 4/76 ESVGH 27, 189, 191 f), lässt aber die Statthaftigkeit eines dahingehenden Antrags unberührt. Seinen ursprünglichen Antrag, einzelne Vorschriften des Landtagswahlgesetzes für verfassungswidrig und nichtig zu erklären, hat der Beschwerdeführer demgegenüber mit Recht nicht aufrechterhalten. Das Wahlprüfungsverfahren ist kein Normenkontrollverfahren. Ein solcher Antrag wäre daher unstatthaft. Daran ändert nichts, dass der Staatsgerichtshof — anders als der Landtag gem. § 1 Abs. 3 LWPrG - an einer Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit und Rechtsgültigkeit des Wahlgesetzes im Verfahren der Wahlprüfungsbeschwerde nicht gehindert ist (StGH, Urt. v. 6.2.1961 - Nr. 5/60 ES\^GH 11/11 25, 29 f; std. Rspr.); denn dies meint nur die Prüfung der Rechtsgültigkeit des Gesetzes als Vorfrage. LVerfGE 14

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2. Die Wahlprüfungsbeschwerde ist auch im Übrigen zulässig. Der Beschwerdeführer ist als Wahlberechtigter antragsbefugt, nachdem er gegen die Gültigkeit der Landtagswahl vom 25.3.2001 rechtzeitig Einspruch eingelegt hatte und dieser Einspruch vom Landtag für unbegründet erklärt worden ist. Die Beschwerde wurde innerhalb eines Monats seit der Beschlussfassung des Landtags beim Staatsgerichtshof eingereicht (§ 52 Abs. 1 S. 1 StGHG). Ihr sind auch mehr als einhundert Wahlberechtigte beigetreten (§ 52 Abs. 1 S. 2 Buchst, b StGHG). 3. Auf die Wahlprüfungsbeschwerde hin hat der Staatsgerichtshof die angezweifelte Landtagswahl nicht in jeder Hinsicht, sondern nur hinsichtlich derjenigen Einwendungen zu überprüfen, die der Beschwerdeführer bereits mit seinem Einspruch beim Landtag zulässigerweise vorgebracht hatte und die er mit der Wahlprüfungsbeschwerde wiederholt (StGH, Urt. v. 1.7.1985 - GR 1/84 RSVGH 35, 244, 246). Mit seinem Einspruch und mit seiner Wahlprüfungsbeschwerde hat der Beschwerdeführer die Gültigkeit der Landtagswahl vom 25.3.2001 allein wegen der behaupteten Verfassungswidrigkeit der Bestimmungen in § 2 Abs. 2 LWahlG, soweit dort das d'Hondtsche Höchstzahlverfahren Anwendung findet, und in § 2 Abs. 4 S. 1 LWahlG, soweit der Ausgleich nicht landesweit durchgeführt wird und zugleich wiederum das d'Hondtsche Höchstzahlverfahren zur Anwendung kommt, in Frage gestellt. Die Uberprüfung ist mithin hierauf zu beschränken. II. Die Rüge, § 2 Abs. 2 LWahlG sei mit Art. 26 Abs. 4 LVerf unvereinbar, soweit dort das d'Hondtsche Höchstzahlverfahren Anwendung findet, ist unbegründet. 1. Die Verfassungsmäßigkeit von § 2 Abs. 2 LWahlG war bereits Gegenstand des Urteils des Staatsgerichtshofs v. 23.2.1990 - GR 2/88 - (ESVGH 40, 161, 170 ff). Der Staatsgerichtshof hat die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift bejaht. Diese Feststellung ist indes nicht in Gesetzeskraft erwachsen, da sie nur eine Vorfrage betraf und nur in einem Wahlprüfungsverfahren und somit nicht in einem der in Art. 68 Abs. 4 S. 2 L\^erf, § 23 Abs. 1 StGHG abschließend genannten Verfahren ergangen ist (std. Rspr., vgl. StGH, ebd., 163 mwN). Auch die Rechtskraft des Urteils v. 23.2.1990 hindert die erneute Prüfung nicht, schon weil das seinerzeitige Verfahren nicht den Beschwerdeführer und auch nicht die Landtagswahl v. 25.3.2001 betraf. 2. Gem. § 2 Abs. 1 LWahlG werden die im Regelfalle 120 Abgeordnetensitze des Landtags auf die zuteilungsberechtigten Parteien nach ihrem landesweiten Stimmenverhältnis unter Anwendung des d'Hondtschen Höchstzahlverfahrens verteilt (sog. Grund- oder Oberverteilung). § 2 Abs. 2 LWahlG ordnet an, dass die jeder Partei im Land zustehenden Sitze auf die vier Regierungsbezirke im VerhältLVerfGE 14

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nis der von ihr dort erreichten Stimmenzahlen verteilt werden, wobei wiederum das d'Hondtsche Höchstzahlverfahren zur Anwendung gelangt (sog. Unterverteilung). Die sich hieraus errechnenden Sitze der Parteien in den Regierungsbezirken werden sodann nach den Regeln des § 2 Abs. 3 LWahlG an die Bewerber der jeweiligen Partei im Regierungsbezirk ausgeteilt; Mehrsitze werden gem. § 2 Abs. 4 LWahlG im Regierungsbezirk ausgeglichen. § 2 Abs. 2 LWahlG stellt mithin einen Zwischenschritt dar: Die Vorschrift bereitet einerseits die Mandatszuteilung an bestimmte Bewerber, andererseits die Ermittlung von Uberhangmandaten und deren Ausgleich vor. Der Beschwerdeführer sieht den Fehler von § 2 Abs. 2 LWahlG darin, dass die Unterverteilung der Sitzkontingente der Parteien auf die Regierungsbezirke nach dem d'Hondtschen Höchstzahlverfahren erfolgt. Damit werde der größte Bezirk — der Regierungsbezirk Stuttgart — systematisch bevorzugt, und zwar zugleich für sämtliche zuteilungsberechtigten Parteien, bei der Landtagswahl vom 25.3.2001 also viermal, was den Fehler vervierfache. Bei Anwendung der Quotenmethode nach Hare/Niemeyer oder — noch besser — des Divisorverfahrens mit Standardrundung nach Sainte-Lague/Schepers werde der Fehler vermieden. 3. Die Rüge ist zulässig. Legte man der Unterverteilung der den Parteien jeweils zustehenden Sitze auf die Regierungsbezirke statt des d'Hondtschen Höchstzahlverfahrens etwa das Quotenverteilungsverfahren nach Hare/Niemeyer zugrunde, so wäre eines der 10 Mandate der FDP/DVP statt auf den Regierungsbezirk Stuttgart auf den Regierungsbezirk Tübingen entfallen (Berechnung des Statistischen Landesamtes vom 29.11.2002, Seite 2 gegenüber Seite 5). Damit ist das Wahlergebnis durch die Entscheidung des Gesetzes zugunsten des d'Hondtschen Höchstzahlverfahrens beeinflusst worden (ξ 1 Abs. 1 LWPrG). 4. Die Rüge ist jedoch nicht begründet. Der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit wird durch § 2 Abs. 2 LWahlG nicht verletzt. a) Mit Blick auf das aktive Wahlrecht gebietet der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit (Art. 26 Abs. 4 LVerf) im Rahmen der Verhältniswahl den gleichen Erfolgswert der Stimme. Jede abgegebene gültige Stimme muss grundsätzlich den genau gleichen Einfluss auf die parteipolitische Zusammensetzung des Landtags haben. Abweichungen von diesem streng und formal geltenden Grundsatz sind nur aus zwingenden Gründen zulässig (std. Rspr.; StGH, Urt. v. 1.7.1985 - GR 1/84 ESVGH, 35, 244, 247; Urt. v. 23.2.1990 - GR 2/88 - , ESVGH 40, 161, 164 f, 170, 175; Urt. v. 12.12.1990 - GR 1/90 - , VB1BW 1991, 133, 137; vgl. BVerfGE 82, 322, 337; 95, 335, 353 f; 95, 408, 417). § 2 Abs. 2 LWahlG bedingt jedoch keine Abweichung von diesem Grundsatz. Die Vorschrift lässt die Verteilung der Abgeordnetensitze auf die zuteilungsberechtigten Parteien, die sich nach § 2 Abs. 1 LWahlG ergibt, unverändert. Damit berührt sie auch nicht den Erfolgswert der für die einzelnen Parteien (bzw. deren Wahlkreisbewerber, vgl. § 1 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 und Abs. 3 LWahlG) abgeLVerfGE 14

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gebenen Stimme. Betroffen ist nicht der Parteienproporz, sondern der Regionalproporz. Die Gleichheit des aktiven Wahlrechts im System der Verhältniswahl könnte das nur berühren, wenn dessen Bezugsgröße nicht lediglich die parteipolitische Zusammensetzung des Landtags wäre, sondern auch die regionale. Das ist aber nicht der Fall. Ein Regionalproporz ist landesverfassungsrechtlich nicht geboten. Der Gesetzgeber ist vielmehr frei, eine regionale Mandatsverteilung vorzusehen oder davon Abstand zu nehmen. Auch wenn er sich hierfür entscheidet, muss er zwar das allgemeine Gebot der Systemgerechtigkeit beachten; jedoch wird damit das für den Parteienproporz geltende Gebot der strengen und formalen Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen nicht auf den Regionalproporz erstreckt. b) Der Beschwerdeführer sieht eine Beeinträchtigung der Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen denn auch vornehmlich im Zusammenwirken des § 2 Abs. 2 mit Abs. 4 S. 1 LWahlG. Demzufolge legt er Auswirkungen der Zwischenschaltung der Regierungsbezirke vor allem mit Blick auf die nur bezirksweise Ermittlung und Verteilung von Uberhang- und Ausgleichsmandaten dar. Dass Überhangmandate nur im jeweiligen Regierungsbezirk festgestellt und nur dort ausgeglichen werden, wird jedoch allein durch § 2 Abs. 4 S. 1 LWahlG angeordnet. Das lässt § 2 Abs. 2 LWahlG unberührt. Es hat zwar § 2 Abs. 2 LWahlG insofern zur Voraussetzung, als hiermit die Grundentscheidung getroffen ist, dass die Ebene der Regierungsbezirke überhaupt zwischengeschaltet wird. Diese Grundentscheidung schließt jedoch eine alternative Regelung zu § 2 Abs. 4 S. 1 LWahlG nicht aus, derzufolge Uberhangmandate landesweit festgestellt und ausgeglichen oder doch zwar bezirksweise festgestellt, gleichwohl aber landesweit ausgeglichen werden. Soweit der Einspruch des Beschwerdeführers auf die Uberhang- und Ausgleichsmandate zielt, hat er daher nur § 2 Abs. 4 LWahlG zum Gegenstand (dazu unten III.). c) Der Grundsatz der Gleichheit des aktiven Wahlrechts wird allein durch § 2 Abs. 2 LWahlG auch nicht mit Blick auf das Element der Persönlichkeitswahl berührt. Wie erwähnt, bereitet § 2 Abs. 2 LWahlG die Austeilung der den Parteien zustehenden Sitze an einzelne Bewerber dieser Parteien vor, indem diese Sitze für jede Partei auf die vier Regierungsbezirke aufgeteilt werden. Die vom Beschwerdeführer behauptete Bevorzugung des größten Bezirks kann daher allenfalls dazu führen, dass die einer Partei insgesamt zustehenden Sitze überproportional durch Bewerber aus dem größten Bezirk besetzt werden. Für das aktive Wahlrecht kann dies zur Folge haben, dass die Chance des einzelnen Wählers, mittelbar — im Rahmen der Zweitausteilung gem. § 2 Abs. 3 S. 2 LWahlG — auf die personelle Zusammensetzung der Fraktion „seiner" Partei Einfluss zu nehmen, in dem größten Regierungsbezirk im Durchschnitt größer ist als in den kleineren Regierungsbezirken. Freilich kann die behauptete Bevorzugung des größten Bezirks umgekehrt auch dazu führen, dass der stärksten Partei, weil ihr dort mehr LVerfGE 14

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Grundmandate zugeteilt werden, entsprechend weniger Überhangmandate verbleiben und den übrigen Parteien demzufolge auch weniger Ausgleichsmandate zuerkannt werden müssen. Dadurch würde die behauptete Bevorzugung des größten Bezirks zumindest teilweise wieder zurückgenommen. Das bedarf hier indes keiner Entscheidung. Diese Wirkung entfaltet v> 2 Abs. 2 LWahlG nämlich nicht allein, sondern nur zusammen mit den weiteren Vorschriften über die Zuteilung der Mandate an die einzelnen Bewerber, namentlich also mit § 2 Abs. 3, Abs. 4 S. 3, Abs. 5 und 7 LWahlG. Dort liegt sogar der Schwerpunkt der Regelung; erst diese Vorschriften ordnen nämlich an, dass die den Parteien in den Regierungsbezirken zustehenden Sitze auch allein mit Bewerbern aus diesen Regierungsbezirken besetzt werden können und dass eine — auch nur ersatzweise — Besetzung mit Bewerbern aus anderen Regierungsbezirken nicht in Betracht kommt. Diese weiteren Abschriften hat der Beschwerdeführer jedoch mit seinem Einspruch nicht angezweifelt. Ihm geht es um die Sitzverteilung an die Parteien, nicht um die Mandatszuteilung an einzelne Bewerber. III. In erster Linie zieht der Beschwerdeführer die Verfassungsmäßigkeit von ξ 2 Abs. 4 S. 1 und 2 LWahlG in Zweifel. Dieser Rüge nachzugehen, ist dem Staatsgerichtshof jedoch verwehrt. 1. Der Staatsgerichtshof hat mit Urteil vom 12.12.1990 - GR 1/90 - (VB1BW 1991, 133) § 2 Abs. 4 S. 1 und 2 LWahlG für verfassungsgemäß erklärt. Dieses Urteil ist in einem Verfahren der abstrakten Normenkontrolle nach Art. 68 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 LVerf ergangen. Der Ausspruch des Staatsgerichtshofs, dass § 2 Abs. 4 S. 1 LWahlG gültig sei, ist damit in Gesetzeskraft erwachsen (Art. 68 Abs. 4 S. 2 LVerf; § 23 Abs. 1 S. 1 Buchst, a StGHG). Daran ändert nichts, dass die vom Gesetz vorgesehene Veröffentlichung der Entscheidungsformel im Gesetzblatt (§ 23 Abs. 1 S. 2 StGHG) unterblieben ist. Die Entscheidungen des Staatsgerichtshofs werden mit ihrer - öffentlichen - Verkündung wirksam. Das gilt auch in Ansehung der Gesetzeskraft. Die spätere Veröffentlichung der Entscheidungsformel im Gesetzblatt ist lediglich deklaratorisch. Andernfalls erhielte das Organ, welches die Veröffentlichung verfügt, Einfluss auf den Eintritt der Urteilswirkungen; im Bund (§ 31 Abs. 2 S. 3 BVerfGG) wie in den meisten Ländern ist das der Justizminister und damit ein Organ der Exekutive. Das aber wäre mit dem Wesen der Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen Rechtsstaat unvereinbar (wie hier die ganz herrschende Ansicht; vgl. Rennert in: Umbach/Clemens, Mitarbeiterkommentar zum BVerfGG, 1991, §31 BVerfGG Rn. 110; Bethge in: Maunz/ Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, BVerfGG, Stand Juni 2001, § 31 BVerfGG Rn. 312 mwN; a.A. nur Pestalo^a Verfassungsprozessrecht, § 20 Rn. 99, und im Anschluss daran W. Meyer in: v. Münch/Kunig, GG-Kommentar, Bd. 3, 3. Aufl. 1996, Art. 94 GG Rn. 23).

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Die Gesetzeskraft hindert eine erneute Entscheidung des Staatsgerichtshofs. Gesetzeskraft einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung bedeutet, dass die Gültigkeit oder Nichtigkeit eines Gesetzes nicht nur im Verhältnis zwischen den Verfahrensbeteiligten, sondern verbindlich mit Wirkung für und gegen jedermann festgestellt wird. Niemand kann sich mehr auf die Gültigkeit eines für nichtig erklärten Gesetzes berufen, niemand mehr die Gültigkeit eines für verfassungsgemäß erklärten Gesetzes in Zweifel ziehen. Die Gesetzeskraft eines Urteils steht daher grundsätzlich einer erneuten Entscheidung über denselben Streitgegenstand als Prozesshindernis entgegen (StGH, Urt. v. 8.2.2000 - GR 1/98 ESVGH 51, 1, 2; vgl. BVerfGE 65, 179, 181; 86, 81, 86). Der Beschwerdeführer kann daher nicht mit seinem Vortrag gehört werden, der Staatsgerichtshof habe seinerzeit falsch entschieden, sei es weil er von einem unvollständigen oder unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen sei, sei es weil er seiner Prüfung angreifbare rechtliche Maßstäbe zugrunde gelegt habe. Wie die Rechtskraft, so will auch die Gesetzeskraft einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung gerade die spätere Diskussion darüber, ob die Entscheidung richtig sei, für künftige Rechtsstreitigkeiten ausschließen. Im Übrigen trifft der Vorwurf nicht zu, der Staatsgerichtshof habe in seiner Entscheidung vom 12.12.1990 wichtige Gesichtspunkte, namentlich die Auswirkungen des d'Hondtschen Höchstzahlverfahrens im Rahmen der Ausgleichsregelung sowie den vierfachen „Vorteil des letzten Sitzes" für die stärkste Partei unberücksichtigt gelassen. Die erwähnten Gesichtspunkte gehörten in dem damaligen \ r erfahren vielmehr zum Streitstoff. Gerade das Zusammenwirken zwischen dem nur bezirksweisen Ausgleich von Uberhangmandaten und dem d'Hondtschen Höchstzahlverfahren ist von den Antragstellern des seinerzeitigen Verfahrens schon im Vorfeld und dann im Verfahren selbst kritisiert worden (vgl. nur LTDrs. 10/2430, S. 11, 15). Es ist daher vom Staatsgerichtshof durchaus bedacht worden, auch wenn es in den Entscheidungsgründen nicht erörtert wird, sondern nur im Tatbestand der Entscheidung Erwähnung findet (StGH, Urt. v. 12.12.1990, VB1BW 1991, 133, rechte Spalte). 2. Allerdings ist auch die gesetzeskräftige gerichtliche Entscheidung wesensmäßig gerichtliche Entscheidung und als solche zeitgebunden. Deshalb hindert auch die Gesetzeskraft einer normbestätigenden Entscheidung die erneute Uberprüfung der Norm dann nicht, wenn zwischenzeitlich neue Umstände eingetreten sind, welche die Frage ihrer Verfassungsmäßigkeit neu aufwerfen (StGH, Urt. v. 10.5.1999 - GR 2/97 - , ESVGH 49, 241, 243; Urt. v. 8.2.2000, ESVGH 51, 1, 2; vgl. BVerfGE 33, 199, 203; 70, 242, 249 f). Derartige neue Umstände sind jedoch nicht festzustellen. a) Insofern beruft sich der Antragsteller zum einen auf ein angeblich geändertes Wählerverhalten. Das vermag die erneute Normprüfung nicht zu eröffnen. Eine rechtlich relevante Veränderung im Wählerverhalten ist nicht erkennbar. LVerfGE 14

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Hierzu zählt nicht die Feststellung, dass der Stimmenanteil der stärksten Partei der CDU - seit der Landtagswahl von 1988 abgenommen habe. Der Staatsgerichtshof hat die gesetzliche Ausgleichsregelung nicht allein unter der Prämisse überprüft, dass die CDU dicht unter 50 v.H. der abgegebenen gültigen und für die Mandatsverteilung erheblichen Stimmen erhalte. Vielmehr wurden die Auswirkungen der geltenden Ausgleichsregelung ausdrücklich auch für fiktive Wahlergebnisse mit einem deutlich schlechteren Abschneiden der CDU untersucht. Zum anderen sieht der Beschwerdeführer eine neue Sachlage hinsichtlich der Gründe, welche den Wahlgesetzgeber zur Zwischenschaltung der Regierungsbezirke bewogen hatten. Der Staatsgerichtshof hatte die Zwischenschaltung der Regierungsbezirke für gerechtfertigt angesehen, weil sie der Integration der Bevölkerung in den vormals drei Ländern Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern diene (StGH, Urt. v. 23.2.1990, ESVGH 40, 161, 171 ff; Urt. v. 12.12.1990, VB1BW 1991, 133, 138). Es ist mcht erkennbar, dass sich dieses Ziel in den seit 1990 vergangenen Jahren bereits erledigt hätte. Der Beschwerdeführer verweist insofern vor allem auf die infolge der Wiederherstellung der deutschen Einheit seit 1989/90 sprunghaft gestiegene Binnenmigration. Damit ist eine beachtliche Sachänderung nicht dargetan. Die angesprochene Binnenmigration betraf vornehmlich den Zuzug aus den neuen Ländern nach BadenWürttemberg, nicht jedoch eine vermehrte Wanderung innerhalb Baden-Württembergs. Sie hat an der kulturell-historischen Verwurzelung der angestammten Bevölkerung in den verschiedenen Landesteilen nichts verändert und daher als solche nicht zu einer Verwischung der bestehenden Besonderheiten beigetragen. Soweit der Beschwerdeführer darüber hinaus unter Berufung auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl (Urt. v. 29.9.1990 - 2 BvE 1/90 u.a. - , BVerfGE 82, 322) meint, der Staatsgerichtshof hätte mit Rücksicht auf den angenommenen Integrationsbedarf eine Abweichung von der strikten Erfolgswertgleichheit der Stimme im Wahlrecht nur für höchstens eine Wahlperiode zulassen dürfen, beruft er sich nicht auf eine veränderte Sachlage, sondern rügt in Wirklichkeit lediglich, der Staatsgerichtshof habe falsch entschieden. Damit kann er — wie gezeigt — nicht gehört werden. Im Übrigen liegen der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs und der genannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts unterschiedliche Sachverhalte zugrunde. b) Unterschiedlich beurteilt wird, ob die Gesetzeskraft einer verfassungsgerichtlichen Normenkontrollentscheidung eine Grenze findet, wenn sich die allgemeine Rechtsauffassung geändert hat und deshalb die maßgebende Verfassungsfrage nunmehr in anderem Licht erscheint. Einer Entscheidung bedarf dies hier nicht. Selbst wenn die zeitliche Reichweite der Gesetzeskraft auch insofern zu relativieren wäre, so lässt sich doch eine Änderung der allgemeinen Rechtsauffassung in den durch § 2 Abs. 4 S. 1 LWahlG aufgeworfenen Verfassungsfragen seit 1990 nicht feststellen. Das vom Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang LVerfGE 14

Wahlprüfungsbeschwerde

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angeführte Urteil des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs vom 24.4.1992 (— \rf. 5-V-92 VerfGH 45, 54) betraf das bayerische Landtagswahlrecht und damit einen anderen Gegenstand; dass es zu einer Veränderung der allgemeinen Rechtsüberzeugung — auch und namentlich über Bayern hinaus — geführt hätte, lässt sich nicht erkennen. Auch unabhängig hiervon fehlt es bislang an hinreichenden Anhaltspunkten für eine gewandelte Rechtsüberzeugung zu den durch § 2 Abs. 4 S. 1 LWahlG aufgeworfenen Verfassungsfragen. Das gilt auch für die Auswahl des mathematischen Zuteilungsverfahrens. Der Landesgesetzgeber hat sich zuletzt 1975 für das d'Hondtsche Höchstzahlverfahren entschieden. Die Frage, ob das verfassungsrechtliche Gebot der Wahlrechtsgleichheit erfordert, stattdessen das Quotenverfahren nach Hare/Niemeyer auszuwählen, wird seit geraumer Zeit diskutiert; hierzu hat sich seit 1990 kein wesentlich neuer Erkenntnisstand ergeben (vgl. BVerfGE 79, 169, 170 f sowie Schreiber Handbuch des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag, 7. Aufl. 2002, § 6 BWahlG, Rn. 6, 6a mwN). Auch das Verfahren nach Sainte-Lague/Schepers war 1990 seit langem bekannt. Allerdings ist es erst im Gefolge der Bundestagswahl 1998 wieder stärker in das Blickfeld der wahlrechtlichen Diskussion getreten; in der jüngsten Literatur wird hervorgehoben, dass es dem Gebot der Erfolgswertgleichheit der abgegebenen Stimmen optimal genüge (Pukelsheim in: Zeitschrift für Politik 47, 2000, 239, 247), und es wurde jüngst für die Ausschussbesetzungen im Deutschen Bundestag und für die Wahl der Bremischen Bürgerschaft (Gesetz v. 22.5.2001, BremGBl. S. 195) eingeführt (vgl. allg. Schreiber aaO, § 6 BWahlG, Rn. 6b mwN). Bislang lässt sich nicht absehen, ob diese Entwicklung zu der allgemeinen Rechtsüberzeugung führt, dass dem verfassungsrechtlichen Gebot der Wahlrechtsgleichheit im System der Verhältniswahl optimal allein mit diesem Zuteilungsverfahren genügt werden könne. Keinesfalls hatte sich eine dahingehende allgemeine Rechtsüberzeugung schon für die Landtagswahl 2001 gebildet, deren gesetzliche Grundlagen obendrein schon zuvor — bei Einleitung des vorbereitenden Verfahrens — feststehen mussten. IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 55 StGHG.

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Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin

Die amtierenden Richterinnen und Richter des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin Prof. Dr. Helge Sodan, Präsident Dr. Ulrich Storost, Vizepräsident Angelika Bellinger Dr. Klaus-Martin Groth Andreas Knuth Dr. Dietrich Mahlo Dr. Renate Möcke Prof. Dr. Albrecht Randelzhofer Martina Zünkler

Strafbarkeit unberechtigten Aufenthalts bei faktischer Duldung

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Nr. 1 § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG ist insoweit einschränkend auszulegen, als eine Straftat des Ausländers nach dieser Vorschrift entfällt, wenn dieser zwar weder im Besitz einer Aufenthaltsgenehmigung noch einer Duldung ist, die Ausländerbehörde aber im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens über einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO gegenüber dem Gericht die Zusicherung erteilt, die Abschiebung des Ausländers bis zu einer Entscheidung des Gerichts nicht zu vollziehen. Verfassung von Berlin Art. 15 Abs. 4 Satz 1 Gesetz über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern im Bundesgebiet § 92 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung § 80 Abs. 4, 5 B e s c h l u s s v o m 31. J a n u a r 2003 - V e r f G H 3 4 / 0 0 in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Herrn C. Verfahrensbevollmächtigte: Rechtsanwälte M., R. und W. gegen 1. 2.

den Beschluss des Kammergerichts vom 17. Januar 2000 — (3) 1 Ss 367/99 (109/99) das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 22. Juli 1999 - 239 Ds 415/98

Beteiligte gem. § 53 Abs. 1 VerfGHG: 1. 2.

Die Präsidentin des Kammergerichts Der Präsident des Amtsgerichts Entscheidungsformel:

Der Beschluss des Kammergerichts vom 17. Januar 2000 — (3) 1 Ss 367/99 (109/99) - sowie das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 22. Juli 1999 - 239 Ds 415/98 — verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 15 Abs. 4 S. 1 der Verfassung von Berlin, soweit sie eine Strafbarkeit des Beschwerdeführers gem. § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG für den Zeitraum 4. Januar 1996 bis 16.

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Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin

Juli 1997 feststellen. Sie werden insoweit aufgehoben. Die Sache wird in diesem Umfang an das Amtsgericht Tiergarten zurückverwiesen. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei. Das Land Berlin hat dem Beschwerdeführer 4/5 seiner notwendigen Auslagen zu erstatten. Gründe: I. Der 1970 geborene Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger. Im August 1994 heiratete er in der Türkei eine 1962 geborene deutsche Staatsangehörige und reiste im Oktober 1994 mit einem auf drei Monate befristeten Visum der Deutschen Botschaft in Ankara zum Zwecke der Familienzusammenführung nach Berlin ein. Die Berliner Ausländerbehörde sah nach Prüfung eine auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaft nicht für gegeben an. Durch Bescheid vom 9.8.1995, dem Beschwerdeführer zugestellt am 14.8.1995, verweigerte sie die beantragte Aufenthaltserlaubnis mit dieser Begründung und forderte den Beschwerdeführer unter Androhung der Abschiebung zur Ausreise innerhalb eines Monats nach Zustellung des Bescheides auf. Zugleich wies die Ausländerbehörde darauf hin, dass der Aufenthalt in der Bundesrepublik ohne Aufenthaltsgenehmigung nach § 92 Abs. 1 AuslG mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr und mit Geldstrafe bestraft werden könne, und zwar auch im Falle der Einlegung etwaiger Rechtsbehelfe gegen den Bescheid. Den vom Beschwerdeführer am 31.8.1995 erhobenen Widerspruch sowie seinen zugleich gestellten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gem. § 80 Abs. 4 VwGO wies die Senatsverwaltung für Inneres durch Widerspruchsbescheid vom 28.11.1995, dem Beschwerdeführer zugestellt am 30.11.1995, zurück. Der Beschwerdeführer erhob im Dezember 1995 gegen das Land Berlin Verpflichtungsklage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vor dem VG Berlin (VG 11 A 670.95) und beantragte anschließend am 4.1.1996 die Gewährung vorläufigen verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes (VG I I A 2.96). Das Landeseinwohneramt sicherte dem VG auf dessen Bitte mit Schreiben vom 4.1.1996 zu, dass es die Abschiebung des Beschwerdeführers bis zu einer Entscheidung des Gerichts über den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht vollziehen werde. Am 16.7.1997 nahm der Beschwerdeführer den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes und im September 1997 auch die Verpflichtungsklage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zurück. Nach erfolgter Scheidung heiratete der Beschwerdeführer im März 1998 eine andere deutsche Staatsangehörige und erhielt auf Antrag vom 18.3.1998 eine Auf-

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enthaltserlaubnis für die Dauer von drei Jahren. Seit dem Jahr 2001 ist er im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis. Am 22.7.1999 verurteilte das AG Tiergarten den Beschwerdeführer wegen unerlaubten Aufenthalts im Bundesgebiet gem. § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Er habe sich in der Zeit vom 15.9.1995 bis zum 18.3.1998 ohne Genehmigung und ohne Duldung in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten. Die schriftliche Zusicherung des Landeseinwohneramtes gegenüber dem VG, bis zu einer Entscheidung über den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO die Abschiebung des Beschwerdeführers nicht zu vollziehen, stehe der Illegalität des Aufenthalts nicht entgegen. Der Beschwerdeführer habe auch schuldhaft gehandelt, da er im Bescheid des Landeseinwohneramtes darauf hingewiesen worden sei, dass die Strafbarkeit eines nicht erlaubten Aufenthalts im Bundesgebiet nicht durch die Einlegung etwaiger Rechtsbehelfe beseitigt werde. Gegen das Urteil des AG Tiergarten legte der Beschwerdeführer Sprungrevision ein. Unter Berufung auf das Gebot effektiven Rechtsschutzes führte er aus: Sein Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland sei in der Zeit vom 15.9.1995 bis zum 30.11.1995 und vom 4.1.1996 bis zum 16.7.1997 nicht strafbar gewesen. Der erste Zeitraum sei die Phase des Widerspruchsverfahrens gewesen. Während dieser dulde die Berliner Ausländerbehörde den weiteren Aufenthalt stets, wenn der Widerspruch, wie hier, mit einem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung verbunden werde. Bei dem zweiten Zeitraum handele es sich um das vorläufige Rechtsschutzverfahren. Diesbezüglich habe die Ausländerbehörde dem VG zugesichert, den Beschwerdeführer bis zur Entscheidung über den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht abzuschieben. Eine Aussetzung der Abschiebung stelle entsprechend der Klarstellung des Gesetzgebers in § 55 Abs. 1 AuslG eine Duldung des Aufenthalts dar. Mit Schreiben vom 3.12.1999 beantragte die Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht (KG), das Urteil des AG Tiergarten im Strafausspruch aufzuheben und die Sache insoweit an eine andere Abteilung des AG zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen, die weitergehende Revision jedoch als offensichtlich unbegründet zu verwerfen. Unabhängig davon, wie die Ausländerbehörde in anderen Fällen zu verfahren pflege, habe sie dem Beschwerdeführer hier jedenfalls für die Dauer seines Widerspruchsverfahrens eine Duldung tatsächlich nicht erteilt. Auch ihre Stillhaltezusage gegenüber dem VG vom 4.1.1996 stelle rechtlich keine Duldung iSv § 55 AuslG dar. Sie habe sich an das Gericht, nicht an den Beschwerdeführer als Betroffenen gerichtet. Durch Beschluss vom 17.1.2000 verwarf das KG hinsichtlich des Schuldspruchs die Revision als offensichtlich unbegründet. Es schloss sich in seiner Begründung der Stellungnahme der Staatsanwaltschaft an. Hinsichtlich des Rechtsfolgenausspruchs hob es das Urteil des AG auf und verwies die Sache insoweit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Abteilung des AG zurück, LVerfGE 14

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weil das AG im Hinblick darauf, dass sich der Beschwerdeführer mit seiner Ansicht, das Schreiben des Landeseinwohneramtes an das VG vom 4.1.1996 komme einer Duldung gleich, auf einen - vermeidbaren - Verbotsirrtum berufen habe und das AG daher die Milderungsmöglichkeit des § 49 Abs. 1 StGB hätte prüfen müssen. Mit der am 27.3.2000 erhobenen Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen den vorgenannten Beschluss des KG und gegen das vorausgegangene Urteil des AG Tiergarten hinsichtlich des Strafausspruchs für die Zeiträume 15.9.1995 bis 30.11.1995 und 4.1.1996 bis 16.7.1997. Er rügt die Verletzung des verfassungsrechtlichen Anspruchs auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 15 Abs. 4 S. 1 VvB) sowie des Grundrechts der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 7 VvB) in Verbindung mit dem Rechts staatsprinzip. Es sei seitens des Bundesverfassungsgerichts auch für das Aufenthaltsrecht des Ausländers anerkannt, dass die \^ollziehung eines Verwaltungsaktes bis zu seiner Rechtsbeständigkeit unter dem verfassungsrechtlichen Vorbehalt einer Garantie umfassenden und wirksamen Rechtsschutzes stehe. Damit namentlich der verwaltungsgerichtliche Eilrechtsschutz Effektivität erlangen könne, sei vorher von Maßnahmen des Verwaltungszwanges und von strafrechtlicher Verfolgung abzusehen. Das KG und das AG Tiergarten hätten versäumt, sich mit dem Gebot, effektiven Rechtsschutz zu gewähren, auseinander zu setzen. Es hätte berücksichtigt werden müssen, dass die Ausländerbehörde im verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren klargestellt habe, dass der Aufenthalt des Beschwerdeführers unter Aussetzung der Abschiebung bis zum Abschluss des Eilverfahrens hingenommen werde. Der behördliche Vollstreckungsverzicht müsse auch strafrechtliche Bedeutung erlangen. Der Adressat des Verwaltungsakts dürfe durch die Strafbewehrung nicht zu einer Befolgung des mit dem Verwaltungsakt einhergehenden Verhaltensgebots gezwungen werden, wenn die Behörde von einem Vollzug abgesehen habe. Der Betroffene müsste ansonsten zur Vermeidung einer strafgerichtlichen Verurteilung der Anordnung der Behörde nachkommen, obgleich ihm von der Behörde konzediert worden sei, dazu jedenfalls vorübergehend nicht verpflichtet zu sein. Gleiches gelte für die Dauer des Widerspruchsverfahrens für den Fall, dass die Aussetzung der Vollziehung nach § 80 Abs. 4 VwGO beantragt worden sei. Insofern nimmt der Beschwerdeführer auf die von ihm in Kopie vorgelegte ausländerbehördliche Weisung A .IX. 1. (08944) Bezug und macht geltend, auch aus ihr ergebe sich, dass die Durchsetzung der Ausreiseverpflichtung bis zur Entscheidung über den Antrag nach § 80 Abs. 4 VwGO ausgesetzt bleibe. Stelle die Behörde in Anbetracht des Antrags gem. § 80 Abs. 4 VwGO den Vollzug zurück, suspendiere sie damit ihr vorheriges \^erlangen nach einer Befolgung des ausgesprochenen Gebots. Daher habe auch für den Zeitraum vom 15.9. bis zum 30.11.1995 eine Bestrafung wegen unerlaubten Aufenthalts im Bundesgebiet unterbleiben müssen. LVerfGE 14

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Der Beschwerdeführer werde durch die vorliegende Bestrafung, bezogen auf die aufgeführten beiden Zeiträume, auch in seiner verfassungsrechtlich geschützten allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 7 VvB in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verletzt. Setze die Ausländerbehörde die Vollziehung aus, dann sei der Betroffene, der ein im Rechtsstaat allein gesetzmäßiges Verhalten erwarten dürfe, in seinem Vertrauen darauf geschützt, dass nicht gleichwohl mit strafrechtlichen Mitteln auf eine Befolgung des angefochtenen Verwaltungsakts hingewirkt werde. Gem. § 53 Abs. 1 VerfGHG ist den Beteiligen Gelegenheit gegeben worden, sich zu der Verfassungsbeschwerde zu äußern. II. Die Verfassungsbeschwerde hat teilweise Erfolg. 1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Nach § 49 Abs. 1 VerfGHG kann jedermann mit der Behauptung, durch die öffentliche Gewalt des Landes Berlin in einem seiner in der Verfassung von Berlin enthaltenen Rechte verletzt zu sein, Verfassungsbeschwerde zum Verfassungsgerichtshof erheben. Soweit — wie hier - Gegenstand der Verfassungsbeschwerde auf Bundesrecht beruhende Entscheidungen Berliner Gerichte sind, besteht die Prüfungsbefugnis des Verfassungsgerichtshofs in den Grenzen der Art. 142, 31 GG hinsichtlich solcher Grundrechte aus der Verfassung von Berlin, die mit vom Grundgesetz verbürgten Grundrechten übereinstimmen (std. Rspr.; u.a. Beschl. v. 2.12.1993 - VerfGH 89/93 LVerfGE 1, 169, 179 ff; Beschl. v. 6.10.1998 VerfGH 32/98 - , NJW 1999, 47). Vor diesem Hintergrund kann der Beschwerdeführer die Verletzung des mit Art. 19 Abs. 4 GG inhaltsgleichen Art. 15 Abs. 4 VvB sowie die Verletzung des in Art. 7 VvB in Übereinstimmung mit Art. 2 Abs. 1 GG verbürgten Grundrechts der allgemeinen Handlungsfreiheit rügen. Zwar gehört zur öffentlichen Gewalt iSv Art. 19 Abs. 4 GG bzw. Art. 15 Abs. 4 VvB nach std. Rspr. nicht die rechtsprechende Gewalt (Beschl. v. 21.12.2001 - VerfGH 138/01 - mwN zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts). Dies ändert jedoch nichts daran, dass aus diesen Grundrechten die Pflicht der rechtsprechenden Gewalt folgt, effektiven Rechtsschutz gegenüber der Exekutive zu gewähren (Beschl. v. 21.2.2001 - VerfGH 71/01, 71 A/01 - ; zum Bundesrecht: BVerfGE 69, 220, 228 f). 2. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, soweit sie sich gegen die Strafbarkeit des Beschwerdeführers nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG während der Dauer des verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO im Zeitraum 4.1.1996 bis zum 16.7.1997 wendet. Insofern verletzen das Urteil des AG Tiergarten sowie der Beschluss des KG den Beschwerdeführer in seinem in Art. 15 Abs. 4 S. 1 VvB gewährleisteten Anspruch auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes. Der Strafausspruch im Hinblick auf den Verbleib des BeschwerdefühLVerfGE 14

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rers im Bundesgebiet während des behördlichen Aussetzungsverfahrens nach § 80 Abs. 4 VwGO im Zeitraum 15.9.1995 bis 30.11.1995 unterliegt hingegen keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Der Beschwerdeführer hat sich im Widerspruchsverfahren und im verwaltungsgerichtlichen Eil- und Klageverfahren gegen die ausländerbehördliche Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis sowie die Abschiebungsandrohung und damit gegen Akte der öffentlichen Gewalt gewandt. Derartige Akte der Exekutive dürfen richterlicher Nachprüfung nicht entzogen werden. Nach Art. 15 Abs. 4 S. 1 VvB steht demjenigen, der durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird, der Rechtsweg offen. Art. 15 Abs. 4 VvB beinhaltet nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern garantiert vielmehr auch die Effektivität des Rechtsschutzes. Das Verfahrensgrundrecht begründet einen substantiellen Anspruch des Einzelnen auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle, bevor vollendete Tatsachen eintreten, die den Rechtsschutz ins Leere laufen lassen (vgl. zum Bundesrecht: BVerfGE 35, 263, 274; 49, 329, 340 f; Drieham in: ders., Verfassung von Berlin, 2002, Art. 15 Rn. 22). Art. 15 Abs. 4 VvB prägt insbesondere den vorläufigen Rechtsschutz im fachgerichtlichen Verfahren. Die nach § 80 Abs. 1 VwGO für den Regelfall vorgeschriebene aufschiebende Wirkung von Widerspruch und verwaltungsgerichtlicher Klage ist eine adäquate Ausprägung der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantie und ein fundamentaler Grundsatz des öffentlich-rechtlichen Prozesses. Ohne die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Klage könnte der Verwaltungsgerichtsschutz im Hinblick auf die Dauer der Verfahren häufig hinfällig sein, weil bei sofortiger Vollziehung des Verwaltungsakts regelmäßig vollendete Tatsachen geschaffen werden. Das Λ^erfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO, das den von einem sofort vollziehbaren Verwaltungsakt Betroffenen davor bewahren soll, dass durch die Verwaltung nicht mehr korrigierbare Zustände geschaffen werden, ehe das Gericht über die Hauptsache entschieden hat, ist demgemäß ebenfalls eine adäquate Ausprägung des in der Verfassung garantierten Rechtsschutzes (vgl. zum Bundesrecht: BVerfGE 35, 263, 273 ff, 382, 401 f; BVerfG, Beschl. v. 4.6.1987 - 1 BvR 620/87 NJW 1987, 2219). Art. 15 Abs. 4 VvB verlangt daher, einen möglichst lückenlosen Schutz vor dem Eintritt auch endgültiger Folgen der sofortigen Vollziehung hoheitlicher Maßnahmen zu bieten (Beschl. v. 24.1.2002 - VerfGH 193 A/01 vgl. zum Bundesrecht: BVerfGE 94, 166, 216). AG und KG haben Bedeutung und Tragweite des in Art. 15 Abs. 4 VvB gewährleisteten effektiven vorläufigen verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes gegen den Bescheid des Landeseinwohneramtes vom 9.8.1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Senatsverwaltung für Inneres vom 28.11.1995 dadurch verkannt, dass sie eine Strafbarkeit nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG bejahten, weil der Beschwerdeführer während der Dauer des verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens in der Bundesrepublik verblieben und seiner Ausreiseverpflichtung nicht freiwillig nachgekommen war, obwohl die Ausländerbehörde auf den vorLVerfGE 14

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läufigen Rechtsschutzantrag nach § 80 Abs. 5 VwGO mit Schreiben vom 4.1.1996 auf die Vollziehung der Abschiebung für diesen Zeitraum verzichtet hatte. Bei den Strafvorschriften des Ausländerstrafrechts handelt es sich um sog. verwaltungsakzessorische Delikte, die an verwaltungsrechtliche Vorgaben anknüpfen. Die Bestrafung hängt von dem Fehlen von Genehmigungen bzw. dem Nichtbefolgen von Verwaltungsakten ab. Nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 StGB wird ein Ausländer bestraft, der sich entgegen § 3 Abs. 1 S. 1 AuslG ohne Aufenthaltsgenehmigung im Bundesgebiet aufhält und keine Duldung nach § 55 Abs. 1 AuslG besitzt. Ferner ist erforderlich, dass die Ausreisepflicht gem. § 42 Abs. 1 AuslG oder die Abschiebungsandrohung vollziehbar sowie eine eventuell gesetzte Ausreisefrist abgelaufen ist (Stoppa in: Huber, Handbuch des Ausländer- und Asylrechts, § 92 AuslG, Stand: Januar 1998, Rn. 7, 20). Diese Voraussetzungen lagen allerdings vor, da auch in den streitigen Zeiträumen 15.9.1995 bis 30.11.1995 sowie 4.1.1996 bis 16.7.1997 der Beschwerdeführer sich ohne Aufenthaltsgenehmigung im Bundesgebiet aufhielt und keine Duldung nach § 55 Abs. 1 AuslG besaß. Insbesondere kann weder in einer Nichtvollziehung der Abschiebung während des Widerspruchsverfahrens bei Stellung eines Antrags nach § 80 Abs. 4 VwGO noch in der konkret im Rahmen des verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens am 4.1.1996 erfolgten Zusicherung des Landeseinwohneramtes an das VG, die Abschiebung bis zur gerichtlichen Entscheidung nicht zu vollziehen, eine Duldungserteilung gesehen werden. Eine Duldung iSd § 55 Abs. 1 AuslG liegt nur vor, wenn die Ausländerbehörde in der nach § 66 Abs. 1 S. 1 AuslG ausdrücklich vorgesehenen Schriftform dem betroffenen Ausländer gegenüber einen entsprechenden begünstigenden Verwaltungsakt (vgl. BVerwGE 105, 232, 239) erlässt. Es widerspräche sowohl der Förmlichkeit als auch dem Zweck der Duldung, auch andere (ggf. stillschweigende) Erklärungen der Behörde über die Aussetzung der Abschiebung als Duldung zu bewerten (BVerwGE 105, 232, 236; Aurnhammer Spezielles Ausländerstrafrecht, 1996, S. 134 Fn. 58; Masuch in: Huber, Handbuch des Ausländer- und Asylrechts, § 55 AuslG, Stand: März 2001, Rn. 5). Die weiteren Voraussetzungen des § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG waren ebenfalls erfüllt: Sowohl die Ausreisepflicht nach § 42 Abs. 2 S. 2 AuslG iVm § 72 Abs. 1 AuslG als auch die Abschiebungsandrohung nach § 4 Abs. 1 AG VwGO waren vollziehbar mit der Folge, dass Widerspruch und Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung entfalten konnten. Die einmonatige Ausreisefrist war am 15.9.1995 abgelaufen. Da bei sofort vollziehbaren Verwaltungsakten das dem Betroffenen ansonsten infolge der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage nach § 80 Abs. 1 VwGO zugestandene Privileg, dem Verwaltungsakt noch nicht Folge leisten zu müssen, entfällt, hatte der Beschwerdeführer grundsätzlich das Bundesgebiet bis zum Ablauf der ihm gesetzten Ausreisefrist zu verlassen. Die Strafandrohung des § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG steht insoweit nicht im Widerspruch zum Verwaltungsprozessrecht (vgl. Aurnhammer aaO, S. 128).

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Es ist jedoch verfassungsrechtlich geboten, § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG dahingehend einschränkend aus2ulegen, dass eine Strafbarkeit des Ausländers nach dieser Vorschrift entfällt, wenn der Ausländer zwar weder im Besitz einer Aufenthaltsgenehmigung noch einer Duldung ist, die Ausländerbehörde aber im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens die Zusicherung gegenüber dem Gericht erteilt, die Abschiebung des Beschwerdeführers bis zu einer Entscheidung des Gerichts nicht zu vollziehen. Aus der Garantie effektiven Rechtsschutzes in Art. 15 Abs. 4 VvB folgt, dass der Rechtsschutz nicht durch Strafdrohungen unterlaufen werden darf. Der Betroffene muss zunächst Gelegenheit haben, einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO zu stellen, um durch eine gerichtliche Entscheidung noch vor Beginn der Vollziehung des Verwaltungsaktes deren Aussetzung erreichen zu können (Sauthojf NVwZ 1988, 697, 698; Aurnhammer aaO, S. 132; vgl. auch BVerwGE 16, 289, 294). Die Ausreisefrist gewährleistet im Hinblick auf die Garantie effektiven Rechtsschutzes, dass der Ausländer wirksamen Rechtsschutz erlangen kann, indem er für die Dauer der Ausreisefrist vor der Illegalität bewahrt wird {Odenthal NStZ 1991, 418, 419; Welte Praxishüfen Ausländerrecht, Gruppe I, Stand: Juni 2000, Rn. 10/9; BVerwG, Urt. v. 22.12.1997 - 1 C 14/96 - , InfAuslR 1998, 217, 218 f). Solange eine beantragte gerichtliche Entscheidung noch nicht ergangen ist, ist es wegen der einschneidenden Wirkung einer Abschiebung im Interesse effektiven Rechtsschutzes regelmäßig geboten, von der Vollstreckung abzusehen. Der Vollstreckungsschutz kraft Verfassungsrechts suspendiert zugleich den Einsatz strafrechtlicher Mittel. Es läge ein unhaltbarer Widerspruch darin, ein Verhalten strafrechtlich als Unrecht zu bewerten, das die Verfassung legitimiert [Aurnhammer ΆΆΟ, S. 132 f). Die in der Rechtsprechung zum Ausländerstrafrecht vertretene Auffassung, ein Ausländer sei ohne Rücksicht auf die Einlegung von Rechtsbehelfen gegen die ausländerbehördlichen Maßnahmen wegen unerlaubten Aufenthalts im Bundesgebiet zu verurteilen, wenn der Verwaltungsakt vollziehbar sei und die Einlegung von Rechtsbehelfen daher keine aufschiebende Wirkung habe (so z.B. OLG Frankfurt, Urt. v. 21.8.1987 - 1 Ss 488/86 - , StV 1988, 301, 302; KG, Beschl. v. 15.1.1998 - 4 Ss 113/97 StV 1999, 95, 96), ist im Hinblick auf die Garantie effektiven Rechtsschutzes jedenfalls insoweit verfassungsrechtlich bedenklich, als ohne Einschränkung eine Strafbarkeit im Hinblick auf den Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet während des gerichtlichen Eilverfahrens angenommen wird, selbst wenn der Ausländer innerhalb der ihm eingeräumten Ausreisefrist den Eilantrag stellt, eine gerichtliche Entscheidung jedoch nicht mehr innerhalb dieser Frist ergeht (vgl. auch Aurnhammer aaO, S. 132 f; Wolf StV 1988, 303; Rittstieg InfAuslR 1988, 17; Welte aaO, Rn. 10/8). Für den vorliegenden Fall ist allerdings zu beachten, dass der Beschwerdeführer bereits vor dem 4.1.1996 hinreichend Gelegenheit zur Stellung eines vorläufigen Rechtsschutzantrages hatte. Der Beschwerdeführer hätte in der ihm geLVerfGE 14

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währten einmonatigen Ausreisefrist, die mit der einmonatigen Widerspruchsfrist des ξ 70 Abs. 1 VwGO zusammenfiel, neben dem von ihm bei der Ausländerbehörde eingelegten Widerspruch und anstelle des Antrages nach § 80 Abs. 4 VwGO sogleich beim VG einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO stellen können. Der Beschwerdeführer war rechtlich nicht gehalten, zunächst im Rahmen des Widerspruchsverfahrens einen behördlichen Aussetzungsantrag gem. § 80 Abs. 4 VwGO zu stellen; ein derartiger vorheriger Aussetzungsantrag ist nur bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten erforderlich (§ 80 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 6 S. 1 VwGO). Dies bedeutet, dass — wie es die Garantie des effektiven Rechtsschutzes grundsätzlich erfordert (vgl. dazu Schenke in: Bonner Kommentar, Grundgesetz, Art. 19 Abs. 4, Stand: Dezember 1982, Rn. 124) - auch während des Widerspruchsverfahrens vorläufiger gerichtlicher Rechtsschutz sichergestellt ist. Es ist darum verfassungsrechtlich nicht geboten, den Straftatbestand des § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG für die Zeit eines etwa während des Verfahrens nach § 80 Abs. 4 VwGO behördlicherseits vorgenommenen Vollstreckungsverzichts auszuschließen, da der Ausländer zur Vermeidung strafrechtlicher Folgen die Möglichkeit besitzt, während der Ausreise- und Widerspruchsfrist sogleich im Wege eines Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO den verwaltungsgerichtlichen Rechtsweg zu beschreiten. Art. 15 Abs. 4 VvB steht damit der Annahme von AG und KG, der Beschwerdeführer habe sich im Zeitraum 15.9.1995 bis 30.11.1995 strafbar gemacht, nicht entgegen. Art. 15 Abs. 4 VvB garantiert nur den Rechtsweg zu den Gerichten, nicht hingegen die vorherige Uberprüfung behördlicher Maßnahmen im Rahmen eines vorgelagerten behördlichen Vorverfahrens. Das Verwaltungsverfahren entfaltet im Hinblick auf einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz nur insofern „Vorwirkung", als seine Ausgestaltung keine unzumutbare Schranke für den Zugang zum Gericht darstellen und die Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes nicht verkürzen darf (BVerfGE 61, 82, 109 f). Das Widerspruchsverfahren wird auch nicht etwa, wie der Beschwerdeführer meint, dadurch entwertet, dass der Widerspruchsführer zur Vermeidung einer strafrechtlichen Ahndung auf seine gerichtliche Rechts Schutzmöglichkeit verwiesen wird. Denn im Falle einer Eilentscheidung des Gerichts wird das Widerspruchsverfahren nicht obsolet. Vielmehr hat die Behörde selbständig weiter zu prüfen, ob sie an ihrer Maßnahme festhält. Da es mit der Gewährleistung des Art. 15 Abs. 4 VvB im Einklang steht, den fortdauernden Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet trotz eines etwaigen behördlichen Vollstreckungsverzichts während des behördlichen Aussetzungsverfahrens nicht von der strafrechtlichen Ahndung auszunehmen, kann es vorliegend auf sich beruhen, inwiefern die vom Beschwerdeführer im Verfassungsbeschwerdeverfahren vorgelegte ausländerbehördliche Weisung Α. IX. 1 (08944), die zudem die Daten 7.1.1997, 26.11.1998 und 9.2.2000 trägt, in Bezug auf das behördliche Verhalten während des Aussetzungsverfahrens nach § 80 Abs. 4 VwGO überhaupt aussagekräftig sein kann. Der vom Beschwerdeführer behauptete generelle vollumfängliche Vollstreckungsverzicht der Ausländer-

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behörde während der Dauer des Widerspruchsverfahrens für den Fall eines Aussetzungsantrags nach § 80 Abs. 4 VwGO lässt sich jedenfalls dem Wordaut dieser Weisung nicht entnehmen. Nach der Weisung ist vielmehr, sofern der Hauptsachbearbeiter dem Antrag nach dessen Prüfung nicht entspricht, zunächst die Ausreiseverpflichtung durchzusetzen, bevor die Akte zur abschließenden Wider spruchsbearbeitung an die Widerspruchsstelle gesandt wird. Die Behauptung des Beschwerdeführers, ihm gegenüber habe bis zur Zustellung des Widerspruchsbescheides am 30.11.1995 ein behördlicher Verzicht hinsichtlich der Vollziehung der Abschiebung vorgelegen, ist vor diesem Hintergrund nicht nachvollziehbar. Obwohl der Beschwerdeführer die Möglichkeit hatte, während der Ausreiseund Widerspruchsfrist unverzüglich die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes beim VG gem. § 80 Abs. 5 VwGO zu beantragen, ist dennoch sein fortdauernder Aufenthalt für die Dauer des verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens unter Berücksichtigung von Art. 15 Abs. 4 VvB nicht strafbewehrt. Allerdings lässt sich der vom Beschwerdeführer angeführten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (Beschl. v. 4.6.1987 - 1 BvR 620/87 - , NJW 1987, 2219) nicht entnehmen, dass von Verfassungs wegen ohne nähere Berücksichtigung der Umstände stets zu fordern ist, dass im Falle eines nicht offensichtlich unzulässigen oder rechtsmissbräuchlichen Antrages nach § 80 Abs. 5 VwGO die Behörde von Maßnahmen des Verwaltungszwanges abzusehen und damit korrespondierend eine strafrechtliche Ahndung des Betroffenen auszuscheiden hat. Wie dargelegt, muss grundsätzlich dem Ausländer im Hinblick auf die Garantie effektiven Rechtsschutzes allein die Gelegenheit gegeben werden, im Rahmen der ihm eingeräumten Ausreisefrist vor dem Beginn der Vollstreckung Eilrechtsschutz zu erlangen. Sichert jedoch die Behörde gegenüber dem Gericht auf dessen Bitte für die Dauer des gerichtlichen Eilverfahrens zu, den Verwaltungsakt nicht zu vollziehen, ergeben sich hieraus in verfassungsrechtlicher Hinsicht Folgen für die Auslegung der Strafvorschrift des § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG, auch wenn es der Ausländer unterlassen hat, bereits im Rahmen der nicht strafbewehrten Ausreisefrist den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO zu stellen. Unmaßgeblich ist in diesem Zusammenhang, dass es bei der Ausgestaltung des deutschen Verwaltungsprozessrechts und den verfassungsrechtlichen Garantien eines gehörigen Verfahrens keine prinzipielle Verkürzung des effektiven Rechtsschutzes darstellt, wenn ein Betroffener darauf verwiesen ist, seinen Rechtsschutz durch deutsche Gerichte vom Ausland her zu betreiben (Beschl. v. 28.6.2001 - VerfGH 79/00, 79 A/00; 21.2.2002 - VerfGH 71/01, 71 A/01 -). Denn jedenfalls befand sich der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Eilantragstellung noch im Bundesgebiet. Auch wenn der Betroffene den Antrag nicht zum frühestmöglichen Zeitpunkt stellt, ändert dies nichts daran, dass die Garantie der Gewährung effektiven Rechtsschutzes es gebietet, dass eine gerichtliche Entscheidung ergeht, bevor bis dahin noch nicht vollzogene Maßnahmen — hier in Gestalt der Abschiebung - doch noch zwangsweise durchgesetzt werden. Hätte das Landeseinwohneramt keine

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Zusicherung erteilt, wäre das Gericht daher zu einer umgehenden Entscheidung ggf. im Wege einer Zwischenentscheidung in Anwendung des § 80 Abs. 8 VwGO — verpflichtet gewesen. Damit erfolgte die auf die Bitte des VG erteilte Zusicherung nicht nur zu dem Zweck, dem VG ausreichend Zeit für eine Eilentscheidung zu belassen. Daneben hatte sie die Funktion, dem Beschwerdeführer für die Dauer des Eilverfahrens die Verfolgung seines Rechtsschutzes vom Bundesgebiet aus zu ermöglichen. Wird der Aufenthalt eines Ausländers bis zur Entscheidung über seinen Eilantrag nach § 80 Abs. 5 VwGO durch Zwangsmaßnahmen nicht beendet, um dem Ausländer im Interesse effektiven Rechtsschutzes die Möglichkeit zu geben, sich weiter im Bundesgebiet aufzuhalten, muss eine Strafbarkeit aber entfallen (vgl. Wolf SN 1988, 303; Welte aaO, Rn. 10/8; Rittstieg InfAuslR 1988, 17; Odenthal NStZ 1991, 418, 421). Wäre der Betroffene hingegen zur Vermeidung einer strafrechtlichen Ahndung gezwungen, der bestehenden Ausreisepflicht nachzukommen, würde dies den vom Gericht verfolgten und mit der Einholung der Zusicherung erreichten Zweck, den Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet bis zu einer Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren zu sichern, unterlaufen. Selbst wenn Art. 15 Abs. 4 VvB keine einschränkende Auslegung und Anwendung der Strafvorschrift des § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG gebieten würde, hätte die Verfassungsbeschwerde teilweise Erfolg. AG und KG bejahen, ohne nähere Begründung, ein tatbestandsmäßiges, rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten des Beschwerdeführers, ohne zudem zu erläutern, aus welchen Erwägungen heraus der Verbotsirrtum des Beschwerdeführers, der darin bestand, dass der Beschwerdeführer die Zusicherung des Landeseinwohneramtes vom 4.1.1996 als Duldung und damit seinen Verbleib im Bundesgebiet für die Dauer des verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens trotz des ausländerbehördlichen Bescheides vom 9.8.1995 als gerechtfertigt bewertete, vermeidbar gewesen sein soll. Es unterliegt jedenfalls im Hinblick auf das Grundrecht auf Gewährung vorläufigen effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes unter dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit normgerechten Verhaltens verfassungsrechtlichen Bedenken, eine Strafbarkeit des Beschwerdeführers zu bejahen, obwohl der Beschwerdeführer im Hinblick auf die Zusicherung vom 4.1.1996, ihn bis zur Entscheidung des VG im Eilverfahren nicht abzuschieben, in der Bundesrepublik verblieben ist. Da dem Beschwerdeführer im Rahmen des § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG vorgeworfen wird, trotz Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet verblieben und seiner Ausreisepflicht nach § 42 Abs. 1 AuslG nicht nachgekommen zu sein, liegt der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit auf dem Unterlassen der freiwilligen Ausreise. Bei Unterlassungsdelikten ist zu prüfen, ob die Strafbarkeit nicht unter dem Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit des Handelns ausgeschlossen ist, wobei es für den Fall, dass die Zumutbarkeit normgemäßen Handelns verneint wird, auf sich beruhen kann, ob die Unzumutbarkeit Tatbestand, Rechtswidrigkeit oder Schuld ausschließt (OLG Frankfurt, Urt. v. 21.8.1987 - 1 Ss 488/86 - , StV 1988, 301, 302;

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KG, Urt. v. 15.1.1998 - 4 1 Ss 113/97 StV 1999, 95, 96 sowie Beschl. v. 23.9.2001 - 3 Ss 198/01 - 80/01 - , NStZ-RR 2002, 220, 221; Unckner in: Schönke-Schröder, StGB, 26. Aufl. 2001, Vorbem. §§ 32 ff Rn. 125). Es konnte von dem Beschwerdeführer nach den konkreten Umständen nicht gefordert werden, Anstrengungen für ein normgemäßes Verhalten in Gestalt der freiwilligen Ausreise zu unternehmen. Unzumutbar ist eine Handlung, wenn sie eigene bill· genswerte Interessen in erheblichem Umfang beeinträchtigt und diese in einem angemessenen Verhältnis zum drohenden Erfolg stehen (Stree in: Schönke-Schröder aaO, Vorbem. §§ 13 ff Rn. 156). Wie dargelegt, erfolgte die Zusicherung auf Bitte des Gerichts zu dem Zweck, die weitere Anwesenheit des Beschwerdeführers in der Bundesrepublik zu sichern und auf diese Weise dem Gericht ausreichend Zeit für eine Entscheidung zu geben, die bei drohender Abschiebung im Hinblick auf Art. 15 Abs. 4 VvB anderenfalls umgehend zu treffen gewesen wäre. Hätte der Beschwerdeführer zur Vermeidung einer Straffälligkeit freiwillig ausreisen müssen, wäre der Zweck der Zusicherung verfehlt worden. Der Beschwerdeführer wäre gezwungen gewesen, sich der ihm durch die Zusicherung eingeräumten Möglichkeit, das verwaltungsgerichtliche Verfahren vom Bundesgebiet aus zu betreiben, wieder zu begeben. Art. 15 Abs. 4 VvB gebietet jedoch, dass der Beschwerdeführer durch die — zumal gerichtlich veranlasste — Zusicherung im Hinblick auf seine Rechtsverteidigung nicht schlechter gestellt wird, als wenn das Gericht sofort entschieden hätte. Deswegen durfte eine freiwillige Ausreise zur Vermeidung strafrechtlicher Sanktionen nicht als zumutbar angesehen werden. Diese Grundsätze gelten, wie der Beschwerdeführer nicht verkennt, allerdings nur, wenn und solange der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO und seine Aufrechterhaltung nicht offensichtlich unzulässig oder rechtsmissbräuchlich ist (BVerfG, NJW 1987, 2219). Unter diesem Gesichtspunkt haben die Strafgerichte in den angegriffenen Entscheidungen den Sachverhalt jedoch nicht gewürdigt. Da die Verfassungsbeschwerde, soweit sie den Zeitraum des verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens betrifft, mithin schon in Bezug auf die Rüge der Verletzung des Art. 15 Abs. 4 VvB Erfolg hat, bedarf es keiner Prüfung, ob insofern auch eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 7 VvB iVm dem Rechtsstaatsprinzip in Betracht kommt. Der Gesichtspunkt Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens lässt hinsichtlich des Verbleibs des Beschwerdeführers im Bundesgebiet während der Dauer des behördlichen Aussetzungsverfahrens im Zeitraum 15.9.1995 bis 30.11.1995 die Strafbarkeit nach § 92 Abs. 1 S. 1 AuslG hingegen nicht entfallen. Davon abgesehen, dass Art. 15 Abs. 4 VvB wegen der Möglichkeit sofortigen vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutzes nicht die Annahme einer Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens erfordert, fehlt es auch an einem von der Ausländerbehörde nach außen zur Kenntnis des Beschwerdeführers gebrachten Willen, die Abschiebung in diesem Zeitraum auszusetzen. Der Beschwerdeführer selbst hat nicht beLVerfGE 14

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hauptet, die Ausländerbehörde habe ihm gegenüber geäußert, ihn zunächst nicht abzuschieben. Wie dargelegt, lässt sich darüber hinaus aus der vom Beschwerdeführer herangezogenen ausländerbehördlichen Weisung gerade nicht der Schluss ziehen, dass Abschiebungen im Falle eines Aussetzungsantrages generell für den Zeitraum des Widerspruchsverfahrens ausgesetzt würden. Es sind deswegen auch keine Anhaltspunkte ersichtlich, dass der Beschwerdeführer trotz des Hinweises im Bescheid vom 9.8.1995, sich auch im Falle der Einlegung von Rechtsbehelfen strafbar zu machen, eine Aussetzung der Vollziehung der Abschiebung für die Dauer des Widerspruchsverfahrens überhaupt vermutet und sich aus diesem Grund für einen Verbleib im Bundesgebiet entschlossen hat. Aus denselben Erwägungen kann sich der Beschwerdeführer nicht darauf berufen, er sei in seinem Grundrecht aus Art. 7 VvB iVm dem Rechtsstaatsprinzip verletzt worden. Das Verhalten der Ausländerbehörde während des Aussetzungsverfahrens nach § 80 Abs. 4 VwGO gab dem Beschwerdeführer keinen Anlass, darauf zu vertrauen, bei einem Verbleib im Bundesgebiet nicht strafrechtlich belangt zu werden. Nach § 54 Abs. 3 VerfGHG sind die Entscheidungen des AG und des KG insoweit aufzuheben, als sie eine Strafbarkeit des Beschwerdeführers gem. § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG im Zeitraum 4.1.1996 bis 16.7.1997 feststellen. Die Sache ist in diesem Umfang in entsprechender Anwendung des § 95 Abs. 2 HS 2 BVerfGG an das AG Tiergarten zurückzuverweisen. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 33, 34 VerfGHG. Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

Sondervotum der Richterinnen Zünkler und Dr. Möcke Die Entscheidung wird von uns im Ergebnis nur teilweise mitgetragen. Wir folgen der Entscheidung insoweit, als sie den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 15 Abs. 4 S. 1 der Verfassung von Berlin (VvB) als verletzt ansieht, soweit der Beschluss des KG vom 17.1.2002 und das Urteil des AG Tiergarten vom 22.7.1999 eine Strafbarkeit des Beschwerdeführers für den Zeitraum vom 4.1.1996 bis 16.7.1997 feststellen. Wir sind der Auffassung, dass darüber hinaus eine Verletzung aus Art. 7 VvB vorliegt, soweit die Strafgerichte festgestellt haben, dass der Beschwerdeführer sich auch im Zeitraum vom 15.9.1995 bis 30.11.1995 strafbar gemacht haben soll. Schutzgut des Art. 7 VvB ist eine allgemeine Handlungsfreiheit im umfassenden Sinne. Das schließt jede Form des menschlichen Handelns sowie die Freiheit ein, etwas zu unterlassen. Von Art. 7 VvB erfasst ist auch der im Rechtsstaatsprinzip begründete Grundsatz „nulla poena sine culpa". Danach ist die strafrechtliche oder strafrechtsähnliche Ahndung einer Tat ohne Schuld des Täters LVerfGE 14

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rechtswidrig und verletzt den Betroffenen in seinem Grundrecht aus Art. 7 VvB (Beschl. v. 19.1.2000 - VerfGH 34/99, NStZ-RR 2000, 143 ff). Eine Strafe ist dadurch gekennzeichnet, dass sie — wenn nicht ausschließlich - so doch auch auf Missbilligung und Vergeltung für ein rechtlich verbotenes Verhalten abzielt. Mit der Strafe wird dem Täter ein Rechtsverstoß vorgehalten und zum Vorwurf gemacht. Ein solcher strafrechtlicher Vorwurf aber setzt Vorwerfbarkeit, also strafrechtliche Schuld voraus. Anderenfalls wäre die Strafe eine mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbare Vergeltung für einen Vorgang, den der Betroffene nicht zu verantworten hat. Die strafrechtliche oder strafrechtsähnliche Ahndung einer Tat ohne Schuld des Täters ist demnach rechtsstaatswidrig und verletzt den Betroffenen in seinem Grundrecht aus Art. 7 VvB (vgl. zu Art. 2 Abs. 1 GG BVerfGE 20, 323, 331). Im vorliegenden Fall drängt es sich zur Gewährung des rechtsstaatlich gebotenen Grundsatzes, dass eine Strafe nur dann erfolgen kann, wenn die Tat vorwerfbar ist, geradezu auf, auch das zu dem Antrag gem. § 80 Abs. 4 VwGO erfolgte Vorbringen des Angeklagten im Rahmen der Feststellung der Schuld, hinsichtlich eines gegebenenfalls vorliegenden Verbotsirrtums zu prüfen: Die Ausländerbehörde teilte dem Beschwerdeführer mit Schreiben vom 9.8.1995 mit, dass sein Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vom 1.11.1994 abgelehnt werde. Dabei wurde er daraufhingewiesen, dass die Strafbarkeit durch die Einlegung etwaiger Rechtsbehelfe nicht beseitigt werde. In der Rechtsbehelfsbelehrung heißt es weiter: „Es obliegt Ihnen, Ihre Belange und für Sie günstige Umstände, soweit sie nicht offenkundig und bekannt sind, unter Angabe nachprüfbarer Umstände unverzüglich, d.h. in Ihrem Fall innerhalb der Ihnen gesetzten Frist zur freiwilligen Ausreise, geltend zu machen. Wir weisen darauf hin, dass nach Ablauf der gesetzten Frist geltend gemachten Umstände und beigebrachte Nachweise unberücksichtigt bleiben können (§ 70 Abs. 1 AuslG). Die Fristsetzung gilt auch für eventuelles \ r orbringen im Widerspruchsverfahren und im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 4 und 5 der VwGO in der Fassung vom 19.3.1991 BGBl. I S. 686

Der Beschwerdeführer legte innerhalb der Ausreisefrist Widerspruch ein und beantragte, gem. § 80 Abs. 4 VwGO die Vollziehung des Bescheides auszusetzen. Im Widerspruchsbescheid der Ausländerbehörde vom 28.11.1995 wurde der Antrag gem. § 80 Abs. 4 VwGO abgelehnt. Aus dem Protokoll der mündlichen Verhandlung vor dem AG Tiergarten vom 22.7.1999 heißt es im Zusammenhang der Aussage des Beschwerdeführers: „In meiner Aufenthaltssache hatte ich einen Anwalt beauftragt. Mir war eine Aufenthaltsgenehmigung im August 95 abgelehnt worden. Dagegen legte ich Widerspruch ein. Ich bin nicht untergetaucht. Der Rechtsanwalt sagte mir, dass ich mich hier rechtmäßig aufhalte."

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Der Strafverteidiger des Beschwerdeführers beantragte in der mündlichen Verhandlung, den Referatsleiter bei der Berliner Ausländerbehörde, Herrn M., zu vernehmen zu der Behauptung des Beschwerdeführers: „dass die Berliner Ausländerbehörde den weiteren Aufenthalt eines Ausländers duldet, wenn dieser seinen Widerspruch gegen die Versagung einer Aufenthaltsgenehmigung mit einem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gem. § 80 Abs. 4 VwGO verbindet".

Das AG lehnte den Beweisantrag ab, da die in diesem Antrag enthaltene Behauptung als wahr unterstellt werden könne (§ 244 Abs. 3 S. 2 StPO). Das AG stellte in seinem Urteil vom 22.7.1999 fest: „Er hat sich in der Zeit vom f 5.9.1995 bis zum 18.3.1998 in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten, ohne - wie er wusste - im Besitz einer hierfür erforderlichen Aufenthaltsgenehmigung zu sein. Auch eine Duldung besaß er nicht."

Zwar geht es im Weiteren ausdrücklich auf das Rechtsschutzverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO vor dem VG Berlin und die Zusicherung vom 4.1.1996 ein, nicht jedoch auf den Antrag gem. § 80 Abs. 4 VwGO, der zugleich mit dem Widerspruch vom 30.8.1995 gestellt wurde. Im Rahmen der Strafzumessung wird weder die Zeit des Rechtsschutzantrages beim VG noch des Antrages nach § 80 Abs. 4 VwGO angesprochen. In der Revisionsbegründung vom 30.9.1999 führte der Beschwerdeführer nochmals aus, dass das AG seine Behauptung, dass die Berliner Ausländerbehörde den weiteren Aufenthalt eines Ausländers duldet, wenn dieser seinen Widerspruch gegen die Versagung einer Aufenthaltsgenehmigung mit einem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gem. § 80 Abs. 4 VwGO verbindet, als wahr unterstellte. Die Staatsanwaltschaft führte hierzu in ihrer Stellungnahme vom 3.12.1999 aus, dass die Wahrunterstellung gem. § 244 Abs. 3 S. 2 StPO lediglich die Duldung betroffen habe, nicht jedoch die „Erteilung einer Duldung". Bei einer Duldung handele es sich jedoch um einen Verwaltungsakt, zu dessen Wirksamkeit es jedenfalls der Schriftform bedürfe (§ 66 Abs. 1 S. 1 AuslG). Das KG gab der Revision daraufhin teilweise statt, da das Urteil nicht erkennen lasse, dass der Tatrichter die Milderungsmöglichkeit des § 49 Abs. 1 StGB für einen (vermeidbaren) Verbotsirrtum bezüglich der Zusicherung des Landeseinwohneramtes an das VG vom 4.1.1996 geprüft habe. Im Übrigen verwarf es das Rechtsmittel gem. § 349 Abs. 2 StPO, soweit es sich gegen den Schuldspruch wandte, aus den Gründen der Stellungnahme der Staatsanwaltschaft vom 3.12.1999. § 92 Abs. 1 Ziff. 1 AuslG stellt unter Strafe, wenn der Aufenthalt im Bundesgebiet ohne Aufenthaltsgenehmigung oder Duldung nach § 55 Abs. 1 AuslG erfolgt. § 55 Abs. 1 AuslG enthält lediglich die Legaldefinition der Duldung (Aussetzung der Abschiebung) unter Hinweis auf die einzelnen, in § 55 Abs. 2 bis 4 AuslG genannten Erteilungsvoraussetzungen. § 66 Abs. 1 AuslG schreibt zwar vor, dass die Erteilung der Duldung der Schriftform bedarf. Von dem AuseinanLVerfGE 14

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derfallen einer „faktischen" Duldung und einer Duldungserteilung kann gleichwohl nicht ausgegangen werden. Das Bundesverwaltungsgericht hat hierzu in rechtlich nicht zu beanstandender Weise klargestellt, dass die Systematik des Ausländergesetzes einen derartig ungeregelten Zustand nicht zulasse. Die tatsächliche Hinnahme eines Aufenthaltes außerhalb förmlicher Duldung, ohne dass die Vollstreckung der Ausreisepflicht betrieben werde, sieht das Gesetz nicht vor (vgl. BVerwG, NVwZ 1998, 297 ff, 298). Die Ausländerbehörde hat mithin nicht die Möglichkeit, die Abschiebung „stillschweigend" auszusetzen. Betreibt sie die Abschiebung nicht, ist dem Antragsteller auch eine Duldung förmlich zu erteilen. Wendet man diese Voraussetzungen auf den vorliegenden Fall an, ist der Beschwerdeführer jedenfalls so zu stellen, als wäre ihm eine Duldung erteilt worden, da die Ausländerbehörde — nach der von den Strafgerichten als wahr unterstellten Praxis - seinen Aufenthalt während der Zeit des Antrages gem. § 80 Abs. 4 VwGO „duldete". Dem Beschwerdeführer kann auch nicht entgegengehalten werden, dass er keinen ausdrücklichen Antrag auf Erteilung einer Duldung gestellt hat, da eine Entscheidung von Amts wegen zu erfolgen hat (vgl. hierzu für § 55 Abs. 2 AuslG, BVerwG, NVwZ 1998, 297 ff, 298; 2000, 938 ff, 939; Masuch in: Huber, Handbuch des Ausländer- und Asylrechts, Stand März 2001, § 55 Rn. 4). Die Praxis der Ausländerbehörde, während der Zeit eines Antrages gem. § 80 Abs. 4 VwGO die Abschiebung nicht zu betreiben, erscheint im Hinblick auf die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes und auf die Duldungsgründe des § 55 AuslG, insbesondere des Absatzes 3, zudem gut vertretbar, um dem Beschwerdeführer ein berechtigtes Interesse, seine Rechte nicht vom Ausland vertreten zu müssen, zu gewährleisten. Zumal sie in Fällen, in denen sie nicht dulden will, den Antrag sofort - ohne gleichzeitig über den Widerspruch zu entscheiden - ablehnen kann. Angesichts dieser Rechtslage ist es daher aus unserer Sicht verfassungsrechtlich geboten, zur Gewährleistung des Grundrechts aus Art. 7 VvB zu prüfen, ob der Beschwerdeführer einem Verbotsirrtum unterlegen ist. Es ist auch nicht ohne weitere Sachaufklärung offensichtlich, ob — dessen Vorliegen unterstellt — ein Verbotsirrtum für den Beschwerdeführer vermeidbar war. Der Beschwerdeführer hatte zwar die Mitteilung erhalten, dass auch die Einlegung von Rechtsmitteln die Strafbarkeit des Aufenthaltes nicht ausschließe. Die Tatsache, dass er einen Rechtsanwalt um Rat gefragt hat, um sich über seine Aufenthaltssituation Klarheit zu verschaffen, spricht jedoch angesichts der nicht leicht überschaubaren rechtlichen Situation zunächst dafür, dass er nach den Umständen des Einzelfalls, seiner Persönlichkeit und seinem Lebens- und Berufskreis unter Anspannung seines Gewissens alle seine Erkenntnismöglichkeiten eingesetzt hat, um eventuelle Zweifel an der „Rechtmäßigkeit" seines Bleibens während der Rechtsmittelverfahren eingesetzt hat. Gegebenenfalls hätte über die vom Beschwerdeführer behauptete Auskunft des Rechtsanwalts und deren Wirkung auf die subjektive Einstellung des Beschwerdeführers durch Beweiserhebung weitere Klärung herbeigeführt werden müssen. LVerfGE 14

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Nr. 2 1. Ein von einer Fraktion in Gang gesetztes Organstreitverfahren wird dadurch zulässig, dass während des Organstreits das Parlament neu gewählt wird, wenn die neue Fraktion derselben Partei ausdrücklich die Fortsetzung des Verfahrens erklärt. 2. Art. 87 Abs. 1 VvB stellt lediglich Kreditaufnahmen unmittelbar durch das Land Berlin unter einen Gesetzesvorbehalt. Kreditaufnahmen durch juristische Personen des öffentlichen Rechts, die eine vom Haushaltsplan des Landes unabhängige eigene Haushaltsführung haben, werden vom Regelungsgehalt des Art. 87 Abs. 1 VvB nicht erfasst. 3. Eine zwischen dem Land Berlin und den Berliner Stadtreinigungsbetrieben (BSR) geschlossene Zielvereinbarung, in der sich die BSR verpflichten, an das Land einen sog. Einmalbetrag als Vorauszahlung auf die in Folgejahren anfallenden jährlichen Bilanzgewinnausschüttungen und Kapitalverzinsungsbeträge zu entrichten, stellt keine Kreditaufnahme des Landes dar. Verfassung von Berlin Art. 84 Abs. 2 Nr. 1, 85 Abs. 1, 87 Abs. 1, 88 Gesetz über den Verfassungsgerichtshof §§ 14 Nr. 1, 36, 37 Abs. 1, 3 B e s c h l u s s v o m 21. März 2003 - V e r f G H 6/01 in dem Organstreitverfahren der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen Verfahrensbevollmächtigte: Rechtsanwälte C., C., P. gegen den Senat von Berlin Verfahrensbevollmächtigte: Rechtsanwälte W. & C., F. Beteiligt gem. § 38 Abs. 2 VerfGHG: Abgeordnetenhaus von Berlin wegen Verletzung von Rechten des Abgeordnetenhauses von Berlin im Zusammenhang mit dem Abschluss einer Zielvereinbarung zwischen dem Senat von Berlin und den Berliner Stadtreinigungsbetrieben sowie einer HaushaltsüberLVerfGE 14

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schreitung des Landeshaushalts 2000 infolge der Begleichung von Forderungen durch den Senat von Berlin zugunsten der Berliner Stadtreinigungsbetriebe. Entscheidungsformel: Die Anträge werden zurückgewiesen. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei. Auslagen werden nicht erstattet. Gründe: A. Die Antragstellerin begehrt als Fraktion im Abgeordnetenhaus von Berlin sowohl in der 14. als auch in der 15. Wahlperiode die Feststellung, dass der Antragsgegner in der 14. Wahlperiode das Haushaltsrecht des Abgeordnetenhauses im Zusammenhang mit dem Abschluss einer Zielvereinbarung mit den Berliner Stadtreinigungsbetrieben (BSR) vom 6. Juli 2000 verletzt hat, auf Grund derer die BSR im Haushaltsjahr 2000 einen Betrag von 805 Mio. DM an das Land Berlin abführten, sich zusammensetzend aus einer Stammkapitalherabsetzung in Höhe von 350 Mio. DM sowie aus einer diskontierten Gewinn- und Kapitalzinsabführung in Höhe von 455 Mio. DM. Ferner rügt die Antragstellerin die Verletzung von Rechten des Abgeordnetenhauses im Zusammenhang mit einer Haushaltsüberschreitung im Haushalt 2000. I. 1. Die Berliner Stadtreinigungsbetriebe (BSR) sind eine Anstalt des öffentlichen Rechts (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 des Berliner Betriebegesetzes - BerlBG - vom 9.7.1993, zuletzt geändert durch Gesetz vom 30.7.2001, GVB1. S. 313), deren Aufgaben nach § 2 Abs. 4 BerlBG die Abfallentsorgung, die Straßenreinigung für Berlin sowie die Wahrnehmung verschiedener Sonderdienste sind. Am 6.7.2000 schlossen das Land Berlin, vertreten durch den Senator für Wirtschaft und Technologie, und die BSR eine Zielvereinbarung, nach der die BSR dem Berliner Landeshaushalt für das Jahr 2000 einen Betrag von insgesamt 805 Mio. DM zuzuführen haben. Der Betrag ergibt sich aus einer Flerabsetzung des Stammkapitals der BSR in Höhe von 350 Mio. DM sowie einer Vorauszahlung auf die in den nächsten 15 Jahren erwarteten Gewinne der BSR in Höhe von 455 Mio. DM (sog. Einmalzahlung). Die Zielvereinbarung soll nach ihrer Präambel der Verbesserung von Leistungsfähigkeit, Wettbewerbsfähigkeit und Attraktivität der BSR dienen. Zugleich sollen den BSR PlanungsSicherheit verschafft und die Entsorgungssicherheit der Bürger und Unternehmen gewährleistet werden. In § 2.2 der Zielvereinbarung verpflichten sich die BSR, nach Maßgabe eines sog. LVerfGE 14

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Effizienzsteigerungsprogramms die leistungsmäßige Wettbewerbsfähigkeit bis z u m 31.12.2003 sowie die kostenmäßige Wettbewerbsfähigkeit spätestens bis z u m 31.12.2015 zu erreichen. Im R a h m e n der Umsetzung des ersten Effizienzsteigerungsprogramms sollen die B S R M a ß n a h m e n durchführen, die bis z u m 31.12.2003 zu Einsparungen von mindestens jährlich 170 Mio. D M führen (§ 3.1 bis § 3.3 der Zielvereinbarung). Für die Zeit ab d e m 1.1.2004 bis z u m 31.12.2015 sind weitere Effizienzsteigerungsprogramme zu entwickeln und umzusetzen (§ 3.4 der Zielvereinbarung). Die Zielvereinbarung hat im einzelnen auszugsweise folgenden Wordaut: §7 Stammkapitalherabsetzung Das Stammkapital der BSR beträgt derzeit 650 Mio. DM. Die Parteien sind der Auffassung, dass ein Stammkapital für die Wahrnehmung der der BSR obliegenden Aufgaben von 300 Mio. DM erforderlich, aber auch ausreichend ist. Das Stammkapital der BSR wird daher auf einen Betrag in Höhe von 300 Mio. DM abgesenkt. Die Vertragsparteien werden darauf hinwirken, dass die zur Herabsetzung des Stammkapitals erforderlichen Schritte eingeleitet und durchgeführt werden. §8 Zahlung eines Einmalbetrages 8.1 Innerhalb einer Frist von 6 Wochen nach Wirksamwerden dieser Vereinbarung wird die BSR an das Land Berlin einen Einmalbetrag in Höhe von 455.000.000,00 DM (in Worten Deutsche Mark vierhundertfünfundfünfzig Millionen) zahlen. 8.2 Der Einmalbetrag stellt eine Vorauszahlung auf die während der Laufzeit des Vertrages nach § 2 Abs. 2 BerlBG zu entrichtenden jährlichen Bilanzgewinnausschüttungen und die nach § 15 Abs. 4 BerlBG zu entrichtenden jährlichen Kapitalverzinsungsbeträge in abgezinster Form dar. Die Vertragsparteien haben dafür als Abzinsungsfaktor 5% p.a. und einen abzuzinsenden Jahresbetrag (Abzinsungsbetrag) in Höhe von 43,8 Mio. DM zugrunde gelegt. 8.3 Am Ende der vereinbarten Laufzeit des Vertrages ist die Summe der tatsächlich während der Laufzeit dieses Vertrages erwirtschafteten Bilanzgewinne und der jährlichen Kapitalverzinsungsbeträge dem sich aus § 8.2 S. 2 ergebenden Abzinsungsbetrag — multipliziert mit der Zahl der Jahre der Laufzeit des Vertrages — gegenüberzustellen. Ergibt sich, dass die Summe der erwirtschafteten Bilanzgewinne und der jährlichen Kapitalverzinsungsbeträge den sich aus § 8.2 S. 2 ergebenden Abzinsungsbetrag — multipliziert mit der Zahl der Jahre der Laufzeit dieses Vertrages — überschreitet, zahlt die BSR dem Land Berlin den Differenzbetrag. Im Übrigen erfolgen keine Ausgleichszahlungen. 8.4 Für den Fall einer Beendigung dieses Vertrages vor Ablauf von 15 Jahren vereinbaren die Vertragsparteien eine Abrechnung des Einmalbetrages pro rata temporis nach folgender Maßgabe: Zum einen ist der sich zum ZeitLVerfGE 14

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Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin punkt der vorzeitigen Vertragsbeendigung ergebende Saldo nach Maßgabe von § 8.3 S. 1 zu ermitteln; ferner ist eine Berechnung des Betrages durchzuführen, der für die tatsächlich kürzere Laufzeit zu zahlen gewesen wäre unter Zugrundelegung des Abzinsungsfaktors und des Abzinsungsbetrages gem. § 8.2. Der Differenzbetrag zwischen dem so ermittelten Betrag (zuzüglich Zinsen in Höhe des Abzinsungsfaktors für den Zeitraum seit Zahlung bis zur Vertragsbeendigung) und dem tatsächlich gezahlten Einmalbetrag ist vom Land Berlin unter Abzug des Saldos gem. S. 2 an die BSR zu zahlen. Im Übrigen erfolgen keine Ausgleichszahlungen. 8.5

[...]

§11 Laufzeit des Vertrages Kündigungen 11.1 Dieser Vertrag tritt am ersten des Monats in Kraft, der dem Monat folgt, in dem dieser Vertrag durch die beiden Vertragsparteien rechtsverbindlich unterzeichnet wurde und sämtliche zu seiner Wirksamkeit notwendigen Voraussetzungen vorliegen. 11.2 Dieser Vertrag wird bis zum 31.12.2015 fest abgeschlossen. Das Recht zur außerordentlichen Kündigung aus wichtigem Grund sowie zur Kündigung gem. § 11.3 bleibt unberührt. 11.3 Das Land Berlin ist zur vorzeitigen ordentlichen Kündigung dieser Zielvereinbarung berechtigt, wenn die im Rahmen des qualifizierten Benchmarkprozesses gem. § 3.6 dieses Vertrages vereinbarten Ziele nicht erreicht werden. Eine Kündigung hat mit einer Frist von sechs Monaten zum Quartalsende zu erfolgen. 11.4 Kündigungen haben schriftlich zu erfolgen.

Durch die zur Haushaltsentlastung beitragende Zielvereinbarung wurde — unstreitig — die ansonsten beabsichtigte Privatisierung der BSR vermieden. Die BSR entrichteten am 15.9.2000 den aus der Stammkapitalherabsetzung resultierenden Betrag von 350 Mio. DM sowie im November und Dezember 2000 die Einmalzahlung in Höhe von 455 Mio. DM an das Land Berlin. Die Zahlungen wurden im Haushalt 2000 erfasst. Das Abgeordnetenhaus von Berlin erhielt vom Abschluss der Zielvereinbarung durch eine Vorlage des Antragsgegners vom 11.7.2000 Kenntnis (Drs 14/562), die am 12.7.2000 in der Verwaltung des Abgeordnetenhauses einging und anschließend an die Fraktionen verteilt wurde. Darin heißt es u.a., dass zentraler Teil der Zielvereinbarung ein Beitrag der BSR zur Entlastung des Berliner Landeshaushalts in Gestalt der Reduzierung des Stammkapitals der BSR um 350 Mio. DM und der Zahlung eines Einmalbetrages von 455 Mio. DM als Vorauszahlung auf die während der Laufzeit des Vertrages zu entrichtenden jährlichen Bilanzausschüttungen sei. Der Abschluss der Zielvereinbarung führe zu

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überplanmäßigen Einnahmen im Jahr 2000 in Höhe von 805 Mio. DM bei Kapitel 1320, Titel 121 26 - Kapitalverzinsung bei den Anstalten des öffentlichen Rechts - . Das Abgeordnetenhaus behandelte die Zielvereinbarung erstmals auf Antrag der Antragstellerin durch den Ausschuss für Wirtschaft, Betriebe und Technologie in seiner 11. Sitzung am 25.9.2000 (Wortprotokoll WiBetrTech 14/11). Hierdurch erfuhr die Antragstellerin durch den Vorstand der BSR, dass die BSR sowohl die Stammkapitalherabsetzung um 350 Mio. DM als auch die Zahlung des Einmalbetrages von 455 Mio. DM über Kredite finanzieren wollten. Dabei sah es zunächst danach aus, dass der Betrag von 805 Mio. DM vollständig durch Kredite finanziert werden sollte. Letztlich wurden aber 222,5 Mio. DM nicht kreditfinanziert, sondern aus freien Mitteln der BSR entrichtet. Der Rechnungshof von Berlin bewertete in seinem Bericht vom 26.10.2000 die Zahlungsverpflichtungen aus der Zielvereinbarung nicht als (verdeckte) Kreditaufnahme: Es sei in der Zielvereinbarung nicht festgelegt, ob die Beträge von den BSR durch Kreditaufnahmen oder auf andere Weise finanziert würden. Außerdem sehe die Zielvereinbarung Gegenleistungen Berlins vor (insbesondere Aufrechterhaltung der Abfallentsorgung und Straßenreinigung durch die BSR im Wege des Anschluss- und ΒenutzungsZwangs für die Dauer der Laufzeit der Zielvereinbarung). Die Beschaffung von Geldmitteln für Berlin für eine entsprechende Gegenleistung Berlins stelle aber keine Kreditaufnahme dar. 2. Ferner sind die Vorgänge um die Erfüllung zweier den BSR für die Jahre 1998 und 1999 auf Grund von § 7 Straßenreinigungsgesetz gegen das Land Berlin noch zustehender Forderungen in Höhe von insgesamt 52.476.040,39 DM im Haushaltsjahr 2000 Gegenstand des vorliegenden Organstreitverfahrens. Die Forderungen erfüllte das Land Berlin jedenfalls dadurch, dass die BSR anstatt des auf Grund der Zielvereinbarung zu zahlenden Einmalbetrages von 455 Mio. DM nur einen Betrag von 402.523.959,61 DM an das Land Berlin zu überweisen hatten. Die Antragstellerin nahm zunächst an, die Zahlungen der BSR auf Grund der Zielvereinbarung seien vom Antragsgegner mit den Forderungen der BSR gegen das Land Berlin auch im Haushalt 2000 saldiert worden; denn die Senatsverwaltung für Wirtschaft und Technologie hatte in einer Vorlage an den Hauptausschuss des Abgeordnetenhauses von Berlin vom 16.11.2000 ausgeführt, dass die Forderungen aus den Jahren 1998 und 1999 mit dem von den BSR nach der Zielvereinbarung zu zahlenden Einmalbetrag in Höhe von 455 Mio. DM aufgerechnet würden. Eine derartige Vorgehensweise hatte ein im Hauptausschuss vertretener Abgeordneter der Antragstellerin in der nachfolgenden 29. Sitzung des Hauptausschusses vom 22.11.2000 (Inhaltsprotokoll Haupt 14/29) beanstandet mit der Begründung, dass statt dessen wegen der Erfüllung der Forderungen durch das Land Berlin überplanmäßige Ausgaben für das Haushaltsjahr zu beantragen seien. Dennoch beschloss der Hauptausschuss gegen die Stimmen der Antragstellerin, dass die Vorlage vom 16.11.2000 zustimmend zur Kenntnis genommen werde. Allerdings nahm der Antragsgegner in der Folgezeit eine Saldierung tatsächlich LVerfGE 14

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nicht vor. Vielmehr bat die Senatsverwaltung für Wirtschaft und Technologie einen Tag nach der Sitzung des Hauptausschusses in einem an die Senatsverwaltung für Finanzen gerichteten Schreiben vom 23.11.2000, - wie von der Antragstellerin befürwortet - überplanmäßige Ausgaben in Höhe der Forderungen von 52.476.040,39 DM bei Kapitel 1320 Titel 521 36 zuzulassen. Mit Schreiben vom 6.12.2000 stimmte die Senatsverwaltung für Finanzen dieser Vorgehensweise zu. Ausweislich einer sog. (internen) „Haushaltsüberwachungsliste: Ausgaben Haushaltsjahr 2000" mit Stand 12.6.2001 ergibt sich schließlich, dass im Haushalt 2000 anstelle des im Kapitel 1320 Titel 52 136 (Anteil an der Straßenreinigung) zunächst angesetzten Betrages von 120 Mio. DM ein um den Nachforderungsbetrag von 52.476.040,39 DM erhöhter Betrag von 172.476.040,39 DM angesetzt wurde. In seiner 40. Sitzung am 27.6.2001 forderte der Hauptausschuss des Abgeordnetenhauses die Senatsverwaltung für Wirtschaft und Technologie auf mitzuteilen, in welcher Form die Nachforderungen der BSR erfüllt worden seien und wie der Hauptausschuss darüber informiert worden sei. Daraufhin führte die Senatsverwaltung für Wirtschaft und Technologie in einem an den Hauptausschuss gerichteten Schreiben vom 3.7.2001 aus, die Forderungen seien durch Zulassung überplanmäßiger Ausgaben bei Kapitel 1320 Titel 521 36 in Höhe von rd. 52,5 Mio. DM beglichen worden, nachdem sich herausgestellt habe, dass eine Verrechnung der Forderungen aufgrund haushaltsrechtlicher Vorschriften (Grundsatz der Haushaltsklarheit, Bruttonachweis) nicht möglich sei. Unter dem Aspekt, dass der Flauptausschuss grundsätzlich über die haushaltsmäßigen Auswirkungen der Forderungen der BSR informiert gewesen sei und die Vorlage vom 16.11.2000 zustimmend zur Kenntnis genommen habe, sei der Senat davon ausgegangen, dass es keiner weiteren Vorlage zu dieser Thematik bedürfe, zumal die Zulassung überplanmäßiger Ausgaben allein der ordnungsgemäßen Brutto-Darstellung in der Haushaltsrechnung 2000 gedient habe und sich im Vergleich zur Verrechnung mit den Forderungen keine anderen haushaltsmäßigen Auswirkungen ergäben. Mit Datum vom 25.9.2001 erfolgte durch den Antragsgegner eine Vorlage zur Beschlussfassung - an das Abgeordnetenhaus von Berlin über die Genehmigung von über- und außerplanmäßigen Ausgaben und Verpflichtungsermächtigungen im Haushaltsjahr 2000 für die ΗaupVerwaltung (sog. Uberschreitungsnachweis, Drs 15/4). Unter den über- und außerplanmäßigen Ausgaben wurden sächliche Verwaltungsausgaben in Gestalt der offenen Forderungen der BSR für die Geschäftsjahre 1998 und 1999 in Höhe von 52.476.040,39 Mio. DM bei Kapitel 1320 Titel 521 36 aufgeführt. In der Vorlage wurde ausgeführt, dass im Haushaltsjahr 2000 unabweisbare und unvorhergesehene Finanzierungsbedürfnisse aufgetreten seien, für deren Erfüllung die im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben und Verpflichtungsermächtigungen nicht ausreichten. Nach Art. 88 Abs. 2 VvB sei für Haushaltsüberschreitungen die nachträgliche Genehmigung des Abgeordnetenhauses einzuholen. Entsprechend Nr. II 3 des AuflagenbeLVerfGE 14

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Schlusses zum Haushalt 2000 (Drs 14/302) sei bei Haushaltsüberschreitungen in grundsätzlichen, finanziell bedeutsamen und zweifelhaften Fällen formlos das Einvernehmen mit dem Hauptausschuss des Abgeordnetenhauses bereits im Laufe des Jahres 2000 herbeigeführt worden. Das Abgeordnetenhaus überwies die Vorlage Drs 15/4 über die Genehmigung von über- und außerplanmäßigen Ausgaben vom 25.9.2001 in seiner 2. Sitzung am 13.12.2001 an den Hauptausschuss (PIPr 15/2 S. 76 B), der seinerseits am 30.1.2002 dem Abgeordnetenhaus empfahl, die Vorlage anzunehmen (Drs 15/152). Das Abgeordnetenhaus genehmigte in seiner 4. Sitzung vom 31.1.2002 gem. Art. 88 Abs. 2 VvB nachträglich „die vom Senat zugelassenen Haushaltsüberschreitungen" (PIPr 15/4 S. 200 A). II. Am 11.1.2001 hat die Antragstellerin als Fraktion des Abgeordnetenhauses von Berlin der 14. Wahlperiode beim Verfassungsgerichtshof drei Anträge eingereicht, mit denen sie im Organstreitverfahren die Verletzung von Rechten des Abgeordnetenhauses in Prozessstandschaft geltend macht. Hierbei ist Streitgegenstand die Rüge der Verletzung des Haushaltsrechts des Abgeordnetenhauses aus Art. 85 Abs. 1 S. 1, 87 Abs. 1 VvB im Zusammenhang mit der vom Antragsgegner und den BSR abgeschlossenen Zielvereinbarung. Am 23.8.2001 hat die Antragstellerin die Anträge um den (Hilfs-)Antrag zu 4. erweitert, mit dem sie rügt, der Antragsgegner habe das Recht des Abgeordnetenhauses aus Art. 88 Abs. 2 VvB im Zusammenhang mit einer Überschreitung des Haushalts 2000 infolge der Begleichung von Forderungen der BSR aus den Jahren 1998 und 1999 verletzt. Nach den Wahlen zum Abgeordnetenhaus von Berlin und zu den Bezirksverordnetenversammlungen vom 21.10.2001 hat die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aus der 15. Wahlperiode in ihrer Fraktionssitzung am 4.12.2001 beschlossen, die Rechtsnachfolge der ursprünglich antragstellenden Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen aus der 14. Wahlperiode anzutreten und das Organstreitverfahren fortzuführen. Mit ihren Anträgen zu 1. und 2. vertritt die Antragstellerin die Auffassung, der Antragsgegner habe gegen Art. 87 Abs. 1 VvB verstoßen, indem er sich im Zusammenhang mit der Zielvereinbarung und der daraus folgenden Zahlung der BSR von insgesamt 805 Mio. DM zur Entlastung des Berliner Landeshaushalts ohne gesetzliche Grundlage Kreditmittel beschafft habe. Die Kreditaufnahme durch die BSR als Anstalt des öffentlichen Rechts stelle eine Kreditaufnahme des Landes Berlin iSv Art. 87 Abs. 1 VvB dar, die der dort vorgeschriebenen gesetzlichen Ermächtigung bedurft hätte. Die sich aus dem Gesetzesvorbehalt ergebenden Pflichten gegenüber dem Abgeordnetenhaus von Berlin träfen nach der Verfassung nicht mehr allein den Senat von Berlin, sondern alle Bereiche des Landes, die Kredite aufnehmen könnten oder für die das Land Berlin direkt oder indirekt hafte, also auch Anstalten des öffentlichen Rechts wie die BSR. Zweck des Gesetzesvorbehalts sei es nämlich, die Verschuldung des LV erfGE 14

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Landes und seiner Einrichtungen von parlamentarischer Zustimmung in Form einer Gesetzesbestimmung abhängig zu machen. Art. 87 VvB sehe zudem anders als Art. 115 Abs. 1 S. 3 GG nicht vor, dass das Nähere durch Gesetz geregelt werden könne. Deswegen könnten juristisch selbständige Einrichtungen nicht durch eine gesetzliche Regelung vom Gesetzesvorbehalt ausgeschlossen werden. Die Kreditaufnahme finde auch keine gesetzliche Grundlage im Berliner Betriebegesetz, weil sie unter Verstoß gegen kaufmännische Grundsätze erfolgt sei. Die Kreditaufnahme zeige überdies, dass die BSR keineswegs überfinanziert seien, sondern dass es sich um eine „getarnte" Kreditaufnahme des Landes handele, die nur dazu diene, dem Antragsgegner mangels ausgeglichenen Haushalts dringend benötigte Einnahmen zu verschaffen. Unmaßgeblich sei, ob der Antragsgegner Kenntnis von der Kreditaufnahme der BSR gehabt habe. Art. 87 Abs. 1 VvB enthalte nämlich keine subjektive Komponente. Davon abgesehen sei dem Antragsgegner aber auch bekannt gewesen, dass die BSR diesen Betrag jedenfalls teilweise durch Kredite finanzieren würden. Selbst wenn man der Auffassung sein sollte, dass Art. 87 Abs. 1 VvB die Kreditaufnahme der öffentlichen Hand nicht umfassend unter einen Gesetzesvorbehalt stelle und daher keine selbständigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts erfasse, so folge eine Verletzung der Rechte des Abgeordnetenhauses aus der missbräuchlichen Umgehung der Verfassungsnorm durch die Kreditaufnahme der BSR zugunsten des Berliner Landeshaushalts. Es könne nicht richtig sein, dass das Land nur eine juristische Person gründen und zur Kreditaufnahme ermächtigen müsse, um frei von Bindungen des Art. 87 Abs. 1 VvB die Erfüllung seiner Aufgaben mit Krediten finanzieren zu können. Ein Missbrauch sei anerkannt, wenn rechtsfähige Anstalten des öffentlichen Rechts ohne eigenes Vermögen gegründet würden, die Kredite aufnehmen dürften, für die das Land entweder ausdrücklich die Garantie übernehme oder kraft seiner Anstaltslast hafte. Der vorliegende Fall sei vergleichbar. Die Umgehung des Budgetrechts sei insbesondere im Lichte der durch das Berliner Betriebegesetz klar definierten Aufgaben der BSR offensichtlich und daher missbräuchlich. Der Senat verschaffe sich zur Erfüllung eigener Aufgaben finanzielle Mittel, die ein Dritter aufnehme und begleiche, für den das Land aber ohnehin die Gewährträgerschaft habe. Das Land Berlin habe nach § 4 Abs. 1 BerlBG eine gesetzliche und aus § 8.4 der Zielvereinbarung eine vertragliche RückZahlungsverpflichtung. Die Kreditaufnahme durch die BSR habe den vorrangigen, wenn nicht alleinigen Zweck gehabt, dem Land Berlin Kreditmittel zur Verfügung zu stellen, für die es anderenfalls einer gesetzlichen Ermächtigung bedurft hätte. Die lediglich formale Mittelbarkeit könne die materielle LTnmittelbarkeit des Kredits nicht verdecken. Es gebe keinen nachvollziehbaren wirtschaftlichen Zweck, den die BSR verfolgen könnten, als vielmehr dem Land weitere Mittel zur Haushaltssanierung zu beschaffen. Es handele sich um ein Umgehungsgeschäft, bei dem die BSR bewusst als Vehikel eingeschaltet

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worden seien. Das Budgetrecht des Abgeordnetenhauses sei absichtlich umgangen worden. Würde man eine mit dem Organstreit zu rügende Rechtsverletzung ablehnen, wäre das Abgeordnetenhaus schutzlos gestellt. Außerdem hätte es auch deswegen einer gesetzlichen Ermächtigung bedurft, weil das Land Berlin für die Kreditaufnahme durch die BSR jedenfalls Sicherheiten iSv Art. 87 Abs. 1 VvB geleistet habe. Denn unter den Begriff der Sicherheitsleistungen fielen alle Eventualverbindlichkeiten, durch die das Land künftige Risiken Dritter übernehme. Sicherheitsleistungen seien daher als potentielle Schulden zu charakterisieren. Die vom Land Berlin gegenüber den BSR gem. § 4 Abs. 1 S. 2 BerlBG übernommene uneingeschränkte Haftung für deren Verbindlichkeiten (Gewährträgerhaftung) stelle eine solche Sicherheitsleistung dar. Die Gewährträgerhaftung sei dogmatisch als Ausfallbürgschaft zu charakterisieren, die den jeweiligen Anspruch des Gläubigers wirtschaftlich sichere. Hilfsweise vertritt die Antragstellerin mit ihrem Antrag zu 2. die Auffassung, dass der Antragsgegner Art. 87 Abs. 1 VvB verletzt habe, indem er in § 8.1 der Zielvereinbarung ohne gesetzliche Grundlage mit den BSR eine Vorauszahlung von künftigen Einnahmen vereinbart habe, die er im Falle einer vorzeitigen Vertragsbeendigung zurückzahlen müsse. Haushaltspläne müssten so aufgestellt werden, dass in den nachfolgenden Jahren noch ein gestalterischer Spielraum bestehe und nicht die Rückführung von Krediten das Handeln des Gesetzgebers lähme. Art. 87 VvB solle das Entscheidungsrecht der Legislative über die Deckungsmittel des Haushalts sicherstellen und verhindern, dass diese Deckungsmittel schon für künftige Jahre vorbelastet würden. Gerade solch eine Vorbelastung erfolge aber durch den Abschluss der Zielvereinbarung. Die Zielvereinbarung sei bis zum Jahr 2015 fest abgeschlossen und schränke daher für diesen Zeitraum den politischen Entscheidungsspielraum hinsichtlich der BSR stark ein. Dem Haushaltsgesetzgeber stünden die nächsten fünfzehn Jahre weder die Bilanzgewinne noch die Kapitalverzinsungsbeträge der BSR als Einnahmen zur Verfügung, obwohl dies in § 2 Abs. 2 S. 3 und § 15 Abs. 4 BerlBG vorgesehen sei. Zwar könne die Zielvereinbarung gekündigt bzw. geändert werden. Die dann aber folgende Rückabwicklung der bereits geflossenen Zahlungen nach § 8.4 der Zielvereinbarung habe Strafcharakter, der das Land von der Kündigung abhalten solle. Eine ordentliche Kündigung durch das Land Berlin sei nur möglich, wenn die BSR ihre Effizienz nicht wie in der Zielvereinbarung vorausgesetzt steigern könnten. Gerade im Falle der mangelnden Effizienz würde sich eine ordentliche Kündigung für das Land Berlin nicht lohnen, weil es dann bei einer Privatisierung kaum einen adäquaten Kaufpreis erzielen könnte. Das Ergebnis wäre also mit der teilweisen Rückzahlung der Einmalzahlung und der Wertminderung der BSR eine doppelte finanzielle Einbuße. Weil die BSR mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht in der Lage seien, den veranschlagten Gewinn zu erzielen, müsste das Land Berlin bei vorzeitiger Vertragsbeendigung erhebliche Beträge entrichten. Dies binde den Gesetzgeber bei seiner Entscheidungsfreiheit und in der künftigen Planung des Haus-

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haltes. Deshalb hätte der Senat im Haushaltsplan Vorkehrungen für den Fall der Vertragskündigung vorsehen müssen. Wenn aber für potentielle Rückzahlungspflichten haushaltsrechtliche Verpflichtungsermächtigungen erforderlich seien, bedeute dies nichts anderes, als dass es sich bei der Zielvereinbarung doch um einen Kredit handele. Die Antragstellerin hat ferner geltend gemacht, das Budgetrecht des Abgeordnetenhauses aus Art. 85 Abs. 1 S. 1 VvB sei verletzt worden, weil der Antragsgegner das Bruttoprin2ip nicht beachtet habe, indem er die nach § 8 der Zielvereinbarung durch die BSR erfolgte Einmalzahlung von 455 Mio. DM mit den aus den Jahren 1998 und 1999 bestehenden Restforderungen der BSR von ca. 52,5 Mio. DM im Haushalt 2000 saldiert habe. Zwischenzeitlich räumt die Antragstellerin allerdings selbst ein, dass die beanstandete Saldierung nicht stattgefunden habe. Schließlich rügt die Antragstellerin mit ihrem am 23.8.2001 beim Verfassungsgerichtshof eingegangenen Schriftsatz, dass die Haushaltsüberschreitung im Jahr 2000 in Gestalt der Verbuchung der Forderungen der BSR von 52.476.040,39 DM als überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 1320 Titel 521 36 (Anteil an der Straßenreinigung) unter Erhöhung des ursprünglichen Ansatzes von 120 Mio. DM auf 172.476.040,39 DM zu einer Verletzung des Flaushaltsrechts des Abgeordnetenhauses aus Art. 88 Abs. 2 VvB führe. Eine derartige Haushaltsüberschreitung bedürfe der Genehmigung des Abgeordnetenhauses gem. Art. 88 Abs. 2 VvB. Dabei verwies die Antragstellerin zunächst darauf, dass das Abgeordnetenhaus diese Genehmigung nie erteilt habe. In ihrem Schriftsatz vom 17.6.2002, eingegangen beim Verfassungsgerichtshof am 19.6.2002, betont die Antragstellerin, dass die nachträgliche Genehmigung des Abgeordnetenhauses vom 31.1.2002 (Drs 15/4) nichts an der Verfassungswidrigkeit der überplanmäßigen Ausgaben ändere. Die Zustimmung des Abgeordnetenhauses hätte der Antragsgegner nämlich unverzüglich nach Abschluss des Haushaltsjahres nach dem 31.12.2000 einholen müssen. Er habe aber erst am 25.9.2001 eine Beschlussvorlage für das Abgeordnetenhaus erstellt. Der Beschluss des Parlaments vom 31.1.2002 könne deswegen nur bewirken, dass die Ausgabe ab dem Zeitpunkt der Zustimmung nachträglich ihre konstitutive Ermächtigung erhalte. Im Zeitpunkt der Leistung sei die Ausgabe verfassungswidrig gewesen. Die nachträgliche Genehmigung des Abgeordnetenhauses vom 31.1.2002 sei zudem rechtswidrig, da Haushaltsüberschreitungen gem. Art. 88 Abs. 1 VvB nur mit Zustimmung des Senats im Falle eines unvorhergesehenen und unabweisbaren Bedürfnisses vorgenommen werden dürften. An diesen Voraussetzungen fehle es. Die Antragstellerin beantragt, 1.

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festzustellen, dass der Senat von Berlin das Haushaltsrecht des Abgeordnetenhauses von Berlin aus Art. 87 Abs. 1 VvB verletzt hat, indem er es unterlassen hat, für die Kreditaufnahme der Berliner Stadtreinigungsbetriebe anlässlich der Zahlung eines Gesamtbetrages von 805 Mio. DM durch die Berliner Stadtreinigungsbetriebe an das Land Berlin aufgrund der Zielver-

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einbarung v o m 6. Juli 2000 die vorherige Ermächtigung des Abgeordnetenhauses einzuholen, 2.

hilfsweise, festzustellen, dass der Senat von Berlin das Haushaltsrecht des Abgeordnetenhauses von Berlin aus Art. 87 Abs. 1 V v B verletzt hat, indem er ohne gesetzliche Grundlage mit den Berliner Stadtreinigungsbetrieben eine Vorauszahlung von künftigen Einnahmen (§ 8.1 der Zielvereinbarung) vereinbart hat, die er im Falle einer vorzeitigen Vertragsbeendigung zurückzahlen muss,

3.

festzustellen, dass der Senat von Berlin das Haushaltsrecht des Abgeordnetenhauses von Berlin aus Art. 85 Abs. 1 S. 1 V v B verletzt hat, indem er die \^orauszahlungen auf die zukünftigen Bilanzgewinne und Kapitalverzinsungsbeträge aus der Zielvereinbarung mit den Berliner Stadtreinigungsbetrieben v o m 6. Juli 2000 mit den Restforderungen der BSR wegen Straßenreinigung für die Jahre 1998 und 1999 saldiert in den Haushalt 2000 eingestellt hat,

4.

hilfsweise, festzustellen, dass der Senat von Berlin das Haushaltsrecht des Abgeordnetenhauses von Berlin aus Art. 88 Abs. 2 V v B verletzt hat, indem er für die Erfüllung der Restforderungen der Berliner Stadtreinigungsbetriebe wegen des Anteils an den Kosten der Straßenreinigung für die Jahre 1998 und 1999 den Haushalt 2000 überschritten hat, ohne hierfür die Genehmigung des Abgeordnetenhauses einzuholen.

Der Antragsgegner beantragt, die Anträge zurückzuweisen.

Er stellt die Zulässigkeit des Organstreitverfahrens deswegen in Frage, weil die Antragstellerin und das Abgeordnetenhaus, dessen Rechte der Organstreit betreffe, durch die konstituierende Sitzung des Abgeordnetenhauses in der 15. Legislaturperiode untergegangen seien. Außerdem sei die vermeintlich nicht kaufmännische Geschäftsführung der BSR kein dem Organstreitverfahren zugänglicher Gegenstand, weil es nicht um die Auslegung der Verfassung gehe. Im Übrigen hält er die Anträge jedenfalls für unbegründet. Zu den Anträgen zu 1. und 2. macht der Antragsgegner geltend: Ihm sei nicht bekannt gewesen, dass die BSR die Kapitalherabsetzung und die Einmalzahlung mit Kreditmitteln finanzieren würden, zumal die BSR ausreichend über flüssige Mittel, Wertpapiere im Umlaufvermögen sowie Finanzanlagen im Anlagevermögen verfügt hätten. Die Entscheidung der BSR für die Finanzierung der Zahlung durch Kredite sei eine unternehmerische, nach kaufmännischen Gesichtspunkten getroffene Entscheidung und nicht durch die Zielvereinbarung vorgegeben.

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Für die Kapitalherabsetzung, die diskontierte Gewinnabführung sowie die Darlehensaufnahme durch die BSR habe es keiner Beteiligung des Abgeordnetenhauses bedurft. Art. 87 Abs. 1 VvB beziehe sich auf die Einnahmen des Landes, wie sie im Haushaltsplan (Art. 85 VvB) darzustellen seien. Gemeint seien hierbei die Einnahmen und Ausgaben des Landes selbst, nicht die seiner rechtlich selbständigen wirtschaftlichen Unternehmen, die eigenständige Haushalte aufstellen müssten. Dass das Vermögen des Landes von dem seiner Gesellschaften und Anstalten zu trennen sei, mache bereits Art. 92 VvB deutlich, der Sonderregelungen nur für nicht rechtsfähige Betriebe enthalte, nicht aber für die eigenen Haushalten unterliegenden juristischen Personen gelte. Für landesunmittelbare juristische Personen gelte Art. 87 VvB damit ebenso wenig wie Art. 115 GG für bundesunmittelbare juristische Personen. Anderenfalls würde jede Kreditaufnahme einer Anstalt des öffentlichen Rechts oder einer privaten Gesellschaft, an der das Land Berlin beteiligt sei, eine vorherige Vorlage an das Abgeordnetenhaus erfordern, weil die Gewährträgerhaftung zu einer Zahlungspflicht des Anstaltsträgers führen könnte. Die Gewährträgerhaftung sei ein grundlegendes Strukturmerkmal einer rechtsfähigen Anstalt des öffentlichen Rechts. Die Aufnahme von Fremdkapital durch eine rechtsfähige Anstalt sei eine — nicht ungewöhnliche — Maßnahme, die der Vorstand zu verantworten habe. Festzuhalten sei, dass Gegenstand des Haushaltsplans nicht die Wirtschaftsführung der rechtlich selbständigen Betriebe des Landes sei. Somit könne es vorliegend nur um die Einnahmen des Landes Berlin aus der Kapitalherabsetzung und der Diskontierung von Gewinnansprüchen gehen, nicht aber um die Finanzierung von Zahlungen der BSR an das Land Berlin durch von ihr getätigte Kreditaufnahmen. Bei den Einnahmen des Landes Berlin durch die Zahlung eines Betrages durch die BSR in Höhe von 805 Mio. DM handele es sich nicht um Anleihen iSv Art. 87 Abs. 1 VvB. Konstitutiv für eine Anleihe sei die Rückzahlungspflicht. Hieran fehle es aber sowohl bei der Vermögensaktivierung durch Kapitalherabsetzung als auch bei der diskontierten Gewinnabführung. Das Land habe, soweit es sich um die Rückführung des Stammkapitals handele, von seinem Recht als Anstaltsträger Gebrauch gemacht, die Kapitalausstattung der BSR zu überprüfen und den Verhältnissen anzupassen. Aber auch die Zahlung weiterer 455 Mio. DM stelle sich nicht als kreditähnliches Geschäft dar. Wirtschaftlich betrachtet aus der Sicht der BSR stelle sich die Zahlung dieses Betrags als eine Art Unternehmenspacht dar, bei der der Pachtzins - wie geschäftsüblich — nach den jährlichen Bilanzgewinnen und den jährlichen Eigenkapitalverzinsungen bemessen und vorliegend durch eine entsprechend abgezinste Einmalzahlung beglichen worden sei. Ein Umgehungsgeschäft liege auch nicht bereits deswegen vor, weil die Zahlung an das Land Berlin durch die BSR kreditfinanziert sei. Denn die BSR verfügten über ausreichende Mittel, aus eigener Kraft die Zahlungen zu erbringen. Eine Umgehung käme nur in Betracht, wenn ein Kredit zwar formal von den BSR aufLVerfGE 14

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genommen worden wäre, das Land Berlin aber den Schuldendienst übernommen hätte oder eine entsprechende RückZahlungsverpflichtung eingegangen wäre, das Geschäft also den vorrangigen Zweck hätte, dem Land Kreditmittel zur Verfügung zu stellen, für die es anderenfalls einer gesetzlichen Ermächtigung bedurft hätte. So verhalte es sich hier aber nicht. Mit der Zielvereinbarung sei - auf Betreiben der BSR — das Verhältnis zwischen dem Land Berlin und den BSR auf eine Basis gestellt worden, die eine Privatisierung entbehrlich mache. Gerade dieser Bezug mache deutlich, weshalb die Zielvereinbarung kein Umgehungsgeschäft darstellen könne. Eine Privatisierung durch Umwandlung und Anteilsveräußerung etwa wäre, obwohl sie zu höheren Einnahmen des Landes geführt hätte, ebenfalls kein Kreditgeschäft gewesen. Die BSR hätten eigene Interessen mit der Zielvereinbarung verfolgt, nämlich einerseits den Schutz vor einer Vollprivatisierung, andererseits aber die Sicherung ihrer Arbeitsplätze und vor allem den Gewinn einer fünfzehnjährigen Planungssicherheit. Deshalb sei auch die Initiative vom Vorstand der BSR und nicht vom Land ausgegangen. Nicht die Kapitalbeschaffung sei Anlass für die Zielvereinbarung gewesen. Die Zielvereinbarung sei damit ein Regelungsinstrument, durch das das bestehende Anstaltsverhältnis zwischen dem Land Berlin als Träger und den BSR als landeseigenem Unternehmen auf der Grundlage des Berliner Betriebegesetzes ergänzt werde. Eine Regierung dürfe zudem Entscheidungen treffen, die sich über die Zeit ihrer Regierungsverantwortlichkeit hinaus auswirkten. Die Geltendmachung der vermeintlichen Verletzung der Haushaltsrechte der Parlamente und Regierungen nachfolgender Wahlperioden könne zudem nicht Gegenstand des vorliegenden Organstreits sein. Davon abgesehen erscheine die Wertung der Antragstellerin, dass drohende Rückzahlungspflichten zukünftige Haushalte belasteten, als unzutreffend. Bei dem von den Vertragsparteien der Zielvereinbarung vorgestellten normalen Vertragsverlauf komme es gerade nicht zu einer Zahlungsverpflichtung des Landes, da eine Rückzahlung aus dem Einmalbetrag nach § 8.4 der Zielvereinbarung ausgeschlossen sei. Auch habe nur das Land Berlin, nicht aber die BSR ein ordentliches Kündigungsrecht. Nur im Fall einer vom Land selbst gewollten vorzeitigen Beendigung des Vertrages könne also eine Rückzahlungspflicht entstehen. Die Übernahme von Nebenpflichten in einem Vertrag könne im Übrigen ebenso wenig wie die RückZahlungsverpflichtungen bei einer vorzeitigen Vertragsbeendigung als Leistung einer „Sicherheit" iSv Art. 87 Abs. 1 VvB bezeichnet werden. Denn hiermit seien nur Hauptpflichten aus Verträgen gemeint, nicht Risikoübernahmen als Annex zu einer Hauptverpflichtung. Die Auffassung der Antragstellerin würde hingegen zu einer weitgehenden Lähmung fiskalischen Verwaltungshandelns führen. Denn praktisch jeder Vertrag bedürfte dann einer gesetzlichen Zustimmung, da das Risiko einer Rückzahlung von Leistungen im Rücktritts fall, des Eintritts einer vertraglichen Nebenpflicht zur Gewährleistung und die Rückzahlung von Vorleistungen im Kündigungsfall immer auf zukünftigen Haushalten lasteten. Auch sei eine Verpflichtungsermächtigung nicht erfor-

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derlich. Sie sei von der Verfassung bewusst nicht vorgesehen, sondern dem einfachen Haushaltsrecht überlassen und mithin dem Organstreit nicht zugänglich. Darüber hinaus sei sie vorhegend ohnehin nicht erforderlich, da eine Rückzahlung der Summen nicht vorgesehen sei und damit keine Zahlungspflicht für spätere Haushalte ausgelöst werde. Der Antrag zu 3. sei unzulässig, weil die mit ihm behaupteten Fehler des Haushaltsplans in Gestalt einer Verrechnung einzelner Haushaltsposten und die Verletzung des Bruttoprinzips einem Organstreitverfahren nicht zugänglich seien. Sie beträfen weder die Auslegung der Verfassung noch die Pflichten und Rechte des Abgeordnetenhauses und des Senats von Berlin zueinander, sondern die Auslegung und Anwendung einfachen Gesetzesrechts. Der Antrag zu 3. wäre im Übrigen unbegründet, weil die von der Antragstellerin behauptete \^errechnung der Einnahmen aus der Zielvereinbarung mit Forderungen der BSR aus den Jahren 1998 und 1999 nicht stattgefunden habe. Vielmehr seien die Forderungen durch die Zulassung überplanmäßiger Ausgaben bei Kapitel 13 20 Titel 521 36 von rund 52,5 Mio. DM beglichen worden. Auch der Antrag zu 4. könne keinen Erfolg haben. Der Antragsgegner macht diesbezüglich geltend, es ergebe sich aus dem Beschlussprotokoll der 29. Sitzung des Hauptausschusses vom 22.11.2000, dass der Hauptausschuss die beabsichtigte Begleichung der Forderungen der BSR aus den Jahren 1998 und 1999 noch im Haushaltsjahr 2000 nicht nur gekannt, sondern dieser auch zugestimmt habe. Die Zulassung überplanmäßiger Ausgaben habe damit nur der Realisierung des vom Hauptausschuss mehrheitlich zustimmend zur Kenntnis genommenen Verfahrens der Abwicklung der gegenseitigen Forderungen im Haushaltsjahr 2000 gedient. Bedauerlicherweise sei es bei der Erstellung des Uberschreitungsnachweises für 2000 zu zeitlichen Verzögerungen gekommen, so dass er erst am 25. September 2001 beschlossen und dem Abgeordnetenhaus vorgelegt worden sei. Dem Erfordernis der nachträglichen Genehmigung sei durch den Beschluss des Abgeordnetenhauses vom 31.1.2002 genügt. Außerdem hätten die materiellen Voraussetzungen für die Zulassung einer überplanmäßigen Ausgabe vorgelegen. III. Das Abgeordnetenhaus von Berlin hat gem. § 38 Abs. 2 VerfGHG von der Einleitung des Verfahrens Kenntnis erhalten. Der Richter Dr. Groth ist gem. § 16 Abs. 1 Nr. 3 VerfGHG in diesem Verfahren von der Ausübung seines Richteramtes ausgeschlossen. Der Verfassungsgerichtshof hat gem. § 24 Abs. 1 VerfGHG einstimmig auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

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B. Die Anträge zu 1. und 2. sind zulässig, jedoch unbegründet. Die Anträge zu 3. und 4. sind unzulässig. I. 1. Nach § 14 Nr. 1 VerfGHG entscheidet der Verfassungsgerichtshof über die Auslegung der Verfassung von Berlin aus Anlass von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Landesorgans oder anderer Beteiligter, die durch die Verfassung von Berlin oder durch die Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Gem. § 37 Abs. 1 VerfGHG ist der Antrag nur zulässig, wenn der Antragsteller geltend macht, dass er oder das Organ, dem er angehört, durch eine Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners in seinen ihm durch die Verfassung von Berlin übertragenen Rechten und Pflichten verletzt oder unmittelbar gefährdet ist. Die Antragsbefugnis setzt voraus, dass nach dem Vortrag der Antragstellerin die Verletzung eigener Rechte zumindest möglich ist (Beschl. v. 22.11.1993 - VerfGH 18/93 LVerfGE 1, 160, 165 und v. 8.4.1997 - VerfGH 78/96 - , LVerfGE 6, 66, 74). Die Antragstellerin als Fraktion im Abgeordnetenhaus und der Antragsgegner als oberstes Landesorgan sind nach §§ 36, 14 Nr. 1 VerfGHG im Organstreitverfahren, für das der Rechtsweg zum Verfassungsgerichtshof gem. Art. 84 Abs. 2 Nr. 1 VvB, § 14 Nr. 1 VerfGHG gegeben ist, parteifähig. Als Fraktion ist die Antragstellerin gem. § 37 Abs. 1 VerfGHG auch befugt, im Wege der Prozessstandschaft die Verletzung von verfassungsmäßigen Rechten des Abgeordnetenhauses - hier aus Art. 85, 87 und 88 VvB - geltend zu machen (Urt. v. 29.7.1993 VerfGH 65 A/93 LVerfGE 1, 124, 128; Beschl. v. 22.11.1993, aaO, LVerfGE 1, 160, 167 und v. 8.4.1997, aaO, LVerfGE 6, 66, 75 f). Der Zulässigkeit der Anträge steht nicht entgegen, dass nach deren Eingang beim Verfassungsgerichtshof das Abgeordnetenhaus von Berlin am 21.10.2001 neu gewählt wurde. Der Unterschied des vorliegenden Verfahrens zu dem vom Verfassungsgerichtshof entschiedenen und für zulässig gehaltenen Organstreitverfahren betreffend eine Vereinbarung des Senats von Berlin mit der Investitionsbank Berlin (Beschl. v. 8.4.1997, aaO, LVerfGE 6, 66) liegt darin, dass dort zwar ebenfalls die Vereinbarung in der alten Legislaturperiode abgeschlossen worden war, der Antrag auf Durchführung des Organstreitverfahrens aber erst später in der neuen Wahlperiode von der Fraktion des neuen Abgeordnetenhaus eingereicht wurde. Vorliegend wurden die Anträge hingegen noch von der Fraktion des alten Abgeordnetenhauses eingereicht. Zu den Folgen einer während des Organstreitverfahrens eingetretenen Beendigung der Wahlperiode für die Parteifähigkeit hat das Bundesverfassungsgericht bisher nicht abschließend Stellung genommen (vgl. dazu auch Piet^cker in: FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2001, 1. Bd., S. 597). So hat es das Bundesverfassungsgericht dahinstehen lassen, ob ein Abge-

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ordneter mit Ablauf der Wahlperiode die Parteifähigkeit verloren hat (BVerfGE 87, 207, 209). Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die einmal gegebene Zulässigkeit eines Normenkontrollantrages eines Drittels der Mitglieder des Deutschen Bundestages auch unabhängig davon fortbestehe, dass die Antragsteller infolge des Ablaufs der Wahlperiode ihre Stellung als Abgeordnete verHeren (BVerfGE 79, 311, 327). Mit dem Ablauf der Wahlperiode findet zwar nicht das Parlament im Sinne der verfassungsrechtlichen Institution sein Ende (sog. Organidentität; BVerfGE 4, 144, 152; Vietyker aaO, S. 598), wohl aber das durch seine konkret-personelle Zusammensetzung bestimmte Parlament (sog. personelle Diskontinuität; Klein in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 39, Stand: November 1997, Rn. 48; Morlok in: Dreier, Grundgesetz, Bd. II, 1998, Art. 39 Rn. 22 f). Grundsätzlich sind die Fraktionen nur für die Dauer der Legislaturperiode ständige Gliederungen des Parlaments. Mit dem Ende der Legislaturperiode verliert die Fraktion ihre Rechtsstellung (§11 Nr. 3 Fraktionsgesetz; vgl. zum Bundesrecht: § 54 Abs. 1 Nr. 3 AbgG). Daraus schließt ein Teil der Literatur, dass mit Ablauf der Wahlperiode Fraktionen infolge personeller Diskontinuität als Verfahrensbeteiligte fortfielen und das Organstreitverfahren unzulässig werde (Jekemt^ DOV 1976, 657, 659 ίί\ Achterberg Parlamentsrecht, 1984, S. 212; Utver 'vcr. Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 1987, § 56 Rn. 12). Nach anderer Ansicht wird dadurch die Diskontinuität zweckwidrig ausgeweitet. Deswegen soll die entsprechende Fraktion des neuen Parlaments das Verfahren fortsetzen können, wenn ein Organstreit, den eine Fraktion beantragt hat, über das Ende der Legislaturperiode hinaus andauert. Der Organstreit endet danach wegen Wegfalls der Antragsteller nur, wenn die Partei im neuen Parlament nicht mehr vertreten ist oder eine Fraktion nicht zu bilden vermag oder wenn die neue Fraktion des neuen Parlaments erklärt, dass sie den Organstreit nicht fortsetzen werde (IJlsamer in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/ Klein/Ulsamer, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, § 63, Stand: November 1987, Rn. 11; Morlok in: Dreier, Grundgesetz, Art. 39 Rn. 23; Vestalo^a Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 1991, § 7 Rn. 40; VerfGH NW, Urt. v. 29.4.1997 - VerfGH 9/95 - , NVwZ-RR 1998, 478 f). Diese Ansicht, die im Ergebnis die neue Fraktion des neu gebildeten Parlaments als Rechtsnachfolgerin der alten Fraktion (vgl. zu diesem Begriff: § 13 S. 2 Fraktionsgesetz sowie zum Bundesrecht: § 54 Abs. 7 S. 2 AbgG) sieht, ist vorzugswürdig. Entsprechend unterliegt die Zulässigkeit eines verfassungsrechtlichen Organstreitverfahrens nach §§ 36 ff VerfGHG keinen Zweifeln, wenn — wie hier - die neue Fraktion ausdrücklich die Fortsetzung des Verfahrens erklärt (vgl. zu den Fraktionen der Bezirksverordnetenversammlungen: VerfGH, Beschl. v. 19.10.1992 - VerfGH 24/92 - , LVerfGE 1, 9, 17 f). Es bestehen außerdem keine Bedenken gegen die fortdauernde Zulässigkeit des Organstreits, weil dieser nur auf eine verfassungsgerichtliche Entscheidung feststellenden Charakters zielt (§ 39 VerfGHG). Hinzu kommt, dass verfassungsgerichtliche Verfahren typischerweise einige Zeit in Anspruch nehmen, so dass die

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Verfahrensbeteiligten, deren Lebensdauer von der Dauer der Wahlperiode abhängig ist, weitgehend gehindert wären, die Klärung einer klärungsbedürftigen verfassungsrechtlichen Rechtsfrage zu betreiben, weil sie Gefahr laufen, vor Beendigung dieser Auseinandersetzung ihre Parteifähigkeit einzubüßen (Beschl. v. 19.10.1992, aaO, LVerfGE 1, 9, 18). Rechtsschutz im Organstreitverfahren unter Beteiligung von der Diskontinuität unterliegenden Beteiligten fände ansonsten in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode nicht mehr statt (Morlok in: Dreier, Grundgesetz, Art. 39 Rn. 23 sowie Fn. 56). Zugleich kann ein öffentliches Interesse an der Klärung der Verfassungsfrage befriedigt werden. Als Korrektiv bleibt zudem das Erfordernis des fortbestehenden Rechtsschutzbedürfnisses (Piet^ck.er aaO, S. 598). Schließlich ist zu bedenken, dass die Nachfolgefraktion des neuen Parlaments in der Regel auch keinen neuen Antrag stellen könnte, weil zumeist die SechsMonats-Frist des § 37 Abs. 3 VerfGHG abgelaufen wäre. Die am 11.1.2001 beim Verfassungsgerichtshof eingegangenen Anträge zu 1. und 2. sind fristgerecht gestellt worden. Gem. § 37 Abs. 3 VerfGHG muss ein Antrag im Organstreitverfahren binnen sechs Monaten gestellt werden, nachdem die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung dem Antragsteller bekannt geworden ist. Diese Frist hat die Antragstellerin hinsichtlich des Antrags zu 1. einschließlich des unter 2. gestellten Hilfsantrags gewahrt, da sie von der Zielvereinbarung frühestens durch die am 12.7.2000 in der Verwaltung des Abgeordnetenhauses eingegangene Vorlage des Antragsgegners über den Abschluss der Zielvereinbarung (Drs 14/562) vom 11.7.2000 verlässlich Kenntnis erhalten hatte. Von der von den BSR beabsichtigten Kreditaufnahme erhielt sie zudem erst in der Sitzung des Ausschusses für Wirtschaft, Betriebe und Technologie vom 25.9.2000 Kenntnis. Vorherige Presseberichte über die Zielvereinbarung waren hingegen als sog. private Verlautbarungen ohnehin grundsätzlich nicht geeignet, die Frist des § 37 Abs. 3 VerfGHG in Gang zu setzen (vgl. Beschl. v. 8.4.1997, aaO, LVerfGE 6, 66, 76). Die Antragstellerin hat hinsichtlich ihrer Anträge zu 1. und 2. hinreichend deutlich dargelegt, dass das Abgeordnetenhaus durch die angegriffenen Maßnahmen in seinem Recht aus Art. 87 Abs. 1 VvB verletzt sein könnte. Nach dem Vorbringen der Antragstellerin kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass der Antragsgegner für den Abschluss der Zielvereinbarung bzw. die von den BSR aufgenommenen Kredite eine gesetzliche Ermächtigung des Abgeordnetenhauses hätte einholen müssen. Der Antragstellerin steht ein Rechtsschutzbedürfnis für die Anträge zu 1. und 2. zu. Auch der nach den Neuwahlen neu gebildete Antragsgegner hat in seinen Stellungnahmen zum Ausdruck gebracht, dass nach seiner Rechtsauffassung entsprechende Rechtsgeschäfte wie die Zielvereinbarung und in diesem Zusammenhang erfolgende Kreditaufnahmen durch juristische Personen des öffentlichen Rechts keinen parlamentarischen Vorbehalten unterworfen sind. Damit besteht eine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass es auch in Zukunft Streitigkeiten LVerfGE 14

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zwischen den Beteiligten aus ähnlichem Anlass geben kann (vgl. Beschl. v. 8.4.1997, aaO; vgl. zum Bundesrecht: B\ r erfGE 87, 207, 209). 2. Der Antrag zu 3. ist unzulässig, da der Antragstellerin das Rechtsschutzbedürfnis fehlt. Denn die mit diesem Antrag beanstandete Saldierung von Zahlungen der BSR aus der Zielvereinbarung mit den Restforderungen der BSR aus den Jahren 1998 und 1999 im Haushalt 2000 hat der Antragsgegner tatsächlich nicht vorgenommen. Obwohl die Antragstellerin dies mittlerweile selbst einräumt, hält sie ihren Antrag zu 3. weiter aufrecht. 3. Der (Hilfs-)Antrag zu 4. ist ebenfalls unzulässig. Für die Frage der Zulässigkeit des Antrags zu 4. ist es zunächst grundsätzlich ohne Bedeutung, dass das Abgeordnetenhaus von Berlin die im Streit befindlichen überplanmäßigen Ausgaben am 31.1.2002 nachträglich genehmigt hat. Eine Fraktion als Teil des Parlaments kann dessen Rechte auch dann in einem Organstreitverfahren geltend machen, wenn das Parlament selbst die Maßnahme gebilligt hat. Diese Befugnis, Rechte des Abgeordnetenhauses selbst gegen dessen Willen vor dem Verfassungsgerichtshof geltend zu machen, bringt erst den Minderheitenschutz zur Geltung, der durch die Zulassung der Prozessstandschaft in § 37 Abs. 1 VerfGHG beabsichtigt war (Beschl. v. 6.12.1994 - VerfGH 65/93 - , LVerfGE 1, 131, 135 und vom 22.11.1993, aaO, LVerfGE 1, 160, 167 f; vgl. zum Bundesrecht: BVerfGE 45, 1, 29 f). Die Zulässigkeit muss jedoch aus folgenden Erwägungen verneint werden: Der Antrag zu 4. enthält seinem Wortlaut nach allein die Beanstandung, dass der Antragsgegner für die Haushaltsüberschreitung im Jahr 2000 entgegen Art. 88 Abs. 2 VvB keine Genehmigung des Abgeordnetenhauses eingeholt habe. Nachdem das Abgeordnetenhaus am 31.1.2002 seine Genehmigung zu der Haushaltsüberschreitung erteilt hat, hat der Antrag zu 4. in der gestellten Form seine Erledigung gefunden. Im Hinblick auf die Genehmigungserteilung des Abgeordnetenhauses hätte die Antragstellerin ihren Antrag auf die Feststellung umstellen müssen, der Antragsgegner habe nicht rechtzeitig, nämlich nicht unverzüglich nach Abschluss des Haushaltsjahres 2000 am 31.12.2000, die nachträgliche Genehmigung des Abgeordnetenhauses eingeholt. Dies hat sie jedoch innerhalb der Frist des § 37 Abs. 3 VerfGHG, wonach der Antrag binnen sechs Monaten nach Bekanntwerden der beanstandeten Maßnahme oder Unterlassung eingegangen sein muss, weder ausdrücklich noch konkludent getan. Die Antragstellerin hatte spätestens am 13.12.2001 von der Absicht des Antragsgegners, die nachträgliche Genehmigung des Abgeordnetenhauses einzuholen, Kenntnis, da in der 2. Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 13.12.2001 die Vorlage Drs 15/4 über die Genehmigung von über- und außerplanmäßigen Ausgaben vom 25.9.2001 durch das Abgeordnetenhaus an den Hauptausschuss überwiesen wurde (PIPr 15/2 S. 76 B). Dennoch hat die Antragstellerin in ihrem Schriftsatz vom 6.5.2002 weiterhin das VorhandenLVerfGE 14

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sein der Beschlussvorlage vom 25.9.2001 bestritten und ist allein davon ausgegangen, dass die nachträgliche Genehmigung immer noch nicht erteilt sei. Erstmals mit ihrem beim Verfassungsgerichtshof am 19.6.2002 eingegangenen Schriftsatz hat sie gerügt, der Antragsgegner habe Art. 88 Abs. 2 VvB verletzt, weil er nicht unverzüglich die Zustimmung des Abgeordnetenhauses nach Abschluss des Haushaltsjahres nach dem 31.12.2000 eingeholt habe. Unabhängig davon, dass keine entsprechende Umstellung des Antrags zu 4. erfolgt ist, war zu diesem Zeitpunkt die Sechs-Monats-Frist des § 37 Abs. 3 VerfGHG bereits abgelaufen. II. 1. Der Antrag zu 1. ist unbegründet. Nach Art. 87 Abs. 1 VvB dürfen ohne gesetzliche Grundlage, also ohne vorheriges Gesetz des Abgeordnetenhauses von Berlin, weder Anleihen aufgenommen noch Sicherheiten geleistet werden. Der Begriff der „Anleihe" in Art. 87 Abs. 1 VvB entspricht dem des „Kredits", den der inhaltlich entsprechende Art. 115 Abs. 1 GG sowie alle übrigen Landesverfassungen verwenden. Der Begriff des „Kredits" ist in den bundes- und landesverfassungsrechdichen Bestimmungen ebenso wenig definiert wie der Begriff der Anleihe in Art. 87 Abs. 1 VvB. Aus dem Zweck dieser Bestimmungen, die Verschuldung des Staates von parlamentarischer Zustimmung abhängig zu machen, folgt, dass unter der Aufnahme von Krediten die Beschaffung von Geldmitteln zu verstehen ist, die zurückgezahlt werden müssen. Auf die Art und Weise und die rechtliche Ausgestaltung der Kreditaufnahme kommt es für die Notwendigkeit einer gesetzlichen Ermächtigung nicht an. Eine Kreditaufnahme liegt damit vor, wenn dem Staat unmittelbar oder mittelbar Geldleistungen zugewandt werden, die er zurückzahlen und in der Regel auch verzinsen muss, die mithin Finanzschulden begründen (Beschl. v. 8.4.1997 - VerfGH 78/96 aaO, mwN). Das Erfordernis einer gesetzlichen Ermächtigung für Anleihen und Sicherheiten ergänzt das Ausgabenbewilligungsrecht des Parlaments (Art. 85 VvB) und gehört zum Kern des parlamentarischen Budgetrechts, indem es verhindert, dass die Exekutive auf dem Umweg über die Verschuldung die Haushaltsrechte des Parlaments umgeht (vgl. zum Bundesrecht: BVerfGE 67, 256, 281; Wichel in: Bonner Kommentar, Grundgesetz, Art. 115, Stand: April 1978, Rn. 19; Heun in: Dreier, Grundgesetz, Bd. III, 2000, Art. 115 Rn. 11). Das Entscheidungsrecht des Parlaments über die Deckungsmittel des Haushalts soll sichergestellt und verhindert werden, dass diese Deckungsmittel schon für künftige Jahre vorbelastet werden (Maun^in: Maunz/Dürig, aaO, Art. 115, Stand: 1981, Rn. 19). Die staatliche Kreditaufnahme ist eine rechtfertigungsbedürftige Zukunftsbelastung. Jede längerfristige staatliche Kreditaufnahme bedeutet einen Vorgriff auf die Dispositionsmöglichkeiten des jeweiligen Haushaltsgesetzgebers künftiger Legislaturperioden, der entsprechende Zins- und Tilgungslasten zu finanzieren hat (Heun in: Dreier,

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aaO, Art. 115 Rn. 7 mwN; Fischer-Menshausen in: v. Münch/Kunig, GrundgesetzKommentar, Bd. 3, 3. Aufl. 1996, Art. 115 Rn. 1). Die gesetzliche Ermächtigung kann im Haushaltsgesetz oder in jedem anderen Gesetz erteilt werden. Die bloße Einstellung der Einnahmen aus Krediten in den Haushaltsplan ist dabei noch keine ausreichende gesetzliche Ermächtigung. Dieser wird zwar durch Gesetz festgestellt, ist aber nicht selbst das von Art. 87 VvB verlangte Gesetz (vgl. zum Bundesrecht: Wiebel in: Bonner Kommentar, aaO, Art. 115 Rn. 64 ff, 68; Stern Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 1240; Maun^ in: Maunz/Dürig, aaO, Art. 115 Rn. 8; Friaufm: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IV, 1990, §91 Rn. 25; Höfling Staatsschuldenrecht, 1993, S. 19 f). Der Antragsgegner hat das Haushaltsrecht des Abgeordnetenhauses von Berlin aus Art. 87 Abs. 1 VvB nicht verletzt. Für die Kreditaufnahme der BSR anlässlich der von ihr aufgrund der Zielvereinbarung vom 6.7.2000 geleisteten Zahlungen an das Land Berlin musste der Antragsgegner nicht die vorherige Ermächtigung des Abgeordnetenhauses einholen. Die Aufnahme von Krediten durch juristische Personen des öffentlichen Rechts wird vom Regelungsgehalt des Art. 87 Abs. 1 VvB nicht erfasst, und zwar selbst dann nicht, wenn die juristischen Personen vom Land finanziert werden oder das Land kraft ausdrücklicher Garantie oder seiner Anstaltslast für ihre Verbindlichkeiten haftet (Korbmacher in: Driehaus, Verfassung von Berlin, 2002, Art. 87 Rn. 8; vgl. zum Bundesrecht: Kilian Nebenhaushalte des Bundes, 1993, S. 722 f; Siekmann in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, 3. Aufl. 2003, Art. 115 Rn. 58; Heun in: Dreier, aaO, Art. 115 Rn. 35; Gröpl in: Bonner Kommentar, aaO, Art. 110, Stand: Dezember 2001, Rn. 101; Wendt in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Bonner Grundgesetz, Bd. 3, 4. Aufl. 2001, Art. 115 Rn. 70). Daraus, dass die Verfassungsnorm — anders als Art. 75 VvB a.F., der bis zum Inkrafttreten des Achtundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung der Verfassung von Berlin vom 6.7.1994 (GVB1. S. 217) allein den Senat verpflichtete, ohne gesetzliche Grundlage keine Anleihen aufzunehmen oder Sicherheiten zu leisten — keinen Normadressaten mehr nennt, kann nicht geschlossen werden, dass der Gesetzesvorbehalt des Art. 87 Abs. 1 VvB auch für Kreditaufnahmen von juristischen Personen des öffentlichen Rechts gilt (so aber Pfennig in: Pfennig/Neumann, Verfassung von Berlin, 3. Aufl. 2000, Art. 87 Rn. 11). Zum einen spricht alles dafür, dass der Hinweis auf den Senat wegen seiner unklaren und missverständlichen Bedeutung gestrichen wurde, um zum Ausdruck zu bringen, dass der Anwendungsbereich der Vorschrift nicht nur auf den Geschäftsbereich der Senats Verwaltungen beschränkt ist, sondern vielmehr die gesamte Berliner Verwaltung einschließlich der Bezirksverwaltungen bindet (so die Begründung zu einem Entwurf zum Neunten Gesetz zur Änderung der Verfassung von Berlin vom 27.9.1965 - Drs IV/1153 S. 2 der eine mit Art. 87 Abs. 1 VvB n.F. fast identische Formulierung vorsah, aber letztendlich nicht beschlossen wurde). Zum LVerfGE 14

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anderen ist insbesondere maßgeblich, dass die Regelung des Art. 87 Abs. 1 VvB in engem Zusammenhang mit Art. 85 Abs. 1 S. 1 VvB steht. Nach Art. 85 Abs. 1 S. 1 VvB müssen alle Einnahmen und Ausgaben für jedes Rechnungsjahr in dem Haushaltsplan veranschlagt werden, der durch das Haushaltsgesetz festgestellt wird. Art. 85 Abs. 1 S. 1 VvB betrifft nur die Einnahmen und Ausgaben des Rechtssubjekts „Land Berlin" ebenso wie Art. 110 Abs. 1 S. 1 GG nur die Einnahmen und Ausgaben des Rechtssubjekts „Bund" erfasst. Juristische Personen des öffentlichen Rechts gehören zwar im weiteren Sinne auch zum „Land" bzw. „Bund". Sie sind jedoch rechtlich verselbständigte Rechtssubjekte mit selbständiger Wirtschaftsführung (vgl. auch § 106 LHO). Ihre Haushaltswirtschaft wickelt sich außerhalb des staatlichen Haushaltsplans ab. Sie haben einen eigenen Haushalt, der als solcher vollständig ist (Stern aaO, S. 1240; Piduch Bundeshaushaltsrecht, 2. Aufl., Art. 110 GG Rn. 37, Stand: März 1985; Siekmann in: Sachs, Grundgesetz, Art. 110 Rn. 95). Dass unter in den Haushaltsplan einzustellenden Einnahmen und Ausgaben nicht solche der juristischen Personen des öffentlichen Rechts zu verstehen sind, zeigt auch die bundesrechtliche Regelung des Art. 110 Abs. 1 S. 1 HS. 2 GG. Danach brauchen bei Bundesbetrieben und Sondervermögen, die jeweils rechtlich unselbständig sind (Siekmann in: Sachs, Grundgesetz, Art. 110 Rn. 94; Heun in: Dreier, Grundgesetz, Art. 110 Rn. 19, Art. 115 Rn. 32; Gröpl in: Bonner Kommentar, aaO, Art. 110 Rn. 98 ff; BT-Drs. V/3040 S. 44), nur dre Zuführungen oder die Ablieferungen eingestellt zu werden. Für rechtlich unselbständige Betriebe und Sondervermögen ist nur deswegen eine Regelung getroffen worden, weil insofern Einheitlichkeit mit dem Rechtssubjekt Bund besteht (vgl. auch V/3040 S. 47). Die rechtlich selbständigen Nebenhaushalte des Bundes stellen hingegen anders als die Sondervermögen des Bundes und die Bundesbetriebe keinen echten Ausnahmetatbestand dar, sondern sie liegen von vornherein außerhalb des Regelungsbereiches des Art. 110 Abs. 1 S. 1 HS. 1 GG {Hillgruber in: v. Mangoldt/Klein/Starck, aaO., Art. 110 Rn. 40). Nichts anderes gilt für die Verfassung von Berlin, wenn auch Art. 85 VvB nicht wie Art. 110 Abs. 1 S. 1 HS. 2 GG ausdrücklich einen Ausnahmetatbestand für rechtlich unselbständige Betriebe und Sondervermögen formuliert. Stattdessen gibt es die Regelung des Art. 85 Abs. 1 S. 2 VvB, wonach durch Gesetz in besonderen Ausnahmefällen ein Nachweis von Einnahmen und Ausgaben außerhalb des Haushaltsplans zugelassen werden kann. Derartige Ausnahmen von den Grundsätzen der Einheit und Vollständigkeit des Haushaltsplans erfassen diejenigen Teile der Verwaltung, die — wie z.B. die Eigenbetriebe — wegen ihrer wirtschaftlichen Zielsetzung in der Form von Betrieben ohne eigene Rechtspersönlichkeit und überwiegend kaufmännisch geführt werden und bei denen der Haushaltsplan seine Aufgabe als Planungs-, Bewirtschaftungsund Kontrollinstrument nicht erfüllen würde, während die von den juristischen Personen aufzustellenden Haushaltspläne ohnehin eigenständiger Natur und nicht mit dem Landeshaushaltsplan verzahnt sind (Pfennig ΆΆΟ, Art. 85 Rn. 7).

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Der Annahme, dass Art. 85 Abs. 1 S. 1 VvB nur die Einnahmen und Ausgaben unmittelbar des Landes meint, steht nicht entgegen, dass diese Verfassungsnorm im Gegensatz zu Art. 110 Abs. 1 S. 1 HS. 1 GG, der ausdrücklich alle Einnahmen und Ausgaben „des Bundes" betrifft, nicht von allen Eingaben und Ausgaben „des Landes" spricht. Denn aus der Begriffswahl „des Bundes" lässt sich nicht die Ausgrenzung der Einnahmen und Ausgaben der mittelbaren Bundesverwaltung durch bundesunmittelbare juristische Personen des öffentlichen Rechts aus dem sachlichen Anwendungsbereich der Art. 110, 115 GG zwingend folgern. Unter dem Begriff „Bund" könnten über die unmittelbare Bundesverwaltung hinaus auch alle sonstigen selbständigen Rechtsträger in den Formen des öffentlichen wie privaten Rechts, an denen nur der Bund beteiligt ist, verstanden werden. Eine solche extensive Auslegung entspricht jedoch nicht der verfassungsgeschichtlichen Tradition, in der Art. 110 GG steht. Es bestand die allgemeine Auffassung, dass die vorangegangenen vergleichbaren Regelungen von Art. 99 Abs. 1 der Preußischen Verfassung, Art. 69 S. 1 der Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 sowie Art. 85 Abs. 1 WRV begriffsnotwendig nur die Einnahmen und Ausgaben des Reiches selbst, nicht aber solche anderer Rechtssubjekte enthielten (Kilian aaO, S. 241 ff; Puhl Budgetflucht und Haushaltsverfassung, 1996, S. 122 ff; Hillgruber in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, aaO, Art. 110 Rn. 33 ff; jeweils mwN). Dies kommt auch in den Materialien zur Verfassung von Berlin von 1950 zum Ausdruck. So wurde in der 29. Sitzung des Verfassungsausschusses vom 26.11.1947 festgehalten, dass die Anstalten des öffentlichen Rechts eine „eigene Geschäftsgebarung" haben und selbständig über ihr Vermögen verfügen (Äußerung von Wildangel (SED), veröffentlicht in: Reichhardt (Hrsg.), Die Entstehung der Verfassung von Berlin, 1990, Bd. I, Dok 113 S. 1051). Darüber hinaus steht der Annahme, dass die Verfassung von Berlin anders als das Grundgesetz auch Einnahmen der selbständigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts dem Landeshaushalt unterstellt, das Haushaltsgrundsätzegesetz entgegen, zu dessen Erlass der Bundesgesetzgeber durch Art. 109 Abs. 3 GG ermächtigt wurde, um für Bund und Länder gemeinsam geltende Grundsätze für das Haushaltsrecht aufzustellen. Danach sind der Bund und die Länder verpflichtet, ihr Haushaltsrecht nach den im Haushaltsgrundsätzegesetz aufgeführten Grundsätzen zu regeln (§1 S. 2 HGrG). Nach § 2 S. 1 HGrG dient der Haushaltsplan der Feststellung und Deckung des Finanzbedarfs, der zur Erfüllung der Aufgaben des Bundes oder des Landes im Bewilligungszeitraum voraussichtlich notwendig ist. Dass juristische Personen des öffentlichen Rechts nicht Teil des Landeshaushaltsplans sind, ergibt sich auch aus § 42 Abs. 1, § 48 Abs. 2 S. 1 HGrG: Nach § 42 Abs. 1 HGrG wird die gesamte Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes und der Länder einschließlich ihrer Sondervermögen und Betriebe von Rechnungshöfen überprüft. Auf juristische Personen des öffentlichen Rechts ist diese Vorschrift jedoch nur entsprechend anwendbar (§ 48 Abs. 2 S. 1 HGrG). Das Haushaltsgrundsätzegesetz ist Bundesrecht und daher auch für LVerfGE 14

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Landesverfassungsrecht von Bedeutung. Soweit in diesem Bundesgesetz Haushaltsgrundsätze Aufnahme gefunden haben, erheben sie Geltungsanspruch gegenüber dem Bund und allen Ländern. Der Landesgesetzgeber darf von diesen Vorgaben nicht abweichen. Entgegenstehendes Landesrecht — auch Landesverfassungsrecht - würde wegen Art. 31 GG verdrängt (Gröpl in: Bonner Kommentar, aaO, Art. 110 Rn. 78 f). Dieses Ergebnis kann hier durch eine bundesrechtskonforme Auslegung des Art. 85 Abs. 1 S. 1 VvB vermieden werden. Art. 87 Abs. 1 VvB ergänzt das zentrale, in Art. 85 VvB verankerte parlamentarische Budgetrecht. Während Art. 85 Abs. 1 VvB nur allgemein die Einstellung von Einnahmen und Ausgaben in den Haushaltsplan und dessen Feststellung durch Gesetz fordert, sichert Art. 87 Abs. 1 VvB das Bewilligungsrecht des Parlaments auch im Blick auf solche Einnahmen und Ausgaben, die sich aufgrund von Kreditaufnahmen ergeben. Der staatsschuldenrechtliche Gesetzesvorbehalt ergänzt und konkretisiert damit zugleich das Vollständigkeitsgebot des Haushaltsplans (vgl. zum Bundesrecht bezüglich des Verhältnisses von Art. 110 GG zu Art. 115 GG: Höfling aaO, S. 16; Piduch aaO, Art. 115 GG Rn. 11, Stand: Januar 1994; Gröpl in: Bonner Kommentar, aaO, Art. 110 Rn. 92). Der enge Zusammenhang der Regelungen des Art. 85 Abs. 1 S. 1 VvB und des Art. 87 Abs. 1 VvB lässt allein die Schlussfolgerung zu, dass Art. 87 Abs. 1 VvB nur Kreditaufnahmen unmittelbar des Landes einem Gesetzesvorbehalt unterzieht, weil nur unmittelbare Kredite des Landes die Einnahmen und Ausgaben des Landes im Haushaltsplan betreffen können, während Kreditaufnahmen durch juristische Personen des öffentlichen Rechts den Landeshaushalt unberührt lassen, da diese eine vom Haushaltsplan des Landes unabhängige eigene Haushaltsführung haben. Rechtlich unerheblich ist schließlich, dass Art. 87 Abs. 1 VvB anders als Art. 115 Abs. 1 S. 3 GG nicht den Gesetzgeber ermächtigt, im Zusammenhang mit der Kreditbeschaffung Näheres zu regeln. Denn zu Unrecht geht die Antragstellerin davon aus, dass Art. 115 Abs. 1 S. 3 GG für den Bundesgesetzgeber erst die Möglichkeit eröffne, juristische Personen des öffentlichen Rechts vom Gesetzesvorbehalt für Kreditaufnahmen auszunehmen. Wie dargelegt, werden juristische Personen des öffentlichen Rechts von diesem Gesetzesvorbehalt gar nicht erfasst, so dass es einer gesetzlichen Ausnahmeregelung nicht bedarf. Eine solche gibt es entsprechend auf Bundesebene auch nicht. Die Antragstellerin stützt sich für ihre Auffassung im Übrigen allein auf Pfennig aaO, Art. 87 Rn. 11, dessen Hinweise auf BVerfGE 79, 311, 352 sowie Jarassm: Jarass/Pieroth, Art. 115 GG Rn. 1 jedoch nicht einschlägig sind. Die Tatsache, dass juristische Personen des öffentlichen Rechts als vom Land gesonderte Rechtssubjekte haushaltsrechtlich selbständig sind und die haushaltsverfassungsrechtlichen Schranken keine unmittelbare Anwendung auf sie finden, führt zwar dazu, dass infolge von Kreditaufnahmen dieser juristischen Personen die Gefahr nicht unerheblicher Staatsverschuldung ohne Beteiligung des LVerfGE 14

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Parlaments durch die sog. Flucht in Nebenhaushalte besteht (vgl. zum Bundesrecht: Gröplin: Bonner Kommentar, aaO, Art. 110 Rn. 101). Dennoch kann nicht ohne weiteres die Kreditaufnahme einer juristischen Person dem Land zugerechnet werden mit der Folge, dass eine parlamentarische Mitwirkung erforderlich wäre, und zwar auch dann nicht, wenn das Land mittelbar finanziell durch die Kreditaufnahme profitieren mag (ablehnend hinsichtlich einer ausdehnenden Anwendung der Art. 110 ff GG auf die mittelbare Bundesverwaltung: Gröpl in: Bonner Kommentar, aaO, Art. 110 Rn. 101; Hillgruber in: v. Mangoldt/Klein/Starck, aaO, Art. 110 Rn. 38 ff). Das Ziel, eine Staatsverschuldung nur bei vorheriger parlamentarischer Mitwirkung zuzulassen, mag zwar wünschenswert sein. Die für das Bundesrecht vertretene Ansicht, dass Art. 115 Abs. 1 S. 1 GG auch Geltungsanspruch für rechtlich selbständige juristische Personen verlange, um den Gesetzesvorbehalt nicht leer laufen zu lassen (Pub/ aaO, S. 512 f), lässt sich jedoch aus den haushaltsrechtlichen Verfassungsbestimmungen nicht herauslesen. Rechtlich handelt es sich allein um eine Kreditaufnahme der juristischen Person. Die Kreditaufnahme der BSR kann auch nicht als sog. verdeckte Kreditaufnahme dem Land Berlin zugerechnet werden. Sie stellt keinen Gestaltungsmissbrauch und damit keine Umgehung von Art. 87 Abs. 1 VvB dar. Infolge der Risiken, die — da die Kreditaufnahme über Nebenhaushalte oftmals ein Mehrfaches der direkten Kreditaufnahme beträgt - für die Finanzwirtschaft bestehen, wird z.T. für bestimmte Fallkonstellationen eine Ausdehnung der schuldenregulierenden Vorgaben der Verfassung auch auf die mittelbare Bundesverwaltung deswegen befürwortet, weil es im Ergebnis nicht richtig sein könne, dass der Bund nur eine juristische Person zu gründen brauche, die er zur Kreditaufnahme ermächtige, um frei von Bindungen des Art. 115 Abs. 1 GG die Erfüllung seiner Aufgaben mit Krediten finanzieren zu können (vgl. zum Bundesrecht: Siekmann in: Sachs, Grundgesetz, Art. 110 Rn. 96 f; Art. 115 Rn. 53 f; 58; Wendtva·. v. Mangoldt/Klein/Starck, aaO, Art. 115 Rn. 70). Die juristische Begründung für eine Ausweitung der haushaltsverfassungsrechtlichen Schranken bleibt dogmatisch allerdings unklar (vgl. auch Siekmann in: Sachs, Grundgesetz, Art. 115 Rn. 53 f). Eine missbräuchliche Umgehung der haushaltsverfassungsrechtlichen Vorschriften soll vorliegen, wenn besondere Rechtssubjekte z.B. als sog. Finanzierungsgesellschaften gegründet werden, die weder eigene Sachaufgaben noch eigenes Vermögen haben, aber Kredite aufnehmen dürfen, für die der Bund bzw. das Land entweder ausdrücklich die Garantie übernehmen oder kraft der Anstaltslast haften. Derartige juristische Personen des öffentlichen Rechts, die überwiegend oder ausschließlich finanzwirtschaftliche Transaktionen durchführen sollen, seien wie ein integraler Bestandteil des Bundes- bzw. Landeshaushalts zu behandeln (Siekmann in: Sachs, Grundgesetz, Art. 110 Rn. 96 f; Art. 115 Rn. 59; Wendt in: v. Mangoldt/Klein/Starck, aaO, Art. 110 Rn. 70; Korbmacher in: Driehaus, aaO, Art. 87 Rn. 9). Diese Konstellation ist indes hier schon deswegen nicht gegeben, weil die BSR eigene Sachaufgaben erfüllen und über ein eigenes Vermögen verfüLVerfGE 14

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gen. Die von der Antragstellerin behauptete Vergleichbarkeit dieser Konstellation mit dem vorliegenden Fall ist daher nicht nachvollziehbar. Ferner wird die Anwendung der haushaltsverfassungsrechtlichen Schranken für Konstellationen der sog. Kreditaufnahme durch Dritte in Betracht gezogen. Bei der Kreditaufnahme durch Dritte sind zwei Fälle zu unterscheiden. Wird einem Dritten der Auftrag erteilt, für Rechnung des Bundes bzw. des Landes Kredite zur Finanzierung von Bundes- bzw. Landesaufgaben aufzunehmen, so soll dieser Auftrag der eigenen Verschuldung gleichzusetzen sein und einer gesetzlichen Ermächtigung bedürfen (vgl. Patzig Haushaltsrecht des Bundes und der Länder, Bd. II, Kommentar, Art. 115 GG, Stand 1991, Rn. 11). Diese Konstellation liegt hier schon deswegen nicht vor, weil die unmittelbare Kreditfinanzierung nicht durch das Land Berlin erfolgt. Bei der zweiten Fallkonstellation handelt es sich um einen Auftrag an einen Dritten, im eigenen Namen und für eigene Rechnung Kredite zur Finanzierung von Bundes- oder Landesaufgaben unter interner Übernahme des Schuldendienstes durch den Bund bzw. das Land aufzunehmen. Zwar ist formalrechtlich auch hier der Tatbestand des Art. 115 Abs. 1 GG bzw. Art. 87 Abs. 1 VvB nicht gegeben (vgl. Patzig aaO). Der Haushaltsplan darf Sachverhalte aber nicht verschleiern. Deshalb gelten als Einnahmen auch Einnahmen aus Krediten, die von einer juristischen Person, an der das Land maßgeblich beteiligt ist, in dessen Auftrag aufgenommen und ihm zur Verfügung gestellt werden und für die das Land den Finanzierungsdienst übernimmt (VerfGH Rh-Pf, Beschl. v. 20.11.1996 - VGH Ν 3/96 - , DÖV 1997, 246; Höfling aaO, S. 53). Aber auch diese Konstellation ist hier nicht gegeben, da das Land Berlin nicht für die BSR den Schuldendienst übernommen hat und dies auch in der Zielvereinbarung nicht vorgesehen war. Eine über diese geschilderten Fälle hinausgehende weitere Ausdehnung des Anwendungsbereichs von Art. 87 Abs. 1 VvB kommt nicht in Betracht. Damit hat es das Land tatsächlich haushaltsverfassungsrechtlich in der Hand, durch Ausgliederung staatlicher Aufgaben aus der unmittelbaren Staatsorganisation und deren Verlagerung auf von ihm gesteuerte, selbständige juristische Personen des öffentlichen oder privaten Rechts Teile seiner Verwaltung und deren Finanzwirtschaft dem parlamentarischen Budgetbewilligungsrecht durch Flucht in Nebenhaushalte zu entziehen (vgl. Piducb aaO, Art. 110, Stand: Januar 1995, Rn. 37; Gröpl in: Bonner Kommentar, aaO, Art. 110 Rn. 101; Hillgruber in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, aaO, Art. 110 Rn. 38). Die Flucht des Staates aus dem allgemeinen Budget und seinen Regularien ist keine neue Erscheinung (Selmer in: Verfassungsstaatlichkeit, FS für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, 1997, S. 568 mwN; Patzig aaO, Bd. I, 1981, S. 116; Hern Staatshaushalt und Staatsleitung, 1989, S. 382 ff). Dennoch bietet der Wortlaut der Verfassung keinen Anhaltspunkt, seinen Anwendungsbereich auch auf Kreditaufnahmen durch juristische Personen des öffentlichen Rechts, die eigene Sachaufgaben erfüllen sowie im eigenen Namen Kredite aufnehmen und finanzieren, auszudehnen. Es fehlen verallgemeinerungs-

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fähige Kriterien, die eine Rechtssicherheit bietende Abgrenzung zwischen erlaubter Kreditaufnahme und Umgehung der haushaltsverfassungsrechtlichen Vorschriften bieten könnten. Letztendlich müsste in jedem Einzelfall die von der Antragstellerin versuchte Motivforschung für die Kreditaufnahme unternommen werden. Eine Behauptung wie diejenige der Antragstellerin, für die BSR gebe es keinen nachvollziehbaren wirtschaftlichen Zweck für die Kreditaufnahme, wird sich zudem kaum eindeutig belegen lassen. Gerade im vorliegenden Fall spricht einiges dafür, dass ein nachvollziehbarer wirtschaftlicher Zweck der BSR für den Abschluss der Zielvereinbarung sowie der daraufhin von ihr getätigten Kreditaufnahmen in der Abwendung ihrer Privatisierung und einer damit einhergehenden Sicherheit für die kommenden fünfzehn Jahre liegt, weiterhin ihren Aufgaben unter Gewährleistung des Anschluss- und ΒenutzungsZwangs (vgl. § 12.1.2 der Zielvereinbarung) nachkommen zu dürfen. Schließlich hat das Land Berlin für die Kreditaufnahme der BSR auch keine Sicherheit iSv Art. 87 Abs. 1 VvB geleistet, so dass es auch insofern einer gesetzlichen Ermächtigung nicht bedurfte. Der Begriff der Sicherheit ist iSd 1969 neu gefassten Art. 115 GG zu verstehen, der den in Art. 115 GG a.F. verwendeten Begriff der „Sicherheitsleistung" durch die Begriffswahl „Bürgschaften, Garantien oder sonstige Gewährleistungen" ersetzt hat (BT-Drs. V/3040 S. 47; Pfennig aaO, Art. 87 Rn. 10; Korbmacher in: Driehaus, aaO, Art. 87 Rn. 5). Während es bei den Krediten um tatsächliche Schulden geht, betreffen Sicherheiten potentielle Schulden (MMM~ in: Maunz/ Dürig, aaO, Art. 115 Rn. 19). Diese Gewährleistungen sind dadurch geprägt, dass das Land durch Rechtsgeschäft gegenüber dem Gläubiger eines Dritten die Haftung für bestimmte Risiken des Dritten übernimmt. Die Risikoübernahme muss Hauptzweck des \^ertrages sein (vgl. zum Bundesrecht: Wiebel in: Bonner Kommentar, aaO, Art. 115 Rn. 46 ίί\ Maun^'m: Maunz/Dürig, aaO, Art. 115 Rn. 20 ff; Piduch aaO, Art. 115 GG Rn. 21, Stand: Januar 1995; Siekmann in: Sachs, Grundgesetz, Art. 115 Rn. 21). Unabhängig davon, ob man die Gewährträgerhaftung des § 4 Abs. 1 S. 2 BerlBG als eine Ausfallbürgschaft charakterisieren will (so Thode BB 1997, 1749), stellt sie jedenfalls keine Gewährleistung iSv Art. 87 Abs. 1 VvB dar, weil es sich bei ihr nicht um eine rechtsgeschäftlich für einen konkreten Fall gegenüber konkreten Kreditgläubigern der BSR übernommene Haftung des Landes Berlin für Risiken der BSR handelt. 2. Da der Antrag zu 1. keinen Erfolg hat, ist über den als Flilfsantrag gestellten Antrag zu 2. zu entscheiden. Der Antrag zu 2. ist jedoch ebenfalls unbegründet. Der Antragsgegner hat durch § 8.1 der mit den BSR geschlossenen Zielvereinbarung nicht das Haushaltsrecht des Abgeordnetenhauses aus Art. 87 Abs. 1 VvB verletzt.

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§ 8.1 der Zielvereinbarung konnte ohne gesetzliche Grundlage getroffen werden, weil diese Vertrags Vorschrift nicht die Aufnahme einer Anleihe durch das Land Berlin in Gestalt der Vereinbarung eines von den BSR dem Land Berlin zu gewährenden Kredites zum Gegenstand hat. Wie oben dargelegt, liegt eine Kreditaufnahme vor, wenn dem Staat unmittelbar oder mittelbar Geldleistungen zugewandt werden, die er zurückzahlen und in der Regel auch verzinsen muss. Diese Voraussetzungen sind hinsichtlich der in § 8.1 der Zielvereinbarung geregelten Zahlung des Einmalbetrages in Höhe von 455 Mio. DM an das Land Berlin nicht gegeben. Der von den BSR gezahlte Betrag von 455 Mio. DM ist vom Land Berlin weder zurückzuzahlen noch zu verzinsen. Anders als im vom Verfassungsgerichtshof entschiedenen Fall betreffend die Vereinbarung des Landes Berlin mit der Investitionsbank Berlin über die Vorfinanzierung von Zins- und Tilgungsleistungen aus öffentlichen Baudarlehen (Beschl. v. 8.4.1997, aaO, LVerfGE 6, 66) besteht als Folge der Zielvereinbarung mit den BSR keine RückZahlungsverpflichtung des Landes. Auch läuft das Land nicht Gefahr, infolge der Zielvereinbarung einen im Vergleich zu den ihm nach § 2 Abs. 2 S. 3 BerlBG zustehenden jährlichen Bilanzgewinnen und Kapitalverzinsungsbeträgen (§15 Abs. 4 BerlBG) geringeren Betrag zu erhalten. Denn nach § 8.3 S. 2 der Zielvereinbarung findet am Ende der Laufzeit der Zielvereinbarung ein Ausgleich zugunsten des Landes statt, falls die Summe der tatsächlich von den BSR erwirtschafteten Bilanzgewinne und der Kapitalverzinsungsbeträge höher als die Vorauszahlung ausfallen sollte. Von einer Kreditaufnahme des Landes könnte man bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise allenfalls sprechen, wenn das Land am Ende der Laufzeit für den Fall, dass die tatsächlichen Bilanzgewinne und Kapitalverzinsungsbeträge niedriger als die von den BSR geleistete Vorauszahlung ausfallen würden, den daraus resultierenden Differenzbetrag den BSR erstatten müsste. Das Land trägt jedoch nicht das Risiko einer anderen als in der Vereinbarung angenommenen — nämlich geringeren — tatsächlichen finanziellen Gewinnentwicklung bei den BSR, da § 8.3 S. 3 vorsieht, dass — außer der in § 8.3 S. 2 geregelten etwa erforderlich werdenden Zahlung der BSR an das Land — keine Ausgleichszahlungen erfolgen. Auch § 8.4 der Zielvereinbarung steht der Annahme einer Kreditaufnahme iSv Art. 87 Abs. 1 VvB entgegen. Diese Vertrags Vorschrift sieht nur für den Fall der Beendigung der Zielvereinbarung vor Ablauf der vereinbarten Vertragsdauer von fünfzehn Jahren infolge einer außerordentlichen Kündigung seitens der BSR oder des Landes (§11.2 S. 2 der Zielvereinbarung) bzw. einer allein dem Land zustehenden ordentlichen Kündigung (§ 11.3 der Zielvereinbarung) eine Zahlungspflicht des Landes vor. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um eine für einen Kredit charakteristische unbedingte Rückzahlungspflicht des Landes. § 8.4 der Zielvereinbarung ist keine Hauptabrede, sondern nur eine Regelung über die Modalitäten einer (Rück-)Abwicklung des Vertrages infolge seiner etwaigen Kündigung. Auch besteht gegenüber den BSR keine gesetzliche Rückzahlungspflicht. LVerfGE 14

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Die Gewährttägerhaftung des § 4 Abs. 1 S. 2 BerlBG könnte allenfalls gegenüber Dritten zum Tragen kommen. Ob die Gewährttägerhaftung überhaupt als gesetzliche Rückzahlungspflicht einzuordnen ist, kann auf sich beruhen. Dies wäre nur dann von Bedeutung, wenn man die Kreditaufnahme der BSR als Kreditaufnahme des Landes werten würde, was - wie oben dargelegt — jedoch nicht in Betracht kommt. Ob darüber hinaus die Vereinbarung mit dem Anstaltsrecht, hier insbesondere mit dem Berliner Betriebegesetz, vereinbar ist, ist im vorliegenden Organstreitverfahren aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu prüfen, weil Rechte des Abgeordnetenhauses insofern nicht in Frage stehen. Auf die umfangreichen Ausführungen der Antragstellerin und auch des Antragsgegners zur wirtschaftlichen Situation der BSR und weiteren wirtschaftlichen Fragen kommt es schließlich nicht an. Insbesondere betreffen die Ausführungen der Antragstellerin, dass die bis zum Jahr 2015 geschlossene Zielvereinbarung den politischen Entscheidungsspielraum nachfolgender Parlamente stark einschränke, nicht den Regelungsgehalt des Art. 87 Abs. 1 VvB, sondern allenfalls wäre Art. 85 Abs. 1 VvB Prüfungsmaßstab, den die Antragstellerin bei ihrem Antrag zu 2. jedoch nicht als verletzt gerügt hat. Bei Art. 87 Abs. 1 VvB geht es nämlich allein um die Frage, ob eine Kreditaufnahme vorliegt. Die Tatsache, dass das Land Berlin infolge der vereinbarten Vorauszahlung von 455 Mio. DM in den Folgejahren nicht mehr jährlich die ihm gesetzlich nach dem Berliner Betriebegesetz zustehenden Bilanzgewinne und Kapitalverzinsungsbeträge den jeweiligen Haushalten zuführen kann, führt zwar in der Tat dazu, dass in den nachfolgenden Haushaltsjahren etwa erforderliche Deckungsmittel nicht zur Verfügung stehen. Allein die Vorbelastung künftiger Haushalte durch eine Maßnahme führt aber noch nicht zum Vorliegen einer Kreditaufnahme iSd Haushaltsverfassungsrechts (VerfGFI RP, Beschl. v. 20.11.1996, aaO, DÖV 1997, 246, 247). Wesentliches Kriterium für das Vorliegen staatlicher Kreditaufnahmen oder der staatlichen Übernahme von Sicherheiten ist vielmehr, dass das Land finanzielle Risiken eingeht, die zusätzliche Belastungen künftiger Haushaltsjahre nach sich ziehen können (VerfGH NW, Urt. v. 3.5.1994 - VerfGH 10/92 DVB1. 1994, 860, 861 f). Künftige Haushalte werden über die im Verfassungstext ausdrücklich genannten Fälle der Kreditaufnahme und der Gewährübernahme hinaus allgemein immer dann vorbelastet, wenn Vorhaben zu Ausgaben führen, die erst nach dem Ende des laufenden Haushaltsjahres wirksam werden. Vom Zweck des parlamentarischen Budgetrechts her ist es deshalb verfassungsrechtlich geboten, dass Verpflichtungsgeschäfte, die sich auf Ausgaben in künftigen Jahren beziehen und nicht der laufenden Verwaltung zuzurechnen sind, nur mit parlamentarischer Ermächtigung — ggf. in Gestalt einer haushaltsrechtlichen Verpflichtungsermächtigung — geschlossen werden (VerfGH RP, Beschl. v. 20.11.1996, aaO, DÖ\^ 1997, 246, 248). Derartige finanzielle Risiken ist das Land Berlin durch den Abschluss der Zielvereinbarung - wie dargelegt — jedoch nicht eingegangen. Die Zielvereinbarung stellt vielmehr sicher, dass das Land alle ihm zustehenden Bilanzgewinne und Kapitalverzin-

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sungsbettäge erhält. Ein Verzicht auf diese von den BSR nach dem Berliner Betriebegesetz zu leistenden Beträge ist in der Zielvereinbarung nicht vorgesehen. Die Annahme, Vertrags Störungen würden eine vorzeitige Beendigung der Zielvereinbarung und eine Rückzahlungspflicht des Landes auslösen, ist spekulativ und kann nicht dazu führen, die Zielvereinbarung als Vereinbarung über eine Kreditaufnahme einzuordnen, für die eine Ermächtigung des Gesetzgebers erforderlich wäre. Bei der Zielvereinbarung handelt es sich schließlich auch nicht um einen sog. „Kreditauftrag an Dritte", der dem Gesetzesvorbehalt des Art. 87 Abs. 1 VvB unterfallen könnte. Denn weder regelt die Zielvereinbarung, dass die BSR den von ihr an das Land Berlin zu leistenden Einmalbetrag im Wege eines Kredites zu finanzieren hätten, noch hat das Land nach der Zielvereinbarung gegenüber den BSR den Finanzierungsdienst für einen etwa aufgenommenen Kredit zu übernehmen. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG. Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

Nr. 3 1. Det Wortlaut des § 19 Abs. 2 S. 2 LWahlG bietet keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Gesetzgeber den Verordnungsgeber zu einer Regelung ermächtigen wollte, die zur Verteilung von Ausgleichsmandaten auf die Bezirkslisten einer Partei eine im Vergleich zur gesetzlichen Regelung des § 17 Abs. 3 LWahlG völlige Neuregelung der innerparteilichen zwischenbezirklichen Sitzverteilung vorsieht. 2. § 73 Abs. 6 Buchst, d S. 6 LWahlO ist daher in der Weise gesetzeskonform auszulegen, dass unter Zugrundelegung der in § 17 Abs. 3 LWahlG angeordneten Sitzverteilung auf die Bezirkslisten allein eine Verteilung angefallener Ausgleichsmandate vorzunehmen ist. Gesetz über den Verfassungsgerichtshof § 42 Abs. 2 Nr. 5 Landeswahlgesetz § 17 Abs. 3, 4; § 19 Landeswahlordnung § 73 Abs. 6 Buchst, d S. 6 U r t e i l v o m 21. M ä r z 2 0 0 3 - V e r f G H 1 7 5 / 0 1 in dem Wahlprüfungsverfahren über den Einspruch des Herrn W. Verfahrensbevollmächtigte: Rechtsanwältin Μ. LVerfGE 14

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seine Nichtberufung in das Abgeordnetenhaus von Berlin weitere Beteiligte gem. § 41 VerfGHG: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

die Fraktion der SPD im Abgeordnetenhaus von Berlin die Fraktion der CDU im Abgeordnetenhaus von Berlin die Fraktion der PDS im Abgeordnetenhaus von Berlin die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen im Abgeordnetenhaus von Berlin die Fraktion der FDP im Abgeordnetenhaus von Berlin der Präsident des Abgeordnetenhauses von Berlin die Senats Verwaltung für Inneres der Landeswahlleiter Mitglied des Abgeordnetenhauses (MdA) Herr U. Entscheidungsformel:

Es wird festgestellt, dass dem für die Bezirksliste Tempelhof-Schöneberg der CDU für ein zweites Listenmandat ins Abgeordnetenhaus von Berlin berufenen Abgeordneten kein Sitz im Abgeordnetenhaus von Berlin zusteht. Es wird angeordnet, dass der Einsprechende als Abgeordneter in das Abgeordnetenhaus von Berlin zu berufen ist. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei. Das Land Berlin hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten. Gründe: I. Der Einsprechende begehrt mit seinem Einspruch seine Berufung auf einen Sitz im Abgeordnetenhaus von Berlin. Er beanstandet die Verteilung der der CDU auf Grund des Wahlergebnisses zustehenden Sitze auf ihre einzelnen Bezirkslisten in den Wahlkreisverbänden. Der Einsprechende kandidierte zu der am 21.10.2001 durchgeführten Wahl zum Abgeordnetenhaus von Berlin als Bewerber auf Platz 2 der Bezirksliste der CDU für den Wahlkreisverband Treptow-Köpenick. Nachdem zunächst — vor Berücksichtigung von Überhang- und Ausgleichsmandaten — die ersten beiden Plätze aus dieser Bezirksliste gem. § 17 Abs. 3 des Landeswahlgesetzes — LWahlG — als berücksichtigungsfahig errechnet worden waren, stellte der Landeswahlausschuss in seiner Sitzung vom 7.11.2001 in Anwendung von § 73 Abs. 6 Buchst, d der Landeswahlordnung - LWahlO - als endgültiges Wahlergebnis fest, dass nur ein Listenmandat auf die Bezirksliste Treptow-Köpenick entfalle. Als vorrangig LVerfGE 14

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berufen sah der Ausschuss nach der wegen des Vorliegens von Überhang- und Ausgleichsmandaten vorgenommenen Neuberechnung den Kandidaten der CDU auf Plate 2 der Bezirksliste Tempelhof-Schöneberg an, der auch Mitglied des Abgeordnetenhauses wurde und für den zwischenzeitlich der Beteiligte zu 9. nachgerückt ist. Das endgültige Wahlergebnis wurde am 27.11.2001 im Amtsblatt von Berlin (S. 5153 ff, 5176, 5180 f) bekannt gemacht. Im Einzelnen ermittelte der Landeswahlausschuss die Sitzverteilung auf die Bezirkslisten zunächst ohne Ausgleich der Überhangmandate wie folgt: Nach dem Wahlergebnis konnte die CDU von den 130 Grundmandaten des Abgeordnetenhauses (§ 7 Abs. 2 LWahlG) aufgrund des gem. § 17 Abs. 2 LWahlG/§ 73 Abs. 4 LWahlO anzuwendenden Verfahrens der mathematischen Proportion (HareNiemeyer) 32 Grundmandate beanspruchen. Die Verteilung der Grundmandate auf die zwölf Bezirkslisten der CDU erfolgte gem. § 17 Abs. 3 S. 2 bis 6 LWahlG/ ξ 73 Abs. 5 LWahlO, indem auf Grund des Verfahrens der mathematischen Proportion für jeden Wahlkreisverband gesondert die Anzahl der Zweitstimmen in diesem Wahlkreisverband mit der Zahl der Grundmandate von 32 multipliziert und dann durch die Gesamtzahl der Zweitstimmen der CDU aus allen Wahlkreisverbänden (385.692) geteilt wurde. Daraus ergaben sich für die Bezirksliste Treptow-Köpenick zwei Grundmandate in Gestalt von zwei Listenmandaten. Auf die Bezirksliste Tempelhof-Schöneberg entfielen nach dieser Berechnung vier Grundmandate in Gestalt von einem Listenmandat und drei Direktmandaten. Anschließend erhöhte sich für die CDU auf Grund zweier Überhangmandate aus der Bezirksliste Reinickendorf in Anwendung des §19 Abs. 1 LWahlG/§ 73 Abs. 6 Buchst, c LWahlO die Zahl der Mandate auf 34. Da zudem die SPD drei Überhangmandate sowie die PDS ein Überhangmandat errungen hatten, erfolgte nach § 19 Abs. 2 LWahlG/§ 73 Abs. 6 Buchst, d S. 1 bis 4 LWahlO eine Erhöhung der Anzahl der Sitze des Abgeordnetenhauses durch Ausgleichsmandate auf eine Gesamtsitzzahl von 141, um unter Einbeziehung der Überhangmandate die Sitzverteilung im Wahlgebiet nach dem Verhältnis der gesamten Zweitstimmenzahl der Parteien im Wahlgebiet zu gewährleisten. Daraus ergaben sich neben den 130 Grundmandaten und sechs Überhangmandaten fünf zusätzliche Ausgleichsmandate, die gem. § 73 Abs. 6 Buchst, d S. 5 LWahlO auf die Landes- und Bezirkslisten der Parteien unter Anwendung des Verfahrens der mathematischen Proportion (Hare-Niemej'er) verteilt wurden. Dabei entfiel auf die CDU ein Ausgleichsmandat. Im Hinblick auf die damit für die CDU angefallenen 35 Mandate nahm der Landeswahlausschuss gem. § 73 Abs. 6 Buchst, d S. 6 LWahlO eine Neuverteilung der Mandate auf die Bezirkslisten vor. Hierzu wurde für jede Bezirksliste die von ihr errungene Zweitstimmenzahl zugrunde gelegt, die um die Zahl der für die Direktmandate anzurechnenden Zweitstimmen vermindert wurde. Diese noch anzurechnenden Zweitstimmen wurden multipliziert mit der Zahl der 35 Mandate abzüglich der von der CDU insgesamt errungenen 19 Direktmandate und durch die Summe der noch anzurechnenden Zweitstimmen aller

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Bezirkslisten der CDU geteilt. Hieraus ergab sich für jede Bezirksliste eine Berechnungszahl, auf Grund derer die restlichen 16 Mandate (also 35 Mandate abzüglich der 19 Direktmandate) nach Ganzzahl und Zahlenbruchteil auf die Bezirkslisten verteilt wurden. Auf die Bezirksliste Treptow-Köpenick mit der Berechnungszahl 1,4042 entfiel danach von den zehn nach Ganzzahl zu vergebenden Listenmandaten ein Listenmandat, und zwar nur dieses. Die übrigen zu vergebenden sechs Listenmandate wurden in der Reihenfolge der — unstreitig rechnerisch richtig ermittelten - höchsten Zahlenbruchteile auf Friedrichshain-Kreuzberg, Neukölln, Charlottenburg-Wilmersdorf, Pankow, Steglitz-Zehlendorf und zuletzt Tempelhof-Schöneberg verteilt. Die Anwendung des § 73 Abs. 6 Buchst, d S. 6 LWahlO hatte damit zur Folge, dass im Vergleich zur Verteilung der Mandate in Anwendung des § 17 Abs. 3 S. 2 bis 6 LWahlG die Bezirksliste Steglitz-Zehlendorf in Gestalt des Ausgleichsmandats sowie die Bezirksliste Tempelhof-Schöneberg jeweils ein Listenmandat mehr erhielten. Der Bezirksliste Treptow-Köpenick wurde anstelle von zwei Listenmandaten nur noch ein Listenmandat zugeteilt, weswegen der lediglich auf Platz 2 der Bezirksliste kandidierende Einsprechende nicht in das Abgeordnetenhaus berufen wurde. Der Einsprechende macht mit seinem am 26.11.2001 beim Verfassungsgerichtshof eingereichten Einspruch geltend, er sei auf einen Sitz im Abgeordnetenhaus zu berufen, weil das Ergebnis, dass nur ein Listenmandat auf die Bezirksliste Treptow-Köpenick entfallen sei, auf einer fehlerhaften Anwendung der gesetzlichen Regelungen beruhe. Es müsse bei der ursprünglichen, auf § 17 LWahlG beruhenden Berechnung der Sitze mit der Folge von zwei Listenmandaten für die Bezirksliste Treptow-Köpenick verbleiben. Die Anwendung des § 73 Abs. 6 Buchst, d LWahlO, der Grundlage der — auch aus seiner Sicht rechnerisch richtigen — Nachberechnung sei, widerspreche der gesetzlichen Regelung des § 17 LWahlG. § 17 LWahlG regele das Verfahren der Zuteilung der Sitze. Demgegenüber regele § 19 LWahlG (nur) den Ausgleich der Uberhangmandate durch Erhöhung der Sitze des Abgeordnetenhauses durch Ausgleichsmandate, um so unter Einbeziehung der Uberhangmandate das Verhältnis der Parteien zueinander in Bezug auf die Zweitstimmenzahl zu gewährleisten. Der gesetzlich in § 19 Abs. 2 LWahlG erteilte Regelungsbefehl gehe also dahin, die Anzahl der Sitze zu erhöhen. Er gehe nicht dahin, die nach § 17 LWahlG bereits für die einzelnen Bezirkslisten ermittelte Anzahl der Sitze — für eine Bezirksliste — wieder zu reduzieren. § 17 LWahlG teile zu, § 19 LWahlG „erhöhe" und nehme nicht fort. Dieses Regelungsergebnis werde durch die Landeswahlordnung gestört. § 34 LWahlG als Ermächtigungsnorm für die Landeswahlordnung enthalte keine Regelung, der Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung entnommen werden könne. Deswegen sei die Landeswahlordnung unwirksam, und § 73 LWahlO hätte keine Anwendung finden dürfen. Jedenfalls schließe der höherrangige § 17 LWahlG die Anwendung der Landeswahlordnung aus.

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Der Beteiligte zu 6. hat sich den Bedenken des Einsprechenden im Wesentlichen angeschlossen und führt aus: Es sei zweifelhaft, ob § 73 Abs. 6 Buchst, d S. 6 LWahlO im Einklang mit den Bestimmungen des Landeswahlgesetzes stehe. Der Wortlaut des § 17 Abs. 3 S. 2 bis 6 LWahlG, durch den ein parteiinterner Proporz erreicht werden solle, lege es nahe, dass es sich um eine abschließende Bestimmung handele, deren Ergebnis nicht durch eine spätere Neu- oder Umverteilung auf Grund von Uberhang- und Ausgleichsmandaten relativiert werden solle. § 19 LWahlG sehe keine völlige Neuberechnung der parteiinternen Mandatsverteilung vor. Vielmehr verlange § 19 Abs. 2 LWahlG für den Fall, dass Überhangmandate errungen würden, lediglich, dass das Verhältnis der gesamten Zweitstimmenzahl der Parteien im Wahlgebiet durch die Zuteilung von Ausgleichsmandaten zu gewährleisten sei. Von einer Wahrung auch des parteiinternen Proporzes spreche § 19 Abs. 2 LWahlG dagegen nicht. Es bestünden Bedenken, §19 Abs. 2 S. 2 LWahlG, wonach das Nähere über die Berechnung in der Landeswahlordnung zu bestimmen sei, als Grundlage für eine völlige Neuberechnung der parteiinternen Verteilung der Sitze auf die Bezirkslisten einer Partei heranzuziehen. Der Landeswahlleiter ist der Auffassung, sich zu Recht auf § 73 Abs. 6 Buchst, d LWahlO gestützt und die Verteilung der Sitze zutreffend vorgenommen zu haben. Die auf § 19 Abs. 2 S. 2 LWahlG beruhende Regelung des § 73 LWahlO folge den durch §§17 und 19 LWahlG vorgegebenen Berechnungsschritten. Im Falle eines Uberhangs sei die zunächst entsprechend dem Proporz zwischen den Bezirkslisten einer Partei ermittelte Verteilung der Sitze nicht maßgebend. Ohne eine Erhöhung der Gesamtzahl der Sitze für die Partei könnten aus den Bezirkslisten, die keinen Uberhang aufwiesen, nur so viele Listenmandate verteilt werden, wie es nach Abzug des Uberhangs dem Proporz entspreche. Eine Anwartschaft oder gar ein Anspruch auf Zuteilung eines Sitzes könne damit aus der ersten Berechnung nach § 17 LWahlG bei einem Überhang gerade nicht gefolgert werden, sie sei dann eine Zwischenrechnung. Im Rahmen der hier maßgebenden Verhältniswahl könne Maßstab einer rechtlichen Regelung zur Verteilung nach den Zweitstimmen bei entstandenen Überhängen nur die Wiederherstellung der durch den Überhang gestörten Proportionalität sein. Die Landeswahlordnung konkretisiere das im Landeswahlgesetz angelegte mathematische Verfahren zur Berechnung des Verhältnisausgleichs und zur Verteilung der so ermittelten Mandate und vermeide das Entstehen neuer Überhangmandate. Die Neuberechnung der erhöhten Gesamtzahl der Mandate sei eine eigenständige Folgeregelung, die auf der Ermächtigung des § 19 Abs. 2 S. 2 LWahlG beruhe und das in § 17 LWahlG festgelegte Rechenverfahren weiter ausforme. Die Beteiligte zu 3. hält es für problematisch, dass letztlich die Landeswahlordnung regele, wer in das Abgeordnetenhaus komme.

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II. 1. Der fristgemäß beim Verfassungsgerichtshof eingegangene Einspruch (§ 40 Abs. 4 S. 1 und 5 VerfGHG) ist gem. § 40 Abs. 2 Nr. 5 VerfGHG zulässig. Die Einspruchsgründe des § 40 Abs. 2 Nr. 1, 2, 3, 4, 6 und 7 VerfGHG scheiden hingegen von vornherein inhaltlich aus. Der Einsprechende kann sich auch nicht darauf stützen, es seien sonst Vorschriften des Grundgesetzes, der Verfassung von Berlin, des Landeswahlgesetzes und der Landes Wahlordnung bei der Vorbereitung oder der Durchführung der Wahlen oder bei der Ermittlung des Wahlergebnisses in einer Weise verletzt worden, dass dadurch die Verteilung der Sitze beeinflusst worden sei (§ 40 Abs. 2 Nr. 8 VerfGHG). Gem. § 41 Abs. 3 Nr. 3 VerfGHG ist insofern nicht schlechthin jeder Bewerber, sondern nur ein sog. Einzelbewerber einspruchsberechtigt. Gem. § 40 Abs. 2 Nr. 5 VerfGHG kann der Einspruch darauf gestützt werden, dass ein Bewerber zu Unrecht berufen oder nicht berufen worden sei. Der betroffene Bewerber ist gem. § 41 Abs. 3 Nr. 1 VerfGHG einspruchsberechtigt. Allerdings hatte der Gesetzgeber des im Wesentlichen inhaltsgleichen § 3 Abs. 2 Buchst, e des Wahlprüfungsgesetzes vom 16.10.1958 (GVB1. S. 1021) für diesen Einspruchsgrund die Konstellation im Auge, dass ein gewählter Bewerber aus in dessen Person liegenden Gründen nicht berufen wird (vgl. Abghs-Drs 11/1746, S. 4 zu Buchst, e). Der Wortlaut der Vorschrift des § 40 Abs. 2 Nr. 5 VerfGHG schließt jedoch Konstellationen nicht aus, in denen eine Berufung des Bewerbers — wie hier — aus anderen Gründen nicht erfolgt. „Unrecht" im Sinne dieser Vorschrift ist auch ein Unrecht aus Verfassungsgründen (vgl. Beschl. v. 17.3.1997 VerfGH 90/95 —, LVerfGE 6, 32, 38 zur Rüge von Bewerbern, infolge der von ihnen für verfassungswidrig gehaltenen Sperrklausel nicht in Bezirksverordnetenversammlungen berufen worden zu sein). Entsprechend ist der Einspruchsgrund auch einschlägig, wenn der einsprechende Bewerber — wie hier — rügt, er sei wegen der Anwendung einer rechtswidrigen und damit unwirksamen Verordnungsvorschrift nicht in das Abgeordnetenhaus berufen worden. Der Einsprechende hat davon abgesehen, in der Begründung seines Einspruchs ausdrücklich durch Zitierung der Vorschrift des § 40 Abs. 2 Nr. 5 VerfGHG einen der Gründe zu bezeichnen, auf die nach § 40 Abs. 2 VerfGHG der Einspruch einzig gestützt werden kann. Gleichwohl ist der Einspruch nicht mangels Erfüllung des Begründungserfordernisses (vgl. § 40 Abs. 4 S. 1 VerfGHG) unzulässig. Die Angabe der Gründe ist allerdings für den eingelegten Einspruch deshalb von besonderem Gewicht, weil nach § 40 Abs. 2 VerfGHG von den jeweiligen Gründen der Kreis der Einspruchsberechtigten abhängig ist. Bisher hat der X^erfassungsgerichtshof nicht abschließend entschieden, ob die sinngemäße Bezeichnung eines Einspruchsgrundes ausreicht (Beschl. v. 21.2.2000 — VerfGH 123/99 und VerfGH 124/99 —). Dem Begründungserfordernis muss es aber genügen, wenn sich der Einspruchsschrift eindeutig entnehmen lässt, aufweichen der Einspruchsgründe der Einsprechende sich stützen will, was hier zu bejahen LVerfGE 14

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ist. Der Einsprechende führt im Einzelnen aus, dass der Landeswahlleiter ihn infolge der Anwendung der Landeswahlordnung rechtswidrigerweise nicht in das Abgeordnetenhaus berufen habe, und stellt den Antrag, der Verfassungsgerichtshof möge diese Entscheidung korrigieren und seine Berufung anordnen. Für dieses Begehren kommt allein der Einspruchsgrund des § 40 Abs. 2 Nr. 5 VerfGHG in Betracht. Es wäre reiner Formalismus, dem Einspruch nur deswegen die Zulässigkeit abzusprechen, weil der Einsprechende die Vorschrift nicht ausdrücklich benennt. 2. Der Einspruch ist auch begründet. Der Einsprechende ist in das Abgeordnetenhaus von Berlin zu berufen, da der Bezirksliste Treptow-Köpenick der CDU zwei Listenmandate zustehen. Demgegenüber entfällt auf die Bezirksliste Tempelhof-Schöneberg lediglich ein Listenmandat bei insgesamt vier Mandaten. Dies hat die Abberufung des das dortige zweite Listenmandat in Anspruch nehmenden Beteiligten zu 9. zur Folge. a) Gem. Art. 39 Abs. 1 VvB werden die Abgeordneten in allgemeiner, gleicher, geheimer und direkter Wahl gewählt. Alles Nähere, insbesondere über den Ausschluss vom Wahlrecht und von der Wählbarkeit sowie über das Ruhen des Wahlrechts, wird durch das Wahlgesetz geregelt (Art. 39 Abs. 5 VvB). Entsprechend enthält das Gesetz über die Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen vom 25.9.1987 (Landeswahlgesetz — LWahlG —; GVB1. S. 2370, zuletzt geändert durch Gesetz v. 16.7.2001, GVB1. S. 260) in den §§ 17 bis 19 hinsichtlich der Wahl zum Abgeordnetenhaus Regelungen über die Verteilung der Abgeordnetenhaussitze auf die Bezirks- oder Landeslisten der Parteien. § 17 Abs. 2 LWahlG bestimmt im Einzelnen, dass die Sitze auf die Parteien auf Grund des Verfahrene der mathematischen Proportion (Hare-Niemeyer) verteilt werden. § 17 Abs. 3 S. 2 bis 6, Abs. 4 S. 2 bis 5 LWahlG regelt, dass die von einer Partei errungenen Sitze entsprechend dem Anteil der gültigen Zweitstimmen der Partei in jedem Wahlkreisverband an der gesamten Zweitstimmenzahl der Partei im ganzen Wahlgebiet auf Grund des Verfahrens der mathematischen Proportion auf deren Bezirkslisten verteilt und nach Abzug der errungenen Direktmandate aus der in der Bezirksliste festgelegten Reihenfolge besetzt werden. Nach diesen Regelungen entfallen auf die Bezirksliste Treptow-Köpenick zwei Listenmandate, während auf die Bezirksliste Tempelhof-Schöneberg ein Listenmandat entfällt. b) Das Anfallen eines Ausgleichsmandats für die CDU hat demgegenüber nicht zur Folge, dass diese Regelungen über die Sitzverteilung nicht zur Anwendung gelangen oder wieder außer Kraft gesetzt werden. § 19 LWahlG sieht - anders als § 6 Abs. 5 Bundeswaldgesetz — den Ausgleich der zugunsten der Parteien angefallenen Uberhangmandate vor, die den Parteien gem. § 19 Abs. 1 LWahlG auch dann verbleiben, wenn sie die nach § 17 LWahlG ermittelte Anzahl von Sitzen übersteigen. Hierzu bestimmt § 19 Abs. 2 LVerfGE 14

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S. 1 LWahlG, dass sich im Fall von Überhangmandaten die Anzahl der Parlamentssitze um so viele erhöht, wie erforderlich sind, um unter Einbeziehung der Überhangmandate die Sitzverteilung im Wahlgebiet nach dem \^erhältnis der gesamten Zweitstimmenzahl der Parteien im Wahlgebiet zu gewährleisten (Ausgleichsmandate). Ferner ordnet § 19 Abs. 2 S. 2 LWahlG an, dass die Landeswahlordnung das Nähere über die Berechnung bestimmt. Auf dieser Verordnungsermächtigung, die sich von der allgemeinen Verordnungsermächtigung des ξ 34 LWahlG ableitet und diese insofern konkretisiert, beruht § 73 Abs. 6 Buchst, d LWahlO. Art. 39 Abs. 5 VvB schreibt zwar vor, dass alles Nähere zur Wahl durch das Wahlgesetz geregelt wird. Der Gesetzgeber wird damit ermächtigt und zugleich verpflichtet, die Einzelheiten festzulegen. Nicht ausgeschlossen ist dadurch allerdings die Regelung von Einzelheiten durch Rechtsverordnung auf Grund gesetzlicher Ermächtigung (vgl. zum Bundesrecht: Magiern in: Sachs, Grundgesetz, 2. Aufl. 1999, Art. 38 Rn. 114). In der Wahlordnung können die vielfach sehr allgemein gehaltenen Bestimmungen des Wahlgesetzes und die darin enthaltenen Grundgedanken weiter entwickelt und im Rahmen derselben ergänzende Regelungen getroffen werden (Stern Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984, S. 326). Die Verordnungsermächtigung des § 19 Abs. 2 S. 2 LWahlG unterliegt im Übrigen keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Da sie mit der allgemeinen Verordnungsermächtigung des § 34 LWahlG eine Einheit bildet, besteht insbesondere kein Zweifel daran, dass Adressat der Verordnungsermächtigung der Senat von Berlin ist. Auch entspricht § 19 Abs. 2 S. 2 LWahlG den Anforderungen des Art. 64 Abs. 1 S. 2 VvB, wonach Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetz bestimmt werden müssen. Dem Konkretisierungsgebot des Art. 64 Abs. 1 S. 2 VvB wird lediglich nicht genügt, wenn nicht mehr vorauszusehen ist, in welchen Fällen und mit welcher Tendenz von der Ermächtigung Gebrauch gemacht werden wird und welchen Inhalt die zu erlassende Rechtsverordnung haben kann (Michaelis-Merlach in: Driehaus, Verfassung von Berlin, 2002, Art. 64 Rn. 2). Der Gesetzgeber braucht aber Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung nicht ausdrücklich im Gesetz zu bestimmen. Vielmehr gelten auch für die Interpretation von Ermächtigungsnormen die allgemeinen Auslegungsregeln. Der Sinnzusammenhang mit anderen Vorschriften, das Ziel, das die gesetzliche Regelung insgesamt verfolgt, und die Entstehungsgeschichte können zur Auslegung herangezogen werden (BVerfGE 58, 257, 277). § 19 Abs. 2 S. 2 LWahlG bezieht sich auf § 19 Abs. 2 S. 1 LWahlG, der - wie dargelegt — zum Ausgleich von Überhangmandaten und damit zur Gewährleistung des Parteienproporzes unter Berücksichtigung des jeweiligen Zweitstimmenanteils der Parteien eine Erhöhung der Sitzzahl im Parlament vorsieht. Indem die Verordnungsermächtigung anordnet, dass die Landeswahlordnung „das Nähere über die Berechnung" bestimmt, ermächtigt sie damit den Verordnungsgeber zur HerLVerfGE 14

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Stellung dieses sog. parteiexternen Proporzes. Die entsprechende Regelung ist in § 73 Abs. 6 Buchst, d S. 1 bis 5 LWahlO erfolgt, die ihre jetzige Fassung durch eine Änderungsverordnung vom 25.9.1990 (GVB1. S. 2079) erhielten. Im Einzelnen wird dort ein Berechnungsmodus für die neue Gesamtsitzzahl bestimmt und anschließend zur Verteilung der Sitze auf die Landeslisten bzw. alle Bezirkslisten einer Partei die erneute Anwendung des Verfahrens der mathematischen Proportion (Hare-Niemeyer) und somit eine § 17 Abs. 2 LWahlG entsprechende Berechnung angeordnet. Außerdem lässt sich § 19 Abs. 2 S. 2 LWahlG die Ermächtigung für den Verordnungsgeber entnehmen, Regelungen zu treffen, wie angefallene Ausgleichsmandate im Fall des Vorhandenseins von Bezirkslisten parteiintern zu verteilen sind. Eine derartige Regelung ist durch die streitgegenständliche, durch die Sechste Verordnung zur Änderung der Landeswahlordnung vom 1.2.1999 (GVB1. S. 64) eingefügte Vorschrift des § 73 Abs. 6 Buchst, d S. 6 LWahlO erfolgt, die wie folgt lautet: Bei der erneuten Verteilung auf die Bezirkslisten einer Partei wird die Zweitstimmenzahl zugrunde gelegt, die um die Zahl der für die Direktmandate anzurechnenden Zweitstimmen vermindert worden ist; die Zahl der anzurechnenden Zweitstimmen ergibt sich aus der Durchschnittszahl der für ein Mandat im Wahlgebiet abgegebenen Zweitstimmen der Partei multipliziert mit der Zahl der im Wahlkreisverband errungenen Direktmandate der Partei.

c) Allerdings hat der Landeswahlausschuss die Vorschrift des § 73 Abs. 6 Buchst, d S. 6 LWahlO in einer Weise ausgelegt und angewandt, die nicht mehr von der Verordnungsermächtigung gedeckt ist. Die Wahlordnung darf nichts bestimmen oder auch nur zulassen, was mit Wordaut, Sinn und Zweck des Wahlgesetzes und der Verordnungsermächtigung in Widerspruch steht oder über das hinausgeht, was das Wahlgesetz überhaupt geregelt haben will (vgl. zum Bundesrecht: Seifert Bundeswahlrecht, 3. Aufl. 1976, § 52 BWG Rn. 1; Schreiber Handbuch des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag, 7. Aufl. 2002, § 52 Rn. 2). Der Wortlaut des § 19 Abs. 2 S. 2 LWahlG bietet keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Gesetzgeber den Verordnungsgeber zu einer Regelung des innerparteilichen zwischenbezirklichen Ausgleichs in Gestalt einer völligen Neuverteilung der Sitze auf die einzelnen Bezirkslisten einer Partei ermächtigen wollte, die die auf Grund des § 17 Abs. 3 S. 2 bis 6 LWahlG erfolgte Verteilung der Mandate auf die einzelnen Bezirkslisten einer Partei für den Fall von Uberhang- und Ausgleichsmandaten aufhebt und dazu führen kann, dass eine Bezirksliste in Anwendung der Landeswahlordnung weniger Sitze zugeteilt bekommt als in Anwendung des Landeswahlgesetzes. Eine derartige Regelung durch Verordnung wäre zudem im Hinblick auf den sog. Wesentlichkeitsgrundsatz verfassungsrechtlich bedenklich. Sie würde zwar nicht den Gesichtspunkt der Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen tangieren, weil es bei der Verteilung der Mandate einer Partei auf die LVerfGE 14

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Bezirke um einen den Parteienproporz im Abgeordnetenhaus und damit den Erfolgswert der Stimmen nicht beeinflussenden parteiinternen Vorgang geht (Beschl. v. 31.7.1998 - VerfGH 82/95 LVerfGE 9, 23, 28). Wohl aber würde der Gesichtspunkt der Chancengleichheit der Bewerber berührt (vgl. zum Bundesrecht: Papier J Z 1996, 265, 274 zur Problematik der Unterverteilung von Bundestagssitzen auf die Landeslisten einer Partei bei Gewährung von Ausgleichsmandaten). Wahlrecht ist formales Recht. Regelungen zur Herstellung des sog. parteiinternen Proporzes dürfte der Gesetzgeber nicht dem Willen des Verordnungsgebers überlassen. § 73 Abs. 6 Buchst, d S. 6 LWahlO gelangte erstmals bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus von Berlin vom 10.10.1999 zur Anwendung. Damals ergaben sich durch die abweichend von § 17 Abs. 3 S. 2 bis 6 LWahlG vom Landeswahlausschuss vorgenommene Neuberechnung zufallig bei keiner der Bezirkslisten der Parteien negative Auswirkungen in Gestalt eines Sitzverlustes (vgl. Landeswahlleiter für Berlin, Berechnung der Mandate für das Abgeordnetenhaus, www. statistLk-berlin.de/wahlen/aghbwwahl-1999/mandate/mandatel.htm). Zu einem Sitzverlust hätte es jedoch kommen können, weil der Landeswahlausschuss — wie jetzt — zur Verteilung der Mandate auf die Bezirkslisten einer Partei nach seiner Auslegung des § 73 Abs. 6 Buchst, d. S. 6 LWahlO eine neue Berechnung vornahm. Es wurde nämlich nicht nur wie bei § 17 Abs. 3 S. 2 bis 6 LWahlG unter Zugrundelegung der der Partei zustehenden neuen Mandatszahl und der abgegebenen Zweitstimmen auf Grund des Verfahrens Hare-Niemeyer die Sitzverteilung errechnet. Bei dieser Auslegung und Anwendung des § 73 Abs. 6 Buchst, d S. 6 LWahlO durch den Landeswahlausschuss, die das Entstehen weiterer Uberhangmandate infolge des Abzugs der auf die Direktmandate entfallenden Zweitstimmen vermeidet, m a g e s sich um eine sachgerechte und an sich verfassungsrechtlich zulässige LösungsVariante für die Frage der Sitzverteilung bei Entstehen von Ausgleichsmandaten handeln (vgl. zu verschiedenen Lösungsansätzen der Verteilung von Ausgleichsmandaten für den Fall ihrer Einführung im Bundeswahlrecht: Papier ]Z 1996, 265, 273). Da sich aber aus § 19 Abs. 2 S. 2 LWahlG nicht entnehmen lässt, dass der Gesetzgeber den Verordnungsgeber und damit die Exekutive ermächtigen wollte, zur Herstellung eines parteiinternen zwischenbezirklichen Proporzes in die gesetzliche Regelung des § 17 Abs. 3 LWahlG einzugreifen und diese gewissermaßen wieder außer Kraft zu setzen, ist dieses Ergebnis mit dem Gesetz nicht vereinbar. § 19 Abs. 2 S. 2 LWahlG enthält lediglich die Ermächtigung, in der Landeswahlordnung zu regeln, welche Bezirkslisten ungeachtet der ihnen bereits auf Grund des § 17 Abs. 3 LWahlG zugeteilten Sitze die zusätzlich angefallenen Ausgleichsmandate erhalten. Die Vorschrift des § 73 Abs. 6 Buchst, d S. 6 LWahlO ist deshalb — entgegen der vom Landeswahlausschuss gewählten Vorgehensweise — gesetzeskonform in der Weise auszulegen, dass die durch die Anwendung von § 1 7 Abs. 3 und 4 Landeswahlgesetz gefundene Sitzverteilung

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beim Anfallen von Überhang- und Ausgleichsmandaten nicht in Frage gestellt bzw. wieder verändert wird. Schließlich kann das durch §17 Abs. 3 und 4 LWahlG gefundene - vom Landeswahlleiter zu Unrecht als Zwischenrechnung angesehene - Ergebnis nicht mehr oder weniger zufallig davon abhängen, ob Uberhang- oder Ausgleichsmandate überhaupt anfallen oder nicht. Eine gesetzeskonforme Auslegung des § 73 Abs. 6 Buchst, d S. 6 LWahlO kann nur in der Weise erfolgen, dass es bei der ursprünglichen Berechnung nach § 17 Abs. 3 S. 2 bis 6 LWahlG verbleibt und lediglich die Verteilung der „zusätzlichen Mandate" (vgl. § 73 Abs. 6 Buchst, d S. 5 LWahlO) in Gestalt angefallener Ausgleichsmandate vorzunehmen ist. Nicht aber dürfen die dem Zweitstimmenanteil entsprechenden 16 Listenmandate in Anwendung des Verfahrens HareNiemeyer völlig neu auf die Bezirkslisten verteilt werden. Im vorliegenden Fall darf allein das eine auf die CDU entfallene Ausgleichsmandat einer Bezirksliste zugeordnet werden. Zur Verteilung dieses Ausgleichsmandats sind die 16 Listenmandate nur solange unter Heranziehung der auf Grund des in § 73 Abs. 6 Buchst, d S. 6 LWahlO beschriebenen Berechnungsverfahrens für jede Bezirksliste ermittelten Berechnungszahlen den einzelnen Bezirkslisten zuzuordnen, bis einer Bezirksliste ein Listenmandat zusätzlich zu den bereits nach § 17 Abs. 3 LWahlG verteilten Listenmandaten zugeordnet werden kann. Dies ist bei Erreichen der Bruchzahl 0,6947 hinsichtlich der Bezirksliste Steglitz-Zehlendorf der Fall. Dementsprechend war das „zusätzliche Mandat" auf diese Bezirksliste zu verteilen. Eine weitere (Neu-)Verteilung findet nicht statt. Gegen diese Auslegung des § 73 Abs. 6 Buchst, d S. 6 LWahlO kann auch nicht der Einwand des Landeswahlleiters durchgreifen, dies führe zu einem „systemwidrigen" Ergebnis. Zwar ist richtig, dass nur eine vollständige „Neuverteilung" aller Listenmandate einer Partei einschließlich eventueller Ausgleichsmandate auf ihre Bezirkslisten auf der Grundlage des in dieser Vorschrift vorgeschriebenen Verfahrens zu vollständiger mathematischer Systemgerechtigkeit führt. Da jedoch der in § 1 7 Abs. 3 und 4 LWahlG geregelten Verteilung der nicht durch Direktkandidaten errungenen Grundmandate einer Partei auf ihre Bezirkslisten ebenfalls ein mathematisches System zugrunde liegt, das nach den Regeln der mathematischen Proportion (Hare-Niemeyer) vorgeht, ist nicht ersichtlich, dass dessen Ergebnis gemessen an diesen Regeln „ungerechter" wäre. Der Landeswahlleiter hat insoweit in der mündlichen Verhandlung selbst darauf hingewiesen, dass auch die „systemgerechte" Anwendung der Regeln der mathematischen Proportion zu paradoxen Ergebnissen führen kann („Alabama-Paradox": eine Liste erhält auf Grund eines mathematischen Sprungs bei einem bestimmten Zuwachs der Gesamtmandatszahl selbst weniger Mandate als ohne den Zuwachs). Vorliegend fügt sich trotz unterschiedlicher Bemessungszahlen das System des § 73 Abs. 6 Buchst, d S. 6 LWahlO ohne weiteres in das übergeordnete System des § 17 Abs. 3 und 4 LWahlG ein, so dass der Gesichtspunkt einer mathematischen

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„Systemgerechtigkeit" nicht zwingend auslegungsleitend sein muss, sondern den zuvor dargestellten Argumenten der Vorzug gegeben werden kann. Diese gesetzeskonforme Auslegung des § 73 Abs. 6 Buchst, d S. 6 LWahlO hat zur Folge, dass die NichtZuteilung eines zweiten Listenmandats an die Bezirksliste Treptow-Köpenick und damit die Nichtberufung des auf Platz 2 kandidierenden Einsprechenden fehlerhaft war. Da es bei der ursprünglichen Verteilung der Sitze nach § 17 Abs. 3 S. 2 bis 6 LWahlG auf die Bezilkslisten verbleibt, die beiden Überhangmandate gem. § 19 Abs. 1 LWahlG der Bezirksliste Reinickendorf zustehen und das Ausgleichsmandat der Bezirksliste Steglitz-Zehlendorf zusteht, entfallen auf die Bezirksliste Treptow-Köpenick zwei Listenmandate und auf die Bezirksliste Tempelhof-Schöneberg drei Direktmandate sowie ein Listenmandat. Der Einsprechende ist in das Abgeordnetenhaus zu berufen und der das - nicht angefallene — zweite Listenmandat der Bezirksliste Tempelhof-Schöneberg in Anspruch nehmende Beteiligte zu 9. ist abzuberufen. Dies ist vom Einsprechenden zwar als solches nicht beantragt worden und aus seiner Sicht zur Erreichung seines Rechtsschutzzieles auch nicht erforderlich. Die entsprechende Entscheidung war vom Verfassungsgerichtshof gem. § 42 Nr. 5 VerfGHG jedoch von Amts wegen zu treffen, um die sich aus §§ 17, 19 LWahlG ergebenden Stimmrechtsverhältnisse der Parteien untereinander nicht zu beeinträchtigen. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG. Dieses Urteil ist unanfechtbar.

Nr. 4 Art. 33 VvB verlangt bei der Anordnung einer Maßnahme nach § 2 DNA-IFG iVm § 81 g StPO eine sorgfaltig begründete Negativprognose. Wegen des nach dem Gesetzeszweck unterschiedlichen Prognosemaßstabs besteht für das entscheidende Gericht jedoch keine Bindung an die im Zusammenhang mit einer Strafaussetzung zur Bewährung getroffene positive Sozialprognose. Verfassung von Berlin Art. 33 Strafprozessordnung § 81 g DNA-Identitätsfeststellungsgesetz § 2 B e s c h l u s s v o m 21. M ä r z 2 0 0 3 - V e r f G H 1 1 2 / 0 2 in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Herrn M. LVerfGE 14

Genetischer Fingerabdruck und Recht auf informationelle Selbstbestimmung

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gegen 1. 2.

den Beschluss des Landgerichts Berlin vom 12. Juni 2002 - 530 Qs 34/02 den Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 9. April 2002 - 351 Gs 1064/02 Entscheidungsformel: Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei. Auslagen werden nicht erstattet. Gründe: I.

1. Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen eine richterliche Anordnung der Entnahme von Körperzellen und deren molekulargenetische Untersuchung zur Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren („genetischer Fingerabdruck"). Gegen den 1942 geborenen Beschwerdeführer wurde erstmals durch Urteil des Jugendschöffengerichts Tiergarten in Berlin v. 30.4.1990 — (401) 8 Ju Js 113/89 Ls (87/89) — wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit homosexuellen Handlungen eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verhängt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die Strafe wurde nach Ablauf der Bewährungszeit erlassen. Außerdem verurteilte das LG Berlin den Beschwerdeführer durch Urteil v. 10.10.1995 - (513) 10 Ju Js 519/95 KLs (35/95) — wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in einundzwanzig Fällen, davon in achtzehn Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten und ordnete seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Beiden Verurteilungen lag zugrunde, dass der Beschwerdeführer im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit an mehreren Jungen, deren Vertrauen er erworben hatte, sexuelle Handlungen vorgenommen hatte bzw. von den Jungen solche Manipulationen an sich hatte vornehmen lassen. Auf Grund der zweiten Verurteilung befand sich der Beschwerdeführer in der Zeit vom 28.12.1995 bis zum 15.6.2001 im Krankenhaus des Maßregelvollzuges des Landes Berlin. Durch Beschluss ν. 31.5.2001 - 542 StVK 17/00 - setzte das LG Berlin — Strafvollstreckungskammer — die weitere Vollstreckung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ab dem 15.6.2001 zur Bewährung aus, weil zu erwarten sei, dass der Beschwerdeführer außerhalb des Maßregelvollzuges keine rechtswidrigen Taten mehr begehen werde und eine Aussetzung auch unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit LVerfGE 14

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verantwortet werden könne. Hierbei führte es, sich stützend auf ein forensischsexualmedizinisches Gutachten von Prof. Dr. B. vom 30.5.2000, aus, dass bei dem Beschwerdeführer eine homopädophile Hauptströmung vorliege, die nicht veränderbar sei. Es bestehe kein Anlass zu der Vermutung, dass sich diesbezüglich noch Änderungen, insbesondere Intensitätssteigerungen, ergeben könnten. Es sei vielmehr zu vermuten, dass sich der Beschwerdeführer wieder auf das Niveau der nur fantasierten sexuellen Kontakte zu Jungen zurückziehen könne. Zwar sei die — nicht quantifizierbare — Gefahr des Aufbaues einer erneuten intensiven Beziehung zu einem Jungen nicht wirklich auszuschließen; in einer solchen Situation komme es entscheidend darauf an, dass der Beschwerdeführer die projektiven Mechanismen durchschauen und sich an seine höchste Priorität, den Jungen nicht schaden zu wollen, erinnern könne. Die Wahrscheinlichkeit, dass ihm Letzteres gelinge, könne durch eine intensive einzeltherapeutische Nachbetreuung erhöht werden. Die Strafvollstreckungskammer führte anschließend aus, es könne die kritische Probe in die Freiheit nun gewagt werden. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft Berlin ordnete das AG Tiergarten durch Beschluss ν. 9.4.2002 gem. § 2 DNA-Identitätsfeststellungsgesetz (DNA-IFG) i V m § § 8 1 f, 81g StPO zum einen die Entnahme von Körperzellen des Beschwerdeführers in Form einer Speichelprobe — Mundhöhlenabstrich —, bei Weigerung eine Blutentnahme, sowie zum anderen deren molekulargenetische Untersuchung zur Feststellung des DNA-Identifizierungsmusters mit dem Ziel an, die Eigenschaften in die DNA-Analysedatei einzustellen. Zur Begründung verwies das AG auf die Verurteilung durch das LG v. 10.10.1995. Allein auf Grund der Art der Tat und der Persönlichkeit des Beschwerdeführers bestehe Grund zu der Annahme, dass gegen ihn künftig erneut Strafverfahren wegen einer Straftat von erheblicher Bedeutung zu führen seien. Zudem liege die DNA-Identifizierung auch im Interesse des Beschwerdeführers. Sie ermögliche es, Personen bereits in der Ermittlungsphase nach einer entsprechenden Straftat zu einem frühen Zeitpunkt als Verdächtige auszuschließen. Dass bei dem Beschwerdeführer die angeordnete Maßnahme kriminalistisch sinnvoll erscheine, sei im Hinblick auf statistische Erhebungen offensichtlich, wonach Sexualtäter als Neigungstäter in über 50% der Fälle erneut straffällig würden, davon in über 20% der Fälle im einschlägigen Deliktsbereich. Seine hiergegen eingelegte Beschwerde begründete der Beschwerdeführer dahingehend, dass sich seine Einordnung in eine „Verbrecherkartei" nicht mit der Achtung der Menschenwürde vertreten lasse. Es widerspreche seinem Gerechtigkeitsempfinden, wenn er wegen acht bis zehn Jahre zurückliegender einvernehmlicher Beziehungstaten und nach einer erfolgreichen Therapie bei strafloser Führung in eine „Verbrecherkartei" aufgenommen werden solle. Eine solche soziale Stigmatisierung verletze nicht nur seine Persönlichkeit in seinem Selbstwertgefühl, es spreche auch dem Resozialisierungsgedanken und -gebot — einem Ausfluss des Menschenwürdeprinzips — Hohn. Zudem sei es nicht richtig, dass alle ihm zur LVerfGE 14

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Last gelegten Tathandlungen, die zu einer Verurteilung geführt hätten, auch real stattgefunden hätten. Es sei doch schon maßlos übertrieben worden und er wisse nicht, ob er einem solchen „Kuhhandel" zugestimmt hätte, wenn eine DNA-Verbrecherkartei absehbar gewesen wäre. Er sei natürlich kein Unschuldslamm und wisse aufgrund seiner Therapieerfahrung heute, dass sein damals vermeintlich richtiges Handeln im Umgang mit den Kindern durchaus auch von Fehlverhalten belegt gewesen sei. Und natürlich mache er sich auch Selbstvorwürfe, dass er sich von den Jungen in deren sexuellen Neugierden und entsprechenden Wünschen habe vereinnahmen lassen. Er habe sich seine emotional-sexuelle Orientierung nicht ausgesucht, aber er müsse damit leben. Er sei kein Verbrecher, der Kinder sexuell ausbeute oder ihnen Verletzungen zufüge. Mit Beschluss ν. 12.6.2002 verwarf das LG Berlin die Beschwerde als unbegründet. Die Voraussetzungen des § 2 DNA-IFG iVm § 81 g Abs. 1 StPO für die Entnahme und Untersuchung der Körperzellen zum Zweck der Feststellung des DNA-Identifizierungsmusters lägen vor. Dabei führte das LG im Hinblick auf die Verurteilung durch das Jugendschöffengericht v. 30.4.1990 als auch die Verurteilung durch das LG v. 10.10.1995 aus, dass der Beschwerdeführer wegen Straftaten von erheblicher Bedeutung verurteilt worden sei. Die Eintragung der Verurteilungen im Bundeszentralregister sei noch nicht getilgt. Auf Grund der Tatausführungen und der Persönlichkeit des Beschwerdeführers sei zudem zu befürchten, dass gegen ihn künftig erneut Strafverfahren wegen Straftaten von erheblicher Bedeutung zu führen sein würden. Die negative Prognose sei nicht allein deshalb ausgeschlossen, weil die Strafvollstreckungskammer die weitere Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung ausgesetzt habe. Nach dem Gesetzeszweck seien bei den Entscheidungen der Strafaussetzung zur Bewährung und der Anordnung der Maßnahmen bei § 81 g StPO unterschiedliche Prognosemaßstäbe anzuwenden. Der Beschwerdeführer leide an einer homopädophilen Hauptströmung, die auch durch den Maßregelvollzug nicht habe therapiert werden können. Sie begründe die Gefahr, dass es in Zukunft erneut zu Ubergriffen des Beschwerdeführers gegenüber Kindern kommen könnte. Zudem ergebe sich auch aus seiner Beschwerdebegründung, dass weiterhin eine Tendenz bestehe, sich als Opfer darzustellen und die Taten zu bagatellisieren, was gegen eine vollständige Unrechtseinsicht, die eine wesentliche Voraussetzung für zukünftig straffreies Leben sei, spreche. Eine vom Beschwerdeführer befürchtete „soziale Stigmatisierung" finde nicht statt, da die DNA-Identifizierungsmuster ausschließlich zum Zweck der Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren oder der Gefahrenabwehr verwendet würden und das Genmaterial nach der Feststellung des DNA-Identifizierungsmusters vernichtet werde (§ 81 g StPO, § 3 DNA-IFG). 2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen die richterliche Anordnung der Feststellung und Speicherung des DNA-Identifizierungsmusters. Es gebe keine zwingende Notwendigkeit für eine DNA-Erfassung und die damit einhergehende Grundrechtseinschränkung. Er sehe sich in LVerfGE 14

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seiner Würde verletzt. In seiner weiteren Begründung setzt er sich mit der Entscheidung des LG auseinander und führt aus, dass diese Auslegungsfehler und insbesondere willkürliche Erwägungen enthalte, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung des Rechts auf Menschenwürde bzw. vom Umfang seines Schutzbereiches beruhten. Die vom LG erstellte negative Prognose würdige nicht die zu seinen Gunsten vorausgegangenen positiven Bewertungen. Insbesondere stehe die negative Prognose im vollen Gegensatz zu der Bewertung der Strafvollstreckungskammer. Das LG berufe sich für die eigene erstellte Negativprognose auf das Gutachten von Prof. Dr. B., wonach sexuelle Übergriffe auch nach der Therapie nicht ausgeschlossen werden könnten, unterdrücke hierbei aber auch die Tatsache, dass dann mögliche sexuelle Ubergriffe tatphänomenologisch die Intensität bisheriger Handlungen nicht überschreiten und gewaldos auf dem Boden einer Vertrauensbeziehung zu dem Jungen durchgeführt würden. Er sei so, wie er sei. Wenn schon die vorgegebene Natürlichkeit seiner Person aus sich selbst heraus als eine Gefahr begründend gesehen werde, dann verletze dies seine menschliche Würde. Denn ihm sei keine Wahl gegeben, anders zu sein. Auch sollte einem Menschen doch soviel Freiheit eingeräumt sein, dass er sich auch — und sei es nur seinem subjektiven Empfinden nach — als Opfer fühlen dürfe. Es gebe für ihn aber keinen Grund, die Vergehen zu bagatellisieren, nur sollte man auch nicht dramatisieren. Wenn es zutreffend wäre, dass es ihm an Unrechtseinsicht mangelte, gäbe es auch nachvollziehbare Gründe. Darüber hinaus sei nach seiner Verurteilung nichts vorgefallen, was einer Befürchtung des LG Rechnung tragen würde. Er sei sich der Strafbarkeit seiner früheren Verhaltensweise bewusst geworden und wolle sich nicht selber wieder in Gefahr bringen. Ob er zukünftig jeder Versuchung widerstehen werde, die hoffentlich nicht auf ihn zukomme, werde sich aber sicherlich nicht versprechen lassen. Dennoch gebe es keinen nachvollziehbaren Hinweis oder Beleg dafür, dass selbst bei einer zu vermutenden Annahme der Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten ein Aufklärungsansatz durch einen Spurenvergleich mittels eines DNA-Identifizierungsmusters geboten erscheine, da sog. Verdeckungsstraftaten mit absoluter Sicherheit nicht zu erwarten seien. Daher stehe der Grundrechtseingriff außer Verhältnis. Es verletze seine Würde zutiefst, wenn er in einen Topf geworfen werde mit Mördern, Vergewaltigern und anderen Gewalttätern. II. Die Verfassungsbeschwerde hat keinen Erfolg. 1. Nach § 49 Abs. 1 VerfGHG kann jedermann mit der Behauptung, durch die öffentliche Gewalt des Landes Berlin in einem seiner in der Verfassung von Berlin enthaltenen Rechte verletzt zu sein, Verfassungsbeschwerde zum Verfassungsgerichtshof erheben. Soweit — wie hier — Gegenstand der Verfassungsbeschwerde auf Bundesrecht beruhende Entscheidungen Berliner Gerichte sind, LVerfGE 14

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besteht die Prüfungsbefugnis des Verfassungsgerichtshofs in den Grenzen der Art. 142, 31 GG hinsichtlich solcher Grundrechte aus der Verfassung von Berlin, die mit vom Grundgesetz verbürgten Grundrechten übereinstimmen (std. Rspr.; u.a. Beschl. v. 2.12.1993 - VerfGH 89/93 - , LVerfGE 1, 169, 179 ff; Beschl. v. 6.10.1998 - VerfGH 32/98 NJW 1999, 47). Nach § 50 VerfGHG sind in der Begründung der Verfassungsbeschwerde das Recht, das verletzt sein soll, und die Handlung oder Unterlassung des Organs oder der Behörde, durch die der Beschwerdeführer sich verletzt fühlt, zu bezeichnen. Diesen Zulässigkeitsanforderungen wird die Verfassungsbeschwerde gerecht. Unschädlich ist, dass der Beschwerdeführer keine Norm der Verfassung von Berlin ausdrücklich zitiert, sondern allein Art. 1 GG benennt. Zwar reicht es nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs nicht aus, wenn die Verfassungsbeschwerde nur Vorschriften des Grundgesetzes bezeichnet. Jedoch genügt der Beschwerdeführer seiner Begründungspflicht, wenn durch seine inhaltlichen Darlegungen hinreichend deutlich wird, dass er sich in einem in der Verfassung von Berlin verbürgten Recht verletzt fühlt. Dies ist hier der Fall. Der Beschwerdeführer hat im Einzelnen ausgeführt, aus welchen Gründen er durch eine DNA-Erfassung in seiner Würde verletzt werde. Er rügt mit seiner Verfassungsbeschwerde zudem nicht nur, durch eine hoheitliche Maßnahme zum Objekt staatlichen Handelns gemacht worden zu sein. Darüber hinaus hebt er ausdrücklich hervor, dass für eine DNA-Erfassung, durch die er sich „in einen Topf geworfen" mit Mördern, Vergewaltigern und anderen Gewaltverbrechern sieht, kein Anlass gegeben sei. Zudem reicht der Beschwerdeführer zusammen mit der Verfassungsbeschwerde seine Beschwerde gegen den Beschluss des AG Tiergarten v. 9.4.2002 ein, in der er die Verletzung seiner Persönlichkeit mit der durch die Aufnahme in eine „Verbrecherkartei" einhergehenden sozialen Stigmatisierung begründet. Insgesamt rügt der Beschwerdeführer damit inhaltlich nicht nur die in Art. 6 VvB verbürgte Menschenwürde, sondern der Sache nach eine Verletzung des in der Verfassung von Berlin in Art. 33 VvB geschützten Rechts des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen. Art. 33 VvB entspricht dem im Grundgesetz gewährleisteten Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Beschl. v. 17.12.1997 — VerfGH 2/96 LVerfGE 7, 26, 31 zu Art. 21 b VvB a.F.), das aus Art. 2 Abs. 1 GG iVm Art. 1 Abs. 1 GG hergeleitet wird, da die freie Entfaltung der Persönlichkeit den Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten voraussetzt (BVerfGE 65, 1, 43). 2. Die Verfassungsbeschwerde ist jedoch unbegründet. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist durch die angegriffenen Beschlüsse des AG Tiergarten und des LG Berlin nicht verletzt. Auch sonstige Verletzungen von Rechten des Beschwerdeführers aus der Verfassung von Berlin sind nicht ersichtlich. Art. 33 VvB gewährleistet die aus dem Gedanken der Selbstbestimmung folgende Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und LVerfGE 14

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innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden. Es gewährt seinen Trägern Schutz gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung oder Weitergabe der auf sie bezogenen, individualisierten oder individualisierbaren Daten (vgl. zum Bundesrecht: BVerfGE 103, 21, 32 f). Die Feststellung, Speicherung und (künftige) Verwendung des DNA-Identifizierungsmusters greift in das durch Art. 33 VvB verbürgte Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist indes nicht vorbehaltlos gewährleistet. Es kann vielmehr zum Schutz überwiegender Allgemeininteressen durch Gesetz beschränkt werden (Art. 33 S. 2 und 3 VvB). Dies ist durch § 2 DNA-IFG iVm § 81 g StPO geschehen. Danach dürfen zum Zwecke der Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren u.a. demjenigen, der rechtskräftig verurteilt ist, wegen einer noch nicht im Bundeszentralregister oder Erziehungsregister getilgten Straftat von erheblicher Bedeutung, insbesondere eines Verbrechens, eines Vergehens gegen die sexuelle Selbstbestimmung, einer gefährlichen Körperverletzung, eines Diebstahls in besonders schwerem Fall oder einer Erpressung Körperzellen entnommen und zur Feststellung des DNA-Identifizierungsmusters molekulargenetisch untersucht werden, wenn wegen der Art oder Ausführung der Tat, der Persönlichkeit des Betroffenen oder sonstiger Erkenntnisse Grund zu der Annahme besteht, dass gegen ihn künftig erneut Strafverfahren wegen einer der vorgenannten Straftaten zu führen sind. Die Regelung des § 2 DNA-IFG iVm § 81 g StPO ist formell verfassungsgemäß, da sie zum Zweck der Sicherung der Beweisführung in künftigen Strafverfahren vom Bundesgesetzgeber auf Grund seiner konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit für das gerichtliche Verfahren in Strafsachen gem. § 74 Abs. 1 Nr. 1 GG erlassen wurde (BVerfGE 103, 21, 30 f). § 2 DNA-IFG verstößt auch inhaltlich nicht gegen Verfassungsrecht. Der absolut geschützte Kernbereich der Persönlichkeit, in den auch auf Grund eines Gesetzes nicht eingegriffen werden dürfte, ist nicht betroffen. Durch die Feststellung des DNA-Identifizierungsmusters anhand des Probenmaterials, des sog. nicht-codierenden Anteils der DNA, das gem. § 81 g Abs. 2 StPO anschließend zu vernichten ist, werden nämlich Rückschlüsse auf persönlichkeitsrelevante Merkmale wie Erbanlagen, Charaktereigenschaften oder Krankheiten des Betroffenen, also ein Persönlichkeitsprofil, nicht ermöglicht (BVerfGE 103, 21, 31 f; BT-Drs. 13/10791, S. 5). Dem Schrankenvorbehalt für Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung trägt die gesetzliche Regelung in § 2 DNA-IFG iVm § 81 g StPO ausreichend Rechnung. Sie bezweckt die Erleichterung der Aufklärung künftiger Straftaten von erheblicher Bedeutung und dient damit einer an rechtsstaatlichen Garantien ausgerichteten Rechtspflege, der ein hoher Rang zukommt. Die gesetzliche Regelung genügt den rechtsstaatlichen Erfordernissen der Normklarheit und der Justitiabilität. Die vorsorgliche Beweisbeschaffung verstößt auch nicht gegen das Ubermaßverbot. Das Rehabilitationsinteresse des BetroffeLVerfGE 14

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nen gegenüber der Gefahr sozialer Abstempelung wird durch die Anknüpfung des § 2 Abs. 1 DNA-IFG an die Tilgungsfristen des Bundeszentral- oder Erziehungsregisters hinreichend beachtet. Die in § 81 g Abs. 2 StPO enthaltene strenge Zweckbindung und das Gebot der Vernichtung des gesamten entnommenen Zellmaterials verhindert einen Missbrauch (BVerfGE 103, 21, 35). Im vorliegenden Fall ist die Auslegung und Anwendung des § 2 Abs. 1 DNA-IFG iVm § 81 g StPO im Ausgangsverfahren verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die rechtliche Würdigung des konkreten Sachverhalts lässt weder Willkür noch eine grundsätzlich unrichtige Anschauung von der Bedeutung und Reichweite des Art. 33 VvB erkennen. Dem für Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung geltenden verfassungsrechtlichen Erfordernis einer zureichenden Sachaufklärung und tragfähigen Entscheidungsbegründung (vgl. BVerfGE 103, 21, 35 f, 39) wurde hinreichend Rechnung getragen. Die Fachgerichte haben zu Recht zugrunde gelegt, dass eine Straftat von erheblicher Bedeutung als sog. Anlasstat für die Maßnahme nach § 2 DNA-IFG iVm § 81 g StPO vorliegt. Der Beschwerdeführer ist wegen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung verurteilt worden, die von § 81 g Abs. 1 StPO als Regelbeispiels fälle genannt werden. Zwar entbindet das Vorliegen eines Regelbeispiels nicht von einer einzelfallbezogenen Prüfung der Erheblichkeit der Straftat, wenn es etwa im Hinblick auf verhängte milde Strafen Hinweise aus den zugrunde liegenden Strafverfahren gibt, dass eine Ausnahme von der Regel in Betracht kommt (BVerfGE 103, 21, 38; BVerfG, Beschl. v. 15.3.2001 - 2 BvR 1841/00 u.a. - , NJW 2001, 2320, 2321). Angesichts der Verurteilung des Beschwerdeführers vom 10.10.1995 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten und der Anordnung seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Klankenhaus bestand jedoch für die Fachgerichte keine Veranlassung zu einer diesbezüglichen näheren Erörterung. Die Prognoseentscheidung, wegen der Art oder Ausführung der Tat, der Persönlichkeit des Betroffenen oder sonstiger Erkenntnisse bestehe Grund zu der Annahme, dass gegen ihn künftig erneut Strafverfahren wegen Straftaten von erheblicher Bedeutung zu führen sind, setzt von Verfassungs wegen neben dem Erfordernis einer zureichenden Sachaufklärung voraus, dass die für sie bedeutsamen Umstände nachvollziehbar abgewogen werden. Hierfür reicht die bloße Bezugnahme auf den Gesetzeswortlaut ebenso wenig aus wie die alleinige Bezugnahme auf Krtminalstatistiken bzw. die Tatsache, dass die Feststellung und Speicherung des DNA-Identifizierungsmusters gegebenenfalls auch als Entlastungsbeweis wirken könnte (BVerfGE 103, 21, 36, 39; BVerfG, aaO, NJW 2001, 2320, 2321). Vielmehr ist eine auf den Einzelfall bezogene Entscheidung, die auf schlüssigen, verwertbaren und in der Entscheidung nachvollziehbar dokumentierten Tatsachen beruht und die richterliche Annahme der Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten von erheblicher Bedeutung belegt, erforderlich. Dabei wird keine erhöhte Wahrscheinlichkeit für einen Rückfall gefordert. Die Prognose der Gefahr LVerfGE 14

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der Wiederholung muss aber auf schlüssigen, verwertbaren und in der Entscheidung nachvollziehbar dokumentierten Tatsachen beruhen und auf dieser Grundlage die richterliche Annahme der Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten von erheblicher Bedeutung belegen, für die das DNA-Identifizierungsmuster einen Aufklärungsansatz durch einen (künftigen) Spurenvergleich bieten kann (BVerfGE 103,21,35 ff). Es braucht nicht entschieden zu werden, ob die recht knappen Ausführungen des AG Tiergarten dem Erfordernis einer einzelfallbezogenen Prüfung genügen. Denn ein dem amtsgerichtlichen Beschluss anhaftender Mangel wäre insoweit jedenfalls dadurch geheilt, dass das LG die Beschwerde mit einer eingehenden Begründung verworfen hat, die verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist (vgl. BVerfG, Beschl. v. 2.8.1996 - 2 BvR 1511/96 - , NJW 1996, 3071, 3072). Die Entscheidung des LG genügt bei seiner Negativprognose den dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen. Das LG stellt nicht allein auf die Verurteilungen des Beschwerdeführers ab, sondern setzt sich mit der Persönlichkeit des Beschwerdeführers auseinander und legt nachvollziehbar dar, dass auch mehrere Jahre nach der letzten Verurteilung und trotz Maßregelvollzuges und einhergehender Therapierung Grund zu der Annahme besteht, dass gegen den Beschwerdeführer künftig erneut Strafverfahren wegen Straftaten von erheblicher Bedeutung zu führen sein könnten. Das LG war trotz des Beschlusses der Strafvollstreckungskammer v. 31.5.2001, die Vollstreckung der Unterbringung und der restlichen Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen, verfassungsrechtlich nicht gehindert, die Voraussetzung für eine Maßnahme nach § 2 DNA-IFG iVm § 81 g StPO anzunehmen. Allerdings ist im Rahmen der Gefahrenprognose iSd § 81 g Abs. 1 StPO erforderlich, dass eine auf den konkreten Betroffenen bezogene offene Abwägung vorgenommen wird, in die alle diejenigen Umstände einzustellen sind, die gleichermaßen bei einer Sozialprognose für die Straf(rest)aussetzung zur Bewährung bestimmend sein können. Dies gilt etwa für den Zeitablauf seit der früheren Tatbegehung, das Verhalten des Betroffenen in der Bewährungszeit, seine Motivationslage bei der früheren Tatbegehung, seine Lebensumstände und seine Persönlichkeit. Dabei darf jedoch nicht aus den Augen verloren werden, dass für das über eine Maßnahme nach § 2 DNA-IFG iVm § 81 g StPO entscheidende Gericht wegen des nach dem Gesetzeszweck unterschiedlichen Prognosemaßstabes keine rechtliche Bindung an die von einem anderen Gericht zur Frage der Straf(rest)aussetzung zur Bewährung getroffene Sozialprognose besteht. Die Annahme einer Wiederholungsgefahr kann deshalb im Einzelfall auch dann gerechtfertigt sein, wenn zuvor eine Straf(rest)aussetzung zur Bewährung erfolgt war (BVerfGE 103, 21, 36). Das Gericht, das die Maßnahme nach § 2 DNA-IFG iVm § 81 g StPO anordnet, entscheidet auf Grund eines anderen Maßstabes und spricht eine andersartige Rechtsfolge aus als das Gericht, das über die Straf(rest)aussetzung zu befinden hat. Denn bei der Prüfung, ob eine Strafe bzw. ein Strafrest - hier die

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Vollstreckung der Unterbringung und der restlichen Freiheitsstrafe gem. § 67 d Abs. 2 S. 1 StGB, § 67 Abs. 5 S. 1 StGB, § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB - zur Bewährung ausgesetzt werden kann, geht es um die Ahndung eines bereits begangenen Unrechts, während es sich bei der DNA-Datenanalyse um eine vorbeugende Maßnahme handelt, die den Zweck hat, die Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren zu verbessern (vgl. LG Ingolstadt, Beschl. v. 15.11.1999 - 2 Qs 210/99 NJW 2000, 749, 750; BT-Drs. 13/10791, S. 4). Die Entscheidung, dass die Aussetzung der Vollstreckung der Unterbringung und der restlichen Freiheitsstrafe unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden könne (vgl. § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB), bedeutet nicht, dass eine sichere Gewähr für künftig straffreies Leben besteht. Die Regelung des § 57 StGB enthält zudem keine Erwartungsklausel dahingehend, dass der Verurteilte keine Straftaten mehr begehen werde (Schänke/Schröder StGB, 26. Aufl. 2001, § 57 Rn. 10). Für die Bewilligung von Bewährung genügt grundsätzlich, dass die Begehung weiterer Straftaten nicht wahrscheinlich ist, d.h. dass die Wahrscheinlichkeit künftigen straffreien Verhaltens größer ist als diejenige erneuter Strafbarkeit. Eine jeden Zweifel ausschließende Gewissheit kann nicht verlangt werden, weil die Bewährungsvorschriften anderenfalls entgegen ihrem kriminalpolitischen Zweck auf einen zu engen Bereich von Fällen beschränkt würden. Demgegenüber ist für eine DNA-Feststellung die auf gegenwärtige tatsächliche Umstände gestützte Möglichkeit ausreichend, dass gegen den Verurteilten künftig erneut Strafverfahren zu führen sind. Diese Bewertung kann auch wegen eines Risikos gerechtfertigt sein, das bei der Bewilligung von Bewährung in Kauf genommen werden kann. Schließlich kann eine falsche Prognose im Zusammenhang mit einer dem Verurteilten günstigen Aussetzungsentscheidung notfalls korrigiert werden, während unterbliebene Maßnahmen nach dem DNA-IFG praktisch kaum nachgeholt werden können, so dass ein DNA-Identifizierungsmuster gegebenenfalls unabänderlich fehlt, welches die Aufklärung einer schwerwiegenden Straftat eventuell möglich gemacht hätte (vgl. LG Göttingen, Beschl. v. 14.7.1999 - 1 Qs 121/99 NJW 2000, 751; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 27.3.2001 - 3 Ws 17/01 StraFo 2001, 308, 309; Markwardt/Brodersen NJW 2000, 692, 694; 1\ackow Das DNA-Identitätsfeststellungsgesetz und seine Probleme, 2001, S. 156 ff, 159; jeweils unter Heranziehung von BVerwGE 66, 192, 200 f zu § 81 b Alt. 2 StPO). Vorliegend ist die Möglichkeit, dass der Beschwerdeführer in einem zukünftigen Strafverfahren zu dem Kreis der Verdächtigen gehören wird, in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise vom LG bejaht worden. Weil das LG wie dargelegt — bei seiner Entscheidung nach § 2 DNA-IFG iVm § 81 g StPO einen anderen Prognosemaßstab anzulegen hatte als die Strafvollstreckungskammer hinsichtlich der Frage der Bewilligung von Bewährung, konnte es sich auf das Gutachten von Prof. Dr. B. stützen, das auch der Bewährungsentscheidung LVerfGE 14

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zugrunde gelegen hatte, und hieraus andere Schlüsse ziehen als die Strafvollstreckungskammer. Nach dem Gutachten ist auf Grund der beim Beschwerdeführer diagnostizierten homopädophilen Hauptströmung, die nicht - auch nicht durch Therapien — veränderbar ist, die Gefahr des Aufbaues einer erneuten intensiven Beziehung zu einem Jungen nicht wirklich auszuschließen. Hieraus durfte das LG folgern, dass es in Zukunft zu sexuellen Ubergriffen des Beschwerdeführers gegenüber Kindern kommen könnte. Dass die nach Beendigung des Maßregelvollzuges fortlaufende Einzeltherapierung des Beschwerdeführers eine Wahrscheinlichkeit künftiger gegen ihn zu führender Strafverfahren herabsetzen kann und die Wahrscheinlichkeit eines künftigen straffreien Lebens des Beschwerdeführers höher ist als die Wahrscheinlichkeit neuer Straftaten, steht der Negativprognose demgegenüber nicht entgegen. Maßgeblich ist allein auf Grund des im Vergleich zur Bewilligung der Bewährung abweichenden Prognosemaßstabs, dass die nicht therapierbare homopädophile Hauptströmung des Beschwerdeführers weiterhin Grund zu der Annahme bietet, dass gegen den Beschwerdeführer Strafverfahren wegen Sexualstraftaten zu führen sind. Auch der Beschwerdeführer selbst vermag im Übrigen ausweislich seiner Begründung der Verfassungsbeschwerde künftige sexuelle Kontakte mit Jungen nicht mit völliger Sicherheit auszuschließen. Ferner steht der Negativprognose nicht entgegen, dass der Gutachter Prof. Dr. B. Änderungen der Pädophilie, die sich in gewaltlosen sexuellen Handlungen gegenüber Jungen äußerte, in Gestalt von Intensitätssteigerungen ausschloss. Denn die Anordnung der Feststellung und Speicherung des DNA-Identifizierungsmusters hat nicht die Gefahr der Begehung von Gewaltdelikten zur Voraussetzung. Vielmehr sind zu den Straftaten von erheblicher Bedeutung auch Straftaten anderer Art - wie die der Verurteilung des Beschwerdeführers von 1995 zugrunde liegenden gewaltlosen Sexualstraftaten — zu zählen. Die vom Beschwerdeführer beanstandete Beurteilung seiner Persönlichkeit durch das LG insoweit, als das LG das Fehlen einer vollständigen Unrechtseinsicht als wesentliche Voraussetzung für ein zukünftig straffreies Leben aus einer Tendenz des Beschwerdeführers, sich als Opfer darzustellen und die Taten zu bagatellisieren, folgert, unterliegt nicht der Uberprüfung durch den Verfassungsgerichtshof. Soweit Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde gerichtliche Entscheidungen sind, besteht nämlich die Prüfungsbefugnis des Verfassungsgerichtshofs nur in engen Grenzen. Die Gestaltung des \^erfahrens, die Feststellung und Würdigung des Sachverhalts, die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den Einzelfall sind Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte und der Nachprüfung durch den Verfassungsgerichtshof entzogen. Es ist nicht Aufgabe des Verfassungsgerichtshofs, gerichtliche Entscheidungen — ähnlich wie eine Rechtsmittelinstanz - in jeder Hinsicht auf ihre Übereinstimmung mit dem einfachen Recht zu kontrollieren (Beschl. v. 30.6.1992 - VerfGH 9/92 - , LVerfGE 1, 7, 8 und vom 26.10.2000 - VerfGH 54/00 std. Rspr). Nur bei VerLVerfGE 14

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letzung von spezifischem Verfassungsrecht kann das Verfassungsgericht auf Verfassungsbeschwerde hin eingreifen. Den Strafgerichten obliegt nicht nur die Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften des Strafprozessrechts, sondern auch die Feststellung des entscheidungserheblichen Sachverhalts sowie die dazu notwendige Würdigung der Beweis- oder Ermitdungsergebnisse (BVerfG, Besch! v. 2.8.1996 - 2 BvR 1511/96 NJW 1996, 3071, 3072). Hierzu gehört auch die Würdigung der Persönlichkeit des Betroffenen anhand der zugrunde liegenden Akten. Wenn das LG auch aus dem Verhalten des Beschwerdeführers im Beschwerdeverfahren Rückschlüsse in Bezug auf seine Persönlichkeit zieht, ist dies daher verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Es lässt sich angesichts der zwei Verurteilungen des Beschwerdeführers wegen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung außerdem nicht feststellen, dass der Eingriff in sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung unverhältnismäßig ist. Insbesondere kann der Beschwerdeführer nicht erfolgreich geltend machen, dass DNA-Identifizierungsmuster auch deshalb nicht benötigt würden, weil die Begehung sog. Verdeckungsstraftaten mit absoluter Sicherheit nicht zu erwarten sei. Eine aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit folgende systemimmanente Begrenzung für eine Maßnahme nach § 2 DNA-IFG iVm § 81 g StPO mangels Erforderlichkeit der Maßnahme ergibt sich nur für solche Delikte, bei denen der Täter nicht delikts typisch im Zusammenhang mit einer künftigen Straftat „Identifizierungsmaterial" am Tatort hinterlassen wird. Hierzu gehören beispielsweise Aussage- und Beleidigungsdelikte (BT-Drs. 13/10791, S. 5). Bei Sexualstraftaten handelt es sich hingegen regelmäßig um Taten, die Spuren entstehen lassen (vgl. BVerfGE 103, 21, 40) und für deren Aufklärung die DNA-Feststellung geeignet und erforderlich ist. Eine Prognose, bei etwaigen künftigen gegen den Beschwerdeführer zu führenden Strafverfahren werde ein Vergleich anhand des DNA-Identifizierungsmusters mit Sicherheit entbehrlich sein, lässt sich von vornherein nicht stellen. Der Gesichtspunkt der Resozialisierung steht schließlich einer Maßnahme nach § 2 DNA-IFG iVm § 81 g StPO nicht entgegen (Rackow Das DNA-Identitätsfeststellungsgesetz und seine Probleme, 2001, S. 151). Es handelt sich hierbei — wie dargelegt — um keine der Strafahndung dienende, repressive Maßnahme. Auch ist bei objektiver Betrachtung nicht ersichtlich, dass sich das Wissen des Beschwerdeführers um die Speicherung seines DNA-Identifizierungsmusters negativ auf seine Bemühungen, in Zukunft trotz seiner homopädophilen Neigungen ein straftatenfreies Leben zu führen, auswirken könnten. Seine „soziale Stigmatisierung" ist Folge der begangenen Straftaten und wird durch die angeordneten Maßnahmen nach dem DNA-IFG nicht verstärkt, weil diese außer ihm selbst nur Personen bekannt sind oder werden können, denen in vollem Umfang auch die Informationen über seine Straftaten zur Verfügung stehen. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG. Dieser Beschluss ist unanfechtbar. LVerfGE 14

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Nr. 5 1. Es ist mit dem Gleichheitssatz vereinbar, wenn der Gesetzgeber im Straßenreinigungsrecht anstelle des Frontmetermaßstabes den Grundstücksflächenmaßstab festlegt, die Höhe der Straßenreinigungsentgelte von der jeweiligen Reinigungsklasse einer Straße abhängig macht sowie neben den AnHegern auch die Hinterlieger einer Straße zu den Straßenreinigungsentgelten heranzieht. 2. Eine gesetzliche Regelung, die zu einer geringeren Entgeltbelastung eines Eckgrundstücks gegenüber einem vergleichbar großen Mittelgrundstück führt, weil bei Grundstücken, die an mehrere öffentliche Straßen in unterschiedlichen Reinigungsklassen angrenzen, die Grundstücksfläche jeweils mit dem Anteil angesetzt wird, der sich aus dem Verhältnis der Grundstücksbreiten ergibt, kann noch nicht als willkürlich betrachtet werden und verstößt nicht gegen den Gleichheitssatz. Verfassung von Berlin Art. 10 Abs. 1 Straßenreinigungsgesetz § 7 Abs. 2, 3, 4 B e s c h l u s s v o m 13. J u n i 2003 - V e r f G H 161/00 in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Herrn H. gegen 1. 2. 3.

das Urteil des Landgerichts Berlin vom 23. November 2000 - 9 S 66/99 das Urteil des Amtsgerichts Neukölln vom 21. September 1999 - 8 C 75/99 mittelbar gegen a) § 7 des Straßenreinigungsgesetzes (StiReinG) vom 19. Dezember 1978 (GVB1. S. 2501) zuletzt geändert durch das Eigenbettiebsordnungsgesetz vom 9. Juli 1993 (GVB1. S. 319) b) die Achte Verordnung zur Änderung der Verordnung über die Straßenreinigungsverzeichnisse und die Einteilung in Reinigungsklassen vom 14. März 1995 (GVB1. S. 80)

Beteiligte gem. § 53 Abs. 1, 2 und 3 lVm § 44 VerfGHG: 1. 2. 3.

Präsident des Landgerichts Berlin Präsident des Amtsgerichts Tiergarten Präsident des Abgeordnetenhauses von Berlin

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4. 5.

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Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berliner Stadtreinigungsbetriebe Entscheidungsformel: Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei. Auslagen werden nicht erstattet. Gründe: I.

Der Beschwerdeführer ist Eigentümer eines 970 m 2 großen Grundstücks an der Waltersdorfer Chaussee in Berlin-Neukölln. Die Waltersdorfer Chaussee wurde im Bereich zwischen Neuköllner Straße und Landesgrenze, der dem Stiaßenreinigungsverzeichnis Α zugeordnet ist und in dem auch das Grundstück des Beschwerdeführers liegt, durch die Achte Verordnung zur Änderung der Verordnung über die Straßenreinigungsverzeichnisse und die Einteilung in Reinigungsklassen vom 14.3.1995 (GVB1. S. 80, 132) von der Reinigungskiasse 4 in die Reinigungsklasse 3 umgruppiert. In der Reinigungsklasse 4 ist in der Regel eine wöchentliche Reinigung, in der Reinigungsklasse 3 sind drei wöchentliche Reinigungen vorgesehen. Das pro Quadratmeter Grundstücksfläche zu entrichtende Entgelt beüef sich in dem hier interessierenden Zeitraum in der Klasse 4 auf 0,08 DM, in der Klasse 3 auf 0,24 DM. Die Berliner Stadtieinigungsbetriebe zogen den Beschwerdeführer ab dem 1.4.1995 zu dem erhöhten Reinigungsentgelt in Höhe von 232,80 DM pro Quartal heran. Für personalbedingte Reinigungsausfälle im Jahre 1995 verrechneten die Berliner Stadtreinigungsbetriebe insgesamt einen Betrag von 185,07 DM auf ihre Forderung. Der Beschwerdeführer beglich die ihm gestellten Rechnungen nur in Höhe des Reinigungsentgelts der Reinigungsklasse 4 von 0,08 DM je Quadratmeter. Die Berliner Stadtreinigungsbetriebe machten daraufhin im Februar 1999 für die Zeit vom 1.4.1995 bis zum 31.3.1999 den Differenzbetrag in Höhe von 2.336,88 DM nebst anteiligen Zinsen gerichtlich geltend. Der Beschwerdeführer trug im amtsgerichtlichen Verfahren im Wesentlichen vor, die Reinigungsleistungen seien nicht in dem geforderten Umfang erbracht worden. Teilweise sei die Reinigung nur zweimal monatlich erfolgt. Ihm stehe daher wegen nicht erbrachter Leistungen in entsprechender Anwendung werkvertraglicher Vorschriften ein Minderungsrecht zu. Zudem sei die Waltersdorfer Chaussee im maßgeblichen Abschnitt zu Unrecht in die Reinigungsklasse 3 eingeordnet worden. § 7 des Straßenreinigungsgesetzes (StrReinG) verstoße gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG und des Art. 10 VvB. Der Wechsel vom Frontmetermaßstab zum Grundstücksflächenmaßstab führe zu einer durch nichts LVerfGE 14

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zu rechtfertigenden Ungleichbehandlung bei der Höhe der Reinigungsentgelte für etwa gleich große Eckgrundstücke oder Grundstücke, die an im Straßenreinigungsverzeichnis C aufgeführten Straßen lägen. Mit Urteil v. 21.9.1999 verurteilte das AG den Beschwerdeführer antragsgemäß. Da das Straßenreinigungsentgelt nicht für die Reinigung der unmittelbar vor dem Grundstück liegenden Straße geschuldet werde, sondern es ein Benutzungsentgelt sei, dessen Gegenleistung den Anwohnern dadurch erwachse, dass die Berliner Stadtreinigungsbetriebe das öffentliche Straßenland im gesamten Land Berlin in einem sauberen und sicheren Zustand erhielten, handele es sich um allgemeine Daseinsvorsorge. Eine bestimmte Anzahl von wöchentlichen Reinigungen sei daher nicht geschuldet. Die geschuldete Leistung liege letztlich in der Bereitstellung einer sauberen Straße. Nur wenn die Straßenreinigung überhaupt nicht oder in erheblichem Umfange nicht erbracht werde, komme eine Minderung des Entgelts in Betracht. Gegen die Einordnung in die Reinigungsklasse 3 bestünden angesichts des durch die Wiedervereinigung erheblich angestiegenen Verkehrsaufkommens in der Waltersdorfer Chaussee keine durchgreifenden Bedenken. Der in § 7 StrReinG enthaltene Gebührenmaßstab verstoße nicht gegen den Gleichheitssatz. Indem der Gesetzgeber auf die Quadratmeterzahl der Grundstücke abstelle, habe er einen praktikablen und grundsätzlich geeigneten Bemessungsgrundsatz gewählt, der davon ausgehe, dass bei größeren Grundstücken eine entsprechend höhere Straßenbelastung entstehe. Bei der Umstellung vom Frontmetermaßstab auf den Grundstücksflächenmaßstab habe der Gesetzgeber gerade beabsichtigt, auch solche Anlieger heranzuziehen, die Grundstücke mit geringer oder gar keiner Straßenanbindung haben. Dass der Beschwerdeführer im Vergleich zu Grundstücksnachbam mit vergleichbaren Grundstücksgrößen, aber anderer Eingruppierung andere Zahlungsverpflichtungen habe, liege in der Natur der Sache. Die vom Beschwerdeführer gerügten Differenzen zu seinen Nachbarn müssten hingenommen werden, da bei Typisierungen nur an den Regelfall eines Sachverhalts angeknüpft werden könne und daher sich dem „Typ" entziehende Umstände des Einzelfalls außer Betracht gelassen werden müssten. Der Beschwerdeführer habe insoweit die Möglichkeit, für sich eine Ausnahmeregelung mit der öffentlichen Hand zu vereinbaren. Die hiergegen eingelegte Berufung wies das LG mit Urteil v. 23.11.2000 aus den Gründen der amtsgerichtlichen Entscheidung zurück. Der Beschwerdeführer beantragte mit Schreiben vom 17.11.1999 eine Minderung des Straßenreinigungsentgelts. Mit Bescheid vom 20.1.2000 wurde der Antrag abgelehnt. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies das Landeseinwohneramt mit Bescheid vom 22.8.2000 zurück. Eine grob unbillige und offensichtliche Benachteiligung des Beschwerdeführers sei nicht gegeben. Bei dem bei der Härtefallentscheidung vorzunehmenden Vergleich mit anderen Anliegern und Hinterliegern sei nicht auf die konkrete Straße, sondern auf die Allgemeinheit der Grundstückseigentümer abzustellen. Die durch die Umgruppierung der Waltersdorfer Chaussee entstandenen höheren Kosten könnten allein nicht als unzumutLVerfGE 14

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bare Härte angesehen werden. Ein anderer, von der Regel abweichender Sachverhalt könne nicht festgestellt werden. Hiergegen hat der Beschwerdeführer vor dem VG Klage erhoben, über die noch nicht entschieden worden ist. Mit seiner am 22.12.2000 gegen die Urteile des AG und des LG gerichteten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung des Gleichheitssatzes des Art. 10 VvB. Die Entgeltberechnung der Berliner Stadtreinigungsbetriebe verletze den Gleichheitssatz. Insbesondere die Einteilung in unterschiedliche Reinigungsklassen führe zu willkürlichen Ergebnissen und zur Verletzung des Äquivalenzprinzips. Die Verordnung, nach der die Einteilung der Straßen in Reinigungsklassen vorgenommen werde, stamme noch aus einer Zeit, als nach dem Frontmetermaßstab die Entgelte nach der konkreten Reinigungsleistung vor dem jeweiligen Grundstück berechnet worden seien. Nach der Änderung des Straßenreinigungsgesetzes im Jahre 1990, die dazu geführt habe, dass das Βenutzungsentgeh eine Gegenleistung für die Reinigung des öffentlichen Straßenlandes im gesamten Stadtgebiet darstelle, sei die gesamte Einteilung in Reinigungsklassen fragwürdig und willkürlich geworden. Anhand seiner Berechnungen ergebe sich, dass für gleich große Grundstücke ganz unterschiedliche Entgelte zu leisten seien. Die Belastungen für Eigentümer gleich großer Grundstücke seien teilweise so ungleich, dass das Äquivalenzprinzip deutlich verletzt werde. Der Grundsatz, dass Leistung, Gegenleistung sowie verursachte Kosten nicht außer Verhältnis stehen dürften, werde verletzt. So zahlten Eigentümer von Eckgrundstücken trotz langer Straßenfronten am wenigsten, obwohl solche Eckgrundstücke als besonders wertvoll gälten. Anstelle des von ihm, dem Beschwerdeführer, zu zahlenden Jahresbetrages von rund 931 DM müsse ein Eigentümer eines gleich großen Eckgrundstückes, das ebenfalls mit einer Front von 19 m an die Straße der Reinigungsklasse 3 (A3-Straße), mit einer Front von 51 m aber an eine „billigere" Straße der Reinigungsklasse 4 (A4-Straße) grenze, nur jährlich rund 478 DM zahlen. Der Eigentümer eines gleich großen, mit 19 m an die A3-Straße grenzenden Grundstücks, das mit 51 m an eine Straße des Straßenverzeichnisses C grenze, müsse - nach Anwendung der Härtefallregelung gem. § 5 Abs. 3 StrReinG — gar nur rund 251 DM im Jahr zahlen. Die finanzielle Endastung dieser Eckgrundstücke könne, da die Gesamtkosten der Straßenreinigung sich dadurch nicht reduzierten, nur zu Lasten anderer Grundstückseigentümer funktionieren. Der Grundgedanke eines Benutzungsentgelts könne durchaus praktikabel sein; es dürfe aber nicht nach unterschiedlichen Klassen in einfacher bis siebenfacher Höhe berechnet werden. Alle Bürger, denen durch die Straßenreinigung der \^orteil erwachse, dass das öffentliche Straßenland sich im gesamten Land Berlin in einem sauberen Zustand befinde, müssten die gleichen Gebühren entrichten. Richtiger als nach Frontmetern oder Grundstücksgrößen zu rechnen sei es, nach Personen- oder Wohnungszahl oder -große vorzugehen. Es stelle sich die Frage, inwieweit der Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers ausgedehnt werden dürfe.

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Zwar müsse angesichts der Vielzahl der unterschiedlichen Grundstücksarten und -lagen sowie der Unterschiede in der Bebauung und Nutzung der Grundstücke dem Gesetzgeber ein gewisser Spielraum zugestanden werden. Sachliche Gründe für die vorgenommene Differenzierung seien aber nicht erkennbar. So würden Eigentümer von Grundstücken, die an Straßen des Straßenverzeichnisses C lägen, überhaupt nicht zur Finanzierung der allgemeinen Straßenreinigung herangezogen. Nur die Anlieger von Straßen, die im Straßenverzeichnis Α und Β aufgeführt seien, müssten hierfür Entgelte entrichten. Vor der Gesetzesnovellierung hätten die Eigentümer der direkt an die Straße angrenzenden Grundstücke und die Eigentümer von Hinterliegergrundstücken Vereinbarungen über die Grundstückslasten getroffen. Der Gesetzgeber habe sich nachträglich in diese gewachsenen Verhältnisse eingemischt und die Lasten nachträglich auf beide Parteien verteilt. Gem. § 53 Abs. 1, 2 und 3 iVm § 44 VerfGHG ist den Beteiligten Gelegenheit gegeben worden, sich zu der Verfassungsbeschwerde zu äußern. Die Beteiligte zu 4. hält die Berechnung der Straßenreinigungsentgelte nach dem Grundstücksflächenmaßstab für verfassungsgemäß. Willkür sei nicht erkennbar. Auch die Einteilung von Reinigungsklassen unterliege keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Die vom Beschwerdeführer angeführten Fälle unterschiedlich berechneter Straßenreinigungsentgelte könnten nicht zum Erfolg der Verfassungsbeschwerde führen. Sofern sich im Einzelfall nicht gewollte, grobe UnVerhältnismäßigkeiten ergeben sollten, könne gem. § 5 Abs. 3 StrReinG eine Korrektur verlangt werden. Bei Eigentümern von Eckgrundstücken, die mit ihren Grundstücks seifen an Straßen der Straßenreinigungsverzeichnisse Α und C grenzten, werde dieser Umstand als Härte gem. § 5 Abs. 3 StrReinG gewertet und eine Entgeltminderung analog der Berechnung nach § 7 Abs. 4 S. 2 StrReinG durchgeführt. Die Beteiligten zu 5. betonen ebenfalls, dass der Grundstücksflächenmaßstab ein zulässiger Maßstab sei. Es müsse zudem berücksichtigt werden, dass es sich bei der Verteilung der Straßenreinigungskosten um Massenvorgänge handele. Deswegen müssten zwangsläufig Typisierungen vorgenommen werden. Ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz liege dabei nicht schon dann vor, wenn sich in einem Einzelfall eine Gebührenberechnung vorstellen lasse, die die Besonderheiten des Falles noch genauer abbilde. Darüber hinaus beruhe die unterschiedliche straßenreinigungsrechtliche Behandlung der A- und B-Straßen-Grundstücke einerseits und der C-Straßen-Grundstücke andererseits auf dem unterschiedlichen Erschließungsvorteil und Reinigungsbedürfnis, den die einzelnen Straßenkategorien vermittelten. Für Eckgrundstücke habe schließlich der Gesetzgeber die besondere Erschließungssituation solcher Grundstücke sachgerecht erfasst und eine nachvollziehbare und plausible Regelung geschaffen, die nicht dem Gleichheitssatz widerspreche. Der Richter Dr. Groth ist gem. § 16 Abs. 1 Nr. 3 iVm Nr. 2 VerfGHG in diesem Verfahren von der Ausübung seines Richteramtes ausgeschlossen. LVerfGE 14

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II. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Soweit der Beschwerdeführer die Verletzung des Art. 10 Abs. 1 VvB durch die Entgeltabrechnung und die seiner Ansicht nach willkürliche Einteilung in Reinigungsklassen rügt und mit dieser Begründung die Aufhebung der Urteile des AG und des LG begehrt, ist die Verfassungsbeschwerde zulässig. Der Beschwerdeführer greift der Sache nach mittelbar die der Entgeltforderung zugrunde liegenden Regelungen des Straßenreinigungsgesetzes sowie der vorbezeichneten Rechtsverordnung an und macht insoweit geltend, dass sie zu einer sachlich nicht mehr zu rechtfertigenden Ungleichbehandlung von Grundstückseigentümern führten. Der Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde mit dieser Zielrichtung steht nicht entgegen, dass die Frist des § 51 Abs. 2 VerfGHG, wonach Verfassungsbeschwerden, die sich gegen Rechtsvorschriften richten, innerhalb eines Jahres seit dem Inkrafttreten der Rechtsvorschrift zu erheben sind, verstrichen ist. Diese Frist gilt nur für Verfassungsbeschwerden, mit denen der Betroffene sich mit der Behauptung eines unmittelbaren und gegenwärtigen Betroffenseins — direkt gegen eine Rechtsvorschrift wendet, nicht aber für den Fall einer inzidenten Überprüfung eines Gesetzes auf seine Verfassungsmäßigkeit aus Anlass einer gerichtlichen Entscheidung (vgl. BVerfGE 9, 334, 342). Die Verfassungsbeschwerde ist nicht begründet. Die Heranziehung des Beschwerdeführers zu den im Ausgangsverfahren streitgegenständlichen Straßenreinigungsentgelten verletzt keines seiner in der Verfassung von Berlin gewährleisteten Rechte. Sie steht namentlich im Einklang mit dem Gleichheitssatz des Art. 10 Abs. 1 VvB. Der allgemeine Gleichheitssatz, der in Art. 10 Abs. 1 VvB inhaltsgleich mit Art. 3 Abs. 1 GG verbürgt ist (vgl. Besch! v. 12.12.1996 - VerfGH 38/96 LVerfGE 5, 58, 60), verbietet, wesentlich Gleiches willkürlich ungleich oder wesentlich Ungleiches willkürlich gleich zu behandeln. Dem Gesetzgeber ist damit nicht jede Differenzierung verboten. Es ist vielmehr grundsätzlich Sache des Normgebers, diejenigen Sachverhalte auszuwählen, an die er dieselben Rechtsfolgen knüpft, die er mithin im Rechtssinne als gleich ansehen will. Den ihm zustehenden Gestaltungsspielraum muss der Gesetzgeber allerdings sachgerecht ausüben. Was dabei in Anwendung des Gleichheitssatzes sachlich vertretbar oder sachfremd ist, lässt sich nicht abstrakt und allgemein feststellen, sondern immer nur in Bezug auf die Eigenart des konkreten Sachverhalts, der geregelt werden soll. Je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen ergeben sich danach unterschiedliche Grenzen der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen (vgl. hierzu im Einzelnen: Urt. v. 17.7.2001 — VerfGH 152/00 - , NVwZ 2001, 1266, 1267 mwN auch der Rechtsprechung zum Bundesrecht).

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Für die Erhebung von Gebühren und diesen ähnlichen Entgelten (vgl. zu diesen: BVerfGE 79, 1, 27 f) ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, der sich der Verfassungsgerichtshof anschließt, anerkannt, dass der Gesetzgeber innerhalb seiner jeweiligen Regelungskompetenzen über einen weiten Entscheidungs- und GestaltungsspieLraum verfügt, welche individuell zurechenbaren öffentlichen Leistungen er einer Gebührenpflicht unterwerfen und welche Gebührenmaßstäbe und Gebührensätze er hierfür aufstellen will (vgl. BVerfGE 50, 217, 226 f; 97, 332, 334 f; VerfGH, Urt. v. 21.10.1999 - VerfGH 42/99 LVerfGE 10, 96, 111). Aus der Zweckbestimmung einer Gebühr, Einnahmen zu erzielen, um speziell die Kosten individuell zurechenbarer öffentlicher Leistungen ganz oder teilweise zu decken, folgt von Verfassungs wegen nicht, dass die Gebührenhöhe durch die Kosten der Leistung der öffentlichen Hand allgemein oder im Einzelfall in der Weise begrenzt sein müsse, dass Gebühren diese Kosten nicht übersteigen oder nicht unterschreiten dürfen; das Kostendeckungsprinzip und ähnliche gebührenrechtliche Prinzipien sind keine Grundsätze mit verfassungsrechtlichem Rang (vgl. Urt. v. 21.10.1999, aaO, mwN). Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 10 Abs. 1 VvB, dem Grundsätze der Abgabengerechtigkeit innewohnen (vgl. BVerfGE 97, 332, 346 mwN), folgt allerdings, dass Gebühren nicht völlig unabhängig von den Kosten der gebührenpflichtigen Staatsleistung festgesetzt werden dürfen und dass die Verknüpfung zwischen den Kosten der Staatsleistung und den dafür auferlegten Gebühren sich nicht in einer Weise gestaltet, die, bezogen auf den Zweck der gänzlichen oder teilweisen Kostendeckung, sich unter keinem vernünftigen Gesichtspunkt als sachgemäß erweist. Darüber hinaus gebietet der Gleichheitsgrundsatz, bei gleichartig beschaffenen Leistungen, die rechnerisch und finanziell in Leistungseinheiten erfasst werden können, die Gebührenmaßstäbe und Gebührensätze in den Grenzen der Praktikabilität und Wirtschaftlichkeit so zu wählen und zu staffeln, dass sie unterschiedlichen Ausmaßen in der erbrachten Leistung Rechnung tragen, damit die verhältnismäßige Gleichheit unter den Gebührenschuldnern gewahrt bleibt (BVerfGE 50, 217, 227; zur Zulässigkeit einkommensbezogener Gebührenstaffeln vgl. BVerfGE 97, 332, 344 ff). Schließlich ergibt sich aus dem Äquivalenzprinzip, das eine gebührenrechtliche Ausprägung des Verfassungsgrundsatzes der Verhältnismäßigkeit ist, dass die dem Einzelnen auferlegte Gebühr nicht außer Verhältnis zu den mit der Gebührenregelung verfolgten, verfassungsrechtlich zulässigen Zwecken stehen darf (Urt. v. 21.10.1999, aaO, mwN). Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe sind die Abgrenzung des Kreises der Entgeltpflichtigen in § 7 Abs. 2 StrReinG, die Bemessung der Entgelthöhe nach der Grundstücks fläche in § 7 Abs. 3 S. 1 StrReinG und der damit verbundene Wechsel vom Frontmetermaßstab zum Grundstücksflächenmaßstab sowie die Umgruppierung des Grundstücks des Beschwerdeführers in die Reinigungsklasse 3 verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Dabei kann die in der fachgerichtlichen Rechtsprechung - soweit ersichtlich — noch nicht abschließend geklärte LVerfGE 14

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Frage dahinstehen, ob das Straßenreinigungsentgelt, das im Land Berlin zivilrechtlich ausgestaltet ist (vgl. § 7 Abs. 7 StrReinG), seinem - für die verfassungsrechtliche Prüfung maßgeblichen (vgl. hierzu: BVerfG, Beschl. v. 12.12.1978 - 2 BvR 154/74 - , NJW 1979, 859) - materiellen Gehalt nach zu den (Benutzungs-) Gebühren (idS: KG, Urt. v. 2.10.1992 - 13 U 2406/92 - , GE 1992, 1317) für die Straßenreinigung als öffentliche Einrichtung mit Anschluss- und Benutzungszwang (vgl. § 4 Abs. 1 S. 1 StrReinG) oder zu den Beiträgen zu zählen ist (offen gelassen vom OVG Berlin, Urt. v. 2.12.1998 - 1 Β 79/94 NVwZ-RR 2000, 463, 464; zum Meinungsstand s. Stemshorn in: Driehaus, Kommunalabgabenrecht, § 6, Stand: September 2002, Rn. 422), da jedenfalls die strengeren Anforderungen des Gleichheitssatzes als Maßstab für Gebühren (vgl. Jarass/Pieroth GG, 6. Aufl. 2002, Art. 3 Rn. 52 f) erfüllt sind. 1. Die gesetzliche Fesdegung des Grundstücksflächenmaßstabs steht im Einklang mit dem Gleichheitssatz und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Der Grundstücksflächenmaßstab ist eine grundsätzlich zulässige Bemessungsmethode bei der Erhebung von Straßenreinigungsgebühren und -entgelten (vgl. OVG Münster, Urt. v. 27.6.1984 - 2 A 2289/83 - , KStZ 1985, 35, 36; HessVGH, Beschl. v. 16.10.1985 - 5 Ν 1/83 - , DVB1. 1986, 778; Stemshorn aaO, § 6 Rn. 486). Er knüpft als vorteilsbezogener Bemessungsmaßstab an grundstücksbezogene Umstände an. Der Grundstücksflächenmaßstab hat einen sachlichen Bezug zu dem Umfang des Reinigungsvorteils, den der Grundstückseigentümer aus der Arbeit der Berliner Stadtreinigungsbetriebe bezieht (vgl. OVG Berlin, aaO, NVwZRR 2000, S. 463, 464; KG, aaO). Dem Aquivalenzprinzip entspricht zwar am vollkommensten der Wirklichkeitsmaßstab, der die Gebühr nach der tatsächlichen Inanspruchnahme bemisst. Ist jedoch - wie im Straßenreinigungsrecht - eine Bemessung nach der tatsächlichen Inanspruchnahme unpraktikabel oder besonders schwierig, ist auch die Anlegung eines pauschalierenden Wahrscheinlichkeitsmaßstabs gebührenrechtlich zulässig (allg. Ansicht: vgl. Schulte! Wiesemann in: Driehaus, Kommunalabgabenrecht, aaO, § 6 Rn. 203 ff; zum Abwasserrecht: BVerwG, Beschl. v. 28.3.1995 BVerwG 8 Ν 3.93 Buchholz 401.84 Nr. 75 S. 3; Beschl. v. 30.4.1996 - BVerwG 8 Β 31.96 Buchholz 401.9 Nr. 37 S. 5 f; OVG NW, aaO, KStZ 1985, 35, 36). Der insoweit bestehende Ermessensspielraum ist vorliegend nicht überschritten worden. 2. Der Gesetzgeber war auch verfassungsrechtlich nicht gehindert, den bislang verwendeten Frontmetermaßstab durch einen anderen, ebenfalls geeigneten Bemessungsmaßstab zu ersetzen. Die durch das 4. Gesetz zur Änderung des Straßenreinigungsgesetzes vom 30.6.1988 mit Wirkung vom 1.1.1991 vorgenommene Einführung des Grundstücksflächenmaßstabs steht im Einklang mit den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes. Das Rechtsstaatsprinzip, zu dem sich die Verfassung von Berlin sinngemäß schon LVerfGE 14

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nach ihrem Vorspruch sowie nach ihrer Gesamtkonzeption bekennt, verlangt u.a., einem berechtigten Vertrauen der Bürger in den Fortbestand einer Rechtslage Rechnung zu tragen, und begrenzt demgemäß die Rückwirkung von Gesetzen (Beschl. v. 6.2.1998 - VerfGH 80/96 - , LVerfGE 8, 45, 54). Grundsätzlich kann der Bürger nicht darauf vertrauen, dass eine für ihn günstige gesetzliche Regelung in aller Zukunft bestehen bleibt. Der verfassungsrechtlich verbürgte Vertrauensschutz gebietet nicht, den von einer bestimmten Rechtslage Begünstigten vor jeder Enttäuschung zu bewahren. Andernfalls würde die Anpassungsfähigkeit der Rechtsordnung beeinträchtigt. Grundsätzlich muss jedes Rechtsgebiet zur Disposition des Gesetzgebers stehen; das Ziel der Gesetzesänderung kann dabei auch Lösungen fordern, die in nicht unerheblichem Umfang an in der Vergangenheit liegende Umstände anknüpfen (Beschl. v. 6.2.1998, LVerfGE 8, 55 mwN zur Rechtsprechung zum Bundesrecht). Es erscheint - auch unter Berücksichtigung des Vortrags, in der Vergangenheit sei bei Kaufentscheidungen und Kaufvertragsabschlüssen die Kostenverteilung nach dem Frontmetermaßstab berücksichtigt worden — schon fern Kegend, dass überhaupt eine — hier allein in Betracht kommende — unechte Rückwirkung, d.h. eine tatbestandliche Rückanknüpfung, vorliegt. Jedenfalls hat der Gesetzgeber mit der Einräumung einer 272-jährigen Ubergangsfrist im Rahmen des ihm insofern zur Verfügung stehenden weiten Gestaltungsspielraums in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise den Betroffenen einen angemessenen Zeitraum zugestanden, um sich auf die neue Rechtslage einstellen zu können (vgl. zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an Anpassungsfristen: Beschl. v. 6.2.1998, LVerfGE 8, 55 f mwN). 3. Von \^erfassungs wegen ebenfalls nicht zu beanstanden ist es, dass nach § 7 Abs. 2 S. 1 StrReinG die Entgelte bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen von den Anliegern und den Hinterliegern zu entrichten sind. Hinsichtlich der Bestimmung des Gebührenpflichtigen ist in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung anerkannt, dass es nicht gegen den Gleichheitssatz verstößt, neben den Eigentümern anliegender Grundstücke auch die Eigentümer hinterliegender, im Sinne des Straßenreinigungsrechts erschlossener Grundstücke heranzuziehen, also anliegende und sonstige erschlossene Grundstücke dem Grunde nach gleichzubehandeln (BVerwG, Beschl. v. 19.3.1981 - BVenvG 8 Β 10.81 - , Buchholz 401.84 Nr. 42 S. 1, 2; Beschl. v. 8.12.1986 - BVerwG 8 Β 74.86 Buchholz 401.84 Nr. 60 S. 55). Der Gleichheitssatz verlangt für die Heranziehung zu Straßenreinigungsgebühren lediglich das Bestehen einer objektiven Beziehung des Grundstücks zur Straße, die die Inanspruchnahme des Eigentümers als willkürfrei erscheinen lässt. Eine derartige Beziehung besteht grundsätzlich dann, wenn ein Grundstück an eine öffentliche Straße angrenzt und damit durch Schaffung eines Zugangs oder einer Zufahrt die durch die Straße gegebene Möglichkeit der wirtschaftlichen oder verkehrlichen Nutzung besteht. Die Reinigung der Straße wirkt sich daher in der Regel für den Eigentümer des angrenzenden Grundstücks vorteilhaft aus, so dass — objektiv betrachtet — die Reinigung jedenLV erfGE 14

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falls auch im Interesse des Eigentümers erfolgt (BVerwG, Beschl. v. 17.4.1989 BVerwG 8 C 90.87 - , Buchholz 401.84 Nr. 65 S. 8 f). Dieses objektive Interesse besteht allerdings nicht nur bei den Eigentümern von Anliegergrundstücken, sondern auch bei den Eigentümern von Hinterliegergrundstücken, so dass auch Letzteren gegenüber die Erhebung von Straßenreinigungsgebühren sachlich gerechtfertigt ist (BVerwG, Beschl. v. 19.3.1981, aaO, Buchholz 401.84 Nr. 42 S. 1, 2). Ebenso wenig willkürlich ist es, wenn der Gesetzgeber Umfang und Maß dieses Interesses mit Blick auf das Anliegergrundstück einerseits und auf die erschlossenen Hinterliegergrundstücke andererseits insoweit gebührenrechtlich gleich behandelt (BVerwG, Beschl. v. 8.12.1986, aaO, Buchholz 401.84 Nr. 60 S. 55 f). Diesen überzeugenden verfassungsrechtlichen Überlegungen der Fachgerichtsbarkeit schließt sich der Verfassungsgerichtshof an. Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers führt der Umstand, dass die Verteilung der Straßenreinigungsentgelte zwischen Anlieger und Hinterlieger auch durch Vereinbarung geregelt werden könnte, nicht zu einer anderen Beurteilung. Dass eine solche Möglichkeit besteht und von dieser Möglichkeit in der Vergangenheit Gebrauch gemacht worden sein mag, hindert den Gesetzgeber nicht an einer gesetzlichen Neuregelung. 4. Die Regelung in § 7 Abs. 2 S. 1, Abs. 3 lVm § 7 Abs. 4 S. 1 StrReinG, wonach ein Entgelt nur für die Reinigung der in den Straßenverzeichnissen Α und Β aufgeführten Straßen erhoben wird und die Höhe der Entgelte von der jeweiligen Reinigungsklasse abhängt, verstößt ebenfalls nicht gegen Art. 10 Abs. 1 VvB. Es ist zwar zutreffend, dass das Straßenreinigungsentgelt nicht die Gegenleistung für die den Anliegern obliegende Reinigung des Straßenabschnitts vor ihrem Grundstück darstellt. Die Straßenreinigung des im Straßenverzeichnis unter Α und Β aufgeführten Straßenlandes ist gem. § 4 Abs. 1 StrReinG vielmehr allein öffentliche Aufgabe Berlins, die für die Anlieger und Hinterlieger, die einem Anschlussund Benutzungszwang unterworfen werden, ausgeführt wird. Das Straßenreinigungsentgelt dient daher dem Ausgleich des Vorteils, der den Anliegern und Hinterliegern der in den Straßenverzeichnissen Α und Β aufgeführten Straßen dadurch erwächst, dass die Berliner Stadtreinigungsbetriebe die Straßen in einem sauberen und sicher begehbaren Zustand erhalten (KG, aaO; OVG Berlin, Urt. v. 15.11.1996 - OVG 1 Β 7.94 GE 1998, 435, 437 jew. mwN). Allerdings hat der Gesetzgeber nicht auf den Bezug zu der das jeweilige Grundstück erschließenden Straße verzichtet. Schon indem er die in dem Straßenverzeichnis C aufgeführten Straßen aus den von dem Land Berlin zu reinigenden Straßen herausnimmt und insoweit den Anliegern die Straßenreinigungspflicht aufbürdet (§ 4 Abs. 1 S. 2 StrReinG), hat er eine erste Differenzierung vorgenommen. Für Eigentümer von Grundstücken, die im Rahmen der Felder- und Weidewirtschaft oder als Forst genutzt werden, hat er eine weitere Ausnahme gemacht, indem er insoweit eine völlige Freistellung von der Straßenreinigungspflicht ausgesprochen hat (§ 4 Abs. 6 StrReinG). Eine weitere, sehr weitgehende Differenzierung hat der Gesetzgeber durch die in § 7 Abs. 3 und Abs. 4 StrReinG vorgesehene und durch die LVerfGE 14

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Verordnung über die Straßenreinigungsverzeichnisse und die Einteilung der Reinigungsklassen vom 17.1.1980, hier maßgeblich in der Fassung vom 14.3.1995 (GVB1. S. 80) ausgestaltete Einteilung in unterschiedliche Reinigungsklassen vorgenommen. Es ist daher zumindest verkürzend, wenn das AG in seinem Urteil formuliert, dass das Straßenreinigungsentgelt nicht für die Reinigung der unmittelbar vor dem Grundstück liegenden Straße geschuldet werde, sondern ein Benutzungsentgelt sei, dessen Gegenleistung darin bestehe, dass die Berliner Stadtreinigungsbetriebe im gesamten Land Berlin die Straßen in einem sauberen und sicheren Zustand erhalten (Urteilsabdruck S. 6). Uneingeschränkt richtig ist insoweit lediglich, dass es für die Entgeltbemessung nicht auf die Länge des Straßenabschnitts direkt vor dem Grundstück ankommt. Es ist aber nach der dargelegten gesetzlichen Differenzierung nicht so, dass das Entgelt unabhängig von der Nutzungsintensität (Ausmaß der Schmutzverursachung) des Grundstücks und dem Nutzungsvorteil (Reinigungsvorteil), den die das Grundstück erschließende Straße in einem gereinigten Zustand vermittelt, erhoben wird. Diese Gesichtspunkte spielen vielmehr, wie die dargelegten Freistellungen von einer Entgeltzahlungspflicht und die Anknüpfung der Bemessung des Entgelts an Reinigungsklassen zeigen, für die Entgelthöhe eine entscheidende Rolle. Eine solche Differenzierung nach der Nutzungsintensität des Grundstücks und dem Nutzungsvorteil der Straße für die Bestimmung der Beitragshöhe ist nicht willkürlich, sondern an sachlichen und nachvollziehbaren Überlegungen orientiert. Sie ist, entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers, auch nicht auf eine Gebührenerhebung nach dem Frontmetermaßstab beschränkt. Dass angesichts der sehr unterschiedlichen Reinigungsintervalle von einmal wöchentlich bis zur täglichen Reinigung die Reinigungsentgelte erheblich differenzieren, liegt ebenfalls in der Natur der Sache und ist Ausdruck des Versuchs, die anfallenden Kosten möglichst gerecht auf die Anlieger zu verteilen. Auch die für die Einstufung des vor dem Grundstück des Beschwerdeführers gelegenen Straßenabschnitts in die Reinigungsklasse 3 maßgeblichen Bestimmungen des § 2 Abs. 2 StrReinG und der Achten Verordnung zur Änderung der Verordnung über die Straßenreinigungsverzeichnisse und die Einteilung der Reinigungsklassen vom 14.3.1995 (GVB1. S. 80) verstoßen nicht gegen den Gleichheitssatz des Art. 10 Abs. 1 VvB. Gem. § 2 Abs. 2 StrReinG werden die in den Straßenreinigungsverzeichnissen Α und Β aufgeführten Straßen unter Berücksichtigung des Ausmaßes der Verschmutzung, der Verkehrslage sowie der Bedeutung der Straße in Reinigungsklassen eingeteilt, nach denen sich die durchschnittliche Zahl der Reinigungen in einem bestimmten Zeitabschnitt (Reinigungsturnus) richtet. Die Auswahl dieser für die Einstufung maßgeblichen Kriterien durch den Gesetzgeber erscheint unter Berücksichtigung des Zwecks der Straßenreinigung als sachlich vertretbar. Der Verordnungsgeber hat die Einstufung des vorliegend maßgeblichen Straßenabschnitts auf der Grundlage der im Einklang mit Art. 64 Abs.l VvB verfassungsrechtlich unbedenklich eingeräumten VerordnungserLVerfGE 14

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mächtigung des § 2 Abs. 3 StrReinG ohne erkennbaren Verfassungsverstoß vorgenommen. Bei der Neueinstufung hat der Verordnungsgeber ersichtlich der geänderten Verkehrslage und gewachsenen Bedeutung der Waltersdorfer Chaussee nach der Wiedervereinigung als Ortsdurchfahrt der Bundesstraße 179 und — selbst nach dem Vortrag des Beschwerdeführers im vorliegenden Verfahren - vom privaten und öffentlichen Verkehr stärker als früher frequentierter Durchgangsstraße Rechnung getragen. Auch unter Berücksichtigung des Vorbringens des Beschwerdeführers bestehen keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die Einstufung des Straßenabschnitts als situationsbezogene (Einzelfall-) Entscheidung, für die dem Verordnungsgeber im Rahmen der gesetzlich vorgegebenen Kriterien ein verfassungsgerichtlich nicht voll überprüfbarer Einschätzungs- und Entscheidungsspielraum eingeräumt ist, gegen den Gleichheitssatz des Art. 10 Abs. 1 VvB verstößt. 5. Schließlich ist nicht zu beanstanden, dass für besonders große Grundstücke keine allgemeine Tiefenbegrenzung vorgenommen worden ist. Eine solche ist bei der Verwendung eines Grundstücksflächenmaßstabes zwar zur Vermeidung von Härten grundsätzlich begrüßenswert (vgl. auch Cosson KStZ 1981, 200, 201). Zwingend erforderlich ist sie jedoch jedenfalls dann nicht, wenn, wie im Berliner Straßenreinigungsgesetz, atypischen Fallgestaltungen durch eine Härtefallregelung Rechnung getragen wird (vgl. OVG Berlin, aaO, NVwZ-RR 2000, 463, 464; KG, aaO). Zu keiner anderen Beurteilung führt der vom Beschwerdeführer angeführte Umstand, dass bei bestimmten Grundstückslagen, insbesondere im Fall einer Mehrfacherschließung eines Grundstücks, die Entgeltsumme — bezogen auf das im ungeteilten Zustand zu entrichtende Entgelt — durch Grundstücksteilungen reduziert werden kann. Denn eine Reduktion kommt — wie auch die vom Beschwerdeführer angeführten Beispiele zeigen — in diesen Fällen nicht allein durch die Teilung zustande, sondern dadurch, dass sich die für die Bemessung des Reinigungsentgelts maßgeblichen Beziehungen der jetzt selbständig zu beurteilenden Grundstücksteile zu den umliegenden Straßen gegenüber dem früheren ungeteilten Zustand geändert haben (z.B. ausschließliche Erschließung durch eine andere Straße, die in einer anderen Reinigungsklasse aufgeführt ist). 6. Soweit der Beschwerdeführer rügt, dass Eigentümer von Eckgrundstücken, deren Größe derjenigen seines Grundstücks vergleichbar seien, durch die Regelung des § 7 Abs. 4 S. 2 StrReinG ohne sachlichen Grund besser gestellt würden, kann er ebenfalls keinen Erfolg haben. Nach dieser \^orschrift ist bei Grundstücken, die an mehrere öffentliche Straßen in unterschiedlichen Reinigungsklassen angrenzen, die Grundstücks fläche jeweils mit dem Anteil anzusetzen, der sich aus dem Verhältnis der Grundstücksbreiten ergibt. Zwar führt der hiernach verringerte Flächenansatz bei mehrfach erschlossenen Grundstücken zu einer verminderten Kostenpflicht der betreffenden Eigentümer, die von den übrigen Entgeltpflichtigen und dem Land Berlin abzufangen ist. Richtig ist außerdem, LVerfGE 14

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dass die Anwendung des § 7 Abs. 4 S. 2 StrReinG dazu führen kann, dass der Eigentümer eines Eckgrundstücks, das mit seiner bedeutend längeren Grundstücksseite an die „billigere" Straße grenzt, erheblich weniger zahlen muss als der Eigentümer eines gleich großen Mittelgrundstücks, das nur an die „teurere" Straße angrenzt.1 Der Eigentümer eines Eckgrundstücks zahlt auch dann noch weniger als der Eigentümer eines allein an die „teurere" Straße grenzenden Mittelgrundstücks, wenn die bedeutend längere Grundstücksseite an die „teurere" Straße grenzt.2 Diese Eckgrundstücksvergünstigung ist jedoch unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Bei einem durch mehrere Straßen erschlossenen Grundstück wäre es allerdings im Hinblick auf den Gleichheitssatz ebenso zulässig, das Grundstück mehrfach für die Kosten der Reinigung heranzuziehen und hierbei für jede Straße den vollen Betrag zu fordern (OVG NW, Urt. v. 7.1.1982 - 2 A 1778/81 - , NVwZ 1983, 491, 492; HessVGH, Urt. v. 3.7.1996 - 5 UE 4078/95 - , NVwZ-RR 1998, 133 f; vgl. zum Erschließungsbeitragsrecht: BVerwGE 25, 147, 149 f; 51, 158, 160; 68, 249, 259 f). Das Berliner Straßenreinigungsrecht hätte also für Eckgrundstücke eine Regelung vorsehen können, nach der für das Eckgrundstück das Entgelt nach der Reinigungsklasse der jeweiligen Straße jeweils unter Ansetzung der vollen Grundstücksfläche berechnet wird. Dies hätte für ein 970 qm großes Eckgrundstück, das mit einer Front von 19 m an eine A3-Straße und mit einer Front von 51 m an eine A4-Straße grenzt, im entscheidungserheblichen Zeitraum einen Jahresbetrag von 1.241,60 DM zur Folge gehabt. Sog. Eckgrundstücksvergünstigungen sind zwar verfassungsrechtlich nicht geboten, wohl aber zulässig. Dies rechtfertigt sich daraus, dass eine Zweiterschließung sich verallgemeinernd nicht quantifizieren lässt und einem Grundstück nicht denselben Vorteil wie die Ersterschließung verschaffen muss oder gar sich der Erschließungsvorteil entsprechend der Zahl der Straßen vervielfacht (vgl. zum Erschließungsbeitragsrecht: BVerwGE 51, 158, 159 f; BVerwG, Urt. v. 13.12.1985 - 8 C 24/85 - , Buchholz 406.11 § 131 BBauG Nr. 65 S. 93; vgl. Quaas Kommunales Abgabenrecht, 1997, Rn. 443). Zwei Straßen werden von einem Eckgrundstück erfahrungsgemäß häufig in einem geringeren Umfang in Anspruch 1

Berechnungsbeispiel anhand des Grundstückszuschnitts des Beschwerdeführers (19 m von 70 m Straßenfront ergeben ca. 27%): A3-Straße: 27 % von 970 qm = 261,9 qm χ 0,24 DM = 62,86 DM vierteljährlich, A4-Straße: 73 % von 970 qm = 708,1 qm χ 0,08 DM = 56,64 DM vierteljährlich, Vierteljahres-Gesamtbetrag von 119,50 χ 4 = 478 DM Jahresbetrag statt vom Beschwerdeführer zu zahlender 931,20 DM. Berechnungsbeispiel, wieder ausgehend von 970 qm sowie 51 m Grundstücksfront an der A3-Straße und 19 m Grundstücksfront an der A4-Straße: A3-Straße: 73 % von 970 qm = 708,1 qm χ 0,24 DM = 169,94 DM vierteljährlich, A4-Straße: 27 % von 970 qm = 261,9 qm χ 0,08 DM = 20,95 DM vierteljährlich, Vierteljahres-Gesamtbetrag von 190,89 χ 4 = 763,80 DM Jahresbetrag statt vom Beschwerdeführer zu zahlender 931,20 DM.

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genommen werden als von zwei jeweils an sie angrenzenden Mittelgrundstücken (Driehaus Erschließungs- und Ausbaubeiträge, 6. Aufl. 2001, § 18 Rn. 73). Auch bedarf ein Grundstück oft überhaupt keines weiteren Zugangs von der zweiten Straße (vgl. zum Erschließungsbeitragsrecht: BVerwG, Urt. v. 4.9.1970 — BVerwG IV C 98.69 - , Buchholz 406.11 § 131 BBauG Nr. 4 S. 8). Zum Zweck einer vorteilsgerechteren, dem Gleichheitssatz Rechnung tragenden Verteilung des Kostenaufwands auf die erschlossenen Grundstücke (vgl. zum Erschließungsbeitragsrecht: Driehaus Erschließungs- und Ausbaubeiträge, aaO, § 18 Rn. 73), sind sog. Eckgrundstücksvergünstigungen mit der Anordnung einer zunächst mehrfachen und sich dann der Höhe nach ermäßigenden Berücksichtigung der Straßen zu Lasten der anderen Kostenpflichtigen von der Rechtsprechung sowohl für das Erschließungsbeitragsrecht (BVerwGE 51, 158, 159 f; BVerwG, Urt. v. 13.12.1985, aaO, Buchholz 406.11 § 131 BBauG Nr. 65 S. 92) als auch für das Straßenreinigungsrecht (OVG NW, Urt. v. 7.1.1982, aaO, NVwZ 1983, 491, 492; HessVGH, Urt. v. 3.7.1996, aaO, NVwZ-RR 1998, 133 f) grundsätzlich für zulässig gehalten worden, und zwar auch dann, wenn die Vergünstigung so weit geht, dass das Eckgrundstück im Vergleich zu einem gleichartigen Mittelgrundstück weniger belastet wird (BVerwGE 51, 158, 160 f). Um eine daraus resultierende Höherbelastung der anderen Anlieger in Grenzen zu halten, dürfen nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts jedoch die Erschließungsbeiträge für andere Grundstücke nicht höher ansteigen als bis zum Anderthalbfachen des Betrages, der auf sie bei einer vollen Belastung der Eckgrundstücke anfallen würde (BVerwG, Urt. v. 4.9.1970 - IV C 98.69 Buchholz 406.11 § 131 BBauG Nr. 4 S. 8 f; BVerwGE 51, 158, 161). Es ist angesichts der im Vergleich zum Erschließungsbeitragsrecht bedeutend höheren Zahl von Kostenpflichtigen für die Straßenreinigung im Land Berlin nichts dafür ersichtlich, dass infolge der Anwendung von § 7 Abs. 4 S. 2 StrReinG das Straßenreinigungsentgelt für Mittelanlieger diese Grenze überschreiten könnte. Allerdings hat das Bundesverwaltungsgericht für das Erschließungsbeitragsrecht weiter entschieden, dass die Entlastung der Eckgrundstücke auf Kosten der Mittelanlieger vor allem wegen des Ausmaßes der gewährten Ermäßigung mit dem Gleichheitssatz unvereinbar sein kann. Dabei sah das Gericht als besonders „anfällig" für Verstöße gegen den Gleichheitssatz eine Vergünstigungsvorschrift an, nach der — wie im Fall des § 7 Abs. 4 S. 2 StrReinG — bei Eckgrundstücken die Grundstücksfläche jeweils nur in dem Verhältnis anzusetzen ist, in dem die Grundstücksbreiten (Frontlängen) an den Straßen zueinander stehen. Die Anwendung einer solchen Vorschrift bei einem Eckgrundstück mit einer schmalen Front an der aufwendigeren Erschließungsanlage und einer ausgedehnteren Front an der minder aufwendigen Anlage könne dazu führen, dass sich die Belastung eines Eckgrundstücks im Vergleich zur Belastung eines gleich großen und entsprechend nutzbaren Mittelgrundstücks um ein Vielfaches verringere. Der Gleichheitssatz gebiete eine Begrenzung der sich umverteilend auswirkenden Eckermäßigung dahin, dass die Belastung des

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Eckgrundstücks mit Erschließungsbeiträgen für beide Straßen insgesamt nicht wesentlich niedriger sein dürfe als die Belastung eines vergleichbaren Mittelgrundstücks an einer dieser Straßen. Die Belastung sei in diesem Sinne „wesentlich" niedriger, wenn sie um mehr als 10% die Beitragsbelastung eines gleichartigen Mittelgrundstücks unterschreite, wobei die anteilsmäßige Heranziehung nach dem Verhältnis der Grundstücksbreiten zur Überschreitung der 10%-Untergrenze führen könne (BVerwG, Urt. v. 13.12.1985, aaO, Buchholz 406.11 §131 BBauG Nr. 65 S. 94 f.). Für das Straßenreinigungsrecht ist der konkret zulässige Umfang einer Eckgrundstücksvergünstigung von der Rechtsprechung bisher nicht festgelegt worden (vgl. OVG NW, Urt. v. 7.1.1982, aaO, NVwZ 1983, 491, 492; Stemshorn aaO, § 6 Rn. 477a). Die vom Bundesverwaltungsgericht für das Erschließungsbeitragsrecht herausgearbeiteten verfassungsrechtlichen Begrenzungen können aber im Hinblick auf die Unterschiede zwischen den Rechtsmaterien nicht auf das Straßenreinigungsrecht übertragen werden. Der Erschließungsbeitrag ist ein echter Beitrag als einmalige Gegenleistung für die erstmalige endgültige Herstellung von Erschließungsanlagen und der dadurch für das einzelne Grundstück geschaffenen Inanspruchnahmemöglichkeit der Anlage {Quaas aaO, Rn. 230). Dabei ist der gesetzliche Regelfall die Abrechnung einer einzelnen Erschließungsanlage. Der räumliche Umfang für den Erschließungsaufwand ist also konkret begrenzt. Im Erschließungsbeitragsrecht sind damit für die Herstellung einer Erschließungsanlage konkret anfallende Kosten einmalig auf eine überschaubare Anzahl von Beitragspflichtigen zu verteilen. Das Berliner Straßenreinigungsentgelt ist kein derartiger Beitrag. Im Straßenreinigungsrecht fehlt es darüber hinaus an einem vergleichbar engen Bezug des einzelnen Grundstücks zu der jeweiligen Straße, da das Straßenreinigungsentgelt weder die Gegenleistung für das Vorhandensein der Erschließung noch die Gegenleistung für die Reinigung des Straßenabschnitts vor dem Grundstück darstellt, sondern als Ausgleich des Vorteils einer saubereren und sicheren Straße dient. Die Verteilung der Straßenreinigungskosten auf eine Vielzahl von Schuldnern im gesamten Uand Berlin sowie auf das Land Berlin selbst zur Abdeckung des Aufwandes für wiederkehrende Reinigungsleistungen erfordert damit keine gleichermaßen strikten Vergünstigungsbegrenzungen wie bei Erschließungsbeiträgen. Dies gilt um so mehr, als im Erschließungsbeitragsrecht gem. § 133 Abs. 1 S. 2 BauGB (in Abwandlung des Erschließungsbegriffs in § 131 Abs. 1 BauGB) nur Grundstücke der Beitragspflicht unterliegen, die dergestalt erschlossen sind, dass etwaige rechtliche und tatsächliche Hindernisse in Bezug auf die verkehrliche Erreichbarkeit des Grundstücks tatsächlich ausgeräumt sind. Demgegenüber reicht es nicht aus, dass ein der verkehrlichen Erreichbarkeit in Form der Möglichkeit des Heranfahrens, des Herauffahrenkönnens oder der nur fußläufigen Erreichbarkeit des Grundstücks entgegenstehendes beachtliches Hindernis ausräumbar ist {Quaas aaO, Rn. 230, 340, 546; Driehaus Erschließungs- und AusbauLVerfGE 14

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beitrage, aaO, § 17 Rn. 20; § 23 Rn. 21 ff). Hiervon unterscheidet sich die Entgelterhebung im Straßenreinigungsrecht (vgl. auch HessVGH, Urt. v. 3.7.1996 - 5 UE 4078/95 NVwZ-RR 1998, 133, 134) und konkret im Berliner Straßenreinigungsrecht, das die Anlieger für die Kosten der Straßenreinigung bereits deswegen in Anspruch nimmt, weil die Anliegergrundstücke an die öffentliche Straße angrenzen (§ 5 Abs. 1 S. 1, § 7 Abs. 1, 4 S. 1 und 2 StrReinG), ohne dass eine weitere Differenzierung erfolgt. Allerdings bringt das Angrenzen des Grundstücks an eine Straße grundsätzlich die Möglichkeit der wirtschaftlichen oder verkehrlichen Nutzung des Grundstücks mit sich, insbesondere die Möglichkeit der Schaffung eines Zugangs oder einer Zufahrt, bei deren Vorliegen die Straßenreinigung für den Eigentümer des angrenzenden Grundstücks in aller Regel sich auch vorteilhaft auswirkt und demgemäß ein objektives Interesse des Angrenzers an der Reinigung der Straße begründet (BVerwG, Urt. v. 10.5.1974 - BVerwG VII C 46.72 - , Buchholz 401.84 Nr. 23 S. 48; Beschl. v. 17.4.1989, aaO, Buchholz 401.84 Nr. 65 S. 8 f). Hieraus folgt jedoch keine Pflicht des Berliner Landesgesetzgebers, im Hinblick auf den Gleichheitssatz eine Regelung zu treffen, die den Eckgrundstückseigentümer im Vergleich zum Mittelanlieger allenfalls geringfügig endastet bzw. gleich oder gar mehr belastet. Während bei einem nur an eine Straße angrenzenden Grundstück das Bestehen der Zugangsmöglichkeit zu dieser Straße grundsätzlich angenommen werden kann, durfte der Gesetzgeber aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität (vgl. dazu Driehaus Erschließungs- und Ausbaubeiträge, 6. Aufl. 2001, § 9 Rn. 17, 24) eine Typisierung vornehmen und zugunsten des Eckgrundstückseigentümers davon ausgehen, dass bei mehreren Zugangsmöglichkeiten zu verschiedenen Straßen ein Eckgrundstück möglicherweise nur über einen Zugang zu der „billigeren" Straße verfügt und daher der Vorteil aus der Reinigung der „billigeren" Straße geringer ist als derjenige, den ein Mittelgrundstück mit alleinigem Zugang zur „teureren" Straße aus der Reinigung derselben zieht. Nicht zuletzt stellt der Berliner Gesetzgeber für die Entgeltpflicht von Hinterliegergrundstücken maßgeblich auf das tatsächliche Vorhandensein von Zufahrten und Zugängen ab (§ 7 Abs. 4 S. 3, 4 StrReinG). Es darf auch nicht aus den Augen verloren werden, dass für die Bemessung der Höhe des Entgelts nicht der Erschließungsvorteil maßgebend ist, sondern die Inanspruchnahme der Einrichtung „Straßenreinigung" (OVG NW, Urt. v. 27.6.1984, aaO, KStZ 1985, 35). Es ist damit noch sachgerecht, wenn der Gesetzgeber das Angrenzen eines Grundstücks an eine zweite „billigere" Straße begünstigend berücksichtigt und diese Begünstigung um so erheblicher ausfällt, je länger die betreffende Grundstücksfront ausfällt, zumal die vom Beschwerdeführer ausgesprochene Vermutung, Eckgrundstücke seien auf Grund ihrer Lage besonders begehrt, in dieser Weise nicht festgestellt werden kann; vielmehr werden Ecklagen von Eigentümern häufig als nachteilig empfunden (OVG NW, Urt. v. 7.1.1982, aaO, NVwZ 1983, 491, 492). Die hinter einer Regelung wie § 7 Abs. 4 S. 2 StrReinG stehende Überlegung, dass sich der einem

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mehrfach erschlossenen Grundstück vermittelte Reinigungsvorteil überwiegend nach der Straße richtet, an die es in größerem Umfang angrenzt, da bei größerer Frontlänge die Zugangsmöglichkeiten vielfältiger seien, mag nicht immer zutreffen (vgl. dazu Quaas aaO, Rn. 449, Fn. 395), kann aber noch nicht als willkürlich bewertet werden. Wie dargelegt, ist die Grenze, die der Gestaltung von Abgabentatbeständen durch den Gleichheitssatz gesetzt wird, nur dort überschritten, wo die gleiche oder ungleiche Behandlung von Sachverhalten nicht mehr mit einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise vereinbar ist, wo also ein einleuchtender Grund für die Gleichbehandlung oder Ungleichbehandlung fehlt und diese daher willkürlich wäre (BVerwG, Beschl. v. 19.3.1981 - BVerwG 8 Β 10.81 - , Buchholz 401.84 Nr. 42 S. 1). Davon kann nach dem eben Gesagten nicht ausgegangen werden. Die geringere Belastung von Eckgrundstücken, die mit ihrer zweiten Seite an eine Straße des Straßenverzeichnisses C angrenzen, kann schließlich ebenso wenig einen Verstoß des § 7 Abs. 4 S. 2 StrReinG gegen den Gleichheitssatz begründen. Denn diese Grundstücke werden, obwohl die Eigentümer die Reinigungsleistung für die Straße des Reinigungsverzeichnisses C selbst erbringen müssen (§ 4 Abs. 1 S. 2 StrReinG), nach dem Straßenreinigungsgesetz zunächst unter Zugrundelegung der vollen Grundstücksfläche zum Straßenreinigungsentgelt für die von den Berliner Stadtreinigungsbetrieben erfolgende Reinigung der anderen Straße herangezogen. Die geringere Entgeltpflicht resultiert nicht aus der unmittelbaren Anwendung des § 7 Abs. 4 S. 2 StrReinG, sondern aus der Bejahung einer unzumutbaren Härte gem. § 5 Abs. 3 StrReinG nach Stellung eines entsprechenden Antrags. Ohnehin bestehen gegen eine stark verminderte Entgeltpflicht eines derartigen Eckgrundstücks schon deswegen keine Bedenken im Hinblick auf den Gleichheitssatz, weil es sachlich gerechtfertigt ist, den Eigentümer im Hinblick auf die zu erbringende eigene Reinigungsleistung erheblich von den Straßenreinigungsentgelten im Übrigen zu endasten. Diese Entscheidung ist zu Ziffer 6 mit fünf zu drei Stimmen ergangen. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG. Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

Sondervotum des Vizepräsidenten Dr. Storost und der Richterinnen Bellinger und Zünkler Die Rüge des Beschwerdeführers, dass Eigentümer von Eckgrundstücken, deren Größe derjenigen seines Grundstücks vergleichbar sei, durch die Regelung des § 7 Abs. 4 S. 2 StrReinG ohne sachlichen Grund besser gestellt würden, halten wir für begründet. Da sich diese Rechtsfolge unmittelbar aus der genannten LVerfGE 14

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Vorschrift ergibt, verstößt diese insoweit gegen Art. 10 Abs. 1 VvB. Da gem. § 7 Abs. 1 und 2 StrReinG jede sich aus § 7 Abs. 4 S. 2 StrReinG ergebende Ermäßigung für Eigentümer von Eckgrundstücken auf diejenigen Anlieger und Hinterlieger umverteilt werden muss, die - wie der Beschwerdeführer — von dieser Ermäßigung nicht profitieren, sich für Letztere also entgeltsteigernd auswirkt, ist der Beschwerdeführer durch den nach unserer Auffassung gegebenen Verfassungsverstoß auch beschwert. Die angegriffenen Entscheidungen des Amts- und Landgerichts beruhen auf einer zu Lasten des Klägers verfassungswidrigen Verteilung der Kosten der Straßenreinigung und verletzen ihn deshalb in seinem Recht aus Art. 10 Abs. 1 VvB. Der allgemeine Gleichheitssatz, der in Art. 10 Abs. 1 VvB inhaltsgleich mit Art. 3 Abs. 1 GG verbürgt ist, verbietet, wesentlich Gleiches willkürlich ungleich oder wesentlich Ungleiches willkürlich gleich zu behandeln. Dabei ist es grundsätzlich Sache des Normgebers, diejenigen Sachverhalte auszuwählen, die er im Rechtssinne als wesentlich gleich oder wesentlich ungleich ansehen will. Den ihm insoweit zustehenden Gestaltungsspielraum muss er jedoch sachgerecht ausüben. Was dabei in Ansehung des Gleichheitssatzes sachlich vertretbar oder sachfremd ist, lässt sich nicht abstrakt und allgemein feststellen, sondern nur in Bezug auf die jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereiche, also das jeweilige Vergleichssystem. Insoweit mag es zutreffen, dass die vom Bundesverwaltungsgericht für das Erschließungsbeitragsrecht herausgearbeiteten verfassungsrechtlichen Bedenken gegen eine zu weitgehende Entlastung von Eckgrundstücken auf Kosten der Mittelanlieger im Hinblick auf die Unterschiede zwischen den Rechtsmaterien nicht ohne weiteres auf das Straßenreinigungsrecht übertragen werden können. Das entbindet den Gesetzgeber jedoch nicht von der Verpflichtung, innerhalb des straßenreinigungsrechtlichen Vergleichssystems dem Gleichheitssatz Rechnung zu tragen. Zu prüfen ist demgemäß, ob und ggf. in welchen Grenzen die Ungleichheit der Vorteilslage zwischen den Mittelanliegern einer Straße höherer Reinigungsklasse und den Inhabern vergleichbar großer Eckgrundstücke, die zugleich an eine Straße niedrigerer Reinigungsklasse grenzen, die vom Beschwerdeführer beanstandete Ungleichheit bei der Erhebung von Straßenreinigungsentgelten, nämlich die — u.U. erheblich - geringere Belastung der letztgenannten Grundstücke, sachlich und einleuchtend rechtfertigen kann. Dies hängt wesentlich davon ab, welche Vorteile der Gesetzgeber durch das Straßenreinigungsentgelt ausgleichen will. Wie die entscheidungstragende Mehrheit zutreffend hervorhebt, dient das Straßenreinigungsentgelt als Ausgleich des Vorteils einer sauberen und sicheren Straße. Deshalb nimmt das Berliner Straßenreinigungsrecht die Anlieger für die Kosten der Straßenreinigung bereits deswegen in Anspruch, weil ihre Grundstücke an die öffentliche Straße angrenzen, ohne dass es auf das Bestehen eines tatsächlichen Zugangs von dieser Straße ankommt. Sachlich rechtfertigender Grund LVerfGE 14

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für das Absehen von weiteren Differenzierungen ist der Umstand, dass das Angrenzen in aller Regel die durch die Straße gegebene Möglichkeit der wirtschaftlichen oder verkehrlichen Nutzung, insbesondere die Möglichkeit der Schaffung eines Zugangs oder einer Zufahrt mit sich bringt, bei deren Vorliegen sich die Straßenreinigung für den Eigentümer des angrenzenden Grundstücks in aller Regel auch vorteilhaft auswirkt (II. Nr. 6 des Beschlusses, oben S. 101 fflwN). Folgt im Vergleichssystem hiernach der maßgebliche Vorteil schon allein aus der bei typisierender Betrachtung bestehenden Zugangsmöglichkeit, ist es nicht einleuchtend, sondern im Gegenteil ein sachfremder Systembruch, Eckgrundstücke, die typischerweise eine Zugangsmöglichkeit zu zwei Straßen und damit einen größeren Vorteil haben als ein vergleichbar großes Mittelgrundstück, geringer als Letzteres zu belasten, weil sie diesen größeren Vorteil möglicherweise tatsächlich nicht nutzen. Damit könnte man - im Wege sozusagen verfeinerter Typisierung allenfalls eine Begrenzung der Belastungshöhe auf das Niveau vergleichbar großer Mittelgrundstücke, nicht aber eine — zumal erhebliche — Besserstellung der Eckgrundstücke rechtfertigen. Besonders augenfällig wird der in der Auffassung der entscheidungstragenden Mehrheit unseres Erachtens angelegte argumentative Bruch unter II Nr. 6 des Beschlusses (vgl. oben S. 102), wo angenommen wird, hinter einer Regelung wie § 7 Abs. 4 S. 2 StrReinG stehe die Überlegung, dass sich der einem mehrfach erschlossenen Grundstück vermittelte Reinigungsvorteil überwiegend nach der Straße richte, an die es in größerem Umfang angrenzt, da bei größerer Frontlänge die Zugangsmöglichkeiten vielfältiger seien. Der im Beschluss (vgl. oben S. 98) mitgeteilte und belegte Befund, dass der Eigentümer eines Eckgrundstücks sogar dann noch weniger zahlt als der Eigentümer eines allein an die „teurere" Straße grenzenden Mittelgrundstücks, wenn die bedeutend längere Grundstücksseite an die „teurere" Straße grenzt, lässt sich so keineswegs einleuchtend begründen. Nach unserer Auffassung hätten daher die angefochtenen Urteile wegen Verstoßes gegen Art. 10 Abs. 1 VvB aufgehoben und die Sache an das AG Neukölln zurückverwiesen werden müssen. Ferner hätte § 7 Abs. 4 S. 2 StrReinG für nichtig erklärt werden müssen, soweit er zu einer geringeren Belastung von Eckgrundstücken gegenüber vergleichbaren Mittelgrundstücken führt.

Nr. 6 1. Die Grundregel des Art. 87 Abs. 2 S. 2 HS. 1 VvB, wonach die Einnahmen aus Krediten die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten dürfen, ist zusammen mit S. 1 der Vorschrift die zentrale Regelung der Berliner Finanzverfassung LVerfGE 14

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(„Kreditbegrenzungsgebot"). Der haushaltswirtschaftliche Vorgriff auf zukünftige Einnahmen, der die Entscheidungsfreiheit des Parlaments in den Folgejahren erheblich einschränkt und die Gefahr des Eintretens von Haushaltsnotlagen in sich trägt, soll höchstens auf den Umfang der Ausgaben mit zukunftsbegünstigendem Charakter begrenzt sein. 2. Die Regelung in Art. 87 Abs. 2 S. 2 HS. 2 YvB, wonach Ausnahmen vom Kreditbegrenzungsgebot nur zulässig sind zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, geht davon aus, dass der Staat steuernd, ausgleichend und gestaltend auf die Wirtschaftsentwicklung einwirken kann und einwirken will und dies im konkreten Fall zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts auch geboten ist. Insoweit steht dem Haushaltsgesetzgeber ein Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zu. 3. Die Verfassung von Berlin geht davon aus, dass eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts auch bezogen nur auf das Land Berlin vorliegen kann. Der Berliner Haushaltsgesetzgeber der Jahre 2002/2003 war berechtigt, von einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in Berlin auszugehen. 4. Eine Ausnahme nach Art. 87 Abs. 2 S. 2 HS. 2 VvB erweist sich nur dann als verfassungsgemäß, wenn der Haushaltsgesetzgeber im Gesetzgebungsverfahren seine Absicht, durch eine erhöhte Kreditaufnahme eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts abzuwehren und die begründete Prognose, dass und wie durch die erhöhte Kreditaufnahme dieses Ziel erreicht werden kann, ausreichend darlegt. Diese Anforderungen sind für das Berliner Haushaltsgesetz 2002/2003 vom Gesetzgeber nicht erfüllt worden. 5. Wenn ein Bundesland sich in einer extremen Haushaltsnotlage befindet, hat es die Fähigkeit zu einem konjunkturgerechten Haushaltsgebaren und zu konjunktursteuerndem Handeln verloren. Im Zusammenhang mit der bundesstaatlichen Finanzverfassung, aus der sich sowohl Rechte als auch Pflichten der einzelnen Bundesländer ergeben, ist das Kreditbegrenzungsgebot des Art. 87 Abs. 2 S. 2 VvB dahingehend zu modifizieren, dass im Falle einer extremen Haushaltsnotlage die Einnahmen aus Krediten gleichwohl die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen überschreiten dürfen. Auch insoweit besteht ein Beurteilungsspielraum des Haushaltsgesetzgebers. 6. Soweit der Berliner Haushaltsgesetzgeber sich für eine Nichteinhaltung des Kreditbegrenzungsgebots auf eine extreme Haushaltsnotlage berufen will, gelten hinsichtlich der Darlegung einer solchen Haushaltsnotlage und der Begründung, dass und warum eine geringere KreditaufLVerfGE 14

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nähme mit verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht vereinbar wäre und auch aus bundesstaatlicher Sicht nicht geboten ist, mindestens die gleichen Anforderungen wie bei Inanspruchnahme der konjunkturpolitischen Ausnahme gem. Art. 87 Abs. 2 S. 2 HS. 2 VvB. Soweit die Nichteinhaltung des Kreditbegrenzungsgebots im Berliner Haushalt 2002/2003 auf eine bereits eingetretene extreme Haushaltsnotlage zurückzuführen sein könnte, erfüllt das Haushaltsgesetz 2002/2003 die in diesem Fall zu stellenden Begründungsanforderungen nicht. 7. Die Folge eines Verstoßes gegen das verfassungsrechtliche Kreditbegrenzungsgebot bei der Haushaltsaufstellung ist regelmäßig die Nichtigkeit des gesamten Haushaltsgesetzes, soweit es Einnahmen und Ausgaben in einer bestimmten Höhe festlegt, weil ohne die vollständige Kreditermächtigung ein unausgeglichener und damit insgesamt verfassungswidriger Haushalt vorliegt. Die Nichtigkeit wird vom Yerfassungsgerichtshof ausgesprochen, soweit das entsprechende Haushaltsgesetz noch als Grundlage für künftige Kreditaufnahmen und Ausgaben dienen kann. Die Gemeinwohlbelange können in diesem Fall von den zuständigen Organen gem. Art. 89 VvB gewahrt werden. Für die Vergangenheit wird lediglich die Unvereinbarkeit der genannten Regelungen des Haushaltsgesetzes mit der Verfassung festgestellt, um auf ihnen beruhender, bereits erfolgter Verwaltungstätigkeit nicht die Rechtsgrundlage zu entziehen. Verfassung von Berlin Art. 87 Abs. 2 S. 2 Gesetz über die Feststellung des Haushaltsplans von Berlin für die Haushaltsjahre 2002 und 2003 § 3 Abs. 1 S. 1 U r t e i l v o m 31. O k t o b e r 2 0 0 3 - V e r f G H 1 2 5 / 0 2 in dem abstrakten Normenkontrollverfahren auf Antrag von 63 Mitgliedern des Abgeordnetenhauses von Berlin Verfahrensbevollmächtigter: Prof. Dr. K. gegen das Gesetz über die Feststellung des Haushaltsplans von Berlin für die Haushaltsjahre 2002 und 2003 (Haushaltsgesetz 2002/2003 - HG 02/03 - ) vom 19. Juli 2002 (GVB1. S. 213) Beteiligte gem. § 44 VerfGHG: 1.

Senat von Berlin

Verfahrensbevollmächtigter: Prof. Dr. W. LVerfGE 14

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2.

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Abgeordnetenhaus von Berlin Entscheidungsformel:

§ 1, § 3 Abs. 1 bis 6, § 6 und § 10 des Gesetzes über die Feststellung des Haushaltsplans von Berlin für die Haushaltsjahre 2002 und 2003 v. 19.7.2002 (GVB1. S. 213) idF des Nachtragshaushaltsgesetzes 2002/2003 v. 16.4.2003 (GVB1. S. 158) sind mit der Verfassung von Berlin unvereinbar und ab Verkündung dieses Urteils nichtig. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei. Das Land Berlin hat den Antragstellern die notwendigen Auslagen zu erstatten. Gründe: A. Die 63 Antragsteller sind Mitglieder des Abgeordnetenhauses von Berlin, das in der 15. Wahlperiode 141 Abgeordnete umfasst. Sie machen im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle geltend, dass das Gesetz über die Feststellung des Haushaltsplans von Berlin für die Haushaltsjahre 2002 und 2003 v. 19.7.2002 (Haushaltsgesetz 2002/2003 - HG 02/03 - , GVB1. S. 213) mit der Verfassung von Berlin unvereinbar sei. Das Haushaltsgesetz 2002/2003 verstoße gegen Art. 87 Abs. 2 S. 2 HS. 1 VvB, weil es in seinem § 3 Abs. 1 S. 1 zur Aufnahme von Krediten ermächtige, deren Höhe die vom Haushaltsgesetz 2002/2003 angesetzten Investitionen in evidentem Maße überschreite, ohne dass eine Ausnahme nach Art. 87 Abs. 2 S. 2 HS. 2 VvB gegeben sei. I. § 3 Abs. 1 S. 1 HG 02/03 lautet wie folgt: „Die Senatsverwaltung für Finanzen wird ermächtigt, zur Deckung von Ausgaben 1.

des Haushaltsplans 2002 bis zur Höhe von 6 573 000 000 Euro

2.

des Haushaltsplans 2003 bis zur Höhe von 3 569 000 000 Euro

Kredite am Kreditmarkt und von öffentlich-rechtlichen Körperschaften, Anstalten und Stiftungen sowie Sondervermögen nach § 14a des Bundesbesoldungsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 3. Dezember 1998 (BGBl. I S. 3434), das zuletzt durch Artikel 2 des Gesetzes vom 7. Mai 2002 (BGBl. I S. 1529) geändert worden ist, aufzunehmen."

Durch § 2 Nr. 1 Buchst, a des Gesetzes über die Feststellung eines Nachtrags zum Haushaltsplan von Berlin für die Haushaltsjahre 2002 und 2003 v. 16.4.2003 (Nachtragshaushaltsgesetz 2002/2003 - NHG 2002/2003, GVB1. S. 158) wurde LVerfGE 14

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für das Haushaltsjahr 2003 die Kreditermächtigung des § 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 HG 02/03 auf einen Betrag von 4 289 725 000 € erhöht. Demgegenüber sind in diesem Haushaltsplan Ausgaben für Investitionen in Höhe von 2 015 875 000 € für das Haushaltsjahr 2002 und in Höhe von 2 204 957 000 € für das Haushaltsjahr 2003 veranschlagt. Der Gesetzentwurf zu § 3 HG 02/03 enthält auszugsweise folgende Begründung (Abghs-Drs 15/320 S. 8): „ [ . . . ] Die vorgesehenen Einnahmen aus Krediten liegen über den veranschlagten Investitionen. [...] Das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht auch in Berlin ist weiterhin ernsthaft und nachhaltig gestört. Die Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts liegen seit 1993 deutlich unter dem Durchschnitt des Bundesgebiets. Berlin bildet zeitweilig das Schlusslicht der Länderentwicklung. Die Wirtschaftsentwicklung in Berlin hat sich von der im übrigen Bundesgebiet abgekoppelt. Während positive Entwicklungen unterproportional mitvollzogen werden, schlägt die rezessive Entwicklung überproportional durch. Die besondere Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zeigt sich in der gegenüber dem Bundesdurchschnitt gravierend höheren Arbeitslosenquote Berlins. Hinsichtlich der Höhe der Neuverschuldung ist zu berücksichtigen, dass das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht auch in Deutschland weiterhin nachhaltig gestört ist. Neben dem konjunkturellen Einbruch in den USA, der weitaus stärker ausfiel als erwartet, und der Abschwächung des Welthandels haben insbesondere auch die Terroranschläge vom 11.9.2001 die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland nachhaltig getroffen. Hierdurch und durch den erfolgten Steuerreformschritt ist es bundesweit zu erheblichen Einbrüchen beim Steueraufkommen gekommen, die weder in der Steuerschätzung vom Mai 2001 noch in diesem Ausmaß in der Steuerschätzung v o m November 2001 vorhergesehen wurden. Im Jahre 2001 gingen die Einnahmen Berlins aus Steuern und Länderfinanzausgleich (einschließlich der FehlbetragsBundesergänzungszuweisungen) gegenüber dem Vorjahr u m rd. 680 Mio Euro zurück. Eine Trendwende in der konjunkturellen Entwicklung deutet sich an; nach Einschätzung aller Wirtschaftsforschungsinstitute ist im Jahresverlauf 2002 mit einer Besserung zu rechnen. Die Auswirkungen insbesondere auf Berlin bleiben allerdings abzuwarten. Für das Jahr 2002 mussten deshalb die Steuereinnahmen gegenüber der zurückliegenden Finanzplanung 2000 bis 2004, auf welcher der bisherige finanzpolitische Kurs aufbaute, um 915 Millionen Euro zurückgenommen werden; unter Einschluss der Ausgleichsleistungen im Länderfinanzausgleich einschließlich der Fehlbetrags-Bundesergänzungszuweisungen verbleibt deshalb eine Lücke von 850 Millionen Euro. Im Jahre 2003 steigt diese Lücke auf gut 1,0 Milliarden Euro an. Diese Ausfälle können nicht auf andere Weise ausgeglichen werden. Hinzu treten die Zinsbelastungen aus der hohen Neuverschuldung des Jahres 2001 im Zusammenhang mit der Krise um die Bankgesellschaft Berlin; ab dem

LVerfGE 14

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Jahre 2003 kommen weitere Belastungen des Haushalts aus der Risikoabschirmung der Bankgesellschaft hinzu. Somit ist die nach § 18 Absatz 1 S. 2 L H O darzulegende ernsthafte und nachhaltige Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts gegeben. Die erhöhte Deckungskreditaufnahme trägt dazu bei, diese Störung abzuwehren. Mit Rücksicht auf das bereits ernsthaft und nachhaltig gestörte gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht Berlins verbot sich gerade in der gegenwärtigen konjunkturellen Lage eine weitere Ausgabenkürzung. Die Finanzpolitik Berlins ist ungeachtet dessen darauf ausgerichtet, die Kreditaufnahme abzusenken. [ . . . ] "

Eine in wesentlichen Passagen wortgleiche Begründung war bereits für den Entwurf über das Vorschaltgesetz zum Haushaltsgesetz 2002/2003 - VG-HG 2002/2003 - zu dessen in § 2 enthaltener Kreditermächtigung erfolgt (Abghs-Drs 15/309 S. 2). Das Abgeordnetenhaus nahm das Haushaltsgesetz 2002/2003 in seiner Sitzung am 28.6.2002 mit 75 Ja-Stimmen gegen 57 Nein-Stimmen ohne Enthaltungen an (PIPr 15/15 S. 942 D). II. Die Antragsteller halten das Haushaltsgesetz 2002/2003 für unvereinbar mit der Verfassung von Berlin. § 3 Abs. 1 S. 1 HG 02/03 verstoße gegen Art. 87 Abs. 2 S. 2 VvB. Weder sei zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Haushaltsgesetzes das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht in Berlin gestört gewesen, noch hätte die erhöhte Kreditermächtigung im Haushaltsgesetz 2002/2003 der Abwehr einer solchen Störung gedient. Vielmehr hätten die übermäßigen Krediteinnahmen nur dazu dienen sollen, die bewilligten Ausgaben zu decken. Eine solche reine Bedarfsdeckung sei aber von Art. 87 Abs. 2 S. 2 HS. 2 VvB nicht umfasst. Infolge der Verfassungswidrigkeit der erhöhten Kreditaufnahme fehlten in dieser Höhe Einnahmen im Landeshaushalt, so dass im Haushaltsgesetz 2002/2003 bewilligte Ausgaben nicht gedeckt seien. Dies führe zu einer Verletzung des Grundsatzes der Ausgeglichenheit, die sich auf den gesamten Haushaltsplan erstrecke und die Verfassungswidrigkeit des gesamten Haushaltsgesetzes 2002/2003 zur Folge habe. Im Einzelnen führen die Antragsteller aus: Der Berliner Haushaltsgesetzgeber sei durch Art. 109 Abs. 2 GG unmittelbar verpflichtet, dem gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht bei der Aufstellung des Haushaltsplans Rechnung zu tragen. Deshalb habe sich der Berliner Verfassunggeber bei der Ausgestaltung des 5. Abschnitts „Finanzwesen" der Verfassung von Berlin an den entsprechenden Regelungen des Grundgesetzes orientiert. Die Voraussetzungen, unter denen nach Art. 87 Abs. 2 S. 2 HS. 2 VvB ausnahmsweise eine erhöhte Kreditaufnahme zulässig sei, seien zum wortgleichen Art. 115 Abs. 1 S. 2 GG vom Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 79, 311) konkretisiert worden.

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Eine emsthafte und nachhaltige Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts lasse sich für das Frühjahr 2002 in Berlin nicht feststellen. Der Begriff des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts werde gekennzeichnet durch die Stabilität des Preisniveaus, einen hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftliches Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum („magisches Viereck"). Die desolate Haushaltssituation des Landes könne keine derartige Störung darstellen. Die Höhe der Staatsverschuldung sei kein Kriterium für die Bestimmung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Anderenfalls würde eine gesamtwirtschaftlich gefährliche Überschuldung zu weiteren Schulden führen. Soweit der Berliner Haushaltsgesetzgeber in der Begründung des Haushaltsgesetzes 2002/2003 das Vorliegen einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts behaupte, überschreite er in unzulässiger Weise seinen Beurteilungs- und Einschätzungsspielraum. Die Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Lage durch den Haushaltsgesetzgeber stehe in deutlichem Gegensatz zur Auffassung der gesetzlich verankerten Organe der finanz- und wirtschaftspolitischen Meinungs- und Willensbildung. Nach Einschätzung des Sachverständigenrats sei im Jahr 2002 trotz weltweiter Verschlechterung der konjunkturellen Lage und einer nur geringfügigen Zunahme des realen deutschen Bruttoinlandsprodukts nicht mit einem Einbruch und dem Erfordernis aktiver konjunkturstützender Maßnahmen, sondern mit einer positiven Konjunkturentwicklung zu rechnen gewesen. Auch nach der Frühjahrsdiagnose der wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute sei für 2002 eine erhebliche Wachstumsbeschleunigung zu erwarten gewesen. Ferner habe der Sachverständigenrat — wie auch der Finanzplanungsrat - einen strikten Konsolidierungskurs der öffentlichen Haushalte angemahnt, zumal der sehr hohe Finanzierungssaldo überwiegend auf einen Anstieg des strukturellen Defizits zurückzuführen und nur zu einem ganz geringen Teil konjunkturell bedingt sei. Die Beurteilung des Haushaltsgesetzgebers, das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht sei in Berlin weiterhin ernsthaft und nachhaltig gestört, erscheine darüber hinaus willkürlich, weil sie der Einschätzung des Finanzsenators widerspreche. Während nämlich dessen Bericht über die Finanzplanung von Berlin 2002 — 2006 vom 14.5.2002 vor dem Hintergrund der damals erwarteten weltwirtschaftlichen Erholung allgemein mit einer Wiederbelebung der Wirtschaftstätigkeit gerechnet habe, habe der Berliner Gesetzgeber hohe Kreditermächtigungen bereitgestellt, um angeblich eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu beseitigen. Einem einzelnen Bundesland sei es zudem verwehrt, eigenständig und unkoordiniert auf vermeintliche Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu reagieren. Schon die Befugnis, sich über die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ein eigenständiges Urteil zu bilden, könne bezweifelt werden. Denn nach den Abschriften des Haushaltsgrundsätzegesetzes und des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft, LVerfGE 14

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welche die Haushaltsautonomie der Länder einschränkten, oblägen die Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Situation und die Empfehlung der konjunkturpolitischen Maßnahmen dem Konjunkturrat und dem Finanzplanungsrat. Art. 109 Abs. 2 GG habe mit dem gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht eine einheitliche, bundesweit zu bestimmende Bezugsgröße vor Augen und verpflichte Bund und Länder auf ein und dasselbe Ziel. Das „magische Viereck" betreffe nicht die wirtschaftliche Lage eines Landes, wie das Teilziel des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts zeige. Ein Land müsse daher von Kreditüberschreitungen Abstand nehmen, wenn sie zwar im Hinblick auf das landesweite wirtschaftliche Gleichgewicht geboten erschienen, vom bundesweiten gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht aber nicht indiziert und diesem vielmehr von Nachteil wären. Art. 87 Abs. 2 S. 2 HS. 2 VvB werde dadurch nicht in die Bedeutungslosigkeit entlassen. Die Vorschrift aktualisiere sich immer dann, wenn die auf der Grundlage des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums beschlossenen konjunkturpolitischen Maßnahmen von den Ländern eine Verschuldung verlangten, die diesen ohne eine Öffnungsklausel wie in Art. 87 Abs. 2 S. 2 HS. 2 VvB landesverfassungsrechtlich verwehrt wäre. Außerdem fehle es an der finalen Ausrichtung der übermäßigen Verschuldung auf die Abwehr der Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Die erhöhten Krediteinnahmen im Haushaltsgesetz 2002/2003 dienten allein der Deckung der vorgesehenen Ausgaben. Dies belege der Bericht über die Finanzplanung von Berlin 2002 bis 2006 vom 14.5.2002, wonach die hohe Neuverschuldung der kommenden Jahre vor allem die Notlage des Landeshaushalts widerspiegele. Die Deckung von Ausgabenbedürfnissen des Staates als solche diene nicht der Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, sondern der Ermöglichung staatlicher Aufgabenerfüllung. Jedenfalls seien die erhöhten Kreditbewilligungen des Haushaltsgesetzes 2002/2003 in formeller Hinsicht unvereinbar mit der Verfassung von Berlin, da der Gesetzgeber die Voraussetzungen des Art. 87 Abs. 2 S. 2 HS. 2 VvB nicht hinreichend dargelegt habe. Die Begründung zum Haushaltsgesetz, dass das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht in Berlin gestört sein solle, gehe über eine Behauptung nicht hinaus und stelle keine fundierte Diagnose der gesamtwirtschaftlichen Lage dar. Zudem argumentiere die Gesetzesbegründung in erster Linie relativ, indem sie die wirtschaftliche Situation in Berlin zu der wirtschaftlichen Entwicklung im übrigen Bundesgebiet in Bezug setze. Hierdurch werde aber keine Aussage zur Frage der Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in Berlin getroffen. Das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht habe nichts mit Vorstellungen über die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse zu tun. Auch fehlten Darlegungen zur Absicht, durch die erhöhte Kreditaufnahme die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts abzuwehren. Dass der überhöhten Verschuldung keinerlei konjunkturpolitische Überlegungen zugrunde LVerfGE 14

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lägen, sondern ihr alleiniger Zweck die Deckung des Landeshaushalts sei, ließen auch Redebeiträge des Finanzsenators und von Abgeordneten während des Gesetzgebungsverfahrens sowie der Bericht über die Finanzplanung von Berlin 2002 bis 2006 vom 14.5.2002 erkennen. Die Gesetzesbegründung lege ferner nicht die Eignung der Kreditüberschreitung zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts dar, sondern formuliere nur plakativ, dass die erhöhte Kreditaufnahme zur Störungsabwehr beitrage, weil mit Rücksicht auf das bereits ernsthaft und nachhaltig gestörte gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht in Berlin sich gerade in der gegenwärtigen konjunkturellen Lage eine weitere Ausgabenkürzung verboten habe. Die weitere Gesetzesbegründung, dass die Finanzpolitik Berlins darauf ausgerichtet sei, die Kreditaufnahme abzusenken, lasse zudem erkennen, dass es dem Senat langfristig um eine strukturelle Bereinigung des Landeshaushalts und kurzfristig um die Deckung von Finanzierungslücken, nicht aber um konjunkturpolitisch motivierte zusätzliche Ausgabenfinanzierungen gehe. Wenn neue Schulden gemacht würden, um alte Schulden bedienen zu können, liege in dieser Schuldenspirale die Gefahr einer das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht gefährdenden prozyklischen Finanzpolitik. Im Übrigen werde die Ausnahme vom Kreditbegrenzungsgebot in Berlin schon jahrelang in Anspruch • genommen; die Ausnahme dürfe aber nicht zum Dauerzustand werden. Weitere — ungeschriebene — Ausnahmen vom Kreditbegrenzungsgebot des Art. 87 Abs. 2 S. 2 HS. 2 VvB seien angesichts dessen eindeutigen Wortlauts verfassungsrechtlich nicht zulässig. Deswegen hätte auch im Falle einer extremen Haushaltsnotlage des Landes Berlin die erhöhte Kreditaufnahme nicht erfolgen dürfen. Die Antragsteller beantragen festzustellen, dass das Berliner Haushaltsgesetz 2002/2003 — HG 02/03 — vom 19. Juli 2002 (GVB1. vom 25. Juli 2002, S. 213 ff) mit der Verfassung von Berlin unvereinbar ist.

III. Der \^erfassungsgerichtshof hat dem Senat von Berlin und dem Abgeordnetenhaus von Berlin Gelegenheit zur Äußerung gegeben. 1. Der Senat von Berlin hält den Normenkontrollantrag, soweit er die Feststellung der Unvereinbarkeit von § 3 Abs. 1 S. 1 HG 02/03 mit der Verfassung von Berlin beinhaltet, für zulässig. Das Haushaltsgesetz insgesamt könne hingegen nicht zulässiger Gegenstand des Normenkontrollantrags sein, weil dessen übrige Vorschriften von den Antragstellern nicht substantiiert in Zweifel gezogen worden seien. Der Normenkontrollantrag sei jedenfalls unbegründet. § 3 Abs. 1 S. 1 HG 02/03 entspreche in jeder Hinsicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen. LVerfGE 14

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Die Kreditermächtigung des § 3 Abs. 1 S. 1 HG 02/03 ziele auf die Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Art. 87 Abs. 2 S. 2 HS. 2 VvB erlaube eine erhöhte Kreditaufnahme nicht etwa nur zur Abwehr einer bundesweiten Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, sondern auch zur Überwindung einer auf das Land bezogenen Störung der Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung. Bei anderer Auslegung dürfte das Land eine regionale Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts nur nach einer notwendig auf Deutschland bezogenen Feststellung einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts durch den Bund abwehren und könnte somit nicht autonom seine Pflichten aus Art. 109 GG erfüllen. Die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in Berlin ergebe sich daraus, dass auf Grund historisch bedingter Belastungen die Ausgaben des Landes besonders hoch seien und dass außerdem nach dem vereinigungsbedingten Wachstumsschub zu Beginn der neunziger Jahre das Wirtschaftswachstum in Berlin weit hinter der bundesweiten Entwicklung zurückgeblieben sei. Das reale Bruttoinlandsprodukt habe zwischen 1994 und 2001 bundesweit im Jahresdurchschnitt um 1,7% zugenommen, während es sich in Berlin in diesem Zeitraum jahresdurchschnittlich um 0,9% verringert habe. Für das Jahr 2002 sei während der Haushaltsberatungen in Berlin nur eine ganz geringe Wachstumsrate von unter 0,5% erwartet worden. Auf Grund dieser Wachstumsschwäche habe Berlin in den Jahren 1994 bis 2001 annähernd 75.000 Arbeitsplätze verloren. Die Arbeitslosenquote habe in Berlin im Jahr 2001 bei 16,1%, bundesweit bei 9,4% gelegen. Für 2002 sei im Frühjahr ein weiterer Rückgang der Erwerbstätigkeit um 13.000 Arbeitsplätze erwartet worden. Im September 2002 sei die Arbeitslosenquote in Berlin tatsächlich weiter auf 17% angestiegen, während sie bundesweit bei 9,5% gelegen habe. Damit habe zur Zeit der Einbringung und Beratung des Haushaltsgesetzes 2002/2003 eine ernsthafte und nachhaltige Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in Berlin vorgelegen, die sich nicht etwa allein daraus ergebe, dass die Entwicklung der Berliner Wirtschaft in Relation zur Entwicklung der Wirtschaft in Deutschland insgesamt signifikant schlechter sei, sondern vor allem aus der absoluten Höhe der einzelnen Indikatoren deutlich werde. Die für Berlin ausweislich des Berichts über die Finanzplanung von Berlin 2002 bis 2006 vom 14.5.2002 erwartete konjunkturelle Belebung im Verlaufe des Jahres 2002 ändere nichts an der erheblichen Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, sondern liefere nur die Grundlage dafür, dass bei entsprechender Haushaltsgestaltung in absehbarer Zeit eine Rückkehr zum wirtschaftlichen Gleichgewicht erwartet werden könne. Der Berliner Haushaltsgesetzgeber habe das geringe Wirtschaftswachstum nicht weiter gefährden und die extrem hohe Arbeitslosigkeit nicht weiter verstärken dürfen. Eine Beschränkung der Kreditaufnahme auf die Höhe der Investitionen hätte den abrupten Abbau der Ausgaben in einer Größenordnung von rund 4,6 Mrd. € oder rund 19,3% der Ausgaben im Haushalt 2002 bedeutet. Eine derLVerfGE 14

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artige Rückführung der Ausgaben hätte verheerende Folgen für das Wirtschaftswachstum und die Beschäftigungssituation in Berlin gehabt. Die bereits erhebliche Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts hätte sich dramatisch verschärft. Die prozyklische Wirkung derartiger Maßnahmen wäre mit den Verpflichtungen des Landes aus Art. 109 Abs. 2 GG unvereinbar. Aus alledem ergebe sich die finale Ausrichtung der erhöhten Kreditaufnahme auf die Beseitigung der Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Darlegung seien bereits in der Begründung zum Haushalts-Vorschaltgesetz 2002/2003 und dann erneut in der Begründung zum Haushaltsgesetz 2002/2003 beachtet worden. Die unzureichenden Wachstumsraten des Berliner Bruttoinlandsprodukts und die hohe Arbeitslosigkeit seien dort ausdrücklich dargelegt worden. Die Absicht des Haushaltsgesetzgebers, die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts durch die erhöhte Kreditaufnahme abzuwehren, sei an gleicher Stelle durch die Ausführungen belegt worden, dass diese dazu beitrage, die Störung abzuwehren. Ferner sei in beiden Gesetzgebungsverfahren darauf hingewiesen worden, dass die ernsthafte und nachhaltige Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts eine weitere Ausgabenkürzung, die eine mit Art. 109 Abs. 2 GG unvereinbare Parallelpolitik bedeutet hätte, ausschließe. Diese Feststellungen hätten die Prognose umfasst, dass die erhöhte Kreditaufnahme dazu beitragen werde, die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu beseitigen. Alle diese Feststellungen seien Gegenstand der Haushaltsdebatten im Abgeordnetenhaus gewesen. Ergänzt worden seien die Darlegungen durch den Bericht über die Finanzplanung von Berlin 2002 bis 2006 vom 14.5.2002, der dem Abgeordnetenhaus während der Zeit der Haushaltsberatungen vorgelegen habe und von diesem zur Kenntnis genommen worden sei. Mit der Verabschiedung des Haushaltsgesetzes 2002/2003 nebst dessen Begründung habe das Abgeordnetenhaus seine Verantwortung nach außen sichtbar übernommen. Es habe außerdem allein eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in Berlin, nicht aber im Bund begründet werden müssen. Deshalb könne die nachvollziehbare und vertretbare Beurteilung des Berliner Haushaltsgesetzgebers nicht durch Stellungnahmen des Sachverständigenrats oder des Bundesfinanzministers zur wirtschaftlichen Situation im Bund in Zweifel gezogen werden. An der \^erfassungsgemäßheit der erhöhten Kreditaufnahme ändere sich nichts dadurch, dass die hohe Neuverschuldung zugleich die extreme Haushaltsnotlage des Landes Berlin widerspiegele, bei der die Fähigkeit zur Erfüllung seiner Verpflichtung auf die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (Art. 109 Abs. 2 GG) in Frage gestellt, aber nicht völlig aufgehoben gewesen sei. Vielmehr seien dem Land Berlin im Zeitpunkt der Verabschiedung des Haushaltsgesetzes 2002/2003 noch Spielräume zur Einflussnahme auf die wirtschaftliche Lage im Land verblieben. Die die extreme Haushaltsnotlage verursachenden Versäumnisse früherer Haushaltsgesetzgeber, die zu Fehlbeträgen im Jahr 2000 in Höhe LVerfGE 14

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von rund 684 000 000 € und im Jahr 2001 in Höhe von rund 1 921 000 000 € geführt hätten, könnten außerdem die Handlungsmöglichkeiten des Haushaltsgesetzgebers nicht zusätzlich einschränken. Es habe die bundesverfassungsrechtliche Verpflichtung des Landes aus Art. 109 Abs. 2 GG bestanden, einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts durch eine erhöhte Kreditaufnahme entgegenzuwirken. Diese Verpflichtung könnte im Übrigen kraft des Vorrangs des Bundesrechts vor der Landesverfassung gem. Art. 31 GG die Verpflichtung des Landes zur Begrenzung seiner Kreditaufnahme modifizieren, falls und soweit es ausnahmsweise zu einem Widerspruch zwischen der Pflicht zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts und der Sanierungspflicht in Bezug auf seine Haushaltslage kommen sollte. Art. 109 Abs. 2 GG verpflichte ein Haushaltsnotlagenland, seine Kreditaufnahme an den Vorgaben des vom Grundgesetz zwingend vorgeschriebenen eigenen Sanierungsprogramms des Landes auszurichten. Folge man hingegen der Argumentation der Antragsteller, wäre das Land wegen seiner extremen Haushaltsnodage gehindert gewesen, seine Verpflichtungen aus Art. 109 Abs. 2 GG und Art. 87 Abs. 2 S. 2 HS. 2 VvB zu erfüllen, weil jede Kreditaufnahme in einer extremen Haushaltsnodage diese Lage widerspiegele. Gerade ein Haushaltsnodagenland sei schon aus eigenem Interesse dringend auf die Abwehr von Störungen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts verpflichtet, weil es nur so die wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine Konsolidierung schaffen könne. 2. Das Abgeordnetenhaus von Berlin schließt sich der Auffassung des Senats von Berlin an, dass die Kreditermächtigung in § 3 HG 02/03 der Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts diene. Es sei auch zulässig, auf die wirtschaftliche Situation eines Landes abzustellen. Der Senat von Berlin habe im vorliegenden Normenkontrollverfahren ausführlich die desolate wirtschaftliche Lage Berlins dargelegt, angesichts derer es nicht zweifelhaft sein könne, dass eine ernsthafte und nachhaltige Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in Berlin bestanden habe. Davon abgesehen, dass Äußerungen des Finanzplanungsrats und des Sachverständigenrats aus dem Jahr 2001 die spätere konjunkturelle Entwicklung bis zur Verabschiedung des Haushaltsgesetzes 2002/2003 im Juni 2002 gar nicht hätten berücksichtigen können, seien diese sich auf die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik insgesamt beziehenden Prognosen nicht geeignet, die für die Beurteilung maßgeblichen wirtschaftlichen Daten und Einschätzungen zu liefern, wenn sich die wirtschaftliche Situation eines Bundeslandes wie im Fall Berlins von der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung abkoppele und sich deshalb die separate Frage der erhöhten Kreditaufnahme bei einem Landeshaushalt stelle. In einem solchen Fall müsse deshalb auf andere geeignete, das konkrete Bundesland betreffende wirtschaftliche Daten und Bewertungen zurückgegriffen werden.

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Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin B.

Der Richter Dr. Mahlo ist gem. § 16 Abs. 1 Nr. 3 VerfGHG in diesem Verfahren von der Ausübung seines Richteramtes ausgeschlossen. C. Der Antrag ist nach Art. 84 Abs. 2 Nr. 2 VvB, §§ 14 Nr. 4, 43 Nr. 1 VerfGHG zulässig. Unbeachtlich ist, dass das Haushaltsjahr 2002 zwischenzeitlich abgelaufen ist und § 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 HG 02/03 durch Zeitablauf erledigt ist. Für zulässig erhobene Normenkontrollanträge, die sich auf Bestimmungen eines Haushaltsgesetzes beziehen, besteht im Hinblick auf den objektiven Charakter des Normenkontrollverfahrens ein Entscheidungsinteresse über den Zeitraum der rechtlichen Wirkung dieser Bestimmungen hinaus. Der begrenzten zeitlichen Geltung des Haushaltsgesetzes entspricht die jährliche Wiederkehr eines Gesetzes gleicher Art. Damit besteht die Möglichkeit, dass eine mit einem Normenkontrollantrag zur Prüfung gestellte verfassungsrechtlich zweifelhafte Normsetzung des Haushaltsgesetzgebers von Jahr zu Jahr — wie § 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 HG 02/03 für das Haushaltsjahr 2003 zeigt — wiederholt wird (vgl. zum Bundesrecht: BVerfGE 79, 311, 328). D. Der Normenkontrollantrag ist auch begründet. § 3 Abs. 1 S. 1 HG 02/03 ist mit Art. 87 Abs. 2 S. 2 VvB nicht vereinbar. I. Nach Art. 85 Abs. 1 S. 1 VvB müssen alle Einnahmen und Ausgaben des Landes Berlin für jedes Rechnungsjahr in dem Haushaltsplan veranschlagt werden, der durch das Haushaltsgesetz festgestellt wird. Durch Gesetz kann eine Veranschlagung und Feststellung für einen längeren Zeitabschnitt zugelassen werden (Art. 85 Abs. 1 S. 2 HS. 2 VvB). Auf Grund dieser Ermächtigung hat der Landesgesetzgeber in § 12 Abs. 1 der Landeshaushaltsordnung (LHO) festgelegt, dass Haushaltspläne — wie für die Haushaltsjahre 2002/2003 geschehen — in einem Doppelhaushalt auch für zwei Haushaltsjahre aufgestellt werden können. Im Haushaltsplan stellen sich die Staatsaufgaben als Ausgaben dar, die durch Einnahmen gedeckt werden müssen (vgl. BVerfGE 79, 311, 329). Das Gebot des Haushaltsausgleichs wird zwar in Art. 85 VvB — anders als in Art. 110 Abs. 1 S. 2 GG — nicht ausdrücklich genannt, gehört aber zum Wesensmerkmal eines Haushalts und hat im Übrigen Niederschlag in Art. 90 Abs. 2 VvB gefunden. Zu den Einnahmen, die der Deckung der Ausgaben dienen, zählen auch Kredite (Korbmacher in: Driehaus, Verfassung von Berlin, 2002, Art. 85 Rn. 11).

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Art. 87 Abs. 2 S. 1 VvB bestimmt, dass Kredite nur aufgenommen werden dürfen, wenn andere Mittel zur Deckung nicht vorhanden sind. Nach Art. 87 Abs. 2 S. 2 HS. 1 VvB dürfen die Einnahmen aus Krediten die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten; Ausnahmen sind nur zulässig zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (Art. 87 Abs. 2 S. 2 HS. 2 VvB). Die Grundregel des Art. 87 Abs. 2 S. 2 HS. 1 VvB ist zusammen mit S. 1 der Vorschrift die zentrale Regelung der Berliner Finanzverfassung. Sie berücksichtigt, dass der in der Zukunft rückzahlbare und verzinsliche Kredit die Lasten gegenwärtiger Staatsleistungen in die Zukunft verschiebt, also den Empfänger von dem Financier der Staatsleistungen trennt (P. Kirchhof in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IV, 1990, § 88 Rn. 293; VerfGH, Beschl. v. 21.3.2003 - VerfGH 6/01 - , NVwZ-RR 2003, 537, 538). Der haushaltswirtschaftliche Vorgriff auf zukünftige Einnahmen, der die Entscheidungsfreiheit des Parlaments in den Folgejahren erheblich einschränkt und die Gefahr des Eintretens von Haushaltsnotlagen in sich trägt, soll deswegen durch das Kreditbegrenzungsgebot des Art. 87 Abs. 2 S. 2 HS. 1 VvB höchstens auf den Umfang der Ausgaben mit zukunftsbegünstigendem Charakter begrenzt sein; Zukunftsbelastende Einnahmen sind zu kompensieren durch zukunftsbegünstigende Ausgaben. Das Kreditbegrenzungsgebot dient damit dem Schutz künftiger Generationen vor unbeschränkter Vorwälzung staatlicher Lasten (vgl. zum Bundesrecht: BVerfGE 79, 311, 334; 99, 57, 67; vgl. VerfGH NW, Urt. v. 2.9.2003 - VerfGH 6/02 - , S. 23 des Urteilsabdrucks). Art. 87 Abs. 2 S. 2 VvB entspricht der im Zuge der Flaushaltsreform durch das 20. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 2.5.1969 (BGBl. S. 357) eingeführten bundesrechtlichen Regelung des Art. 115 Abs. 1 S. 2 GG, die - anders als Art. 115 Abs. 1 GG a.F. - die traditionelle objektbezogene Kreditaufnahme durch eine situationsgebundene, nämlich den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts folgende Betrachtungsweise abgelöst und die Verschuldung von der haushaltsrechtlich orientierten Bindung an einen außerordentlichen Bedarf und an werbende Zwecke (d.h. für solche Zwecke, die wiederum zu Einnahmen öffentlicher Haushalte führen) freigestellt hat. Hierdurch wurde die Durchführung einer antizyklischen Finanzpolitik und generell die Berücksichtigung gesamtwirtschaftlicher Erfordernisse im Rahmen der Verschuldung ermöglicht (BT-Drs. V/3605 S. 13; BVerfGE 79, 311, 333; Stern Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 1275, 1277; Maun~ in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 115, Stand: 1981, Rn. 6; Heun in: Dreier, Grundgesetz, Bd. III, 2000, Art. 115 Rn. 4). Die Kreditfinanzierung kann in Fällen der Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ein sinnvolles Instrument der antizyklischen Konjunktursteuerung sein. Öffentliche Kredite können die Konjunktur anregende Ausgaben finanzieren, um private Nachfrageausfälle zu kompensieren und zur Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage beizutra-

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gen (Henneke Öffentliches Finanzwesen, Finanzverfassung, 2. Aufl. 2000, Rn. 558; Heun aaO, Art. 115 Rn. 10, 24). Art. 87 Abs. 2 S. 2 VvB steht - wie Art. 115 Abs. 1 S. 2 GG - in einem engen Sachzusammenhang mit Art. 109 Abs. 2 GG. Letztere Verfassungsnorm verpflichtet Bund und Länder, bei ihrer Haushaltswirtschaft den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen. Sowohl Art. 109 Abs. 2 GG als auch Art. 87 Abs. 2 S. 2 HS. 2 VvB gehen davon aus, dass der Staat steuernd, ausgleichend und gestaltend auf die Wirtschaftsentwicklung einwirken kann und einwirken will und dies im konkreten Fall zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts auch geboten ist (vgl. Heun in: Dreier, aaO, Art. 109 Rn. 20). Dem Haushaltsgesetzgeber ist zugleich eine Verantwortung für die Auswirkungen des Haushalts auf die Gesamtwirtschaft auferlegt worden (IWerfGE 79, 311, 331 f). Diese Bindung erstreckt sich auch auf die Kreditaufnahme, da sie Bestandteil der Haushaltswirtschaft ist. Daraus folgt, dass Art. 109 Abs. 2 GG und Art. 87 Abs. 2 S. 2 VvB nebeneinander angewandt werden müssen. Ihre begrenzende Wirkung addiert sich. Bei einer gesamtwirtschaftlichen Normallage ist der Haushaltsgesetzgeber daran gebunden, nicht mehr an Krediten aufzunehmen als für Investitionen ausgegeben wird. Darüber hinaus ist die Kreditaufnahme nach Maßgabe dessen eingeschränkt, was in Wahrung der Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts geboten erscheint. Das bedeutet, dass ein dauerhafter Anstieg der Verschuldung in Höhe der jährlichen Investitionen dem Regelungskonzept des Art. 87 Abs. 2 S. 2 HS. 1 VvB widerspricht. Der Haushaltsgesetzgeber hat die Verpflichtung, Spielräume zur Verschuldensbegrenzung oder gar -rückführung zu nutzen, die sich in einem Haushaltsjahr entsprechend den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts eröffnen (vgl. zum Bundesrecht: BVerfGE 79, 311, 334; vgl. VerfGH NW, aaO, S. 23 f des Urteilsabdrucks). Bei einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts lässt Art. 87 Abs. 2 S. 2 HS. 2 VvB eine Ausnahme von der Begrenzung der Kreditaufnahme zu. Dieser Ausnahme bedarf es, damit den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts auch und gerade in einer Störungslage, insbesondere bei einem Konjunkturabschwung, genügt werden kann und kein Widerspruch zu Art. 109 Abs. 2 GG entsteht. Das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht erhält eine zweifache Bedeutung. Zum einen ist seine — eingetretene oder unmittelbar bevorstehende - Störung die tatbestandliche Voraussetzung für die mögliche Überschreitung der Kreditgrenzen des ersten Halbsatzes, zum anderen ist seine Wiederherstellung Ziel und Zweck für die Inanspruchnahme der Ausnahmeregelung: Die Überschreitung der Kreditobergrenze wird nur zugelassen, um die Störung abzuwehren. Das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht ist mithin nicht nur eine Bezugsgröße, der Rechnung zu tragen ist, sondern Ziel und Zweck des Handelns (vgl. zum Bundesrecht: BVerfGE 79, 311, 334 f).

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II. Das Bundesverfassungsgericht hat für Art. 115 Abs. 1 S. 2 GG Kriterien aufgestellt, unter welchen Voraussetzungen eine Überschreitung der Kreditobergrenze zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts als verfassungsgemäß anzusehen ist (BVerfGE 79, 311). An diesen Kriterien ist die Nettokreditermächtigung des § 3 Abs. 1 S. 1 HG 02/03 zu messen, zumal sich der Berliner Verfassungsgeber bei der Fassung von Art. 87 Abs. 2 S. 2 VvB auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ausdrücklich bezogen hat (AbghsDrs 12/4874 S. 10). 1. Aus der Entstehungsgeschichte des Art. 109 Abs. 2 GG geht hervor, dass der Verfassungsgesetzgeber des Grundgesetzes in der gleichzeitig entstandenen Vorschrift des § 1 S. 2 des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft vom 8.6.1967 (BGBl. I S. 582 - StWG) eine zutreffende Umschreibung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts sah (BVerfGE 79, 311, 338). Dieser — auch in der Verfassung von Berlin nicht gesondert definierte Begriff wird durch verschiedene Komponenten geprägt. Es handelt sich hierbei um die Teilziele Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungsstand und außenwirtschaftliches Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum. Dabei meint das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht nicht die volle und nachhaltige Erreichung aller Teilziele zugleich, sondern eine relativ-optimale Gleichgewichtslage in der Realisierung der Teilziele, die untereinander in einem Spannungsverhältnis stehen können und oftmals nicht ohne wechselseitige Abstriche realisierbar sind. Das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht unterliegt damit ständigen Schwankungen und erscheint demgemäß stets als prekär. Diese Labilität allein rechtfertigt aber noch nicht die Annahme einer Störungslage. Die Inanspruchnahme der Ausnahmevorschrift ist vielmehr erst dann gerechtfertigt, wenn das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht ernsthaft und nachhaltig gestört ist oder eine solche Störung unmittelbar droht (BVerfGE 79, 311, 339). 2. Der Haushaltsgesetzgeber ist nicht darauf beschränkt, bei einer Störungslage zunächst nur weitere Investitionsausgaben über Kredite zu finanzieren und aus konjunkturellem Abschwung resultierende Mindereinnahmen und Mehrausgaben statt durch Kreditaufnahmen durch weitere Ausgabenkürzungen oder Steuererhöhungen auszugleichen (sog. Parallelpolitik; BVerfGE 79, 311, 341 f). Die erhöhte Kreditaufnahme muss aber nach Umfang und Verwendung geeignet sein, die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts abzuwehren. Sie muss darüber hinaus auch final auf die Abwehr dieser Störung bezogen sein. Hierzu müssen die Ursachen der Störung mit in Betracht gezogen werden. Liegen sie etwa ganz oder überwiegend in fehlender Anpassung der Wirtschaftsstruktur an neue Gegebenheiten oder in einer schon bestehenden hohen Staatsverschuldung, so werden sie schwerlich durch eine bloße Nachfrageausweitung bzw. Verhinderung eines Nachfrageabfalls ausgeräumt werden können. Je nach den gegebenen LVerfGE 14

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Ursachen vermag auch der Umstand, dass bei Ausgleich eines vorhandenen Haushaltsdefizits im Wege der Ausgabenkürzung oder Steuererhöhung ein weiterer Abschwung droht, eine erhöhte Kreditaufnahme allein nicht zu rechtfertigen. Ohne dass andere haushalte- und finanzpolitische Maßnahmen hinzutreten, könnte sich die Situation in den folgenden Jahren wiederholen und gegebenenfalls - etwa durch Anwachsen des Schuldensockels — noch verschärfen. Allerdings kann und muss der Haushaltsgesetzgeber jeweils von den konkret für ihn gegebenen Bedingungen ausgehen und sein Handeln danach einrichten. Gibt es Versäumnisse früherer Haushaltsgesetzgeber, muss er mit deren Folgen leben. Sie können einerseits seine Handlungsmöglichkeiten nicht zusätzlich, also über das hinaus einschränken, was ohnehin aus seiner Bindung an die Eignung der zu treffenden Maßnahme zur Abwehr der Störung folgt (BVerfGE 79, 311, 339 f). Sie sind andererseits kein Freibrief für eine beliebige Berufung auf den Ausnahmetatbestand, weil eine durch frühere Haushaltsgesetzgeber geschaffene Zwangslage wie noch auszuführen sein wird — zu keiner die Ausnahme noch ausweitenden Handlungsoption für den heutigen Haushaltsgesetzgeber führen darf. 3. Bei der Beurteilung, ob eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts vorliegt oder unmittelbar droht, und bei der Einschätzung, ob eine erhöhte Kreditaufnahme zu ihrer Abwehr geeignet ist, steht dem Haushaltsgesetzgeber ein Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zu. Dem Verfassungsgericht obliegt im Streitfall die Prüfung, ob die Beurteilung und Einschätzung des Gesetzgebers nachvollziehbar und vertretbar ist. Beurteilung und Einschätzung müssen nicht nur frei von Willkür sein, sondern auf Grund der vorliegenden wirtschaftlichen Daten und vor dem Hintergrund der Aussagen der gesetzlich verankerten Organe der finanz- und wirtschaftspolitischen Meinungs- und Willensbildung (Finanzplanungsrat, Konjunkturrat, Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Europäische Zentralbank) und der Auffassungen in Volkswirtschaftslehre und Finanzwissenschaft auch nachvollziehbar und vertretbar erscheinen (vgl. BVerfGE 79, 311, 343 f). 4. Dem Einschätzungs- und ΒeurteilungsSpielraum entspricht für den Haushaltsgesetzgeber in formeller Hinsicht die Darlegungslast im Gesetzgebungsverfahren, dass, aus welchen Gründen und in welcher Weise er von der Befugnis zur Überschreitung der Kreditobergrenze Gebrauch macht. Diese Obliegenheit trägt dazu bei, die Inanspruchnahme der Ausnahmebefugnis zu erhöhter Kreditaufnahme trotz des Fehlens eindeutiger materiell-rechtlicher Vorgaben auf Ausnahmefälle zu beschränken und so ihren Ausnahmecharakter zu sichern. Im Gesetzgebungsverfahren darzulegen sind die Diagnose, dass das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht ernsthaft und nachhaltig gestört ist, die Absicht, durch die erhöhte Kreditaufnahme diese Störung abzuwehren, und die begründete Prognose, dass und wie durch die erhöhte Kreditaufnahme dieses Ziel erreicht werden kann, sie also zur Abwehr der Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts geeignet LVerfGE 14

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erscheint. Dabei wird gegebenenfalls die Koordination der Haushaltsplanung mit flankierenden gesetzgeberischen Maßnahmen und der längerfristigen Politik darzulegen sein. Der Haushaltsgesetzgeber hat zu erkennen zu geben, ob er mit der Beurteilung der bereits genannten gesetzlich verankerten Organe der Finanz- und wirtschaftspolitischen Meinungs- und Willensbildung übereinstimmt oder aus welchen Gründen er abweicht. Für diese Darlegungen ist von Verfassungs wegen keine bestimmte Form vorgeschrieben. Sie können durch jegliche Stellungnahmen und Erklärungen der an der Haushaltsgesetzgebung beteiligten Organe im Gesetzgebungsverfahren, auch in Parlamentssitzungen, erfolgen. Die Darlegungen müssen allerdings erkennbar machen, dass die parlamentarische Mehrheit mit der Verabschiedung des Haushaltsgesetzes die Verantwortung auch für die Begründung der erhöhten Kreditaufnahme übernimmt (BVerfGE 79, 311, 344 f). III. Über den Wordaut des Art. 87 Abs. 2 S. 2 HS. 2 VvB hinaus kann eine Ausnahme vom Kreditbegrenzungsgebot verfassungsrechtlich zulässig sein, wenn sich ein Bundesland in einer extremen Haushaltsnotlage befindet. 1. Ein in einer extremen Haushaltsnotlage befindliches Land kann das Kreditbegrenzungsgebot nicht einhalten, weil es nicht in der Lage ist, seine Ausgaben vollständig durch andere Einnahmen als Kredite zu decken bzw. — die Kreditobergrenze erhöhende — Investitionen zu veranlassen. Ihm ist aber gleichzeitig versagt, die in Art. 87 Abs. 2 S. 2 HS. 2 VvB ausdrücklich geregelte Ausnahme vom Kreditbegrenzungsgebot in Anspruch zu nehmen. Das durch eine extreme Haushaltsnodage betroffene Land ist nämlich daran gehindert, durch seine Haushaltswirtschaft und die Gestaltung der Haushaltspolitik den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen; es verliert die Fähigkeit zu einem konjunkturgerechten Haushaltsgebaren und zu konjunktursteuerndem Handeln (BVerfGE 86, 148, 266) und damit die Fähigkeit, eine etwaige Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts im Land durch eine entsprechende Konjunkturpolitik abzuwehren. Nach dem Wordaut der Verfassung wäre erst nach Konsolidierung des Haushalts eine Überschreitung der Kreditobergrenze zur Störungsabwehr wieder zulässig. Die Haushaltskonsolidierung wird unter Umständen jedoch ohne bundesstaatliche Hilfe nicht gelingen. Wird diese freiwillig nicht gewährt und klagt das von einer extremen Haushaltsnodage betroffene Land darum beim Bundesverfassungsgericht auf Gewährung einer Bundesergänzungszuweisung nach Art. 107 Abs. 2 S. 3 GG bzw. sonstiger bundesstaatlicher Hilfeleistungen, wird ein möglicherweise nicht unerheblicher Zeitraum bis zur bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung und gegebenenfalls deren nachfolgender gesetzgeberischer Umsetzung zugunsten des Landes vergehen, in dem das Land in seiner finanziellen Notlage gar nicht anders kann, als weiterhin — entgegen dem Wordaut des Art. 87 Abs. 2 S. 2 HS. 2 VvB - zur Deckung seiner

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Ausgäben übermäßige Krediteinnahmen zu veranlassen. Dabei hat es allerdings die im Folgenden dargelegten Beschränkungen zu beachten. 2. Im Fall der extremen Haushaltsnotlage eines Landes, aus der sich das Land aus eigener Kraft nicht mehr befreien kann, ist das bundesstaatliche Prinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) als solches berührt. Im Bundesstaat besteht eine Solidargemeinschaft von Bund und Ländern und damit das bündische Prinzip des Einste hens füreinander (BVerfGE 86, 148, 264). Die finanzverfassungsrechtlichen Normen des Grundgesetzes sollen insgesamt eine Finanzordnung sicherstellen, die Bund und Länder am Finanzaufkommen sachgerecht beteiligt und finanziell in die Lage versetzt, die ihnen verfassungsrechtlich zukommenden Aufgaben auch wahrzunehmen. Ihr Sinn ist es auch, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die staatliche Selbstständigkeit von Bund und Ländern real werden, ihre politische Autonomie sich in der Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Aufgabenwahrnehmung und der Haushaltswirtschaft (Art. 109 Abs. 1 GG) entfalten und die gemeinsame Verpflichtung auf die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (Art. 109 Abs. 2 GG) erfüllt werden kann (B\^erfGE 72, 330, 383, 388; 86, 148, 264). Hieraus resultiert eine verfassungsrechtliche Pflicht des Bundes und der Länder einschließlich des von der extremen Haushaltsnodage betroffenen Landes, mit dem Ziel der haushaltswirtschaftlichen Stabilisierung auf der Grundlage konzeptionell aufeinander abgestimmter Maßnahmen darauf hinzuwirken, dass das von einer extremen Haushaltsnotlage betroffene Land wieder zur Wahrung seiner politischen Autonomie und zur Beachtung seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtungen befähigt wird (BVerfGE 86, 148, 264 f). Bis zur Wiederherstellung der Fähigkeit des Landes zu einer ordnungsgemäßen Haushaltswirtschaft muss das Land dennoch seinen Ausgabenverpflichtungen nachkommen können. Der Großteil der Einnahmen und Ausgaben eines Bundeslandes beruht auf bundesrechtlichen Vorgaben, die von dem Land zu beachten sind. Das bedeutet, dass das von einer extremen Haushaltsnotlage betroffene Bundesland einerseits hinsichtlich seiner Einnahmensituation nur wenig handlungsfähig ist, weil es eine wesentliche Erhöhung seiner Einnahmen auf Grund von Landesgesetzen nicht erreichen kann; andererseits ist das Land verpflichtet, die auf Grund bundesrechtlicher Vorschriften vorgegebenen Ausgaben, die grundsätzlich bei der Ausführung von Bundesgesetzen durch die Länder als eigene Angelegenheit (Art. 83, 84, 104a GG) anfallen, zu leisten. Da das Land ohne übermäßige Krediteinnahmen seinen bundesrechtlichen Verpflichtungen und überdies den aus landesverfassungsrechtlichen Vorgaben folgenden unabdingbaren Aufgaben nicht nachkommen könnte, folgt aus Art. 109 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem aus den finanzverfassungsrechtlichen Normen des Grundgesetzes hergeleiteten Gebot, dass die Länder in die Lage versetzt sein müssen, ihre verfassungsrechtlichen Aufgaben zu erfüllen, eine Modifizierung des landesverfassungsrechtlichen Kreditbegrenzungsgebots. Diese besteht darin, dass die Kreditobergrenze über die in Art. 87 Abs. 2 S. 2 HS. 2 VvB ausdrücklich geregelte AusLVerfGE 14

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nähme der Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts hinaus auch im Fall einer extremen Haushaltsnodage überschritten werden darf. Demgegenüber besteht keine Befugnis des Landesverfassungsgebers, Kreditbegrenzungsgebote festzulegen, die dem Land die Erfüllung seiner bundesrechtlichen Verpflichtungen im Falle einer extremen Haushaltsnotlage unmöglich machen. 3. Auch hinsichtlich der Frage, ob sich das Land in einer extremen Haushaltsnotlage befindet, steht dem Haushaltsgesetzgeber ein Beurteilungsspielraum zu. Er darf die Kreditobergrenze des Art. 87 Abs. 2 S. 2 HS. 1 VvB unter diesem Gesichtspunkt jedoch nur überschreiten, wenn er sich auf die extreme Haushaltsnotlage im Gesetzgebungsverfahren beruft und diese darlegt. Wie ausgeführt, bestehen bereits umfangreiche Darlegungspflichten, wenn der Haushaltsgesetzgeber in Anwendung des Art. 87 Abs. 2 S. 2 HS. 2 VvB die Kreditobergrenze zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts überschreiten will. Für die Überschreitung der Kreditobergrenze unter Berufung auf eine extreme Haushaltsnotlage des Landes und unter Inanspruchnahme eines entsprechenden, landesverfassungsrechtlich nicht ausdrücklich geregelten Ausnahmetatbestandes müssen verfassungsrechtlich mindestens die gleichen Anforderungen wie bei Inanspruchnahme der in Art. 87 Abs. 2 S. 2 HS. 2 VvB ausdrücklich vorgesehenen, konjunkturpolitischen Ausnahme gelten. Im Gesetzgebungsverfahren ist daher im Einzelnen darzulegen, dass eine extreme Haushaltsnotlage gegeben ist sowie dass und aus welchen Gründen eine geringere Kreditaufnahme aus bundesverfassungsrechtlicher Sicht nicht zulässig wäre, weil anderenfalls das Land seine bundesrechtlich festgelegten sowie seine auf landesverfassungsrechtlichen Vorgaben beruhenden Ausgabenverpflichtungen nicht erfüllen könnte. Denn nur wenn in diesem Sinne zwingende Ausgaben ohne eine erhöhte Kreditaufnahme nicht geleistet werden können, ist das von einer extremen Haushaltsnotlage betroffene Land berechtigt, die landesverfassungsrechtliche Kreditobergrenze zu überschreiten. Zu fordern ist vom Haushaltsgesetzgeber unter diesem Gesichtspunkt im Rahmen eines schlüssigen Sanierungskonzepts die detaillierte Darlegung, dass im Haushaltsplan veranschlagte Ausgaben zwingend erforderlich sind und alle möglichen Einnahmequellen und Ausgabeneinschränkungen ausgeschöpft wurden. E. Die Ermächtigung zur Aufnahme von Krediten in § 3 Abs. 1 S. 1 HG 02/03, deren Höhe die Kreditobergrenze des Art. 87 Abs. 2 S. 2 HS. 1 VvB in Gestalt der Summe der im Flaushaltsplan veranschlagten Investitionen überschritten hat, steht nicht in Einklang mit der Ausnahmevorschrift des Art. 87 Abs. 2 S. 2 HS. 2 VvB. Die Voraussetzungen für eine Ausnahme vom Kreditbegrenzungsgebot lagen weder im Hinblick auf die Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts noch unter dem Gesichtspunkt einer extremen Haushaltsnotlage vor. LVerfGE 14

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Die Annahme und Darlegung des Berliner Haushaltsgesetzgebers im Zeitpunkt des Gesetzgebungsverfahrens für das Haushaltsgesetz 2002/2003, dass im Land Berlin das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht ernsthaft und nachhaltig gestört sei, ist verfassungsrechtlich allerdings nicht zu beanstanden. 1. Art. 87 Abs. 2 S. 2 HS. 2 VvB ermächtigt den Haushaltsgesetzgeber zu einer erhöhten Kreditaufnahme auch im Falle einer Störung der wirtschaftlichen Lage allein im Land Berlin (Pfennig in: Pfennig/Neumann, Verfassung von Berlin, 3. Aufl. 2000, Art. 87 Rn. 19; Korbmacher aaO, Art. 87 Rn. 13). Bund und Länder sind in ihrer Haushaltswirtschaft, wozu auch die Kreditaufnahme gehört, selbstständig und voneinander unabhängig (Art. 109 Abs. 1 GG) und haben infolgedessen materiell eigenständige Entscheidungsspielräume (materielle Haushaltsautonomie; Heun aaO, Art. 109 Rn. 17; Reinsen in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 5. Aufl. 2003, Art. 109 Rn. 9). Die Art. 110 bis 115 GG betreffen demgegenüber nur den Bund (Patzig Haushaltsrecht des Bundes und der Länder, A/109/14, Stand: 1982, Rn. 11; Heun aaO, Art. 109 Rn. 10); weder das Stabilitätsgesetz noch das Haushaltsgrundsätzegesetz schreiben für die Länder entsprechende Bestimmungen vor (Patzig DOV 1985, 293, 296; Mahrenhol^ in: Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Reihe Alternativkommentare, 3. Aufl., Bd. 3, Stand: August 2002, Art. 115 Rn. 5). Der Grundsätzegesetzgeber hat den Ländern einen Freiraum zur Regelung des landesrechtlich verfügbaren Kreditrahmens gelassen (HambVerfG, Urt. v. 30.5.1984 - HVerfG 1/84 - , HmbJVBl. 1984, 169, 178; vgl. auch die gegenüber dem Niedersächsischen Landtag erfolgte Begründung des Niedersächsischen Finanzministeriums zur Inanspruchnahme der Ausnahmeregelung des Art. 71 S. 3 der Niedersächsischen Verfassung, Niedersächsischer Landtag — Drs. 13/839 S. 2). Allerdings gehört zum gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht auch das Teilziel des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts, das nur auf den Gesamtstaat bezogen sein kann (Henneke aaO, Rn. 608). Hieraus wird zum Teil der Schluss gezogen, dass die den Begriff des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts verwendenden Landesverfassungen eine erhöhte Kreditaufnahme nur bei einer bundesweiten Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zulassen wollten und dass bei bloß regionalen wirtschaftlichen Verzerrungen eine Inanspruchnahme des landesverfassungsrechtlichen Ausnahmevorbehalts nicht in Betracht komme, wenn diese nicht zugleich auch das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht des Bundes störten, was — insbesondere bei kleineren Bundesländern — kaum je der Fall sein dürfte (Höfling Staatsschuldenrecht, 1993, S. 411 Fn. 42; Piduch Bundeshaushaltsrecht, Art. 115 GG Rn. 31, Stand: Januar 1996; Henneke aaO). Derartige Unsicherheiten in der Interpretation des Begriffs des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts vermeiden diejenigen Länder, die - zusätzlich - besondere Ausnahmeregelungen für LVerfGE 14

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schwerwiegende Störungen bzw. eine unmittelbare Bedrohung der Wirtschaftsund Beschäftigungsentwicklung des jeweiligen Landes vorsehen (vgl. Art. 65 Abs. 2 S. 2 M - W e r f , Art. 53 Abs. 1 S. 2 SchlHVerf, Art. 98 Abs. 2 S. 3 ThürVerf; vgl. Patzig aaO, C/18/9, Stand: 1991, Rn. 11). Eine erhöhte Kreditaufnahme zur Überwindung einer auf das Land bezogenen Störung des wirtschaftlichen Gleichgewichts ist jedoch auch bei Fehlen eines derartigen ausdrücklichen Zusatzes erlaubt. Diese Schlussfolgerung hat auch der Niedersächsische Staatsgerichtshof unter Hinweis auf die Begründung zu Art. 71 S. 3 der Niedersächsischen Verfassung (LT-Drs. 12/5840 S. 42) gezogen, nach der ein solcher landesbezogener Zusatz ausdrücklich für nicht erforderlich gehalten worden war (Urt. v. 10.7.1997 StGH 10/05 NdsVBl. 1997, 227, 229). Nichts anderes gilt für Art. 87 Abs. 2 S. 2 HS. 2 VvB, auch wenn der Berliner Verfassunggeber diese Frage nicht ausdrücklich erörtert hat. In der Begründung zum Achtundzwanzigsten Gesetz zur Änderung der Verfassung von Berlin (AbghDrs 12/4874 S. 10 zu Nr. 49) deutet nichts darauf hin, dass der Verfassunggeber eine erhöhte Kreditaufnahme nur bei einer bundesweiten Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts hatte zulassen wollen. Dort wird lediglich ausgeführt, dass Berlin unter dem Aspekt der Einheitlichkeit des Haushaltsrechts von Bund und Ländern sowie angesichts der Gefahren für die künftige Landespolitik eine — bisher nur einfachgesetzlich geregelte — abstrakte Kreditobergrenze erhalten solle. Es bestehe eine Divergenz zwischen der moderneren Landeshaushaltsordnung und der Verfassung, die es anzupassen gelte. Daher sei die Kreditobergrenze ebenso wie im Bund in Art. 115 Abs. 1 S. 2 GG — wegen ihrer fundamentalen Bedeutung für die Sicherung und die Handlungsfähigkeit des modernen Leistungs- und Sozialstaates ausdrücklich in die Verfassung aufzunehmen. Bei der in der Verfassungsbegründung in Bezug genommenen einfachgesetzlichen Regelung handelt es sich um § 18 Abs. 1 der Landeshaushaltsordnung vom 5.10.1978 (G\AB1. S. 1961), dessen Gesetzesmaterialien keinen Aufschluss darüber geben, was der damalige Gesetzgeber unter dem Begriff des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts hatte verstehen wollen (Abgh-Drs 7/986 S. 21). Zwar heißt es in der Begründung zur Neufassung der Landeshaushaltsordnung vom 20.11.1995 (GVB1. S. 805), dass nach der überwiegenden finanzwissenschaftlichen Literatur die Obergrenze unter Hinweis auf besondere strukturelle oder finanzielle Probleme eines Bundeslandes nicht überschritten werden dürfe. Das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht könne nicht als regionalwirtschaftliches Gleichgewicht interpretiert werden. Dies schließe die Berücksichtigung spezieller Belange eines einzelnen Landes nicht aus, soweit sie einen Bezug zu den Komponenten des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts hätten, insbesondere geeignet seien, wirtschaftliche Belange des Gesamtstaates negativ zu beeinflussen (Abghs-Drs 12/5603 S. 7). Es kann jedoch offen bleiben, welcher Schluss aus dieser Begründung zu ziehen ist, denn jedenfalls ist diese zeitlich nach der Verfassungsbegründung erfolgt. Angesichts dessen ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden,

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dass der Gesetzgeber des Haushaltsgesetzes 2002/2003 den Begriff des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in Art. 87 Abs. 2 S. 2 HS. 2 VvB dahingehend weit ausgelegt hat, dass auch eine Störung des wirtschaftlichen Gleichgewichts im Land Berlin zu einer erhöhten Kreditaufnahme berechtigen kann. 2. Der Berliner Haushaltsgesetzgeber hat den ihm bei der Beurteilung, ob eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in Berlin vorliegt, zustehenden Spielraum nicht überschritten. Er durfte zur Zeit der Beratung und Verabschiedung des Haushaltsgesetzes 2002/2003 davon ausgehen, dass das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht in Berlin in zwei Komponenten (hoher Beschäftigungsstand, stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum) ernsthaft und nachhaltig gestört war. Seine entsprechende Diagnose hat der Berliner Haushaltsgesetzgeber gerade noch ausreichend dargelegt. Dabei kann dahin stehen, welche Schlussfolgerungen das bereits erwähnte [ahresgutachten des Sachverständigenrates 2001/2002 und der Frühjahrsbericht 2002 der wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute für das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht Deutschlands zulassen; diese stehen jedenfalls der Annahme einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts im Land Berlin nicht entgegen, da sie sich nicht mit der konkreten wirtschaftlichen Situation des Landes befassen. Die in Bezug auf die Voraussetzungen des Art. 115 Abs. 1 S. 2 HS. 2 GG aufgestellte Forderung des Bundesverfassungsgerichts, dass die Beurteilung und Einschätzung des Flaushaltsgesetzgebers vor dem Hintergrund der Aussagen der gesetzlich verankerten Organe der finanz- und wirtschaftspolitischen Meinungs- und Willensbildung nachvollziehbar und vertretbar zu erscheinen habe (BVerfGE 79, 311, 344), muss dann eine Relativierung erfahren, wenn es um die Frage geht, ob eine nur auf ein Land bezogene wirtschaftliche Störung vorliegt. Wenn keine das konkrete Land betreffenden Aussagen dieser Organe vorliegen, kann die Beurteilung und Einschätzung des Landeshaushaltsgesetzgebers — unter Berücksichtigung von Auffassungen in Volkswirtschaftslehre und Finanzwissenschaft — allein anhand der zur Verfügung stehenden Wirtschaftsdaten auf ihre Nachvollziehbarkeit und Vertretbarkeit verfassungsgerichtlich überprüft werden. Die Gesetzesbegründungen zum Haushalts-Vorschaltgesetz 2002/2003 (Abghs-Drs 15/309 S. 2) und zum Haushaltsgesetz 2002/2003 (Abghs-Drs 15/ 320 S. 8) erfüllen allein allerdings nicht die an die Darlegungspflicht geknüpften Voraussetzungen. Sie beschränken sich darauf, hinsichtlich des Teilziels Wirtschaftswachstum anzuführen, dass die Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts seit 1993 deutlich unter dem Durchschnitt des Bundesgebiets lagen und Berlin zeitweilig das Schlusslicht der Länderentwicklung bildete. Ferner wird zum Beschäftigungsstand lediglich auf die gegenüber dem Bundesdurchschnitt gravierend höhere Arbeitslosenquote Berlins verwiesen. Demgegenüber fehlen konkrete Wirtschaftsdaten, welche die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts

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hinsichtlich der Teilziele Wirtschaftswachstum und Beschäftigungsstand belegen könnten. Den Anforderungen an die Darlegung der Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ist gleichwohl genügt. In der auf Grund von Art. 109 Abs. 3 GG, § 50 HGrG, Art. 86 Abs. 3 VvB aufzustellenden fünfjährigen Finanzplanung (vgl. Bericht über die Finanzplanung von Berlin 2002 bis 2006 vom 14.5.2002, Abghs-Drs 15/470), die dem Abgeordnetenhaus im Verlauf der Beratungen über das Haushaltsgesetz 2002/2003 vorgelegen hat, wird die wirtschaftliche Situation im Land Berlin konkret gewürdigt. Im Einzelnen heißt es: Vor dem Hintergrund, dass die während der Zeiten der Teilung der Stadt gewachsenen, hoch-subventionierten und letztlich nicht überlebensfähigen Wirtschaftsstrukturen maßgeblich zu der anhaltenden Wirtschaftsschwäche beigetragen hätten (Abghs-Drs 15/470 S. 21), hätten sich die außerordentlich günstigen Prognosen und Perspektiven für die Entwicklung Berlins nach der deutschen Einigung nicht erfüllen können. Unmittelbar nach der Wende habe der Ostteil der Stadt unter den gleichen systembedingten Problemen wie alle planwirtschaftlichen Wirtschaftssysteme gelitten, aber auch Berlin (West) sei nur durch breit angelegte finanzielle Hilfen für die privatwirtschaftliche Tätigkeit — flankiert durch erhebliche Steuererleichterungen nach dem Berlinförderungsgesetz — als Wirtschaftsstandort überlebensfähig gewesen (Abghs-Drs 15/470 S. 25). Die Wachstumsperiode des Bruttoinlandsprodukts in Berlin sei stets unter dem Niveau der anderen ostdeutschen Länder geblieben, seit 1994 sogar deutlich unter dem Niveau des Bundesdurchschnitts. Die Folge sei ein immenser Entwicklungsrückstand in Berlin gegenüber dem Bundesdurchschnitt. Während dort die Wirtschaft seit 1991 um etwa 15% gewachsen sei, belaufe sich in Berlin das Wachstum im gleichen Zeitraum auf gerade einmal 1%. Im Jahr 2001 sei das Wirtschaftswachstum zum Stillstand gekommen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt bewege sich die Wirtschaftskraft in Berlin praktisch auf demselben Niveau wie 1991. Folge der unzureichenden Wirtschaftsentwicklung sei eine ausgeprägte Steuerkraftschwäche in Berlin (Abghs-Drs 15/470 S. 26 f, 68). Im Zeitraum 1991 bis 2001 sei die Gesamtzahl der Erwerbstätigen um gut 6% zurückgegangen. Im Zeitraum 1991 bis 2001 sei die Zahl der industriellen Arbeitsplätze um ca. 40% zurückgegangen, das Baugewerbe habe einen Arbeitsplatzverlust von etwa 26% verkraften müssen (Abghs-Drs 15/470 S. 25). Der Arbeitsmarkt habe sich im Jahr 2001 vor allem konjunkturbedingt eingetrübt. Seit April 2001 seien in Berlin wieder mehr Personen von Arbeitslosigkeit betroffen als vor Jahresfrist. Im Jahresdurchschnitt 2001 habe die Arbeitslosigkeit um 7.600 Personen auf rund 272.300 Personen zugenommen (Arbeitslosenquote in Berlin im Jahr 2001: 16,1%, Prognose für 2002: 16,5%; Arbeitslosenquote in Deutschland im Jahr 2001: 9,4%; Prognose für 2002: 9,5%; Abghs-Drs 15/470 S. 70). Aus diesen Darlegungen unter Nennung konkreter, auf das Land Berlin bezogener Daten ergibt sich die nachvollziehbare und vertretbare Diagnose, dass das gesamtwirtschaftliche Gleich-

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gewicht in Berlin im Hinblick auf die Komponenten Wirtschaftswachstum und Beschäftigungsstand ernsthaft und nachhaltig gestört war. Angesichts der Tatsache, dass sich das Bruttoinlandsprodukt zum Zeitpunkt der Beratungen über das Haushaltsgesetz 2002/2003 nur auf dem Niveau des Jahres 1991 bewegte, liegt es auf der Hand, dass das Teilziel stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum nicht erreicht wurde. Im Hinblick darauf, dass nach den bei Einführung des Stabilitätsgesetzes aktuellen Vorstellungen ein hoher Beschäftigungsstand bei einer Arbeitslosenquote von 0,8% noch angenommen wurde (vgl. dazu NdsStGH, aaO, NdsVBl. 1997, 227, 230 mwN) und das Bundesverfassungsgericht für das Jahr 1981 eine Arbeitslosenquote von 3,9% und 4,7% (BVerfGE 79, 311, 347) sowie der Niedersächsische Staatsgerichtshof für das Jahr 1994 eine Arbeitslosenquote in Niedersachsen von 10,6% (NdsVBl. 1997, 227, 230) als nicht mehr ausreichend für einen hohen Beschäftigungsstand ansahen, steht es zudem außer Frage, dass bei einer Arbeitslosenquote von 16,1% im Jahr 2001 mit einem für das Jahr 2002 prognostizierten Anstieg auf 16,5% das Teilziel hoher Beschäftigungsstand in Berlin nachhaltig verfehlt wurde. Auf Grund der bereits jahrelang ausgebliebenen Erholung des Wirtschaftswachstums und der extrem hohen Arbeitslosenquote ist es ferner nachvollziehbar und vertretbar, wenn der Haushaltsgesetzgeber die Verfehlung zweier Teilziele des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts für die Annahme einer ernsthaften und nachhaltigen Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ausreichen lässt. Dies gilt um so mehr, als für das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht eines Landes nur noch das Teilziel Preisniveau, nicht aber das Teilziel außenwirtschaftliches Gleichgewicht Bedeutung erlangen kann. Diese Diagnose des Haushaltsgesetzgebers kann auch nicht dadurch entkräftet werden, dass es im Bericht über die Finanzplanung weiter heißt, Berlin könne im weiteren Jahresverlauf 2002 vor dem Hintergrund der allgemein erwarteten konjunkturellen Erholung mit einer Belebung der Wirtschaftstätigkeit rechnen und es dürfte sich eine Besserung auf dem Arbeitsmarkt einstellen. Denn zugleich stellt der Bericht die Prognose, dass sich die reale Wirtschaftsleistung in Berlin 2002 kaum verändern und die Erwerbstätigkeit noch leicht rückläufig sein werde. Erst im Jahr 2003 könnte das Bruttoinlandsprodukt in Berlin um rund 1% expandieren und die Beschäftigung in Berlin um 0,5 bis 1% steigen (Abghs-Drs 15/470 S. 70 ff). Diese Ausführungen beinhalten damit lediglich eine vage positive Prognose einer — darüber hinaus nur geringfügigen — Besserung von Wirtschaftswachstum und Beschäftigungsstand. II. Trotz der damit ausreichenden Diagnose des Berliner Haushaltsgesetzgebers zur ernsthaften und nachhaltigen Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in Berlin war die erhöhte Kreditaufnahme zum Zwecke der Störungsabwehr nicht von Art. 87 Abs. 2 S. 2 HS. 2 VvB gedeckt. Denn der HaushaltsgeLVerfGE 14

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setzgeber hat nicht genügend beachtet, dass im Gesetzgebungsverfahren darüber hinaus die Absicht darzulegen ist, durch die erhöhte Kreditaufnahme diese Störung abzuwehren, und ebenso die begründete Prognose, dass die erhöhte Kreditaufnahme zur Abwehr der Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts geeignet erscheint. Die Gesetzesbegründung zum Haushaltsgesetz 2002/2003 enthält - wie bereits die Gesetzesbegründung zum Haushalts-Vorschaltgesetz 2002/2003 - lediglich zwei Sätze zur Darlegung von Absicht und Eignung (Abghs-Drs 15/309 S. 2 u. 15/320 S. 8): „Die erhöhte Deckungskreditaufnahme trägt dazu bei, diese Störung abzuwehren. Mit Rücksicht auf das bereits ernsthaft und nachhaltig gestörte gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht Berlins verbot sich gerade in der gegenwärtigen konjunkturellen Lage eine weitere Ausgabenkürzung." Es fehlen Ausführungen, welche die Absicht, mit der erhöhten Kreditaufnahme die Störung abzuwehren, im Einzelnen zum Ausdruck bringen. So hätte dargelegt werden müssen, welche Maßnahmen durch die erhöhte Kreditaufnahme ermöglicht werden sollten, um der Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts im Hinblick auf die beiden Teilziele Beschäftigungsstand und Wirtschaftswachstum entgegenzuwirken. Insoweit wären konkret diejenigen Ausgaben zu bezeichnen, die im Fall des NichtVorliegens einer ernsthaften und nachhaltigen Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts hätten vermindert werden können und müssen, nunmehr aber zur Abwehr der Störung des Gleichgewichts nicht vermindert wurden. Selbst wenn man jedoch eine pauschale Absichtsbekundung noch als ausreichend ansähe, wäre den Darlegungsanforderungen nicht Genüge getan. Es fehlt jedenfalls an der begründeten Prognose, dass und wie sich die Absicht, durch die erhöhte Kreditaufnahme die Störung abzuwehren, verwirklichen lässt. Grundsätzlich kann eine erhöhte Kreditaufnahme im Falle einer Konjunkturschwäche als sog. antizyklische Maßnahme, welche die Wirtschaft durch Ausweitung der Nachfrage wieder beleben soll, im Zusammenhang mit einer eingeleiteten und fortgeführten Konsolidierungspolitik als geeignetes Mittel zur Störungsabwehr angesehen werden (vgl. auch BVerfGE 79, 311, 349). Allerdings sieht der Bericht über die Finanzplanung von Berlin 2002 bis 2006 vom 14.5.2002 — wie dargelegt — die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts auch in einer infolge der jahrzehntelangen Teilung der Stadt fortwirkenden strukturellen Wirtschaftsschwäche begründet (Abghs-Drs 15/470 S. 21). Zum Teil wird die Auffassung vertreten, dass bei Vorliegen einer auf strukturellen Fehlentwicklungen beruhenden Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts eine verfassungsgemäße Inanspruchnahme einer erhöhten Kreditaufnahme ausgeschlossen ist (so offenbar Maun^ aaO, Art. 115 Rn. 45 ff). Dem steht entgegen, dass in der gesamtwirtschaftlichen Realität strukturelle und konjunkturelle Ursachen und Krisensymptome kaum zu trennen sein werden (.Höfling aaO, S. 287). Auch das BunLVerfGE 14

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desverfassungsgericht hat zu erkennen gegeben, dass strukturelle Anpassungsprobleme nicht prinzipiell eine erhöhte Kreditaufnahme ausschließen (BVerfGE 79, 311, 349). Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht zugleich daraufhingewiesen, dass eine bloße Nachfrageausweitung bzw. Verhinderung eines Nachfrageabfalls schwerlich das Fehlen einer Anpassung der Wirtschaftsstruktur an neue Gegebenheiten oder eine schon bestehende hohe Staatsverschuldung als Ursache der Störung wird ausräumen können (BVerfGE 79, 311, 339). Letztlich kann dies dahinstehen, denn der Berliner Haushaltsgesetzgeber hat jedenfalls die Eignung der erhöhten Kreditaufnahme zur Störungsabwehr weder in den Gesetzesbegründungen zum Haushaltsgesetz 2002/2003 und zum Haushalts-Vorschaltgesetz 2002/2003 (Abghs-Drs 15/309 S. 2 u. 15/320 S. 8) noch in anderen Quellen ausreichend dargelegt. In dem Bericht über die Finanzplanung von Berlin 2002 bis 2006 vom 14.5.2002 wird lediglich ausgeführt, dass trotz hoher Anstrengungen zur Konsolidierung des Landeshaushalts zwischen Einnahmen und Ausgaben gewaltige Deckungslücken blieben, die weit überwiegend durch Neuverschuldung geschlossen werden müssten. Richtig sei, dass das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht auch in Berlin weiter ernsthaft und nachhaltig gestört sei. Tatsächlich spiegele die hohe Neuverschuldung der kommenden Jahre jedoch vor allem die Notlage des Landeshaushalts wider, dem insoweit keine anderen Deckungsmöglichkeiten zur Verfügung stünden. Darlegungen, dass die erhöhte Kreditaufnahme zur Störungsabwehr geeignet und bestimmt ist, enthält der Bericht hingegen nicht; vielmehr verweist er nur auf die Begründungen zu den Entwürfen des Vorschaltgesetzes zum Haushaltsgesetz 2002/2003 sowie zum Haushaltsgesetz 2002/2003 (Abgh-Drs 15/470 S. 42 f, Fn. 16). Ebenso wenig lassen sich die erforderlichen Darlegungen den im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens erfolgten Plenardebatten bzw. Sitzungen der Ausschüsse des Abgeordnetenhauses entnehmen. Weder die Redebeiträge einzelner Abgeordneter der Regierungskoalition von SPD oder PDS noch des Finanzsenators oder des Regierenden Bürgermeisters enthalten entsprechende Darlegungen. Aus keiner dieser Äußerungen wird im Einzelnen deutlich, inwiefern die erhöhte Kreditaufnahme dazu geeignet und bestimmt sein sollte, die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in Berlin in Gestalt einer hohen Arbeitslosigkeit und des Fehlens eines angemessenen Wirtschaftswachstums abzuwehren. Es fehlen auch sonst Darlegungen, inwieweit infolge der erhöhten Kreditaufnahme arbeitsmarkt- und wirtschaftspolitische Maßnahmen ermöglicht werden, die zur Erreichung dieses Ziels beitragen könnten. Dabei verkennt der Verfassungsgerichtshof nicht, dass eine erhöhte Kreditaufnahme auch zur Finanzierung von konsumtiven Ausgaben zulässig ist. Das Land muss nicht zwingend auf Mindereinnahmen, die aus einem konjunkturellen Abschwung resultieren, mit weiteren Ausgabenkürzungen reagieren, die sich dann negativ auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht auswirken könnten (kein UVerfGE 14

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Zwang zur „Parallelpolitik", vgl. BVerfGE 79, 311, 341). Jedoch vermag - wie dargelegt - der Umstand, dass bei Ausgleich eines vorhandenen Haushaltsdefizits im Wege der Ausgabenkürzung oder Steuererhöhung ein weiterer Abschwung droht, eine erhöhte Kreditaufnahme nicht ohne weiteres zu rechtfertigen (BVerfGE 79, 311, 340). Im Hinblick auf die aus Art. 109 Abs. 2 GG folgende Unzulässigkeit einer prozyklischen Finanzpolitik (vgl. Friaufuv Isensee/Kirchhof, aaO, § 91 Rn. 34) folgt nicht etwa im Umkehrschluss, dass bei abgeschwächter Konjunkturlage eine die Kreditobergrenze überschreitende Kreditaufnahme als antizyklisches Verhalten ohne entsprechende detaillierte Darlegungen zu Absicht und Eignung der Störungsabwehr verfassungsrechtlich unbedenklich wäre. Würde es für die Annahme und Darlegung, Ziel und Zweck der Kreditaufnahme sei die Störungsabwehr, ausreichen, dass die Kreditaufnahme weitere Einsparungen vermeide und auf diese Weise dem gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht mittelbar zu Gute komme, wäre bei Vorliegen einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts jegliche durch Kredite zu deckende konsumtive Mehrausgabe gerechtfertigt; dies widerspräche dem Ausnahmecharakter der eine Überschreitung der Kreditobergrenze zulassenden Regelung (NdsStGH, aaO, NdsVBl. 1997, 227, 231). Eine mit einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts einhergehende schwierige Haushaltslage würde es damit dem Haushaltsgesetzgeber ohne weiteres ermöglichen, unter Hinweis auf das Verbot eines prozyklischen Verhaltens erhöhte Krediteinnahmen zu veranlassen. Gerade auf Landesebene ist jedoch nicht davon auszugehen, dass jede beliebige Staatsausgabe positive Auswirkungen auf Arbeitsmarkt und Wirtschaftswachstum des Landes hat. Umgekehrt ist nicht vollständig ausgeschlossen, dass eine erhöhte staatliche Kreditnachfrage sich negativ auswirkt, auch wenn der erhöhte Kreditbedarf des Landes Berlin im nationalen und internationalen Maßstab auf die für das Wachstum der Privatwirtschaft maßgebliche Zinshöhe kaum Einfluss haben dürfte. Daraus folgt zwingend, dass bei Überschreiten der Kreditobergrenze ein finaler Bezug auf die Abwehr der Störung erkennbar werden muss (vgl. Henneke NdsVBl. 1997, 217, 224). Das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht ist nicht nur Bezugsgröße, sondern auch Ziel und Zweck des Handelns (BVerfGE 79, 311, 335). Gerade bei einer auch auf strukturellen Defiziten beruhenden Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts — wie dies für das Land Berlin vom Haushaltsgesetzgeber infolge einigungsbedingter Anpassungsschwierigkeiten der Wirtschaft angenommen wurde — ist die Überschreitung der Kreditobergrenze nur dann verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn Vorsorge für die alsbaldige Beseitigung nicht nur des konjunkturellen, sondern auch des strukturellen Defizits getroffen wird (vgl. Patzig aaO, A/115/35, Stand: 1991, Rn. 29). Dies ist dann aber auch darzulegen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es dem Darlegungserfordernis nicht genügt, wenn die hohe Arbeitslosigkeit sowie die schlechte wirtschaftliche Situation des Landes Berlin vereinzelt Gegenstand von Redebeiträgen im Rahmen des Haushaltsgesetzgebungsverfahrens geworden sind. Das Verfassungsrecht geLVerfGE 14

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bietet eine zusammenhängende, durch Daten unterlegte Darstellung, die gewährleistet, dass die parlamentarische Mehrheit mit der Verabschiedung des Haushaltsgesetzes die Verantwortung auch für die Begründung der erhöhten Kreditaufnahme übernehmen kann (vgl. BVerfGE 79, 311, 345). Es muss für jedes Mitglied des Abgeordnetenhauses nachvollziehbar sein, dass die Nichteinhaltung des Kreditbegrenzungsgebots nicht Folge eines allgemein begrenzten Spielraums zur Ausgabensenkung ist, sondern konkret für jede Ausgabe eine bestimmte konjunkturpolitisch begründete Entscheidung zu ihrer Aufrechterhaltung getroffen werden muss und mit der Verabschiedung des Haushaltsgesetzes getroffen wird. Es ist nicht Aufgabe des zur Überprüfung berufenen Verfassungsgerichts, bruchstückhafte Begründungselemente einzelner Abgeordneter in Erahnung eines eventuellen gesetzgeberischen Willens zu einer Argumentationskette zusammenzusetzen. III. Schließlich kann dahinstehen, ob sich das Land Berlin zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Haushaltsgesetzes 2002/2003 in einer extremen Haushaltsnodage befunden hat, wofür Indikator eine jahrelang über den Investitionsausgaben liegende Nettokreditaufnahme sein kann (vgl. BVerfGE 86, 148, 258, 262). Denn selbst wenn dies der Fall gewesen sein sollte, hätte die Kreditobergrenze des Art. 87 Abs. 2 S. 2 HS. 1 VvB durch § 3 Abs. 1 S. 1 HG 02/03 nicht überschritten werden dürfen, ohne dass zugleich die verfassungsrechtlich gebotenen Darlegungen im Gesetzgebungsverfahren erfolgten (vgl. im Einzelnen oben D.III.3) Soweit die Nichteinhaltung des Kreditbegrenzungsgebots für die Haushaltsjahre 2002 und 2003 auf eine bereits eingetretene extreme Flaushaltsnotlage zurückzuführen sein könnte, hat der Haushaltsgesetzgeber die ihn diesbezüglich treffende Darlegungslast jedoch nicht erfüllt. Die Überschreitung der Kreditobergrenze erfolgte ausweislich der Gesetzesbegründungen zum Haushaltsgesetz 2002/2003 und zum Haushalts-Vorschaltgesetz 2002/2003 in Anwendung des Art. 87 Abs. 2 S. 2 HS. 2 VvB ausdrücklich allein im Hinblick auf eine Abwehr der Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Hingegen wird mit keinem Wort darauf eingegangen, dass eine extreme Haushaltsnotlage die erhöhte Kreditaufnahme erfordern könnte. Ungeachtet dessen, dass — wie im Fall einer Überschreitung der Kreditobergrenze zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts — für die Darlegungen in Bezug auf die extreme Haushaltsnotlage keine bestimmte Form zu fordern ist, muss jedoch, wenn die Gesetzesbegründung eine die verfassungsrechtliche Kreditobergrenze überschreitende Kreditaufnahme rechtfertigen soll, bereits hier ausdrücklich der entsprechende Ausnahmetatbestand für die Nichtbeachtung des Kreditbegrenzungsgebots benannt werden. Dies ist nicht geschehen. Der Senat von Berlin hat im Übrigen eine „förmliche" Feststellung einer extremen Haushaltsnotlage erst am 5.11.2002 getroffen. LVerfGE 14

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Auch die sonstigen Quellen des Gesetzgebungsverfahrens enthalten keine ausreichenden Darlegungen. In den Plenarsitzungen des Abgeordnetenhauses wurde die schlechte Haushaltssituation Berlins nur kurz und ohne ins Detail gehende Ausführungen in vereinzelten Redebeiträgen angesprochen. Die Haushaltslage Berlins war allerdings Gegenstand des Berichts über die Finanzplanung von Berlin 2002 bis 2006 vom 14.5.2002. Dort heißt es: Zwischen Einnahmen und Ausgaben verblieben gewaltige Deckungslücken, die — in beschränktem Umfange — durch Vermögensaktivierung und weit überwiegend durch Neuverschuldung geschlossen werden müssten. So liege die Deckungslücke des Jahres 2002 bei knapp 6,9 Mrd €, wovon voraussichtlich lediglich 600 Mio € durch Einnahmen aus der Aktivierung von Vermögen geschlossen werden könnten (Abghs-Drs 15/470 S. 42). Die hohe Neuverschuldung spiegele vor allem die Nodage des Landeshaushalts wider, dem insoweit keine anderen Deckungsmöglichkeiten zur Verfügung stünden. Einnahmen aus der Aktivierung von Vermögen würden künftig nur noch in beschränktem Umfange zur Finanzierung des Haushalts und damit zur Schließung der Deckungslücke beitragen können (Abghs-Drs 15/470 S. 43). Auf den Seiten 47 ff befasst sich der Bericht dann ausführlich mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Vorliegen einer extremen Haushaltsnodage. Auch diese Ausführungen reichen zur Erfüllung der Darlegungspflicht im Hinblick auf eine Überschreitung der Kreditobergrenze für den Fall einer extremen Haushaltsnodage jedoch nicht aus. Zum einen legt sich der Bericht über die Finanzplanung letztendlich nicht fest, ob sich das Land Berlin tatsächlich in einer extremen Haushaltsnotlage befindet. Zum anderen genügen die Ausführungen deswegen nicht den Darlegungsanforderungen, weil an keiner Stelle dargelegt wild, dass das Land Berlin auf die - durch die erhöhte Kreditaufnahme erzielten — Einnahmen angewiesen war, um Ausgaben decken zu können, die auch dann zwingend waren, wenn sich das Land in einer extremen Haushaltsnodage befand. Der Haushaltsgesetzgeber hätte hierzu nachvollziehbar machen müssen, dass die vom Land ohne die erhöhte Kreditaufnahme erzielten oder erzielbaren Einnahmen nicht ausreichten, um die auf bundesrechtlichen oder landesverfassungsrechtlichen Vorgaben beruhenden unabdingbaren Ausgaben des Landes decken zu können. Dazu gehörte die Darlegung, dass darüber hinausgehende Ausgaben im Haushaltsplan nicht veranschlagt wurden. Diesen Anforderungen wird der Bericht über die Finanzplanung nicht gerecht. Er enthält zwar Aufzählungen, welche Ausgaben vom Land zu erbringen sind, indem er u.a. Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz, dem Asylbewerber-Leistungsgesetz und dem Bundesversorgungsgesetz benennt sowie ferner erläutert, dass etwa ein Viertel der laufenden Zuweisungen und Zuschüsse auf Leistungen an die Hochschulen und Universitäten Berlins entfielen, die durch Hochschulverträge bis zum Jahre 2005 festgelegt seien, und dass die Höhe der Schuldendiensdeistungen weitgehend durch die Aufwendungen im Bereich der Wohnungsbau- und der Städtebauförderung fest-

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gelegt und kurzfristig nicht zu beeinflussen sei (Abghs-Drs 15/470 S. 82, 84 f). Auch verweist der Bericht darauf, dass die Sozialausgaben gestiegen seien (AbghsDrs 15/470 S. 34). Hierin liegt jedoch einerseits keine erschöpfende Darlegung der zwingend zu leistenden Ausgaben. Andererseits heißt es im Bericht über die Finanzplanung weiter, dass das Land Berlin sich je Einwohner höhere Ausgaben als jedes andere Land „leiste". Dies wird auf ein überdurchschnittliches Niveau im Bereich der Kernausgaben des Haushalts sowie auf überdurchschnittliche Zinsausgaben zurückgeführt (Abghs-Drs 15/470 S. 13 f). Im Zusammenhang mit der beabsichtigten Absenkung der Primärausgaben (Abghs-Drs 15/470 S. 37 ff) führt der Bericht dann aus, dass entscheidenden Einfluss auf die weitere Entwicklung der Primärausgaben die konsumtiven Sachausgaben hätten, deren geplante Absenkung allerdings bislang nicht habe eingehalten werden können. Hierfür sei ursächlich, dass zum Zeitpunkt des Haushaltsbeschlusses nicht hinreichend viele umsetzungsfähige Konsolidierungsmaßnahmen entscheidungsfähig vorgelegen hätten (Abghs-Drs 15/470 S. 41 f). Genau dies ist im Fall einer extremen Haushaltsnodage aber notwendig. Der Haushaltsgesetzgeber muss alle bundes- und landesverfassungsrechtlich gebotenen Konsolidierungsmaßnahmen benennen und haushaltsgesetzlich auch umsetzen, wenn er diese ungeschriebene verfassungsrechtliche Ausnahme für sich in Anspruch nehmen will. F. Die Verfassungswidrigkeit der Nettokreditermächtigungsnorm im Haushaltsgesetz wegen Verstoßes gegen das verfassungsrechtliche Kreditbegrenzungsgebot führt regelmäßig zur Verfassungswidrigkeit des gesamten Haushaltsgesetzes, soweit es Einnahmen und Ausgaben in einer bestimmten Höhe fesdegt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgt aus der Verfassungswidrigkeit einzelner Vorschriften die Nichtigkeit des ganzen Gesetzes, wenn die verfassungswidrige Vorschrift Teil einer Gesamtregelung ist, die ihren Sinn und ihre Rechtfertigung verlöre, nähme man einen ihrer Bestandteile heraus, wenn also die nichtige Vorschrift mit den übrigen Bestimmungen so verflochten ist, dass sie eine untrennbare Einheit bilden, die nicht in ihre einzelnen Bestandteile zerlegt werden kann (vgl. z.B. BVerfGE 8, 274, 301). Die Kreditermächtigung sowie die Einnahmen und Ausgaben des Haushaltsplanes stehen in einem engen Zusammenhang, sie bilden eine untrennbare Einheit. Ohne die vollständige Kreditermächtigung liegt ein unausgeglichener und damit insgesamt verfassungswidriger Haushalt vor; denn erst die verfassungswidrige Kreditermächtigung führt dazu, dass genügend Einnahmen im Haushaltsplan festgestellt sind, um alle Ausgaben tätigen zu können. Es kann zudem nicht geklärt werden, welche Ausgaben im Haushaltsplan aus Kreditmitteln und welche aus sonstigen Einnahmen getätigt werden sollen (ΜΜΜ^ΆΆΟ, Art. 115 Rn. 42; Braun Kommentar zur Verfassung des Landes Baden-Württemberg, 1984, Art. 84 Rn. 18; Schaefer Das Haushaltsgesetz jenseits der Kreditfinanzierungsgrenzen, 1996, S. 35 ff). LVerfGE 14

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Verfassungswidrig sind damit §§ 1, 3 Abs. 1 bis 6, § 6 und § 10 HG 02/03, da die genannten Vorschriften für die Haushaltsjahre 2002 und 2003 Regelungen zur Festlegung von Einnahmen und Ausgaben betreffen. Der Haushaltsgesetzgeber selbst hat diese Vorschriften als wesentlich für die Einnahmen- und Ausgabensituation der Haushalte der Jahre 2002 und 2003 erachtet. Entsprechend hat er in § 13 HG 02/03 diese Vorschriften von der Weitergeltung bis zur Verkündung des Haushaltsgesetzes 2004 ausgenommen. Nach § 45 S. 1 \^erfGHG kann der Verfassungsgerichtshof Recht, das der Verfassung von Berlin widerspricht, für nichtig oder mit der Verfassung unvereinbar erklären. Die normale Folge der Verfassungswidrigkeit einer Norm ist ihre Nichtigkeit. Die Nichtigkeit wird vom Verfassungsgerichtshof ab dem Zeitpunkt der Verkündung dieses Urteils ausgesprochen, da das Haushaltsgesetz 2002/2003 insoweit noch als Grundlage für künftige Kreditaufnahmen und Ausgaben dienen könnte. Die Gemeinwohlbelange können von den zuständigen Organen im Wege des Nothaushaltsrechts gem. Art. 89 VvB gewahrt werden. Für die Vergangenheit stellt der Verfassungsgerichtshof lediglich die Unvereinbarkeit der genannten Regelungen des Haushaltsgesetzes 2002/2003 mit der Verfassung fest, um auf ihnen beruhender, bereits erfolgter Verwaltungstätigkeit nicht die Rechtsgrundlage zu entziehen. Eingriffe in bereits abgeschlossene Tatbestände der Haushalts- und Ausgabenwirtschaft und des Haushaltsvollzugs sind im Interesse einer verlässlichen und in ihren Wirkungen kalkulierbaren Finanz-, Ausgaben- und Haushaltswirtschaft zu vermeiden (vgl. BVerfGE 72, 330, 422 f; 86, 148, 279). Diese Entscheidung ist im Ergebnis einstimmig ergangen. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 33, 34 Abs. 2 VerfGHG. Dieses Urteil ist unanfechtbar.

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Entscheidungen des Verfassungsgerichts des Landes Brandenburg

Die amtierenden Richterinnen und Richter des Verfassungsgerichts des Landes Brandenburg Dr. Peter Macke, Präsident Dr. Wolfgang Knippel, Vizepräsident Prof. Dr. Matthias Dombert Prof. Dr. Beate Harms-Ziegler Florian Havemann Dr. Sarina Jegutidse Prof. Dr. Richard Schröder Monika Weisberg-Schwarz Prof. Dr. Rosemarie Will

Ministerpräsidentenwahl: Zurückweisungeines Wahlvorschlags

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Nr. 1* Zur Frage der Antragsbefugnis und des richtigen Antragsgegners für den Fall, dass ein Vorschlag für die Wahl des Ministerpräsidenten durch den Landtagspräsidenten zurückgewiesen wird." Verfassung des Landes Brandenburg Art. 83 Abs. 1 S. 2 Geschäftsordnung des Landtages Brandenburg ξ 41 B e s c h l u s s v o m 20. F e b r u a r 2003 - V f G B b g 112/02 in dem verfassungsgerichtlichen Verfahren der Fraktion der Deutschen Volksunion im Landtag Brandenburg, vertreten durch die Vorsitzende Liane Hesselbarth — Antragstellerin gegen den Landtag des Landes Brandenburg, vertreten durch den Präsidenten — Antragsgegner — Entscheidungsformel: Der Antrag wird als unzulässig zurückgewiesen. Gründe: A. I. Gegenstand des Organstreitverfahrens ist die durch den Präsidenten des Landtages ausgesprochene Zurückweisung eines Wahlvorschlages der antragstellenden Fraktion (DVU) im Zuge der Wahl des Ministerpräsidenten im Landtag. Der damalige Ministerpräsident des Landes Brandenburg, Dr. Manfred Stolpe, hatte für Mittwoch, 26.6.2002, seinen Rücktritt als Ministerpräsident des Landes angekündigt. Tagesordnungspunkt 2 der Landtagssitzung an diesem Tag Abdruck auch in: L K V 2003, 371. Nichtamtlicher Leitsatz. LVerfGE 14

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Verfassungsgericht des Landes Brandenburg

war ein Antrag der SPD-Fraktion, Matthias Platzeck (SPD) zum Ministerpräsidenten zu wählen. Zu dieser Sitzung brachte die Antragstellerin beim Landtagspräsidenten schriftlich den Antrag ein, den brandenburgischen Innenminister und CDU-Landesvorsitzenden Jörg Schönbohm zum Ministerpräsidenten zu wählen. Dieser teilte jedoch auf Nachfrage des Präsidenten mit, er stehe als Kandidat für die Wahl nicht zur Verfügung. Unter Hinweis auf § 41 Abs. 1 Nr. 1 der Geschäftsordnung des Landtages Brandenburg (GOLT) — „Beratungsgegenstände der in § 40 bezeichneten Art soll der Präsident zurückweisen, wenn sie gegen die parlamentarische Ordnung verstoßen" — wies der Landtagspräsident darauf noch vor Beginn der Sitzung den Antrag schriftlich zurück, weil es grundlegenden demokratischen und parlamentarischen Gepflogenheiten widerspreche, Personen gegen ihren ausdrücklich erklärten Willen für eine Wahl vorzuschlagen. Nach Aufruf des entsprechenden Tagesordnungspunktes unterrichtete er das Plenum über seine Zurückweisung. Ein der Antragstellerin angehörender Abgeordneter schlug daraufhin erneut den Innenminister vor. Der Minister wiederholte im Plenum, dass er als Kandidat nicht zur Verfügung stehe, er halte den Antrag „geradezu für eine Sauerei, um es ganz einfach zu sagen, eine politische Unverschämtheit". Dieser Vorgang ist nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens. Die Antragstellerin legte nach Durchführung der Wahl gegen die Zurückweisung ihres Wahlvorschlages Beschwerde beim Landtagspräsidenten ein (§ 41 Abs. 2 GOLT), über die nach Aktenlage bisher nicht entschieden ist. II. In dem am 20.12.2002 eingeleiteten Organstreitverfahren macht die Antragstellerin geltend, die Zurückweisung ihres Wahlvorschlages durch den Präsidenten verletze ihr Vorschlagsrecht nach Art. 83 Abs. 1 S. 2 Verfassung des Landes Brandenburg (LV) sowie ihr Recht als Opposition auf Chancengleichheit gem. Art. 55 Abs. 2 S. 2 LV. Zwar sei der Präsident formell zur Zurückweisung des Wahlvorschlages befugt gewesen. Ihm habe jedoch materiell keine Verwerfungskompetenz zugestanden. Eine Zustimmung des Kandidaten zur Kandidatur sei weder in der Landesverfassung noch im Grundgesetz ausdrücklich vorgesehen. Für das Recht des Bundespräsidenten, den Bundeskanzler vorzuschlagen (Art. 63 Abs. 1 GG), werde in angesehenen Kommentaren die Auffassung vertreten, das Einverständnis eines Kandidaten sei nicht erforderlich. Ein vergleichbarer Vorschlag eines Abgeordneten nach Art. 83 Abs. 1 LV könne deshalb schwerlich gegen die parlamentarische Ordnung verstoßen. Grenze des Vorschlagsrechtes sei allein ein sich aus dem Rechtsstaatsgebot ergebendes Missbrauchsverbot, das aber bei dem Wahlvorschlag erkennbar nicht berührt sei. Es habe nicht ausgeschlossen werden können, dass bei einem — zugegeben wider Erwarten - erfolgreichen Wahlgang der Innenminister die Wahl angenommen hätte. Die Antragstellerin beantragt festzustellen:

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Ministerpräsidentenwahl: Zurückweisung eines Wahlvorschlags

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„Die Zurückweisung des Antrages und Wahlvorschlages der DVU Deutsche Volksunion, Fraktion im Landtag Brandenburg, durch den Präsidenten des Landtages Brandenburg, der Landtag möge beschließen, gem. Art. 83 Abs. 1 S. 2 BbgVerf iVm Art. 83 Abs. 1 S. 1 BbgVerf Herrn Jörg Schönbohm, MdL, als Ministerpräsident des Landes Brandenburg zu wählen, verletzt diese in ihren ihr durch die Verfassung übertragenen Rechten."

Der Antragsgegner hat innerhalb der dafür gesetzten Frist eine Stellungnahme nicht abgegeben. III. Die Landesregierung hat gem. § 37 Abs. 2 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg (VerfGGBbg) von dem Organstreitverfahren Kenntnis erhalten. B. Der Antrag der Antragstellerin ist nach dem Verfahrensgegenstand statthaft. Er zielt iSvArt. 113 Nr. 1 LV, § 12 Nr. 1 VerfGGBbg auf die Auslegung der Landesverfassung aus Anlass einer Streitigkeit über den Umfang der Rechte und Pflichten von Beteiligten, die durch die Verfassung mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Die Antragstellerin ist als Fraktion des Landtages gem. Art. 67 LV und als Opposition gem. Art. 55 Abs. 2 LV mit eigenen Rechten ausgestattet und damit zufolge § 35 iVm § 12 Nr. 1 VerfGGBbg und Art. 113 Nr. 1 LV im Organstreitverfahren beteiligtenfällig. Der Antragsgegner ist als Verfassungsorgan ebenfalls beteiligtenfähig. Die sechsmonatige Antragsfrist nach § 36 Abs. 3 VerfGGBbg ist gewahrt. Der Antrag bleibt indes ohne Erfolg. Er ist unzulässig. Es ist bereits zweifelhaft, ob ein Rechtschutzbedürfnis besteht (nachfolgend zu 1.). Jedenfalls aber ist die Antragstellerin nicht antragsbefugt (nachfolgend zu 2.). Außerdem ist der Antrag nicht gegen den richtigen Antragsgegner gerichtet (nachfolgend zu 3.). 1. Es mag dahinstehen, ob das Rechtschutzbedürfnis gegeben ist. Die Zurückweisung des Wahlvorschlages der Antragstellerin zeitigt keine rechtsrelevanten Wirkungen mehr, nachdem mit der erforderlichen Mehrheit ein anderer als Ministerpräsident gewählt worden ist. Ein Feststellungsinteresse der Antragstellerin dahingehend, dass ihr Wahlvorschlag im Landtagsplenum zur Abstimmung zu stellen oder wenigstens zu behandeln gewesen wäre, ist jedenfalls zweifelhaft. Auch für Organstreitverfahren gilt der allgemeine Prozessgrundsatz, dass die Anrufung des Gerichts ein Rechtsschutzbedürfnis voraussetzt (vgl. etwa BVerfG, Urt. v. 17.12.2001 - 2 BvE 2/00 - , http://www.bverfge.de, Abs. 83 und Beschl. v. 14.10.1992 - 2 BvE 14/90 - , BVerfGE 87, 207, 209; Clemens in: Umbach/Clemens, BVerfGG, Mitarbeiterkommentar, 1992, §§ 63, 64 Rn. 169 ff; Bethge in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG Kommentar, Stand 21. Ergänzungslieferung Juli 2002, § 64 Rn. 94 ff; Benda/Klein VerfassungsprozessLVerfGE 14

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recht, 2. Aufl. 2001, Rn. 1033). Allerdings wird man für das Organstreitverfahren das Interesse an einer grundsätzlichen verfassungsgerichtlichen Klärung ausreichen lassen müssen, wenn weitere Fälle dieser Art nicht nur theoretisch in Betracht kommen (BVerfGE 87, 207, 209; 83, 175, 181; 24, 299, 300; Vestalo^a Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 1991, § 7 Rn. 40). Ein objektiviertes grundsätzliches Interesse an einer verfassungsgerichtlichen Klärung der hier zugrunde liegenden Konstellation für künftige Fälle dieser Art ist hier eher zu verneinen. Ein vergleichbarer Wahlvorschlag für das Amt eines Regierungschefs ist in der Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, soweit ersichtlich, noch nicht vorgekommen und auch in Zukunft in dieser Form nicht zu erwarten. Freilich bleibt es der Opposition unbenommen, für die Wahl des Ministerpräsidenten einen Kandidaten zu präsentieren, der die Regierungsparteien in Verlegenheit bringt und ihr Abstimmungsverhalten auf die Probe stellt. Der vorliegende Fall wird jedoch zusätzlich dadurch geprägt, dass der von der Antragstellerin Vorgeschlagene für das Amt oder auch nur für die Kandidatur erklärtermaßen und glaubhaft gar nicht zur Verfügung stand. In dieser Ausprägung ist der zugrunde liegende Fall „einmalig" und liegt ein Wiederholungsfall fern. 2. Jedenfalls ist der Antrag unzulässig, weil die Antragstellerin als Fraktion nicht antragsbefugt ist. Es scheidet von vornherein aus, dass hier die Fraktion in eigenen Rechten aus der Landesverfassung verletzt worden ist. Sie kann sich als Fraktion wegen der Zurückweisung ihres Wahlvorschlages weder auf Art. 83 Abs. 1 S. 2 noch auf Art. 55 Abs. 2 LV berufen. Im Einzelnen: a) Die Antragsbefugnis im Organstreitverfahren ist nicht gegeben, wenn von vornherein ausgeschlossen ist, dass der Antragsgegner Rechte des Antragstellers, die gerade im Verhältnis zum Antragsgegner bestehen (BVerfGE 100, 266, 268 f; 98, 1, 69 ff; Pieroth in: Jarass/Pieroth, GG, 6. Aufl. 2002, Art. 93 Rn. 8), durch die beanstandete Maßnahme verletzt oder unmittelbar gefährdet hat (vgl. BVerfG, Beschl. v. 22.5.2001 - 2 BvE 1, 2, 3/99 - , BVerfGE 104, 14, 19 = NVwZ 2002, 70 = DVB1 2001, 1665; BVerfGE 96, 264, 276; 94, 351, 362; Benda/Kkm Verfassungsprozessrecht, 2. Aufl. 2001, Rn. 1015). Im Organstreitverfahren ist kein objektiver, sondern ein subjektiv-rechtlicher Prüfungsmaßstab anzulegen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 11.1.1995 - 2 BvE 5/94 - , BVerfGE 92, 74, 79 = NVwZ 1995, 888; Clemens in: Umbach/Clemens, BVerfGG, Mitarbeiterkommentar, 1992, §§ 63, 64 Rn. 90); das Organstreitverfahren dient der Klärung der Rechte der Staatsorgane im Verhältnis zueinander und nicht etwa einer allgemeinen Verfassungsaufsicht (vgl. BVerfGE 68, 1, 73). b) aa) Aus Art. 83 Abs. 1 S. 2 LV kann die Antragstellerin als Fraktion nichts herleiten. Nach dieser Verfassungsbestimmung ist für die Wahl des Ministerpräsidenten vorschlagsberechtigt „jeder Abgeordnete". Damit steht das \forschlagsrecht allein den einzelnen Abgeordneten zu. Eine Auslegung, nach der das Vorschlagsrecht zusätzlich auch den Fraktionen zusteht, verbietet sich. Der Wordaut LVerfGE 14

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ist eindeutig. Das Vorschlagsrecht der Abgeordneten wurde bei den Beratungen im Verfassungsausschuss des Landtages „ohne Diskussion mit großer Mehrheit angenommen" (Ausschussprotokoll Unterausschuss II v. 10.4.1991, Dokumentation Verfassung des Landes Brandenburg Bd. 2, S. 844). In den weiteren Beratungen wurde im Zusammenhang mit der Wahl des Ministerpräsidenten lediglich noch erörtert, ob, wie in Anlehnung an die Landesverfassung Nordrhein-Westfalen zunächst vorgeschlagen, der Ministerpräsident vom Landtag „aus seiner Mitte" zu wählen sei (Ausschussprotokoll Unterausschuss II v. 14.1.1992, Dokumentation Verfassung des Landes Brandenburg Bd. 2, S. 1001). Die Frage, ob auch Fraktionen berechtigt sein sollten, Vorschläge bei der Wahl des Ministerpräsidenten zu machen, ist, soweit ersichtlich, nicht zur Sprache gekommen. Auch eine systematische Auslegung spricht dafür, dass das Vorschlagsrecht für die Wahl des Ministerpräsidenten allein bei den einzelnen Abgeordneten liegt. Die Landesverfassung nimmt die Fraktionen — anders als z.B. das Grundgesetz — ausdrücklich zur Kenntnis (vgl. etwa Art. 67 Abs. 1 S. 2 und 3 LV). Hiervon unabhängig werden in der Landesverfassung die Rechte der Abgeordneten festgelegt, die allein ihnen und nicht etwa auch zugleich den Fraktionen zustehen (vgl. etwa Art. 56 bis 60 LV). Ferner lässt die Landesverfassung bei Wahlen im parlamentarischen Raum teils offen, wem das Vorschlagsrecht zusteht, teils trifft sie hierzu eine präzise Regelung. So bleibt für die Wahl des Landesbeauftragten für Datenschutz und weiterer Beauftragter (Art. 74 Abs. 1 und 2 LV), für die Wahl der Mitglieder des Landesrechnungshofes (Art. 107 Abs. 2) und für die Wahl der Verfassungsrichter (Art. 112 Abs. 4 LV) offen, wer aus dem Landtag heraus den Wahlvorschlag unterbreitet. Demgegenüber werden nach Art. 109 Abs. 2 LV die Präsidenten der oberen Landesgerichte vom parlamentarischen Richterwahlausschuss „auf Vorschlag der Landesregierung" gewählt. Auch von daher ist es wörtlich zu nehmen, dass für die Wahl des Ministerpräsidenten „jeder Abgeordnete" — und nur jeder Abgeordnete - vorschlagsberechtigt ist. Auch Sinn und Zweck der Regelung sprechen dafür, dass die Landesverfassung das Vorschlagsrecht ausschließlich den Abgeordneten zuweist. Die Vorschrift berührt das Spannungsverhältnis zwischen der Freiheit des Abgeordnetenmandates und der Einordnung in die Fraktionsdisziplin (vgl. BVerfGE 102, 224, 239). Ein Vorschlagsrecht der Fraktion neben dem des einzelnen Abgeordneten würde in diesem Verhältnis mit dem freien Abgeordnetenstatus in Konflikt geraten (vgl. etwa: Arndt in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 21 Rn. 37). Vor diesem Hintergrund erscheint Art. 83 Abs. 1 S. 2 LV als Ausprägung des freien Abgeordnetenmandates. Die hier vorgenommene Beurteilung gerät nicht in Widerspruch dazu, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Eigenschaft als Verfassungsgericht des Landes Schleswig-Holstein (vgl. Art. 99 GG) für die Schleswig-Holsteinische Landesverfassung den Landtagsfraktionen eigene Rechte nach der dortigen LV bei der Wahl des Ministerpräsidenten zuerkannt hat (vgl. BVerfGE 27, 44, 51). LVerfGE 14

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Die Schleswig-Holsteinische Landesverfassung kennt - wie auch die Verfassungen anderer deutscher Länder - keine Art. 83 Abs. 1 S. 2 LV entsprechende Bestimmung. bb) Die Antragstellerin handelt hier auch nicht etwa mit Wirkung für ihre Mitglieder. Die Regelung des § 36 Abs. 1 VerfGGBbg, derzufolge ein Antragsteller auch geltend machen kann, dass das Organ, dem er angehört, in bestimmten Rechten verletzt ist, lässt sich nicht dahin verkehren, dass ein Organ des Landtages (hier: die Fraktion) auch die Rechte geltend machen kann, die die Landesverfassung ihren Mitgliedern als Abgeordneten zuweist (VerfGH des Saarlandes, Urt. v. 31.10.2002 - 2 Lv 2/02 NVwZ-RR 2003, 81). Die Abgeordneten der Antragstellerin müssen deshalb eine etwaige Verletzung ihres Rechtes aus Art. 83 Abs. 1 S. 2 LV jeweils für sich im Wege einer Organklage geltend machen. Eine gewillkürte Prozessstandschaft, aufgrund derer es der einzelne Abgeordnete seiner Fraktion überlassen würde, die ihm als Abgeordnetem zustehenden Rechte wahrzunehmen, sieht das Brandenburgische Verfassungsgerichtsgesetz nicht vor (vgl. zur Problematik Jarass/Pieroth GG, 6. Aufl., Art. 93 Rn. 11 a.E.). Unbeschadet der von der Rechtslehre nicht abschließend geklärten Rechtsnatur der Fraktion (vgl. Zeh in: HbStR II, 2. Aufl. 1998, § 42 Rn. 8; Schönberger Die Rechtsstellung der Parlamentsfraktionen, 1990, S. 187: „juristisch exakte Fesdegung nicht möglich", S. 226: „körperschaftlich organisierte Personenvereinigung") können Fraktionen allein eigene Rechte sowie Rechte des Parlamentes wahrnehmen. Sachwalter der Rechte der einzelnen, ihr angehörenden Abgeordneten sind sie nicht. Sofern die Geschäftsordnung der Antragstellerin eine Ermächtigung zur Wahrnehmung der Abgeordnetenrechte enthalten sollte, wäre dies in dem vorliegenden Verfahren unbeachtlich. Nach § 36 Abs. 1 VerfGGBbg geht es im Organstreitverfahren allein um die dem Beteiligten „durch die Verfassung" übertragenen Rechte und Pflichten (vgl. auch BVerfGE 84, 290, 297; 60, 374, 379; Pieroth in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 93 Rn. 8, 18; Pestalo^a Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 1991, § 7 Rn. 13). cc) Auch eine Auslegung des Antrages als Antrag einzelner Abgeordneter scheidet aus. In der Antragsschrift der — anwaltlich vertreten - Antragstellerin wird eindeutig nur von der Fraktion als Antragstellerin gesprochen. Die Fraktion war es auch, die im Landtag den in Rede stehenden Antrag eingebracht hat. dd) Soweit nach der parlamentarischen Praxis das Vorschlagsrecht bislang nicht von einzelnen Abgeordneten, sondern von Fraktionen ausgeübt worden sein sollte, könnte dies nichts daran ändern, dass das Vorschlagsrecht für die Wahl des Ministerpräsidenten nach der Landesverfassung allein den einzelnen Abgeordneten zusteht. c) Soweit die Antragstellerin auch das Recht auf Chancengleichheit der Opposition (Art. 55 Abs. 2 S. 2 LV) verletzt sieht, kommt diesem Recht gegenüber LVerfGE 14

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dem Recht aus Art. 83 Abs. 1 S. 2 LV keine weitergehende Bedeutung zu. Bei der Wahl des Ministerpräsidenten hat jeder Abgeordnete gleichermaßen und unabhängig von Partei- oder Fraktionszugehörigkeit das Recht, Kandidaten für die Wahl vorzuschlagen. Der allgemeine Grundsatz der Chancengleichheit und des Schutzes der parlamentarischen Minderheit wird hier durch die spezielle Vorschrift des Art. 83 Abs. 1 S. 2 LV sichergestellt. 3. Der Antrag ist ferner ersichtlich gegen den falschen Antragsgegner gerichtet. Da eine Maßnahme des Parlamentspräsidenten in Frage steht, hätte das Organstreitverfahren gegen diesen gerichtet werden müssen und nicht gegen den Landtag als Ganzen gerichtet werden dürfen. a) Gegen wen die Organklage zu richten ist, hängt davon ab, wer für die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung die „rechtliche Verantwortung" (BVerfGE 67, 100, 126) trägt. Ob der Beteiligte seinerseits in Wahrnehmung ihm von der Verfassung zugewiesener eigener Befugnisse oder als Hilfs- oder Unterorgan eines „Gesamtorgans" — etwa des Parlaments — tätig geworden ist, spielt dabei keine Rolle (vgl. BVerfG, Urt. v. 8.4.2002 - 2 BvE 2/01 - , http://www.bverfg.de, Abs. 95, 97). Es kommt allein darauf an, wer die beanstandete Maßnahme selbst zu verantworten hat. Wenn das Parlament bestimmte Aufgaben auf parlamentarische Institutionen — wie hier mit § 41 Abs. 1 Nr. 1 GOLT die Zurückweisung von Beratungsgegenständen (wegen Verstoßes gegen die parlamentarische Ordnung) auf den Landtagspräsidenten — überträgt, begründet es eine „neue, eigene Zuständigkeit des Delegatars" (Klein in: Maunz/Dürig, GG, Art. 40 Rn. 102). Kraft der Übertragung übt das Unterorgan die Kompetenz unabhängig und in eigener Verantwortung aus (Klein aaO; Schneider in: FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, S. 635). Folglich ist, wenn eine Maßnahme des Landtagspräsidenten beanstandet wird, das Organstreitverfahren gegen ihn und nicht gegen den Landtag zu richten (BVerfGE 60, 374, 379; Klein aaO, Rn. 104). Eine davon zu unterscheidende Frage ist, ob es im Rahmen einer gegen den Landtag gerichteten Organklage dem Landtag zuzurechnen ist, wenn der Landtagspräsident nicht tätig geworden ist (so der vom VerfGH RP durch Urt. v. 19.8.2002 entschiedene Fall, in: NVwZ 2003, 75). b) Hiernach scheidet nach Lage des Falles eine Verletzung der Antragstellerin in ihren Rechten durch den von ihr als Antragsgegner in Anspruch genommenen Landtag Brandenburg offensichtlich aus. Der Antrag richtet sich unumdeutbar gegen „den Landtag Brandenburg vertreten durch den Präsidenten". Tätig geworden ist jedoch nicht der Landtag als Ganzer, sondern der Präsident des Landtages. Eine Abstimmung im Plenum oder eine Befassung des Plenums hat gerade nicht stattgefunden. Ob sich das Plenum mit der Sache befassen solle, ist im Parlament nicht erörtert worden. Die Antragstellerin geht auch ihrerseits davon aus, dass allein der Landtagspräsident und dass er formell in eigener Zuständigkeit in Erscheinung getreten ist. LVerfGE 14

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c) Eine Berichtigung des Passivrubrums von Amts wegen kommt nicht in Betracht. Die Bezeichnung des Antragsgegners ist eindeutig und nicht auslegungsfähig. Das Gericht darf einen klar bezeichneten Antragsgegner nicht gegen einen anderen austauschen. Dass die Antragstellerin versehentlich den Landtag statt des Landtagspräsidenten benannt hat, scheidet aus. In einem anderen, vor nicht allzu langer Zeit entschiedenen Organstreitverfahren (VfGBbg 46/00, Urt. v. 28.3.2001, LVerfGE Suppl. Bbg. zu Bd. 12, 9) hat sie zwischen Landtag und Präsidenten sehr wohl unterschieden. Eine Prozessstandschaft käme allein auf Seiten des Antragstellers, nicht jedoch auf Seiten des Antragsgegners in Betracht (vgl. Bethge 'm·. Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG Kommentar, Stand 21. Ergänzungslieferung Juli 2002, § 64 Rn. 93). C. Das Landesverfassungsgericht hat einstimmig eine mündliche A^erhandlung für nicht erforderlich gehalten (vgl. § 22 Abs. 1 VerfGGBbg). Eines Hinweises auf die Gründe für die Verwerfung des Antrages unter dem Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs bedurfte es nicht. Sie liegen auf der Hand. Der letztlich ausschlaggebende Gesichtpunkt, dass eine Rechtsverletzung der Antragstellerin als Fraktion ausscheidet, weil nach Art. 83 Abs. 1 S. 2 LV das Vorschlagsrecht für die Wahl des Ministerpräsidenten allein bei den einzelnen Abgeordneten liegt, wird bereits — wenn auch mit anderer Tendenz — in der Antragsschrift selbst angesprochen, indem es dort heißt, es sei „für die Antragsbefugnis unerheblich", dass Art. 83 Abs. 1 S. 2 LV „wörtlich nur von einem Vorschlagsrecht jedes Abgeordneten" spreche. Für eine Umstellung des Antrages auf den richtigen Antragsgegner ist es — und war es schon wenige Tage nach Eingang des Antrages am 20.12.2002 — wegen Ablaufs der 6-Monats-Frist des § 36 Abs. 3 VerfGGBbg am 27.12.2002 zu spät. Für die von dem Verfahrensbevollmächtigten des Antragsgegners erbetene Bewilligung einer weiteren Frist zur Stellungnahme hat das Landesverfassungsgericht keinen Anlass gesehen.

Nr.

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1. Die Änderungen des brandenburgischen Kindertagesstättengesetzes, denen zufolge die kreisangehörigen Gemeinden für den Rechtsanspruch auf einen Kindertagesstättenplatz einzustehen sowie für ein beAbdruck auch in: LKV 2003, 372; DVB1 2003, 938; Mitt StGB 2003, 235; G\^B1 2003 I, 159 (nur Entscheidungsformel). LVerfGE 14

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datfsgerechtes Angebot an Kita-Plätzen zu sorgen haben, laufen unter Mitberücksichtigung der Folgeregelungen der Sache nach auf eine teilweise Übertragung der Trägerschaft für Jugendhilfeaufgaben, nämlich für die Betreuung von Kindern in Tageseinrichtungen, hinaus. Die betreffenden Regelungen sind in dieser Ausgestaltung von der Gesetzgebungskompetenz des Landes nicht gedeckt. Zu demselben Ergebnis führt, dass sich der Rechtsanspruch auf einen Kindertagesstättenplatz der Sache nach zufolge § 3 Abs. 2 iYm § 24 SGB VIII gegen die Landkreise (und kreisfreien Städte) richtet. Auch von daher war es dem Landesgesetzgeber verwehrt, die kreisangehörigen Gemeinden diesem Anspruch auszusetzen. 2. „Trägerschaft" (hier: iSd Achten Buches des Sozialgesetzbuches SGB VIII) wird wesentlich durch das rechtliche Einstehenmüssen nach außen geprägt. Grundgesetz Art. 72; 74 Abs. 1 Nr. 7; 84 Abs. 1; 100 Abs. 1 Verfassung des Landes Brandenburg Art. 2 Abs. 5; 97 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg § 41 Satz 2 Achtes Buch des Sozialgesetzbuches §§ 3 Abs. 2 Satz 2; 24; 69; 79; 85 Kindertagesstättengesetz §§ 12; 16; 16a; 18 Urteil v o m 20. März 2003 - V f G B b g 54/01 in den kommunalen Verfassungsbeschwerdeverfahren 1. der Stadt Uebigau-Wahrenbrück, vertreten durch den Bürgermeister — Beschwerdeführerin zu 1. — 2. der Gemeinde Nuthe-Urstromtal, vertreten durch den Bürgermeister — Beschwerdeführerin zu 2. — betreffend Art. 3 Nr. 3 und 4 des Gesetzes zur Beseitigung des strukturellen Ungleichgewichts im Haushalt (Haushaltsstrukturgesetz 2000 - HStrG 2000) vom 28. Juni 2000 (GVB1. I S. 90), Art. 1 Nr. 10, 14, 15 und 17 des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Kindertagesstättengesetzes (2. KitaAndG) vom 7. Juli 2000 (GVB1. I S. 106) und Art. 2 des Gesetzes zur Beseitigung des strukturellen Ungleichgewichts im Haushalt (Haushaltsstrukturgesetz 2002 - HStrG 2002) vom 18. Dezember 2001 (GVB1. I S. 316). Entscheidungsformel: 1. Art. 3 Nr. 3 des Gesetzes zur Beseitigung des strukturellen Ungleichgewichts im Haushalt (Haushaltsstrukturgesetz 2000 - HStrG 2000) vom 28. Juni 2000 (GVB1. I S. 90) und Art. 1 Nr. 10 a) des Zweiten Gesetzes zur Änderung des LVerfGE 14

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Kindertagesstättengesetzes (2. KitaÄndG) vom 7. Juli 2000 (GVB1. I S. 106) betreffend § 12 Abs. 1 KitaG - sowie Art. 1 Nr. 10 c) S. 1 und 2 und Nr. 10 d) 2. KitaÄndG - betreffend § 12 Abs. 3 S. 1 und 2 und Abs. 4 KitaG - und Art. 1 Nr. 14 2. KitaÄndG — soweit § 16 Abs. 4 KitaG betreffend - sind wegen Verletzung der Beschwerdeführerinnen zu 1. und 2. in ihrem Recht auf Selbstverwaltung mit der Landesverfassung unvereinbar. 2. Weiter sind Art. 3 Nr. 4 HStrG 2000 und Art. 1 Nr. 14 2. KitaÄndG soweit § 16 Abs. 1 bis 3 und 5 KitaG betreffend - sowie Art. 1 Nr. 15 2. KitaÄndG und Art. 2 des Gesetzes zur Beseitigung des strukturellen Ungleichgewichts im Haushalt (Haushaltsstrukturgesetz 2002 — HStrG 2002) vom 18. Dezember 2001 (GVB1. I S. 316) - betreffend § 16a KitaG - und Art. 1 Nr. 17 2. KitaÄndG — betreffend § 18 KitaG — wegen Verletzung der Beschwerdeführerin zu 2. in ihrem Recht auf Selbstverwaltung mit der Landesverfassung unvereinbar. 3. Die als unvereinbar mit der Landesverfassung festgestellten Regelungen bleiben bis zum Ablauf des 31. Dezember 2003 in Geltung. 4. Das Land Brandenburg hat den Beschwerdeführerinnen die in dem kommunalen \^erfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten. Gründe: A. Die Beschwerdeführerinnen wenden sich gegen Änderungen des Zweiten Gesetzes zur Ausführung des Achten Buches des Sozialgesetzbuches - Kinderund Jugendhilfe - Kindertagesstättengesetz (KitaG) vom 10.6.1992 (GVB1. I S. 178), denen zufolge sich der Rechtsanspruch auf Erziehung, Bildung, Betreuung und Versorgung in einer Kindertagesstätte gegen die Gemeinden richtet und den Gemeinden die Verpflichtung zur Bereitstellung von Plätzen für die Kindertagesbetreuung und zu finanziellen Zuschüssen auferlegt wird. I. Durch das Gesetz zur Beseitigung des strukturellen Ungleichgewichts im Haushalt (Haushaltsstrukturgesetz 2000 - HStrG 2000) vom 28.6.2000 (GVBL I S. 90) wurde der in § 1 KitaG verankerte Rechtsanspruch wie folgt neu gefasst: §1 Rechtsanspruch (1) Die Kindertagesbetreuung gewährleistet die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und dient dem Wohl und der Entwicklung der Kinder. (2) Kinder vom vollendeten zweiten Lebensjahr bis zur Versetzung in die fünfte Schuljahrgangsstufe haben einen Rechtsanspruch auf Erziehung, Bildung, Betreuung und Versorgung in Kindertagesstätten. Kinder bis zum vollendeten LVerfGE 14

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zweiten Lebensjahr und Kinder der fünften und sechsten Schuljahrgangsstufe haben einen Rechtsanspruch, wenn ihre familiäre Situation, insbesondere die Erwerbstätigkeit, die häusliche Abwesenheit wegen Erwerbssuche, die Aus- und Fortbildung der Eltern oder ein besonderer Erziehungsbedarf Tagesbetreuung erforderlich macht. (3) Der Anspruch nach Absatz 2 ist für Kinder im Alter bis zur Einschulung mit einer Mindestbetreuungszeit von sechs Stunden und für Kinder im Grundschulalter mit einer Mindestbetreuungszeit von vier Stunden erfüllt. Längere Betreuungszeiten sind zu gewährleisten, wenn die familiäre Situation des Kindes, insbesondere die Erwerbstätigkeit, die häusliche Abwesenheit wegen Erwerbssuche, die Aus- und Fortbildung der Eltern oder ein besonderer Erziehungsbedarf, dies erforderlich macht. Für Kinder bis zur Vollendung des zweiten Lebensjahres kann der Anspruch vorrangig durch Tagespflege erfüllt werden.

Der Anspruch nach § 1 KitaG richtete sich gem. § 12 Abs. 1 KitaG a.F. gegen den örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe und somit — gem. § 69 Abs. 1 S. 2 des Achten Buches des Sozialgesetzbuches - Kinder- und Jugendhilfe - (SGB VIII) — gegen die Kreise und kreisfreien Städte. Durch Art. 3 Nr. 3 HStrG 2000 wurde § 12 Abs. 1 KitaG neu gefasst. Weiter wurde durch Art. 1 Nr. 10 a) des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Kindertagesstättengesetzes (2. KitaÄndG) vom 7.7.2000 (GVB1. I S. 106) § 12 Abs. 1 S. 4 KitaG angefügt. Zugleich wurde durch Art. 1 Nr. 10 c) und d) 2. KitaÄndG § 12 Abs. 3 und 4 KitaG neu gefasst. § 12 KitaG lautet nun: §12 Gewährleistung eines bedarfsgerechten Angebots (1) Der Anspruch nach § 1 richtet sich gegen die Gemeinde, in der das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Ist die Gemeinde eine amtsangehörige Gemeinde, richtet sich, wenn mehrere Gemeinden des Amtes die Aufgabe auf das Amt übertragen haben, der Anspruch nicht mehr gegen diese Gemeinden, sondern gegen das Amt. Die Gemeinde oder das Amt (Leistungsverpflichteter) ist verpflichtet, für ein bedarfsgerechtes Angebot an Plätzen in Tageseinrichtungen, Tagespflege oder anderer geeigneter Form zu sorgen. Die Feststellung eines Anspruchs aufgrund eines besonderen Erziehungsbedarfs gem. § 1 erfolgt im Benehmen mit dem örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe, in dessen Zuständigkeitsbereich das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. (2)

...

(3) Der Leistungsverpflichtete hat im Benehmen mit den Trägern der Einrichtungen die zur Erfüllung der Verpflichtung nach § 1 erforderlichen Angebote rechtzeitig zu planen. Bei der Planung der Angebote sind die Erreichbarkeit der Einrichtung und das Wahlrecht nach § 5 des Achten Buches des Sozialgesetzbuches zu beachten. Ein Minderheitenschutz ist zu gewährleisten. Träger und Personal der Einrichtung sind zur Toleranz und zum Respekt der unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Einstellungen der Kinder und ihrer Eltern verpflichtet. Bei Bedarf müssen Einrichtungen für alle Kinder unabhängig von ihrem religiösen und weltanschaulichen Hintergrund offen stehen, insbesondere dann, wenn nur eine Kindertagesstätte in erreichbarer Nähe ist. LVerfGE 14

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Verfassungsgericht des Landes Brandenburg (4) Der örtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe unterstützt die Leistungsverp Sichteten bei ihrer Planung und berät die Leistungsverpflichteten, die Träger der Einrichtungen und die Fachkräfte der Kindertagesbetreuung in allen Fragen der Sicherstellung und Qualifizierung des bedarfsgerechten Angebotes. Unter Berücksichtigung der Planungen der Leistungsverpflichteten nimmt der örtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe seine Planungsverantwortung gem. § 80 des Achten Buches des Sozialgesetzbuches im Benehmen mit den Leistungsverpflichteten und den Trägem der Einrichtungen wahr, stellt einen Bedarfsplan für die Kindertagesbetreuung auf und schreibt ihn fort. Einrichtungen sind in den Bedarfsplan aufzunehmen, wenn sie erforderlich sind und um dem Wunsch- und Wahlrecht der Eltern gem. § 5 des Achten Buches des Sozialgesetzbuches zu entsprechen.

A u ß e r d e m wurde durch Art. 3 Nr. 4 HStrG 2000 § 16 KitaG geändert. Diese Änderungen traten gem. Art. 22 HStrG 2000 am 1.7.2000 in Kraft. Die Neufassung des § 12 Abs. 1 KitaG trat gem. Art. 22 HStrG 2000 hingegen am 1.1.2001 in Kraft. Durch Art. 1 Nr. 14 und 17 des 2. K i t a A n d G wurden die § § 1 6 und 18 KitaG wie folgt neu gefasst: §16 Finanzierung der Kindertagesbetreuungsangebote (1) Die Kosten der Kindertagesbetreuung werden durch Eigenleistungen des Trägers, durch Elternbeiträge sowie durch Zuschüsse des Leistungsverpflichteten gedeckt. Zuschüsse und Zuweisungen an die Leistungsverpflichteten, die zur Sicherstellung des bedarfsgerechten Angebotes dienen, sind zweckgebunden für die Kindertagesbetreuung zu verwenden. Das Land kann den Nachweis der zweckgebundenen Verwendung von den Leistungsverpflichteten verlangen. Ortlich zuständig für die Gewährung der Zuschüsse nach Absatz 2 ist der Leistungsverpflichtete, in dessen Zuständigkeitsbereich die Einrichtung gelegen ist. Erfolgt eine Unterbringung grundsätzlich oder in ihrem zeitlichen oder qualitativen Umfang aufgrund der §§ 27, 35a des Achten Buches des Sozialgesetzbuches oder der §§ 39, 40 des Bundessozialhilfegesetzes, so trägt der nach diesen Vorschriften Verpflichtete die hierdurch entstehenden Mehrkosten. (2) Der Leistungsverpflichtete gewährt dem Träger der Kindertagesstätte einen Zuschuss pro belegtem Platz von mindestens 84 vom Hundert der Kosten des notwendigen pädagogischen Personals der Einrichtung, das erforderlich ist zur Sicherstellung der Leistungsverpflichtung gem. § 1. Dieser Zuschuss wird nur gewährt für die Anzahl des tatsächlich beschäftigten pädagogischen Personals. Bemessungsgröße sind die Durchschnittssätze der jeweils gültigen Vergütungsregelung. Der Leistungsverpflichtete soll für den Träger einer nach dem Bedarfsplan gem. § 12 Abs. 4 S. 3 erforderlichen Einrichtung, der auch bei sparsamer Betriebsführung und nach Ausschöpfung aller zumutbaren Einnahmemöglichkeiten aus dem Betrieb der Einrichtung nicht in der Lage ist, die Einrichtung weiterzuführen, den Zuschuss erhöhen. Soweit einem Träger vor dem 1. Januar 2001 Grundstück und Gebäude zur Verfügung gestellt wurden und die Gemeinde hierfür die Bewirtschaftungs- und Erhaltungskosten gem. § 16 Abs. 3 S. 1 des Kindertagesstättengesetzes vom 10. Juni 1992 (ΟλΈΙ. I S. 178) in der Fassung des Gesetzes vom 17. Dezember 1996 (GVB1. I S. 358) getragen hat, sind LVerfGE 14

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diese Kosten weiterhin bis zum 31. Dezember 2001 von der Gemeinde zu tragen, auch wenn die Einrichtung nicht nach dem Bedarfsplan gem. § 12 Abs. 4 S. 3 erforderlich ist. Dies gilt nicht, wenn anders lautende vertragliche Regelungen bestehen oder die Einrichtung nicht mehr oder nicht mehr in diesem Umfang betrieben wird. (3) Die Kosten einer Tagespflegesteile werden nach Maßgabe des § 18 durch den Leistungsverp dichteten getragen. (4) Beanspruchen Kinder die Aufnahme in eine Einrichtung außerhalb des Zuständigkeitsbereiches des Leistungsverpflichteten, so hat dieser der aufnehmenden Gemeinde oder dem aufnehmenden Amt einen angemessenen Kostenausgleich zu gewähren. (5) Das Land beteiligt sich an den Kosten der Kindertagesbetreuung. In den Jahren 2001 und 2002 stellt das Land jährlich zweckgebunden den Leistungsverpflichteten den Betrag von 252 000 000 Deutschen Mark zur Finanzierung der Kindertagesbetreuung zur Verfügung. In den Folgejahren wird dieser Betrag im Zwei-Jahres-Rhythmus der Kinderzahl und der Personalkostenentwicklung sowie dem Umfang des Tagesbetreuungsangebotes angepasst. Für die Verteilung dieses Betrages werden die Zahlen der Kinder im Alter bis zur Vollendung des zwölften Lebensjahres gemäß der amtlichen Statistik des Landesbetriebes für Datenverarbeitung und Statistik Brandenburg zum Stichtag 31. Dezember des jeweils vorletzten Jahres angesetzt. §18 Förderung der Tagespflege (1) Wird eine geeignete Tagespflegeperson durch den Leistungsverpflichteten vermittelt und ist die Förderung des Kindes in Tagespflege für sein Wohl geeignet und erforderlich oder wird eine selbst organisierte Tagesbetreuung nachträglich als geeignet und erforderlich anerkannt, so übernimmt der Leistungsverpflichtete die entstehenden Aufwendungen einschließlich der Abgeltung des Erziehungsaufwandes. (2) § 17 ist mit der Maßgabe anzuwenden, dass die Elternbeiträge und das Essengeld vom Leistungsverpflichteten festgesetzt und erhoben werden. (3) Zwischen der Tagespflegeperson, den Personensorgeberechtigten und dem Leistungsverpflichteten sind jeweils die Rechte und Pflichten, die sich aus der Tagespflege ergeben, vertraglich zu regeln, insbesondere 1.

die Erstattung der Aufwendungen, einschließlich der Abgeltung des Erziehungsaufwandes,

2.

der Abschluss einer Unfall- und Haftpflichtversicherung für Schäden, die im Zusammenhang mit der Tagespflege eintreten können,

3.

der Betreuungsumfang.

(4) Die Tagespflegepersonen sollen vom örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe fachlich beraten werden.

Das 2. KitaAndG trat am 1.1.2001 in Kraft. § 16a KitaG, eingefügt durch Art. 1 Nr. 15 des 2. KitaAndG, wurde durch Art. 2 des Gesetzes zur Beseitigung LVerfGE 14

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des strukturellen Ungleichgewichts im Haushalt (Haushaltsstrukturgesetz 2002 HStrG 2002) vom 18.12.2001 (GVB1. I S. 316), in Kraft getreten am 1.1.2002, wie folgt neu gefasst: §16 a Übergangsregelung zur Finanzierungsbeteiligung des örtlichen Trägers der öffentlichen Jugendhilfe Der örtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe beteiligt sich an den Kosten der Kindertagesbetreuung durch einen Zuschuss an die Leistungsverpflichteten. Die Höhe dieses Zuschusses entspricht dem Betrag, der von dem örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe für die Finanzierung der Kindertagesbetreuung im Jahr 1999 aufgewandt wurde. Die im Jahr 1999 von den Städten Eisenhüttenstadt und Schwedt als örtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe für die Finanzierung der Kindertagesbetreuung aufgewendeten Beträge sind den jeweils zuständigen örtlichen Trägern der Jugendhilfe zuzurechnen. Für die Verteilung dieses Betrages werden die Zahlen der Kinder im Alter bis zur Vollendung des 12. Lebensjahres gem. der jeweils aktuellen amtlichen Statistik des Landesbetriebes für Datenverarbeitung und Statistik zum Stichtag 31. Dezember des jeweils vorletzten Jahres angesetzt. Der örtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe kann diesen Betrag abweichend von S. 4 einsetzen, um seiner Verpflichtung gem. § 2 Abs. 1 der Landkreisordnung Rechnung zu tragen. Diese Regelung gilt bis zum 31. Dezember 2003.

II. 1. Die Beschwerdeführerin zu 1. wendet sich mit ihrer am 3.11.2001 erhobenen Verfassungsbeschwerde gegen die Neufassung der §§ 12 Abs. 1 und 16 Abs. 4 KitaG. Sie unterhält derzeit zwei Kindertagesstätten. Sie macht geltend: Eine Verletzung des durch Art. 97 Verfassung des Landes Brandenburg (LV) gewährleisteten Rechts auf kommunale Selbstverwaltung in Gestalt der Gebiets-, Finanz-, Planungs- und Personalhoheit ergebe sich schon daraus, dass sie mit der Errichtung und dem Betrieb von Kindertageseinrichtungen bisher eine freiwillige Selbstverwaltungsaufgabe wahrgenommen habe, nun aber zur Bereitstellung von Kindertageseinrichtungen als pflichtige Selbstverwaltungsaufgabe gezwungen werde, womit ein höherer Verwaltungsaufwand und weitere Kosten verbunden seien. Im Jahre 2001 hätten 41 Kinder aus ihrem Gemeindegebiet Kindertagesstätten von Nachbargemeinden besucht. Sie habe hierfür rund 134.000 DM zu erstatten. Dem Land Brandenburg fehle die Gesetzgebungskompetenz für die angegriffenen Regelungen. Der Landesrechtsvorbehalt in § 69 Abs. 5 S. 4 SGB VIII decke nicht die Übertragung der LeistungsVerpflichtung auf die Gemeinden in § 12 Abs. 1 KitaG. Die Kinder- und Jugendhilfe sei als Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung gem. Art. 71 Abs. 1 Nr. 7 Grundgesetz (GG) iVm Art. 72 Abs. 1 GG mit der insoweit abschließenden Regelung in §§ 69, 79 SGB VIII einer landesgesetzlichen Regelung entzogen. Das Regel-Ausnahmeverhältnis der AufLVerfGE 14

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gabenwahrnehmung werde verkehrt. Die bisher durch die Rechtsprechung entschiedenen Fälle seien nicht vergleichbar, da den Gemeinden dort — anders als hier — lediglich eine Mitwirkung bei der Sicherstellung der Betreuung in Kindertagesstätten abverlangt, nicht jedoch die Kindertagesbetreuung als Ganzes und in alleiniger Verantwortung übertragen werde. Auch für § 16 Abs. 4 KitaG fehle die Gesetzgebungskompetenz, da es sich um Folgeregelungen zu § 12 Abs. 1 KitaG handele. Für die Übertragung der Betreuung in Kindertagesstätten auf die Gemeinden als pflichtige Selbstverwaltungsaufgabe seien hinreichende Gründe des öffentlichen Wohls nicht zu erkennen. Im Übrigen hätten die Gemeinden kaum Möglichkeiten, an der Bedarfsplanung mitzuwirken, so dass letztlich Planungsverantwortung und Aufgaben- und Finanzierungsverantwortung auseinander fielen. § 16 Abs. 4 KitaG führe dazu, dass eine Gemeinde auch dann, wenn sie für sämtliche Kinder der Gemeinde Kindertagesplätze vorhalte, Kindertagesstättenplätze in Nachbargemeinden mitfinanzieren müsse. Damit werde zugleich in die Planungshoheit der Gemeinden eingegriffen. Die Beschwerdeführerin zu 1. beantragt festzustellen, dass 1.

§ 12 Abs. 1 Kindertagesstättengesetz vom 10.6.1992 (GVB1. I S. 178) in der Fassung des Art. 3 Haushaltsstrukturgesetz 2000 vom 28.6.2000 (GVB1. 1 S. 90) und des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Kindertagesstättengesetzes vom 7.7.2000 (GVB1. I S. 106) und

2.

§ 16 Abs. 4 Kindertagesstättengesetz vom 10.6.1992 (GVB1. I S. 178) in der Fassung des Art. 3 Haushaltsstrukturgesetz 2000 vom 28.6.2000 (GVB1. I S. 90) und des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Kindertagesstättengesetzes vom 7.7.2000 (GVB1. I S. 106)

ihr Recht auf Selbstverwaltung nach Art. 97 Abs. 1 S. 1 der Verfassung des Landes Brandenburg verletzen. 2. Die Beschwerdeführerin zu 2. wendet sich mit ihrer am 24.12.2001 erhobenen Verfassungsbeschwerde gegen die Neufassung der §§ 12 Abs. 1, 16, 16a und 18 KitaG. Sie unterhält derzeit 8 Kindertagesstätten, in denen 345 Kinder betreut werden. 20 Kinder besuchen Kindertagesstätten in Nachbargemeinden. Nach den Angaben der Beschwerdeführerin zu 2. sind im Jahre 2001 183.000,00 DM als Kostenausgleich an Nachbargemeinden gezahlt und 143.000,00 DM von anderen Gemeinden erstattet worden. Die Beschwerdeführerin zu 2. teilt die rechtlichen Bedenken der Beschwerdeführerin zu 1. und macht ergänzend geltend, dass sich die Aufgabenübertragung (auch) als unzulässiger Eingriff in die Finanzhoheit darstelle, da sie geeignet sei, die finanzielle Basis der Selbstverwaltung auszuhöhlen. Die Kostentragungsregelung in § 16 Abs. 2 und 3 iVm § 18 KitaG stelle sich als Folgeregelung der Aufgabenübertragung dar und könne deshalb ebenfalls keinen Bestand haben. Die Kostenerstattungsregelung des § 16 Abs. 5 KitaG verstoße gegen Art. 97 Abs. 3 LVcrfGE 14

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S. 2 und 3 LV, da kein voller Kostenausgleich, sondern lediglich ein der Höhe nach begrenzter Zuschuss vorgesehen werde. Das Nämliche gelte für § 16a KitaG. Es fehle an einer den Anforderungen des Art. 97 Abs. 3 S. 2 und 3 LV genügenden gesetzgeberischen Prognose über die den Gemeinden entstehenden Kosten und den daraus resultierenden Umfang der Kostenerstattung seitens des Landes. Die Beschwerdeführerin zu 2. beantragt festzustellen, dass die §§ 12 Abs. 1, 16, 16a und 18 des 2. Gesetzes zur Ausführung des Achten Buches des Sozialgesetzbuches — Kinder- und Jugendhilfe — Kindertagesstättengesetz (KitaG), verkündet als Art. 3 Nr. 3 des Gesetzes zur Beseitigung des strukturellen Ungleichgewichts im Haushalt (Haushaltsstrukturgesetz 2000 - HStrG) vom 28.6.2000 (GVB1. S. 90 ff) sowie durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Kindertagesstättengesetzes vom 7.7.2000 (GVB1. S. 106 ff), nichtig sind,

sowie ergänzend, festzustellen, dass § 16a Kindertagesstättengesetz (KitaG), verkündet als Gesetz zur Beseitigung des strukturellen Ungleichgewichts im Haushalt (Haushaltsstrukturgesetz 2002 - HStrG 2002) vom 18.12.2001 (GVB1. I S. 316), nichtig ist.

III. Der Landtag Brandenburg, die Landesregierung, der Städte- und Gemeindebund Brandenburg und der Landkreistag Brandenburg haben Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. 1. Die Landesregierung hält die Gesetzgebungskompetenz des Landes für gegeben. Der Bundesgesetzgeber habe das Recht der Kindertagesbetreuung nicht abschließend geregelt. Das Land könne sich auf § 69 Abs. 5 S. 4 SGB VIII stützen, wie sich aus dem Gesamtzusammenhang des § 69 SGB VIII ergebe. Die Übertragung der Leistungsverpflichtung für die Kindertagesbetreuung lasse den weitaus überwiegenden Anteil der Ausgaben beim örtlichen Träger. Seine Gesamtverantwortung bleibe unberührt. Auch zu der Regelung in § 16 Abs. 4 KitaG sei der Landesgesetzgeber befugt gewesen. Die sich gegebenenfalls als E i n g r i f f in die kommunale S e l b s t v e r w a l t u n g darstellende Übertragung einer neuen pflichtigen Selbstverwaltungsaufgabe sei jedenfalls aus Gründen des gemeinen Wohls gerechtfertigt. Bezüglich der Kostenerstattungspflicht nach § 16 Abs. 4 KitaG liege es in der Hand der Gemeinden, auf die Ausübung des Wahlrechts der Eltern durch eine Veränderung der Angebotsstruktur zu reagieren. §§16 Abs. 5, 16a KitaG verstießen nicht gegen das Konnexitätsprinzip des Art. 97 Abs. 2 S. 2 und 3 LV, weil es sich nicht um eine neue öffentliche Aufgabe handele. Eine Kostenprognose sei dem Gesetzgeber bei rund 1000 Gemeinden angesichts der unterschiedlichen gemeindlichen Gegebenheiten nahezu unmöglich gewesen. Unter solchen Umständen sei an das Erfordernis der gesetzgeberischen Prognose ein milderer Maßstab anzulegen. LVerfGE 14

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2. Der Landkreistag Brandenburg schließt sich im Wesentlichen den Ausführungen der Landesregierung an und bejaht die Gesetzgebungskompetenz des Landes. Die Gemeinden seien nicht Träger der öffentlichen Jugendhilfe, sondern erfüllten lediglich einzelne Aufgaben iSd § 2 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII. 3. Der Städte- und Gemeindebund Brandenburg tritt dem Vorbringen der Beschwerdeführerinnen bei und ist mit ihnen der Auffassung, dass dem Land die Gesetzgebungskompetenz fehle. Hätte der Bundesgesetzgeber den Ländern ermöglichen wollen, die Gemeinden zur Wahrnehmung von Jugendhilfeaufgaben zu verpflichten, hätte er dies — etwa wie bei der Öffnungsklausel in § 96 Abs. 1 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) — eindeutig zum Ausdruck gebracht. Auch das RegelAusnahme-Verhältnis der Aufgabenwahrnehmung durch Kreise und Gemeinden werde verkehrt. Indem den Gemeinden auferlegt werde, für den Anspruch auf Betreuung in einer Kindertagesstätte einzustehen und für geeignete Kindertagesplätze zu sorgen, werde der bedeutsamste und kostenträchtigste Leistungsbereich der Jugendhilfe auf die Gemeinden verlagert. Im Leistungsbereich nach § 2 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII hätten die Landkreise nur noch Planungskompetenzen. Die Gesamt· und Letztverantwortung in diesem Leistungsbereich liege aber nicht mehr bei ihnen, sondern bei den Gemeinden. Hinreichende Gründe des öffentlichen Wohls für die Übertragung der Aufgabe auf die Gemeinden seien nicht ersichtlich. Femer werde, weil keine volle Kostendeckung sichergestellt sei, gegen das Konnexitätsprinzip des Art. 97 Abs. 3 S. 2 und 3 LV verstoßen. Für die bei den Gemeinden entstehenden Kosten gebe es keine gesetzgeberische Prognose. IV. Die kommunalen Verfassungsbeschwerdeverfahren sind durch Beschluss vom 20.6.2002 - VfGBbg 54/01 und VfGBbg 69/01 - verbunden worden. B. Die kommunale Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet. Soweit sich die Beschwerdeführerinnen gegen Vorschriften des KitaG wenden, sind die das KitaG ändernden Gesetze - HStrG 2000, 2. KitaÄndG und HStrG 2002 Verfahrensgegenstand. I. 1. Die Beschwerdebefugnis (Art. 100 LV, § 51 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg - VerfGGBbg) ergibt sich daraus, dass jedenfalls nicht von vornherein ausgeschlossen ist, dass die Beschwerdeführerinnen in ihrem Recht auf kommunale Selbstverwaltung aus Art. 97 LV in Gestalt der Organisations-, Planungs-, Personal- und Finanzhoheit (vgl. hierzu: Vogelsang/'Liibking/Jahn Kommunale Selbstverwaltung, 2. Aufl. 1997, Rn. 97 ff) verletzt sind. Allerdings hat das erkennende Gericht bisher noch nicht darüber zu entscheiden gehabt, ob das LVerfGE 14

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Recht auf kommunale Selbstverwaltung außer durch Aufgabenentzug („Hochzonung": BVerfGE 79, 127; \^erfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 21.3.2002 - VfGBbg 19/01 LKV 2002, 516; Urt. v. 17.7.1997 - VfGBbg 1/97 LYerfGE 7, 74; Urt. v. 17.10.1996 - VfGBbg 5/95 - , LVerfGE 5, 79) auch durch Aufgabenübertragung bzw. - wie hier - durch Auferlegung einer bisher nur freiwillig wahrgenommenen Aufgabe als Pflichtaufgabe verletzt werden kann. Dies anzunehmen liegt indes durchaus nahe, so dass jedenfalls die Beschwerdebefugnis der Beschwerdeführerinnen nicht zweifelhaft sein kann (vgl. auch Verfassungsgerichtshof NW, DVB1. 1993, 197, 198; Verfassungsgerichtshof RP, DÖV 2001, 601, 602; Löwer in: v. Münch/ICunig, GGK II, 5. Auflage 2001, Rn. 54 ff zu Art. 28 mwN). 2. Die für Individualverfassungsbeschwerden geltende Sachentscheidungsvoraussetzung einer vorherigen Erschöpfung des Rechtswegs bzw. der Grundsatz der Subsidiarität gelten nach der Rechtsprechung des erkennenden Gerichts für die Kommunalverfassungsbeschwerde allenfalls in abgeschwächter Form (Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 20.1.2000 - VfGBbg 53/98 und 3/99 LVerfGE Suppl. Bbg. zu Bd. 11, 3, 22; Urt. v. 14.2.2002 - VfGBbg 17/01 - , LKV 2002, 323). Unter diesem Gesichtspunkt sind hier Zulässigkeitsbedenken nicht zu erheben. 3. Die Frist zur Einlegung der Verfassungsbeschwerde (§ 51 Abs. 2 VerfGGBbg) ist gewahrt. Für die Frage der Rechtzeitigkeit der kommunalen Verfassungsbeschwerde ist hier auf das Inkrafttreten von Art. 3 Nr. 3 HStrG 2000 am 1.1.2001 (Art. 22 HStrG 2000) abzustellen. II. Die Auferlegung der Verpflichtung zur Erfüllung des Rechtsanspruchs auf einen Kindertagesstättenplatz (§ 12 Abs. 1 S. 1 KitaG) und zur Bereithaltung eines bedarfsgerechten Angebots an Kindertagesstättenplätzen (§12 Abs. 1 S. 3 KitaG) nimmt die Beschwerdeführerinnen zu Lasten anderer Aufgaben der gemeindlichen Selbstverwaltung in die Pflicht und stellt sich damit — offensichtlich und auch von der Landesregierung nicht ernstlich in Abrede genommen — als Eingriff in die kommunale Selbstverwaltung dar. Dieser Eingriff ist schon formell verfassungswidrig. Das Land hat seine Gesetzgebungskompetenz überschritten. Damit können auch Folgeregelungen keinen Bestand haben. 1. Das erkennende Gericht hat schon früher ausgesprochen, dass es gehalten ist, zunächst die Gesetzgebungskompetenz des Landesgesetzgebers zu überprüfen, und hierzu ausgeführt: „In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass das Landesverfassungsgericht bei der Prüfung, ob der brandenburgische Gesetzgeber sich im Rahmen seiner Kompetenzen bewegt, nicht gehalten ist, dies als bundesrechtliche Vorfrage zu klären und gegebenenfalls das Bundesverfassungsgericht LVerfGE 14

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nach Art. 100 Abs. 1 GG anzurufen. Es hat vielmehr eigenständig und abschließend zu prüfen, ob ein Verstoß gegen bundesrechtliche Kompetenzvorschriften einen Verstoß gegen die Brandenburgische Landesverfassung darstellt. Der landesverfassungsrechtliche Anknüpfungspunkt für diese Prüfungspflicht liegt im Rechtsstaatsgebot des Art. 2 LV, das es dem Landesgesetzgeber untersagt, Landesrecht zu setzen, ohne dazu befugt zu sein (vgl. auch BayVerfGHE 45, 33, 40 f)" (Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 21.3.1996 - VfGBbg 18/95 - , LVerfGE 4, 114, 129; vgl. auch Urt. v. 18.6.1998 - VfGBbg 27/97 LVerfGE 8, 97, 118; für das schleswig-holsteinische Landesverfassungsrecht - das eine Art. 2 Abs. 5 der Brandenburgischen Landesverfassung entsprechende Verfassungsnorm nicht enthält - BVerfGE 103, 332, 349 ff). Insofern wirkt mit dem Rechtsstaatsgebot die Frage der Gesetzgebungskompetenz des Landes auf das verfassungsrechtliche Bild der Selbstverwaltung herüber (vgl. dazu: Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 20.1.2000 - VfGBbg 53/98 und 3/99 - , LVerfGE Suppl. Bbg. zu Bd. 11, 3, 20; BVerfGE 71, 25, 37 mwN), und gehört deshalb - wegen der (subjektiven) abwehrrechtlichen Schutzfunktion der Art. 2, 97 LV — zum Prüfungsprogramm im Kommunalverfassungsbeschwerdeverfahren (vgl. zu Art. 2 LV als Prüfungsmaßstab im Kommunalverfassungsbeschwerdeverfahren iVm den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes: Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 20.1.2000 - VfGBbg 53/98 und 3/99 —, LVerfGE Suppl. Bbg. zu Bd. 11, 3, 20; vgl. auch Landesverfassungsgericht MV, LKV 1999, 319). 2. Der Bundesgesetzgeber hat nach Maßgabe des SGB Λ-ΉΙ von seiner ihm durch Art. 72, 74 Abs. 1 Nr. 7 GG bzw. Art. 84 Abs. 1 (a.E.) GG eröffneten, konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht. Damit korrespondierend (vgl. Art. 72 Abs. 1 GG: „solange und soweit") ist dem Landesgesetzgeber eine mit den Regelungen des SGB VIII unvereinbare Verlagerung der Verantwortung für die Erziehung, Bildung, Betreuung und Versorgung von Kindern in Kindertagesstätten auf die Gemeinden von Verfassungs wegen versperrt (vgl. Pieroth in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 6. Aufl. 2002, Rn. 2 ff zu Art. 72). Hiernach sind die in der Entscheidungsformel genannten Gesetzesbestimmungen nicht von der Gesetzgebungskompetenz des Landes gedeckt. Im Einzelnen: a. Das erkennende Gericht hält die Gesetzgebungskompetenz des Bundesgesetzgebers für das SGB VIII aus Art. 72, 74 Abs. 1 Nr. 7 GG nicht für zweifelhaft und schließt sich insoweit im Ergebnis der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 97, 332, 341 ff), des Landesverfassungsgerichts SachsenAnhalt (LVerfGE 9, 368, 378 ff) und des OVG Nordrhein-Westfalen (NVwZ 1995, 191, 192, 195) an (teüweise abweichend: OVG Berlin, NJW 1982, 954; Matingη: MDHS, Grundgesetz-Kommentar, Stand: Juni 2002, Rn. 116 zu Art. 74 GG; Kunig in: v. Münch/Kumg, GGK III, 3. Aufl. 1996, Rn. 34 zu Art. 74; Isensee LVerfGE 14

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DVB1. 1995, 1, 5 f; Pestalo^a in: v. Mangoldt/Klein/Pestalozza, Das Bonner Grundgesetz, 3. Aufl. 1996, Rn. 340 zu Art. 74). b. In Wahrnehmung seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz (Art. 72, 74 Abs. 1 Nr. 7 GG) hat der Bundesgesetzgeber durch § 69 SGB VIII geregelt, wer örtlicher Träger der Jugendhilfe sein kann, und insoweit eine erschöpfende und damit abschließende Regelung getroffen (vgl. BVerfGE 85, 134, 142 mwN; Oeter in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Bonner Grundgesetz, 4. Aufl. 2000, Rn. 66 zu Art. 72 Abs. 1). Im gleichen Umfange hat der Landesgesetzgeber seine Gesetzgebungskompetenz verloren (vgl. BVerfGE 102, 99, 114 f mwN: „Sperrwirkung"). Hieran gemessen, schließt §69 SGB VIII eine derart weitgehende Verlagerung der Verantwortung für die Betreuung in Kindertagesstätten auf die Gemeinden durch den Landesgesetzgeber, wie sie hier durch § 12 Abs. 1 S. 1 und 3 KitaG erfolgt ist, aus. aa. Das SGB VIII begründet durch § 69 Abs. 1 für Aufgaben der Jugendhilfe, zu denen gem. § 2 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII die Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und in Tagespflege gehört, ein zweistufiges Trägersystem. Überörtlicher Träger ist im Land Brandenburg gem. § 8 Erstes Gesetz zur Ausführung des Achten Buches Sozialgesetzbuch — Kinder- und Jugendhilfe - (AGKJHG) iVm § 69 Abs. 1 S. 3 SGB VIII das Land selbst. Örtliche Träger sind kraft ausdrücklicher Bestimmung in § 69 Abs. 1 S. 2 SGB VIII die Kreise und kreisfreien Städte. Kreisangehörige Gemeinden können gem. § 69 Abs. 2 SGB VIII unter den weiteren dort genannten Voraussetzungen — nur „auf Antrag" zu örtlichen Trägern bestimmt werden. Einen solchen Antrag haben die Beschwerdeführerinnen ersichtlich nicht gestellt. bb. Weiter können nach § 69 Abs. 5 S. 1 SGB VIII auch kreisangehörige Gemeinden und Gemeindeverbände, die nicht örtliche Träger sind, für den örtlichen Bereich Aufgaben der Jugendhilfe wahrnehmen. Sie haben sich für diesen Fall mit den örtlichen Trägern abzustimmen (S. 2). Für die Zusammenarbeit mit den Trägern der freien Jugendhilfe gelten die §§ 4, 74, 76 und 77 entsprechend (S. 3). Das Landesrecht kann Näheres regeln (S. 4). Ob sich für die hier in Frage stehende Regelung eine Gesetzgebungskompetenz des Landes aus § 69 Abs. 5 S. 1 SGB VIII oder aus § 69 Abs. 5 S. 4 SGB VIII ergibt, kann letztlich offen bleiben. (a) Gem. § 69 Abs. 5 S. 1 SGB VIII „können" Gemeinden und Gemeindeverbände für den örtlichen Bereich Aufgaben der Jugendhilfe wahrnehmen. Dies stellt jedenfalls bei unbefangenem Verständnis des Wortlauts die Wahrnehmung von Jugendhilfeaufgaben in das Beheben der kreisangehörigen Gemeinden. Sie dürfen (einzelne) Aufgaben (iSd § 2 Abs. 2 SGB VIII) wahrnehmen, ohne gegen die Kompetenz des örtlichen Trägers zu verstoßen, müssen es aber nicht. § 69 Abs. 5 S. 1 SGB VIII ist - vor dem Hintergrund einer als erschöpfend zu verstehenden Gesamtregelung in den Abs. 1 bis 5 des § 69 SGB VIII — nach Wortlaut LVerfGE 14

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und Gesetzgebungsgeschichte nicht als Ermächtigung zu einer landesrechtlichen Verpflichtung der Gemeinden zur Aufgabenwahrnehmung zu verstehen. Dies bestätigt sich darin, dass der Bundesgesetzgeber an anderen Stellen die Befugnis zu einer landesrechtlichen Aufgabenübertragung ausdrücklich und unzweideutig formuliert hat (vgl. die landesrechtliche Öffnungsklausel in § 89g SGB VIII, ferner in §§ 15, 26, 49, 78e Abs. 1 SGB VIII; vgl. auch z.B. § 96 Abs. 1 BSHG). Auch die Gesetzesgeschichte spricht für die nach dem Wortlaut nahe liegende Auslegung. Der Gesetzesentwurf für das SGB VIII sah für § 61 Abs. 5 - den späteren § 69 Abs. 5 SGB VIII - folgende Fassung vor (BT-Drs. 11/5948, S. 21): Kreisangehörige Gemeinden und Gemeindeverbände, die nicht örtliche Träger sind, können für den örtlichen Bereich Aufgaben und Leistungen der Jugendhilfe wahrnehmen. Bei der Planung und Durchführung dieser Leistungen und Aufgaben haben sie das Einvernehmen des örtlichen Trägers einzuholen; dessen Gesamtverantwortung bleibt unberührt. Für die Zusammenarbeit mit den Trägern der freien Jugendhilfe gelten die §§ 4, 66 und 68 entsprechend. Landesrecht kann Näheres regeln. Ausweislich der Begründung des Gesetzesentwurfs (BT-Drs. 11/5948, S. 94 f) sollte durch diese Regelung das tatsächlich bestehende — also das aus eigenem Antrieb bereitgestellte — gemeindliche Jugendhilfeangebot dem SGB VIII unterstellt werden. Auf Anregung des Bundesrates wurde in § 61 Abs. 5 dann die Einholung des Einvernehmens des örtlichen Trägers sogar noch gestrichen, da dies einen zu weitgehenden Eingriff in das kommunale Selbstverwaltungsrecht darstelle (BT-Drs. 11/5948, S. 142). Dieser Auffassung schloss sich die Bundesregierung an (BT-Drs. 11/6002, S. 9). § 6 9 Abs. 5 SGB VIII erhielt sodann den heutigen Wortlaut. Hiernach ging es eher darum, eine freiwillige Betätigung der Gemeinden in diesem Bereich auch nur von einem Einvernehmenserfordernis freizuhalten, und jedenfalls nicht darum, eine landesrechtliche Verpflichtung der Gemeinden zur Wahrnehmung von Jugendhilfeaufgaben zu ermöglichen. (b) Der Landesrechtsvorbehalt in S. 4 zur Regelung „weiterer Einzelheiten" (BT-Drs. 11/5948, S. 95) kann nach Sinn und Zweck allein als Ausgestaltungsermächtigung für die Abstimmung mit dem örtlichen Träger (S. 2) und die Zusammenarbeit mit den freien Trägern (S. 3), nicht aber als Ermächtigung zu einem landesgesetzlichen Zwang zur Wahrnehmung von Jugendhilfeaufgaben und zur Einlösung damit verbundener rechtlicher Verpflichtungen — wie hier des Rechtsanspruchs auf einen Kindertagesstättenplatz — durch die Gemeinden verstanden werden (vgl. Schellborn SGB VIII/KJHG, Rn. 23 zu § 69; Vondung in: Kunkel (Hrsg.), Kinder- und Jugendhilfe, Lehr- und Praxiskommentar (LPK-SGB VIII), 1998, Rn. 11 f zu § 69; Wiesner/Mörsberger/Oberloskamp/Struck SGB VIII, 2. Aufl. 2000, Rn. 50 zu § 69; KunkelNDV 1992, 285). cc. Letztlich bedarf indes die Frage, ob § 69 Abs. 5 SGB VIII eine landesgesetzliche Verpflichtung der Gemeinden zur Wahrnehmung einzelner JugendhilfeLVerfGE 14

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aufgaben zuließe, keiner abschließenden Beantwortung. Denn auch unabhängig hiervon widerspricht es den bundesrechtlichen Vorgaben, dass der Landesgesetzgeber die Verantwortung für die Betreuung von Kindern in Kindertagesstätten so weitgehend wie hier geschehen, nämlich bis hin zum Einstehenmüssen für den Rechtsanspruch auf einen Kindertagesstättenplatz, auf die Gemeinden verlagert hat. In der hier vorgenommenen Ausgestaltung läuft dies auf eine durch die Landesgesetzgebungskompetenz nicht mehr gedeckte teilweise Übertragung der Trägerschaft für Jugendhilfeaufgaben, nämlich für eine der bedeutsamsten Aufgaben der Jugendhilfe, auf die Gemeinden hinaus, wie sie nach § 69 Abs. 2 S. 1 SGB VIII nur „auf Antrag" und selbst dann nur für den Fall zulässig ist, dass ihre Leistungsfähigkeit zur Erfüllung der Aufgabe gewährleistet ist. (a) Allerdings hat hier der Landesgesetzgeber die örtliche Trägerschaft der Kreise der Form nach aufrechterhalten und durch § 12 Abs. 1 S. 1 KitaG „lediglich" bestimmt, dass sich der Rechtsanspruch auf einen Kindertagesstättenplatz gegen die Gemeinden richtet, und ihnen dabei die Verpflichtung auferlegt, für ein bedarfsgerechtes Angebot an Plätzen in Tageseinrichtungen zu sorgen (S. 3). Auch geht es „nur" um eine der in § 2 Abs. 2 SGB VIII genannten Aufgaben der Jugendhilfe. Ferner nimmt der Landkreis nach § 12 Abs. 4 S. 2 KitaG iVm § 80 SGB VIII unter Berücksichtigung der Planungen der Gemeinden die übergreifende Planungsverantwortung wahr und stellt einen Bedarfsplan für die Kindertagesbetreuung auf. (b) Unbeschadet dessen stellt sich die brandenburgische Regelung der Sache nach als eine Verlagerung der örtlichen Trägerschaft für eine wesentliche Aufgabe der Jugendhilfe auf die kreisangehörigen Gemeinden — und zwar im Falle der Beschwerdeführerinnen gegen ihren Willen — dar. Die Gemeinden werden nach der Art der Regelung rechtlich, planerisch und wirtschaftlich in eine Position gedrängt, die so stark durch trägerschaftliche Elemente geprägt ist, dass die Aufgabenübertragung an § 69 Abs. 2 SGB VIII zu messen ist, also insbesondere nur „auf Antrag" der Gemeinde erfolgen kann. So hat gem. § 12 Abs. 1 S. 1 KitaG allein die Gemeinde für den Anspruch auf Betreuung in einer Kindertagesstätte geradezustehen. Sie ist gem. § 12 Abs. 1 S. 3 KitaG verpflichtet, für ein bedarfsgerechtes Angebot an Plätzen in Tageseinrichtungen zu sorgen. Gemäß § 12 Abs. 3 S. 1 KitaG hat sie (im Benehmen mit dem Landkreis) die zur Erfüllung des Anspruchs auf Betreuung in einer Kindertagesstätte erforderlichen Angebote rechtzeitig zu planen. Der Landkreis beschränkt sich darauf, die Gemeinde bei ihrer Planung zu unterstützen und sie in Fragen der Kindertagesbetreuung zu beraten (§ 12 Abs. 4 S. 1 KitaG). Auch das Kosten- und Finanzierungsrisiko liegt letztlich bei der Gemeinde. Gemäß § 16 Abs. 1 S. 1 KitaG hat sie, soweit die Eigenleistungen des Trägers (der Einrichtung) und Elternbeiträge nicht ausreichen, „Zuschüsse" zu leisten und notfalls zu erhöhen (§ 16 Abs. 2 S. 4 KitaG). Das Land trägt zu den Kosten der Kindertagesbetreuung mit LVerfGE 14

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einem auf die Gemeinden umzuverteilenden festen Gesamtbetrag bei (§16 Abs. 5 S. 1 bis 4 KitaG). Der Landkreis als der (eigentliche) örtliche Träger beteiligt sich an den Kosten mit einem „Zuschuss", der sich nach der bis zum 31.12.2003 geltenden Regelung nach den für die Kindertagesbetreuung im Jahre 1999 aufgewandten Kosten der Kindertagesbetreuung bemisst (§ 16a S. 1 und 2 KitaG). Demzufolge sind die Kostenbeiträge von anderer Seite jeweils limitiert. Für den Rest hat die Gemeinde selbst aufzukommen. Hiernach erscheint die formal fortbestehende örtliche Trägerschaft der Landkreise weitgehend entleert. In Wahrheit wird in einer der wichtigsten und brisantesten Jugendhilfeaufgaben aus dem Katalog des § 2 SGB VIII, die gem. § 69 Abs. 1 S. 2 SGB VIII in die örtliche Trägerschaft der Landkreise und kreisfreien Städte gehört, die Verantwortung so weitgehend auf die Gemeinden verlagert, dass sie in diesem Bereich der Kindertagesstättenbetreuung praktisch an die Stelle des örtlichen Trägers treten. Dies zeigt sich insbesondere in der Einstandspflicht für die Erfüllung des Rechtsanspruchs auf einen Kindertagesstättenplatz gegenüber den Berechtigten. Eine Klage zur Einlösung des Rechtsanspruchs auf einen Kindertagesstättenplatz wäre danach allein gegen die Gemeinde zu richten. Gerade das rechtliche Einstehenmüssen nach außen, die juristische Verantwortung im Außenverhältnis, ist ein kennzeichnendes Element der Trägerschaft (vgl. etwa für das Sozialhilferecht SchellhornlJirasek/Seipp Bundessozialhilfegesetz, 15. Aufl. 1997, Rn. 8 zu § 96: Einheit von Trägerschaft und haftungsrechtlicher Verantwortung; für das Abfallrecht § 16 Abs. 1 S. 2 Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz: kein Fortfall der „Verantwortlichkeit" des öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgers „für die Erfüllung der Pflichten" bei Übertragung der Aufgabe auf Dritte). Eine solche, die juristische Verantwortung und damit ein Kernelement der Trägerschaft auf die Gemeinden verlagernde Regelung ist dem Landesgesetzgeber außer unter den — im Falle der Beschwerdeführerinnen ersichtlich nicht gegebenen — Voraussetzungen des § 69 Abs. 2 S. 1 SGB VIII („auf Antrag") verwehrt. Das SGB VIII ist — stärker noch als vorher das Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) — von der Zweistufigkeit der Trägerschaft bei örtlicher Trägerschaft der Kreise und kreisfreien Städte geprägt (vgl. Wiesner in: Wiesner/Mörsberger/Oberloskamp/ Struck, SGB VIII, 2. Aufl. 2000, Rn. 50 zu § 69). Eine Betätigung der kreisangehörigen Gemeinden ist - abgesehen von § 69 Abs. 2 SGB VIII (Trägerschaft „auf Antrag") und der Wahrnehmung einzelner Aufgaben gem. § 69 Abs. 5 S. 1 SGB VIII — auch in Form einer (auf einzelne Jugendhilfeaufgaben beschränkten und in diesem Sinne) sektoralen „Teilträgerschaft" nicht vorgesehen und kann daher durch die Länder auch nicht bestimmt werden. Im Lichte dieser zweistufigen Trägerstruktur erscheint eine Verlagerung auf kreisangehörige Gemeinden ohne eigenes Jugendamt — wenigstens normativ — als Ausnahme, nicht als eine durch das Landesrecht bestimmbare Regel. Eine solche Entscheidung könnte darüber hinaus auch nicht flächendeckend erfolgen, sondern müsste auch die individuelle Leistungsfähigkeit der einzelnen Gemeinden berücksichtigen (vgl. auch

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Art. 17 BayKJHG). Im Übrigen spricht auch die Zuweisung der Aufgaben der Jugendhilfe zur kommunalen Selbstverwaltung dafür, dass die Entscheidung bei der Gemeinde selbst Hegt (in diesem Sinne — sogar schon für die Übertragung einzelner Aufgaben der Jugendhilfe — Wiesner in: Wiesner/Mörsberger/Oberloskamp/Struck, SGB VIII, 2. Aufl. 2000, Rn. 50 zu § 69). dd. Das hier gefundene Ergebnis ergibt sich auch aus § 3 Abs. 2 S. 2 SGB VIII iVm § 24 SGB VIII. Nach § 3 Abs. 2 S. 2 SGB VIII richten sich Leistungsverpflichtungen, die durch das SGB VIII begründet — bzw. was gleichstehen muss — „festgeschrieben" werden, unzweideutig „an die Träger der öffentlichen Jugendhilfe". Der Rechtsanspruch „auf den Besuch eines Kindergartens" folgt aber — unabhängig von den Regelungen auf Landesebene - bereits aus § 24 SGB VIII. Anspruchsgegner ist auch von daher zwingend der Träger der öffentlichen Jugendhilfe, und zwar — zufolge § 85 SGB VIII — der örtliche Träger der Jugendhilfe. Der Rechtsanspruch auf einen Kindertagesstättenplatz richtet sich damit aus dem SGB VIII heraus allein gegen die Landkreise und kreisfreien Städte und nur unter den — hier nicht gegebenen — Voraussetzungen des § 69 Abs. 2 S. 1 SGB VIII gegen kreisangehörige Gemeinden. Auch von daher war es dem Landesgesetzgeber verwehrt zu bestimmen, dass sich der Rechtsanspruch auf einen Kindertagesstättenplatz flächendeckend gegen die Gemeinden richtet. ee. Die vorliegende Entscheidung gerät nicht in Widerspruch zu der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18.7.1967 zum damaligen JWG (BVerfGE 22, 180). Das Bundesverfassungsgericht hat in dieser Entscheidung Zurückhaltung des Bundesgesetzgebers im Bereich der den Ländern „als eigene Angelegenheit" obliegenden Ausführung von Bundesgesetzen (Art. 84 GG) angemahnt (BVerfGE 22, 180, 209 f) und sich auf den Standpunkt gestellt, dass es sich bei diesen Bereich betreffenden bundesgesetzlichen Regelungen „immer nur um punktuelle Annexregelungen zu einer zur Zuständigkeit des Bundesgesetzgebers gehörenden materiellen Regelung" handeln dürfe (BVerfGE 22, 180, 210). Hiermit bleibt die vorliegende Entscheidung im Einklang. Der Bundesgesetzgeber war zu der Abstufung zwischen örtlicher und überörtlicher Trägerschaft (§ 69 Abs. 1 SGB VIII) und zur Bestimmung der Kreise und kreisfreien Städte als örtliche Träger (mit der Möglichkeit der Bestimmung von Gemeinden zu örtlichen Trägern auf Antrag und bei Leistungsfähigkeit — § 69 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 SGB VIII —) als Annex zu den materiellen Regelungen des SGB VIII und zur Absicherung eines diesbezüglich wirksamen Gesetzesvollzugs (vgl. BVerfGE 77, 288, 299; 22, 180, 210 und Leitsatz 2.) kompetenziell befugt (vgl. die dahingehende Regelungskompetenz stillschweigend bejahend: BVerfG, LKV 1994, 145; ausdrücklich bejahend: Staatsgerichtshof Baden-Württemberg DVB1. 1999, 1351, 1352 f). Er hat sich hierbei ersichtlich davon leiten lassen, dass die Voraussetzungen für die örtliche Trägerschaft bei den Landkreisen und kreisfreien Städten stets, bei den Gemeinden aber nur für den Fall anzunehmen seien, dass sie die

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Trägerschaft wünschten („auf Antrag") und ihre Leistungsfähigkeit gewährleistet sei (vgl. ferner zur punktuellen Regelungskompetenz des Bundesgesetzgebers Hermes in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, Rn. 40 ff zu Art. 84; Pierolh in: Jarass/ Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 6. Aufl. 2002, Rn. 2 zu Art. 84). Dann aber muss eben diese Leiterwägung des Bundesgesetzgebers auf die Ermittlung des den Ländern verbleibenden Regelungsspielraums durchschlagen. Auch von daher erweist sich die pauschalierend ohne Rücksicht auf die Verhältnisse der einzelnen Gemeinde erfolgte und auf eine „Teilträgerschaft" (nämlich für eine wesendiche Jugendhilfeaufgabe) hinauslaufende Regelung in § 12 Abs. 1 S. 1 (und S. 3) KitaG als von der Gesetzgebungskompetenz des Landes nicht gedeckt. ff. Das erkennende Gericht sieht sich an der hier getroffenen Entscheidung auch nicht durch die zu anderweitigen Kita-Regelungen ergangene Rechtsprechung anderer Verfassungsgerichte gehindert. Die dort verfahrensgegenständlichen landesgesetzlichen Regelungen sind mit den hier zur Uberprüfung gestellten nicht identisch und weniger weitgehend. Insbesondere erlegen sie den Gemeinden nicht die Erfüllung des Rechtsanspruchs auf einen Kindertagesstättcnplatz auf. So verpflichtet die vom Bundesverfassungsgericht als bundesrechtskonform angesehene Regelung in § 22 Abs. 2 des Thüringer Gesetzes über Tageseinrichtungen für Kinder als Landesausführungsgesetz zum Kinder- und Jugendhilfegesetz die Wohnsitzgemeinde lediglich, die erforderlichen Plätze bereitzustellen, ohne sie dem Rechtsanspruch auf Erfüllung des Anspruchs auf einen Kindertagesstättenplatz auszusetzen (BVerfG — 1. Kammer des Zweiten Senats - , LKV 1994, 145). Die Regelung in § 12 Abs. 2 des sachsen-anhaltinischen Kinderbetreuungsgesetzes, die das Verfassungsgericht Sachsen-Anhalt für (kompetenziell) bundesrechtskonform gehalten hat (LVerfGE 9, 390), enthält lediglich die A^erpflichtung der kreisangehörigen Gemeinden, zu einer bedarfsgerechten Versorgung mit Plätzen der Kindertagesbetreuung beizutragen. Mit der sachsen-anhaltinischen Regelung wird den Gemeinden „lediglich eine Sicherstellungsfunktion auferlegt, die neben die Verpflichtung des örtlichen Trägers tritt" (aaO, 403). 3. War nach dem Vorstehenden der Landesgesetzgeber nicht befugt, die kreisangehörigen Gemeinden der Verpflichtung zur Erfüllung des Rechtsanspruchs auf einen Kindertages Stättenplatz (§12 Abs. 1 S. 1 KitaG) und — als solcherart „Leistungsverpflichtete" — zur Bereithaltung eines bedarfsgerechten Angebots an Kindertagesstättenplätzen (§12 Abs. 1 S. 3 KitaG) auszusetzen, werden auch die daran anknüpfenden Regelungen der sich ergebenden Folgefragen — bei Übertragung der Aufgabe von amtsangehörigen Gemeinden auf das Amt in § 12 Abs. 1 S. 2 KitaG, für die Anspruchsfeststellung in § 12 Abs. 1 S. 4 KitaG, für die Planung in § 12 Abs. 3 S. 1 und 2 und Abs. 4 KitaG sowie für die Finanzierung in §§ 16, 16a KitaG — von der Verfassungswidrigkeit erfasst und können deshalb in dieser Form keinen Bestand haben. Soweit die Beschwerdeführerinnen selbst leLVerfGE 14

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diglich § 12 Abs. 1 KitaG, nicht jedoch dessen Abs. 3 und 4 angegriffen haben, ergibt sich die Aufhebung der weiteren Vorschriften auch daraus, dass die betreffenden Vorschriften als ineinander greifende Gesamtregelung eine untrennbare Einheit bilden (s. §§ 41 S. 2, 51 Abs. 3 VerfGGBbg; vgl. auch BVerfGE 47, 253, 284; 22, 134, 152; Schmidt-Bleibtreu in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Stand: Juli 2002, Rn. 32 f zu § 95; Rentiert in Umbach/Clemens, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Rn. 38 zu § 95; Stuth in: Umbach/Clemens, ebd., Rn. 25 zu § 78) und somit nur ein Torso bestehen bliebe. Nachdem § 16a KitaG, durch Art. 1 Nr. 15 des 2. KitaÄndG eingeführt, inzwischen durch Art. 2 HStrG 2002 neu gefasst worden ist, unterliegen beide (Anderungs-)Gesetze der Aufhebung. Auch § 18 KitaG erlegt für den Fall der Betreuung des Kindes durch eine Tagespflegeperson die Einstandspflicht für die entstehenden Aufwendungen den Gemeinden auf und kann daher in dieser Form ebenfalls nicht bestehen bleiben. 4. Abweichend von § 29 Abs. 2 S. 3 Halbsatz 1 VerfGGBbg bestimmt das Landesverfassungsgericht auf der Grundlage von § 29 Abs. 2 S. 3 HS. 2 VerfGGBbg, dass die als unvereinbar mit der Landesverfassung festgestellten Regelungen aus Gründen der Handhabbarkeit, der Rechtssicherheit und der verlässlichen Haushaltswirtschaft bis zum Ablauf des 31.12.2003 in Geltung bleiben. III. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 32 Abs. 7 S. 2 VerfGGBbg.

Sondervotum der Richter Prof. Dr. Harms-Ziegler und Dr. Knippel Wir stimmen der Entscheidung, dass § 12 Abs. 1 KitaG mit der Landesverfassung unvereinbar ist, im Ergebnis, nicht aber in der Begründung zu. Mit der Mehrheit gehen wir davon aus, dass der Landesgesetzgeber mit § 12 Abs. 1 KitaGesetz seine Gesetzgebungskompetenz überschritten hat. Entgegen der Mehrheit sind wir allerdings der Auffassung, dass § 69 SGB VIII der Inpflichtnahme der Gemeinden durch §§ 12 ff KitaG nicht entgegensteht. Vielmehr ist § 12 Abs. 1 KitaG mit § 3 Abs. 2 S. 2 SGB VIII unvereinbar. a) Die Übertragung von Aufgaben der Jugendhilfe auch gegen den Willen der Gemeinden ist mit § 69 Abs. 5 SGB VIII vereinbar. Es kann dahinstehen, ob sich dies bereits aus dem Wortlaut, insbesondere dem Landesvorbehalt des Satzes 4 ergibt (so im Ergebnis: BVerfG, Beschl. v. 15.11.1993 - 2 BvR 1199/91; Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt, Urt. v. 8.12.1998 - LVG 19/97 LVerfGE LVerfGE 14

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9, 390, 403). Entgegen der Mehrheitsmeinung lässt sich der Wortlaut des § 69 Abs. 5 S. 1 SGB VIII („können wahrnehmen") ohne weiteres auch im Sinne der Möglichkeit einer Aufgabenübernahme in Form einer Kompetenzerweiterung gegenüber der Regel des § 69 Abs. 1 SGB VIII verstehen. Einer ausdrücklichen „Ermächtigung zu einer bundesrechtlichen Verpflichtung der Gemeinden zur Aufgabenübernahme" — wie von der Mehrheitsmeinung gefordert (vgl. II. 2. b. bb. (a) und (b)) — bedarf es im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung durch den Bundesgesetzgeber nicht. Es genügt, dass der Landesgesetzgeber durch Regelungen des Bundesgesetzgebers nicht seinen Gestaltungsspielraum verloren hat. § 69 Abs. 5 SGB VIII enthält keine Aussage darüber, auf welche Weise diese Kompetenzerweiterung erfolgen kann. Dem Landesgesetzgeber steht insoweit eine eigene Regelungsbefugnis zu. Anders als die Mehrheit meint, spricht auch der sich aus der Entstehungsgeschichte des § 69 SGB VIII ergebende Zweck der Vorschrift unseres Erachtens eindeutig dafür, dass § 69 Abs. 5 SGB VIII eine Inpflichtnahme der Gemeinden zulässt. Mit § 69 Abs. 5 SGB VIII sollte dem Umstand Rechnung getragen werden, dass bei seinem Inkrafttreten kreisangehörige Gemeinden und Gemeindeverbände ohne eigenes Jugendamt bereits seit langer Zeit Aufgaben der Jugendhilfe im örtlichen Bereich wahrnahmen. Schon vor der Neuregelung unterhielten kreisangehörige Gemeinden Tageseinrichtungen für Kinder, insbesondere Kindergärten und Jugendfreizeitstätten, und förderten Maßnahmen der freien Jugendhilfe. Diese Tätigkeit der Gemeinden war nicht in das Jugendwohlfahrtsgesetz eingebunden. Die Vorschrift des § 69 Abs. 5 SGB VIII sollte zum Ausdruck bringen, dass diese Tätigkeit kreisangehöriger Gemeinden ohne eigenes Jugendamt öffentliche Jugendhilfe ist und deshalb den Bestimmungen des Gesetzesentwurfs unterliegen sollte (BT-Drs. 11/5948, S. 95 f). Es war deshalb insbesondere Sinn und Zweck der Regelung, die Gemeinden zu verpflichten, ihre Aufgabenerfüllung mit den öffentlichen Trägern abzustimmen. Eine die Länder bindende Regelung, unter welchen Voraussetzungen die Gemeinden Aufgaben der Jugendhilfe übernehmen können, sollte ersichtlich nicht getroffen werden. Eine Gesamtschau ergibt unseres Erachtens, dass mit ξ 69 SGB VIII in erster Linie durch den Bundesgesetzgeber der Sinn und Zweck verfolgt wurde, zur Verwirklichung des wirksamen Vollzuges der materiellen Bestimmungen des SGB VIII die Kreise und die kreisfreien Städte zu örtlichen Trägern zu bestimmen. Hintergrund dieser gesetzgeberischen Entscheidung ist der Umstand, dass durch §§ 69, 79 SGB VIII den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe für die Erfüllung der Aufgaben der Jugendhilfe die Gesamtverantwortung, einschließlich der für die Durchführung der Aufgaben notwendigen Errichtung von Jugendämtern übertragen wurde. Die Bundesregierung hatte in dem Gesetzgebungsverfahren ihre Skepsis darüber zum Ausdruck gebracht, ob kreisangehörige Gemeinden generell in der Lage sein würden zu gewährleisten, dass die Jugendämter die notwendige fachliche Ausstattung, einschließlich eine dem Bedarf entsprechende Zahl von LVerfGE 14

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Fachkräften, erhalten. Es sollte deshalb vermieden werden, dass „vermehrt unterhalb der Ebene der Kreise und kreisfreien Städte Jugendämter" eingerichtet werden. Entsprechend dieser gesetzgeberischen Intention ist dem Landesgesetzgeber durch § 69 Abs. 2 SGB VIII ein enger Rahmen gezogen worden, unter welchen Voraussetzungen kreisangehörige Gemeinden zu örtlichen Trägern der Jugendhilfe werden können. Demgegenüber ging es dem Bundesgesetzgeber in § 69 Abs. 5 SGB VIII ersichtlich darum klarzustellen, dass Gemeinden, auch wenn sie nicht örtlicher Träger sind, Aufgaben der Jugendhilfe wahrnehmen können und dass auch bei Wahrnehmung von Aufgaben der Jugendhilfe durch kreisangehörige Gemeinden die dem örtlichen Träger durch § 79 SGB VIII übertragene Gesamtverantwortung für die Jugendhilfe unberührt bleibt. Schließlich ergibt auch eine verfassungskonforme Auslegung, dass der Bundesgesetzgeber durch § 69 Abs. 5 SGB VIII nur die Beteiligung der Kreise und kreisfreien Städte, nicht aber der Gemeinden für die Landesgesetzgeber verbindlich geregelt hat (so im Ergebnis: Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt, aaO). Denn sollte man in § 69 Abs. 5 SGB VIII eine Vorschrift sehen müssen, in der der Bund auch das „Ob" und „Wie" der Wahrnehmung der Aufgaben durch kreisangehörige Gemeinden verbindlich regelt, wäre diese Bestimmung unseres Erachtens mit Art. 84 Abs. 1 GG unvereinbar. Gem. Art. 84 Abs. 1 GG führen nämlich die Länder die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit aus, soweit nicht Bundesgesetze mit Zustimmung des Bundesrates etwas anderes bestimmen. Auch bei Zustimmungsgesetzen ist die Ratio des Art. 84 GG ganz allgemein auf die Gewährung eines wirksamen Vollzuges der Bundesgesetze ausgerichtet. Art. 84 Abs. 1 GG erlaubt nicht den uneingeschränkten Durchgriff auf die Gemeinden. Wenn eine Regelung für den wirksamen Vollzug der materiellen Bestimmungen eines Bundesgesetzes nicht notwendig ist, so liegt hierin ein unzulässiger Eingriff in die Verwaltungskompetenz der Länder (BVerfG, Urt. v. 18.7.1967, BVerfGE 22, 180, 210). Der Bundesgesetzgeber hat es entsprechend seiner „fachpolitischen Zielsetzung zur Neuordnung der Kinder- und Jugendhilfe" (vgl. BT-Drs. 11/6002, S. 9) als erforderlich angesehen, durch § 69 Abs. 1 und 2 SGB VIII sicherzustellen, dass die durch § 69 SGB VIII den örtlichen Trägern übertragene Jugendhilfe, einschließlich der Einrichtung von Jugendämtern, durch die vom Bundesgesetzgeber als hierfür ausreichend leistungsfähig angesehenen Kreise und kreisfreien Städte wahrgenommen werden. Dass für den wirksamen Vollzug des Kinder- und Jugendhilfegesetzes bundesrechtliche Vorschriften notwendig sind, die regeln, unter welchen Voraussetzungen Gemeinden „Aufgaben der Jugendhilfe" wahrnehmen können (oder gegebenenfalls müssen), kann unseres Erachtens nicht angenommen werden. b) § 12 Abs. 1 KitaG steht auch mit § 69 Abs. 1 und 2 SGB VIII in Einklang. Die Übertragung von Aufgaben der Jugendhilfe auf Gemeinden durch §§ 12 ff. KitaG stellt sich weder als teilweise Übertragung der Trägerschaft für Jugendhilfeaufgaben noch als Übertragung einer faktischen Trägerschaft dar. LVerfGE 14

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Der Begriff der Trägerschaft ist rechtswissenschaftlich ungeklärt. Er wird im Gesetz nicht definiert. § 69 Abs. 1 SGB VIII bestimmt vielmehr, wer Träger der öffentlichen Jugendhilfe ist. Von der Trägerschaft iSd § 69 Abs. 1 SGB VIII wird die Wahrnehmung von einzelnen Aufgaben iSd § 69 Abs. 5 SGB VIII abgegrenzt. Eine Teilträgerschaft bzw. eine Trägerschaft in sektoralen Bereichen kennt weder das Kinder- und Jugendhilfegesetz noch das Brandenburgische Kindertagesstättengesetz. Dieses Gesetz geht davon aus, dass durch die Aufgabenübertragung die örtliche Trägerschaft weder ganz noch teilweise auf die Gemeinden übergeht. Die Mehrheitsmeinung verzichtet auf eine Abgrenzung zwischen einer noch zulässigen Verpflichtung zur Wahrnehmung von Aufgaben (iSd § 69 Abs. 5 S. 1 SGB VIII) und der unzulässigen Übertragung der Trägerschaft (§ 69 Abs. 2 SGB VIII). Hierdurch bleibt unklar, ob von den „trägerschaftlichen Elementen" (Planung, Finanzen, rechtliches Einstehenmüssen) jedes einzelne für sich oder nur alle Elemente zusammengenommen zur Folge haben, dass die durch § 12 Abs. 1 KitaG erfolgte Aufgabenübertragung an § 69 Abs. 2 SGB VIII zu messen ist. Das Offenlassen dieser Frage wird den Landesgesetzgeber bei der nun anstehenden Novellierung des Kindertagesstättengesetzes vor nicht unerhebliche Probleme stellen. Anhaltspunkte dafür, was Trägerschaft im Sinne des Jugendhilferechts ausmacht, Hefern §§ 79 ff SGB VIII. Nach § 79 Abs. 1 SGB VIII haben die Träger der öffentlichen Jugendhilfe für die Erfüllung der Aufgaben nach dem Jugendhilfegesetz die Gesamtverantwortung einschließlich der in § 80 SGB VIII gesondert geregelten Planungsverantwortung. Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe sollen gewährleisten, dass die zur Erfüllung der Aufgaben erforderlichen und geeigneten Einrichtungsdienste und Veranstaltungen rechtzeitig und ausreichend zur Verfügung stehen (§ 79 Abs. 2 SGB VIII). Weiterhin haben die Träger öffentlicher Jugendhilfe für eine ausreichende Ausstattung der Jugendämter, insbesondere mit einer dem Bedarf entsprechenden Zahl von Fachkräften zu sorgen (§ 79 Abs. 3 SGB VIII). Schließlich verpflichtet § 81 SGB VIII die Träger der öffentlichen Jugendhilfe „im Interesse einer ganzheitlichen Betrachtungsweise von Lebenslagen junger Menschen" (BT-Drs. 11/5948, S. 102) zur Zusammenarbeit mit anderen Stellen und öffentlichen Einrichtungen. Nach unserer Auffassung kann ohne die Pflicht zur Einrichtung eines Jugendamtes, welches nach seiner heutigen Aufgabenstellung ein Amt für die Belange von Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern sowie von jungen Volljährigen darstellt, von einer Trägerschaft iSd § 69 Abs. 1 und 2 SGB VIII keine Rede sein. Mit der Aufstellung des Bedarfsplans (§12 Abs. 4 KitaG) hält der Kreis gegenüber den Gemeinden ein wesentliches planerisches Steuerungsmittel in der Hand. Es wird — wie in der mündlichen Verhandlung anschaulich dargestellt — auch entsprechend genutzt. Nimmt man darüber hinaus den Aufgabenkatalog des ξ 2 SGB VIII in den Blick, so wird deutlich, dass die Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und in der Tagespflege (§ 2 Abs. 2 Nr. 3) nur einen Teil des AufgaLVerfGE 14

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benbereiches darstellt, der den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe durch das Jugendhilfegesetz auferlegt wird. Ein Leerlaufen der Trägerschaft der Kreise bzw. kreisfreien Städte durch das Kindertagesstättengesetz des Landes Brandenburg kann deshalb nicht angenommen werden. Gegen die Annahme der Mehrheit, insbesondere durch die Aufbürdung finanzieller Verpflichtungen werde den Gemeinden eine (Teil-)Trägerschaft auferlegt, spricht auch die Entstehungsgeschichte des § 69 SGB VIII. Die Situation, dass kreisangehörige Gemeinden Kindergärten und Jugendfreizeitstätten entweder selbst unterhalten oder (mit-) finanzieren, hatte der Gesetzgeber bereits vorgefunden. Sie gab maßgeblich Anlass zur Neuregelung. Das Betreiben bzw. das Finanzieren von Kindergärten und Kindertagesstätten durch kreisangehörige Gemeinden ist deshalb der Hauptanwendungsfall des § 69 Abs. 5 S. 1 SGB VIII. Insoweit greift das Argument, es werde eine der wichtigsten und brisantesten Jugendhilfeaufgaben aus dem Katalog des § 2 SGB VIII auf die Gemeinden verlagert, zu kurz. Durch § 69 Abs. 5 S. 2 SGB VIII wird klargestellt, dass die Wahrnehmung von Aufgaben der Jugendhilfe in Form von Kindergärten und Kindertageseinrichtungen die Gemeinden nicht zu Trägern der örtlichen Jugendhilfe machen, sondern dass die Gesamtverantwortung des öffentlichen Trägers der Jugendhilfe unberührt bleibt. Vor diesem Hintergrund kann es nach unserer Auffassung auch keinen Unterschied machen, ob eine Gemeinde freiwillig Aufgaben der Jugendhilfe in Form der Einrichtung von Kindertagesstätten wahrnimmt oder durch den Landesgesetzgeber hierzu verpflichtet wird. Die Gemeinde wird hierdurch nicht selbst Träger der öffentlichen Jugendhilfe. c) Dem Land Brandenburg fehlte indes die Gesetzgebungskompetenz insoweit, als durch § 12 Abs. 1 — abweichend von der bundesrechtlichen Regelung der §§ 3 Abs. 2 und 24 SGB VIII — den Gemeinden Leistungsverpflichtungen auferlegt werden. Gem. § 24 S. 1 SGB VIII hat ein Kind vom vollendeten dritten Lebensjahr an bis zum Schulantritt Anspruch auf den Besuch eines Kindergartens. Dieser Anspruch richtet sich gem. § 3 Abs. 2 S. 2 SGB VIII, da er durch das Jugendhilfegesetz begründet wird, gegen den Träger der öffentlichen Jugendhilfe. Es kann dahingestellt bleiben, ob mit § 3 Abs. 2 primär klargestellt werden sollte, dass der Anspruch sich nicht gegen private Träger richten soll. Die Regelung des § 3 Abs. 2 SGB VIII ist ihrem Wortlaut nach unmissverständlich. Sie ist eine abschließende Regelung und lässt dem Landesgesetzgeber keinen Gestaltungsspielraum. In Anbetracht dieses eindeutigen und klaren Befundes ist unseres Erachtens der Rückgriff auf die Konstruktion der Teilträgerschaft bzw. Übertragung der faktischen Trägerschaft künstlich und nicht geboten. Es sollte aus unserer Sicht an einer normativen Betrachtungsweise festgehalten werden, wonach Träger derjenige ist, den das Gesetz als Träger bestimmt. Hiervon abzuweichen bietet der vorliegende Fall keinen Anlass.

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Nr. 3* Zum Grundrecht auf ein zügiges Verfahren vor Gericht in einem Asylrechtsfall bei einer Verfahrensdauer von drei Jahren und fünf Monaten." Verfassung des Landes Brandenburg Art. 52 Abs. 4 S. 1 B e s c h l u s s v o m 20. März 2003 - V f G B b g 108/02 in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren des Herrn G. gegen die Untätigkeit des Verwaltungsgerichts Cottbus im Verfahren ... Entscheidungsformel: 1. Der andauernde Verfahrensstillstand in dem vor dem Verwaltungsgericht Cottbus zu Aktenzeichen ... anhängigen verwaltungsgerichtlichen Verfahren verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf ein zügiges Verfahren vor Gericht (Art. 52 Abs. 4 S. 1 Verfassung des Landes Brandenburg). 2. Das Land Brandenburg hat dem Beschwerdeführer die vor dem Landesverfassungsgericht entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten. Gründe: A. Der Beschwerdeführer macht zu dem beim Verwaltungsgericht Cottbus anhängigen verwaltungsgerichtlichen Verfahren zu Aktenzeichen ... die Verletzung seines Rechts auf ein zügiges Verfahren vor Gericht (Art. 52 Abs. 4 S. 1 Verfassung des Landes Brandenburg) geltend. I. Der Beschwerdeführer, kolumbianischer Staatsangehöriger, beantragte unter dem 30.8.1998 beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge Asyl. Der Antrag wurde durch Bescheid vom 31.5.1999 zurückgewiesen. Hiergegen erhob der Beschwerdeführer am 16.6.1999 Klage vor dem VG. Das zunächst bei einer anderen Kammer des VG anhängige Verfahren wurde durch Verfügung Abdruck auch in: LKV 2003, 427; NVwZ 2003, 1379; NJ 2003, 418; JMB1 2003, 44; Mitt StGB 2003, 245; NJW 2004, 673 (nur LS). Nichtamtlicher Leitsatz. LVerfGE 14

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vom 31.1.2000 als Folge einer Änderung des Geschäftsverteilungsplans an die jetzt zuständige Kammer abgegeben. Auf Sachstandsanfragen des Verfahrensbevollmächtigten des Beschwerdeführers teilte das VG durch Schreiben vom 5.9.2000, 12.2.2002 und 18.11.2002 mit, dass wegen einer Vielzahl ebenso dringender älterer Sachen ein Termin zur mündlichen Verhandlung nicht absehbar sei. Der Verfahrensbevollmächtigte reichte zwischen Sommer 1999 und Ende 2002 weitere Schriftsätze unterschiedlichen Umfangs ein, mit denen er, z.T. unter Bezugnahme auf beigefügte Zeitungsartikel und Berichte von Hilfsorganisationen, auf die aktuelle Lage in Kolumbien hinwies. II. Mit der am 2.12.2002 erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seines Grundrechts auf ein zügiges Verfahren vor Gericht (Art. 52 Abs. 4 S. 1 Verfassung des Landes Brandenburg — LV). Die Verfahrensdauer sei nicht mehr hinnehmbar. Zwar erhalte er Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und könne während des gerichtlichen Verfahrens in Deutschland bleiben. Jedoch unterliege er, solange nicht als asylberechtigt anerkannt, Beschränkungen. Die ungeklärte Situation belaste ihn psychisch und beeinträchtige seine Lebensplanung. Ergänzend beantragt der Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Landesverfassungsgericht Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Verfahrensbevollmächtigten. III. Der Präsident des VG verweist in seiner Stellungnahme auf die umfangreiche Zuständigkeit der Kammer. Neben Verwaltungsstreitigkeiten aus einer relativ großen Bandbreite „klassischer" Verwaltungsrechtsgebiete seien Asylsachen aus Herkunftsländern (Iran, Afghanistan, Pakistan, Indien, Kuba, weiteren mittel- und südamerikanischen Ländern) zu bearbeiten, die von einem hohen Bearbeitungsaufwand geprägt seien. In der Kammer sei zudem ein häufiger Richterwechsel — mit entsprechenden Einarbeitungszeiten — zu verzeichnen. Ein Berichterstatter sei jeweils für mehrere Länder zuständig. In dem nach einer Änderung des Geschäftsverteilungsplans der Kammer nun betroffenen Dezernat gebe es einen besonders umfangreichen Bestand an Altverfahren z.T. noch aus den Jahren 1996 und 1997. Nach Rücksprache mit dem Berichterstatter erscheine eine Terminierung „in der zweiten Hälfte des laufenden Geschäftsjahres realistisch". B. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet.

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Zügiges Verfahren vor Gericht

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I. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig (vgl. allgemein zu das Recht auf zügiges Verfahren vor Gericht betreffenden Verfassungsbeschwerden: Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschl. v. 28.3.2001 — VfGBbg 2/01 LVerfGE Suppl. Bbg. zu Bd. 12, 3; BVerfG, NJW 1997, 2811 mwN). 1. Der Beschwerdeführer kann nicht darauf verwiesen werden, sich gegen die von ihm als zu lang empfundene Verfahrensdauer innerhalb des Verwaltungsgerichtsverfahrens zur Wehr zu setzen. Soweit in der Literatur eine Untätigkeitsbeschwerde auch im Verwaltungsgerichtsprozess für statthaft gehalten wird (vgl. Kopp/Schenke Verwaltungsgerichtsordnung, 13. Aufl. 2003, Rn. 32 zu § 146, Rn. 19 zu § 166; Happ in: Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, 11. Aufl. 2000, Rn. 14 zu § 124), erscheint dieser Weg zu unsicher (vgl. — vorrangig zum Prozesskostenhilfeverfahren —: Mejer-I^adewig in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung, Rn. 36 vor § 124 mwN). Es ist dem Beschwerdeführer nicht zuzumuten (vgl. zu diesem Kriterium BVerfGE 17, 252, 257; 27, 88, 97), diesen Weg zu beschreiten. Eine Maßnahme des einstweiligen verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes kommt ebenso wenig in Betracht (vgl. BVerfG v. 4.10.2001 - 2 BvR 1209/01, http://www.bverfg.de). 2. Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht auch nicht entgegen, dass hier die Verletzung eines Landesgrundrechts im Rahmen eines bundesrechtlich — hier durch die Verwaltungsgerichtsordnung — geordneten Verfahrens gerügt wird. Die insoweit erforderlichen Voraussetzungen (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, std. Rspr. seit Beschl. v. 16.4.1998 - VfGBbg 1/98 - , LVerfGE 8, 82, 84 f unter Bezugnahme auf BVerfGE 96, 345, 371 ff; zuletzt Beschl. v. 19.12.2002 - VfGBbg 104/02 LVerfGE 13, 197 ff) sind gegeben. II. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Der andauernde Verfahrensstillstand in dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf ein zügiges Verfahren vor Gericht aus Art. 52 Abs. 4 S. 1 UV. Im Einzelnen: 1. Art. 52 Abs. 4 S. 1 UV ist ein Grundrecht (s. Verfassungsgericht des Uandes Brandenburg, std. Rspr. seit Beschl. v. 19.5.1994 - VfGBbg 6/93, 6/93 EA - , UVerfGE 2, 105, 112 und Beschl. v. 14.7.1994 - VfGBbg 3/94 - , UVerfGE 2, 115 - Ueitsatz 1, 116). Es konkretisiert den Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes zu einem Grundrecht auf ein zügiges Verfahren vor Gericht und gewährleistet, dass gerichtliche Entscheidungen in angemessener Zeit ergehen (s. Verfassungsgericht des Uandes Brandenburg, Beschl. v. 28.3.2001 - VfGBbg 2/01 - , UVerfGE Suppl. Bbg. zu Bd. 12, 3, 6 ff).

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Verfassungsgericht des Landes Brandenburg

2. Die angemessene Verfahrensdauer lässt sich nicht generell und abstrakt, sondern nur nach den besonderen Umständen des einzelnen Falles bemessen (Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschl. v. 14.7.1994 — VfGBbg 3/94 - aaO, v. 19.1.1995 - VfGBbg 9/94 - , LVerfGE 3, 129, 133 und v. 28.3.2001 VfGBbg 2/01 - aaO). Dabei ist neben dem eigenen prozessualen Verhalten des Beschwerdeführers - etwa wenn er durch verzögernde Anträge (vgl. für einen solchen Fall Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschl. v. 19.1.1995 VfGBbg 9/94 - aaO) zur Verfahrensverlängerung beigetragen oder den Arbeitsaufwand durch ungeordnetes und unübersichtliches Vorbringen erhöht hat (vgl. insoweit Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschl. v. 28.3.2001 VfGBbg 2/01 - aaO) - nicht zuletzt die Bedeutung der Angelegenheit für den Beschwerdeführer (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschl. v. 28.3.2001 - VfGBbg 2/01 - aaO; BVerfG, Beschl. v. 30.4.1992 - 1 BvR 406/89 , zitiert nach JURIS) zu berücksichtigen. Gegebenenfalls ist auch zu berücksichtigen, dass die Gründe außerhalb der Sphäre des Gerichts liegen (vgl. BVerfG, EuGRZ 1982, 75), wie es bei erschwerten Ermitdungen oder z.B. bei \^erfahrensunterbrechungen durch äußere Umstände der Fall sein kann. Dagegen ist — im Land Brandenburg nach der Umstrukturierung der Justizorganisation im Rahmen der Wiedervereinigung (vgl. hierzu Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschl. v. 28.3.2001 - VfGBbg 2/01 - aaO) - die besondere Situation des angerufenen Gerichts, etwa seine Überlastung, nach nunmehr über 10 Jahren nicht mehr beachtlich. Das Rechtsstaatsprinzip erfordert eine funktionsfähige Rechtsprechung, zu der eine angemessene Ausstattung der Gerichte gehört (s. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschl. v. 28.3.2001 - VfGBbg 2/01 — aaO mwN). 3. Vorliegend lässt sich die Dauer des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens, gemessen an dem Anspruch auf ein zügiges Verfahren vor Gericht, nicht mehr rechtfertigen. Das Verfahren ist seitens des VG bis zum Anhängigwerden der Verfassungsbeschwerde gut drei Jahre und fünf Monate nicht nennenswert gefördert worden. Eine solche Verfahrensdauer hat das erkennende Gericht freilich in dem seiner Entscheidung vom 28.3.2001 ( - VfGBbg 2/01 — aaO) zugrunde liegenden Ausgangsfall als „noch" nicht gegen Art. 52 Abs. 4 S. 1 LV verstoßend angesehen. Der damals zu beurteilende Fall lag aber in entscheidenden Punkten anders. Der damalige Kläger hatte durch mehrfache Einreichung von mit dem verwaltungsgerichtlichen \^erfahren in keinem Zusammenhang stehenden Schriftstücken den Arbeitsaufwand, „wenn auch nicht massiv", erhöht. Weiter ergaben sich für den damaligen Beschwerdeführer während des schwebenden Verwaltungsgerichtsverfahrens keine gravierenderen Auswirkungen auf sein tägliches Leben. Vorliegend dagegen kann dem Beschwerdeführer nicht vorgehalten werden, dass er durch die zu den Gerichtsakten gereichten Schriftstücke das Verfahren verkompliziert und den Bearbeitungsaufwand erhöht hat. Vielmehr betreffen die von seinem Verfahrensbevollmächtigten vorgelegten Zeitungsausschnitte und LVerfGE 14

Zügiges Verfahren vor Gericht

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Informationsmaterialien die politische Situation in Kolumbien und damit unmittelbar den verfahrensgegenständlichen Asylgrund. Sie unterstreichen aus der Sicht des Beschwerdeführers die Dringlichkeit der Sache. Weiter ergeben sich Auswirkungen auf die tatsächliche Situation des Beschwerdeführers. Zwar ist er während des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens vor Abschiebung sicher, aber die Ungewissheit über den Verfahrensausgang belastet ihn psychisch. Zudem unterliegt er, solange er nicht als asylberechtigt anerkannt ist, beträchtlichen Einschränkungen, z.B. in seiner Wohnsitz-, Aufenthalts-, und Bewegungsfreiheit (§§ 53, 56 AsylVfG) und bei der Arbeitsaufnahme (§ 60 Abs. 1, 61 Abs. 2 AsylVfG). Auch entsprechen die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (§§ 3 ff AsylbLG) nicht in jeder Hinsicht denen nach dem Bundessozialhilfegesetz (§§ 8 Abs. 1, 21 ff BSHG). Gemessen daran ist hier die verstrichene Verfahrensdauer von gut drei Jahren und fünf Monaten zu lang. Die hier gezogene Grenze bezieht sich allerdings nur auf den konkreten Fall, sie gilt nicht generell. Es kann durchaus Gründe dafür geben, dass sich eine Rechtsstreitigkeit, auch innerhalb ein und derselben Instanz, über Jahre hinzieht, etwa dann, wenn eine umfängliche Beweisaufnahme, etwa auch durch Einholung von Gutachten und Obergutachten, veranlasst ist, Zeugen im Ausland zu vernehmen sind und Ähnliches. In derartigen Fällen, in denen sich die Bearbeitung aus in dem Verfahren selbst wurzelnden Gründen in die Länge zieht, bedeutet das Grundrecht auf ein zügiges Verfahren vor Gericht nicht mehr — aber auch nicht weniger — als dass das Gericht das Verfahren angemessen fördern muss und in dem jeweils anstehenden nächsten Verfahrensschritt keine unangemessenen Verzögerungen eintreten dürfen. Im Falle des Beschwerdeführers ist jedoch das verwaltungsgerichtliche Verfahren, ohne dass hierfür Gründe aus diesem selbst heraus erkennbar wären, gut drei Jahre und fünf Monate nicht nennenswert gefördert worden. Nach Lage des Falles ist hier der Anspruch auf ein zügiges Verfahren vor Gericht verletzt. 4. Für die hier zu treffende Entscheidung kommt es nicht darauf an, worauf die Verfahrensverzögerung im Einzelnen und worauf sie etwa „letzten Endes" zurückzuführen ist. Sie kann verschiedene Gründe haben. Eine Verfahrensverzögerung kann an dem einzelnen befassten Richter, an dem Spruchkörper, an der Verwaltung und/oder dem Präsidium des betreffenden Gerichts, an der JustizMittelbehörde, an dem zuständigen Ministerium, am Kurs der Landesregierung, am Haushaltsgesetzgeber oder an einer Kombination solcher denkbaren Ursachen liegen. Der einzelne Richter steht in der Pflicht, durch jeden zumutbaren Einsatz die ihm anvertrauten Verfahren in angemessener Zeit der Erledigung zuzuführen. Überlastung ist anzuzeigen und löst ggfs. den Vertretungsfall aus. Unbeschadet dessen ist innerhalb des Spruchkörpers für eine gleichmäßige Auslastung der Berichterstatter zu sorgen. Bei Überlastung des Spruchkörpers ist dem Gerichtspräsidenten oder dem Präsidium Anzeige zu machen, damit das Präsidium bei ungleichmäßiger Belastung — unter Beachtung der gerichtsverfassungsrechtlichen LVerfGE 14

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Verfassungsgericht des Landes Brandenburg

Vorgaben - einen Ausgleich innerhalb des Gerichts herbeifuhren kann. Die Justiz-Mittelbehörden müssen darauf achten, dass die ihnen zugeordneten Gerichte in der dem jeweiligen Geschäftsanfall gerecht werdender Weise gleichmäßig ausgestattet werden. Das Ministerium hat sich für die benötigten Stellen zu verwenden. Und Landesregierung und Haushaltsgesetzgeber haben zu akzeptieren, dass die Personalausstattung der Gerichte die Einlösung des Grundrechts auf ein zügiges Verfahren vor Gericht ermöglichen muss und dass es sich dabei um einen staatlichen Auftrag handelt, der manchen anderen staatlichen Aufgaben eben deshalb vorgeht, weil ein Grundrecht in Frage steht; Grundrechte „binden" auch die Regierung und die Gesetzgebung (s. Art. 5 Abs. 1 LV im Einklang mit Art. 1 Abs. 2 Grundgesetz) und stehen damit nicht oder nur bedingt unter dem „Vorbehalt des Möglichen". Vorliegend muss offen bleiben, welche der genannten Ursachen für die den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf ein zügiges Verfahren vor Gericht verletzende Verfahrensverzögerung ausschlaggebend verantwortlich ist. Das Landesverfassungsgericht hat nur zu entscheiden, ob — und ggfs. dass — der Anspruch auf ein zügiges Verfahren vor Gericht verletzt ist. Die gem. § 50 Abs. 2 S. 1 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg festzustellende verfassungsverletzende „Handlung oder Unterlassung" liegt in der verzögerten Bearbeitung des zugrunde liegenden Verfahrens durch das Verwaltungsgericht. Es ist nicht die Aufgabe des Landesverfassungsgerichts, etwaigen über den Tatbestand einer Verletzung des Anspruchs auf ein zügiges Verfahren vor Gericht hinausgehenden Ursachen und Hintergründen nachzugehen. Es ist Sache des Verwaltungsgerichts, aus der festgestellten Verletzung des Anspruchs des Beschwerdeführers in seinem Recht aus Art. 52 Abs. 4 S. 1 LV Schlüsse zu ziehen und unbeschadet der richterlichen Unabhängigkeit, die unberührt bleibt, auf eine Beendigung des in dieser Sache eingetretenen landesverfassungswidrigen Zustandes hinzuwirken. C. Das Land Brandenburg hat dem Beschwerdeführer gem. § 32 Abs. 7 S. 1 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg die vor dem Landesverfassungsgericht entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten. Damit erübrigt sich eine Entscheidung über den Antrag auf Prozesskostenhilfe.

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Gemeindegebietsreform: Wohlverhaltensanordnung

Nr. 4* Nach Lage des Falles keine Aussetzung des Inkrafttretens einer eine Gemeinde auflösenden Gesetzesbestimmung im Wege der einstweiligen Anordnung. Unbeschadet dessen Vorkehrungen gegen die zwischenzeitliche Schaffung unumkehrbarer Verhältnisse. Verfassung des Landes Brandenburg Art. 97, 98 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg § 30 Abs. 1 6. Gemeindegebietsreformgesetz Art. 1 § 8 B e s c h l u s s v o m 19. J u n i 2003 - V f G B b g 7/03 EA in dem Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung der Gemeinde Waltersdorf, vertreten durch das Amt Schönefeld, dieses vertreten durch den Amtsdirektor, betrifft: kommunale Neugliederung; hier: Antrag der Gemeinde Waltersdorf (Amt Schönefeld) auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Entscheidungsformel: 1. Der Antrag, das Inkrafttreten von Art. 1 § 8 6. Gemeindegebietsreformgesetz Brandenburg bis zur Entscheidung in der Hauptsache auszusetzen, wird zurückgewiesen. 2. Für die Zeit bis zur Entscheidung über die kommunale Verfassungsbeschwerde der Antragstellerin wild angeordnet: a) Das Land Brandenburg und die am Tag der nächsten landesweiten Kommunalwahlen entstehende Gemeinde Schönefeld werden verpflichtet, keine aufschiebbaren Entscheidungen oder Maßnahmen zu treffen, die der Antragstellerin im Fall ihres Obsiegens die Wiederherstellung ihrer Selbständigkeit unzumutbar erschweren oder ihr nicht wiedergutzumachende Nachteile einbringen würden; insbesondere darf über bisher der Antragstellerin gehörendes Grundvermögen oder solches ihrer Eigengesellschaften nicht verfügt werden. Maßnahmen oder Entscheidungen mit Zustimmung des Ortsbeirates bzw. des Ortsbürgermeisters bleiben zulässig. Abdruck auch in: L K V 2003, 515; NJ 2003, 473 (nur LS). Nichtamtlicher Leitsatz. LVerfGE 14

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Verfassungsgericht des Landes Brandenburg

b) Der am Tag der nächsten landesweiten Kommunalwahlen entstehenden Gemeinde Schönefeld wird aufgegeben, bei Aufstellung und Abwicklung des Haushaltes alle Vorgänge, die die Antragstellerin betreffen, zu kennzeichnen, soweit dies vom Aufwand her vertretbar ist. 3. Das Land Brandenburg hat der Antragstellerin 10% der im einstweiligen Anordnungsverfahren entstehenden notwendigen Auslagen nach einem Gegenstandswert von 10.000,00 € zu erstatten. Gründe: I. Die Antragstellerin, eine amtsangehörige Gemeinde, wehrt sich gegen ihre Auflösung durch die in Art. 1 § 8 des Gesetzes zur landesweiten Gemeindegebietsreform betreffend die Landkreise Dahme-Spreewald, Elbe-Elster, Oderspreewald-Lausitz, Oder-Spree, Spree-Neiße sowie zur Auflösung der Gemeinden Diepensee und Haidemühl und zur Änderung des Gesetzes zur Auflösung der Gemeinde Horno und zur Eingliederung ihres Gemeindegebietes in die Gemeinde Jänschwalde sowie zur Änderung der Amtsordnung vom 24.3.2003 (6. Gemeindegebietsreformgesetz Brandenburg — 6. GemGebRefGBbg — GVB1 I S. 93) vorgesehene Zusammenlegung mit weiteren amtsangehörigen Gemeinden zu einer neuen amtsfreien Gemeinde namens Schönefeld mit dem Tage der nächsten landesweiten Kommunalwahlen. Als Wahltag ist der 26.10.2003 festgesetzt. Die Antragstellerin beantragt, im Wege der einstweiligen Anordnung zu bestimmen, dass Art. 1 § 8 des 6. GemGebRefGBbg bis zur Entscheidung über ihre kommunale Verfassungsbeschwerde nicht in Kraft tritt. Der Antrag zielt u.a. darauf ab, die Kommunalwahl in diesem Bereich nicht in den durch das Gemeindegebietsreformgesetz bestimmten Strukturen stattfinden zu lassen. Der Landtag Brandenburg, die Landesregierung und der Städte- und Gemeindebund Brandenburg hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Landesregierung und der Städte- und Gemeindebund haben davon Gebrauch gemacht. II. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig, hat jedoch nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfange Erfolg. Nach § 30 Abs. 1 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg — VerfGGBbg — kann das Landesverfassungsgericht einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Hiernach war wie aus dem Beschlusstenor ersichtlich zu entscheiden.

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Gemeindegebietsreform: Wohlverhaltensanordnung

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a) Für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, wie schon der Wortlaut des § 30 Abs. 1 VerfGGBbg ausweist, ein strenger Maßstab anzulegen. Dies gilt in noch verstärktem Maße, wenn der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, wie hier, darauf abzielt, den Vollzug eines Gesetzes auszusetzen oder das Inkrafttreten eines Gesetzes zu verschieben (vgl. Urt. v. 30.11.1993 — VfGBbg 3/93 EA - , LVerfGE 1, 205, 206 f und v. 22.12.1993 - VfGBbg 9/93 EA - , LVerfGE 1, 214, 216; s. BVerfG, Beschl. v. 26.3.2003 - 1 BvR 112/03 - , zuvor etwa BVerfGE 104, 51, 55; 104, 23, 27; 99, 57, 66; 96, 120, 129; 94, 334, 347; 93, 181, 186), und zwar auch dann, wenn das Gesetz nicht abstrakt-genereller Natur ist, sondern eine konkrete Neugliederungsmaßnahme betrifft (s. bereits Urt. v. 30.11.1993, aaO.; vgl. weiter BVerfGE 91, 70, 75; ThürVerfGH LVerfGE 6, 373, 378; 6, 381, 385). Ein Gesetz ist grundsätzlich so lange als wirksam anzusehen, bis seine Verfassungswidrigkeit im Hauptsacheverfahren festgestellt ist. Hiervon ausgehend ist die Entscheidung über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung — grundsätzlich unabhängig vom Grad der Erfolgsaussicht in der Hauptsache — anhand einer Folgenabwägung zu treffen, bei der die Folgen abzuwägen sind, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber in der Hauptsache Erfolg hat, gegenüber denjenigen Nachteilen, die entstünden, wenn eine einstweilige Anordnung erlassen würde, der Hauptsache aber der Erfolg versagt bleibt. Als „schwerer" Nachteil ist nur ein Nachteil anzusehen, der endgültig und nicht wiedergutzumachen, also irreparabel ist (s. Urt. v. 30.11.1993, aaO, 217 f). b) Hiernach sieht es das Gericht nicht als „zur Abwehr schwerer Nachteile" „zum gemeinen Wohl" „dringend geboten" an, das Inkrafttreten von Art. 1 § 8 des 6. GemGebRefGBbg bis zur Entscheidung über die kommunale Verfassungsbeschwerde der Antragstellerin auszusetzen. Bei einem Obsiegen der Antragstellerin in der Hauptsache erweist sich ihre Einbeziehung in die Gemeinde Schönefeld als unwirksam und behält sie ihre rechtliche Selbständigkeit. Dass sie in der Zwischenzeit (ab dem 26.10.2003) nicht über eine eigene Gemeindevertretung verfügt hätte und an einer eigenverantwortlichen Wahrnehmung der kommunalen Selbstverwaltung gehindert gewesen wäre, ist gemessen daran, dass bei einem Unterliegen der Antragstellerin in der Hauptsache das Gemeindegebietsreformgesetz eine Zeitlang „leergelaufen" wäre und in dem betreffenden Gebiet keine Kommunalwahlen in den gesetzlich festgelegten Strukturen stattgefunden hätten, ein zwar gewichtiger, aber kein auf Dauer irreversibler Nachteil. Er würde durch einen Erfolg in der Hauptsache weitgehend „wiedergutgemacht". Auch eine Verwaltung wäre wieder verfügbar zu machen. Wenn die Antragstellerin in der Hauptsache Erfolg hat und sie als amtsangehörige Gemeinde fortbesteht, hat sie Anspruch zwar nicht auf die bisherige, wohl aber auf irgendeine geeignete (Amts-) Verwaltung (vgl. Beschl. v. 16.5.2002 - VfGBbg 51/01 - , LKV 2002, 515). Dass bei einem Erfolg der Antragstellerin in der Hauptsache die Kommunalwahlen in den dann kommunalpolitisch anders gearteten Strukturen zu wiederLVerfGE 14

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holen wären, kann eine das Inkrafttreten von Art. 1 § 8 6. GemGebRefGBbg bis zur Hauptsacheentscheidung aussetzende einstweilige Anordnung nicht rechtfertigen. Zwar ist es in der Tat gerade auch unter Demokratiegesichtspunkten ungut, wenn bei einer Wahl die Gefahr der Wiederholung besteht (vgl. auch Urt. v. 30.11.1993 - VfGBbg 3/93 EA - , aaO, 209). Andererseits ist ein legitimes gesetzgeberisches Interesse an landesweit gleichzeitigen und unter landesweit gleichen gesamtpolitischen Rahmenbedingungen stattfindenden Kommunalwahlen anzuerkennen (vgl. aaO). Im Übrigen besteht die Gefahr einer Wahlwiederholung so oder so, weil bei einer Aussetzung des Inkrafttretens von Art. 1 § 8 des 6. GemGebRefGBbg die Kommunalwahlen in den bisherigen Strukturen durchzuführen, bei einem Unterliegen der Antragstellerin in der Hauptsache aber hinfällig wären und in der Gemeinde Schönefeld deshalb unter Beteiligung der Einwohner von Waltersdorf neu gewählt werden müsste. Das Landesverfassungsgericht hat auch die anderen von der Antragstellerin für die vorläufige Aussetzung des Inkrafttretens von Art. 1 § 8 des 6. GemGebRefGBbg geltend gemachten Gesichtspunkte geprüft und in seine Abwägung einbezogen, hält sie aber ebenfalls — sowohl je für sich als auch im Zusammenwirken — für eine derart weitreichende einstweilige Anordnung nicht für schwerwiegend genug. Dies gilt namentlich auch für die jetzt mit dem Gesetzesvollzug und die gegebenenfalls mit der späteren Rückabwicklung verbundenen Vollzugs folgen, deren Stellenwert für die hier zu treffende Entscheidung dadurch relativiert wird, dass jedenfalls bloße Vollzugsfolgen nicht dazu führen dürfen, dass die vorläufige Aussetzung eines Gesetzes zum Regelfall wird (vgl. Urt. v. 30.11.1993, aaO, 207 f). c) Unbeschadet der Zurückweisung des Antrags auf vorläufige Aussetzung des Inkrafttretens von Art. 1 § 8 des 6. GemGebRefGBbg hält es indes das Landesverfassungsgericht, das im Verfahren der einstweiligen Anordnung an die gestellten Anträge nicht gebunden ist (vgl. BVerfGE 86, 46, 48; 81, 53, 57; Graßhof in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethke, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Stand Juli 2002, § 32 Rn. 115, 158), für veranlasst, Vorkehrungen zu treffen, dass bis zu der Entscheidung über die kommunale Verfassungsbeschwerde der Antragstellerin keine aufschiebbaren Entscheidungen oder Maßnahmen getroffen werden, die der Antragstellerin im Fall ihres Obsiegens die Wiederherstellung ihrer Selbständigkeit unzumutbar erschweren oder ihr nicht wiedergutzumachende Nachteile einbringen würden. Dem dient die einstweilige Anordnung zu Ziff. 2 a der Entscheidungsformel (ebenso BVerfGE 91, 70, 72; ThürVerfGH, LVerfGE 6, 373, 380; SächsVerfGH, LKV 2000, 23, 25; VerfGH NW, OVGE 30, 278, 279; s. auch Urinktrine/UnnerstalllKN 2000, 330, 334 ff). Sie hält die entstehende Gemeinde Schönefeld für die Zeit bis zur Entscheidung der Hauptsache, um „unumkehrbare Verhältnisse" zu vermeiden, zur Zurückhaltung gegenüber den Belangen der für ihre Selbständigkeit eintretenden Antragstellerin an. Als — nicht abschließendes — Beispiel hat das Gericht hervorgehoben, dass nicht über GrundLVerfGE 14

Untersuchungsausschuss: Beweisantragsrecht der qualifizierten Minderheit

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vermögen der Antragstellerin und etwaiger Eigengesellschaften verfügt werden darf. Dies soll freilich Entscheidungen und Maßnahmen aller Art nicht im Wege stehen, die im wohlverstandenen Interesse der Antragstellerin liegen. Solche erfordern jedoch nach der Entscheidung des Verfassungsgerichtes die Zustimmung des Ortsbeirates bzw., wo ein solcher nicht gebildet wird, des Ortsbürgermeisters. Darüber hinaus gibt das Landesverfassungsgericht aus Gründen der Transparenz der entstehenden Gemeinde auf, bis zur Entscheidung in der Hauptsache bei Aufstellung und Abwicklung des Haushaltes alle Vorgänge, die die Antragstellerin betreffen, zu kennzeichnen, soweit dies vom Aufwand her vertretbar ist (ebenso BVerfGE 91, 70, 73; ThürVerfGH, LVerfGE 6, 373, 380; \^erfGH NW, OVGE 30, 278, 279). III. Die Nebenentscheidungen beruhen auf § 32 Abs. 7 S. 2 VerfGGBbg und § 113 Abs. 2 S. 3 BRAGO.

Nr. 5* 1. Antragsbefugnis der Landtagsfraktion in einem Organstreitverfahren wegen Ablehnung eines Beweisantrags im Untersuchungsausschuss. 2. Was zur Beweiserhebung iSd Art. 72 Abs. 3 Landesverfassung gehört, ist am Untersuchungsauftrag zu messen. Setzt der Landtag einen allgemein auf „Aufklärung" gerichteten Untersuchungsausschuss ein, können der qualifizierten Ausschussminderheit entsprechend allgemein auf Aufklärung gerichtete Beweisanträge nicht vorenthalten werden. Verfassung des Landes Brandenburg Art. 67 Abs. 1; 72 Abs. 1 und 3 Urteil v o m 16. Oktober 2003 - V f G B b g 95/02 in dem Organstreitverfahren 1.

der beiden Mitglieder im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss 3/2 der 3. Wahlperiode des Landtags Brandenburg a) Heinz Vietze MdL b) Klaus-Jürgen Warnick MdL - Antragsteller zu 1. -

Abdruck auch in: LKV 2004, 177. LVerfGE 14

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2.

Verfassungsgericht des Landes Brandenburg

der Fraktion der PDS im 3. Brandenburgischen Landtag, vertreten durch den Vorsitzenden Prof. Dr. Lothar Bisky MdL — Antragstellerin zu 2. —

gegen den Parlamentarischen Untersuchungsausschuss 3/2 der 3. Wahlperiode des Landtages Brandenburg, vertreten durch seinen Vorsitzenden Dieter Helm MdL — Antragsgegner — wegen Ablehnung des Beweisantrags A 33 im 2. Untersuchungsausschuss der 3. Wahlperiode des Landtages Brandenburg Entscheidungsformel: Auf Antrag der Antragsteller zu 1. und der Antragstellerin zu 2. wird festgestellt: Die Ablehnung des Antrages A 33 durch den 2. Untersuchungsausschuss der 3. Wahlperiode des Landtages Brandenburg verletzt die Antragsteller zu 1. in ihrem Recht aus Art. 72 Abs. 2 S. 2 der Landesverfassung. Gründe: A. Die Antragsteller rügen die Verletzung des Beweiserhebungsrechts der Antragsteller zu 1. durch den Antragsgegner. I. Der Landtag Brandenburg setzte am 20.9.2001 einen aus acht Abgeordneten nebst Stellvertretern bestehenden Untersuchungsausschuss „zur Aufklärung der Verantwortung der Landesregierung und der Landesvertreter in den Gesellschafterversammlungen und Aufsichtsräten sowie der Geschäftsführer für den bisherigen Verlauf 1991 bis 2001 der Entwicklung a) der Landesentwicklungsgesellschaft für Städtebau, Wohnen und Verkehr des Landes Brandenburg (LEG) und b) der LEG-Gruppe, ihrer Töchter und Beteiligungen" ein. Von Seiten der PDS-Fraktion sind die Antragsteller zu 1. Mitglieder des Untersuchungsausschusses. In dem Einsetzungsbeschluss heißt es: „Im Einzelnen sollen zur Entwicklung der LEG und der Unternehmen der LEG-Gruppe folgende Fragen beantwortet werden: 1.

LVerfGE 14

Zusammensetzung Geschäftsleitung

und

Tätigkeit

von

Übenvachungsorganen

und

Untersuchungsausschuss: Beweisantragsrecht der qualifizierten Minderheit

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1.3. Welche Niederschriften wurden über Sitzungen der Organe und ihrer Ausschüsse erstellt? 1.7. Welche Themen wurden in den Sitzungen der Uberwachungsorgane und ihrer Ausschüsse ausweislich der Protokolle schwerpunktmäßig behandelt? 6.

Risikomanagement

6.2. Hat die Geschäftsführung der LEG und der Unternehmen der LEGGruppe Maßnahmen zur Risikoabwehr und -begrenzung ergriffen und waren diese geeignet, ihren Zweck zu erfüllen?

9.

Berichterstattung

9.1. Welche regelmäßigen Berichte erstatteten die Geschäftsführungen der LEG und der Unternehmen der LEG-Gruppe den Uberwachungsorganen? 9.3. Wurden die Uberwachungsorgane über wesentliche Vorgänge zeitnah unterrichtet?"

Nach seiner Konstituierung im November 2001 beschloss der Untersuchungsausschuss in seiner 3. Sitzung am 18.12.2001, bestimmte Unterlagen — so insbesondere Protokolle der Geschäftsführer- und Aufsichtsratssitzungen der LEG und Kabinettsvorlagen und Beschlüsse der Landesregierung Brandenburg — bei der LEG bzw. der Landesregierung Brandenburg anzufordern (Beweisbeschluss Β 2). Nachdem der Ausschuss in den ersten Monaten des Jahres 2002 die Unterlagen erhalten und gesichtet hatte, sahen die Antragsteller zu 1. weiteren Aufklärungsbedarf insoweit, als die Protokolle auf nicht beigefügte Anlagen insbesondere Tisch- und Sitzungsvorlagen — Bezug nahmen. Auf einem Briefbogen der Antragstellerin zu 2. unterzeichneten die Antragsteller zu 1. unter dem 29.4.2002 einen an den Vorsitzenden des Antragsgegners gerichteten Antrag, durch „die Vorlage aller Beschluss- und Tischvorlagen zu den Gesellschafterversammlungen, Aufsichtsratssitzungen und Geschäftsführersitzungen der LEG und aller ihrer Tochter- und Beteiligungsunternehmen im Zeitraum von 1991 bis 2001 durch die ... LEG ..." die Punkte 1.3, 1.7, 9.1 und 9.3 des Einsetzungsbeschlusses aufzuklären (Beweisantrag A 31). In der 9. Sitzung des Untersuchungsausschusses am 14.5.2002 hieß es mündlich zur Begründung, man könne ohne die in den Protokollen in Bezug genommenen Unterlagen nicht nachvollziehen, was in den Sitzungen geschehen sei. Die der SPD- und CDUFraktion angehörenden Mitglieder des Untersuchungsausschusses äußerten Bedenken. Der Antrag müsse überarbeitet und konkretisiert werden, da er zu unbestimmt sei. Der Antrag wurde sodann in der Sitzung mehrheitlich abgelehnt. LVerfGE 14

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Verfassungsgericht des Landes Brandenburg

Unter dem 3.6.2002 stellten die Antragsteller zu 1., erneut auf einem Kopfbogen der Antragstellerin zu 2., folgenden Antrag: „Es wird Beweis erhoben über die Tatsache, welche Beschluss- und Tischvorlagen den Aufsichts- und Geschäftsführungsgremien der LEG und ihrer Tochter- und Beteiligungsunternehmen zu den jeweiligen Gesellschafterversammlungen, Aufsichtsratssitzungen und Geschäfts führersitzungen vorgelegen haben, durch die Herausgabe aller Vorlagen, Sitzungsvorlagen und Tischvorlagen, die zu den Gesellschafterversammlungen, Aufsichtsratssitzungen und Geschäftsführersitzungen der LEG und ihrer Tochter- und Beteiligungsuntemehmen im Zeitraum von 1991 bis 2001 vorgelegen haben, soweit sie im Protokoll der jeweiligen Sitzung erwähnt werden" (Beweisantrag A 33).

In dem Antrag werden einige Protokolle beispielhaft genannt, in denen auf Sitzungsvorlagen verwiesen wird. In der 10. Sitzung des Untersuchungsausschusses am 18.6.2002 wurde der Antrag behandelt. Mehrere Ausschussmitglieder äußerten erneut Bedenken. Uber die — erfolgte - Vorlage der Protokolle hinaus könne die Vorlage von Beschluss- und Tischvorlagen nicht gefordert werden. Bei der folgenden Abstimmung wurde der Antrag mit vier zu drei Stimmen „als unzulässig" abgelehnt. Im weiteren Verlauf beschloss der Untersuchungsausschuss in seiner 12. Sitzung am 17.9.2002, dass ihm vorzulegen seien: „alle Vorlagen, die zu den Gesellschafterversammlungen und Aufsichtsratssitzungen der LEG und ihrer Tochter- und Beteiligungsunternehmen vorgelegen haben, soweit sie im Protokoll der jeweiligen Sitzung erwähnt werden, einschließlich der durch die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Arthur Andersen erstellten Sitzungsvorlage (Hand Out) zu der Aufsichtsratssitzung der LEG am 29.8.2001 zum Tagesordnungspunkt 2 ,Beratung des Jahresabschlusses der LEG"' (Beweisbeschluss Β 26).

Mit Schieiben vom 30.10.2002 übersandte die LEG die „bei uns vorliegenden und gesichteten Unterlagen zum ... Beweisbeschluss" und verband dies mit dem Hinweis, „dass die bei uns befindlichen Unterlagen sowohl bedingt durch die Rückführung einzelner Tochterunternehmen wie auch durch die Liquidation der LEG nicht in allen Fällen vollständig beigebracht werden können". II. Die Antragsteller haben gegen die Ablehnung des Antrags A 33 am 3.9.2002 das Verfassungsgericht angerufen. Die Antragsteller zu 1. sehen sich als „qualifizierte Minderheit" (Art. 72 Abs. 3 S. 2 LV; § 15 Abs. 2 UAG: ein Fünftel der Mitglieder des Untersuchungsausschusses) und halten sich dementsprechend für beteiligtenfähig. Der verfahrensgegenständliche Beweisantrag sei im Untersuchungsausschuss zutreffend als Antrag der der PDS angehörenden Mitglieder des Untersuchungsausschusses verstanden worden. Die Antragsbefugnis ergebe sich aus Art. 72 Abs. 3 S. 2 Alt. 2 LV lVm § 15 Abs. 2 Alt. 2 UAG einerseits und Art. 72 Abs. 3 S. 2 Alt. 1 LV iVm § 15 Abs. 2 Alt. 1 UAG andererseits. LVerfGE 14

Untersuchungsausschuss: Beweisantragsrecht der qualifizierten Minderheit

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Der Antragstellerin zu 2. komme gem. Art. 67 LV eine eigene verfassungsrechtliche Stellung zu. Sie habe den Antrag auf Einsetzung des Untersuchungsausschusses gestellt und sei als ständige Gliederung des Parlaments legitimiert, den Untersuchungsauftrag des Landtages zu sichern und so auch die Verletzung der Rechte der qualifizierten Minderheit (Art. 72 Abs. 3 S. 2 Alt. 2 LV; § 15 Abs. 2 Alt. 2 UAG) eigenständig geltend zu machen. Das Rechtsschutzbedürfnis bleibe ungeachtet der zwischenzeitlichen teilweisen Vorlage der Unterlagen durch die LEG aus der Zurückweisung des Beweisantrags A 33 bestehen. Andernfalls habe es der Antragsgegner durch nachträgliche Konzessionen in der Hand, Organstreitanträge aus politischen oder anderen Gründen zu Fall zu bringen. In der Sache selbst habe der Beweisantrag A 33 nicht zurückgewiesen werden dürfen. Die Versagungsgründe des § 15 Abs. 3 Untersuchungsausschussgesetz (UAG) hätten nicht vorgelegen. Die Protokolle ohne in Bezug genommene Anlagen reichten zur Erfüllung des Untersuchungsauftrags nicht aus. Jedenfalls sei der Beweisantrag zulässig. Er sei ausweislich Ziffer III. C. des Einsetzungsbeschlusses („... und die Erfüllung der Aufgaben der jeweiligen Geschäftsführung durch die einzelnen Geschäftsführer in den Jahren 1991 bis 2001 ...") vom Untersuchungsauftrag gedeckt. Die Antragsteller beantragen festzustellen: „Der 2. Untersuchungsausschuss der 3. Wahlperiode des brandenburgischen Landtages ... hat das Beweiserhebungsrecht der qualifizierten Minderheit im parlamentarischen Untersuchungsausschuss 3/2 gem. Art. 72 III Bbg Verf und das von der Antragstellerin zu 2. geltend gemachte Recht des brandenburgischen Landtages auf ordnungsgemäße Erfüllung des Untersuchungsauftrages dadurch verletzt, dass er den Beweisantrag A 33 der Antragsteller zu 1. in seiner 10. Sitzung am 18.6.2002 rechtswidrig als unzulässig abgelehnt hat". Der Antragsgegner beantragt, den Antrag zurückzuweisen. Den Antragstellern zu 1. fehle bereits die Antragsbefugnis. Der verfahrensgegenständliche Beweisantrag sei auf einem Briefbogen der Antragstellerin zu 2. erfolgt und dieser zuzurechnen. Daher seien durch eine Ablehnung allenfalls Rechte der 21 Abgeordneten der PDS betroffen, die den Untersuchungsausschuss beantragt hatten. Auch der Antrag der Antragstellerin zu 2. sei mangels Antragsbefugnis unzulässig. Eine Fraktion besitze als solche kein Antragsrecht im Untersuchungsausschuss, so dass die Ablehnung eines gleichwohl durch sie gestellten Antrags sie auch nicht in ihren Rechten verletzen könne. Im Untersuchungsausschuss seien allein die 21 Abgeordneten der PDS antragsbefugt, die die Einsetzung des Untersuchungsausschusses beantragt hatten (Art. 72 Abs. 3 S. 2 LV). Auch aus einer

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etwaigen Verletzung des Untersuchungsrechts des Landtags könne die Antragstellerin zu 2. keine Antragsbefugnis herleiten. Die Ablehnung eines verfahrensrechtlich unzulässigen Beweisantrages könne keine Rechte des Landtages verletzen. In der Sache selbst handele es sich bei dem verfahrensgegenständlichen Antrag nicht um einen Beweisantrag im technischen Sinne, sondern um einen „Antrag, der im Rahmen der von dem Untersuchungsausschuss vorzunehmenden Sachverhaltsermittlung die Vorlage von ... Anlagen zu Sitzungsprotokollen bewirken soll". Ein solcher Antrag sei zunächst an § 16 UAG zu messen. Erst wenn durch die Unterlagen bestimmte Tatsachen bewiesen werden sollten, könne von einer Vorlage „als Beweismittel" die Rede sein. Die LEG sei als privatrechtliche Gesellschaft weder gem. § 1 6 UAG noch aufgrund von Art. 72 Abs. 2 LV zur Aktenvorlage verpflichtet. Hier sei die Ablehnung des Antrages schon deshalb veranlasst gewesen, weil die LEG zur Vorlage von Unterlagen nicht verpflichtet sei und es sich nur um Sachverhaltsermittlung gehandelt habe. Die LEG habe allenfalls „ersucht" werden können, bestimmte Unterlagen vorzulegen. Durch den Beweisbeschluss Β 26 vom 17.9.2002 habe sich die Hauptsache zumindest teilweise erledigt. Soweit noch die Beiziehung der Vorlagen zu den Geschäftsführersitzungen in Streit stehe, sei eine solche vom Untersuchungsauftrag, wie Ziffer 1.7 des Einsetzungsbeschlusses zeige, nicht gedeckt; bei den Geschäftsführungen der LEG und ihrer Tochter- und Beteiligungsunternehmen handele es sich nicht um „Uberwachungsorgane". III. Der Präsident des Landtags Brandenburg und die Landesregierung haben Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. Die den Landtagsfraktionen von SPD und CDU angehörenden Mitglieder des Untersuchungsausschusses haben sich mit einer Stellungnahme an den Verfahrensbevollmächtigten des Antragsgegners gewandt. Danach seien sie bereit gewesen, den Beweisantrag A 33 bei einer Neueinbringung „nunmehr anders zu behandeln". Da dies in Aussicht gestanden habe, sei die Antragstellerin zu 1. in der Lage gewesen, die in Frage stehende Rechtsverletzung durch eigenes zumutbares Handeln zu vermeiden, so dass das Organstreitverfahren mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig sei. Im Übrigen dürfe die Mehrheit der Mitglieder im Untersuchungsausschuss Beweisanträge der qualifizierten Minderheit zurückweisen, wenn „die Minderheit die ihr zustehenden Rechte sachwidrig" ausübe. In der Sache selbst ergebe sich der Untersuchungsauftrag ausschließlich aus dem Katalog der insgesamt 89 Einzelfragen des Einsetzungsbeschlusses und decke den Beweisantrag A 33 nicht. Der Beweisantrag diene der Verfahrensverschleppung. Die LEG könne einem derartigen Beweisbeschluss nur mit einem „unverhältnismäßig großen Personal- und Sachaufwand" nachkommen.

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B. Der Antrag sowohl der Antragsteller zu 1. als auch der Antragstellerin zu 2. ist zulässig (I.) und hat auch in der Sache selbst Erfolg (II.). I. Der Antrag der Antragsteller zu 1. und der Antragstellerin zu 2. ist im Organstreitverfahren gem. Art. 113 Nr. 1 LV, §§ 12 Nr. 1, 35 ff Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg (VerfGGBbg) zulässig. 1. Antragsteller und Antragsgegner sind iSv Art. 113 Nr. 1 LV, §§ 12 Nr. 1, 35 VerfGGBbg im Organstreitverfahren beteiligtenfähig. Für die Antragsteller zu 1. ergibt sich dies jedenfalls daraus, dass sie ein Fünftel der Mitglieder des Untersuchungsausschusses ausmachen, auf dessen Antrag der Untersuchungsausschuss Beweise zu erheben hat (Art. 72 Abs. 3 S. 2 Alt. 2 LV). Die Antragstellerin zu 2. ist als Fraktion im Landtag Brandenburg gem. Art. 67 Abs. 1 LV mit eigenen Rechten ausgestattet und damit ebenfalls beteiligtenfähig (vgl. zur Beteiligtenfähigkeit einer Fraktion im Organstreitverfahren: Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 20.6.1996 - VfGBbg 14/96 EA LVerfGE 4, 190, 195 sowie v. 21.8.2003 - VfGBbg 4/03 Beschl. v. 28.3.2001 - VfGBbg 46/00 LVerfGE 12, 92, 99). Es kommt unter diesen Umständen nicht darauf an, ob die Antragsteller — auch, wie vorgetragen — als „Fraktion im Untersuchungsausschuss" beteiligtenfähig wären (vgl. hierzu auch Knippel in: Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit auf Landesebene, S. 51, 62; zur Beteiligtenfähigkeit einer „Fraktion im Untersuchungsausschuss" auf Bundesebene mit Blick auf § 60 Abs. 2 Geschäftsordnung Bundestag: BVerfGE 67, 100, 124; 70, 324, 351; BVerfG, NJW 2002, 1936). Die Beteiligtenfähigkeit des Antragsgegners folgt aus Art. 72 Abs. 3 LV. Die Verfahrensbeteiligten sind prozessführungsbefugt (vgl. zu diesem Erfordernis im Organstreitverfahren Bethge in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Rn. 68 ff zu § 64). a) Die Antragsteller zu 1. fühlen sich in ihrem Beweisantrags- und -erhebungsrecht aus Art. 72 Abs. 3 S. 2 Alt. 2 LV verletzt und machen damit ihnen selbst zustehende Rechte geltend. b) Die Antragstellerin zu 2. kann als Fraktion und damit als ständige Untergliederung des Parlaments (vgl. hierzu: BVerfGE 20, 56, 104; 45, 1, 28) grundsätzlich in einer Art Prozessstandschaft (vgl. hierzu: BVerfGE 90, 286, 343) vor dem Landesverfassungsgericht das dem Landtagsplenum zustehende Recht auf ordnungsgemäße Durchführung des Untersuchungsauftrages durch den von ihm eingesetzten Untersuchungsausschuss wahrnehmen (vgl. zur Geltendmachung von Kontrollrechten des Plenums durch eine Fraktion gegenüber einem Untersuchungsausschuss BVerfGE 45, 1, 28; 105, 197, 220 unter Verweis auf BVerfGE 49, 70, 85; 64, 100, 125; 83, 175, 180). Das Parlament aber als Träger des UntersuLVerfGE 14

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chungsrechts braucht nicht tatenlos zuzusehen, wenn durch eine verfassungswidrige Ablehnung von Beweisanträgen der Zweck der Untersuchung in Gefahr gerät. Daher muss auch eine Fraktion als Teil und ständige Gliederung des Landtages an Stelle oder neben der in Art. 72 Abs. 3 S. 2 LV genannten Minderheit befugt sein, in prozessstandschaftlicher Weise für das Parlament eine Verletzung des Beweiserhebungsrechts geltend zu machen (Knippela.a.O., S. 61). c) Der Antragsgegner ist passiv prozessführungsbefugt, nachdem eine Rechtsverletzung durch ihn — durch einen Beschluss im Untersuchungsausschuss - im Raum steht (vgl. im gleichen Sinne: BVerfGE 105, 197, 220; StGH Niedersächsischen, NVwZ 1986, 827 und 829; Pestalosga Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 1991, Rn. 36 zu § 7). 3. Die Antragsbefugnis ergibt sich für die Antragsteller zu 1. unmittelbar aus Art. 72 Abs. 3 S. 2 Alt. 2 LV. Eine Verletzung in sich daraus ergebenden Rechten ist nicht von vornherein ausgeschlossen (vgl. allgemein: Lechner/T^uck Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 4. Aufl. 1996, Rn. 4 zu § 64 sowie Rn. 51 ff zu § 90). Die Antragstellerin zu 2. ist ebenfalls antragsbefugt. Zwar steht ihr als Fraktion kein eigenes Beweisantragsrecht im Untersuchungsausschuss zu. Jedoch kann sie als ständige Gliederung des Landtags grundsätzlich die diesem zustehenden Kontrollrechte prozessstandschaftlich wahrnehmen (s.o. zu Β. I. 2. b)) und ist dann für das Organstreitverfahren ihrerseits antragsbefugt (vgl. BVerfGE 67, 100, 126; 105, 197, 220). Das gilt, wie bereits ausgeführt, auch für die hier zugrunde liegende Konstellation einer möglichen Verletzung des Beweisantragsrechts der qualifizierten Minderheit im Untersuchungsausschuss durch die Ausschussmehrheit. Neben oder anstelle des Landtages kann deshalb auch eine Fraktion hierzu das Landesverfassungsgericht anrufen. 4. Das auch im Organstreitverfahren erforderliche Rechtsschutzbedürfnis (vgl. etwa Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschl. v. 20.2.2003 — VfGBbg 112/02 — mwN) ist gegeben. Es genügt insoweit, dass weitere Fälle dieser Art nicht nur theoretisch in Betracht kommen (BVerfGE 87, 207, 209; 83, 175, 181; 24, 299, 300; Vestalotga Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 1991, § 7 Rn. 40). Insbesondere ist hier das Rechtsschutzbedürfnis nicht deshalb entfallen, weil im weiteren Verlauf ein Teil der in Rede stehenden Unterlagen durch den Beweisbeschluss Β 26 angefordert und zwischenzeitlich durch die LEG vorgelegt worden ist. Das bloße nachträgliche Einlenken reicht nicht aus (vgl. StGH Hessen, LVerfGE 9, 211, 218 f). Anderes kann dann gelten, wenn zum Ausdruck kommt, man sei sich bewusst, dass die zunächst eingenommene Haltung verfassungsrechtlich nicht in Ordnung gewesen sei (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschl. v. 28.3.2001 - VfGBbg 46/00 - , L\^erfGE Suppl. Bbg. zu Bd. 12, 9, 19 und v. 16.11.2000 - VfGBbg 31/00 - , LVerfGE 10, 166, 168). Vorliegend ist dergleichen aber nicht zum Ausdruck gebracht worden. Seitens des

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Antragsgegners wird vielmehr weiterhin der Standpunkt vertreten, dass der Antrag A 33 in dieser Form unzulässig gewesen sei. 5. Die Frist des § 36 Abs. 3 VerfGGBbg ist gewahrt. II. Der Antrag der Antragsteller zu 1. und der Antragstellerin zu 2. hat auch in der Sache selbst Erfolg. Die Ablehnung des Antrags A 33 verstößt gegen Art. 72 Abs. 3 S. 2 Alt. 2 LV. 1. a) Der Antrag A 33 ist, wenn auch auf dem Briefbogen der Antragstellerin zu 2. zu Papier gebracht, kein Antrag der Fraktion, sondern allein ein Antrag der Antragsteller zu 1. in ihrer Eigenschaft als eine qualifizierte Minderheit bildende Mitglieder des Untersuchungsausschusses. Die Benutzung des Briefbogens der Fraktion ist irrelevant. Wer Antragsteller ist, ist Auslegungsfrage. Die Auslegung ergibt hier, dass die Antragsteller zu 1. als Mitglieder des Untersuchungsausschusses tätig geworden sind. Mit ihnen sind in einer den Untersuchungsausschussbetreffenden Angelegenheit eben die für die PDS in den Untersuchungsausschuss gewählten Landtagsmitglieder in Erscheinung getreten. Sie sind in diesem Zusammenwirken nicht direkt Vertreter der Landtagsfraktion. Als Antrag der Landtagsfraktion hätte der Antrag auch nicht zweifach unterschrieben zu werden brauchen. Letzten Endes liegt ja auch die Antragsberechtigung der beiden Ausschussmitglieder klar auf der Hand, während die der Landtagsfraktion - für Anträge im Untersuchungsausschuss — zweifelhaft sein mag. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist von einem Antrag der Antragstellerin zu 1. als der geltungssichereren Variante auszugehen. b) Nach Art. 72 Abs. 3 S. 2 LV ist der Untersuchungsausschuss verpflichtet, Beweise zu erheben, wenn dies von einem Fünftel der Ausschussmitglieder beantragt wird. Die Regelung ist Kernstück des Minderheitenschutzes im Untersuchungsausschussrecht (vgl. Knippel in: Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit auf Landesebene, S. 51, 57) und begründet — ungeachtet der einfachgesetzlichen Ausgestaltung in dem als Beweiserhebungsnorm allein einschlägigen § 15 UAG — einen verfassungsunmittelbaren Anspruch auf Beweiserhebung (vgl. zur Frage des Beweisantragsrechts der qualifizierten Minderheit im Untersuchungsausschuss auf Bundesebene BVerfGE 105, 197; Achterberg/Schulte in: v. Mangoldt/Klein/Stark, Bonner Grundgesetz, 4. Aufl. 2000, Rn. 158 ff zu Art. 44 Abs. 2; Klein in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand: Oktober 2002, Rn. 197 ff zu Art. 44). Hiernach wäre dem „Beweisantrag A 33" zu entsprechen gewesen. Entgegen der Ansicht des Antragsgegners richtet sich der Antrag A 33 auf die Erhebung von Beweisen iSv Art. 72 Abs. 3 S. 1 LV. Allerdings zielt dieser „Beweisantrag" nicht, jedenfalls nicht unmittelbar, auf die Klärung bestimmter Beweistatsachen, sondern auf die Einsichtnahme in weitere Unterlagen zur ÜberLVerfGE 14

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prüfung darauf, ob sich daraus etwas Be- oder Entlastendes ergibt. Insofern handelt es sich etwa bei strafprozessualer Betrachtungsweise um eine Art Beweisermittlungsantrag (vgl. hierzu - für den Bereich des Strafprozesses - Meyer-Goßner Strafprozessordnung, 46. Aufl. 2003, Rn. 18, 23, 25 zu § 244; Schlächter in: Rudolph!, StPO, Rn. 54 ff und 68 ff zu § 244; Hantschel-Heinegg/Stockei StPO, Rn. 384 zu § 244). Für das Beweiserzwingungsrecht im Untersuchungsausschuss sind die Differenzierungen des Strafprozessrechts indes unergiebig (idS auch Knippel aaO, S. 58). Während im Strafverfahren die Verwirklichung eines bestimmten fest umrissenen Tatbestandes im Hinblick auf die persönliche Schuld eines Menschen geprüft wird, geht es im Untersuchungsausschuss um die Aufklärung eines Sachverhalts unter politischen Gesichtspunkten (so Schlussbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform, BT-Drs. VII/5924, 4 f). Was zur Beweiserhebung iSv Art. 72 Abs. 3 LV gehört, ist unter diesen Umständen nach dem Sinn und Zweck der Regelung und nach dem Rechtsgedanken ihres Satzes 3 („Die Beweiserhebung ist unzulässig, wenn sie offensichtlich nicht im Rahmen des Untersuchungsauftrages hegt") an dem durch Beschluss des Landtages festzulegenden „Gegenstand der Untersuchungen" (Art. 72 Abs. 1 S. 2 LV), dem „Untersuchungsauftrag" (Art. 72 Abs. 1 S. 3 und Abs. 3 S. 3 LV), zu messen. Dieser braucht aber nicht (bloß) auf bestimmte Tatsachen bezogen zu sein. Vielfach wird er eher darauf abzielen, „Licht ins Dunkel" zu bringen, und auf die Aufklärung — Ermitdung oder Ausräumung — eines politisch interessierenden und politisch zu bewertenden Sachverhalts bzw. von politischen Verantwortlichkeiten gerichtet sein. In solchen Fällen kann es durchaus zum Gegenstand der Untersuchungen gehören, Einblick in Unterlagen zu nehmen, um „Material" für die politische Bewertung oder zur Einschätzung der Verantwortlichkeiten erst zu gewinnen. So verhält es sich vorliegend. Gegenstand des Untersuchungsausschusses ist schon seiner amtlichen Bezeichnung nach die „Aufklärung" der „Verantwortung" der Landesregierung und der Landesvertreter (noch ohne namentliche Benennung) für die (negative) Entwicklung der LEG und der LEG-Gruppe samt Töchtern und Beteiligungen; ähnlich umfassend und auf Rundum-Aufklärung gerichtet, sind die in den Feststellungsbeschluss aufgenommenen Einzelfragen gehalten. Bei einem solchen Untersuchungsauftrag dient auch die Einsichtnahme in die Sitzungsvorlagen der Gremien der Gesellschaft(en) einschließlich sogenannter Tischvorlagen der Erfüllung des Untersuchungsauftrags und stellt sich deshalb, gemessen am Untersuchungsauftrag, als „Beweiserhebung" iSv Art. 72 Abs. 3 LV dar. Es waren hier — ausweislich der Punkte 6.2 und 9.1 des Einsetzungsbeschlusses — auch die Geschäftsführersitzungen in den Untersuchungsauftrag mit aufgenommen. Jedenfalls aber ist es nicht so, dass die beantragte Beweiserhebung iSv Art. 72 Abs. 3 S. 3 LV „offensichtlich nicht im Rahmen des Untersuchungsauftrages" läge. Setzt der Landtag einen allgemein auf „Aufklärung" gerichteten Untersuchungsausschuss ein, können der qualifizierten Ausschussminderheit entsprechend allgemein auf Aufklärung gerichtete Beweisanträge nicht vorenthalten werden.

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Unbeschadet dessen Hegt es in der Natur der Sache, dass die Unterlagen, in die Einblick genommen werden soll, hinreichend substantiiert bezeichnet sein müssen. Das war jedoch bei dem Beweisantrag A 33 jedenfalls mit der Konkretisierung auf die in den (vorliegenden) Sitzungsprotokollen erwähnten Vorlagen der Fall. Soweit der Antragsgegner die Auffassung vertritt, die LEG sei als privatrechtliches Unternehmen nicht zur Vorlage von Unterlagen an den Untersuchungsausschuss verpflichtet und habe deshalb hierum allenfalls „ersucht" werden dürfen, wäre dies im Untersuchungsausschuss für die Fassung des Beweisbeschlusses zu erörtern gewesen, konnte es jedoch nicht rechtfertigen, eine Beiziehung der betreffenden Unterlagen erst gar nicht zu versuchen. Der Beweisbeschluss Β 2 vom 18.12.2001 und die daraufhin erfolgte Ubersendung von Unterlagen durch die LEG ebenso wie der Beweisbeschluss Β 26 vom 17.9.2002 und die daraufhin erfolgte weitere Ubersendung von Unterlagen führen im Übrigen vor Augen, dass nach der eigenen Einschätzung des Untersuchungsausschusses die LEG zur Überlassung von Unterlagen durchaus bereit war. 2. Aus den nämlichen Gründen hat auch der Antrag der Antragstellerin zu 2. Erfolg. Nicht entgegen steht, dass ihr selbst — der Fraktion als solcher — das Beweisantragsrecht aus Art. 72 Abs. 3 S. 2 LV nicht zusteht. Unbeschadet dessen kann sie, wie ausgeführt (s.o. zu Β. I. 2. b) und 3.), in einer Art Prozessstandschaft für den Landtag als Ganzen ihrerseits Vorgänge und Verfahrensweisen in einem Untersuchungsausschuss, soweit es um die Vereinbarkeit mit dem Untersuchungsausschussrecht der Landesverfassung geht, zur Überprüfung des Landesverfassungsgerichts stellen.

Nr. 6* Zum Umfang der landesverfassungsgerichtlichen Uberprüfung des Ausschlusses eines Landtagsabgeordneten aus seiner Fraktion. Verfassung des Landes Brandenburg Art. 56 Abs. 1 Fraktionsgesetz § 2 Urteil v o m 16. Oktober 2003 - V f G B b g 4/03 in dem Organstreitverfahren Dr. Esther Schröder MdL — Antragstellerin Abdruck auch in: NVwZ-RR 2004, 161; DÖV 2004, 205; DVB1 2004, 450 (nur LS); NJ 2004, 22 (nur LS). LVerfGE 14

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gegen Fraktion der PDS im Landtag Brandenburg, vertreten durch den Vorsitzenden Prof. Dr. Lothar Bisky MdL — Antragsgegnerin — wegen Ausschlusses der Antragstellerin aus der PDS-Landtagsfraktion. Entscheidungsformel: Der Antrag wird teils als unzulässig verworfen, im Übrigen als unbegründet zurückgewiesen. Gründe: A. Die Antragstellerin wendet sich gegen den Ausschluss aus der Fraktion der Antragsgegnerin. I. Die Antragstellerin war arbeitsmarkt- und ausbildungspolitische Sprecherin der Antragsgegnerin. Im September 2002 fragte der Senator für Wirtschaft, Arbeit und Frauen des Landes Berlin bei der Antragstellerin nach, ob sie Interesse habe, in seiner Senatsverwaltung das Amt der Staatssekretärin zu übernehmen. Im Rahmen der Vorgespräche stellte sich auch die — im Ergebnis wohl offen gebliebene — Frage, ob der Antragstellerin ihre bisherige Tätigkeit als wissenschaftliche Assistentin an der Universität Konstanz (Februar 1995 bis Dezember 1997) und als Landtagsabgeordnete anzurechnen sei und sie daher sofort als Staatssekretärin auf Lebenszeit verbeamtet werden könne; eine Anrechnung von Tätigkeiten im öffentlichen Dienst auf die Probezeit sieht das Berliner Recht vor. Am 24.9.2002 beschloss der Senat von Berlin die Ernennung der Antragstellerin zur Staatssekretärin. Die Antragstellerin trat das Amt nicht an. Mit dieser Entscheidung befasste sich die Antragsgegnerin in Gegenwart der Antragstellerin am 1.10.2002, entzog ihr „das Vertrauen für ihre weitere Arbeit als Mitglied des Fraktionsvorstandes" und beauftragte aufgrund eines entsprechenden Antrags des Abgeordneten Dr. Trunschke den Fraktionsvorstand, einen Verfahrensvorschlag zum Ausschluss der Antragstellerin auf der Grundlage der Geschäftsordnung der Fraktion zu unterbreiten. Die Antragstellerin wurde aufgefordert, bis zur Entscheidung über das Ausschlussverfahren nicht mehr als arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Fraktion aufzutreten. Nachfolgend äußerte sich die Antragstellerin zu den Vorgängen auf einer Pressekonferenz. Dabei kam es von LVerfGE 14

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ihrer Seite zu Angriffen gegen andere Fraktionsmitglieder wegen deren politischer Vergangenheit. Der Vorstand der Antragsgegnerin eröffnete unter d e m 7.10.2002 das Ausschlussverfahren. A m 15.10.2002 befasste sich die Antragsgegnerin mit den die Antragstellerin betreffenden Vorgängen. Hierzu lagen ein Antrag des Abgeordneten H a m m e r vor, der Antragstellerin eine Missbilligung auszusprechen, sowie ein Antrag des Abgeordneten Dr. Trunschke, die Antragstellerin aus der Fraktion auszuschließen. Die mit der Antragstellerin geführten Einigungsgespräche blieben ohne Erfolg. Der zuerst zur Abstimmung gestellte Ausschlussantrag fand eine Mehrheit v o n 14 zu fünf Stimmen. Zur Begründung des Ausschlusses heißt es i m Protokoll der Fraktionssitzung: „Es wurde festgestellt, dass die Abgeordnete Dr. Esther Schröder durch ihr Verhalten, insbesondere durch die von ihr veröffentlichten Darstellungen im Zusammenhang und im Nachgang mit der Entscheidung, die Berufung zum Staatssekretär im Berliner Senat abzulehnen, der PDS-Fraktion einen hohen Ansehensverlust und damit schweren Schaden zugefügt hat, der den Ausschluss aus der Fraktion rechtfertigt. Abgeordnete machten zugleich einen erheblichen Vertrauensverlust gegenüber der Abgeordneten Dr. Schröder deutlich. Es wurde darüber hinaus festgestellt, dass Frau Dr. Schröder mit ihren öffentlichen Darlegungen bzw. der Fraktionssitzung am 1. Oktober 2002, insbesondere mit ihren gegen die Abgeordneten Heinz Vietze, Kerstin Kaiser-Nicht und Frank Hammer gerichteten Äußerungen, vorsätzlich gegen die aus § 1 Abs. 3 der Geschäftsordnung abzuleitende Pflicht zur Achtung des anderen sowie gegen die Pflicht zur Verschwiegenheit gem. § 4 Abs. 8 der Geschäftsordnung verstoßen hat. Dr. Esther Schröder wurde zweimal ausdrücklich gefragt, ob sie in der PDSFraktion verbleiben möchte. In beiden Fällen ließ sie die Frage unbeantwortet und drang auf eine sofortige Entscheidung. Die Fraktion sah sich nach eingehender sorgsamer Prüfung und in Erwägung des Verhaltens von Frau Dr. Schröder vor und während des Ausschlussverfahrens und in Einhaltung der Grundsätze der Gleichheit und der Verhältnismäßigkeit gehalten, ihre Verstöße gegen die Geschäftsordnung der Fraktion nicht hinzunehmen. Nach ordnungsgemäßer Ladung und Anhörung sowie im Beisein der Abgeordneten Dr. Esther Schröder wurde aufgrund der Geschäftsordnung der Fraktion und des Fraktionsbeschlusses vom 15. Oktober 2002 über das durch die Fraktion festgelegte Quorum für den Ausschluss von Mitgliedern aus der Fraktion (Zwei-Drittel-Mehrheit der anwesenden Fraktionsmitglieder) eine geheime Abstimmung über den Ausschluss von Dr. Esther Schröder vorgenommen." Ausweislich der Sitzungsniederschrift hatte die Antragsgegnerin vor der A b stimmung über den Ausschlussantrag allein für diesen — ohne formelle Ergänzung der Geschäftsordnung — ein Q u o r u m von zwei Dritteln der anwesenden Fraktionsmitglieder festgelegt.

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In § 5 der Geschäftsordnung der Fraktion („Aufnahme in die Fraktion, Austritt und Ausschluss eines Abgeordneten aus der Fraktion") ist in Absatz 1 eine Zwei-Drittel-Mehrheit „der Mitglieder der Fraktion" für die Aufnahme in die Fraktion vorgesehen. Absatz 3 bestimmt: „Ein Abgeordneter kann aus der Fraktion nur ausgeschlossen werden, wenn er vorsätzlich gegen die in dieser Geschäftsordnung festgelegten Pflichten verstoßen bzw. der Fraktion schweren Schaden zugefügt hat. Ein Mitglied der Fraktion, gegen welches ein Ausschlussverfahren vorgesehen ist, hat das Recht, durch die Fraktion gehört zu werden und an der Sitzung der Fraktionsversammlung, in der über den Ausschluss beraten und entschieden werden soll, teilzunehmen."

§ 1 Abs. 3 der Geschäftsordnung der Antragsgegnerin lautet: „Grundlage des gemeinsamen Handelns der Fraktionsmitglieder ist das Wahlprogramm der PDS zu den Landtagswahlen. Die Zusammenarbeit ihrer Mitglieder basiert auf gegenseitigem Vertrauen, Achtung des anderen und kritischer Auseinandersetzung."

§ 4 Abs. 8 der Geschäftsordnung der Antragsgegnerin lautet: „Die Fraktion erwartet von ihren Mitgliedern Verschwiegenheit, sofern es sich um Gegenstände aus nichtöffentlichen Fraktionssitzungen handelt. In Fällen möglicher Befangenheit sollte ein Mitglied der Fraktion dies der Fraktion im Voraus mitteilen."

Am 16.10.2002 teilte der parlamentarische Geschäftsführer der Anttagsgegnerin dem Präsidenten des Landtages mit, dass die Antragstellerin am 15.10.2002 aus der Faktion ausgeschlossen worden sei. In der Folge kam es zu dem Versuch einer gütlichen Einigung. Die Antragsgegnerin war nicht bereit, die Antragstellerin mit sofortiger Wirkung — unter Zugeständnissen ihrerseits — wieder in die Fraktion aufzunehmen. Ein dahingehender Antrag wurde auf der Fraktionssitzung am 30.1.2003 bei zwei Enthaltungen mit 18 Stimmen abgelehnt. II. Die Antragstellerin ist im Rahmen des am 14.2.2003 anhängig gemachten Organstreitverfahrens der Auffassung, die Antragsgegnerin beeinträchtige willkürlich und unverhältnismäßig ihre Stellung als Landtagsabgeordnete aus Art. 56 Abs. 1 Verfassung des Landes Brandenburg (LV). Hinreichende Gründe für einen Fraktionsausschluss lägen nicht vor. Die Antragsgegnerin habe die im Protokoll der Fraktionssitzung zur Begründung des Ausschlusses mitgeteilten Gründe nicht nachgewiesen. Der Antrag auf Missbilligung hätte - da milder — vor dem Antrag auf Ausschluss zur Abstimmung gestellt werden müssen. Schließlich habe das Quorum für den Ausschluss nicht als Einzelfallregelung festgelegt werden dürfen, sondern hätte im Wege der Änderung der Geschäftsordnung festgelegt werden müssen. Die Antragstellerin beantragt, LVerfGE 14

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festzustellen, dass der durch die Antragsgegnerin in der Fraktionssitzung am 15. Oktober 2002 beschlossene Ausschluss aus der Fraktion der Partei des Demokratischen Sozialismus des Landtages des Landes Brandenburg gegen Art. 5 Abs. 2 S. 1, 19 Abs. 1 S. 1, 20 Abs. 3 S. 1, 56 Abs. 1 und 67 Abs. 2 LV verstößt und unwirksam ist. Die Antragsgegnerin beantragt, den Antrag zurückzuweisen. Sie hält den Antrag mangels Rechtsschutzbedürfnisses bereits für unzulässig. Wenn die Antrags tellerin den Verbleib in den Reihen der Antragsgegnerin gewollt habe, hätte sie anlässlich der fraktionsinternen Aussprache ihren dahingehenden Willen 2u erkennen geben müssen. Der Antrag sei auch unbegründet, da die erforderliche Mehrheit für den Fraktionsausschluss unabhängig von der Frage zustandegekommen sei, ob die Bestimmung einer Zwei-Drittel-Mehrheit rechtswirksam war oder nicht. Es entspreche den parlamentarischen Gepflogenheiten, dass zunächst der weitergehende Antrag zur Abstimmung gestellt werde. Der Grund für den Ausschluss ergebe sich zum einen aus der Nichtannahme des Amtes einer Staatssekretärin, was allein auf finanzielle Beweggründe der Antragstellerin zurückzuführen sei. Damit habe die Antragstellerin gegen die politischen Richtlinien der Antragsgegnerin und die Wahlkampfaussagen verstoßen. Die daraus resultierende Berichterstattung habe dem Ansehen der Antragsgegnerin geschadet. Die Antragstellerin habe im Vorfeld ihrer Entscheidung weder in der Öffentlichkeit noch der Antragsgegnerin gegenüber deutlich gemacht, dass der Amtsantritt in Berlin noch unter einem persönlichen Vorbehalt stehe. Zum anderen habe die Antragstellerin unangemessen, das politische Niveau verlassend und einzelne Fraktionsmitglieder diffamierend in der Pressekonferenz Stellung genommen. III. Der Landesregierung und dem Landtag ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden. B. Soweit der Antrag zulässig ist, hat er in der Sache keinen Erfolg. I. Der Antrag ist im Organstreitverfahren gem. Art. 113 Nr. 1 LV, § § 1 2 Nr. 1, 35 ff Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg (VerfGGBbg) im Wesentlichen zulässig (ebenso für einen Fraktionsausschluss in Mecklenburg-Vorpommern: VerfG MV, DOV 2003, 765). Antragstellerin und Antragsgegnerin gehören zum Kreis der in Art. 113 Nr. 1 LV, §§ 12 Nr. 1, 35 VerfGGBbg genannten Beteiligten LVerfGE 14

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einer Organstreitigkeit (vgl. hierzu: Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 20.6.1996 - VfGBbg 14/96 EA LVerfGE 4, 190, 194 f; Beschl. v. 28.3.2001 - VfGBbg 46/00 - , LVerfGE 12, 92, 99). Die Antragsbefugnis (§ 36 Abs. 1 VerfGGBbg) der Antragstellerin ergibt sich aus Art. 56 Abs. 1 LV (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 20.6.1996 - VfGBbg 14/96 EA —, LVerfGE 4, 190, 195 ff mwN). Daneben steht eine Verletzung der Antragstellerin in Rechten aus Art. 5 Abs. 2 S. 1, 19 Abs. 1 S. 1, 20 Abs. 3 S. 1 und 67 Abs. 2 LV hingegen nicht ernstlich in Frage; insoweit ist der Antrag unzulässig. Das für den - verbleibenden - Antrag erforderliche Rechtsschutzbedürfnis ist nicht — wie die Antcagsgegnerin meint — durch „widersprüchliches Verhalten" der Antragstellerin entfallen. Es kann nach Lage des Falles nicht mit hinreichender Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die Antragstellerin durch eine bejahende Antwort auf die Frage, ob sie in der Fraktion verbleiben wolle, einen Ausschluss hätte verhindern können. Die Frist des § 36 Abs. 3 VerfGGBbg ist gewahrt. II. Der Ausschluss aus der Fraktion verletzt die Antrags tellerin nicht in ihren Rechten aus Art. 56 Abs. 1 LV. Art. 56 Abs. 1 LV gewährleistet das freie Mandat des Abgeordneten und schützt ihn vor (parlamentarischer oder außerparlamentarischer) Beschränkung bei der Wahrnehmung seines Mandats (vgl. UeberjliversIErnst Verfassung des Landes Brandenburg, Ziff. 1 zu Art. 56; vgl. zu Art. 38 Abs. 1 S. 2 Grundgesetz: Umbach/Clemens Grundgesetz, Rn. 106 ff zu Art. 38). Dieser Schutz schließt das Recht des Abgeordneten ein, auch mit Hilfe seiner Fraktion parlamentarisch mitwirken zu können (Verfassungsgericht des Landes Brandenburgs, Urt. v. 20.6.1996 - VfGBbg 14/96 EA - , LVerfGE 4, 190, 198). Zwar dürfte sich aus Art. 56 Abs. 1 LV ein Anspruch auf Aufnahme in eine bestimmte Landtagsfraktion nicht ergeben (vgl. StGH Bremen, DÖV 1970, 639, 640; Arndt in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, Rn. 24 zu § 21), doch schützt der Grundsatz des freien Mandates den Verbleib des Abgeordneten in einer Fraktion. Die Mitarbeit in ihr unterfällt der durch Art. 56 Abs. 1 LV verbürgten Ausübung des Abgeordnetenmandats (vgl. StGH Bremen, aaO). Demgemäß ist es der entsendenden Partei verwehrt, den Abgeordneten am Beitritt zu einer anderen Fraktion oder daran zu hindern, aus der bisherigen Fraktion auszutreten (StGH Bremen, aaO). Auch kann sie das Mandat eines Abgeordneten nicht „zurückverlangen" (vgl. StGH Bremen, aaO unter Bezugnahme auf BVerfGE 2, 1, 74). Grenzen der Abgeordnetenrechte ergeben sich jedoch aus der Einbindung des Abgeordneten in das Parlament, wenn und soweit der Parlamentsbetrieb dies erfordert (Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, aaO unter Bezugnahme auf BVerfGE 80, 188, 222). Die Effektivität des Parlamentsbetriebes und die LVerfGE 14

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Notwendigkeit geordnet verlaufender parlamentarischer Willensbildung haben ihrerseits den Rang eines Verfassungsgutes, das gegebenenfalls auch den Ausschluss aus einer Fraktion rechtfertigen kann. Von daher ist der Ausschluss aus der Fraktion mit der Verfassung vereinbar, wenn die Rechtsgrundlagen - hier: (vorrangig) das Fraktionsgesetz Brandenburg (FraktG) und die Geschäftsordnung der Landtagsfraktion (vgl. § 2 Abs. 1 S. 1 FraktG) - ihrerseits verfassungsgemäß sind (1.) und ihre Anwendung verfassungsgerichtlich nicht zu beanstanden ist (2.). 1. § 5 Abs. 3 S. 1 der Fraktionsgeschäftsordnung der Antragsgegnerin lässt den Ausschluss eines Abgeordneten zu, wenn er vorsätzlich gegen die in der Geschäftsordnung festgelegten Pflichten verstoßen oder der Fraktion schweren Schaden zugefügt hat. Diese Regelung begegnet — im Zusammenspiel mit § 8 Abs. 1 und § 11 Abs. 3 S. 4 Fraktionsgeschäftsordnung - weder von Verfassungs wegen noch mit Blick auf § 2 Abs. 2 Nr. 5 FraktG durchgreifenden Bedenken (vgl. zur verfassungsgerichtlichen Uberprüfung von Geschäftsordnungsregelungen — Parlamentarische Kontrollkommission —: Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 19.6.2003 - VfGBbg 98/02 -). Die Regelung sieht rechtliches Gehör und ein faires \^erfahren vor. In materieller Hinsicht erlaubt § 5 Abs. 3 S. 1 Fraktionsgeschäftsordnung eine angemessene Abwägung zwischen den Belangen der Fraktion und den gegebenenfalls für den einzelnen Abgeordneten mit einem Fraktionsausschluss verbundenen Folgen vor dem Hintergrund von Art. 56 Abs. 1 LV. 2. Der Ausschluss der Antragstellerin aus der PDS-Fraktion hält im Ergebnis verfassungsgerichtlicher Uberprüfung stand. Ob hier ein vorsätzlicher Verstoß gegen Pflichten aus der Fraktionsgeschäftsordnung iSv § 5 Abs. 3 S. 1 Alt. 1 anzunehmen ist, kann offen bleiben. Denn jedenfalls kann der Fraktionsausschluss in vertretbarer Weise darauf gestützt werden, dass die Antragsstellerin der Fraktion iSv § 5 Abs. 3 S. 1 Alt. 2 Fraktionsgeschäftsordnung schweren Schaden zugefügt habe. a. Die Beurteilung der Frage, ob das Verhalten eines Fraktionsmitgliedes der Fraktion „schweren Schaden" zugefügt hat, ist zunächst der Fraktion überantwortet. Der Fraktion steht ein Beurteilungsspielraum zu. Es handelt sich um eine Frage außerhalb eines rechtlich exakt erfassbaren Bereiches (zu Beurteilungsspielräumen im Verwaltungsrecht: VGH München, BayVBl. 1984, 750, 753; dem folgend: Kopp/Schenke Verwaltungsgerichtsordnung, 13. Aufl. 2003, Rn. 24a zu § 114), bei der auch persönliche Erfahrungen und Eindrücke eine nicht unerhebliche Rolle spielen (zu diesem Kriterium im verwaltungsrechtlichen Zusammenhang: BVerfGE 84, 34, 51 f; 88, 40, 57 i). Mit dieser Einschätzungsprärogative geht eine entsprechende Einschränkung der Uberprüfungskompetenz des Landesverfassungsgerichts einher (insoweit ausdrücklich offen gelassen: VerfG MV, DÖV 2003, 765, 768). Bei der Beurteilung eines Fraktionsausschlusses ist es — soweit nicht allgemeingültige Grundsätze verletzt werden — nicht Sache des Gerichts, LVerfGE 14

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schlechthin seine Beurteilung an die Stelle derjenigen politischen und sonstigen, an innerparteilichen Maßstäben ausgerichteten, Wertungen zu setzen, nach denen die Fraktion lebt und ihre im Staatswesen verfolgten Ziele erkämpfen will (vgl. auch - zur Überprüfung von Parteiausschlüssen - : BGH, NJW 1980, 443). Diese Einschränkung der verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte trägt zugleich der im Land Brandenburg durch Art. 67 Abs. 1 LV unterstrichenen - eigenen Rechtsstellung der Fraktion Rechnung. Uneingeschränkt der Überprüfung zugänglich sind allein die formellen Voraussetzungen eines Fraktionsausschlusses — ordnungsgemäße Ladung zur Fraktionssitzung, Mitteilung der Tagesordnung, Gewährleistung rechtlichen Gehörs, Anwesenheit des betroffenen Fraktionsmitgliedes, erforderliche Mehrheit - (so auch: VerfG MV, DÖV 2003, 765, 767 f). Dagegen ist in materieller Hinsicht hier: zu der Frage, ob der Fraktion „schwerer Schaden" zugefügt worden ist - die verfassungsgerichtliche Überprüfung auf eine Evidenz- und Willkürkontrolle beschränkt. b. Hiervon ausgehend gilt vorliegendenfalls: aa. Das von der Antragsgegnerin eingehaltene Verfahren entsprach den hierfür geltenden Regeln. Der hinreichend deutlich gefasste und mit einer Begründung versehene Ausschlussantrag ist den Fraktionsmitgliedern ausweislich des Schreibens des Fraktionsvorsitzenden vom 7.10.2002 unter Mitteilung des Datums der nächsten Fraktionssitzung zugeleitet worden. Die Antragstellerin nahm an der Fraktionssitzung am 15.10.2002 teil und hatte Gelegenheit, Stellung zu nehmen. Die Abstimmung über den Ausschlussantrag erfolgte geheim. Der Beschluss über den Ausschluss wurde auch mit der erforderlichen Mehrheit getroffen. Für den Ausschluss stimmten bei fünf Gegenstimmen 14 Fraktionsmitglieder und somit mehr als 2/3 der anwesenden Mitglieder. Es ist unter diesen Umständen unerheblich, ob die vorherige Festlegung eines Quorums von 2/3 der anwesenden Mitglieder wirksam war oder nicht schon die einfache Mehrheit ausgereicht hätte. Es ist auch nicht etwa so, dass sich für den Fraktionsausschluss aus § 5 Abs. 1 der Fraktionsgeschäftsordnung ein zwingendes 2/3-Quorum bezogen auf die Fraktionsangehörigen — und nicht bezogen auf die anwesenden Fraktionsmitglieder — ergibt. Eine solche Annahme verbietet sich nach dem systematischen Aufbau des § 5 Fraktionsgeschäftsordnung, demzufolge das Quorum gem. Absatz 1 nur für die Aufnahme in die Fraktion und nicht für den in (dem nachfolgenden) Absatz 3 gesondert geregelten Ausschluss aus der Fraktion gilt. Von Verfassungs wegen war es auch nicht geboten, den Antrag des Abgeordneten Hammer auf Missbilligung des Verhaltens der Antragstellerin vor dem Antrag auf Fraktionsausschluss zur Abstimmung zu stellen. Ein dahingehender Grundsatz ist der Landesverfassung nicht zu entnehmen. bb. Angesichts des der Antragsgegnerin insoweit zustehenden Beurteilungsspielraums und der damit korrespondierenden eingeschränkten verfassungsgeLVerfGE 14

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richtlichen Überprüfung, ist die dem Fraktionsausschluss der Antragstellerin zugrunde liegende Auffassung der Fraktionsmehrheit, dass die Antragstellerin der Fraktion schweren Schaden zugefügt habe, verfassungsgerichtlich nicht zu beanstanden: (1) „Schaden" ist in dem hier in Frage stehenden Zusammenhang nicht etwa nur im Sinne von finanziellem oder politischem - der politischen Außenwirkung abträglichem - Schaden zu verstehen. Vielmehr ist auch eine die Zusammenarbeit und das Vertrauensverhältnis innerhalb der Fraktion in Mitleidenschaft ziehende Belastung gemeint. Art. 67 Abs. 1 LV setzt die politische Handlungsfähigkeit einer Fraktion voraus. Fraktionen sind im parlamentarischen „Gliederungssystem" (vgl. BVerfGE 84, 304, 322) „notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens und maßgebliche Faktoren der politischen Willensbildung" (BVerfGE 80, 188, 219 f mwN). Eine Fraktion kann nur funktionieren, wenn in den Fraktionssitzungen offen, unbefangen und vertrauensvoll diskutiert wird. Von daher stellt sich auch das Verhalten eines Abgeordneten, welches das Klima in der Fraktion beeinträchtigt, als „Schaden" iSv § 5 Abs. 3 S. 1 Fraktionsgeschäftsordnung dar. Freilich genügt für einen Fraktionsausschluss bereits nach dem Wordaut der Fraktionsgeschäftsordnung der Antragsgegnerin nicht schon jedwede interne Unstimmigkeit. Vielmehr muss der Fraktion nach der hier einschlägigen Regelung „schwerer" Schaden zugefügt worden sein. Als „schwer" in diesem Sinne ist ein Schaden anzusehen, der nach vertretbarer Einschätzung der Fraktion einer vertrauensvollen Zusammenarbeit in der Fraktion nachhaltig und auf Dauer im Wege steht. (2) Die dahingehende Einschätzung der Antragsgegnerin ist verfassungsgerichtlich nicht zu beanstanden. Allerdings erscheint zweifelhaft, ob es für sich allein betrachtet schon als „schwerer" — einen Fraktionsausschluss rechtfertigender — Schaden akzeptiert werden könnte, dass die Antragstellerin davon Abstand genommen hat, das Amt einer Staatssekretärin zu übernehmen und hierbei wohl eine Rolle gespielt hat, dass damit nicht — oder doch: nicht sicher geklärt — sogleich eine Berufung in das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit verbunden gewesen wäre, jedenfalls aber in der Öffentlichkeit dieser Eindruck entstanden ist. Dem einzelnen Abgeordneten ist, unabhängig von seiner Fraktionszugehörigkeit, ein Freiraum privater Dispositionen und beruflicher Lebensplanung unter Einbeziehung auch von Versorgungsgesichtspunkten zuzugestehen. Die Antragsgegnerin hat hinzunehmen, dass auch in ihren Reihen Versorgungserwägungen von Abgeordneten eine Rolle spielen dürfen. Auch die Äußerungen der Antragstellerin auf der Pressekonferenz erscheinen, für sich betrachtet, nach Lage des Falles für einen Fraktionsausschluss noch nicht als schwerwiegend genug. Der Antragstellerin ist in dieser Hinsicht zuzugestehen, dass sie sich von Seiten der Fraktion politisch bedrängt fühlen mochte und sich ihre Äußerungen auf der Pressekonferenz gewissermaßen als politische Gegen-

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wehr darstellen. Auch solche politische Gegenwehr, und zwar auch im Verhältnis zu der eigenen Fraktion, ist bis zu einer gewissen — freilich schwer bestimmbaren - Grenze von Art. 56 Abs. 1 LV gedeckt. Die Maßstäbe für das insoweit politisch Hinzunehmende dürfen nicht zu niedrig angesetzt werden („Wer austeilt, muss auch einstecken."). Unbeschadet dessen ist aber jedenfalls in der Zusammenschau das Verhalten der Antragstellerin im Zusammenhang mit ihrer Nominierung als Staatssekretärin, ihres Auftretens auf der Pressekonferenz (mit persönlichen Angriffen gegen Fraktionsmitglieder unter Anspielung auf ihre politische Vergangenheit) und der weiteren Begleitumstände die Einschätzung der Antragsgegnerin, dass für die Fraktion insgesamt ein „schwerer Schaden" entstanden sei, vertretbar und ergibt sich deshalb für ein Eingreifen des Landesverfassungsgerichts keine hinreichende Veranlassung. Diese weiteren Begleitumstände sind dadurch geprägt, dass mit der Antragstellerin damals geführte Einigungsgespräche erfolglos verliefen und die Antragstellerin — ausweislich der Niederschrift über die Fraktionssitzung vom 15.10.2002 — die zweimalige Frage, ob sie in der PDS-Fraktion verbleiben wolle, unbeantwortet Keß und auf eine sofortige Entscheidung drängte. Das Gericht entnimmt dem, dass sie in dieser Fraktionssitzung einen „Alles-oder-Nichts"Standpunkt einnahm und sich für einen für alle Beteiligten gesichtswahrenden politischen Kompromiss nicht aufgeschlossen zeigte. Unter Mitberücksichtigung dessen erscheint dem Landesverfassungsgericht die in dem Abstimmungsergebnis von vierzehn zu fünf Stimmen zum Ausdruck kommende Einschätzung der Antragsgegnerin, dass das Verhältnis zu der Antragstellerin nachhaltig und dauerhaft gestört sei und die Voraussetzungen für eine weitere vertrauensvolle Zusammenarbeit mit ihr nicht mehr gegeben seien, vertretbar. Wie immer man den Fraktionsausschluss beurteilen mag: Willkürlich ist er nicht. Er ist auch nicht unverhältnismäßig. Die Störung des Vertrauensverhältnisses zwischen Antragstellerin und Antragsgegnerin bestätigt sich im Übrigen darin, dass der im Vorfeld der verfassungsgerichtlichen Auseinandersetzung im Januar 2003 unternommene Anlauf, die Antragstellerin — unter Zugeständnissen ihrerseits — wieder in die Fraktion aufzunehmen, am 30.1.2003 bei achtzehn Nein-Stimmen gegen zwei Enthaltungen gescheitert ist. Das Landesverfassungsgericht vermag sich von einer Zwangswiedereingliederung der Antragstellerin mit gerichtlicher Hilfe nichts Gedeihliches zu versprechen. Auf den von der Antragstellerin mit Schriftsatz vom 12.5.2003 vorgelegten Videomitschnitt ihres Interviews in der ORB-Sendung „Brandenburg aktuell" vom 28.9.2002 kommt es nicht an, weil das Gericht für seine Entscheidung darauf nicht ausschlaggebend abstellt und die auf der Pressekonferenz gefallenen Äußerungen der Antragstellerin als solche unstreitig sind. Damit geht der in der letzten mündlichen Verhandlung gestellte Antrag, den Videomitschnitt in öffentlicher Verhandlung vorzuführen, ins Leere. Eine Entscheidung über diesen Antrag vorab in mündlicher Verhandlung (vgl. § 86 Abs. 2 VwGO) hält das LandesverLVerfGE 14

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fassungsgericht in der hier vorliegenden Verfahrenskonstellation im Rahmen der (nur) entsprechenden Anwendung der Verwaltungsgerichtsordnung nicht für geboten. C. Die Entscheidung ist mit fünf gegen eine Stimme ergangen.

Nr. 7* Nichtigkeit der Auflösung einer Gemeinde bei Unterbleiben der Anhörung der Bevölkerung nach Art. 98 Abs. 2 S. 3 Verfassung des Landes Brandenburg." Verfassung des Landes Brandenburg Art. 98 Abs. 2 Satz 3 B e s c h l u s s v o m 16. Oktober 2003 - V f G B b g 67/03 in dem verbundenen kommunalen Verfassungsbeschwerdeverfahren der Gemeinden Groß Oßnig, Drieschnitz-Kahsel, Laubsdorf, Roggosen, Groß Döbbern, Kathlow, Gablenz, Koppatz, Frauendorf, Klein Döbbern, Haasow, Kompendorf, Sergen, Bagenz, Neuhausen, jeweils vertreten durch das Amt Neuhausen/Spree, dieses vertreten durch den Amtsdirektor, gegen § 1 des 2. Gemeindegebietsreformgesetzes Brandenburg. Entscheidungsformel: 1. § 1 Absätze 2 und 3 des 2. Gemeindegebietsreformgesetzes Brandenburg vom 24. März 2003 (GVB11 S. 82) verletzen die Beschwerdeführerinnen in ihrem Recht auf kommunale Selbstverwaltung und sind nichtig. 2. Das Land Brandenburg hat den Beschwerdeführerinnen die notwendigen Auslagen nach einem Gegenstandswert von 150.000,00 € zu erstatten.

Abdruck auch in: LKV 2004, 123; NJ 2003, 644 (nur LS). Nichtamtlicher Leitsatz. LVerfGE 14

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Gründe: I. Die Beschwerdeführerinnen, 15 amtsangehörige Gemeinden, wehren sich gegen ihre Auflösung durch ihre in § 1 Abs. 2 des Zweiten Gesetzes zur landesweiten Gemeindegebietsreform betreffend die kreisfreie Stadt Cottbus und das Amt Neuhausen/Spree (2. GemGebRefGBbg) vom 24.3.2003 (G\^B11 S. 82) vorgesehene Zusammenlegung zu einer neuen amtsfreien Gemeinde namens Neuhausen/Spree. Gleichzeitig soll gem. § 1 Abs. 3 des 2. GemGebRefGBbg das Amt aufgelöst werden. Drei der insgesamt 18 Gemeinden des bisherigen Amtes sollen nach § 1 Abs. 1 des 2. GemGebRefGBbg in die Stadt Cottbus eingegliedert werden. Die Regelungen treten zufolge § 11 S. 1 des 2. GemGebRefGBbg am Tage der nächsten — auf den 26.10.2003 festgesetzten — landesweiten Kommunalwahlen in Kraft. Inzwischen steht fest, dass zu der konkreten Neugliederungsmaßnahme, nämlich Zusammenlegung von (nur) 15 Gemeinden des bisherigen Amtes zu einer amtsfreien Großgemeinde, keine (förmliche) Anhörung der Bevölkerung stattgefunden hat. Die Beschwerdeführerinnen beantragen festzustellen, dass § 1 des 2. Gemeindegebietsreformgesetzes Brandenburg sie in ihren verfassungsmäßigen Rechten verletzt und nichtig ist.

Der Landtag Brandenburg, die Landesregierung und der Städte- und Gemeindebund Brandenburg hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Landesregierung hat davon Gebrauch gemacht. II. Die kommunale Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerinnen, die das Landesverfassungsgericht allein auf die Absätze 2 und 3 (und nicht auch auf die die Beschwerdeführerinnen gar nicht betreffenden weiteren Absätze) des § 1 des 2. GemGebRefGBbg bezieht, ist zulässig und hat Erfolg. § 1 Abs. 2 des 2. GemGebRefGBbg ist unter Verletzung der Landesverfassung zustande gekommen und deshalb nichtig; die Nichtigkeit erfasst auch § 1 Abs. 3 des GemGebRefGBbg. 1. a) Art. 98 Abs. 2 S. 3 LV schreibt vor, dass vor einer Änderung des Gemeindegebiets die Bevölkerung der unmittelbar betroffenen Gebiete gehört werden muss. „Änderung des Gemeindegebietes" in diesem Sinne ist, wie keiner näheren Begründung bedarf, auch die Auflösung einer Gemeinde unter (gänzlichem) Wegfall eines eigenen Gemeindegebietes. Dass Art. 98 Abs. 2 S. 2 LV die Auflösung von Gemeinden besonders anspricht, um hierfür - wenn die Auflösung gegen den Willen der Gemeinde erfolgen soll — einen Gesetzesvorbehalt zu bestimmen, besagt nicht etwa, dass bei einer Gemeindeauflösung die sonstigen für Gemeindegebietsänderungen geltenden Verfassungsbestimmungen nicht anzuLVerfGE 14

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wenden wären. Nach der Systematik des § 98 Abs. 2 LV ist die Gemeindeauflösung vielmehr ein Unterfall der Gemeindegebietsänderung, für den es zusätzlich eines Gesetzes bedarf, wenn die Gemeinde nicht einverstanden ist. b) Art. 98 Abs. 2 S. 3 LV gehört - wie auch schon der Gesamtzusammenhang der Art. 97 bis 100 LV nahe legt - zu den Verfassungsbestimmungen mit Bezug auf die kommunale Selbstverwaltung. Das erkennende Gericht ist bereits zu Art. 98 Abs. 2 S. 2 LV davon ausgegangen, dass ein Verstoß hiergegen einen Eingriff in die kommunale Selbstverwaltung bedeutet (Urt. v. 1.6.1995 — VfGBbg 6/95 - , LVerfGE 3, 157, 162), und hat sich allgemein auf den Standpunkt gestellt, dass Gegenstand einer kommunalen Verfassungsbeschwerde sämtliche Verfassungsbestimmungen sein können, „die die kommunale Selbstverwaltung prägen oder doch mit der kommunalen Selbstverwaltung — wie dies bei den Anhörungsrechten nach Art. 97 Abs. 4 und 98 Abs. 3 der Fall ist - zu tun haben" (Urt. v. 29.8.2002 - VfgBbg 15/02 - S. 12 mwN, s.a. LVerfGE 13, 176 ff). In den Kreis dieser Verfassungsbestimmungen fällt auch Art. 98 Abs. 2 S. 3 LV. Art. 98 ist als demokratisches Element bei Gemeindegebietsänderungen und in Anlehnung an die Verfassung von Baden-Württemberg in die Landesverfassung eingestellt worden (vgl. Dokumentation Verfassung des Landes Brandenburg, Bd. 3, S. 824, 874, 917). Für die damit der Sache nach in Bezug genommene Regelung in Art. 74 Abs. 2 S. 3 der \^erfassung des Landes Baden-Württemberg hat der Staatsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg die Nachprüfung im verfassungsgerichtlichen Verfahren auf Antrag der Gemeinde ohne weiteres bejaht (StGH BW, Urt. v. 25.4.1975 - GR 6/74 - , DÖV 1975, 500 f u n d ν. 6.2.1976 - GR 66/74 - , DOV 1976, 245, 246 f). Ebenso haben es der Thüringer Verfassungsgerichtshof für die gleichartige Regelung in Art. 92 Abs. 2 S. 3 der Thüringer Verfassung (vgl. Urt. v. 18.9.1998 - VerfGH 1/97 VwRR MO 1999, 87, 89 und v. 28.5.1999 VerfGH 39/97 - S. 18 - in LKV 2000, 31 insoweit nicht mit abgedruckt; teilweise abweichend - jedoch für den Rechtszustand vor Inkrafttreten der Thüringer Verfassung - Urt. v. 18.12.1996 - VerfGH 2/95 und 6/95 - , LVerfGE 5, 391, 411) und der Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen zu Art. 88 Abs. 2 S. 3 Sächsische Verfassung (vgl. Urt. v. 18.6.1999 - Vf. 54-VIII-98 - , SächsVBl 1999, 237, 238 und - Vf. 51-VIIL98 LKV 2000, 21) gesehen. Für Art. 98 Abs. 2 S. 3 der brandenburgischen Landesverfassung gilt nichts anderes. Kommunale Selbstverwaltung bedeutet nicht zuletzt auch Mitwirkung und Beteiligung an der Meinungsbildung „vor Ort" sowie „Aktivierung der Beteiligten für ihre eigenen Angelegenheiten ... mit dem Ziel, das Wohl der Einwohner zu fördern und die geschichtliche und heimatliche Eigenart zu wahren" (BVerfGE 11, 266, 275 f). Das Unterbleiben der in Art. 98 Abs. 2 S. 3 LV eigens angeordneten „Anhörung der Bevölkerung" vor einer Änderung des Gemeindegebietes ist deshalb ein Verstoß gegen die kommunale Selbstverwaltung in ihrer Ausgestaltung durch die Landesverfassung.

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2. Eine Anhörung der Bevölkerung nach Art. 98 Abs. 2 S. 3 L V ist hier unterblieben. Die etwas anderes suggerierende Stellungnahme des Amtsdirektors gegenüber dem Innenminister (zur Weiterleitung an den Innenausschuss) v o m 12.9.2002 entspricht ersichtlich nicht den Tatsachen. D a s s die Bürger die Möglichkeit hatten, sich von sich aus, etwa mit Eingaben an Landtag, Landesregierung und Gemeindeverwaltung, zu Wort zu melden, reicht nicht aus. Eine Anhörung nach Art. 98 Abs. 2 S. 3 L V setzt mindestens voraus, dass die Bürger des unmittelbar betroffenen Gebietes förmlich Gelegenheit erhalten, sich innerhalb einer bestimmten Frist zu einer konkret ins Auge gefassten Gebietsänderung oder auch zu mehreren alternativ in Betracht kommenden Gebietsänderungen zu äußern. Eine solchen Anforderungen genügende Anhörung hat, wie inzwischen als „ P a n n e " feststeht, im Gebiet der Beschwerdeführerinnen nicht stattgefunden. Sie war auch nicht etwa im Hinblick darauf entbehrlich, dass es offenbar einen Bürgerentscheid zu der Frage eines Zusammenschlusses aller 18 amtsangehörigen Gemeinden zu einer amtsfreien Großgemeinde gegeben hat. Dies hätte zwar ebenfalls den Verlust der gemeindlichen Selbständigkeit der Beschwerdeführerinnen bedeutet, jedoch unter nennenswert anderen Bedingungen, nämlich in der F o r m eines Verbunds in den Grenzen des bisherigen Amtes und ohne Schwächung durch Eingliederung eines Teils der bisher zu dem A m t gehörenden Gemeinden in die Stadt Cottbus. Zu der mit dem Entwurf des 2. G e m G e b R e f G B b g konkret verfolgten Auflösung durch i\ufgehen in einer nur aus 15 Gemeinden des Amtes gebildeten Großgemeinde ist hingegen die Bevölkerung unter Verstoß gegen Art. 98 Abs. 2 S. 3 L V nicht angehört worden; dass auch diese Möglichkeit schon in der öffentlichen Diskussion gewesen sein mag, macht die Anhörung der Bevölkerung hierzu nicht entbehrlich, um so weniger, als auch andere Varianten, auch als Amtslösung (vgl. auch — in der Nachbarschaft — die Amter Döbern-Land, Peitz und Burg/Spreewald), vorstellbar sind. Damit erweist sich Art. 1 Abs. 2 des 2. G e m G e b R e f G B b g schon aus diesem Grunde in Bezug auf die Beschwerdeführerinnen als verfassungswidrig und nichtig. Auf Kausalitätsfragen kommt es insoweit nicht an (so auch S t G H BW, D Ö V 1976, 245, 246 £). D a s v o n der Landesregierung in diesem Zusammenhang angeführte Urteil des S t G H Niedersachsen v. 3.6.1980 - S t G H 2 / 7 9 - , DVB1 1981, 214 betrifft nicht die Anhörung der Bevölkerung, sondern der K o m m u n e durch ihren Hauptverwaltungsbeamten. Eine Argumentation etwa dahin, dass der Gesetzgeber ein abweichendes Votum der Bevölkerung sowieso nicht beachtet hätte, würde Art. 98 Abs. 2 S. 3 L V als bindende Verfassungsbestimmung relativieren und ist in einer Demokratie nicht angängig· 3. Die Nichtigkeit v o n § 1 Abs. 2 ergreift auch § 1 Abs. 3 des 2. G e m G e b R e f G B b g . Die Beschwerdeführerinnen bleiben als amtsangehörige Gemeinden bestehen und haben damit Anspruch auf eine geeignete Amtsverwaltung. D a s A m t muss daher „aus denselben Gründen" (§ 41 S. 2 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg — V e r f G G B b g ) bestehen bleiben. D a s Schicksal derjenigen GemeinLVerfGE 14

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den des Amtes, die gem. § 1 Abs. 1 des 2. GemGebRefGBbg nach Cottbus eingegliedert werden sollen und in denen nach Mitteilung der Landesregierung eine Anhörung nach Art. 98 Abs. 2 S. 3 LV stattgefunden hat, bleibt hierbei offen. Insoweit gelten die auf Antrag dieser Gemeinden ergangenen einstweiligen Anordnungen. III. Vorsorglich weist das Landesverfassungsgericht darauf hin, dass mit der hier getroffenen Entscheidung für die Beschwerdeführerinnen die im Verfahren der einstweiligen Anordnung ergangenen Beschlüsse vom 6.8.2003 gegenstandslos werden und für die Beschwerdeführerinnen jeweils eine eigenständige Gemeindevertretung zu wählen ist. Die bisherige Gemeindevertretung, die zunächst im Amt bleibt (§ 4 S. 2 Brandenburgisches Kommunalwahlgesetz), und die fortbestehende Amtsverwaltung haben die Wahl der neuen Vertretung in die Wege zu leiten. Auf die Wahlen für den Kreistag ergeben sich, soweit ersichtlich, keine Auswirkungen. IV. Die Nebenentscheidungen beruhen auf § 32 Abs. 7 VerfGGBbg und § 113 Abs. 2 S. 3 BRAGO. In dem festgesetzten Gegenstandswert ist die Erhöhung durch Zusammenfassung von 15 kommunalen Verfassungsbeschwerden zur gemeinsamen Entscheidung berücksichtigt. V. Das Gericht hat einstimmig eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich gehalten (§ 22 Abs. 1 VerfGGBbg). Auf weiteren Vortrag der Beschwerdeführerinnen kommt es nicht an, da die Beschwerdeführerinnen schon aus den dargelegten Gründen Erfolg haben.

Nr. 8 1. Zu der Frage, ob eine amtsangehörige Gemeinde in einem ihre Auflösung betreffenden Gesetzgebungsverfahren durch den ehrenamtlichen Bürgermeister oder durch den Amtsdirektor anzuhören ist. 2. Zur Eingemeindung einer amtsangehörigen Gemeinde in eine Regionalstadt als Beitrag zur Lösung der Stadt-Umland-Problematik.* Verfassung des Landes Brandenburg Art. 97; 98 Abs. 1 und 2 Nichtamtliche Leitsätze. LVerfGE 14

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Amtsordnung Land Brandenburg § 4 Abs. 3 Gemeindeordnung für das Land Brandenburg § 67 Abs. 1 Urteil v o m 18. D e z e m b e r 2003 - V f G B b g 101/03 in dem kommunalen Verfassungsbeschwerdeverfahren der Gemeinde Groß Behnitz, vertreten durch das Amt Nauen-Land, dieses vertreten durch den Amtsdirektor, wegen kommunaler Neugliederung; hier: Eingemeindung der Gemeinde Groß Behnitz (Amt Nauen-Land) in die Stadt Nauen. Entscheidungsformel: Die kommunale Verfassungsbeschwerde wird teils verworfen, im Übrigen zurückge wies en. Gründe: A. Die Beschwerdeführerin, eine bisher dem Amt Nauen-Land angehörende Gemeinde, wehrt sich gegen ihre Auflösung durch Eingliederung in die Stadt Nauen. I. 1. Die Beschwerdeführerin liegt ungefähr 15 km südwestlich der Stadt Nauen im Landkreis Havelland. Sie grenzt an die Gemeinden Klein Behnitz, Wachow, Berge und Ribbeck, die bislang ebenfalls dem Amt Nauen-Land angehörten, welches sich halbkreisförmig um die Stadt Nauen zog. Im Nordosten grenzt die Beschwerdeführerin an den Nauener Ortsteil Schwanebeck, im Südwesten an die Gemeinde Päwesin (Amt Beetzsee, Landkreis Potsdam-Mittelmark). Nördlich des bebauten Dorfgebietes befindet sich in Ost-West-Richtung die Schnellbahnstrecke Berlin-Hannover. Auf dem Gebiet der Beschwerdeführerin (einschließlich der Ortschaft Quermathen) leben ungefähr 570 Einwohner. Der Bereich ist ländlich geprägt. 2. Am 3.5.2002 versandte das Ministerium des Inneren Anhörungsunterlagen für eine Anhörung der Beschwerdeführerin zu der beabsichtigten kommunalen Neugliederung mit der Gelegenheit zur Stellungnahme. In den ersten beiden Maiwochen wurden auch die Anhörungsunterlagen für die Anhörung der Bevölkerung an den Landrat des Landkreises Havelland versandt. Die Anhörung der Bürger sollte für die Dauer eines Monats erfolgen und vor dem Ende der Gemeindeanhörung abgeschlossen werden. LVerfGE 14

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3. Im September desselben Jahres brachte die Landesregierung sechs Gesetzentwürfe zur landesweiten Gemeindegebietsreform in den Landtag ein. § 5 des Entwurfes zum Vierten Gesetz zur landesweiten Gemeindegebietsreform betreffend die Landkreise Havelland, Potsdam-Mittelmark, Teltow-Fläming (4. GemGebRefGBbg) sah u.a. die Eingliederung der Beschwerdeführerin und weiterer Gemeinden des Amtes Nauen-Land in die Stadt Nauen vor. Der Innenausschuss des Landtages, an den die Gesetzentwürfe nach der ersten Lesung verwiesen worden waren, führte am 23.10.2002 vorab eine Anhörung zu grundsätzlichen Fragen durch. Für den 7.11.2002 erging zur Anhörung der Beschwerdeführerin eine Einladung an ihren ehrenamtlichen Bürgermeister. Zu diesem Termin erschien der Bürgermeister jedoch nicht. Anwesend war vielmehr der Amtsdirektor, der jedoch nicht zur Sache Stellung nahm, weil er von der Beschwerdeführerin (wie auch von den anderen dem Amt angehörenden Gemeinden) nicht bevollmächtigt worden sei. Das Gesetz wurde sodann im Frühjahr 2003 vom Landtag verabschiedet. § 5 des 4. GemGebRefGBbg vom 24.3.2003 (GVB11 S. 73), am Tag der landesweiten Kommunalwahlen (26.10.2003) in Kraft getreten (s. § 37 S. 1 des 4. GemGebRefGBbg), lautet: §5 Verwaltungseinheit Amt Nauen-Land (1)

Die Gemeinden Berge, Bergerdamm, Börnicke, Groß Behnitz, Kienberg, Klein Behnitz, Lietzow, Markee, Ribbeck, Tietzow und Wachow werden in die Stadt Nauen eingegliedert.

(2)

Das Amt Nauen-Land wird aufgelöst.

II. Die Beschwerdeführerin hat am 20.5.2003 kommunale Verfassungsbeschwerde erhoben. Sie macht geltend, ihre Eingliederung in die Stadt Nauen sei schon deshalb verfassungswidrig, weil weder die Bevölkerung des unmittelbar betroffenen Gebietes noch sie selbst (als Gemeinde) ordnungsgemäß angehört worden sei. Die Anhörungsfehler seien „absolute Nichtigkeitsgründe". Auf Fragen der Kausalität komme es nicht an. Dass sich von 302 Gemeinden, die der Gesetzgeber aufzulösen versucht habe, 250 mit kommunalen Verfassungsbeschwerden dagegen zu Wehr setzten, sei bereits „ernstes Indiz für die verfassungswidrige Gewalt der gesetzlichen Regelung". Es fehle an dem Nachweis, dass die Beschwerdeführerin ungeeignet sei, den Anforderungen moderner Selbstverwaltung zu entsprechen. Der Abwägungsvorgang sei fehlerhaft. In großer Unbedarftheit würden in den Gesetzesmaterialien leere Begriffe aneinandergereiht, um sie als Abwägungsvorgang auszugeben. Die Beschwerdeführerin beantragt festzustellen:

LVerfGE 14

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§ 5 des Vierten Gemeindegebietsreformgesetzes Brandenburg verletzt die Beschwerdeführerin in ihren verfassungsmäßigen Rechten und ist deshalb nichtig.

III. Der Landtag Brandenburg, die Landesregierung, der Städte- und Gemeindebund Brandenburg und die Stadt Nauen hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Nach Ansicht der Landesregierung genügt die Anhörung, so wie sie stattgefunden hat, den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Auch der weitere Gang entspreche dem üblichen Ablauf von Gesetzgebungsvorhaben. Die Äußerungsfrist für die Beschwerdeführerin, der das Neugliederungsvorhaben schon seit einiger Zeit bekannt gewesen sei, sei ausreichend gewesen. Auch der Landtag hat von der Gelegenheit zur Stellungnahme Gebrauch gemacht. B. Die weitgehend zulässige kommunale Verfassungsbeschwerde bleibt in der Sache ohne Erfolg. I. Die kommunale Verfassungsbeschwerde ist insofern unzulässig, als sie sich, wie die Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung erklärt hat, auch gegen die in § 5 Abs. 2 des 4. GemGebRefGBbg bestimmte Auflösung des bisherigen Amtes Nauen-Land sowie zugleich gegen die Eingliederung der anderen Gemeinden des früheren Amtes Nauen-Land in die Stadt Nauen richten soll. Insoweit ist die Beschwerdeführerin nicht beschwerdebefugt. Eine amtsangehörige Gemeinde kann nach der Rechtsprechung des Landesverfassungsgerichtes, die entsprechend der (bloßen) verwaltungsmäßigen Hilfsfunktion des — wie immer zustandegekommenen bisherigen - Amtes für jedwede spätere Änderung der Amtszuordnung zu gelten hat, lediglich beanspruchen, dass ihr überhaupt eine geeignete (Amts-)Verwaltung, nicht aber, dass sie ihr in der bisherigen Form und in dem bisherigen Zuschnitt zur Verfügung steht (Beschl. v. 16.5.2002 — VfGBbg 57/01 - , LKV 2002, 515 sowie Urt. v. 29.8.2002 - VfGBbg 34/01 - , LKV 2002, 573, 574). Soweit sich die kommunale Verfassungsbeschwerde einer amtsangehörigen Gemeinde als begründet erweist und sie (folglich) als amtsangehörige Gemeinde fortbesteht, hat das Land dafür zu sorgen, dass ihr eine Verwaltung — durch Zuordnung zu einem Amt oder Bildung eines neuen Amtes, notfalls auch unter Wiederbelebung der früheren Amtsmodelle 2 oder 3 — zur Verfügung steht. Je nach Art der dann getroffenen Regelung, die also gegebenenfalls abzuwarten bleibt, mag Anlass für eine darauf bezogene gerichtliche Überprüfung bestehen. Festhalten an dem einmal gefundenen Zuschnitt der Amtsverwaltung kann die einzelne Gemeinde das Land aber grundsätzlich nicht. LVerfGE 14

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Im Übrigen ist die kommunale Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin gem. Art. 100 Verfassung des Landes Brandenburg (L\,T), §§ 12 Nr. 5, 51 Verfassungsgerichtsgesetz des Landes Brandenburg (VerfGGBbg) statthaft und auch sonst zulässig. Insbesondere ist die Beschwerdeführerin ungeachtet des zwischenzeitlichen Inkrafttretens der Neuregelung beteiligtenfähig. Eine Gemeinde gilt nach feststehender Rechtsprechung für die Dauer des gegen ihre Auflösung gerichteten Kommunalverfassungsbeschwerdeverfahiens als fortbestehend. Ebenso wird die Beschwerdeführerin weiter durch das bisherige A m t vertreten. Die fortbestehende Beteiligtenfähigkeit erstreckt sich folgerichtig auf die Vertretungsverhältnisse. II. Die kommunale Verfassungsbeschwerde erweist sich aber in der Sache selbst als unbegründet. Die Auflösung von Gemeinden durch den Staat ist, wie sich unmittelbar aus Art. 98 Abs. 1 und 2 LV ergibt, nicht von vornherein ausgeschlossen. Die dafür ebenfalls nach Art. 98 Abs. 1 sowie Abs. 2 LV gezogenen Grenzen sind hier nicht verletzt. Die nach der Landesverfassung geltenden Anhörungserfordernisse sind eingehalten worden (s. dazu im folgenden 1.). Auch materiell ist die Eingliederung der Beschwerdeführerin in die Stadt Nauen mit der Landesverfassung vereinbar (s. dazu nachfolgend 2.). 1. Die Verfassung des Landes Brandenburg verlangt vor einer Gemeindeauflösung die Anhörung sowohl der Bevölkerung als auch der Gemeinde als solcher. Ersteres hat stattgefunden. Zu Letzterem bestand — von der Beschwerdeführerin nicht wahrgenommen - Gelegenheit. a) Art. 98 Abs. 2 S. 3 LV schreibt vor, dass vor einer Änderung des Gemeindegebietes die Bevölkerung der unmittelbar betroffenen Gebiete gehört werden muss. „Änderung des Gemeindegebietes" in diesem Sinne ist auch die hier in Frage stehende Auflösung einer Gemeinde unter (gänzlichem) Wegfall eines eigenen Gemeindegebietes (Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschl. v. 16.10.2003 - VfGBbg 67/03 vgl. auch Beschl. v. 15.4.2003 - VfGBbg 6/03 und v. 6.8.2003 - V f G B b g 199/03 EA - ) . Die demzufolge erforderliche Anhörung der Einwohner der Beschwerdeführerin ist ordnungsgemäß erfolgt. aa) Soweit die Beschwerdeführerin die Anhörung der Bevölkerung schon deshalb für fehlerhaft hält, weil die diese Anhörung regelnde Verordnung v o m 3.1.2002 (GVB1 II S. 99) nichtig sei, greift dies verfassungsrechtlich zu kurz. Die an eine Anhörung iSv Art. 98 Abs. 2 S. 3 LV zu stellenden Anforderungen sind aus dieser Verfassungsbestimmung heraus und unabhängig von der Rechtslage nach einfachem Recht zu bestimmen (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschl. v. 15.4.2003 - VfGBbg 6/03 - ) . Die Landesverfassung aber macht zu den Anhörungsmodalitäten keine näheren Vorgaben. Weder nimmt sie LVerfGF. 14

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einfachrechtliche Verfahrensregelungen - anders als etwa bei Art. 9 Abs. 1 LV (Einschränkung der Freiheit der Person nur unter Beachtung der im Gesetz „vorgeschriebenen Formen") - gleichsam in die Verfassung hinüber noch erlangen die Regelungen, die sie - in Art. 98 Abs. 5 LV - dem Gesetz vorbehält, ihrerseits Verfassungsrang. Maßgeblich bleibt vielmehr die Verfassungsregelung des Art. 98 Abs. 2 S. 3 LV als solche. Sie beschränkt sich darauf, dass vor einer Änderung des Gemeindegebietes die Bevölkerung zu hören ist, und lässt damit Raum für jedwedes Anhörungsverfahren, sofern es sicherstellt, dass die Bevölkerung Gelegenheit erhält, ihre Meinung zu der Gebietsänderung zum Ausdruck zu bringen (Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 18.6.1998 - VfGBbg 27/97 - , LVerfGE 8, 99, 168; v. 14.7.1994 - VfGBbg 4/93 - , LVerfGE 2, 125, 133 und v. 15.9.1994 - VfGBbg 3/93 LVerfGE 2, 143, 156; Lieber/Imrs/EmstVerfassung des Landes Brandenburg, Ziff. 4 zu Art. 98; zu Art. 28 Abs. 2 GG: BVerfG, zuletzt Beschl. v. 19.11.2002 - 2 BvR 329/97 NVwZ 2003, 850 = DÖV 2003, 589 = DVB1 2003, 919; Knemeyer in: Landesverfassungsgerichtsbarkeit, Teilband 3, S. 159 mwN). Es genügt, wenn ihr in sachgerechter Weise die Möglichkeit eröffnet wird, sich zu der Gebietsänderung, hier: durch Eingliederung der Beschwerdeführerin in die Stadt Nauen unter Wegfall eines eigenständigen Gemeindegebietes, zu Wort zu melden und das Ergebnis dem Entscheidungsträger, im Fall der Auflösung einer Gemeinde also dem Gesetzgeber (Art. 98 Abs. 2 S. 2 LV), zur Kenntnis gebracht wird. Das war hier der Fall. Es bestand für die Bevölkerung die geordnete Möglichkeit, ihre Meinung zur Frage der Auflösung der Beschwerdeführerin durch Eingliederung in die Stadt Nauen kundzutun. Die Bürger waren durch Bekanntmachung im Amtsblatt für den Landkreis Havelland Nr. 6 vom 14.5.2002, S. 57 ff davon unterrichtet, dass hierzu vom 23.5. bis 25.6.2002 Gelegenheit zur Stellungnahme bestehe und Unterlagen über das Neugliederungsprojekt in dem Rathaus der Stadt Nauen, dem Amtsgebäude Nauen-Land sowie in den Bürgerservicebüros des Landrates in Nauen und Rathenow zu näher genannten Zeiten (beispielsweise im Bürgerservicebüro des Landrates in Nauen Montag, Mittwoch und Freitag von 9.00 bis 13.00 Uhr, Dienstag und Donnerstag von 9.00 bis 18.00 Uhr) auslägen. Das Ergebnis der Anhörung hat sodann dem Landtag vorgelegen und ist damit in das Gesetzgebungsverfahren eingeflossen. bb) Der Beschwerdeführerin kann weiter nicht darin gefolgt werden, dass die Anhörung die verfassungsrechtlichen Anforderungen auch deshalb verfehle, weil es sich bei den — ihren Angaben zufolge — mehr als 1000 Seiten umfassenden Anhörungsunterlagen um eine undurchdringliche „Uberinformation", ein „Geröll von Bedeutungslosigkeiten", gehandelt habe. Es ist nicht zu beanstanden, wenn bei der Anhörung für Interessierte auch allgemeines oder auch ins Einzelne gehendes Material bereitgehalten wird. Unbeschadet dessen lagen die Kernfragen — nämlich: Soll die Beschwerdeführerin ihre Selbständigkeit verlieren und gegebenenfalls nach Nauen eingegliedert werden? — offen zutage.

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cc) Das Gericht vermag der Beschwerdeführerin auch darin nicht beizupflichten, dass es die Verfassung verbiete, die Anhörung der Bevölkerung dem Landrat und damit, wie die Beschwerdeführerin meint, dem „Verständnishorizont der unteren Landesbehörden" zu überlassen. Mit der Durchführung der Anhörung kann die staatliche Verwaltung betraut werden (ebenso für die Anhörung der Gemeinden: VerfGH RP, Urt. v. 17.4.1969 - VGH 2/69 DÖV 1969, 560; VerfGH NW, Urt. v. 12. Juli 1975 - VerfGH 21/74 - Neubeckum), ohne dass zwischen oberen und unteren Landesbehörden zu differenzieren ist. Es genügt, dass die bei der Anhörung zutage getretenen Gesichtspunkte und Argumente, auch das „Stimmungsbild", dem Entscheidungsträger, im Falle einer Eingemeindung gegen den Willen der Kommune also dem Landesgesetzgeber, für seine Abwägungsentscheidung zur Verfügung stehen. Das war der Fall. dd) Auch dass hier die Anhörung der Bevölkerung bereits vor Beginn der parlamentarischen Beratungen stattgefunden hat, ist unschädlich. Zum Gesetzgebungsverfahren im weiteren Sinne gehört auch schon die Erarbeitung des Gesetzentwurfes durch den Gesetzesinitiativberechtigten (vgl. Starck in: Praxis der Verfassungsauslegung, S. 253 f). Eine in dieser Phase erfolgte Anhörung ist deshalb als noch zeitnah genug (vgl. hierzu etwa Hoppe/Rengeling Rechtsschutz bei der kommunalen Gebietsreform, S. 159 mwN; aus jüngerer Zeit: SächsVerfGH, LKV 2000, 25, 26) dem Gesetzgebungsverfahren zuzurechnen, jedenfalls wenn der förmliche Gesetzesentwurf nicht mehr lange auf sich warten gelassen hat. So war es hier. ee) Die Anhörung der Bevölkerung ist hier auch nicht deshalb obsolet geworden, weil es danach zu einer Änderung des Gesetzentwurfes insofern gekommen ist, als sich durch eine Veränderung des Kreises der einzugemeindenden Gemeinden der vorgesehene Zuschnitt der Stadt Nauen verändert hat. Eine erneute Anhörung ist nur geboten, wenn es zu einer wesentlichen Änderung kommt (vgl. B\^erfGE 50, 195, 203; SächsVerfGH, LVerfGE 11, 356, 386; NdsStGH, NJW 1979, 2301; StGH BW, DÖV 1976, 245; VerfGH NW, OVGE 26, 306). Das war hier nicht der Fall. Dabei kann offen bleiben, ob insoweit allein auf Änderungen für die — erfahrungsgemäß vor allem an ihrem eigenen Schicksal interessierte - beschwerdeführende Gemeinde selbst abzustellen ist oder auch schon Veränderungen im Rahmen einer regionalen Gesamtlösung ausreichen können (vgl. hierzu etwa StGH BW, DÖV 1976, 245; 1975, 500). Denn jedenfalls aus der Sicht der Beschwerdeführerin, die ihrerseits von Anfang an in die Stadt Nauen eingemeindet werden sollte, sind die nachträglichen Veränderungen an dem Gesetzentwurf unbedeutend. An der Zahl der nach Nauen einzugemeindenden Gemeinden - elf — hat sich nichts geändert. Freilich sollte die Nachbargemeinde Wachow (ca. 900 Einwohner) nach den bei der Anhörung der Bevölkerung der Beschwerdeführerin ausliegenden Anhörungsunterlagen noch in die Stadt Ketzin und nicht, wie später Gesetz geworden, in die Stadt Nauen und die Gemeinde LVerfGE 14

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Selbelang (ungefähr 350 Einwohner) zunächst nach Nauen und nicht in die Gemeinde Paulinenaue in dem benachbarten Amt Friesack eingegliedert werden. Hierdurch hat sich aber die Zahl der nach der vorgesehenen Regelung von der Eingliederung nach Nauen betroffenen Einwohner nur relativ geringfügig von ca. 5900 auf 6450 erhöht. Die Einwohnerzahl der Stadt Nauen (vor der Neugliederungsmaßnahme ungefähr 11.000) betrug danach ca. 17.450 statt ca. 16.900. Auch die Ausdehnung der Stadt Nauen und ihr Entwicklungspotential veränderten sich nicht nennenswert. Soweit die Beschwerdeführerin auf eine Reihe weiterer Änderungen im Gesetzgebungsverfahren hinweist (so war etwa vorgesehen, dass der Hauptverwaltungsbeamte eines Amtes, das aufgelöst wird, als Beigeordneter bis zum Ende seiner Amtszeit in den Dienst der aufnehmenden Körperschaft zu übernehmen sei), betreffen diese schon nach eigenem Vortrag „nicht konkret die Gemeinden τοπ Nauen-Land". Zudem erachtet das Landesverfassungsgericht diese Änderungen — wie auch die von der Beschwerdeführerin gerügten Veränderungen in der Begründung des Gesetzes — für das Schicksal der Beschwerdeführerin nicht als wesentlich. b) Weiter hat die Beschwerdeführerin (als Gemeinde) im Gesetzgebungsverfahren in gehöriger Weise Gelegenheit zur Stellungnahme im Rahmen einer Anhörung erhalten. Eine solche Anhörung der Gemeinde ist, wenn auch nicht ausdrücklich in der Verfassung verankert, der durch Art. 97 Abs. 1 LV geschützten kommunalen Selbstverwaltung geschuldet und dient ihrer prozeduralen Absicherung. Der Gemeinde ist deshalb im Gesetzgebungsverfahren Gelegenheit zu geben, ihre Belange darzulegen und zu den Vor- und Nachteilen der Neugliederungsmaßnahme Stellung zu nehmen. Diese Gelegenheit bestand hier. Der Ausschuss für Inneres des Landtages hat der Beschwerdeführerin am 7. November 2002 Gelegenheit gegeben, ihre Sicht der Dinge darzulegen. Dass sie diese Möglichkeit nicht wahrgenommen hat, nämlich trotz ordnungsgemäßer Einladung nicht erschienen ist, ist ihre Sache. Die Beanstandungen, die sie gegen das (parlamentarische) Anhörungsverfahren erhebt, erweisen sich als unberechtigt. Im Einzelnen: aa) Die Beschwerdeführerin ist zu Recht in der Person ihres ehrenamtlichen Bürgermeisters und nicht über das Amt Nauen-Land und dessen Amtsdirektor beteiligt worden. Zwar wird eine amtsangehörige Gemeinde in Rechts- und Verwaltungsgeschäften (§ 67 Abs. 1 Gemeindeordnung - GO —, § 4 Abs. 3 Amtsordnung für das Land Brandenburg — AmtsO - ) vom Amt vertreten. Vorliegend geht es jedoch nicht um ein Rechts- und Verwaltungs„geschäft" der Gemeinde (vgl. hierzu: Muth Kommunalrecht in Brandenburg, AmtsO, § 4 Rn. 7), sondern um ein Gesetzgebungsverfahren des Landtages und in diesem Rahmen um die Anhörung der Gemeinde zur unmittelbaren Information des Gesetzgebers über die Sicht und die Argumente der Gemeinde zu den Vor- und Nachteilen einer sie betreffenden Neugliederungsmaßnahme. In diesem Zusammenhang ist der ehernamtliLVerfGE 14

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che Bürgermeister der originäre („geborene") Vertreter der Gemeinde. Geht es in einem Gesetzgebungsverfahren um das „Wohl und Wehe" der Gemeinde und die Anhörung hierzu im parlamentarischen Bereich, ist aufgrund seiner Legitimation durch Wahl der Bürgermeister - und nur er - berufen, für die Gemeinde aufzutreten. Dies gilt um so mehr, als er über die örtlichen Belange sowie die Empfindungen, Vorschläge und Sorgen der Einwohner aus unmittelbarer Erfahrung „vor Ort" naturgemäß besser Bescheid weiß als der Amtsdirektor. Hiernach war es richtig, dass der Innenausschuss des Landtages den ehrenamtlichen Bürgermeister zu der Anhörung eingeladen hat. Zu demselben Ergebnis käme man im Übrigen auch für den Fall, dass man den Kreis der Rechts- und Verwaltungsgeschäfte weiter zöge und „an sich" auch die Abwehr der Auflösung der Gemeinde darunter fallen ließe. Gem. § 4 Abs. 3 HS. 2 AmtsO greift die Vertretung durch das Amt nicht Platz, „wenn das Amt selbst Verfahrensbeteiligter ist oder andere dem Amt angehörende Gemeinden am Prozess beteiligt sind". Das ist über den engeren Wortsinn hinaus dahin auszulegen, dass eine amtsangehörige Gemeinde nicht vom Amtsdirektor, sondern von ihrem Bürgermeister vertreten wird, wenn der Amtsdirektor in Interessenkollisionen geraten könnte (Urt. des erkennenden Gerichtes v. 15.12.1994 — VfGBbg 14/94 EA LVerfGE 2, 214 - amtl. Leitsatz, 218 f; vgl. auch Urt. v. 17.7.1997 VfGBbg 1/97 LVerfGE 7, 74, 83 f; s.a. OVG Brandenburg, Besch! v. 23.3.2003 - 1 Β 399/02 —; Bracher in: Bracker/Schumacher/Scheiper, Amtsordnung für das Land Brandenburg, Stand Juni 2002, § 4 Ziff. 4.4). Eine solche Interessenkollision lag hier vol. Es stand sowohl die Auflösung des Amtes NauenLand als auch nahezu aller Gemeinden des Amtes auf dem gesetzgeberischen Prüfstand. Für den Fortbestand des Amtes war von erheblichem Interesse, dass möglichst keine seiner Gemeinden „abhanden kam". Demgegenüber konnte für Gemeinden des Amtes im Interesse des Erhalts ihrer Selbständigkeit das Überwechseln in ein Nachbaramt in Betracht kommen oder auch die Zusammenlegung mit einer Gemeinde außerhalb des Amtes Nauen-Land erwägenswert sein. Bezeichnenderweise hat der Amtsdirektor etwa den von der Gemeindevertretung der (damals zum Amt Nauen-Land gehörenden) Gemeinde Grünefeld beschlossenen (freiwilligen) Wechsel zur Gemeinde Schönwalde zu blockieren versucht (s. dazu VG Potsdam, Beschl. v. 16.8.2002 - 2 L 528/02 - ; v. 13.11.2002 - 2 L 851/02 — und v. 17.12.2002 - 2 L 1115/02-). Nach alledem hat der Innenausschuss zu dem Anhörungstermin am 7.11.2002 zutreffend den ehrenamtlichen Bürgermeister geladen. Die verfassungsrechtlich gebotene Gelegenheit der Stellungnahme in dem Gesetzgebungsverfahren war damit gegeben. Dass der ehrenamtliche Bürgermeister nicht erschienen ist und damit die Gelegenheit zur Stellungnahme nicht wahrgenommen hat, geht zu Lasten der Beschwerdeführerin. Es geht nicht an, dass ein Anhörungsberechtigter einen Anhörungstermin nicht wahrnimmt, um sich dann hinterher auf eine fehlende Anhörung zu berufen. Der Bürgermeister hätte wenigstens vorsorglich erLVerfGE 14

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scheinen und sich gegebenenfalls unter Wahrung seines Rechtsstandpunktes äußern sollen und müssen. Sofern das Ausbleiben des ehrenamtlichen Bürgermeisters auf anwaltlichem Rat beruhte, hat sich die Beschwerdeführerin das Verhalten des Rechtsanwalts anrechnen zu lassen. Freilich wäre es dem ehrenamtlichen Bürgermeister unbenommen geblieben, zu der Sitzung des Innenausschusses am 7.11.2002 etwa einen anwaltlichen Bevollmächtigten oder auch - im Vertrauen auf eine getreuliche Wahrnehmung ihrer Belange — den Amtsdirektor als rechtsgeschäftlich bevollmächtigten Vertreter zu entsenden. Das ist jedoch ausdrücklich nicht geschehen. Die Verfahrensbevollmächtigte der Beschwerdeführerin hat vielmehr im Vorfeld der Sitzung des Innenausschusses vom 7.11.2002 durch Schreiben vom 24.10.2002 die — nach dem Vorstehenden von dem erkennenden Gericht nicht geteilte - Auffassung vertreten, dass nicht der ehrenamtliche Bürgermeister, sondern der „gesetzliche Vertreter", gemeint ist ersichtlich der Amtsdirektor, anzuhören sei, und durch Schreiben vom 6.11.2002 mitgeteilt, dass die Gemeinde zu dem Anhörungstermin nicht erscheinen werde. Der gleichwohl — und unabhängig davon — erschienene Amtsdirektor hat sich dementsprechend, wie die Sitzungsniederschrift ausweist (Ausschussprotokoll 3/649 v. 7.11.2002, S. 101 und 103 iVm 104), als „nicht eingeladen" bezeichnet und ausdrücklich klargestellt, dass er „keine Vollmacht", gemeint ist ersichtlich: keine (rechtsgeschäftliche) Vollmacht (der Gemeinde), habe. bb) Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin war die Anhörung vor dem Innenausschuss auch nicht im Hinblick darauf fehlerhaft, dass die Beschwerdeführerin nicht informiert worden war, in welchem Zusammenhang die parlamentarische Anhörung im November 2002 mit einer vorherigen ersten Anhörung durch das Innenministerium (im Frühsommer 2002 zu einem Referentenentwurf) stehe. Feiner dahingehenden Belehrung bedurfte es nicht. Es verstand sich von selbst, dass es sich bei der Anhörung im parlamentarischen Raum zu dem inzwischen förmlich eingebrachten Gesetzentwurf um etwas anderes — gewissermaßen um die entscheidende „letzte Runde" — handelte. cc) Der Anhörungstermin vom 7.11.2002 war nicht zu kurz angesetzt. Zum einen brauchte der Anhörung keine Unterrichtung der Beschwerdeführerin über das Ergebnis der Anhörung der Bevölkerung (nach Art. 98 Abs. 2 S. 3 LV) voranzugehen. Beide Verfahren können unabhängig voneinander laufen. Unbeschadet dessen ist der ehrenamtliche Bürgermeister über die Stimmung und Situation „vor Ort" ohnehin im Wesentlichen im Bilde. Zum anderen war auch die Zeit für die Vorbereitung auf den Anhörungstermin am 7.11.2002 noch hinreichend. Zwar lagen zwischen der Ladung zu dem Anhörungstermin und dem Anhörungstermin selbst nur 22 Tage. Indessen standen die erforderlichen Informationen vollständig zur Verfügung und war das Neugliederungsvorhaben deutlich genug beschrieben. Die Gemeindevertreter hätten hiernach alsbald einberufen werden können. Im Übrigen ist zu berücksichLVerfGE 14

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tigen, dass das Neugliederungsvorhaben mit, was die Eingemeindung nach Nauen anbelangt, unverändertem Inhalt schon lange angekündigt war, also nicht überraschend kam und die Beschwerdeführerin bereits im Vorfeld der Gesetzesinitiative der Landesregierung angehört und damit befasst worden war. Sie hat bereits im Frühsommer 2002 Gelegenheit gehabt, binnen eines Monats zu Gegenstand, Zielsetzung und Inhalt des damaligen Gesetzentwurfes Stellung zu nehmen, und hierzu entsprechendes Material erhalten. Es trifft deshalb auch nicht zu, dass bei dem konkreten Neugliederungsvorhaben eine „kommunalpolitische Zick-ZackLinie" verfolgt worden wäre. Eine frühere Befassung - etwa im Initiatiwerfahren - , wie sie hier mit der Anhörung im Frühsommer 2002 verbunden war, kann eine vergleichsweise knappere Bemessung der Anhörungsfrist rechtfertigen (vgl. Urt. des Verfassungsgerichtes des Landes Brandenburg v. 14.7.1994 — VfGBbg 4/93 , LVerfGE 2, 125, 136 und v. 5.9.1994 - VfGBbg 3/93 LVerfGE 2, 143, 157; BVerfGE 86, 90, 112 f; ThürVerfGH, LVerfGE 5, 391, 414 mwN; Ueber/Iwers/ Ernst Verfassung des Landes Brandenburg, Ziff. 6 zu Art. 98). Nach alledem stellt sich die bis zu dem Anhörungstermin vom 7.11.2002 verbleibende Vorbereitungszeit noch nicht als verfassungsrechtlich zu beanstandende Verkürzung des Anhörungsrechts der Beschwerdeführerin dar. Ergänzend ist zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführerin ausweislich des Beschlusses des Innenausschusses zu § 5 des 4. GemGebRefGBbg (Anlage 2 zu LT-Drs. 3/5550) eine Nachfrist für eine schriftliche Stellungnahme bis zum 2.2.2003 eingeräumt worden ist. dd) Das Gericht teilt nicht die Einschätzung der Beschwerdeführerin, dass am 7.11.2002 für die Anhörung vor dem Innenausschuss zu wenig Zeit zur Verfügung gestanden hätte. Ausweislich des Sitzungsprotokolls war für die Anhörung der 11 Gemeinden des Amtes Nauen-Land, deren Eingliederung nach Nauen beabsichtigt war, die Zeit von 15.00 bis 17.45 Uhr vorgesehen (Ausschussprotokoll 3/649, S. 1). Erforderlichenfalls hätte diese Zeit noch überzogen werden können (und ggf. müssen). ee) Es besteht ferner kein fassbarer Grund für die Annahme, dass die Anhörung vor dem Innenausschuss des Landtages nicht ergebnisoffen und nur „pro forma" durchgeführt worden wäre. Dass es, wie die Beschwerdeführerin geltend macht, aus den Ausschussberatungen zu den Neugliederungsgesetzen heraus kaum zu Änderungen an dem Gesetzentwurf gekommen sei, trifft in dieser Form nicht zu (s. dazu für das 4.GemGebRefGBbg: §§ 6, 11 Abs. 1, 12, 13 Abs. 1, 20 Abs. 3 — Synopse der Änderungen in LT-Drs. 3/5550, S. 59 ff). Im Übrigen ergäbe sich daraus, dass es vergleichsweise wenige Änderungen gegeben hat, lediglich, dass die Abgeordneten keinen Anlass zu Änderungen gesehen haben, nicht aber, dass sie zu Änderungen von vornherein nicht bereit gewesen wären. ff) Ob bei der Anhörung, wie die Beschwerdeführerin meint, tatsächlich nicht einmal die Hälfte der in den Innenausschussberufenen Abgeordneten anwesend war, wirkt sich auf das Gesetzgebungsverfahren nicht aus. Die NiederLVerfGE 14

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Schriften über die Sitzungen des Ausschusses standen auch den zeitweise nicht anwesend gewesenen Parlamentariern zur Verfügung. Im Übrigen vollzieht sich die Arbeit des Ausschusses im Vorfeld und im Dienste des endgültigen Gesetzesbeschlusses, für den den daran beteiligten Abgeordneten die Beschlussempfehlung des Ausschusses und bei Bedarf die weiteren Ausschussunterlagen zur Verfügung stehen. Das 4. GemGebRefGBbg ist auf dieser Grundlage ohne Verletzung der Beschwerdeführerin in ihrem Anhörungsrecht zustandegekommen. 2. Die Eingliederung der Beschwerdeführerin in die Stadt Nauen bleibt auch in der Sache selbst im Einklang mit der Landesverfassung. a) In das Gebiet einer Gemeinde sowie — erst recht - in ihre körperschaftliche Existenz kann zufolge Art. 98 Abs. 1 LV nur aus Gründen des öffentlichen Wohls eingegriffen werden. Der Inhalt des Begriffes „öffentliches Wohl" ist dabei im konkreten Fall von Gesetzgeber auszufüllen, dem in dieser Hinsicht grundsätzlich - in dem von der Verfassung gesteckten Rahmen - ein Beurteilungsspielraum und politische Gestaltungsfreiheit in dem Sinne zukommt, dass er Ziele, Leitbilder und Maßstäbe selbst fesdegen kann. Die Ausfüllung dieser gesetzgeberischen Spielräume unterliegt nur einer eingeschränkten verfassungsgerichtlichen Überprüfung. Das Verfassungsgericht darf sich hierbei nicht an die Stelle des Gesetzgebers setzen und hat seine Nachprüfung darauf zu beschränken, ob die Zielvorstellungen, Sachabwägungen, Wertungen und Einschätzungen des Gesetzgebers offensichtlich fehlerhaft, lückenhaft oder eindeutig widerlegbar sind oder der verfassungsmäßigen Wertordnung widersprechen. Das Verfassungsgericht überprüft den Abwägungsvorgang darauf, ob der Gesetzeber den entscheidungsrelevanten Sachverhalt umfassend ermittelt, seiner Regelung zutreffend zugrunde gelegt und die mit ihr einhergehenden Vor- und Nachteile in vertretbarer Weise gewichtet und in die Abwägung eingestellt hat. Die Bevorzugung einzelner und die gleichzeitige Hintanstellung anderer Belange bleibt dem Gesetzgeber so weit überlassen, als das mit dem Eingriff in den Bestand der Kommunen verbundene Abwägungsergebnis zur Erreichung der verfolgten Zwecke nicht offenkundig ungeeignet oder unnötig ist oder zu den angestrebten Zielen deutlich außer Verhältnis steht und frei von willkürlichen Erwägungen und Differenzierungen ist. Es ist dabei nicht die Aufgabe des Gerichts zu prüfen, ob der Gesetzgeber die beste und zweckmäßigste Neugliederungsmaßnahme getroffen hat (Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 18.6.1998 - VfGBbg 27/97 - , LVerfGE 8, 97, 169 f mwN, std. Rspr., zuletzt Urt. v. 29.8.2002 - VfGBbg 34/01 - , UA S. 20, LKV 2002, 573, 575). b) Nach diesen Grundsätzen hat sich hier der Gesetzgeber fehlerfrei auf den Standpunkt gestellt, dass für die Eingliederung der Beschwerdeführerin Gründe des öffentlichen Wohls vorliegen, und auf dieser Grundlage eine verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende Regelung getroffen. Im Einzelnen:

LVerfGE 14

G emeindegebietsreform: Gemeindeanhörung

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aa) Der Gesetzgeber hat sich ausreichend mit den maßgeblichen tatsächlichen Verhältnissen befasst. Soweit er seine Abwägungsentscheidung maßgeblich darauf gestützt hat, dass sich die Eingliederung der Beschwerdeführerin in die Stadt Nauen als Beitrag zur Lösung der Stadt-Umland-Problematik darstelle (vgl. LT-Drs. 3/4883, S. 145 sowie Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu § 5 des 4. GemGebRefGBbg, Anlage 2 zu LT-Drs. 3/5550), hat er diese Stadt-Umland-Problematik ausführlich untersucht und beschrieben (s. Gesetzesbegründung zum 4. GemGebRefGBbg, LT-Drs. 3/4883, S. 40 ff, 74 ff). Die örtlichen Verhältnisse sind in den Gesetzesunterlagen zutreffend angesprochen (s. die Beschreibung der Gemeinde im „Neugliederungssachverhalt" in: LT-Drs. 3/4883, S. 138 ff). Hierbei wurde durchaus gesehen, dass die Beschwerdeführerin stabile Investitionsquoten aufweist (LT-Drs. 3/4883, S. 144; dort ebenfalls Angaben zu dem „nicht überdurchschnittlich hohen" Schuldenstand der Gemeinde) und dass sich auf dem Gebiet der Beschwerdeführerin anders als bei anderen Gemeinden des Amtes eine Kindertagesstätte und ein Ladengeschäft befinden und in dieser Weise eine gewisse eigene Versorgungs- und Wirtschaftsstruktur vorhanden ist. Unbeschadet dessen durfte der Gesetzgeber aber zugleich die übergreifende Situation im Bereich der Stadt Nauen in den Blick nehmen. Die insoweit interessierenden Verhältnisse der Stadt Nauen und der anderen zur Eingemeindung in die Stadt Nauen vorgesehenen Gemeinden sind ebenfalls zureichend einbezogen (vgl. etwa die Darstellung zu der — die Beschwerdeführerin besonders beschäftigenden — finanziellen Situation der Stadt Nauen LT-Drs. 3/4883, S. 144). Nicht zu beanstanden ist auch, dass der Gesetzgeber dabei teilweise auf mehrere Umlandgemeinden umfassende Daten abgestellt hat, etwa darauf, dass knapp 500 sozialversicherungspflichtige Arbeitnehmer mit Wohnsitz in einer der Gemeinden des Amtes Nauen-Land nach Nauen pendelten und 181 Sekundarschüler „der einzugliedernden Gemeinden" im Jahre 2002 Nauener Schulen besucht hätten (LTDrs. 3/4888, S. 136). Der Gesetzgeber brauchte auch nicht zu ermitteln, wie viele Bewohner der Beschwerdeführerin wie oft die in Nauen vorgehaltenen öffentlichen Einrichtungen (etwa das Nauener Schwimmbad, Bibliothek etc.) nutzen, nachdem es auf der Hand liegt, dass solche Einrichtungen auch aus dem Umland in Anspruch genommen werden; so hat der Bürgermeister der Stadt Nauen in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, dass nur etwa 28% der Schüler des städtischen G)rmnasiums aus der Stadt kommen. bb) Dem Gesetzgeber stehen iSv Art. 98 Abs. 1 LV Gründe des öffentlichen Wohls zur Seite. Er beruft sich für die Eingliederung der Beschwerdeführerin in die Stadt Nauen wesentlich auf den Anderungsbedarf der brandenburgischen Gemeindestruktur im Umland regionaler Zentren. Dass die Behebung von Strukturproblemen im Stadtumland ein Grund des öffentlichen Wohls ist, der eine kommunale Neugliederung zu rechtfertigen vermag, ist in der Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichte anerkannt und wird auch im Schrifttum grundsätzlich nicht in Zweifel gezogen (vgl. etwa SächsVerfGH, SächsVBl 1999, LVerfGE 14

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\ r erfassungsgericht des Landes Brandenburg

236, 239; ThürVerfGH, NVwZ-RR 1997, 639, 643; Hoppe/Stüer DVB1 1992, 641, 642 f; v. Unruh/Thieme/Scheuner Oie. Grundlagen der kommunalen Gebietsreform, 1981, S. 116, 118 f). Das Stadt-Umland-Verhältnis wirft eine Reihe schwieriger Abklärungs- und Koordinationsfragen auf. Planung und Betrieb öffentlicher Einrichtungen - Kindergärten und -krippen, Schulen (einschließlich weiterführender Schulen), Horte, Sportstätten, Bibliotheken, Schwimmbäder, Feuerwehren, Kultureinrichtungen (etwa: Kulturhäuser, Heimatmuseen) - erfordern Abstimmung und Absprache. Auch für Infrastrukturausbau, Wirtschaftsförderung, Abfall- und Abwasserbeseitigung sowie Trinkwasserversorgung empfiehlt sich eine gemeinsame Herangehensweise. cc) Zur Bewältigung dieser Strukturfragen ist die Eingliederung der Beschwerdeführerin in die Stadt Nauen nicht offensichtlich ungeeignet. Das Landesverfassungsgericht vermag nicht zu erkennen, dass das Ziel einer Bereinigung der Strukturprobleme im Nauener Stadt-Umland-Bereich durch die Zusammenführung in einen einheitlichen Aufgaben- und Verwaltungsraum eindeutig verfehlt würde. dd) Die Eingliederung der Beschwerdeführerin in die Stadt Nauen ist nicht unverhältnismäßig. So lassen sich die hier in Frage stehenden Stadt-Umland-Probleme entgegen der Einschätzung der Beschwerdeführerin nicht etwa ebenso gut durch interkommunale Zusammenarbeit bewältigen. Interkommunale Zusammenarbeit, in welcher Form auch immer (in Gestalt von Zweck- oder Planungsverbänden, Arbeitsgemeinschaften oder Kapitalgesellschaften oder durch öffentlich-rechtliche Kooperationsverträge), kann typischerweise jeweils nur einen Teilbereich der Probleme lösen helfen. Sie wirft zudem ihrerseits Abstimmungs- und Kooperations- sowie Rechts- und Personalfragen auf. Im Vergleich zu einer gemeindlichen Neuordnung ist die interkommunale Zusammenarbeit schwächer und instabiler. Ein konkretes Projekt hat die Beschwerdeführerin im Übrigen nicht vorgestellt. Auch ansonsten ist eine geeignetere Alternative zu der Eingliederung der Beschwerdeführerin in die Stadt Nauen nicht auszumachen. Der Gesetzgeber hat die damit verbundenen Vor- und Nachteile in nicht zu beanstandender Weise gegeneinander abgewogen und ist zu einem verfassungsrechtlich vertretbaren Ergebnis gelangt. Weiterhin ist die Eingliederung der Beschwerdeführerin in die Stadt Nauen auch im Hinblick auf die mit 15 km relativ weite Entfernung nicht unverhältnismäßig. Dieselbe Entfernung besteht bisher zu dem Amtssitz. Dass städtebaulich keine Verflechtung mit der Stadt Nauen besteht, steht einer Eingemeindung ebenfalls nicht entgegen. Freilich verlangt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, dass die für eine Auflösung der Gemeinde sprechenden Gründe des öffentlichen Wohls gegenüber den für den Fortbestand der einzugliedernden Gemeinde sprechenden Gründe erLVerfGE 14

Gemeindegebietsreform: Gemeindeanhörung

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kennbar überwiegen (vgl. hierzu BayVerfGH, BayVBl 1981, 399, 400 f; s. auch NdsStGH, OVGE 33, 497, 503; StGH BW, NJW 1975, 1205, 1211). Dies ist hier jedoch — nach der vertretbaren Wertung des Gesetzgebers - der Fall. Richtig ist, dass die kommunale Selbstverwaltung auch dazu dient, die Bürger zu integrieren, den Menschen ein Zugehörigkeitsgefühl („Heimat") zu vermitteln und damit die Grundlagen der Demokratie zu stärken. Von daher ist die Reform der Gemeindestruktur nicht ausschließlich an Rationalisierung und Verbesserung der Effizienz der \^erwaltungsorganisation zu messen. Eine Gemeinde darf deshalb nicht ohne Berücksichtigung von Besonderheiten allein aus Gründen der Strukturbereinigung aufgelöst werden. Andernfalls kann der Eingriff in die Existenz einer Gemeinde und die dadurch bewirkte Beeinträchtigung der örtlichen Verbundenheit außer Verhältnis zu dem angestrebten Vorteil geraten (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 29.8.2002 - VfGBbg 34/01 - Kreuzbruch, UA S. 23, LKV 2002, 573 = NJ 2002, 642). Vorliegend erlangen indes nach der vertretbaren Abwägung des Gesetzgebers die für die Eingliederung der Beschwerdeführerin in die Stadt Nauen sprechenden Gründe das größere Gewicht. Dem Gesetzgeber war die Bedeutung der kommunalen Selbstverwaltung gegenwärtig und er hat die Belange der Einwohner durchaus im Blick gehabt und sich damit, ablesbar aus der amtlichen Begründung des Gesetzentwurfs (s. LT-Drs. 3/4883, S. 150; s. auch S. 63 ff, 80 f) und den Beratungen im Landtag und seinen Ausschüssen (Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu § 5 des 4. GemGebRefGBbg, Anlage 2 zu LT-Drs. 3/5550, S. 3 ff), auseinander gesetzt. Auf der anderen Seite hat er jedoch als gegenläufige Belange in zulässiger und vertretbarer Weise außer der Bereinigung der StadtUmland-Probleme im Raum Nauen namentlich die Steigerung der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit der Verwaltung durch die Zusammenführung in eine einheitliche Kommune sowie Gesichtspunkte der Raumordnung in seine Abwägung eingestellt und ihnen die größere Bedeutung beigemessen (vgl. LT-Drs. 3/4883, S. 145 ff sowie S. 3 der Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu § 5 des 4. GemGebRefGBbg, Anlage 2 zu LT-Drs. 3/5550). ee) Auch im Übrigen lässt die Abwägung des Gesetzgebers keine seine Entscheidung in Frage stellenden Defizite erkennen. So hat er nicht übersehen, dass es ggf. in die Abwägung mit einfließen muss, wenn sich die betreffende Gemeinde in ein weiterbestehendes, angrenzendes Nachbaramt eingliedern lässt (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 29.8.2002 - VfGBbg 34/01 Kreuzbruch, UA S. 19, LKV 2002, 573 = NJ 2002, 642). Nach der amtlichen Begründung des Gesetzes (LT-Drs. 3/4883, S. 146 f) weisen aber nur die in einer Randlage des Amtes Nauen-Land gelegenen Gemeinden Retzow und Seibelang engere Beziehungen zu dem benachbarten Amt Friesack auf, während ansonsten, ausgenommen die Gemeinde Wachow, die Orientierung nach Nauen ausgeprägter ist (vgl. LT-Drs. 3/4883, aaO). Diese Sicht ist jedenfalls in Bezug auf die Beschwerdeführerin, für die ansonsten keine Besonderheiten ersichtlich sind, verLVerfGE 14

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Verfassungsgericht des Landes Brandenburg

ttetbar. Zwar gehen u.a. auch Kinder aus der Beschwerdeführerin auf eine Schule im Amt Beetzsee. Weitere engere Kontakte dorthin bestehen aber offenbar nicht. Der Gesetzgeber war an einer Eingliederung der Beschwerdeführerin in die Stadt Nauen auch nicht durch deren Verschuldung gehindert. Erfahrungsgemäß beruht eine solche Verschuldung jedenfalls teilweise auch darauf, dass Infrastruktureinrichtungen geschaffen worden sind, die zugleich den Menschen aus dem Umland zugute kommen. Insofern ist eine Beteiligung des Umlandes an der Schuldenlast nicht unangemessen. Darüber hinaus hat der Bürgermeister der Stadt Nauen in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, dass Geld in ein größeres Gewerbegebiet geflossen sei, das mehr als 1000 Menschen auch aus der Region Arbeit biete. Unabhängig von alledem ist die Finanzlage naturgemäß nichts auf Dauer Festgeschriebenes, sondern veränderlich. Die wirtschaftliche Entwicklung des Gesamt-Neugliederungsgebietes ist so oder so nicht sicher absehbar. Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist auch die vom Gesetzgeber vorgenommene Gewichtung des Willens der Bevölkerung. Die als Ergebnis der Anhörung der Bevölkerung aus der Gemeinde Groß Behnitz eingegangenen 142 Stellungnahmen (Anlage 2 des Berichtes des Landrates zur Bevölkerungsanhörung vom 28.6.2002; aus der Bevölkerung der Gemeinden des Amtes insgesamt gab es ausweislich der Gesetzesbegründung — LT-Drs. 3/4888, S. 149 - 2728 Stellungnahmen) mit den — meist vom Amt vorformulierten — Einwänden gegen die Eingliederung nach Nauen lagen im Landtag vor und sind damit in das Gesetzgebungsverfahren eingeflossen (vgl. LT-Drs. 3/4888, S. 149). An das sich daraus ergebende Stimmungsbild ist der Gesetzgeber aber nicht etwa gebunden. Das Ergebnis der Anhörung der Bevölkerung stellt vielmehr nur ein Merkmal unter weiteren Gesichtspunkten dar, die für die Ermittlung der Gründe des öffentlichen Wohles und damit für die Abwägungsentscheidung des Gesetzgebers von Bedeutung sind. Bei einer allgemeinen Gebietsreform geht es eben auch darum, größere Räume neu zu gliedern, so dass nicht nur örtliche Gegebenheiten — wie etwa die Akzeptanz des Vorhabens bei den Bürgern der einzelnen Gemeinde — ins Gewicht fallen. Hiervon ausgehend hat sich der Landtag in den Grenzen seiner Entscheidungsfreiheit bewegt, als er nicht dem Ergebnis der Anhörung der Bevölkerung gefolgt ist, sondern den für die Eingliederung der Beschwerdeführerin nach Nauen sprechenden Umständen das größere Gewicht beigemessen hat.

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Entscheidungen des Hamburgischen Verfassungsgerichts

Die amtierenden Richterinnen und Richter des Hamburgischen Verfassungsgerichts Wilhelm Rapp, Präsident Dr. Hans-Jürgen Grambow Dr. Jürgen Gündisch Dr. Waldemar Maselewski Helmut Raioff Dr. Inga Schmidt-Syaßen Klaus Seifert Dr. Jürgen Westphal Hannelore Wirth-Vonbrunn

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Parlamentarisches Fragerecht und Antwortpflicht

Nr. 1 1. Das Fragerecht nach Art. 25 HV ist nur insoweit eingeschränkt, als die Frage sich auf öffentliche Angelegenheiten beziehen muss. 2. Die verfassungsrechtliche Antwortpflicht des Senats wird verletzt, wenn eine Antwort ohne nähere Erläuterung verweigert oder nur formal (inhaltsleer) erteilt wird, obwohl sie fristgerecht und mit zumutbarem Aufwand möglich ist. Im Einzelfall hat der Senat nach pflichtgemäßem Ermessen zu prüfen, ob er davon absehen darf, eine Frage der Sache nach zu beantworten (Bestätigung von HVerfG, Urt. v. 27.7.1977 - HVerfG 1/77 - , HmbJVBl. 1978, 11 ff). 3. Die verfassungsgerichtliche Nachprüfung ist auf die Begründung der konkret gegebenen Antwort beschränkt. 4. Der Senat ist nicht verpflichtet, Fragen zu den für einzelne Senatoren oder den Senat insgesamt verfügten Sicherheitsmaßnahmen zu beantworten. Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg Art. 25 Abs. 1, 3 U r t e i l des H a m b u r g i s c h e n V e r f a s s u n g s g e r i c h t s v o m 20. M a i 2 0 0 3 - HVerfG 9/02 Entscheidungsformel: Der Antrag wird zurückgewiesen. Tatbestand: Die Verfahrensbeteiligten streiten darüber, ob der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg eine an ihn gerichtete Kleine Anfrage hinreichend beantwortet hat. Der Antragsteller war bis zum 17.5.2003 Mitglied der hamburgischen Bürgerschaft und gehörte der GAL-Fraktion an. Aufgrund von Presseberichten, nach denen Innensenator Schill bei öffentlichen Auftritten eine Waffe trägt, stellte er folgende Kleine Anfrage (v. 21.8.2002, Bü-Drs. 17/1296) an den Senat: Betr.: Bewaffneter Innensenator an der Spitze der Innenbehörde?

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Hamburgisches Verfassungsgericht Wie der Medienberichterstattung zu entnehmen war, trägt Innensenator Schill seit einiger Zeit eine Schusswaffe. Ich frage den Senat: 1.

Welche Innensenatoren und Innenminister haben seit Gründung der Bundesrepublik persönlich während ihrer Dienstzeit eine Schusswaffe getragen?

2.

Seit wann trägt Innensenator Schill eine Schusswaffe?

3.

Seit wann hat Herr Schill einen Waffenschein?

4.

Trifft die Meldung der „TAZ" vom 19. August 2002 zu, dass Innensenator Schill bereits eine Waffe besessen und in einem Schulterholster getragen hat, bevor ihm dies behördlich genehmigt war? Wenn ja, hat der Innensenator gegen geltende Strafvorschriften verstoßen (§§ 28, 35 iVm § 53 Abs. 1 Ziff. 3a WaffG)? Wer hat Herrn Schill ggf. die entsprechende Waffe besorgt bzw. zur Verfügung gestellt?

5.

Trifft es zu, dass Herr Schill erst nach Intervention des Landeskriminalamtes eine Genehmigung für das Tragen von Schusswaffen beantragt hat?

6.

Wer hat Herrn Schill in den Gebrauch von Schusswaffen eingewiesen?

7.

Wie bildet sich Herr Schill hinsichtlich des angemessenen Gebrauchs von Schusswaffen in Konfliktsituationen fort?

8.

Trifft es zu, dass es sich bei der Waffe um eine Walter PPK handelt?

9.

Welche Kosten sind ggf. dem Steuerzahler für die Anschaffung der Walter PPK entstanden?

10. Mit welcher Begründung hat der Innensenator das Tragen einer Schusswaffe für sich beantragt? 11. Trifft es zu, dass Herrn Schill von Experten abgeraten worden ist, persönlich eine Schusswaffe zu tragen? Wenn ja, mit welcher Begründung? 12. Was hat Herrn Schill dazu bewegt, sich über den Rat von Experten hinwegzusetzen? 13. Welche Stelle hat wann Herrn Schill das Tragen einer Schusswaffe mit welcher Begründung genehmigt? 14. Wie oft trägt Herr Schill seine Schusswaffe? Täglich oder situationsbedingt? 15. Durch welche Maßnahmen hat Herr Schill vorgesorgt, dass ihm seine Waffe nicht entwendet werden kann? 16. Trifft es zu, dass Herr Schill auch in der Bürgerschaft eine Schusswaffe trägt? Wenn ja, mit welcher Begründung? Wenn nein, für welche Situation hat Herr Schill das Tragen einer Schusswaffe vorgesehen? 17. Hat Herr Schill in der Vergangenheit in Sitzungen der Ausschüsse, bei Sitzungen der Bürgerschaft oder bei Empfängen im Rathaus eine Schusswaffe getragen? Wenn ja, wann, wie oft und aus welchem Anlass? Bitte aufschlüsseln. LVerfGE 14

Parlamentarisches Fragerecht und Antwortpflicht

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18. Welche aktuelle Gefährdungssituation rechtfertigt nach Ansicht des Senats das Tragen von Schusswaffen durch den Innensenator? 19. Welche weiteren Senatoren haben für sich das Tragen einer Schusswaffe beantragt? 20. Müssen Teilnehmer von Wahlkampfveranstaltungen damit rechnen, dass der Innensenator während der Versammlungen eine Schusswaffe trägt? Wenn ja, wie verträgt sich das ggf. mit § I Abs. 3 VersG? 21. Ist die Genehmigung zum Tragen einer Schusswaffe (Waffenschein) gleichzusetzen mit der behördlichen Ermächtigung, Waffen bei öffentlichen Versammlungen zu tragen (vgl. § 1 Abs. 3 VersG)? Wenn nein, besitzt Herr Schill eine derartige behördliche Ermächtigung? Worauf stützt sich diese ggf. rechtlich?

Darauf gab der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg mit Datum vom 30.8.2002 folgende Antwort: Der Präses der Behörde für Inneres ist auf der Grundlage einer Sicherheitsanatyse allgemein und im Besonderen zu dem besonders gefährdeten Personenkreis zu rechnen. Zu seinem Schutz sind unterschiedliche, situationsabhängige Sicherheitsmaßnahmen verfügt worden. Die Darlegung von Einzelmaßnahmen würde die Wirksamkeit des gesamten Sicherheitskonzepts gefährden. Daher gibt der Senat keine Auskunft über die für seine Mitglieder verfügten Sicherheitsvorkehrungen.

Am 5.9.2002 richtete der Antragsteller eine weitere Kleine Anfrage (Bü-Drs. 17/1388) mit nur noch sechs der ursprünglich gestellten Fragen an den Senat: Betr.: Bewaffneter Innensenator an der Spitze der Innenbehörde (2) Mit dem Hinweis auf die Gefährdungssituation des Innensenators hat der Senat sich geweigert, die Fragen der Drucksache 17/1296 zu beantworten. Die wenigsten Fragen berühren aber tatsächlich die konkrete Gefährdungssituation, sondern werfen die Frage auf, ob sich der Innensenator strafbar gemacht hat. Es gehört zu den ureigensten Aufgaben des Parlamentes, solchen Vorwürfen durch parlamentarische Initiativen auf den Grund zu gehen. Deshalb stelle ich einige Fragen erneut: 1.

Seit wann trägt Innensenator Schill eine Schusswaffe?

2.

Seit wann hat Herr Schill einen Waffenschein?

3.

Trifft die Meldung der „TAZ" vom 19.8.2002 zu, dass Innensenator Schill bereits eine Waffe besessen und in einem Schulterholster getragen hat, bevor ihm dies behördlich genehmigt war? Wenn ja, hat der Innensenator gegen geltende Strafvorschriften verstoßen (§§ 28, 35 iVm § 53 Abs. 1 Ziff. 3a WaffG)? Wer hat Herrn Schill ggf. die entsprechende Waffe besorgt bzw. zur Verfügung gestellt?

4.

Trifft es zu, dass Herr Schill erst nach Intervention des Landeskriminalamtes eine Genehmigung für das Tragen von Schusswaffen beantragt hat?

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Hamburgisches Verfassungsgericht 5.

Müssen Teilnehmer von Wahlkampfveranstaltungen damit rechnen, dass der Innensenator während der Versammlungen eine Schusswaffe trägt? Wenn ja, wie verträgt sich das ggf. mit § 1 Abs. 3 VersG?

6.

Ist die Genehmigung zum Tragen einer Schusswaffe (Waffenschein) gleichzusetzen mit der behördlichen Ermächtigung, Waffen bei öffentlichen Versammlungen zu tragen (vgl. § 1 Abs. 3 VersG)? Wenn nein, besitzt Herr Schill eine derartige behördliche Ermächtigung? Worauf stützt sich diese ggf. rechtlich?

Die Antwort des Senats vom 17.9.2002 lautete: Der Senat sieht keine Veranlassung, von der im Rahmen der Schriftlichen Kleinen Anfrage — Drucksache 17/1296 — formulierten Antwort abzuweichen. Es wird deshalb auf jene Antwort verwiesen.

Mit seinem am 14.10.2002 eingegangenen Antrag macht der Antragsteller geltend: Der Senat sei nach Art. 25 Abs. 3 S. 2 der Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg (HV) grundsätzlich verpflichtet, auf gestellte Fragen inhaltlich einzugehen. Zwar habe das Hamburgische Verfassungsgericht (Urt. v. 27.7.1977, - HVerfG 1/77 HmbJVBl. 1978, 11 ff) einen Ermessensspiekaum des Senats anerkannt, in Einzelfallen von einer Antwort abzusehen. Dabei sei jedoch das Spektrum denkbarer Fragen von einfachen Sachfragen unpolitischen Inhalts bis hin zu Meinungs- oder Wertungsfragen politischen Inhalts zu berücksichtigen. Bei eng begrenzten Sachfragen könne es kaum Gründe für die Verweigerung der Auskunft geben. Weiter stehe das Fragerecht nach der Kommentierung zur Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg von David (Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg, Kommentar, 1994, Art. 24 - alt - , Rn. 50) unter dem Vorbehalt der Funktionsfähigkeit der Regierung. Der Erhalt ihrer sachlichen Unabhängigkeit und Entscheidungsfreiheit dürfe durch die Ausübung des Fragerechts nicht gefährdet werden. Gegen diese Grundsätze verstoße die Antwort des Senats. Die Antwort vom 30.8.2002, auf die die Antwort vom 17.9.2002 ausdrücklich Bezug nehme, sei als inhaltsleer anzusehen, da sie auf die gestellten Fragen keinen Bezug nehme und einer konkreten, sachlichen Darstellung der Hintergründe ausweiche. Bereits die Kleine Anfrage vom 21.8.2002 habe weit überwiegend Sachfragen enthalten. Fragen, deren Beantwortung mit Rücksicht auf eine potentielle Gefährdung möglicherweise tatsächlich nicht angezeigt gewesen wäre, seien in der Kleinen Anfrage vom 5.9.2002 nicht wiederholt worden. Die gestellten Fragen kollidierten nicht mit den für den Innensenator oder die Senatoren verfügten allgemeinen Sicherheitsmaßnahmen, die der Senat zu Recht nicht öffentlich diskutiert wissen wolle. Hier seien nur noch eng begrenzte, sachliche Fragen gestellt worden, die keine konkreten Einzelheiten zu Sicherheitsmaßnahmen für den Innensenator erfragt hätten - die Tatsache des Waffentragens sei durch die öffentliche Berichterstattung bereits bekannt gewesen. Auch seien weder Senatsinterna betroffen noch die Funktionsfähigkeit der Regierung durch eine Beantwortung der Fragen gefährdet. LVerfGE 14

Parlamentarisches Fragerecht und Antwortpflicht

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Der Antragsteller beantragt, festzustellen, dass der Senat unter Verstoß gegen Art. 25 Abs. 3 S. 2 HV die Kleine Anfrage des Antragstellers vom 5.9.2002 mit der am 17.9.2002 gegebenen Begründung unter Verweis auf die Antwort in Bü-Drs. 17/1296 nicht beantwortet hat (Bü-Drs. 17/1388). Der Antragsgegner beantragt, den Antrag zurückzuweisen.

Er bestreitet zunächst den sachlichen Charakter der gestellten Fragen. Er habe nämlich keinen Anlass zu diesen Fragen gegeben, sie beruhten allein auf Schlussfolgerungen, die der Antragsteller aus Medienberichten gezogen habe. Diese Medienberichte über Äußerungen des Innensenators und des Sprechers des Senats enthielten keine Äußerungen, durch welche die Sicherheitsmaßnahmen aufgedeckt würden. Die Beantwortung der Fragen durch den Senat sei daher nicht zu beanstanden. Die Antwortpflicht des Senats aus Art. 25 Abs. 3 S. 2 HV gelte nicht unbeschränkt, vielmehr könnten mittels Kleiner Anfragen keine weitergehenden Auskünfte und Sachinformationen verlangt werden als mittels des Auskunftsverlangens nach Art. 30 HV. Demnach bestehe die Antwortpflicht des Senats nur, soweit dem Bekanntwerden des Inhalts der Antwort nicht gesetzliche Vorschriften oder das Staatswohl entgegenstünden. Hier stehe der Beantwortung zunächst das Staatswohl entgegen, da die Funktionsfähigkeit der Regierung betroffen sei. Der Senat rechne die für die Senatsmitglieder verfügten Sicherheitsmaßnahmen dem Bereich seiner Funktionsfähigkeit zu und gebe sie daher zu Recht nicht bekannt. Der Antragsteller gehe irrtümlich davon aus, die Tatsache des Waffentragens sei bereits bekannt. Die Medien hätten vielmehr lediglich von Gerüchten und Mutmaßungen berichtet; diese seien weder von Senatsmitgliedern noch von behördlichen Stellen jemals bestätigt worden. Das zeigten die Medienberichte selbst. Zudem sei anerkannt, dass der Senat zu Presseberichten, insbesondere über seine Mitglieder, nicht Stellung nehmen müsse. Nach der Beantwortung der Kleinen Anfrage hat der Senat vorgetragen, weiterhin stünden gesetzliche Vorschriften ihrer Beantwortung entgegen. Die Anfrage betreffe nämlich zum Teil personenbezogene Daten. § 13 Abs. 2 S. 1 Nr. 8 des Hamburgischen Datenschutzgesetzes lasse die Übermittlung personenbezogener Daten zu, wenn sie der Beantwortung von Kleinen und Großen Anfragen diene und überwiegende schutzwürdige Belange des Betroffenen nicht entgegenstünden. Der Bürgerschaft obliege nach § 7 Abs. 3 der Datenschutzordnung der Hamburgischen Bürgerschaft die Entscheidung, ob die Antwort in Form einer Parlamentsdrucksache veröffentlicht werde. Diese Regelungen Keßen aber die Befugnis des Senats unberührt, aufgrund eigener Entscheidung den Datenschutz zu sichern. So berechtige § 18 Abs. 2 des Gesetzes über die Untersuchungsausschüsse der Hamburgischen Bürgerschaft vom 27.8.1997, die Vorlage von Unterlagen und die Erteilung von Auskünften aus Gründen des Staatswohls oder der FunktionsfähigLVerfGE 14

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Hamburgisches Verfassungsgericht

keit der Regierung zu verweigern. Diese Vorschrift sei als allgemeines Prinzip für die Abgrenzung der \^erantwortungsbereiche des Senats einerseits und der Bürgerschaft, ihrer Mitglieder und Ausschüsse andererseits anzusehen. Das Hamburgische Verfassungsgericht hat nach § 39c Abs. 2 des Gesetzes über das Hamburgische Verfassungsgericht auch der Bürgerschaft von der Einleitung des Verfahrens Kenntnis gegeben. Die Bürgerschaft hat keine Stellungnahme abgegeben. Gründe: Es kann offen bleiben, ob sich ein Organstreitverfahren nach der mündlichen Verhandlung — hier durch Ausscheiden des Antragstellers aus der Bürgerschaft - noch erledigen kann. In diesem Fall steht einer Erledigung jedenfalls das öffentliche Interesse an der Entscheidung entgegen (vgl. BVerfGE 24, 299, 300). Ein solches Interesse besteht, um die verfassungsrechtlichen Pflichten des Senats bei der Beantwortung parlamentarischer Anfragen näher zu bestimmen. Der Antrag hat keinen Erfolg. I. Der Antrag ist zulässig. Das Hamburgische Verfassungsgericht ist nach Art. 65 Abs. 3 Nr. 2 der Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg (v. 6.6.1952 - HmbBL I 100-a) HV - , § 14 Nr. 2 des Gesetzes über das Hamburgische Verfassungsgericht (idF v. 23.3.1982 - GVB1. S. 59, m.sp.Änd.) - HVerfGG - für die Entscheidung zuständig. Danach entscheidet das Hamburgische Verfassungsgericht über die Auslegung der Verfassung aus Anlass von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines Verfassungsorgans oder anderer Beteiligter, die durch die A b fassung mit eigenen Rechten ausgestattet sind — Organstreitverfahren. Der Antragsteller war bis zu seinem Ausscheiden auch antragsbefugt, da er schlüssig behauptet hat, dass er und der Antragsgegner an einem verfassungsrechtlichen Rechtverhältnis unmittelbar beteiligt seien und der Antragsgegner hieraus erwachsene eigene Rechte des Antragstellers durch die beanstandete Maßnahme oder durch ein Unterlassen verletzt oder unmittelbar gefährdet habe (§ 39b Abs. 1 HVerfGG, vgl. HVerfG, Urt. v. 11.7.1997, - HVerfG 1/96 NJW 1998, 1054). Denn der Antragsteller, der mit dem Senat über den Umfang der Antwortpflicht auf die von ihm gestellte Kleine Anfrage streitet, war möglicherweise in seinem Recht nach Art. 25 Abs. 1, Abs. 3 S. 1 HV verletzt, auf eine Kleine Anfrage eine Antwort verlangen zu können. Schließlich hat der Antragsteller den Antrag binnen sechs Monaten, nachdem ihm die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung bekannt geworden ist, gestellt (§ 39b Abs. 3 HVerfGG).

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II. Der Antrag ist jedoch nicht begründet. I. Nach Art. 25 Abs. 1 HV sind die Abgeordneten berechtigt, in öffentlichen Angelegenheiten Große und Kleine Anfragen an den Senat zu richten. Nach Art. 25 Abs. 3 HV können Kleine Anfragen schriftlich von einem Abgeordneten gestellt werden. Sie sind vom Senat binnen acht Tagen schriftlich zu beantworten. Das Fragerecht des Abgeordneten stellt einen in der Verfassung ausdrücklich geregelten Ausfluss seines verfassungsrechtlichen Status dar. Es ist ein Teil des Frage- und Informationsrechtes des Parlaments, das dazu dient, den Abgeordneten die zur Ausübung ihres Mandats erforderlichen Informationen zu verschaffen und damit zugleich die Kontrolle der Exekutive wahrnehmen zu können (BVerfGE 57, 1, 5). Das Fragerecht gem. Art. 25 HV ist nur insoweit eingeschränkt, als die Frage sich auf öffentliche Angelegenheiten beziehen muss. Es unterliegt nicht der Uberprüfung durch den Senat etwa dahingehend, ob er für die Fragen Anlass gegeben hat oder die gestellten Fragen für sinnvoll oder zweckmäßig hält (vgl. LVerfG MV, Urt. v. 19.12.2002 - LVerfG 5/02 19, nicht veröffentlicht). Dem Senat steht kein Recht zu, das verfassungsmäßig ausgeübte Fragerecht einzugrenzen. Ein Ermessensspielraum ist ihm ausschließlich für die Beantwortung der Fragen eingeräumt. Zu der Frage, ob und in welchem Umfange der Senat eine parlamentarische Anfrage beantworten muss, hat das Hamburgische Verfassungsgericht in seinem Urt. v. 27.7.1977 (aaO, 14 f) zur alten, inhaltlich jedoch unveränderten Rechtslage grundsätzlich Stellung genommen. In dieser Entscheidung ging es um die Beantwortung einer Großen Anfrage, für die jedoch die gleichen Grundsätze wie für die Beantwortung einer Kleinen Anfrage gelten. Beide Anfragearten sind gleichermaßen Ausdruck des parlamentarischen Fragerechts und unterscheiden sich lediglich in ihren förmlichen Voraussetzungen und in ihrer Behandlung durch Senat und Bürgerschaft. Entsprechend hat das Hamburgische Verfassungsgericht (aaO, 15) beide als gleich zu behandelnde Informationsrechte des Parlaments angesehen und von den Auskunftsrechten nach Art. 30 HV unterschieden. Das Gericht hat in der genannten Entscheidung festgestellt, dass die verfassungsrechtliche Antwortpflicht vom Senat verletzt wird, wenn eine Antwort verweigert oder nur formal (inhaltsleer) erteilt wird, obwohl sie fristgerecht und mit zumutbarem Aufwand möglich ist. Im Einzelfall habe der Senat nach pflichtgemäßem Ermessen zu prüfen, ob er davon absehen dürfe, eine Frage der Sache nach zu beantworten. Der Senat dürfe sich dabei nicht nur auf die Ablehnungsgründe des Art. 30 HV, nämlich das Entgegenstehen von gesetzlichen Vorschriften oder des Staatswohls berufen, sondern sei auch aus anderen Gründen berechtigt, die Anfrage unbeantwortet zu lassen. Dabei sei sein Entscheidungsspielraum umso begrenzter, je mehr es sich um Tatsachenfragen handele und entsprechend umso freier, je mehr die Fragen auf politische Wertung und politische WillensbilLVerfGE 14

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dung zielten. Das Spektrum möglicher Sachfragen reiche von eng begrenzten Sachfragen, bei denen es kaum Gründe für eine Verweigerung der Antwort geben könne, bis hin zu Fragen, wie etwa nach den Interna des Senats, bei denen es in seinem freien Ermessen stehe, ob und wie er antworten wolle. Das Gericht könne nur prüfen, ob die Grenzen pflichtgemäßen Ermessens überschritten seien oder der Senat sein Ermessen missbraucht habe. 2. Das Gericht sieht keine Veranlassung, von dieser Rechtsprechung abzuweichen. Wie das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, stellt die Kleine Anfrage einen Teil des Frage- und Interpellationsrecht des Parlaments dar, das den Mitgliedern der Bundesregierung die verfassungsrechtliche Verpflichtung auferlegt, auf Fragen Rede und Antwort zu stehen (BVerfGE 57, 1, 5; 67, 100, 129). Das gilt für das Verhältnis des Senats zur Bürgerschaft gleichermaßen. Inhaltlich ist die Entscheidung des Hamburgischen Verfassungsgerichts in der Zwischenzeit von anderen Landesverfassungsgerichten bestätigt worden, und zwar auch in solchen Fällen, in denen nach den jeweiligen Landesverfassungen das Institut der Kleinen Anfrage überhaupt nicht, oder - im Gegensatz zu Art. 25 Abs. 3 HV — die Pflicht der Regierung zur Beantwortung nicht ausdrücklich geregelt ist (VerfGH NW, Urt. v. 4.10.1993 - VerfGH 15/92 - , NVwZ 1994, 678 ff; VerfGH Sachsen, Urt. v. 16.4.1998 - Vf. 14-1-97 - DVB1. 1998, 774 f; SachsAnhVerfG, Urt. v. 17.1.2000 - LVG 6/99 - , NVwZ 2000, 671 ff; VfG Bbg, Beschl. v. 16.11.2000 - VfGBbg 31/00 DÖV 2001, 164 ff; BayVerfGH, Entsch. v. 17.7.2001 - 56-IVa-00 - , NVwZ 2002, 715 ff; VerfGH des Saarlandes, Urt. v. 13.9.2002 - Lv 1/02 - , NVwZ-RR 2003, 81 ff; LVerfG MV, aaO). Danach ist bereits mit dem verfassungsrechtlichen Status des Abgeordneten das Recht verbunden, der Regierung Fragen zu stellen, sowie ein damit korrespondierender Anspruch auf eine inhaltliche Beantwortung der gestellten Fragen (VerfGH NW, aaO, 679 mwN; BayVerfGH, aaO, 716 mwN; VerfGH des Saarlandes, aaO, 82). Die Antwort der Regierung auf die Frage eines Abgeordneten muss grundsätzlich erschöpfend, d.h. vollständig und zutreffend sein (VerfGH NW, aaO, 680; VerfGH des Saarlandes, aaO, 82). Die Pflicht zur Beantwortung parlamentarischer Anfragen besteht allerdings nicht uneingeschränkt; sie unterliegt Grenzen, die aus der Verfassung folgen. Mit Blick auf die verfassungsrechtliche Verankerung des parlamentarischen Fragerechts darf der Regierung insoweit aber lediglich ein enger Entscheidungsspielraum zugestanden werden. Die Ablehnung einer Beantwortung muss danach die Ausnahme bleiben (BayVerfGH, aaO, 716; VerfGH des Saarlandes, aaO, 82; LVerfG MV, aaO, 21). Eine Pflicht zur Beantwortung in der Sache besteht nicht, wenn die Beantwortung berechtigte Geheimhaltungsinteressen oder Grundrechte anderer verletzen würde (BayVerfGH, aaO, 716; VerfGH des Saarlandes, aaO, 82; ähnlich VfG Bbg, aaO, 165) oder wenn der Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung betroffen ist (BVerfGE 67, 100, 139; VerfGH NW, aaO, 679 f; SachsAnhVerfG, aaO, 672; VerfG Bbg, aaO, 165; BayVerfGH, aaO, 716; VerfGH des Saarlandes, aaO, 82). Des Weiteren ist in RechLVerfGE 14

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nung zu stellen, dass die Verfassungsorgane und ihre Gliederungen zur gegenseitigen Rücksichtnahme verpflichtet sind. Daraus resultiert die Pflicht, den Funktionsbereich der jeweils anderen Staatsorgane zu respektieren. Die Pflicht des Senats, Fragen von Abgeordneten zu beantworten, besteht nicht bei einer dadurch entstehenden Gefährdung seiner Funktions- und Arbeitsfähigkeit (ebenso VerfGH NW, aaO, 679 f; BayVerfGH, aaO, 716; VerfGH des Saarlandes, aaO, 82). Schließlich müssen Fragen, die einen Missbrauch des Fragerechts darstellen, nicht beantwortet werden (BayVerfGH, aaO, 716; VerfGH des Saarlandes, aaO, 82; LVerfG MV, aaO, 19). Der Antragsteller hat demnach einen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Beantwortung seiner Kleinen Anfrage. Das Verfassungsgericht hat überprüft, ob deren Beantwortung durch den Senat dieser Anforderung entspricht. Dabei hat es die Beantwortung des Senats vom 30.8.2002 auf die zunächst unter dem 21.8.2002 von dem Antragsteller gestellte Frage in die Überprüfung einbezogen. Denn der Senat hat sich in seiner Beantwortung der Kleinen Anfrage vom 5.9.2002 am 17.9.2002 ausdrücklich auf seine Antwort vom 30.8.2002 bezogen und der Antragsteller wortgleiche Fragen aus der zunächst gestellten Anfrage in seiner weiteren Kleinen Anfrage wiederholt. 3. Zwischen den Parteien des Verfassungsstreitverfahrens besteht Übereinstimmung darin, dass Fragen zu den für den Innensenator oder den Senat insgesamt verfügten Sicherheitsmaßnahmen vom Senat nicht beantwortet zu werden brauchen. Das Verfassungsgericht teilt diese Auffassung. Dem Senat ist nicht verwehrt, auf entsprechende Fragen zu antworten, er ist jedoch hierzu nicht verpflichtet. Zahlreiche Vorfälle in den vergangenen Jahren haben erwiesen, dass situationsbedingte Sicherheitsmaßnahmen für Regierungsmitglieder notwendig sind, damit sie möglichst unbeeinflusst von äußerer Bedrohung ihre öffentlichen Aufgaben wahrnehmen können. Es kann dahinstehen, ob insoweit bereits das Staatswohl betroffen ist. Jedenfalls könnte die Funktionsfähigkeit des Senats beeinträchtigt werden, wenn einzelne seiner Mitglieder durch das Fehlen geeigneter Sicherheitsmaßnahmen in ihrer freien Willensbildung beeinträchtigt wären und ihre Entscheidungen möglicherweise unter dem Druck auf ihnen lastender Unsicherheit über ihr persönliches Wohl zu treffen hätten. Dies könnte dazu führen, dass sie ihren Verpflichtungen entsprechend dem gem. Art. 38 HV geleisteten Amtseid nicht voll nachkommen könnten. 4. Das Verfassungsgericht hat allerdings geprüft, ob das Sicherheitskonzept des Senats durch die Kleine Anfrage tatsächlich betroffen ist. Anhaltspunkte für eine missbräuchliche Ausnutzung dieses Arguments durch den Senat sind nicht erkennbar. Vielmehr ist das Verfassungsgericht der Auffassung, dass eine Beantwortung der sechs vom Antragsteller in seiner Kleinen Anfrage vom 5.9.2002 gestellten Fragen durch den Senat zu einer Gefährdung des Innensenators und damit zu einer Einschränkung der Funktionsfähigkeit des Senats führen könnte. LVerfGE 14

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Eine Analyse der einzelnen Fragen macht deutlich, dass dies für die Beantwortung jeder dieser Fragen gilt. Dies entbindet den Senat von seiner Verpflichtung zu einer detaillierten Antwort. Er hat die Beantwortung ermessensfehlerfrei abgelehnt. Die aus einer Sicherheitsanalyse abgeleiteten Sicherheitsmaßnahmen für eine Person oder eine Organisation bestehen in der Regel aus einem Bündel von Vorkehrungen. Diese sind situationsbedingt im Sinne eines flexiblen Sicherheitssystems austauschbar, um einem potentiellen Angreifer die Möglichkeit zu nehmen, auf ein starres und möglicherweise bekannt gewordenes Sicherheitssystem zu reagieren. Zu den Maßnahmen, die ein solches System für potentielle Angreifer nicht berechenbar machen, kann auch gehören, im Dunkeln zu lassen, ob die zu schützende Person selbst bewaffnet ist und/oder anderweitigen Schutz genießt. Im Einzelnen gilt Folgendes: Frage 1 Die Beantwortung dieser Frage würde teilweise das zu Gunsten des Innensenators bestehende Sicherheitskonzept aufdecken. Ob der Innensenator eine Schusswaffe trägt oder nicht, muss im Rahmen eines flexiblen Sicherheitskonzeptes geheim gehalten werden; anderenfalls würde ein potentieller Angreifer Hinweise darauf erhalten, auf welchem Wege er einen geplanten Angriff möglichst risikolos verwirklichen kann. Dies könnte die Fähigkeit des Innensenators einschränken, seine amtliche Funktion unbeeinflusst von äußeren Einflüssen durchzuführen. Insoweit besteht folglich keine Antwortpflicht des Senats. Fragen 2 und 4 Beide Fragen stellen sich auf den ersten Blick als reine Sachfragen dar, deren Beantwortung isoliert vom gesamten Kontext der Kleinen Anfrage vom Senat erwartet werden könnte. Eine solche isolierte Betrachtung vernachlässigt jedoch den Gesamtzusammenhang dieser Fragen mit dem Ziel der gewünschten Information. Aus dem gesamten Kontext aller in beiden Anfragen gestellten Fragen ergibt sich, dass es dem Antragsteller nicht auf eine abstrakte Beantwortung dieser beiden Fragen ankommt, die keinen Bezug zu den für den Innensenator bestehenden Sicherheitsmaßnahmen hätte. Vielmehr will er Auskunft über die Voraussetzungen haben, die dem Innensenator erlauben, eine Waffe zu tragen. Würden diese Fragen beantwortet, wäre damit gleichzeitig offenbart, ob der Innensenator überhaupt berechtigt ist, im Rahmen der Sicherheitsmaßnahmen auf eine Selbstbewaffnung zurückzugreifen. Die Beantwortung der Fragen wäre damit geeignet, das Sicherheitskonzept insoweit teilweise aufzudecken, als der darüber liegende Schleier gelüftet würde. Frage 3 Diese Frage beruft sich auf eine Pressemeldung in der „TAZ" vom 19.8.2002. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Auffassung von David (aaO, Art. 24 Rn. 60), allgemein brauche der Senat Pressemeldungen nicht zu kommentieren, hier Platz greifen kann. Denn auch die Beantwortung dieser Frage könnte LVerfGE 14

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Rückschlüsse darauf ermöglichen, ob der Innensenator persönlich bewaffnet ist oder nicht. Auch dies würde zu einer zumindest teilweisen Aufdeckung des zu seinem Schutz bestehenden Sicherheitskonzeptes führen können und es daher beeinträchtigen. Fragen 5 und 6 Der Hinweis des Antragstellers auf § 1 Abs. 3 des Versammlungsgesetzes ist missverständlich. Diese Bestimmung ist ohne Relevanz zu den gestellten Fragen. Es wird angenommen, dass sich der Antragsteller auf § 17a Abs. 3 des Versammlungsgesetzes berufen will. Damit ist dann die Frage verbunden, ob für den Innensenator eine Ausnahme von dem Verbot des § 17a Abs. 1 Versammlungsgesetz zugelassen worden ist, bei öffentlichen Versammlungen Schusswaffen zu tragen. Der erste Satz der Frage 6 will eine Rechtsfrage beantwortet wissen, deren Beantwortung sich aus der Gesetzeslage ergibt. Ob der Senat zu einer solchen Rechtsauskunft verpflichtet ist, kann dahingestellt bleiben. Denn die Frage nach der Rechtslage ist bei Auslegung der Anfrage nach ihrem Sinn und Zweck nur als Vorfrage ohne eigene Bedeutung und damit im Zusammenhang mit der im zweiten Satz von Ziffer 6 gestellten Frage zu sehen. Die Beantwortung dieser Frage ebenso wie eine Antwort auf die Frage in Ziffer 5 könnte jedoch Rückschlüsse auf das für den Innensenator bestehende Sicherheitskonzept ermöglichen. Daher besteht insoweit keine Antwortpflicht des Senats. 5. Der Innensenator hat auch nicht durch eigene Äußerungen dazu beigetragen, dass die zu seinem Schutz gefassten Sicherheitsmaßnahmen durch ihn selbst der Öffentlichkeit bekannt geworden sind. Es wäre ermessensmissbräuchlich, wenn der Senat eine Antwort auf die Fragen des Antragstellers verweigerte, obwohl unterstellt werden kann, dass er selbst kein Geheimhaltungsinteresse für die für den Innensenator bestehenden Sicherheitsmaßnahmen sieht. Dann wäre nämlich das Tragen einer Schusswaffe durch den Innensenator eine von ihm selbst bestätigte Tatsache. Fragen, die sich hierauf beziehen, müssten dann nach den Grundsätzen im Urteil dieses Gerichts v. 27.7.1977 (aaO, 15) beantwortet werden. In der Veröffentlichung des „Spiegel" vom 19.8.2002 wird zwar in Form eines Tatsachenberichts über die Bewaffnung des Innensenators berichtet, ohne dass dieser Bericht jedoch bestätigt wird. Vielmehr wird als wörtliches Zitat des Innensenators wiedergegeben: „Aus prinzipiellen Erwägungen werden keine Auskünfte über Sicherheitskonzepte für Senatsmitglieder gegeben." Diese Äußerung wird ebenfalls als wörtliches Zitat im „Hamburger Abendblatt" vom 19.8.2002 wiederholt, ebenso im „Tagesspiegel" vom 19.8.2002. In einem Interview des Innensenators mit der Zeitung „Die Welt", das in deren Ausgabe vom 26.8.2002 wiedergegeben wird, antwortet der Innensenator auf die Frage, warum er eine Waffe trage und ob er seinem Personenschützer nicht traue, wie folgt: „Grundsätzlich gebe ich dazu, wie Senatsmitglieder geschützt werden, keine Auskunft". LVerfGE 14

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Diese Äußerungen lassen keinen Hinweis auf die Aufdeckung eines Sicherheitskonzeptes durch den Innensenator selbst zu. Er war auch nicht verpflichtet, den zitierten Behauptungen über das Tragen einer Schusswaffe zu widersprechen, da er damit von sich aus Teile des Sicherheitskonzeptes aufgedeckt hätte. Er war auch nicht zur Beantragung einer presserechtlichen Gegendarstellung verpflichtet. In dem Interview mit „Die Welt" vom 26.8.2002 antwortet der Innensenator freilich auf die Frage: „Warum dann noch eine eigene Waffe?" wie folgt: „Wenn der Staatsschutz eine Person als besonders gefährdet einstuft, gibt es die Möglichkeit eines extrem personalaufwendigen 24-Stunden-Schutzes oder die, sich auch aus Ersparnisgründen nur zeitweise schützen zu lassen und ansonsten zu anderen Sicherungsnahmen zu greifen. Wenn das die persönliche Bewaffnung ist, werden natürlich der Erwerb entsprechender Fertigkeiten im Hinblick auf die Waffe sowie Zuverlässigkeit vorausgesetzt. Letztere sollte bei Senatoren unterstellt werden."

Ein vergleichbares wörtliches Zitat findet sich in der Zeitung „Bild" vom 19.8.2002. Ähnliche, aber nicht wörtlich zitierte Bemerkungen des Innensenators werden unter anderem in der Veröffentlichung des „Spiegel" vom 19.8.2002 und des „Hamburger Abendblatt" vom 19.8.2002 wiedergegeben. Zu einer konkreten Schlussfolgerung dahingehend, dass er eine Waffe trage, reichen diese Äußerungen jedoch nicht aus. Sie sind abstrakt gefasst und nicht auf seine konkrete persönliche Sicherheitssituation bezogen. Nichts anderes ergibt sich auch daraus, dass der Senatssprecher laut „Die Welt" vom 19.8.2002 erklärt hat, der Erste Bürgermeister Ole von Beust sei nicht bewaffnet und habe im Übrigen die Absicht, auch künftig unbewaffnet zu bleiben. Da Sicherheitssysteme und -maßnahmen personenbezogen eingerichtet werden und die einzuschätzende Sicherheitssituation zwischen verschiedenen Mitgliedern des Senats unterschiedlich sein kann, wie auch in Sicherheitssystemen die mögliche eigene Mitwirkung der zu schützenden Persönlichkeit zu ihrem Schutze ein beachtlicher Faktor ist, stellt die Bemerkung des Senatssprechers keinen Verzicht des Senats dar, Sicherheitsmaßnahmen zu Gunsten von Senatsmitgliedern, insbesondere gefährdeter, generell nicht darzulegen. 6. Auf die erst im Rahmen dieses Verfahrens vom Senat vorgebrachten datenschutzrechtlichen Gründe kommt es für die Entscheidung nicht an. Sie sind nämlich in der Antwort des Senats auf die erste Kleine Anfrage, auf welche sich die Beantwortung der zweiten Frage bezieht, nicht zum Ausdruck gekommen. Daraus ist zu schließen, dass sie bei seiner Ermessensabwägung keine Rolle gespielt haben oder bewusst zur Begründung nicht verwendet worden sind. Die Ausübung und auch die Begründung für den ihm zustehenden Ermessensspielraum muss der Senat in dem Zeitpunkt abgeschlossen haben, in welchem er seine Antwort dem Antragsteller zuleitet. Die verfassungsrechtliche Nachprüfung ist auf die Begründung der konkret gegebenen Antwort beschränkt (HVerfG, Urt. v. 27.7.1977, aaO, 16; SachsAnhVerfG, aaO, 673). Das verfassungsrechtlich gewährte LVerfGE 14

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Frage- und Informationsrecht von Abgeordneten würde ausgehöhlt werden, wenn der Senat nach Ablauf der Beantwortungsfrist Ablehnungsgründe nachschieben dürfte. Die in Art. 25 Abs. 3 HV festgelegte Frist von acht Tagen für die Beantwortung könnte dadurch ausgehebelt werden. Umgekehrt muss dem Senat im Rahmen seiner Ermessensprüfung die Freiheit gegeben werden, sich auf diejenigen Ablehnungsgründe zu stützen, die er für gerechtfertigt hält und solche Gründe nicht zu nennen, die er im Rahmen seiner Ermessensausübung nicht berücksichtigen will. Der Senat muss die Anfrage innerhalb der festgelegten Frist beantworten oder gegebenenfalls begründen, warum er eine Antwort verweigert. Erst dadurch wird es dem Fragesteller möglich, gegebenenfalls in eine politische oder rechtliche Auseinandersetzung über die Verweigerung der Antwort einzutreten (ebenso: VerfGH Sachsen, aaO, 775; BayVerfGH, aaO, 716; LVerfG MV, aaO, 17). III. Eine Kostenentscheidung ist nicht zu treffen, weil gem. § 66 HVerfGG im Verfahren vor dem Verfassungsgericht keine Kosten erhoben werden und auch eine Auslagenerstattung, wie sie nur für einige besondere Verfahrensarten vorgesehen ist, hier nicht in Betracht kommt. Die Entscheidung ist einstimmig ergangen.

Nr. 2 1. Die Ermächtigungsgrundlage für die Spielordnung, § 6 Abs. 4 SpielbankG, genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen nach Art. 53 Abs. 1 Satz 2 HV. 2. Soweit § 1 Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 3 SpielO das Online-Roulette im Großen Spiel zulassen, sind die Vorschriften nicht mit § 6 Abs. 4 SpielbankG vereinbar und daher nichtig. Denn eine Auslegung des Spielbankgesetzes ergibt, dass es die Durchführung des gesamten Spiels in den Räumlichkeiten der Spielbank, also auch die Präsenz der Spieler in der Spielbank, voraussetzt. Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg Art. 53 Abs. 1 Satz 2 Spielbankgesetz § 6 Abs. 4 Spielordnung § 1 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3

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Urteil des H a m b u r g i s c h e n V e r f a s s u n g s g e r i c h t s v o m 21. O k t o b e r 2003 - H V e r f G 10/02 Entscheidungsformel: § 1 Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 3 der Verordnung über die Spielordnung für die öffentliche Spielbank in Hamburg (Spielordnung - SpielO —, idF vom 28. Mai 2002, HmbGVBl. S. 81) ist, soweit die Norm das Online-Roulette betrifft, nicht mit der Ermächtigungsgrundlage des § 6 Abs. 4 des Gesetzes über die Zulassung einer öffentlichen Spielbank (Spielbankgesetz - SpielbankG - , vom 24. Mai 1976, HmbGVBl. S. 139, zuletzt geändert am 16. November 1999, HmbGVBl. S. 260), zu vereinbaren und damit nichtig. Tatbestand: Die Antragsteller begehren die Feststellung, dass die vom Senat mit Wirkung zum 1.6.2002 geänderte Spielordnung hinsichtlich der Zulassung des OnlineRoulette zu den zugelassenen Spielen nicht mit der Ermächtigungsgrundlage, dem Spielbankgesetz, vereinbar ist. In der Freien und Hansestadt Hamburg galt bis 1976 ein absolutes Verbot der Konzessionierung oder Duldung öffentlicher Spielbanken, das bereits 1868 begründet wurde. Erst durch das Spielbankgesetz vom 24.5.1976 konnte der Senat eine öffentliche Spielbank zulassen. Daraufhin kam es zur Einrichtung der Spielbank Hamburg. In § 6 Abs. 4 SpielbankG wurde der Senat ermächtigt, durch Rechtsverordnung eine Spielordnung zu erlassen, die insbesondere den Kreis der Berechtigten, die Zeiten, zu denen das Spielen erlaubt ist, und die zugelassenen Spiele bestimmt. Aufgrund dieser Ermächtigung erließ der Senat die Spielordnung vom 19.4.1977 (HmbGVBl. S. 93). Alle nach dieser Spielordnung zugelassenen Spiele setzten die Anwesenheit der Spielteilnehmer in der Spielbank voraus (Präsenzspiel). Am 28.5.2002 änderte der Senat mit Wirkung zum 1.6.2002 die Spielordnung dahingehend, dass nunmehr auch das Online-Roulette zu den zugelassenen Spielen gehört (§ 1 Abs. 2 Nr. 1 SpielO). Bei diesem Spiel ist die Anwesenheit der Spielteilnehmer in der Spielbank nicht erforderlich. Die Teilnahme am Spiel sowie die während des Spiels erforderlichen Interaktionen zwischen Spieler und Spielbank erfolgen mittels einer Internetverbindung. Gem. § 1 Abs. 3 SpielO wird das Online-Roulette im Großen Spiel im Spielsaal durchgeführt und von dort auf elektronischem Wege ins Internet übertragen. Für den Zugang zum Online-Roulette der Spielbank Hamburg sind besondere Zugangsregelungen in der Spielordnung getroffen worden (§ 4 Nr. 4 SpielO). Der Zugang zum Online-Roulette ist nur Personen gestattet, die das Anmeldeformular vollständig ausfüllen und unterschrieben mit einer Kopie des Lichtbildausweises LVerfGE 14

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dem Spielbaakunternehmen zusenden. Es wird in elektronischer Form vom Spielbankunternehmen bereitgehalten (§ 5 Abs. 2 SpielO). Zur Registrierung muss ein Spielinteressent das auf der Internetseite der Spielbank (www.spielbankhamburg.de) vorhandene Anmeldeformular ausfüllen, ausdrucken und unterschrieben mit einer Fotokopie des Personalausweises per Post an die Spielbank senden. Nach positiver Überprüfung durch Mitarbeiter der Spielbank erhält der Spielinteressent eine Autorisierung mit Passwort für das Online-Spiel. Personen in der Bundesrepublik Deutschland, die sich nicht in der Freien und Hansestadt Hamburg aufhalten, sind vom Spiel ausgeschlossen (§ 4 Nr. 4 SpielO). Vor der Teilnahme am Spiel müssen solche Spielinteressenten daher erklären, dass sie sich zum Zeitpunkt des Spiels in Hamburg aufhalten, und dies anhand einer Hamburger Festnetztelefonnummer belegen. Die Spielteilnahme erfolgt durch Einrichtung eines für den jeweiligen Tag bestehenden Depots, dessen Guthaben vom Kreditkartenkonto des Spielteilnehmers bei Abruf durch die Spielbank unwiderruflich überwiesen wird. Mitspieler können zur freiwilligen Begrenzung ihres finanziellen Risikos ein selbstgewähltes tägliches Limit festsetzen. Das Online-Roulette ist nach einem Probebetrieb unter Einsatz von Spielgeld am 28.10.2002 in den regulären Betrieb aufgenommen worden. Mit Schriftsatz vom 31.10.2002 haben 50 Mitglieder der Bürgerschaft beim Hamburgischen Verfassungsgericht ein Normenkontrollverfahren anhängig gemacht. Sie wenden sich gegen die Zulassung des Online-Roulette durch eine Rechtsverordnung und führen zur Begründung ihres Antrages im Wesentlichen aus: Das Spielbankgesetz aus dem Jahr 1976 gehe von der Spielform in Räumen unter gleichzeitiger Anwesenheit von Personal und Spielenden aus. Nur auf diese Weise könne der vom Gesetzgeber mit dem Spielbankgesetz verfolgte Schutzzweck — die wirksame Überwachung des Glücksspiels — erreicht werden. Das Spielbankgesetz ermächtige nicht zur Zulassung von Spielformen, die diese Präsenz nicht gewährleisteten. Durch die Konzentration des Spielbetriebes in einer zugelassenen Spielbank habe es ermöglicht werden sollen, das Glücksspiel zu überwachen und die Spieler vor strafbarer Ausbeutung zu schützen, die bei heimlichem Spielbetrieb die Folge wäre. Dieser Gesetzeszweck sei auch bei der Novellierung des Spielbankgesetzes im Jahre 1999 maßgeblich gewesen. Alle Vorschriften des Spielbankgesetzes orientierten sich an diesem Schutzzweck. Er finde Ausdruck in den Vorschriften über die Anforderungen an die Personen, die die Spielbank betreiben wollten (§ 2 Abs. 2 und 3 SpielbankG), ebenso wie in der Befristung der Erlaubnis und der Möglichkeit der Erteilung von Auflagen (§ 2 Abs. 4 SpielbankG). Auch das Bundesverfassungsgericht habe das Spielbankenrecht als Teil des Rechts zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung qualifiziert und seinen Zweck in der Eindämmung des illegalen Glücksspiels gesehen. Eine entsprechend dem Zweck des Spielbankgesetzes und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wirksame Überwachung des Glücksspiels LVerfGE 14

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zum Schutz der Spielenden sei aber nur bei einer Präsenzpflicht möglich. Zu dieser Überwachung gehöre die Vorlage des Personalausweises. Anders als bei der Teilnahme am Spiel in der Spielbank müsse sich ein Online-Spieler nur einmal unter Vorlage des Personalausweises anmelden und nicht bei jedem weiteren Spiel erneut. Da die Spieler von ihren Computern aus am Glücksspiel teilnehmen könnten, sei kaum noch eine Kontrolle darüber möglich, wer am Spiel teilnehme. Ferner ergäben sich hinsichtlich der Überwachungsmöglichkeiten des Spiels weitere Probleme. Die Vorschrift, dass nur von Hamburg aus per Computer gespielt werden dürfe, sei technisch ganz einfach zu umgehen. Jeder Computer außerhalb von Hamburg könne zunächst einen Server mit Hamburger Nummer anwählen und über diesen Server dann die Spielbank. Es könne so nicht kontrolliert werden, ob der Anruf tatsächlich aus Hamburg komme. Auch schütze der Zugang zum Online-Roulette nicht ausreichend Minderjährige, da diese den Personalausweis und die Kreditkarte ihrer Eltern unbefugt verwenden könnten. Auch die Praxis hinsichtlich einer Teilnahme am Spiel aus dem Ausland sei rechtlich zweifelhaft. Die Prüfung der jeweiligen Rechtslage im Ausland finde durch die Spielbank, die ein eigenes wirtschaftliches Interesse an einem möglichst großen Kreis von Spielberechtigten habe, statt und der Senat übernehme deren Ergebnisse ohne eigene Prüfung. Das Spielbankgesetz habe mit der Betonung der Überwachungsmöglichkeit des Glücksspiels in einer zugelassenen Spielbank eindeutig eine Spielbank vorgesehen, in der die Spieler persönlich anwesend sein müssten, zumal die Möglichkeit eines Online-Roulette im Jahre 1976 noch nicht absehbar gewesen sei. Auch die 1999 erfolgte Novellierung habe an dem Erfordernis der persönlichen Anwesenheit der Spieler in der Spielbank nichts geändert, dies in Anbetracht der bereits technisch existierenden Möglichkeiten. Die Tatsache, dass das Spielbankgesetz von einer „Präsenzspielbank" ausgehe, ergebe sich auch aus § 4 SpielbankG, wo ausdrücklich „Besucherinnen und Besucher" der Spielbank erwähnt würden. Die Online-Teilnahme hebe die Notwendigkeit der physischen Anwesenheit in der Spielbank auf und sei deshalb von der Ermächtigungsgrundlage im Spielbankgesetz nicht gedeckt. Die Ermächtigung in § 6 Abs. 4 SpielbankG umfasse die Bestimmung der zugelassenen Spiele durch Verordnung. Das Online-Roulette sei jedoch nicht bloß eines von verschiedenen denkbaren Spielen, sondern eine ganz neue Spielform. Nach allem lasse § 6 Abs. 4 SpielbankG kein unkontrolliertes Spiel zu, sondern nur Glücksspiel in Form der persönlichen Anwesenheit in der Spielbank. Die das Online-Roulette zulassende Vorschrift der Spielordnung in deren § 1 Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 3 sei damit nichtig. Eine ausreichende Rechtsgrundlage für das Online-Roulette hätte nur durch die Änderung des Spielbankgesetzes selbst geschaffen werden können. Für die Befassung des Parlaments mit der Einführung des Online-Roulette spreche noch eine andere Überlegung, die hilfsweise eingebracht werde. Der VorLVerfGE 14

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behalt des Gesetzes in Art. 20 GG verpflichte den Gesetzgeber nicht nur im Bereich der unmittelbaren Grundrechtsausübungen, sondern in allen grundlegenden normativen Bereichen die wesentlichen Entscheidungen selber zu treffen. Ermächtigungen zu ergänzenden Regelungen im Verordnungswege seien nur zulässig, sofern die wesentlichen Entscheidungen in dem formellen Gesetz einschließlich der Ermächtigungsnorm enthalten seien. Die Einführung des OnlineRoulette berge eine Reihe von schwerwiegenden Problemen, die in diesem Zusammenhang als wesentlich anzusehen seien. Jugendschutz, Datenschutz, Spielerschutz seien grundlegend normative Bereiche. Derzeit würden geschätzt etwa 130.000 Menschen bundesweit als spielsüchtig gelten. Pathologisches Spielen sei eine von den Krankenkassen anerkannte psychische Störung. Glücksspiel sei eine Tätigkeit, deren Suchtpotential von anerkannten Fachleuten mit dem des Kokains gleichgestellt werde. Es liege auf der Hand, dass eine solche Tätigkeit mit diesen Gefahren, wenn überhaupt, nur unter strikter Kontrolle stattfinden könne und dass die Voraussetzungen hierfür im Gesetz selber zu regeln seien. Der sicherzustellende Schutz der Spieler vor wirtschaftlicher Ausbeutung umfasse auch den Schutz vor Spielsucht. Die Antragsteller beantragen, es wird festgestellt, § 1 Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 3 der Verordnung über die Spielordnung für die öffentliche Spielbank in Hamburg (Spielordnung) in der Fassung vom 28. Mai 2002 (HmbGVBl. Seite 81) ist, soweit die Norm das Online-Roulette betrifft, nicht mit der Ermächtigungsgrundlage des § 6 Abs. 4 des Gesetzes über die Zulassung einer öffentlichen Spielbank vom 24. Mai 1976 (HmbGVBl. Seite 139), zuletzt geändert am 16. November 1999 (HmbGVBl. Seite 260), zu vereinbaren und damit nichtig.

Der Senat beantragt, den Antrag zurückzuweisen.

Er hat sich im Wesentlichen wie folgt geäußert: Die geänderten Regelungen in § 1 Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 3 SpielO vom 28.5.2002 seien in verfassungsrechtlich formal vorgeschriebener Weise beschlossen und verkündet worden. Ihr Regelungsgehalt erfülle darüber hinaus die Vorgaben des den Senat ermächtigenden Gesetzes und überschreite insbesondere dessen Grenzen nicht. Der Senat habe sich bei der Zulassung des Online-Roulette dafür entschieden, dieses formal als selbständiges Spiel neben dem bisher zulässigen Roulette in der Spielordnung aufzuführen. Rechtlich oder tatsächlich zwingend sei das nicht. Die Regeln, mit denen das Roulette einerseits und das Online-Roulette andererseits gespielt werde, unterschieden sich jeweils nicht. Beim Online-Roulette handele es sich lediglich um einen neuen medialen Zugang zu einem im Gebäude der Spielbank tatsächlich ausgeübten Spiel. Ein Roulettetisch, an dem Gäste vor Ort spielten, werde mittels einer Videoübertragung ins Internet abgebildet. Die Online-Spieler spielten gemeinsam mit den Spielern vor Ort in einem identischen LVerfGE 14

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Spiel. Der Spieltisch des Online-Roulette im Gebäude der Spielbank sei auch an den Plätzen der Spieler vor Ort ausschließlich mit Büdschirmterminals ausgestattet. Über Geldscheinrezeptoren werde bezahlt. Der Setzvorgang erfolge nicht auf herkömmliche Weise in Form körperlicher Platzierung von Jetons auf dem Spieltisch, sondern mittels eines berührungsempfindlichen Bildschirms. Solche sog. Touch-Pads seien in der Spielbank unabhängig von der Einrichtung des OnlineRoulette eingeführt worden und fänden sich auch in anderen deutschen Spielbanken. Der im Gebäude der Spielbank bestehende Sichtkontakt der Spieler zum Croupier und zum Roulettekessel werde für die Teilnehmer über das Internet durch eine Videoübertragung ersetzt. Es handele sich also nicht um ein virtuelles, maschinengeneriertes Spiel, sondern um die technisch vermittelte, uneingeschränkt unmittelbare Teilnahme des Internetspielers an einem aktuell im Haus der Spielbank durchgeführten Spiel. Auch andere Spiele, die bereits in der Spielordnung zugelassen seien, könnten auf diese Weise, also online, gespielt werden. Es handele sich mithin nicht um ein ganz neues Spiel, sondern bloß um eine neue Spielform. Jedoch auch unterstellt, es handele sich um ein selbständiges neues Spiel, hätte der Verordnungsgeber durch die Regelungen in der Spielordnung dem dadurch entsprochen, dass er das Online-Roulette formal als eigenständiges Spiel neben dem Roulette und den anderen zugelassenen Spielen ausgestaltet habe. Soweit die Spielordnung besondere Vorgaben enthalte zur Spielzeit, zu Spielverboten und zum Verfahren, seien jeweils für das Online-Roulette ausdrücklich konkretisierende Anordnungen getroffen worden. § 1 Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 3 SpielO überschreite auch die Grenzen der Ermächtigungsgrundlage aus § 6 Abs. 4 SpielbankG nicht. Entgegen der Ansicht der Antragssteller sei das Spielbankgesetz nicht von vornherein nur auf Spiele und Spielformen beschränkt, an denen in der Spielbank oder ihren Dependancen anwesende Spieler im Beisein von Mitarbeitern des Spielbankunternehmens beteiligt seien. Dem Gesetz sei keine Beschränkung in Form einer Präsenzpflicht der Spieler zu entnehmen. Das Spielbankgesetz sei zu dem Zweck erlassen worden, den Spieltrieb durch das Angebot einer staatlich kontrollierten Spielalternative zu kanalisieren. Hierdurch sollten Spieler vor der Ausbeutung durch illegales und betrügerisch angelegtes Spiel geschützt und zugleich der Ertrag des Spielgeschäfts Zwecken allgemeiner Billigung, nämlich dem Haushalt der Freien und Hansestadt Hamburg zugeführt werden. Diese öffentlich-rechtliche Zweckbestimmung des Spielbankgesetzes stehe im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, wonach die Konzessionierung einer Spielbank wesentlich und entscheidend bestimmt werde durch die öffentliche Aufgabe, das illegale Glücksspiel um Geld einzudämmen und dem nicht zu unterdrückenden Spieltrieb des Menschen staatlich überwachte Betätigungsmöglichkeiten zu verschaffen. Die staatliche Kontrolle gewährleiste dem Spieler, dass Gewinn und Verlust nur von seinem

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Glück und nicht von Manipulationen des Unternehmers oder seiner Beschäftigten abhängen. Aus § 6 Abs. 4 SpielbankG werde deutlich, dass das Gesetz dem Senat die Ausgestaltung der Spielbank weitgehend überlasse. Im Gesetzgebungsverfahren zum Spielbankgesetz sei nach eingehender Erörterung bewusst auf eine nähere Festlegung des Spielbetriebes verzichtet worden. Anderenfalls wäre die mit dem Gesetz beabsichtigte Kanalisierung des Glücksspiels auch nicht wirksam möglich, denn dieses setze voraus, dass den Spielwilligen zeitgemäße, attraktive Spielangebote auf dem jeweiligen Stand der Technik angeboten würden. Der Senat habe das Spielangebot entsprechend der technischen Entwicklung unbeanstandet weiter entwickelt. Er habe im Laufe der Jahre fünf Dependancen zum Hauptstandort der Spielbank mit einem Automatenspiel in erheblichem Umfang zugelassen. Auch in der im Jahr 1999 erfolgten Änderung, als bereits vier Automatendependancen bestanden hätten, habe die Bürgerschaft das weite Verständnis der Verordnungsermächtigung noch einmal bestätigt. Das Online-Roulette der Spielbank Hamburg sei deshalb zugelassen worden, um vergleichbare, aber illegale Spiele einzudämmen, da seit einigen Jahren zunehmend Casinos im Internet auftreten würden, denen einschränkende gesetzliche Regelungen für ihr Geschäft weitgehend fehlten. Die körperliche Anwesenheit der Spieler sei im Spielbankgesetz nicht ausdrücklich vorgegeben. Es gebe auch in der Begründung des Spielbankgesetzes keinerlei Hinweise über Vorstellungen des Gesetzgebers zur Frage etwaiger Präsenz. Insbesondere § 4 Abs. 1 SpielbankG regele lediglich die Verwendung der Zuwendungen von Besuchern, die in den Tronc abgeführt werden müssen, um direkte Zuwendungen an das Spielbankpersonal zu verhindern und damit etwaigen Manipulationen vorzubeugen. Eine weitergehende Bedeutung könne der Regelung nicht entnommen werden. Mit den Regelungen für das Online-Roulette werde mindestens ein Schutzniveau gewährleistet, wie es bereits für das herkömmliche Roulettespiel existiere. Die Kontrolle über den ordnungsgemäßen Ablauf des Online-Roulette erfolge in gleicher Weise wie beim herkömmlichen Roulette. Für den Zugang seien besondere Zugangsregelungen in der Spielordnung getroffen worden. Dabei handele es sich um Maßnahmen zur Registrierung und Feststellung der Zulassungsvoraussetzungen, zum Jugendschutz und zum Schutz vor Spielsucht. Solche Schutzregelungen seien bei den illegalen Angeboten nicht vorhanden. In der Praxis werde der Spieler von der Spielbankrezeption angerufen, die aktuelle Aufenthaltsanschrift werde abgefragt und ein nutzer- und tagesindividueller vierstelliger Zugangscode übermittelt, den der Spieler auf der Web-Seite eingeben müsse. Gebe der Spieler einen Aufenthaltsort außerhalb Hamburgs jedoch innerhalb Deutschlands - an, werde er informiert, dass eine Teilnahme nicht erlaubt sei. Gebe der Spieler einen Aufenthaltsort im Ausland an, so erfolge eine Aufforderung, seine Telefonnummer und die Anschrift, an der er sich zur LVerfGE 14

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Zeit aufhalte, einzugeben. Die Spielbank rufe ihn unter der angegebenen Telefonnummer an. Habe er einen deutschen Wohnsitz und sei das Land, in dem er sich aufhalte, freigeschaltet, übermittele ihm die Spielbank einen nutzer- und tagesindividuellen, vierstelligen Zugangscode. Eine Freischaltung bestehe bisher lediglich für Spieler aus Deutschland, die sich in den Ländern Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien oder Neuseeland aufhielten. Der Spielbank Hamburg sei durch intensive Geschäftskontakte bekannt, dass rechtliche Hindernisse für dieses Angebot nicht bestünden. Vor der Zulassung von Spielern aus dem Ausland prüfe die Spielbank in geeigneter Weise, ob ausländisches Recht verletzt sein könnte. Dies bedeute konkret, dass sich die Spielbank durch ihre intensiven geschäftlichen Branchenkontakte zu Aufsichtsbehörden und Konzessionären im Ausland und durch Veröffentlichungen in Fachzeitschriften einen Uberblick über die Rechtslage in den betreffenden Ländern verschaffe. Vor Zulassung von Spielern aus weiteren Ländern, über deren Rechtslage die Spielbank keine ausreichenden Informationen besitze, werde eine rechtsgutachtliche Prüfung durch die Spielbank erfolgen. Die Ergebnisse sowie die Freischaltung der Länder würden der Freien und Hansestadt Hamburg zur Kenntnis gegeben. Ein behördliches Einschreiten sei im Falle von Beschwerden vorgesehen. Die Anmeldeprozedur sei auch unter dem Aspekt des Jugendschutzes sehr aufwendig gestaltet worden. Zur erfolgreichen Freigabe des Spielteilnehmers bedürfe es eines Personalausweises, einer Kreditkarte und der Ubersendung des unterschriebenen Anmeldeformulars per Post. Ein Missbrauch dieses Verfahrens mit fremden Dokumenten könnte zwar nicht völlig ausgeschlossen werden, bedürfe aber der Überwindung erheblicher Hindernisse und böte zudem keinen wirtschaftlichen Anreiz, da Gewinne dem tatsächlichen Kreditkarteninhaber zu Gute kämen. Zur Vorbeugung der Spielsuchtgefahr erfolge die Spielteilnahme durch Einrichtung eines für den jeweiligen Tag bestehenden Depots, wobei die Mitspieler ein selbstgewähltes tägliches Limit festsetzten könnten. Zudem ergebe sich auch ein Limit durch den der Kreditkarte innewohnenden monatlichen Höchstbetrag. Dies stelle eine wesentliche zusätzliche Restriktion im Vergleich zum Spiel vor Ort dar, wo diese Beschränkung nicht greife. Dies gleiche den Nachteil aus, dass beim Online-Spiel durch das Spielbankpersonal lediglich der Verlauf der Spielteilnahme, nicht aber das Gesamterscheinungsbild des Spielers — wie bei den körperlich anwesenden Spielern - beobachtet werden könnte. Ebenfalls erfolge eine Abfrage der Kartei mit Sperrvermerken. Die Bürgerschaft hat weder einen Antrag gestellt noch eine Stellungnahme abgegeben. Entscheidungsgründe: Der Antrag hat Erfolg. LVerfGE 14

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I. Der Antrag ist zulässig. Das Hamburgische Verfassungsgericht ist für die Entscheidung über den Antrag gem. Art. 65 Abs. 3 Nr. 3 der Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg ( - HV v. 6.6.1952, HmbBL I 100-a), § 14 Nr. 3 des Gesetzes über das Hamburgische Verfassungsgericht ( - HVerfGG - , idF v. 23.3.1982, HmbGVBl. S. 59, m.sp.And.) zuständig. Das Gericht entscheidet auf Antrag des Senats oder eines Fünftels der Abgeordneten der Bürgerschaft über Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel, welche die Vereinbarkeit von Landesrecht mit der Verfassung oder von abgeleitetem Landesrecht mit den Landesgesetzen betreffen. Vorliegend handelt es sich um ein derartiges Normenkontrollverfahren. Es bestehen Meinungsverschiedenheiten über die Vereinbarkeit von § 1 Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 3 SpielO mit der Ermächtigungsgrundlage des § 6 Abs. 4 SpielbankG zwischen den Antragstellern und dem Senat. Die Antragsteller sind gem. Art. 65 Abs. 3 Nr. 3 HV und § 1 4 Nr. 3 HVerfGG antragsbefugt, denn sie sind Mitglieder der Bürgerschaft und erfüllen auch ihrer Anzahl nach die formellen Voraussetzungen. II. Der Antrag ist auch begründet. In Bezug auf das Online-Roulette entsprechen § 1 Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 3 SpielO idF v. 28.5.2002 nicht den durch die Ermächtigungsnorm des § 6 Abs. 4 SpielbankG gesetzten Grenzen. Der Senat hat insofern die ihm vom Gesetzgeber erteilte Befugnis, Regelungen im Verordnungswege zu treffen, überschritten. Die weiteren Vorschriften der Spielordnung, die sich mit dem Online-Roulette befassen, sind dadurch gegenstandslos. 1. Die Ermächtigungsgrundlage für die Spielordnung, § 6 Abs. 4 SpielbankG, genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen nach Art. 53 Abs. 1 S. 2 HV. Nach Art. 53 Abs. 1 S. 1 HV kann der Gesetzgeber den Senat ermächtigen, Rechtsverordnungen zu erlassen. Nach Satz 2 der Vorschrift müssen dabei Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetz bestimmt werden. Dies entspricht der insoweit identischen Bestimmung im \^erfassungsrecht des Bundes in Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG. Sowohl Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG als auch Art. 53 Abs. 1 S. 2 HV sind Ausprägungen des Prinzips der Rechtsstaatlichkeit. Sie zwingen den Gesetzgeber, die für die Ordnung eines Lebensbereiches entscheidenden Vorschriften selbst zu setzen und, sofern Einzelregelungen der Exekutive überlassen bleiben, die Tendenz und das Programm schon soweit zu umreißen, dass sich Zweck und der mögliche Inhalt der Verordnung bestimmen lassen. Allerdings müssen sich die gesetzlichen Vorgaben nicht unmittelbar aus dem Wortlaut der Ermächtigung ergeben; es genügt, dass sie sich mit Hilfe allgemeiner Auslegungsgrundsätze erschließen lassen, insbesondere aus dem Zweck, dem SinnzusamLVerfGE 14

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menhang und der Vorgeschichte des Gesetzes (so BVerfG, std. Rspr., vgl. Beschl. v. 14.3.1989 - 1 BvR 1033/82 u. 174/84 BVerfGE 80, 1, 20 f; Beschl. v. 7.11.1991, BVerfGE 85, 97, 104 f, die auch das Hamburgische Verfassungsgericht in seiner bisherigen Rechtsprechung für die Auslegung und Anwendung des Art. 53 Abs. 1 S. 2 HV übernommen hat, vgl. HVerfG, Urt. v. 11.9.1981 HVerfG 1/81 - , HmbJVBl. 1982, 25, 30). Danach ist die in § 6 Abs. 4 SpielbankG enthaltene Ermächtigung zum Erlass der Spielordnung nicht zu beanstanden. a. Der Inhalt der Ermächtigung ergibt sich aus ihrem Wordaut. § 6 Abs. 4 SpielbankG ermächtigt den Senat, durch Rechtsverordnung eine Spielordnung zu erlassen, die insbesondere den Kreis der Berechtigten, die Zeiten, zu denen das Spiel erlaubt ist, und die zugelassenen Spiele bestimmt. b. Der mit der Ermächtigung verfolgte Zweck ergibt sich aus der Begründung für die gesetzliche Zulassung einer Spielbank. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dient die Zulassung von Spielbanken dem Zweck, die natürliche Spielleidenschaft vor strafbarer Ausbeutung zu schützen und die Gewinne aus dem Spielbankbetrieb zum wesentlichen Teil für gemeinnützige Zwecke abzuschöpfen. Die Konzessionierung einer Spielbank sei wesentlich und entscheidend bestimmt durch die öffentliche Aufgabe, das illegale Glücksspiel um Geld einzudämmen und dem nicht zu unterdrückenden Spieltrieb des Menschen staatlich überwachte Betätigungsmöglichkeiten zu verschaffen. Die staatliche Kontrolle gewährleiste dem Spieler, dass Gewinn und Verlust nur von seinem Glück und nicht von Manipulationen des Unternehmers oder seiner Beschäftigten abhingen (BVerfG, Beschl. v. 18.3.1970 - 2 BvO 1/65 BVerfGE 28, 119, 148; Beschl. v. 19.7.2000 - 1 BvR 539/96 - , BVerfGE 102, 197, 215). Entsprechend ist die Zulassung der Spielbank durch den hamburgischen Gesetzgeber begründet worden: Durch die Konzentration des Spielbetriebes in einer zugelassenen Spielbank solle es ermöglicht werden, das Glücksspiel wirksam zu überwachen und die Spieler vor strafbarer Ausbeutung zu schützen, die bei heimlichem, verbotswidrigem Spiel unausweichlich wäre (so Bü-Drs. 8/921 v. 20.8.1975, S. 3). Diese Zweckbestimmung war auch für die Gesetzesnovellierung im Jahr 1999 (vgl. BüDrs. 16/2680 v. 23.6.1999, S. 5) bestimmend. Die Ermächtigung zum Erlass einer Spielordnung bezweckt demgemäß, die aus der Zulassung einer Spielbank folgende Verpflichtung des Staates, Vorsorge für einen ordnungsgemäßen Spielbetrieb zu schaffen, einzulösen, indem alle wichtigen Rahmenbedingungen für die Teilnahme am Spielbetrieb vom Senat bestimmt und öffentlich bekannt gemacht werden (so Bü-Drs. 8/921 v. 20.8.1975, S. 4). c. Letztlich ist auch das Ausmaß der Ermächtigung hinreichend deutlich bestimmt. Zunächst lässt sich dieser Gesichtspunkt durch den Zweck der Ermächtigung näher erschließen (vgl. Pieroth in: Jarass/Pieroth, GG, 6. Aufl. 2002, LVerfGE 14

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Art. 80 Rn. 12 mN). Insoweit kann auf den bereits umrissenen Zweck der Ermächtigung, insbesondere den Gedanken des Spielerschutzes, abgestellt werden. Rechtssystematisch ist weiterhin bedeutsam, dass die Zulassung einer Spielbank von vorn herein eine Ausnahme vom grundsätzlich geltenden Verbot des Glücksspiels (§§ 284 f StGB) darstellt und ihr somit eine restriktive Tendenz beigemessen werden kann. Schließlich ergibt sich aus den Beratungen des Haushaltsausschusses zum Erlass des Spielbankgesetzes, dass eine Spielbank nach dem überkommenen Leitbild einer staatlich konzessionierten Spielbank geschaffen werden sollte. Seriosität, Aufmachung, Bedienung und Personal sollten ausdrücklich an den Vorbildern Baden-Baden, Berlin und Bad Neuenahr ausgerichtet werden (vgl. Bü-Drs. 8/1526 v. 5.5.1976, S. 2). Entsprechend nennt § 3 Abs. 2 SpielbankG auch beispielhaft die für eine Spielbank nach diesem Leitbild herkömmlichen Spiele Roulette und Baccara und erlaubt § 4 Abs. 1 SpielbankG die Zuwendungen von Besucherinnen und Besuchern an die Spielbank oder ihr Personal nur über den Tronc. 2. Soweit § 1 Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 3 SpielO das Online-Roulette im Großen Spiel zulassen, sind die Vorschriften jedoch nicht mit § 6 Abs. 4 SpielbankG vereinbar und daher nichtig. Die Ermächtigungsnorm selbst enthält — jedenfalls vom Wortlaut her — keine ausdrücklichen Vorgaben über die Art und Weise oder die Formen, in denen ein Spiel spielbar ist. Gleichwohl bestehen insoweit für den Verordnungsgeber Grenzen, denn eine Auslegung des Spielbankgesetzes ergibt, dass es die Durchführung des gesamten Spiels in den Räumlichkeiten der Spielbank, also auch die Präsenz der Spieler in der Spielbank, voraussetzt. a. Diese Vorstellung des Gesetzgebers von einem Präsenzspiel kommt bereits im Wortlaut des Spielbankgesetzes zum Ausdruck. § 2 Abs. 4 S. 3 Nr. 4 SpielbankG spricht von Sicherheitsvorkehrungen einschließlich „visueller Überwachungsmaßnahmen". Dieses ist hinsichtlich des Online-Spiels nicht möglich. § 3 Abs. 3 S. 2 SpielbankG befasst sich mit der Problematik von Falschgeld bzw. falschen Spielmarken, einer Problematik, die nur bei Bargeldeinsatz im Präsenzspiel entstehen kann. § 4 Abs. 1 SpielbankG spricht von „Besucherinnen und Besuchern" der Spielbank. Diese Begriffswahl deutet darauf hin, dass der Gesetzgeber von einer körperlichen Anwesenheit der Personen ausgegangen ist, die sich den Spielbetrieb entweder nur ansehen oder das Spielangebot auch wahrnehmen wollen. Das Rechtsverständnis des Gesetzgebers spiegelt sich auch in der Spielordnung in der Fassung vor der hier streitigen Änderung wieder. Sie spricht an zahlreichen Stellen von „Besuchern" (§§ 3 Abs. 2; 5 Abs. 2, 4; 7; 8 Abs. i, 2; 9 Abs. 4 SpielO), „Eintritt in die Spielbank" (§§ 4 Abs. 1; 6 Abs. 1, 3 SpielO) und „Verlassen der Spielbank" (§§ 3 Abs. 5; 6 Abs. 3 SpielO). Der Zusammenhang mit den Begriffen „Eintritt" und „Verlassen" verdeutlicht, dass damit nur die in der Spielbank körperlich anwesenden Gäste gemeint sind und nicht etwa auch diejeLVerfGE 14

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nigen, die im Internet die Website der Spielbank Hamburg aufrufen und damit die Spielbank virtuell „besuchen". b. Die Vorstellung des Gesetzgebers von einem Präsenzspiel ergibt sich weiterhin aus dem Umstand, dass zum Zeitpunkt der Entstehung des Gesetzes, im Jahr 1976, überhaupt nur Präsenzspiele angeboten wurden. Der hamburgische Gesetzgeber wollte sich — wie bereits gezeigt (soeben unter I.e.) - mit der Einführung des Spielbankangebotes ausdrücklich an das überkommene Leitbild einer staatlich konzessionierten Spielbank anlehnen. Damit sollten auch nur diejenigen herkömmlichen Spiele erfasst werden, die üblicherweise in staatlichen Spielbanken gespielt werden; das waren bzw. sind aber Präsenzspiele. Auch im Jahre 1999 hat der Gesetzgeber die Gelegenheit der Novellierung des Spielbankgesetzes nicht genutzt, um ein Online-Spiel einzuführen. Vielmehr hat er den Wordaut des § 4 Abs. 1 SpielbankG, der für eine Präsenz der Spieler spricht, nicht verändert, als er im Zuge einer geschlechtsneutralen Gesetzesformulierung lediglich die alte Fassung „Besucher" in „Besucherinnen und Besucher" abgeändert hat (vgl. Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Zulassung einer öffentlichen Spielbank und zur Aufhebung der Troncverordnung v. 16.11.1999, HmbGVBl. S. 260). c. Auch nach Sinn und Zweck des Spielbankgesetzes ist eine Beschränkung der Verordnungsermächtigung auf Präsenzspiele geboten. Wie bereits ausgeführt (oben unter 1. b.), liegt der Zwecksetzung des Spielbankgesetzes bzw. der Verordnungsermächtigung in § 6 Abs. 4 SpielbankG der Gesichtspunkt des Spielerschutzes zugrunde. Dies ist dahingehend zu verstehen, dass der Spieler vor der kriminellen Ausbeutung des Spieltriebes geschützt werden soll, womit zugleich ein Schutz des Spielers vor ruinösem Spiel einhergeht. Dieses Ziel sichert der Gesetzgeber dadurch, dass er von Spielen ausgeht, welche die Präsenz der Spieler in der Spielbank erfordern. Dagegen weist das Online-Spiel eine deutlich niedrigere Zugangs schwelle für den potentiellen Teilnehmer auf. Das Spiel kann ohne die Notwendigkeit örtlicher Veränderung vom häuslichen Internetanschluss aus gespielt werden, der Teilnehmer wird beim Spiel nicht von anderen Personen, insbesondere dem Croupier, Aufsichtspersonen und Mitspielern, wahrgenommen und muss auch nicht vor dem Spiel angemessene Kleidung für die Spielteilnahme anlegen. Auch wird der Spieleinsatz bargeldlos an die Spielbank geleistet, so dass insbesondere Spielverluste nicht in gleicher Weise direkt erlebt werden können, wie es bei der Wegnahme gesetzter Spielmarken durch den Croupier oder der Weggabe von Bargeld im Präsenzspiel der Fall ist. Darüber hinaus bleibt das Online-Spiel im Hinblick auf die Möglichkeiten der Kontrolle des Spielers und seines Spielverhaltens hinter dem Präsenzspiel zurück. Nur bei Anwesenheit des Spielers kann das Personal der Spielbank, insbesondere der Croupier, Anzeichen für ruinöses Spiel entdecken und entsprechende Maßnahmen ergreifen. Dasselbe gilt für den Fall, dass ein Spieler - etwa infolge der Einnahme von Rauschmitteln

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— nicht in der Lage ist, sein Verhalten zu steuern. Diese dem Gesetz innewohnende Anknüpfung des Spielerschutzes an die Präsenzpflicht erfordert es, die Einführung des Online-Roulette dem Gesetzgeber zu überlassen. d. Schließlich bestätigt die systematische Auslegung das Verständnis der Ermächtigungsnorm. Denn das staatlich zugelassene Spiel stellt die Ausnahme von dem grundsätzlich geltenden Verbot des Glücksspiels dar (vgl. §§ 284 f StGB, dazu bereits oben unter 1. c.). Insoweit ist die Ermächtigungsnorm von vorn herein eng zu interpretieren. Die mit der Aufgabe des Präsenzerfordernisses verbundene Ausweitung des potentiellen Teilnehmerkreises bedarf danach der ausdrücklichen gesetzlichen Ermächtigung. e. Entsprechend dieser Rechtsauffassung haben im Übrigen die Länder Hessen und Niedcrsachsen für die Einführung eines Online-Roulette den Weg der ausdrücklichen gesetzlichen Ermächtigung durch Änderung des jeweiligen Spielbankgesetzes gewählt, weil sie davon ausgingen, dass das Spielbankrecht bislang vom Präsenzspiel ausgegangen ist (vgl. für Hessen die Änderung des Spielbankgesetzes durch Gesetz v. 26.11.2002, GVB11 S. 702, sowie die Gesetzesbegründung in der LT-Drs. 15/3988 v. 3.6.2002, S. 3; für Niedersachsen die Begründung des Gesetzentwurfs in LT-Drs. 14/2543, S. 8). 3. Daher muss nicht mehr entschieden werden, ob die Zulassung des OnlineRoulette durch Änderung der Spielordnung auch aus anderen Gründen zu beanstanden ist. Zweifel könnten sich insoweit ergeben, als die Spielordnung keine Regelung über die Zulässigkeit der Teilnahme von Spielern aus dem Ausland trifft. Die Zulässigkeit des Spielangebots im Ausland, die von der Vereinbarkeit mit dem dortigen Recht abhängt, soll nach dem Willen des Senats vielmehr von der Spielbank selbst geprüft werden (vgl. Senats-Drs. 2002/0541 v. 22.5.2002, S. 5). Der Gedanke des Spielerschutzes, insbesondere der Schutz vor illegalem, verbotswidrigem Spiel, der dem Spielbankgesetz und der Verordnungsermächtigung zugrunde liegt (vgl. oben 1. b.), fordert aber möglicherweise, dass nicht die Spielbank, die ein wirtschaftliches Interesse an einem möglichst großen Spielerkreis hat, sondern der Senat oder die zuständige Behörde selbst entscheiden muss, in welchen Staaten die Rechtslage ein Glücksspiel erlaubt. III. Eine Kostenentscheidung ist nicht zu treffen, weil gem. § 66 HVerfGG im Verfahren vor dem Verfassungsgericht keine Kosten erhoben werden und auch eine Auslagenerstattung, wie sie nur für einige besondere Verfahrensarten vorgesehen ist, hier nicht in Betracht kommt.

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Diese Entscheidung erlangt Gesetzeskraft mit dem Zeitpunkt ihrer \^eröffentlichung im Hamburgischen Gesetz- und Verordnungsblatt (§15 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 S. 1 HVerfGG). Die Entscheidung ist mit 6 : 3 Stimmen ergangen.

Nr. 3 1. a. Jedenfalls in einem Stadium, wie es nach erfolgreicher Durchführung des Volksbegehrens erreicht ist, dürfte die Volksinitiative als anderer Beteiligter, der durch die Verfassung mit eigenen Rechten ausgestattet ist, angesehen werden können. b. § 39a HVerfGG dürfte verfassungskonform dahingehend auszulegen sein, dass eine Volksinitiative in diesem Stadium antragsbefugt für ein Organstreitverfahren ist. 2. Einer Volks initiative kommt von vornherein keine Sperrwirkung zu, wenn es um eine „Aufforderung" an den Senat geht. Eine solche Aufforderung, die dem parlamentarischen „Ersuchen" vergleichbar ist, besitzt keine rechtliche Verbindlichkeit für den Senat. Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg Art. 50; 65 Abs. 3 Nr. 2 Gesetz über das Hamburgische Verfassungsgericht §§ 14 Nr. 2, 39a Urteil des H a m b u r g i s c h e n V e r f a s s u n g s g e r i c h t s v o m 15. D e z e m b e r 2003 - H V e r f G 4/03 Entscheidungsformel: Der Antrag wird zurückgewiesen. Tatbestand: Die Antragstellerin begehrt im einstweiligen Anordnungsverfahren, dass der Senat und die Bürgerschaft es unterlassen, bis zur Entscheidung in der Hauptsache ein den Verkauf von Mehrheitsanteilen am Landesbetrieb Krankenhäuser (LBK) gestattendes Gesetz einzubringen, zu beschließen bzw. davon Gebrauch zu machen. Die Vertreter der Volksinitiative „Gesundheit ist keine Ware" zeigten dem Senat am 29.4.2002 an, dass sie unter dem Motto „Gesundheit ist keine Ware" LVerfGE 14

Sperrwirkung einer Volksinitiative

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eine Unterschriftensammlung beginnen würden (Bü-Drs. 17/966). Es handele sich um eine „andere Vorlage" iSd Hamburgischen Gesetzes über Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid (v. 20.6.1996, HmbGVBl S. 136 - HmbW V G ) . Der Antrag, der gem. § 3 Abs. 2 H m b V W G anzuzeigen war, lautete: „Der Senat wird aufgefordert sicherzustellen, dass die Freie und Hansestadt Hamburg Mehrheitseigentümerin des Landesbetriebs Krankenhäuser (LBK), seiner einzelnen Krankenhäuser und anderen Einrichtungen bleibt."

Anschließend an die erfolgreiche Unterschriftensammlung für die Volksinitiative wurde das Volksbegehren durchgeführt. Der Senat stellte am 10.6.2003 das Zustandekommen des Volksbegehrens fest (Bü-Drs. 17/2874). Das Volksbegehren wurde von mehr als den erforderlichen 60.375 von zur Bürgerschaft wahlberechtigten Personen durch gültige Unterschrift unterstützt. Mit einer Mitteilung an die Bürgerschaft brachte der Senat am 27.10.2003 den Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung der Rechtsverhältnisse des Landesbetriebs Krankenhäuser Hamburg ein (Bü-Drs. 17/3541). Dieses Gesetz soll gem. Ziff. 1 der Drucksache die strukturellen und rechtlichen Grundlagen für eine Teilprivatisierung des LBK Hamburg schaffen. Nach dem Gesetzentwurf wäre der Krankenhausbetrieb zum 1.1.2004 durch Landesgesetz auf eine neu zu errichtende Betriebsanstalt des öffentlichen Rechts „LBK Hamburg" zu übertragen. Die bisherige Anstalt würde zur Besitzanstalt werden („LBK-Immobilien"). Die Betriebsanstalt wird dann in eine Kapitalgesellschaft umgewandelt werden. Alle Aktiva und Passiva, die wirtschaftlich dem Krankenhausbetrieb zuzuordnen sind, sollen als Sachgesamtheit auf die Betriebsanstalt übertragen werden. Diese Betriebsanstalt soll dann durch Übertragung von Unternehmensanteilen teilprivatisiert werden. Nach Art. 1 Abs. 3 des Gesetzentwurfs kann der „LBK-Immobilien" private Investoren „bis zu 49,9 vom Hundert des Stammkapitals an der Anstalt beteiligen". Die Antragstellerin hat am 6.11.2003 ein Verfahren nach Art. 65 Abs. 3 Nr. 2 der Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg (v. 6.6.1952, HmbBL I 100-a - HV) (Organstreitverfahren) anhängig gemacht. Sie beantragt festzustellen, dass der Senat nicht berechtigt ist, in die Bürgerschaft einen Gesetzentwurf einzubringen, nach dem die Freie und Hansestadt Hamburg nicht mehr Mehrheitseigentümerin des LBK, seiner Krankenhäuser und anderen Einrichtungen bleiben muss, bzw., von einem solchen Gesetz Gebrauch zu machen, bevor der Volksentscheid über das Volksbegehren „Gesundheit ist keine Ware" durchgeführt ist. Weiter beantragt sie festzustellen, dass die Bürgerschaft nicht berechtigt ist, bis zur Durchführung des Volksentscheids ein solches Gesetz zu beschließen. Am 13.11.2003 stellten die Vertreter der Volksinitiative den Antrag auf Durchführung des Volksentscheids gem. § 18 Abs. 2 H m b V W G . Sie baten den Senat darum, sicherzustellen, dass die Volksabstimmung zeitgleich mit der Wahl zum Europaparlament, voraussichtlich am 13.6.2004, durchgeführt werde.

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Laut einer Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft vom 18.11.2003 (BüDrs. 17/3691) ist ein Verkauf von Anteilen von der Besitzanstalt „LBK-Immobilien" in zwei Tranchen vorgesehen. 49% sollen zum 1.1.2004 veräußert werden, spätestens zum 1.6.2004 soll ein weiterer Anteil von 25,9% „übergeben" werden. Die verbleibenden 25,1% sollen von der Besitzanstalt „LBK-Immobilien" gehalten werden (Ziff. 4.1 der Drucksache). Käufer soll die Asklepios Kliniken GmbH, Königstein bei Frankfurt/Main, sein. Der vereinbarte Gesamtkaufpreis für die 74,9% am LBK (Betriebsgesellschaft) beträgt 318.625 Mio. EUR. Die Entwürfe der Beteiligungsverträge liegen dem Gericht vor. Sie sind aber noch nicht notariell beurkundet. Sie stehen darüber hinaus unter dem Vorbehalt der Zustimmung der Bürgerschaft. Der Senat stellte in seiner Mitteilung an die Bürgerschaft im Wesentlichen das Petitum, der Veräußerung von 74,9%) der Anteile an der LBK Betriebsgesellschaft in zwei Tranchen gem. Art. 72 Abs. 3 der Hamburger Verfassung und der Bestellung von Erbbaurechten zugunsten der Betriebsgesellschaft an insgesamt etwa 885.160 m 2 großen Grundstücken zuzustimmen. Am 24.11.2003 hat die Antragstellerin den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Sie macht im Wesentlichen geltend: Bereits am 26.11.2003 werde die Bürgerschaft über den Gesetzentwurf BüDrs. 17/3541 und den Senatsantrag Bü-Drs. 17/3691 abstimmen. Die zweite Lesung werde zwischen dem 15. und 17.12.2003 stattfinden. Zum 1.1. bzw. 1.6.2004 werde das Vorhaben umgesetzt. Damit drohe der für den 13.6.2004 vorgesehene Volksentscheid gegenstandslos zu werden. Die Bürgerschaft sei aber nach dem erfolgreichen Zustandekommen des Volksbegehrens nicht mehr zur Entscheidung über den Gegenstand des bevorstehenden Volksentscheids berechtigt, da diese den Zweck des Volksentscheids vereiteln könne. Diese Sperrwirkung ergebe sich bereits aus den Regelungen der Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg, die in Art. 50 das Volk als Legislativorgan der Bürgerschaft gleichstelle. Auch fordere der Sinn der Volksgesetzgebung eine Sperrwirkung. Sie solle nämlich als Kontrolle und Korrektiv der Parlamentsgesetzgebung dienen. Schließlich sei aus dem Grundsatz der Organtreue eine Sperrwirkung abzuleiten. Zwar könne die Bürgerschaft ein vom Volk beschlossenes Gesetz jederzeit wieder ändern, müsse sich dann aber mit dem zuvor geäußerten Volkswillen auseinander setzen und von diesem bewusst abweichen. Die Antragstellerin beantragt, festzustellen, 1.

dass der Beteiligte zu 1) verpflichtet ist, es bis zur rechtskräftigen Entscheidung im Hauptsacheverfahren (Hamburgisches Verfassungsgericht Az. HVerfG 3/03) zu unterlassen, a) einen Gesetzentwurf und/oder einen Senatsantrag in der Hamburgischen Bürgerschaft befassen zu lassen, nach dem die Freie und Hansestadt Hamburg nicht mehr Mehrheitseigentümerin des Landesbetriebs Krankenhäuser

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Hamburg (LBK), seiner einzelnen Krankenhäuser und anderen Einrichtungen bleiben muss, b) für den Fall, dass die Hamburgische Bürgerschaft ein solches Gesetz und/oder einen Senatsantrag beschließt, von der Möglichkeit der Veräußerung von Mehrheitsanteilen am Landesbetrieb Krankenhäuser Hamburg (LBK), seiner einzelnen Krankenhäuser und anderen Einrichtungen an private Investoren Gebrauch zu machen, 2.

dass die Beteiligte zu 2) verpflichtet ist, es bis zur rechtskräftigen Entscheidung im Hauptsacheverfahren (Hamburgisches Verfassungsgericht Az. HVerfG 3/03) zu unterlassen, ein Gesetz und/oder einen Senatsantrag zu beschließen, wonach die Freie und Hansestadt nicht mehr Mehrheitseigentümerin des Landesbetriebs Krankenhäuser Hamburg (LBK), seiner einzelnen Krankenhäuser und anderen Einrichtungen bleiben muss.

Der Senat (Antragsgegner und Beteiligter zu 1.) beantragt, den Antrag zu 1) und den Antrag zu 2), soweit er den Beteiligten zu 1) betrifft, als unzulässig, hilfsweise als unbegründet zurückzuweisen.

Er macht zunächst geltend, er bedürfe keiner Zustimmung der Bürgerschaft für die beabsichtigte Veräußerung von Mehrheitsanteilen am LBK, weil es sich nicht um Staatsgut in unmittelbarer Inhaberschaft der Freien und Hansestadt Hamburg handele. Der Antrag sei im Übrigen unzulässig, da weder die Volksinitiative noch die Volksinitiatoren Partei eines Organstreitverfahrens sein könnten. Ein solches Verfahren kläre Streitigkeiten innerhalb des Staatsapparates, nicht Konflikte zwischen dem Staat und der Gesellschaft bzw. den Staatsbürgern. Es sei daher nur Verfassungsorganen oder gleichstehenden anderen Beteiligten zugänglich, zu denen eine Volksinitiative nicht gehöre. Volksinitiative und Volksbegehren stellten mangels Formierung keine verfassungsrechtlich organisierte Einheit dar, sie seien vielmehr von Fall zu Fall sich formierende Stufen eines Willensbildungsprozesses. Lediglich Art. 50 Abs. 6 HV öffne den Weg zum Verfassungsgericht, ein solcher Antrag sei aber nicht gestellt. Der Antrag sei auch unbegründet. Es gehe der Initiative nicht um ein Gesetz, sondern lediglich um ein Ersuchen an den Senat, das keinen rechtlich verpflichtenden Charakter besitze. Der Senat sei auch bei Erfolg des Volksentscheids nicht gehindert, die Mehrheitsanteile am LBK zu veräußern. Auch entfalte eine Volksinitiative von vornherein keine Sperrwirkung gegenüber dem Senat und auch nicht gegenüber der Bürgerschaft. Die Antragstellerin erwidert, sie sei jedenfalls als „andere Beteiligte" iSv Art. 65 Abs. 3 Nr. 2 HV durchaus parteifähig, da Volksinitiativen in den Art. 50 Abs. 6 und 65 Abs. 3 Nr. 5 HV formierte Rechte aus dem Verfassungsrechtskreis eingeräumt würden. In der Sache macht sie geltend, dass es um eine „andere Vorlage" iSv Art. 50 Abs. 1 HV gehe und nicht um ein „Ersuchen". „Andere Vorlagen" und Gesetzesvorlagen stünden nach Art. 50 HV gleich. Eine Sperrwirkung der \^olksinitiative sei auch dem Senat gegenüber anzunehmen, da LVerfGE 14

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anderenfalls die Volksabstimmung über „andere Vorlagen" nicht hinreichend geschützt werden könnte. Das Konkurrenzverhältnis der Volksgesetzgebung zur Parlamentsgesetzgebung fordere gegenseitige Rücksichtnahme und damit ein Abwarten des Volksentscheides. Vor dem Volksentscheid sei die Bürgerschaft darauf beschränkt, einen eigenen Entwurf zu beschließen und dem Volk vorzulegen. Die Bürgerschaft hat mitgeteilt, sie wolle keine Stellungnahme abgeben. Die Bürgerschaft hat in ihrer Sitzung am 26.11.2003 in erster Lesung dem Gesetzentwurf des Senats laut Drucksache 17/3541 mit einigen vom Gesundheitsausschuss beschlossenen Änderungen mehrheitlich zugestimmt. Außerdem hat sie die oben wiedergegebenen Petita aus der Senatsvorlage vom 18.11.2003 (Bü-Drs. 17/3691) ebenfalls mit Mehrheit beschlossen. Die zweiten Lesungen sollen in den Sitzungen der Bürgerschaft noch im Dezember 2003 stattfinden. Entscheidungsgründe: Der Antrag hat keinen Erfolg. Nach § 35 Abs. 1 des Gesetzes über das Hamburgische Verfassungsgericht (idF v. 23.3.1982, HmbGVBl. S. 59, m.sp.Änd. - HVerfGG) kann das Verfassungsgericht in einem anhängigen Verfahren einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gefahr oder aus einem anderen wichtigen Grund geboten ist. Bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 HVerfGG hat grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, wie die Entscheidung in der Hauptsache ergehen wird, es sei denn, dass sich die \^erfassungsklage von vornherein als unzulässig oder unbegründet erweist. Das in der Hauptsache betriebene Organstreitverfahren dürfte zwar zulässig sein (dazu I.). Es ist aber von vornherein unbegründet (dazu II.). I. Aufgrund der in einem Eilverfahren gebotenen aber auch nur möglichen summarischen Prüfung ergibt sich für die Zulässigkeit folgendes: 1) Nach Art. 65 Abs. 3 Nr. 2 HV entscheidet das Verfassungsgericht über die Auslegung der Verfassung aus Anlass von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines \ r erfassungsorgans oder anderer Beteiligter, die durch die Verfassung mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Darüber hinaus ist das Verfassungsgericht nach Art. 65 Abs. 3 Nr. 5 HV zuständig für die Entscheidung von Streitigkeiten auf Antrag des Senats, der Bürgerschaft, eines Fünftels der Abgeordneten der Bürgerschaft und auf Antrag der Volksinitiatoren über die Durchführung von Volksbegehren und Volksentscheid (Art. 50 Abs. 6). Die Frage, ob die Volksinitiative oder die \^olksinitiatoren Verfassungsorgan iSv Art. 65 Abs. 3 LVerfGE 14

Sperrwirkung einer Volksinitiative

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Nr. 2 HV sind, muss nicht entschieden werden. Denn jedenfalls ist eine Volksinitiative in einem Stadium, wie es hier nach Durchführung des Volksbegehrens erreicht ist, ein anderer Beteiligter iSv Art. 65 Abs. 3 Nr. 2 HV. Das Volksbegehren ist gem. Art. 50 Abs. 2 S. 3 HV zustande gekommen, weil es von mehr als einem Zwanzigstel der Wahlberechtigten der Freien und Hansestadt Hamburg unterstützt wurde. Daraufhin können die Volksinitiatoren die Durchführung eines Volksentscheids beantragen, was hier geschehen ist. Dann hat der Senat den Gesetzentwurf oder die andere Vorlage dem \^olk zur Entscheidung vorzulegen. Damit hat die Volksinitiative eine verfassungsrechtliche Bedeutung und einen verfassungsrechtlichen Status erreicht, der es rechtfertigt, sie als anderen Beteiligten iSv Art. 65 Abs. 3 Nr. 2 HV zu bezeichnen. Das zeigt sich auch an Art. 48 Abs. 1 HV, wo bestimmt ist, dass Gesetzesvorlagen vom Senat, aus der Mitte der Bürgerschaft oder durch Volksbegehren eingebracht werden. Ein solches Volksbegehren, hinter dem 5% der wahlberechtigten Bürger stehen müssen, hat sich hier formiert. Würde man die Eigenschaft der Volksinitiative als anderer Beteiligter iSv Art. 65 Abs. 3 Nr. 2 HV verneinen, so könnte in einer verfassungsrechtlichen Streitigkeit wie der vorliegenden kein Rechtsschutz gewährt werden. Art. 50 Abs. 6 HV regelt nämlich allein die engen Fragen der „Durchfuhrung von Volksbegehren und Volksentscheid". Der Grundsatz eines möglichst umfassenden Rechtsschutzes erfordert daher die Bejahung der Zuständigkeit des Hamburgischen Verfassungsgerichts für eine derartige Streitigkeit iSv Art. 65 Abs. 3 Nr. 2 HV. Wenn die Volksinitiative zumindest anderer Beteiligter iSv Art. 65 Abs. 3 Nr. 2 HV ist, so muss sie durch Personen handeln können. Das geschieht im Rahmen des Gesetzes über Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid durch die von den Volksinitiatoren gem. § 3 Abs. 2 Nr. 3 H m b V W G benannten Personen. Jedenfalls diese Personen müssen dann auch im Organstreitverfahren vor Gericht handeln können. Das Hamburgische Verfassungsgericht teilt nicht die Auffassung des Verfassungsgerichtshofs von Berlin (Urt. v. 2.6.1999 - VerfGH 31 A/99 u.a. - , DÖV 1999, 823 f), das die Parteifähigkeit der Träger eines Volksbegehrens bei ähnlichen verfassungsrechtlichen Normen verneint hatte. Der Berliner Fall unterscheidet sich allerdings von dem hier zu entscheidenden insoweit, als dort noch kein Volksbegehren erfolgreich durchgeführt, sondern nur dessen Zulassung beantragt worden war. In einem solchen frühen Stadium mag man die Rechtsstellung des Trägers eines Volksbegehrens bzw. einer Volksinitiative als nicht genügend formiert ansehen, um ihm einen besonderen verfassungsrechtlichen Status zu geben. Würde man jedoch der Volksinitiative auch nach erfolgreicher Durchführung des Volksbegehrens diesen Status verweigern, so würde eine Gruppierung, die nach Art. 48 Abs. 1 HV berechtigt ist, wie Senat und Bürgerschaft Gesetzesvorlagen einzubringen, ohne Rechtsschutz durch ein Organstreitverfahren bleiben. 2) Die Volksinitiative ist in einem Verfahren nach Art. 65 Abs. 3 Nr. 2 HV antragsberechtigt. § 39a HVerfGG steht dem nicht entgegen. Zwar heißt es dort LVerfGE 14

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zu dem Verfahren nach § 14 Nr. 2 HVerfGG, der dem Art. 65 Abs. 3 Nr. 2 HV im Wortlaut entspricht, Anträge könnten nur von der Bürgerschaft, dem Senat und den in der Verfassung mit eigenen Rechten ausgestatteten Teilen dieser Organe gestellt werden. Diese Formulierung des § 39a HVerfGG unterscheidet sich von derjenigen in Art. 65 Abs. 3 Nr. 2 HV, wo von anderen „Beteiligten, die durch die Verfassung mit eigenen Rechten ausgestattet sind", die Rede ist. Die Volksinitiative oder das Volk sind nämlich nicht Teile der Organe Bürgerschaft und Senat. § 39a HVerfGG muss, wie die Antragstellerin zu Recht vorträgt und wie auch der Senat meint, verfassungskonform dahingehend ausgelegt werden, dass auch eine Volksinitiative, zumindest wenn sie das Stadium des Volksbegehrens erreicht hat, antragsbefugt für ein Organstreitverfahren ist. 3) Bedenken hinsichtlich des Rechtsschutzinteresses bestehen nicht. Das A^erfassungsgericht folgt nicht der vom Senat in diesem Eilverfahren geäußerten Meinung, die Bürgerschaft müsse der Veräußerung von Anteilen an dem LBK (Hamburg) nicht gem. Art. 72 Abs. 3 HV zustimmen, weil nur eine mittelbare Rechtsinhaberschaft bestehe. Gegenüber der Bürgerschaft hat der Senat in seiner Mitteilung vom 18.11.2003 (Bü-Drs. 17/3691) das Petitum gestellt, der Veräußerung von 74,9% der Anteile an der LBK Betriebsgesellschaft gem. Art. 72 Abs. 3 HV zuzustimmen. Ein solches Vorgehen entspricht gängiger Praxis. Auch David (Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg, Kommentar, 1994, Art. 72 Rn. 49) betont, eine Zustimmung der Bürgerschaft komme in Betracht, wenn sich ein Unternehmen so nachhaltig seines Vermögens begibt, dass dies der Veräußerung des Unternehmens selbst gleichkomme. Etwas Derartiges ist hier der Fall. Auch der weitere Einwand des Senats, der der Bürgerschaft vorgelegte Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung der Rechtsverhältnisse des Landesbetriebs Krankenhäuser (Bü-Drs. 17/3541) enthalte weder eine Verpflichtung noch eine Ermächtigung des Senats zur \^eräußerung von Mehrheitsanteilen am LBK, weshalb der gestellte Eilantrag ins Leere gehe, greift nicht durch. Wie der Senat in seiner Mitteilung an die Bürgerschaft selbst betont hat, schafft das beantragte Gesetz die „strukturellen und rechtlichen Grundlagen für eine Teilprivatisierung des LBK Hamburg". II. Der im Hauptverfahren gestellte Antrag ist aber nicht begründet, weshalb eine einstweilige Anordnung zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gefahr oder aus einem anderen wichtigen Grund nicht in Betracht kommt. Der Antrag im Hauptverfahren unterscheidet sich von dem Antrag der Volksinitiative gem. Art. 50 Abs. 1 S. 1 HV, der nach dem erfolgreichen Volksbegehren zum Volksentscheid gestellt werden soll. Der Volksinitiativ-Antrag betrifft LVerfGE 14

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nicht die Gesetzgebung. Vielmehr handelt es sich um eine „Befassung mit bestimmten Gegenständen der politischen Willensbildung" iSv Art. 50 Abs. 1 S. 1 zweite Alternative HV. Demgemäß richtet er sich ausschließlich an den Senat. Dieser wird zu einem gewissen Handeln „aufgefordert". Der Antrag im Hauptverfahxen vor dem Verfassungsgericht hingegen richtet sich gegen Senat und Bürgerschaft. Dem Senat soll untersagt werden, einen bestimmten Gesetzentwurf einzubringen, der Bürgerschaft, ein solches Gesetz zu beschließen. Somit handelt es sich um ein Begehren, gerichtet auf „den Erlass, die Änderung oder die Aufhebung eines Gesetzes" iSv Art. 50 Abs. 1 S. 1 1. Alt. HV. Dieses Petitum ist ein gegenüber dem Antrag der Volksinitiative anderes Begehren. Da der beim Verfassungsgericht gestellte Antrag die von der Antragstellerin angenommene „Sperrwirkung" des wirksam zustande gekommenen Volksbegehrens sichern soll, kann er jedoch zulässigerweise nicht weiter gehen als der ursprüngliche Antrag der Volksinitiative. Der Antrag der Volksinitiative ist eine Aufforderung an den Senat. Da Volksinitiativen, \^olksbegehren und Volksentscheide gem. Art. 50 Abs. 1 S. 1 HV nur „im Rahmen der Zuständigkeit der Bürgerschaft" zulässig sind, das Volk insoweit also neben die Bürgerschaft tritt, muss die beantragte „Aufforderung" mit einem entsprechenden Verfahrensinstitut der Bürgerschaft verglichen werden. Das ist in der parlamentarischen Praxis Hamburgs das Ersuchen. Zwar werden Ersuchen weder in der Verfassung noch in Gesetzen oder in der Geschäftsordnung der Bürgerschaft erwähnt. In der Literatur zum hamburgischen Verfassungsrecht befasst sich lediglich David (aaO, Art. 6 Rn. 16) mit derartigen Ersuchen und meint, sie würden keine Pflicht des Senats auslösen, ihnen nachzukommen. Der Senat kann Ersuchen nachkommen, sie ablehnen oder sie auch unbeantwortet lassen. Auf Bundesebene wird nicht der Ausdruck „Ersuchen" verwendet, vielmehr spricht man von „schlichten Parlamentsbeschlüssen". Ihnen kommt keine rechtlich bindende Wirkung zu (so H.H. Klein in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, § 40 Rn. 12; Magiern in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, S. 1430; Stern Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, S. 48). Wenn ein dem Petitum der Volksinitiative vergleichbares Ersuchen der Bürgerschaft an den Senat für diesen nicht verbindlich ist, so muss dasselbe auch für einen erfolgreichen Volksentscheid mit demselben Wortlaut gelten. Da also sogar ein erfolgreicher Volksentscheid mit dem beantragten Text für den Senat nicht verbindlich wäre, so kann noch viel weniger schon vor der endgültigen Entscheidung des Volkes eine Sperrwirkung eintreten. Gerade aus der verfassungsmäßigen Parallelität von Parlaments- und Volksgesetzgebung, wie sie die Antragstellerin zu Recht betont, folgt, dass dem plebiszitären Verfahren keine stärkere rechtliche Wirkung beigemessen werden kann als einem entsprechenden parlamentarischen Verfahren und Beschluss.

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Der Antrag der Volksinitiative kann auch nicht durch Auslegung dahin umgedeutet werden, dass es sich nicht nur um eine unverbindliche Aufforderung an den Senat handele, sondern um einen echten Antrag zur Volks-Gesetzgebung. Eine solche Umdeutung ist nicht möglich. Zum einen richtet sich der Antrag der Volksinitiatoren an den Senat („Der Senat wird aufgefordert, sicherzustellen, ..."). Für Gesetzgebung ist aber außer dem Volksgesetzgeber ausschließlich die Bürgerschaft zuständig. Für eine Gesetzgebungs-Volksinitiative hätten die Initiatoren außerdem erheblich andere Voraussetzungen erfüllen müssen, nämlich gem. § 3 Abs. 2 Nr. 1 H m b V W G einen Gesetzentwurf mit Begründung ihrer Anzeige beifügen. Etwas Derartiges hätte den die Volksinitiative durch Unterschriftsleistung unterstützenden Bürgern und den Teilnehmern des Volksbegehrens ein wesentlich anderes Bild über das Begehren der Initiatoren und die Möglichkeiten seiner Umsetzung gegeben als die Formulierung des gestellten Antrags. Zum anderen haben die Volksinitiatoren selbst in ihrer Anzeige an den Senat erklärt, es handele sich um eine „andere Vorlage iSd § 2 Abs. 1 S. 1 H m b V W G " . Auch in der Antragsschrift im Hauptverfahren (Nr. 1, S. 2) wird das Volksbegehren als „eine andere Vorlage iSd § 50 Abs. 1 S. 1 HV, § 2 Abs. 1 S. 1 H m b V W G " charakterisiert. Schließlich bestehen erhebliche Bedenken gegen eine Umdeutung eines Volksbegehrens nach seiner erfolgreichen Durchführung: Die Unterzeichner haben diesem bestimmten Begehren ihre Zustimmung gegeben, eine Veränderung der Formulierung wäre von dieser Zustimmung nicht umfasst. Die Umdeutung des Wortlauts der Volksinitiative und des Willens der Antragstellerin in eine bindende Gesetzgebungs-Initiative ist nach alldem rechtlich nicht möglich. III. Eine Kostenentscheidung ist nicht zu treffen, weil gem. § 66 HVerfGG im \^erfahren vor dem Verfassungsgericht keine Kosten erhoben werden und auch eine Auslagenerstattung, wie sie nur für einige besondere Verfahrensarten vorgesehen ist, hier nicht in Betracht kommt. Die Entscheidung ist einstimmig ergangen.

Nr. 4 1. Die Auslegung des § 26 Abs. 4 Satz 1 BezVG ergibt, dass der Senat ein Letztentscheidungsrecht bei der Bestellung eines Bezirksamtsleiters besitzt. 2. Dieses Ergebnis der Normauslegung wird auch den verfassungsrechtlichen Vorgaben - stadtstaatliche Einheitsverwaltung, Art. 4 HV; PerLVerfGE 14

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sonalhoheit des Senats, Art. 33 Abs. 2, 45 HY; parlamentarische Verantwortung des Senats - gerecht. 3. Das Letztentscheidungsrecht des Senats bei der Bestellung des Bezirksamtsleiters wird geprägt durch die dem Bezirksamtsleiter obliegende Erfüllung von Verwaltungsaufgaben sowohl für den Bezirk als auch für die Freie und Hansestadt Hamburg einerseits und durch die dem Senat als Regierung zustehende Personalhoheit, die ihm obliegende Führung und Beaufsichtigung der staatlichen und gemeindlichen Verwaltung sowie die daraus folgende Verantwortung gegenüber der Bürgerschaft andererseits. Bezirksverwaltungsgesetz § 26 Abs. 4 Satz 1 U r t e i l des H a m b u r g i s c h e n V e r f a s s u n g s g e r i c h t s v o m 17. D e z e m b e r 2 0 0 3 - H V e r f G 1/03 Entscheidungsformel: § 26 Abs. 4 S. 1 des Bezirksverwaltungsgesetzes in der Fassung vom 4. November 1997 (HmbGVBl. Seite 489) verpflichtet den Senat der Freien und Hansestadt Hamburg nicht, jede von der Bezirks Versammlung zum Bezirksamtsleiter gewählte Person zur Bezirksamtsleiterin bzw. zum Bezirksamtsleiter zu bestellen, auch wenn diese die dienstrechtlichen Voraussetzungen erfüllt. Tatbestand: Im vorliegenden Verfahren wird darüber gestritten, ob der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg gem. § 26 Abs. 4 S. 1 des Bezirksverwaltungsgesetzes (idF v. 4.11.1997, HmbGVBl. S. 489 - BezVG verpflichtet ist, jede von der Bezirksversammlung durch Wahl zum Bezirksamtsleiter vorgeschlagene Person zum Bezirksamtsleiter zu bestellen. Die Vorschrift des § 26 BezVG, deren Auslegung hier streitig ist, hat folgenden Wortlaut: „Wahl, Bestellung und Abberufung (1) Die Bezirksamtsleiterin bzw. der Bezirksamtsleiter wird von der Bezirksversammlung mit der Mehrheit ihrer Mitglieder durch Wahl vorgeschlagen. Vor Beendigung ihrer bzw. seiner Amtszeit kann die Bezirksversammlung der Bezirksamtsleiterin bzw. dem Bezirksamtsleiter das Misstrauen nur dadurch aussprechen, dass sie eine Nachfolgerin bzw. einen Nachfolger wählt. (2) Der Senat schreibt die Stelle öffentlich aus. Von einer Ausschreibung kann abgesehen werden, wenn die Bezirksversammlung dies mit der Mehrheit ihrer Mitglieder beschließt. An dem Auswahlverfahren sind die hierfür von LVerfGE 14

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Ilamburgisches Verfassungsgericht den Fraktionen der Bezirksversammlung benannten Mitglieder zu beteiligen. Jede Fraktion kann nur ein Mitglied benennen. (3)

Die Mitglieder der Bezirksversammlung und der Senat können der Bezirksversammlung Wahlvorschläge unterbreiten. Die Wahl soll drei Monate vor Ablauf der Amtszeit der Amtsinhaberin bzw. des Amtsinhabers erfolgen.

(4)

Nach ihrer bzw. seiner Wahl wird Bezirksamtsleiter vom Senat auf sechs Ende ihrer bzw. seiner Amtszeit oder eines Nachfolgers nach Abs. 1 S. 2 vom

(5)

Nach Beendigung der Amtszeit nimmt die Vertreterin bzw. der Vertreter der Bezirksamtsleiterin bzw. des Bezirksamtsleiters die Geschäfte bis zur Bestellung einer neuen Bezirksamtsleiterin bzw. eines neuen Bezirksamtsleiters wahr."

die Bezirksamtsleiterin bzw. der Jahre bestellt. Sie bzw. er wird bei bei Wahl einer Nachfolgerin bzw. Senat abberufen.

Dem vorliegenden Auslegungsstreit liegt der Streit um die Bestellung von Dr. H. zum Bezirksamtsleiter, die Gegenstand eines verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens (VG Hamburg - 16 VG 997/2003 - ; OVG Hamburg - 2 Bs 140/03 - ) war und eines Klageverfahrens (VG Hamburg —16 VG 4979/2003 —) ist, zugrunde. Dr. H. war im September 1996 unter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Zeit bis zum Ablauf des 14.8.2002 zum Bezirksamtsleiter für den Bezirk Altona bestellt worden. Nachdem er sich erneut um die Stelle des Bezirksamtsleiters beworben hatte, wurde er am 25.4.2002 von der Bezirksversammlung Altona gewählt. Wegen des Verdachts eines Dienstvergehens wurden in der Folgezeit disziplinarische Ermittlungen gegen Dr. H. durchgeführt, die mit dem Ergebnis abgeschlossen wurden, dass dieser zwar schuldhaft gegen seine Pflicht zur unparteiischen Amtsführung verstoßen habe, ohne dass sein Handeln allerdings inhaltlich sachwidrig oder ein Schaden zu befürchten gewesen sei. Der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg — der Beteiligte zu 1) — beschloss in seiner Sitzung vom 17.9.2002, Dr. H. nicht wieder zum Bezirksamtsleiter zu bestellen. Die Stelle des Bezirksamtsleiters für den Bezirk Altona wurde im Dezember 2002 erneut ausgeschrieben. Letztendlich hat die Bezirksversammlung am 22.5.2003 im Verfahren nach § 26 Abs. 1 S. 2 BezVG einen anderen im neuen Ausschreibungsverfahren Ermittelten gewählt. Diesen hat der Senat am 27.5.2003 zum Bezirksamtsleiter bestellt. Am 20.5.2003 haben die Antragsteller das vorliegende Verfahren nach Art. 65 Abs. 3 Nr. 4 der Abfassung der Freien und Hansestadt Hamburg (v. 6.6.1952, HmbBL I 100-a - HV) , §§ 14 Nr. 4, 43 des Gesetzes über das Hamburgische Verfassungsgericht (idF v. 23.3.1982, HmbGVBl. S. 59, m.sp.And. HVerfGG) eingeleitet. Sie tragen zur Begründung des Antrags vor: Der Senat - der Beteiligte zu 1) — sei gem. § 26 Abs. 4 S. 1 BezVG verpflichtet, die von der Bezirksversammlung zum Bezirksamtsleiter gewählte Person auch zum Bezirksamtsleiter zu ernennen, wie die Auslegung des § 26 Abs. 4 S. 1 BezVG ergebe. Schon der Wortlaut des § 26 Abs. 4 S. 1 BezVG spreche dafür, dass dem Senat bei der Ernennung kein Ermessen zustehe. Aus dem Wortlaut LVerfGE 14

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lasse sich jedoch letzte Klarheit nicht gewinnen. Allerdings ergäben systematische Gesichtspunkte, dass dem Senat eine Pflicht zur Ernennung auferlegt sei, wobei ihm das Recht zustehe zu prüfen, ob die Ernennung mit geltendem Recht vereinbar sei. Die Ernennungspflicht folge aus dem zugrunde liegenden zweistufigen Verfahren. Danach dürfe der Senat in der zweiten Stufe nur von der Bezirksversammlung vorgeschlagene Personen (erste Stufe) zum Bezirksamtsleiter ernennen. Eine Auswahl unter verschiedenen Personen solle dem Senat gerade nicht zustehen. Auch als Ergebnis der teleologischen Auslegung könne sich trotz einiger Zweifel nur ergeben, dass dem Senat kein Ermessen bei der Ernennung ihm vorgeschlagener Bezirksamtsleiter eingeräumt sei. Zwar werde in der Literatur überwiegend die Ansicht vertreten, dass der Senat als zentrale und letztentscheidende Verwaltungsinstanz in der Freien und Hansestadt Hamburg das Recht haben müsse, die gesamte hamburgische Verwaltung zu steuern. Entscheidend dürfte aber sein, dass die Bürgerschaft durch Gesetz den Bezirken konkrete Entscheidungsbefugnisse eingeräumt habe, wie u.a. auch bei der Bestellung von Bezirksamtsleitern. Insoweit habe das Bundesverfassungsgericht (LTrt. v. 31.10.1990, BVerfGE 83, 60, 79 f) ausgeführt, dass ein Selbsteintrittsrecht des Senats nicht in Betracht komme. Soweit der Senat insbesondere auf die historische Auslegung abstelle, sei zunächst zu beachten, dass diese nur hilfsweise zu berücksichtigen sei, wenn sich ansonsten im Wege der Auslegung kein eindeutiges Ergebnis herleiten lasse. Dies sei jedoch nicht der Fall. Im Übrigen gelange man auch nach der historischen Auslegung zu dem Ergebnis, dass dem Senat bei der Bestellung einer ihm nach § 26 Abs. 1 BezVG vorgeschlagenen Person kein Ermessen zukomme. Bei der historischen Auslegung sei insbesondere einzubeziehen, dass diese Vorschrift in einer Situation entstanden sei, in der eine parlamentarische Mehrheit von CDUund GAL-Abgeordneten eine zuvor durchgesetzte Reform der Bezirks Verwaltung in einem wesentlichen Punkt, nämlich der Bestellung des Bezirksamtsleiters, entscheidend habe verändern wollen. Mit der Änderung des § 26 BezVG habe gerade die durch die vorangegangene Neuordnung eingeführte Stellung des Bezirksamtsleiters als Delegaten des Senats korrigiert werden sollen. Zur Durchsetzung dieser Bestrebungen sei zunächst ein einstufiges Verfahren bei der Bestellung des Bezirksamtsleiters ausschließEch durch Wahl der Bezirksversammlung vorgesehen gewesen. Im Rahmen der parlamentarischen Beratungen seien dann im Hinblick auf die Personalhoheit des Senats verfassungsrechtliche Bedenken aufgekommen. Um diese auszuräumen, habe die geltende Regelung mit dem zweistufigen Verfahren den Senat lediglich im Rahmen des verfassungsrechtlich unbedingt Erforderlichen an dieser Entscheidung beteiligen sollen. Deshalb sei dem Senat mit § 26 BezVG nur das Recht zugeordnet worden, im Sinne seiner Personalhoheit dafür Rechnung tragen zu können, dass kein formal ungeeigneter Bewerber zum Bezirksamtsleiter bestellt werde. Nach allem folge als Ergebnis der Auslegung des § 26 Abs. 4 S. 1 BezVG, dass dem Senat bei der Bestellung von der Bezirksversammlung gewählten Personen zum Bezirksamtsleiter kein Ermessen zustehe

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solle. Nach dieser Vorschrift habe der Senat die von der Bezirksversammlung vorgeschlagene Person zu bestellen, wenn die dienstrechtlichen Voraussetzungen für die Ernennung vorlägen und keine Nichtigkeits- oder Rücknahmegründe beständen. Die Antragsteller beantragen, festzustellen, dass der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg gem. § 26 Abs. 4 S. 1 BezVG verpflichtet sei, jede von der Bezirksversammlung zum Bezirksamtsleiter gewählte Person zum Bezirksamtsleiter zu bestellen, sofern diese die dienstrechtlichen Voraussetzungen hierzu erfülle. Der Beteiligte zu 1) beantragt, den Antrag abzulehnen. Er ist der Auffassung, dass er nicht verpflichtet sei, eine von einer Bezirksversammlung zum Bezirksamtsleiter gewählte Person zu bestellen, selbst wenn diese die rechtlichen Voraussetzungen dazu erfülle. Er trägt hierzu Folgendes vor: Hinsichtlich der Auslegung der Vorschrift des § 26 BezVG seien die Entstehungsgeschichte und auf der Ebene der Verfassung Art. 45 S. 1 HV maßgeblich. Mit der Entstehungsgeschichte des § 26 Abs. 4 S. 1 BezVG sei die Regelung des § 26 Abs. 1 S. 1 BezVG untrennbar verbunden. Die Bürgerschaft habe in der ersten Lesung eine Fassung des § 26 Abs. 1 S. 1 BezVG beschlossen, nach der der Bezirksamtsleiter von der Bezirksversammlung mit der Mehrheit seiner Mitglieder auf sechs Jahre gewählt und nach der Wahl vom Senat bestellt würde. Schon in der ersten Lesung in der Bürgerschaft seien allerdings im Hinblick auf diese Regelung verfassungsrechtliche Probleme erörtert worden. Um diesen verfassungsrechtlichen Problemen Rechnung zu tragen, wobei insbesondere die Personalhoheit des Senats angesprochen worden sei, sei die jetzige Fassung des § 26 BezVG geschaffen worden. Im Gegensatz dazu habe § 26 des Bezirksverwaltungsgesetzes idF v. 11.6.1997 (HmbGVBl. S. 205 - BezVG 1997) für den Senat gerade eine im Wesentlichen bestimmende Rolle bei der Bestellung des Bezirksamtsleiters vorgesehen. Danach habe der Senat den Bezirksamtsleiter auf die Dauer von sechs Jahren bestellen sollen, wenn die Bezirksversammlung mit der Mehrheit ihrer gesetzlichen Mitglieder dem Vorschlag zugestimmt oder nicht binnen drei Monaten über den Vorschlag abgestimmt hätte. Diese Regelungen hätten vermeiden sollen, dass dem Senat jemand aufgezwungen werden könne, der nicht dessen Vertrauen besitze. Mit der jetzigen Regelung habe in der Sache — von Formulierungsunterschieden abgesehen —, die Vorschrift des § 35 BezVG idF v. 26.1.1987 (HmbGVBl. S. 19 - BezVG 1987) wieder hergestellt werden sollen. Danach sei der Bezirksamtsleiter von der Bezirksversammlung mit der Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl auf sechs Jahre gewählt worden, wobei die Wahl als Vorschlag konzipiert und der Bezirksamtsleiter entsprechend diesem \Aorschlag der Bezirksversammlung vom Senat zu bestellen bzw. abzuberufen gewesen sei. Weiterhin sei bei der Auslegung zu beachten, dass zwischen der PersonalLVerfGE 14

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hoheit des Senats gem. Art. 45 S. 1 HV einerseits und der Wahl des Bezirksamtsleiters durch die Bezirksversammlung andererseits ein Spannungsverhältnis bestehe. Im Hinblick auf dieses Spannungsverhältnis habe das Bundesverfassungsgericht (Urt. v. 31.10.1990, BVerfGE 83, 60 ff) auch nicht mehr gesagt, als dass die Bestellung und Endassung des Bezirksamtsleiters die Wahl bzw. die Abwahl durch die Bezirksversammlung voraussetze und darin keine unverbindliche Anregung liege. Die angesprochene Verbindlichkeit bestehe darin, dass Wahl bzw. Abwahl unverzichtbare Ernennungs- bzw. Entlassungsvoraussetzungen darstellten. Von einer Bindungswirkung für den Senat bei der Bestellungsentscheidung sei aber nicht die Rede. Die Entstehungsgeschichte des § 35 BezVG 1978 weise gerade darauf hin, dass die dem Senat eingeräumte Personalhoheit bei der Bindung an den Vorschlag der Bezirks Versammlung entsprechende Berücksichtigung finden sollte. Dies sei von erheblicher Bedeutung, da mit § 26 BezVG die Rechtslage des Jahres 1978 gerade wieder hergestellt werden sollte. Die Entstehungsgeschichte des § 35 BezVG 1978 ergebe aber, dass man bei dessen Beratung insbesondere unter Berücksichtigung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Bremer Personalvertretungsgesetz (Urt. v. 27.4.1959, BVerfGE 9, 268 ff) davon ausgegangen sei, dass ein Zwang zur Bestellung des Bezirksamtsleiters nach dieser Vorschrift für den Senat nicht bestehe, der Senat dem Ernennungsvorschlag aber im allgemeinen folgen werde, insbesondere wenn keine beamtenrechtlichen Hindernisse vorlägen. Letztlich könne dem Senat die Kompetenz der Bestellung jedoch nicht genommen werden. Die fehlende rechtliche Bindung eines Vorschlags der Bezirksversammlung lasse sich auch aus der durchaus vergleichbaren Rechtsstellung des Richterwahlausschusses gem. Art. 68 Abs. 1 HV herleiten. Auch dort brauche der Senat einem Vorschlag des Richterwahlausschusses nicht Folge zu leisten. Nach allem ergebe sich für die Auslegung der Vorschrift des § 26 BezVG Folgendes: Weder die Bezirksversammlung noch der Senat dürfe der anderen Seite eine Person gegen deren Willen aufdrängen. Der Senat dürfe niemanden ernennen, der nicht vorgeschlagen worden sei. Er selbst habe die Freiheit, einen Vorgeschlagenen nicht ernennen zu müssen. Er dürfe aber keine Person ernennen, die nicht gewählt sei. Mit dieser sich nach der Entstehungsgeschichte ergebenden Auslegung werde das Mitwirkungsrecht der Bezirksversammlung bei der Bestellung des Bezirksamtsleiters einerseits und die Personalhoheit des Senats andererseits zum Ausgleich gebracht.

Entscheidungsgründe: Der zulässige Antrag hat in der Sache keinen Erfolg. I. Dem Antrag nach Art. 65 Abs. 3 Nr. 4 HV, § 14 Nr. 4 HVerfGG stehen keine Zulässigkeitsbedenken entgegen. LVerfGE 14

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Der Antrag (§§ 43, 38 S. 2 HVerfGG) ist von 31 Abgeordneten der Bürgerschaft und damit - wie nach Art. 65 Abs. 3 Nr. 4 f W , § 14 Nr. 4 HVerfGG erforderlich — von mindestens einem Fünftel der Abgeordneten der Bürgerschaft gestellt worden. Er ist auch von diesen unterschrieben worden (§§ 43, 39 Abs. 2 HVerfGG). Der Antrag hat zum Gegenstand, dass Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung und Anwendung des § 26 Abs. 4 S. 1 BezVG, die im Zusammenhang mit der Nichtbestellung von Dr. H. zum Bezirksamtsleiter für den Bezirk Altona aufgetreten sind, geklärt werden. Gerade dieser Streitgegenstand kann nach § 14 Nr. 4 HVerfGG zur Entscheidung vor das Verfassungsgericht gebracht werden. II. Der Antrag ist aber nicht begründet. Die von den Antragstellern begehrte Feststellung kann nicht getroffen werden. Die Auslegung der Vorschrift des § 26 Abs. 4 S. 1 BezVG ergibt nämlich ein Letztentscheidungsrecht des Senats (1). Das gefundene Auslegungsergebnis wird auch den Vorgaben der Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg gerecht (2). Das Letztentscheidungsrecht nach § 26 Abs. 4 S. 1 BezVG wird bestimmt durch die einfachgesetzlich geregelte Stellung des Bezirksamtsleiters unter Berücksichtigung der besonderen verfassungsrechtlichen Vorgaben (3). 1. Die herkömmlichen Auslegungsmethoden — semantische (a), systematische (b), teleologische (c) und historische (d) — führen zu dem Ergebnis, dass dem Senat nach § 26 Abs. 4 S. 1 BezVG ein Letztentscheidungsrecht zusteht. a) Der Wortlaut des § 26 Abs. 4 S. 1 BezVG weist zunächst in die Richtung, dass der Senat verpflichtet ist, den von der Bezirksversammlung gewählten Bezirksamtsleiter ohne weitere Prüfung zu bestellen, wenn es dort heißt: „Nach ihrer bzw. seiner Wahl wird die Bezirksamtsleiterin bzw. der Bezirksamtsleiter vom Senat auf sechs Jahre bestellt". Dem Wortlaut dieser Regelung wird man aber nur dann gerecht, wenn man ergänzend § 26 Abs. 1 S. 1 BezVG mit einbezieht. Denn nur dann wird deutlich, dass „Wahl" verkürzt wiedergibt, dass der Bezirksamtsleiter von der Bezirksversammlung dem Senat zur Bestellung „durch Wahl vorgeschlagen" wird. Insoweit lässt der Wortlaut offen, welche Verpflichtung den Senat nach der Wahl des Bezirksamtsleiters durch die Bezirks Versammlung trifft, wenn er einerseits zwar von „wird ... vom Senat ... bestellt" spricht, andererseits aber der Bezirksversammlung lediglich ein Vorschlagsrecht gegenüber dem Senat einräumt. b) Wenn bei der systematischen Auslegung als erster Schritt zunächst auf die Systematik des § 26 BezVG abgestellt wird, so ergibt sich ein mehrstufiges Verfahren, das sowohl der Bezirksversammlung als auch dem Senat bestimmte Rechte einräumt, ohne dass sich hieraus für die Bezirksversammlung oder den LVerfGE 14

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Senat ein Übergewicht bis zur letzten Stufe der Bestellung ergibt. So schreibt der Senat die Stelle öffentlich aus (Abs. 2 S. 1). Von einer Ausschreibung kann allerdings abgesehen werden, wenn die Bezirksversammlung dies beschließt (Abs. 2 S. 2). An dem Auswahlverfahren sind die hierfür von den Fraktionen der Bezirksversammlung benannten Mitglieder zu beteiligen (Abs. 2 S. 3). Die Mitglieder der Bezirksversammlung und der Senat können in der Bezirksversammlung Wahlvorschläge unterbreiten (Abs. 3 S. 1). Aus den Vorschlägen wird dann von der Bezirksversammlung eine Person gewählt (Abs. 1 S. 1 BezVG). Dieser - durch Wahl Vorgeschlagene wird wiederum vom Senat bestellt (Abs. 1 S. 1, Abs. 4 S. 1). Diese Systematik des § 26 BezVG lässt nicht erkennen, dass nach der Wahl gem. § 26 Abs. 1 S. 1 BezVG die Stellung des Senats auf der letzten Stufe in der Weise eingeschränkt werden soll, dass er den Gewählten ernennen muss. Eine andere Bewertung der Systematik in § 26 BezVG ergibt sich auch nicht, wenn in diese Auslegung die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts (Urt. v. 31.10.1990, BVerfGE 83, 60 ff) zu § 35 BezVG 1978, dessen Regelung mit § 26 BezVG im Wesentlichen übernommen werden sollte, mit einbezogen werden. Das Bundesverfassungsgericht hat insoweit ausgeführt, dass die Mitwirkung der Bezirksversammlung bei der Übertragung und Beendigung des Amtes des Bezirksamtsleiters sich als Ausübung von Entscheidungsbefugnissen darstelle und nicht etwa eine unverbindliche Anregung sei. Die Ernennung des Bezirksamtsleiters setze die Wahl durch die Bezirksversammlung voraus. Dies sei amtliches Handeln mit Entscheidungscharakter. Denn Entscheidungscharakter habe auch die Wahrnehmung von Mitentscheidungsbefugnissen; dazu gehöre auch die Ausübung von Vorschlagsrechten, wenn ein anderer Verwaltungsträger bei der Ausübung seiner Entscheidungsbefugnisse von ihnen rechtlich abhängig sei (BVerfGE 83, 73). Insoweit verbleibt es für die systematische Auslegung des § 26 BezVG bei der festgestellten Gleichgewichtigkeit, da sich zwar eine rechtliche Abhängigkeit von dem Vorschlag der Bezirksversammlung ergibt, der Umfang dieser rechtlichen Abhängigkeit bei der Bestellung des Bezirksamtsleiters — mit dem Hinweis des Bundesverfassungsgerichts (aaO) auf eine bloße Mitentscheidungsbefugnis — aber nicht bestimmt wird (a.A. Bull Welchen Spielraum hat der Senat bei der Entscheidung über die Bestellung eines von der Bezirksversammlung gewählten Bezirksamtsleiters?, Rechtsgutachten im Auftrag der Sozialdemokratischen Fraktion der Hamburger Bürgerschaft, Januar 2003, S. 18, nach dem „die Bemerkungen des Bundesverfassungsgerichts ein starkes Argument auch gegen die Auslegung des § 26 BezVG bilden, wonach der Senat das Recht haben müsse, einen ihm nicht genehmen Bezirksamtsleiter abzulehnen"). Die im Rahmen des § 26 BezVG anzutreffende Gleichgewichtigkeit von Senat und Bezirksversammlung verschiebt sich aber dann, wenn die systematische Auslegung auf andere Vorschriften des Bezirksverwaltungsgesetzes ausgedehnt wird. So werden die Befugnisse der Bezirksversammlung gem. § 17 BezVG auch u.a. durch „sonstige Entscheidungen des Senats" begrenzt. Damit eröffnet § 17 LVerfGE 14

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BezVG ausdrücklich - weiter als noch § 20 BezVG 1978, der der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zugrunde lag - dem Senat die Möglichkeit, die Befugnisse der Bezirksversammlung durch eigene Entscheidungen zu begrenzen. Dem Senat steht danach auf Grund desselben Gesetzes gegenüber der Bezirksversammlung ein Letztentscheidungsrecht zu. Unter Einbeziehung dieses Letztentscheidungsrechts nach dem Bezirksverwaltungsgesetz spricht die Systematik für eine Kräfteverteilung zwischen Senat und Bezirksversammlung nach diesem Gesetz, nach der dem Senat auch im Hinblick auf die Bestellung des von der Bezirksversammlung gewählten Vorgeschlagenen gem. § 26 Abs. 4 S. 1 BezVG eine dem Letztentscheidungsrecht des § 17 BezVG entsprechende Entscheidungskompetenz zukommen könnte. c) Sinn und Zweck des § 26 Abs. 4 iVm Abs. 1 S. 1 BezVG und auch des mehrstufigen Verfahrens in der Vorschrift sind, der Stellung des Bezirksamtsleiters auch im Bestellungsverfahren gerecht zu werden. Der Bezirksamtsleiter nimmt die Aufgaben des Bezirksamtes wahr und ist für deren Erfüllung verantwortlich. Er leitet die Verwaltung des Bezirksamtes und führt die Beschlüsse der Bezirksversammlung aus (§ 25 Abs. 2 BezVG). Darüber hinaus vertritt er den Bezirk gegenüber anderen Behörden und gegenüber der Einwohnerschaft (§ 25 Abs. 1 BezVG). Er hat die Beschlüsse der Bezirksversammlung zu beanstanden, wenn sie gegen § 17 BezVG verstoßen (§18 Abs. 1 BezVG), und ist befugt, insoweit vorläufige Regelungen zu treffen (§18 Abs. 2 BezVG). Mithin nimmt er auf der Ebene des Bezirks die Verwaltung der Freien und Hansestadt Hamburg wahr. Um dieser Stellung des Bezirksamtsleiters Rechnung zu tragen, hat § 26 BezVG einerseits der Bezirksversammlung, der gerade die Mitwirkung an den Angelegenheiten des Bezirks und den Aufgaben des Bezirksamts obliegt (§ 7 Abs. 1 BezVG), auch Rechte bei der Besetzung der für den Bezirk herausragenden Position des Bezirksamtsleiters eingeräumt, indem diese ein Mitwirkungsrecht bei der Auswahl und ein Vorschlagsrecht zur Besetzung dieser Position hat. Andererseits wurde auch dem Senat, der u.a. die übergeordneten Aufgaben der Verwaltung der Freien und Hansestadt Hamburg wahrnimmt (§ 3 Abs. 1 BezVG), der die Aufsicht über die Bezirksämter führt (§ 5 BezVG) und auch die Befugnisse der Bezirksversammlung begrenzt (§ 17 BezVG), ebenfalls ein entsprechendes Mitwirkungsrecht bei der Auswahl eingeräumt und die Bestellungsentscheidung übertragen. Danach sollten im Rahmen des § 26 BezVG bei der Bestellung des Bezirksamtsleiters die unterschiedlichen Interessen des Bezirks, vertreten durch die Bezirksversammlung, einerseits und die Interessen der Freien und Hansestadt Hamburg, wahrgenommen durch den Senat, andererseits berücksichtigt werden. Da die Bezirksversammlung bei dem Vorschlagsrecht gerade die bezirklichen Interessen in den Vordergrund stellen kann, muss auch der Senat bei der Bestellung die Möglichkeit haben, die übergeordneten Interessen der Freien und Hansestadt Hamburg einzubringen. Dies kann aber nicht nur durch die Mitwirkungsmöglichkeit bei der Auswahl des Abgeschlagenen, sondern muss auch durch das LVerfGE 14

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Einräumen einer größeren Einflussnahme geschehen. Dies kann dann nur bei der dem Vorschlag nachfolgenden Bestellungsentscheidung verwirklicht werden. Danach muss nach dem Sinn und Zweck dem Senat im Rahmen der Bestellungsentscheidung nach § 26 Abs. 4 S. 1 BezVG das Recht zustehen, die übergeordneten Interessen der Freien und Hansestadt Hamburg vorrangig einzubringen. d) Bei der historischen Auslegung ist zunächst das Bezirksverwaltungsgesetz vom 16.9.1969 (HmbGVBl. S.179 - BezVG 1969) zu betrachten. Während § 28 Abs. 1 BezVG 1969 im Hinblick auf den Bezirksamtsleiter noch bestimmte, dass dieser durch den Senat im Einvernehmen mit der Bezirksversammlung auf sechs Jahre bestellt wird, wurde in § 35 BezVG 1978 schon folgende Regelung getroffen: „(1) Der Bezirksamtsleiter wird von der Bezirksversammlung durch Wahl vorgeschlagen und vom Senat auf sechs Jahre bestellt. Gewählt ist, wer mindestens die Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl auf sich vereinigt. (2) Die Bezirksversammlung kann durch Beschluss der Mehrheit ihrer Mitglieder die Abberufung des Bezirksamtsleiters aus wichtigen Gründen fordern." Diese gesetzliche Regelung beruhte letztendlich auf einem Antrag der SPDund der FDP-Fraktionen vom 25.1.1978, der aus der Mitte der Bürgerschaft ohne zusätzliche Begründung erfolgte (Bü-Drs. 8/3344). Im Rahmen der Beratung dieses Antrags wurde zu der Vorschrift des § 35 (§ 36 des Antrags v. 25.1.1978) nach dem Bericht des Innenausschusses vom 3.5.1978 (Bü-Drs. 8/3702 S. 6) Folgendes ausgeführt: „Zur Wahl und Bestellung des Bezirksamtsleiters nach dem Koalitionsentwurf wurde von den CDU-Abgeordneten die Frage gestellt, ob der Senat verpflichtet sein solle, eine von der Bezirksversammlung gewählte Person auch zu bestellen. Die SPD-Abgeordneten verwiesen auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Bremer Personalvertretungsgesetz und meinten, dass letztlich dem Senat die Kompetenz der Bestellung nicht genommen werden könne. Sie unterstellten jedoch, dass sich der Senat nicht gegen eine von der Bezirksversammlung gewählte Person aussprechen könne, es sei denn, der Gewählte erfülle z.B. nicht die beamtenrechtlichen Voraussetzungen. Die CDU-Abgeordneten vertraten die Auffassung, dass ein sachlicher Zwang für den Senat zur Bestellung der gewählten Person durch die Bezirksversammlung gegeben sei. Das Urteil treffe im Übrigen nicht auf die Hamburger Situation zu." Unter Einbeziehung dieser Beratungen im Innenausschuss ergibt sich zunächst, dass bei der Regelung des § 35 BezVG 1978 die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zum Bremer Personalvertretungsgesetz (BVerfG, Urt. v. 27.4.1959, BVerfGE 9, 268 ff) berücksichtigt werden sollten. Dort hatte das Bundesverfassungsgericht insbesondere ausgeführt: Es gebe Regierungsaufgaben, die wegen ihrer politischen Tragweite nicht generell der Regierungsverantwortung entzogen und auf andere Stellen übertragen werden dürften, die von Regierung und Parlament unabhängig seien. Anderenfalls würde es der Regierung unmöglich gemacht, die von ihr geforderte Verantwortung zu tragen, da auf diese Weise LVerfGE 14

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unkontrollierte und niemand verantwortliche Stellen Einfluss auf die Staatsverwaltung gewinnen würden. Welche Angelegenheiten von solchem politischen Gewicht seien, lasse sich nur von Fall zu Fall beurteilen. Im heutigen Verwaltungsstaat komme jedenfalls der Entscheidung über Einstellung, Beförderung, Versetzung und sonstige personelle Angelegenheiten der Beamten erhebliches politisches Gewicht zu. Personalhoheit über die Beamten sei darum ein wesentlicher Teil der Regierungsgewalt. Wenn sich die Regierung im Konfliktfall der Entscheidung einer unabhängigen Schiedsstelle beugen müsse, so würde eine wesentliche Regierungsfunktion in Wirklichkeit von dieser anderen Instanz wahrgenommen und die Regierung der Entscheidungsgewalt und Verantwortlichkeit enthoben, die ihr im demokratischen Rechtsstaat zukomme. Hiergegen könne nicht eingewandt werden, der formale Akt der Ernennung oder Beförderung ihrer Beamten bleibe der Regierung trotz der Bindung an die Entscheidung der unabhängigen Schiedsstelle unbenommen, da diese nur ein dem Verwaltungsakt vorausgehender interner Vorgang ohne öffentlich-rechtlichen Charakter sei. Es komme nicht auf den Formalakt, sondern auf das im Rahmen der Gesetze freie Entscheidungsrecht der Regierung an (BVerfGE 9, 282 f). Da gerade diese Gedanken des Bundesverfassungsgerichts angeführt werden, sollte im Rahmen des § 35 BezVG 1978 der Personalhoheit über die Beamten als wesentlichem Teil der Regierungsgewalt Rechnung getragen werden, so dass dem Senat als Regierung trotz der Wahl des Bezirksamtsleiters durch die Bezilksversammlung bei dessen Bestellung ein eigenes, auf der Personalhoheit beruhendes Entscheidungsrecht zukommen sollte — das jedenfalls u.a. auch die Prüfung der beamtenrechtlichen Voraussetzungen erfasst —. Mit dem Gesetz zur Änderung des Bezirksverwaltungsgesetzes vom 27.6.1984 (HmbGVBl. S. 135 - BezVG 1984) ergaben sich für die Vorschrift des § 35 im Hinblick auf die Bestellung des Bezirksamtsleiters in Abs. 1 und Abs. 2 folgende Änderungen: „(1) Der Bezirksamtsleiter wird von der Bezirksversammlung mit der Mehrheit ihrer gesetzlichen Mitgliederzahl auf sechs Jahre gewählt, λ7or Beendigung seiner Amtszeit kann die Bezirksversammlung dem Bezirksamtsleiter das Misstrauen nur dadurch aussprechen, dass sie mit der Mehrheit ihrer gesetzlichen Mitglieder einen Nachfolger wählt. (2)

Der Bezirksamtsleiter wird auf Vorschlag der Bezirksversammlung vom Senat bestellt und abberufen. Erfolgt die Wahl nicht innerhalb von fünf Monaten, bestellt der Senat den Bezirksamtsleiter ohne Vorschlag der Bezirks vers ammlung."

Dieser Regelung lagen Anträge der SPD-Fraktion vom 30.5., 5.6. und 12.6.1984 (Bü-Drs. 11/2540) aus der Mitte der Bürgerschaft ohne Begründung zugrunde. Einerseits wird mit dieser Regelung der Bezirksversammlung die Möglichkeit eines sog. konstruktiven Misstrauensvotums eingeräumt. Andererseits wird die Stellung des Senats dadurch gestärkt, dass dieser den Bezirksamtsleiter LVerfGE 14

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ohne Vorschlag der Bezirks Versammlung bestellt, wenn diese nicht innerhalb von fünf Monaten einen Bezirksamtsleiter wählt. Die Vorschrift des § 35 Abs. 2 S. 2 Bez\^G 1984 wurde aber mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung des Bezirksverwaltungsgesetzes vom 26.1.1987 (HmbGA^Bl. S. 11) wieder gestrichen. Weitere Änderungen hinsichtlich der Bestellung des Bezirksamtsleiters wurden mit dieser Änderung nicht getroffen. Danach haben die beiden Änderungen des Bezirksverwaltungsgesetzes in den Jahren 1984 und 1987 im Hinblick auf die Entscheidungsfreiheit des Senats bei der Bestellung des Bezirksamtsleiters keine Änderung gebracht. Es verblieb dabei, dass der Bezirksamtsleiter von der Bezirksversammlung durch Wahl vorgeschlagen und dann vom Senat bestellt werden sollte. Nach der Entstehungsgeschichte ist danach weiterhin von dem bei der Entstehung der Vorschrift des § 35 BezVG 1978 zugrunde gelegten Letztentscheidungsrecht des Senats aufgrund seiner Personalhoheit auszugehen. Eine entscheidende Änderung erfuhr die Bestellung des Bezirksamtsleiters dann durch die Vorschrift des § 26 BezVG vom 11.6.1997 (Art. 1 des Gesetzes zur Reform der Verwaltung, HmbGVBl. S. 205 - BezVG 1997) , die folgenden Wortlaut hatte: „Bestellung und Abberufung (1)

Der Senat schreibt die Stelle der Bezirksamtsleiterin bzw. des Bezirksamtsleiters öffentlich aus. Von einer Ausschreibung kann abgesehen werden, wenn der Senat beabsichtigt, die bisherige Bezirksamtsleiterin bzw. den bisherigen Bezirksamtsleiter wiederzubestellen. An dem Auswahlverfahren sind die hierfür von den Fraktionen der Bezirksversammlung benannten Mitglieder zu beteiligen. Jede Fraktion kann nur ein Mitglied benennen. Der Senat soll die Bezirksamtsleiterin bzw. den Bezirksamtsleiter der Bezirksversammlung spätestens drei Monate vor Ablauf der Amtszeit der Amtsinhaberin bzw. des Amtsinhabers zur Zustimmung vorschlagen.

(2)

Der Senat bestellt die Bezirksamtsleiterin bzw. den Bezirksamtsleiter für die Dauer von sechs Jahren, wenn die Bezirksversammlung 1. mit der Mehrheit ihrer gesetzlichen Mitglieder dem Vorschlag zustimmt oder 2. nicht binnen drei Monaten über den Vorschlag abstimmt.

(3)

Ergibt sich bei der Abstimmung in der Bezirksversammlung keine Zustimmung für den Vorschlag des Senats, so schlägt dieser binnen drei Monaten der Bezirksversammlung erneut eine Bezirksamtsleiterin bzw. einen Bezirksamtsleiter zur Zustimmung vor.

(4)

Kommt eine Neu- oder Wiederbestellung vor dem Ausscheiden der Amtsinhaberin bzw. des Amtsinhabers nicht zustande, so kann der Senat die Aufgabenwahrnehmung bis zur Bestellung einer Nachfolgerin bzw. eines Nachfolgers vorläufig regeln.

(5)

Der Senat kann die Bezirksamtsleiterin bzw. den Bezirksamtsleiter vor Ablauf der Amtszeit nach Anhörung der Bezirksversammlung abberufen. Befindet sich die bzw. der Abberufene im Beamtenverhältnis auf Zeit, so LVerfGE 14

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Hamburgisches Verfassungsgericht gilt sie bzw. er mit der Mitteilung über die Abberufung als in den einstweiligen Ruhestand versetzt; § 135 Abs. 5 S. 2 des Hamburgischen Beamtengesetzes in der Fassung vom 29. November 1977 (Hamburgisches Gesetz und Verordnungsblatt Seite 367), zuletzt geändert am 23. Dezember 1996 (Hamburgisches Gesetz- und Verordnungsblatt Seite 360), in der jeweils geltenden Fassung gilt entsprechend."

Dieser neuen Ausgestaltung der Bestellung des Bezirksamtsleiters lag insbesondere zugrunde, dass im Rahmen der Reform der Verwaltung — Prinzip der dezentralen Wahrnehmung der bezirklichen Aufgaben und einer dadurch gesteigerten Verantwortung des Bezirksamtes — dem Bezirksamtsleiter einerseits eine herausragende Verwaltungsfunktion zukommen sollte, andererseits aber zum entsprechenden Ausgleich dem Senat eine maßgebende Einflussnahme bei der Auswahl des Bezirksamtsleiters eingeräumt werden sollte. Dem Senat sollte niemand aufgezwungen werden, der nicht sein Vertrauen besitzt (vgl. Bü-Drs. 16/5357). Mit dieser Gesetzesfassung wurde der Bezirksverwaltung eine neue Struktur gegeben und die Funktion des Bezirksamtsleiters und auch dessen Bestellung entsprechend ausgestaltet. Die durch § 26 BezVG 1997 neu strukturierte Stellung des Bezirksamtsleiters hatte allerdings nicht lange Bestand, da die CDU- und die GAL-Fraktion mit dem Antrag vom 24.9.1997 (Bü-Drs. 16/3 S. 4) - unter Beibehaltung der öffentlichen Ausschreibung — zu einer Wahl des Bezirksamtsleiters durch die Bezirksversammlung zurückkehrten. Der nach dem Antrag vom 24.9.1997 vorgesehene § 26 BezVG hatte folgenden Wortlaut: „(1) Die Bezirksamtsleiterin bzw. der Bezirksamtsleiter wird von der Bezirksversammlung mit der Mehrheit ihrer Mitglieder auf sechs Jahre gewählt. Vor der Beendigung seiner Amtszeit kann die Bezirksversammlung dem Bezirksamtsleiter das Misstrauen nur dadurch aussprechen, dass sie eine Nachfolgerin bzw. einen Nachfolger wählt. (2)

Der Senat schreibt die Stelle öffentlich aus. Von einer Ausschreibung kann abgesehen werden, wenn die Bezirksversammlung dies mit der Mehrheit ihrer Mitglieder beschließt. An dem Auswahlverfahren sind die hierfür von den Fraktionen der Bezirksversammlung benannten Mitglieder zu beteiligen. Jede Fraktion kann nur ein Mitglied benennen.

(3)

Die Mitglieder der Bezirksversammlung und der Senat können der Bezirksversammlung Wahlvorschläge unterbreiten. Die Wahl soll drei Monate vor Ablauf der Amtszeit der Amtsinhaberin bzw. des Amtsinhabers erfolgen.

(4)

Nach ihrer bzw. seiner Wahl wird die Bezirksamtsleiterin bzw. der Bezirksamtsleiter vom Senat bestellt. Sie bzw. er wird bei Ende ihrer bzw. seiner Amtszeit oder bei Wahl einer Nachfolgerin bzw. eines Nachfolgers nach Abs. 1 S. 2 vom Senat abberufen.

(5)

Nach Beendigung der Amtszeit nimmt die Vertreterin bzw. der Vertreter der Bezirksamtsleiterin bzw. des Bezirksamtsleiters die Geschäfte bis zur

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Bestellung einer neuen Bezirksamtsleiterin bzw. eines neuen Bezirksamtsleiters wahr." Bei diesem Antrag, der inhaltlich zu § 35 B e z V G 1978 m. And. zurückkehrte, kam es i m R a h m e n der parlamentarischen Beratungen zu Auseinandersetzungen u m den Entscheidungsspielraum des Senats bei der Bestellung des von der Bezirksversammlung gewählten Bezirksamtsleiters (vgl. Plenarprotokoll 16/1 v o m 8.10.1997, S. 10 ff). So führte der Abgeordnete Vahldieck (CDU) aus: „Es hieß, der eine oder andere habe verfassungsrechtliche Probleme mit der einen oder anderen Formulierung. Dazu kann ich sagen, wir sind bereit, zwischen der ersten und zweiten Lesung die Probleme, die auftauchen, anzugehen. Wenn man der Auffassung ist, der Senat könne nicht gezwungen werden, einen durch eine Bezirksversammlung gewählten Bezirksamtsleiter zu bestellen, sind wir bereit, die Formulierung insoweit zu ändern, dass es nicht um eine Wahl geht, sondern dass es zum Beispiel heißt: Die Bezirksamtsleiterin bzw. der Bezirksamtsleiter wird von der Bezirksversammlung mit der Mehrheit ihrer Mitglieder durch Wahl vorgeschlagen." Auch die Abgeordnete Kiausch (SPD) sprach diesen Problemkrcis an, indem sie u.a. ausführte: „Nun dezentralisieren Sie sogar noch die Personalhoheit des Senats auf die Bezirksversammlungen. ... Sie schlagen damit vor, dass die Bezirksversammlungen dem Senat Personen aufzwingen, die nicht sein Vertrauen besitzen. ... Weil es nämlich so ist, dass der Senat dem Parlament und in diesem Fall der Bürgerschaft rechenschaftspflichtig ist. Deswegen muss er diese Personalhoheit auch behalten." Zu diesem Problemkreis äußerte sich in der Sitzung der Bürgerschaft auch der Abgeordnete Dr. Mayer (GAL): „Schließlich komme ich zur Wahl des Bezirksamtsleiters bzw. der Bezirksamtsleiterin. Ich gebe zu, dass es da zu einem Problem kommen kann. Nach der Verfassungslage kann der Senat nicht einfach gezwungen werden, eine von der Bezirksversammlung gewählte und ihr Vertrauen besitzende Person zu bestellen. Darum bin ich mit dem Korrekturvorschlag von Herrn Vahldieck durchaus einverstanden, der darauf hinausläuft, dass die Bezirksamtsleiterin bzw. der Bezirksamtsleiter von der Bezirksversammlung mit Mehrheit ihrer Mitglieder durch Wahl vorgeschlagen wird. ... Das heißt, die Bezirksversammlung macht den Vorschlag und das Initiativrecht liegt nicht ausschließlich beim Senat ... . Sie muss den Vorschlag präsentieren, auch wenn sie nicht sicher sein kann, ob der Senat ihn bestätigt. Diese potentielle Konfliktlage bleibt also bestehen. . . . " A u f g r u n d des gemeinsamen Antrags von C D U - und GAL-Fraktion v o m 28.10.1997 (Bü-Drs. 16/41) erhielt § 26 Abs. 1 S. 1 und Abs. 4 S. 1 B e z V G dann die geltende und hier zugrunde zu legende Fassung.

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Bei der parlamentarischen Debatte über diesen Antrag (vgl. Plenarprotokoll 16/2 v. 29.10.1997, S. 45 f) wurde erneut zum Entscheidungsspielraum des Senats bei der Bestellung des Bezirksamtsleiters Stellung genommen: So äußerte sich der Abgeordnete Vahldieck (CDU) hierzu folgendermaßen: „Der Gesetzentwurf, den wir vor drei Wochen verabschiedet haben, hatte zum Inhalt, dass den Bezirksversammlungen die Aufgabe auferlegt werden sollte, die Bezirksamtsleiterin oder den Bezirksamtsleiter zu wählen. Dies — so wurden wir belehrt - greife in die Personalhoheit des Senats ein, der nach der Verfassung die Aufgabe habe, das Personal zu bestellen. Insofern — wiederum Lernfähigkeit — werden wir jetzt eine andere Formulierung ins Gesetz schreiben. Es soll nunmehr heißen: ,Der Bezirksamtsleiter bzw. die Bezirksamtsleiterin werden durch Wahl der Bezirksversammlung vorgeschlagen.' Das ist etwas anderes als wählen und der Senat hat seine Personalhoheit zurück. Insoweit sind die verfassungsrechtlichen Bedenken, von denen wir gehört haben, wohl ausgeräumt."

Aus der historischen Auslegung folgt danach, dass mit den Regelungen des § 26 Abs. 4 S. 1 BezVG in der jetzigen Fassung gerade die Personalhoheit des Senats bei der Entscheidung über die Bestellung des Bezirksamtsleiters respektiert werden sollte. Soweit dabei inhaltlich zu der Regelung des § 35 BezVG zurückgekehrt wurde, sollte die Personalhoheit des Senats insgesamt — und nicht nur (beispielhaft) die beamtenrechtlichen Voraussetzungen — Berücksichtigung finden. Nach allem ergibt eine Gesamtschau der Entstehungsgeschichte, dass dem Senat nach § 26 Abs. 4 S. 1 BezVG bei der Bestellung des von der Bezirksversammlung vorgeschlagenen Bezirksamtsleiters ein sich aus seiner Personalhoheit als Regierung ergebendes und von der Personalhoheit bestimmtes Letztentscheidungsrecht zustehen sollte. e) Als Ergebnis der Auslegung des § 26 Abs. 4 S. 1 BezVG kann danach festgehalten werden, dass sich nach der systematischen in Verbindung mit der teleologischen Auslegung ein Letztentscheidungsrecht des Senats ergibt, den Bezirksamtsleiter nicht zu bestellen, auch wenn der Vorgeschlagene von der Bezirksversammlung durch Wahl nominiert worden ist, da der Senat nur so die übergeordneten Interessen der Freien und Hansestadt Hamburg in die Bestellungsentscheidung einbringen kann. Das Letztentscheidungsrecht des Senats im Rahmen des § 26 Abs. 4 S. 1 iVm Abs. 1 S. 1 BezVG findet seine Grenze jedenfalls darin, dass er nur über den Vorgeschlagenen entscheiden darf. Dieses Auslegungsergebnis wird von der historischen Auslegung bestätigt, aus der ein Letztentscheidungsrecht des Senats - das gerade auf der Personalhoheit des Senats beruht — bei der Bestellung des Bezirksamtsleiters folgt. 2. Das unter 1. gefundene Auslegungsergebnis für die Vorschrift des § 26 Abs. 4 S. 1 BezVG, wonach dem Senat ein Letztentscheidungsrecht bei der LVerfGE 14

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Bestellung des Bezirksamtsleiters zusteht - in das der Senat übergeordnete Interessen der Freien und Hansestadt einbringen kann und das über die Prüfung der dienstrechtlichen Voraussetzungen hinausgeht - , wird gerade auch den verfassungsrechtlichen Vorgaben, nämlich Hamburg als Einheitsgemeinde (a), Personalhoheit des Senats (b), demokratische Legitimation für die Bestellung des Bezirksamtsleiters (c), gerecht. a) Nach Art. 4 Abs. 1 HV werden staatliche und gemeindliche Tätigkeit nicht getrennt. Danach ist für eine besondere Gemeindeverwaltung kein Raum. Vielmehr verzichtet die Verfassung gerade auf selbständige kommunale Verwaltungen. Zwar lässt Art. 4 Abs. 2 HV die Schaffung von Verwaltungseinheiten für Teilgebiete zu. Dies ändert aber nichts daran, dass eine gemeindliche Selbstverwaltung ausgeschlossen ist, da der Senat nach Art. 33 Abs. 1 HV die staatlichen und gemeindlichen Verwaltungstätigkeiten wahrnimmt. Nach allem stellen sich die Bezirksämter einschließlich der Bezirksversammlungen im Rahmen der nach Art. 4 HV vorgegebenen verfassungsrechtlichen Organisation als staatliche Verwaltungseinheiten für die Bezirke als Teilgebiete dar. Ein Selbstverwaltungsrecht der Bezirke lässt sich Art. 4 Abs. 2 HV in keiner Weise entnehmen. Wenn den Bezirksämtern die selbständige Erledigung der übertragenen Aufgaben obliegt, so entspricht dies dem Prinzip der stadtstaatlichen Einheitsverwaltung, eine Verwechselung mit der gemeindlichen Selbstverwaltung ist dagegen ausgeschlossen (vgl. z.B. David ZAR 1989, 102, 104; Deutelmoser Die Rechtsstellung der Bezirke in den Stadtstaaten Berlin und Hamburg, 2000, S. 168, 169, beide mwN). Aufgrund dieser verfassungsrechtlichen Stellung des Senats in der Einheitsgemeinde Hamburg muss ihm auch im Hinblick auf die Erfüllung der bezirklichen Verwaltungsaufgaben und damit auch bei der Bestellung des mit diesen Verwaltungsaufgaben Betrauten ein Letztentscheidungsrecht zustehen, da er nur dann der ihm verfassungsrechtlich übertragenen Verantwortung für die staatlichen und gemeindlichen Tätigkeiten gerecht werden kann. Gerade diesem sich aus seiner Stellung in der Einheitsverwaltung ergebenden Letztentscheidungsrecht wird die gefundene Auslegung des § 26 Abs. 4 S. 1 BezVG gerecht. b) Im Hinblick auf die Personalhoheit des Senats, die auch bei der Entstehungsgeschichte der Vorschrift des § 26 Abs. 4 S. 1 BezVG eine entscheidende Rolle gespielt hat, ist zunächst darauf abzustellen, dass der Senat nach Art. 33 Abs. 2 HV die Landesregierung ist, die Verwaltung führt und beaufsichtigt und die staatlichen und gemeindlichen Aufgaben wahrnimmt. Danach obliegt ihm nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Urt. v. 27.4.1959, BVerfGE 9, 268, 282, 283) — wie schon oben angeführt — als Angelegenheit von erheblichem politischen Gewicht die Entscheidung über Personalangelegenheiten. Dies muss insbesondere gelten, wenn es sich um eine derart wichtige Personalangelegenheit wie die Bestellung eines Bezirksamtsleiters handelt, dem eine herausragende Stellung bei der Verwaltung eines Bezirks zukommt (vgl. z.B. §§ 25 LVerfGE 14

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Abs. 1, Abs. 2 S. 1 und S. 2, 18 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 2 BezVG). Insoweit fordert das Bundesverfassungsgericht, dass sich die Entscheidung der Regierung über Personalangelegenheiten der Beamten nicht in dem formalen Akt der Ernennung oder Beförderung erschöpft, sondern dass der Regierung im Rahmen der Gesetze ein freies Entscheidungsrecht verbleibt (BVerfGE 9, 283). Dieses sich schon nach Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG ergebende besondere Entscheidungsrecht der Regierung bei Personalentscheidungen wird in der Hamburger Verfassung für den Senat nochmals entsprechend in Art. 45 S. 1 HV formuliert, wenn es dort heißt, dass der Senat die Beamtinnen und Beamten ernennt und endässt. Dieser Regelung in der Hamburger Verfassung kann keine andere Bedeutung zukommen, als dass dem Senat aufgrund der ihm eingeräumten Personalhoheit bei Entscheidungen über Personalangelegenheiten auf Grund einfachgesetzlicher Abschriften ein Letztentscheidungsrecht — wie es sich nach dem Auslegungsergebnis unter 1. zugrunde zu legen ist - verbleiben muss (a.A. Bull aaO, S. 20, der Art. 45 Abs. 1 HV im Rahmen des § 26 BezVG keine Bedeutung beimessen, sondern die Befugnisse des Senats bei der Ernennung von Bezirksamtsleitern insoweit allein aus dem Beamtenrecht entnehmen will). c) Zwar üben die Bezirksversammlungen Staatsgewalt aus und bedürfen demgemäß demokratischer Legitimation, wie das Bundesverfassungsgericht (BVerfG, Urt. v. 31.10.1990, BVerfGE 83, 60 ff) ausgeführt hat. Diese demokratische Legitimation werde den Mitgliedern der Bezirksversammlung unmittelbar durch Volkswahl vermittelt. Soweit das Bundesverfassungsgericht danach der Bezirksversammlung eine demokratische Legitimation zuspricht, kann dies aber nicht dazu führen, dass damit dem Senat bei der Bestellung von Bezirksamtsleitern, die nach Wahl dem Senat von den Bezirks Versammlungen zur Bestellung vorgeschlagen werden, eine Entscheidungsfreiheit, wie sie der Regierung ansonsten in personellen Angelegenheiten der Beamten wegen der Personalhoheit zusteht, nicht verbleibt (a.A. B»//aaO, S. 21). Auch wenn der Bezirksversammlung demokratische Legitimation zukommt, ändert sich dadurch nichts an der Verantwortung des Senats für alle staatlichen und gemeindlichen Angelegenheiten gegenüber der Bürgerschaft. Denn nur für den Fall, dass der Senat Führung und Beaufsichtigung der gesamten Verwaltung in der Einheitsgemeinde Hamburg ungeteilt gegenüber der Bürgerschaft verantwortet, ist dem System der gewaltengeteilten parlamentarischen Demokratie Rechnung getragen (vgl. auch David, Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg, Kommentar, Art. 56 Rn. 34, 38). Danach ist der Senat in allen Angelegenheiten — also auch bei der Bestellung des Bezirksamtsleiters als wichtiger personeller Angelegenheit und der Erfüllung der Verwaltungsaufgaben durch diesen — gegenüber der Bürgerschaft parlamentarisch verantwortlich. Diese Verantwortung kann der Senat aber nur dann tragen, wenn er auch bei Personalentscheidungen, bei denen die für den Bezirk demokratisch legitimierte Bezirksversammlung mitwirkt, ein Letztentscheidungsrecht behält, wie ihm dies nach der unter 1. gefundenen Auslegung zugebilligt wird. LVerfGE 14

Reichweite der Personalhoheit des Senats

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3. Danach ist für die Auslegung des § 26 Abs. 4 S. 1 BezVG zugrunde zu legen, dass dem Senat bei der Bestellung des Bezirksamtsleiters ein Letztentscheidungsrecht zusteht (so auch David, Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg, Kommentar, 1994, Art. 56 Rn 38; Deutelmoser &&0, S. 164; Raioff/Strenge Das neue Bezirksverwaltungsgesetz 97, S. 6; allerdings mit unterschiedlicher dogmatischer Anknüpfung; a.A. Bull aaO; Schürmann Rechte der Bezirks Versammlung bei der Ernennung eines Bezirksamtsleiters, FS für W. Thieme, 2003, S. 169, 185 f). Dieses Letztentscheidungsrecht des Senats wird bestimmt durch die einfachgesetzlich geregelte Stellung des Bezirksamtsleiters unter Berücksichtigung der besonderen verfassungsrechtlichen Vorgaben. Insoweit ist auch ein Vergleich mit anderen Bestellungsentscheidungen des Senats — z.B. Ernennung der Berufsrichter (Art. 63 Abs. 1 S. 1 HV) oder der Mitglieder des Rechnungshofs (Art. 71 Abs. 4 S. 2 HV), Bestellung des Hochschulpräsidenten (§ 80 Abs. 1 S. 1 des Hamburgischen Hochschulgesetzes v. 18.7.2001, HambGVBl. S. 171, m.sp.And.) und des Datenschutzbeauftragten (§ 21 Abs. 2 des Hamburgischen Datenschutzgesetzes v. 5.7.1990, HambGVBl. S. 133, 165, 226, m.sp.And.) wie ihn die Beteiligten, aber auch Bull {aaO, S. 12 ff.) heranziehen, zur Auslegung des § 26 Abs. 4 S. 1 BezVG nicht geeignet. Denn die einzelne Entscheidung über die Bestellung wird bestimmt durch die jeweilige Position des zu Bestellenden einerseits und des die Entscheidung Treffenden andererseits, wie sie sich aus verfassungsrechtlichen und einfachgesetzlichen Regelungen ergibt. So wird das Letztentscheidungsrecht des Senats bei der Bestellung des Bezirksamtsleiters u.a. geprägt durch die dem Bezirksamtsleiter obliegende Erfüllung von Verwaltungsaufgaben sowohl für den Bezirk als auch für die Freie und Hansestadt Hamburg einerseits und durch die dem Senat als Regierung zustehende Personalhoheit, die ihm obliegende Führung und Beaufsichtigung der staatlichen und gemeindlichen Verwaltung sowie die daraus folgende Verantwortung gegenüber der Bürgerschaft andererseits. III. Nach allem ist § 26 Abs. 4 S. 1 BezVG nicht so auszulegen, wie es die Antragsteller mit ihrem Antrag begehren. Das Verfassungsgericht kann sich auf eine negative Feststellungsentscheidung beschränken. Sie genügt, da hiermit die im Zusammenhang mit der Nichtbestellung von Dr. H. zum Bezirksamtsleiter entstandenen Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Auslegung des § 26 Abs. 4 S. 1 BezVG beseitigt werden und für die Zukunft Klarheit geschaffen wird, wie es das Verfahren nach Art. 64 Abs. 3 Nr. 4 HV, § 14 Nr. 4 HmbVerfGG bezweckt (vgl. schon HVerfG, JVB1. 1976, 39, 44; HVerfG, GVB1. S. 307). IV. Eine Kostenentscheidung ist nach §§ 66, 67 HVerfGG nicht veranlasst. Eine Auslagenerstattung kommt nicht in Betracht. Das hamburgische VerfassungsproLVerfGE 14

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Hamburgisches Verfassungsgericht

zessrecht sieht in §§ 66 Abs. 4, 67 HVerfGG eine Anordnung über Auslagenerstattung nur für bestimmte Verfahrensarten vor, zu denen das vorliegende Verfahren nicht gehört (vgl. HVerfG, LVerfGE 9, 157, 167). Die Entscheidung ist einstimmig ergangen.

LVerfGE 14

Entscheidungen des Staatsgerichtshofes des Landes Hessen

Die amtierenden Richterinnen und Richter des Staatsgerichtshofes des Landes Hessen Prof. Dr. Klaus Lange, Präsident (bis 4.6.2003) Dr. Günter Paul, Präsident (seit 5.6.2003) Dr. Wolfgang Teufel, Vizepräsident Ekkehard Bombe Elisabeth Buchberger Helmut Enders (bis 4.6.2003) Felizitas Fertig Ferdinand Georgen Paul Leo Giani (bis 4.6.2003) Dr. Wilhelm Nassauer Rupert von Plottnitz (seit 5.6.2003) Rudolf Rainer Karin Wolski (seit 5.6.2003)

Grundrechtsklagefrist: Außerordentliche Rechtsbehelfe

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Nr. 1 1. Die Frist zur Erhebung der Grundrechtsklage wird nicht durch die Einlegung außerordentlicher Rechtsbehelfe offen gehalten. Der hessische Gesetzgeber hat in § 45 Abs. 1 StGHG den Lauf der Klagefrist allein an die schriftliche Bekanntgabe der Entscheidung des höchsten in der Sache zuständigen hessischen Gerichts an die antragstellende Person und damit an die Erschöpfung des Rechtswegs geknüpft. Eine Beeinflussung des Laufs dieser Frist durch die Einlegung außerordentlicher Rechtsbehelfe scheidet damit aus, und zwar auch dann, wenn diese wegen des Grundsatzes der Subsidiarität geboten sein sollte (ständige Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs, vgl. Beschluss vom 14.06.2000 - P.St. 1351 - , NJW 2001, 746 f). 2. Versäumt ein Grundrechtskläger die Frist des § 45 Abs. 1 StGHG, weil er irrig annimmt, diese würde durch die Entscheidung des Fachgerichts über seinen außerordentlichen Rechtsbehelf (neu) in Gang gesetzt, so kommt eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht in Betracht. Bundesverfassungsgerichtsgesetz § 93 Abs. 1 Gesetz über den Staatsgerichtshof §§ 25 Abs. 2; 44 Abs. 1 Sätze 2, 3; 45 Abs. 1 B e s c h l u s s v o m 16. J a n u a r 2003 - P.St. 1585 in dem Verfahren des Herrn R. — Antragsteller — wegen Verletzung von Grundrechten Entscheidungsformel: Die Anträge werden zurückgewiesen. Gerichtskosten werden nicht erhoben, außergerichtliche Kosten nicht erstattet.

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Staatsgerichtshof des Landes Hessen Gründe: A I.

Der Antragsteller wendet sich gegen Gerichtsentscheidungen im Zusammenhang mit der Verweigerung von Prozesskostenhilfe in einem zivilgerichtlichen Verfahren. Gegen den Antragsteller erging ein Urteil des AG Frankfurt am Main vom 30.9.1999, das seinem damaligen Prozessbevollmächtigten am 13.10.1999 zugestellt wurde. Mit an das „Amtsgericht Abt. 30" adressiertem Schreiben vom 13.11.1999, als Telefax am 15.11.1999 bei der Briefannahmestelle der Justizbehörden Frankfurt am Main eingegangen und am 16.11.1999 dem LG vorgelegt, beantragte der Antragsteller — zunächst ohne Begründung — die Gewährung von Prozesskostenhilfe zur Einlegung und Begründung der Berufung gegen dieses Urteil. Mit Schriftsatz gleichen Datums wiederholte er diesen Antrag mit näherer Begründung. Dieser Schriftsatz ging bei der Briefannahmestelle der Justizbehörden am 16.11.1999 ein. Nach Hinweis des LG auf die Versäumung der am 15.11.1999 abgelaufenen Berufungsfrist berief sich der Antragsteller darauf, dass keine Zustellung des amtsgerichtlichen Urteils an ihn persönlich erfolgt sei, er das Urteil vielmehr erst am 19.10.1999 von seinem Prozessbevollmächtigten erhalten habe. Zudem sei sein Prozesskostenhilfegesuch am 15.11.1999 und damit rechtzeitig eingegangen. Für den Fall einer Fristversäumnis beantragte der Antragsteller Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Mit Beschluss vom 25.2.2000 - 2-24 S 361/99 - wies das LG Frankfurt am Main den Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren zurück. Die beabsichtigte Rechtsverfolgung biete keine Aussicht auf Erfolg, da mit einer Verwerfung einer Berufung wegen Versäumung der Berufungsfrist zu rechnen sei. Gleichzeitig verwarf das LG den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand als unzulässig. Eine Beschwerde des Antragstellers vom 27.3.2000 gegen den vorgenannten Beschluss sah das LG als Gegenvorstellung an, der es mit Beschluss vom 4.9.2000 den Erfolg versagte. Eine „Beschwerde extra legem" des Antragstellers gegen diesen Beschluss verwarf sodann das OLG Frankfurt am Main mit Beschluss vom 17.10.2000 4 W 36/00 - . Die Beschwerde sei unzulässig. Gem. § 567 Abs. 3 S. 1 ZPO in der bis zum 31.12.2001 geltenden Fassung — ZPO a.F. — sei die Beschwerde gegen die Entscheidung des LG nicht statthaft. Auch die Voraussetzungen für eine außerordentliche Beschwerde, die bei unanfechtbaren Beschlüssen nach ständiger Rechtsprechung im Falle sogenannter greifbarer Gesetzwidrigkeit dann statthaft sei, wenn eine Entscheidung dieser Art, dieses Inhalts oder von diesem Gericht mit der Rechtsordnung schlechthin unvereinbar sei, seien hier nicht gegeben. Die LVerfGE 14

Grundrechtsklagefrist: Außerordentliche Rechtsbehelfe

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angegriffene Entscheidung des LG sei unabhängig hiervon aber auch inhaltlich nicht zu beanstanden. Eine weitere Gegenvorstellung des Antragstellers blieb wiederum erfolglos (Beschluss des LG vom 9.1.2001). Am 17.10.2000 hat der Antragsteller Gmndrechtsklage erhoben. Er rügt mit näherer Begründung eine Verletzung der Rechtsweggarantie durch die fachgerichtlichen Entscheidungen sowie einen Verstoß gegen den Grundsatz rechtlichen Gehörs durch den Beschluss des OLG Frankfurt am Main vom 17.10.2000. Wegen des Vorbringens des Antragstellers im Einzelnen wird auf die Grundrechtsklageschrift vom 13.10.2000 sowie seine Schreiben vom 13.11.2000, 5.2.2001, 18.3.2001, 27.3.2001 sowie 9.4.2001 Bezug genommen. Der Antragsteller beantragt sinngemäß, 1.

festzustellen, dass die Beschlüsse des LG Frankfurt am Main vom 25.2.2000, vom 4.9.2000 und vom 9.1.2001 - 2-24 S 361/99 - sowie der Beschluss des OLG Frankfurt am Main vom 17.10.2000 - 4 W 36/00 - die Rechtsweggarantie verletzen, der Beschluss des OLG Frankfurt am Main darüber hinaus auch seinen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs,

2.

diese Entscheidungen für krafdos zu erklären und die Sache an das LG Frankfurt am Main zurückzuverweisen.

II. Der Landesregierung und der Landesanwaltschaft ist Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden. Β I. Die Grundrechtsklage ist unzulässig. Soweit sich die Grundrechtsklage gegen den Beschluss des LG vom 25.2.2000 - 2-24 S 361/99 - richtet, wahrt sie nicht die Frist des § 45 Abs. 1 des Gesetzes über den Staatsgerichtshof — StGHG. Nach § 45 Abs. 1 S. 1 StGHG ist die Grundrechtsklage innerhalb eines Monats einzureichen. Die Frist beginnt mit der schriftlichen Bekanntgabe der vollständigen Entscheidung des höchsten in der Sache zuständigen Gerichts des Landes Hessen an die antragstellende Person, § 45 Abs. 1 S. 2 StGHG. Höchstes zuständiges Gericht des Landes Hessen für die Entscheidung über das Gesuch des Antragstellers auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das zivilgerichtliche Berufungsverfahren war das LG Frankfurt am Main. Die Entscheidungszuständigkeit des LG Frankfurt am Main ergibt sich aus § 127 Abs. 1 S. 2 ZPO a.F. iVm § 119 Abs. 1 S. 1 ZPO a.F. Aus § 127 Abs. 1 S. 2 ZPO a.F. folgt, dass über die Bewilligung oder Ablehnung dasjenige Gericht entscheidet, das auch im Hauptsacheverfahren entscheidet bzw. - bei isoliertem ProLVerfGE 14

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Staatsgerichtshof des Landes Hessen

zesskostenhilfeantrag - entscheiden würde. Nach § 119 Abs. 1 S. 1 ZPO a.F. erfolgt die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für jeden Rechtszug besonders. Das LG war auch das letztinstanzlich zuständige Gericht für die Entscheidung über das Prozesskostenhilfegesuch, weil nach § 567 Abs. 3 S. 1 ZPO a.F. die Beschwerde gegen Entscheidungen der Landgerichte in Berufungsverfahren, zu denen auch die über die Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren zählen, nicht zulässig ist. Die Erhebung der Grundrechtsklage gegen den Beschluss des LG vom 25.2.2000 am 17.10.2000 wahrte die Monatsfrist des § 45 Abs. 1 S. 1 StGHG nicht, da dieser Beschluss dem Antragsteller jedenfalls spätestens am 27.3.2000 — dem Datum seiner Beschwerdeschrift an das LG — schriftlich bekannt gegeben worden war. Die Frist zur Erhebung der Grundrechtsklage wurde auch nicht durch die vom Antragsteller eingelegten außerordentlichen Rechtsbehelfe offen gehalten. Der hessische Gesetzgeber hat in § 45 Abs. 1 StGHG den Lauf der Klagefrist allein an die schriftliche Bekanntgabe der Entscheidung des höchsten in der Sache zuständigen hessischen Gerichts an die antragstellende Person und damit an die Erschöpfung des Rechtswegs geknüpft. Eine Beeinflussung des Laufs dieser Frist durch die Einlegung außerordentlicher Rechtsbehelfe scheidet damit aus, und zwar auch dann, wenn diese wegen des Grundsatzes der Subsidiarität geboten sein sollte (std. Rspr. des StGH, vgl. Beschl. v. 14.6.2000 - P.St. 1351 NJW 2001, 746 f). Dem Antragsteller kann auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Erhebung der Grundrechtsklage gewährt werden. Nach § 25 Abs. 2 S. 1 StGHG ist auf Antrag in den vorigen Stand einzusetzen, wer glaubhaft macht, ohne Verschulden verhindert gewesen zu sein, eine Frist nach diesem Gesetz einzuhalten, innerhalb derer ein Antrag zu stellen war. Ist die versäumte Handlung innerhalb der nach Wegfall des Hindernisses laufenden zweiwöchigen Frist zur Beantragung der Wiedereinsetzung nachgeholt worden, so kann Wiedereinsetzung auch ohne Antrag gewährt werden, § 25 Abs. 2 S. 2 und 3, Abs. 3 StGHG. Der Antragsteller war nicht ohne Verschulden verhindert, die Monatsfrist des § 45 Abs. 1 StGHG zu wahren. Verschuldet ist eine Fristversäumung, wenn ein Antragsteller die Sorgfalt außer Acht gelassen hat, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden geboten ist und die ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falls zuzumuten war (std. Rspr. des StGH, vgl. Beschl. v. 14.6.2000 - P.St. 1351 - , aaO). Die Versäumung der Frist zur Erhebung der Grundrechtsklage nach § 45 Abs. 1 StGHG mag durch den Rechtsirrtum des Antragstellers veranlasst gewesen sein, dass diese Frist durch die Einlegung außerordentlicher Rechtsbehelfe wie der Gegenvorstellung oder der „Beschwerde extra legem" unterbrochen wird und mit LVerfGE 14

Grundrechtsklagefrist: Außerordentliche Rechtsbehelfe

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Bekanntgabe der fachgerichtlichen Entscheidungen über die jeweiligen außerordentlichen Rechtsbehelfe neu zu laufen beginnt. Eine derartige Rechtsfolge der Einlegung außerordentlicher Rechtsbehelfe konnte der Antragsteller dem Wortlaut des § 45 Abs. 1 StGHG indes nicht entnehmen. Die Auffassung, nach der eine Einlegung außerordentlicher Rechtsbehelfe Einfluss auf die Frist zur Erhebung der Grundrechtsklage nimmt, findet auch in der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs keine Stütze. Auch der Bayerische Verfassungsgerichtshof hat in einer Entscheidung vom 10.10.1997, die in der NJW vom 15.4.1998 (NJW 1998, 1136 f) und damit noch vor Ablauf der Frist zur Erhebung der Grundrechtsklage im vorliegenden Fall veröffentlicht wurde, zu der dem § 45 Abs. 1 StGHG entsprechenden Vorschrift des Art. 51 Abs. 2 S. 2 des BayVfGHG festgestellt, dass die durch den Grundsatz der Subsidiarität gebotene Ausschöpfung nicht zum regulären Rechtsweg gehöriger Rechtsbehelfe nicht von der Pflicht entbinde, die Frist zur Erhebung der Verfassungsbeschwerde einzuhalten. Angesichts dieser landesverfassungsrechtlichen Rechtslage hätte der Antragsteller auch nicht darauf vertrauen können, dass etwa die vom Bundesverfassungsgericht zur Verfassungsbeschwerde entwickelte Rechtsprechung, nach der die Monatsfrist des § 93 Abs. 1 BVerfGG durch die fachgerichtliche Entscheidung über einen außerordentlichen Rechtsbehelf, der nicht offensichtlich unzulässig ist, neu in Lauf gesetzt werden kann (vgl. BVerfG, NJW 1997, 46; 2000, 273), auf die Frist zur Erhebung der Grundrechtsklage nach § 45 Abs. 1 StGHG übertragbar ist. Vielmehr hätte unter diesen Umständen die zumutbare Sorgfalt den Antragsteller dazu veranlassen müssen, zur Vermeidung von Rechtsnachteilen die Grundrechtsklage gegen den Beschluss des LG vom 25.2.2000 fristwahrend zu erheben. Dies gilt umso mehr, als selbst von einer rechtsunkundigen Partei, die sich mit einer fachgerichtlichen Entscheidung nicht zufrieden geben will, erwartet werden kann, dass sie sich rechtzeitig nach den in ihrem Fall in Betracht kommenden verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzmöglichkeiten und deren Zulässigkeitsvoraussetzungen erkundigt. Die Grundrechtsklage gegen die Entscheidungen des LG Frankfurt am Main vom 4.9.2000 und vom 9.1.2001 über die Gegenvorstellungen sowie den Beschluss des OLG Frankfurt am Main über die außerordentliche Beschwerde des Antragstellers ist unstatthaft. Denn Prüfungs- und Angriffsgegenstand der Grundrechtsklage im Hinblick auf Grundrechtsverletzungen im Zusammenhang mit der Versagung von Prozesskostenhilfe für das Βerufungsverfahren vor dem LG Frankfurt am Main ist nach § 44 Abs. 1 S. 2 und 3 StGHG allein der Beschluss des LG Frankfurt am Main vom 25.2.2000 als die Entscheidung des höchsten in dieser Sache zuständigen Gerichts des Landes Hessen. II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 28 StGHG. LVerfGE 14

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Staatsgerichtshof des Landes Hessen

Nr. 2 Das Grundrecht auf Gewährung rechtlichen Gehörs gibt den Verfahrensbeteiligten einen Anspruch darauf, dass ihr Vortrag vom Gericht zur Kenntnis genommen und bei der Entscheidung in Erwägung gezogen wird. Gerichte sind nicht verpflichtet, jedes Vorbringen ausdrücklich zu erwähnen, inhaltlich zu bescheiden und damit die Tatsache der Gehörsgewährung zu dokumentieren. Ein Verstoß gegen das rechtliche Gehör kommt deshalb nur dann in Betracht, wenn sich dies aus den besonderen Umständen des Einzelfalls ergibt, etwa weil ein Gericht wesentliches und substantiiertes Vorbringen nicht gewürdigt hat. Hessische Verfassung Art. 3 U r t e i l v o m 15. J a n u a r 2003 - P.St. 1648 in dem Verfahren des Herrn K. — Antragsteller Verfahrensbevollmächtigter: Rechtsanwalt Hans-Konrad von Ivoester, Luisenplatz 1, 65185 Wiesbaden wegen Verletzung von Grundrechten an dem sich beteiligt haben: 1. 2.

die Hessische Landesregierung, vertreten durch den Hessischen Ministerpräsidenten, Staatskanzlei, Bierstadter Straße 2, 65189 Wiesbaden der Landesanwalt bei dem Staatsgerichtshof des Landes Hessen, Mühlgasse 2, 65183 Wiesbaden Entscheidungsformel:

Das Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 21. März 2001 17 U 197/90 - verletzt im Umfang der Klageabweisung den Antragsteller in seinem durch Artikel 3 der Verfassung des Landes Hessen in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verbürgten Grundrecht auf Gewährung rechtlichen Gehörs.

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Grundrecht auf Gewährung rechtlichen Gehörs

Das Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 21. März 2001 17 U 197/90 - wird insoweit für krafdos erklärt. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Frankfurt am Main zurückverwiesen. Gerichtskosten werden nicht erhoben. Das Land Hessen hat dem Antragsteller die notwendigen Auslagen zu erstatten. Gründe: A I. Der Antragsteller wendet sich gegen ein Berufungsurteil des OLG Frankfurt am Main, mit welchem von ihm als Vermieter geltend gemachte Schadensersatzansprüche wegen unterlassener Instandsetzung von Geschäftsräumen nur teilweise zuerkannt wurden. Der Antragsteller erhob im April 1989 beim LG Wiesbaden Klage wegen einer mietrechtlichen Streitigkeit. Im Berufungsverfahren vor dem OLG forderte der Antragsteller u.a. Schadensersatz für die Instandsetzung der Mietsache in Höhe von 36.542,08 DM. Das OLG wies die Klage insoweit mit Urteil vom 25.6.1997 — 17 U 197/90 — wegen Verjährung ab. Gegen dieses Berufungsurteil legte der Antragsteller beim Bundesgerichtshof Revision ein. Dieser hob mit Urteil vom 9.2.2000 - XII ZR 202/97 - das Berufungsurteil auf, soweit die Klage hinsichtlich des Betrages von 36.542,08 DM nebst Zinsen abgewiesen worden war. In diesem Umfang wurde die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurückverwiesen. Vor dem OLG hatte der Antragsteller gegen den Beklagten des Ausgangsverfahrens bereits mit Schriftsatz vom 24.9.1990 Schadensersatz für sieben Positionen geltend gemacht und dazu die Anlagen B1 bis B7 überreicht. Im Einzelnen handelte es sich um Kosten für: B1

diverse Renovierungsarbeiten: 20.829,18 DM,

B2

Innenanstrich der Fenster: 1.230,31 DM,

B3

Anfertigung, Lieferung und Montage von Türen: 6.787,45 DM,

B4

Ausbesserungsarbeiten am Parkettboden: 3.541,98 DM,

B5

Anteilige Kosten für das Abschleifen und Versiegeln des Parkettbodens: 2.522,48 DM,

B6

Entsorgung zurückgelassener Farbeimer: 456,00 DM und

B7

Entfernung einer Ständerrigipswand und Entrümpelung eines Kellers: 1.175,68 DM.

Das OLG erließ Beweisbeschlüsse zu den Positionen B l , B2, B4 und B5. EVerfGE 14

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Staatsgerichtshof des Landes Hessen

Der Sachverständige A. erstellte am 9.6.1993 ein Gutachten zu den Positionen B1 und B2. Er gelangte zu dem Ergebnis, anstelle der vom Antragsteller geforderten 22.059,49 DM seien 14.298,95 DM angemessen. Das OLG gab den Beteiligten Gelegenheit, Anträge zur Anhörung des Gutachters oder zur Einholung einer ergänzenden schriftlichen Stellungnahme zu stellen. Der Antragsteller erhob mit Schriftsatz vom 6.10.1993 zahlreiche Einwendungen. Unter anderem führte er aus, der Gutachter habe das Aufmaß der von ihm berücksichtigten Wandflächen auf der Basis einer Raumhöhe von jeweils genau 3,16 m berechnet, während die Firma K. ihrem Aufmaß Raumhöhen zwischen 3,36 m und 3,44 m zugrunde gelegt habe. Der Antragsteller habe nochmals die Raumhöhe überprüfen lassen. Diese liege — mit für Altbauten typischen Abweichungen von einigen cm — bei ca. 3,40 m. Allein die Differenz des Aufmaßes führe zu einem Unterschiedsbetrag von 2.880,44 DM gegenüber der Klageforderung. Der Antragsteller beantragte, seine Fragen dem Gutachter vorlegen zu lassen. In einem Schriftsatz vom 5.2.1997 hob der Antragsteller seine bereits früher dargelegten Einwände gegen das Gutachten des Sachverständigen A. hervor und erklärte, deshalb könne eine Ladung dieses Sachverständigen notwendig sein. Für die Raumhöhe von knapp 3,40 m bot er Beweis durch Zeugnis seines Sohnes an. Die Positionen B4 und B5 waren Gegenstand eines Gutachtens des Sachverständigen W. vom 24.2.1996. Unter anderem führte der Sachverständige in seinem Gutachten aus, das Verspachteln von Schraublöchern, die durch Befestigen der Messingschienen des Teppichspiegels entstanden seien, koste 200,00 DM. In der mündlichen Verhandlung vor dem OLG am 26.3.1997 erklärte der Sachverständige, er könne nicht sagen, ob es ein, zwei oder drei Teppichspiegel gewesen seien. Bei zwei Teppichspiegeln würde sich der Betrag von 200,00 DM verdoppeln. Das OLG erhob keinen Beweis zu den Positionen B3, B6 und B7. In der mündlichen Abhandlung vor dem OLG vom 24.1.2001 beantragte der Antragsteller, den Beklagten zu verurteilen, an ihn 30.177,81 DM nebst 7,5% Zinsen seit dem 1.4.1990 zu zahlen. Das OLG bestimmte Termin zur Verkündung einer Entscheidung auf den 21.3.2001. In einem nicht nachgelassenen Schriftsatz vom 12.3.2001 wies der Antragsteller auf bereits früher vorgebrachte Einwendungen gegen das Gutachten des Sachverständigen A. vom 9.6.1993 hin sowie darauf, dass beantragt worden sei, den Gutachter zu einer schriftlichen Stellungnahme aufzufordern. Zudem sei durch Schreiben vom 5.2.1997 Beweis für eine vom Aufmaß des Sachverständigen deutlich abweichende Raumhöhe angeboten worden. Es sei nicht erklärlich, dass der Senat zu den wirtschaftlich wenig bedeutsamen Einwendungen gegen das Gutachten W. eine mündliche Befragung durchführe, dagegen in Bezug auf das Gutachten A. vom 9.6.1993 keine ergänzenden Klärungen zu Differenzen beim Aufmaß bewirkt habe. Davon unabhängig komme eine Kürzung seiner Ersatzan-

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Grundrecht auf Gewährung rechtlichen Gehörs

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Sprüche nicht in Betracht, weil er nicht schuldhaft gegen Schadensminderungspflichten verstoßen habe. Mit Urteil vom 21.3.2001 - 17 U 197/90 - verurteilte das OLG den Beklagten des Ausgangsverfahrens, an den Antragsteller weitere 20.944,95 DM nebst 7,5% Zinsen seit dem 1.4.1990 zu zahlen. Die weitergehende Klage wies das OLG ab. In den Entscheidungsgründen bestimmte es die Höhe des Schadensersatzanspruchs auf der Grundlage der in den Sachverständigengutachten ermittelten Beträge. Die Ausführungen der Sachverständigen seien in sich schlüssig und für das Gericht nachvollziehbar. Das Urteil wurde dem Bevollmächtigten des Antragstellers am 28.3.2001 zugestellt. Der Antragsteller hat mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 25.4.2001, eingegangen beim Staatsgerichtshof am 27.4.2001, Grundrechtsklage erhoben. Er rügt die Verletzung seines Grundrechts auf rechtliches Gehör, weil Anspruchsgründe und Einwendungen nicht behandelt worden seien. Gegen das Gutachten des Sachverständigen A. (Positionen B1 und B2) habe er mit Schreiben vom 6.10.1993 Einwendungen erhoben und mit Schriftsatz vom 12.3.2001 noch weiter vertieft. Er führt aus, seine substantiierten Einwendungen hätten nicht nur das Aufmaß betroffen, sondern auch die Frage, wer das Risiko trage, wenn tatsächlich berechnete Preise gegebenenfalls im oberen und nicht nur mitderen Preisbereich lägen. Der Antragsteller legt als Anlage zur Grundrechtsklage Kopien des angegriffenen Urteils und der genannten Schriftsätze vor. Weiter trägt der Antragsteller vor, weder im Tatbestand noch in den Gründen gehe die angefochtene Entscheidung mit einem Wort auf die Position B3 ein. Für die Wiederherstellung der vom Beklagten beseitigten Türen seien Kosten von 6.787,45 DM entstanden. Mit keinem Wort sei das Gericht auf die Entsorgungsund Beseitigungsaufwendungen, die Positionen B6 und B7, eingegangen. Zudem habe die Befragung des Sachverständigen W. am 26.3.1997 ergeben, dass in dessen Gutachten nur die Kosten für die Beseitigung der Schraubspuren eines Teppichspiegels statt derer von zwei Teppichspiegeln enthalten gewesen seien. Die Darlegungen zu den Positionen B3, B6 und B7 sowie die Einwendungen gegen die Gutachten seien geeignet, höhere Zahlungsansprüche des Antragstellers zu begründen. Die gänzliche Nichtbehandlung dieser Darlegungen sowie der Einwendungen gegen einige Ergebnisse der Gutachten seien daher eine Verletzung rechtlichen Gehörs. Der Antragsteller beantragt, 1.

festzustellen, dass das Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 21. März 2001 - 17 U 197/90 - im Umfang der Klageabweisung sein Grundrecht auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt,

2.

dieses Urteil im Umfang der Klageabweisung für kraftlos zu erklären und den Rechtsstreit an das Oberlandesgericht Frankfurt am Main zurückzuverweisen.

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284

Staatsgerichtshof des Landes Hessen II.

Die Landesregierung ist der Ansicht, die Grundrechtsklage sei zulässig. Allenfalls könne zweifelhaft sein, ob der Antragsteller eine Gehörsverletzung plausibel dargelegt habe, soweit er rüge, das Gericht habe sich nicht mit seinen Einwendungen gegen die Sachverständigengutachten auseinander gesetzt. Denn der Inhalt der Einwendungen ergebe sich erst aus dem der Grundrechtsklage beigefügten Schriftsatz vom 6.10.1993. Allerdings habe der Antragsteller in diesem Schriftsatz beantragt, den Sachverständigen zu diesen Einwendungen schriftlich Stellung nehmen zu lassen. Das OLG könnte daher nicht nur gegen § 402 iVm § 397 ZPO verstoßen, sondern auch das rechtliche Gehör verletzt haben. Die Grundrechtsklage sei auch begründet. Das Urteil des OLG verletze im Umfang der Klageabweisung das rechtliche Gehör des Antragstellers. Das Gericht sei auf die Aufwendungen für die Positionen B3, B6 und B7 nicht eingegangen. Gründe des Prozessrechts und des materiellen Rechts hätten dem Gericht keine Veranlassung geben können, den Vortrag des Antragstellers zu übergehen. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs sei auch verletzt, soweit die Kosten für die Beseitigung der Schraubspuren nur eines Teppichspiegels berücksichtigt worden seien. Das OLG könne sich auch nicht auf Gründe des Prozessrechts dafür stützen, dass es weder dem Antrag des Antragstellers, den Sachverständigen zu dessen Fragen schriftlich Stellung nehmen zu lassen, gefolgt sei noch sich im Urteil mit dem Antrag und der Berechtigung der Einwendungen auseinander gesetzt habe. Dies gelte insbesondere, weil das Gericht den Parteien ausdrücklich Gelegenheit gegeben habe, Anträge zur Einholung schriftlicher Stellungnahmen zu stellen. III. Der Landesanwalt ist der Ansicht, die Grundrechtsklage sei unzulässig, soweit der Antragsteller pauschal einige Ergebnisse des Gutachtens angreife. Unmittelbar aus der Grundrechtsklage sei kein Lebenssachverhalt deutlich erkennbar, aus dem sich eine Grundrechtsverletzung ergeben solle. Der Antragsteller überlasse es dem Staatsgerichtshof, sich unter Heranziehung der Akten aus einzelnen Elementen einen verständlichen Vortrag des Antragstellers zu entwickeln. Die Ausführungen des OLG ließen außerdem durchaus die Schlussfolgerung zu, es habe sich mit den Einwendungen des Antragstellers befasst. Hingegen sei die Grundrechtsklage begründet, soweit das OLG die Aufwendungen für die Wiederherstellung der Türen nicht berücksichtigt habe. IV. Der Beklagte des Ausgangsverfahrens hat mit Schriftsatz vom 8.11.2002, auf dessen Inhalt verwiesen wird, Stellung genommen.

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Grundrecht auf Gewährung rechtlichen Gehörs

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V. Der Staatsgerichtshof hat die Gerichtsakten des Ausgangsverfahrens beigezogen. Β I. Die Grundrechtsklage ist zulässig. Der Rechtsweg ist erschöpft (§ 44 Abs. 1 S. 1 des Gesetzes über den Staatsgerichtshof — StGHG). Die Grundrechtsklage richtet sich gegen ein mit ordentlichen Rechtsmitteln nicht angreifbares Urteil (§ 545 Abs. 1 iVm § 546 Abs. 1 ZPO a.F.). Die Antragsfrist von einem Monat (§ 45 StGHG) ist gewahrt. Der Antragsteller ist antragsbefugt (§ 43 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 StGHG). Er hat unter Beifügung u.a. des angegriffenen Urteils in nachvollziehbarer Weise einen Sachverhalt geschildert, der eine Verletzung seines Grundrechts auf Gewährung rechtlichen Gehörs plausibel erscheinen lässt. Der Antragsteller führt aus, das OLG gehe weder im Tatbestand noch in den Gründen auf die geltend gemachten Positionen B3, B6 und B7 ein. Der Antragsteller rügt außerdem, seine Einwendungen in den Schriftsätzen vom 6.10.1993 und 12.3.2001, auf die das OLG nicht eingegangen sei, beträfen nicht nur das Aufmaß. Die vom Antragsteller damit hervorgehobenen Einwände gegen das Aufmaß lassen sich ohne weiteres den der Grundrechtsklage beigefügten und konkret in Bezug genommenen Schriftsätzen entnehmen. Weiter trägt der Antragsteller vor, das OLG habe nur die Kosten für die Beseitigung der Schraubspuren eines Teppichspiegels berücksichtigt. Er habe aber ausdrücklich darauf hingewiesen, dass in zwei Räumen Teppichspiegel verschraubt gewesen seien. Es ist nicht auszuschließen, dass das OLG, hätte es diesen Vortrag des Antragstellers berücksichtigt, seiner Klage insgesamt stattgegeben hätte. Der Antragsteller hatte Schadensersatz in Höhe von 30.177,81 DM beantragt. Das OLG sprach ihm 20.944,95 DM zu. Dabei Keß es die folgenden Positionen unberücksichtigt: B3

6.787,45 DM

B6

456,00 DM

B7

1.175,68 DM

Aufmaßdifferenzen 2.880,44 DM Teppichspiegel 228,00 DM.

II. Die Grundrechtsklage ist begründet. Das angegriffene Urteil des OLG beruht auf einer Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs. LVerfGE 14

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Staatsgerichtshof des Landes Hessen

Das durch Art. 3 der Verfassung des Landes Hessen (kurz: Hessische Verfassung - HV) in Verbindung mit dem ihr innewohnenden Rechtsstaatsprinzip verbürgte Grundrecht auf rechtliches Gehör gibt den Verfahrensbeteiligten einen Anspruch darauf, dass ihr Vortrag vom Gericht zur Kenntnis genommen und bei der Entscheidung in Erwägung gezogen wird. Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Gerichte den Vortrag der Beteiligten kennen und würdigen. Sie sind nicht verpflichtet, jedes Vorbringen ausdrücklich zu erwähnen, inhaltlich zu bescheiden und damit die Tatsache der Gehörsgewährung zu dokumentieren. Namentlich gewährt das Gehörsrecht keinen Schutz dagegen, dass die Gerichte Vorbringen der Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts ganz oder teilweise unberücksichtigt lassen. Ein Verstoß gegen das rechtliche Gehör kommt deshalb nur dann in Betracht, wenn sich dies aus den besonderen Umständen des Einzelfalls ergibt (vgl. StGH, Beschl. v. 14.8.2002 - P.St. 1711 - , StAnz. 2002, 3737, 3739). Vom Vorliegen derartiger Umstände, die den Schluss auf eine verfassungsrechtlich relevante Nichtberücksichtigung von Parteivortrag zulassen, ist auszugehen, wenn ein Fachgericht in seinen Entscheidungsgründen auf den wesentlichen Kern des tatsächlichen oder rechtlichen Vorbringens einer Partei zu einer Frage nicht eingeht, die für die Entscheidung des Rechtstreits von zentraler Bedeutung ist, es sei denn, das Vorbringen war nach dem Rechtsstandpunkt des Fachgerichts unerheblich oder der Tatsachenvortrag der Partei offensichtlich unsubstantiiert (StGH, Urt. v. 20.10.1999 - P.St. 1356 StAnz. 1999, 3410, 3413 f). Aus den besonderen Umständen dieses Falles ergibt sich, dass das OLG den Anspruch des Antragstellers auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt hat. Das OLG hat wesentliches und substantiiertes Vorbringen zu unterschiedlichen Punkten nicht berücksichtigt, ohne dass erkennbar ist, dass Gründe des formellen oder materiellen Rechts ihm hierzu Veranlassung gegeben haben. Die Höhe des zu gewährenden Schadensersatzes hat das OLG allein nach den Schadenspositionen B l , B2, B4 und B5 bestimmt. Auf den vom Antragsteller mit den Positionen B3, B6 und B7 verfolgten Schadensersatzanspruch, zusammen 8.419,13 DM, ist das OLG aus nicht nachvollziehbaren Gründen nicht eingegangen, obwohl auch hinsichtlich dieser Positionen der Antragsteller substantiiert vorgetragen hat. Das OLG hat auch nicht berücksichtigt, dass der Antragsteller wiederholt substantiiert vorgetragen hatte, das dem Gutachten' des Sachverständigen A. zugrunde Hegende Aufmaß sei unzutreffend und führe zu einem Differenzbetrag von 2.880,44 DM. Der Antragsteller hatte Beweis angeboten. Diese vom Antragsteller auch hervorgehobenen Ausführungen musste das OLG beachten. Das Gutachten über die erforderlichen Renovierungskosten konnte zwar in sich schlüssig und nachvollziehbar sein, kam aber zwangsläufig zu unzutreffenden Ergebnissen, wenn ihm ein falsches Aufmaß zugrunde lag.

LVerfGE 14

Grundrechtsklage: Subsidiarität bei Nichtergreifen des Rechtsbehelfs

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Außerdem hat das OLG die Erläuterung des Sachverständigen W. zu seinem Gutachten in der mündlichen Verhandlung vom 27.3.1997 nicht beachtet. Der Sachverständige gab an, er könne nicht sagen, ob ein, zwei oder drei Teppichspiegel vorhanden gewesen seien. Bei zwei Teppichspiegeln würde sich der Betrag von 200,00 DM (zuzüglich 14% USt.) verdoppeln. Der Antragsteller hatte in seinem Schriftsatz vom 29.4.1991 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass in zwei Räumen Teppichspiegel verschraubt gewesen seien. Dennoch hat das OLG Schadensersatz lediglich für die Beseitigung der Schraublöcher eines Tcppichspiegels zugesprochen. Die angegriffene Entscheidung beruht auf der aufgezeigten Verletzung des rechtlichen Gehörs. Es lässt sich nicht ausschließen, dass die Klage des Antragstellers in vollem Umfang Erfolg gehabt hätte, wenn das OLG dessen \^ortrag berücksichtigt hätte. III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 28 Abs. 1 und 6 StGHG.

Nr. 3 1. Uber das Gebot der Erschöpfung des Rechtsweges hinaus verlangt der Grundsatz der Subsidiarität der Grundrechtsklage, dass vor Anrufung des Staatsgerichtshofs als Verfassungsgericht von dem Antragsteller alle zumutbaren Möglichkeiten ergriffen werden, um eine Korrektur der Verfassungsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern (std. Rspr.). 2. Der Grundsatz der Subsidiarität verlangt auch, Rechtsbehelfe vor den Fachgerichten zu ergreifen, deren Statthaftigkeit in der Rechtsprechung noch nicht eindeutig geklärt ist. Zivilprozessordnung § 321a Gesetz über den Staatsgerichtshof § 44 Abs. 1 Satz 2 B e s c h l u s s v o m 13. A u g u s t 2003 - P.St. 1857 in dem Grundrechtsklageverfahren des Herrn B. — Antragsteller gegen

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Staatsgerichtshof des Landes Hessen

das Land Hessen, vertreten durch den Ministerpräsidenten, Staatskanzlei, Bierstadter Straße 2, 65189 Wiesbaden — Antragsgegner — Entscheidungsformel: Die Anträge werden zurückgewiesen. Gerichtskosten werden nicht erhoben, außergerichtliche Kosten nicht erstattet. Gründe: A I. Der Antragsteller wendet sich mit der Grundrechtsklage gegen ein Urteil des AG sowie ein Berufungsurteil des LG Frankfurt am Main in einem Zivilrechtsstreit über Honoraransprüche. Der Antragsteller machte im fachgerichtlichen Verfahren Honorarforderungen aus einer Tätigkeit als Steuerberater geltend. Das AG Frankfurt am Main wies die Klage auf Zahlung von 7.116,23 DM (= 3.638,47 €) mit Urteil vom 24.10.2001 — 31 C 331/01 — 16 — im Wesentlichen ab. Auf die Berufung des Antragstellers änderte das LG Frankfurt am Main die amtsgerichtliche Entscheidung mit Urteil vom 23.1.2003 - 2/24 S 444/01 - ab und verurteilte den Beklagten zur Zahlung von 1.047,43 € nebst Zinsen. Die weitergehende Berufung des Antragstellers wies das LG zurück. In Höhe der abgewiesenen Honorarforderung fehle es an einem entsprechenden Auftrag für den Antragsteller. Die Revision ließ das LG nicht zu. Die Rechtssache habe keine grundsätzliche Bedeutung, die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordere nicht die Entscheidung des Revisionsgerichts. Das Berufungsurteil wurde dem Antragsteller am 28.1.2003 zugestellt. Am 28.2.2003 hat der Antragsteller beim Staatsgerichtshof Grundrechtsklage erhoben. Er rügt Verletzungen des Willkürverbots und des Grundrechts auf Gewährung rechtlichen Gehörs vor Gericht durch die Urteile des AG und des LG. Der Antragsteller beantragt, 1.

festzustellen, dass das Urteil des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 24. Oktober 2001 - 31 C 331/01 - 16 - und das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 23. Januar 2003 - 2/24 S 444/01 - das Willkürverbot und das Grundrecht auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzen,

2.

diese Urteile für kraftlos zu erklären und die Sache an eine andere Kammer des Landgerichts Frankfurt am Main zurückzuverweisen.

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Grundrechtsklage: Subsidiarität bei Nichtergrcifen des Rechtsbehelfs

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II. Dem Antragsgegner und der Landesanwaltschaft ist Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden. Der Beklagte des fachgerichtlichen Ausgangsverfahrens hat als begünstigter Dritter Stellung genommen und die angefochtenen Urteile verteidigt. Er stellt den Antrag, die Zuziehung eines Bevollmächtigten für die Ausübung des Äußerungsrechts im Grundrechtsklageverfahren für notwendig zu erklären und die Kosten dem Antragsteller aufzuerlegen. Β I. Die Grundrechtsklage ist unzulässig. Soweit sich die Grundrechtsklage gegen die erstinstanzliche Entscheidung des AG Frankfurt am Main richtet, ergibt sich die Unzulässigkeit aus § 44 Abs. 1 S. 2 StGHG. Danach ist ein rechtsmittelfähiges Urteil kein tauglicher Prüfungsgegenstand der Grundrechtsklage. Nach § 44 Abs. 1 S. 2 StGHG prüft der Staatsgerichtshof nur, ob die Entscheidung des höchsten in der Sache zuständigen Gerichts auf der Verletzung eines Grundrechts beruht, das von der Verfassung des Landes Hessen gewährt wird. Das AG Frankfurt am Main ist jedoch nicht das höchste in dieser Sache zuständige Gericht. Gegen sein Urteil war nach § 26 Nr. 5 des Gesetzes betreffend die Einführung der Zivilprozessordnung — EGZPO — die Berufung gem. §§ 511 ff ZPO a.F. zulässig. Soweit sich die Grundrechtsklage gegen das Berufungsurteil des LG Frankfurt am Main richtet, steht ihrer Zulässigkeit der Grundsatz der Subsidiarität verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes entgegen. Der Rechtsweg in dieser Sache war zwar mit dem Berufungsurteil des LG Frankfurt am Main erschöpft. Der Antragsteller konnte gegen die Nichtzulassung der Revision durch das Berufungsgericht keine Beschwerde nach § 544 ZPO einlegen, da der Beschwerdewert 20.000 € nicht überstieg. § 544 ZPO ist nämlich gem. § 26 Nr. 8 EGZPO bis einschließlich 31.12.2006 nur anwendbar, wenn der Wert der Beschwerde 20.000 € übersteigt. Über das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung hinaus verlangt der Grundsatz der Subsidiarität der Grundrechtsklage jedoch, dass ein Antragsteller, bevor er den Staatsgerichtshof als Verfassungsgericht anruft, alle zumutbaren Möglichkeiten ergreift, um eine Korrektur der \^erfassungsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern (std. Rspr. des StGH, vgl. etwa Urt. v. 20.10.1999 - P. St. 1356 - , NZM 1999, 1088, 1090). Hiernach war der Antragsteller gehalten, vor Erhebung der Grundrechtsklage zum Staatsgerichtshof den Rechtsbehelf des § 321a ZPO zu ergreifen. § 321a ZPO eröffnet ein Abhilfeverfahren, das innerhalb einer Notfrist von zwei Wochen nach Zustellung der Entscheidung zu beantragen ist. Dieses ermöglicht den Gerichten die SelbstkorLVerfGE 14

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Staatsgerichtshof des Landes Hessen

rektur eines Urteils, das unter Verletzung des rechtlichen Gehörs ergangen ist. Zwar ist in Rechtsprechung und Literatur umstritten, ob das Abhilfeverfahren nach ξ 321a ZPO auch gegenüber berufungsgerichtlichen Entscheidungen eingreift, soweit gegen diese ein weiteres Rechtsmittel nicht zulässig ist (dafür etwa OLG Celle, NJW 2003, 906; ThomasIPut^o ZPO, 24. Aufl. 2002, § 321a Rn. 18; Müller NJW 2002, 2743, 2745 f; Greger NJW 2002, 3049, 3051; dagegen etwa OLG Rostock, NJW 2003, 2105; Zöllerl Vollkommer ZPO, 23. Aufl. 2002, § 321a Rn. 4). Der Grundsatz der Subsidiarität verlangt von einem Antragsteller jedoch auch, Rechtsbehelfe vor den Fachgerichten zu ergreifen, deren Statthaftigkeit in der Rechtsprechung noch nicht eindeutig geklärt ist (std. Rspr. des StGH, vgl. etwa Beschl. v. 20.6.2002 - P. St. 1365 - und vom 10.12.2002 - P. St. 1609 - , StAnz. 2003, 742). Das ist hier nicht fristgerecht geschehen. II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 28 StGHG. Die vom Beklagten als dem durch die angefochtenen Urteile Begünstigten beantragte Auslagenerstattung ist im Gesetz über den Staatsgerichtshof nicht vorgesehen. § 28 Abs. 7 StGHG betrifft nur die Erstattung von Kosten und Auslagen, die einem am Verfahren vor dem Staatsgerichtshof Beteiligten erwachsen sind. Der Beklagte ist im Verfahren über die Grundrechtsklage nach § 43 Abs. 4 S. 1 StGHG lediglich äußerungsberechtigt. Er ist nicht Beteiligter und kann nach dem Gesetz über den Staatsgerichtshof auch keine Anträge stellen.

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Entscheidungen des Landesverfassungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern

Die amtierenden Richterinnen und Richter des Landesverfassungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern Dr. Gerhard Hückstädt, Präsident Helmut Wolf, Vizepräsident Peter Häfner Brunhild Steding Joachim von der Wense Prof. Dr. Maximilian Wallerath Peter Söhnchen

Stellvertretende Richterinnen und Richter Dr. Siegfried Wiesner Klaus-Dieter Essen Matthias Lip sky Günter Reitz Rolf Christiansen Gudrun Köhn Dr. Christa Unger

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Kommunaler Finanzausgleich

Nr. 1 1. Das Recht der Gemeinden auf Selbstverwaltung umfasst auch einen gegen das Land gerichteten Anspruch auf angemessene Finanzausstattung. 2. Das interkommunale Gleichbehandlungsgebot verbietet, bei der Ausgestaltung des Finanzausgleichs bestimmte Gemeinden oder Gemeindeverbände sachwidrig zu benachteiligen oder zu bevorzugen. Diesen Grundsatz greift Art. 73 Abs. 2 LV auf und formt ihn näher aus. 3. Der Gesetzgeber darf innerhalb der Grenzen des Art. 73 Abs. 2 LV auch ihm zweckmäßig Erscheinendes im Wege des Finanzausgleichs regeln. Ihm kommt insoweit ein Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zu, der gewahrt ist, wenn sich der Gesetzgeber auf eine nachvollziehbare und vertretbare Einschätzung stützt. 4. Es ist sachgerecht, den Verteilungsmaßstab für den besonderen Finanzbedarf im Hinblick auf Infrastrukturinvestitionen gemäß § 10h FAG danach auszurichten, welche Belastungen der Kommune damit auszugleichen sind. 5. Es ist nicht sachfremd, dass der Gesetzgeber zur Verteilung der Mittel für besonders bedeutsame Maßnahmen gemäß § 3 des Investitionsförderungsgesetzes Aufbau Ost vom 23.6.1993 (IFG), für die ein investiver Nachholbedarf besteht, einen typisierten Maßstab in Gestalt der Einwohnerzahl 1995 gewählt hat. Dieser Maßstab wird der Aufgabe, für welche die Mittel verwendet werden, gerecht. 6. Die Einführung eines festgeschriebenen Einwohnerschlüssels für die Berechnung der Höhe der Zuweisungen für Infrastrukturinvestitionen gemäß § 10h FAG ist nur für eine Übergangszeit sachgerecht. Investitionsförderungsgesetz §§ 1; 3 Finanzausgleichsgesetz §§ 6 Abs. 1, 2; 7; 8; 10b Abs. 2 Satz 1; 10d; 10e; 10h Abs. 1 Satz 2, 3; Kommunalverfassung § 127 Abs. 1 Satz 6 Landesverfassungsgerichtsgesetz §§11 Abs. 1 Nr. 10; 51 Abs. 2; 52 Satz 1; 53 Landesverfassung Mecklenburg-Vorpommern Art. 53 Nr. 8; 72 Abs. 1; 73 Abs. 2 LVerfGE 14

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Landesverfassungsgericht Mecklenburg^Vorpommern

Urteil v o m 18. D e z e m b e r 2003 - L V e r f G 13/02 in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde 1. 2.

der Gemeinde Lüdersdorf, vertreten durch den Bürgermeister, Dassower Straße 4, 23923 Schönberg der Gemeinde Selmsdorf, vertreten durch den Bürgermeister, Grevesmühlener Straße 17 b, 23942 Dassow - Beschwerdeführerinnen -

Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte Gollasch, Kroeger, Pätzmann, Lassen, Knüppel, Heintzenberg, Hansestraße 14, 23558 Lübeck gegen § 1 Oh Abs. 2 Satz 2 des Finanzausgleichsgesetzes, eingefügt durch Art. 3 Nr. 4 des Gesetzes zur Schaffung und Änderung haushaltsrechtlicher Bestimmungen (Haushaltsrechtsgesetz 2002/2003 - HRG 2002/2003) vom 17. Dezember 2001 (GVOB1. M-V S. 578) Entscheidungsformel: Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen. Die Entscheidung ergeht kostenfrei. Auslagen werden nicht erstattet. Gründe: A. Gegenstand des Verfahrens ist die Frage, ob die Beschwerdeführerinnen durch § 10h Abs. 2 S. 2 Finanzausgleichsgesetz (FAG) in ihrem Recht auf Selbstverwaltung nach den Art. 72 und 73 der Verfassung des Landes MecklenburgVorpommern (LV) verletzt werden. I. 1. Die Vorschrift des § 10h FAG wurde durch Art. 3 Nr. 4 des Gesetzes zur Schaffung und Änderung haushaltsrechtlicher Bestimmungen (Haushaltsrechtsgesetz 2002/2003 - HRG 2002/2003 - ) vom 17.12.2001 (GVOB1. M-V S. 578) in das Gesetz eingefügt. Sie lautet auszugsweise wie folgt: „§ 10h Zuweisungen für Infrastrukturinvestitionen (1) Gemeinden und Landkreise erhalten Zuweisungen zur Finanzierung von Investitionen im Bereich der Infrastruktur. Von den nach § 6 Abs. 1 Nr. 11 bereitgestellten Mitteln erhalten die kreisfreien Städte und Landkreise Zuweisungen anteilig im Verhältnis ihrer Bevölkerungszahl. Im Bereich der Landkreise LVerfGE 14

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erhalten die Gemeinden 70 v.H. der bereitgestellten Mittel. Einzelheiten des Verfahrens werden durch das Innenministerium geregelt. (2) Die nach § 6 Abs. 1 Nr. 11 bereitgestellten Mittel werden den Gemeinden und Landkreisen als Einnahmen der Vermögenshaushalte pauschal im Verhältnis ihrer Einwohner zugewiesen. Abweichend von § 12 Abs. 1 gilt für die Berechnung die zum 31. Dezember 1995 fortgeschriebene Zahl." Nach ξ 12 Abs. 1 F A G gelten die v o m Statistischen Landesamt z u m 31.12. des jeweils vorvergangenen Jahres fortgeschriebenen Einwohnerzahlen, soweit das Gesetz auf Einwohnerzahlen abstellt. Zugleich wurde d e m § 6 Abs. 1 S. 1 F A G die Nr. 11 angefügt. Die Vorschrift lautet nunmehr auszugsweise: „Von der Finanzausgleichsmasse werden vorweg bereitgestellt für ... 11. Zuweisungen an die Gemeinden und Landkreise zur Förderung von Infrastrukturinvestitionen nach § 10h 76 693 782 Euro." Die Neuregelungen traten gem. Art. 7 H R G 2002/2003 am 1.1.2002 in Kraft. 2. Die streitgegenständliche Vorschrift war i m Gesetzentwurf der Landesregierung z u m H R G 2002/2003 (LT-Drs. 3/2200 v. 10.8.2001) noch nicht enthalten. Sie wurde durch den Innenausschuss des Landtags in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht und wie folgt begründet (LT-Drs. 3/2516 v. 6.12.2001, S. 13 f): „Diesem Änderungsantrag lag abweichend von der Gesetzesbegründung die Argumentation zu Grunde, dass die Verteilung des Sockelbetrages den Grundsätzen der kommunalen Investitionspauschale folgen und den Kommunen in etwa die bis 2004 angekündigten Finanzvolumina gesichert werden sollen, um die mittelfristige Investitions- und Finanzplanung der Kommunen nicht zu gefährden. Durch die pauschale Zuweisung an die Vermögenshaushalte der Gemeinden und Kreise im Verhältnis deren Einwohner wird das Antragsverfahren entbehrlich und Plansicherheit gewährleistet. Die Anknüpfung an die Einwohnerzahl per 31. Dezember 1995 trägt dem trotz der seither erfolgten Bevölkerungswanderung unveränderten Investitionsbedarf in den Kommunen Rechnung und folgt dem Grundgedanken des bisher geltenden Investitionsförderungsgesetzes des Bundes, das die Länderanteile für die ursprünglich vorgesehene Geltungsdauer von zehn Jahren unabhängig von eintretenden demografischen Entwicklungen festgeschrieben hatte . . . " Der Finanzausschuss stimmte d e m Änderungsantrag des Innenausschusses zu. Zur Begründung führte er ergänzend unter anderem aus (LT-Drs. 3/2516 v. 6.12.2001, S. 55 f): „Die vom Innenausschuss vorgeschlagenen Änderungen zum FAG in Artikel 3 hat der Finanzausschuss ... mitgetragen, da sie die Entscheidung des Bundes auffängt, die bisherige IfG-Förderung (gemeint war das Investitionsförderungsgesetz Aufbau Ost) aufzuheben und ab 2002 die Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen um den Betrag der ehemaligen IfG-Mittel aufzustocken, wobei für eine LVerfGE 14

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Übergangszeit von 2002 bis 2004 diese Erhöhung der Bundesergänzungszuweisungen nicht in den Gleichmäßigkeitsgrundsatz einbezogen wird. Erst mit dem In-Kraft-Treten der gesetzlichen Regelungen zum sogenannten Solidarpakt II ab 2005 werden die Bundesergänzungszuweisungen in voller Höhe berücksichtigt, die Finanzverteilung zwischen Land und Kommune ist daher anzupassen . . . " 3. Bei den Beschwerdeführerinnen handelt es sich um amtsangehörige Gemeinden, deren Gemeindegebiete im Landkreis Nordwestmecklenburg liegen und unmittelbar an das Stadtgebiet der Hansestadt Lübeck angrenzen. Sie verzeichnen seit Beginn der neunziger Jahre stetig steigende Einwohnerzahlen. Die Beschwerdeführerin zu 1. hatte zum 31.12.1993 eine Einwohnerzahl von 2.012. Zum Jahresende 1995 stieg diese auf 2.274 an. Z u m 31.12.1999 erhöhte sich die Einwohnerzahl auf 4.472, zum 31.12.2000 auf 4.533, zum 31.12.2001 auf 4.711 und zum 31.12.2002 auf 4.748. Die Beschwerdeführerin zu 2. hatte zum 31.12.1993 eine Einwohnerzahl von 1.451. Diese erhöhte sich zum 31.12.2001 auf 2.041 und zum 31.12.2002 auf 2.062. II. A m 31. Dezember 2002 haben die Beschwerdeführerinnen Verfassungsbeschwerde erhoben. Sie beantragen, festzustellen, dass § 10h Abs. 2 Satz 2 FAG, eingefügt durch Artikel 3 Nummer 4 des Gesetzes zur Schaffung und zur Änderung haushaltsrechtlicher Bestimmungen vom 17. Dezember 2001, nichtig ist. Die Beschwerdeführerinnen sehen sich durch die angegriffene Vorschrift in ihren Rechten aus Art. 72 und 73 LV verletzt. Es verstoße gegen die Verfassung, die Zuweisungen für Infrastrukturinvesütionen nicht nach der gem. § 12 Abs. 1 FAG fortgeschriebenen Einwohnerzahl, sondern nach der Einwohnerzahl v o m Stand 31.12.1995 zu bemessen. In ihren Gemeindegebieten sei es auf Grund der Nähe zur Hansestadt Lübeck zu einem über die Jahre gleichbleibend starken Zuwachs an Wohnbauflächen und damit einhergehend zu einem Bevölkerungszuwachs gekommen. Der starke Bevölkerungszuwachs führe zu einem steigenden Bedarf bei kommunalen Investitionen, etwa im Bereich der Verkehrsanlagen, der Schulen und der Kindergärten. Die Beschwerdeführerin zu 1. sei aber nicht mehr in der Lage, notwendige Infrastruktureinrichtungen zu schaffen und zu unterhalten. Der Beschwerdeführerin zu 2. gelinge dies nur durch Umschichtungen v o m Vermögenshaushalt in den Verwaltungshaushalt. Die Beschwerdeführerin zu 1. habe für das Jahr 2001 eine kommunale Infrastrukturpauschale von 246.762,78 D M erhalten. Dabei habe bei einer Einwohnerzahl von 4.472 am 31.12.1999 die Zuweisung pro Einwohner 55,179 D M betragen. Für das Jahr 2002 betrage die Mittelpauschale pro Einwohner 31,60 EUR (entspricht 61,80 DM). Da die Mittel jedoch auf der Grundlage der EinwohnerLVerfGE 14

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zahl zum 31.12.1995 verteilt würden, ergebe sich ein Zuweisungsbetrag von 71.858,40 EUR (entspricht 140.542,81 DM). Würde dagegen entsprechend § 12 Abs. 1 FAG die Verteilung der Investitionspauschale nach der Einwohnerzahl vom 31.12.2000 erfolgen, erhielte die Beschwerdeführerin zu 1. für das Jahr 2002 insgesamt 143.242,80 EUR (entspricht 280.158,56 DM). Die angegriffene Regelung führe im Falle der Beschwerdeführerin zu 1. damit im Jahre 2002 zu Mindereinnahmen von rund 70.000,00 EUR. Dieser Effekt werde sich in den nächsten Jahren durch die weiter steigenden Einwohnerzahlen noch verstärken. Die Beschwerdeführerinnen sind der Auffassung, ihre Finanzausstattung erweise sich seit dem Inkrafttreten des § 10h Abs. 2 S. 2 FAG als unangemessen. Sie hätten aber ein aus Art. 72 Abs. 1 S. 1 und 73 Abs. 2 LV folgendes Recht auf angemessene Finanzausstattung zur Erfüllung der kommunalen Aufgaben. Das Land sei verpflichtet, für eine aufgabenangemessene finanzielle Mindestausstattung der Gemeinden zu sorgen. Zudem verstoße die beanstandete Regelung gegen das interkommunale Gleichbehandlungsgebot, da sie zu einer sachwidrigen Verteilung der Finanzmittel führe. Es gebe keinen vernünftigen Grund dafür, bei der Verteilung der Investitionszuweisungen auf eine Fortschreibung der Einwohnerzahlen als Maßstab zu verzichten. Der jetzige Rechtszustand führe dazu, dass Gemeinden mit rückläufigen Bevölkerungszahlen bevorzugt und Gemeinden mit steigenden Bevölkerungszahlen benachteiligt würden, obwohl der Investitionsbedarf von der Anzahl der Einwohner abhänge. Die Vorschrift des § 10h Abs. 2 S. 2 FAG lasse die tatsächliche Aufgabenbelastung der Kommunen außer Acht. Hinzu komme, dass die Verteilungsmasse für wachsende Gemeinden zusätzlich noch dadurch geschmälert werde, dass die negative Bevölkerungsentwicklung von anderen Gemeinden unberücksichtigt bleibe. Zwar stehe dem Gesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum bei der Erfüllung des gemeindlichen Finanzausstattungsanspruchs zu. Gleichwohl dürften die gewählten Verteilungsmaßstäbe nicht im Widerspruch zueinander stehen und das gewählte System nicht ohne einleuchtenden Grund verlassen werden. Deshalb sei die Differenzierung in den Regelungen des § 10h Abs. 2 S. 2 FAG einerseits und des § 12 Abs. 1 FAG andererseits sachlich nicht gerechtfertigt. Letztlich ziele § 10h Abs. 2 S. 2 FAG auf die Nivellierung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Gemeinden. Dieser Zweck sei mit dem Recht auf gemeindliche Selbstverwaltung unvereinbar. III. Die Landesregierung hält die Vorschrift des § 10h Abs. 2 S. 2 FAG für mit der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern vereinbar. Dass sie als Bedarfsindikator auf die zum 31.12.1995 bestehende Einwohnerzahl abstelle, gehe auf zwei Anliegen des Gesetzgebers zurück. Zum einen knüpfe die Regelung an die bundesgesetzliche Investitionsförderung durch den Bund in den neuen Bundesländern an. Durch Art. 35 des Gesetzes zur UmsetLVerfGE 14

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zung des föderalen Konsolidierungsprogramms (Investitionsförderungsgesetz Aufbau Ost - IFG) hätten die Länder für die Dauer von zehn Jahren ab 1995 Finanzhilfen für Investitionen erhalten. Die Mittel aus diesem Programm seien anteilig im Kommunalen Investitionsprogramm weitergereicht worden, zuletzt nach Maßgabe der Richtlinie des Innenministeriums zur Förderung Kommunaler Investitionen vom 2.3.1999 (AmtsBl. M-V S. 238). Mit In-Kraft-Treten des Solidarpaktfortführungsgesetzes seien die Transferleistungen nach dem IFG weggefallen. Die Leistungen seien deshalb in den kommunalen Finanzausgleich aufgenommen worden. Dies sei zum Anlass genommen worden, die bisherigen \'erteilungskriterien zu überprüfen. Der Landesgesetzgeber habe sich entschieden, für den \ r erteilungsmodus an die Einwohnerzahlen zum 31.12.1995 anzuknüpfen, weil der Umfang des zu verteilenden Finanzvolumens bundesrechtlich nach dem zum damaligen Zeitpunkt bestehenden Investitionsbedarf bestimmt worden sei. Damit sei der Grundgedanke des IFG fortgeführt worden, das die Länderanteile für die ursprünglich vorgesehene Geltungsdauer von zehn Jahren unabhängig von den eintretenden demografischen Entwicklungen festgesetzt habe. Zum anderen liege der im Streit stehenden Regelung die Überlegung zu Grunde, dass nach 1995 ein verstärkter Bevölkerungsrückgang in den kleinen Gemeinden in den östlichen und südöstlichen Landesteilen und in den kreisfreien Städten zu verzeichnen gewesen sei. Die kreisfreien Städte hätten vor allem an das Umland Einwohner verloren. Diese nutzten als Einpendler aber weiterhin die kommunale Infrastruktur der Oberzentren. Der Infrastrukturbedarf der kreisfreien Städte habe daher nicht mit der sinkenden Einwohnerzahl abgenommen, sondern sei auf einem unverminderten Niveau geblieben. Durch den Wegzug der Bürger in Umlandgemeinden hätten die großen Städte in erheblichem Umfang Anteile an den Schlüsselzuweisungen verloren. Mit der Festsetzung der Einwohnerzahlen per 31.12.1995 als Grundlage für die Verteilung der Infrastrukturpauschale wirke der Gesetzgeber den negativen finanziellen Auswirkungen der Bevölkerungsabwanderung auf die Investitionskraft insbesondere der großen Städte des Landes entgegen. Für die Gemeinden im unmittelbaren Nahbereich größerer Städte sei eine gegenteilige Entwicklung eingetreten. Solche Gemeinden hätten in Folge von Einwohnerzuwächsen und oftmals auch Gewerbeansiedlungen höhere Schlüsselzuweisungen und höhere Anteile an verschiedenen Steuereinnahmen verzeichnen können. Mit der Veränderung der Bemessungsgrundsätze habe der Gesetzgeber der geänderten Sachlage Rechnung tragen und die Investitionskraft der größeren Städte stabilisieren oder stärken wollen. Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes hätten dabei nicht beachtet werden müssen. Solche seien durch die VerwaltungsVorschriften zum Kommunalen Investitionsprogramm nicht begründet worden. Auch aus gesetzlichen Vorschriften habe sich kein Vertrauensschutz ergeben. § 12 Abs. 1 FAG habe für die Verteilung der Mittel für kommunale Investitionen zu keinem Zeitpunkt gegolten.

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Schließlich führe die angegriffene Vorschrift auch nicht zu einer Nivellierung der Finanzkraft der Gemeinden. Die Zuweisungen für Infrastrukturinvestitionen hätten im Jahre 2003 lediglich einen Anteil von 5,64% an der Finanzausgleichsmasse gehabt. Die trotz des Rückgangs der Einwohnerzahlen fortbestehenden Belastungen für die Oberzentren des Landes würden auch nicht bereits durch den Vorwegabzug nach ξ 10e FAG abgefangen. Vielmehr würden die zentralörtlichen Kostenbelastungen durch diesen Vorwegabzug im Durchschnitt der Zentrale-Orte-Kategorien lediglich in Höhe von etwa 22% abgegolten. Bei den Oberzentren betrage dieser Anteil sogar nur 19,4%. Daher werde mit § 10h FAG keine Doppeldotierung der Oberzentren, sondern allenfalls eine Ergänzung zum Vorwegabzug nach § 10e FAG bewirkt. Der Kreis der von § 10h FAG erfassten Investitionsvorhaben gehe zudem über den der zentralörtlich vorzuhaltenden Infrastruktureinrichtungen hinaus. Auch aus diesem Grund hätten die Verteilungsmaßstäbe in den §§ 10e und 10h FAG unterschiedlich ausgestaltet werden können. IV. Der Landkreistag Mecklenburg-Vorpommern teilt die Rechtsauffassung der Beschwerdeführerinnen. Bei der Ausgestaltung des Finanzausgleichs sei dem Gesetzgeber grundsätzlich ein breiter Gestaltungsspielraum zuzugestehen. Er habe jedoch das allgemeine Willkürverbot und den Grundsatz der Systemgerechtigkeit zu beachten. Dem widerspreche die Regelung des § 10h Abs. 2 S. 2 FAG. Es sei willkürlich und dem Finanzausgleichsgesetz auch fremd, insoweit an einen vergangenheitsorientierten Verteilerschlüssel bezüglich der Einwohnerzahl anzuknüpfen. Die Regelung nütze im Ergebnis insbesondere den kreisfreien Städten, ohne dass dies in der Gesetzesbegründung der Landesregierung oder in der Beschlussempfehlung des Landtags deutlich würde. Müsste der Investitionsbedarf der Kommunen unabhängig von der Bevölkerungswanderung anerkannt werden, wäre dies ein Indiz für die nicht sachgerechte Verteilung der Mittel des Finanzausgleichs im Übrigen. Die schwindende Einwohnerzahl der kreisfreien Städte sei ferner nicht nur auf Wanderungsverluste zu Gunsten der Umlandgemeinden, sondern ebenso auf die demografische Entwicklung und auf Wanderungsverluste außerhalb des Bundeslandes zurückzuführen. Dass die abgewanderten Einwohner weiterhin Diensdeistungen der kommunalen Infrastruktur der kreisfreien Städte nutzten, rechtfertige die Regelung des § 10h FAG nicht. Diese Belastungen würden durch den beträchtlich ausgestatteten Vorwegabzug nach § 10e FAG abgefangen. Eine doppelte Dotierung nach § 10e FAG und durch die Berechnung der Einwohnerwerte nach § 12 Abs. 2 S. 2 FAG (gemeint wohl: § 10h Abs. 2 S. 2 FAG) verbiete sich jedenfalls. Schließlich vermöge der Hinweis auf die ursprünglich in Aussicht genommene Geltungsdauer des IFG nichts zur länderinternen Verteilung der Mittel beizutragen. Es handele sich allein um eine zeitliche Begrenzung der außerhalb der LVerfGE 14

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normalen Regelungsmechanismen der Finanzverfassung des Grundgesetzes gewährten Zuweisungen. Damit sei weder gesagt, ob den Kommunen überhaupt diese Mittel zur Verfügung gestellt werden sollten, noch auf welchem Verteilungsmaßstab dies beruhen solle. V. Das Landesverfassungsgericht hat dem Landtag Mecklenburg-Vorpommern und dem Städte- und Gemeindetag Mecklenburg-Vorpommern Gelegenheit zur Äußerung gegeben. B. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Nach Art. 53 Nr. 8 der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern (LV), § 11 Abs. 1 Nr. 10 des Gesetzes über das Landesverfassungsgericht MecklenburgA^orpommern (Landesverfassungsgerichtsgesetz — LVerfGG) entscheidet das Landesverfassungsgericht über Verfassungsbeschwerden von Gemeinden, Kreisen und Landschaftsverbänden wegen Verletzung des Rechts auf Selbstverwaltung nach Art. 72 bis 75 durch ein Landesgesetz. I. Die Beschwerdeführerinnen sind beteiligtenfähig. In Verfahren der kommunalen Verfassungsbeschwerde wird die Beteiligungsfähigkeit auch amtsangehöriger Gemeinden durch § 51 Abs. 2 LVerfGG abschließend bestimmt. Nach dieser Vorschrift können Gemeinden selbst Beschwerdeführer sein. § 127 Abs. 1 S. 6 der Kommunalverfassung für das Land Mecklenburg-Vorpommern (KV), nach dem eine amtsangehörige Gemeinde durch das Amt vertreten wird, wenn sie an einem gerichtlichen Verfahren beteiligt ist, findet im verfassungsgerichtlichen Verfahren keine Anwendung (lA^erfG M-V, Urt. v. 4.2.1999 - LVerfG 1/98 LVerfGE 10, 317, 320 £). II. Die Verfassungsbeschwerde gegen die angefochtene am 1.1.2002 in Kraft getretene Norm wurde am 31.12.2002 und damit rechtzeitig erhoben (§ 52 S. 1 LVerfGG). Sie ist auch ausreichend begründet worden (§ 53 LVerfGG). III. Die Beschwerdeführerinnen sind beschwerdebefugt. Sie machen geltend, durch § 10h Abs. 2 S. 2 FAG selbst, gegenwärtig und unmittelbar in ihren Rechten verletzt zu sein. Zwar ist für die kommunale Verfassungsbeschwerde ein entsprechendes Erfordernis in § 51 Abs. 2 LVerfGG - anders als bei der IndividualLVerfGE 14

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Verfassungsbeschwerde gem. § 51 Abs. 1 - nicht ausdrücklich genannt. § 51 Abs. 2 LVerfGG begrenzt indes lediglich den Prüfungsgegenstand, suspendiert aber nicht vom Erfordernis der Geltendmachung einer subjektiven Rechtsverletzung (LVerfG M-V, Urt. v. 4.2.1999, aaO). Die Begründung der Verfassungsbeschwerde genügt diesen Anforderungen. Das Recht auf kommunale Selbstverwaltung, verbunden mit der Garantie einer angemessenen Finanzausstattung, wird durch Art. 72 und 73 LV den Beschwerdeführerinnen eingeräumt. Sie können geltend machen, durch die angegriffene Regelung gegenwärtig nachteilig betroffen zu sein. In der Beschwerdebegründung ist nachvollziehbar dargelegt, dass die Beschwerdeführerinnen im Falle der Nichtigkeit von § 10h Abs. 2 S. 2 FAG höhere Zuweisungen für Infrastrukturinvestitionen beanspruchen könnten. Die Beschwerdeführerinnen sind auch unmittelbar durch die Regelung betroffen. Die Subsidiarität der kommunalen Verfassungsbeschwerde greift wegen deren Natur als ausschließliche Rechtssatzbeschwerde nur ein, wenn die beanstandete Norm noch einer Konkretisierung durch eine nachrangige Norm bedarf, gegen die ihrerseits die Verfassungsbeschwerde erhoben werden kann (BVerfG, Beschl. v. 15.10.1985 - 2 BvR 1808, 1809, 1810/82 BVerfGE 71, 25, 35 f; BVerfG, Beschl. v. 23.6.1987 - 2 BvR 826/83 - , BVerfGE 76, 107, 113; Renda/Klein Verfassungsprozessrecht, 2. Aufl. 2001, Rn. 697). Das ist hier nicht der Fall. Der Regelungsvorbehalt in § 10h Abs. 1 S. 3 FAG betrifft nur das Verfahren der Zuweisung von Infrastrukturinvestitionen. Deren Verteilung wird durch § 10h Abs. 1 S. 2, Abs. 2 FAG abschließend bestimmt. C. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist unbegründet. Die in § 10h Abs. 2 S. 2 FAG getroffene Regelung hält einer verfassungsrechtlichen Nachprüfung stand. Der Gesetzgeber war befugt, für die Berechnung der Zuweisungen für Infrastmkmrinvestitionen die zum 31.12.1995 fortgeschriebene Bevölkerungszahl als Verteilungsmaßstab zu bestimmen und damit einen statischen Schlüssel zu Grunde zu legen. I. Die angegriffene Vorschrift verstößt nicht gegen Art. 72 Abs. 1 S. 1 LV. Das Recht der Gemeinden auf Selbstverwaltung umfasst auch einen gegen das Land gerichteten Anspruch auf eine angemessene Finanzausstattung. Den Gemeinden muss dabei nicht nur hinsichtlich der Pflichtaufgaben eine genügende Finanzmasse zur Verfügung stehen. Sie müssen darüber hinaus auch in der Lage sein, ein Mindestmaß an freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben zu erledigen (NdsStGH, Urt. v. 25.11.1997 - StGH 14/95 - , DVB1. 1998, 185; BayVerfGH, Entsch. v. 27.2.1997 - Vf.l7-VII-94 - , BayVBl. 1997, 303; StGH Bad.-Württ., Urt. v. 10.11.1993 - GR 3/92 - , DVB1. 1994, 206; Dreier in: ders, Grundgesetz, LVerfGE 14

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Kommentar, 1998, Art. 28, Rn. 145). Dies gehört zum unantastbaren Kernbereich der kommunalen Selbstverwaltung (Henneke Öffentliches Finanzwesen, Finanzverfassung, 2. Aufl. 2000, Rn. 928). Verletzt ist die Finanzausstattungsgarantie, wenn einer sinnvollen Betätigung der Selbstverwaltung die finanzielle Grundlage entzogen und dadurch das Selbstverwaltungsrecht ausgehöhlt wird (NWVerfGH, Urt. v. 9.7.1998 - VerfGH 16/96 DVB1. 1998, 1280). Eine Verletzung dieser Garantie kann hier nicht festgestellt werden. Ob § 10h Abs. 2 S. 2 FAG mit Blick auf § 6 Abs. 1 Nr. 11 FAG auch das Finanzvolumen selbst betrifft oder lediglich — isoliert betrachtet - die Methode einer bestimmten \^erteilung der Mittel festschreibt, kann offen bleiben. Die Beschwerdeführerinnen haben nicht dargetan, dass sie auf Grund des seit dem Jahre 2002 geänderten Verteilungsmaßstabs nicht mehr in der Lage seien, ihren Pflichtigen oder freiwilligen Aufgaben nachzukommen. Vorgetragen ist in diesem Zusammenhang — und in der mündlichen Verhandlung haben die Beschwerdeführerinnen dies nicht weiter vertieft - lediglich ein Investitionsbedarf im Hinblick auf einzelne Vorhaben in Folge der Entwicklung ihrer Einwohnerzahl. Soweit es dabei zu punktuellen Verzögerungen der Investitionen kommt, stellt dies die angemessene Finanzausstattung der Beschwerdeführerinnen nicht in Frage. Auch sonst ist nichts dafür ersichtlich, dass die Finanzausstattung der Kommunen des Landes durch §§ 10h Abs. 2 S. 2; 6 Abs. 1 Nr. 11 FAG hinter den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 72 Abs. 1 S. 1 LV zurückbleibt. II. Die Vorschrift des § 10h Abs. 2 S. 2 FAG \Terstößt auch nicht gegen Art. 73 Abs. 2 LV. 1. Nach Art. 73 Abs. 2 LV stellt das Land im Wege des Finanzausgleichs die erforderlichen Mittel zur Verfügung, um die Leistungsfähigkeit steuerschwacher Gemeinden und Kreise zu sichern und eine unterschiedliche Belastung mit Ausgaben auszugleichen (vgl. zu Letzterem: Dreier in: ders., Grundgesetz, 1998, Art. 28, Rn. 148; Hoppe DVB1. 1992, 117, 119; Henneke Der Landkreis, 2002, 180, 220 ff). Bei der einfachgesetzlichen Ausgestaltung des kommunalen Finanzausgleichs hat der Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum. Das interkommunale Gleichbehandlungsgebot verbietet, bei der näheren Ausgestaltung des Finanzausgleichs bestimmte Gemeinden oder Gemeindeverbände sachwidrig zu benachteiligen oder zu bevorzugen. Diesen Grundsatz greift Art. 73 Abs. 2 LV auf und formt ihn näher aus, indem er die Sicherung der Leistungsfähigkeit steuerschwacher Gemeinden und Kreise und den Ausgleich unterschiedlicher Belastungen vorschreibt. Das Landesverfassungsgericht hat dabei nicht zu prüfen, ob der Gesetzgeber die bestmögliche und gerechteste Lösung gewählt hat. Der Gesetzgeber darf innerhalb der Grenzen des Art. 73 Abs. 2 LV auch ihm zweckmäßig LVerfGE 14

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Erscheinendes im Wege des Finanzausgleichs regeln. Ihm kommt insoweit ein Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zu, der gewahrt ist, wenn sich der Gesetzgeber auf eine nachvollziehbare und vertretbare Einschätzung stützt (BbgVerfG, Urt. v. 29.8.2002 - VfGBbg 34/01 LKV 2002, 573; NWVerfGH, Urt. v. 1.12.1998 - VerfGH 5/97 - DVB1. 1999, 391). 2. Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt die angegriffene Vorschrift. a) § 10h Abs. 2 S. 2 FAG setzt einen Maßstab für die Verteilung einer Teilmasse des Finanzausgleichs. Die Kriterien für die Verteilung der Zuweisungen sind jeweils unterschiedlich bestimmt. Maßgeblich ist für den Gesetzgeber durchgängig, aus der Aufgabe, die mit einer Zuweisung verfolgt wird, die Verteilungskriterien zu entnehmen. Das erhellt aus dem System des kommunalen Finanzausgleichs in Mecklenburg-Vorpommern. Im Zentrum des Finanzausgleichs stehen die Schlüsselzuweisungen an die Gemeinden (§ 7 FAG) und an die Landkreise (§ 8 FAG). Diese sollen die unterschiedliche Finanzkraft der Gemeinden und der Landkreise ausgleichen (§§ 7 Abs. 1 S. 1; 8 Abs. 1 S. 1 FAG). Die Höhe der Schlüsselzuweisungen bemisst sich gem. § 7 Abs. 2 FAG für jede kreisangehörige Gemeinde und kreisfreie Stadt nach ihrer Steuerkraft und nach ihrem auf die Einwohner errechneten Finanzbedarf. Für die Landkreise bemisst sich gem. § 8 Abs. 2 FAG die Höhe nach der Umlagekraft im Verhältnis zu den anderen Landkreisen und nach dem auf die Einwohner und die Gebietsfläche des Landkreises errechneten Finanzbedarf. Für die einwohnerbezogene Komponente kommt es nach § 12 Abs. 1 FAG bei den Gemeinden, kreisfreien Städten und Landkreisen jeweils auf die vom Statistischen Landesamt auf die zum 31.12. des vorvergangenen Jahres fortgeschriebenen Einwohnerzahlen an. In der Regelungstechnik des Finanzausgleichsgesetzes sind den das Zentrum des Finanzausgleichs bildenden Schlüsselzuweisungen in § 6 Abs. 1 FAG unter Angabe der jeweiligen Zwecke und Beträge die Zuweisungen vorangestellt, die vorweg von der Finanzausgleichsmasse bereitgestellt werden. Der nach den Zuweisungen verbleibende Teil der Finanzausgleichsmasse wird gem. § 6 Abs. 2 FAG für die Schlüsselzuweisungen verwendet, unter Aufteilung an die kreisangehörigen Gemeinden, die kreisfreien Städte und die Landkreise im dort genannten Verhältnis. Ferner werden nach § 6 Abs. 1 S. 2 FAG den nach Abs. 2 zu verteilenden Beträgen die nach Abs. 1 S. 1 bereitgestellten Mittel insoweit zugeführt, als sie für Zuwendungen nicht benötigt werden. Die in § 6 Abs. 1 Nrn. 1 bis 11 FAG aufgeführten elf Zwecke von Zuweisungen, die Art ihrer Ermittlung und die Maßstäbe für die Zuweisungen an die einzelnen Gebietskörperschaften sind in den \^orschriften, auf welche die Aufzählung bei jeder Nummer Bezug nimmt, geregelt, nämlich in den §§9 bis 10h und 16 FAG. Dabei ist nach § 10b Abs. 2 S. 1 FAG die Einwohnerzahl der Träger LVerfGE 14

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eines von zwei Verteilungskriterien bei den Zuweisungen für den öffentlichen Personennahverkehr. Bei den Zuweisungen für die Wahrnehmung der Aufgaben des übertragenen Wirkungskreises und der unteren staatlichen Verwaltungsbehörde ist die Einwohnerzahl neben anderen Maßstäben unmittelbar oder mittelbar mit maßgeblich (§ 10d Abs. 2, Abs. 3 S. 2, Abs. 4 S. 3 und 5, Abs. 5 S. 2 FAG). Bei den Zuweisungen für übergemeindliche Aufgaben bildet die Einwohnerzahl für einen Teil der Mittel den Verteilungsmaßstab (§ 10e Abs. 3 S. 2, Abs. 4 S. 2 FAG). Davon abgesehen, richtet sich - außer bei § 10h FAG - die Verteilung der Zuwendungen zu den in § 6 Abs. 1 S. 1 FAG aufgeführten Zwecken nach anderen Kriterien als demjenigen der Einwohnerzahl. b) Es trifft allerdings zu, dass kreisangehörige Gemeinden, kreisfreie Städte und Landkreise, deren Anteil an der Gesamtbevölkerungszahl des Landes Mecklenburg-Vorpommern nach dem 31.12.1995 gestiegen ist, bei Zugrundelegung der Regelung des § 10h Abs. 2 S. 2 FAG ungünstiger gestellt sind als bei einem Verteilungsmaßstab, der § 12 FAG entspricht. Die Regelung schreibt für die Verteilung der Zuweisungen für Infrastrukturinvestitionen an Gemeinden und Landkreisen, die nach dem Verhältnis der Einwohnerzahl erfolgt, die zum 31.12.1995 festgeschriebene Bevölkerungszahl fest. Der Gesetzgeber konnte sich bei der Festlegung dieses \^erteilungsmaßstabes für die Investitionszuweisungen ohne Verstoß gegen das interkommunale Gleichbehandlungsgebot auf eine nachvollziehbare und vertretbare Einschätzung stützen. aa) Das Landesverfassungsgericht verkennt nicht, dass bei der Verteilung der Verbundmasse durch Schlüsselzuweisungen die dynamisierte, den allgemeinen Finanzbedarf der Gemeinden zeitnah bestimmende Einwohnerzahl ein sachgerechtes Verteilungskriterium ist. Die Schlüsselzuweisungen bilden als den Gemeinden und Landkreisen ohne Zweckbindung gewährte Mittel, über die frei verfügt werden kann, das Kernelement eines jeden kommunalen Finanzausgleichs (Hubert Meyer Der kommunale Finanzausgleich in Mecklenburg-Vorpommern, 1999, S. 17). Die dynamisierte Einwohnerzahl spiegelt in der Regel den allgemeinen Finanzbedarf der Kommunen wirklichkeitsnah wider. Um die Verteilung einer Schlüsselzuweisung geht es hier jedoch nicht. Vielmehr handelt es sich um besonderen Finanzbedarf im Hinblick auf Infrastrukturinvestitionen. Es ist sachgerecht, für diesen den Verteilungsmaßstab danach auszurichten, welche Belastungen der Kommune damit auszugleichen sind. bb) Zwar sind Zweckzuweisungen — anders als Schlüsselzuweisungen — aufgabenbezogene Leistungen. Sie knüpfen an einen vorhandenen strukturellen Sonderbedarf an. Mit Zweckzuweisungen sollen grundsätzlich Kosten für schon materiell vorbestimmte Aufgaben erstattet werden (vgl. Kirchhof in: Kirchhof/ Meyer, Kommunaler Finanzausgleich im Flächenbundesland, 1996, S. 151 f). Die Zweckbezogenheit ist im Bereich pauschalierter kommunaler Investitionszuweisungen aber gelockert. Derartige Zuweisungen sind nur noch im Sinne eines RahLVerfGE 14

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mens zweckbezogen, beziehen sich aber nicht mehr auf ein konkretes Objekt oder bestimmtes Vorhaben. Mit der Pauschalierung der Zuweisungen wird die Möglichkeit der Einflussnahme der zuweisenden Gebietskörperschaft verengt und die Autonomie der betreffenden Kommune erweitert (vgl. Kertzsch/Schieren VerwArch 87, 1996, 618). Es obliegt der alleinigen Entscheidung der Kommune, für welche konkrete Investition sie die Mittel aus der Zuweisung einsetzt. cc) Unter Berücksichtigung der historischen Situation erscheint es nicht sachwidrig, bei der Berechnung der Zuweisungen für Infrastrukturinvestitionen gem. § 10h Abs. 2 S. 2 FAG die zum 31.12.1995 festgeschriebene - und nicht die jeweils aktualisierte — Bevölkerungszahl als Verteilungsmaßstab zu bestimmen. Ein Verteilungsmaßstab, der sich daran orientiert, in welchem Umfang jeweils vor Ort Ausgaben zur Erfüllung einer Aufgabe anfallen, ist sachgerecht. Insbesondere durfte der Gesetzgeber an das Jahr 1995 anknüpfen, einem Zeitpunkt, der noch eine zeitliche Nähe zum Regelungsanlass in sich aufnimmt. Dieser bestand darin, Infrastrukturvorhaben, die zum Ausgleich unterschiedlicher Wirtschaftskraft und zur Förderung des wirtschaftlichen Wachstums im Zuge der Flerstellung der Einheit Deutschlands geboten oder angezeigt waren, zu ermöglichen oder zu erleichtern. Die in § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 11 FAG ausgewiesenen Mittel hat der Bund dem Land für diese Aufgaben zur Verfügung gestellt. Die Ausstattung der Gemeinden und Landkreise mit finanziellen Mitteln für kommunale Infrastrukturinvestitionen erfolgte bis Ende 2001 aus dem Kommunalen Investitionsprogramm des Landes. Dieses Programm wurde aus Mitteln des Investitionsförderungsgesetzes Aufbau Ost vom 23.6.1993 (BGBl. I S. 944, 982) finanziert. Nach § 1 IFG sollten die Finanzhilfen für besonders bedeutsame Investitionen für die Dauer von zehn Jahren ab dem Jahr 1995 gewährt werden. Mit dem Solidarpaktfortführungsgesetz (SFG) vom 20.12.2001 (BGBl. I S. 3955) wurde das IFG geändert und die Dauer der Gewährung der Finanzhilfen auf insgesamt sieben Jahre beschränkt. Die Finanzhilfen liefen mithin zum 31.12.2001 aus. Zum Ausgleich erhöhte der Bund durch Änderung von § 11 Abs. 4 seines Finanzausgleichsgesetzes zugleich die Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen für die Länder im Beitrittsgebiet. Das Land stellte daraufhin das Kommunale Investitionsprogramm ein und regelte durch Art. 3 des Haushaltsrechtsgesetzes 2002/2003 die Förderung der kommunalen Investitionen neu. Mit der Neuregelung war ein Wechsel des Regelungssystems verbunden. Die Förderung kommunaler Investitionen durch das Kommunale Investitionsprogramm stellte sich bis dahin als Subventionsgewährung dar. Seit 2002 erfolgt die Förderung im Rahmen des kommunalen Finanzausgleichs. In § 3 IFG werden unter anderem Umweltschutz, Energieversorgung, Trinkwasserversorgung, Verkehr, Erschließung und Sanierung von Industrie- und Gewerbeflächen, Fremdenverkehr, Wohnungsbauförderung, Städtebauförderung, Aus- und Weiterbildung, Förderung von Forschung und Wissenschaft, Aufbau und Erneuerung von sozialen Einrichtungen und Feuerwehrhäuser beispielhaft als LVerfGE 14

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Felder genannt, in denen ein investiver Nachholbedarf besteht. Dem entspricht Ziffer 2.1. der Richtlinie des Innenministeriums zur Förderung kommunaler Investitionen vom 2.3.1999 (AmtsBl. M-V S. 238). Der Aufbauprozess in diesen Gebieten muss auch bei sinkenden Einwohnerzahlen zu Ende geführt werden, etwa bei der Herstellung von Versorgungseinrichtungen oder der Stadt- und Dorferneuerung. Deshalb ist es nicht sachfremd, dass der Gesetzgeber für die Verteilung der dafür erforderlichen Mittel einen typisierten Maßstab in Gestalt der Einwohnerzahl 1995 gewählt hat. Dieser Maßstab wird der Aufgabe, für welche die Mittel verwendet werden, gerecht. Nicht allgemein zu entscheiden ist hier, welche Folgerungen daraus zu ziehen sind, dass der Bedarf an öffentlichen Investitionen der Bevölkerungsentwicklung in nur verzögerter Weise nachfolgt. Zwar stehen Einwohnerzahl und Investitionsbedarf in einem Zusammenhang. Jedoch hat der Wegzug von Einwohnern nicht zur Folge, dass der Investitionsbedarf im kommunalen Bereich sofort abnimmt (vgl. Henneke und Matschke Diskussionsbeiträge, in: Wallerath (Hrsg.), Kommunale Finanzen im Bundesstaat, 2003, S. 115 f). Der fehlende Zusammenhang zwischen einem konkreten Kostenaufwand für ein bestimmtes Objekt oder Vorhaben und der Höhe der Zuweisung der Investitionspauschale rechtfertigt es, den Verteilungsmaßstab nicht allein an einem konkret vorhandenen, sondern an einem pauschaliert bestimmten anlassbezogenen Investitionsbedarf zu messen. Es bestehen keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken dagegen, dass der Gesetzgeber zur Erreichung des in § 10h FAG verfolgten Regelungsziels auf eine statische Einwohnerzahl zurückgegriffen und damit von jüngeren Wanderungsbewegungen abstrahiert hat. Der Gesetzgeber durfte in diesem Zusammenhang berücksichtigen, dass der Wegzug der Bevölkerung auch auf Umständen beruht, auf die die einzelnen Kommunen keinen Einfluss haben. Umgekehrt durfte auch gewürdigt werden, dass es wachsende Gemeinden in der Regel selbst in der Hand haben, in einem allmählichen Anpassungsprozess in freie Kapazitäten hineinzuwachsen (vgl. Matscbke aaO, S. 116). Zudem haben die durch § 10h Abs. 2 S. 2 FAG benachteiligten Gemeinden und Landkreise auf der anderen Seite in Folge der Bevölkerungsentwicklung steigende Einnahmen aus der Einkommen- und Gewerbesteuer sowie aus den Schlüsselzuweisungen. 3. Die Beschwerdeführerinnen können sich nicht mit Erfolg auf schutzwürdiges Vertrauen berufen. § 10h Abs. 2 S. 2 FAG ist nicht deshalb verfassungswidrig, weil sich der Rechtszustand, der bis zum 31.12.2001 bestanden hat, für die Zukunft zu ihrem Nachteil verändert hat. Nach Ziffer 1.5 der Richtlinie des Innenministeriums zur Förderung kommunaler Investitionen vom 2.3.1999 (AmtsBl. M-V S. 238) verteilte das Land die Finanzhilfen des Kommunalen Investitionsprogramms auf der Basis der Einwohnerzahlen vom 31.12. des vorvergangenen Jahres auf die kreisfreien Städte und Landkreise. Entsprechendes bestimmte Ziffer 1.5 der Richtlinie des Innenministeriums zur Förderung kommunaler Investitionen vom 1.1.1995 (AmtsBl. M-V S. LVerfGE 14

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330). Zwar handelte es sich bei diesen Vorschriften um Normen des Innenrechts, denen eine unmittelbare Rechts Wirkung nach außen nicht zukam. Es gibt jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass in der Verwaltungspraxis anders verfahren worden ist. Die Beschwerdefuhrerinnen haben einen Vertrauenstatbestand selbst nicht dargelegt. Sie tragen nicht vor, dass die Kommunen im Vertrauen auf den Fortbestand des Verteilungsmaßstabes aus den genannten Förderrichtlinien vor 2002 bestimmte Investitionen begonnen hätten, deren Finanzierung durch die Neuregelung in Frage gestellt worden wäre. 4. Der Einwand, die Besserstellung der kreisfreien Städte führe wegen der zusätzlichen Zuweisung nach § 10e FAG zu einer Doppeldotierung des mit der Wahrnehmung zentralörtlicher Funktionen verbundenen Aufwandes, greift nicht durch. Die Zweckzuweisung des § 10e FAG betrifft in erster Linie die Abdeckung laufender Unterhaltungskosten bestehender Einrichtungen. Die Vorschrift hat die Deckung der Aufwendungen für zentralörtliche Aufgaben zum Gegenstand und knüpft damit - anders als § 10h FAG — an bestimmte Aufgaben an. Sie berücksichtigt die besondere funktionale Bedeutung der zentralen Orte für das Umland. Die Zuweisung des § 10h FAG regelt dagegen, wie ausgeführt, in einer begrenzten Offenheit den Finanzierungsaufwand für noch zu schaffende oder zu erneuernde Einrichtungen oder für sonstige kommunale Investitionen von infrastruktureller Bedeutung. Beide Ansätze mögen sich überschneiden (vgl. § 10h Abs. 3 FAG einerseits und §§ 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 7; 10e FAG andererseits), wie dies auch im Verhältnis zu anderen Zweckzuweisungen der Fall ist (s. §§ 10 Abs. 1; 16 FAG). Etwaige Kumulationseffekte halten sich jedoch in deutlichen Grenzen. Sie folgen verschiedenen, sich teilweise überschneidenden Bedarfslagen und beruhen dementsprechend auf unterschiedlichen, jeweils plausiblen Verteilungsmaßstäben. 5. Bei der \^erteilung der Zweckzuweisungen für kommunale Infrastrukturinvestitionen ist der entsprechende Bedarf auf Seiten der Empfänger im Blick zu behalten. Die Einführung eines festgeschriebenen Einwohnerschlüssels für die Berechnung der Höhe der Zuweisungen für Infrastrukturinvestitionen ist nur für eine Ubergangszeit sachgerecht. Der Gesetzgeber wird deshalb zukünftig gehalten sein, im Wege der zeitnahen Schätzung zu überprüfen, ob die Voraussetzungen für eine Fortsetzung der pauschalierten Zuweisung nach dem Maßstab des § 10h Abs. 2 S. 2 FAG weiterhin vorliegen. D. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 32 Abs. 1; 33 Abs. 2 LVerfGG.

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Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes des Saarlandes

Die amtierenden und stellvertretenden Richterinnen und Richter des Verfassungsgerichtshofes des Saarlandes Prof. Dr. Roland Rixecker, Präsident (Prof. Dr. Heike Jung) Prof. Dr. Elmar Wadle, Vizepräsident (Nikolaus Weber) Otto Dietz (Dieter Knicker) Prof. Dr. Günter Ellscheid (Barbara Beckmann-Roh) Monika Hermanns (Steffen Dick-Küstenmacher) Günther Schwarz (Rainer Hoffmann) Hans-Georg Warken (Heidrun Quack) Prof. Dr. Rudolf Wendt (Gerhard Krämer)

Parlamentarischer Untersuchungsausschuss: Beiziehung eines Rechtsbeistandes 311

Nr. 1 Art. 14 Abs. 3 der Verfassung des Saarlandes garantiert jedermann, sich als Betroffener des Verfahrens eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses vor dem Untersuchungsausschuss eines Rechtsbeistands zur Wahrnehmung seiner Verfahrensrechte zu bedienen. Verfassung des Saarlandes Art. 14 Abs. 3 Gesetz über den Landtag des Saarlandes §§ 54; 57 Gesetz über den Verfassungsgerichtshof des Saarlandes § 55 B e s c h l u s s v o m 2. April 2003 - Lv 6/02 in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren des Herrn Professor Dr. Peter Bähr, Rotenbühlerweg 72, 66123 Saarbrücken — Beschwerdeführer — Verfahrensbevollmächtigte: Rechtsanwälte Prof. Dr. Egon Müller und Kollegen, Saarbrücken Beteiligte: 1. 2.

3.

Landtag des Saarlandes, Franz-Josef-Röder-Straße 7, 66119 Saarbrücken, vertreten durch seinen Präsidenten, Herrn Hans Ley Untersuchungsausschuss des Landtags des Saarlandes „Nachteile für den Gebührenzahler seit 1992 durch vertragliche Gestaltungen zwischen dem KABV/EVS bzw. seinen Tochter- und Beteiligungsunternehmen durch Verträge mit Dritten und Verantwortlichkeiten hierzu — „Bähr-Untersuchungsausschuss", vertreten durch seinen Vorsitzenden, Herrn Alfons Vogtel, Franz-Josef-Röder-Straße 7, 66119 Saarbrücken Ministerium der Justiz des Saarlandes, vertreten durch die Ministerin, Frau Ingeborg Spoerhase-Eisel, Zähringerstraße 12, 66119 Saarbrücken Entscheidungsformel:

1. Der Beschluss des Verfahrensbeteiligten zu 2), verkündet in seiner Sitzung vom 20.11.2002, durch den der Antrag des Beschwerdeführers abgelehnt worden ist, ihm zu gestatten, Rechtsanwalt Prof. Dr. Egon Müller für das gesamte Untersuchungsausschussverfahren als Beistand beizuziehen, der Beschluss des Verwaltungsgerichts des Saarlandes vom 27.11.2002 (11 F 44/02) und der Beschluss des LVerfGE 14

Verfassungsgerichtshof des Saarlandes

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Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes vom 2.12.2002 (1 W 35/02) verletzen das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Artikel 14 Abs. 3 SVerf und werden aufgehoben. 2. Die Vorschriften des § 54 Abs. 3 S. 5 und 6 des Gesetzes Nr. 970 über den Landtag des Saarlandes sind nichtig, soweit sie sich auf in der Bundesrepublik Deutschland zugelassene Rechtsanwälte beziehen, deren sich Betroffene im Verfahren parlamentarischer Untersuchungsausschüsse als Rechtsbeistand bedienen wollen. 3. Die volle Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers aus der Landeskasse wird angeordnet. 4. Der Gegenstandswert wird auf 10.000 € festgesetzt. Gründe: I. Der Landtag des Saarlandes (Beteiligter zu 1)) hat in seiner Plenarsitzung vom 27.2.2002 beschlossen, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, der sich mit dem Verdacht von Missständen und Fehlentwicklungen bei dem Entsorgungsverband Saar, dem öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger zur Erfüllung der Aufgaben der überörtlichen Abfallentsorgung nach dem Saarländischen Abfallwirtschaftsgesetz, befassen soll. Der Untersuchungsausschuss trägt die Bezeichnung, wie sie in dem Rubrum der vorliegenden Entscheidung zur Bezeichnung des Beteiligten zu 2) wiedergegeben ist. In seiner Sitzung vom 11.9.2002 hat der Beteiligte zu 2) die Feststellung getroffen, dass der Beschwerdeführer Betroffener iSd § 54 Abs. 2 LTG ist. In der Sitzung vom 20.11.2002 stellte der Beschwerdeführer den Antrag, ihm zu gestatten, Rechtsanwalt Prof. Dr. Egon Müller für das gesamte Verfahren als Beistand beizuziehen. Der Ausschuss gab nach nichtöffentlicher Beratung (§ 45 LTG) die einstimmige Entscheidung bekannt, dass der Antrag abgelehnt werde. Zur Begründung wurde darauf hingewiesen, dass § 54 LTG kein Beistandsrecht vorsehe und die Beiziehung nicht erforderlich sei, weil der Antragsteller selbst Juraprofessor sei. Prof. Dr. Müller, der in der Mitte des Sitzungssaales neben dem Beschwerdeführer Platz genommen hatte, wurde gebeten, sich in die Zuschauerreihen zu begeben. § 54 Abs. 3 und 4 des Gesetzes über den Landtag des Saarlandes (LTG) haben folgenden Wortlaut: „(3) Dem Betroffenen soll Gelegenheit gegeben werden, zeitlich vor den Zeugen eine zusammenhängende Sachdarstellung zu geben. Seine Aussagepflicht und sein Aussageverweigerungsrecht entsprechen denen des Zeugen im Strafverfahren. Er hat ein Beweisantrags- und Fragerecht und das Recht der Anwesenheit bei der Beweisaufnahme. Er wird nicht vereidigt. Er hat kein Beistandsrecht; auf seinen Antrag kann ihm der Ausschuss für das gesamte Verfahren oder für einzelne Sitzungen die Beiziehung eines Beistandes gestatten, wenn die Beiziehung LVerfGE 14

Parlamentarischer Untersuchungsausschuss: Beiziehung eines Rechtsbeistandes 313 zum Schutze berechtigter Interessen des Betroffenen erforderlich erscheint. Der Beistand hat kein Rederecht. Der Betroffene und der Beistand sind von der nicht öffentlichen Beweisaufnahme auszuschließen, wenn Gründe der Staatssicherheit ihrer Anwesenheit entgegenstehen oder wenn dies zur Erlangung einer wahrheitsgemäßen Aussage erforderlich erscheint. Der Vorsitzende hat den Betroffenen jedoch, sobald er wieder vorgelassen ist, von dem wesentlichen Inhalt dessen zu unterrichten, was während seiner Abwesenheit ausgesagt oder sonst verhandelt worden ist, soweit nicht Gründe der Staatssicherheit dem entgegenstehen. (4) Ergibt sich erst im Verlauf der Untersuchung, dass jemand Betroffener ist, so sind vor der Beschlussfassung liegende Untersuchungshandlungen, die in Abwesenheit des Betroffenen durchgeführt worden sind, sowie die Vernehmung des Betroffenen als Zeugen nicht deshalb unwirksam. Der Betroffene ist jedoch über alle zurückliegenden Untersuchungshandlungen und deren Ergebnisse in gedrängter Form zu unterrichten, soweit sie sich auf ihn beziehen und Gründe der Staatssicherheit dem nicht entgegenstehen. Ihm ist Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben."

Der Beschwerdeführer ist der Ansicht, ihm stehe als Betroffenem aufgrund der Verfassung des Saarlandes das Recht zu, sich im Verfahren des Untersuchungsausschusses eines Rechtsbeistands zu bedienen. Sein darauf gerichtetes Begehren um einstweiligen Rechtsschutz nach § 123 VwGO blieb vor VG und OVG des Saarlandes erfolglos. Das OVG verneinte einen Anordnungsanspruch mit der Begründung, die Vorschrift des § 54 Abs. 3 S. 5 LTG sei verfassungsgemäß. Es sei auch nicht zu beanstanden, dass der Ausschuss von der Möglichkeit, ausnahmsweise einen Rechtsbeistand zuzulassen, keinen Gebrauch gemacht habe. Tatsächlich bedürfe der Beschwerdeführer keines Beistands. Er sei selbst in der Lage, seine berechtigten Interessen wahrzunehmen, da er im Verwaltungsrecht promoviert, im Zivilprozessrecht sich habilitiert habe, des Öfteren als Prozessbevollmächtigter vor den Verwaltungsgerichten aufgetreten sei, über langjährige Verwaltungserfahrung verfüge und mit der Materie, die den Gegenstand der parlamentarischen Untersuchung bilde, bestens vertraut sei. Gegen den Beschluss des Beteiligten zu 2) und gegen die Beschlüsse des VG und des OVG wendet sich der Beschwerdeführer mit seiner Verfassungsbeschwerde. Er stützt sie auf vier Grundrechte, die sich seiner Meinung nach aus der Saarländischen Verfassung ergeben. Zum einen macht er geltend, er sei durch die angegriffenen Akte saarländischer Staatsgewalt in seinem Grundrecht auf ein faires und rechtsstaatliches Verfahren verletzt, und leitet dieses Grundrecht aus Art. 1 S. 1; 2 S. 1 lVm Art. 60 Abs. 1; 61 Abs. 2 SVerf ab. Des Weiteren sei er in seinem aus Art. 1 S. 1; 2 S. 1 SVerf folgenden Grundrecht auf rechtliches Gehör verletzt. Beide Grundrechte seien dadurch unzulässig eingeengt worden, dass es ihm verwehrt worden sei, sich als Betroffener in dem Untersuchungsausschussverfahren eines Rechtsbeistands zu bedienen. Damit sei auch das Grundrecht aus Art. 14 Abs. 3 SVerf verletzt, wonach jedermann in einem Verfahren vor einer Behörde das Recht habe, einen Rechtsbeistand zuzuziehen. Schließlich sei er in seinem Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 12 Abs. 1 SVerf) verletzt, weil LVerfGE 14

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ihm die Beiziehung des Rechtsanwalts Prof. Dr. Egon Müller als Beistand mit der Begründung verweigert worden sei, in Anbetracht seiner juristischen Qualifikation benötige er einen solchen Beistand nicht. Der Beschwerdeführer beantragt, den Beschluss des Verwaltungsgerichts des Saarlandes vom 27.11.2002 (11 F 44/02) und den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes v o m 2.12.2002 (1 W 35/02) aufzuheben und festzustellen, dass die in der Sitzung v o m 20.11.2002 von dem Beteiligten zu 2) ausgesprochene Ablehnung des unter demselben Datum von ihm gestellten Antrags, ihm gemäß § 54 Abs. 3 S. 5 Halbsatz 2 LTG für das gesamte Verfahren die Beiziehung von Rechtsanwalt Prof. Dr. Egon Müller als Beistand zu gestatten, seine Grundrechte aus Art. 1 S. 1; 2 S. 1 iVm Art. 60 Abs. 1; 61 Abs. 2 SVerf sowie aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 3 SVerf verletzt.

Der Beteiligte zu 2) vertritt die Auffassung, § 54 Abs. 3 S. 5 LTG sei verfassungsgemäß. Er verstoße insbesondere nicht gegen Art. 14 Abs. 3 SVerf. Es sei zweifelhaft, ob ein Untersuchungsausschuss als Behörde iSd Art. 14 Abs. 3 SVerf bezeichnet werden könne. Werde dies bejaht, so ergebe sich die Zulässigkeit von § 54 Abs. 3 S. 5 LTG daraus, dass Art. 14 Abs. 3 das Recht, sich in einem Verfahren vor einer Behörde eines Rechtsbeistandes zu bedienen, nur grundsätzlich gewähre. Der \ 7 erfassunggeber habe parlamentarische L T ntersuchungsausschüssc nicht im Auge gehabt, sondern nur solche Stellen, die zwar keine Gerichte im üblichen Sinne gewesen seien, aber Entscheidungen gefällt hätten, die in ihren Konsequenzen einer Verurteilung im Strafprozess gleichgekommen seien. Dafür spreche auch die systematische Stellung innerhalb des Art. 14 SVerf. Das Verfahren parlamentarischer Untersuchungsausschüsse habe keine unmittelbaren Wirkungen gegenüber den von ihm Betroffenen. Die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse seien im Rahmen der Beratungen über den Art. 14 Abs. 3 SVerf nicht erwähnt worden. Bei der Neuberatung des Art. 14 Abs. 3 SVerf durch die Kommission für Verfassungsfragen (1976 — 1980) sei die Anwendbarkeit der Norm auf Untersuchungsausschüsse ebenfalls nicht diskutiert worden. II. Die \^erfassungsbeschwerde ist zulässig (A) und begründet (B). A. 1. Die Verfassungsbeschwerde ist nach § 55 Abs. 1 VerfGHG an sich statthaft. Der Beschwerdeführer wendet sich gegen Akte saarländischer öffentlicher Gewalt, nämlich zum einen dagegen, dass der im Rubrum dieses Beschlusses aufgeführte parlamentarische Untersuchungsausschuss in seiner Sitzung vom 20.11.2002 seinen Antrag, ihm gem. § 54 Abs. 3 S. 5 HS. 2 LTG für das gesamte Verfahren die Beiziehung von Rechtsanwalt Prof. Dr. Egon Müller als Beistand zu gestatten, abgelehnt hat, zum anderen dagegen, dass VG und OVG dem LVerfGE 14

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Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung dahin, ihm die Beiziehung eines Rechtsbeistandes zu gestatten, abgelehnt haben. Er macht geltend, dadurch in durch die Verfassung des Saarlandes gewährleisteten Grundrechten verletzt zu sein. Die Verfassungsbeschwerde ist formell korrekt durch einen bei einem deutschen Gericht zugelassenen Rechtsanwalt innerhalb der in § 56 Abs. 1 VerfGHG vorgesehenen Frist von einem Monat ab der Bekanntgabe der Entscheidung eingelegt worden, nämlich am 16.12.2002. 2. Die Verfassungsbeschwerde ist nicht deshalb unzulässig, weil der Rechtsweg iSd § 55 Abs. 3 S. 1 VerfGHG nicht erschöpft ist. Allerdings fehlt es an einer Erschöpfung des Rechtsweges, da der Beschwerdeführer zwar den für den einstweiligen Rechtsschutz gem. § 123 A'erwGO vorgesehenen Rechtszug (ohne Erfolg) genutzt, jedoch das Hauptsacheverfahren vor den Verwaltungsgerichten nicht durchgeführt hat. Ein Rechtsweg ist auch dann nicht erschöpft, wenn er überhaupt nicht beschritten wird. Besteht oder bestand die Möglichkeit der Klage vor dem Verwaltungsgericht, was vorliegend zu bejahen ist, und ist diese nicht erhoben worden, so wird dieser Rechtsweg nicht erschöpft. Grundsätzlich geht der Verfassungsgerichtshof davon aus, dass dies nicht ersetzt werden kann durch die Erschöpfung des Rechtswegs im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes in derselben Sache (anders, trotz Bedenken, noch der Verfassungsgerichtshof in seiner Entscheidung v. 2.5.1983 — Lv 2-4/82 —, NVwZ 83, 604; Abschnitt Β IV, im Anschluss an Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts). Die Subsidiaritätsklausel des § 55 Abs. 3 S. 1 VerfGHG besagt eindeutig, dass die Landesverfassungsbeschwerde, sofern nicht die Ausnahme des Satzes 2 dieser Vorschrift eingreift, nur dann zulässig ist, wenn sie — von der Bundesverfassungsbeschwerde abgesehen — für den Beschwerdeführer die einzige verbleibende Möglichkeit ist oder war, seine Grundrechte durchzusetzen. Eine solche Möglichkeit lässt sich normalerweise nicht verneinen, wenn die Durchführung des Hauptsacheverfahrens bei dem zuständigen Fachgericht, in welchem der begehrte Rechtsschutz möglich ist oder war, nicht beschritten worden ist. Ausnahmsweise kann es der Erschöpfung des Rechtsweges zwar gleichstehen, wenn im fachgerichtlichen Verfahien die Möglichkeiten des einstweiligen Rechtsschutzes ausgeschöpft sind, das Beschwerdegericht in der Begründung seiner Entscheidung aufgrund tatsächlicher Feststellungen, die sich voraussichtlich nicht ändern werden, negativ zum Begehren in der Hauptsache Stellung genommen hat und auch aus anderen Gründen nicht mit einer für den Beschwerdeführer günstigen Entscheidung im Flauptsacheverfahren gerechnet werden kann, so dass die Verweisung auf den Klageweg — auch im Hinblick darauf, dass einstweiliger Rechtsschutz nur noch im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erhalten ist unzumutbar erscheint (VerfGH, Beschl. v. 10.1.2003 in dieser Sache). Vorliegend hat das OVG indessen bisher nicht zu der Frage Stellung genommen, ob Art. 14 Abs. 3 SVerf auf das Verfahren des parlamentarischen Untersuchungsausschusses anwendbar ist. Es ist deshalb nicht mit der nötigen Sicherheit zu erkennen, wie die LVerfGE 14

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Stellungnahme des OVG zu dieser das Endergebnis möglicherweise beeinflussenden Frage in der Hauptsache ausfallen würde. Diese Problematik bedarf indessen keiner \ T ertiefung, weil der Verfassungsgerichtshof es für angemessen hält, gem. § 54 Abs. 3 S. 2 VerfGHG zu verfahren. Nach dieser Vorschrift kann der Verfassungsgerichtshof über eine vor Erschöpfung des Rechtsweges eingelegte Verfassungsbeschwerde sofort entscheiden und davon absehen, den Beschwerdeführer zunächst auf den Rechtsweg zu verweisen, wenn diesem dann ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entstünde (a), oder wenn die Verfassungsbeschwerde von allgemeiner Bedeutung ist (b). Beide Voraussetzungen sind gegeben. a) Ohne die sofortige Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs würde dem Beschwerdeführer ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entstehen. Der Beteiligte zu 2) würde sein Verfahren fortsetzen, ohne dem Beschwerdeführer zu gestatten, einen Beistand zuzuziehen. Damit träte eine Grundrechtsverletzung in der Person des Beschwerdeführers ein, die unabwendbar wäre, weil bis zum Abschluss eines verwaltungsgerichtlichen Hauptsacheverfahrens ein Beistand nicht zugelassen wäre, obwohl in dieser Zeit mit weiteren wichtigen Untersuchungshandlungen des Ausschusses gerechnet werden müsste. Dieser Nachteil wäre als schwer zu beurteilen. Dies hat der Verfassungsgerichtshof in der einstweiligen Anordnung vom 10.1.2003, die den Verfahrensbeteiligten bekannt ist, im Einzelnen ausgeführt (vgl. Abschnitt II A 2 a). Darauf wird verwiesen. b) Die sofortige Entscheidung ist aber auch deshalb angebracht, weil die Verfassungsbeschwerde von allgemeiner Bedeutung ist. Sie führt zu einer Änderung der Verfahrensordnung für die vom Landtag des Saarlandes eingesetzten Untersuchungsausschüsse und hat damit über den Einzelfall des Beschwerdeführers hinaus Bedeutung für alle Betroffenen in einem Untersuchungsausschussverfahren. c) Die Möglichkeit, nach § 55 Abs. 3 S. 2 VerfGHG sofort über die Verfassungsbeschwerde zu entscheiden, ist auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil durch den darin liegenden Verzicht auf die Erschöpfung des Rechtsweges in die Zuständigkeit des Bundes aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG, das gerichtliche Verfahren zu regeln, unzulässig eingegriffen würde. Hinsichtlich der Frage, ob und inwieweit ein Landesverfassungsgericht die Anwendung von gerichtlichem Verfahrensrecht des Bundes durch Gerichte des Landes an den Grundrechten der Landesverfassung messen kann, hat allerdings das Bundesverfassungsgericht unmittelbar aus dem Grundgesetz die Regel entwickelt, dass eine Verfassungsbeschwerde zum Landesverfassungsgericht nur insoweit zulässig sei, als der Beschwerdeführer einen von den Verfahrensordnungen des Bundes eröffneten Rechtsweg ordnungsgemäß erschöpft hat, und dass für eine an Erwägungen der Unzumutbarkeit ausgerichtete Ausnahmeregelung hierzu nur ein eng bemessener Spielraum gegeben sei. So müsse die Ausnahmeregelung des § 27 Abs. 2 S. 2 des Sächsischen LVerfGE 14

Parlamentarischer Untersuchungsausschuss: Beiziehung eines Rechtsbeistandes 317 Verfassungsgerichtshofsgesetzes, die inhaltlich mit § 55 Abs. 3 S. 2 des Saarländischen VerfGHG übereinstimmt, im Blick auf die durch Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG begrenzte Kompetenz des Landesgesetzgebers eng ausgelegt werden (BVerfGE 96, 345 = NJW 1998, 1296, 1300 Sp. 2). Mit Recht wird der Kern dieser Entscheidung als „ein Sonderregime für die landesverfassungsgerichtliche Uberprüfung der Anwendung von Bundesverfahrensrecht" angesehen (Dreier in: ders., GG, Kommentar, Art. 142 Rn. 83). Die Entscheidung kann demnach nicht unmittelbar auf den vorliegenden Fall bezogen werden, da die Verfassungsbeschwerde sich nicht gegen die Anwendung von Verfahrensrecht des Bundes richtet. Man könnte aber in Erwägung ziehen, den vom Bundesverfassungsgericht aus dem Grundgesetz unmittelbar entwickelten Subsidiaritätsgrundsatz für Landesverfassungsbeschwerden auf alle Fälle auszudehnen, in denen Gerichte eines Landes Bundesrecht nicht gerichtsverfahrensrechtlicher Art angewendet haben; es liegt nahe, die Gründe, die das Bundesverfassungsgericht veranlasst haben, die landesverfassungsrechtliche Uberprüfung der Anwendung von Bundesverfahrcnsrecht anhand der Grundrechte der Landesverfassung in besonders strenger Weise an die Erschöpfung des fachgerichtlichen Rechtsweges und eine enge Auslegung der Ausnahmeklauseln hierzu zu binden, als übertragbar auf alle Fälle anzusehen, in denen die Gerichte des Landes sonstiges Bundesrecht angewendet haben. Aber auch ein in diesem Sinne erweiterter Subsidiaritätsgrundsatz für Landesverfassungsbeschwerden würde den Verfassungsgerichtshof nicht hindern, die Vereinbarkeit des Beschlusses des Beteiligten zu 2) vom 20.10.2002 und der Beschlüsse der Verwaltungsgerichte mit den Grundrechten aus der Landesverfassung zu überprüfen. Geht es darum, dass lediglich die Ausübung hoheitlicher Gewalt des Landes aufgrund Landesrechts zu überprüfen ist, so haben die Gerichte des Landes die Landesgrundrechte in vollem Umfang, auch soweit sie den Schutzbereich der Bundesgrundrechte übersteigen, zur Geltung zu bringen (in diesem Sinne auch Dreier aaO, Rn. 51), eventuell durch Vorlage der Sache an das Landesverfassungsgericht (Art. 100 Abs. 1 S. 1 Altern. 1, Art. 97 Nr. 3 SVerf, ξ 47 Abs. 1 VerfGHG). Die Länder haben die grundgesetzlich garantierte Kompetenz, Landesverfassungsgerichte einzurichten; deren Aufgabe ist es unzweifelhaft, Landesrecht und dessen Anwendung anhand der Landesverfassung zu überprüfen. Dies muss auch gelten, wenn ein Bundesgericht im fachgerichtlichen Rechtszug eine Entscheidung zur Sache getroffen hat; denn diese Entscheidung darf, wie z.B. § 137 VwGO zeigt, nicht zu einer Nachprüfung der Anwendung von einfachem Landesrecht am Maßstab von Landesverfassungsrecht führen, kann die Möglichkeit einer solchen Prüfung durch das Landesverfassungsgericht aber auch nicht beseitigen. In diese Kompetenz würde unzulässig eingegriffen, wenn das aus dem Grundgesetz abgeleitete Verfassungsprinzip der Subsidiarität der Landesverfassungsbeschwerde auch auf die Kontrolle von Landesrecht und seine Anwendung ausgedehnt würde, mit der Folge, dass Ausnahmen von dem landesrechtlich

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festgelegten Grundsatz der vorherigen Erschöpfung des Rechtsweges enger ausgelegt werden müssten, als dies nach dem Landesrecht selbst vorgegeben ist. Folglich verbleibt es dabei, dass der Verfassungsgerichtshof aufgrund einer durch Bundesrecht nicht beeinflussten Auslegung des § 55 Abs. 3 S. 2 VerfGHG zur Abwendung schwerer und unvermeidlicher Nachteile sowie wegen der allgemeinen Bedeutung der vorliegenden Verfassungsbeschwerde sofort zu entscheiden hat, ohne den Verfassungsbeschwerdeführer zunächst auf die Erschöpfung des Rechtsweges zu verweisen. Denn die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Entscheidung des Beteiligten zu 2) beruht ausschließlich auf dem Gesetz Nr. 970 über den Landtag des Saarlandes, das seinerseits in vollem Umfang auf der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz des Landes beruht (Art. 70 ff GG). B. Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet. 1. Die genannten Beschlüsse verletzen das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 14 Abs. 3 SVerf. Die Grundrechtsbestimmung lautet: „Jedermann hat in einem Verfahren vor einer Behörde grundsätzlich das Recht, sich eines Rechtsbeistandes zu bedienen."

a) Die \ 7 orschrift ist auf parlamentarische Untersuchungsausschüsse iSd Art. 79 SVerf grundsätzlich anwendbar, weil die Untersuchungsausschüsse als Behörden iSd Art. 14 Abs. 3 SVerf anzusehen sind. Die teleologische Auslegung ergibt, dass unter Behörden im Sinne dieses Artikels auch parlamentarische Untersuchungsausschüsse verstanden werden müssen. Aus dem Wortlaut des Art. 14 Abs. 3 SVerf ist ohne weiteres zu schließen, dass es Personen, die in ein behördliches Verfahren involviert sind, erlaubt sein soll, sich eines Rechtsbeistands zu bedienen, damit sie nicht durch die mangelhafte Vertretung ihrer Rechte in dem behördlichen Verfahren Nachteile erleiden. Entsprechend dieser Zweckbestimmung sind mit dem Begriff der Behörde in Art. 14 Abs. 3 SVerf alle Organisationseinheiten des Staates gemeint, die unter Zuhilfenahme hoheitlicher Befugnisse ein Verfahren durchführen können, in dessen Verlauf es zur Beeinträchtigung von Rechten oder Interessen einer in das Verfahren verwickelten Person kommen kann. Diese \ r oraussetzungen treffen auf Untersuchungsausschüsse in vollem Umfang zu. Ein Untersuchungsausschuss bildet — wenn auch mit zeitlich begrenzter Existenzdauer - eine organisatorische Einheit des Staates, die berufen ist, gemäß einer gesetzlich festgelegten Verfahrensordnung Ermittlungen anzustellen, Beweise zu erheben, insbesondere Zeugen zu vernehmen und andere Behörden um Vorlage von Akten zu ersuchen, wobei den Ersuchen regelmäßig stattzugeben ist. Mittelbar — nämlich durch Anträge bei Gericht, denen ebenfalls regelmäßig stattzugeben ist — kann der Ausschuss das Erscheinen von Zeugen, Betroffenen und Sachverständigen sowie Aussagen durch Ordnungsmittel und Vorführung LVerfGE 14

Parlamentarischer Untersuchungsausschuss: Beiziehung eines Rechtsbeistandes 319 erzwingen; er kann außerdem Beschlagnahmen, Durchsuchungen, Leichenschau, Leichenöffnungen, sowie körperliche und geistige Untersuchungen von Personen veranlassen. Personen, die von Untersuchungsausschüssen als Zeugen, Sachverständige oder Betroffene in Anspruch genommen werden und sich dabei den genannten Befugnissen des Ausschusses gegenüber sehen, sind schon allein deshalb je nach Sachlage darauf angewiesen, sich eines Rechtsbeistands zu bedienen, dies auch und besonders vor dem Ausschuss selbst. Ist eine Auskunftsperson Betroffener und gibt die Verfahrensordnung dem Betroffenen Rechtc, die ihm ermöglichen sollen, belastende Umstände auszuräumen, so trifft auf ihn in erhöhtem Maße der Sinn und Zweck der Vorschrift des Art. 14 Abs. 3 SVerf zu. Dies muss dazu führen, Untersuchungsausschüssen die Qualität einer Behörde iSd § 14 Abs. 3 S\7erf zuzusprechen. Diese Auslegung überschreitet auch nicht die Grenzen des möglichen Wortsinnes. So ist der Begriff der Behörde im Sinne des Amtshilfegrundsatzes des Bundes (Art. 35 GG) dahin verstanden worden, dass unter diesen Begriff auch Untersuchungsausschüsse von Landtagen zu fassen sind (BVerwGE 79, 339 ff; v. Danwiti in: v. Mangoldt/Klem/Starck, GG, Bd. 2, Art. 35 Abs. 1, Rn. 12). Schranil (Verfassung des Saarlandes mit Kommentar, Saarbrücken 1952, Art. 81 Anm. 3) führt aus, die Untersuchungsausschüsse seien zwar parlamentarische Organe, sie hätten aber bei ihrer Tätigkeit die Stellung von öffentlichen Behörden. Damit bleibt die teleologische Auslegung mit dem Wortlaut in Einklang. Sie wird überdies durch die Entstehungsgeschichte des Art. 14 Abs. 3 SVerf, soweit sie erkennbar ist, eher bestätigt als widerlegt. Der erste Entwurf der Bestimmung, der in der 10. Sitzung der Verfassungskommission am 17.7.1947 beraten wurde, lautete: „Das Recht auf einen Verteidiger darf grundsätzlich in keinem Verfahren vor einer Behörde beschränkt werden." Nach Hinweisen des Kommissionsmitgliedes Müller (CAT3) auf gewisse Bedenken der Militärregierung bezüglich der Gestellung eines Verteidigers in Spruchkammerverfahren betonten die Mitglieder Levy (DP) und Dr. Braun (SPS) die Notwendigkeit, in jedem Verfahren jedem das Recht zu geben, sich verteidigen zu lassen. Das keiner Partei angehörende Mitglied Alfred Levy stimmte dem grundsätzlich zu, befürwortete aber, Einschränkungen vorzusehen, wobei er besonders darauf hinwies, dass die Zuziehung eines Verteidigers vor der Polizei untunlich sei und vor dem Untersuchungsrichter nach deutschem Recht nicht stattfinde, allerdings wohl nach französischem Recht. Die Forderung A. Levys nach Einschränkungen des Rechts auf einen Verteidiger lässt darauf schließen, dass er das Wort „grundsätzlich" nicht für eine ausreichende Einschränkung hielt. Nach weiteren ergänzenden Abänderungsvorschlägen von Seiten A. Levys und von Müller (CVP) einigte man sich auf folgenden Wortlaut: „Jedermann hat in einem Verfahren vor einer Behörde grundsätzlich das Recht, sich des Beistandes eines Verteidigers zu bedienen." LVerfGE 14

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Ersichtlich bestand die Änderung nur darin, dass aus dem „Recht auf einen Verteidiger" das Recht wurde, „sich des Beistands eines Verteidigers zu bedienen". Es liegt nahe anzunehmen, dass durch diese Änderung lediglich der Eindruck vermieden werden sollte, als müsse dem von einem behördlichen Verfahren Betroffenen von der Behörde ein Verteidiger gestellt werden. Dagegen wurde die Forderung A. Levys nach zusätzlichen Einschränkungen über das Wort „grundsätzlich" hinaus nicht berücksichtigt. In der 18. Sitzung vom 18.9.1947 stellten die Vertreter der DP zu der am 17.7.1947 beschlossenen Fassung einen Änderungsantrag dahin, dass es in der Vorschrift statt „sich eines Verteidigers zu bedienen" heißen solle: „sich eines Rechtsbeistands zu bedienen". Nach negativer Stellungnahme des Mitglieds A. L e w zu diesem Antrag („wenn das Gesetz sagt, es ist eine Verteidigung überflüssig, werden die Gesetzgeber ihre Gründe der Vereinfachung haben") und einer Erklärung des Mitglieds Frau Dr. Fuest (CVP) („Der dritte Absatz gehört eigentlich nicht hierher. Handelt es sich aber wirklich nur um strafrechtliche Verfahren, dann kann er bleiben") führte das Mitglied Hoppe (KP) aus: „Wir gingen davon aus, dass sehr oft ein Rechtsbeistand erforderlich ist, wenn nicht rechtskundige Menschen irgend einen rein materiellen Streit zu erledigen haben. Es kam schon vor, dass ängstliche, des Gesetzes unkundige Menschen Aussagen machten, die mit der objektiven Wahrheit in Widerspruch standen. Das soll vermieden werden". Die Kommission beschloss sodann den Wortlaut, der heute noch als Art. 14 Abs. 3 SVerf in Geltung ist. (Die Zitate aus: StöberOie Saarländische Verfassung vom 15.12.1947 und ihre Entstehung; Sitzungsprotokolle der Verfassungskommission, der gesetzgebenden Versammlung des Saarlandes (Landtag) und des Verfassungsausschusses; Köln 1952, S. 161/162, 260). Die Protokolle der Kommission enthalten offensichtlich nicht sämtliche Erklärungen der Kommissionsmitglieder. Deutlich wird aber, dass dem Begehren A. Levys nach Einschränkungen der Zulassung eines Verteidigers bzw. Rechtsbeistands über das Wort „grundsätzlich" hinaus nicht gefolgt und dass bewusst von der Vorstellung Abstand genommen wurde, es gehe nur um die behördlichen Verfahren, in denen, wie in Spruchkammerverfahren, Strafen oder strafähnliche Sanktionen verhängt werden konnten; das zeigt die Ersetzung des auf Strafverfahren hindeutenden Ausdrucks „Verteidiger" durch das Wort „Rechtsbeistand" relativ eindeutig. Damit hat sich die Kommission wohl auch von dem Leitbild des Spruchkammerverfahrens, für das sie von Anfang an den Ausschluss des Verteidigers bekämpfen wollte, gelöst und auf die durch einen Rechtskundigen unterstützte Interessenwahrnehmung in behördlichen Verfahren aller Art umgeschaltet. Dazu passt die zitierte Erklärung des Mitglieds Hoppe (KP). Obwohl Hoppe auf die Willensbildung der Kommission keinen besonders großen Einfluss gehabt haben dürfte — der Verfassungskommission gehörten nur drei von 24 Mitgliedern der KP an {Stöber aaO, S. 1) —, hat die Äußerung Gewicht, weil sie offenbar Bezug

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nimmt auf einen Mehrheitskonsens über den Sinn und Zweck der beabsichtigten Regelung. Schranil betrachtet in seiner zeitnahen Kommentierung (1952) Art. 14 Abs. 3 SVerf als eine Reaktion auf das damalige Ausschusswesen, wobei er auch Untersuchungsausschüsse hervorhebt, ohne diese allerdings näher zu charakterisieren. Als Missbrauch, dem anscheinend seiner Ansicht nach durch Art. 14 Abs. 3 SVerf entgegengewirkt werden sollte, stellt er die parteipolitische Einflussnahme auf die Besetzung und die Abhängigkeit der Ausschussmitglieder von der Parteidisziplin, die Verweigerung des Gehörs und Suggestivfragen heraus. Als weitere Gefahren, die von den Ausschussverfahren ausgehen könnten, hebt er hervor, dass es „Stellen" gebe, die, ohne Gerichte zu sein, oft unter Außerachtlassung justizförmiger \ r erfahrensgrundsätze Entscheidungen fällten, bei denen Freiheit, Vermögen, Ehre und Existenz auf dem Spiel stünden. Um „dem Prinzip der Freiheit" Rechnung zu tragen, sei auch für solche Verfahren die Möglichkeit eines Verteidigers verlangt worden, besonders für das Spruchkammerverfahren, das nach 1945 eine große Rolle gespielt habe (Schranil aaO, Art. 14 Anm. 1). Im Rückblick auf die Entstehung des Art. 14 Abs. 3 SVerf, soweit sie aus den Protokollen rekonstruierbar ist, lässt sich sagen: Die Entstehungsgeschichte enthält, soweit ersichtlich, keinen eindeutigen Anhaltspunkt dafür, dass behördliche Verfahren irgendwelcher Art von der Geltung des Art. 14 Abs. 3 SVerf generell ausgenommen sein sollten. Während der Diskussionsbeitrag von A. L e w auf den Ausschluss gewisser Verfahrensarten zielte, beließ die Kommission es bei der Einschränkung des Geltungsbereichs des Art. 14 Abs. 3 SVerf durch das Wort „grundsätzlich". Die Materialien lassen auch keinen Schluss dahin zu, dass das Verfahren der Untersuchungsausschüsse von dem Recht, sich eines Rechtsbeistandes zu bedienen, ausgenommen sein sollte. Der Sinn der Vorschrift, wie er sich nicht nur aus dem Text sondern auch aus der Entstehungsgeschichte ergibt, spricht dagegen. Beabsichtigt war zuletzt die Schaffung eines Rechts, sich eines Rechtsbeistands in allen Verfahren bedienen zu können, in denen dies für die von einem hoheitlichen Verfahren Betroffenen nützlich sein konnte. Die Fälle, an denen die Verfassungskommission die Frage diskutiert hat, hatten nur paradigmatische, jedoch keine begrenzende Bedeutung. Entscheidend für die Zuordnung der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse zu § 14 Abs. 3 SVerf bleibt damit der aus dem Wortlaut selbst sich ergebende Sinn und Zweck der Vorschrift. Es kommt deshalb darauf an, ob Personen, die in ein Untersuchungsausschussverfahren nach Art. 79 SVerf hineingezogen werden, Nachteile durch unvollkommene Wahrnehmung der ihnen in diesem Verfahren zustehenden Rechte erwachsen können. Das kann jedenfalls hinsichtlich der Betroffenen iSd § 54 LTG nicht zweifelhaft sein, wie daran zu erkennen ist, dass das LTG dem Betroffenen bedeutende Verfahrensrechte einräumt. Das gilt insbesondere für das Recht, bei der Beweisaufnahme anwesend zu sein, Fragen an die Zeugen zu richten, gemäß den Regeln der Strafprozessordnung die LVerfGIi 14

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Aussage zu verweigern und Beweisanträge zu stellen, die der Ausschuss nach § 47 Abs. 2 LTG nur zurückweisen darf, wenn sie offensichtlich nicht im Rahmen des Untersuchungsauftrags liegen. Diese Rechte haben überwiegend den Sinn, dem Betroffenen schon im Untersuchungsverfahren selbst die Möglichkeit einzuräumen, sich von Vorwürfen zu endasten und deren rufschädigende Wirkung so bald wie möglich zu beseitigen, abzuwenden oder in Grenzen zu halten. Häufig wird es sich um Vorwürfe von straf- oder dienstrechtlicher sowie haftungsrechtlicher Relevanz handeln. Zwar sind die Feststellungen des Untersuchungsausschusses für Staatsanwaltschaften und Gerichte nicht bindend; dies ändert aber nichts daran, dass schon die Erhebungen und Feststellungen der Untersuchungsausschüsse eine empfindliche Prangerwirkung in der Öffentlichkeit entfalten und justizförmige Ermittlungen in eine bestimmte Richtung lenken können. b) Aus dem Anwendungsbereich des Art. 14 Abs. 3 SVerf kann das Verfahren der Untersuchungsausschüsse nicht generell ausgenommen werden. Dafür bietet die in dem Wort „grundsätzlich" enthaltene Einschränkbarkeit des Anwendungsbereichs der Norm keine ausreichende Stütze. Dass das Recht, in Verfahren vor Behörden sich eines Beistands zu bedienen, „grundsätzlich" gilt, bringt zwar zum Ausdruck, dass es sich bei Art. 14 Abs. 3 SVerf nicht um eine ausnahmslos geltende Regel handelt. Gleichwohl ist die Norm aber — eben als Grundsatz — auf alle Verfahrensarten von Behörden anzuwenden, in denen die betroffenen Personen bei nicht optimaler Wahrnehmung ihrer Rechte Nachteile erleiden können. Sie erlaubt es nicht, für bestimmte Verfahrensarten den Grundsatz in sein Gegenteil zu verkehren, wie dies durch § 54 Abs. 3 S. 5 LTG geschehen ist. Vielmehr sind die Fälle der denkbaren Nichtanwendung des Grundsatzes auf spezifische Situationen zu beschränken, in denen ausnahmsweise vom Grundsatz abgewichen werden muss, um höherrangige Güter, etwa die Staatssicherheit (vgl. z.B. § 54 Abs. 3 S. 7 L l ' G ) oder auch das Verfahren selbst vor Blockaden durch ungehöriges oder destruktives Verhalten zu schützen (vgl. z.B. § 55 Abs. 2 S. 1 I.TG). Nur einzelfallbezogene Ausschlüsse eines Rechtsbeistands aus derartigen Gründen sind mit Art. 14 Abs. 3 SVerf vereinbar. Dagegen lässt sich nicht mit Erfolg geltend machen, der Gesetzgeber dürfe, da das Recht, sich in behördlichen Verfahren eines Rechtsbeistands zu bedienen, in einem Spannungsverhältnis zu dem ebenfalls durch die Verfassung garantierten Untersuchungsrecht stehe, dieses Spannungsverhältnis in der Weise auflösen, dass er dem Betroffenen grundsätzlich die Beiziehung eines Rechtsbeistands verbiete, aber dem Ausschuss die Befugnis gebe, auf Antrag dem Betroffenen die Beiziehung zu gestatten, sofern sie zum Schutz seiner berechtigten Interessen erforderlich erscheine. Richtig ist insoweit lediglich, dass auf der Verfassungsebene Verfahrensrechte eines Betroffenen je nach ihrer Ausgestaltung mit der Verfahrenshoheit des Untersuchungsausschusses in geringerem oder größerem Umfang kollidieren können {Acbterberg/Schulte in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 44, Rn. 126) und dass der einfache Gesetzgeber dieses SpannungsVerhältnis in sachLVerfGE 14

Parlamentarischer Untersuchungsausschuss: Beiziehung eines Rechtsbeistandes 323 gerechter Weise auflösen sollte (Acbterberg/Schulte aaO). Das Spannungsverhältnis und das Ausmaß der Kollision wird aber nicht durch das Recht, sich eines Rechtsbeistands zu bedienen, begründet oder verschärft, sondern durch die Art der Rechte, die den Einfluss des Betroffenen auf den Gang des Verfahrens ermöglichen. Sind diese Verfahrensbefugnisse einmal nach Verfassungsrecht oder einfachem Recht festgelegt, so fällt die Befugnis, sich bei ihrer Wahrnehmung eines Rechtsbeistands zu bedienen, bei der Lösung des Spannungsverhältnisses nicht mehr ins Gewicht. Denn das Recht, sich vor Behörden eines Beistands zu bedienen, ist nur ein Annex zu den jeweiligen Rechten, die eine Person in dem betreffenden Verfahren hat. Ob bestimmte Verfahrensrechte einem anderen Verfassungsziel übermäßig Abbruch tun, ist Gegenstand der Abwägung durch den Gesetzgeber. Da dieser aber, wenn er bestimmte Verfahrensrechte gewährt, ohnehin mit deren optimaler Nutzung rechnen muss, kann er nicht andererseits diese optimale Nutzung, die durch Art. 14 Abs. 3 SVerf ermöglicht werden soll, durch ein Verbot der Beiziehung eines Rechtsbeistands verschlechtern. c) Prof. Dr. E. Müller ist kraft seiner Eigenschaft als in der Bundesrepublik zugelassener Rechtsanwalt ein Rechtsbeistand im Sinne des Art. 14 Abs. 3 SVerf. Es ist und war auch beim Erlass der Saarländischen Verfassung in erster Linie die Aufgabe von Rechtsanwälten, Personen rechtlich zu beraten und in Verfahren zu unterstützen. Ob darüber hinaus Rechtsbeistände anderer Art ebenfalls unter Art. 14 Abs. 3 SVerf fallen, ist für die Frage, ob der Beschluss des Beteiligten zu 2) vom 20.11.2002 das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 14 Abs. 3 SVerf verletzt, ohne Bedeutung und kann hier dahinstehen. d) Art. 14 Abs. 3 SVerf umschreibt die Beistandsleistung, auf deren Gestattung der Verfahrensbetroffene einen Anspruch hat, nicht. Aus dem bereits dargelegten Sinn und Zweck der Vorschrift ergibt sich aber, dass der Beistand sich auf die Wahrnehmung der in dem jeweiligen behördlichen Verfahren bestehenden Verfahrensrechte bezieht. Dies setzt in erster Linie voraus, dass dem Rechtsbeistand, wenn der Betroffene es wünscht, die Anwesenheit in dem gleichen Umfang gestattet wird wie dem Bettoffenen selbst. Soll die Beistandsleistung, wie ausgeführt, die Wahrnehmung der Rechte des Betroffenen optimieren, so gelingt dies, wenn die Behörde mündlich verhandelt und Beweise erhebt, regelmäßig nur dann, wenn der \ 7 erfahrensbetroffene dem Rechtsbeistand die zur Wahrnehmung der Rechte erforderlichen mündlichen Äußerungen wie Fragen, Hinweise z.B. auf Auskunftsverweigerungsrechte, Beweisanträge und Erläuterungen hierzu sowie Stellungnahmen, soweit in der Verfahrensordnung solche vorgesehen sind, überlassen kann. Ein allgemeines Rederecht des Rechtsbeistands ist damit nicht verbunden. Aus der Funktion eines Rechtsbeistands in einem behördlichen Verfahren folgt darüber hinaus, dass er dem Betroffenen selbst, wenn dieser als Zeuge vernommen wird, ebenfalls Fragen stellen kann, da dies zur Abwehr einer den

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Betroffenen zu Unrecht belastenden eigenen Äußerung oder zur Vermeidung sonstiger Aussagefehler erforderlich werden kann (vgl. dazu BVerfG, NJW 1975, 103, 104, Sp. 2). Eine Befugnis des Betroffenen, dem Rechtsbeistand das Reden zu überlassen, besteht allerdings nicht hinsichtlich der in § 54 Abs. 3 S. 1 LTG genannten zusammenhängenden Sachdarstellung des Betroffenen, wenn sie mündlich erfolgt. Bei dieser mündlichen Sachdarstellung handelt es sich nicht nur um eine Möglichkeit für den Betroffenen, die Tatsachen in den ihm richtig erscheinenden Kontext zu stellen, vielmehr soll sie auch dem Ausschuss die Möglichkeit geben, sich von der Glaubwürdigkeit des Betroffenen einen unmittelbaren Eindruck zu verschaffen, was voraussetzt, dass der Betroffene seine Schilderung persönlich abgibt. Dem Rechtsbeistand erwachsen dadurch, dass der Betroffene sich seiner bedient, keine eigenen Rechte, die er unabhängig vom Willen des Betroffenen ausüben könnte. So ist der Ausschuss nicht gehalten, den Rechtsbeistand von den Beweisaufnahmeterminen zu unterrichten. Es ist vielmehr die Aufgabe des Betroffenen selbst, den Rechtsbeistand seiner Wahl zur Mitwirkung zu veranlassen; der Ausschuss muss ihm dazu nur die Gelegenheit bieten. Dies setzt zwar voraus, dass der Betroffene selbst so frühzeitig geladen bzw. benachrichtigt ist, dass entsprechende zeitliche Dispositionen des Beistands nach dem normalen Verlauf der Dinge möglich sind (vgl. hierzu VG Hamburg, NJW 87, 1568). Ein Anspruch des Betroffenen darauf, dem Rechtsbeistand Nachricht von Terminen zu geben, ergibt sich daraus indessen nicht. Auch führt das durch die Verfassung unmittelbar gewährte Recht auf die Beiziehung eines Rechtsbeistands nicht dazu, dass die dadurch unvermeidlich entstandenen Kosten als notwendig und damit erstattungsfähig iSd § 57 Abs. 1 S. 3 LTG angesehen werden müssen. § 57 LTG war, soweit er Kostenerstattungsansprüche des Betroffenen behandelt, ein Teil einer Regelung, die die Vorschrift des § 54 Abs. 3 S. 5 LTG mit umfasste. Demnach kam die Erstattung von Kosten eines Rechtsbeistandes nur in Betracht, wenn dessen Beiziehung zum Schutz berechtigter Interessen des Betroffenen erforderlich erschien. Dabei musste es sich offensichtlich um ein Schutzbedürfnis handeln, das das allgemeine Interesse an der Unterstützung durch einen Rechtsbeistand überstieg. Dieser Gesamtzusammenhang der Regelung wird nun dadurch aufgelöst, dass die Vorschrift des § 54 Abs. 3 S. 5 LTG von Verfassungs wegen auf Rechtsanwälte nicht mehr angewendet werden darf. Damit gewänne § 57 LTG einen vom Gesetzgeber nicht gewollten erweiterten Anwendungsbereich. Dies kann im Wege einer teleologischen Reduktion der Norm vermieden werden, indem als notwendige Kosten des Betroffenen die Kosten des Rechtsbeistands nur dann gelten, wenn das besondere Schutzbedürfnis im Sinne der nicht mehr anwendbaren Regel des § 54 Abs. 3 S. 5 HS. 2 LTG als vorliegend erachtet wird. Darüber ist im Kostenfestsetzungsverfahren des Untersuchungsausschusses (§ 57 Abs. 2 LTG) zu befinden.

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e) Das damit hinsichtlich seines Schutzbereiches umschriebene Recht des Betroffenen aus Art. 14 Abs. 3 SVerf ist durch den Beschluss des Beteiligten zu 2) vom 20.11.2002 verletzt. Durch den Beschluss wurde dem Betroffenen die Möglichkeit genommen, sich in der Weise in dem Verfahren vor dem Untersuchungsausschuss eines Rechtsbeistandes zu bedienen, wie dies vorstehend näher umschrieben ist. Der Beteiligte zu 2) zeigt durch die Verweisung des Rechtsbeistands in die Zuschauerreihen, dass er durch seinen Beschluss dem Betroffenen das Recht versagt, sich vor dem Untersuchungsausschuss von Rechtsanwalt Prof. Dr. E. Müller als Beistand bei der Wahrnehmung seiner Rechte durch dessen Anwesenheit, mündliche Erklärungen, Fragen und Stellungnahmen unterstützen zu lassen. Die Verweisung in die Zuschauerreihen gewährt dem Rechtsbeistand nicht einmal ein Anwesenheitsrecht, weil seine Anwesenheit damit davon abhängig wird, ob bei seinem Eintreffen noch Plätze vorhanden sind. Nach § 61 Abs. 1 und 2 VerfGHG war die Verletzung des Grundrechts aus Art. 14 Abs. 3 SVerf durch den angefochtenen Beschluss des Beteiligten zu 2) festzustellen und der Beschluss aufzuheben. Hierzu ist klarzustellen, dass der angefochtene Beschluss sich nicht darauf beschränkt, Rechtsanwalt Prof. Dr. Egon Müller als Rechtsbeistand zurückzuweisen, sondern er umfasst den Ausspruch, dass sich der Beschwerdeführer überhaupt nicht durch einen Rechtsbeistand vor dem Untersuchungsausschuss unterstützen lassen darf. In diesem vollen Umfang wird der Beschluss aufgehoben. f) Ebenfalls gem. § 61 Abs. 1 und 2 VerfGHG für verfassungswidrig zu erklären waren der Beschluss des VG des Saarlandes vom 27.11.2002 (11 F 44/02) und der Beschluss des OVG des Saarlandes vom 2.12.2002 (1 W 35/02). Auch sie verletzen das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 14 Abs. 3 SVerf. Beide Gerichte haben diese Grundrechtsbestimmung, obwohl sie auf die vorliegende Fallgestaltung anwendbar ist, nicht beachtet. Die Aufhebung der Entscheidungen war auszusprechen, weil sie auf dem Grundrechtsverstoß beruhen. Dafür genügt es, dass nicht auszuschließen ist, dass bei zutreffender Beurteilung der verfassungsrechtlichen Lage andere Entscheidungen getroffen worden wären. Dies ist wahrscheinlich. Die Gerichte hätten bei Anwendung des Art. 14 Abs. 3 SVerf den durch die einstweilige Anordnung zu sichernden Anspruch (Anordnungsanspruch) nicht verneinen dürfen. Es ist auch nicht ausgeschlossen, sondern wahrscheinlich, dass sie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes bejaht hätten. Sie hätten dann den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht zurückweisen dürfen, sei es, dass sie dem Regelungsgehalt des Art. 14 Abs. 3 SVerf durch verfassungskonforme Auslegung oder durch Vorlage der Sache an den Verfassungsgerichtshof Rechnung getragen hätten (§ 47 VerfGHG). g) Eine Zurückverweisung der Sache an das Λ^G oder das OVG hatte dagegen zu unterbleiben. Das saarländische Gesetz über den Verfassungsgerichtshof

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enthält keine Vorschrift, die § 95 Abs. 2, HS. 2 BVerfGG entspricht. Nach dieser Vorschrift iVm § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG findet im Falle der positiven Entscheidung über eine Verfassungsbeschwerde durch das Bundesverfassungsgericht neben der Aufhebung der angegriffenen Entscheidung eine Zurückverweisung „an ein zuständiges Gericht" statt, wenn die Verfassungsbeschwerde erst nach der Erschöpfung des Rechtsweges erhoben worden ist ('MaunsjSchmidt-Bleiblreu/ Klein/Bethge BVerfGG, Stand Juli 2002, § 95 Rn. 27). Es ist nicht anzunehmen, dass das Fehlen einer entsprechenden Bestimmung im Saarländischen VerfGHG auf einem gesetzgeberischen Versehen beruht. Vielmehr kann der Gesetzgeber von der dem Verfassungsgerichtshof zutreffend erscheinenden Auffassung ausgegangen sein, dass mit der ersatzlosen Aufhebung einer Gerichtsentscheidung durch das Verfassungsgericht die Rechtssache wieder bei dem Gericht anhängig geworden ist, von dem die aufgehobene Entscheidung stammt (vgl. den Hinweis auf Geiger bei Mating u.a. aaO, Anm. 2). Auf der Grundlage dieser Auffassung geht der Verfassungsgerichtshof davon aus, dass, da auch die Entscheidung erster Instanz aufzuheben war, sich das Verfahren wieder in dem Stadium befindet, in welchem es sich vor der Entscheidung des Verwaltungsgerichts befand. Den Parteien des verwaltungsgerichtlichen Verfahrene bleibt es überlassen, ob und wie sie das anhängige Verfahren fortführen oder erledigen wollen. 2. a) Nach § 61 Abs. 3 S. 2 iVm S. 1 VerfGHG ist die Nichtigkeit einer Rechtsvorschrift festzustellen, wenn sie verfassungswidrig ist und die auf die Verfassungsbeschwerde hin aufgehobene Entscheidung auf der Rechtsvorschrift beruht. In geeigneten Fällen ist die Norm nur teilweise für verfassungswidrig zu erklären. Das setzt voraus, dass der Teil der Norm, der verfassungswidrig ist, mit der nötigen Deutlichkeit von dem nicht verfassungswidrigen Teil unterschieden werden kann (Verfassungsgerichtshof des Saarlandes — Lv 3/96 —, LVerfGE 5, 243, 283). Dazu reicht es aus, die verfassungswidrigen Fälle typisierend zu beschreiben und die Norm insoweit für nichtig zu erklären (VerfGH des Saarlandes aaO; BVerfGE 43, 291, 294; Bender/Klein Lehrbuch des Verfassungsprozessrechts, Rn. 1178). § 54 Abs. 3 S. 5 HS. 1 LTG, wonach der Betroffene im Untersuchungsausschussverfahren „kein Beistandsrecht" hat, ist teilweise nämlich insoweit verfassungswidrig, als er dem Betroffenen verwehrt, ohne besondere Gestattung des Ausschusses sich eines in der Bundesrepublik Deutschland zugelassenen Rechtsanwalts als Rechtsbeistandes zu bedienen. Ein solches Verbot ist im ersten Halbsatz der Vorschrift enthalten. Das ergibt sich daraus, dass nach dem zweiten Halbsatz dem Betroffenen die „Beiziehung eines Beistands" nur unter besonderen Voraussetzungen vom Ausschuss gestattet werden kann. Diese Ausnahme setzt logisch voraus, dass der erste Halbsatz („kein Beistandsrecht") grundsätzlich den Fall umfasst, dass ein Betroffener sich eines Anwalts als Rechtsbeistands bedienen will. LVerfGE 14

Parlamentarischer Untersuchungsausschuss: Beiziehung eines Rechtsbeistandes 327 Wie bereits oben (II Β 1 b) gesagt, verkehrt § 54 Abs. 3 S. 5 LTG den Grundsatz des Art. 14 Abs. 2 SVerf, bezogen auf das Untersuchungsausschussverfahren, in unzulässiger Weise in sein Gegenteil. Das lässt sich nicht im Wege verfassungskonformer Auslegung bereinigen. Als Auslegung des § 54 Abs. 3 S. 5 LTG könnte es nicht mehr gelten, wenn der in HS. 2 angesprochene Gesichtspunkt der Schutzbedürftigkeit nicht wenigstens in der negativen Form einer Ausnahme beibehalten würde, etwa so, dass ein Rechtsbeistand grundsätzlich zuzulassen sei, aber zurückgewiesen werden dürfe, wenn ein besonderes, das bloße Interesse an der Beiziehung eines Rechtsbeistandes übersteigendes Schutzbedürfnis fehle. Auch eine solche Regelung wäre verfassungswidrig, weil es nach Art. 14 Abs. 3 SVerf dem Betroffenen überlassen bleiben muss, zu bestimmen, ob er auf seine eigenen Kosten — einen Rechtsbeistand beiziehen will. Der Ausspruch der Nichtigkeit war indessen auf in der Bundesrepublik Deutschland zugelassene Rechtsanwälte zu beschränken. Nach der inzwischen geltenden Fassung des Rechtsberatungsgesetzes wird die Zulassung zur Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten für spezielle Bereiche ausgesprochen. Fine Zulassung von Rechtsbeiständen, die nicht Rechtsanwälte sind, zur Beratung und Vertretung in allen Rechtsangelegenheiten gibt es nicht (§ 1 Rechtsberatungsgesetz und § 157 ZPO). Ebenso wenig gibt es für den Gesetzgeber eine Notwendigkeit, spezielle Rechtsbeistände für Betroffene vor Untersuchungsausschüssen zuzulassen. Der Vorschrift des Art. 14 Abs. 3 SVerf ist genügt, wenn vor den Untersuchungsausschüssen des Landtages die von den Betroffenen hinzugezogenen Rechtsanwälte zugelassen werden. Die Zulassung weiterer Rechtsbeistände oder sogar von Beiständen sonstiger Art vor dem Untersuchungsausschuss ist aus Art. 14 Abs. 3 SVerf nicht ableitbar. Ob unter dem Begriff „Beistandsrecht" in S. 5, HS. 1 mehr zu verstehen ist als das durch Art. 14 Abs. 3 SVerf garantierte Recht, sich eines Rechtsbeistandes zu bedienen, ob insbesondere auch eine Verpflichtung des Ausschusses ausgeschlossen werden sollte, den Betroffenen in den Stand zu setzen, einen Beistand tatsächlich hinzuzuziehen, kann dahinstehen. Sollte dies gemeint sein, so steht die Vorschrift insoweit mit Art. 14 Abs. 3 SVerf nicht in Widerspruch. Denn dieses Grundrecht garantiert nur jedermanns Befugnis, sich eines Rechtsbeistands zu bedienen. An der Ausübung dieses Rechts darf er nicht gehindert werden, dagegen ist eine Unterstützung der in ein behördliches Verfahren verwickelten Person bei der Ausübung dieses Rechts nicht gefordert. Dem trägt die Entscheidungsformel Rechnung. b) Die Teilnichtigkeit des § 54 Abs. 3 S. 5 HS. 1 LTG erstreckt sich wegen des unlösbaren Sinnzusammenhangs sowohl auf S. 5 HS. 2 als auch auf S. 6. Soweit die Teilnichtigkeit von S. 5 HS. 1 reicht, verlieren S. 5 HS. 2 und S. 6 ihren logischen Anknüpfungspunkt. S. 5 HS. 2 wird hinsichtlich Rechtsanwälten durch die Teilnichtigkeit von HS. 1 funktionslos, weil für eine Ausnahmegenehmigung kein Raum ist, wenn HS. 1 bezüglich Rechtsanwälten nichtig ist. S. 6 knüpft seinerseits LVerfGE 14

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an die Ausnahmeklausel des S. 5 HS. 2 an. Er ist nämlich so zu lesen, dass einem Beistand auch dann, wenn ihm ausnahmsweise die Tätigkeit vor dem Untersuchungsausschuss gestattet ist, kein Rederecht zustehe. S. 6 ist somit als Einschränkung der in S. 5 HS. 2 formulierten Ausnahme zu lesen. Entfällt für Rechtsanwälte die Ausnahmeklausel des S. 5 HS. 2, so wird, bezogen auf Rechtsanwälte, der in S. 6 enthaltenen Einschränkung der Ausnahme die logische Voraussetzung entzogen. Im Übrigen wäre es mit Art. 14 Abs. 2 SVerf nicht vereinbar, Rechtsanwälten, die im Auftrag von Betroffenen als Rechtsbeistände vor Untersuchungsausschüssen auftreten, das oben (1 d) umschriebene eingeschränkte Rederecht zu versagen. Dem lässt sich nicht entgegenhalten, S. 6 verneine nur ein allgemeines Rederecht. Eine derartige Bestimmung wäre nicht sinnvoll. Denn \ T erfahrensordnungen gewähren nie ein allgemeines Rederecht, sondern stets nur ein solches nach Maßgabe der sachgemäßen Wahrnehmung der eingeräumten Verfahrensrechte. Das jeweilige Rederecht ist demnach stets begrenzt. Im Falle der Verfahrensordnung für Untersuchungsausschüsse, wie sie im LTG enthalten ist, tritt die Begrenzung dadurch ein, dass die Redebefugnis aus Art. 14 Abs. 3 SVerf auf die im LTG dem Betroffenen eingeräumten Rechte bezogen ist. Auf dieses begrenzte Rederecht für Anwälte bezöge sich S. 6, wenn er nicht ebenfalls teilweise für nichtig erklärt würde. 3. Soweit der Beschwerdeführer die Feststellung begehrt, er sei außerdem in seinen Grundrechten auf rechtsstaatliches Verfahren, auf rechtliches Gehör und auf Gleichbehandlung verletzt, war dem Antrag ohne förmliche Teilzurückweisung nicht zu folgen. a) Es kann hier dahinstehen, ob für Betroffene in Untersuchungsausschussverfahren aus der saarländischen Verfassung Grundrechte auf faires Verfahren oder auf rechtliches Gehör ableitbar sind und ob diese den Anspruch, sich in einem Verfahren vor einer Behörde eines Rechtsbeistands zu bedienen, umfassen. Ist beides zu bejahen, so bleibt der einzige Prüfungsmaßstab gleichwohl Art. 14 Abs. 3 SVerf, weil die Vorschrift die Durchsetzung der beiden anderen Grundrechte durch eine spezielle Befugnis stützt und deshalb nach seinem Sinngehalt die stärkere, weil konkretere sachliche Beziehung zu dem zu prüfenden Sachverhalt hat (BVerfGE 64, 229, 238 f = NJW 83, 2811 Sp. 1/2; 67, 186, 195 = NJW 85, 374, 375). b) Die Berufung des Beschwerdeführers auf den Gleichheitsgrundsatz stellt sachlich ein Hilfsvorbringen für den Fall dar, dass der Verfassungsgerichtshof die Vorschrift des § 54 Abs. 3 S. 5 LTG als verfassungsgemäß betrachten würde. Nur für diesen Fall rügt der Beschwerdeführer einen Gleichheitsverstoß, indem er geltend macht, dass ihm wegen seiner juristischen Qualifikation die Beiziehung eines Rechtsbeistandes verweigert worden sei, obwohl das Kriterium der juristischen Qualifikation nach dem Gleichheitsgrundsatz eine von der Behandlung LVerfGE 14

Parlamentarischer Untersuchungsausschuss: Beiziehung eines Rechtsbeistandes 3 2 9

anderer Betroffener abweichende Behandlung nicht rechtfertige. Mit diesem Hilfsvorbringen muss sich der Verfassungsgerichtshof nicht befassen, nachdem die Voraussetzungen dafür nicht eingetreten sind. Das Hilfsvorbringen stellt sich sachlich als Hilfsantrag dar, über den nicht mehr zu entscheiden ist, nachdem dem Hauptbegehren stattgegeben worden ist. C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 26 Abs. 3 VerfGHG. Die volle Überbürdung der dem Beschwerdeführer entstandenen Kosten erschien angezeigt, weil der Beschwerdeführer den wesentlichen Zweck seiner Verfassungsbeschwerde erreicht hat.

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Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes des Freistaates Sachsen

Die amtierenden Richter des Verfassungsgerichtshofes des Freistaates Sachsen Dr. Thomas Pfeiffer, Präsident Klaus Budewig, Vizepräsident Ulrich Hagenloch Alfred Graf von Keyserlingk Siegfried Reich Hans Dietrich Knoth Prof. Dr. Hans v. Mangoldt Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Peter Schneider Prof. Dr. Hans-Heinrich Trute Stellvertretende Richterinnen und Richter Heinrich Rehak Dr. Michael Gockel (seit 10.7.2003) Martin Burkert (bis 31.7.2002) Jürgen Niemeyer Dr. Andreas Spilger Susanne Schüchting Hannelore Leuthold Prof. Dr. Martin Oldiges Heide Boysen-Tilly Prof. Dr. Christoph Degenhart

Normenkontrollverfahren: Sächsisches Polizeigesetz

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Nr. 1 1. Prüfungsmaßstab sind bei der abstrakten Normenkontrolle gem. Art. 81 Abs. 1 Nr. 2 SächsVerf, § 7 Nr. 2 SächsVerfGHG auf der Grundlage des Art. 3 Abs. 2 und des Art. 39 Abs. 2 iVm Art. 1 S. 1 SächsVerf mittelbar auch die Bestimmungen des Grundgesetzes über die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern. 2. a) Ereignis- und verdachtsunabhängige polizeiliche Identitätskontrollen außerhalb des Grenzgebietes zum Zwecke der vorbeugenden Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität sind mit der Sächsischen Verfassung grundsätzlich vereinbar. b) § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG ist als entsprechende Befugnisnorm mit der Sächsischen Verfassung mit der Maßgabe vereinbar, dass den Identitätskontrollen außerhalb des Grenzgebietes ein vorab zu dokumentierendes, polizeibehördliches Konzept zu Grunde liegen muss und Kontrollen auf „anderen Straßen von erheblicher Bedeutung für die grenzüberschreitende Kriminalität" nur stattfinden dürfen, wenn vorab zu dokumentierende Lageerkenntnisse die erhebliche Bedeutung der jeweils konkret zu bezeichnenden Straße für die grenzüberschreitende Kriminalität belegen. 3. a) Die Ermächtigung zur Einrichtung von und zu Identitätskontrollen in Kontrollbereichen gem. § 19 Abs. 1 Nr. 6 Buchst, a SächsPolG, um Straftaten iSd § 100a der Strafprozessordnung oder § 27 des Versammlungsgesetzes zu verhindern, ist mit der Sächsischen Verfassung vereinbar. b) Dagegen greift § 19 Abs. 1 Nr. 6 Buchst, b SächsPolG mit der Ermächtigung zur Einrichtung von Kontrollbereichen, um nach Personen zu fahnden, bei denen bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, dass sie eine Straftat iSd § 100a der Strafprozessordnung oder § 27 des Versammlungsgesetzes begangen haben, in die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das gerichtliche Verfahren gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG ein und ist deshalb mit der Sächsischen Verfassung unvereinbar. 4. Die Regelung des § 21 Abs. 2 SächsPolG über das Aufenthaltsverbot berührt weder die Freiheit der Person (Art. 16 Abs. 1 S. 2 SächsVerf) noch den Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 GG. Der Eingriff in das durch Art. 15 SächsVerf geschützte Selbstbestimmungsrecht wiegt angesichts der räumlichen Weite des möglichen Verbotsbereiches und der unter Umständen erheblichen Folgen für den Betroffenen schwer, ist aber nicht generell unLVerfGE 14

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angemessen. Allerdings kann insbesondere die tatsächliche Ausübbarkeit grundrechtlicher Freiheiten ein Aufenthaltsverbot im Einzelfall schon tatbestandlich aasschließen. 5. Die Rechtsschutzgarantie (Art. 38 S. 1 SachsYerf) und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 33 S. 1 SachsVerf) gebieten die nachträgliche Information des Betroffenen über den Einsatz eines Verdeckten Ermittlers. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz darf das Gesetz nicht schon für den Fall vorsehen, dass im Falle der Unterrichtung die weitere Verwendung des Verdeckten Ermittlers gefährdet ist. § 39 Abs. 9 S. 2 Variante 2 SächsPolG ist deshalb unvereinbar mit der Sächsischen Verfassung. 6. Die Ermächtigung zur Ingewahrsamnahme Selbstmordwilliger in § 22 Abs. 1 Nr. 2 Buchst, b SächsPolG ist mit der Sächsischen Verfassung vereinbar. Sie regelt nicht diejenigen Fälle, bei denen durch hinreichende Vorkehrungen und für die Polizei erkennbar sichergestellt ist, dass die Selbsttötung durchweg vom freien Willen des Betroffenen beherrscht wird. 7. a) Bei präventiv-polizeilicher Videoüberwachung auf öffentüchen Plätzen ist der Schutzbereich des informationellen Selbstbestimmungsrechts (Art. 33 SächsVerf) nicht erst dann berührt, wenn die Polizei Bildund Tonaufzeichnungen anfertigt. Schon die bloße Aufnahme, also die offene Beobachtung durch Kameras einschließlich Bild- und ggf. Tonübertragung in den Monitorraum greift in das Grundrecht ein. b) § 38 Abs. 2 SächsPolG wahrt, soweit er zur Anfertigung von Bildund Tonaufnahmen oder -aufzeichnungen an den in § 19 Abs. 1 Nr. 2 SächsPolG genannten Orten ermächtigt, angesichts der strikten räumlichen Beschränkung auf „gefährliche Orte" bzw. Kriminalitätsbrennpunkte den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und ist deshalb mit der Sächsischen Verfassung vereinbar. Grundgesetz Art. 11; 70; 72; 73; 74 Verfassung des Freistaates Sachsen Art. 1; 3 Abs. 2; 15; 16 Abs. 1 S. 2; 17; 23; 33; 37 Abs. 1; 38 S. 1; 39 Abs. 2; 81 Abs. 1 Nr. 2; 83 Abs. 3 Sächsisches Verfassungsgerichtshofsgesetz §§ 7 Nr. 2; 21 Nr. 1; 23 S. 2 Sächsisches Polizeigesetz §§ 19; 20; 21; 22; 23; 24; 37; 38; 39; 43; 46 U r t e i l v o m 10. J u l i 2 0 0 3 - V f . 43-11-00 in dem Verfahren der abstrakten Normenkontrolle auf Antrag des Abgeordneten Prof. Dr. P. und weiterer 29 Mitglieder des 3. Sächsischen Landtages LVerfGE 14

Normenkontrollverfahren: Sächsisches Polizeigesetz

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Verfahrensbevollmächtigter: Rechtsanwalt Prof. Dr. L. zur verfassungsrechtlichen Prüfung einzelner Vorschriften des Polizeigesetzes des Freistaates Sachsen Entscheidungsformel: I. 1. § 19 Abs. 1 Nr. 5 des Polizeigesetzes des Freistaates Sachsen (SächsPolG) idF der Bekanntmachung vom 13. August 1999 (SächsGVBl. S. 466) ist, soweit er die Feststellung der Identität einer Person außerhalb eines Grenzstreifens von 30 Kilometern Tiefe erlaubt, mit der Sächsischen Verfassung mit der Maßgabe vereinbar, dass den Feststellungskontrollen ein vorab zu dokumentierendes polizeibehördliches Konzept zu Grunde liegen muss und Kontrollen auf „anderen Straßen von erheblicher Bedeutung für die grenzüberschreitende Kriminalität" nur bei entsprechenden, auf die jeweilige konkrete Straße bezogenen, hinreichend präzisen und vorab zu dokumentierenden Lageerkenntnissen stattfinden dürfen. 2. § 19 Abs. 1 Nr. 6 Buchst, b SächsPolG verstößt gegen Art. 3 Abs. 2 sowie Art. 39 Abs. 2 iVm Art. 1 S. 1 der Sächsischen Verfassung und ist nichtig. Im Übrigen ist § 19 Abs. 1 Nr. 6 SächsPolG mit der Sächsischen Verfassung vereinbar. 3. § 21 Abs. 2 SächsPolG ist, soweit der Aufenthalt in einem Gemeindegebiet oder -gebietsteil untersagt werden kann, mit der Sächsischen Verfassung vereinbar. 4. § 39 Abs. 9 S. 2 SächsPolG verstößt gegen Art. 33 und 38 der Sächsischen Verfassung und ist nichtig, soweit eine nachträgliche Untcrrichtung der Betroffenen über den Einsatz des Verdeckten Ermittlers aus Gründen der Gefährdung seiner weiteren Verwendung unterbleibt. 5. § 22 Abs. 1 Nr. 2 Buchst, b SächsPolG ist mit der Sächsischen Verfassung vereinbar. 6. ξ 38 Abs. 2 SächsPolG ist hinsichtlich der Befugnis, an den in § 19 Abs. 1 Nr. 2 SächsPolG genannten Orten personenbezogene Daten durch Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen oder -aufzeichnungen von Personen zu erheben, soweit tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass an Orten dieser Art Straftaten begangen werden sollen, durch die Personen, Sach- oder Vermögenswerte gefährdet werden, mit der Sächsischen Verfassung vereinbar. II. Der Freistaat Sachsen hat den Antragstellern die notwendigen Auslagen zu 1/3 zu erstatten.

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Gründe: A. Das Normenkontrollverfahren betrifft Regelungen des Polizeigesetzes des Freistaates Sachsen idF der Bekanntmachung v o m 13.8.1999 (SächsGVBl. S. 466). Die in Betracht k o m m e n d e n Vorschriften lauten: § 18 Befragung, Vorladung, Vernehmung (1) Die Polizei kann eine Person befragen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass die Person sachdienliche Angaben machen kann, die zur Erfüllung einer bestimmten polizeilichen Aufgabe erforderlich sind. Für die Dauer der Befragung kann die Person angehalten werden. (2) Die Polizei kann eine Person vorladen, wenn 1. Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass die Person sachdienliche Angaben machen kann, die zur Wahrnehmung einer bestimmten polizeilichen Aufgabe erforderlich sind, oder 2. dies zur Durchführung erkennungsdienstlicher Maßnahmen erforderlich ist. (3) Eine Person, deren Befragung oder Vorladung nach den Absätzen 1 oder 2 zulässig ist, hat auf Verlangen der Polizei anzugeben: 1. Familiennamen, 2. Vornamen, unter Kennzeichnung des gebräuchlichen Vornamens (Rufname), 3. frühere Namen, 4. Tag und Ort der Geburt, 5. Anschrift, gegebenenfalls Haupt- und Nebenwohnung, 6. Staatsangehörigkeiten. § 19 Identitätsfeststellung (1) Die Polizei kann die Identität einer Person feststellen, 2. wenn sie sich an einem Ort aufhält, an dem erfahrungsgemäß Straftäter sich verbergen, Personen Straftaten verabreden, vorbereiten oder verüben, sich ohne erforderliche Aufenthaltserlaubnis treffen oder der Prostitution nachgehen,

5. zum Zwecke der vorbeugenden Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität im Grenzgebiet zur Republik Polen und zur Tschechischen Republik bis zu einer Tiefe von 30 km, darüber hinaus in öffentlichen Anlagen, Einrichtungen oder Verkehrsmitteln des internationalen Verkehrs oder in

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unmittelbarer Nähe hiervon sowie auf Bundesfernstraßen und anderen Straßen von erheblicher Bedeutung für die grenzüberschreitende Kriminalität, 6. wenn sie sich innerhalb eines Kontrollbereichs aufhält, der von der Polizei eingerichtet worden ist, a) um Straftaten im Sinne des § 100a der Strafprozessordnung oder § 27 des Versammlungsgesetzes zu verhindern, b) um nach Personen zu fahnden, bei denen bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, dass sie eine Straftat im Sinne des § 100a der Strafprozessordnung oder § 27 des Versammlungsgesetzes begangen oder in Fällen, in denen der Versuch strafbar ist, zu begehen versucht oder durch eine Straftat vorbereitet haben. Die Einrichtung eines Kontrollbereichs darf nur vom Staatsministerium des Innern oder mit seiner Zustimmung angeordnet werden. (la) Das Staatsministerium des Innern erfasst den Umfang und die Ergebnisse der Anwendung von Absatz 1 S. 1 Nr. 5 und berichtet hierüber jährlich dem Sächsischen Landtag. (§ 19 Abs. 1 Nr. 5 und Abs. 1a treten gem. .Art. 5 Abs. 2 des Ziveiten Gesetzes ^ir Änderung des Poli^eigeset^es des Freistaates Sachsen vom 21. Juni 1999 [SächsG I ü/. S. 330] am 31. Mai 2004 außer Kraft) (2) Die Polizei kann zur Feststellung der Identität die erforderlichen Maßnahmen treffen. Sie kann den Betroffenen insbesondere anhalten und verlangen, dass er mitgeführte Ausweispapiere vorzeigt und zur Prüfung aushändigt. Der Betroffene kann festgehalten und zur Dienststelle gebracht werden, wenn die Identität auf andere Weise nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten festgestellt werden kann. § 20 Erkennungsdienstliche Maßnahmen (1) Die Polizei kann erkennungsdienstliche Maßnahmen ohne Einwilligung des Betroffenen nur vornehmen, wenn 1. eine nach § 19 zulässige Identitätsfeststellung auf andere Weise nicht zuverlässig durchgeführt werden kann oder 2.

...

(2) Erkennungsdienstliche Maßnahmen sind insbesondere 1. die Abnahme von Finger- und Handflächenabdrücken, 2. die Aufnahme von Lichtbildern einschließlich Bildaufzeichnungen, 3. die Feststellung äußerer körperlicher Merkmale, 4. Messungen und ähnliche Maßnahmen. (3) Die erkennungsdienstlichen Unterlagen sind zu vernichten, wenn die Identität festgestellt oder der Verdacht entfallen ist, es sei denn, ihre weitere Aufbewahrung ist nach anderen Rechtsvorschriften zulässig.

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Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen § 21 Platzverweis und Aufenthaltsverbot

(2) Die Polizei kann einer Person für höchstens drei Monate den Aufenthalt in einem Gemeindegebiet oder -gebietsteil untersagen, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass die Person dort eine Straftat begehen oder zu ihrer Begehung beitragen wird. Das Verbot ist zeitlich und örtlich auf den zur Verhütung der Straftat erforderlichen Umfang zu beschränken und darf räumlich nicht den Zugang zur Wohnung der betroffenen Person umfassen. Die Vorschriften des Versammlungsrechts sowie die Wahrnehmung berechtigter Interessen durch die betroffene Person bleiben unberührt. § 22 Gewahrsam (1) Die Polizei kann eine Person in Gewahrsam nehmen, wenn 1. ... 2. das zum Schutz der Person gegen eine Gefahr für Leib oder Leben erforderlich ist und die Person a) sich erkennbar in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand oder sonst in hilfloser Lage befindet oder b) Selbstmord begehen will oder 3. die Identität einer Person auf andere Weise nicht festgestellt werden kann (7) Nimmt die Polizei eine Person nach Absatz 1 oder 2 in Gewahrsam, so hat sie unverzüglich eine richterliche Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer des Gewahrsams herbeizuführen. Der Herbeiführung der Entscheidung bedarf es nicht, wenn anzunehmen ist, dass die Entscheidung erst nach Wegfall des Grundes des Gewahrsams ergehen würde. § 23 Durchsuchung von Personen (1) Die Polizei kann eine Person durchsuchen, wenn 1. sie nach diesem Gesetz oder anderen Rechtsvorschriften festgehalten oder in Gewahrsam genommen werden darf, 2. Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie Sachen mit sich führt, die sichergestellt oder beschlagnahmt werden dürfen, 3. dies zur Feststellung ihrer Identität erforderlich ist und die Person sich erkennbar in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand oder sonst in einer hilflosen Lage befindet,

(2) Die Polizei kann eine Person, deren Identität gem. § 19 oder anderen Rechtsvorschriften festgestellt werden soll, nach Waffen, anderen gefährlichen Werkzeugen und Sprengmitteln durchsuchen, wenn dies nach den LImständen zum Schutz eines Polizeibediensteten oder eines Dritten gegen eine Gefahr für Leib oder Leben erforderlich erscheint.

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Normenkontrollverfahren: Sächsisches Polizeigesetz § 24 Durchsuchung von Sachen Die Polizei kann eine Sache durchsuchen, wenn

6. es sich um ein Land-, Wasser- oder Luftfahrzeug handelt, in dem sich eine Person befindet, deren Identität nach § 19 Abs. 1 Nr. 4, 5 oder 6 festgestellt werden darf; die Durchsuchving kann sich auch auf die in dem Fahrzeug enthaltenen oder mit dem Fahrzeug verbundenen Sachen erstrecken, oder 7. sie von einer Person mitgeführt wird, deren Identität nach § 19 Abs. 1 Nr. 4, 5 oder 6 festgestellt werden darf. § 25 Betreten und Durchsuchung von Wohnungen

(5) Außer bei Gefahr im Verzug darf die Durchsuchung einer Wohnung nur durch das Amtsgericht angeordnet werden, in dessen Bezirk die Durchsuchung vorgenommen werden soll. Für das Verfahren gelten die \ 7 orschriften des Gesetzes über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit entsprechend. Die Entscheidung des Gerichts kann ohne vorherige Anhörung des Betroffenen ergehen und bedarf zu ihrer Wirksamkeit nicht der Bekanntmachung an ihn. Gegen die Entscheidung des Gerichts findet die sofortige Beschwerde statt; die Beschwerde hat keine aufschiebende Wirkung. § 36 Begriffsbestimmungen (1) Straftaten von erheblicher Bedeutung im Sinne dieses Gesetzes sind 1. Verbrechen, 2. Vergehen, die im Einzelfall nach Art und Schwere geeignet sind, den Rechtsfrieden besonders zu stören, soweit sie a) sich gegen das Leben, die Gesundheit oder die Freiheit einer oder mehrerer Personen richten, b) auf den Gebieten des unerlaubten Waffen- oder Betäubungsmittelverkehrs, der Geld- oder Wertzeichenfälschung, der Vorteilsnahme oder -gewährung, der Bestechlichkeit oder Bestechung (§§ 331 bis 335 StGB) oder des Staatsschutzes ( §§ 74a und 120 des Gerichtsverfassungsgesetzes) begangen werden, c) gewerbs-, gewohnheits-, Serien-, bandenmäßig oder sonst organisiert begangen werden. (2) Besondere Mittel zur Erhebung von Daten im Sinne dieses Abschnitts sind

3. der Einsatz eines Polizeibediensteten, der unter einer ihm verliehenen, auf Dauer angelegten, veränderten Identität (Legende) ermittelt (Verdeckter Ermittler),

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§ 38 Erhebung von Daten bei öffentlichen Veranstaltungen, Ansammlungen und besonders gefährdeten Objekten

(2) Der Polizeivollzugsdienst kann an den in § 19 Abs. 1 Nr. 2 genannten Orten und in den in § 19 Abs. 1 Nr. 3 genannten Objekten oder in deren unmittelbarer Nähe personenbezogene Daten durch Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen oder -aufzeichnungen von Personen erheben, soweit tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass an Orten dieser Art oder an oder in Objekten dieser Art Straftaten begangen werden sollen, durch die Personen, Sach- oder Vermögenswerte gefährdet werden. Die Erhebung kann auch durchgeführt werden, wenn Dritte unvermeidbar betroffen werden. § 39 Einsatz besonderer Mittel zur Erhebung von Daten (1) Der Polizeivollzugsdienst kann personenbezogene Daten durch den Einsatz besonderer Mittel erheben 1. über die für eine Gefahr Verantwortlichen und unter den Voraussetzungen des § 7 über die dort genannten Personen, wenn dies zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für Leben, Gesundheit oder Freiheit einer Person oder für bedeutende fremde Sach- oder Vermögenswerte erforderlich ist, 2. über Personen, bei denen Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie Straftaten von erheblicher Bedeutung (§ 36 A b s . l ) begehen werden, 3. über Personen, die zu den in Nummer 2 genannten Personen in näherer persönlicher oder geschäftlicher Beziehung stehen oder zu ihnen über einen längeren Zeitraum eine Verbindung unterhalten oder eine Verbindung unterkonspirativen Umständen hergestellt haben oder pflegen (Kontakt- oder Begleitpersonen). Die Datenerhebung ist insoweit beschränkt auf die Gewinnung von Hinweisen bezüglich der angenommenen Straftaten und muss zu deren vorbeugender Bekämpfung zwingend erforderlich sein.

(7) Daten dürfen auch dann nach Absatz 1 erhoben wTerden, wenn Dritte unvermeidbar betroffen werden. Bild- und Tonaufnahmen oder -aufzeichnungen, die ausschließlich Personen betreffen, gegen die sich die Datenerhebungen nicht richten, sind unverzüglich zu löschen oder zu vernichten, soweit sie nicht zur Verfolgung von Straftaten von erheblicher Bedeutung (§ 36 Abs. 1) erforderlich sind. (8) Die Betroffenen sind nach dem Abschluss der Maßnahme hierüber durch den Polizeivollzugsdienst unverzüglich zu unterrichten, sobald dies ohne Gefahr für Leben, Gesundheit oder Freiheit einer Person oder ohne Gefährdung des Zwecks der Datenerhebung erfolgen kann. Im Fall des § 36 Abs. 2 Nr. 3 sind auch die Personen zu unterrichten, deren nicht allgemein zugängliche Wohnung der Verdeckte Ermittler betreten hat. (9) Eine Unterrichtung unterbleibt, wenn wegen des auslösenden Sachverhalts ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen den Betroffenen eingeleitet und Akteneinsicht gewährt worden ist. Im Fall des § 36 Abs. 2 Nr. 3 unterbleibt die LVerfGE 14

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Unterrichtung auch, soweit sie nicht ohne Gefährdung von Leib oder Leben oder der weiteren Verwendung des Verdeckten Ermittlers geschehen kann. (10) Der Staatsminister des Innern erstattet dem Sächsischen Landtag jährlich Bericht über abgeschlossene Maßnahmen unter Einsatz besonderer Mittel nach § 36 Abs. 2. § 43 Speichetung, Veränderung und Nutzung von Daten

(6) Der Polizeivollzugsdienst kann personenbezogene Daten auch zur Aus- und Fortbildung nutzen. Die Anonymisierung kann unterbleiben, wenn diese nicht mit vertretbarem Aufwand möglich ist oder dem Aus- und Fortbildungszweck entgegensteht und jeweils die berechtigten Interessen des Betroffenen an der Geheimhaltung der Daten ausnahmsweise nicht überwiegen. § 46 Datenabgleich (1) Der Polizeivollzugsdienst kann personenbezogene Daten der in §§ 4 und 5 genannten Personen mit dem Inhalt polizeilicher Dateien abgleichen. Personenbezogene Daten anderer Personen kann der Polizeivollzugsdienst nur abgleichen, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass dies zur Wahrnehmung einer bestimmten polizeilichen Aufgabe erforderlich ist. Der Polizeivollzugsdienst kann ferner die im Rahmen der Wahrnehmung seiner Aufgaben erlangten personenbezogenen Daten mit dem Fahndungsbestand abgleichen. ... § 49 Berichtigung, Löschung und Sperrung von Daten Hinsichtlich der Berichtigung, Löschung und Sperrung von Daten durch den Polizeivollzugsdienst sind die §§ 18-20 SächsDSG mit der Maßgabe anzuwenden, dass eine Löschung nach § 19 Abs. 4 SächsDSG auch dann unterbleibt, wenn 2. die Nutzung der Daten zu wissenschaftlichen Zwecken erforderlich ist; § 43 Abs.6 S. 2 gilt entsprechend. § 67 Weisungsrecht und Unterrichtungspflicht (1) Die zur Dienstaufsicht oder zur Fachaufsicht zuständigen Behörden können den allgemeinen Polizeibehörden im Rahmen ihrer Zuständigkeit uneingeschränkt Weisungen erteilen. Die allgemeinen Polizeibehörden haben diesen Weisungen Folge zu leisten. § 74 Dienstaufsicht und Fachaufsicht

(5) Die zur Dienstaufsicht oder zur Fachaufsicht zuständigen Stellen können den Polizeidienststellen im Rahmen ihrer Zuständigkeit Weisungen erteilen. Die Polizeidienststellen haben diesen Weisungen Folge zu leisten. Sie sind verpflichtet, die weisungsbefugten Stellen von allen sachdienlichen Wahrnehmungen zu unterrichten.

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I. Die Antragsteller, 30 Mitglieder des 3. Sächsischen Landtages, beantragen, folgende Vorschriften des Polizeigesetzes des Freistaates Sachsen (SächsPolG) für verfassungswidrig und nichtig zu erklären: 1.

§ 19 Abs. 1 Nr. 5, soweit jedermann außerhalb eines Grenzstreifens von 30 km Tiefe angehalten, festgehalten, identifiziert und durchsucht werden darf (§ 19 Abs. 1 Nr. 5 iVm § 19 Abs. 2, §§ 20, 22 Abs. 1 Nr. 3, § 23 Abs. 1 und 2, § 24 Nrn. 6 und 7),

2.

§ 19 Abs. 1 Nr. 6, soweit jedermann innerhalb eines gesetzlich nicht bestimmten Kontrollbereichs ohne einen ihm zurechenbaren Grund vorsorglich kontrolliert und einer Fahndung unterzogen werden darf,

3.

§ 21 Abs. 2, soweit ein Aufenthaltsverbot für Gemeindegebiete und Gemeindegebietsteile in Betracht kommt,

4.

§ 39 Abs. 9 S. 2, soweit über den Fall einer Gefährdung von Leib oder Leben hinaus eine Unterrichtung von heimlich Betroffenen nach Ende des Eingriffs unterbleiben darf,

5.

§ 22 Abs. 1 Nr. 2 Buchst, b, soweit jeder Suizidwillige, also auch derjenige, der in freier Selbstbestimmung sterben will, in Gewahrsam genommen werden darf,

6.

§ 38 Abs. 2 iVm § 19 Abs. 1 Nr. 2, soweit ohne konkrete Gefahr Bild- und Tonaufnahmen von jedermann an Ortlichkeiten gemacht werden dürfen, an denen erfahrungsgemäß Straftäter sich verbergen, Personen Straftaten verabreden, verbreiten oder verüben, sich ohne erforderliche Aufenthaltserlaubnis treffen oder der Prostitution nachgehen.

II. Zur Begründung machen die Antragsteller im Wesentlichen geltend: 1. § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG Jedermannkontrollen seien nach dem Urteil des Landesverfassungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 21.10.1999 jedenfalls außerhalb eines Grenzbereiches von 30 km Tiefe verfassungswidrig. Die Kontrollbefugnis „zum Zwecke der vorbeugenden Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität" unterscheide nicht exakt zwischen dem Schutz der Grenze nebst der Verhinderung unerlaubter Grenzübertritte (Grenzschutz) und der Abwehr innerstaatlicher Gefahren, die mit der Grenznähe im Zusammenhang stünden. Für die Abwehr der Grenzgefahren einschließlich der „Grenzfahndung" sei nach Art. 73 Nr. 5 GG ausschließlich der Bund zuständig. Eine Grenzkontrolle durch das Land scheide nach Maßgabe des Gesetzes über den Bundesgrenzschutz aus. Die Gesetzesbegründung zu § 19 SächsPolG lasse die Absicht erkennen, neben den kalkulierbaren Grenzkontrollen auch unvorhersehbare Kontrollen im Landesinneren durchführen zu können. Zugleich würden Fahndungserfolge hervorgehoben, der NormLVerfGE 14

Normenkontrollverfahren: Sächsisches Polizeigesetz

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zweck über den Gesetzeswortlaut hinaus auf einen strafprozessualen Zweck ausgedehnt. Landespolizeilich solle bewirkt werden, was dem Bundesgrenzschutz nach § 2 Abs. 2 BGSG auf Grund der Art. 73 Nr. 5 und Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG zustehe. Die angegriffene Norm verstoße also gegen vorrangiges Bundesrecht. Dem Freistaat fehle die Kompetenz, strafprozessuale Fahndungsbefugnisse im landesspezifischen Gefahrenabwehrrecht zu regeln, um unabhängig von jedem Verdacht gem. § 152 Abs. 2 StPO jedermann polizeilicher Fahndung unterziehen zu können. Dass es immer schon Fahndungszugriffe bei Gelegenheit einer Polizeikontrolle gegeben habe, eröffne nicht den Weg zur Schaffung einer landespolizeilichen Fahndungsbefugnis sui generis. Rechtmäßige Polizeikontrollen präventiver Art hätten stets unter dem Vorbehalt der Abwehr einer Gefahr gestanden und sich in der Regel gegen den Störer gerichtet, wobei ein Abgleich mit dem „Fahndungsbestand" durchaus möglich gewesen sei. Zwar erlaube etwa die Befugnis zur Einrichtung von Kontrollstellen, jedermann ohne Verdacht oder Zurechenbarkeit zu einem Störungsanlass zu kontrollieren; diesen ortsbezogenen Kontrollen könne der Einzelne aber durch Umkehren oder Ausweichen entgehen. Demgegenüber solle die angegriffene Regelung einen unausweichlichen, anlass- und verdachtslosen Polizeizugriff zur strafprozessualen Nutzung ermöglichen. Dass es im Wesentlichen um eine polizeiliche Fahndungsbefugnis gehe, belegten die zur Rechtfertigung angeführten „Erfolgsmeldungen" und die ministerielle Bezeichnung als „Schleierfahndung". Die Kontrollen würden zwar nicht ohne jeden Grund vorgenommen. Die Reisewege gefasster Täter könnten z.B. Hinweise auf bevorzugte Strecken liefern. Der einzelne Kontrollzugriff unterliege freilich keinem tatbestandlich bestimmten Vorbehalt, so dass jedermann nach subjektivistischer Einschätzung seines Aussehens, seines Fahrzeugs und ggf. seines Gesamtverhaltens beliebig kontrolliert werden könne. Solche Kontrollen machten ohne die Möglichkeit des Fahndungszugriffs keinerlei Sinn und könnten daher nicht als Mittel der Prävention ausgegeben werden. § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG verstoße zudem gegen das Sclbstbestimmungsrecht (Art. 15 und 33 iVm Art. 14 SächsVerf). Das Grundrecht sei schon nach dem Wortlaut von Art. 15 SächsVerf nur einschränkbar, soweit seine Ausübung Rechte anderer verletze. Das schlichte Reisen biete keinen Grund für einen Kontrollvorbehalt zu Gunsten der Exekutive. Wer ein Kraftfahrzeug führe, könne lediglich wegen der latenten Betriebsgefahr gem. § 36 Abs. 5 StVO kontrolliert werden; Reisegründe, Gepäck und Mitreisende hätten kontrollfrei zu bleiben. Der bundesrechtliche Grenzkontrollverzicht durch das Ubereinkommen vom 19.6.1990 zur Durchführung des Ubereinkommens von Schengen vom 14.6.1985 (Gesetz v. 15.7.1993, BGBl. II S. 1010) rechtfertige keine wahllosen Binnenkontrollen. Um den angeblichen Ausgleich eines Kontrolldefizits könne es in Sachsen mit seinen Außengrenzen der Schengen-Staaten nicht gehen. Dass die Möglichkeit einer landesweiten Totalkontrolle zu vermehrten „FahndungserfolLVerfGE 14

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gen" führen müsse und solle, reiche zur Legitimierung einer derart fundamentalen Beschränkung des Rechts auf freie Selbstbestimmung nicht aus. Eine verfassungsgemäße „Jedermannpflicht", bei staatlicher Kontrolle an der Aufklärung seiner Identität mitzuwirken, gebe es nicht. Wer jedermann auf Reisen als Kontrollobjekt ansehe, setze an die Stelle des Vertrauens in seine Rechtstreue ein vorgreifliches Misstrauen. Die Identitätsfeststellung sei — auch wegen der möglichen Folgeeingriffe - kein relativ geringfügiger Eingriff, sie betreffe mit dem Selbstbestimmungsrecht den Kern der Menschenwürde des Einzelnen. Ohne erkennbaren Zurechnungszusammenhang zu einer Gefahrenlage sei der Einzelne vom Staat „in Ruhe zu lassen". Fehle es an einer Nodage iSv Art. 35 Abs. 2 oder Art. 91 GG, müsse es bei der „normalen" Grundrechtsordnung bleiben. Diese lasse sich auch nicht durch den Gesetzgebungsvorbehalt in Art. 2 Abs. 1 GG in der Weise relativieren, dass Bürgerfreiheiten von vornherein nur nach Maßgabe der Gesetze gewährt seien. Der Gesetzgeber dürfe die konkrete Grundrechtsausübung lediglich zum Schutze anderer Grundrechtsgüter verhältnisgerecht zuordnen. Der politisch und rechtlich unbestimmte Begriff der Sicherheit sei kein Rechtsgut. Ferner sei die Jedermannkontrollbefugms so unbestimmt, dass niemand ihre Anwendung voraussehen oder sich ihr durch gesetzmäßiges Verhalten entziehen könne. Der Sinn des Verfassungsgebotes der Bestimmtheit und Normenklarheit werde absichtlich verfehlt, um die „Effektivität der Polizeiarbeit" zu steigern. Eine höhere „Trefferquote" könne ein absichtliches „Untermaß" an gesetzlicher Bestimmtheit nicht rechtfertigen. Der angegriffenen Norm fehle es — anders als bei den Kontrollbefugnissen an gefährlichen Orten oder im Grenzbereich — an jeder räumlichen Bestimmtheit. Das ganze Land solle Eingriffsort sein können. Die im Landtag seitens der Exekutive gegebene Zusicherung, analog zu § 22 BGSG nur nach konkreten Lageerkenntnissen und Erfahrungen vorzugehen, sei nicht mehr als eine selbstverständliche Zusicherung verhältnismäßigen Handelns. Die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips entbinde jedoch nicht von der Einhaltung normativ bestimmter und damit verifizierbarer und justiziabler Vorgaben. Auch müsse der Betroffene wenigstens Anhaltspunkte für einen Kontrollbedarf erkennen können; die polizeiinterne Lagebeurteilung sei für ihn als Außenstehenden aber niemals erkennbar. Selbst ein Gericht könne sie später nicht unbedingt zuverlässig rekonstruieren. Im Übrigen hielten es die Antragsteller für begrüßenswert, wenn der Verfassungsgerichtshof „der sich aus dem Zusammenhang ergebenden Frage nachgehen würde, ob die über eine Namensfeststellung hinausgehende Kontrollbefugnis innerhalb eines Grenzstreifens von 30 km Tiefe zulässig ist". 2. § 19 Abs. 1 Nr. 6 SächsPolG Die Befugnis zur Kontrolle von jedermann innerhalb eines vom Innenminister bestimmten Kontrollbereiches begegne denselben verfassungsrechtlichen Bedenken wie § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG. Der Ministervorbehalt ersetze nicht die für die Vorhersehbarkeit, Notwendigkeit und Begründung eines Zugriffs erLVerfGE 14

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forderlichen tatbestandlichen Voraussetzungen. Er solle zwar rechtssichernde Wirkung haben, ändere aber nichts daran, dass für die Anordnung selbst keine Kriterien vorgesehen seien. Eine räumliche oder sächliche Eingrenzung bewirke die Zweckbestimmung in § 19 Abs. 1 Nr. 6 Buchst, a SächsPolG nicht. „Straftaten im Sinne des § 100a StPO" könnten sich im ganzen Land ereignen. Auch ließen sich einzelne Deliktstatbestände kaum vor ihrer Begehung lokal fixieren. Gebe es Anzeichen für den Beginn von Ausführungshandlungen, sei die Strafprozessordnung maßgebend. Für eine weitere Prävention bedürfe es keines tatortübergreifenden Kontrollnetzes, dem ausnahmslos jedermann unterworfen sei. Für gefährdete Orte oder Betriebe genügten die Kontrollbefugnisse gem. § 19 Abs. 1 Nr. 2 und 3 SächsPolG. § 27 des Versammlungsgesetzes (VersG) sei ebenfalls kein hinreichender Anknüpfungspunkt einer Kontrollbefugnis. Das dort geregelte Waffenverbot sei hinsichtlich der sogenannten Passivbewaffnung so unpräzise, dass auch die präventive Kontrolle zu einer unwägbaren Ermessensausübung der Polizei führe. Die Weite der Kontrollbefugnis ermögliche es, die Namen vieler möglicher Protestierer zu erfahren, ohne dass konkrete Anhaltspunkte für ein geplantes strafbares Verhalten vorliegen müssten. Das beeinträchtige die Versammlungsfreiheit gem. Art. 8 GG und Art. 23 SächsVerf. Verfassungswidrig sei erst recht die Befugnis gem. § 19 Abs. 1 Nr. 6 Buchst, b SächsPolG zur Fahndung nach abreisenden, eines Verstoßes gegen § 27 VersG verdächtigen Versammlungsteilnehmern und nach Verdächtigen im Hinblick auf Straftaten iSd § 100a StPO. Das Land habe keine Gesetzgebungsbefugnis auf dem Gebiet des Strafverfahrens; die Fahndungsbefugnis der Polizei richte sich allein nach der Strafprozessordnung. 3. § 21 Abs. 2 SächsPolG Die Regelung über das Aufenthaltsverbot verstoße gegen Art. 73 Nr. 3 GG und damit gegen Art. 3 Abs. 3 SächsVerf. Der Freizügigkeitsbegriff in Art. 73 Nr. 3 GG decke sich mit dem des Art. 11 GG und betreffe die freie Wahl des beliebigen Aufhaltens und Niederlassens im ganzen Bundesgebiet. Der Gesetzesvorbehalt des Art. 11 Abs. 2 GG sei im Kontext mit Art. 73 Nr. 3 GG dahin zu verstehen, dass jegliche Einschränkung nur auf Grund einer bundeseinheitlichen Norm erfolgen dürfe. Werde die Beschränkung der Freizügigkeit, wie sich aus der Zitierung von Art. 11 GG in § 79 Nr. 5 SächsPolG ergebe, zum Mittel vermeintlicher Gefahrenabwehr, liege die Normierung allein beim Bund. Gegen eine ergänzende Kompetenz der Länder spreche ferner das Ziel der bundesweiten Freizügigkeitsgarantie: Jeder ländereigenen Steuerung von Wanderbewegungen und Bevölkerungsstrukturen durch unterschiedliche Aufenthalts- und Niederlassungsregelungen — wie in den Reichsverfassungen von 1871 und 1919 - habe ein Riegel vorgeschoben werden sollen. Außerdem sei gem. Art. 31 GG der Vorrang des § 112a StPO zu beachten. Soweit das Institut der Sicherungshaft bei Wiederholungsgefahr reiche, sei für eine LVerfGE 14

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polizeirechtliche Regelung kein Platz. Zudem könne für eine Polizeihaft allenfalls insoweit Raum sein, als es um die Ingewahrsamnahme von Störern gehe, die entweder bei einer Störung oder beim Ansatz zu einer Störung ergriffen würden. Dafür biete bereits § 22 Abs. 1 Nr. 1 SächsPolG eine Eingriffsgrundlage. Das Aufenthaltsverbot nach § 21 Abs. 2 SächsPolG mache nur Sinn, soweit es um das Fernhalten von potentiellen Störern gehe. Die Eingriffsvoraussetzungen des § 21 Abs. 2 SächsPolG seien vage. Erforderlich seien nicht konkrete Anhaltspunkte für den Beginn strafbaren Tuns, wie von Art. 11 Abs. 2 GG vorgegeben; vielmehr genüge, dass „Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass die Person ... eine Straftat begehen oder zu ihrer Begehung beitragen" werde. Entscheidend sei demnach ein subjektiver Schluss aus ungenannten Indizien, also eine wertende Betrachtung, bei der — anders als bei § 152 Abs. 2 StPO - die Wahl der Bewertungskriterien im Ermessen desjenigen liege, der über den Eingriff bestimme. Für eine berechenbare und justiziable Eingriffsregelung solcher Schwere seien jedoch verifizierbare Tatsachen unerlässlich. Die Verhängung eines Aufenthaltsverbots in einem Zweifelsfall verstoße gegen die Unschuldsvermutung. Die erstrebte Flexibilität der Normanwendung durch eine Generalklausel, welche Raum für Wertungen und lageangepasste Interpretationen lasse, könne nicht durch den Richtervorbehalt gem. § 22 Abs. 7 SächsPolG relativiert werden. Soweit es danach überhaupt zu einer Richterentscheidung komme, werde nur Kompetenz verlagert. Die materiellen Eingriffsvoraussetzungen blieben dieselben. Die Frage nach den gesetzlich bestimmten Kriterien, nach denen sich das Verhalten des Betroffenen als Störungsdrohung bemessen solle, bleibe offen. Die „Zuflucht" zum Richter könne allenfalls reine Willkür verhindern. Selbst solche Vorsorge sei nicht durchgängig gesichert, da das Aufenthaltsverbot nur mit einem nachträglichen Richterentscheid gem. § 22 Abs. 7 SächsPolG verknüpft sei und von der Anrufung und Erreichbarkeit eines Richters abhänge. Nicht einmal mit Hilfe verfassungskonformer Auslegung könne § 21 Abs. 2 SächsPolG Bestand haben. Anderes gelte allenfalls für eine Regelung zum Schutz vor gefährlichen Vorbestraften. Art. 11 Abs. 2 GG sei nach dem Normzweck des Gesetzesvorbehaltes, strafbaren Handlungen vorzubeugen, eng auszulegen. Andernfalls gelange man zu einer präventivpolizeilichen Generalklausel, welche die abschließende Aufzählung der Gesetzesvorbehalte habe ausschließen wollen. Art. 11 Abs. 2 GG erlaube trotz seiner generell präventiven Fassung nur Freiheitsbeschränkungen, die durch vorangegangene Bestrafungen indiziert seien. Dem entspreche die Sicherungshaft nach § 112a StPO; für ein weitergehendes landespolizeiliches Aufenthaltsverbot bleibe verfassungsrechtlich kein Raum. Aus der Sicht praktischer Anwendbarkeit sei § 21 Abs. 2 SächsPolG als ungeeignet anzusehen. Zur etwaigen Durchsetzung des Aufenthaltsverbots könnten gegen den Betroffenen maximal drei l äge Gewahrsam verhängt werden (§ 22 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 7 S. 3 SächsPolG). Kettengewahrsam sei nicht zulässig und das LVerfGE 14

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Dreimonatsverbot in § 21 Abs. 2 SächsPolG deshalb von vornherein wenig wirksam. Zudem müsste die Polizei den gewaltbereiten Störer oder Dealer erkennen können; er werde seine Absichten aber nicht vorher erklären; seine äußere Aufmachung sei kein sicheres Indiz. Polizeipräsenz, nicht aber vorsorgliche Freiheitsbeschränkungen, sei das geeignete und gebotene Mittel bei den angenommenen Gefahrenlagen, gerade auch bei Massenauftritten. 4. § 39 Abs. 9 S. 2 Alt. 2 SächsPolG Die Verschweigebefugnis begegne keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, solange die Offenbarung zu einer konkreten, nicht anders zu behebenden Gefahr für Leib und Leben eines Beteiligten führte. Die weitere Verwendbarkeit eines Verdeckten Ermittlers als Mittel der Gefahrenabwehr könne dagegen niemals rechtfertigen, den Betroffenen die für die Realisierung der Rechtsschutzgarantie erforderliche Information vorzuenthalten. Die (weitere) Verwendungsmöglichkeit sei kein Rechtsgut, das mit einem Hauptgrundrecht auf- oder abgewogen werden könne. Der Vcrdeckte Ermitder sei ein Einsatzmittel und nur der Person nach, nicht der Funktion wegen „grundrechtsfähig". Das „\^erbrennen" eines Verdeckten Ermittlers sei Verfahrenspreis; wer ihn einsetze und durch ihn in Grundrechte anderer eingreife, müsse sich sofort oder nach dem Einsatzende zu den Eingriffen bekennen. Dabei werde es oft nicht nötig sein, den Verdeckten Ermitder namentlich zu benennen. Bekannt werde ggf. nur, dass die Polizei mit einem \ r erdeckten Ermittler gearbeitet und dadurch bestimmte Beweismittel erlangt habe und womöglich immer noch ein „Spitzel" in der Bande arbeite, zu welcher der Betroffene gehört habe. Dies unterscheide sich nicht wesentlich von der Situation beim Einsatz von V-Leuten. Der Einsatz von Verdeckten Ermitdern sei in § 39 SächsPolG auch nicht etwa auf längere Dauer angelegt, sondern lediglich als Mittel einer nicht anders zu bewältigenden akuten Gefahrenlage gedacht. In § 39 Abs. 1 Nr. 1 SächsPolG würden gegenwärtige Gefahren, in Nr. 2 und Nr. 3 Tatsachen für bestimmte Planungen vorausgesetzt. Ziel sei jeweils die Verhinderung einer bestimmten Planausführung. Also könne die Methode nach erfolgreicher Gefahrenabwehr ohne Rechtsnachteile für andere mitgeteilt werden. Dass die Ausbildung des Agenten unter LJmständen teuer gewesen sei und seine Kenntnisse nicht mehr in weiteren Fällen genutzt werden könnten, sei kein grundrechtsrelevanter Nachteil, so dass eine Abwägung mit den Grundrechtsbelangen der Betroffenen aus Art. 19 Abs. 4 GG nicht möglich sei. Geheimhaltung könne es deshalb nur geben, solange der Verdeckte Ermitder noch in der Gefahrenlage operiere und persönlich gefährdet sei. Eine weitergehende Verschweigebefugnis sei auch nicht im ersten Polizeigesetz-Urteil des Verfassungsgerichtshofes begründet; die Klarstellung, dass der Einsatz eines Verdeckten Ermittlers als geheimdienstliche Methode iSv Art. 83 Abs. 3 SächsVerf zu qualifizieren sei, berühre weder die Rechtsschutzgarantie des Art. 38 SächsVerf noch die nach Art. 19 Abs. 4 GG. Der Richtervorbehalt in § 39 Abs. 4 SächsPolG könne nicht als Rechtsschutzersatz gewertet werden, weil es LVerfGE 14

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vor dem Einsatz nicht zu einer Anhörung des Betroffenen (Art. 103 Abs. 1 GG) kommen könne. Die Kompetenzverlagerung für die Einsatzanordnung sei Bestandteil des Verwaltungsverfahrens, kein Rechtsschutzverfahren. Das Polizeigesetz sehe auch keine parlamentarische Einzelfallkontrolle analog zum G-10-Gesetz vor. Die Berichtspflicht des Innenministers gegenüber dem Parlament solle der Evaluation dienen, könne also nicht zur konkreten Restitution eines Betroffenen führen. Außerdem sei die Rechtsschutzgarantie nur für den Fall geheimdienstlicher Eingriffe in das Post- und Fernmeldegeheimnis zugunsten einer parlamentarischen Kontrolle reduzierbar. Insoweit könne gem. „Art. 30 GG" auch Art. 83 SächsVerf nichts anderes bestimmen. Die erheblich weitergehende Verschweigebefugms in § 101 Abs. 1 StPO bei einigen neuen geheimen Ermittlungsmethoden sei kein Indiz dafür, dass die engere Regelung im Polizeigesetz für geheime präventive Methoden verfassungsrechtlich erst recht vertretbar sein müsse. Denn die Erstreckung der Verschweigebefugnis in § 101 StPO auf jeden Fall der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit sei verfassungswidrig, weil damit jegliche Rechtsgutgefahr zum Informationsausschluss und zum Rechtsschutzverlust führen könne. Im Übrigen sei in § 79 SächsPolG Art. 19 Abs. 4 GG so wenig zitiert wie Art. 38 SächsVerf, obwohl Art. 37 SächsVerf dies für eine wirksame Grundrechtsbeschränkung verlange. 5. § 22 Abs. 1 Nr. 2 Buchst, b SächsPolG Zwar sei bei jedweder Ungewissheit darüber, ob der Suizidwillige zur freien Willensbestimmung fähig sei, das polizeiliche Eingreifen und die Rettung des Betroffenen gerechtfertigt. Nach der Systematik des § 22 Abs. 1 Nr. 2 SächsPolG betreffe der Gewahrsam gem. Buchst, b aber gerade Selbstmordwillige, die über eine intakte Selbstbestimmungsmöglichkeit verfügten. Wer sein Leben beenden oder gefährden wolle, handele nicht rechts- oder polizeiwidrig, wenn er bei klarem Verstand sei. Das Bundesverfassungsgericht habe Würde und Leben des Menschen nicht derart verabsolutiert, dass er ggf. vor sich selbst zu schützen sei. Freilich werde die These vom staatlichen Schutz des Menschen vor sich selbst durch moderne Sicherheitsprogramme (Sicherheitsgurt, Pflicht zum Heimtragen auf dem Motorrad) gefördert. Der Verfassunggeber habe jedoch gewollt, dass jeder „tun und lassen kann, was die Rechte anderer nicht verletzt". Mit der Umdeutung der Grundrechtsordnung in eine „Werteordnung" seien die Bürgerfreiheiten allerdings relativiert worden. Die Entwicklung des Polizeirechts belege dies mit der Befugnis zur Ingewahrsamnahme jedes Suizidwilligen. 6. § 38 Abs. 2 i.V.m. § 19 Abs. 1 Nr. 2 SächsPolG Bei der Videoüberwachung von jedermann an allen nach der „Erfahrung" der Polizeibehörden als „kriminogen" angesehenen Orten werde das Recht des Einzelnen auf Privatheit nicht nur geringfügig betroffen. Maßgebend seien die für den Laien unübersehbaren Möglichkeiten von Folgeeingriffen. Die Befugnis erlaube überall, wo die Polizeioberen eine Überwachung für opportun hielten, eine LVerfGE 14

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Entprivatisierung der Menschen, die sich außer Hauses bewegen. Die Jedermannkontrollen gem. § 19 Abs. 1 Nrn. 5 und 6 SächsPolG fänden in der fast ebenso voraussetzungslosen Videoüberwachung des öffentlichen Verkehrsraumes eine unpersönliche und unbemerkbare Ergänzung. Sie lasse sich zu Fahndungszwecken einsetzen, was ebenfalls nicht erlaubt, aber zu besorgen sei. Sie sei auch nicht beschränkt auf die Abwehr bestimmter, schwerwiegender Rechtsstörungen, etwa an extrem gefahrenträchtigen Verkehrsorten. Es gehe um Totalprävention und ggf. um umfassende Repression mit Hilfe eines vorsorglichen Zugriffs auf jedermann. Faktisch werde damit die Vermutung der Rechtstreue ebenso wie die Unschuldsvermutung nach der Europäischen Menschenrechtskonvention in eine permanente Delinquenzvermutung verkehrt, bei der das Recht auf Achtung der psychischen Integrität und der Privatheit hinter das politisch definierte Ziel der „Sicherheit" zurücktrete. Um solche Zweckverkehrung der Freiheitsordnung des Grundgesetzes zu unterbinden, erzwängen die Gesetzesvorbehalte und das Gebot der Gesetzlichkeit normative Eingriffsschranken, die exakt messbar und vorhersehbar zu sein und dem Schutz gefährdeter Rechtsgüter zu dienen hätten; Blankoermächtigungen genügten insoweit nicht. Der Schritt ins „Vorfeld" der Gefahr mit Zugriffsbefugnissen ohne jede wahrhafte tatbestandliche Voraussetzung entspreche nicht dem Entwicklungsstand des Rechtsstaates. III. Der Landtag hat von einer Stellungnahme abgesehen. Die Staatsregierung hat sich zu den Anträgen wie folgt geäußert: 1. § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG Die Befugnis verfolge das Ziel, die Allgemeinheit vor international operierenden Straftätern und den erheblichen Folgen ihrer Straftaten (Rauschgifthandel, Frauenhandel, Schlepperunwesen, Kfz-Verschiebung, Bandendiebstähle, Umweltkriminalität, Organhandel) zu schützen. Unerheblich sei, dass es im Freistaat bis zur EU-Osterweiterung noch eine Schengen-Außengrenze nach Tschechien und Polen gebe. Weder beschränke sich die Bekämpfung von Kriminalität im Rahmen der angegriffenen Norm auf den Grenzbezug, noch ersetzten die verdachtsunabhängigen Identitätskontrollen diese Grenzkontrollen. Dass sich diese in Europa gelockert hätten, habe mit der Reisefreiheit auch die international und grenzüberschreitend tätige Kriminalität begünstigt; dies auszugleichen und einem gestiegenen Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung Rechnung zu tragen, sei der Freistaat Sachsen angetreten. Verdachtsunabhängige Identitätskontrollen gälten als sehr Erfolg versprechend. Das zeigten die Einführung entsprechender Regelungen in anderen Bundesländern und im Bund (§§ 22, 23 BGSG) sowie praktische Erfahrungen. Die Gesetzgebungskompetenz des Landes folge daraus, dass der Schwerpunkt im präventivpolizeilichen Bereich liege. Dass die angegriffene Regelung LVerfGE 14

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Berührungspunkte zu Art. 73 Nr. 5 GG (Grenzschutz) und zu Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG (Strafverfolgung/gerichtliches Verfahren) aufweise, sei deshalb unschädlich. Die vorbeugende Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität gehe mit ihrem präventivpolizeilichen Charakter über die dem Bundesgrenzschutz zugewiesenen Aufgaben hinaus. Die Aufgaben der Landespolizei zur Gefahrenabwehr in Grenznähe könnten durch Zuständigkeiten des Bundesgrenzschutzes schon deshalb nicht verdrängt werden, weil dieser nicht zu einer allgemeinen Bundespolizei ausgebaut werden dürfe. Art. 73 Nr. 5 GG begründe die ausschließliche Bundeskompetenz nur für den Schutz der Grenze im engeren Sinne, d.h. den Schutz des deutschen Hoheitsgebiets vor unerlaubtem Eindringen von Personen und Sachen, nicht aber für jede Gefahrenabwehr in Grenznähe. Mit Blick auf die konkurrierende Bundeskompetenz für den repressiv-polizeilichen Bereich (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG) unterfalle die Identitätsfeststellungsbefugnis der Landeskompetenz, weil sie in eine präventive Richtung ziele. „Zur vorbeugenden Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität" bestimmt, sei sie nach ihrem Hauptzweck nicht auf die Verfolgung von Straftaten, sondern auf deren Verhinderung sowie auf die Verunsicherung potentieller Straftäter ausgerichtet. Dass Maßnahmen zur Verhütung und Unterbindung künftiger Straftaten mit einzelnen Strafverfolgungsmaßnahmen einhergehen könnten, sei für präventivpolizeiliches Tätigwerden typisch, ξ 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG habe zudem nicht nur die einzelne Tat und die einzelne Gefahr im Blick, sondern diene der Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität im Ganzen. Dabei seien die Gewinnung von Erkenntnissen und die Zerschlagung von Strukturen (und damit die präventive Zielrichtung) weitaus bedeutsamer als die Ahndung einzelner Delikte. Die angegriffene Norm sei hinreichend bestimmt. Der Bürger werde hinsichtlich der Eingriffsvoraussetzungen und -Wirkungen nicht im Unklaren gelassen. Die punktuelle Preisgabe der Privatsphäre (Feststellung der Identität, Kontrolle des Wageninneren und Kofferraums) sei jedenfalls vorhersehbar und der etwaige Zeitverlust nicht belastender als die Folgen eines unerwarteten Verkehrsstaus. Klar bestimmt sei, welche Auslegungs- und AnwendungsSpielräume dem Polizeivollzugsdienst verblieben. Die Zwecksetzung der gesamten Maßnahme sei gesetzlich vorgegeben. Den unbestimmten Rechtsbegriff der „Straßen von erheblicher Bedeutung für die grenzüberschreitende Kriminalität" habe die Polizei so auszulegen, dass dies einer gerichtlichen Nachprüfung standhalte. Festgelegt seien ferner Art der Maßnahme, Ort und Adressaten. Der Gesetzgeber habe in diesem Zusammenhang weite, generalklauselartige Formulierungen verwenden dürfen, weil es die Eigenart des zu regelnden Sachbereichs und der Normzweck nahe gelegt hätten, schnell wechselnden Situationen entsprechen zu können. Die angegriffene Regelung sei verhältnismäßig. Die von ihr berührten Grundrechte (Art. 15, 17 SachsVerf) unterlägen einem Gesetzesvorbehalt, der die angegriffene Norm und die Regelungen zu Folgemaßnahmen (§ 20 Abs. 1 Nr. 1, LVerfGE 14

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§ 22 Abs. 1 Nr. 3, § 23 Abs. 1 Nr. 1, § 24 Nrn. 6 und 7 SächsPolG) als verfassungsrechtlich gerechtfertigt erscheinen lasse. Das Gesetz verfolge gewichtige und legitime Zwecke. Es orientiere sich an der drohenden Begehung von Straftaten in Kriminalitätsformen, die sich den erleichterten Grenzübertritt, die internationale Verflechtung der Märkte und damit die gegenwärtig noch vorhandenen Probleme der internationalen polizeilichen Zusammenarbeit zunutze machten. Kurzfristig gehe es um die Unterbindung einzelner Straftaten durch konkrete Abwehrmaßnahmen, langfristig um die nachhaltige Bekämpfung eines Kriminalitätsphänomens und, soweit durch die Kontrollen nicht direkt Gefahren abgewehrt würden, um die Erledigung präventiv-polizeilicher Aufgaben im Wege der Informations- und Gefahrenvorsorge, auch mit dem Ziel einer Verunsicherung der betroffenen Kreise. § 1 9 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG sei zur Förderung dieser Zwecke nach vertretbarer gesetzgeberischer Prognose geeignet und auch erforderlich. Die Kontrolle nur solcher Personen, bei denen zumindest tatsächliche Anhaltspunkte eine Störereigenschaft nahe legten, sei kein gleich wirksames Mittel. Dasselbe gelte für eine „isolierte" Identitätsfeststellungsbefugnis ohne die Möglichkeit zu Folgemaßnahmen gem. § 23 Abs. 1 Nr. 1 und § 24 Nrn. 6 und 7 SächsPolG. Mit der Identitätsfeststellung allein könne der international operierenden Kriminalität nicht wirksam begegnet werden; nötig sei im Hinblick auf Drogen-, Waffen- und Menschenschmuggel gleichzeitig die Kontrolle von Fahrzeugen und mitgeführten Gegenständen. Eine räumliche Begrenzung der Kontrollen auf ein kleineres Gebiet — z.B. den Grenzgürtel — fördere den Gesetzeszweck nicht gleich gut. Der Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung, ggf. auch in die (Fortbewegungs-)Freiheit der Person und in das allgemeine Persönlichkeitsrecht sei nicht unangemessen. Die Eingriffsschwelle sei niedrig angesetzt. Eine allgemeine Redlichkeitsvermutung stehe dem nicht entgegen; keinesfalls komme ihr verfassungsrechtlicher Rang zu. Die Identitätskontrollen stigmatisierten den Kontrollierten nicht als Rechtsbrecher, sondern spiegelten nur die Ungewissheit der Sachlage. Sie richteten sich auch nicht gezielt gegen Nichtstörer, sondern gegen „Unbekannt". Damit habe der Gesetzgeber unter Wahrung seines Gestaltungsspieltaums jenseits von Störern und Nichtstörern eine neue Kategorie von Adressaten polizeilicher Maßnahmen geschaffen. Es liege im Wesen der verfassungsrechtlich unbedenklichen, staatlicher Schutzpflicht entsprechenden Gefahrenvorsorge, bei grenzüberschreitender Kriminalität nicht nur einzelnen Verdachts fällen nachzugehen, sondern darüber hinaus nach kriminaltaktischen Erwägungen die Verkehrswege zu kontrollieren, die zur Durchführung solcher Taten ausgenutzt würden. Mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ließe sich zwar kaum vereinbaren, den Bürger „auf Schritt und Tritt" zu überwachen; davon sei die angegriffene Regelung aber weit entfernt. Bei der Gesamtabwägung stehe den gewichtigen legitimen Zielen des Gesetzes die Identitätskontrolle als solchc gegenüber; der Einzelne werde angehalten, mitgeführte Ausweispapiere würden kontrolliert.

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Damit sei das Recht auf Bewegungs- und Handlungsfreiheit am unteren Ende einer Skala dessen berührt, was überhaupt als Grundrechtseingriff bezeichnet werden könne. Auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung sei von der offenen Maßnahme zur Erhebung weniger Daten, die nicht ohne weiteren Anlass gespeichert würden, nur geringfügig berührt. Im Grenzgürtel wie im übrigen Kontrollgebiet bleibe die Verhältnismäßigkeit gewahrt. Für die Angemessenheit der Maßnahme sei insbesondere auf die Eingriffsintensität aus der Sicht des betroffenen Bürgers abzustellen; nicht ersichtlich sei, warum der Eingriff im Vergleich der Kontrollgebiete unterschiedlich gewertet werden sollte. Die Verhältnismäßigkeit werde auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass mit der Identitätskontrolle F olgemaßnahmen verknüpft sein könnten, etwa die Durchsuchung von Personen, das Festhalten und Verbringen zur Dienststelle, die Ingewahrsamnahme, erkennungsdienstliche Maßnahmen und die Durchsuchung von Sachen. Schon nach dem Wortlaut der betreffenden Abschriften seien diese Folgebefugnisse nicht voraussetzungslos eingeräumt, stünden in einem Stufenverhältnis und seien deshalb angemessen. Die Verhältnismäßigkeit werde schließlich durch Verfahrensvorkehrungen gesichert. So solle die Berichtspflicht gegenüber dem Landtag (§19 Abs. 1 a SächsPolG) Gewähr für einen sorgfältigen Umgang mit den erweiterten polizeilichen Befugnissen bieten. 2. § 19 Abs. 1 Nr. 6 SächsPolG Die Vorschrift regele Fälle der Identitätsfeststellung, die - regelmäßig einhergehend mit großräumigen Absperrmaßnahmen — eine Vielzahl auch unverdächtiger Personen beträfen, aber an sehr enge Voraussetzungen gebunden seien. In materieller Hinsicht seien nur bestimmte erhebliche Straftaten erfasst; als institutionelle Vorkehrung diene ein Ministervorbehalt (§ 19 Abs. I Nr. 6 S. 2 SächsPolG). Normzweck sei die vorbeugende Verbrechensbekämpfung in einem Bereich, in dem erhebliche Gefahren durch Einzelmaßnahmen gem. § 19 Abs. 1 Nr. 1 SächsPolG nicht ebenso effektiv abgewehrt werden könnten. Die Gesetzgebungskompetenz des Landes ergebe sich daraus, dass es, in Abgrenzung zu § 111 StPO, um allgemeine ereignisunabhängige Fahndung gehe, die keinen Bezug zu einer bestimmten Straftat aufweise. Landes- und Bundesrecht ergänzten einander zu einem polizeilichen Instrument, das wichtige Funktionen der Verbrechensbekämpfung erfülle. Präventivpolizeiliches Handeln werde nicht an das Vorliegen einer (konkreten) Gefahr geknüpft, es diene der Gewährleistung der inneren Sicherheit in größeren Zusammenhängen. Die Gefährlichkeit im Zusammenhang mit schweren Straftaten gesuchter Personen stehe außer Frage. Ob und inwieweit diese Personen einzelne solcher Straftaten bereits begangen oder nur versucht hätten, sei nicht entscheidend. Die Identitätsfeststellung in Kontrollbereichen wirke allemal präventiv. Es gehe nicht etwa um Festnahmen oder andere repressive Instrumente. Die Regelung sei bei Heranziehung anerkannter Auslegungsmethoden hinreichend bestimmt. Dies gelte auch für § 27 VersG. Unfriedlichen DemonstratioLVerfGE 14

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nen gewähre Art. 8 GG keinen Schutz. Regelmäßig würden unter dem (vermeintlichen) Schutz der Vermummung erhebliche (Gewalt-)Straftaten mit dem Wissen begangen, dass die Strafverfolgung in diesen Fällen zumindest erschwert sei. „Friedfertige Vermummung" lasse sich im Rahmen verfassungskonformer Auslegung des § 27 VersG ohne weiteres ausklammern. Die Befugnis zur Einrichtung von Kontrollbereichen sei erforderlich und angemessen. Die Möglichkeiten zur Identitätsfeststellung durch Einrichtung von Kontrollstellen (§ 19 Abs. 1 Nr. 4 SächsPolG) genügten nicht, um die in Nr. 6 angesprochenen spezifischen Gefahren abzuwehren. Insbesondere die Katalogstraftaten des § 100a StPO könnten eine großräumige Absperrung (z.B. die Umgebung eines Veranstaltungsortes) erforderlich machen, die über § 19 Abs. 1 Nr. 4 SächsPolG nicht zu bewerkstelligen sei. 3. § 21 Abs. 2 SächsPolG Die Vorschrift solle der Polizei eine Handhabe bieten, effizienter als bisher Straftaten zu unterbinden, die ortsgebunden innerhalb einer „Szene" oder aus ihr heraus planmäßig begangen würden. Dies betreffe die offene Drogenszene, erfasse aber auch gewaltbereite Veranstaltungsteilnehmer, etwa an sog. ChaosTagen. Aufenthaltsverbote trügen zur Gefahrenabwehr bei, wenn etwa der Handel mit Drogen erschwert oder die für Chaos-Tage typischen Gefahren abgewehrt würden. Ob in diesen Fällen ein Platzverweis iSd § 21 Abs. 1 SächsPolG auch länger als etwa 24 Stunden Geltung haben dürfte, könne nach der Neuregelung dahinstehen. Mit ihr werde Rechtssicherheit geschaffen. Die Gesetzgebungskompetenz des Landes sei angesichts der klaren, präventiven Zielrichtung nicht zu bezweifeln. Gefahrenabwehr bleibe auch dann Ländersache, wenn dabei Schranken einer bundesgrundrechtlichen Garantie, hier der Freizügigkeit, ausgefüllt würden. Selbst wenn der Grundrechtsschutz des Art. 11 GG (bzw. Art. 15 SächsVerf bei Übertragung der Schranken aus Art. 11 Abs. 2 GG) greifen sollte, sei Art. 73 Nr. 3 GG nicht einschlägig. Die Bundeskompetenz gehe von einem anderen Begriff der Freizügigkeit aus als Art. 11 GG und lasse Spielraum für präventivpolizeiliche Regelungen der Länder. § 112a StPO habe mit dem Aufenthaltsverbot als solchem nichts zu tun und könne keine Sperrwirkung entfalten. Im Übrigen hätten § 112a StPO und §§ 21 Abs. 2, 22 Abs. 1 Nr. 4 SächsPolG völlig unterschiedliche Anwendungsbereiche. § 22 Abs. 1 Nr. 4 SächsPolG diene der Durchsetzung des Aufenthaltsverbots, sei Vollstreckungsmittel in der Form einer Standardbefugnis, habe keine eigenständige Bedeutung und mit „Präventivhaft" nichts zu tun. Im Übrigen sei der Gewahrsam nicht die regelmäßige Folge des Aufenthaltsverbotes. Verstöße würden zunächst durch Platzverweise erwidert. Die Regelung sei hinreichend bestimmt. Unbedenklich sei, dass Aufenthaltsverbote bereits ausgesprochen werden dürften, wenn Tatsachen die Annahme einer bevorstehenden Straftat rechtfertigen. Das gesamte Gefahrenabwehrrecht

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habe es mit „Annahmen", also Prognosen zu tun, die ihrerseits auf offenkundigen oder ermittelten Tatsachen beruhten. Art. 11 GG stehe der angegriffenen Regelung nicht entgegen. Seine elementare Bedeutung lasse eine allzu weite Ausdehnung des „Aufenthaltes" nicht zu. Sonst könne nicht einmal die polizeiliche Sperrung einer gewöhnlichen Unfallstelle gegenüber den davon Betroffenen gerechtfertigt werden. Die Beschränkung des freien Zuges müsse räumlich und zeitlich von einiger Bedeutung sein. Zudem sei bei polizeilichen Aufenthaltsverboten der eingeschränkte Inhalt des Verbots zu beachten. Soweit Art. 11 Abs. 1 GG demnach überhaupt einschlägig sei, müsse bei der Schrankenbestimmung in Art. 11 Abs. 2 GG der geringfügigen, durch ein Aufenthaltsverbot bewirkten Beeinträchtigung Rechnung getragen werden. Der qualifizierte Gesetzesvorbehalt greife nicht nur, wenn es um den Schutz der staatlichen Gemeinschaft vor Gefährdung lebenswichtiger Belange gehe. Die Befugnis zur Verhängung von Aufenthaltsverboten sei verhältnismäßig. Sie sei nach den Erfahrungen anderer Bundesländer zur Erreichung des Normzwecks geeignet. Dass die Polizei „den gewaltbereiten Störer oder den Dealer" erkennen könne, stehe außer Frage, da die Adressaten des Aufenthaltsverbots vorweg mehrfach Platzverweise erhalten hätten und den zuständigen Polizeibeamten häufig bereits bekannt sein dürften. Der Einwand, durch Aufenthaltsverbote würden bestimmte Kriminalitätsformen nicht verhütet, sondern räumlich verlagert, sei verfassungsrechtlich unerheblich. Die Eignung des Aufenthaltsverbots als Mittel der Gefahrenabwehr ergebe sich jedenfalls daraus, dass der Neuaufbau einer „Szene" an einem anderen Ort verzögert und Tatgelegenheitsstrukturen beseitigt würden. Im Übrigen seien Erforderlichkeit und Angemessenheit der Maßnahme bereits im Wortlaut der Vorschrift angelegt. 4. § 39 Abs. 9 S. 2 Alt. 2 SächsPolG Mit der angegriffenen Regelung sei der Forderung nach zusätzlichen Verfahrensvorkehrungen beim Einsatz besonderer Mittel Rechnung getragen worden. Allerdings untersage § 39 Abs. 9 S. 2 SächsPolG in der zweiten Alternative die Unterrichtung, soweit sie die weitere Verwendung des Verdeckten Ermittlers gefährdete. Aus der Rechtsschutzgarantie (Art. 38 SächsVerf) folge jedoch kein Vorrang des Benachrichtigungsrechts vor der Möglichkeit, den Verdeckten Ermitder weiter zu verwenden. Der Informationsanspruch des Betroffenen sei nicht schrankenlos gewährt, er müsse öffentlichen Interessen weichen, wenn diese im Einzelfall überwögen. Die (weitere) Verwendung eines Verdeckten Ermitders und mit ihr die gegenüber anderen Ermitdungsmethoden gesteigerte Chance zur Aufdeckung von Straftaten und zur \ r erhinderung von weiteren erheblichen Rechtsgutverletzungen begründe ein solches öffentliches Interesse. Damit verbundene Rechtsschutzdefizite könnten durch Verfahrensrechte kompensiert werden. Dies sei mit der Neufassung von § 39 Abs. 8 und 9 SächsPolG geschehen. Dass die gegen die angegriffene Regelung vorgebrachten Bedenken unberechtigt seien,

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zeige die überzeugende, auf die vorliegende Konstellation übertragbare Güterabwägung im Rahmen des § 110b Abs. 3 S. 3 StPO. 5. § 22 Abs. 1 Nr. 2 Buchst, b SächsPolG Die Teilung des § 22 Abs. 1 Nr. 2 SächsPolG in zwei selbständige Alternativen habe Fehldeutungen aufgrund der früheren Gesetzesfassung vorbeugen sollen. Der Schutzgewahrsam sei ein Instrument in dubio pro vita. Buchst, b dürfe nicht als eine gegen jedwede autonome Entscheidung über das eigene Leben gerichtete Vorschrift missverstanden werden. Die Regelung solle wegen des hohen Rechtsgutes Leben und der Irreversibilität der Selbsttötung eine eindeutige Rechtsgrundlage für den rettenden Polizeibeamten bieten. Ausgehend von der exante-Sicht des Polizeibeamten typisiere sie in der Weise, dass die Selbsttötungshandlung im Regelfall nicht das Ergebnis freier Willensbildung sei, und lasse die wenigen Fälle des sog. Bilanzselbstmordes außer Betracht. Dass diese „vernachlässigbar" seien, ergebe sich auch aus Forschungsergebnissen. Falls das polizeiliche Einschreiten gegen den Versuch der Selbsttötung nicht bereits aus staatlicher Schutzpflicht zugunsten des Lebens zu rechtfertigen sei, befinde sich der Suizident zumindest in der Situation, in der ihn der Polizeibeamte aufgreife, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in einer hilflosen Lage. Hier setze zu Recht die Hilfeleistung der Polizei an. Die Vorschrift verfolge das legitime Ziel, einerseits den Polizeibeamten von einer unlösbaren Subsumtion zu befreien und andererseits das Leben derer zu retten, die letztlich gerettet werden wollten. Die typisierende Regelung sei deshalb verhältnismäßig. Damit komme es nicht auf die Frage an, ob der Staat ausnahmslos jegliche Selbsttötung verbieten, verhindern oder sanktionieren dürfe. 6. § 38 Abs. 2 lVm § 19 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SächsPolG Die Regelung schließe eine allgemeine Videoüberwachung des gesamten öffentlichen Raumes tatbestandlich aus. Überwachung sei (neben den gefährdeten Orten iSd § 19 Abs. 1 Nr. 3 SächsPolG) nur möglich an Orten, an denen erfahrungsgemäß Personen Straftaten verabredeten, vorbereiteten oder verübten. Dafür bedürfe es tatsächlicher Anhaltspunkte. Als „Kjriminalitätsschwerpunkte" müssten solche Orte nachweislich einen besonderen Kontrollbedarf hervorrufen. Grundsätzlich werde die Beobachtung am Bildschirm nur in Form einer Ubersichtsaufnahme ohne Aufzeichnung durchgeführt. Eine Bildvergrößerung mit der Möglichkeit der Identifizierung einzelner Personen erfolge in der Praxis lediglich bei Anfangsverdacht einer Straftat. Bestätige er sich, dürfe das Bild aufgezeichnet werden. Die Videoüberwachung erfolge offen. Der Bürger werde beim Betreten eines überwachten Bereichs durch auffällige Beschilderung auf die Videoüberwachung hingewiesen. Dafür, dass diese der Bevölkerung bekannt sei, sorgten weitere Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit. Bei bloßer Übertragung von Bild und Ton von einem öffentlich zugänglichen an einen anderen Ort nehme die Polizei nur wahr, was jedermann zugänglich LVerfGE 14

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sei. Beobachtet werde allgemein das Geschehen. Die Person bleibe anonym. Die bloße Videoüberwachung könne deshalb auf die Aufgabeneröffnung des § 1 Abs. 1 S. 1 SächsPolG gestützt werden. Die Regelung sei verhältnismäßig. Mit der Verteidigung bzw. Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit an Kriminalitätsschwerpunkten verfolge sie einen legitimen Zweck. Das Mittel sei nach der Erfahrung geeignet, das Ziel der Verhinderung bestimmter, ortstypischer Straftaten zu fördern. Eine Verlagerung der Kriminalität an unbewachte Plätze sei nur bedingt möglich. Die Norm sei auch erforderlich, weil selbst stark erhöhte Polizeipräsenz an den gefährdeten Orten erfahrungsgemäß keine ähnlichen Erfolge erreiche. Die Regelung sei angemessen, weil Dritte von Überwachungsmaßnahmen nur betroffen sein dürften, wenn dies unvermeidbar sei. Das Verfahren der Auswahl der Einsatzorte und die begleitende Öffentlichkeitsarbeit sorgten für einen verhältnismäßigen Ausgleich. Von Anpassungsdruck im Verhalten der Bürger infolge des Beobachtetwerdens könne keine Rede sein. Im Gegenteil gerate allzu leicht aus dem Blick, dass die Entfaltungsmöglichkeiten großer Teile der Bevölkerung geschmälert seien, weil bestimmte Ortlichkeiten aus Sorge vor Kriminalität besser gemieden würden. Das Polizeigesetz beschränke Technikeinsatz und Datenverarbeitung auf konkret festgelegte Zwecke. Für einen Missbrauch der Daten bei der Videoüberwachung gebe es keine plausiblen Anhaltspunkte. Die rasante technische Entwicklung mit ihren gesellschaftlichen Folgen spreche eher für als gegen die Zulässigkeit eines behutsamen Einsatzes der Videotechnik. Die weitere Anwendung werde von allen Seiten kontrolliert. IV. Die Antragsteller regen außerdem an, gem. § 23 S. 2 SächsVerfGHG folgende Regelungen des Polizeigesetzes des Freistaates Sachsen auf ihre Verfassungsverträglichkeit zu prüfen: 1.

§ 18 hinsichtlich des Umfangs des polizeilichen Fragcrechts und hinsichtlich der Auskunftsverwendung jenseits der Gefahrenabwehr,

2.

§ 39 Abs. 7, soweit geheim erhobene Daten von unvermeidlich betroffenen Dritten abweichend vom Erhebungsgrund auch für jegliche Verfolgung von Straftaten von erheblicher Bedeutung verwendet werden dürfen,

3.

§ 43 Abs. 6 S. 2 und § 49 Nr. 2, soweit eine Anonymisierung wegen eines nicht vertretbaren Aufwandes unterbleiben kann,

4.

§ 24 Nrn. 6 und 7, soweit Sachen und Fahrzeuge bei anlasslosen Jedermannkontrollen durchsucht werden dürfen,

5.

§ 22 Abs. 7 S. 2 und § 25 Abs. 5, soweit auf jede richterliche Entscheidung verzichtet werden kann,

6.

§ 67 Abs. 1 und § 74 Abs. 5, soweit Aufsichtsbehörden unbeschränkt, also ohne gesetzlich definierte Voraussetzungen, Weisungen erteilen können.

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Zu den vorgenannten Vorschriften haben sich die Antragsteller und die Staatsregierung im Einzelnen geäußert. B. Der Normenkontrollantrag ist nach Art. 81 Abs. 1 Nr. 2 SächsVerf, § 7 Nr. 2, § 21 Nr. 1 SachsVerfGHG zulässig. I. Der Rechtsweg zum Verfassungsgerichtshof ist nach Art. 81 Abs. 1 Nr. 2 SächsVerf, § 7 Nr. 2 SächsVerfGHG eröffnet. Gegenstand des Verfahrens ist die Vereinbarkeit einzelner Bestimmungen des Polizeigesetzes des Freistaates Sachsen mit einer Reihe von Grundrechten und Grundsätzen der Sächsischen Verfassung. Darum geht es auch, soweit die Antragsteller unter Hinweis auf Art. 73, 74 GG eine Gesetzgebungskompetenz des Freistaates Sachsen verneinen. Denn insoweit ist darüber zu entscheiden, ob die dem Freistaat durch Art. 3 Abs. 2 und Art. 39 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 1 S. 1 SächsVerf für seine Gesetzgebungszuständigkeit gezogenen Grenzen (unten C I 1) eingehalten sind. II. Die Antragsberechtigung hegt vor. Antragsberechtigt ist nach Art. 81 Abs. 1 Nr. 2 SächsVerf, § 7 Nr. 2 SächsVerfGFIG ein Viertel der Mitglieder des Landtages. Die Antragsteller, 30 von 120 Mitgliedern des dritten Sächsischen Landtages, erfüllen dieses Quorum. Der Antrag ist zulässig iSv § 21 Nr. 1 SächsVerfGHG, da die Antragsteller bestimmte Vorschriften eines Landesgesetzes wegen förmlicher oder sachlicher Unvereinbarkeit mit der Sächsischen Verfassung für nichtig halten. Den Begründungsanforderungen gem. § 10 Abs. 1 SächsVerfGHG iVm § 23 Abs. 1 S. 2 BVerfGG genügt der Antrag ebenfalls. C. § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG ist, soweit zur Prüfung gestellt (Befugnis zur Identitätsfeststellung außerhalb eines Grenzstreifens von 30 Kilometern Tiefe), mit der Sächsischen Verfassung vereinbar, allerdings nur mit der Maßgabe, dass den Feststellungskontrollen ein vorab zu dokumentierendes polizeibehördliches Konzept zu Grunde hegen muss und Kontrollen auf „anderen Straßen von erheblicher Bedeutung für die grenzüberschreitende Kriminalität" nur bei entsprechenden, auf die jeweilige konkrete Straße bezogenen, hinreichend präzisen und vorab zu dokumentierenden I.ageerkenntnissen der Polizei stattfinden dürfen.

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Die Vorschrift ist — in dem zur Prüfung gestellten Umfang — kompetenzgemäß ergangen (Art. 70 GG) und verstößt insbesondere nicht gegen das Ubereinkommen vom 19.6.1990 zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14.6.1985 (Gesetz v. 15.7.1993, BGBl. II S. 1010). 1. Prüfungsmaßstab sind bei der abstrakten Normenkontrolle mittelbar auch die Bestimmungen des Grundgesetzes über die Aufteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern. Nach Art. 81 Abs. 1 Nr. 2 SachsVerf, § 7 Nr. 2 SachsVerfGHG entscheidet der X'erfassungsgerichtshof über die Vereinbarkeit von Landesrecht mit dieser Verfassung und stellt entweder dessen Unvereinbarkeit (§ 23 S. 1 SächsVerfGHG) oder dessen Vereinbarkeit mit ihr ( § 1 4 Abs. 2 und 3 Sächs VerfGHG) fest. Diese Begrenzung seiner Befugnis zu abschließender Entscheidung allein am Maßstab der Sächsischen Verfassung, die mit der entsprechenden Kompetenzabgrenzung für das Bundesverfassungsgericht in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6, § 78 BVerfGG übereinstimmt (vgl. BVerfGE 60, 175, 204 f, 206; 69, 112, 117 f), hindert den Verfassungsgerichtshof nicht daran, über die Gesetzgebungskompetenz des Freistaates zu entscheiden und dazu die maßgeblichen Bestimmungen des Grundgesetzes heranzuziehen (für Nordrhein-Westfalen im Ergebnis ebenso VerfGH NW, DÖV 1992, 368, 369 f). Dies folgt letztlich aus Art. 3 Abs. 2 und Art. 39 Abs. 2 iVm Art. 1 S. 1 SächsVerf. Nur durch eine solche Inbezugnahme der grundgesetzlichen Kompetenzverteilung steht die Gesetzgebungsbefugnis des Freistaates Sachsen (Art. 39 Abs. 2 SächsVerf) mit dessen Grundstruktur als Land der Bundesrepublik Deutschland (Art. 1 S. 1 SächsVerf) in Einklang. 2. a) § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG unterfällt nicht der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes. Die Vorschrift ist nicht dem gerichdichen Verfahren iSv Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG zuzurechnen. Die Kompetenzmaterie „gerichtliches Verfahren" ist weit zu verstehen (vgl. BVerfGE 30, 1, 29; Mating Düng GG, Stand: 41. Lfg. Oktober 2002, Art. 74 Rn. 79, 82). Umfasst sind das eigentliche gerichtliche und das vorgelagerte behördliche Verfahren, sofern es - wie das in der Strafprozessordnung geregelte polizeiliche und staatsanwaltschaftliche Ermitdungsverfahren - mit dem gerichtlichen in einem untrennbaren funktionalen Zusammenhang steht. Diese nach dem Wordaut nicht zwingende Ausdehnung auf behördliche Verfahren folgt der entsprechenden, gewachsenen Handhabung der Vorgängerkompetenzbestimmungen (Art. 4 Nr. 13 Reichsverfassung v. 1871; Art. 7 Nr. 3 WRV) und entspricht Sinn und Zweck der Regelung, dem Bund eine wirksame Kompetenzausübung zu ermöglichen. Zweck des strafgerichtlichen Verfahrens ist die Verfolgung und Ahndung einer nach Ort, Zeit und Umständen individualisierten Tat, entsprechend dem strafprozessualen Tatbegriff, der mit dem des Art. 103 Abs. 3 GG identisch ist (vgl. BVerfGE 45, 434, 435: bestimmter geschichtlicher Vorgang; Meyer-Goßner LVerfGE 14

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StPO, 46. Aufl. 2003, § 264 Rn. 1). Ihm vorgelagerte behördliche Verfahren können darum nur bei gleicher Zwecksetzung unter die Kompetenzmaterie „gerichtliches Verfahren" fallen, polizeiliche Tätigkeit also nur, soweit sie zur Verfolgung einer bestimmten Tat erfolgt (ebenso Deutsch Die heimliche Erhebung von Informationen und deren Aufbewahrung durch die Polizei, 1992, S. 186 f; Kastner VerwArch 2001, 216, 235 f; vgl. auch Gttsy StV 1993, 269, 271 f). Die Identitätsfeststellungsbefugnis in § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG hat mit ihrer vorbeugenden Zweckbestimmung keine in der vorbezeichneten Weise individualisierte Tat zum Anknüpfungspunkt. Die Vorschrift fällt deshalb nicht unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG, auch nicht, soweit sie Verdachts- und ereignisunabhängig Fahndungsmöglichkeiten eröffnet. b) § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG unterfällt, soweit zur Prüfung gestellt, auch nicht der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Die Regelung ist nicht dem Grenzschutz im Sinne des Art. 73 Nr. 5 GG zuzuordnen. Die Kompetenzmaterie Grenzschutz erstreckt sich auf die polizeiliche Überwachung der Bundesgrenzen, die Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs einschließlich der Abwehr von Gefahren für die Grenzen (vgl. BVerfGE 97, 198, 214, 218; M W e r f G , LKV 2000, 149, 151) und in einem hinreichend tiefen, herkömmlich auf 30 km Tiefe begrenzten Streifen des Grenzgebiets (§ 2 Abs. 1 Nr. 3 BGSG; vgl. v. Mangoldt/Klein GG, 2. Aufl. 1974, Art. 87 IV 4 a bb, S. 2273) die Abwehr von Gefahren, welche die Sicherheit der Grenze beeinträchtigen. Die räumliche Begrenzung auf einen 30-km-Streifen folgt dabei nicht nur im Gegenschluss aus Art. 115f Abs. 1 Nr. 1 GG, sondern auch daraus, dass der Ausnahmefall bundespolizeilicher Zuständigkeit nicht zum Aufbau einer allgemeinen, mit den Landespolizeien konkurrierenden Bundespolizei genutzt werden darf (vgl. BVerfGE 97, 198, 217 f). Diesen räumlich eingegrenzten Bereich berührt § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG, soweit er die hier allein fragliche Befugnis zur Identitätsfeststellung außerhalb eines Grenzstreifens von 30 km Tiefe einräumt, nicht (ebenso Bi~er Die zweite Novelle zum sächsischen Polizeigesetz, Leipziger Juristische Vorträge, H. 39/1999, 37). Darüber hinaus zielt die Vorschrift insgesamt nicht auf den Schutz der Grenze vor rechtswidrigem Eindringen von Personen und Sachen aus dem Ausland bzw. vor Gefahren aus dem Inneren, sondern dient, insoweit grundsätzlich indifferent, der vorbeugenden Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität, die keineswegs zwingend grenzverletzend auftritt (vgl. Schnekenburger BayVBl. 2001,129,131). c) Der Gesetzgebungszuständigkeit des Freistaates steht schließlich auch nicht das Vertragsgesetz des Bundes zum Übereinkommen vom 19.6.1990 zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14.6.1985 entgegen (zur Verknüpfung der Rangfrage gem. Art. 31 GG mit der Kompetenzfrage aus Art. 70 ff GG vgl. BVerfGE 36, 342, 364). Eine Berührung mit dem AnwenLVerfGE 14

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dungsbereich des Durchführungsübereinkommens, nach dessen Art. 2 Abs. 1 die Binnengrenzen (s. Art. 1 DÜ) „an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden (dürfen)", kommt nicht vor Inkrafttreten des Schengener Vertragssystems für die Republik Polen bzw. die Tschechische Republik in Betracht (ebenso Bi-~er aaO., 43). II. In dem zur Prüfung gestellten Umfang ist § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG mit der Sächsischen Verfassung unter den im Folgenden näher bezeichneten Voraussetzungen auch sachlich vereinbar. 1. a) Die Vorschrift verleiht der Polizei zum Zwecke der vorbeugenden Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität die Befugnis zur Identitätsfeststellung. Der Gesetzgeber reagiert damit nach der Regierungsbegründung (DS 2/7794, S. 14 f) auf die erhebliche Ausweitung der grenzüberschreitenden Kriminalität, die als Folge weggefallener Grenzkontrollen im Westen (Schengen-Abkommen) und der Öffnung der Grenzen im Osten sowie des dadurch deutlich verstärkten Reiseverkehrs eingetreten ist. Mit der ereignis- und verdachtsunabhängigen Befugnis zur Identitätsfeststellung und zur Durchsuchung (§ 24 Nrn. 6 und 7 SächsPolG) soll dem weitgehenden Verlust der Filterfunktion grenzpolizeilicher Kontrollen begegnet und eine effektive Möglichkeit eröffnet werden, den vormals an der Außengrenze bewirkten Schutz der inländischen Rechtsordnung unter veränderten Bedingungen aufrecht zu erhalten, indem eine grenzüberschreitungsbezogene, grundsätzlich gegenüber jedermann ausübbare Kontrollbefugnis in das Binnenland verlagert wird. Auf Grund der Identitätsfeststellung nach dem Fahndungsbestand (§ 46 Abs. 1 S. 3 SächsPolG) oder den mit ihr selbst gewonnenen Erkenntnissen mögliche Zugriffe, etwa auf gesuchte Straftäter oder illegal Eingereiste, Sachfahndungstreffer oder die Sicherstellung/Beschlagnahme von Gegenständen wie Waffen, Diebesgut oder Betäubungsmitteln sind das Ziel. b) Die Befugnis zur Identitätsfeststellung ist in § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG Verdachts- und ereignisunabhängig ausgestaltet, nicht aber voraussetzungslos eingeräumt. aa) Mit grenzüberschreitender Kriminalität, deren Bekämpfung die Vorschrift bezweckt, ist jede Form von Kriminalität gemeint, die sich die Grenzsituation als solche und die durch die Existenz internationaler Grenzen bedingte Erschwerung der Strafverfolgung zielgerichtet zur Tatbegehung zunutze macht, etwa indem die Tatbeteiligten sich selbst oder ihre Beute im Ausland dem Zugriff der deutschen Strafverfolgungsorgane entziehen (vgl. Rommelfanger/Bammele Polizeigesetz des Freistaates Sachsen, 2000, § 19 Rn. 17). Zwar enthalten die Gesetzesmaterialien insoweit keine ausdrückliche Abgrenzung (vgl. Regierungsbegründung, DS 2/7794, S. 14 f), doch ist ihnen sinnLVerfGE 14

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gemäß zu entnehmen, dass Straftaten erfasst werden sollen, die unter Ausnutzung der weitgehenden Öffnung internationaler Grenzen, insbesondere zu den Staaten des ehemaligen Ostblocks, begangen werden (so auch 'Rommelfanger/Rimmels Polizeigesetz des Freistaates Sachsen, § 19 Rn. 17). Dem sächsischen Gesetzgeber kam es dabei nicht auf einzelne, unveränderbar feststehende Straftatbestände oder Deliktgruppen an; im Vordergrund stand vielmehr eine bestimmte Modalität der Tatbegehung, eine Begehungsart, die unabhängig von dem verwirklichten Straftatbestand einen spezifisch internationalen Grenzbezug aufweist. bb) Außerhalb eines 30 km tiefen Grenzstreifens erlaubt § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG die Identitätskontrolle „in öffentlichen Anlagen, Einrichtungen oder Verkehrsmitteln des internationalen Verkehrs oder in unmittelbarer Nähe hiervon sowie auf Bundesfernstraßen und anderen Straßen von erheblicher Bedeutung für die grenzüberschreitende Kriminalität". Die öffentlichen Anlagen, Einrichtungen oder Verkehrsmittel des internationalen Verkehrs lassen sich an Hand der Systematik des zweiten Halbsatzes der Vorschrift konkretisieren. Wenn dort anschließend von Bundesfernstraßen und bestimmten anderen Straßen — die jeweils auf die Benutzung durch Kraftfahrzeuge zugeschnitten sind — die Rede ist, kann es sich bei den „Verkehrsmitteln des internationalen Verkehrs" nur um Kraftfahrzeugen vergleichbare Verkehrsmittel handeln, mit denen internationale Grenzen des Freistaates überschritten werden können (etwa Bahn, Flugzeug, Schiff). Dementsprechend sind unter den „Anlagen und Einrichtungen" bauliche Gebilde zu verstehen, die in einem funktionellen Zusammenhang zu diesen Verkehrsmitteln stehen, z.B. Bahnhöfe, Flugplätze, Häfen sowie Raststätten und Parkplätze an Bundesfernstraßen (vgl. DS 2/7794, S. 16; ebenso Kommelfanger/ Rimw/e Polizeigesetz des Freistaates Sachsen, § 19 Rn. 18). Unter den anderen Straßen von erheblicher Tiedeutung für die grenzüberschreitende Kriminalität sind, ausgehend von Wortlaut und Normzweck, alle Straßen zu verstehen, die in nennenswertem Umfang als Verbindungslinien zwischen Orten, an denen grenzüberschreitungsbezogen Straftaten begangen werden, und solchen Orten genutzt werden, die den Tätern zu Sicherung bzw. Rückzug dienen. Dies müssen nicht unbedingt Durchgangsstraßen höherer Ordnung, sondern können alle Straßen, also auch Straßen mit reinem Ziel- und Quellverkehr sein. cc) Die präventive Zielsetzung („zum Zwecke") der vorbeugenden Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität ist zwar echtes Tatbestandsmerkmal. Sie muss das den Kontrollanlass bestimmende Kriterium sein und darf gegenüber repressiven Maßnahmen, die im Zuge von Identitätskontrollen mitunter möglich sind, nicht - insbesondere nicht als bloßes Mittel zum eigentlichen Zweck - in den Hintergrund treten. Der klassische gefahren- und verdachtsbczogene Bereich, der über die Wahrscheinlichkeit eines gefahrbegründenden Ereignisses präzisiert wird, ist damit freilich verlassen. Stattdessen wird mit diesem eingrenzenden

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Merkmal präventionsorientiert allein an die Eignung der Maßnahme zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität angeknüpft. c) liegen die Voraussetzungen des § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG vor, darf die Polizei — primär — die Identität des Betroffenen feststellen. Dabei handelt es sich um eine diesem gegenüber offene Form der Datenerhebung mit dem Ziel der Feststellung seiner Personalien. § 19 Abs. 2 SächsPolG ermächtigt die Polizei, die hierzu erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Spezielle Befugnisnormen zur Erreichung dieses Ziels treten hinzu. Kann die Identität schon durch Anhalten des Betroffenen und das Verlangen, mitgeführte Ausweispapiere vorzuzeigen und zur Prüfung auszuhändigen (§19 Abs. 2 S. 2 SächsPolG), oder auf andere Weise, etwa die telefonische Überprüfung seiner Angaben mit Hilfe einer von ihm benannten Person, festgestellt werden, sind weitere Maßnahmen unzulässig. Ist die Identifizierung dagegen so nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten möglich, darf der Betroffene bei steigender Eingriffsintensität gegen oder ohne seinen Willen festgehalten, ggf. durchsucht (§ 23 Abs. 1 Nr. 1 iVm § 19 Abs. 2 S. 3 oder § 22 Abs. 1 Nr. 3 SächsPolG; a.A. Robrecht LKV 2001, 391, 393 f: Durchsuchungen zum Zwecke der Identifizierung de lege lata unzulässig), zur Dienststelle verbracht (Sistierung, § 19 Abs. 2 S. 3 SächsPolG) bzw. in Gewahrsam genommen werden (§ 22 Abs. 1 Nr. 3 SächsPolG); außerdem sind ggf. erkennungsdienstliche Maßnahmen (§ 20 Abs. 1 Nr. 1 SächsPolG) sowie — im vorliegenden Zusammenhang allein mit dem Ziel, Informationen über die Identität zu gewinnen — die Durchsuchung von Sachen möglich (§ 24 Nrn. 6 und 7 iVm § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG). Mit der Identitätsfeststellung nach § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG in engem Zusammenhang stehen — zweitens — die Ermächtigungen zur Durchsuchung von Personen bzw. Sachen zu anderen Zwecken als der Identitätsfeststellung (§ 23 Abs. 1 Nr. 1 iVm § 19 Abs. 2 S. 3 oder § 22 Abs. 1 Nr. 3, § 23 Abs. 2, § 24 Nrn. 6 und 7 SächsPolG), etwa um Erkenntnisse zu gewinnen über mitgeführte gefährliche Gegenstände oder über Diebesgut und -Werkzeug. Diese an keine weiteren als die Voraussetzungen des § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG geknüpften Durchsuchungsermächtigungen sind ebenfalls Gegenstand des Normenkontrollantrages. Unter dem Gesichtspunkt der Informationsgewinnung bedürfen sie eigenständiger verfassungsrechtlicher Prüfung. Eng verbunden mit der Identitätsfeststellung ist schließlich — drittens — die mögliche Verwendung der durch sie erlangten Daten. Maßgeblich sind insoweit die Vorschriften über die polizeiliche Datenverarbeitung (§§ 35 ff, 43 ff SächsPolG). Von zentraler Bedeutung ist dabei der durch § 46 Abs. 1 S. 3 SächsPolG ermöglichte Datenabgleich mit dem Fahndungsbestand. Ohne diese Möglichkeit wäre der Nutzen von Identitätskontrollen, insbesondere ihr Abschreckungseffekt, weitaus geringer, wenn nicht zu vernachlässigen. Deshalb ist die gesetzliche Befugnis zum Abgleich mit dem Fahndungsbestand in die Prüfung der \^erfassungsmäßigkeit des § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG einzubeziehen, auch wenn die Antragsteller ihren Antrag hierauf nicht eigens erstreckt haben. Dagegen hat die LVerfGE 14

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Frage, ob eine allgemeine Speicherung aus Identitätskontrollen gewonnener personenbezogener Daten zulässig ist (§19 Abs. 1 Nr. 5 iVm § 43 Abs. 1 S. 1 SächsPolG), außer Betracht zu bleiben, weil die Antragsteller sie nicht zum Gegenstand ihres Antrags gemacht haben und die Eignung der Identitätskontrollen für den gesetzlich bestimmten Zweck (vorbeugende Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität) nicht mit einer etwaigen generellen Speicherbefugnis aus §§ 19 Abs. 1 Nr. 5, 43 Abs. 1 S. 1 SächsPolG steht oder fällt (unten 3 c aa). 2. a) Maßstab der Prüfung der \^erfassungsmäßigkeit von § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG ist, soweit es — erstens - um die Befugnisse 2ur Identitätsfeststellung und Erlangung darauf zielender personenbezogener Informationen geht, vor allem das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, Art. 33 SächsVerf (nachfolgend 3.). Der Schutzbereich weiterer Grundrechte der Sächsischen Verfassung ist nicht berührt, soweit es um vom Betroffenen freiwillig befolgte Identitätsfeststellungsmaßnahmen geht, etwa die Befugnis zum Anhalten oder das Verlangen, Ausweispapiere vorzuzeigen und auszuhändigen; als notwendige Bestandteile der Informationsgewinnung sind sie nur dem speziellen Schutz des Art. 33 Sächs\ r erf zugeordnet. Die ohne oder gegen den Willen des Betroffenen ergriffenen Mittel zur Durchsetzung der Identitätsfeststellung sind dagegen teilweise zusätzlich am Freiheitsgrundrecht (Art. 16 Abs. 1 S. 2 SächsVerf) zu messen (nachfolgend 4.). Soweit - zweitens - die Durchsuchung von Personen und Sachen nicht der Identitätsfeststellung, sondern der Erlangung zusätzlicher Informationen dient, ermächtigen die entsprechenden Vorschriften des Polizeigesetzes zu eigenständigen Eingriffen in das informationelle Selbstbestimmungsrecht. Insoweit bedarf es einer besonderen Prüfung am Maßstab des Art. 33 SächsVerf (nachfolgend 5.). Schließlich ist - drittens — die im Zuge einer Identitätsfeststellungskontrolle eröffnete Möglichkeit zum Abgleich mit dem Fahndungsbestand ( § 1 9 Abs. 1 Nr. 5, § 46 Abs. 1 S. 3 SächsPolG) allein an Art. 33 SächsVerf zu messen. Allerdings kommt es dabei nicht auf den Schutz vor Datenerhebung, sondern auf die weiteren Schutzbereiche des Art. 33 SächsVerf an (nachfolgend 6.). Entgegen der Auffassung der Antragsteller ist Art. 15 iVm Art. 14 SächsVerf nicht einschlägig. Mit Art. 33 SächsVerf hat der Verfassungsgeber die vom Bundesverfassungsgericht aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht entwickelte datenbezogene Selbstbestimmung (vgl. BVerfGE 65, 1, 41 ff) in einer besonderen Regelung aufgegriffen und sie dadurch aus dem Anwendungsbereich des Art. 15 iVm Art. 14 SächsVerf ausgegliedert. Das zeigt insbesondere die unterschiedliche Schrankenregelung. Nicht zu entscheiden ist deshalb die von den Antragstellern angesprochene Frage, ob das Selbstbestimmungsrecht, das bei Zuordnung zu Art. 15 SächsVerf der Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung unterläge (vgl. BVerfGE 6, 32 ff), nur eingeschränkt werden könnte, soweit seine Ausübung Rechte anderer verletzt.

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b) Art. 33 SächsVerf schützt die aus dem Gedanken der Selbstbestimmung folgende Befugnis des Einzelnen, selbst zu entscheiden, wann und in welchem Umfang er seine persönlichen Lebenssachverhalte offenbart. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit setzt unter den Bedingungen der modernen Datenverarbeitung den Schutz des Einzelnen gegen die unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten voraus. Sie dürfen deshalb ohne seine freiwillige und ausdrückliche Zustimmung nicht erhoben, gespeichert, verwendet und weitergegeben werden. Jeder behördliche, für den Betroffenen unfreiwillige Umgang mit ihnen berührt dieses Grundrecht, weshalb insoweit sämtliche Phasen der Datenerhebung und -Verarbeitung durch den Polizeivollzugsdienst an Art. 33 SächsVerf zu messen sind. Darüber hinaus kommt dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung eine objektivrechtliche Bedeutung zu, da die Selbstbestimmung des Einzelnen elementare Funktionsbedingung eines freiheitlich-demokratischen Gemeinwesens ist. Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist eine Gesellschafts- und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in der die Einzelnen nicht mehr wissen, wer was wann bei welcher Gelegenheit über sie weiß (SächsVerfGH, Urt. v. 14.5.1996 - Vf. 44-11-94 - , JbSächsOVG 4, 50, 73). Das Grundrecht aus Art. 33 SächsVerf ist allerdings nicht schrankenlos gewährleistet. Der Einzelne hat kein Recht zu uneinschränkbarer Herrschaft über seine Daten, grundsätzlich muss er nach Art. 33 S. 3 SächsVerf durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgende, im überwiegenden Allgemeininteresse liegende Eingriffe hinnehmen. Voraussetzungen und Umfang der Beschränkung müssen sich aus dem Gesetz ergeben (Bestimmtheitsgebot). Die Regelung muss überdies dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Dabei hat der Gesetzgeber organisatorische und verfahrensrechtliche Vorkehrungen zu treffen, die der Gefahr einer Verletzung des informationellen Selbstbestimmungsrechts entgegenwirken (vgl. BVerfGE 65, 1, 43 f). 3. § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG und die einzelnen Befugnisnormen zur Durchführung der Identitätsfeststellung gestatten in verfassungsrechtlich letztlich nicht zu beanstandender Weise Eingriffe in das Grundrecht aus Art. 33 SächsVerf. a) Dem Bestimmtheitsgebot wird § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG allerdings nicht insgesamt gerecht. aa) Das aus dem Gesetzesvorbehalt des Art. 33 SächsVerf folgende, im Rechtsstaatsprinzip (Art. 1 S. 2 SächsVerf) wurzelnde Bestimmtheitsgebot verlangt, dass der Gesetzgeber die staatlicher Eingriffsmöglichkeit offen liegende Rechtssphäre selbst abgrenzt und Eingriffsvoraussetzungen wie Eingriffstiefe möglichst klar bestimmt. Sie dürfen nicht dem Belieben der vollziehenden oder der diese kontrollierenden rechtsprechenden Gewalt überantwortet werden (vgl. BVerfGE 8, 71, 76 - std. Rspr.). Das Gesetz muss so bestimmt gefasst sein, wie LVerfGE 14

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dies nach der Eigenart der zu ordnenden Lebenssachverhalte mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist (vgl. BVerfGE 78, 205, 212). Das gebietet auch die aus Art. 38 SächsVerf und dem Rechtsstaatsprinzip folgende Garantie effektiven Rechtsschutzes, welche erfordert, dass die zur Rechtskontrolle berufenen Gerichte die Rechtslage möglichst klar erkennen können (vgl. BVerfGE 13, 153, 161). Der zu ordnende Lebenssachverhalt kann es allerdings mit Rücksicht auf den Normzweck erforderlich machen, Eingriffsermächtigungen so zu fassen, dass der Betroffene selbst das Vorliegen der gesetzlichen Eingriffsvoraussetzungen nicht oder jedenfalls nicht ohne weiteres erkennt, wie in den Fällen offener Identitätsfeststellung an Kontrollstellen gem. § 111 StPO oder an gefährlichen Orten oder in gefährdeten Objekten (§19 Abs. 1 Nrn. 2 und 3 SächsPolG), in denen dem Betroffenen die Voraussetzungen des Eingriffs häufig nicht bekannt oder nicht einsichtig sind. Kann aber der Betroffene das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen bzw. deren Subsumtion unter die Eingriffsermächtigung nicht oder nicht hinreichend deutlich erkennen oder nicht nachvollziehen, wird die Verfügbarkeit effektiver gerichtlicher Kontrolle und damit die gesetzliche Bestimmung möglichst klarer, für die vollziehende Gewalt wie für den zur Rechtsschutzgewährung berufenen Richter erkennbarer Eingriffskriterien umso gewichtiger (vgl. BVerfGE 49, 168, 181). bb) Gemessen hieran ist § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG nicht hinsichtlich aller Tatbestandsvoraussetzungen hinreichend bestimmt. (1) Das Merkmal der „grenzüberschreitenden Kriminalität" genügt mit dem durch Auslegung zu ermittelnden Inhalt (vgl. oben C II 1 b aa) dem Bestimmtheitsgebot. Sinn und Zweck der Regelung ist es, der Kriminalität, welche die Besonderheiten der Grenz situation bzw. -nähe, insbesondere die Erschwerungen grenzüberschreitender Fahndung und Strafverfolgung ausnutzt, wegen ihrer hohen Sozialschädlichkeit und Gefährlichkeit für die Aufrechterhaltung der inneren Rechtsordnung entgegenzutreten. Dies gilt in besonderer Weise für organisierte bzw. schwere Kriminalität. Aber auch weniger schwerer Kriminalität vorzubeugen, ist ein vom weiten Begriff der grenzüberschreitenden Kriminalität umfasstes Ziel. Für eine einengende Auslegung, etwa durch Gleichsetzung mit den „Straftaten von erheblicher Bedeutung" (§ 36 Abs. 1 SächsPolG), ist im Hinblick auf den steten Wandel der Erscheinungsformen grenzüberschreitender Kriminalität sowie angesichts der durch den Grenzbezug häufig bedingten Erschwerung der Strafverfolgung kein Raum. (2) Nicht hinreichend bestimmt ist dagegen die Erstreckung des räumlichen Anwendungsbereichs über den 30-km-Grenzstreifen hinaus auch auf die „anderen Straßen von erheblicher Bedeutung für die grenzüberschreitende Kriminalität". Im Ausgangspunkt sind darunter alle bedeutsamen Verbindungen zwischen Orten, an denen grenzüberschreitungsbezogen Straftaten begangen werden, und solchen Orten zu verstehen, die den Tätern zu Sicherung bzw. Rückzug dienen LVerfGE 14

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(s.o. unter C II 1 b bb). Damit kann im Grunde jede Straße des Freistaates kontrollierbarer Bereich werden. Dem Einzelnen, namentlich dem Nichtstörer, sind die Grundlagen der polizeilichen Bewertung als „andere Straße" regelmäßig verschlossen. Entscheidend kommt hinzu, dass dem Normprogramm eine gesetzliche Bindung an Lageerkenntnisse über die Kjriminalitätsbedeutung der betreffenden Straße nicht zu entnehmen ist. Dies begründet die Gefahr, dass eine objektive Kontrolle der subjektiven Einschätzung des kontrollierenden Polizeibeamten nicht stattfinden kann, letztlich also die Gefahr beliebiger Kontrollen, mithin willkürlicher Entscheidungen. (3) Auch dem Werkmal „zum Zwecke der vorbeugenden Bekämpfung" fehlt ungeachtet dessen, dass diese Zwecksetzung eine gerichtlich überprüfbare Schranke der Kontrollbefugnis darstellt (vgl. oben C II 1 b cc; ferner Möllers NVwZ 2000, 382, 386), die nötige Bestimmtheit. Mit der funktionalen Anknüpfung allein an die vom Gesetzgeber geforderte Eignung der Identitätskontrolle zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität verzichtet das Gesetz sehr weitgehend auf das Erfordernis einer Gefahrenprognose oder eines Wahrscheinlichkeitsurteils. Stattdessen können (und sollen) die der Vorsorge dienenden Kontrollen ereigms- und im einzelnen Feststellungsfall auch verdachtsunabhängig erfolgen. Ihrem Wortlaut nach ermöglicht die Vorschrift damit eine nahezu beliebig hohe Kontrolldichte und -breite. Zahl und Anlass der Eingriffe spürbar begrenzende Kriterien sind ihr nicht zu entnehmen, da — im hier interessierenden Gebiet außerhalb der 30-kmGrenzzone - auf zahllosen Straßen und an zahlreichen sonstigen Orten kontrolliert werden darf und im Einzelfall praktisch kaum nachvollzogen werden kann, ob es sich um eine zweckgerechte oder eine zweckentfremdete Kontrolle handelt (vgl. Möllers aaO, 387). Die Schwierigkeit der Überprüfung, ob die Kontrolle dem vom Tatbestand geforderten Zweck entspricht bzw. entsprochen hat, gilt dabei für den einzelnen Betroffenen wie für den nachträglich ggf. angerufenen Richter gleichermaßen. In der vorhegenden Ausgestaltung vermag § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG daher weder die Zahl der Eingriffe zu determinieren, noch Willkür bzw. Missbrauch bei der Anwendung hinreichend sicher auszuschließen. Gerade den willkürlichen Gebrauch tatbestandlich weit gefasster Eingriffsbefugnisse weitgehend zu verhindern, ist jedoch ein Gebot der Bestimmtheit. b) Dieses Defizit an Bestimmtheit lässt sich unter dem Gesichtspunkt prozeduralen Grundrechtsschutzes kompensieren. aa) Damit die Grundrechte ihre Funktion in der sozialen Wirklichkeit erfüllen können, bedarf es, wie der Verfassungsgerichtshof im ersten PolizeigesetzUrteil im Einzelnen ausgeführt hat (JbSächsOVG 4, 50, 96 ff), neben inhaltlichen Normierungen auch geeigneter Organisationsformen und Verfahrensregelungen. Grundrechte beeinflussen nicht nur das materielle Recht, sondern enthalten auch Garantien für das \ 7 erwaltungsverfahren, soweit dieses für einen effektiven Grundrechtsschutz von Bedeutung ist. Greift die Polizei offen in die GrundLVerfGE 14

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rechtspositionen des Einzelnen em, wird der Schutz vor allem durch die verwaltungsverfahrensrechtlichen Vorkehrungen und die Garantie umfassenden Rechtsschutzes (Art. 38 SachsVerf) gewährleistet. Ergänzt werden die individualbezogenen Sicherungen durch die strukturellen Vorkehrungen der parlamentarischen Kontrolle sowie der Kontrolle durch die Öffentlichkeit. Ob und inwieweit verfahrensrechtliche Garantien erforderlich sind, richtet sich nach der Art und Intensität des Grundrechtseingriffs, aber auch danach, inwieweit Grundrechtsschutz durch die nachträgliche Kontrolle der Gerichte gewährleistet ist (SächsVerfGH, aaO, 98 ff). Wo der Gesetzgeber in entwicklungsoffenen Bereichen die Voraussetzungen für Grundrechtseingriffe im Wesentlichen durch unbestimmte Gesetzesbegriffe umschreibt, hat die Regelung der Organisation und des Verfahrens eigenständige grundrechtliche Bedeutung. J e weniger die materiellen Eingriffsvoraussetzungen vom Gesetzgebungsprogramm vorentschieden sind, desto mehr sind sie im Verwaltungsverfahren und bei der etwaigen späteren gerichtlichen Kontrolle zu konkretisieren. Für das hier zu beurteilende Polizeihandeln im Vorsorgebereich ist die Unbestimmtheit der Eingriffsvoraussetzungen typisch. Diese Voraussetzungen lassen sich im Bereich präventiver, nicht über den Gefahrenbegriff eingegrenzter Ermittlungsmaßnahmen oft nur mittels vager Begriffe umschreiben. In dieser Situation kommt dem Grundrcchtsschutz durch Verfahren gesteigerte Bedeutung zu (SächsVerfGH, aaO, 99). bb) Bei Anwendung dieser Maßstäbe lässt sich die ungenügende Bestimmtheit des § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG durch organisatorische und verfahrensmäßige Vorkehrungen (nur) ausgleichen, wenn den Identitätskontrollen ein vorab zu dokumentierendes polizeiliches Konzept zu Grunde liegt und, soweit es um Kontrollen auf „anderen Straßen" geht, hinreichend präzise und vorab zu dokumentierende Lageerkenntnisse der Polizei die erhebliche Bedeutung dieser konkret zu bezeichnenden Straßen für die grenzüberschreitende Kriminalität belegen. Dem Gesetzgeber steht es allerdings frei, auch auf andere Weise — durch ergänzende oder anderweitige Regelung — die Bestimmtheit der Vorschrift herzustellen. (1) Dass der Gesetzgeber wegen der tatsächlichen Ungewissheit über die Eignung und den Umfang der Wirksamkeit der neuen Präventionsbefugnis lediglich eine begrenzte Geltungsdauer der Vorschrift (bis zum 31.5.2004; Art. 5 Abs. 2 des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Polizeigesetzes des Freistaates Sachsen v. 21.6.1999) und vor allem zusätzlich eine Evaluation mit jährlicher Berichtspflicht an das Parlament angeordnet hat (§ 19 Abs. l a SächsPolG), bedeutet zwar eine gewisse institutionelle Sicherung gegen Missbrauch. Die Anwendungspraxis wird damit einschließlich der Ergebnisse in ihrer Gesamtheit der parlamentarischen Kontrolle unterworfen. Als individualschutzbezogene Vorkehrung, die eine rechts staatliche Bindung polizeilichen Handelns gewährleisten soll, hat das parlamentarische, also vornehmlich politische Kontrollinstrument aber kaum, jedenfalls nicht genügend Wirkung.

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(2) Um einer uferlosen bzw. missbräuchlichen Anwendung der Vorschrift zu begegnen und zugleich ein hinreichendes Kontrollniveau zu erreichen, sind kompensatorisch vielmehr weitergehende \ r erfahrensvorkehrungen erforderlich. Wegen der Vergleichbarkeit der Ausgangslagen drängt sich insoweit eine Parallele zum Umweltrecht auf (so auch Möllers NVwZ 2000, 382, 387 mwN). Dort ist seit langem anerkannt, dass eine mit Grundrechtseingriffen für den Einzelnen verbundene Risikovorsorge, die keine Individualzurechnung erfordert, zwar nicht durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ausgeschlossen ist, wohl aber eines gesetzlichen Regelungsausgleichs in Form eines normativ verbindlichen Schutzkonzepts bedarf (BVerwGE 69, 37, 44 f); die Ausgestaltung der in ihrer Intensität der Konzeptbildung und -bindung unterworfenen Risikovorsorge muss eine gerichtliche Kontrolle einzelner Vollzugsakte ermöglichen und deshalb verbindlich definiert sein. Die strukturelle Ähnlichkeit Verdachts- und anlassloser Identitätskontrollen nach § 1 9 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG liegt auf der Hand. Auch diese dienen einem Vorsorgezweck (vorbeugende Krimmalitätsbekämpfung) und verzichten auf eine individuelle Zurechnung. Die Anforderung aus dem Bereich der Risikovorsorge im Umweltrecht bedeutet übertragen, dass die Polizei die zweckgebundene Verdachts- und ereignisunabhängige Kontrollbefugnis nur im Rahmen eines nachvollziehbaren und rechtlich verbindlichen Konzepts ausüben darf (vgl. Möllers aaO, 387). Nur wenn dem Handeln der Polizei ein solches Konzept, mittels dessen sie sich selbst rationalisiert bzw. bindet, zu Grunde liegt, lassen sich die Identitätskontrollen bei voller Aufrechterhaltung ihrer Funktion einerseits begrenzen und andererseits gerichtlicher Nachprüfung zugänglich machen. Wie das notwendige Vorsorgekonzept dabei im Einzelnen ausgestaltet sein muss, gibt die Verfassung nicht vor. Voraussetzung ist aber, dass es auf übergeordneter Leitungsebene entwickelt und nicht nur kurzfristig ausgerichtet ist, eine Gewichtung sowie eine Begrenzung der vorgesehenen Kontrollen nach Ort und Häufigkeit enthält und schließlich in seiner Gesamtheit einen sinnvollen Beitrag zur vorbeugenden Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität zu liefern vermag. Aus Gründen effektiven Rechtsschutzes ist es außerdem geboten, das Konzept zu dokumentieren. Allein auf diese Weise wird dem ggf. nachträglich angerufenen Gericht die Prüfung und Entscheidung ermöglicht, ob die konkrete Identitätskontrolle nicht nur den sonstigen Voraussetzungen des § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG genügt, sondern sich auch im Rahmen des Konzepts gehalten hat. (3) Speziell an die „anderen Straßen von erheblicher Bedeutung für die grenzüberschreitende Kriminalität" sind unter dem Gesichtspunkt der Kompensation mangelnder Bestimmtheit durch Verfahrensvorkehrungen zusätzliche Anforderungen zu stellen, um eine missbräuchliche Praxis der Identitätskontrollen gerade auf untergeordneten Straßen zu verhindern. Die Einschätzung, ob eine bestimmte Straße die genannte Bedeutung aufweist, darf nicht dem Belieben des einzelnen Beamten überlassen bleiben. Willkür lässt sich nur vermeiden, wenn die Bewertung auf Tatsachen oder tatsächlichen Anhaltspunkten beruhende, hinreiLVerfGE 14

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chend präzise Lageerkenntnisse voraussetzt. Diese müssen den Schluss erlauben, dass die ins Auge gefasste konkrete Straße im Kontrollzeitraum in nennenswertem Umfang zu Zwecken der internationalen Kriminalität genutzt wird. In der Regel wird dabei ein Bezug zu Delikt und Begehungsform hergestellt werden müssen, so etwa für die Vermutung, geschmuggelte Drogen oder eingeschleuste Ausländer auf bestimmten Verkehrswegen im Binnenland „antreffen" zu können. Außerdem müssen die entsprechenden Erkenntnisse der Polizei dokumentiert werden. Andernfalls ließe sich effektiver Rechtsschutz nicht gewährleisten. c) § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG und die Befugnisnormen zur Durchsetzung der Identitätsfeststellung sind mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip vereinbar (zur weitgehend vergleichbaren bayerischen Regelung in Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 PAG ebenso jüngst BayVerfGH, Urt. v. 28.3.2003 - Vf. 7-VII-00 unter V A 2 c; zitiert nach http://www.bayern.verfassungsgerichtshof.de/7-VII-00.htm). Es verlangt, dass die Grundrechtsbeschränkung von hinreichenden Gründen des Gemeinwohls getragen wird, das gewählte Mittel zur Erreichung des Zwecks geeignet und erforderlich ist und die Regelung das Ubermaßverbot wahrt. Bei der Beurteilung der Eignung und Erforderlichkeit des gewählten Mittels für den erstrebten Zweck sowie bei der Prognose und Einschätzung der dem Eingriffs- und dem Schutzgut drohenden Nachteile und Gefahren ist verfassungsgerichtliche Zurückhaltung geboten. Angesichts der Vielgestaltigkeit der Gefahren, zu denen auch die Bedrohung durch die grenzüberschreitende Kriminalität gehört, kommt dem Gesetzgeber ein weiter Beurteilungsspielraum zu, welche Befugnisse er der Polizei zur effektiven Aufgabenerfüllung einräumen will (SächsVerfGH, JbSächsOVG 4, 50, 75). aa) Die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität, der die Identitätskontrollen nach dem Wortlaut der Vorschrift dienen, ist ein Ziel, welches der Gesetzgeber von Verfassungs wegen verfolgen durfte. Das schließt die Informationsgewinnung im Vorfeld konkreter Gefahrenabwehr ein, da sie die Polizei erst in die Lage versetzen soll, wirksam zur Kriminalitätsbekämpfung tätig zu werden. Wenn ausweislich der Gesetzesbegründung die Einräumung einer polizeilichen Fahndungsbefugnis ein weiteres wesentliches Ziel war und dort unter Hervorhebung von Fahndungserfolgen in Bayern und Baden-Württemberg ausgeführt ist, dass es „zahlreiche Fälle (gebe), in denen trotz fehlenden Anfangsverdachts im Sinne der Strafprozessordnung eine Personenüberprüfung erforderlich und erfolgreich ist" (DS 2/7794, S. 14 f.), stellt dies ebenfalls einen zulässigen Gesetzeszweck dar (zur kompetenziellen Seite vgl. C I 2 a). Soweit die Verdachts- und ereignisunabhängigen Identitätskontrollen schließlich abschrecken, namentlich geneigte kriminelle Kreise verunsichern und von der Begehung von Straftaten abhalten sollen, liegt auch darin ein verfassungsrechtlich legitimes Ziel. Geeignet ist das Gesetz, wenn die abstrakte Möglichkeit der Zweckerreichung besteht, wenn mit seiner Hilfe das vom Gesetzgeber verfolgte Gemein LVerfGE 14

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wohlziel gefördert werden kann (vgl. BVerfGE 100, 313, 373). Dies durfte der Gesetzgeber hier im Rahmen seiner Einschätzungsprärogative bejahen. Die Erlangung von Informationen nach § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG kann dazu beitragen, der Polizei Erkenntnisse zu verschaffen, mit denen sie von der grenzüberschreitenden Kriminalität ausgehende Störungen beseitigen bzw. Gefahren abwehren kann. Wie ergiebig solche Informationen und daran ggf. anknüpfende Folgemaßnahmen sind, kann verlässlich erst nach längerer Praxiserfahrung beurteilt werden. Der Gesetzgeber war deshalb nicht gehindert, mit der bis zum 31.5.2004 befristeten Vorschrift eine experimentierende Regelung zu treffen und gesetzgeberisches „Neuland" zu betreten. Er darf in Form der Berichte zu Umfang und Ergebnissen der Identitätskontrollen ( § 1 9 Abs. l a SächsPolG) weitere Erfahrungen abwarten. Die Berichte für die Jahre 2000 und 2001 (DS 3/3264, 3/5330) weisen für den Bereich außerhalb der 30-km-Zone steigende Fallzahlen und eine Zunahme der störungsbeseitigenden bzw. gefahrenabwehrenden Folgemaßnahmen aus, belegen also jedenfalls nicht die Untauglichkeit des Mittels. Außerdem kann den Identitätskontrollen eine generelle Abschreckungswirkung nicht von vornherein abgesprochen werden. Die Erforderlichkeit eines Gesetzes ist nur dann zu verneinen, wenn ein anderes, gleich wirksames, aber das Grundrecht eindeutig weniger stark einschränkendes Mittel zur Verfügung steht (vgl. BVerfGE 25, 1, 19 f; 30, 292, 319). Bleibt es in seiner Geeignetheit nach hinzunehmender gesetzgeberischer Prognose hinter dem gewählten zurück, ist es kein milderes Mittel, sondern ein aliud. Als schonendere Alternativen scheiden vorliegend Maßnahmen aus, die auf Grund einer höheren Eingriffsschwelle einen kleineren Adressatenkreis betreffen als § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG. Denn die Wirkung der Vorschrift soll nach der Konzeption des Gesetzgebers gerade auf ihrem weiten Adressatenkreis und dem entsprechenden Anwendungsbereich beruhen. Kein milderes Mittel wäre ferner die bloße Identitätsfeststellungsbefugms ohne ein Instrumentarium zur Durchsetzung. Deren geringere Eingriffsintensität wäre nämlich mit einer Gefährdung des Gesetzeszwecks verbunden, da der Erfolg der Identitätsfeststellung von der freiwilligen Mitwirkung des Betroffenen abhinge. Zudem beruht die Abschrcckungswirkung, die der Gesetzgeber der Vorschrift beimisst, zu einem großen Teil darauf, dass die zu Kontrollierenden mit der Durchsuchung ihrer Person, ihres Fahrzeugs bzw. mitgeführter Sachen rechnen und damit die Entdeckung illegaler Gegenstände befürchten müssen (vgl. auch DS 2/7794, S. 21 zu § 24 SächsPolG). Zur beträchtlichen Weite des räumlichen Anwendungsbereichs der Norm ist, sollen die Identitätskontrollen möglichst wirksam sein, ebenfalls keine mildere Alternative ersichtlich. bb) Die zur Identitätsfeststellung und deren Durchsetzung ermächtigenden Vorschriften verstoßen nicht gegen das Ubermaßverbot, sondern sind das Ergebnis einer verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Abwägung des Gesetzgebers. LVerfGE 14

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Das Übermaßverbot verlangt, dass die Hinbußen an grundrechtlich geschützter Freiheit nicht in unangemessenem Verhältnis zu den Gemeinwohlzwecken stehen, denen der Grundrechtseingnff dient. Einschränkungen seiner Grundrechte muss der Einzelne nur hinnehmen, wenn überwiegende Gemeinwohlinteressen dies rechtfertigen. Dabei hat der Gesetzgeber einen angemessenen Ausgleich zwischen Individual- und Allgemeininteressen herbeizuführen. Den Abwägungsvorgang bestimmt, unter welchen Voraussetzungen welche und wie viele Grundrechtsträger wie intensiven Beeinträchtigungen ausgesetzt sind, und auf der anderen Seite das Gewicht der mit dem Grundrcchtseingriff verfolgten Gemeinwohlbelange. Das Ergebnis hängt dann unter anderem davon ab, wie groß die Gefahren sind, denen mit der Regelung begegnet werden soll, und wie wahrscheinlich ihr Eintritt ist (vgl. BVerfGE 100, 313, 375 f). (1) Den Ausgang der Abwägung entscheidet nicht von vornherein, dass § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG die Identitätskontrolle ohne jedes „zurechenbare" Tun des Betroffenen gestattet und dieser der Kontrolle nicht durch eigenes Verhalten entgehen kann. Maßgebend bleibt vielmehr eine Abwägung der Interessen des Einzelnen und der Allgemeinheit. Außer dem Aufenthalt einer Person im — hier nicht relevanten — 30-kmGrenzstreifen oder an bestimmten anderen Orten des Verkehrs sowie der Zwecksetzung, die Maßnahme zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität durchzuführen, enthält die Vorschrift keine Eingriffsvoraussetzungen. Damit ist die Eingriffs schwelle denkbar niedrig. Die Identitätskonttollen können eine unübersehbare Vielzahl von Personen, nämlich ereignis- und verdachtslos jeden treffen, der sich an den genannten Ortlichkeiten aufhält. Aus dieser Ereignis- und Verdachtslosigkeit der Kontrollen wird unter Hinweis darauf, dass ein gebotener „Zurechnungszusammenhang" fehle, teilweise die Verfassungswidrigkeit des § 1 9 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG und vergleichbarer Vorschriften anderer Bundesländer hergeleitet (vgl. M W e r f G , LKV 2000, 149, 152 ff für § 29 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 MVSOG; Bi^er aaO, 57 ff; Stephan DVB1. 1998, 81, 82 f; Schnekenburger BayVBl. 2001, 129, 132 ff). Dem ist nicht zu folgen. Allerdings ist für Befugnisnormen des Polizeirechts bislang kennzeichnend gewesen, dass bestimmte Tatbestandsvoraussetzungen zugleich eine spürbare Eingriffsschwelle markieren. Diese herkömmlich mit Begriffen wie „Gefahr" und „Störer" festgelegte Schwelle erfordert eine besondere Beziehung zwischen Eingriff und Betroffenem, die sich auch als Zurechnungszusammenhang bezeichnen lässt. Danach darf grundsätzlich niemand Adressat polizeilicher Maßnahmen werden, der in keiner Weise einen Grund dafür gegeben hat. Von den einzelnen Identitätsfeststellungsbefugnissen des § 19 Abs. 1 SächsPolG fügen sich die nach den Nrn. 1 bis 3 zwanglos in diese Systematik ein. Bei § 19 Abs. 1 Nr. 4 SächsPolG ist zwar — insoweit ähnlich wie bei Nr. 5 — der räumliche Anwendungsbereich nicht näher begrenzt, so dass Kontrollstellen (zur Verhinderung bestimmter qualifizierter Straftaten) überall im Tandesgebiet möglich sind. Gleichwohl LVerfGE 14

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kann man auch hier einen gewissen „Zurechnungszusammenhang" darin sehen, dass eine durch eine schwerwiegende Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit gekennzeichnete zeitlich begrenzte Sondersituation vorliegen muss (so für die vergleichbare Norm des MVSOG das MVVerfG, LKV 2000, 149, 153) und darüber hinaus eine gewisse Wahrscheinlichkeit erforderlich ist, gerade diejenige Person an der Kontrollstelle anzutreffen, die die zu verhindernden Straftaten begehen will (zu dieser einschränkenden Auslegung des § 19 Abs. 1 Nr. 4 SächsPolG BtOmmelfanger/Rimmele Polizeigesetz des Freistaates Sachsen, § 19 Rn. 15). Für die Befugnis aus § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG ist ein Zurechnungszusammenhang im vorstehenden Sinne keine Voraussetzung. Zwar enthält die Norm Tatbestandsmerkmale. Deren Steuerungskraft ist jedoch deutlich geringer als die sonstiger Eingriffsnormen. Die für eine Identitätskontrolle in Betracht kommenden räumlichen Bereiche sind so weit gespannt, dass allein aus dem Aufenthalt an ihnen - anders als bei den „gefährlichen" und „verrufenen" Orten oder in gefährdeten Objekten ( § 1 9 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 3 SächsPolG) - nach herkömmlichem Verständnis kein Zurechnungsgrund abgeleitet werden könnte. Die tatbestandlich vorgeschriebene Zweckverfolgung der vorbeugenden Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität hat nur in geringem Umfang und durch die erschwerte Nachprüfbarkeit für den Betroffenen und ggf. die Gerichte eher noch weiter abgeschwächt begrenzende Wirkung. Von \^erfassungs wegen besteht das Erfordernis eines — nach einfachem Recht bislang üblichcn — „Zurechnungszusammenhangs" indessen nicht. Dem Gesetzgeber ist es nicht verwehrt, die Systematik der polizeilichen Ringriffsbefugnisse fortzuentwickeln. Er ist hierzu kraft seiner demokratischen Legitimation und seiner daraus resultierenden Gestaltungsfreiheit befugt, sofern er nur die verfassungsrechtlichen Anforderungen, insbesondere die Grundrechte und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, beachtet. Nach der Sächsischen Verfassung ist die Angemessenheit eines Grundrechtseingriffs, den ein Gesetz ermöglicht, im Wege einer Güterabwägung zu bestimmen. Diese muss unter anderem berücksichtigen, wie groß die Gefahren sind, die abgewehrt werden sollen, und wie wahrscheinlich ihr Eintritt ist (vgl. oben C II 3 c bb). Die öffentlichen Sicherheitsbelange und der Schutz der Persönlichkeitssphäre sind dabei, wie der Verfassungsgerichtshof im ersten Polizeigesetz-Urteil ausgesprochen hat (JbSächsO\^G 4, 50, 76 f), prinzipiell gleichwertig, so dass bei der Abwägung keinem von beiden ein genereller Vorrang zukommt. Diese Ergebnisoffenheit würde bereits im Ansatz verhindert, erhöbe man die Notwendigkeit eines Zurechnungszusammenhangs — wie es die Antragsteller tun - unmittelbar in den Rang von Verfassungsrecht. Mit einer Redlichkeitsvermutung lässt sich das verfassungsrechtliche Erfordernis eines „Zurechnungszusammenhangs" nicht begründen. Eine aus dem Menschenbild der Verfassung abzuleitende Vermutung der Redlichkeit des Einzelnen, wonach der Staat nur dann über Kontrollbefugnisse gegenüber dem EinLVerfGE 14

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zelnen verfüge, wenn konkrete Anzeichen für einen Missbrauch der Freiheitsrechte durch ihn bestünden, kann weder dem Grundgesetz noch der Sächsischen Verfassung entnommen werden (ebenso M W e r f G , LKV 2000, 149, 153; a.A. Schnekenburger¥>xff&\. 2001, 129, 133). Wenn das Bundesverfassungsgericht den Zusammenhang betont zwischen der Vorstellung vom Menschen als einem „geistig sittlichen Wesen, das darauf angelegt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und zu entfalten", und der Ausgestaltung dieser Freiheit „nicht als diejenige eines isolierten und selbstherrlichen, sondern als die eines gemeinschaftsbezogenen und gemeinschaftsgebundenen Individuums" (vgl. BVerfGE 45, 187, 227), so steht dahinter nicht zuletzt die Erkenntnis, dass der Mensch Freiheit auch missbrauchen kann. Um festzustellen, ob die so verstandene Freiheit nur gebraucht oder aber missbraucht wird, sind Kontrollen unerlässlich. Eine Herabwürdigung des Einzelnen zum bloßen Objekt liegt nicht schon darin, dass der Staat Befugnisse für Verdachts- und anlasslose Kontrollen schafft. Das Misstrauen des Staates ist dabei kein konkretes, gegen einen bestimmten Betroffenen, sondern allenfalls ein abstraktes, gegen die „verführbare Natur des Menschen" gerichtetes (zutreffend Kastner \ r erwArch 2001, 216, 251; Mülkr-Terpit^ DÖV 1999, 329, 335). Die fragliche Kontrollbefugnis knüpft außerdem gerade nicht daran an, dass der Einzelne als (möglicher) Straftäter angesehen wird; statt dessen geht es zunächst nur darum, bestimmte Informationen zu gewinnen, um überhaupt erst beurteilen zu können, ob der Betroffene Störer ist. (2) Die Identitätsfeststellung, an der der Betroffene freiwillig mitwirkt, d.h. das Anhalten und Fragen des Polizeibeamten nach der Identität und ggf. die Inaugenscheinnahme mitgeführter Ausweispapiere, ist für sich betrachtet ein eher geringfügiger Eingriff. Dies folgt aus der Form der offenen Erhebung der Informationen, aber auch aus dem Wesen der erhobenen Daten, die nicht dem engeren Persönlichkeitsbereich angehören. Insofern liegt der Fall grundlegend anders als bei der heimlichen Informationserhebung mit verdeckten Mitteln aus Wohnungen (vgl. dazu SächsVerfGH, JbSächsOVG 4, 50 ff). Andererseits kann von den Identitätsfeststellungen eine große Zahl an Personen, nämlich praktisch jedermann, betroffen werden. Zudem lässt § 1 9 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG seinem Wortlaut nach praktisch ständige Polizeikontrollen an zahlreichen Orten des Freistaates zu. Mögen auch die äußeren Rahmenbedingungen gegenwärtig eher eine Normanwendungspraxis begünstigen, bei der der Einzelne außerhalb der 30-km-Zone nicht mit bedeutend häufigeren Kontrollen als ohnehin schon mit Verkehrskontrollen nach § 36 Abs. 5 StVO rechnen muss und erst recht nicht „auf Schritt und Tritt" überwacht wird, so kommt es für die verfassungsrechtliche Wertung doch allein darauf an, wie die Vorschrift angewendet werden kann, ohne gegen sie zu verstoßen (zutreffend M W e r f G , LKV 2000, 149, 154). Diesen Belangen des Einzelnen steht das Interesse der Allgemeinheit an der Abwehr und Bekämpfung bestimmter Formen der Kriminalität gegenüber. Die vorbeugende Bekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität stellt dabei einen LVerfGE 14

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hohen Belang des Wohls der Allgemeinheit dar. Denn der Rechts- und Verfassungsstaat hat nicht nur die Freiheitsrechte des Einzelnen zu achten, sondern diese auch vor Übergriffen Dritter zu schützen. Daher ist die Sicherheit der Bevölkerung, die der Staat als Garant einer Friedens- und Ordnungsmacht zu gewährleisten hat, nicht nur ein unverzichtbarer Verfassungswert, sondern steht im Rang anderen Verfassungswerten grundsätzlich gleich (vgl. BVerfGE 49, 24, 56 f; M W e r f G , LKV 2000, 149, 154). Der Verhinderung und Aufklärung von Straftaten kommt somit von Verfassungs wegen hohe Bedeutung zu (vgl. BVerfGE 77, 65, 76; 80, 367, 375). Bei Abwägung der unterschiedlichen Belange überwiegt das Allgemeinwohlinteresse an wirksamer Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität. Eine willkürliche, überzogene Anwendungspraxis durch übermäßig häufige bzw. breit angelegte Kontrollen ist für den Einzelnen — unabhängig davon, ob die personellen Ressourcen der Polizei gegenwärtig oder in absehbarer Zeit eine sehr hohe Kontrolldichte erlauben würden — nicht zu besorgen. Dem steht vor allem entgegen, dass die Polizei bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen lediglich nach pflichtgemäßem Ermessen zu Kontrollen berechtigt ist und sich im - wenn auch möglicherweise eher seltenen — Fall der Inanspruchnahme nachträglichen Rechtsschutzes der richterlichen Überprüfung stellen muss. Kontrolldichte und -häufigkeit begrenzende Wirkung kommt außerdem jedenfalls in der Tendenz der jährlichen ministeriellen Berichtspflicht gegenüber dem Parlament gem. § 19 Abs. l a SächsPolG zu. Die offene Form der Identitätsfeststellung ist für den Betroffenen im Allgemeinen, kommt er der entsprechenden Offenbarungspflicht freiwillig nach, mit keinem nennenswerten eigenen Aufwand und lediglich einer Einbuße von wenigen Minuten verbunden. Sie stellt sich damit regelmäßig als eine Art Lästigkeit dar, die hinzunehmen dem einzelnen Betroffenen im Interesse der vom Gesetzgeber verfolgten Gemeinwohlbelange zuzumuten ist. (3) Gelingt eine sichere Identifizierung auf „freiwilliger" Grundlage nicht, so darf sich die Polizei zur Durchsetzung der Identitätsfeststellung des oben (vgl. C II 1 c) aufgeführten Instrumentariums bedienen. Die entsprechenden Ermächtigungen, die bei steigender Eingriffsintensität bis hin zur Möglichkeit des Identitätsgewahrsams reichen, vertiefen den Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht und bedürfen, allerdings nur in ihrem spezifischen Bezug zur Feststellungsbefugnis gem. § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG, der Prüfung am Maßstab des Art. 33 SächsVerf. Das gilt auch, soweit für einzelne Durchsetzungsbefugnisse andere Grundrechte ebenfalls einschlägig sind (a.A. Kastner VerwArch 2001, 216, 257: vorrangiger Maßstab Spezialgrundrechte, insbesondere Freiheit der Person). Bei der Frage, wie sich die unterschiedliche Intensität der Eingriffsbefugnisse auf die Verfassungsmäßigkeit des Grundtatbestandes (§ 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG) auswirkt, ist zunächst zu berücksichtigen, dass diese Maßnahmen keineswegs gleichsam zum Programm einer jeden Identitätsfeststellung gehören. Das jeweils schärfere Mittel darf nach dem ausdrücklichen Wortlaut der entsprechenLVerfGE 14

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den Vorschriften (vgl. §§ 19 Abs. 2 S. 3; 20 Abs. 1 Nr. 1; 22 Abs. 1 Nr. 3 SächsPolG) nur zur Anwendung kommen, wenn die Identität auf andere Weise nicht, nur erschwert oder nicht zuverlässig festgestellt werden kann. Die Polizei hat somit die Entscheidung, ob und welche Maßnahme sie zum Zwecke der Identitätsfeststellung ergreift, in strikter Bindung an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu treffen. Dabei hat sie zu berücksichtigen, dass nach bundesrechtlichen Vorschriften niemand verpflichtet ist, einen Personalausweis mit sich zu führen [Medert/Süßmuth Pass- und Personalausweisrecht, Bd. 1, 3. Aufl. 2001, § 1 PAuswG Rn. 17). So muss sich die Polizei auf die Einsichtnahme in den Führerschein, zu dessen Mitführung ein Kraftfahrer nach § 4 Abs. 2 S. 2 Fahrerlaubnisverordnung verpflichtet ist, jedenfalls dann beschränken, wenn der Kraftfahrer keine anderen Ausweispapiere vorweisen kann. Führen Begleitpersonen keine Ausweispapiere mit sich, muss sie sich mit mündlichen Angaben begnügen, wenn diese durch einen Dritten, etwa den sich ausweisenden Fahrer, bestätigt werden und nach kriminalistischer Erfahrung kein Grund besteht, den Angaben zu misstrauen (vgl. auch Schnekenburger BayVBl. 2001, 129, 134). In einem solchen Fall wäre schon eine Sistierung ein unverhältnismäßiger, weil nicht erforderlicher Eingriff. Kann sich schließlich ein Betroffener allgemein nicht ausweisen, etwa als einzelner Fußgänger oder als Kraftfahrer, der seinen Führerschein vergessen hat, hat die Polizei tunlichst zu versuchen, seine Identität ohne Sistierung oder gar erkennungsdienstliche Behandlung festzustellen. So muss sie unter Umständen die mündlichen Angaben des Betroffenen telefonisch mit Hilfe einer von diesem benannten Person überprüfen oder — in Fällen, die sich dafür anbieten — den Betroffenen nach Hause geleiten und dort Einsicht in die Papiere nehmen. Erst wenn die vorbezeichneten Möglichkeiten ausnahmsweise nicht zu einer zuverlässigen Identifizierung führen, darf zu weiteren Maßnahmen geschritten werden. (a) Hiervon ausgehend ist zunächst für die Mittel der Sistierung (§19 Abs. 2 S. 3 SächsPolG) und der erkennungsdienstlichen Behandlung (§ 20 Abs. 1 Nr. 1 SächsPolG) festzuhalten, dass die Wahrscheinlichkeit ihres Einsatzes im Kontrollfall wesentlich geringer ist als die des Erfolgs der Identitätsfeststellung ohne ihre Zuhilfenahme. Dadurch verliert die in der Bereitstellung dieser Befugnisse durch den Gesetzgeber liegende Intensivierung des Grundrechtseingriffs spürbar an Gewicht. Für den Einzelnen, der von derartigen Maßnahmen betroffen wird, ist der Eingriff gleichwohl nachhaltig. Auf der anderen Seite ist die Polizei bei der Identitätsfeststellung nach § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG auf die Möglichkeit angewiesen, die Informationen notfalls auch gegen den Willen des Betroffenen erheben zu dürfen. Müsste sie sich allein auf seine Bereitschaft verlassen, sich freiwillig auszuweisen, könnte jeder Betroffene die Identitätsfeststellung vereiteln. Dann aber könnten die Identitätskontrollen die Zwecke der Abschreckung und Fahndung kaum noch wirkungsvoll erfüllen. Damit sich also gerade die maßgeblichen Zielgruppen nicht einfach der Feststellung ihrer Identität entziehen können, sind die Befugnisse der Sistierung LVerfGE 14

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und zur erkennungsdienstlichen Behandlung unentbehrlich. Die grundsätzliche Eignung dieser Mittel für Zwecke der Identitätsfeststellung steht außer Frage. Die erforderliche Gesamtabwägung ergibt, dass § 19 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 SächsPolG auch insoweit mit Art. 33 SachsVerf vereinbar ist, als der Polizei die Befugnis zur Sistierung und zur erkennungsdienstlichen Behandlung der zu kontrollierenden Person eingeräumt ist. Wenn die Polizei, wie es ihre Pflicht ist, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei der Anwendung dieser Mittel beachtet, liegt in deren Einsatz keine unangemessene Beeinträchtigung der grundrechtlichen Belange des Einzelnen. Da der Betroffene im Ausgangspunkt — wie verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist — zur Offenbarung seiner Identität verpflichtet ist, kann er durch gesetzestreues kooperatives Verhalten gegenüber der Polizei in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle verhindern, dass schärfere Maßnahmen erforderlich werden. Speziell für erkennungsdienstliche Maßnahmen kommt hinzu, dass § 20 Abs. 3 SächsPolG die Vernichtung erkennungsdienstlicher Unterlagen vorschreibt, sobald der Zweck der Identitätsfeststellung erreicht ist; damit unterliegt dieses Instrument einer strikten Zweckbindung, die es verbietet, die auf diese Weise erhobenen Daten auch dann noch aufzubewahren, wenn sich im Rahmen der Identitätsfeststellung die Nichtstörer-Eigenschaft des Betroffenen herausgestellt hat. Die Möglichkeit, dass die Polizei beim Vollzug des § 19 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 SächsPolG im Einzelfall unverhältnismäßige Maßnahmen trifft, kann die Verfassungsmäßigkeit der Normen im Grundsatz nicht berühren (vgl. WeingartBayVBl. 2001, 69, 73). (b) Es verstößt schließlich auch nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn der Betroffene, dessen Identität auf andere Weise nicht festgestellt werden kann, als letzte Möglichkeit in Gewahrsam genommen werden darf (§ 22 Abs. 1 Nr. 3 SächsPolG). Allerdings sind einer grundsätzlich auch mit den Mitteln des Zwanges zulässigen Datenerhebung durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Grenzen gezogen. Die staatliche Datenerhebung beim Einzelnen ist im Rechtsstaat kein Selbstzweck, sondern bedarf besonderer verfassungsrechtlicher Rechtfertigung. Im Rahmen der gebotenen Abwägung ist bei den geschützten Belangen des von einem Identitätsgewahrsam Betroffenen nicht nur sein Interesse zu berücksichtigen, personenbezogene Daten nicht offenbaren zu müssen, sondern auch sein Grundrecht auf Freiheit der Person (Art. 16 Abs. 1 S. 2 SächsVerf) angemessen zur Geltung zu bringen. Die im Rang besonders hoch stehende „unverletzliche" Freiheit des Menschen ist die Basis seiner allgemeinen Rechtsstellung und der meisten seiner anderen grundrechtlich verbürgten Entfaltungsmöglichkeiten (SächsVerfGH, JbSächsOVG 4, 50, 61). Im Unterschied zur Sistierung, die als kurzfristige Aufhebung der physischen Bewegungsfreiheit eine bloße Freiheitsbeschränkung nach Art. 17 Abs. 1 SächsVerf darstellt (vgl. SchuI~e-FieHt~ in: Dreier, GG, Bd. 1, 1996, Art. 2 Abs. 2 Rn. 63: v. Münch/Kmng GG, Bd. 1, 5. Aufl. 2000, Art. 2 Rn. 78 Stichwort „Mitnahme"), ist der Gewahrsam dabei eine Freiheitsentziehung LVerfGE 14

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iSv Art. 17 Abs. 2 bis 4 SächsVerf (zur Abgrenzung vgl. Jarass/Pierotb GG, 6. Aufl. 2002, Art. 104 Rn. 10). Dennoch erweist sich die Ermächtigung zur Datenerhebung unter Zugriff auch auf die Freiheit der Person als noch angemessen. Eine Ingewahrsamnahme kommt von vornherein nur in Betracht, wenn trotz Ausschöpfung der milderen Mittel zur Identitätsfeststellung entweder die Identität völlig ungeklärt ist oder jedenfalls, sofern bestimmte Personalien als mögliche Identität ermittelt oder vom Betroffenen genannt sind, begründete Zweifel an diesen Personalien bestehen. Entscheidend begrenzt wird die Befugnis, den Betroffenen in Gewahrsam zu nehmen, weiter dadurch, dass gerade der die Feststellung der Identität nach § 19 SächsPolG rechtfertigende Grund den Eingriff in die Freiheit der Person tragen muss (vgl. Be/v Polizeigesetz des Freistaates Sachsen, 2. Aufl. 1994, § 22 Rn. 9). Die Ingewahrsamnahme anlässlich einer Identitätskontrolle nach § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG muss also nicht nur der Identitätsfeststellung als solcher, sondern zugleich der vorbeugenden Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität zu dienen geeignet sein. Das ist in jedem Einzelfall sorgfältig zu prüfen und wird nur ausnahmsweise zutreffen. Als ultima ratio der Polizei auch im Rahmen von § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG das Mittel des Identitätsgewahrsams an die Hand zu geben, ist unter diesen Voraussetzungen nicht unverhältnismäßig. Die Bemessung der zulässigen Gewahrsamsdauer auf höchstens drei Tage schließlich (§ 22 Abs. 7 S. 3 SächsPolG) stellt eine noch vertretbare Obergrenze dar. 4. Der durch das Mittel des Identitätsgewahrsams (§ 22 Abs. 1 Nr. 3 SächsPolG) zugleich bewirkte Eingriff in die Freiheit der Person (Art. 16 Abs. 1 S. 2 SächsVerf) ist ebenfalls verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Das nach Art. 17 Abs. 1 SächsVerf erforderliche förmliche Gesetz liegt vor. Ebenso ist dem in Art. 17 Abs. 2 SächsVerf angeordneten Richtervorbehalt Rechnung getragen (§ 22 Abs. 7, 8 SächsPolG). Angesichts der besonderen Bedeutung des Grundrechts darf die Entziehung der Freiheit der Person nur aus wichtigen Gründen des Allgemeinwohls oder zum Schutze des Betroffenen erfolgen (SachsVerfGH, JbSächsOVG 4, 50, 63). Solche überwiegenden Gemeinwohlinteressen sind hier gegeben. Vor Ingewahrsamnahme und Anordnung der Fortdauer ist von Polizei bzw. Gericht sorgfältig zu prüfen, ob der Freiheitsentzug wirklich die Feststellung der Identität erwarten lässt und ob er darüber hinaus tatsächlich einen Beitrag zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität leisten kann. Trifft dies zu, ist der auf höchstens drei Tage beschränkte Identitätsgewahrsam nicht unangemessen, und zwar auch dann nicht, wenn die Störereigenschaft des Betroffenen im Zeitpunkt der Ingewahrsamnahme nicht feststeht (a.A. Kastner VerwArch 2001, 216, 258 f). 5. Die Ermächtigungen zu - anderen Zwecken als der Identitätsfeststellung dienenden — Durchsuchungen von Personen und Sachen nach ξ 23 Abs. 1 Nr. 1, 1. Alt. iVm § 19 Abs. 2 S. 3 bzw. i\ r m § 22 Abs. 1 Nr. 3 SächsPolG sowie § 24 LVerfGE 14

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Nrn. 6, 7 iVm § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG greifen selbständig in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ein, sind aber verfassungsrechtlich ebenfalls nicht zu beanstanden. a) Diese Folgemaßnahmen sind zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität geeignet. Zum einen fördert es den angestrebten Abschreckungseffekt, wenn der Einzelne mit den genannten Durchsuchungen rechnen muss. Zum anderen können dadurch im Einzelfall Erkenntnisse über die grenzüberschreitende Kriminalität gewonnen werden, die allein über die isolierte Identitätsfeststellung nicht zu erlangen wären. Die Folgemaßnahmen sind zur Erreichung dieser Zwecke auch erforderlich, da die vom Gesetzgeber beabsichtigte Abschreckungswirkung zu einem großen Teil gerade darauf beruht, dass die zu Kontrollierenden nicht nur ihre Identität offenbaren, sondern zusätzlich mit der Durchsuchung ihrer Person, ihres Pkw bzw. ihrer mitgeführten Sachen rechnen und damit die Entdeckung mitgeführter illegaler Gegenstände befürchten müssen. Eine Beschränkung auf die bloße Identitätsfeststellung nach § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG als mildere Maßnahme wäre zumindest weniger geeignet. b) Die genannten Durchsuchungsermächtigungen verstoßen auch nicht gegen das Ubermaßverbot. Zunächst steht ihrer verfassungsrechtlichen Zulässigkeit nicht das Fehlen eines „Zurechnungszusammenhangs" entgegen; maßgebend ist vielmehr allein eine Güterabwägung (vgl. oben C II 3 c bb, 1). Die Durchsuchung von Personen und Sachen stellt gegenüber der „isolierten" Identitätsfeststellung den schwerer wiegenden Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung dar. Der Betroffene muss nicht nur die punktuelle und klar abgegrenzte Information seiner Identität offenbaren (und ggf. hierauf gerichtete besondere Feststellungsmaßnahmen dulden), sondern unter Umständen — je nach dem, welche zur Privatsphäre gehörenden Gegenstände er mit sich zu führen pflegt — die Preisgabe eines beträchtlichen Teils seiner Privatsphäre hinnehmen. Gleichwohl erweisen sich die Durchsuchungen nicht als unangemessen. Denn auf der anderen Seite ist die Unentbehrlichkeit der Durchsuchungsermächtigungen für die Erreichung der vom Gesetzgeber angestrebten Zwecke zu beachten. Allein die Identität der kontrollierten Person gibt vielfach kaum oder gar keinen Aufschluss darüber, ob der Betroffene mit grenzüberschreitender Kriminalität in Verbindung steht. Außerdem darf bei der Abwägung nicht außer Betracht bleiben, dass die Durchsuchungen von Personen und Sachen, sofern es zu solchen kommt, nicht selten (jedenfalls auch) dem Selbstschutz der kontrollierenden Beamten dienen. Insgesamt führen daher die an § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG anknüpfenden, nicht mehr der eigentlichen Identitätsfeststellung dienenden Ermächtigungen zur Durchsuchung von Personen und Sachen nicht zu übermäßigen Eingriffen in Art. 33 SächsVcrf. 6. Verfassungsrechtlich unbedenklich ist schließlich die Befugnis der Polizei, die bei der Identitätsfeststellung erlangten Daten nach § 46 Abs. 1 S. 3 iVm § 19 LVerfGE 14

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Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG mit dem Fahndungsbestand abzugleichen (ebenso Kastner VerwArch 2001,216, 255). § 46 SächsPolG regelt die Möglichkeiten der Polizei, Daten abzugleichen, differenziert. Während ein Abgleich mit sonstigen polizeilichen Dateien nach Absatz 1 Satz 1 ohne weiteres allein gegenüber Störern und nach Absatz 1 Satz 2 unter zusätzlichen Voraussetzungen auch gegenüber anderen Personen erfolgen darf, kann der Polizeivollzugsdienst nach Absatz 1 Satz 3 im Rahmen seiner Aufgabenwahrnehmung erlangte personenbezogene Daten, also gegenüber Störern wie Nichtstörern gleichermaßen, mit dem Fahndungsbestand - aber auch nur mit diesem - abgleichen. Unter Fahndungsbestand ist der gesamte polizeiliche Datenbestand zu verstehen, der der gezielten Suche nach Personen oder Sachen dient (vgl. im Einzelnen BeSächsPolG, § 46 Rn. 4; Be Mußmann Polizeigesetz für Baden-Württemberg, 6. Aufl. 2001, § 39 Rn. 5 f; Rommelfanger/Rimmele Polizeigesetz des Freistaates Sachsen, § 46 Rn. 4, 8), nicht aber der polizeilichen Beobachtung (vgl. § 36 Abs. 2 Nr. 4 SächsPolG). Mit dieser gegenständlichen Beschränkung auf den Fahndungsbestand stellt die Befugnis zum Datenabgleich (§ 46 Abs. 1 S. 3 SächsPolG), die bei Identitätskontrollen nach § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG eröffnet ist, lediglich einen geringfügigen (zusätzlichen) Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung dar. Auf der anderen Seite wäre eine Identitätsfeststellungsbefugnis ohne die Möglichkeit zum Abgleich mit dem Fahndungsbestand kaum sinnvoll. Beschränkte sich die Befugnis der Polizei darauf, die Personalien der zu Kontrollierenden zu erheben, ohne diese Daten in irgendeiner Weise verwenden zu dürfen, wäre für den Zweck der Bekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität kaum etwas zu gewinnen. Selbst der bloße Abschreckungseffekt, den § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG neben anderen Zwecken verfolgt, liefe weitgehend leer, könnten sich im Fahndungsbestand der Polizei befindliche Personen oder solche, die dieses befürchten, auf das Unterbleiben eines Abgleichs einrichten. Da die Ermächtigung zum Fahndungsabgleich im vorliegenden Zusammenhang unmittelbar an die Identitätsfeststellungsbefugnis geknüpft ist, kann für die Abwägung im Übrigen auf die dortigen Ausführungen zur Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne verwiesen werden (oben C II 3 c bb). D. § 19 Abs. 1 Nr. 6 Buchst, b SächsPolG verstößt wegen Unvereinbarkeit mit Art. 72 Abs. 1 lVm Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG gegen Art. 3 Abs. 2 sowie Art. 39 Abs. 2 iVm Art. 1 S. 1 SächsVerf und ist nichtig. Im Übrigen ist § 19 Abs. 1 Nr. 6 SächsPolG mit der Sächsischen Verfassung vereinbar. I. Die Vorschrift ist nur teilweise kompetenzgemäß ergangen.

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1. a) § 19 Abs. 1 Nr. 6 Buchst, a SächsPolG fällt nicht in die konkurrierende Bundesgesetzgebung für das gerichtliche Verfahren (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG), sondern die Länderkompetenz für das Recht der Gefahrenabwehr (Art. 70 GG). Die Vorschrift zielt nicht auf die Verfolgung einzelner, nach Tatort, Tatzeit und Tatumständen individualisierter Taten (oben C I 2 a). Sie soll ermöglichen, Straftaten zu verhindern, ähnlich der Identitätsfeststellung an Kontrollstellen gemäß dem insoweit wortgleichen § 19 Abs. 1 Nr. 4 SächsPolG. Der gefahrenabwehrende Zweck wird auch nicht berührt, wenn im Einzelfall die für die Einrichtung eines Kontrollbereiches maßgebende polizeiliche Prognose, es werde zu Straftaten iSd Nr. 6 Buchst, a kommen, auf der Erwartung des Antreffens von Personen beruht, die mit solchen Straftaten bereits in Erscheinung getreten waren. b) § 19 Abs. 1 Nr. 6 Buchst, a SächsPolG steht, soweit er an Straftaten iSd § 27 VersG anknüpft, auch nicht die konkurrierende Bundesgesetzgebung für das Versammlungsrecht aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 3 GG entgegen. Zwar mag die Verhinderung von Versammlungsstraftaten zu dem von der Kompetenzmaterie umfassten öffentlichen Recht der Versammlungen gehören (vgl. v. Mangold! /Klein/ Oeler GG, 4. Aufl., Art. 74 Rn. 42; Unders Jura 2003, 41). Das Versammlungsgesetz regelt als das Länderpolizeirecht verdrängendes Spezialpolizeigesetz des Bundes für unmittelbar versammlungsbezogene Eingriffe wegen Gefahren, die durch Versammlungen verursacht sind (vgl. BVerwGE 64, 55, 57), polizeiliche Maßnahmen aber nur in Bezug auf nicht verbotene und nicht aufgelöste Versammlungen sowie deren Leiter und Teilnehmer. Das lässt Raum für landespolizeirechtliche Regelungen im Vorfeld, besonders bezüglich des Zugangs und der Verhütung versammlungsbezogener Straftaten (vgl. BVerwG, NVwZ 1988, 250; VGH Mannheim, NVwZ-RR 1990, 602, 603, NVwZ 1998, 761, 762 f u n d DVB1. 2000, 1634; OVG Bremen, NVwZ 1987, 235 ff; Dietel/Ginl~el/Kniesel VersG, 12. Aufl. 2000, § 1 Rn. 88, 188, 199). Darum geht es bei § 1 9 Abs. 1 Nr. 6 Buchst, a SächsPolG. Identitätsfeststellungen in Kontrollbereichen kommen zur Verhinderung von Straftaten nach § 27 VersG wegen des Waffen-, Schutzwaffen- und Vermummungsverbotes bei Versammlungen, besonders vor deren Beginn, in Betracht. Soweit es um Straftaten nach § 27 Abs. 2 Nr. 3 VersG geht, bezieht sich die Identitätsfeststellungsbefugnis ebenfalls auf Verhalten außerhalb von Versammlungen. Gleiches gilt, soweit sich das Waffen-, Schutzwaffen- und Vermummungsverbot auf den Weg zu Versammlungen bezieht. Dagegen kann § 1 9 Abs. 1 Nr. 6 Buchst, a SächsPolG nicht so ausgelegt werden, als wolle er eigenständige polizeirechtliche Identitätskontrollen gegenüber Versammlungsteilnehmern auch während und am Ort von Versammlungen ermöglichen. Das widerspräche dem ersichtlichen Bestreben des Sächsischen Polizeigesetzes, die sonderpolizeiliche Bundesgesetzgebungskompetenz für das Versammlungsrecht zu achten. 2. Dagegen verstößt § 19 Abs. 1 Nr. 6 Buchst, b SächsPolG gegen Art. 3 Abs. 2 und Art. 39 Abs. 2 iVm Art. 1 S. 1 SachsVerf (vgl. oben C I 1). Insoweit LVerfGE 14

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fehlt dem Freistaat die Gesetzgebungskompetenz. Die angegriffene Regelung gehört zur konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das gerichtliche Verfahren (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG), von der er mit § 111 StPO für jedermann betreffende Maßnahmen zur Identitätsfeststellung bei der Fahndung zur Verfolgung von Straftaten abschließenden Gebrauch gemacht hat. a) Die Nr. 6 Buchst, b knüpft mit der Fahndung nach Personen, bei denen bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, dass sie eine Katalogstraftat begangen haben, ebenso wie § 1 1 1 StPO an einzelne, nach Tatort, Tatzeit und Tatumständen individualisierte Taten an, d.h. an Voraussetzungen, die dort für die Vornahme von Maßnahmen der Strafverfolgung maßgeblich sind. Auch zielt die Identitätskontrolle auf die Feststellung gerade der Personen, auf die sich die Fahndung bezieht. Die Annahme, § 19 Abs. 1 Nr. 6 Buchst, b SächsPolG ermächtige zu jedermann betreffender Identitätsfeststellung im Rahmen allgemeiner (ereignisunabhängiger) Fahndung ohne Bezug zu bestimmten Straftaten (vgl. Kommelfanger/ Bammele Polizeigesetz des Freistaates Sachsen, § 19 Rn. 23), widerspricht dem Gesetzeswortlaut und dem Zweck der Regelung, nicht nur die Einrichtung des Kontrollbereichs, sondern auch die Identitätsfeststellung selbst an die dort bestimmten Voraussetzungen zu binden; sonst wäre sie voraussetzungslos. b) Auch wenn die Befugnis gem. § 19 Abs. 1 Nr. 6 Buchst, b SächsPolG, abweichend von § 111 StPO, nicht ausdrücklich „zur Ergreifung des Täters" eingeräumt und der Begriff Fahndung, abzuleiten von „finden", nicht notwendig strafprozessual zu verstehen ist (vgl. Tilch Münchner Rechts-Lexikon, „Fahndung"), hat Nr. 6 Buchst, b keinen primär präventiven Anwendungsbereich. Aus ihrer im Polizeirecht der Länder singulären Stellung neben der Tatbestandsvariante Buchst, a folgt, dass es bei Buchst, b nicht um die Verhinderung der genannten Katalogstraftaten gehen kann. Sie ist nach dem System der Regelung bei gleichem Straftatenkatalog umfassend bereits durch die Variante Buchst, a erfasst. Diese hat auch nicht nur die Begehung der Katalogtaten zum Gegenstand, so dass deren Fortsetzung oder Beendigung zu verhindern und dadurch präventiv bzw. störungsbeseitigend zu wirken, ein polizeirechtlich legitimer Gegenstand der Nr. 6 Buchst, b sein könnte. Denn der Begriff der Verhinderung von Straftaten gem. Nr. 6 Buchst, a bezieht sich auch auf deren Fortsetzung oder Beendigung. Bei der Nr. 4 verwendet der Gesetzgeber ebenfalls das Wort „um zu verhindern". Dort bezieht es sich auf die Begehung, Fortsetzung oder Beendigung der bezeichneten Straftaten. Es kann aber nicht angenommen werden, dass der Gesetzgeber demselben Wort in der übernächsten Nummer derselben Vorschrift bei der engen sachlichen Verwandtschaft der Regelungen eine abweichende Bedeutung geben wollte. c) § 19 Abs. 1 Nr. 6 Buchst, b SächsPolG kommt ein präventiver Anwendungsbereich auch nicht deshalb zu, weil die Fahndung wegen der genannten Katalogtaten zur \^erhinderung von Straftaten bestimmt sein könnte, die nicht in LVerfGE 14

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den Katalog der Nr. 6 Buchst, a fallen, aber von Personen ausgehen können, die wegen früherer Katalogtaten der Fahndung nach Nr. 6 Buchst, b unterliegen. Die Nr. 6 bezieht sich ausschließlich auf die in beiden Buchstaben übereinstimmend bezeichneten Katalogtaten. Der Wortlaut gibt keinerlei Anhaltspunkt dafür, dass es um eine Verhinderung anderer Gefahren oder Störungen der öffentlichen Sicherheit gehen könnte. Sie wären in der Nr. 6 Buchst, b auch nicht hinreichend bestimmt. Nicht einmal eingegrenzt wäre, ob sie von Straftaten ausgehen müssten oder ob Ordnungswidrigkeiten genügten. II. § 19 Abs. 1 Nr. 6 Buchst, a SächsPolG ist sachlich mit der Sächsischen Verfassung vereinbar. 1. Die Vorschrift verleiht der Polizei die Befugnis zur Identitätsfeststellung gegenüber allen Personen, die sich innerhalb eines Kontrollbereiches aufhalten, der von ihr auf Anordnung des Staatsministeriums des Innern oder mit seiner Zustimmung eingerichtet worden ist, um näher bestimmte Straftaten zu verhindern. Zur Einrichtung eines Polizeikessels, der neben der ggf. bestehenden Absicht, die Identität der betroffenen Personen festzustellen, vor allem den Zweck verfolgt, die betroffene Menschenmenge an einem bestimmten Ort festzuhalten, um von ihr ausgehenden Gefahren zu begegnen, und die darum regelmäßig als Ingewahrsamnahme angesehen wird (vgl. KG, NVwZ 2000, 468; OVG NW, NVwZ 2001, 1315), ermächtigt § 19 Abs. 1 Nr. 6 Buchst, a SächsPolG nicht. Die mit der Identitätsfeststellung verbundene Befugnis, den einzelnen Betroffenen anzuhalten und ihn ggf. festzuhalten (§19 Abs. 2 SächsPolG), trägt weder eine allgemeine Beschränkung der Bewegungsfreiheit aller im Kontrollbereich befindlichen Personen, noch ein allgemeines Verbot, ihn zu verlassen. Die Befugnis ist in § 19 Abs. 1 Nr. 6 Buchst, a SächsPolG zwar verdachtsunabhängig ausgestaltet, nicht aber voraussetzungslos eingeräumt. a) Sie bezieht sich nur auf Personen, die sich zum Zeitpunkt der Anordnung, ihre Identität feststellen zu lassen, (schon/noch) innerhalb eines Kontrollbereichs aufhalten. Dabei muss es sich um ein (u.U. größeres) Gebiet handeln, das durch polizeiliche Maßnahmen tatsächlich, etwa durch Kontrollstellen an dessen Grenzen, abgegrenzt ist, z.B. ein Straßenzug oder ein Stadtgebiet. Die bloße Bestimmung eines Raumes zur Durchführung von Identitätskontrollen genügt nicht. § 19 Abs. 1 Nr. 6 Buchst, a SächsPolG in Verbindung mit Satz 2 knüpft diese nicht allein an die Anordnung von — ggf. mobilen - Kontrollmaßnahmen. Auf Anordnung muss ein Kontrollbereich durch die Polizei eingerichtet worden sein, d.h. sie muss gebietsbezogene Maßnahmen zu dessen Abgrenzung vorgenommen haben. In formeller Hinsicht muss dabei das Staatsministerium des Innern durch seine entsprechende Anordnung oder Zustimmung beteiligt sein.

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b) Die präventive Zielsetzung des Buchst, a ist Tatbestandsmerkmal und macht die Einrichtung (einschließlich der Abgrenzung) des Kontrollbereichs wie die Anordnungs-/Zustimmungsbefugnis von dem Zweck abhängig, durch verwiesenes Bundesrecht näher bezeichnete Straftaten zu verhindern. Wenn § 27 VersG, wie die Antragsteller geltend machen, z.T. verfassungsrechtlich fehlerhaft und deshalb nichtig sein sollte, wäre insoweit die Verweisung gegenstandslos und weder die Befugnis zur Einrichtung eines Kontrollbereichs noch zu Identitätskontrollen gegeben. Aus der behaupteten Grundgesetzwidrigkeit können sich deshalb für die Ubereinstimmung der angegriffenen Norm mit der Sächsischen Verfassung keine weiteren Folgen ergeben. Der Grundgesetzmäßigkeit des Bundesrechts, auf das § 19 Abs. 1 Nr. 6 Buchst, a SächsPolG als solches verweist, ohne es in das Landesrecht zu rezipieren, braucht darum nicht nachgegangen zu werden, zumal sich der Rechtsweg zum Verfassungsgerichtshof nach Art. 81 Abs. 1 Nr. 2 SachsVerf nicht auf die Prüfung von Bundesrecht am Maßstab des GG erstreckt. Die für die Anordnung/Zustimmung und die Einrichtung eines Kontrollbereichs erforderliche Prognose, gerade in dessen Grenzen und zu der gewählten Zeit der Zielverwirklichung des Buchst, a zu dienen, ist auch nicht dem subjektiven Belieben der anordnenden/zustimmenden bzw. einrichtenden Stelle anheimgegeben. Zwar werden vom Wortlaut des Buchst, a, anders als in § 19 Abs. 1 Nr. 2 („erfahrungsgemäß") und Nr. 3 SächsPolG sowie §111 StPO („Tatsachen die Annahme rechtfertigen"), keine die Prognose auf eine objektivierte Grundlage stellenden Kriterien vorgegeben. Das Gesetz will die Polizei aber ersichtlich, wie auch der Ministervorbehalt zeigt, binden und sich nicht einer unkontrollierten Einschätzungsprärogative der Exekutive unterordnen. Die Prognose, Straftaten nach Buchst, a zu verhindern, muss deshalb auf tatsächlichen Anhaltspunkten beruhen, dass solche mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind und mit der Einrichtung des Kontrollbereichs verhindert werden können - und sei es auch durch die Abschreckungswirkung von Identitätskontrollen (vgl. SächsPolG, § 19 Rn. 8, 10; Schmidbauer/ Steiner/Roese BayPAG, 1999, Art. 13 Rn. 11; s. auch Bommeljanger/Bammele Polizeigesetz des Freistaates Sachsen, ξ 19 Rn. 15). c) Liegen die vorbezeichneten Voraussetzungen vor, darf die Polizei im Rahmen der Zielvorgaben für die Einrichtung des Kontrollbereichs die Identität jeder Person feststellen, die sich in diesem aufhält. Denn die für die Einrichtung des Kontrollbereichs maßgebliche Zielvorgabe ist auch für die Identitätsfeststellung selbst zu beachten (dazu oben D I 2 a). Deshalb ist sie im Einzelfall unzulässig, wenn sie dem hinter der Einrichtung des Kontrollbereichs stehenden Ziel nicht dienen kann. Dagegen berührt es die Zulässigkeit der Identitätsfeststellung nicht, wenn sich bei ihrer Gelegenheit anderen Zielen nützliche Erkenntnisse und ggf. Folgemaßnahmen ergeben. Wie bei § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG bestimmen sich die des näheren zur Identitätsfeststellung zulässigen Maßnahmen nach § 19 Abs. 2 SächsPolG sowie weiteren speziellen Befugnisnormen des Sächsischen Polizeigesetzes (vgl. oben C LVerfGE 14

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II 1 c). Anders als dort sind in die Prüfung aber die der Identitätsfeststellung dienenden Einzelmaßnahmen, insbesondere soweit sie nicht durch freiwillige Mitwirkung des Betroffenen gekennzeichnet sind, nicht einzubeziehen. Denn sie sind, anders als bei der Nr. 5, von dem vorliegenden Normenkontrollantrag nicht erfasst. Untrennbar mit der Nr. 6 Buchst, a verbunden ist aber die durch § 46 Abs. 1 S. 3 SächsPolG begründete Befugnis zum Datenabgleich mit dem Fahndungsbestand. Ohne sie wäre der Nutzen von Identitätskontrollen weithin nicht gegeben, jedenfalls ihr Abschreckungseffekt weitaus geringer, wenn nicht sogar zu vernachlässigen. Deshalb ist die Befugnis zum Abgleich mit dem Fahndungsbestand in die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des § 19 Abs. 1 Nr. 6 Buchst, a SächsPolG einzubeziehen. 2. Maßstab für die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von ξ 19 Abs. 1 Nr. 6 Buchst, a SächsPolG ist wie bei § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG (oben C II 2 a) unter Ausschluss des Art. 15 SächsVerf das Datenschutzgrundrecht, Art. 33 SächsVerf (nachfolgend 3.). Die mit Identitätsfeststellung verknüpfte Möglichkeit zum Abgleich mit dem Fahndungsbestand (§ 46 Abs. 1 S. 3 SächsPolG) ist ebenfalls an Art. 33 SächsVerf zu messen. Dabei kommt es aber nicht auf den Schutz vor Datenerhebung, sondern auf weitere Schutzbereiche des Art. 33 SächsVerf an (nachfolgend 4.). Darüber hinaus ist die Nr. 6 Buchst, a an Art. 23 SächsVerf zu messen, soweit sie an Straftaten nach § 27 VersG anknüpft und Maßnahmen im Zusammenhang mit Versammlungen zugelassen werden (nachfolgend 5.). 3. Die mit der Identitätsfeststellung nach Nr. 6 Buchst, a verbundene Pflicht zur Offenbarung personenbezogener Daten greift, wie bei § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG (oben C II 2 b), in den Schutzbereich des Art. 33 SächsVerf ein. § 1 9 Abs. 1 Nr. 6 Buchst, a SächsPolG genügt jedoch dessen Gesetzesvorbehalt. Die Vorschrift wahrt das Bestimmtheitsgebot (vgl. dazu oben C II 3 a) und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (s. oben C II 3 c). a) § 19 Abs. 1 Nr. 6 Buchst, a SächsPolG regelt hinreichend bestimmt die Voraussetzungen der Identitätsfeststellung. Das gilt zunächst für die Kriterien der Einrichtung eines Kontrollbereichs. Die Straftaten, zu deren Verhinderung er angeordnet werden darf, sind durch Verweisung auf die Katalogtaten der §§ 100a StPO und 27 VersG eindeutig abgegrenzt, jede etwa in Betracht kommende Unbestimmtheit der verwiesenen bundesrechtlichen Normen selbst würde ihre Geltung berühren und damit auf die angegriffene Vorschrift nicht durchschlagcn (oben D II 1 b). Die Zielsetzung der Verhinderung von Straftaten, welche eine entsprechende Prognose bei der Entscheidung über die Einrichtung eines Kontrollbereichs erfordert, ist ebenfalls hinreichend bestimmt; denn sie ist objektiviert zu verstehen (oben D II 1 b) und macht die Prognose verwaltungsrichterlicher Kontrolle zugänglich. Die tatsächlichen Anhaltspunkte, welche sie stützen, müssen deshalb so festgehalten sein, dass sie eine richterliche Nachprüfung ermöglichen. LVerfGE 14

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Damit sind auch die Voraussetzungen der Identitätsfeststellung selbst hinreichend bestimmt, die im Rahmen der Zielvorgabe alle Personen betreffen kann, welche sich im Kontrollbereich aufhalten. b) § 19 Abs. 1 Nr. 6 Buchst, a SächsPolG ist mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vereinbar. aa) Die Verhinderung der dort genannten Straftaten stellt einen von Verfassungs wegen gebotenen Zweck dar. Auch durfte der Gesetzgeber im Rahmen seiner Einschätzungsprärogative die abstrakte Eignung der Identitätsfeststellung zur Förderung der von ihm verfolgten Gemeinwohlziele bejahen. Zwar ist die Feststellung von Personalien allein nicht ohne weiteres geeignet, eine bevorstehende oder andauernde Straftatbegehung zu unterbinden. Jedoch wird die Polizei, wenn ihr Tatsachen bekannt sind, die den Verdacht einer noch andauernden Straftat begründen, vielfach den Täter nicht bis ins letzte individualisieren und darum noch nicht entscheiden können, gegen welche konkrete Person weitergehende, auf Unterbindung der Straftat gerichtete Maßnahmen zu richten sind. Auch mögen der Polizei Video- oder andere visuelle Aufzeichnungen vorliegen, die bestimmte, der Polizei jedoch nicht näher bekannte Personen als gewalttätige Teilnehmer einer Versammlung ausweisen, und die Identitätsfeststellung im Rahmen einer bevorstehenden Versammlung den Zweck verfolgen, diese Personen zu identifizieren und an erneuten Ausschreitungen zu hindern. Insoweit dient die Identitätsfeststellung in erster Linie als Maßnahme der Gefahrerforschung mit dem Ziel, eine bestimmte Tatsachenbasis, etwa in Bezug auf die Störereigenschaft der überprüften Person, zu schaffen bzw. eine bestehende Tatsachenbasis zu erweitern, auf deren Grundlage weitere Maßnahmen getroffen werden können, die unmittelbar der Gefahrenabwehr dienen, wie die Ingewahrsamnahme des Täters (vgl. Schmidbauer!Steiner/Roese aaO, § 13 Rn. 5; Drews/Wacke/Vogel/Marlens Gefahrenabwehr, 9. Aufl. 1986, S. 185). Die Regelung ist auch erforderlich. Der Gesetzgeber durfte im Rahmen seiner Einschätzungsprärogative davon ausgehen, kein anderes Mittel werde bei geringerer Grundrechtsbeschränkung in gleicher Weise zur Gewinnung der nötigen Informationen für weitere polizeiliche Maßnahmen beitragen können, insbesondere nicht die nur punktuell wirkende ortsfeste Kontrollstelle nach § 19 Abs. 1 Nr. 4 SächsPolG. bb) § 1 9 Abs. 1 Nr. 6 Buchst, a SächsPolG wahrt auch das Übermaßverbot (s. dazu oben C II 3 c bb). Er ist das Ergebnis einer verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Güterabwägung, bei der der Gesetzgeber sich in den Grenzen der Zumutbarkeit gehalten hat, soweit es um die Identitätsfeststellung unter freiwilliger Mitwirkung des Betroffenen geht. Die Identitätsfeststellung durch Anhalten und Befragen einer Person nach der Identität, ggf. auch durch Inaugenscheinnahme mitgeführter Ausweispapiere, stellt - auch angesichts ihrer freiwilligen Mitwirkung - nur einen geringfügigen LVerfGE 14

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Grundrechtseingriff dar. Zwar ist die Zahl der potentiell betroffenen Grundrechtsträger hoch, höher als bei einer Kontrollstelle, da ein Kontrollbereich im Gegensatz zur punktuellen Kontrollstelle regelmäßig ein größeres Gebiet umfasst, innerhalb dessen die Identität grundsätzlich jeder Person festgestellt werden darf. ξ 19 Abs. 1 Nr. 6 Buchst, a SächsPolG verfügt aber über eine greifbare Eingriffsschwelle, da im Hinblick auf den Zweck der Verhinderung näher bestimmter Straftaten - insofern durchaus vergleichbar dem § 19 Abs. 1 Nr. 4 SächsPolG (dazu oben C II 3 bb 1) - eine zeitlich begrenzte Sondersituation für den Schutz der öffentlichen Sicherheit gegeben ist und darüber hinaus eine hinreichende Wahrscheinlichkeit vorliegen muss, gerade solche Personen im Kontrollbereich, und gerade in seinen vorausbestimmten Grenzen, anzutreffen, welche die zu verhindernden Straftaten begehen wollen (dazu oben D II 1 b). Kontrolldichte und -häufigkeit begrenzende Wirkung kommt außerdem der Beteiligung des Staatsministeriums des Innern gem. § 19 Abs. 1 S. 2 SächsPolG zu. Dass die Eingriffsschwelle nicht unbedingt identisch sein muss mit der herkömmlich mit dem Gefahrbegriff verknüpften, so dass ein Einschreiten nach § 19 Abs. 1 Nr. 6 Buchst, a SächsPolG bereits möglich ist, wenn die zu verhindernde Straftat noch nicht das Stadium der konkreten Gefahr erreicht hat, ist unschädlich. Denn die Vorverlagerung der Eingriffsschwelle ist durch die Bedeutung der Straftaten nach § 100a StPO und § 27 VersG, die hochwertige Allgemein- und Individualgüter betreffen, hinreichend gerechtfertigt. Bei der Abwägung ist im Hinblick auf die maßgeblichen Gemeinwohlinteressen ferner zu berücksichtigen, dass es nicht nur darum geht, bestimmte Kriminaktätsformen losgelöst vom konkreten Einzelfall gleichsam abstrakt zu bekämpfen, sondern mit hinreichender Wahrscheinlichkeit bevorstehende schwerwiegende Straftaten zu verhindern, wobei es im Falle des § 100a StPO regelmäßig auch darum gehen wird, konkrete Schäden für private, zum Teil höchstwertige Rechtsgüter des Einzelnen abzuwenden. Das Allgemeininteresse an der Durchführung von Maßnahmen nach § 19 Abs. 1 Nr. 6 Buchst, a SächsPolG überwiegt damit eindeutig. 4. Verfassungsrechtlich unbedenklich ist die Befugnis der Polizei, die bei der Identitätsfeststellung erlangten Daten nach § 46 Abs. 1 S. 3 iVm § 19 Abs. 1 Nr. 6 Buchst, a SächsPolG mit dem Fahndungsbestand abzugleichen. Die hinsichtlich der Möglichkeiten der Polizei zum Datenabgleich deutlich differenzierende Regelung des § 46 SächsPolG (oben C II 6) ermächtigt mit ihrer Beschränkung auf den Fahndungsbestand lediglich zu einem geringfügigen (zusätzlichen) Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Ohne die Befugnis zum Abgleich mit dem Fahndungsbestand wäre die Identitätsfeststellungsbefugnis kaum sinnvoll. Beschränkte sie sich ausschließlich darauf, bestimmte Daten der zu Kontrollierenden wie Name und Wohnort zu erheben, ohne sie in irgendeiner Weise verwenden zu dürfen, wäre für den Zweck der Kriminalitätsverhütung kaum etwas zu gewinnen. Selbst der bloße Abschreckungszweck, der neben anderen Zwecken mit § 19 Abs. 1 Nr. 6 Buchst, a LVerfGE 14

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SächsPolG verfolgt wird, liefe weitgehend leer, könnten sich im Fahndungsbestand der Polizei befindliche Personen oder solche, die dieses befürchten, auf das Unterbleiben des Abgleiche einrichten. Im Übrigen kann, da der Fahndungsabgleich an die Befugnis zur Identitätsfeststellung anknüpft, für die Abwägung auf die dortigen Ausführungen zur Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne verwiesen werden (oben D II 3 b). 5. Soweit § 19 Abs. 1 Nr. 6 Buchst, a SächsPolG an Straftaten nach § 27 VersG anknüpft und Maßnahmen im Zusammenhang mit Versammlungen zulässt, ist auch Art. 23 SächsVerf gewahrt. a) Zwar ist der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit berührt. Das Recht, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln, umfasst den gesamten Vorgang des Sich-Versammelns, die Teilnahme an einer bestehenden wie den Zugang zu einer bevorstehenden Versammlung (vgl. BVerfGE 84, 203, 209). Andernfalls liefe das Grundrecht Gefahr, durch Maßnahmen im Vorfeld wie schleppende vorbeugende Kontrollen (vgl. BVerfGE 69, 315, 349) oder deren allgemein abschreckende Wirkung ausgehöhlt zu werden. Deshalb umfasst das Grundrecht auch den Vorgang der Abreise, soweit er sich unmittelbar an das Ende der Versammlung anschließt (v. Mangoldt/Klein/Stank/Gusy GG, 4. Aufl., Art. 8 Rn. 32). Kontrollen gegenüber abreisenden Versammlungsteilnehmern können einen Maßnahmen im Vorfeld vergleichbaren Abschreckungseffekt hervorrufen und Versammlungsteilnehmer zum Verzicht auf die Teilnahme bewegen. Zu solchen Maßnahmen ermächtigt die angegriffene Vorschrift. Sie bleiben angesichts der polizeirechtlichen Zielstellung, die jedenfalls teilweise der Friedlichkeit und Waffenlosigkeit der Versammlung (Art. 23 SächsVerf) zu dienen bestimmt sind, auch nicht unterhalb einer Bagatellschwelle, bei deren Unterschreitung eine Berührung des Schutzbereichs der Versammlungsfreiheit nicht angenommen werden kann, wie möglicherweise bei allgemeinen Zugangskontrollen aus Gründen der Platzverteilung. b) Die angegriffene \ 7 orschrift ist aber durch verfassungsimmanente Schranken des Art. 23 SächsVerf gedeckt. Art. 23 Abs. 2 Sächs\^erf enthält für Versammlungen unter freiem Himmel einen ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt; dieser schließt jedoch eine Beschränkung aus verfassungsimmanenten Gründen nicht aus (vgl. Schul^e-Fielit^ in: Dreier, GG, Art. 8 Rn. 36). Verfassungsimmanente Schranken bilden den Minimalbestand der Grenzen, denen jedes Grundrecht bereits unabhängig von speziellen Schrankenregelungen wegen des Sozialbezugs der Grundrechtsausübung und der Einheit der Verfassung unterliegt. Sind einem Grundrecht ausdrückliche Schranken oder Beschränkungsmöglichkeiten beigegeben, so treten sie zu den verfassungsimmanenten Schranken hinzu, die durch kollidierende Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte gebildet werden (vgl. BVerfGE 83, 130, 139; 84, 212, 228 - std. Rspr.). LVerfGE 14

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Vorliegend werden von der Ermächtigung zu identitätsfeststellenden Maßnahmen nicht nur Personen betroffen, die wegen des grundrechtlichen Waffenverbots oder ihres Zieles, die ordnungsgemäße Durchführung einer Versammlung zu verhindern, nicht dem Schutz des Art. 23 Sächs\^erf unterliegen (vgl. BVerfGE 84, 203, 209 f), sondern auch die grundrechtsgeschützten Versammlungsteilnehmer. Die Identitätsfeststellung dient ja überhaupt erst der Gewinnung von Erkenntnissen darüber, ob eine Person Störer ist oder nicht. Damit aber dient der Grundrechtseingriff gerade auch dem Schutz der Versammlungsfreiheit derjenigen Teilnehmer, die mangels Störabsicht den Schutz der Versammlungsfreiheit genießen und zu deren Gunsten sichergestellt werden soll, dass die Versammlung friedlich und ohne Waffen stattfinden kann. Insoweit kommt die Schutzpflicht des Staates nicht nur in ihrer objektiven Zielrichtung zum Tragen, gegenüber gewalttätigen Ausschreitungen die öffentliche Sicherheit zu garantieren, sondern auch in ihrer subjektiven Zielrichtung, da die Schutzpflicht zugleich dazu dient, dem einzelnen Versammlungsteilnehmer gegenüber diejenigen tatsächlichen Voraussetzungen seiner Grundrechtsausübung zu sichern, die er selbst nicht herstellen kann. Damit steht der Staat in einer doppelten Pflichtenstellung: Zunächst gebietet ihm das Abwehrrecht aus Art. 23 SächsVerf, Eingriffe in die Versammlungsfreiheit zu unterlassen; andererseits gebietet die Schutzpflicht, für den Schutz vor gewalttätigen Störungen zu sorgen, was nur um den Preis des Eingriffs in das Grundrecht gerade derjenigen Personen möglich ist, denen der Schutz zukommen soll (vgl. Benda in: Bonner Kommentar, Art. 8, Mai 1995, Rn. 60 f). Auf Grund dieser Spannungslage zwischen Abwehrrecht und Schutzpflicht aus Art. 23 SächsVerf bedarf § 19 Abs. 1 Nr. 6 Buchst, a SächsPolG im Einzelfall allerdings einer Handhabung, die einen verhältnismäßigen Ausgleich herstellt zwischen dem ungestörten Gebrauch der grundrechtlichen Freiheit und der zur Erfüllung der Schutzpflicht unvermeidlichen Beeinträchtigung; insoweit sind jedenfalls einem Schutz zu Lasten der Geschützten durch das Libermaßverbot Grenzen gezogen (AK-GG-HoJJmann-Riem 2. Aufl. 1989, Art. 8 Rn. 32). Polizeiliche Kontrollen sind nur dann verfassungsgemäß, wenn die Auswirkungen auf das Versammlungsgrundrecht in die Abwägung einbezogen wurden. Sie muss bezogen auf den jeweiligen Einzelfall und seine besonderen Lmstände, etwa Anzahl der Demonstranten und Gegendemonstranten, Gewaltbereitschaft der Teilnehmer, Beschaffenheit des Versammlungsgeländes etc., erfolgen. § 19 Abs. 1 Nr. 6 Buchst, a SächsPolG ist damit unter Berücksichtigung der gesetzgeberischen Einschätzungsprärogative nicht von vornherein unverhältnismäßig, sondern lässt eine verhältnismäßige Anwendung im Einzelfall zu. c) § 19 Abs. 1 Nr. 6 Buchst, a SächsPolG verstößt auch nicht gegen das Zitiergebot des Art. 37 Abs. 1 S. 2 SächsVerf. Zwar wird die Versammlungsfreiheit in § 79 SächsPolG als eingeschränktes Grundrecht nicht genannt. Jedoch ist Art. 37 Abs. 1 S. 2 SächsVerf hier nicht anwendbar, da er im Zusammenhang mit Satz 1 steht, der dem klaren Wortiaut nach verfassungsrechtliche Vorgaben an LVerfGE 14

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grundrechtseinschränkende Gesetze nur insofern enthält, als Grundrechte „durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes" eingeschränkt werden können. Für die Anwendbarkeit des Zitiergebots kommt es daher nicht bereits auf die Existenz eines Gesetzesvorbehalts, sondern darauf an, ob die konkrete Regelung auf dem Gesetzesvorbehalt beruht. Das ist hier nicht der Fall. E. § 21 Abs. 2 SächsPolG ist mit der Sächsischen Verfassung vereinbar. I. Die Vorschrift ist formell verfassungsgemäß, sie ist kompetenzgemäß ergangen. Als Regelung der Gefahrenabwehr fällt das zur Verhinderung von Straftaten bestimmte Aufenthaltsverbot in die polizeirechtliche Gesetzgebungskompetenz des Freistaates (Art. 70 GG). 1. § 2 1 Abs. 2 SächsPolG gehört, selbst wenn er den Schutzbereich des Art. 11 GG berührte (unten II 2 a bb), nicht unter die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz für die „Freizügigkeit" (Art. 73 Nr. 3 GG). Anders als bei dem vergleichbaren Freizügigkeitsgrundrecht des Art. 111 WRV, das unter dem Vorbehalt des Reichsgesetzes stand (dazu Anschüt^ Verfassung des Dt. Reichs, 14. Aufl., Art. 111 Anm. 3), ist der Vorbehalt in Art. 11 GG nicht auf das Bundesgesetz beschränkt. Als Schranke der Freizügigkeit kommen deshalb auch Landesgesetze in Betracht. So berührt Art. 11 Abs. 2 GG, soweit strafbaren Handlungen soll vorgebeugt werden können, Fragen des allgemeinen Gefahrenabwehrrechts. Für dieses ist, von einzelnen sonderpolizeilichen Angelegenheiten abgesehen, dem Bund keine Gesetzgebungskompetenz verliehen. Sic ergibt sich auch nicht aus Art. 73 Nr. 3 GG („Freizügigkeit"). Zwischen dem kompetenz- und dem grundrechtlichen Freizügigkeitsbegriff besteht keine Kongruenz. Sonst wäre wegen des damit verbundenen Ausschlusses der Landesgesetzgebung gem. Art. 71 GG der Gesetzcsvorbehalt des Art. 11 Abs. 2 GG doch auf den Vorbehalt des Bundesgesetzes beschränkt (ebenso OVG Bremen, NVwZ 1999,314,316). Im Übrigen umfasste die aus dem alten Recht übernommene ausschließliche Kompetenzmaterie der „Freizügigkeit" (Art. 6 Nr. 3 WRV) bereits damals nicht die Regelung der „öffentlichen Ordnung und Sicherheit". Dafür hatte Art. 9 Nr. 2 WRV dem Reich eine umfassende Bedarfsgesetzgebungskompetenz eingeräumt. Schon unter der alten Reichsverfassung hatte die Regelung der Freizügigkeit Bestimmungen zur Gewährleistung der polizeilichen Sicherheit nicht eingeschlossen. Vielmehr waren sie den Ländern überlassen. Allgemeine Regelungen von Sicherheit und Ordnung fallen auch deshalb nach Art. 73 Nr. 3 GG nicht unter die Kompetenzmatcrie der „Freizügigkeit" (ebenso BayVerfGH, NVwZ 1991, 664, 666; Ikandel^mfer in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Zweitbearbeitung LVerfGE 14

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Art. 11, Oktober 1981, Rn. 142; v. Münch/Kunig GG, Art. 11 Rn. 21; Drews/ Wacke/Vogel/Martens Gefahrenabwehr, S. 277 f). Das Bundesverfassungsgericht geht ebenfalls von der Zulässigkeit landesrechtlicher Beschränkungen der Freizügigkeit aus, indem es die Verfassungsmäßigkeit eines nachkonstitutionellen Landesgesetzes in erweiternder Anwendung des Art. 117 Abs. 2 GG bejaht, ohne die Verbandskompetenz in Frage zu stellen (vgl. BVerfGE 8, 95 ff). Schließlich steht die Konkurrenz der Art. 74 Abs. 1 Nrn. 4, 6 und 7 und Art. 75 Abs. 1 Nr. 5 GG mit Art. 73 Nr. 3 GG einer Kongruenz von kompetentiellem und grundrechtlichem Freizügigkeitsbegriff entgegen. Danach sind Regelungen, die materiell das Freizügigkeitsgrundrecht berühren, ggf. den spezielleren Kompetenzbestimmungen zuzuordnen, und nicht Art. 73 Nr. 3 GG (vgl. v. Mangoldt/Klein GG, 2. Aufl., Art. 73, VI 3, S. 1474 f). So schließt die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für die Angelegenheiten der Flüchtlinge und Vertriebenen (Art. 74 Nr. 6 GG) Freizügigkeitsbeschränkungen für Spätaussiedler ein (dazu v. Münch/ Kunig GG, Art. 11 Rn. 20 — „Aus- und Ubersiedler"). Und Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG trägt Regelungen fürsorgerischer Heimunterbringung, die unter dem Jugendschutzvorbehalt des Art. 11 Abs. 2 GG Beschränkungen der Freizügigkeit bestimmen (vgl. v. Münch/Kunig GG, Art. 11 Rn. 26). 2. Soweit die Antragsteller gegen die Gesetzgebungskompetenz des Freistaates auf Art. 31 GG und einen Vorrang strafprozessualer „Sicherungshaft" bei Wiederholungsgefahr nach § 112a StPO abheben, verkennen sie das Verhältnis zwischen Aufenthaltsverbot und Untersuchungshaft. Zum einen geht es um vollständig verschiedene Rechtsfolgen: das Aufenthaltsverbot beinhaltet keine Flaft, allenfalls mag Durchsetzungsgewahrsam folgen (§ 22 Abs. 1 Nr. 4 SächsPolG). Zum anderen stehen die Rechtsfolgen in unterschiedlichen Zusammenhängen: beim Aufenthaltsverbot der Prävention, bei der Untersuchungshaft der Strafverfolgung wegen vergangener Delikte. II. § 21 Abs. 2 SächsPolG ist auch sachlich mit der Sächsischen Verfassung vereinbar. 1. a) Die Vorschrift verleiht der Polizei (§ 60 Abs. 1 und 3 SächsPolG) die Befugnis zu Aufenthaltsverboten von höchstens dreimonatiger Dauer, mit denen vor allem „gewalttätigen Veranstaltungen" und, mit dem Ziel ihrer Auflösung, der offenen Drogenszene soll begegnet werden können (RegBegr., DS 2/7794, S. 18). Insoweit soll sich ein Rückgriff auf die polizeiliche Generalklausel (vgl. OVG Bremen, NVwZ 1999, 314, 315; M^J Mußmann PolG für Bad.-Württ, § 3 Rn. 10b) erübrigen. Die mögliche Höchstfrist soll der erheblichen kriminellen Energie bei den Anbietern in der offenen Drogenszene Rechnung tragen, aber dem Betroffenen auch die Chance geben, sich künftig rechtstreu zu zeigen, was eine ggf. wiederholte Anordnung des Aufenthaltsverbotes nicht ausschließen soll. Das in das LVerfGE 14

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pflichtgemäße Ermessen der Polizei gestellte, zeitlich und örtlich auf das Erforderliche zu begrenzende Verbot kann den Aufenthalt in einem Gemeindegebiet oder -gebietsteil untersagen und bloße Durchquerungen einschließen. Nicht umfassen darf es den Zugang zur Wohnung des Betroffenen und neben seinem Versammlungsrecht räumlich auch nicht die Wahrnehmung seiner berechtigten Interessen berühren. b) Die Befugnis zum Verbot ist daran geknüpft, dass Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Betroffene in dem bezeichneten Gebiet eine Straftat begehen oder zu ihrer Begehung beitragen wird. Für die \^oraussetzungen der hiernach zur Normanwendung erforderlichen Prognose bedient sich der Gesetzgeber auch sonst im Polizeirecht üblicher, durch die Rechtsprechung entwickelter Tatbestandsmerkmalc (vgl. §§ 18 Abs. 1 Nr. 1; 19 Abs. 1 Nr. 3; 23 Abs. 1 Nrn. 2, 5; 24 Nrn. 2, 3, 5; 25 Abs. 2 Nrn. 1, 2, Abs. 3 SächsPolG). Bloße Vermutungen genügen nicht (vgl. VG Leipzig, NVwZ 2001, 1316, 1318), ebenso wenig die Absicht des Betroffenen, Ordnungswidrigkeiten zu begehen oder Straftaten in einem anderen Gebiet als dem, auf welches sich das Aufenthaltsverbot beziehen soll. 2. Maßstab für die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des § 21 Abs. 2 SächsPolG ist Art. 15, nicht Art. 16 Abs. 1 S. 2 SächsVerf.; und auch nicht das Freizügigkeitsgrundrecht nach Art. 11 Abs. 1 GG. Weder enthält die Sächsische Verfassung als maßgeblicher Prüfungsmaßstab (vgl. oben C I 1) selbst eine entsprechende Regelung, noch ist dieses Grundrecht in die Sächsische Verfassung inkorporiert. a) Art. 15 SächsVerf schützt die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Darunter fällt jede Form menschlichen Verhaltens ohne Rücksicht darauf, welches Gewicht der Betätigung für die Persönlichkeitsentfaltung zukommt (SächsVerfGH, JbSächsOVG 5, 57 - Reiten im Walde; vgl. auch BVerfGE 6, 32 ff, std. Rspr.). Sie umfasst die Selbstbestimmung durch freie Aufenthaltswahl. Diese ist ihrerseits Voraussetzung für das Maß tatsächlicher Ausübbarkeit der Freiheitsgrundrechte des Betroffenen - von der Religionsausübung, der Teilnahme am öffentlichen und privaten Meinungsaustausch, der Pflege familiärer und sonstiger Beziehungen bis hin zur Berufsfreiheit und der Freiheit der Wohnung. aa) Das Grundrecht in seiner Auffangfunktion wird vorliegend nicht durch ein spezielles Freiheitsgrundrecht verdrängt. Nicht berührt ist die Freiheit der Person gem. Art. 16 Abs. 1 S. 2 SächsVerf. Geschützt wird hier, wie in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG, ausschließlich die körperliche Bewegungsfreiheit (vgl. BVerfGE 94, 166, 198; v. Münch/Ktmig GG, Art. 2 Rn. 73), nicht die allgemeine Freiheit von staatlichem Zwang (vgl. Maun^jOiirig GG, Art. 2 II Rn. 49). Sonst entfiele jede Abgrenzung zur freien Entfaltung der Persönlichkeit. Wie sich aus dem systematischen Zusammenhang mit Art. 17 SächsVerf ergibt (vgl. BVerfGE 10, 302, 322 f; 58, 208, 220), schützt Art. 16 Abs. 1 S. 2 SächsVerf vor Freiheitsentziehung und

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Freiheitsbeschränkung. Um erstere geht es beim Aufenthaltsverbot nicht, da es nicht eine an sich gegebene körperliche Bewegungsfreiheit durch staatliche Maßnahme nach jeder Richtung hin aufhebt (vgl. BVerfGE 94, 166, 198). Die körperliche Bewegungsfreiheit wird nur nach einer bestimmten, umgrenzten Richtung hin verkürzt. Eine Freiheitsbeschränkung liegt darin aber ebenfalls nicht. Das Grundrecht umfasst nicht das Recht, jederzeit jeden beliebigen Ort aufzusuchen. Sonst bedeutete die Errichtung von Sperrgebieten, die Absperrung einer Straße wegen Unfalls oder befürchteter Ausschreitungen oder das Verbot der Einreise über die Staatsgrenze Freiheitsbeschränkung. Sie ist aber dadurch gekennzeichnet, dass jemand durch die öffentliche Gewalt gegen seinen Willen gehindert wird, einen Ort oder Raum aufzusuchen oder sich dort aufzuhalten, der ihm an sich tatsächlich und rechtlich zugänglich ist (vgl. BVerfGE 94, 166, 198; VGH München, NVwZ 2000, 454, 455 f). Daran fehlt es, wenn nach der verfassungsmäßigen Rechtsordnung die Zugänglichkeit für den Betroffenen nicht besteht. Das aber ist die Folge des Aufenthaltsverbots. Im Übrigen schützt Art. 16 Abs. 1 S. 2 SächsVerf nur gegen Verhaftung, Festnahme und ähnliche Eingriffe, d.h. vor unmittelbarem Zwang (vgl. BVerfGE 22, 21, 26; BVerwGE 6, 354, 355; Grabitz HStR VI, § 130 Rn. 5). Darum handelt es sich bei dem Aufenthaltsverbot nicht. Auch hat es solchen nicht notwendig zur Folge, da es schon aus Gründen der Verhältnismäßigkeit in erster Linie durch Zwangsgeld (vgl. VGH München, NVwZ 2000, 454; OVG Münster, NVwZ 2001, 459 f., 231 f; VG Leipzig, NVwZ 2001, 1317 f) und nicht durch Gewahrsam gem. § 22 Abs. 1 Nr. 4 SächsPolG durchgesetzt werden wird, dessen Anordnung selbst allerdings an Art. 16 Abs. 1 S. 2 SächsVerf zu messen wäre. bb) Art. 15 SächsVerf wird als maßgeblicher Prüfungsmaßstab in der Anwendung seiner Schranken auch nicht durch Art. 11 GG überlagert. Zwar darf der durch die Sächsische Verfassung gewährleistete Grundrechtsschutz nicht hinter dem des Grundgesetzes zurückbleiben (Art. 1 SächsVerf, Art. 142 GG). Deshalb wäre es für Art. 15 SächsVerf relevant, wenn § 21 Abs. 2 SächsPolG den Schutzbereich des Art. 11 GG berührte. Auch nach ihm bestimmte sich nämlich, ob die angegriffene Vorschrift Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung iSd Art. 15 SächsVerf ist. Doch fällt sie entgegen den Vorstellungen des Gesetzgebers (§ 79 Nr. 5 SächsPolG, dazu die RegBegr., DS 2/7794, S. 34 zu Nr. 18) nicht in den Gewährleistungsbereich des Art. 11 GG (vgl. VGH Mannheim, DÖV 1997, 255, 256). Freizügigkeit bedeutet das Recht, ungehindert durch die deutsche Staatsgewalt an jedem Ort innerhalb des Bundesgebietes Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen (vgl. BVerfGE 2, 266, 273; 43, 203, 211; 80, 137, 150). Die schon im Parlamentarischen Rat für den Schutzbereich verwendete Formel ist mit dem an § 7 BGB angelehnten Wohnsitzbegriff wie mit dem „Aufenthalt nehmen" durch ein Element der Dauer gekennzeichnet. Trotz des Fehlens qualifizierender Merkmale wie „dauernder" oder „gewöhnlicher" bedeutet Aufenthalt nehmen mehr als LVerfGE 14

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ein einfaches Sich-Aufhalten, mehr als ein flüchtiges, nur minutenlanges Verweilen an einem Ort (vgl. Umbach/Clemens,/Hofmann GG, Art. 11 Rn. 22). Aufenthalt nimmt, wer auf eine gewisse Dauer verweilen will und sich deshalb der dafür notwendigen tatsächlichen Voraussetzungen wie Wohnung versichert oder sich doch zumindest darum bemüht (vgl. BVerwGE 3, 308, 312). Daran darf ihn die grundrechtsverpflichtete Staatsgewalt nicht hindern. Keinen Aufenthalt im Sinne des Freizügigkeitsbegriffs nimmt deshalb ungeachtet aller Abgrenzungsschwierigkeiten im einzelnen, wer zum Zwecke des Kaufens oder Verkaufens oder der Beobachtung oder der Mitwirkung an Ereignissen oder Versammlungen z.B. Straßen, öffentliche Einrichtungen oder Verkehrsmittel betritt und dort vorübergehend verweilt. Das ergibt sich auch aus dem qualifizierten Gesetzesvorbehalt des Art. 11 Abs. 2 GG, dessen Tatbestandsmerkmale sämtlich — allenfalls mit Ausnahme der Vorbeugung gegen strafbare Handlungen — davon ausgehen, dass es ggf. auf die Beschränkung eines nicht nur flüchtigen Aufenthaltes ankäme. Schützte Art. 11 GG dagegen auch den bloß flüchtigen, würde das Grundrecht gegenüber z.B. Art. 12, 8 und 2 Abs. 1 GG völlig konturenlos und unabgrenzbar. Gegen solche flüchtigen Aufenthalte aber ist die angegriffene \ r orschrift gerichtet. Art. 11 GG ist deshalb nicht berührt. Nach den Gesetzesmaterialien soll mit ihrer Hilfe gewalttätigen Veranstaltungen und der offenen Drogenszene begegnet werden. Bei ersteren geht es um zeitlich begrenzte Ereignisse, bei letzterer um Treffpunkte, die sich als wiederkehrender, relativ kurzfristiger Aufenthaltsort zum Zweck des Drogenkaufs, -Verkaufs und -konsums herausgebildet haben. Nicht aber geht es um die Wohnung des Betroffenen und damit die Voraussetzung des Verweilens von gewisser Dauer, also des Aufenthalts im Sinne des Freizügigkeitsbegriffs. Der Zugang zu ihr darf nach § 21 Abs. 2 SächsPolG gerade nicht beschränkt werden. b) Die freie Entfaltung der Persönlichkeit findet nach Art. 15 SächsVerf ihre Schranken in der verfassungsmäßigen Ordnung. Sie umfasst die Gesamtheit der formell und materiell der Verfassung entsprechenden Normen, die besonders dem Bestimmtheits- und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen müssen (vgl. BVerfGE 6, 32 ff; 80, 137, 153, std. Rspr.). 3. § 21 Abs. 2 SächsPolG berührt das Selbstbestimmungsrecht des Art. 15 SächsVerf erheblich, doch gehört er zur verfassungsmäßigen Ordnung. Er ist formell verfassungsgemäß (oben I.) und entspricht materiell den Anforderungen der Sächsischen Verfassung. a) § 21 Abs. 2 SächsPolG genügt dem Bestimmtheitsgebot (s. oben C II 3 a). Er regelt hinreichend bestimmt die Voraussetzungen des Aufenthaltsverbots. Die Verhaltensweisen, zu deren Verhinderung es vorgesehen ist, sind mit dem Rechtsbegriff „Straftaten" klar abgegrenzt. Gleiches gilt für die Handlungsform der Begehung, welche die strafbare Teilnahme einschließt; auch sie ist Straftat. Hinreichend bestimmt ist ferner die Handlungsform des Beitragens zu einer LVerfGE 14

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Straftat; erfasst sind alle Verhaltensweisen, durch die jemand voraussehbar die Begehung einer Straftat (mit-)verursacht, zu deren Verhütung das Aufenthaltsverbot ergeht. Das gibt der angegriffenen Norm einen weiten Anwendungsbereich, da gerade in einer „Szene" schon die Anwesenheit bestimmter Personen nachhaltig Strukturen festigen und für die Begehung von Straftaten (mit-)ursächlich sein kann (vgl. OVG Münster, NVwZ 2001, 459 f), macht sie aber nicht unbestimmt. Wie weit ihre Anwendung im Einzelfall reichen darf, ist eine Frage der Verhältnismäßigkeit. Hinreichend bestimmt ist auch der zeitliche Bezug der Regelung, das Aufenthaltsverbot steht unter der Voraussetzung der Höchstgrenze von drei Monaten und ist auf das zur Verhütung der Straftat(en) Erforderliche begrenzt. Hinreichend bestimmt ist ebenso der Ortsbe^ug. Das Verbot darf nur Gemeindegebiet oder -gebietsteile umfassen, auf denen gerade der Betroffene Straftat(en) begehen oder dazu beitragen wird. Bestimmt sind ebenso die räumlichen Ausnahmen. Das gilt für den Wohnungsbegriff, der in Korrelation zu dem „Aufenthalt und Wohnung nehmen" der Freizügigkeit (s. oben II 2 a bb) auszulegen ist, wie für den Vorbehalt der Vorschriften des Versammlungsrechts. Und es gilt für die räumlichen Bereiche der Wahrnehmung berechtigter Interessen. Der unbestimmte Rechtsbegriff hat durch Gesetzgeber und Rechtsprechung Konturen erhalten, die mit den herkömmlichen juristischen Methoden durch die zuständigen Fachgerichte weiterentwickelt werden können. Es geht um den Ausgleich widerstreitender Interessen, das öffentliche Interesse an der Verhinderung von Straftaten bzw. an der Auflösung kiiminogener Szenen einerseits und schützenswerte, weitgehend grundrechtsrelevante Interessen des Betroffenen andererseits, welche die öffentlichen Sicherheitsinteressen im Einzelfall überwiegen können. Damit ist der Rechtsanwender auf eine Abwägung verwiesen, wie sie das geltende Recht vielfach fordert. Hinreichend bestimmt sind schließlich die Voraussetzungen der für das Verbot maßgeblichen Gefahrenprognose. Entgegen der Auffassung der Antragsteller, es sei an den subjektiven Schluss aus Indizien geknüpft, deren Beurteilung im Ermessen des Eingreifenden liege, ist nicht nur die Grundlage der Prognose objektiviert durch das Erfordernis von Tatsachen, welche die Annahme rechtfertigen, dass der Betroffene im Bezugsgebiet und zur Bezugszeit eine Straftat begehen oder zu ihrer Begehung beitragen wird. Auch die für eine Prognoseentscheidung erforderliche Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts ist den dafür im Polizeirecht herausgebildeten Kriterien unterworfen und unterliegt voller verwaltungsgerichtlicher Nachprüfung. Insofern besteht kein wesentlicher Unterschied zu dem im Rahmen der polizeilichen Generalklausel als hinreichend bestimmt angesehenen Gefahren- und Störerbegriff, an deren Stelle die angegriffene Vorschrift nach dem Willen des Gesetzgebers treten soll. Im Übrigen hat er für die erforderliche Gefahrenprognose Tatbestandselemente gewählt, die im Polizeirecht vielfach Verwendung finden (vgl. §§ 18 Abs. 1 Nr. 1; 19 Abs. 1 Nr. 3; 23 Abs. 1

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Nrn. 2, 5; 24 Nrn. 2, 3, 5; 25 Abs. 2 Nrn. 1, 2 Abs. 3 SächsPolG) und durch die Fachgerichte geklärt sind oder mit herkömmlichen Auslegungsmethoden weiter geklärt werden können. Das genügt dem Bestimmtheitserfordernis (SachsVerfGH, JbSächsOVG 4, 50, 62). Hinsichtlich der Rechtsfolge des Aufenthaltsverbots genügt § 21 Abs. 2 SächsPolG ebenfalls dem Bestimmtheitserfordernis. Nach dem Wortlaut kann es sich auf jede Anwesenheit im Bezugsgebiet erstrecken, also einfache Durchquerungen einbeziehen, muss ggf. aber in der Vorschrift näher bezeichnete, am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz orientierte Beschränkungen des Verbots enthalten (s. oben II 1 a). b) § 21 Abs. 2 SächsVerf genügt auch den Anforderungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (s. oben C II 3 c). Die Verhinderung von Straftaten, besonders im Blick auf „gewalttätige Veranstaltungen" und die offene Drogenszene, auf wclche die angegriffene Vorschrift vor allem zielt, stellt einen legitimen, in wesentlichen Teilbereichen von der Verfassung gebotenen Zweck dar. aa) Im Rahmen seiner Einschätzungsprärogative durfte der Gesetzgeber die abstrakte Eignung des Aufenthaltsverbots zur Förderung der von ihm verfolgten Gemeinwohlziele bejahen. Zwar mag seine Verhängung gerade bei der Drogenkriminalität zu einer örtlichen Verlagerung der kriminogenen Szene führen können, so dass der Rauschgifthandel letztlich nicht dauerhaft verhütet wäre (vgl. lasting KJ 1997, 214, 216 f). Aber selbst die einfache Verlagerung des Gefahrenherdes verhindert die Entstehung dauerhaft rechtsfreier Räume. Zudem durfte der Gesetzgeber davon ausgehen, dass auch eine Verdrängungswirkung das Ziel der Bekämpfung der Drogenkriminalität zu fördern vermag, weil wenigstens Verzögerung und zeitweise Unterbindung erwartet werden können, bis die „Szene" neue geeignete Standorte gefunden und sich etabliert hat (vgl. Lat^l/l^ustina Die Polizei 1995, 131, 136), um dann auf gleiche Weise bekämpft werden zu können (s. auch OVG Bremen, NVwZ 1999, 314, 317). Aufenthaltsverboten fehlt auch nicht deshalb die Eignung zur Verhütung von Straftaten, weil zu ihrer Erzwingung möglicher Gewahrsam (§ 22 Abs. 1 Nr. 4 SächsPolG) auf höchstens drei Tage begrenzt wäre (§ 22 Abs. 7 SächsPolG). Das schließt nicht aus, dass daraus hinreichende Abschreckungswirkung folgt. Zudem stehen zur Durchsetzung des Verbots unmittelbarer Zwang und das offenbar hinreichend wirksame Zwangsgeld zur Verfügung. bb) Die Regelung ist auch erforderlich. Ein milderes Mittel, mit dem das angestrebte Ziel in gleicher Weise erreicht werden könnte, ist nicht ersichdich. Der Platzverweis (§ 21 Abs. 1 SächsPolG) hat wegen seiner zeitlichen und räumlichen Begrenzung insbesondere gegenüber einer verfestigten offenen Drogenszene keine vergleichbare Wirksamkeit (ebenso OVG Bremen, NVwZ 1999, 314, 317). Im Übrigen ist das Aufenthaltsverbot hinsichtlich seiner zeitlichen und räumliLVerfGE 14

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chen Grenzen ausdrücklich unter den Vorbehalt der Erforderlichkeit gestellt. Gegen die dreimonatige Höchstdauer bestehen ebenfalls keine Bedenken; der Gesetzgeber durfte angesichts der erheblichen kriminellen Energie von Anbietern in der offenen Drogenszene davon ausgehen, dass eine geringere Höchstgrenze die Wirksamkeit der Maßnahme in Frage stellen würde. Ebenso durfte er davon ausgehen, dass in besonderen Fällen, etwa bei „gewalttätigen \ ;r eranstaltungen", nur eine Ausdehnung des Verbots auf das gesamte Gemeindegebiet wirksame Straftatenverhütung erwarten lassen kann. cc) § 21 Abs. 2 SächsPolG wahrt schließlich das Übermaßverbot. Als Ergebnis verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Güterabwägung hält er sich für den Betroffenen in den Grenzen der Zumutbarkeit. (1) Zwar kann die Eingriffsintensität des zeitlich wie räumlich ggf. ausgreifenderen Aufenthaltsverbotes angesichts ihrer Auswirkungen auf das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen (s. oben 2 a) erheblich sein. Zudem geht sie weit über den begrenzteren Platzverweis hinaus, auch wenn dem Gebot der Zumutbarkeit mit § 21 Abs. 2 S. 2 und 3 SächsPolG dadurch Rechnung getragen ist, dass der Zugang zur Wohnung, das Versammlungsrecht sowie die Wahrnehmung berechtigter Interessen nicht berührt werden dürfen. Sie betreffen vor allem die tatsächliche Ausübbarkeit grundrechtlicher Freiheiten, die in Wechselwirkung zur Straftatenverhütung stehen und in Einzelfällen ein Aufenthaltsverbot auch gänzlich ausschließen können. Die Vorschrift betrifft aber einen begrenzten Personenkreis. Mit der Anknüpfung an die Prognose von Straftaten ist ein Aufenthaltsverbot wegen künftiger Ordnungswidrigkeiten oder wegen Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeschlossen. Bedenken der Antragsteller, das Aufenthaltsverbot könnte dazu dienen, „unerwünschte" Personen oder Bevölkerungsgruppen aus dem öffentlichen Raum zu verbannen (vgl. auch Hetzer JR 20Ü0, 1, 5; Alberts NVwZ 1997, 45, 46), sind damit gegenstandslos. Allerdings sind Art und Schwere der zu verhütenden Straftaten nicht weiter eingegrenzt. Doch enthält schon die Ermächtigung selbst eine ausdrückliche Bindung an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Deshalb kommen nur Straftaten in Betracht, die wegen ihres Gewichts (s. nachfolgend 2) das eingriffsintensive Aufenthaltsverbot rechtfertigen können. Dass es trotz der daraus folgenden tatbestandlichen Begrenzung der Vorschrift auf der Anwendungsebene zu Fehlern kommen kann, berührt die Verfassungsmäßigkeit der Regelung nicht; ihnen ist im Einzelfall durch den verfügbaren Rechtsschutz zu begegnen. (2) Dem stehen das Gewicht der zu verhütenden Straftaten und ihrer Auswirkungen auf die rechtstreue Bevölkerung, der verfassungsrechtlich gebotene Schutz von Leib, Leben und Gesundheit sowie die Gefahr der Ausbreitung der Straftaten gegenüber. Sie müssen die Grundrechtspositionen des vom Aufenthaltsverbot Betroffenen überwiegen. Jedenfalls bei „gewalttätigen VeranstaltunLVerfGE 14

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gen" und der offenen Drogenszene, auf welche die angegriffene Vorschrift vor allem zielt, durfte der Gesetzgeber dies grundsätzlich bejahen. Die Entscheidung des Gesetzgebers für die Ermächtigung zu einer in das pflichtgemäße Ermessen der Polizei gestellten Verhängung örtlich und zeitlich auf das Erforderliche begrenzter Aufenthaltsverbote ist danach nicht zu beanstanden. (3) Kein Verstoß gegen das Ubermaßverbot liegt auch darin, dass ein Aufenthaltsverbot gegen Personen ergehen kann, die nach der maßgeblichen Prognose zur Begehung einschlägiger Straftaten beitragen werden, ohne selbst solche zu begehen (oben 3 a). Es kann nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden, dass in solchen Fällen je nach der Größe der abzuwehrenden Gefahr und der Bedeutung des zu schützenden Rechtsgutes das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen zurücktreten muss. Zu berücksichtigen sind insbesondere die Eigenheiten gefestigter krrminogener Szenen wie der sog. offenen Drogenszene. Angesichts ihrer Gefährlichkeit für Gesundheit und Leben vieler und ihrer Sogwirkung auf bislang Außenstehende und deren daraus resultierender Gefährdung erscheint es nicht als unangemessen, dass Aufenthaltsverbote auch gegenüber Personen ergehen können, die nachhaltig auf sonstige Weise erheblich zum Bestand der Szene beitragen und ihre Attraktivität für andere stärken (vgl. OVG Münster, NVwZ 2001,459 f). F. § 39 Abs. 9 S. 2 Alt. 2 SächsPolG verstößt gegen Art. 33 und 38 SächsVerf und ist nichtig. I. Die angegriffene Regelung verletzt die Rechtsweggarantie (Art. 38 SächsVerf). 1. Nach § 39 Abs. 9 S. 2 Alt. 2 SächsPolG unterbleibt nach Abschluss der Maßnahme eine L T nterrichtung des Betroffenen, soweit sie nicht ohne Gefährdung der weiteren Verwendung des Verdeckten Ermittlers geschehen kann. Die Vorschrift enthält eine von mehreren gesetzlich bestimmten Ausnahmen von dem Grundsatz, dass die von einem Einsatz besonderer Mittel zur Erhebung von Daten (§ 39 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 lVm § 36 Abs. 2 SächsPolG) Betroffenen, nicht notwendig Störer, nach Abschluss der Maßnahme hierüber unverzüglich zu unterrichten sind (§ 39 Abs. 8 S. 1 HS. 1 SächsPolG). Die Benachrichtigung hat grundsätzlich zu erfolgen, sobald sie ohne Gefahr für Leben, Gesundheit oder Freiheit einer Person oder ohne Gefährdung des Zwecks der Datenerhebung möglich ist (§ 39 Abs. 8 S. 1 HS. 2 SächsPolG). Sie unterbleibt ausnahmsweise ferner, wenn ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen den Betroffenen eingeleitet und Akteneinsicht gewährt worden ist (§ 39 Abs. 9 S. 1 SächsPolG) oder - speziell im Fall des § 36 Abs. 2 Nr. 3 SächsPolG - soweit die Unterrichtung nicht ohne Ge-

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fährdung von Leib oder Leben des Verdeckten Ermitders geschehen kann (§ 39 Abs. 9 S. 2 Alt. 1 SächsPolG). 2. a) Art. 38 S. 1 SächsVerf garantiert dem Einzelnen den Rechtsweg bei Eingriffen der öffentlichen Gewalt in seine Rechte. Der Justizgewähiungsanspruch umfasst nicht allein den formalen Zugang zu den Gerichten, sondern auch das Recht auf effektiven Rechtsschutz. Dem Betroffenen darf der Rechtsschutz nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden; zugleich müssen auch die tatsächlichen Vorbedingungen der Erlangung effektiven Rechtsschutzes erfüllt sein (SächsVerfGH, JbSächsOVG 4, 50, 105). Im Falle heimlicher staatlicher Überwachung setzt dies die nachträgliche Kenntnis des Betroffenen von der gegen ihn gerichteten Maßnahme voraus. Nur so wird ihm ermöglicht, ggf. eine gerichtliche Uberprüfung herbeizuführen, lässt sich also ein Rechtsschutzinitiativeffekt auslösen (SächsVerfGH, aaO, 102; vgl. auch Deutsch Die heimliche Erhebung von Informationen und deren Aufbewahrung durch die Polizei, 1992, S. 25). Ob das Heimlichbleiben verdeckter Informationserhebung gerade darauf abzielt, die Rechtsschutzmöglichkeiten des Betroffenen einzuschränken, oder ob diese Wirkung als bloße Nebenfolge der anderen Zwecken dienenden Geheimhaltung eintritt, ist unerheblich. Schon das gesetzlich ermöglichte Vorenthalten der für den Gerichtszugang notwendigen Kenntnisse stellt einen Eingriff in die Gewährleistung des Art. 38 SächsVerf dar (SächsVerfGH, aaO, 105 f; Guttenberg NJW 1993, 567, 575). Andernfalls drohten die materiellen Grundrechte, deren Schutz die Garantie des Art. 38 SächsVerf dient, namentlich das durch verdeckte und heimlich bleibende Datenerhebung betroffene Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, leer zu laufen (vgl. Deutsch aaO, S. 18 f). b) Nicht jeder verdeckt bleibende Informationseingriff verstößt allerdings gegen Art. 38 SächsVerf. Zwar ist die Rechtsschutzgarantie, von dem Sonderfall der Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses abgesehen, ihrem Wortlaut nach - ebenso wie ihre Entsprechung in Art. 19 Abs. 4 GG - vorbehaltlos gewährleistet. Verfassungsimmanente Schranken können aber zu Einschränkungen der Gewährleistung umfassenden Rechtsschutzes führen, nämlich dann, wenn mit ihr wichtige Gemeinschaftsgüter kollidieren und diese bei Abwägung der widerstreitenden Belange größeres Gewicht haben (SächsVerfGH, aaO, 106; vgl. auch BVerfGE 101, 106, 124 f; ferner Huber in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, 4. Aufl. 1999, Bd. 1 Art. 19 Abs. 4 Rn. 383 ff). Das kommt überall dort in Betracht, wo die Geheimhaltung gegenüber dem Betroffenen zur staatlichen Aufgabenerfüllung erforderlich ist und anderen mit Verfassungsrang ausgestatteten Zielen dient (SächsVerfGH, aaO; vgl. ferner BVerfGE 57, 250, 284; 100, 313, 397 f). Dies kann der Fall sein, wenn der Staat Aufgaben der Gefahrenabwehr und vorbeugender Bekämpfung von Kriminalität wahrnimmt, die ihm als Garanten einer Friedens- und Ordnungsmacht (vgl. oben C II 3 b bb 2) zugewie-

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sen sind. Ob in diesem Bereich das staatliche Geheimhaltungs- oder das Unterrichtungsinteresse des Einzelnen überwiegt, lässt sich nicht generell, sondern nur für den betreffenden Eingriffstatbestand nach Güterabwägung entscheiden (vgl. SächsVerfGH, aaO, S. 103). 3. Nach diesen Maßstäben schränkt § 39 Abs. 9 S. 2 Alt. 2 SächsPolG die Rechtsweggarantie unverhältnismäßig ein. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass der Polizei im Hinblick auf das besondere Mittel des Verdeckten Ermitders nur eine begrenzte Zahl an geeigneten Kräften zur Verfügung steht. Das liegt an der besonderen Ausbildung, die ein verdeckt operierender Mitarbeiter benötigt, und deren hohen Kosten, aber vor allem daran, dass ein Verdeckter Ermitder über ganz besondere charakterliche und persönliche Eigenschaften sowie familiäre Lebensumstände verfügen muss, um unter veränderter Identität erfolgreich und dauerhaft im kriminellen Milieu operieren zu können. Tatsächlich dürfte nur ein geringer Teil der Polizeivollzugsbeamten diese Merkmale aufweisen. Der einzelne verdeckt ermittelnde Beamte ist deshalb nicht leicht zu ersetzen. Es besteht daher ein Interesse des Staates, ihn im Falle einer Gefährdung der weiteren Verwendung nicht gegenüber einzelnen Betroffenen „preisgeben" zu müssen. Auch ist die wirksame Bekämpfung bestimmter schwerer Formen der Kriminalität, vor allem der organisierten Kriminalität, unzweifelhaft auf das Mittel des Verdeckten Ermitders angewiesen (vgl. OLG Stuttgart, NJW 1991, 1071, 1072; für sog. V-Männer bereits BVerfGE 57, 250, 284; BGHSt 32, 115, 121 f; OLG Celle, NJW 1991, 856, 857). Gerade hierauf zielen die „besonderen Mittel" (§ 36 Abs. 2 SächsPolG), die — neben der Abwehr gegenwärtiger Gefahren für besonders wichtige Rechtsgüter (§ 39 Abs. 1 Nr. 1 SächsPolG) — zur Verhütung von Straftaten von erheblicher Bedeutung eingesetzt werden dürfen (§§ 39 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3, 36 Abs. 1 SächsPolG). Die Aufgabe, insbesondere schwere bzw. organisierte Kriminalität zu bekämpfen, hat dabei Verfassungsrang. Diese Gesichtspunkte und der Zweck, die weitere Verwendung des eingesetzten Verdeckten Ermitders zu sichern, rechtfertigen aber nicht den schwerwiegenden Eingriff in das Grundrecht aus Art. 38 Sächs\^erf, der im Unterbleiben jeglicher Unterrichtung des Betroffenen liegt. Bloße Gründe der Verwaltungspraktikabilität erlauben keine weitreichenden Eingriffe in die Rechtsschutzgarantie (vgl. BVerfGE 100, 313, 398). Zu derartigen Praktikabilitätserwägungen rechnet das Interesse, einen verdeckt operierenden Polizeibeamten (immer) weiter verwenden zu können. Dass das Reservoir geeigneter Polizeikräfte, die die nötigen Fähigkeiten und sonstigen erforderlichen persönlichen Eigenschaften mitbringen, womöglich sehr gering ist, ändert daran im Kern nichts. Dem Betroffenen darf der durch Einsatz eines Verdeckten Ermittlers bewirkte Eingriff in seine grundrechtlich geschützte Sphäre, insbesondere in das informationelle Selbstbestimmungsrecht, nicht dauerhaft allein deshalb vorenthalten werden, weil andernfalls die weitere \^erwendung dieses Ermittlers gefährdet wäre; damit würde ihm angeLVerfGE 14

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sonnen, auf individuellen Rechtsschutz faktisch zu verzichten, „nur" um weitere verdeckte Ermittlungen desselben Polizeibeamten in anderen Zusammenhängen zu sichern. Von Verfassungs wegen geboten ist es, ihn wenigstens über die Tatsache der erfolgten Datenerhebung zu unterrichten, ggf. unter Verzicht auf die Bezeichnung der näheren Umstände und möglicherweise auch ohne die Mitteilung, dass es sich gerade um den Einsatz eines Verdeckten Ermitders gehandelt hat (vgl. BbgVerfG, LKV 1999, 450, 465). Diese Bewertung nimmt dem Mittel des Verdeckten Ermitders nicht die praktische Bedeutung. Abgesehen davon, dass eine „Enttarnung" nicht selten aus anderen, gleichzeitig vorliegenden Gründen unterbleiben darf, insbesondere wegen einer Gefährdung von Leib oder Leben des Polizeibeamten (§ 39 Abs. 9 S. 2 Alt. 1 SächsPolG), muss die Unterrichtung generell erst „nach Abschluss der Maßnahme" erfolgen (§ 39 Abs. 9 S. 2 iVm Abs. 8 S. 1 SächsPolG). Dementsprechend braucht etwa, wie verfassungsrechtlich unbedenklich ist, ein gegen eine größere Gruppe Verdächtiger gerichteter Einsatz des Verdeckten Ermitders nicht schon aufgedeckt zu werden, sobald der Ermittlungszweck im \ r erhältnis zu einzelnen Betroffenen erreicht ist. 4. Entgegen der Ansicht der Antragsteller verstößt die Beschränkung der Rechtsweggarantie durch § 39 Abs. 9 S. 2 Alt. 2 SächsPolG nicht gegen das Zitiergebot des Art. 37 Abs. 1 S. 2 SächsVerf. Unerheblich ist, dass Art. 38 SächsVerf bzw. Art. 19 Abs. 4 GG in § 79 SächsPolG nicht als eingeschränkte Grundrechte genannt sind. Denn das Zitiergebot gilt für diese Grundrechte nicht. Das ergibt die systematische Auslegung des Art. 37 Abs. 1 SächsVerf. Das Zitiergebot in Satz 2 steht in unmittelbarem Zusammenhang mit Satz 1, der verfassungsrechtliche Vorgaben an grundrechtseinschränkende Gesetze nur insofern enthält, als Grundrechte „durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes" eingeschränkt werden können. Art. 37 Abs. 1 Sätze 1 und 2 SächsVerf beziehen sich daher nur auf Grundrechte, die unter ausdrücklichem Gesetzesvorbehalt stehen. II. § 39 iVbs. 9 S. 2 Alt. 2 SächsPolG verletzt darüber hinaus das informationelle Selbstbestimmungsrecht (Art. 33 SächsVerf). 1. Die Regelung greift in den Schutzbereich dieses Grundrechtes ein. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung schützt den Einzelnen in erster Linie vor unrechtmäßiger Erhebung, Verwendung und Weitergabe seiner personenbezogenen Daten (vgl. oben C II 2 b). Es umfasst daneben grundsätzlich auch das Recht des Einzelnen, darüber unterrichtet zu werden, dass und in welchem Umfang über ihn heimlich Daten, etwa durch besondere Mittel nach § 36 Abs. 2 SächsPolG, erhoben wurden. Diese über die rein abwehrrechtliche Funktion hinausgehende Erstreckung des materiellen Grundrechtsschutzes ist geboten, weil heimliche staatliche Informationserhebung im Allgemeinen nur LVerfGE 14

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dann einer wirksamen - zumindest nachträglichen - Kontrolle unterliegt, wenn der Betroffene von den Maßnahmen erfährt. Bleiben sie ihm verborgen, wird ein Rechtsschutzinitiativeffekt nicht ausgelöst. Das ist nicht allein eine Frage der Rechtsweggarantie. Im ersten Polizeigesetz-Urteil hat der Verfassungsgerichtshof in diesem Zusammenhang die Vorwirkung betont, die Art. 38 SächsVerf für das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung entfaltet und die eine nachträgliche Offenlegung des staatlichen Eingriffs im Grundsatz gebietet (JbSächsOVG 4, 50, 102). Die Eingriffstiefe heimlicher Überwachung und Datenerhebung wird maßgeblich nicht zuletzt durch die Möglichkeit des Einzelnen bestimmt, die Maßnahmen jedenfalls nachträglich einer Kontrolle zu unterwerfen. Fehlt es an dieser Möglichkeit mangels Kenntnis des Betroffenen, so wird der Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht intensiviert und über den Überwachungszeitraum hinaus aufrechterhalten. Daher ist die lediglich eingeschränkte Gewährung bzw. das gänzliche Fehlen eines Unterrichtungsanspruchs nicht nur an der Rechtsweggarantie, sondern auch am Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung zu messen (vgl. BVerfGE 100, 313, 361 zu Art. 10 GG; ähnlich BVerfG - 1. Senat 1. Kammer, NVwZ 2001, 1261, 1263: Unterrichtungsanspruch aus informationellem Selbstbestimmungsrecht „in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG"; vgl. ferner BbgVerfG, LKV 1999, 450, 455, 457; M W e r f G , LKV 2000, 345, 354; Albers Die Determination polizeilicher Tätigkeit in den Bereichen der Straftatenverhütung und der Verfolgungsvorsorge, 2001, S. 246 f; a.A. Huber in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 375: Maßstab ausschließlich Rechtsschutzgarantie). 2. Der Eingriff in Art. 33 SächsVerf ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt. a) Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs müssen bei heimlichen Polizeimaßnahmen die grundrechtlich geschützten Interessen, die der Betroffene mangels Kenntnis nicht selbst wahrnehmen kann, grundsätzlich von unabhängigen Dritten vor dem Eingriff zur Geltung gebracht werden. Geboten ist ein prozeduraler Grundrechtsschutz, der durch kompensatorische Verfahrensgestaltung die Interessen des Betroffenen repräsentiert (SächsVerfGH, JbSächsOVG 4, 50, 96 ff, 99). Diese Voraussetzungen gelten für alle Formen heimlicher Informationserhebung. Auf die vorliegende Konstellation treffen sie in besonderer Weise zu. Soll nämlich sogar nach Abschluss der Maßnahme eine Unterrichtung des Betroffenen unterbleiben dürfen, kann regelmäßig nicht einmal eine nachträgliche - individuelle und ggf. gerichtliche - Kontrolle erfolgen. Wie der prozedurale Grundrechtsschutz verwirklicht wird, ist primär Sache des Gesetzgebers; er verfügt insoweit über einen breiten Gestaltungsspielraum (SächsVerfGH, aaO, 99 f). Ein taugliches Mittel kann ein Richtervorbehalt sein. Anders als nach der verfassungswidrigen Altregelung (vgl. dazu SächsVerfGH, JbSächsOVG 4, 50, 100 ff) ist vor dem Einsatz eines Verdeckten LVerfGE 14

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Ermittlers (ξ 36 Abs. 2 Nr. 3 SächsPolG) nunmehr zwar die Anordnung durch einen Richter erforderlich, § 39 Abs. 4 S. 2 SächsPolG. Damit wird dieser besonders eingriffsintensive heimliche Informationseingriff vor Beginn der Maßnahme einer unabhängigen gerichtlichen Kontrolle unterworfen. Zusätzlichen Schutz erfahren die grundrechtlich geschützten Interessen des Betroffenen durch die Pflicht des Gerichts, die Anordnung schriftlich zu begründen und zu befristen (§ 39 Abs. 3 S. 1 SächsPolG; zur Bedeutung der nach früherem Recht noch fehlenden Begründungspflicht vgl. SächsVerfGH, aaO, 100 f). Die ausnahmsweise, nämlich bei Gefahr im \ r erzug zulässige Anordnung durch einen der in § 39 Abs. 4 S. 1 SächsPolG genannten leitenden Beamten (§ 39 Abs. 4 S. 4 SächsPolG) begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Denn eine solche Anordnung tritt außer Kraft, wenn sie, aus welchen Gründen auch immer, nicht binnen drei Tagen durch das Amtsgericht bestätigt wird; zudem besteht ohne richterliche Bestätigung keine Verwertungsmöglichkeit, sondern im Gegenteil eine Pflicht zur unverzüglichen Löschung (vgl. § 39 Abs. 4 S. 5, 6 SächsPolG). Das vorbezeichnete Regelungskonzept ist freilich — im Verein mit der jährlichen Βerichtspflicht des Innenministers gegenüber dem Landtag über abgeschlossene Maßnahmen unter Einsatz besonderer Mittel (§ 39 Abs. 10 SächsPolG) — auf eine angemessene Repräsentation der grundrechtlich geschützten Interessen des Einzelnen vor, nicht nach dem heimlichen Einsatz des Verdeckten Ermittlers zugeschnitten. Eine ausreichende Kompensation, welche das Geheimbleiben rechtfertigen könnte, liegt darin jedenfalls nicht ohne weiteres. Die speziellen Voraussetzungen des § 39 Abs. 9 S. 2 Alt. 2 SächsPolG dafür, dass der Eingriff heimlich bleibt und vom Grundsatz der Benachrichtigung nach Abschluss des Einsatzes besonderer Mittel (§ 39 Abs. 8 S. 1 SächsPolG) abgewichen wird, unterliegen keiner selbständigen gerichtlichen Prüfung. b) Ob sich ein Verstoß von § 39 Abs. 9 S. 2 Alt. 2 SächsPolG gegen Art. 33 SächsVerf schon allein auf den Gesichtspunkt unzureichenden prozeduralen Grundrechtsschutzes stützen ließe, bedarf keiner abschließenden Entscheidung. Eingriffe in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung sind nach Art. 33 S. 3 SächsVerf durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes möglich. Dabei ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Jedenfalls diesem Grundsatz trägt § 39 Abs. 9 S. 2 Alt. 2 SächsPolG nicht ausreichend Rechnung (vgl. BbgVerfG, LKV 1999, 450, 465 zur brandenburgischen Verschweigebefugnis im Falle der Gefährdung weiterer Einsätze von V-Personen; a.A. wohl BayVerfGH, J Z 1994, 299, 304 für das Bay PAG). Der Ausschluss einer Benachrichtigung des Betroffenen für den Fall, dass ansonsten die weitere \ 7 erwendung des Verdeckten Ermittlers gefährdet wäre, ist zur möglichst effizienten Erfüllung im Allgemeininteresse liegender wichtiger Staatsaufgaben — Abwehr gegenwärtiger Gefahren für bedeutende Rechtsgüter sowie Verhinderung schwerer Straftaten — zwar durchaus geeignet und erforderlich. Gemessen am Schutzgut der informationellen Selbstbestimmung, steht der LVerfGE 14

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im Unterbleiben der Unterrichtung liegende Eingriff aber außer Verhältnis zu den mit der Geheimhaltung verfolgten Gemeinwohlbelangen. Die Erwägungen im Rahmen der Rechtsschutzgarantie (s.o. F I 3) gelten insoweit entsprechend; auf sie wird verwiesen. III. § 39 Abs. 9 S. 2 Alt. 2 SächsPolG verstößt nicht zusätzlich gegen Art. 83 Abs. 3 S. 2 SächsVerf. Allerdings fällt der Einsatz eines Verdeckten Ermittlers unter den Begriff der „nachrichtendienstlichen Mittel" (SächsVerfGH, JbSächsOVG 4, 50, 107 ff). Für deren Einsatz schreibt Art. 83 Abs. 3 S. 2 SächsVerf besondere Kontrollen vor, nämlich entweder eine richterliche oder eine parlamentarische Nachprüfung. Dabei hat der Gesetzgeber einen politischen Gestaltungsspielraum (SächsVerfGH, aaO, 110 f). Da richterliche und parlamentarische Kontrolle grundsätzlich gleichwertig sind, ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass sich der Gesetzgeber mit der Anordnung eines Richtervorbehalts (§ 39 Abs. 4 S. 2 SächsPolG) für eine präventive richterliche Kontrolle entschieden hat, bei der die Interessen der Betroffenen durch eine unabhängige Instanz berücksichtigt und mit den Erfordernissen der Geheimhaltung abgewogen werden. Diese Präventivkontrolle trägt nicht nur dem Individualschutz der Betroffenen Rechnung, sondern wahrt auch — wie für Art. 83 Abs. 3 SächsVerf als organisationsrechtlicher Bestimmung in erster Linie relevant — das objektive Erfordernis legalen und transparenten Staatshandelns in grundrechtssensiblen Bereichen (SächsVerfGH, aaO, 110). Eine weitergehende parlamentarische Kontrolle, die im Übrigen nicht schon in der Berichtspflicht des Sächsischen Staatsministers des Inneren an den Sächsischen Landtag (§ 39 Abs. 10 SächsPolG) gesehen werden könnte, ist von Art. 83 Abs. 3 S. 2 SächsVerf ebenso wenig gefordert wie eine nachträgliche Offenlegung des Einsatzes des Verdeckten Ermittlers gegenüber dem Betroffenen. G. § 22 Abs. 1 Nr. 2 Buchst b SächsPolG ist mit der Sächsischen Verfassung vereinbar. I. Die durch die zweite Polizeigesetznovelle neugefasste Vorschrift (vgl. Gesetzentwurf DS 2/7794, S. 2) ermächtigt die Polizei, eine Person in Gewahrsam zu nehmen, wenn dies zum Schutz der Person gegen eine Gefahr für Leib oder Leben erforderlich ist und die Person Selbstmord begehen will. Nach der amtlichen Begründung (DS 2/7794, S. 19) soll die Neuregelung „der anerkannten Reichweite des Selbstbestimmungsrechts der Person Geltung" verschaffen und — in Gestalt zweier selbständiger Alternativen (Buchst, a und b) statt der früheren LVerfGE 14

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Reihung von drei Regelbeispielen — der „bisher bereits als allein verfassungskonform angesehenen" Auslegung Rechnung tragen. Schutzgewahrsam solle gegen eine zur freien Willensbildung fähige, nicht hilflose Person nur angeordnet werden können, wenn sie Selbstmord begehen wolle, nicht aber in Fällen sei es auch extremer Selbstgefährdung. Dies bedeutet im Gegenschluss — entgegen der Auffassung der Antragsteller — allerdings nicht, dass Schutzgewahrsam auch gegen Personen soll angeordnet werden können, die ihren in freier Willensbildung gefassten Entschluss ζur Selbsttötung bei klarem Bewusstsein in freier Entscheidung verwirklichen wollen. Aus der Gegenüberstellung der beiden Regelungsvarianten ergibt sich, dass Buchst, b als Selbstmord diejenigen Fälle einer möglicherweise bevorstehenden Selbsttötung erfassen soll, bei denen anders als bei Buchst, a Ungewissheit darüber besteht, ob sich der Betroffene in einem die freie Willensbildung ausschließenden Zustand befindet. Als polizeirechtliche Regelung der Gefahrenabwehr (§ 1 SächsPolG) muss die Ermächtigung des ξ 22 Abs. 1 Nr. 2 Buchst, b SächsPolG notwendig an die Sicht und die Erkenntnismöglichkeiten des hinzutretenden Beamten anknüpfen, der regelmäßig ex ante in der Kürze des Augenblicks und der Unübersichtlichkeit der Situation nicht erkennen kann, ob er es mit einem Fall der Selbsttötung eines einsichtsfähigen, in voller Selbstverantwortlichkeit handelnden Menschen zu tun hat oder ob der verfassungsrechtliche Schutz des Lebens ein Einschreiten gebietet. Nicht von der Ermächtigung erfasst sind damit Fälle insbesondere ärztlich begleiteter Selbsttötung, bei denen durch hinreichende Vorkehrungen sichergestellt ist, dass sie durchweg vom freien Willen des Betroffenen beherrscht wird. Das gesellschaftlich und rechtspolitisch in hohem Maße umstrittene Problem bewusster, freiwilliger Lebensbeendigung — etwa im Bereich der Sterbehilfe — hat der Gesetzgeber im Rahmen des polizeilichen Gewahrsams nicht geregelt. Angesichts der umstrittenen und für die Allgemeinheit höchst bedeutsamen Fragen und der möglicherweise betroffenen Rechtsgüter — wie des Schutzes der Menschenwürde, der Frage nach Bestehen oder Reichweite eines Rechts zur Selbsttötung und seines Verhältnisses zu staatlichen Schutzpflichten — hätte andernfalls auf der Hand gelegen, fundamentale Entscheidungen über außerordentlich kontroverse Wertungen und rechts ethische Probleme nicht dem handelnden Polizeibeamten zu überlassen, sondern detailliertere rechtliche Regelungen zu treffen und verfahrensrechtliche Absicherungen zumindest zu erwägen. II. Angesichts dieses einfachrechtlichen Regelungsgehalts ist § 22 Abs. 1 Nr. 2 Buchst, b SächsPolG mit der Sächsischen Verfassung vereinbar. Verfassungsrechtliche Bedenken haben insoweit selbst die Antragsteller nicht geäußert und sind auch nicht ersichtlich (vgl. nur BVerfGE 58, 208, 224 ff und 63, 340, 342, jeweils zur Verfassungsmäßigkeit landesrechtlicher Unterbringungsvorschriften, LVerfGE 14

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sowie BayVerfGH, NJW 1989, 1790, 1791 und NJW 1990, 2926, 2927, jeweils zur polizeilichen Ingewahrsamnahme Suizidwilliger). H. § 38 Abs. 2 SächsPolG ist in dem zur Prüfung gestellten Umfang - soweit die Befugnis der Polizei auf die in § 19 Abs. 1 Nr. 2 SächsPolG genannten Orte bezogen ist — mit der Sächsischen Verfassung vereinbar. I. Die angegriffene Regelung ist formell verfassungsgemäß. Sie wurde vom Landesgesetzgeber auf Grund seiner Gesetzgebungszuständigkeit für das Recht der Gefahrenabwehr erlassen (Art. 70 GG). 1. Die Vorschrift fällt nicht in die Bundeskompetenz für das gerichtliche Verfahren in Strafsachen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG). Dem Strafverfahrensrecht wäre sie nur dann zuzuordnen, wenn sie ausschließlich oder zumindest primär der Beweisbeschaffung zur späteren Verwendung in Strafverfahren diente (vgl. BVerfGE 36, 193, 203; 48, 367, 373; BVerfG, NJW 2001, 879, 880). Dies ist nicht der Fall. Vielmehr hat die Befugnisnorm in erster Linie die Funktion, künftige Straftaten zu verhindern, und ist damit auf präventive Zwecke der Gefahrenabwehr ausgerichtet (vgl. BVerfG, NJW 2001, 879, 880). Das kommt zwar nicht schon unmissverständlich im Wortlaut des § 38 Abs. 2 S. 1 SächsPolG zum Ausdruck. Danach ist der Polizei an den in § 19 Abs. 1 Nr. 2 SächsPolG genannten „gefährlichen" Orten die Erhebung personenbezogener Daten durch Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen oder -aufzeichnungen gestattet, soweit tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass an Orten dieser Art Straftaten begangen werden sollen. Die vornehmlich präventive Zielrichtung der Befugnisnorm folgt aber aus ihrer Anbindung an die entsprechende polizeiliche Aufgabenstellung gem. § 1 SächsPolG (insbesondere § 1 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SächsPolG: „Straftaten zu verhindern und vorbeugend zu bekämpfen") und wird durch ihre Entstehungsgeschichte bekräftigt. Der angegriffene, im Zuge der zweiten Polizeigesetznovelle eingefügte Teil des § 38 Abs. 2 SächsPolG war nicht schon Gegenstand des ursprünglichen Regierungsentwurfs (DS 2/7794), sondern wurde erst auf Antrag der CDU-Fraktion, welcher den präventiven Effekt der Videoüberwachung von Kriminalitätsbrennpunkten besonders hervorhob, in die Beschlussempfehlung des Innenausschusses aufgenommen (DS 2/11444). 2. Dass § 38 Abs. 2 S. 1 SächsPolG auf Grund der zur Gefahrenabwehr durchgeführten Videoüberwachung zugleich ein gerichtliches \Terfahren erleichtern mag (vgl. etwa § 38 Abs. 3 SächsPolG, wonach eine Pflicht zu Löschung bzw. Vernichtung von Aufzeichnungen und Unterlagen nur besteht, soweit diese nicht zur Verfolgung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten erforderlich sind), LVerfGF. 14

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stellt als bloß mittelbare Auswirkung die polizeirechtliche Landesgesetzgebungskompetenz nicht in Frage. II. Die Regelung des § 38 Abs. 2 iVm § 19 Abs. 1 Nr. 2 SächsPolG verstößt inhaltlich nicht gegen die Sächsische Verfassung. 1. Sie bestimmt, dass die Polizei an „gefahrlichen", nämlich den in § 19 Abs. 1 Nr. 2 SächsPolG genannten Orten personenbezogene Daten durch Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen oder -aufzeichnungen von Personen erheben darf, soweit tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass an Orten dieser Art Straftaten begangen werden sollen, durch die Personen, Sachoder Vermögenswerte gefährdet werden. Die Datenerhebungen sind auch dann zulässig, wenn Dritte unvermeidbar betroffen werden (§ 38 Abs. 2 S. 2 SächsPolG). Der Tatbestand verlangt erkennbar einen inneren Zusammenhang zwischen zukünftigen Straftaten und der besonderen Gefährdungslage an den Orten (Rommeljanger/ Rimmele Polizeigesetz des Freistaates Sachsen, § 38 Rn. 7; Roggan NVwZ 2001, 134, 137). Die bloße Vermutung der künftigen Begehung von Straftaten an dem für Überwachungszwecke ins Auge gefassten Ort genügt nicht; erforderlich sind vielmehr tatsächliche Anhaltspunkte, die diese Annahme tragen (vgl. Roggan NVwZ 2001, 134, 137). Als Rechtsfolge ist der Polizei nach dem Wortlaut der Vorschrift voraussetzungsgleich gestattet, sowohl Bild- und Tonaufnahmen als auch entsprechende Aufzeichnungen anzufertigen. 2. Verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab ist das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, Art. 33 SächsVerf (vgl. dazu oben C II 2 b und F II 1). a) Daran ist zunächst die durch § 38 Abs. 2 S. 1 SächsPolG erlaubte Datenerhebung mittels Anfertigen von Bild- und Tonaufzeichnungen zu messen. Bei solchen Aufzeichnungen handelt es sich um die Erhebung und Speicherung personenbezogener Daten, welche die Polizei jederzeit abrufen und auswerten kann, etwa in Form digitaler Bearbeitung von Bildmaterial. Aus der Sicht des Einzelnen bergen die sich gerade durch den Einsatz moderner und sich rasant weiter entwickelnder Technik bietenden Verarbeitungs- und Verknüpfungsmöglichkeiten (vgl. dazu Bäum/er RDV 2001, 67, 69) die Gefahr in sich, dass in unübersehbarem Umfang auf seine Person bezogene Daten erhoben, archiviert und ggf. verwendet werden. Daher greift das Anfertigen von Bild- und Tonaufzeichnungen in den Schutzbereich des informationellen Selbstbestimmungsrechts ein (allg. Ansicht; vgl. nur FiwiwVBlBW 2002, 89, 92 mwN). b) Der Schutzbereich des Art. 33 SächsVerf ist aber auch schon dort berührt, wo es „lediglich" um das Anfertigen von Bild- und Tonaufnahmen geht. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung schützt im Ausgangspunkt, über den durch die Kriterien der Unmittelbarkeit und Finalität geprägten klassiLVerfGE 14

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sehen Eingriffsbegriff hinaus, grundsätzlich vor jeder Form staatlicher Erhebung, schlichter Kenntnisnahme, Speicherung, Verwendung, Weitergabe oder Veröffentlichung individualisierter oder individualisierbarer Informationen. Hierher rechnen polizeiliche Beobachtungen und Feststellungen etwa auf Streifengängen oder -fahrten nach herkömmlichem Verständnis nicht, weil es sich dabei um zwar personenbezogene, aber offene Informationsbeschaffung im öffentlichen Raum von vergleichsweise geringem Gewicht handelt. Der Ubergang zur offenen Beobachtung durch Kameras — einschließlich Bildübertragung in den Monitorraum — stellt dagegen angesichts der mit ihr verbundenen Möglichkeiten sowohl eine neue Qualität als auch eine andere Quantität der Kontrolle dar. Sie ermöglicht beinahe mühelos - zumindest potentiell - eine lückenlose Überwachung „rund um die Uhr" und bietet zudem zahlreiche besondere technische Möglichkeiten der Bearbeitung (z.B. Vergrößerungen durch „Heranzoomen", Standbilder, unmittelbarer Übergang zur Aufzeichnung). Überdies weiß der Einzelne im Falle offener Videoüberwachung nicht, ob die Kamera aktuell auf ihn gerichtet ist, ob sein Bild aufgezeichnet wird, wie lange die Bilder ggf. gespeichert werden und für welche Stellen die Daten zugänglich sind. Gerade die Unsicherheit aber, ob ein bestimmtes Verhalten behördlich registriert wird, kann einen Anpassungsdruck erzeugen und den Bürger von der Ausübung seiner Grundrechte abhalten; wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen notiert und als Information gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird häufig versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen (vgl. BVerfGE 65, 1, 43). Vor diesem Hintergrund besteht an einem Eingriff in den Schutzbereich des informationellen Selbstbcstimmungsrechts kein Zweifel, gleich ob es sich bei der Bildübertragung um Nahaufnahmen handelt, bei denen die Merkmale einer Person bis ins Detail erfasst werden (können), oder ob Übersichtsaufnahmen in Rede stehen, die jederzeit zu Detailaufnahmen vergrößert werden können und nur den ersten, bereits freiheitsgefährdenden Schritt in einem Ablaufschema bedeuten, welches im Grunde darauf angelegt ist, verdächtige Verhaltensweisen von Personen ausfindig zu machen (vgl. insoweit Fischer VB1B'W 2002, 89, 92 mwN). c) Die Annahme eines Eingriffs in das informationelle Selbstbestimmungsrecht scheitert schließlich nicht allgemein an einem konkludenten Grundrechtsverzicht derer, die gem. § 38 Abs. 2 S. 1 SächsPolG (vor allem video-)überwachte öffentliche Orte aufsuchen. Ein solcher Verzicht aller Betroffenen, der nur im Falle deutlich erkennbarer und freiwilliger Abgabe wirksam wäre, scheidet selbst dann aus, wenn die entsprechende Datenerhebung, wie von § 37 Abs. 5 S. 1 SächsPolG grundsätzlich gefordert, offen erfolgt und auf die Überwachung durch deutliche Hinweisschilder aufmerksam gemacht wird. Zum einen werden nicht wenige Personen schon nicht die Hinweisschilder wahrnehmen und auch sonst die Tatsache der Überwachung nicht bemerken; mangels Kenntnis vom möglichen Grundrechtseingriff erklären sie nicht schlüssig einen Grundrechtsverzicht. Zum anderen wird mancher, dem LVerfGE 14

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die Videoüberwachung als solche bekannt ist, den überwachten Raum eher widerals freiwillig betreten, etwa weil er keine Zeitverluste durch Umwege in Kauf nehmen möchte oder ein Geschäft am Ort der Überwachung aufsuchen muss (vgl. Hasse ThürVBl. 2000, 169, 171 f). 3. Der durch § 38 Abs. 2 iVm § 19 Abs. 1 Nr. 2 SächsPolG bewirkte Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht ist verfassungsrechtlich gerechtfertigt (zu den Schranken vgl. oben C II 2 b sowie I W e r f G E 65, 1, 43 f). a) Den Geboten der Normenklarheit und -bestimmtheit genügt die Befugnisnorm. Aus ihr ergeben sich die Voraussetzungen und der Umfang der Beschränkungen klar und für den Bürger erkennbar. Die Bezugnahme auf die in § 19 Abs. 1 Nr. 2 SächsPolG genannten Orte macht deutlich, dass es sich, entsprechend der Legaldefinition des § 19 Abs. 1 Nr. 2 SächsPolG, u m einen Ort handeln muss, an dem erfahrungsgemäß Straftäter sich verbergen, Personen Straftaten verabreden, vorbereiten oder verüben, sich ohne erforderliche Aufenthaltserlaubnis treffen oder der Prostitution nachgehen. Diese gesetzliche Umschreibung ist hinreichend klar und bedeutet — jedenfalls in der Zusammenschau mit der weiteren Voraussetzung, dass tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme künftiger Begehung näher bezeichneter Straftaten an Orten dieser Art rechtfertigen müssen —, dass eine Überwachung nur an solchen Orten zulässig ist, die aufgrund konkreter polizeilicher Erfahrung als sogenannte Kriminalitätsschwerpunkte anzusehen sind. Der primär der Kriminalprävention dienende Zweck, auf den das Anfertigen der Bild- und Tonaufnahmen oder -aufzeichnungen vornehmlich ausgerichtet sein muss, hat weiter begrenzende Wirkung. Dass er in § 38 Abs. 2 S. 1 SächsPolG nicht ausdrücklich benannt ist, sondern sich erst im Wege systematischer und historischer Auslegung zweifelsfrei ermitteln lässt (dazu oben Η I), schadet nicht. In zeitlicher Hinsicht schließlich bestimmt § 38 Abs. 3 SächsPolG präzise, dass Aufnahmen oder Aufzeichnungen und daraus gefertigte Unterlagen — vorbehaltlich näher beschriebener Ausnahmen — spätestens nach zwei Monaten zu löschen oder zu vernichten sind. b) Auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird die angegriffene Regelung gerecht. aa) Nach hinzunehmender gesetzgeberischer Prognose ist die Regelung geeignet, den gewünschten Erfolg zu erzielen, an bislang als Kriminalitätsschwerpunkten hervorgetretenen Orten also vor allem die Begehung von Straftaten einzudämmen. Die Tauglichkeit der Uberwachungsmaßnahmen kann, auch im Hinblick auf mögliche Verdrängungseffekte, nicht prinzipiell verneint werden. bb) Die Regelung ist zur Zweckerreichung erforderlich. Als ein gleich wirksames, aber schonenderes Mittel scheidet eine Steigerung der Polizeipräsenz vor Ort aus. Bei entsprechender Dauer und Intensität lässt sich polizeilicher Augenschein vor Ort gegenüber offener \ r ideoüberwachung schon LVerfGE 14

Normenkontrollverfahren: Sächsisches Polizeigesetz

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nicht als milderes Mittel bezeichnen. Zudem bleiben Bild- und Tonaufnahmen sowie -aufzeichnungen insofern effektiver, als nur mit ihrer Hilfe Bildausschnitte vergrößert, verlässlich gespeichert und problemlos weitergenutzt werden können. Innerhalb der durch § 38 Abs. 2 S. 1 SächsPolG eröffneten Befugnisse stellt das Anfertigen von Bild- und Tonaufnahmen gegenüber der Aufzeichnung zwar den deutlich geringeren Eingriff dar. Von den Voraussetzungen unterscheiden sie sich dagegen nicht. Das macht die Befugnis zu permanenter Aufzeichnung aber nicht von vornherein unverhältnismäßig. Denn durch sie kann, wie auf der Hand liegt, Kriminalität wesentlich besser bekämpft werden als durch eine gesetzliche Regelung, derzufolge eine Beobachtung mittels Bildübertragung nur in eine Aufzeichnung übergehen darf, wenn eine unmittelbar bevorstehende Straftat erkennbar wird (vgl. z.B. § 15a PolG NW; § 1 8 4 Abs. 3 SchlHVwG; § 3 2 Abs. 3 MVSOG). So lässt sich etwa auf die Anzeige einer Straftat hin, die der Polizeibeamte am Monitor nicht wahrgenommen hat, nur im Falle kontinuierlicher Aufzeichnung nachträglich das Geschehen verifizieren (vgl. Fischer \^B1BW 2002, 89, 93). Diese Möglichkeit kann einen wesentlichen Teil der angestrebten Abschreckungswirkung ausmachen. cc) § 38 Abs. 2 S. 1 iVm § 19 Abs. 1 Nr. 2 SächsPolG wahrt schließlich auch das Ubermaßverbot. Für sich genommen sind die Grundrechtsbeeinträchtigungen infolge polizeilicher Videoüberwachung nicht unerheblich. Von ihr wird eine Vielzahl unbescholtener Bürger betroffen, die mehr oder weniger freiwillig ins Visier der Kamera geraten. Die Fingriffsschwelle ist vergleichsweise gering, da das Vorliegen einer konkreten Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung nicht vorausgesetzt wird. Aufnahmen und eingriffsintensivere Aufzeichnungen stehen nicht in einem Stufenverhältnis, sondern finden voraussetzungsgleich statt. Zudem kann staatliche offene Überwachung, wie oben dargestellt (unter Η II 2 b), psychischen Druck ausüben und jedenfalls in der Tendenz sozial angepasste Verhaltensweisen befördern. Auf der anderen Seite hält sich die Belastung für die Betroffenen auch in Grenzen. Das gilt zunächst insoweit, als die fraglichen Eingriffsbefugnisse in der Regel allein das Sozialverhalten in der allgemein einsehbaren Öffentlichkeit, nicht aber die Privat- oder gar Intimsphäre des Einzelnen und damit den unantastbaren Bereich seiner privaten Lebensführung berühren. Ferner erfolgt die Uberwachungstätigkeit nicht etwa heimlich, sondern offen (vgl. § 37 Abs. 5 S. 1 SächsPolG); ihr primäres Ziel, die Abschreckung potentieller Straftäter, lässt sich effektiv ohnehin nur durch erkennbare Videoüberwachung erreichen. Die nach dem Gesetz erforderliche Offenheit ist nur gewährleistet, wenn auf die Überwachung deutlich hingewiesen wird, etwa - wie in der Praxis üblich — durch entsprechende Hinweisschilder. Vor allem aber begrenzt die strikte räumliche Beschränkung auf „gefährliche Orte" bzw. Kriminalitätsbrennpunkte das Maß an Beein-

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Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen

trächtigung der Belange Betroffener. Danach ist nur eine punktuelle, keine flächendeckende Überwachung zulässig. Demgegenüber haben die Gemeinwohlinteressen, deren Schutz die angegriffene Regelung bezweckt, beträchtliches Gewicht. Die — vorrangig vorbeugende — Bekämpfung solcher Straftaten, die Personen, Sach- oder Vermögenswerte gefährden, ist gerade an öffentlich zugänglichen Kjriminalitätsschwerpunkten von besonderem Interesse für die Allgemeinheit. Darüber hinaus vermag der offene Einsatz von Videotechnik nachvollziehbare Angstgefühle von Bürgern abzubauen. Bei Abwägung der unterschiedlichen Belange ist der Grundrechtseingriff angemessen. Die Grundrechte Betroffener auf informationelle Selbstbestimmung vorübergehend und punktuell hinter Grundrechten zum Schutze von Leben, körperlicher Unversehrtheit und Eigentum zurückstehen zu lassen, erscheint unter den genannten Umständen nicht unangemessen. J· Von einer Einbeziehung derjenigen Normen, deren Prüfung lediglich angeregt ist, sieht der Verfassungsgerichtshof ab. Nach § 23 S. 2 SächsVerfGHG kommt die Prüfung weiterer Bestimmungen desselben Gesetzes nur bei Vorliegen derselben (Un-)Vereinbarkeitsgründe wie bei der jeweils vom Antrag erfassten und geprüften Norm in Betracht (vgl. IJmbach/Clemens/Stuth § 78 BVerfGG, Rn. 25 mwN). Diese Voraussetzung liegt, soweit die entsprechenden Bestimmungen nicht schon auf Grund der Sachanträge zu prüfen waren (vgl. oben A l l und A IV 4 sowie C II 1 c und C II 5: Durchsuchungsbefugnisse aus § 24 Nr. 6 und 7 SächsPolG bei Identitätskontrollen nach § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG), bei keiner der von den Antragstellern angeführten Vorschriften (s.o. Α II 1 a.E. sowie A IV 1 bis 3 sowie 5 und 6) vor. K. Den Antragstellern sind gem. § 16 Abs. 4 SächsVerfGHG die notwendigen Auslagen zu 1/3 zu erstatten, weil sie in etwa diesem Umfang obsiegt und außerdem zur Klärung von Fragen grundsätzlicher Bedeutung beigetragen haben, die von besonderer verfassungsrechtlicher Tragweite sind (vgl. BVerfGE 82, 322, 351 zur Parallelvorschrift des § 34a Abs. 4 BVerfGG).

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Entscheidungen des Landesverfassungsgerichts Sachsen-Anhalt

Die amtierenden Richterinnen und Richter des Landes Verfassungsgerichts für das Land Sachsen-Anhalt Dr. Gerd-Hcinrich Kemper, Präsident Erhard Köhler, \^izepräsident Anneliese Bergmann Dr. Edeltraud Faßhauer Margrit Gärtner Dr. Günter Zettel Prof. Dr. Wilfried Kluth

Stellvertretende Richterinnen und Richter

Dedef Schröder Dietmar Fromhage Veronika Pump at Dr. Peter Willms Carola Beuermann Klaus-Günther Pods Prof. Dr. Heiner Lück

K o m m u n a l e r Finanzausgleich: Gestaltung Öffentlicher Personen-Nahverkehr

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Nr. 1 1. § 1 Abs. 1 ÖPNVG-LSA normiert eine Pflichtaufgabe zur Erfüllung in eigener Verantwortung im Sinne des Art. 87 Abs. 3 1,1. Alt. LVerf-LSA. 2. Art. 87 Abs. 3 LVerf-LSA verlangt bei der Übertragung neuer Aufgaben auf die Kommunen, dass der Landesgesetzgeber sich der entstehenden Kosten vergegenwärtigt. Er fordert bei der Kostenermittlung nicht, dass der Landesgesetzgeber ein bestimmtes Verfahren einhält. Vielmehr reicht es aus, dass er nur im Ergebnis bei der Mehrbelastung einen angemessenen Ausgleich bestimmt. 3. Hinsichtlich der Art und Weise der Kostendeckung steht dem Landesgesetzgeber ein Gestaltungsspielraum zu. Die Kostendeckungsregelung kann durch staatliche Zuwendungen, durch die Erschließung neuer Abgabenquellen, durch die Reduzierung anderweitiger kommunaler Leistungspflichten oder auf sonstige Weise angemessen erfolgen. 4. Der angemessene Ausgleich im Sinne des Art. 87 Abs. 3 LVerf-LSA ist nur dann erforderlich, wenn die Aufgabenwahrnehmung zu einer Mehrbelastung der Kommunen geführt hat. Die Mehrbelastung folgt nicht schon aus gesteigerten Anforderungen der Aufgabenwahrnehmung, sondern muss sich aus tatsächlich dadurch verursachten, erhöhten finanziellen Aufwendungen gerade der Kommunen ergeben. Das bloße Pflichtig-Machen einer früher freiwilligen Selbstverwaltungsaufgabe ohne finanzielle Mehrbelastung reicht dafür nicht aus. Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt Art. 87 Abs. 3 Geset2

zur Gestaltung des Öffentlichen Personennahverkehrs des Landes Sachsen-Anhalt ldF 2000 §§ 1 Nr. 4, 15, Urteil v o m 8. J u l i 2003 - LVG 4/01 -

in den \^erfassungsbeschwerdeverfahren mehrerer Landkreise gegen das Land Sachsen-Anhalt wegen § 1 Nr. 4 des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Gestaltung des Öffentlichen Personennahverkehrs im Land Sachsen-Anhalt vom 27.4.2000 (LSA-GVBI., S. 226).

L V e r f G E 14

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Landesverfassungsgerich: Sachsen-Anhalt

Entscheidungsformel: Die Verfassungsbeschwerden werden zurückgewiesen. Gerichtskosten werden nicht erhoben, außergerichtliche Kosten nicht erstattet. Tatbestand: Die am 30.4.2001 von den vier beschwerdeführenden Landkreisen eingelegten Verfassungsbeschwerden richten sich gegen die Kostentragungsregelung in § 1 Nr. 4 des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Gestaltung des Öffentlichen Personennahverkehrs im Land Sachsen-Anhalt - ÖPNVG-ÄndG - vom 27.4.2000 (LSA-GVB1., S. 226). Das Gesetz zur Gestaltung des Öffentlichen Personennahverkehrs im Land Sachsen-Anhalt - ÖPNVG-LSA - vom 24.11.1995 (LSA-GVßl, S. 339) wurde durch die Eisenbahnstrukturreform der deutschen Eisenbahnen, zurückgehend auf das Bundesgesetz zur Neuordnung des Eisenbahnwesens (Eisenbahnneuordnungsgesetz - ENeuOG) vom 27.12.1993 (BGBl. I, S. 2378), veranlasst. 1. Im Gesamtkonzept der Bahnreform ist in Art. 4 des ENeuOG das Gesetz zur Regionalisierung des Öffentlichen Personennahverkehrs (Regionalisierungsgesetz — RegG) enthalten, welches insbesondere den Öffendichen Personennahverkehr neu gestaltet. § 1 RegG legt dabei fest, dass die Sicherstellung einer ausreichenden Bedienung der Bevölkerung mit Verkehrsleistungen des Öffentlichen Personennahverkehrs eine Aufgabe der Daseinsvorsorge ist, wobei die Landesgesetze die Stellen, denen diese Aufgabe zukommt, zu bestimmen haben. § 3 RegG sieht vor, dass zur Stärkung der Wirtschaftlichkeit der Verkehrsbedienung im Öffentlichen Personennahverkehr die Zuständigkeiten für Planung, Organisation und Finanzierung des Öffentlichen Personennahverkehrs möglichst zusammenzuführen sind. Auch insoweit haben die Länder das Nähere zu regeln, können diese Aufgabe jedoch weiter delegieren. § 4 RegG verknüpft die Verordnung (EWG) Nr. 1191/69 (AB1.EG L 156/1) in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 1893/91 (ABl. EG L 169/1) mit dem nationalen Recht. Danach können mit Verkehrsuntemehmen Verträge über gemeinwirtschaftliche \7erkehrsleistungen geschlossen werden. Außerdem können ihnen solche Leistungen gegen finanziellen Ausgleich auferlegt werden. Die Finanzierungsregelungen sind dabei jeweils mit der Aufgabenträgerschaft im Öffentlichen Personennahverkehr verbunden. Die Länder haben zu regeln, wer zuständige Behörde im Sinne der genannten Verordnung ist. In Folge dieser Regelungen verabschiedete der Landtag von Sachsen-Anhalt das Gesetz zur Gestaltung des Öffentlichen Personennahverkehrs im Land Sachsen-Anhalt. Dessen § 1 definiert den „Öffentlichen Nahverkehr" als eine Aufgabe der Daseinsvorsorge und führt u.a. aus: LVerfGE 14

Kommunaler Finanzausgleich: Gestaltung Öffentlicher Personen-Nahverkehr

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„(1) ... Die Sicherstellung einer dem öffentlichen Interesse entsprechenden Bedienung der Bevölkerung mit Verkehrsleistungen und Erschließung des Landes mit Anlagen des Öffentlichen Personennahverkehrs ist eine Aufgabe der kommunalen Selbstverwaltung. Die Kommunen werden bei der Wahrnehmung der Aufgabe v o m Land Sachsen-Anhalt unterstützt. (2)

Die Förderung des Öffentlichen Personennahverkehrs bezweckt: 1. die Herstellung und Sicherung gleichwertiger Lebensbedingungen ..., 2. die Verbesserung der Umweltqualität, 3. die Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur, 4. die Berücksichtigung der besonderen Verkehrsnachfrage des Tourismus, 5. die Förderung der Funktionsfähigkeit der Regionen, Städte und Gemeinden, 6. die Erhöhung der Verkehrssicherheit, 7. die Verlagerung von Fahrten im motorisierten Individualverkehr auf den Öffentlichen Personennahverkehr.

(6)

Der öffentliche Personennahverkehr ist unter Nutzung aller Möglichkeiten ergänzender abgestimmter Verkehrsnetze zu einer attraktiven Alternative zum motorisierten Individualverkehr zu entwickeln. Sem Angebot soll möglichst in der Form eines integralen Taktverkehrs ausgestaltet werden. Um seine Benutzung zu fördern, soll eine gute Anbindung der Haltestellen an die Netze des Individualverkehrs, insbesondere des Fuß- und Radverkehrs, gesichert und geschaffen werden. Sonderlinienverkehre nach § 43 des Personenbeförderungsgesetzes und freigestellte Schülerverkehre sind bis auf unumgängliche Ausnahmen in den Linienverkehr nach § 41 des Personenförderungsgesetzes zu integrieren.

(7)

Differenzierte Bedienungsformen sollen bei der Gewährleistung des Straßenpersonennahverkehrs zur Steigerung der Attraktivität sowie der Kosteneffizienz berücksichtigt und erforderlichenfalls entwickelt werden. Zur Steigerung der Effizienz der Schülerbeförderung ist eine Abstimmung der Schulanfangszeiten anzustreben."

§ 3 OPNVG-LSA lautet auszugsweise wie folgt: „(1) Die Landkreise und kreisfreien Städte gewährleisten in ihrem Gebiet eine dem öffentlichen Interesse entsprechende Bedienung der Bevölkerung mit Verkehrsleistungen und Erschließung mit Anlagen des Öffentlichen Personennahverkehrs. Sie sind Aufgabenträger für den Öffentlichen Personennahverkehr im Sinne von § 8 Abs. 3 des Personenbeförderungsgesetzes und von § 1 Abs. 2 des Regionalisierungsgesetzes (Aufgabenträger). Sie sind zuständige Stelle im Sinne des § 8 Abs. 4 Satz 4 des Personenbeförderungsgesetzes."

Außerdem fordert die Vorschrift die Bildung von Nahverkehrsräumen, also von Räumen aus Gebieten mehrerer Aufgabenträger, in denen ein einheitliches System von Verkehrsverbindungen sowie eine integrierte Planung des Öffentlichen Personennahverkehrs erforderlich sind. LVerfGE 14

Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt

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ξ 15 Ö P N V G - L S A enthält die R e g e l u n g e n ü b e r die F i n a n z i e r u n g des P e r s o n e n n a h v e r k e h r s s y s t e m s . In seiner z u n ä c h s t gültigen F a s s u n g legte § 15 A b s . 3 Ö P N V G - L S A fest: „(3) Der Aufgabenträger erhält vom Land Zuweisungen nach Maßgabe des Ansatzes im Landeshaushaltsplan 1. zur Förderung des Öffentlichen Personennahverkehrs (Vorhaltekosten des Öffentlichen Personennahverkehrs), 2. zur Lastentragung von Fehlbeträgen aus Verpflichtungen nach der Verordnung (EWG) Nr. 1191/96 oder für Zahlungen im Hinblick auf wirtschaftlich vergleichbare Verträge im Sinne von § 5 Abs. 1, 3. für Kooperationshilfen, 4. für die Aufstellung von Nahverkehrsplänen, 5. für Investitionen in Infrastruktur und Fahrzeuge." A u f die V e r f a s s u n g s b e s c h w e r d e des L a n d k r e i s e s S c h ö n e b e c k g e g e n vers c h i e d e n e B e s t i m m u n g e n des G e s e t z e s , d a r u n t e r a u c h g e g e n § 15 Ö P N V G - L S A , e n t s c h i e d das L a n d e s v e r f a s s u n g s g e r i c h t m i t Urteil v o m 17.9.1998 ( L V G 4 / 9 6 ) , dass „§ 15 ÖPN\'G-LSA insoweit mit Art. 87 Abs. 3 LVerf-LSA nicht vereinbar ist, als er für die Kostenfaktoren des § 15 Abs. 3 ÖPNVG-LSA kein Verfahren zur Bestimmung der Kostenhöhe enthält." D a r a u f h i n w u r d e § 15 A b s . 3 bis 5 Ö P N V G - L S A d u r c h § 1 N r . 4 des G e s e t zes z u r Ä n d e r u n g des G e s e t z e s zur G e s t a l t u n g des Ö f f e n t l i c h e n P e r s o n e n n a h v e r k e h r s i m L a n d S a c h s e n - A n h a l t v o m 2 7 . 4 . 2 0 0 0 (LSA-GVB1., S. 2 2 6 ) g e ä n d e r t . In seiner n u n m e h r i g e n F a s s u n g lautet § 15 Ö P N V G - L S A w i e folgt: „(1) Die Finanzverantwortung für den Öffentlichen Personennahverkehr obliegt dem Aufgaben träger. (2)

Die dem Land aus dem Regionalisierungsgesetz zufließenden Mittel sind für den öffentlichen Personennalrverkehr, insbesondere den Schienenpersonennahverkehr, zu verwenden. Sie werden im Hinblick auf die Gewährleistung einer dem Öffentlichen Interesse entsprechenden Bedienung der Bevölkerung mit Verkehrsleistungen im Öffentlichen Personennahverkehr durch landeseigene Mittel ersetzt. Die Mittel nach Satz 1 dürfen nicht zur Finanzierung bisher schon vom Land wahrgenommener Aufgaben verwendet werden. Das Land stellt aus den Mitteln nach § 8 Abs. 2 des Regionalisierungsgesetzes Mittel für Investitionen des Schienenpersonennahverkehrs in angemessenem Umfang nach Maßgabe des Ansatzes im Landeshaushalt zur Verfügung.

(3)

Den Aufgabenträgern werden für die Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung mit Leistungen des Straßenpersonennahverkehrs im Sinne der §§ 1 und 3 und für die Aufgaben nach den §§ 6, 8 und 12 Abs. 2 Satz 3 folgende Zuweisungen gewährt:

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Kommunaler Finanzausgleich: Gestaltung Öffentlicher Personen-Nahverkehr

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1. eine jährliche Grundpauschale in Höhe von 4,86 E U R O je Einwohner, 2. bei nicht nur unerheblicher Gewährleistung von Straßenpersonennahverkehr auch mit Straßenbahnen zusätzlich 6,65 EURO je Einwohner und Jahr. Dabei ist für die Landkreise die Einwohnerzahl der kreisangehörigen Gemeinden, in denen der Straßenbahnverkehr stattfindet, maßgebend, 3. Landkreise, deren Bevölkerungsdichte 100 Einwohner pro Quadratkilometer unterschreitet, erhalten zusätzlich 1,79 E U R O je Einwohner und Jahr, 4. für die Aufgaben nach den §§ 6, 8 und 12 Abs. 2 Satz 3 je Einwohner und Jahr 0,77 EURO, mindestens 76.700 EURO. Bei Gemeinden mit mehr als 20 000 Einwohnern werden die Zahlungen nach Satz 1 Nr. 1 und 2 mit dem Faktor 1,10, bei Gemeinden mit mehr als 100 000 Einwohnern mit dem Faktor 1,25 multipliziert. Als Einwohnerzahl im Sinne dieses Gesetzes gilt die v o m Statistischen Landesamt aufgrund einer allgemeinen Zählung der Bevölkerung oder deren Fortschreibung ermittelte Bevölkerung. Stichtag für die Feststellung ist der 31. Dezember des jeweils vorvergangenen Jahres. (4)

Die Zuweisungen nach Absatz 3 werden an die Aufgabenträger in vier Raten überwiesen: 1. zum 10. März eines jeden Jahres für die Monate Januar bis einschließlich April, 2. zum 10. Juni eines jeden Jahres für die Monate Mai bis einschließlich Juli, 3. zum 10. September eines jeden Jahres für die Monate August bis einschließlich Oktober, 4. zum 10. November eines jeden Jahres für den Rest des Jahres.

(5)

Das für Verkehr zuständige Ministerium wird ermächtigt, durch Verordnung Aufgabenträgern, die sich in einem Verbund zusammengeschlossen haben, einwohnerbezogene Zuweisungen für die erforderlichen Tarifangleichungen zu gewähren.

(6)

Das für Verkehr zuständige Ministerium kann nach Maßgabe des Ansatzes im Landeshaushaltsplan 1. Zuwendungen für spezielle Forderungen, insbesondere für Anlauffinanzierungen, Modellversuche und die Errichtung von Verkehrskooperationen und 2. Zuwendungen für überregional durchgebundene Nahverkehre sowie für die Aufgabenwahrnehmung nach § 10 Abs. 2 Satz 1 und § 11 Abs. 1 Satz 3 gewähren.

(7)

Das für \^erkehr zuständige Ministerium erteilt nach Maßgabe des jeweiligen Haushaltsansatzes und unter Berücksichtigung der lnvestitionspläne der Aufgabenträger ein Investitionsprogramm, das alle Investitionen des Landes sowie alle v o m oder über das Land zu vergebenden Zuwendungen für Investitionen für den Öffentlichen Personennahverkehr von fünf Jahren umfasst und jährlich fortgeschrieben wird. Es lässt sich bei der Aufstellung des Programms von den kommunalen Spitzenverbänden, den örtlich zuständiLVerfGE 14

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Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt gen Fachverbänden der Verkehrtreibenden und den betroffenen Fachgewerkschaften beraten. (8)

Sonstige gesetzliche Ausgleichsleistungen bleiben unberührt."

2. Nach Ansicht der Beschwerdeführer verletzt das Gesetz i h r S e l b s t v e r w a l tungsrecht aus Art. 2 Abs. 3 LSA-Verf und insbesondere ihre Rechte nach § 87 Abs. 3 LVerf-LSA: Deshalb seien die Kommunalverfassungsbeschwerden zulässig. Die in § 1 Nr. 4 ÖPNVG-AndG zur Finanzierung des Öffentlichen Personennahverkehrs getroffene Regelung betreffe die Rechtsstellung der Beschwerdeführer unmittelbar. Die Rechtsverletzung sei auch gegenwärtig, denn die Rechtsnorm des § 1 Nr. 4 ÖPNVG-AndG äußere seit ihrem In-Kraft-Treten am 1.5.2000 Rechtswirkungen, die die Beschwerdeführer in ihrem Selbstverwaltungsrecht verletzten. Die Kommunalverfassungsbeschwerden seien auch begründet. Die Finanzhoheit der Kommunen sei eine Ausprägung der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie. Sie enthalte ein Recht auf angemessene, d.h. aufgabengerechte Finanzausstattung. Maßstab sei Art. 87 Abs. 3 LVerf-LSA. A^oraussetzung der Kostendeckung sei das Bestehen von Pflichtaufgaben in eigener Verantwortung oder von staatlichen Aufgaben nach Weisung. Die Aufgabenzuweisung an die Kommunen erfolge durch Landesgesetz. Dabei beschränke sich das Gesetz nicht auf eine Globalübertragung der Aufgabe „Öffentlicher Personennahverkehr", die den Kreisen bei der Ausführung einen breiten Spielraum lasse, sondern weise ihnen im Rahmen der Aufgabenübertragung einzelne, detailliert geregelte und kostenintensive Aufgaben zu. Die Aufgabenübertragung erfolge in Form einer Zuweisung von Pflichtaufgaben in eigener Verantwortung als Selbstverwaltungsaufgabe iSv Art. 87 Abs. 3 S. 1, 1. Alt. LVerf-LSA. Es handele sich auch um die Zuweisung einer neuen Aufgabe, jedenfalls sei sie als Pflichtaufgabe neu. Pflichtaufgaben seien immer enger reglementiert und ließen den Kommunen wenig Gestaltungsspielraum. Die Verfassung unterscheide zwischen der Kostendeckung nach Art. 87 Abs. 3 S. 2, 3 und der Finanzierung nach Art. 88 LVerf-LSA als einer zentralen, quantitativen Globalsicherung der Kommunal-Finanzen, die durch garantierte eigene Einnahmen wie Steuern und die Garantie eines Finanzausgleichs gewährleistet werde. Diese Garantien bezögen sich jedoch nicht auf einzelne kommunale Aufgaben, sondern auf einen aufgabenunspeziftschen Ansatz im Sinne einer Gesamtrcchnung. Art. 87 Abs. 3 LVerf-LSA diene demgegenüber der aufgaben-orientierten Finanzausstattung nach dem Konnexitätsprinzip. Die Regelung einer Kostendeckung müsse gleichzeitig erfolgen. Wenn der Staat durch Gesetz den Kommunen neue Pflichtaufgabe übertrage, ohne die dadurch entstehenden Mehrkosten auszugleichen, gerate das Finanz-System aus dem Gleichgewicht. Die durch § 1 Nr. 4 ÖPNVG-AndG getroffene Regelung werde dem in § 87 Abs. 3 LVerf-LSA vorgesehenen Gebot eines angemessenen Ausgleichs nicht gerecht. LVerfGE 14

Kommunaler Finanzausgleich: Gestaltung Öffentlicher Personen-Nahverkehr

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Grundsätzlich sei zu beanstanden, dass das Land sowohl beim Erlass des ÖPNVG-LSA als auch bei seiner späteren Novellierung keine substanziellen Vorstellungen über die bei der Durchführung des Gesetzes zu erwartenden Kosten und Erlöse, den sich hieraus ergebenden Zuschussbedarf und dessen Aufteilung auf Land und Aufgabenträger gehabt habe. Mangels einer vorherigen KostenErmittlung habe es gar keine Kostendeckungsregelung nach Art. 87 Abs. 3 S. 2 LVerf-LSA treffen und damit auch keinen angemessenen Ausgleich nach Art. 87 Abs. 3 S. 3 LVerf-LSA schaffen können. Im Übrigen sei die Regelung unzureichend. Dies zeigten die Aufwendungen der Beschwerdeführer für die Aufgabenerfüllung des Öffentlichen Personennahverkehrs: Der Beschwerdeführer zu 1., der Burgenlandkreis, habe im Jahr 2001 für die Aufgabenwahrnehmung Kosten von insgesamt 6.026.031 DM gehabt, denen Zuweisungen des Landes lediglich in Höhe von 1.656.331 DM gegenübergestanden hätten. Daraus errechne sich eine Eigenbeteiligungsquote des Beschwerdeführers zu 1. von 72,5%. Die allgemeinen Zuwendungen des Landes an den Beschwerdeführer zu 1. seien seit In-Kraft-Treten des ÖPNVG-LSA stetig zurückgegangen. Im gleichen Zeitraum seien ihm durch neue oder erweiterte Aufgaben aufgrund von Landesgesetzen zusätzliche jährliche Finanzierungskosten in Höhe von 17.392.261,04 DM (Vergleich zwischen den Jahren 1994 und 2001) auferlegt worden. Dabei habe der Beschwerdeführer zu 1. seinen Personalbestand seit 1994 von 1.018 auf 643 Beschäftigte verringert. Er habe die Ausgaben für den Öffentlichen Personennahverkehr von 8.152.400 DM im Jahr 1995 deutlich reduziert, zum Teil durch alternative Bedienformen und eine Ausdünnung der Infrastruktur des Öffentlichen Personennahverkehrs. Durch die Zusammenführung der PVG Saale-Unstrut mbH mit der PVG Zeitz mbH seit dem 1.1.1999 seien weitgehende Einsparmöglichkeiten genutzt worden. Den Einsparungen stünden jedoch steigende Kraftstoffpreise und Personalkosten sowie erhebliche Umleitungskilometer gegenüber. Weitere betriebswirtschaftliche Einsparungen gingen in Form von Liniennetzkürzungen und Reduzierung des Zeittakts unmittelbar auf Kosten des vorgehaltenen Angebotes für die Nutzer des Öffentlichen Personennahverkehrs. Für den Beschwerdeführer zu 2., den Landkreis Schönebeck, ergebe sich eine Eigenbeteiligungsquote von 83,47%. Auch er habe rückläufige Zuweisungen und erhebliche zusätzliche Finanzierungskosten aufgrund von Landesgesetzen. Der Beschwerdeführer zu 3., der Landkreis Aschersleben-Staßfurt, habe eine Eigenbeteiligungsquote von 62,31%, der Beschwerdeführer zu 4, der Landkreis Wernigerode, eine solche von 62,5%. Im Übrigen gelte auch für sie das oben Gesagte. Die Beschwerdeführer vertreten die Auffassung, Art. 87 Abs. 3 S. 2 LVerfLSA enthalte durch das Wort „zugleich" eine Warnfunktion, die den Landesgesetzgeber zwinge, sich vor der Übertragung einer Aufgabe die entstehenden LVerfGE 14

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Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt

Mehrkosten zu vergegenwärtigen. Zugunsten der Kommunen müsse daher angenommen werden, dass nur eine Kostenregelung, die mit der Aufgabenübertragung zeitlich einhergehe, einen angemessenen Ausgleich bestimmen könne. Daraus ergebe sich für die nach ihrer Meinung noch zu schaffende verfassungsgemäße Regelung, dass diese auch auf den 1.1.1996 rückwirken müsse, da sich sonst der Landesgesetzgeber seiner verfassungsgemäßen Verpflichtung auf geraume Zeit oder im Falle einer Folge verfassungswidriger Regelungen sogar dauernd entziehen könnte. Die in § 1 Nr. 4 ÖPNVG-ÄndG getroffene Regelung entspreche nicht den Vorgaben des Art. 87 Abs. 3 S. 3 LVerf-LSA, welche einen angemessenen Ausgleich der durch die Aufgabenwahrnehmung herbeigeführten Mehrbelastung vorsehen. Dabei sei in erster Linie von einem vollen Ausgleich der Mehrkosten auszugehen. „Angemessen" sei der Ausgleich nur, wenn er dem Ausmaß der finanziellen Mehrbelastung entspreche. Diese aber ergebe sich aus dem Konnexitätsprinzip. Art. 87 Abs. 3 LVerf-LSA solle gerade verhindern, dass durch die Übertragung neuer Aufgaben ohne Kostenausgleich die Grundlagen des Finanzausgleichs zwischen Land und Kommunen verschoben werden könnten. Hierbei dürfe auch die Leistungsfähigkeit der einzelnen Kommune keine Auswirkung auf den finanziellen Ausgleich haben. Neben dem in Art. 87 Abs. 3 LVerf-LSA festgelegten strengen Konnexitätsprinzip ergebe sich dies auch aus einem Parallelvergleich mit der Bundesauftragsverwaltung. Dort würden dem Land die Zweckausgaben durch den Bund erstattet, wobei im Falle der Aufgabendelegation auf die Kommunen die entsprechenden Beträge an diese weitergeleitet werden müssten. Etwas anderes dürfe auch nicht bei der Ausführung von Landesgesetzen durch die Kommunen gelten. Die Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt erstrecke die aufgabenbezogene Finanzierungsregelung darüber hinaus nicht nur auf die Übertragung staatlicher Aufgaben, sondern auch auf die Zuweisung weisungsfreier Pflichtaufgaben; denn auch hier habe das Land die Ausgaben zu tragen, da es als Urheber der Aufgabenfindung und Aufgabenzuordnung die Entscheidung über das Anfallen der Kosten getroffen habe (Veranlassungsprinzip). Insgesamt könne daher der Begriff der „Angemessenheit" nicht durch eine Abwägung zwischen der Leistungsfähigkeit der Kommunen und den Aufgaben und dem Finanzierungsbedarf des Landes ausgefüllt werden, weil man sonst zu einem konturenarmen, sachlich kaum gebundenen Gestaltungsermessen des Landesgesetzgebers käme, was in diesem Fall eine Kostenerstattung weit unterhalb der wahren Mehrkosten zur Folge habe. Das Urteil des Landesverfassungsgerichts vom 17.9.1998 (LVG 4/96) lasse nur eine „Interessenquote" beim Kostenausgleich zu. Diese dürfe allenfalls 5% betragen. Eine Pauschalierung sei zwar eine sachgerechte Maßnahme zur Verwaltungsvereinfachung sowie zur Vermeidung verschwenderischen Umgangs mit GeldLVerfGE 14

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mittein, was in gewissem Umfang auch für \ r erwaltungs- und Sachkosten gelte. Gleichwohl dürften Pauschalierungen aus Gründen der Verwaltungsvercinfachung nie zu erheblichen Abweichungen vom Konnexitätsprinzip als gerechtigkeitsorientiertem Lastenverteilungsgrundsatz zwischen Kommunen und Land führen. Ein so begründeter Abschlag dürfe sich daher lediglich in einer Größenordnung von 5%, maximal von 10% bewegen und könne dabei der mehr oder weniger hohen Entscheidungsfreiheit bzw. den bei der konkreten Aufgabenwahrnehmung tatsächlich feststehenden Alternativen entsprechen. Allerdings hänge eine vertretbare Quantifizierung von der Beachtung der tatsächlichen Verhältnisse, insbesondere den wirklich gegebenen Handlungsspieliäumen der Kommunen und hiervon ableitbaren Einsparpotentialen ab. Ein Einsetzen von Einsparvolumina in von vornherein fiktiver Höhe sei sachlich nicht vertretbar und verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen. Derartige Handlungsspielräume bestünden für die Beschwerdeführer zudem nicht. Einsparpotentiale seien weitgehend ausgeschöpft. Der Aspekt der Verwaltungsvereinfachung und Kosteneinsparung durch pauschale Abrechnung falle im Bereich des Öffentlichen Personennahverkehrs nicht erheblich ins Gewicht, denn eine präzise Abrechnung der Kosten verursache keinen wesentlichen zusätzlichen Verwaltungsaufwand. Der Aspekt der Effizienzsteigerung durch einen Zugewinn von weiteren Verwaltungsaufgaben komme für die Beschwerdeführer ebenfalls nicht in Betracht, zumal sich dieser ohnehin nur auf die Verwaltungskosten im engeren Sinne beziehen könne. Diese machten bei den Beschwerdeführern aber nur einen kleinen Teil der Kosten für die Aufgabenwahrnehmung des Öffentlichen Personennahverkehrs aus, so dass allenfalls ein sehr geringer Abschlag gerechtfertigt wäre. Insgesamt sei den dargestellten Anforderungen an die Bemessung einer „Interessenquote" angesichts der tatsächlichen Eigenbeteiligungsquoten der Beschwerdeführer nicht genügt. Durch die Investitionshilfe hätten sich die Aufgaben der Landkreise für den Öffentlichen Personennahverkehr nicht vermindert. Die Investitionshilfe sei zunächst für Investitionen in den Öffentlichen Personennahverkehr verwendet worden, die dem Nachholbedarf der neuen Bundesländer entsprochen hätten. Im Übrigen diene die Investitionshilfe der allgemeinen Deckung des Vermögenshaushaltes und könne keinesfalls den den Landkreisen verbliebenen Eigenanteil als angemessen erscheinen lassen. Es komme zur Beurteilung der Frage, ob ein „angemessener" Ausgleich vorliege, auch nicht auf eine Durchschnittsbetrachtung aller Landkreise an. Vielmehr sei das Recht der Beschwerdeführer auf Selbstverwaltung aus Art. 2 Abs. 3; 87 LVerf-LSA bereits dadurch verletzt, dass bei ihnen keine angemessene Kostendeckung vorliege. Die Beschwerdeführer hätten keine Möglichkeit, den Bedienstandard des Öffentlichen Personennahverkehrs selbst zu definieren, da ihnen die Aufgabe der LVerfGE 14

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Daseinsvorsorge durch das Land als Pflichtaufgabe übertragen worden sei. Dies schließe eine Erfüllung nach freiem Ermessen aus. Die vielfältigen Vorgaben ergäben sich insbesondere aus § 1 ÖPNVG-LSA. Weitere Anforderungen folgten aus einem Beschluss des Landtages zu Fragen des Öffentlichen Personennahverkehrs vom 12.10.2001 (LT-Drs 3/64/5027 B), welcher im Ergebnis fordere, dass die kreisfreien Städte und Landkreise die Belange behinderter und mobüitätsbeeinträchtigter Menschen in den Nahverkehrsplänen stärker berücksichtigen müssten, sowie aus den Förderkriterien für anzuschaffenden Busse, wonach nur noch bestimmte Busse, insbesondere kostenintensive Niederflurbusse, gefördert würden. Diese seien angesichts der noch verbreitet schlechten Straßenverhältnisse jedoch nicht überall einsetzbar. Die Verweisung der Beschwerdeführer auf das Rufbussystem zur Kostensenkung sei realitätsfern. Rufbussysteme würden durch die Beschwerdeführer in Randzeiten als zusätzliches Angebot vorgehalten. Hierdurch entstünden jedoch zusätzliche Kosten, die durch die Fahrgelderlöse nicht abgedeckt werden könnten. Es sei auch unzutreffend, dass die Kosten der Beschwerdeführer pro Personenkilometer zu hoch seien, weil andere Landkreise den Öffentlichen Personennahverkehr nur mit den vom Land zugewiesenen Mitteln finanzieren könnten. Unter Hinweis auf die bereits dargestellte finanzielle Situation der Beschwerdeführer sei insbesondere zu beachten, dass der Anstieg der Kosten trotz intensiver Einsparungen auf territoriale Besonderheiten sowie den Anstieg der Personalkosten, Kraftstoffkosten und die allgemeine Teuerungsrate zurückzuführen sei. Auch zukünftig sei eine Verringerung des Finanzierungsbedarfs aufgrund der genannten Faktoren nicht zu erwarten. Eine Verringerung des Finanzierungsbedarfs könne nur durch Reduzierung der Leistungen erreicht werden. Diese sei jedoch mit den Zielsetzungen des ÖPNVG-LSA nicht vereinbar. Hilfsweise tragen die Beschwerdeführer vor: Sie hätten ihre Kosten für den Öffentlichen Personennahverkehr weiter verringern können, wenn sie nicht das ÖPNVG-LSA daran gehindert hätte. Die ihnen deshalb nicht mögliche weitere Kosteneinsparung stelle die Mehrbelastung durch die Schaffung des Öffentlichen Personennahverkehrs dar. Wolle man feststellen, ob es eine Mehrbelastung durch das ÖPNVG-LSA gegeben habe, so müsse der prozentuale Anteil der Kostentragung durch das Land an den Gesamtkosten des Öffentlichen Personennahverkehrs aus dem Jahr 1995 auch heute gelten. Hinzuzurechnen seien weitere 33% als der nur bei Freiwilligkeit der Aufgabe reduzierbare Kostenanteil. An der Summe dieser beiden Prozentsätze gemessen, erwiesen sich die heutigen Landesanteile als zu gering. Nach der mündlichen Verhandlung vom 15.4.2003 haben die Beschwerdeführer weiter vorgetragen: Auch das teilweise Absinken der Zuschüsse der Aufgabenträger des Öffentlichen Personennahverkehrs könne eine Mehrbelastung durch die im ÖPNVG begründeten Pflichten nicht ausschließen. Soweit die Lan-

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desregierung auf solche Umstände in den Landkreisen Stendal und Anhalt-Zerbst hinweise, handele es sich um atypische Situationen. Die Beschwerdeführer beantragen sinngemäß, 1.

festzustellen, dass § 1 Nr. 4 des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Gestaltung des Öffentlichen Personennahverkehrs im Land Sachsen-Anhalt v o m 27. April 2000 (LSA-GVBL, S. 226) nichtig ist,

2.

festzustellen, dass eine zu erlassende verfassungsgemäße Neuregelung alle seit dem In-Kraft-Treten (1. Januar 1996) des Gesetzes zur Gestaltung des Öffentlichen Personennahverkehrs im Land Sachsen-Anhalt v o m 24. November 1995 durch dessen Vollzug den Beschwerdeführern angefallenen Kosten angemessen iSv Art. 87 Abs. 3 S. 3 LVerf-LSA auszugleichen hat.

3. Der Landtag hat keine Stellungnahme abgegeben. Die Landesregierung, vertreten durch das Ministerium für Wohnungswesen, Städtebau und Verkehr, hält die Kommunalverfassungsbeschwerden für unbegründet. Zunächst sei das Zahlenwerk der Beschwerdeführer unvollständig, da es die den Landkreisen indirekt zugute kommenden Investitionshilfen für den Öffentlichen Personennahverkehr nicht enthalte. Zudem könnten nur Daten über die Kosten und Erträge aller Landkreise in Sachsen-Anhalt bei Wahrnehmung des Öffentlichen Personennahverkehrs aufzeigen, ob die Landes Zuweisungen nicht ausreichten oder ob bei den Beschwerdeführern Besonderheiten für ihre finanzielle Lage verantwordich seien. Ks sei zu hinterfragen, ob die Beschwerdeführer einen zu aufwändigen Bedienstandard pflegten. Die Landkreise hätten lediglich eine ausreichende Bedienung der Bevölkerung mit Leistungen des Öffentlichen Personennahverkehrs vorzuhalten. Es sei auch zu klären, ob die Beschwerdeführer alle Kosteneinsparungsmöglichkeiten, beispielsweise durch Vermeidung einer Parallelbedienung durch Bus und Bahn oder durch Abstimmung mit den Schulanfangszeiten, genutzt hätten und ihr Angebot zu einem angemessenen Preis erbrächten. Es gebe mehrere Landkreise, die den Öffentlichen Personennahverkehr nur mit den vom Land zugewiesenen Mitteln, d.h. ohne eigene kommunale Beteiligung, und damit günstiger finanzierten. Zudem nehme der Finanzierungsbedarf tendenziell ab, da schon jetzt diverse Unternehmer vollständig auf Gelder der öffentlichen Hand („Tarifsubventionen") verzichteten. Darüber hinaus entspreche § 1 Nr. 4 ÖPNVG-ÄndG den Anforderungen des Art. 87 Abs. 3 LVerfLSA. Zu Unrecht würden die Beschwerdeführer die getroffene Finanzierungsregelung lediglich am speziellen Maßstab des Art. 87 Abs. 3 LVerf-I,SA messen. Tatsächlich sei eine ausreichende Gesamtfinanzierung der Beschwerdeführer im Rahmen der kommunalen Eigenverantwortlichkeit bereits durch den in Art. 88 UVerf-LSA festgelegten Finanzausgleich gewährleistet. Außerdem beinhalte Art. 87 Abs. 3 UVerf-I^SA lediglich die Pflicht, eine Auszehrung der den Landkreisen für die eigene Aufgabenwahrnehmung zur Verfügung stehenden Finanz-

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mittel durch staatliche Aufgabenüberwälzung zu verhindern. Keinesfalls solle durch ihn eine vollständige Kostenübernahme gewährleistet werden. Zudem sehe Art. 87 Abs. 3 LVerf-LSA lediglich eine Ausgleichspflicht für den Fall der Übertragung neuer Pflichtaufgaben vor. Die Durchführung des Öffentlichen Personennahverkehrs sei jedoch tatsächlich nur zu einem geringen Teil neu und pflichtig, da auf kommunaler Ebene weitestgehend alle Möglichkeiten zur Steuerung des Aufgabenumfangs bestehen geblieben seien. Lediglich der Bereich der Aufstellung der Nahverkehrspläne stelle eine neue Pflichtaufgabe dar. Daher könne Art. 87 Abs. 3 LVerf-LSA nur eingeschränkt Anwendung finden. Die in § 15 ÖPNVG-LSA getroffene Kostenausgleichsregelung sei für die Gemeinden erkennbar und nachprüfbar. Zur Berechnung der Grundausstattung der Kommunen für Aufgaben aus dem übertragenen Wirkungskreis habe eine Berechnung der Mittel für die Erstellung der Pläne und Aufgaben vorgelegen. Dieser habe zwei Grundbausteine enthalten, nämlich zum einen die Normierung eines haushaltsunabhängigen Anteiles für die Grundversorgung, der sich an den Einwohnern als Nutzern des Öffentlichen Personennahverkehrs orientiert habe. Differenzierungen hätten sich hierbei lediglich für größere Fahrleistungen in Flächengebieten und für Besonderheiten in Verdichtungsbereichen für Straßenbahnund Großstadtbereiche ergeben. Zu diesem Anteil, der durch Zuweisungen mitfinanziert werden solle, käme dann zum anderen ein weiterer Betrag, der für die Erarbeitung und Fortschreibung der Nahverkehrspläne vorgesehen sei. Zudem müsse Beachtung finden, dass die Kommunen neben den Zuwendungen nach § 15 Abs. 3 ÖPNVG-LSA weitere Landesmittel nach § 15 Abs. 2 ÖPNVG-LSA sowie bundesgesetzliche Ausgleichsleistungen erhielten. Hierzu gehörten Zahlungen in Höhe von ca. 40 Mio. DM im Rahmen des Fahrzeugprogramms des Öffentlichen Personennahverkehrs, 17 Mio. DM im Rahmen des Schnittstellenprogramms sowie Zahlungen nach § 45a PBefG, § 6a AEG und für Einnahmeausfälle im Schüler- und Auszubildendenverkehr, die insgesamt im Haushaltsplan 2000 mit 79 Mio. DM eingestellt gewesen seien. Durch § 1 Nr. 4 ÖPNVG-AndG seien auf der Basis der Einwohnerzahlen April 1999 den Kommunen weitere 50 Mio. DM vom Land zugewiesen worden. Die vom Gesetzgeber getroffene Regelung des Kostenausgleichs beinhalte eine hinreichende Berechnungsmöglichkeit für die Kommunen. Eine konkretere Aufschlüsselung der Kosten würde eine größere Kontrolle der Mittelverwendung beinhalten. Dies stünde jedoch im Widerspruch zur Gewährleistung der kommunalen Selbstverwaltung der Kommunen. Zudem stehe dem Gesetzgeber für die Regelung des Kostenausgleichs ein Gestaltungsspielraum mit Pauschalierungsmöglichkeiten zu. Die den Kommunen bei der Übernahme von pflichtigen Aufgaben verbleibende „Interessenquote" beinhalte eben keine Kostendeckung, sondern könne vielmehr alle Größenordnungen bis zu 100% beinhalten.

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Die Landesregierung beruft sich schließlich darauf, der Vergleich der Jahre von 1995 bis 2002 zeige, dass die Zuschüsse der Landkreise zur Finanzierung des Öffentlichen Personennahverkehrs bei sinkender Entwicklung der Fahrplankilometer gesenkt worden seien. Die Bedienung der Bevölkerung mit Leistungen des Öffentlichen Personennahverkehrs bleibe gleichwohl gewährleistet, ohne dass festgestellt werden könne, dass durch das Pflichtig-Werden der Aufgabe des Öffentlichen Personennahverkehrs und die Vorgaben des ÖPNVG-LSA den kommunalen Gebietskörperschaften tatsächlich neue Kosten, also eine Mehrbelastung entstanden seien. Gründe: 1. Die Verfassungsbeschwerden sind zulässig. 1.1. Mit den statthaften kommunalen Verfassungsbeschwerden können die Beschwerdeführer die angegriffene Gesetzesbestimmung einer Prüfung unterwerfen. Das Landesverfassungsgericht ist nach Art. 75 Nr. 7 der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt - LVerf-LSA - vom 16.7.1992 (LSA-GVB1., S. 600) und §§ 2 Nr. 8; 51 des Gesetzes über das Landesverfassungsgericht — LVerfGG-LSA — vom 23.8.1993 (LSA-GVBI., S. 441), zuletzt geändert durch Gesetz vom 07.12.2001 LSA-GVB1., S. 540), zur Entscheidung über die kommunale Verfassungsbeschwerde berufen (std. Rspr. seit LVerfG, Urt. v. 31.5.1994 - LVG 2/93 - , LVerfGE 2, 227, 229). 1.2. Die Beschwerdeführer sind hinsichtlich der Regelung des ξ 1 Nr. 4 des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Gestaltung des Öffentlichen Personennahverkehrs im Land Sachsen-Anhalt - ÖPNVG-ÄndG - vom 27.4.2000 (LSAGVBI., S. 226) auch beschwerdebefugt, da sie durch diese Regelung selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen sind. Gem. Art. 87 Abs. 3 LVerf-LSA kann der Landesgesetzgeber den Kommunen Aufgaben übertragen, wenn ein angemessener Ausgleich für die finanzielle Mehrbelastung geschaffen wird. In § 1 Nr. 4 ÖPNVG-AndG hat der Gesetzgeber aufgrund des Urteils des Landesverfassungsgerichts vom 16.9.1998 (— LVG 4/96 —, LVerfGE 9, 343 ff), in welchem die bisherige Fassung des § 15 Abs. 3 ÖPNVGLSA für verfassungswidrig erklärt wurde, für die Übertragung des Öffentlichen Personennahverkehrs auf die Landkreise und kreisfreien Städte (Aufgabenträger) das Verfahren des Kostenausgleichs in § 15 Abs. 3 bis 5 ÖPNVG-LSA neu geregelt. Selbst wenn dem Gesetzgeber bei der Art und Weise der Kostenregelung ein Gestaltungsspielraum zusteht, so erscheint es vor dem Hintergrund der Finanzhoheit als wesentlichen Bestandteils der kommunalen Selbstverwaltung weiterhin möglich, dass auch das neu geregelte Verfahren einen angemessenen Ausgleich nicht sicherstellt. Zum Selbstverwaltungsrecht gehört nach gefestigter Rechtspre-

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chung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Beschl. v. 15.10.1985 — 2 BvR 1808-1810/82 - , BVerfGE 71, 25, 36, mwN) und der Verfassungsgerichte der Länder (VerfGH NW, Urt. v. 6.7.1993 - VfGH 9, 22/92 DVB1. 1993, 1205; VerfGH RP, Urt. v. 18.3.1992 - VGH 2/91 - , DVB1. 1992, 981; StGH BW, Urt. v. 14.10.1993 - GR 2/92 VB1BW 1994, 15; NdsStGH, Beschl. v. 13.8.1995 StGH 2, 3, 6-10/93 - , DVB1. 1995, 1175; BayVfGH, Entsch. v. 27.2.1997 Vf.l7-VII-94 - , BayVBl. 1997, 303; LVerfG-LSA, Urt. ν 13.7.1999 - 20/97 LVerfGE 11, 429 ff) die Finanzhoheit der Kommunen. Basis dafür ist die Landesverfassung, die eine finanzielle Grundausstattung der Kommunen vorsieht. 1.3. Die Verfassungsbeschwerden sind formgerecht innerhalb der Jahresfrist der §§ 51 Abs. 2, 48 LVerfGG-LSA erhoben worden. Das ÖPNVG-ÄndG ist gem. § 2 des Gesetzes am 1.5.2000 in Kraft getreten, am 30.4.2001 sind die Verfassungsbeschwerden beim Landesverfassungsgericht eingegangen. 1.4. Entgegen der Anregung der Landesregierung besteht kein Anlass zur Aussetzung des \^erfahrens, denn die vom Bundesverwaltungsgericht mit Beschluss vor dem 6.4.2000 — BVerwG 3 C 7.99 — erbetene Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) ist für die hier zu entscheidenden Rechtsfragen nicht präjudiziell. Die europarechtliche Fragestellung im Verfahren des EuGH liegt darin, ob unter Berücksichtigung der Art. 73, 87 EG-Vertrag und der Verordnung (EWG) Nr. 1191/96 v. 26.6.1969 (ABL EG L 156/1) der Umstand der notwendigen Bezuschussung eines Unternehmens nicht dazu führt, dass dieser Betrieb zwangsläufig als gemeinwirtschaftlich zu qualifizieren und damit der \^erordnung (EWG) Nr. 1191/69 zu unterwerfen sei. Dabei geht es insbesondere aus wettbewerbsrechtlicher Sicht um die Frage, ob Zuschüsse, die Behörden eines Mitgliedstaates zum Ausgleich der Kosten der Verpflichtungen des öffentlichen Dienstes gewähren, staatliche Beihilfen darstellen, die unter das Verbot von Art. 87 Abs. 1 EGVertrag fallen. Demgegenüber betrifft das hier strittige Verfahren weder die Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedstaaten im Gemeinsamen Markt noch die Zuschüsse an Unternehmen zum Erhalt einer eigenwirtschaftlichen Verkehrsleistung, die einen anderen Wettbewerber benachteiligen könnten. Vielmehr geht es um einen Ausgleich zwischen dem Land und den Kommunen, der durch die Übertragung einer pflichtigen Aufgabe zu einer Mehrbelastung führt und damit um einen rein innerstaatlichen Konflikt. Erst die Handhabung des Öffentlichen Personennahverkehrs durch die Kommunen selbst könnte die dem Europäischen Gerichtshof vorgelegte Fragestellung betreffen, nämlich soweit sie Unternehmen eine Genehmigung zur Personenbeförderung nach § 1 3 PBefG erteilen. 2. Die Verfassungsbeschwerden sind unbegründet. § 1 Nr. 4 des ÖPNVG-ÄndG verstößt nicht gegen Art. 87 Abs. 3 LVerfLSA.

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Das Landesverfassungsgericht vermag nicht festzustellen, dass den Beschwerdeführern als Trägern des Öffentlichen Personennahverkehrs durch das ÖPNVG-LSA eine Mehrbelastung gegenüber dem Zustand vorher erwachsen ist. Prüfungsmaßstab ist ausschließlich Art. 87 Abs. 3 LVerf-LSA (2.1.). Die angegriffene Regelung des Änderungsgesetzes zum Gesetz über den Öffentlichen Personennahverkehr verstößt nicht gegen diese Verfassungsbestimmung (2.2.) Auch für die Vergangenheit schuldet das Land keine Nachleistungen (2.3.). 2.1. Art. 87 Abs. 3 LVerf-LSA und Art. 88 Abs. 1, 2 LVerf-LSA regeln jeweils andere Teile der kommunalen Finanzausstattung. Während der eigentliche (horizontale) Finanzausgleich durch Art. 88 Abs. 2 LVerf-LSA geregelt wird, verpflichtet Art. 88 Abs. 1 LVerf-LSA das Land, den Kommunen Finanzmittel zur Verfügung zu stellen, damit sie ihre Aufgaben erfüllen können (vertikaler Finanzausgleich). Hiervon unabhängig enthält Art. 87 Abs. 3 LVerf-LSA, der dazu ermächtigt, den Kommunen neue Aufgaben zu übertragen (Satz 1), eine „Konnexitätsregelung", weil im Zusammenhang mit der Übertragung zugleich („dabei") eine Regelung über die Kostendeckung getroffen werden muss (Satz 2). Ein „angemessener Ausgleich" ist indessen nur für den Fall einer „Mehrbelastung" vorgesehen (Satz 3). Dadurch will die Verfassung die Kommunen davor schützen, dass ihnen das Land neue Aufgaben aufbürdet, ohne zu prüfen, welche Kosten dies verursacht (LVerfG, Urt. v. 17.9.1998 - LVG 4/96 LVerfGE 9, 343 ff; Urt. v. 8.12.1998 LVG 19/97 LVerfGE 9, 390 ff; Urt. v. 13.7.2000 - LVG 20/97 - , LVerfGE 11,429 ff). Nach dem Inhalt des Antrags sowie in Ansehung des Umstands, dass einfachgesetzliche Regelungen des Finanzausgleichs nicht innerhalb der dafür geltenden Fristen angefochten worden sind, ist allein auf Art. 87 Abs. 3 LVerf-LSA abzustellen. 2.2. Die angegriffene Regelung des Änderungsgesetzes zum Gesetz über den Öffentlichen Personennahverkehr verstößt nicht gegen Art. 87 Abs. 3 LVerf-LSA. § 1 Abs. 1 ÖPNVG-LSA normiert zwar eine Pflichtaufgabe (2.2.1.); diese Aufgabe ist in ihrer Pflichtigkeit auch neu (2.2.2.). Die getroffene Kostendeckungsregelung scheitert aber weder bereits formell, weil Kosten nicht ermittelt worden sind (2.2.3.), noch ist sie in der Sache zu beanstanden, weil die Pflichtigkeit der Aufgabe zu keiner Mehrbelastung geführt hat (2.2.4.). 2.2.1. Die Pflicht nach Art. 87 Abs. 3 S. 2 LVerf-LSA, die Deckung der Kosten zu regeln, steht im unmittelbaren Zusammenhang mit der Ermächtigung des Landes nach Art. 87 Abs. 3 S. 1 LVerf-LSA, den Kommunen Aufgaben im eigenen Wirkungskreis zur Pflicht zu machen oder ihnen der Natur nach staatliche Aufgaben zur eigenen Wahrnehmung zu übertragen (LVerfG,. Urt. v. 13.7.2000 LVG 20/97 - , LVerfGE 11, 429, 445). LVerfGE 14

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Art. 87 Abs. 3 S. 1, 1. Alt. LVerf-LSA erfasst solche Aufgaben, die den Kommunen als Pflichtaufgaben zur Erfüllung in eigener Verantwortung durch Gesetz zugewiesen sind. Der Schienenpersonennahverkehr zählte bis zum In-Kraft-Treten des ÖPNVG-LSA nicht zu den kommunalen Aufgaben. Der öffentliche Straßenpersonennahverkehr mit einer Entfernung von max. 50 km und der Fahrtdauer von einer Stunde gehörte demgegenüber als freiwillig übernommene Aufgabe zum herkömmlichen Wirkungskreis der Kommunen. §§1, 3 und 15 ÖPNVG-LSA übertragen den Kommunen nunmehr die Aufgabe für den Schienenpersonennahverkehr in den eigenen Wirkungskreis und machen diese Aufgabe und zugleich die schon bestehende freiwillige Aufgabe für den Straßenverkehr zur Pflicht (LVerfG, Urt. v. 17.9.1998 - LVG 4/96 LVerfGE 9, 357). 2.2.2. Die Rechtsfolge des Art. 87 Abs. 3 S. 2 LVerf-LSA wird nur ausgelöst, wenn es sich bei der Aufgabe nach x\rt. 87 Abs. 3 S. 1 LVerf-LSA um eine neue Aufgabe handelt. Ob im Falle einer gesetzlichen Regelung eine neue Aufgabe vorliegt, ist durch einen Vergleich der Rechtslagen vor und nach der Regelung zu ermitteln. Bei der Aufgabe des Schienenpersonennahverkehrs ist dies nicht zweifelhaft. Neu ist auch die Aufgabe des Straßenpersonennahverkehrs. Bei Aufgaben des eigenen Wirkungskreises ist die erforderliche Aufgabendifferenz bereits dann gegeben, wenn eine freiwillige Aufgabe zu einer Pflichtaufgabe umgestaltet wird. Obwohl die Aufgabe des Öffentlichen Straßenpersonennahverkehrs den Kommunen bereits vor dem In-Kraft-Treten des ÖPNVG-LSA als freiwillige Selbstverwaltungsaufgabe oblegen hat, wird diese Aufgabe allein durch das PflichtigWerden schon zu einer neuen Aufgabe iSd Art. 87 Abs. 3 LVerf-LSA (LVerfG, LVerfGE 9, 357). 2.2.3. Art. 87 Abs. 3 S. 2 LVerf-LSA gebietet dem Gesetzgeber in der Regel, bei einer solchen Aufgabenverlagerung die Kosten nachvollziehbar zu ermitteln. Dabei ist er in der Methock der Kostenermittlung frei. Notwendig ist es deshalb nicht, für jede einzelne neu übertragene Aufgabe die denkbaren Kosten präzise zu ermitteln, sondern es genügt, ist aber auch geboten, die mutmaßlichen Kosten auf Grund verlässlicher Daten prognostisch zu schätzen. Art. 87 Abs. 3 S. 2 LVerf-LSA enthält zwar eine Warnfunktion für den Gesetzgeber; er soll vor der Übertragung der Aufgaben gezwungen werden, sich die entstehenden Kosten zu vergegenwärtigen. Die Vorschrift erfüllt zugleich eine Schutzfunktion für die Kommunen in der Weise, dass der Gesetzgeber bei jeder Aufgabenübertragung die damit verbundenen finanziellen Belastungen berücksichtigen muss. Art. 87 Abs. 3 S. 2 LVerf-LSA erfordert aber keine besonderen Verfahrensschritte, bei denen Fehler eigenständig eine Regelung zu Fall bringen können, die materiell den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt, sondern bewirkt lcLVerfGE 14

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diglich, dass das Ergebnis der Prüfung im Gesetz festgeschrieben wird und dadurch den Kommunen finanzielle Planungssicherhcit eingeräumt werden muss (vgl. dazu bereits: LVerfGE 9, 343, 356, 390, 405; 11, 429, 445). Hier ist zwar davon auszugehen, dass der Gesetzgeber keine auf Grund konkreter Erhebungen oder Schätzungen substantiierten Vorstellungen über die bei der Durchführung des ÖPNVG-LSA zu erwartenden Kosten und Erlöse sowie den sich daraus ergebenden Zuschussbedarf und dessen Aufteilung auf Land und Aufgabenträger entwickelt hatte. Eine umfassende Analyse der Entwicklung der Aufgaben- und Ausgabenlasten sowie der zu erwartenden Einnahmen und Möglichkeiten, diese zu verändern, hat der Landesgesetzgeber dem Gericht nicht vorgelegt. Die Erfüllung solcher Beobachtungs-, Analyse-, Dokumentations-, Darlegungs- und Begründungsanforderungen hätte allerdings zur Versachlichung und Rationalisierung des Entscheidungsprozesses beizutragen vermocht. Vor allem setzt sich das Land bei einem Verzicht auf eine umfassende Kostenermittlung dem Risiko aus, dass bei einer Mehrbelastung der Kommunen die vorgesehenen Zuweisungen keinen angemessenen Ausgleich darstellen und die zugrunde liegende gesetzliche Regelung (erneut) verfassungswidrig ist. Gleichwohl kann hier aber nicht davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber gleichsam „ins Blaue hinein" gehandelt und damit nicht einmal den Minimal-Anforderungen an die Kostenermittlung genügt hat. Für das Gericht steht zumindest fest, dass der Gesetzgeber in seinem Entscheidungsprozess an die bislang vorhandenen Kostenstrukturen angeknüpft hat. Zu berücksichtigen ist, dass es den Kommunen freigestellt ist, auf welchem Niveau sie die Aufgabe wahrgenommen haben, so dass in der Regel in den einzelnen Kommunen auch ganz unterschiedliche Kosten entstanden sind. Ferner kommt hinzu, dass die \^orgaben des ÖPNVG-LSA weitgehend nur Ziele enthalten. Wenn man darauf abstellen wollte, was durch das neue ÖPNVGLSA an Erhöhungen der Standards in jedweder Flinsicht den Kommunen auferlegt worden ist, so wäre dies aus genau diesen Gründen nicht darstellbar. Die Formulierungen im ÖPNVG-LSA sind so, dass aus ihnen selbst hieraus keine verbindlichen Maßstäbe mit genau bezifferbaren Kostenfolgen ableitbar sind. Weder das Land noch die Kommunen konnten daher aus ihrer Handhabungspraxis anhand konkreter Fälle eindeutige Kosten durch die im ÖPNVGLSA vorgesehenen Standards darstellen. So ist es beispielsweise anhand keines Falles belegt, dass einmal eine Nahverkehrsplanung wegen Nichteinhaltung der Standards beanstandet worden wäre. Umgekehrt haben aber auch die Beschwerdeführer keinen Fall konkret belegt, in dem sie wegen des ÖPNVG-LSA Maßnahmen getroffen haben, die sie sonst unterlassen hätten. 2.2.4. Die getroffene Kostendeckungsregelung ist im Ergebnis nicht zu beanstanden. Die Verfassung verlangt nur eine Regelung durch Gesetz, ohne festzulegen, in welcher Norm sie zu treffen ist (2.2.4.1.); in der Sache steht dem Gesetzgeber LVerfGE 14

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ein GestaltungsSpielraum zu (2.2.4.2.). Eine Kostendeckungsregelung mit einem weiteren angemessenen Ausgleich ist hier aber nicht geboten, weil die Aufgabenübertragung zu keiner Mehrbelastung führt (2.2.4.3.). 2.2.4.1. Art. 87 Abs. 3 S. 2 LVerf-LSA schreibt zunächst nicht vor, an welcher Stelle Bestimmungen über die Kostendeckung zu treffen sind; das entspricht der überwiegend vertretenen Auffassung zu ähnlichen Verfassungsbestimmungen anderer Länder (vgl. Henneke LKV 1993, 365, 367; ders. Der Landkreis 2003, 190, 193 ff; Schock/ Wieland Finanzierungsverantwortung für gesetzgeberisch veranlasste kommunale Aufgaben, 1995, S. 163; Schwang Finanzverfassung und kommunale Selbstverwaltung, 1996, S. 133; Wendt in: FS Stern, 1997, S. 603, 623; a.A.: Mückl Finanzverfassungsrechtlicher Schutz der kommunalen Selbstverwaltung, 1998, S. 211). Das Wort „dabei" legt nicht den Ort der Regelung fest, sondern hat eine ausschließlich zeitliche Dimension (so auch Reich LVerf-LSA, 1994, Art. 87 Rn. 4); das folgt aus dem Sinnzusammenhang mit dem Begriff „gleichzeitig" in derselben Bestimmung. Auch wenn die Verfassung bei Art. 87 Abs. 3 LVerf-LSA kein „Junktim" zwischen Aufgabenübertragung und Kostendeckungsregelung statuiert (a.A. Schwang aaO, S. 131; anders wohl auch — Regelung im selben Gesetz erforderlich — : Mückl aaO, S. 211), wie es Art. 14 Abs. 3 GG für die Entschädigung bei Enteignungen fesdegt, verlangt aber der Wortlaut des Art. 87 Abs. 3 S. 2 LVerf-LSA, dass eine Regelung jedenfalls zum selben Zeitpunkt in Kraft tritt wie die Aufgabenübertragung (LVerfGE 11, 429, 448). 2.2.4.2 Auch bei der Regelung der Kostendeckung der Kommunen verfügt der Gesetzgeber — ebenso wie bei der Kostenermittlung — über einen weiten Gestaltungsspielraum. Welche Methode er wählt, bleibt ihm überlassen. Denkbar sind Festbeträge, Pauschalierungen, Quoten, Prozentsätze oder Kostenzuschüsse. Wie die „Regelung der Kostendeckung" (Art. 87 Abs. 3 S. 2 LVerf-LSA) inhaltlich zu gestalten ist, regelt die Landesverfassung nicht. Dem Gesetzgeber stehen daher verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten offen (so zum Finanzausgleich zwischen Land und Kommunen allgemein: LVerfG, Urt. v.15.1.2001 — LVG 3 und 5/01 LKV 2002, 328; sowie zu landesverfassungsrechtlichen Regelungen allgemein: Schoch/ Wieland aaO, S. 163, mwN; Henneke Die Kommunen in der Finanzverfassung des Bundes und der Länder, 3. Aufl. 1998, S. 72). Neben staatlichen Finanzzuwendungen kommt die Erschließung neuer Abgabenquellen (kommunale Steuern, Beiträge oder Gebühren) oder die Kompensation der Mehrbelastung durch die L-bernahme oder die Reduzierung anderweitiger kommunaler Leistungspflichten oder ein Ausgleich in sonstiger Weise in Betracht. Der Landesgesetzgeber kann die Kommunen daher zur Erhebung von Abgaben ermächtigen oder sie auf staatliche Zuschüsse, auf die sie einen Anspruch haben, verweisen oder beides miteinander kombinieren.

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2.2.4.3 Der angemessene Ausgleich iSd Art. 87 Abs. 3 S. 3 LVerf-LSA ist nur dann erforderlich, wenn die Aufgabenwahrnehmung zu einer Mehrbelastung der Kommunen geführt hat. Die Mehrbelastung folgt nicht schon aus gesteigerten Anforderungen der Aufgabenwahrnehmung, sondern muss sich aus tatsächlich dadurch verursachten, erhöhten finanziellen Aufwendungen gerade der Kommunen ergeben. Hingegen ist nicht die gesamte Kostenlast der pflichtig gemachten Selbstverwaltungsangelegenheit wegen der Unausweichlichkeit der übertragenen staatlichen Aufgabe schon die Mehrbelastung, also unabhängig von der Frage, inwieweit die Kommunen die Aufgabe bereits vorher freiwillig wahrgenommen haben. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut und der systematischen Stellung des Satzes 3 in Art. 87 Abs. 3 LVerf-LSA. Bereits der Begriff der „AfeMielastung" in Satz 3 zeigt, dass „angemessener Ausgleich" nur zu gewähren ist, wenn gerade der Steigerungsgrad der Aufgabenwahrnehmung zu einer finanziellen Mehrbelastung der Haushalte der Kommunen führt. Wenn ferner Satz 1 von Absatz 3 die Feststellung einer Aufgabendifferenz voraussetzt und Satz 2 eine Kostendeckungsregelung verlangt, dann ist der in Satz 3 geregelte Anspruch auf angemessenen Ausgleich nur dann gegeben, wenn eine finanzielle Belastungsdifferenz festzustellen ist. Würde man dagegen der Auffassung der Beschwerdeführer folgen, so würde sich selbst bei unveränderter Aufgabenwahrnehmung und Kostenbelastung allein durch das Pflichtig-Werden stets eine Mehrbelastung der Kommunen ergeben. Dies widerspräche auch den Vorstellungen der an der Vorbereitung und Abfassung der Landesverfassung beteiligten Personen. So führte Prof. Dr. Schneider unter Zustimmung weiterer Ausschussmitglieder in der Sitzung des Ausschusses für Recht und Verfassung vom 15.5.1991 aus, dass es beim Pflichtig-Werden einer Aufgabe nicht immer zu einer Mehrbelastung kommen müsse (Materialsammlung: „Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt vom 16. Juli 1992", Bd. III, S. 336). Der angemessene Ausgleich hängt somit nicht von einem abstrakten (rechtlichen) Vergleich des Zustandes vor und nach der Aufgabenwahrzuweisung ab, sondern von der Differenz in der tatsächlichen Wahrnehmung und von der damit verbundenen Kostenbelastung (so auch Reich aaO, Art. 87 Rn. 5). Nur wenn bei einer nach Art. 87 Abs. 3 S. 2 LVerf-LSA festgestellten Aufgabendifferenz auch eine dadurch verursachte, tatsächliche finanzielle Belastungsdifferenz vorliegt, besteht für das Land die Ausgleichspflicht nach Satz 3. Deshalb verstößt § 1 Nr. 4 des ÖPNVG-ÄndG nicht gegen Art. 87 Abs. 3 LVerf-LSA, weil nicht festzustellen ist, dass das Pflichtig-Machen der Aufgabe öffentlicher Personennahverkehr die Kommunen mehr belastet. Dabei ist die Finanzausstattung aller Aufgabenträger des Öffentlichen Personennahverkehrs in Sachsen-Anhalt ebenso zu betrachten wie die individuelle Lage der Beschwerdeführer (so auch Niedersächsischer Staatsgerichtshof, Urt. v. 16.5.2001 - StGH 6/99 NdsVBl. 2001,184,187). LVerfGE 14

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Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt

Die Standards des ÖPNVG-LSA sind - wie bereits dargelegt — nur Ziele, die wegen ihrer Offenheit und des insoweit bestehenden Beurteilungsspielraums der Aufgabenträger für die Entscheidung des Falles keine brauchbaren Maßstäbe ergeben. Die Frage, ob Mehrbelastungen durch das ÖPNVG-LSA entstanden sind, beantwortet sich nur durch einen Vergleich der Aufwendungen von Land und Trägern des Öffentlichen Personennahverkehrs für den Zeitraum ab 1995. Dazu können die von der Landesregierung genannten Zahlen zugrunde gelegt werden, weil sie den Haushaltssatzungen und Plänen der Kommunen entnommen sind und weil die kommunalen Spitzenverbände in der Besprechung zwischen ihnen und dem Ministerium für Bau und Verkehr am 4.11.2002 keine weiteren konkret bezifferten Kosten dargelegt haben, die diese Tabellen ergänzt oder geändert hätten. Diese Zahlen ergeben im Verhältnis des ersten Jahres des Pflichtig-Werdens 1996 zum letzten Jahr der Wahrnehmung der Aufgaben als freiwillige Selbstverwaltungsaufgabe 1995 keine signifikanten Veränderungen. Dies bestätigt die Annahme der Landesregierung, das ÖPNVG-LSA habe in § 1 Abs. 2 im Wesentlichen nur zuvor von den Kommunen selbst im Rahmen der Erledigung der Aufgabe Öffentlicher Personennahverkehrs als freiwilliger Selbstverwaltungsaufgabe formulierten Ziele gesetzlich festgeschrieben. Die Zuschüsse der Landkreise für den Öffentlichen Personennahverkehr sind in der Folgezeit von 1995 bis 2001 insgesamt um 18 Prozentpunkte gesunken. Auch Einzelvergleiche weder bei den Beschwerdeführern noch bei den von den Beschwerdeführern nach der mündlichen Verhandlung angeführten Landkreisen Stendal und Anhalt-Zerbst führen zu einem anderen Ergebnis. Die Beschwerdeführer können sich auch nicht darauf berufen, sie hätten ihre Aufwendungen für den Öffentlichen Personennahverkehr weiter verringern können, wenn das ÖPNVG-LSA sie daran nicht gehindert hätte. Dieser Umstand stellt nicht in Frage, dass die Gesamtbelastung der Kommunen und der Beschwerdeführer durch den Öffentlichen Personennahverkehr gesunken und nicht gestiegen ist. Daher ist es auch nicht möglich, den Zuweisungsstand 1995 gewissermaßen als Sockel festzuschreiben und nur über die Mehrbelastungen durch die Erhöhung der Eigenanteile in Relation zum Landesanteil zu sprechen. Es hat somit dabei zu bleiben, dass die Kostenbelastung seiner Träger durch den Öffentlichen Personennahverkehr seit Einführung des ÖPNVG-LSA gesunken und nicht gestiegen ist, so dass Mehrbelastungen durch das ÖPNVG-LSA iSd Art. 87 Abs. 3 der LVerf-LSA nicht feststellbar sind. 2.3. Die Beschwerdeführer begehren mit ihren Kommunalverfassungsbeschwerden weiterhin, auch so gestellt zu werden, als habe vom In-Kraft-Treten des ÖPNVG-LSA an eine verfassungsmäßige Regelung gegolten.

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Das Landesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 17.9.1998 — LVG 4/96 —, LVerfGE 9, 343 ff, die Vorgängerregelung für verfassungswidrig erklärt. Damit bestand Regelungsbedarf für die Zeit ab dem In-Kraft-Treten des ÖPNVG-LSA am 1.1.1996. Das hier gegenständliche Änderungsgesetz trat aber erst am 1.5.2000 in Kraft, so dass bis dahin von der Fortdauer des verfassungswidrigen Zustandes ausgegangen werden muss, da das Änderungsgesetz keine Rückwirkungsregelung enthält. An sich reicht für die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerden die Behauptung der Beschwerdeführer, durch die angegriffene oder — wie hier — fehlende Regelung in ihren Rechten verletzt zu sein. Durch die verfassungsrechtliche Prüfung steht allerdings bereits fest, dass mangels einer Mehrbelastung durch das ÖPNVG-LSA keine Beschwer der Beschwerdeführer feststellbar ist, so dass ihre Verfassungsbeschwerden auch insoweit erfolglos bleiben. 3. Die Entscheidung über die Gerichtskosten folgt aus § 32 Abs. 1 LVerfGG-LSA. Ein Anspruch auf die Erstattung außergerichtlicher Kosten besteht nicht, weil die Verfassungsbeschwerde ohne Erfolg geblieben ist (ξ 32 Abs. 2 LVerfGG-LSA). Umstände, die ausnahmsweise eine Anordnung nach § 32 Abs. 3 LVerfGG-LSA rechtfertigen könnten, sind nicht ersichtlich. Diese Entscheidung ist mit sechs Stimmen gegen eine Stimme ergangen.

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Entscheidungen des Thüringer Verfassungsgerichtshofs

Die amtierenden Richterinnen und Richter des Thüringer Verfassungsgerichtshofs Dr. h.c. Hans-Joachim Bauer, Präsident Prof. Dr. Walter Bayer Gunter Becker Christian Ebeling Harald Graef Peter Goetze (seit 9.5.2003) Prof. Dr. Johanna Hübscher Dr. Iris Martin-Gehl Thomas Morneweg Dr. Dieter Lingenberg (bis 15.4.2003) Stellvertretende Richterinnen und Richter Dr. Hartmut Schwan Dr. Wolfgang Weißkopf (seit 6.6.2003) Peter Germann Prof. Dr. Udo Ebert Elmar Schuler Dr. Wolfgang Habel Reinhard Lothholz Günter Gabriel Dr. Renate Hemsteg von Fintel

Parlamentarisches Fragerecht und Antwortpflicht

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Nr. 1 1. Das Fragerecht nach Art. 53 Abs. 2 ThiirVerf und die Antwortpflicht nach Art. 67 Abs. 1 ThürVerf sind deckungsgleich darin, dass zulässige Fragen zu beantworten sind. Zulässig sind auch auf Meinungserkundung gerichtete Fragen. 2. Das Antwortverweigerungsrecht nach Art. 67 Abs. 3 ThürVerf setzt voraus, dass die Landesregierung sich im Zusammenhang mit einer zur Parlamentsanfrage abgegebenen Erklärung darauf beruft. 3. Art. 53 Abs. 2, 67 Abs. 1 ThürVerf begründen keine Verpflichtung der Landesregierung zur Meinungsbildung. Verfassung des Freistaats Thüringen Art. 53 Abs. 2; 67 U r t e i l v o m 4. A p r i l 2 0 0 3 - V e r f G H 8 / 0 2 in dem Organstreitverfahren des Mitglieds des Thüringer Landtags Volker Schemmel - Antragsteller gegen die Thüringer Landesregierung, vertreten durch den Ministerpräsidenten, Regie rungsstr. 73, 99084 Erfurt — Antragsgegnerin — Verfahrensbevollmächtigte: Rechtsanwälte Prof. Dr. Konrad Redeker pp., Mozartstr. 4-10, 53115 Bonn Entscheidungsformel: Der Antrag wird zurückgewiesen.

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Gründe: A. I. Der Antragstelicr ist Mitglied des Thüringer Landtags. Dort gehört er der Fraktion der SPD an. Er hat in Drucksache (Drs.) 3/1103 mit Datum vom 10.11.2000 an die Landesregierung folgende mündliche Anfrage gerichtet: Fragwürdige Äußerungen des Ausländerbeauftragten der Landesregierung A m 9. November 2000 gab der Ausländerbeauftragte der Landesregierung zur Anhörung „Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus in Thüringen" eine schriftliche und mündliche Stellungnahme ab. Ich frage die Landesregierung: 1.

Entspricht die Stellungnahme des Ausländerbeauftragten der Landesregierung der Meinung der Landesregierung zum oben genannten Thema?

2.

Inwieweit gibt es von der Stellungnahme des Ausländerbeauftragten der Landesregierung abweichende Auffassungen der Landesregierung?

3.

Wie bewertet die Landesregierung z.B. den v o m Ausländerbeauftragten der Landesregierung vorgetragenen Satz: „Die Ängste in Teilen der Bevölkerung vor dem Einfluss vormoderner Kulturen und unaufgeklärter Religionen und damit vor einem Verlust an Humanität (Ängste, die ich aus zahlreichen Briefen kenne) müssen ernst genommen werden; auch dort, wo sie nicht berechtigt erscheinen"?

Anlass der Mündlichen Anfrage war eine vom Ausländerbeauftragten der Landesregierung, Eckehard Peters, dem Innenausschuss des Thüringer Landtages am 9.11.2000 zu dem aus der Anfrage ersichtlichen Thema vorgetragene Stellungnahme. Peters legte, „da sich eine monokausale Erklärung des Phänomens" verbiete, „eine mir (i.e. Peters) besonders plausible Deutung" vor, „ohne dafür „Deutungshoheit zu beanspruchen". Dabei stellte er einen Zusammenhang her zwischen der Wertearmut westlicher Zivilisationen einerseits und dem Herkunftsund Kulturbewusstsein in Deutschland lebender Ausländer sowie dem Auftreten einer Neo-Nazi-Szene in Deutschland andererseits und verwies auf die Möglichkeit, über die „Idee des Nationalen" eine sinnstiftende „Kollektividentität" und über die „Idee einer Nationalkultur" ein „demokratisches Verständnis des Nationalen" zu gewinnen. Als „politische Empfehlung" trug Peters vor, eine „rationale Einwanderungspolitik" zu entwickeln und dabei auch kulturelle Überlegungen zu berücksichtigen. Emst zu nehmen seien „die Ängste der Bevölkerung vor dem Einfluss vormoderner Kulturen und unaufgeklärter Religionen und damit vor einem Verlust an Humanität, auch dort, wo sie nicht berechtigt erscheinen". Die Landesregierung hat die Anfrage Drs. 3/1103 in der 32. Plenarsitzung des Thüringer Landtags am 14.12.2000 durch den Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten und Chef der Staatskanzlei Gnauck wie folgt beantwortet: LVerfGE 14

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Zu den Fragen 1 und 2: Es gehört zu den Pflichten und zur Unabhängigkeit des Amtes eines Ausländerbeauftragten, zur Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus Position zu beziehen. Dies gilt gerade, wenn ein Meinungsbildungsprozess im Gange ist, den auch die Anhörung des Innenausschusses am 9. November 2000 gefördert hat. Es ist das Recht des Ausländerbeauftragten, im Rahmen seines Auftrags selbständige Meinungen zu haben und sie auch zu äußern. Zu diesem Zweck wurde er zur Anhörung eingeladen. Zu Frage 3: Wie der Antwort zu Fragen 1 und 2 zu entnehmen ist, hat die Landesregierung nicht die Absicht, einzelne Sätze der Ausführungen des Ausländerbeauftragten zu bewerten.

Hierzu ist dem Antragsteller eine weitere Frage gestattet worden, welche er wie folgt vorgetragen hat: Herr Minister, der Ausländerbeauftragte ist Beamter der Landesregierung, wenn ich mich nicht täusche, sogar politischer Beamter der Landesregierung. Das heißt, er steht als politischer Beamter in einer besonderen Beziehung zur Landesregierung. Muss man nicht aus dieser besonderen Beziehung auch zumindest im Umkehrschluss den Schluss ziehen dürfen, dass sich der Ausländerbeauftragte der Landesregierung quasi im Benehmen mit der Landesregierung äußern muss und kann man dann unterstellen, dass die Äußerungen des Landesbeauftragten auch eine Äußerung der Landesregierung darstellen? D a r a u f hat M i n i s t e r G n a u c k g e a n t w o r t e t : Herr Abgeordneter Schemmel, man kann überhaupt nichts unterstellen.

Hieran hat sich eine Diskussion darüber angeschlossen, ob die Frage des Antragstellers beantwortet sei. Dazu hat die Vizepräsidentin des Thüringer Landtags erklärt: Meine Damen und Herren, liebe Kollegen, der Wortlaut der einzelnen Fragen ist eigentlich relativ eindeutig. Es ist festzustellen, dass die Landesregierung diese Fragen nicht beantwortet hat.

Dieser Erklärung hat sich eine weitere Diskussion über die Befugnis der Landstagspräsidentin zu derartigen Feststellungen angeschlossen. Sie hat zu einer Beratung im Altestenrat des Thüringer Landtags geführt, auch über die Frage, ob Minister Gnauck die Mündliche Anfrage des Abgeordneten Schemmel beantwortet habe. Der Altestenrat hat beschlossen, diese Fragen an den Justizausschuss des Thüringer Landtags weiterzugeben. Der Justizausschuss sollte auch klären, ob „von der Landesregierung eine Bewertung des Verhaltens eines Bediensteten der Landesregierung verlangt werden kann". Der Justizausschuss hat hierüber am 22.3.2001 (19. Sitzung) beraten mit dem Ergebnis, dass er den Wissenschaftlichen Dienst des Thüringer Landtags um ein Gutachten gebeten hat. Dieses Gutachten ist dem Justizausschuss am 12.6.2001 zugeleitet worden. Es führt aus, dass die Landesregierung die Mündliche Anfrage des Antragstellers am 14.12.2000 nicht entsprechend ihrer aus Art. 67 Abs. 1 ThürVerf folgenden Verpflichtung ausreiLVerfGE 14

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c h e n d b e a n t w o r t e t habe. A m 16.8.2001 (25. Sitzung) h a t der justizausschuss des T h ü r i n g e r Landtags den Wissenschaftlichen D i e n s t mit einem Z u s a t z g u t a c h t e n beauftragt. Dieses G u t a c h t e n ist a m 5.11.2001 vorgelegt w o r d e n . E s behandelt die Frage, o b aus der in der - d u r c h Landtagsbeschluss v o m 17.5.2001 a u f g e h o b e n e n - V o r s c h r i f t des § 91 Abs. 5 G O T h ü r L a n d t a g a.F. festgelegten positiven Feststell u n g s k o m p e t e n z des Landtagspräsidenten, die A n f r a g e eines A b g e o r d n e t e n sei beantwortet, auch die negative Feststellungskompetenz abzuleiten sei. D e r Antragsteller hat a m 28.11.2001 die Präsidentin des T h ü r i n g e r Landtags gebeten, die M ü n d l i c h e A n f r a g e aus D r s . 3 / 1 1 0 3 in die T a g e s o r d n u n g der nächsten Landtags-Plenarsitzung a u f z u n e h m e n . D a z u ist es nicht g e k o m m e n , weil der Ältestenrat a u f g r u n d eines V e r m e r k s der Landtagsverwaltung beschlossen hat, dass „die A u f s e t z u n g der alten A n f r a g e nicht g e b o t e n " sei; es bleibe d e m A n tragsteller aber u n b e n o m m e n , sein Anliegen in einer e r n e u t e n A n f r a g e zu verfolgen ' D e m g e m ä ß ist der Antragsteller verfahren. E r hat a m 9.1.2002 die A u s f ü h r u n g e n des A u s l ä n d e r b e a u f t r a g t e n der Landesregierung v o m 9.11.2000 z u m G e g e n s t a n d einer e r n e u t e n M ü n d l i c h e n A n f r a g e g e m a c h t (Drs. 3 / 2 1 1 7 ) , welche i m W o r d a u t der A n f r a g e v o m 10.11.2000 (Drs. 3 / 1 1 0 3 ) n a h e z u gleicht. H i n z u g e f ü g t ist lediglich im Einleitungsabschnitt der Satz: ... Angesichts der erneuten Aktualität und Wichtigkeit der Auseinandersetzung mit dieser Thematik sollten diese Äußerungen nochmals abgewogen werden. H i e r z u hat sich die Landesregierung in der 55. Plenarsitzung des T h ü r i n g e r Landtags a m 24.1.2002 d u r c h Minister G n a u c k wie folgt erklärt: Zu den Fragen 1 und 2: Zunächst weise ich auf meine Ausführungen in der Plenarsitzung vom 14. Dezember 2000 hin. Die Fragen, ob und inwiefern die Stellungnahme des Ausländerbeauftragten der Meinung der Landesregierung entspricht, stellen sich in dieser Form nicht, denn sie berühren die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis zwischen Landesregierung und Ausländerbeauftragten. Deswegen sind diese Fragen auch nur grundsätzlich zu beantworten. Der Ausländerbeauftragte ist — wie schon das Wort zeigt — durch die Landesregierung beauftragt, sich mit den Angelegenheiten unserer ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger zu befassen. Es gehört zu seinen Rechten und Pflichten, sich mit Fremdenfeindlichkeit und Extremismus im Freistaat auseinander zu setzen. Sein Amt kann er genauso, wie beispielsweise die Thüringer Beauftragte für die Gleichstellung von Frau und Mann, nur im Sinne aller Thüringerinnen und Thüringer ausüben, wenn er seine Auffassung zu diesen Themenfeldern im Rahmen seiner Zuständigkeiten selbständig und unabhängig äußern kann. Weil es auch zu seinen Pflichten gehört, die Landesregierung ggf. auf Versäumnisse und Herausforderungen der Politik für unsere ausländischen Mitbürger hinzuweisen, wäre es völlig widersinnig, wenn die Landesregierung seine Äußerungen zensieren oder unterbinden wollte. Im Gegenteil: Die Auseinandersetzung mit den verschiedensten Formen des Extremismus — mit Rechtsextremismus ebenso wie mit Ausländerextremismus — ist insbesondere nach den verabscheuungswürdigen Anschlägen vom 11. September 2001 notwendig und geboten. Mit seiner Stellung-

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nähme hat der Ausländerbeauftragte lange vor diesem tragischen Ereignis auf ein Spannungsverhältnis hingewiesen. Wir sehen uns auf der einen Seite mit religiös motivierten fundamentalistischen Strömungen konfrontiert, die unsere freiheitliche Gesellschaftsordnung in Frage stellen oder sogar bedrohen. Auf der anderen Seite wollen wir eine ausländerfreundliche Gesellschaft, die jeden herzlich willkommen heißt, wenn er zu uns kommen will, unter der Voraussetzung, dass er unsere Sprache lernt und sich integrieren will. Integration zu ermöglichen, Brücken zwischen den Kulturen zu schlagen, setzt das Engagement aller Bürgerinnen und Bürger voraus. Es setzt zugleich voraus, dass wir ihre Sorgen ernst nehmen. Zu Frage 3: Im gleichen Rahmen wie eben angedeutet, ist auch diese Frage zu beantworten. Aufgabe der Landesregierung und des Thüringer Landtags ist es, sich differenziert und ernsthaft mit den Problemen der Zuwanderung, aber auch des Extremismus, auseinander zu setzen und dabei alle Erkenntnisse und Anregungen mit einzubeziehen. Es wäre deshalb, Herr Abgeordneter Schemmel, alles andere als ein Beitrag zu einer seriösen politischen Debatte, einen einzelnen Satz aus einer mehrseitigen Erklärung herauszugreifen und dann gelöst von seinem Gesamtbeitrag zu bewerten und zu kommentieren.

An diese Erklärung haben sich Fragen und Äußerungen von Abgeordneten zum parlamentarischen Verfahren bei mündlichen Anfragen, insbesondere zur Bewertung, ob die Antwort der Landesregierung als Antwort auf die Mündliche Anfrage ausreiche, angeschlossen. II. Am 14.6.2002 hat der Antragsteller beim Thüringer Verfassungsgerichtshof im Wege des Organstreits die Feststellung beantragt, dass die Landesregierung in der Fragestunde des Thüringer Landtags am 24.1.2002 mit ihren Ausführungen die Mündliche Anfrage des Antragstellers in der Drs. 3/2117 nicht beantwortet und dadurch das Fragerecht des Antragstellers aus Art. 53 Abs. 2 ThürVerf sowie ihre Antwortpflicht aus Art. 67 Abs. 1 ThürVerf verletzt habe. 1. Der Antragsteller hält das Organstreitverfahren nach Art. 80 Abs. 1 Nr. 3 ThürVerf zur Prüfung der Frage der Verletzung seines durch die Landesverfassung grundsätzlich eingeräumten und durch § 91 Abs. 1 GOThürLandtag für kleine (Mündliche) Anfragen konkretisierten Fragerechts für statthaft. Das den Gegenstand des Organstreits bildende Verhalten der Landesregierung verletze ihn — den Antragsteller - unmittelbar in den ihm als Abgeordneten verfassungskräftig gewährten Rechten aus Art. 53 Abs. 2 und 67 Abs. 1 ThürVerf. 2. Die 6-monatige Antragsfrist des § 39 Abs. 3 S. 1 ThürVerfGHG sei gewahrt. In diesem Zusammenhang komme es nicht auf die zu der ersten Anfrage vom 10.11.2000 gegebenen Erklärungen an. Vielmehr habe (auch) die dem Landtag von Minister Gnauck am 24.1.2002 vorgetragene Verlautbarung in die verfassungsmäßige Rechtsstellung des Antragstellers eingegriffen. Diese Verlautbarung beziehe sich auf die zweite Anfrage in Drs. 3/2117, welche mit Blick auf den am LVerfGE 14

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8.11.2001 vor dem Landtag erstatteten „Zweiten Bericht der Landesregierung zu Radikalismus und Extremismus im Freistaat Thüringen" die aktuellen \ r erhältnisse Ende 2001 /Anfang 2002 angesprochen habe. Im LT>rigen sei es „krass widersprüchlich" und „treuwidrig", wenn die Landesregierung, die dafür verantwortlich sei, dass erst mit Verzögerung habe geklärt werden können, ob die erste Anfrage beantwortet worden sei oder nicht, sich nunmehr zur Abwehr des Organstreitantrags auf die Fristbestimmung des § 39 Abs. 3 S. 1 ThürVerfGHG berufe. 3. Der Antrag sei begründet, weil die von Minister Gnauck am 24.1.2002 abgegebenen Erklärungen eine von der Landesregierung nicht gedeckte Antwortverweigerung enthielten. Indem Art. 67 Abs. 1 ThürVerf die Landesregierung zu unverzüglicher Antwort auf parlamentarische Anfragen verpflichte, gebiete die Verfassung der Landesregierung, sich inhaltlich zum Fragegegenstand auch dann zu äußern, wenn es um die Bekanntgabe einer Meinung oder einer Sachverhaltsbewertung gehe. Nichtssagende Antworten stünden einer Antwortverweigerung gleich und verletzten Art. 67 Abs. 1 ThürVerf. In diesem Sinne nichts sagend sei bereits die Erklärung von Minister Gnauck in der Landtagssitzung vom 14.12.2000 gewesen, als er anstatt dem Inhalt der Mündlichen Anfrage gemäß die Aussage des Ausländerbeauftragten zu bewerten, eine solche Wertung abgelehnt und auch sonst nichts gesagt habe, was als Antwort aufzufassen sei. Dieses Verhalten habe er bei der Beantwortung der Anfrage in Drs. 3/2117 am 24.1.2002 wiederholt. Insoweit sei hinsichtlich der Fragen 1 und 2 zu erwarten gewesen, dass die Landesregierung ihre Position zu den Aussagen des Ausländerbeauftragten im Sinne einer völligen oder teilweisen Zustimmung bzw. Ablehnung definiere und bekannt gebe. Dagegen habe Minister Gnauck das Rechtsverhältnis der Landesregierung zu ihrem Ausländerbeauftragten beschrieben und daraus abgeleitet, dass die Fragen des Antragstellers „sich nicht stellten". Damit habe Minister Gnauck die Anfrage des Antragstellers offensichtlich nicht zur Kenntnis genommen, denn nach den Möglichkeiten, Sanktionen gegen den Ausländerbeauftragten zu verhängen, habe der Antragsteller nicht gefragt. Das sei insbesondere nicht durch die Frage 3 geschehen, die auf eine Aussage der Landesregierung zum inhaltlichen Wert und zur Wichtigkeit der Aussage des Ausländerbeauftragten gezielt habe. Auch hierzu habe Minister Gnauck bewusst und gewollt von einer Antwort abgesehen. Zu dieser Antwortverweigerung sei die Landesregierung nicht berechtigt gewesen. Die für eine solche Weigerung von Art. 67 Abs. 3 S. 1 ThürVerf geforderten inhaltlichen und formalen Voraussetzungen lägen nicht vor. Auf ein Antwortverweigerungsrecht nach Art. 67 Abs. 3 S. 1 ThürVerf habe die Landesregierung sich auch nicht berufen. III. Die Landesregierung beantragt, den Antrag zurückzuweisen. LVerfGE 14

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1. Sie hält den Antrag für unzulässig, weil der Antragsteller die in § 39 Abs. 3 S. 1 Thür\ 7 erfGHG bestimmte Frist nicht eingehalten habe. Auch wenn das vorliegende Organstreitverfahren innerhalb von sechs Monaten nach der Landtagsplenarsitzung vom 24.1.2002 beantragt worden sei, so sei doch für die Fristberechnung auf diejenige Maßnahme abzustellen, durch welche der Antragsteller sich verfassungswidrig betroffen sehe. Dies sei die dem Antragsteller in der Plenarsitzung vom 14.12.2000 vorgetragene Antwort der Landesregierung, denn bereits damals habe die Antragsgegnerin sich eindeutig geweigert, die Forderung des Antragstellers zu erfüllen und die Fragen des Antragstellers über die in der Plenarsitzung vom 14.12.2000 gegebenen Erklärungen hinaus zu beantworten. Die 6Monats-Frist des § 39 Abs. 3 S. 1 ThürVerfGHG sei daher für das hier verfolgte Begehren seit dem 15.6.2001 abgelaufen. Dem stehe nicht entgegen, dass der Antragsteller seine Anfrage vom 10.11.2000 als Drs. 3/2117 erneut zum Inhalt einer Mündlichen Anfrage gemacht habe. Die wörtliche Ubereinstimmung beider Anfragen verbiete, für die zweite Anfrage erneut die Frist des § 39 Abs. 3 S. 1 ThürA^erfGHG einzuräumen, weil ansonsten der Schutzzweck dieser Vorschrift, Rechtssicherheit zu schaffen, verletzt und mithin § 39 Abs. 3 S. 1 ThürVerfGHG umgangen würde. 2. Der Antrag sei auch unbegründet. Die Landesregierung habe weder gegen ihre Verpflichtung aus Art. 67 Abs. 1 ThürVerf verstoßen noch das Fragerecht des Antragstellers aus Art. 53 Abs. 2 ThürVerf verletzt. Der sich aus Art. 53 Abs. 2, 67 Abs. 1 ThürVerf ergebende Auskunftsanspruch verpflichte die Landesregierung nicht zur Mitteilung politischer Bewertungen von Sachverhalten, sondern lediglich zur Mitteilung von Tatsachen und zu sachverhaltsbezogenen Sachauskünften. Nur insoweit könne die Anfrage die Abgeordnetenarbeit unterstützen, strukturelle Wissensdefizite gegenüber der Landesregierung ausgleichen und damit die Erfüllung der Kontrollaufgabe des Parlaments ermöglichen. Dagegen sei es für die Wahrnehmung dieser parlamentarischen Aufgaben unerheblich zu wissen, wie die Landesregierung einen Sachverhalt politisch bewerte. Meinungen, Bewertungen und Werturteile der Landesregierung seien daher nicht Gegenstand des Informationsrechts eines Abgeordneten. Hierauf hätte die Mündliche Anfrage des Antragstellers jedoch gezielt. Die Landesregierung habe im Übrigen die vom Antragsteller geforderte Antwort gem. Art. 67 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 ThürVerf verweigern dürfen, weil eine Antwort die Funktionsfähigkeit und Eigenverantwortung der Landesregierung mehr als nur geringfügig beeinträchtigt hätte. Zu dem damit zugunsten der Exekutive zur eigenen Verantwortung frei gehaltenen Kernbereich öffne auch das Fragerecht dem Abgeordneten keinen Zugang. Daher komme es für die Geltung des Art. 67 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 ThürVerf nicht darauf an, ob die Landesregierung im Einzelfall diesen Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung reklamiert und sich auf das Ablehnungsrecht berufen habe. Es reiche vielmehr aus, wenn die Landesregierung in ihrer dem Landtag gegebenen Erklärung jeweils aufzeige, dass sie es ablehne, die Anfrage weitergehend als geschehen zu beantLVerfGE 14

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worten. Die Voraussetzungen des Art. 67 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 ThürVerf seien in vorliegender Sache gegeben, denn die Entscheidung darüber, ob die Regierung sich in einer politischen Frage festlegen will und wie sie diese Entscheidung dem Landtag vermittelt, gehöre zum Kernbereich der exekutiven Eigenverantwortung und damit in den Schutzbereich des Art. 67 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 ThürVerf. Von daher hätten die Erklärungen von Minister Gnauck ersichtlich zum Ausdruck gebracht, dass die Landesregierung es für angemessen halte, die Arbeit ihres Ausländerbeauftragten nicht dadurch zu erschweren, dass sie dessen Aussage in der politischen Debatte bewertet und in einem politischen Sinn zensiert. IV. Der Thüringer Verfassungsgerichtshof hat über den Antrag mündlich verhandelt. In dieser Verhandlung hat der Thüringer Landtag sich dahin geäußert, dass der Antrag zulässig und begründet sei. B. Der zulässige Antrag ist nicht begründet. I. Der Antrag ist zulässig. Das vom Antragsteller eingeleitete Organstreitverfahren ist in Art. 80 Abs. 1 Nr. 3 ThürVerf, § 11 Nr. 3 ThürVerfGHG vorgesehen. Auch hinsichtlich der sonstigen Zulässigkeitsvoraussetzungen begegnet der Antrag keinen durchgreifenden Bedenken. 1. Für das dem Antrag zugrunde hegende Begehren ist das Organstreitverfahren eröffnet. Art. 53 Abs. 2 ThürVerf stattet jeden Abgeordneten mit einem an die Landesregierung gerichteten Fragerecht aus. Als Mitglied des Thüringer Landtags ist der Antragsteller daher insoweit Träger einer durch die Verfassung zugewiesenen Rechtszuständigkeit iSd Art. 80 Abs. 1 Nr. 3 ThürVerf. Der Antragsteller legt auch im Einzelnen dar, aus welchen Gründen er diese Rechtszuständigkeit durch die Landesregierung verletzt sieht. Es ist auf der Grundlage dieses Vorbringens nicht von vornherein ausgeschlossen, dass die Rügen des Antragstellers begründet sind. Das gilt sowohl hinsichtlich der Verletzungshandlung der Landesregierung als Antragsgegnerin wie hinsichtlich der Folgen dieser Handlung als Eingriff in das Fragerecht nach Art. 53 Abs. 2 ThürVerf einerseits, wie einer ungenügenden Erfüllung der sich für die Landesregierung aus Art. 67 ThürVerf ergebenden Pflichten andererseits. 2. Der Antrag ist innerhalb der von § 39 Abs. 3 S. 1 ThürVerfGHG für Organstreitverfahren bestimmten Antragsfrist gestellt. Danach muss das Organstreitverfahren binnen sechs Monaten, nachdem die beanstandete Maßnahme dem Antragsteller bekannt geworden ist, beim Thüringer Verfassungsgerichtshof anLVerfGE 14

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hängig geworden sein. Diese Frist ist eingehalten, denn der Antragsteller wendet sich mit seinem Antrag vom 14.6.2002 gegen das Antwortverhalten der Landesregierung in der Plenarsitzung des Thüringer Landtags vom 24.1.2002. Dieser Antrag ist nicht deswegen verspätet, weil der Antragsteller eine die Erklärungen des Ausländerbeauftragten der Landesregierung gegenüber dem Innenausschuss des Thüringer Landtags am 9.11.2000 betreffende Mündliche Anfrage bereits im November 2000 eingebracht hatte und weil die Landesregierung bereits in der Landtagssitzung vom 14.12.2000 auf diese Anfrage in ähnlicher, damals vom Antragsteller schon als rechtsverletzend empfundener Weise eingegangen war. § 39 Abs. 3 S. 1 ThürVerfGHG verknüpft den Beginn der Antragsfrist mit einer eine verfassungsrechtliche Beschwer auslösenden Maßnahme oder Unterlassung. Ist ein als Eingriff in die Rechtsstellung des Antragstellers generell geeigneter Lebenssachverhalt feststellbar, so bewirkt er den Beginn des Fristablaufs grundsätzlich ungeachtet dessen, dass ein vergleichbarer Lebenssachverhalt zeitlich so weit zurückliegt, dass er zulässigerweise nicht mehr zum Gegenstand eines Organstreitverfahrens gemacht werden kann. Dies folgt daraus, dass die jüngere Maßnahme oder Unterlassung wegen ihrer Aktualität und ihrer Gegenwartswirkung in der Regel als neue Maßnahme zu qualifizieren ist. Im vorliegenden Fall hat die Mündliche Anfrage vom 9.1.2002 erkennbar eine nicht (nur) auf die Verhältnisse im November 2000, sondern (ebenso) auf die aktuellen \^erhältnisse im Januar 2002 bezogene Antwort verlangt. Dies folgt nicht nur aus dem Gesamtzusammenhang der gestellten Fragen, sondern auch daraus, dass der Antragsteller in seiner Anfrage die „erneute Aktualität und Wichtigkeit der Auseinandersetzung mit dieser Thematik" vor dem Hintergrund des im November 2001 von der Landesregierung vorgelegten 2. Berichts zu Radikalismus und Extremismus im Freistaat Thüringen ausdrücklich hervorgehoben hat. Es kann daher dahinstehen, ob und unter welchen Voraussetzungen der Antwort auf eine wiederholte Anfrage ausnahmsweise ein selbständiger Rechtsverletzungswert abgeht. Auch kommt es nicht darauf an, ob mit Zutun der Landesregierung während des Jahres 2001 ein Sachverhalt geschaffen wurde, aus dem der Antragsteller das Vertrauen ableiten durfte, nach Klärung der am 14.12.2000 streitig gewordenen rechtlichen Fragen im Altestenrat und im Justizausschuss des Thüringer Landtags werde seine — des Antragstellers — Mündliche Anfrage vom 9.11.2000 nochmals Gegenstand einer Antwort der Landesregierung sein mit der Folge, dass die im Dezember 2000 gegebene Antwort den vom Antragsteller behaupteten Rechtseingriff noch nicht auf Dauer bewirkt hätte und dass der Antragsteller über die endgültige Haltung der Landesregierung und damit über die Frage einer etwaigen Verletzung seiner verfassungsmäßigen Rechte bis zum Januar 2002 keine abschließende Klarheit hätte gewinnen können (vgl. ThürVerfGH, Beschl. v. 11.3.1999, - V e r f G H 12/98 LVerfGE 10, 500, 513).

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II. Der Antrag hat in der Sache keinen Erfolg. Die von der Landesregierung zur Mündlichen Anfrage vom 9.1.2002 (Drs. 3/2117) abgegebenen Erklärungen verletzen den Antragsteller nicht in seinem Recht aus Art. 53 Abs. 2 ThürVerf. 1. Der Antragsteller hat die Mündliche Anfrage vom 9.1.2002 mit zulässigem Inhalt an die Landesregierung gerichtet. Auch wenn Art. 53 Abs. 2 ThürVerf das Fragerecht des Abgeordneten nicht an die Erfüllung besonderer Voraussetzungen knüpft, ergeben sich inhaltliche Grenzen des parlamentarischen Fragerechts aus allgemeinen Erwägungen betreffend den Zusammenhang von Frage und Antwort sowie aus der Verfassungsfunktion des parlamentarischen Fragerechts, Mittel zur Behebung von Informationsdefiziten auf Seiten des bzw. der Abgeordneten zu sein. Der dem Fragerecht von Verfassungs wegen zukommende Zweck sowie der Zusammenhang von Frage und Antwort bewirken als Grundvoraussetzung des Fragerechts, dass eine Frage in ihrem Anliegen inhaltlich bestimmbar ist, dass es zu diesem Inhalt eine Antwort gibt und dass sie auf ein Themenfeld zielt, zu dem der Befragte „etwas zu sagen hat". Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Die Mündliche Anfrage vom 9.1.2002 hat einen eindeutigen Inhalt. Sie ist mit diesem Inhalt auch beantwortbar. Der Antragsteller erwartet dazu eine Antwort aus einem Themenfeld, für das die Landesregierung zuständig ist. Die Anfrage gilt zwar nicht vorrangig und allein der Position der Landesregierung zu dem Thema „Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus in Thüringen". Es geht dem Antragsteller in erster Linie um einen Positionsvergleich, indem er die Haltung der Landesregierung in Bezug bringen will zu den Äußerungen des Ausländerbeauftragten in der Innenausschusssitzung vom 9.11.2000. Aber auch mit diesem relativierten Gehalt kann die Anfrage des Antragstellers (nur) aus dem Kompetenzbereich der Landesregierung heraus beantwortet werden, denn der Ausländerbeauftragte nimmt zweifelsfrei Aufgaben der vollziehenden Gewalt wahr und ist daher der Personalhoheit der Landesregierung unterstellt. Deswegen hat die Landesregierung die Kompetenz, etwas darüber zu sagen, ob Verhaltensweisen ihres Ausländerbeauftragten in Einklang stehen mit den eigenen, kooperativ durch die Regierung definierten Positionen, seien sie eher generell zu einem Themenkreis gebildet oder eher konkret zu einer bestimmten Einzelfrage, eher tatsachenbezogen oder eher meinungsorientiert. 2. Weiteren inhaltlichen, aus der Natur des Fragens oder der Verfassungsfunktion des parlamentarischen Fragerechts sich ergebenden Beschränkungen unterliegt das in Art. 53 Abs. 2 ThürVerf statuierte Fragerecht nicht. a) Das Fragerecht scheitert nicht daran, dass eine Fragestellung auf den Bereich zielt, für den die Landesregierung Eigenverantwortung in Anspruch nehmen darf. Parlamentarische Anfragen betreffen ihrer Natur nach das Tätigkeitsfeld der Exekutive. Sie sind in Thüringen auch dort nicht ohne weiteres unzulässig, wo sie LVerfGE 14

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den sog. Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung ansprechen. Es kann hier dahin stehen, ob ein Hineindringen in diesen von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 67, 100, 139) und der Landesverfassungsgerichte (vgl. LVerfG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 17.1.2000 - LVG 6/99 NVwZ 2000, 671, 672) anerkannten Freiraum dem Fragerecht dahingehend Grenzen setzt, dass eine Frage von vornherein unzulässig ist oder ob er der Exekutive nur ein Antwortverweigerungsrecht gewährt. Die Thüringer Verfassung hat diese Frage in Art. 67 Abs. 3 jedenfalls in dem zuletzt genannten Sinn beantwortet, so dass eine im Thüringer Landtag eingebrachte parlamentarische Anfrage nicht allein deswegen als nicht beantwortungsfähig zu qualifizieren ist, weil sie in diesem Kernbereich exekutive Eigenverantwortung hinein reicht. b) Die Mündliche Anfrage des Antragstellers ist auch nicht deswegen von vornherein unzulässig, weil sie als Antwort keine Auskunft über die im Verantwortungsbereich der Landesregierung angesiedelten Tatsachen oder Tatsachenzusammenhänge im Sinne objektivierbarer Sachverhalte erwartet, sondern in allen Teilen von der Landesregierung eine Antwort betreffend die subjektive Tatsache eines Meinungsbildes verlangt. Dem steht nicht entgegen, dass es dem Antragsteller - auch in Frage 3 — letztlich darum geht, Klarheit zu haben darüber, ob zwischen der Meinung der Landesregierung und der ihres Ausländerbeauftragten, soweit sie sich aus dem am 9.11.2000 Gesagten ergibt, Deckungsgleichheit besteht oder Distanz. Der so erfragte Abstand ist nicht selbst ein objektivierbarer Sachverhalt, weil er sich nur aus einem Vergleich subjektiver Tatsachen, eben der Meinungsbefunde der Landesregierung und ihres Ausländerbeauftragten ergibt. Gleichwohl ist eine solche, auf Erkundung des Meinungsstands der Landesregierung angelegte Frage nicht von vornherein und prinzipiell dem Schutzbereich des Art. 53 Abs. 2 ThürVerf entzogen. Eine Unterscheidung danach, ob ein Abgeordneter über einen objektivierbaren Sachverhaltskomplex oder über einen Meinungsbefund Auskunft begehrt, findet im Wortlaut des Art. 53 Abs. 2 ThürVerf keine Stütze. Sie lässt sich auch nicht aus der Entstehungsgeschichte dieser Verfassungsnorm rechtfertigen. In Art. 53 Abs. 2 ist die zu Art. 38 Abs. 1, 43 Abs. 1 GG geführte Diskussion über die Grundlagen und den Umfang des parlamentarischen Fragerechts dergestalt eingeflossen, dass das Diskussionsergebnis — wie schon in anderen Landesverfassungen geschehen - in den Text der Thüringer Verfassung aufgenommen worden ist. Zu dieser Diskussion gehört auch die Aussage des Bundesverfassungsgerichts, das Fragerecht ziele bzw. die Beantwortung der Anfrage erschöpfe sich „in aller Regel in der Mitteilung von Tatsachen und in der Äußerung einer Meinung" (BVerfGE 57, 1, 5; 13, 123, 125). Es ist daher ständige Staatspraxis des Bundes, die Erkundung einer Meinung der Bundesregierung bezweckende Fragen nicht von vornherein als unzulässig auszuschließen (vgl. "Rüt^el/Hücker/Schreiner Handbuch für die Parlamentarische Praxis, Stand 2002, Vorbemerkung 3 c zu §§ 100 bis 106). In gleicher Weise ist in der Praxis des Thüringer Landtags bislang nicht danach unterschieden worden, ob eine parlamentariLVerfGE 14

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sehe Anfrage auf Meinungserkundung gerichtet ist oder ob sie Informationen über einen objektivierbaren Sachverhaltskomplex erstrebt. Die Unterscheidung von zulässigen Tatsachen- und unzulässigen Meinungsanfragen lässt sich, entgegen der Ansicht der Landesregierung, auch nicht mit dem Zweck des parlamentarischen Fragerechts begründen. Eine solche Eingrenzung widerspricht der Funktion des Fragerechts. Sie ist auch in der parlamentarischen Praxis nicht umsetzbar. Zwar trifft es zu, dass sämtliche, um das sog. Interpellationsrecht des Parlaments herum entstandenen verfassungskräftigen parlamentarischen Rechte sich im Zusammenhang mit den den Parlamenten gestellten Aufgaben entwickelt haben, die Ausübung der vollziehenden Gewalt zu überwachen und die in die Zuständigkeit der Landesregierung gehörenden öffentlichen Angelegenheiten zu behandeln (vgl. Art. 48 Abs. 2 ThürVerf). So ist das Kontrollrecht des Parlaments dazu bestimmt und geeignet, ein strukturelles Wissensdefizit des Parlaments, insbesondere der Parteien, welche in Opposition zu der oder den die Regierung tragenden Partei(en) stehen, auszugleichen. Es ist auch richtig, dass dieser unterschiedliche Kenntnisstand von Parlament und Exekutive vorrangig durch Hergabe tatsachenorientierter Sachinformationen auszugleichen ist. Dennoch verbleibt ein Bereich, in dem das parlamentarische Fragerecht legitimerweise auf die Erkundung der Bewertung eines bestimmbaren, begrenzten Sachverhaltskomplexes, aber auch eines gesamten Politikfeldes im Sinne eines weiten, thematisch verbundenen Sachzusammenhangs gerichtet sein darf. Dies folgt aus Art. 48 Abs. 2 ThürVerf, der als eine der Aufgaben des Landtags das Behandeln der in die Landeszuständigkeit gehörenden Angelegenheiten bezeichnet. Diese Aufgabe kann der Landtag nur dann sinnvoll wahrnehmen, wenn er seine Erörterungen auf der Grundlage einer hinreichend zuverlässigen Kenntnis der Meinung führen kann, welche die Landesregierung zu einem Diskussionsthema hat. Das Fragerecht ist daher auch und gerade in seiner Kontrollaufgabe ein wichtiger Teil des politischen Diskurses (vgl. BVerfGE 70, 324, 355). Diesen gewährleistet Art. 48 Abs. 2 ThürVerf auch mit Blick auf das Demokratieprinzip, denn mit dem fundierten Diskurs sichert das Fragerecht der Abgeordneten die Chance der parlamentarischen Minderheiten, bei künftigen Wahlen die Mehrheit zu erringen. Das Fragerecht auf Tatsachen zu verkürzen, würde dieser Funktion widersprechen, Meinungsbefunde der Regierung zu erfragen und die Antworten, auch soweit sie verweigert worden sind, in diesen sich ständig erneuernden, öffentlichen parlamentarischen Prozess einzubringen. Letztlich sind auch die auf Sachaufklärung gerichteten Fragen und die der Meinungserkundung dienenden, sog. Tendenzanfragen nicht mit hinreichender Genauigkeit zu trennen. Würde eine solche Trennung dennoch versucht, bestünde die Gefahr, den parlamentarischen Diskurs, soweit er auf das Fragerecht zurückgreift, nicht auf die die Parlamentarier wie die Öffentlichkeit bewegenden Problemfelder zu lenken, sondern in der formalen Debatte darüber „versanden" zu lassen, ob Meinungen oder Tatsachen erfragt werden. LVerfGE 14

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3. Dem sich aus Art. 53 Abs. 2 ThürVerf ergebenden Fragerecht entspricht eine Beantwortungspflicht der Landesregierung dergestalt, dass eine gem. Art. 53 Abs. 2 ThürVerf zulässige Frage substantiell, wahrheitsgemäß und vollständig beantwortet werden muss. Dies folgt aus Art. 67 Abs. 1 ThürVerf, wonach die Landesregierung parlamentarische Anfragen unverzüglich zu beantworten hat. Einen eigenständigen, das Fragerecht von der Antwortverpflichtung begrenzenden Gehalt hat Art. 67 Abs. 1 ThürVerf nicht. Art. 67 setzt dem Fragerecht keine inhaltlichen Grenzen. Es ist hier in Absatz 3 lediglich das Recht der Landesregierung verankert, bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen die Antwort auf eine Parlamentsanfrage zu verweigern. Soweit die Landesregierung meint, Art. 67 ThürVerf sei so zu verstehen, dass eine inhaltlich unzulängliche Antwort gewissermaßen überholend dadurch gerechtfertigt wäre, dass Art. 67 Abs. 3 ein Antwortverweigerungsrecht gewährt hätte, ist ihr nicht zu folgen. Es kann dahinstehen, ob ein mögliches Antwortverweigerungsrecht eine tatsächlich eingetretene Antwortpflichtverletzung heilt. Dieser Frage ist deswegen nicht nachzugehen, weil Art. 67 Abs. 3 ThürVerf für das Antwortverweigerungsrecht neben der Erfüllung materieller Voraussetzungen auch die Wahrung einer Formalität verlangt. Die Landesregierung darf, gestützt auf Art. 67 Abs. 3 ThürVerf, eine Antwort nur verweigern, wenn sie sich im Zusammenhang mit der die jeweilige Parlamentsanfrage betreffenden Erklärung gegenüber dem Thüringer Landtag auf dieses Recht beruft. Dieses formelle Element des Art. 67 Abs. 3 S. 1 ThürVerf erschließt sich aus Art. 67 Abs. 3 S. 2. Danach hat die Landesregierung auf Anforderung zu begründen, warum sie die Antwort auf eine parlamentarische Anfrage ablehnt. Diese Begründungspflicht wird in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung überzeugend als Bestandteil des parlamentarischen Fragerechts verstanden (vgl. VerfGH NW, Urt. v. 4.10.1993, DVB1. 1994, 48, 52; BayVerfGH, Urt. v. 17.7.2001, BayVBl. 2001, 657, 658; SächsVerfGH, LVerfGE 8, 282, 287), denn nur, wenn die Landesregierung nachvollziehbar ihre Weigerung darlegt, ist feststellbar, ob sie die Antwort zu Recht verweigert hat. Ein solches Begründungsverlangen setzt voraus, dass der Rückgriff auf Art. 67 Abs. 3 S. 1 ThürVerf dem Anfragenden erkennbar ist. Diese Erkennbarkeit ist nur gewährleistet, wenn sich die Landesregierung im direkten Zusammenhang mit ihrer die Erledigung der parlamentarischen Anfrage betreffenden Stellungnahme auf das Antwortverweigerungsrecht — zunächst noch ohne Begründung - beruft. Die verfassungsrechtliche Stellung der Landesregierung im System des gewaltengeteilten Rechtsstaats wird nicht dadurch zu ihrem Nachteil verändert, dass sie, wenn sie eine Parlamentsanfrage aus Gründen des Art. 67 Abs. 3 S. 1 ThürVerf nicht beantworten will, diese Entscheidung bekannt macht. Damit ist die Frage, wie die Wahrung des Kernbereichs ihrer Eigenverantwortung sich auf den Inhalt der von der Landesregierung auf Verlangen zu gebenden Begründung auswirkt, noch nicht gestellt. Nur mit ihr können die von der Landesregierung vorgetragenen Gesichtspunkte zur Wirkung gelangen. Da die Landesre-

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gierung sich weder am 24.1.2002 noch am 14.12.2000 auf Art. 67 Abs. 3 S. 1 ThürVerf berufen hat, kann daher offen bleiben, ob die Fragen des Antragstellers tatsächlich in den durch diese Vorschrift geschützten Eigenverantwortungsbereich der Landesregierung eingegriffen haben. 4. Aus diesen Feststellungen folgt nicht ohne weiteres, die Landesregierung habe die Mündliche Anfrage des Antragstellers vom 9.1.2002 unter allen Umständen so beantworten müssen, dass der Antragsteller erkennen kann, ob die erfragte Meinungsrelation besteht bzw. wie sie sich in Bezug auf bestimmte Erklärungen des Ausländerbeauftragten der Landesregierung auswirkt. Die besondere Problematik dieser Anfrage liegt darin, dass der Antragsteller von der Landesregierung begehrt, ihn über einen Meinungsbefund zu unterrichten, der seinerseits das Ergebnis eines sich innerhalb der Landesregierung vollziehenden Bewertungsvorgangs ist. a) Wann der Befragte die an ihn gerichtete Frage beantwortet hat, ist vom Inhalt der Frage her festzustellen. Mit ihr formuliert der Fragende ein Thema, welches Gegenstand der Frage ist. Auf diesen Gegenstand hat der Befragte sich einzulassen, indem seine Antwort darauf zielt, das der Frage innewohnende, stillschweigend behauptete Wissensdefizit zu beseitigen oder zu vermindern. Dieses Grundschema gilt auch für parlamentarische Anfragen. Hier legt der das Fragerecht ausübende Abgeordnete das Fragethema fest, indem er ein Wissensdefizit beschreibt. Die Landesregierung muss ihre Erwiderung an diesem Thema mit dem Ziel ausrichten, dieses Wissensdefizit zu beseitigen oder zu vermindern. Dabei ist sie nicht ausschließlich auf den Fragewortlaut verwiesen; sie ist befugt und gehalten, den wesentlichen Inhalt des Fragethemas zu klären und danach Art und Umfang der Antwort zu bestimmen (VerfGH SL, Urt. v. 31.10.2002, Umdr. S. 14 = NVwZ-RR 2003, 81, 83). Insoweit steht der Landesregierung ein eigenverantwortlich wahrzunehmender Entscheidungsspielraum offen. Dieser unterscheidet sich von dem durch Art. 67 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 ThürVerf geregelten Entscheidungsbereich dadurch, dass es dort um das „Ob" einer Antwort geht, während hier die Landesregierung das „Wie" der Erwiderung eigenverantwortlich definiert. Auch sind die Grenzen des der Landesregierung zur Formulierung ihrer Antwort überlassenen Raums wesentlich enger, denn die Landesregierung entscheidet bei grundsätzlicher inhaltlicher Bindung an das Fragethema nur über den Text ihrer Stellungnahme, wogegen nicht sie die Feststellung trifft, ob die formal der Anfrage geltende Erklärung eine Antwort im vorgenannten Sinn enthält. Auch bei der Formulierung ihrer Antwort unterliegt die Landesregierung rechtlichen Bindungen, denn sie hat das Vollständigkeitsgebot zu beachten. Hat sie, ausgehend vom Fragewordaut, dem erkennbaren Fragebedürfnis (Wissensdefizit) und den sonstigen mit der Frage verfolgten Zwecken das Fragethema selbständig ermittelt, hat sie dieses in seiner vollen Ausdehnung (umfassend) aufLVerfGE 14

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zugreifen und mit ihrer Antwort jedenfalls zu versuchen, aufgrund ihres Kenntnisstandes das Wissensdefizit des Anfragenden erschöpfend (wirklichkeitsgemäß) zu beheben. Dabei kann die Regierung sogar gehalten sein, die Antwort abzulehnen, weil sie — was dem Anfragenden zu erklären ist — wirklichkeitsgetreu nicht erfolgen kann (VerfGH SL, aaO, Umdr. S. 14 = N V w Z - R R 2003, 81, 83). Diese allgemeinen Vorgaben an die nach Art. 67 Abs. 1 ThürVerf geschuldeten Antworten sind nach den Bedingungen des jeweiligen Einzelfalls zu konkretisieren. Dabei erhält der von der Landesregierung angesprochene Unterschied zwischen auf äußere Tatsachen bezogenen Fragen und solchen Fragen, die auf die Erkundung einer Meinung zielen, Gewicht. Erstrebt eine Anfrage Auskunft über einen zum Zuständigkeitsfeld der Landesregierung gehörenden objektivierbaren Tatsachenkomplex, so erfüllt die Landesregierung ihre Beantwortungspflicht aus Art. 67 Abs. 1 ThürVerf nur mit einer umfassenden, nach bestem Wissen wirklichkeitsgemäßen Antwort, denn Tatsachenbefunde sind unverrückbare Grundgrößen für die Beantwortung exekutiven Verhaltens. Mag die Exekutive und an ihrer Spitze die Landesregierung an sie auch künftig eigenständige Entschließungen anknüpfen, so rechtfertigt diese Entschließungsverantwortung nicht das Verheimlichen von Tatsachenbefunden (vgl. VerfG MV, Urt. v. 19.12.2002, LVerfGE 5/02, Umdr. S. 20 ff). b) Anders verhält es sich dort, wo die Anfrage tendenziellen Charakter hat, d.h. wo von der Landesregierung eine meinungsmäßige Stellungnahme auf einem öffentlich strittigen Problemfeld gefordert wird. Bei Tendenzfragen besteht das Wissensdefizit des fragenden Abgeordneten darin, dass er nicht weiß, ob im „Schoß" der Landesregierung eine subjektive Tatsache, nämlich eine Sachverhaltsbewertung existiert. Eine solche Frage fordert von der Landesregierung mehr als die Beseitigung des Wissensdefizits durch Information über den Meinungsbefund als subjektive Tatsache. Verlangt wird — wenn auch unausgesprochen — die Herstellung eines Meinungsbildes, sofern sie bislang unterblieben ist. Insoweit wird das Fragerecht des Abgeordneten verlassen, denn diesem ist entsprochen, wenn die Landesregierung mitteilt, dass der Meinungsbefund nicht vorliegt. Mit dieser Antwort erfüllt die Landesregierung ihre Pflicht aus Art. 67 Abs. 1 ThürVerf. Eine Pflicht zu vorgängiger Meinungsbildung lässt sich aus Art. 67 Abs. 1, 53 Abs. 2 ThürVerf grundsätzlich nicht ableiten. Zwar kann sich auch hier die Landesregierung der Anfrage, beruft sie sich nicht auf Art. 67 Abs. 3 S. 1 ThürVerf, nicht rundweg verweigern. Auch unterliegt sie bei der Beantwortung von Tendenzanfragen dem Vollständigkeitsgebot. Ob dem Vollständigkeitsgebot Genüge getan ist, hängt indes davon ab, ob die Landesregierung die v o m Fragethema angesprochene Meinung gefasst, also einen Sachkomplex mit diesem Ziel zumindest teilweise abschließend bewertet hat. Hat die Landesregierung eine solche Bewertung bislang nicht vorgenommen, begründet das parlamentarische Fragerecht auf Seiten der Regierung grundsätzlich keine Pflicht zur Wertung und MeinungsbilLVerfGE 14

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dung, denn Art. 67 Abs. 1 ThürVerf bleibt auch insoweit mit Art. 53 Abs. 2 ThürVerf deckungsgleich, als er keine über das Beantworten der Anfragen hinausreichenden Pflichten der Landesregierung begründet. Hinsichtlich des einem Meinungsbild zugrunde liegenden Wertungsvorgangs verbleibt der Landesregierung ein eigenverantwortlich wahrzunehmender Entscheidungsspielraum. Dieser umschließt nicht nur — was sich von selbst versteht — die Wertungsinhalte, zu ihm gehört auch die Entscheidung, überhaupt in einen solchen Prozess einzutreten. Dieses der Landesregierung im Zusammenhang mit auf Meinungserkundung gerichteten Parlamentsanfragen zustehende Entschließungsermessen verbleibt außerhalb des in Art. 67 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 ThürVerf angesprochenen Kernbereichs exekutiver Eigenverantwortung, denn dort ist in Bezug auf das verfassungskräftige Fragerecht aus Art. 53 Abs. 2 ThürVerf ein Antwortverweigerungsrecht statuiert, wogegen hier im Vorfeld des Fragens und Antwortens die Handlungsfreiheit der Regierung in Rede steht. Diese Unterscheidung ergibt sich nicht nur äußerlich aus der Begrifflichkeit des Fragens und damit des Fragerechts. Sie beruht letztlich auf dem Prinzip der Eigenständigkeit der drei Staatsgewalten. Diese Eigenständigkeit hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 18.12.1984 wie folgt hervorgehoben (BVerfGE 68, 1, 87): „ . . . Die konkrete Ordnung der Verteilung und des Ausgleichs staatlicher Macht, die das Grundgesetz gewahrt wissen will, darf nicht durch einen aus dem Demokratieprinzip fälschlich abgeleiteten Gewaltenmonismus in Form eines allgemeinen Parlamentsvorbehalts unterlaufen werden. Auch der Grundsatz der parlamentarischen Verantwortung der Regierung setzt notwendigerweise einen Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung voraus . . . "

5. Es kann dahinstehen, ob aufgrund des dem parlamentarischen Fragerecht inhärenten Wahrheitsprinzips die Landesregierung eine Meinungsbildungspflicht trifft, wenn sie einen Sachverhaltskomplex aus anderen Gründen als denen der Parlamentsanfrage bewerten muss. Eine solche Bewertungspflicht kann sich für die Landesregierung aus dem Rechtsstaatsprinzip, genauer aus dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, oder aus dem Gleichheitsgrundsatz ergeben. Der Gesetzmäßigkeitsgrundsatz verpflichtet die Exekutive und mit ihr an ihrer Spitze die Landesregierung, Sachverhalte zur Kenntnis zu nehmen, sie in Bezug zu einer gesetzlich geregelten Materie zu bringen, sie ggf. zu bewerten und zu prüfen, ob und wie auf den Sachverhalt zu reagieren sei. In entsprechender Weise hat die Exekutive zu handeln, wenn lediglich der Gleichbehandlungsgrundsatz einen Sachverhaltskomplex mit dem Gesetzesrecht verbindet und sich nicht die Frage einer direkten Rechtsverletzung und eines hieraus folgenden Handlungsbedarfs stellt, sondern nach der Vergleichbarkeit des nicht gesetzlich geregelten Sachverhalts mit dem Gesetzesrecht und der Notwendigkeit, gefragt wird, dieses zur Diskriminierungsvermeidung anzupassen. Zur Wertung und Meinungsbildung verpflichtet ist die Landesregierung insbesondere im Hinblick auf die Dienstordnungsmäßigkeit von Verhaltensweisen ihrer Amtsträger. Insoweit beherrscht die

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Amtsermittlungspflicht des Disziplinarrechts (vgl. § 27 Abs. 1 Thüringer Disziplinargesetz) die gesamte Exekutive. Die Landesregierung kann daher eine Anfrage betreffend eine dienstordnungsrechtliche Würdigung des Verhaltens einer Beamtin, eines Beamten oder eines sonstigen Bediensteten nicht damit beantworten, dass sie es ablehne, sich insoweit eine Meinung zu bilden. Sie hat sich vielmehr dahin zu erklären, ob sie eine Bewertung vorgenommen hat und zu welchem Ergebnis sie dabei gelangt ist. Soweit danach gefragt wird, muss die Landesregierung auch die dieses Ergebnis tragenden Gründe mitteilen, soweit nicht vorrangige Gesichtspunkte wie z.B. das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen berührt sind. In ähnlicher Weise hat die Landesregierung ihr Antwortverhalten zu gestalten, wenn sie im Hinblick auf den Gesetzmäßigkeits- und Gleichbehandlungsgrundsatz anderweitig zu Wertung und Meinungsbildung verpflichtet ist. Letztlich können diese Erwägungen auf sich beruhen, weil der Antragsteller ausdrücklich nicht nach der dienstordnungsrechtlichen Bewertung der Erklärungen des Ausländerbeauftragten vom 9.11.2000 fragt und weil auch sonst nicht erkennbar ist, inwiefern das Gesetzmäßigkeitsprinzip oder der Gleichbehandlungsgrundsatz die Landesregierung zu der von ihr durch die parlamentarische Anfrage des Antragstellers geforderten Bewertung und Meinungsbildung anhalten könnten. Es braucht ferner nicht entschieden zu werden, ob der Landesregierung gegenüber dem Parlament, ungeachtet der auch in der Thüringer Verfassung angelegten Eigenständigkeit der Exekutive, eine Meinungsbildungspflicht auch daraus erwachsen kann, dass dieser grundsätzlichen Trennung beider Staatsgewalten ein verbindendes Element eigen ist. Gesetzgebung und vollziehende Gewalt haben die gemeinsame Aufgabe, das Leben in der rechtlich verfassten Gemeinschaft politisch zu gestalten. Dazu sind die Erfordernisse des gemeinen Wohls leitbildmäßig zu bestimmen, in konkrete Entscheidungsanweisungen zu generalisieren und sodann in Einzelentscheidungen zu individualisieren. Dabei werden die Bestimmungsdaten und EntscheidungsSachverhalte von „unten" nach „oben", das heißt vom Individuell-Konkreten zur Abstraktheit von Leitbild und Gesetz ebenso zur Verfügung gestellt, wie sie in anderer Richtung aus der Allgemeinheit des Gesetzes bei dessen Konkretisierung abzuleiten sind. Dieser Elementarkonnex der selbständigen Staatsgewalten innerhalb des Verfassungssystems hindert sie, sich gegenseitig zu ignorieren und auf diese Weise zu bewirken, dass die Erfüllung der gemeinsamen, durch die Verfassung näher ausgestalteten, Aufgaben beeinträchtigt ist. Zu den verfassungsmäßigen Aufgaben und Pflichten des Parlaments gehört die Kontrolle der Ausübung der vollziehenden Gewalt (Art. 48 Abs. 2 ThürVerf). Damit konstituiert Art. 48 Abs. 2 ThürVerf eine ständige Kontaktbeziehung zwischen Landtag und Landesregierung. Diese hat die Landesregierung nicht nur hinzunehmen. Sie muss im Rahmen der Verfassungsordnung ihrerseits sicherstellen, dass die dem Landtag übertragene Aufgabe erfüllbar bleibt. Dabei hat das Fragerecht des Parlaments eine hervorgehobene Bedeutung (Lieck in: Linck/ LVerfGE 14

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Jutzi/Hopfe, ThürVerf, Art. 48 Rn. 26). Art. 53 Abs. 2 und Art. 67 ThürVerf geben diesem Grundzusammenhang der Verfassungsordnung besonderen Ausdruck. So könnte sich eine weitere Relativierung des eigenverantwortlich auszuübenden Rechts der Landesregierung ergeben, sich zu einem Sachverhaltskomplex eine Meinung zu bilden oder das nicht zu tun, in Bezug auf Sachverhalte, welche als solche oder wegen ihrer Auswirkungen ein besonderes öffentliches Interesse erfahren und dem Verantwortungsbereich der Landesregierung angehören. Diese Relativierung würde jedoch nicht unmittelbar in eine Bewertungspflicht der Landesregierung münden. Innerhalb des Freiraums eigenständiger Entscheidung über eine Meinungsbildung hätte die Landesregierung auch darüber zu befinden, ob der infrage stehende Sachverhalt im Hinblick auf seine allgemeine Bedeutung eine Bewertung und Meinungsbildung erfordert. Insoweit überlagerte das Fragerecht des Parlaments nicht den Bewertungsfreiraum der Landesregierung dergestalt, dass es für die Notwendigkeit der Meinungsbildung auf die Sicht des Trägers des Fragerechts ankäme. Wäre dies so, wäre das Fragerecht bei Tendenzanfragen immer auch die Grundlage nicht nur einer Beantwortungspflicht, sondern — dieser vorangehend — auch einer Bewertungs- und Meinungsbildungspflicht. Dies wiederum wäre mit dem die Gesamtkonstitution tragenden Prinzip der Trennung der Staatsgewalten nicht zu vereinbaren. Es ist daher zunächst Sache der Landesregierung, darüber zu befinden, wie sie die Bedeutung eines öffentlich diskutierten Sachverhalts im Hinblick auf die Notwendigkeit einer Meinungsbildung einstuft. Kommt sie dabei zu dem Ergebnis, dass eine solche Notwendigkeit nicht bestehe, hat sie dies dem Landtag zu eröffnen, falls sie nach ihrer Meinung gefragt wird. Insoweit entscheidet die Landesregierung nicht frei nach ihrem Gutdünken. Die durch Art. 48 Abs. 2 ThürVerf begründete Kooperationspflicht der Verfassungsorgane setzt auch hier der Beurteilungsfreiheit der Landesregierung einen rechtlichen Rahmen. Andererseits umfasst das Verständnis der Eigenständigkeit der Exekutive als Staatsgewalt und der sie als Verfassungsorgan verkörpernden Landesregierung die Notwendigkeit, dieser hinsichtlich der Beurteilung der für das Regierungshandeln bestimmenden Tatsachen ein Beurteilungsfeld zu eröffnen, auf welchem sie in jeder Hinsicht eigenständig, d.h. ohne Außenkontrolle, entscheidet. Dies bestätigt Art. 67 Abs. 3 ThürVerf, soweit es darum geht, ob die Landesregierung die Antwort auf eine Parlamentsanfrage überhaupt verweigern darf. Dieser weite Beurteilungsspielraum käme auch dort zum Tragen, wo es darum geht zu beurteilen, ob ein Sachverhalt, zu dem die Meinung der Landesregierung erfragt ist, eine die Meinungsbildungspflicht auslösende besondere allgemeine Bedeutung hat. Da indes die Landesregierung einen Sachverhalt nicht lediglich unter Heranziehung interner Erwägungen definiert, sondern weil dieser Sachverhalt auch objektiv von außen her als gegeben oder nicht gegeben beurteilt werden kann, würde sich der Beurteilungsspielraum der Landesregierung auf das Zur-Geltung-Bringen der spezifischen

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exekutivinternen Bewertungsgesichtspunkte beschränken. Daher würde die Feststellung der Landesregierung, ihre Meinungsbildung sei zu einem Fragethema ohne herausgehobene Allgemeinbedeutung erfragt, der — wenn auch beschränkten - Nachprüfung dahingehend unterliegen, ob es vertretbar ist, diese Feststellung zur herausgehobenen Bedeutung des Fragethemas so zu treffen, wie die Landesregierung sie getroffen hat. Eine solche Feststellung kann in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren erfolgen. Diese Relativierung der Meinungsbildungsfrclheit würde weder die Handlungsfähigkeit der Landesregierung noch die Aufgabenerfüllung des Thüringer Landtags beeinträchtigen. Auch wenn diesem letztlich die erfragte Meinung der Regierung nicht bekannt wird, so erfährt der Landtag doch, warum dies so ist. Er kennt die Tatsache, dass die Landesregierung eine von ihr geforderte Beurteilung nicht für notwendig oder geboten erachtet hat. Hieran kann der politische Diskurs anknüpfen, in welchen die Kontrollfunktion des Landtags nach Art. 48 Abs. 2 ThürVerf regelmäßig mündet. Im vorliegenden Fall wäre daher die Landesregierung danach gehalten, die zur Beantwortung der Mündlichen Anfrage vom 9.1.2002 erforderlichen Wertungen nur vorzunehmen, wenn das zum Gegenstand der Parlamentsanfrage gemachte Thema als im besonderen Maß das Allgemeininteresse berührend zu qualifizieren wäre. Diese Voraussetzung würde zweifellos für das Generalthema der Innenausschuss-Enquete vom 9.11.2000, die Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus in Thüringen, zutreffen. Es wäre indes von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, wenn die Landesregierung den vom Antragstelicr thematisierten Sachverhalt, nämlich die vom Ausländerbeauftragten der Landesregierung bei dieser Expertenanhörung abgegebenen Erklärungen nicht als ein in diesem Sinne wichtiges Thema auffasste, denn es geht hier nicht um die Position der Landesregierung zu dem Generalthema selbst, sondern — wie eingangs ausgeführt — um die Klärung einer möglichen Divergenz zwischen der Meinung des Ausländerbeauftragten und der politischen Position der Landesregierung. 5. War die Landesregierung danach nicht verpflichtet, aus Anlass der Mündlichen Anfrage des Antragstellers vom 9.1.2002 die zur Beantwortung dieser Anfrage erforderlichen Wertungen im Sinn einer Meinungsbildung vorzunehmen, so ist sie doch gehalten, dies dem Fragesteller mitzuteilen. Die aus Art. 48 Abs. 2 ThürVerf abzuleitende Verpflichtung der Verfassungsorgane, aus ihrer jeweils eigenständigen Aufgabe heraus zum Wohl der rechtlich verfassten Gemeinschaft zusammenzuarbeiten, gebietet einen solchen Hinweis, denn ebenso wie das Vorhandensein eines bestimmten Meinungsbildes kann dessen Fehlen Anlass jener politischen Diskussion sein, auf die das Fragerecht nach Art. 53 Abs. 2 und die Beantwortungspflicht in Art. 67 Abs. 1 ThürVerf hin angelegt sind. 6. Die Landesregierung hat durch die von Minister Gnauck am 24.1.2002 dem Thüringer Landtag vorgetragenen Erklärungen die verfassungsmäßigen LVerfGE 14

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Rechte des Antragstellers nicht verletzt. Zwar ist damals die Anfrage v o m 9.1.2002 nicht in dem v o m Antragsteller erwarteten Sinn beantwortet worden. Die Landesregierung befindet sich damit jedoch im Einklang mit der Verfassungsrechtslage. Sie hat von der Befugnis Gebrauch gemacht, die in der Mündlichen Anfrage v o m 9.1.2002 vorausgesetzte Wertung nicht vorzunehmen und sie hat das Parlament hiervon unterrichtet. a) Diese Feststellung trifft zwar nicht auf die Teile der Erklärung zu, welche sich an deren ersten Satz anschließen. In diesen Passagen hat Minister Gnauck im Landtag vorgetragen, wie die Landesregierung ihr Verhältnis zu ihrem Ausländerbeauftragten begreift. Minister Gnauck hat sodann ausgeführt, warum die Landesregierung keinen Anlass sieht, die Äußerungen des Ausländerbeauftragten v o m 9.11.2000 zu zensieren oder zu unterbinden. Schließlich hat der Minister die Position der Landesregierung zum Problemkreis Integration, Fundamentalismus und offene Gesellschaft umrissen. Zu diesen Themen hatte der Antragsteller die Landesregierung jedoch nicht befragt. Das konnte angesichts des eindeutigen Inhalts der Mündlichen Anfrage v o m 9.1.2002 der Landesregierung nicht entgangen sein. Wenn die Landesregierung sich dennoch zu diesen Fragen in einer Weise erklärt, die das Fragethema verfehlt, bleibt die Frage ohne Antwort. Die von Verfassungs wegen gebotene Information über die Absicht der Landesregierung, sich die zur Beantwortung der Parlamentsanfrage notwendige Meinung nicht zu bilden, enthält jedoch der erste Satz der von Minister Gnauck dem Thüringer Landtag am 24.1.2002 vorgetragenen Erklärung. Dort wird auf das verwiesen, was die Landesregierung durch Minister Gnauck am 14.12.2000 im Thüringer Landtag zu der ersten, im Wesentlichen gleichlautenden Mündlichen Anfrage des Antragsstellers v o m 10.11.2000 (Drs. 3/1103) vorgetragen hat. Hieraus konnte der Antragsteller erkennen, wie die Landesregierung sich zu seiner Anfrage verhält. Den Kern der damaligen Erklärung bildet das zu Frage 3 Gesagte. Diese Frage zielt darauf zu erfahren, wie die Landesregierung die Erklärungen des Ausländerbeauftragten hinsichtlich einzelner herausgehobener Teile bewertet. Dazu hat Minister Gnauck ausgeführt, die Landesregierung beabsichtige nicht, diese Bewertung vorzunehmen. Er hat dazu auf das zu den Fragen 1 und 2 Vorgetragene verwiesen. Dort hat der Minister Gnauck sich zum Verhältnis von Landesregierung und Ausländerbeauftragten eingelassen. Die klare Aussage, eine Bewertung nicht vornehmen zu wollen, ist so mit der relativen Selbständigkeit des Ausländerbcauftragtcn auch gegenüber der Landesregierung begründet worden. Damit ist nicht nur die zu Frage 3 vorgetragene Aussage erläutert. Indem die Begründung sich diese Aussage zu Eigen macht, wird deutlich, dass die Landesregierung sich auch einer Meinungsbildung insoweit enthalten will, als es darum geht, Deckungsgleichheit oder Distanz zwischen ihrem Meinungsbild und den die Erklärungen des Ausländerbeauftragten tragenden Erwägungen zu ermitteln. Es liegt im Übrigen auf der Hand, dass mangels einer Bewertung der Einzelpositionen (Frage 3) die Landesregierung auch die zur Beantwortung der Fragen 1 LVerfGE 14

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und 2 notwendige Meinungsbildung nicht hat vornehmen wollen. Der Antragsteller hat die von Minister Gnauck vorgetragene Erklärung in diesem Sinn verstanden. Dies ergibt sich aus der Antragsschrift (Seite 11). Er hält die Weigerung des Ministers (d.h. der Landesregierung), das vom Ausländerbeauftragten am 9.11.2000 Gesagte zu kommentieren, lediglich für unvereinbar mit Art. 53 Abs. 2 ThürVerf, weil er diese Bestimmung unzutreffenderweise dahin versteht, dass sie im Zusammenwirken mit Art. 67 Abs. 1 ThürVerf die Landesregierung auch zur Meinungsbildung verpflichte. Dieser Gehalt der Ministererklärung, die Landesregierung sei nicht bereit zu der zur Beantwortung der Parlamentsanfrage vom 9.1.2002 notwendigen Meinungsbildung, ist nicht dadurch unverständlich geblieben, dass Minister Gnauck sich auf das zur Parlamentsanfrage vom 10.11.2000 am 14.12. Gesagte lediglich bezogen hat, ohne seine damaligen Erklärungen erneut dem Landtag vorzutragen. Es war gerade nach den vielfältigen, die erste Anfrage betreffenden Überlegungen und Diskussionen sowohl im Landtagsplenum als auch im Altestenrat und im Justizausschuss nicht nur dem Antragsteller selbst, sondern allen Abgeordneten bekannt, was Minister Gnauck meinte, als er sich in Satz 1 seiner Erklärung vom 24.1.2002 auf das am 24.12.2000 Gesagte bezogen hat. Diese Aussage ist durch die folgenden, am Fragethema wie ausgeführt vorbeigehenden Passagen der Ministererklärung nicht entwertet worden. Dass die Landesregierung ihre im Dezember 2000 im Landtag vorgetragene Position nicht aufgegeben hat, ergibt sich auch daraus, dass Minister Gnauck im weiteren Verlauf der Aussprache auf das am 24.12.2000 Gesagte mit Nachdruck verwiesen hat (Plenarprotokoll 3. Wahlperiode, S. 4696 oben links). Die Ministererklärung vom 24.1.2002 offenbart nicht, dass die Landesregierung inzwischen doch die Wertungen vorgenommen hat, deren es zur Beantwortung der Mündlichen Anfrage des Antragstellers bedarf. Indem Minister Gnauck die Position der Landesregierung zum allgemeinen Problemkreis „Integration und Fundamentalismus" umrissen hat, hat er lediglich das Meinungsbild der Landesregierung beleuchtet. Dass es ein solches Meinungsbild gibt, versteht sich angesichts der politischen Bedeutung dieses Problemfeldes von selbst. Hieraus kann jedoch nicht gefolgert werden, die Landesregierung habe entgegen der Fingangsbekundung der Ministererklärung das Verhältnis ihres Meinungsbefundes zu dem vom Ausländerbeauftragten am 9.11.2000 Gesagten definiert. 7. Indem die Landesregierung dem Thüringer Landtag am 24.1.2002 ihre Position zur Anfrage des Antragstellers bekannt gegeben hat, ist sie ihren verfassungsrechtlichen Pflichten nachgekommen. Sie hat weder das Fragerecht des Antragstellers aus Art. 53 Abs. 2 ThürVerf noch ihre Beantwortungspflicht aus Art. 67 ThürVerf verletzt. 8. Diese Entscheidung ist mit 5 zu 4 Stimmen zustande gekommen.

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Nr. 2 1. Das besondere, für diätenrelevante Gesetzgebungsverfahren zu beachtende Transparenzgebot erfordert nicht, dass der Landtag der Öffentlichkeit sein Gesetzgebungsverfahren in besonderer Weise begründet. 2. Das aus Art. 53 Abs. 1 Satz 2 ThürVerf abzuleitende Prinzip der Gleichheit aller Mandatsträger kommt nur im Kernbereich des Mandats zum Tragen. Dieser Kernbereich umfasst die Wahrnehmung des Wählerauftrags im Parlament mittels nur dem Gewissen des Mandatsträgers verpflichteter Gestaltungshandlungen und Entscheidungen. Nur insoweit bedarf es für Ausnahmen vom Gleichbehandlungsgebot eindeutiger, an besonders wichtigen parlamentarischen Funktionen ausgerichteter Merkmale. Anders ist es dagegen bei Zuwendungen, die ein Abgeordneter zum Ausgleich von Aufwendungen erhält, welche ihm daraus entstanden sind, dass er sich nicht - wie jedes Mitglied des Landtags - seinem Mandat widmet, sondern besondere parlamentarische Funktionen ausübt. 3. Der im allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 2 ThürVerf enthaltene Grundsatz, nur Gleiches gleich, Ungleiches dagegen nicht gleich zu behandeln, erfordert, den zwar mandatsbedingten, nicht aber durch die Mandatsausübung als solche verursachten Einsatz eines Abgeordneten aus dem die Mandatswahrnehmung selbst betreffenden Zuwendungssystem heraus zu halten. Diesem Trennungserfordernis entspricht die Befugnis des Gesetzgebers, einen mandatsbedingten, nicht aber durch die Mandatsausübung selbst verursachten Vermögensaufwand zum Gegenstand einer Ausgleichsreglung zu machen. 4. Weil die Grundentschädigung Alimentationsfunktion hat und die zeitliche Inanspruchnahme eines Abgeordneten unabhängig von ihrem Anlass so vollständig abgilt, ist in Bezug auf den durch eine besondere parlamentarische Funktion verursachten Zeitaufwand kein Raum für eigenständige Ausgleichsregelungen. Erstattungsfähig ist insoweit nur ein aus dem Abgeordnetenvermögen erbrachter finanzieller Einsatz, sofern er nicht der allgemeinen Lebensführung dient oder sich aus der Wahrnehmung des allgemeinen Mandats des Abgeordneten ergibt. Es kommt darauf an, dass die auf den jeweiligen Einzelaufwand bezogene Frage bejaht werden kann, ob eine konkrete Aufwendung - die besondere Parlamentsfunktion des den Aufwand tätigenden Abgeordneten weggedacht - nicht entstanden wäre. LVerfGE 14

Normenkontrollverfahren: Pauschalierte Aufwandsentschädigung im Landtag

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5. Funktionsbezogener finanzieller Aufwand darf mit einem Pauschalbetrag ausgeglichen werden. Der Gesetzgeber ist jedoch gehalten, die Pauschalierung so zu bemessen, dass der Pauschalbetrag den tatsächlichen Aufwand annähernd erreicht. 6. Der allgemeine Gleichheitsgrundsatz verbietet dem Gesetzgeber willkürlich zu differenzieren, indem er gleich gelagerte Sachverhalte ohne rechtfertigenden Grund mit unterschiedlichen inhaltlichen Konsequenzen verknüpft. Dies geschieht, wenn die Höhe des Pauschalbetrags ungeachtet der Bemessungsgrundlagen bestimmt ist, welche bei konkreter, „spitzer" Berechnung gelten. Verfassung des Freistaats Thüringen Art. 53 Abs. 1 Satz 2; 2 Abs. 1 U r t e i l v o m 14. J u l i 2 0 0 3 - V e r f G H 2 / 0 1 in dem Normenkontrollverfahren 1. 2.

der SPD-Fraktion im Thüringer Landtag, vertreten durch den Parlamentarischen Geschäftsführer, Arnstädter Str. 51, 99096 Erfurt der PDS-Fraktion im Thüringer Landtag, vertreten durch den Fraktionsvorsitzenden, Arnstädter Str. 51, 99096 Erfurt - Antragstellerinnen -

Verfahrensbevollmächtigter zu 1. und 2.: Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Petcr Schneider beteiligt: 1. Thüringer Landtag, vertreten durch die Präsidentin, Arnstädter Str. 51, 99096 Erfurt 2. Thüringer Landesregierung, vertreten durch den Ministerpräsidenten, Regierungsstr. 73, 99084 Erfurt Bevollmächtigte zu 1.: Rechtsanwälte Prof. Dr. Redcker und Partner, Mozartstr. 4-10, 53115 Bonn Entscheidungsformel: 1. § 6 Abs. 3 des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Abgeordneten des Thüringer Landtages (Thüringer Abgeordnetengesetz) idF des Art. 1 Nr. 2 des Sechsten Gesetzes zur Änderung des Thüringer Abgeordnetengesetzes vom 20. Dezember 2000 (GVB1. S. 419) ist mit Art. 53 Abs. 1 der Thüringer Verfassung unvereinbar. Die verfassungswidrige Regelung darf ab dem auf die Verkündung dieser Entscheidung folgenden Monat nicht mehr angewendet werden.

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2. Der Freistaat Thüringen hat den Antragstellerinnen ihre notwendigen Auslagen zu erstatten mit Ausnahme der für den Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung entstandenen Auslagen. Gründe: A. Die Antragstellerinnen wenden sich im Wege der abstrakten Normenkontrolle gegen § 6 Abs. 3 des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Abgeordneten des Thüringer Landtags (Thüringer Abgeordnetengesetz — ThürAbgG) idF des Art. 1 Nr. 2 des Sechsten Gesetzes zur Änderung des ThürAbgG, der die Zahlung einer steuerfreien Aufwandsentschädigung an je einen parlamentarischen Geschäftsführer jeder Fraktion und an die Ausschussvorsitzenden zum Gegenstand hat. I. 1. Mit Urteil vom 21.7.2000 hat das Bundesverfassungsgericht in einem subsidiären Landesorganstreitverfahren (2 BvH 3/91) gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4, 3. Alt. GG, § 71 Abs. 1 Nr. 3 BVerfGG festgestellt, dass die Vorschriften des § 5 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 und Nr. 3 ThürAbgG vom 7.2.1991 gegen § 2 Abs. 1 S. 2 der Vorläufigen Landessatzung für das Land Thüringen vom 7.11.1990 verstoßen (BVerfGE 102, 224). Diese Normen sahen vor, dass neben dem Präsidenten des Landtags und dem Fraktionsvorsitzenden (Nr. 1) auch die Vizepräsidenten des Landtags und je ein parlamentarischer Geschäftsführer jeder Fraktion (Nr. 2) sowie je 1 bzw. 2 stellvertretende Fraktionsvorsitzende und die Ausschussvorsitzenden (Nr. 3) steuerpflichtige „Funktionszulagen" in Höhe von 70% (im Falle von Nr. 2) bzw. 40% (im Falle von Nr. 3) der Grundentschädigung nach § 5 Abs. 1 ThürAbgG erhalten. Das Bundesverfassungsgericht begründete seine Entscheidung im Wesentlichen mit der Freiheit des Mandats und dem Grundsatz der Gleichbehandlung der Abgeordneten (Art. 38 Abs. 1 S. 1 und 2 GG lVm Art. 28 Abs. 1 S. 1 und 2 GG), der die grundsätzlich für die Gewährung von zusätzlichen Entschädigungen mit Einkommenscharakter für Abgeordnete mit besonderen Funktionen gegebene Parlamentsautonomie einschränke. Um eine der Freiheit des Mandats und der Statusgleichheit der Abgeordneten entsprechende, von sachfremden Einflüssen freie politische Willensbildung zu gewährleisten, sei die Zahl der mit Zulagen bedachten Funktionsstellen auf wenige, politisch besonders herausgehobene parlamentarische Funktionen zu beschränken. Dazu gehörten die Funktionen der parlamentarischen Geschäftsführer, Ausschussvorsitzenden und stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden nicht.

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Normenkontrollverfahren: Pauschalierte Aufwandsentschädigung im Landtag

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2. Als Folge dieser Entscheidung wurden den Fraktionen nach der ersten Sitzung des Altestenrates nach der Sommerpause am 5.9.2000 vom Direktor des Thüringer Landtags Entwürfe für ein Gesetz zur Änderung des Thüringer Abgeordnetengesetzes übersandt, welche den Vorschlag enthielten, in § 5 Abs. 2 S. 1 ThürAbgG zwar die Funktionszulagen für parlamentarische Geschäftsführer, stellvertretende Fraktionsvorsitzende und Ausschussvorsitzende zu streichen, statt dessen aber in § 6 Abs. 2 ThürAbgG für diesen Personenkreis eine — in der Höhe noch unbestimmte — steuerfreie Aufwandsentschädigung vorzusehen. Die Fraktionen von SPD und PDS brachten am 4.10.2000, die Fraktion der CDU am 5.10.2000 je eigene, im Detail unterschiedliche Gesetzentwürfe ein, die allesamt keine Normierung zusätzlicher Aufwandsentschädigungen enthielten. Durch Beschluss des Landtags vom 12.10.2000 wurden diese drei Gesetzentwürfe in den Justizausschuss überwiesen. Der Justizausschuss empfahl am 12.12.2000 im Benehmen mit dem zwischenzeitlich ebenfalls mit der Sache befassten Haushalts- und Finanzausschuss die Annahme des Gesetzentwurfs der CDU-Fraktion mit der Änderung, dass in § 6 ThürAbgG ein Abs. 3 angefügt werden solle, wonach je ein parlamentarischer Geschäftsführer jeder Fraktion und die Vorsitzenden der Ausschüsse eine zusätzliche monatliche Aufwandsentschädigung von 1.300,00 DM (664,68 €) erhalten (Stand 12/2000). Die Beschlussempfehlung wurde im Thüringer Landtag am 14.12.2000 mit einfacher Mehrheit angenommen. Unter Berücksichtigung dieses Beschlusses wurde schließlich auch der Gesetzentwurf der CDU-Fraktion mehrheitlich angenommen. In der anschließenden Schlussabstimmung erhielt der Gesetzentwurf in der Fassung der Beschlussempfehlung des Justizausschusses bei gleichzeitiger Ablehnung der Gesetzentwürfe der PDS- und der SPD-Fraktion die Zustimmung der Mehrheit des Thüringer Landtags. 3. § 6 Abs. 3 ThürAbgG idF des Art. 1 Nr. 2 des Sechsten Gesetzes zur Änderung des ThürAbgG vom 20.12.2000 hat folgenden Wortlaut: (3) Eine zusätzliche steuerfreie Aufwandsentschädigung erhalten 1. je ein parlamentarischer Geschäftsführer jeder Fraktion und 2. die Vorsitzenden der Ausschüsse. Die Höhe der zusätzlichen Aufwandsentschädigung beträgt 1 300,00 DM. Die zusätzliche Aufwandsentschädigung wird monatlich gezahlt. § 5 Abs. 2 S. 3 gilt entsprechend. Die Gesetzentwürfe der SPD und der PDS wurden am 14.12.2000 auf Empfehlung des Justizausschusses vom Landtag mehrheitlich abgelehnt. 4. Das Thüringer Abgeordnetengesetz regelt im Ersten Abschnitt seines Dritten Teils „Leistungen an Abgeordnete". Dabei sind folgende Leistungen geregelt: LVerfGE 14

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die steuerpflichtige (Grund-)Entschädigung (§ 5 Abs. 1 ThürAbgG) sowie eine steuerpflichtige, nicht versorgungsfähige Zusatzentschädigung zugunsten des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Fraktionsvorsitzenden (§ 5 Abs. 2 ThürAbgG);

-

die zur Abgeltung der durch das Mandat bedingten Aufwendungen bestimmte allgemeine Amtsausstattung gemäß § 6 Abs. 1 und 2 ThürAbgG, welche aus Geld- und Sachleistungen besteht, wobei die Geldleistungen gemäß § 6 Abs. 2 S. 1 ThürAbgG in einer monatlichen steuerfreien Kostenpauschale zusammengefasst sind, bestehend aus:

1.

allgemeinen Kosten des Mandats, insbesondere für die Betreuung des Wahlkreises (Nr. 1);

2.

Mehraufwendungen aus der Tätigkeit am Sitz des Landtags (Nr. 2);

3.

Fahrten in Ausübung des Mandats zum Sitz des Landtags, wobei der insoweit eingesetzte Erstattungsbetrag davon abhängt, in welcher der insgesamt sieben v o m Sitz des Landtags aus gemessenen Entfernungszonen der Wohnort des Abgeordneten bzw. sein Wahlkreisbüro liegt (Nr. 3);

-

die zusätzliche steuerfreie Aufwandsentschädigung für Ausschussvorsitzende und je einen parlamentarischen Geschäftsführer der Landtagsfraktionen (§ 6 Abs. 3 ThürAbgG);

-

der Ersatz der für die Beschäftigung von persönlichen entstandenen Aufwendungen (§ 7 ThürAbgG);

-

Sachzuwendungen wie die kostenlose Nutzung aller im Landtagsgebäude vorhandenen Einrichtungen (§ 6 Abs. 1 S. 2 ThürAbgG) oder die Inanspruchnahme von Leistungen der Deutschen Bahn A G innerhalb Thüringens (§ 9 ThürAbgG);

-

gemäß § 10 ThürAbgG die Erstattung der im einzelnen nachgewiesenen Fahrt- und Ubernachtungskosten aus Anlass von Reisen, welche im Auftrag des Präsidenten oder eines Ausschusses unternommen wurden, wobei sich im Fall der (genehmigten) Nutzung eines Kraftfahrzeuges die Entschädigung aus § 6 Abs. 2 des Thüringer Reisekostengesetzes (ThürRKG) ergibt und dort auf 0,30 € je Kilometer festgesetzt ist (§ 10 Abs. 3 S. 2 ThürAbgG).

Mitarbeitern

Im Zweiten Abschnitt seines Sechsten Teils regelt das Thüringer Abgeordnetengesetz „Leistungen an die Fraktionen". § 51 ThürAbgG, betreffend die zweckentsprechende Verwendung dieser aus dem Staatshaushalt zu erbringenden Leistungen, bestimmt, dass die Zuwendungen nur für Aufgaben eingesetzt werden dürfen, welche sich aus der Landesverfassung, dem Abgeordnetengesetz oder der Geschäftsordnung des Thüringer Landtags ergeben. Eine Verwendung dieser Mittel für Zwecke, für die bereits nach „diesem Gesetz" Entschädigungen gezahlt werden, ist unzulässig (Satz 5); für Reisekosten gilt gem. § 51 S. 3 ThürAbgG die Vorschrift des § 10 ThürAbgG entsprechend.

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Normenkontrollverfahren: Pauschalierte Aufwandsentschädigung im 1 .andtag

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II. Die Antragstellerinnen rügen, dass § 6 Abs. 3 ThürAbgG idF des Sechsten Gesetzes zur Änderung des ThürAbgG mit den Grundsätzen des freien Mandats und der formalisierten Gleichheit, wie sie für Abgeordnete des Thüringer Landtags in Art. 53 Abs. 1 iVm Art. 2 Abs. 1 der Thüringer Verfassung ihren Ausdruck gefunden haben, sowie mit den Vorgaben für Diätenregelungen aus Art. 54 Abs. 1 S. 1 der Thüringer Verfassung nicht vereinbar sei. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5.11.1975 (BVerfGE 40, 296, 318) könne nur der wirklich entstandene, sachlich angemessene besondere, mit dem Mandat verbundene finanzielle Aufwand, nicht auch der allgemeine Aufwand, wie er auch sonst in jedem Beruf anfalle und von dem besonderen berufseigenen Aufwand zu unterscheiden sei, mit einer steuerfreien Aufwandsentschädigung ausgeglichen werden. Die Maßgaben des Art. 48 Abs. 3 GG und des formalisierten Gleichheitssatzes in Art. 38 Abs. 1 iVm Art. 3 Abs. 1 GG fänden ihre inhaltsgleiche Entsprechung in den Art. 54 Abs. 1 und 53 Abs. 1 iVm Art. 2 Abs. 1 ThürVerf. Dementsprechend habe sich auch der Thüringer Verfassungsgerichtshof in seiner Entscheidung vom 16.12.1998 dem Bundesverfassungsgericht angeschlossen (ThürVerfGH, LVerfGE 9, 413, 446 f). Die Antragstellerinnen sind der Ansicht, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Aufwandsentschädigung zusätzlich zur Grundentschädigung nur zum Ausgleich solchen Aufwands gewährt werden dürfe, der im Mandat selbst wurzele und nicht in der Ausübung einer herausgehobenen parlamentsinternen Funktion, die auf dem Selbstorganisationsrecht des Parlaments beruhe. Weiter fehle es an dem Erfordernis des tatsächlich entstandenen, besonderen Mehraufwandes, der über die allgemeine, bei jeder Berufstätigkeit anfallende Belastung hinausgehe, da der nicht zu leugnende Mehraufwand an Zeit und Arbeitskraft und der finanzielle Nachteil, der daraus entstehen könnte, dass die Funktionsträger aufgrund der zeitlichen Mehrbelastung nicht in der Lage sind, neben der Tätigkeit als Mandatsträger aus ihrem bürgerlichen Beruf ein Einkommen zu erzielen, hierfür nicht ausreichten. Weiterhin rügen die Antragstellerinnen, dass der — angebliche - Zusatzaufwand vor Erlass des Änderungsgesetzes nicht exakt ermittelt worden sei. Außerdem verstoße ξ 6 Abs. 3 ThürAbgG gegen Art. 54 Abs. 1 S. 1 ThürVerf, da die gewährte Aufwandsentschädigung eine „unangemessene Leistung" darstelle. Die angegriffene Norm sei schließlich in einem Verfahren beschlossen worden, das den verfassungsrechtlichen Vorgaben für Diätenregelungen im Hinblick auf das unerlässliche Maß an Transparenz und Öffentlichkeit nicht genügt habe. Darüber hinaus umgehe die Vorschrift des § 6 Abs. 3 ThürAbgG die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 21.7.2000 und verstoße damit gegen die Bindungswirkung dieses Urteils. LVerfGE 14

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Letztendlich ziehen die Antragstellerinnen die Angaben des Thüringer Landtags bezüglich der Höhe der den Funktionsträgern aus der Ausübung der jeweiligen Funktion entstehenden zusätzlichen Aufwendungen in Zweifel. Die Antragstellerinnen haben daher im Wege der abstrakten Normenkontrolle die Feststellung beantragt, dass § 6 Abs. 3 des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Abgeordneten des Thüringer Landtags (Thüringer Abgeordnetengesetz - ThürAbgG) idF des Art. 1 Nr. 2 des Sechsten Gesetzes zur Änderung des Thüringer Abgeordnetengesetzes v o m 20. Dezember 2000 (GVB1. S. 419) mit Art. 53 Abs. 1 iVm Art. 2 Abs. 1 Thür\^erf und mit Art. 54 Abs. 1 S. 1 ThürVerf unvereinbar und damit nichtig sei.

Darüber hinaus hatten die Antragstellerinnen beantragt, im Wege einer einstweiligen Anordnung den Vollzug von § 6 Abs. 3 des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Abgeordneten des Thüringer Landtags idF des Art. 1 Nr. 2 des Sechsten Gesetzes zur Änderung des Thüringer Abgeordnetengesetzes vom 20.12.2000 bis zur Entscheidung über den Antrag in der Hauptsache auszusetzen. Dieser Antrag wurde indes mit Schriftsatz vom 19.4.2001 zurückgezogen, bevor der Thüringer Verfassungsgerichtshof hierüber entschieden hat. III. Der Thüringer Landtag hat gem. § 43 ThürVerfGHG eine Stellungnahme abgegeben. Er hält das Begehren der Antragstellerinnen für teilweise unzulässig, im Übrigen für unbegründet. 1. Der Antrag sei unzulässig, soweit mit dem Vorwurf einer „Umgehung" der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 21.7.2000 ein Verstoß des streitgegenständlichen Gesetzes gegen § 31 Abs. 1 BVerfGG geltend gemacht werde. 2. Darüber hinaus sei der Antrag auch unbegründet. Eine Umgehung der sich aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 21.7.2000 ergebenden Folgen für Funktionszulagen von parlamentarischen Geschäftsführern der Fraktionen und Ausschussvorsitzenden sei nicht gegeben, da Funktionszulagen zu Aufwandsentschädigungen im Verhältnis eines rechtlichen „aliud" stünden. Das Bundesverfassungsgericht habe in dieser Entscheidung die grundsätzliche Unterscheidung zwischen (steuerpflichtiger) Funktionszulage und (steuerfreier) Aufwandsentschädigung nicht in Frage gestellt, sondern sich ausschließlich mit der Funktionszulage befasst. Außerdem bestehe die vom Bundesverfassungsgericht hinsichtlich der Funktionszulagen gesehene Gefahr der Hierarchisierung und des Entstehens einer Art „Abgeordnetenlaufbahn" bei Gewährung von zusätzlichen Aufwandsentschädigungen für bestimmte Funktionsträger nicht, da solche Aufwandsentschädigungen aufgrund ihrer Orientierung am tatsächlichen Aufwand für ihre Empfänger LVerfGE 14

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keine wirtschaftlichen Vorteile mit sich brächten und daher Abgeordnete die entsprechenden Funktionen nicht wegen der mit ihnen verbundenen finanziellen Vorteile anstrebten. Die durch § 6 Abs. 3 ThürAbgG gewährten Aufwandsentschädigungen für bestimmte Funktionsträger seien vielmehr erforderlich, um dem Gleichheitssatz in der Abgeordnetenentschädigung gerecht zu werden: Ohne einen solchen Ausgleich würden die Abgeordneten, bei denen zusätzlicher Aufwand anfällt, gegenüber denjenigen Abgeordneten, bei denen dies nicht der Fall ist, gleich behandelt werden, obwohl ungleiche Sachverhalte vorlägen. Weiterhin sei nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Diätenurteil (B\ T erfGE 40, 296, 318, 328) neben der Grundentschädigung mit Alimentationscharakter auch eine darüber hinausreichende (steuerfreie) Aufwandsentschädigung verfassungsrechtlich zulässig, wenn es sich um eine Entschädigung für wirklich entstandenen, sachlich angemessenen, mit der Aufgabe verbundenen, besonderen, finanziellen Aufwand handele. Anhand dieser Maßstäbe habe auch der Thüringer Verfassungsgerichtshof für den eigenständigen Verfassungsraum des Thüringer Landesverfassungsrechts im Urteil vom 16.12.1998 (ThürVerfGH, LVerfGE 9, 413, 446 f) die Vorgaben des Art. 54 Abs. 1 ThürVerf konkretisiert. Den Ausschussvorsitzenden und parlamentarischen Geschäftsführern der Fraktionen entstünden durch die Erfüllung der sich ihnen zusätzlich stellenden Aufgaben zusätzliche besondere Belastungen, die insbesondere auf organisatorischen Tätigkeiten, der Wahrnehmung von Terminen innerhalb und außerhalb Thüringens sowie repräsentativen Aufgaben beruhten. Dies seien in erster Linie Reisekosten, zusätzliche Bürokosten sowie Kosten für Bewirtung, Geschenke und Blumen. Der Thüringer Landtag legt eine Berechnung des für Ausschussvorsitzende und parlamentarische Geschäftsführer der Fraktionen anfallenden zusätzlichen Aufwandes vor. Diese zusätzlichen Kosten belaufen sich danach für die Ausschussvorsitzenden durchschnittlich auf mindestens 1.270,00 DM (entspricht ca. 650,00 €) und für die parlamentarischen Geschäftsführer der Fraktionen durchschnittlich auf mindestens 1.413,00 DM (entspricht ca. 720,00 €). Die pauschale Abgeltung der zusätzlichen Kosten sei nicht zu beanstanden, da Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Pauschalierung allein die Orientierung am durchschnittlich tatsächlich entstehenden Aufwand sei, wobei der Gesetzgeber grundsätzlich einen Gestaltungsspielraum bei der Bemessung der Höhe der Aufwandsentschädigung habe, sofern er sich nur an die Grenzen des Art. 54 ThürVerf halte. Weiterhin habe das Gesetzgebungsverfahren den verfassungsrechtlichen Vorgaben für Diätenregelungen im Hinblick auf das unerlässliche Maß an Transparenz und Öffentlichkeit entsprochen; die notwendige Transparenz werde schon durch die Wahl des förmlichen Gesetzgebungsverfahrens gewährleistet, welches ordnungsgemäß durchgeführt worden sei. LVerfGE 14

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Thüringer Verfassungsgerichtshof IV.

Durch Beschluss vom 15.1.2002 nach der mündlichen \ r erhandlung vom selben Tag hat der Thüringer Verfassungsgerichtshof den Thüringer Rechnungshof auf der Grundlage des § 15 Abs. 1 S. 1 T h ^ V e r f G H G um sachverständige Hilfe bei der Ermittlung der Höhe des den 17 von der Regelung betroffenen Funktionsträgern in Ausübung der besonderen Funktionen entstehenden finanziellen Aufwands ersucht. Der Thüringer Rechnungshof hat diesem Ersuchen mit seiner Mitteilung vom 28.11.2002 entsprochen und seine schriftlichen Ausführungen in der mündlichen Verhandlung vom 3.6.2003 zusätzlich mündlich erläutert. Er hat festgestellt, dass der funktionsbedingte, finanzielle, angemessene Aufwand bei Zugrundelegung des in § 6 Abs. 2 ThürRKG festgelegten Erstattungsbetrages von 0,30 € pro Kilometer im Monatsdurchschnitt jedenfalls 463,64 € nicht übersteigt. Β I. Der Normenkontrollantrag ist zulässig. Die Voraussetzungen der Art. 80 Abs. 1 Nr. 4 ThürVerf iVm §§ 11 Nr. 4, 42 bis 44 ThürVerfGHG sind gegeben. 1. Die Antragstellennnen machen die Unvereinbarkeit Thüringer Landesrechts in Gestalt des § 6 Abs. 3 ThürAbgG mit der Landesverfassung geltend. Allein diese ist für den Thüringer Verfassungsgerichtshof Maßstab der verfassungsgerichtlichen Prüfung. Entgegen der Ansicht der Antragstellerinnen kommt § 31 BVerfGG für das vorliegende Verfahren als Prüfungsmaßstab nicht in Betracht. § 31 BVerfGG bestimmt, dass die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder binden. Diese Bindungskraft hat ihren Grund in der Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts, den Inhalt des Grundgesetzes und seine Auswirkungen auf das in der Bundesrepublik Deutschland geltende Recht letztverbindlich z u bestimmen. Die in § 31 BVerfGG angeordnete Bindungskraft beschränkt sich mithin auf diejenigen Entscheidungen, in denen das Bundesverfassungsgericht das Grundgesetz als Prüfungsmaßstab für eine Rechtsnorm des Bundes- oder Landesrechts herangezogen hat. Soweit es die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer zusätzlichen funktionsbedingten Aufwandsentschädigung für Fraktionsgeschäftsführer und Ausschussvorsitzende im Thüringer Landtag betrifft, ist eine solche Prüfung anhand des Grundgesetzes im Rahmen des von den Antragstellerinnen zitierten Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 21.7.2000 jedenfalls nicht erfolgt. Gegenstand jenes bundesverfassungsgerichtlichen Verfahrens war allein die Zulässigkeit einer an bestimmte parlamentarische Funktionen geknüpften Staffeldiät. In seinem Urteil vom 21.7.2000 hat das Bundesverfassungsgericht mithin nur Aussagen zur Erhöhung der Grunddiäten getroffen, nicht aber über eine zusätzliche Aufwandserstattung entschieden.

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2. Die sonstigen Zulässigkeitsvoraussetzungen des Normenkontrollverfahrens sind gegeben. II. 1. Der Normenkontrollantrag ist nicht deswegen begründet, weil das am 14.12.2000 vom Thüringer Landtag beschlossene und am 20.12.2000 verkündete Gesetz in formeller Hinsicht nicht den Anforderungen der Landesverfassung genügte. a) Die allgemeinen Anforderungen der Art. 81 ff ThürVerf sind gewahrt. § 6 Abs. 3 ThürAbgG ist in der Zuständigkeit des Thüringer Landtags beschlossen worden. b) Das Gesetzgebungsverfahren entspricht auch den besonderen Anforderungen, welchen Gesetze genügen müssen, die Zuwendungen an die Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaft zum Gegenstand haben. aa) Der Thüringer Verfassungsgerichtshof hat in Ubereinstimmung mit dem Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die Abgeordneten, wenn sie Verbesserungen ihrer Einkommenslage beschließen, ein besonderes Verfahren einhalten müssen. Dieses ist dadurch bestimmt, dass wegen der ausschließlichen Zuständigkeit des Landtags für derartige Beschlüsse die konkrete Entscheidung der Kritik der außerparlamentarischen Öffentlichkeit begegnen können muss (Thür\ r erfGH, UVerfGE 9, 413, 434; BVerfGE 40, 296, 297, 327). Diese für Veränderungen der Abgeordnetenentschädigung zu beachtende Transparenz erfordert, dass die verändernde Entscheidung Gegenstand eines formellen Parlamentsgesetzes ist, d.h. nicht in einem Verfahren beschlossen wird, wclches in einem minder dichten Maß geregelt ist und in seiner Abfolge weniger klar im Licht der Öffentlichkeit steht, als dies bei einem formellen Gesetz der Fall ist. Hinzu kommt, dass das solchermaßen beschlossene Gesetz in seinem Inhalt so eindeutig sein muss, dass der gesetzgeberische Wille nicht im Dunkeln bleibt oder sich erst aus einer Reihe komplexer Ermittlungs schritte erschließt. Diesen Anforderungen hat der Thüringer Landtag genügt, als er beschlossen hat, den Vorsitzenden seiner Ausschüsse und je einem parlamentarischen Geschäftsführer der in ihm vertretenen Fraktionen eine zusätzliche Aufwendungsentschädigung zu zahlen. Die Entscheidung ist in § 6 Abs. 3 ThürAbgG enthalten. Sie ist mithin in einem formellen Gesetzgebungsverfahren zustande gekommen und inhaltlich ohne weiteres aus dem Gesetz heraus verständlich. bb) Das besondere, für diätenrelevante Gesetzgebungsverfahren zu beachtende Transparenzgebot erfordert nicht, dass der Landtag der Öffentlichkeit sein Gesetzgebungsverfahren in besonderer Weise begründet. Eine solche Begründungspflicht lässt sich der Landesverfassung weder ausdrücklich entnehmen noch ergibt sie sich aus dem „Selbstbedienungsgedanken" und dem mit ihm verbundeLVerfGE 14

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nen Erfordernis, den Gesetzgebungsvorgang in die öffentliche Diskussion zu bringen. Das Gebot der inhaltlichen Bestimmtheit der Neuregelung, welches nicht erst beim eigentlichen Gesetzesbeschluss zu beachten ist, sondern im gesamten Gesetzgebungsverfahren, insbesondere auch für die Gesetzesinitiativen gilt, gewährleistet, dass die Öffentlichkeit Inhalt und Tragweite der angestrebten Regelung überschauen und diskutieren kann. cc) Verfassungsrechtlich unbedenklich ist femer, dass die dem Gesetzesbeschluss des § 6 Abs. 3 ThürAbgG vorausgehende Willensbildung des Thüringer Landtags nicht auf der Grundlage besonderer Ermittlungen zu Art und Umfang der zu erstattenden Aufwendungen erfolgt ist. Die Landesverfassung enthält für das Gesetzgebungsverfahren lediglich formale Vorgaben. Sie überlässt es im Übrigen dem Gesetzgebungsorgan, seine Regelungsziele zu definieren und die für die gesetzgeberische Willensbildung notwendige Tatsachengrundlage festzustellen. Die verfassungsrechtliche Verantwortung des Gesetzgebers konzentriert sich auf den Gesetzesbeschluss als das Ergebnis des Gesetzgebungsverfahrens. Der dorthin führende Weg ist, sofern es nicht um die Beachtung der notwendigen Formalitäten geht, in diese Verantwortung nicht einbezogen. 2. Der Normenkontrollantrag ist auch nicht deswegen begründet, weil der Thüringer Landtag sich bei seinem Gesetzesbeschluss vom 14.12.2000 einer besonderen Bindungskraft des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 21.7.2000 entzogen hätte. a) Soweit die Antragstellerinnen als Grundlage einer solchen Bindungskraft § 31 BVerfGG heranziehen, liegt es außerhalb der Kompetenzen des Thüringer Verfassungsgerichtshofs, über Inhalt und Reichweite dieser Bestimmung auch in Bezug auf ein Gesetzgebungsverfahren des Thüringer Landtags zu befinden. Es ist jedoch Aufgabe des Thüringer Verfassungsgerichtshofs, nach Maßgabe des Verfahrensgegenstands der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung und der das Bundesverfassungsgerichtsurteil tragenden Gründe festzustellen, ob sich aus § 31 BVerfGG eine solche Bindung ergeben kann. Dies ist für das vorliegende Verfahren nicht der Fall. Wie bereits ausgeführt, hat sich das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 21.7.2000 mit § 5 ThürAbgG a.F., d.h. mit der Zulässigkeit sog. Staffeldiäten bei Wahrnehmung besonderer Parlamentsaufgaben, befasst. Das Bundesverfassungsgericht hat das Zulagensj^stem des § 5 ThürAbgG a.F. zum Teil für unvereinbar mit dem besonderen, aus der Natur des parlamentarischen Mandats entwickelten Gleichbehandlungsgebot erklärt. Parlamentarische Geschäftsführer der Fraktionen und Ausschussvorsitzende nehmen nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht solche herausgehobenen und für die Erfüllung der Parlamentsaufgaben wichtigen Funktionen wahr, dass für sie eine Grunddiätenerhöhung - wie § 5 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 und 3 ThürAbgG a.F. sie angeordnet hatte - verfassungsrechtlich vertretbar wäre. Das Bundesverfassungsgericht hat sich dabei LVcrfGE 14

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weder direkt noch indirekt zur Zulässigkeit einer funktionsbezogenen Auslagenerstattung geäußert. Es hat deren Statthaftigkeit vielmehr ausdrücklich offen gelassen. b) Im Übrigen würde das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 21.7.2000 den Thüringer Verfassungsgerichtshof auch deswegen nicht binden, weil das Bundesverfassungsgericht in diesem Verfahren gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 3. Alt. GG, § 71 Abs. 1 Nr. 3 BVerfGG als Landesverfassungsgericht entschieden hat. Insoweit ergibt sich die Bindungskraft seiner Entscheidung aus dem jeweiligen Landesrecht, hier aus § 25 ThürVerfGHG. Die dort getroffene, an die Verfassungsorgane des I^andes sowie alle Thüringer Gerichte und Behörden adressierte Anordnung betrifft den Landtag und die Landesregierung mit ihrem Behördenunterbau sowie die „Gerichte" iSd Art. 86 Abs. 1 ThürVerf. Sie erstreckt sich jedoch nicht auf den Landesverfassungsgerichtshof als Quelle der die Bindung auslösenden Judikate, weil sonst der Verfassungsgerichtshof seiner Aufgabe, die Landesverfassung letztverbindlich auszulegen und zur Geltung zu bringen, nicht nachkommen könnte. Ist der Thüringer Verfassungsgerichtshof von vornherein von einer sich aus § 25 ThürVerfGHG ergebenden Wirkung ausgenommen, so kann eine solche Bindung sich nicht daraus ergeben, dass sie an eine Entscheidung anknüpft, welche nicht der Thüringer Verfassungsgerichtshof, sondern das Bundesverfassungsgericht gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 3. Alt. GG gewissermaßen als sein Vertreter getroffen hat. 3. Die von den Antragstellerinnen geltend gemachte Verfassungswidrigkeit des § 6 Abs. 3 ThürAbgG ergibt sich auch nicht daraus, dass diese Norm die vom Bundesverfassungsgericht für unzulässig erachteten Ergebnisse des in § 5 ThürAbgG a.F. angelegten Zulagensystems auf anderem Wege erreichte und so in gleicher Weise in Widerspruch zu den tragenden Gründen des Urteils vom 21.7.2000 stünde, wie dies für die ursprüngliche, für verfassungswidrig erklärte Regelung der Fall war. § 6 Abs. 3 ThürAbgG ist nicht als Umgehung der Grunddiätenregelung in § 5 Abs. 2 und 3 ThürAbgG a.F. zu qualifizieren. § 6 Abs. 3 ThürAbgG ist vielmehr vom Gedanken des Aufwendungsersatzes getragen, welcher sich sowohl in seiner praktischen Durchführung wie in den rechtlichen Bewertungsansätzen grundlegend von dem Zulagensystem des § 5 Abs. 2 ThürAbgG unterscheidet. a) Nach der Rechtsprechung des Thüringer Verfassungsgerichtshofs ergibt sich das besondere, durch die Natur des Mandats eines Landtagsabgeordneten begründete Gleichbehandlungsgebot inhaltlich deckungsgleich zu Art. 38 GG aus Art. 53 Abs. 1 ThürVerf. Dort ist der Grundsatz des freien Mandats in gleicher Weise umgesetzt, wie in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG. Davon geht der Thüringer Verfassungsgerichtshof in seinem Urteil vom 16.12.1998 aus. Dieser Gleichbehandlungsgrundsatz gilt — was das Diätenwesen angeht — jedoch nicht ausnahmslos. Er verbietet nicht, die Grundentschädigung für diejenigen Abgeordneten zu erhöhen, denen der Landtag oder einer der in ihm vertreteLVerfGE 14

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nen Gruppierungen eine für den Ablauf des parlamentarischen Geschehens besonders wichtige Aufgabe übertragen hat. Insoweit folgt der Thüringer Verfassungsgerichtshof dem Bundesverfassungsgericht. Mit diesem qualifiziert der Thüringer Verfassungsgerichtshof die mit der Leitung des parlamentarischen Geschehens als solchem und der äußeren Repräsentation verbundenen Funktionen des Präsidenten des Landtags und seiner gewählten Vertreter als zureichende Anknüpfung von Diätenzuschlägen. Nicht anders verhält es sich mit den den Fraktionsvorsitzenden zukommenden Aufgaben. Auch insoweit stimmt der Thüringer Verfassungsgerichtshof dem Bundesverfassungsgericht zu. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 21.7.2000 überzeugt auch darin, dass die Bedeutung der Aufgaben der parlamentarischen Geschäftsführer der Fraktionen und der Ausschussvorsitzenden so hinter der des Parlamentspräsidiums und des Fraktionsvorsitzenden zurücktreten, dass für sie eine Ausnahme vom mandatsbedingten Gleichbehandlungsgebot im Sinne eines Grunddiätenaufschlags nicht mehr gerechtfertigt ist. b) Diese aus dem Prinzip der repräsentativen Demokratie und der Freiheit des Mandatsträgers entwickelten Gesichtspunkte eignen sich als rechtliche Zuordnungskriterien jedoch nur dort, wo die allgemeine Gleichheit aller Mandatsträger zum Tragen kommt. Das ist im Kernbereich des Mandats der Fall. Dieser Kernbereich umfasst die Wahrnehmung des Wählerauftrags im Parlament mittels nur dem Gewissen des Mandatsträgers verpflichteter Gestaltungshandlungen und Entscheidungen (Art. 53 Abs. 1 S. 2 ThürVerf). Nur insoweit bedarf es zur Ausgrenzung aus dem Gleichheitsgebot eindeutiger, an besonders wichtigen parlamentarischen Funktionen ausgerichteter Merkmale. c) Anders ist es dagegen bei Zuwendungen, die ein Abgeordneter zum Ausgleich von Aufwendungen erhält, welche ihm daraus entstanden sind, dass er sich nicht nur — wie jedes Mitglied des Landtags — seinem Mandat widmet, sondern darüber hinaus besondere parlamentarische Funktionen ausübt. Auch wenn diese Aufgaben nur ein Mandatsträger ausführen kann, so sind sie von dem allgemeinen Mandat eindeutig dadurch unterschieden, dass die Sonderfunktion durch förmlichen Bestellungsakt im Sinne eines Übertragungsbeschlusses des Landtags oder einer Fraktion begründet wird. Knüpft eine Zuwendungsregelung an diesen besonderen Begründungsakt an, so unterscheidet sie sich sowohl im formalen Regelungsanlass wie im inhaltlichen Regelungsziel prinzipiell von dem auf die Gleichheit aller Abgeordnetenmandate angelegten Zuwendungssystem der §§ 5 Abs. 1, 6 Abs. 1 und 2 ThürAbgG. Deswegen kann eine mit der Wahrnehmung der besonderen parlamentarischen Funktion verbundene Zuwendung zwar als Ergänzung, nicht aber als Umgehung des der allgemeinen Mandatsausübung geltenden Zuwendungssystems verstanden werden. 4. Angesichts dieser Ausrichtung des in §§ 5 Abs. 1, 6 Abs. 1 und 2 ThürAbgG realisierten Regelungssystems ist es nicht nur sachgerecht, sondern durch LVerfGE 14

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den allgemeinen, in Art. 2 ThürVerf mit Verfassungskraft anerkannten Grundsatz, nur Gleiches gleich, Ungleiches dagegen nicht gleich zu behandeln, sogar geboten, den zwar mandatsbedingten, nicht aber durch die Mandatsausübung als solche verursachten Einsatz eines Abgeordneten aus dem die Mandatswahrnehmung selbst betreffenden Zuwendungssystem herauszuhalten. Diesem Trennungserfordernis entspricht die Befugnis des Gesetzgebers, einen derartigen mandatsbedingten, nicht aber durch die Mandatsausübung selbst verursachten Vermögensaufwand zum Gegenstand einer Ausgleichsregelung zu machen. Dies hat das Bundesverfassungsgericht sowohl in seinem ersten Diätenurteil vom 5.11.1975 (BVerfGE 40, 296, 328) als auch im Urteil vom 21.7.2000 anerkannt, soweit der Ausgleich einem vermögensmäßigen, finanziellen Aufwand gilt. Auch Art. 53 Abs. 1 ThürVerf erlaubt nur die Erstattung vermögensmindernder Aufwendungen. Auf den einem funktionsbedingten Aufwand geltenden Ausgleich hat das in Art. 53 Abs. 1 ThürVerf angelegte Gleichbehandlungsgebot insoweit Einfluss, als der persönliche, insbesondere zeitliche Einsatz des Abgeordneten der Mandatsausübung als solcher zuzurechnen ist. Er ist mit der Grundentschädigung entgolten. Diese trägt dem Umstand Rechnung, dass die Abgeordneten ihr Mandat im Sinne eines „Eull-time-jobs" wahrnehmen (BVerfGE 40, 296, 314). Die Grundentschädigung hat Alimentationsfunktion, weil sie die Ausübung des Mandats und sämtlicher mit ihm verbundener parlamentarischer Aufgaben gewährleistet. Daher ist die zeitliche Inanspruchnahme eines Abgeordneten unabhängig von ihrem Anlass mit der Grundentschädigung so vollständig abgegolten, dass in Bezug auf den durch eine besondere Funktion verursachten Einsatz kein Raum für eigenständige Ausgleichsregelungen besteht, sofern der Einsatz nicht aus dem Vermögen des Abgeordneten erbracht wird und finanzieller Natur ist. Mag hieraus sich die im Lebensalltag übliche Relation von persönlichem Einsatz und materiellem Ertrag verschieben, so beruht dies nicht auf willkürlicher Zurücksetzung der aktiveren Abgeordneten, sondern auf dem sich aus dem Status aller Mandatsträger resultierenden Erfordernis der Gleichheit bzw. Gleichbehandlung. Dieses verbietet, die den Abgeordneten zustehenden Zuwendungen grundsätzlich von Art und Umfang ihrer parlamentarischen Aktivitäten abhängig zu machen. Deswegen ist nur ein aus dem Abgeordnetenvermögen erbrachter finanzieller Einsatz erstattungs fähig. 5. Ein solcher finanzieller Aufwand ist nur insoweit ausgleichsfähig, als er durch die Wahrnehmung der besonderen parlamentarischen Funktion verursacht wird. Nicht ausgleichsfähig ist zum einen der allgemeine gesellschaftliche Aufwand, der auch ohne die besondere Funktion entstanden wäre, zum anderen aber auch der Aufwand, der sich aus der Wahrnehmung des allgemeinen Mandats des Abgeordneten ergibt. a) Es versteht sich von selbst, dass allgemeine Kosten der Lebensführung (allgemeiner gesellschaftlicher Aufwand) nicht ausgleiche fähig sein können. Nur LVerfGE 14

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solcher Aufwand, den der Funktionsträger getätigt hat, weil er den Anforderungen seiner besonderen Funktion (z.B. als Ausschussvorsitzender) nachgekommen ist, kann im Rahmen einer Aufwandsentschädigung erstattet werden. Ks kommt darauf an, dass die auf den jeweiligen Einzelaufwand bezogene Frage bejaht werden kann, ob eine konkrete Aufwendung — die besondere Parlamentsfunktion des den Aufwand tätigenden Abgeordneten weggedacht — nicht entstanden wäre. Dabei ist allerdings nicht ausgeschlossen, dass Überschneidungen beider Bereiche auftreten. In einem solchen Fall obliegt die nach den Feststellungen des Thüringer Rechnungshofs durchaus mögliche Zuordnung eines konkreten Aufwands zur Parlamentsfunktion in erster Linie dem einzelnen Funktionsträger. Er kennt die dem jeweiligen Vermögenseinsatz zugrunde liegenden Ursachen und ist auch vor dem Hintergrund seiner Verantwortung als Teil eines Verfassungsorgans in der Lage, die Aufwendungen zutreffend der besonderen Funktion oder den allgemeinen Kosten seiner Lebensführung zuzuweisen. Eine Außenkontrolle der vom Abgeordneten vorgenommenen Zuordnung ist deswegen nicht ausgeschlossen. Dazu hat der Abgeordnete, macht er einen finanziellen Einsatz als besondere funktionsverursachte Aufwendung geltend, darzulegen, aus welchem Anlass ihm der Aufwand entstanden ist und warum er ihn für funktionsbedingt erachtet. Aus dieser Begründung muss sich ergeben, dass die in Frage stehende Aufwendung ohne die besondere Parlamentsfunktion nicht entstanden wäre. Bei einer derart schlüssigen Darlegung muss es andererseits im allgemeinen sein Bewenden haben, weil sonst die Gefahr besteht, dass eine Kontrollinstanz, wenn auch nur mittelbar, einen Einfluss auf die Mandatsausübung erhalten kann, der mit der durch Art. 53 Abs. 1 ThürVerf verbürgten Freiheit nicht zu vereinbaren ist. Einer Detailprüfung unterliegen daher bei schlüssiger Darlegung des Zuwendungsanlasses die Angaben eines Funktionsträgers nur dann, wenn Zweifel an der Richtigkeit des behaupteten Sachverhaltes begründet sind. b) Nicht ausgleiche fähig ist der Aufwand, der sich aus der Wahrnehmung des allgemeinen Mandats ergibt. Dieser Aufwand wird jedem Abgeordneten, auch ohne besondere Funktion, bereits im Rahmen der gem. § 6 Abs. 1 und 2 ThürAbgG gezahlten Entschädigung erstattet. Auch insoweit ist es Sache des einzelnen Funktionsträgers aus seiner Mandatsverantwortung heraus abzugrenzen, ob ein Aufwand funktionsbedingt ist oder ob er dem allgemeinen Mandat zugerechnet werden muss. c) Auch bei eindeutiger und vom Entstehungsgrund her zweifeis freier Qualifizierung kann ein Sonderaufwand nur erstattet werden, wenn er angemessen ist. Er ist angemessen, wenn die konkreten Aufwendungen zu ihrem Anlass in einem vernünftigen Verhältnis stehen. Dabei ist nicht ein vom jeweiligen Funktionsträger definierter Maßstab anzulegen. Ist der Abgeordnete in der Entscheidung frei, für welche Zwecke er welche Mittel einsetzt, so kann er Ausgleich seines Vermögenseinsatzes doch nur fordern, wenn der Einsatz von außen her als durch die LVerfGE 14

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Gesamtumstände gerechtfertigt beurteilt wird. Insoweit unterliegt der Abgeordnete auch als Träger einer besonderen Parlamentsfunktion einem objektiven Maßstab. Hierdurch mag die Entscheidung, wie er seine parlamentarischen Aufgaben wahrnimmt, beeinflusst werden. Ein Eingriff in die Freiheit der Mandatsausübung ergibt sich daraus jedoch nicht. 6. § 6 Abs. 3 ThürAbgG verletzt nicht dadurch die Landesverfassung, dass er für den Vorsitzenden eines Landtagausschusses und für je einen der parlamentarischen Geschäftsführer der Landtagsfraktionen einen Anspruch auf Auslagenerstattung begründet. Dieser Anspruch korrespondiert mit den oben getroffenen Feststellungen, dass es besonderen, funktionsbezogenen, finanziellen Aufwand gibt und dass die Erstattung dieses Aufwands nicht am Gebot der Gleichbehandlung aller Abgeordneten (Art. 53 ThürVerf) scheitert, sondern vielmehr durch den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Art. 2 ThürVerf angezeigt ist. a) Das Regelungsziel des § 6 Abs. 3 ThürAbgG ist auf die Erstattung des funktionsbedingten, finanziellen, angemessenen Aufwands beschränkt. Der Gesetzgeber hat den Ausschussvorsitzenden bzw. den parlamentarischen Geschäftsführern keine darüber hinausgehenden Zuwendungen bewilligen wollen. Mag der Wortlaut des § 6 Abs. 3 ThürVerf nicht erkennbar machen, dass die Aufwandsentschädigung den funktionsverursachten, finanziellen, angemessenen Einsatz von Privatvermögen des Abgeordneten ausgleicht, so ergibt sich dieser Zusammenhang sowohl aus der äußeren Einordnung der Regelung in das System des ersten Abschnitts im dritten Teil des Thüringer Abgeordnetengesetzes als auch aus der Entstehungsgeschichte seines § 6 Abs. 3. Im Gesamtregelungssystem der „Leistungen an Abgeordnete" unterscheidet ξ 6 ThürAbgG die allgemeine Aufwandsentschädigung durch Geld und Sachleistungen (Amtsausstattung) von der zusätzlichen „Aufwandsentschädigung" des § 6 Abs. 3 ThürAbgG. Jene Amtsausstattung dient der „Abgeltung der durch das Mandat bedingten Aufwendungen" (§ 6 Abs. 1 S. 1 ThürAbgG), wogegen aus der Funktionsbezogenheit der Regelung in § 6 Abs. 3 ThürAbgG zweifelsfrei folgt, dass diese Bestimmung den Entschädigungsanspruch nur den Trägern der dort genannten Parlaments funktionen zuweist. Dass dem Erstattungsanspruch das Bedürfnis zugrunde liegt, lediglich den finanziellen Sonderaufwand auszugleichen, ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte des § 6 Abs. 3 ThürAbgG. Die Regelung ist als unmittelbare Reaktion darauf erlassen worden, dass das Bundesverfassungsgericht am 21.7.2000 zwar § 5 Abs. 2 Nr. 2 und 3 ThürAbgG für verfassungswidrig erklärt, in seinem Urteil aber auch zum Ausdruck gebracht hat, dass vom Gedanken des Aufwendungsersatzes getragene Zuwendungen nicht das Tor zu einem differenzierten, Abhängigkeit erzeugenden oder verstärkenden und damit die Freiheit der Mandatsausübung gefährdenden Entschädigungssystem öffnen (BVerfGE 102, 224, 242, 245). Mit § 6 Abs. 3 ThürAbG hat der Gesetzgeber den durch das Urteil vom 21.7.2000 freigelassenen Weg nach Maßgabe der bereits im ersten Diätenurteil des Bundes-

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Verfassungsgerichts erfolgten Eingrenzung auf den finanziellen, angemessenen A u f w a n d eingeschlagen, indem er die so ihrer Art nach qualifizierten Aufwendungen mit der besonderen Parlamentsfunktion des Erstattungsberechtigten verbindet. b) Dieser in § 6 Abs. 3 ThürAbgG geregelte Aufwand wird nicht bereits aus anderen Rechtsgrundlagen erstattet. Wie ausgeführt, erfassen ihn weder die Grundentschädigung nach § 5 ThürAbgG, noch die Amtsausstattung nach § 6 Abs. 1 und 2 ThürAbgG. Ein Ausgleich der besonderen funktionsbedingten Aufwendungen findet auch nicht gem. § 51 ThürAbgG statt. Aus den dort geregelten Zuwendungen an die Landtagsfraktionen dürfen Leistungen an Fraktionsmitglieder gem. ausdrücklicher Anordnung in § 51 S. 5 ThürAbgG nur erfolgen, soweit nicht nach dem Thüringer Abgeordnetengesetz Entschädigungen gezahlt werden. Damit ist ausgeschlossen, dass Sonderaufwand, welcher sich aus der Wahrnehmung eines Ausschussvorsitzes oder aus der Fraktionsgeschäftsführertätigkeit ergeben hat, aus Fraktionsmitteln ausgeglichen wird. Hiervon ausgenommen sind bei Vorhandensein mehrerer Geschäftsführer lediglich die Funktionsträger, welche nicht unter die Ausgleichsregelung § 6 Abs. 3 ThürAbgG fallen. 7. § 6 Abs. 3 verletzt auch nicht dadurch die Landesverfassung, dass er nicht auf einen konkreten, sog. „spitzen" Aufwendungsausgleich dergestalt besteht, dass die begünstigten Funktionsträger die im Einzelfall entstandenen Aufwendungen jeweils für sich zur Erstattung anmelden. Der v o m Gesetzgeber gewählte W e g des pauschalierten Ausgleichs ist aus verfassungsrechtlichen Gründen prinzipiell nicht zu beanstanden. a) Das Gesetz v o m 20.12.2000 beansprucht seiner Natur wie seiner Zweckbestimmung nach Geltung für eine \Telzahl von Regelungsanlässen. Indem es den Einzelsachverhalt v o m Zuwendungsgrund abstrahiert, muss es auch hinsichtlich der Ausgleichshöhe verallgemeinern. Diesem, dem Gesetzgeber durch Verfassungsrecht nicht generell verbotenen Verfahren standen in dem Regelungsbereich des § 6 Abs. 3 ThürAbgG keine sich aus Besonderheiten der geregelten Materie ergebenden Hindernisse entgegen. Wie die Feststellungen des Thüringer Rechnungshofs und die ihnen zugrunde liegenden Angaben der Funktionsträger zeigen, sind die Erstattungsanlässe keinesfalls so heterogen, dass sie sie sich einer zusammenführenden Betrachtung zwecks vereinheitlichter Ausgleichsregelung entzögen. Im Vordergrund der Erstattungsanlässe stehen ganz eindeutig die Fahrtaufwendungen. Dass insoweit verallgemeinernde Ausgleichsbestimmungen unbedenklich sind, hatte der Thüringer Verfassungsgerichtshof im Flinblick auf § 6 Abs. 2 ThürAbgG festgestellt (ThürVerfGH, LVerfGE 9, 413, 447). Soweit den durch § 6 Abs. 3 begünstigten Abgeordneten weitere funktionsbedingte Aufwendungen entstehen, lassen diese sich in einer „In-Etwa-Größenordnung" erfassen und im Voraus pauschalier abschätzen.

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b) Der Gesetzgeber ist jedoch gehalten, die Pauschalierung so zu bemessen, dass der Pauschalbetrag den tatsächlichen Aufwand annähernd erreicht. Mit dem Prinzip der Gleichbehandlung unvereinbar wäre jede Regelung, die es ermöglichen würde, dass im Rahmen der pauschalen Aufwandsentschädigung höhere Kosten oder günstigere Berechnungsmethoden Berücksichtigung finden könnten, als dies im Falle einer konkreten („spitzen") Abrechnung des besonderen funktionsbedingten Aufwands der Fall wäre, denn ein den typischerweise gegebenen tatsächlichen Aufwand überschießender Pauschalbetrag enthält eine aufwendungsunabhängige Zulagenkomponente und ist insoweit unvereinbar mit Art. 53 Abs. 1 ThürVerf. Der als Pauschale den Funktionsträgern für besonderen Aufwand gewährte Erstattungsbetrag muss sich daher in seiner Höhe nicht nur am tatsächlich entstandenen Aufwand orientieren (so bereits BVerfGE 40, 296, 328; 49, 1, 2), sondern darüber hinaus auch an den Betrag anlehnen, der dem Funktionsträger nach dem System der vorhandenen Abgeordnetenentschädigung bei einer konkreten („spitzen") Abrechnung erstattet würde. Denn soweit dem Funktionsträger tatsächlich entstandener Aufwand nach der gesetzlichen Systematik nicht in voller Höhe erstattet werden kann, kann dieser Aufwand auch im Rahmen einer Pauschalierung keine vollumfängliche Berücksichtigung finden. c) Die Feststellung, dass für den von § 6 Abs. 3 angestrebten Ausgleich die Pauschalierung der Erstattungsleistungen keinen grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet, erfolgt aufgrund einer ausreichenden Tatsachenbasis. Diese hat sich aus dem vom Thüringer Verfassungsgerichtshof festgelegten Erhebungsfragen einerseits und aus den dazu gegebenen Antworten andererseits ergeben. Die Fragen haben sich, wie der Präsident des Thüringer Rechnungshofs dem Thüringer Verfassungsgerichtshof bestätigt hat, als geeignet erwiesen, den funktionsbedingten, besonderen, finanziellen Aufwand zu erfassen. Sie beziehen sich auf diejenigen Anlässe, aus denen derartige Aufwendungen typischerweise zu erwarten sind. Es hat sich auch gezeigt, dass der im Beschluss vom 15.1.2002 bestimmte Erhebungszeitraum ausreichend bemessen war, um eine Aussage darüber treffen zu können, ob und welche Aufwendungen dem in § 6 Abs. 3 ThürAbgG bestimmten Ausgleichsbetrag im Allgemeinen gegenüber stehen. d) Die insoweit notwendigen weiteren Ermüdungen, insbesondere die Auswertung der zu den Erhebungsbögen gegebenen Antworten, konnte der Thüringer Verfassungsgerichtshof dem Thüringer Rechnungshof übertragen. Die §§ 21 ff ThürVerfGHG beschränken die Uberzeugungsbildung des Verfassungsgerichtshofs nicht auf ein bestimmtes Beweisverfahren, insbesondere nicht auf den Einsatz bestimmter Beweismittel. Der Thüringer Verfassungsgerichtshof gelangt zu seinen Feststellungen nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung bezogen auf einen unter Ausschöpfung aller nach Maßgabe des Einzelfalles ihm geeignet erscheinender Feststellungsmittel und -methoden. § 2 1 ThürVerfGHG statuiert auch keinen Unmittelbarkeitsgrundsatz dahingehend, LVerfGE 14

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dass der Verfassungsgerichtshof seine Feststellungen aus einem direkten Kontakt zu den ihm für die Sachverhaltsaufklärung und Uberzeugungsbildung geeignet erscheinenden Mitteln ζu treffen hätte. Zwar verweist § 22 ThürVerfGHG auf das Beweisrecht der Zivilprozessordnung und damit auf das dort geltende Unmittelbarkeitsprinzip. Das gilt jedoch nur für die Fälle, in denen der Verfassungsgerichtshof selbst Zeugen vernehmen oder Sachverständigengutachten einholen will. Soweit der Verfassungsgerichtshof seine Uberzeugung aus einem nicht in der Zivilprozessordnung geregelten Verfahren gewinnt, können hierauf die Beweisrechtsbestimmungen der ZPO keine Anwendung finden. e) Nach dem F.rgebnis dieser Ermitdung ist die gewonnene Tatsachenbasis ausreichend breit für die Aussage, dass das in § 6 Abs. 3 ThürAbgG gewählte System der pauschalierten Auslagenerstattung als solches keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet. Wie die Mitteilung des Thüringer Rechnungshofes vom 28.11.2002 überzeugend ausführt, sind sowohl für die Ausschussvorsitzenden wie für die parlamentarischen Geschäftsführer der Landtagsfraktionen besondere funktionsbedingte Aufwendungen feststellbar. Diese vom Präsidenten des Thüringer Rechnungshofs dem Thüringer Verfassungsgerichtshof am 3.6.2003 erläuterte Aussage wird nicht durch die vom Landesrechnungshof hervorgehobenen Divergenzen beim Erfassen des hier in Frage stehenden Sonderaufwands in Zweifel gezogen. Diese Divergenzen beruhen im Wesentlichen auf einer uneinheitlichen Zuordnung der bei Gelegenheit der Funktionswahrnehmung entstandenen Aufwendungen. Der Thüringer Verfassungsgerichtshof hatte die betroffenen Abgeordneten über die Präsidentin des Thüringer Landtags darauf hingewiesen, dass die Frage, ob der jeweilige Aufwand funktions- oder mandatsbezogen ist, allein danach zu beantworten sei, ob — die Funktion hinweggedacht — der Aufwand auch entstanden wäre. Es sollte damit vermieden werden, dass die Aufwendungszuordnung durch die Frage überlagert wird, ob nicht, wie die Antragstellerinnen geltend machen, ein funktionsbedingter Sonderaufwand vom Zuwendungssystem der §§ 5 Abs. 1, 6 Abs. 1 und 2 ThürAbgG bereits erfasst ist. Wie die dem Thüringer Verfassungsgerichtshof im Verlauf dieses Verfahrens zugegangenen Rückfragen zeigen, ist seitens der den Antragstellerinnen angehörenden Funktionsträger diese Frage tatsächlich gestellt worden. Sie wurde im Vorfeld einer Aufwandszuordnung auch im Sinne der Antragstellerinnen beantwortet, so dass die in die Erhebungsbögen eingeflossenen Angaben nicht unerheblich von dieser Wertung beeinflusst sind und so die tatsächlichen Verhältnisse nicht zuverlässig wiedergeben. Die mit Hilfe des Thüringer Rechnungshofs getroffenen Feststellungen weisen nach, dass die Wahrnehmung der Aufgaben eines Ausschussvorsitzenden oder eines parlamentarischen Geschäftsführers einer Landtagsfraktion erheblichen finanziellen Zusatzaufwand verursachen kann, der in den Erhebungsbögen dokumentiert ist. Insoweit haben die vorgenommenen Uberprüfungen nicht ergeben, dass seitens der nicht den Antragstellerinnen angehörenden Funktionsträger LVerfGE 14

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in nennenswertem Umfang Aufwendungen in die Erhebungsbögen eingestellt worden sind, die entweder nicht funktionsbedingt oder nicht finanzieller Natur oder nicht angemessen gewesen wären. Dabei ist bedacht, dass, wie oben ausgeführt, jeder Funktionsträger die für die Aufwendungszuordnung entscheidende Frage zunächst aus seiner Mandatsverantwortung heraus beantworten muss und dass nur offensichtliche Fehlzuweisungen nicht anzuerkennen sind. Für bewusste Fehlzuordnungen haben die im vorliegenden Verfahren getroffenen Feststellungen nichts ergeben. 8. Der Gesetzgeber hat beim Beschluss des § 6 Abs. 3 ThürAbgG jedoch nicht beachtet, dass ihn der allgemeine Gleichheitsgrundsatz des Art. 2 ThürVerf anhält, die Erstattungsregelung in das durch das bisherige Gesetzesrecht vorgegebene Gestaltungssystem einzubeziehen. Wie oben ausgeführt, tritt hinsichtlich der Erstattungsfähigkeit der einem Landtagsabgeordneten aus der Wahrnehmung besonderer parlamentarischer Funktionen entstandenen Aufwendungen der aus dem verfassungsrechtlichen Status des Abgeordneten abgeleitete formale Gleichheitsgrundsatz zurück. Die Auslagenerstattung unterliegt vielmehr dem allgemeinen Gleichbehandlungsgebot, welches in seiner negativen Ausprägung untersagt, Ungleiches gleich zu behandeln. Fällt die Ursache eines Vermögensaufwandes, der als solcher nur einem Mandatsträger entstehen kann, nicht mehr in den Bereich der allgemeinen Mandatsausübung, so erfordert das Verbot, Ungleiches gleich zu behandeln, die Erstattung dieser besonderen Auslagen. Andererseits hält der allgemeine Gleichheitsgrundsatz den Gesetzgeber aber auch an, bei seinen Regelungen nicht willkürlich zu differenzieren, indem er gleich gelagerte Sachverhalte ohne rechtfertigenden Grund mit unterschiedlichen inhaltlichen Konsequenzen verknüpft. Dies ist der Fall, wenn der Gesetzgeber sich einerseits zur pauschalen Auslagenerstattung entschließt, wenn er aber die Höhe des Pauschalbetrags ungeachtet der Bemessungsgrundlagen bestimmt, welche bei konkreter, „spitzer" Berechnung gelten. Dieses Verfahren verletzt das allgemeine Gleichbehandlungsgebot, denn es kommt im Vergleich zur konkreten Berechnung allein deswegen zu anderen Ausgleichsbeträgen, weil der Gesetzgeber sich für den Pauschalausgleich entschieden hat. Dieser dient der Vermeidung von Verwaltungsaufwand; höhere Berechnungssätze und Ausgleichsbeträge legitimiert er nicht. Mit Art. 2 Abs. 1 ThürVerf ist es daher nicht zu vereinbaren, dass der in § 6 Abs. 3 ThürAbgG zur pauschalen Aufwandserstattung bestimmte Betrag von höheren Erstattungssätzen ausgeht, als ein Funktionsträger sie nach geltendem Recht bei der Einzelabrechnung erzielen könnte. Eine mit Art. 2 Abs. 1 ThürVerf nicht zu vereinbarende Ungleichbehandlung liegt ferner darin, dass § 6 Abs. 2 Nr. 3 ThürAbgG für Aufwendungen für Anfahrten vom Wohnsitz des Abgeordneten zum Sitz des Landtags im Bereich der allgemeinen Mandatsausübung entfernungsabhängige Erstattungspauschalen festsetzt, während die Reisekostenerstattung in den Pauschalbetrag des § 6 Abs. 3 ThürAbgG unabhängig davon eingeflossen ist, welche

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Wegstrecke ein Funktionsträger zurücklegt, wenn er sich von seinem Wohnort nach Erfurt begibt. a) Wie die durch den Thüringer Verfassungsgerichtshof veranlassten Erhebungen ergeben haben, resultiert der weit überwiegende Teil der funktionsbedingten Abrechnungen aus Fahrtkosten. Für die Frage, ob der in § 6 Abs. 3 ThürAbgG bestimmte Pauschalbetrag dem tatsächlichen Aufwand zumindest nahe kommt, ist daher neben den Fahrwegen der diesen pro Kilometer zuzuordnende Erstattungsbetrag entscheidend. Der Gesetzgeber hat sich insoweit nicht an der Regelung des Thüringer Reisekostengesetzes orientiert. Diese zu beachten, war er zwar nicht allein deswegen verpflichtet, weil sie die für den öffentlichen Dienst in Thüringen maßgebliche Bemessungsgröße ist, denn die Mitglieder des Landtags stehen nicht im Dienst des Freistaats; außerdem umfasst das Ausgleichssystem des Thüringer Reisekostengesetzes nicht nur die reinen Fahrtkosten, sondern deckt über die Tagegelder auch sonstigen Aufwand ab. Die Bindung an das Thüringer Reisekostengesetz ergibt sich für den Gesetzgeber jedoch daraus, dass § 10 Abs. 3 ThürAbgG dann, wenn Abgeordnete des Thüringer Landtags Dienstreisen nach Maßgabe des § 10 Abs. 1 ThürAbgG unternehmen, die Reisekosten „spitz" erstattet und dabei im Fall des Einsatzes des eigenen Kraftwagens die Fahrtkosten nach § 6 Abs. 2 ThürRKG mit 0,30 € je gefahrenen Kilometer angesetzt werden. Diesen Entschädigungsansatz kann der Gesetzgeber für § 6 Abs. 3 ThürAbgG nicht herangezogen haben, weil ansonsten und, bezogen auf die üblicherweise zurückgelegten Fahrstrecken, so, wie sie sich aus den vom Thüringer Verfassungsgerichtshof getroffenen Feststellungen ergeben, der pauschale Erstattungsbetrag nicht annähernd erreicht wird. Der Gleichheitsgrundsatz verbietet, für die Pauschalierung einen anderen Fahrtstreckenabgeltungsbetrag zu wählen. b) Ungleiches gleich behandelt hat der Gesetzgeber auch dadurch, dass er den Pauschalbetrag unabhängig von den Fahrstrecken bestimmt, die typischerweise den Reiseaufwand ergeben. Wie ausgeführt, resultieren die besonderen funktionsbedingten finanziellen Aufwendungen der parlamentarischen Geschäftsführer der Landtagsfraktionen und der Ausschussvorsitzenden im Wesentlichen aus Fahrtkosten. Es liegt daher auf der Hand, dass sich der erstattungsfähige Aufwand im Verhältnis der Reisewege verändert. Will insoweit der Gesetzgeber pauschalieren, dann darf er den einheitlichen Ausgleichssatz nicht ohne jede Rücksichtnahme auf die regelmäßig zu erwartenden Fahrwege festlegen. Die Relation von Reiseweg und Aufwandshöhe liegt § 6 Abs. 2 Nr. 3 ThürAbgG zugrunde; § 6 Abs. 3 ThürAbgG hätte sie nicht völlig ignorieren dürfen. Mag, wie die in diesem Verfahren getroffenen Feststellungen zeigen, ein nicht unerheblicher Teil des Fahrtaufwands der in § 6 Abs. 3 ThürAbgG begünstigten Funktionsträger aus Reisen resultieren, deren Ziel nicht die Landeshauptstadt ist, so ergeben die Feststellungen doch auch, dass ein gleichfalls nicht unerheblicher Teil

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des Reisekostenaufwands auf Fahrten vom Wohnsitz des Abgeordneten nach Erfurt zurückzuführen ist. 9. Hätte der Gesetzgeber sich bei der Ermitdung des pauschal abzugeltenden Aufwandes an diesen, auf den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz gestützten Erwägungen orientiert, so hätte er — abgesehen von der Staffelung des Entschädigungsbetrages nach Maßgabe des typischerweise unterschiedlichen Fahrtkostenaufkommens — eine Erstattungspauschale festlegen müssen, welche unter dem von § 6 Abs. 3 ThürAbgG bestimmten Betrag liegt. Insoweit folgt der Thüringer Verfassungsgerichtshof den überzeugenden Ausführungen des Thüringer Rechnungshofs in seiner Mitteilung vom 28.11.2002. Danach ist bei Beachtung des § 10 Abs. 3 ThürAbgG iVm § 6 Abs. 2 ThürRKG der Reisekostenaufwand der Funktionsträger höchstens in Höhe eines deutlich unter 500,00 € pro Monat liegenden Betrages pauschal abgeltungsfähig. Indem § 6 Abs. 3 ThürAbgG jedoch zunächst von 1300,00 DM bzw. rund 665,00 € ausgegangen ist, umfasst er neben der beabsichtigten — und auch zulässigen — Aufwandsausgleichung auch eine mit Art. 53 Abs. 1 ThürVerf, wie oben ausgeführt, unvereinbare und daher unzulässige funktionsbezogene Zuwendung im Sinne einer Staffeldiät. 10. Die festgestellte Verfassungswidrigkeit der Vorschrift führt vorliegend zur Unvereinbarkeit des § 6 Abs. 3 ThürAbgG mit der Verfassung (vgl. ξ 44 S. 1 ThürVerfGHG). Die Vorschrift darf daher für die Zukunft nicht mehr angewendet werden. Dagegen hat der Thüringer Verfassungsgerichtshof davon Abstand genommen, die verfassungswidrige Norm ex tunc für nichtig zu erklären. Denn es wurde festgestellt, dass den Ausschussvorsitzenden und parlamentarischen Geschäftsführern der Fraktionen ein besonderer funktionsbedingter finanzieller Aufwand entsteht. Eine Nichtigerklärung des § 6 Abs. 3 ThürAbgG würde daher ebenfalls zu einem verfassungswidrigen Zustand führen, da sie zur Folge hätte, dass die Funktionsträger gezw-ungen wären, diesen funktionsbedingten Aufwand aus ihrer der Lebenshaltung dienenden Grundentschädigung zu tragen. Dieses Ergebnis würde ebenfalls den Gleichheitssatz verletzen, und zwar insbesondere auch deshalb, weil eine rückwirkende konkrete Abrechnung solcher Aufwendungen in Anbetracht des Zeitraumes, über den § 6 Abs. 3 ThürAbgG bereits angewendet worden ist, für die einzelnen Funktionsträger schwierig und teilweise sogar unmöglich wäre. Für die Zukunft - nämlich übergangsweise bis zu einer verfassungskonformen Neuregelung einer pauschalierten Aufwandsentschädigung durch den Thüringer Gesetzgeber — ist es den bislang begünstigten Funktionsträgern jedoch möglich und auch zumutbar, ihren tatsächlich entstandenen, besonderen funktionsbedingten Aufwand gegen Nachweis konkret („spitz") abzurechnen.

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c. Das Verfahren ist gem. § 28 Abs. 1 ThürVerfGHG kostenfrei. Der Freistaat Thüringen hat den Antragstellerinnen ihre notwendigen Auslagen zu ersetzen (§ 29 Abs. 2 ThürVerfGHG). Dies gilt nicht für Kosten, die im Zusammenhang mit der beantragten, von den Antragstellerinnen wieder zurückgenommenen einstweiligen Anordnung entstanden sind. D. Die Entscheidung ist einstimmig ergangen.

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Sachregister Abgeordnetenhaus s. Parlament Abgeordneter s. a. Mandat Aufwandsentschädigung für besondere parlamentarische Funktionen 470 ff Aufwandsentschädigung, pauschalierte 458 ff Fragerecht 221 ff, 437 ff Fraktionsausschluss 194 ff Gleichbehandlungsgebot 458 f, 469 ff, 477 Mandat, freies 194, 469 f, 473 Tendenzanfrage 447 ff, 451 f Vorschlagsrecht für Ministerpräsidentenwahl 142 f Abschiebung vorläufiger Rechtsschutz 19, 23 ff Abstrakte Normenkontrolle s. Normenkontrolle (abstrakte) Aquivalenzprinzip und Gebührenhöhe 92 f Allgemeine Handlungsfreiheit s. Handlungsfreiheit Amt s. Gemeindeverbände Anhörung der Bevölkerung bei Gemeindegebietsreform, Anforderungen 201 ff, 207 ff, 218 der Gemeinde bei Gemeindegebictsreform, Anforderungen 210 ff der Gemeinde bei Gemeindegebietsreform, Frist 212 f Antragsbefugnis Organstreitverfahrcn 142 ff, 186, 194, 246, 251 f Antragsgegner Organstreitverfahren 145 f Prozessstandschaft 146 Asylverfahren Verfahrensdauer, überlange 172 ff

Ausgleichsmandate Verteilung 63, 69 f und Wahlrechtsgleichheit 11, 63 f Ausländerbeauftragter und Personalhoheit der Regierung 446 Ausländerrecht Abschiebung und vorläufiger Rechtsschutz 19, 23 ff Strafbarkeit unberechtigten Aufenthalts bei faktischer Duldung 19, 24 ff Baden-Württemberg Landtagswahl 2001, Wahlprüfungsbeschwerde 3 ff Baden-Württemberg (Landesverfassung) Wahlprüfungsverfahren 3 ff Wahlrechtsgleichheit 3, 10 ff Beamte Personalhoheit der Regierung 254 f, 264, 269 f Behörde Untersuchungsausschuss als — 318 ff Berlin Abgeordnetenhauswahl 2001, Wahlprüfungsbeschwerde 63 ff Verfassungsbeschwerde s. dort Berlin (Landesverfassung) Genehmigung einer Haushaltsüberschreitung 44 f Gesetzesvorbehalt, staatsschuldenrechtlicher 35, 53 ff Kreditbegrenzungsgebot 104 ff, 117 ff, 125 Rechtsschutzgarantie 19 Wahlprüfungsverfahren 63 ff Beschwerdebefugnis Kommunale Verfassungsbeschwerde 155 f, 206, 300 f, 425 f Bestimmtheitsgebot Aufenthaltsverbot, polizeiliches 393 ff

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Sachregister

Identitätsfeststellung, polizeiliche 364 ff, 384 f und prozeduraler Grundrechtsschutz 366 ff und Rechtsschutz 364 f Videoüberwachung, präventiv-polizeiliche 408 Beteiligtenfähigkeit Gemeinde, Kommunale Verfassungsbeschwerde 207, 300 Organstreitverfahren, Fraktion 141, 185 Bezirke kein Selbstverwaltungsrecht 269 Bezirksamtsleiter Aufgaben 262 Letztentscheidungsrecht bei Bestellung 254 f, 260 ff Bezirksversammlung Bezirksamtsleiter, Mitwirkung bei der Bestellung 254 f, 261 demokratische Legitimation 270 Bezirksverwaltungsgesetz Bestellung des Bezirksamtsleiters 254 ff Bindungswirkung Gesetzeskraft verfassungsgerichtlicher Entscheidung 3, 9, 12 ff Reichweite 466, 468 f Sachlage, neue 13 f Brandenburg Gemeindegebietsreform, Unterbleiben der Bevölkerungsanhörung 199 ff Kindertagesstättengesetz 146 ff Ministerpräsidentenwahl, Zurückweisung eines Wahlvorschlags 139 ff Untersuchungsausschuss, Beweisantragsrecht 187 ff Brandenburg (Landesverfassung) Be\veisantrags-/-erhebungsrecht im Untersuchungsausschuss 185 Gemeindegebietsreform 201 Kommunale \ ,7 erfassungsbeschwerde s. dort Mandat, freies 194 Ministerpräsidentenwahl, Vorschlagsrecht 142 f Opposition, Recht auf Chancengleichheit 144 f Organstreitverfahren 179 ff, 189 ff LVerfGE 14

Recht auf zügiges Verfahren vor Gericht 171 ff Budgetrecht s. a. Haushalt Gesetzesvorbehalt, staatsschuldenrechtlicher 53 f, 57 ff Umgehung durch Flucht in Nebenhaushalte 58 f Bürgermeister Gemeindegebietsreform, Anhörung 210 ff Bürgerschaft der Stadt Hamburg s. Parlament Bundesrecht Ausführung durch die Länder als eigene Angelegenheit 166 landesverfassungsrechtliche L'berprüfungsbefugnis von Bundesverfahrensrecht 316 f Bundesstaatsprinzip und Haushaltsnotlage eines Landes 122 Bundesverfassungsgericht Bindungswirkung der Entscheidungen 466, 468 f Entscheidung als Landesverfassungsgericht 469 Mitwirkung der Bezirksversammlung bei Bezirksamtsleiterbestellung 261 Personalhoheit der Regierung 263 f, 270 Subsidiarität von Landesverfassungsbeschwerden 316 ff Datenschutz s. a. Informationelle Selbstbestimmung und genetischer Fingerabdruck 79 ff Demokratieprinzip und Fragerecht, parlamentarisches 448 D'Hontsches Höchstzahlverfahren und Wahlrechtsgleichheit 9, 13, 15 Diäten Aufwandsentschädigung im Landtag, pauschalierte 458 ff DNA-Identitätsfeststellungsgesetz 74 ff Drogenszene Aufenthaltsverbot, polizeiliches 390, 393, 395, 397 Eigenbetriebe 55

Sachregister Eingemeindung s. Gemeinde - Gebietsreform Einheitsgemeinde 254, 269 f Einstweilige Anordnung Aussetzung des Gesetzesvollzugs 175 ff Folgenabwägung 177 f Kommunale Selbstverwaltung (Neugliederungsfälle) 175 ff Nachteil, irreversibler schwerer 177 Sperrwirkung einer Volksinitiative 246 ff Wohlverhaltensanordnung 175, 178 f Fachgerichtsbarkeit landesverfassungsrechtliche Uberprüfungsbefugnis 84 f Nichtergreifen des Rechtsbehelfs, Subsidiarität der Yerfassungsbeschwerde 287, 289 f, 315 ff Verfahrensdauer, angemessene 172 f Verletzung rechtlichen Gehörs 280, 285 ff keine Zurückverweisung nach landesverfassungsgerichtlicher Aufhebung 325 f Fahndung zur Verfolgung von Straftaten, Gesetzgebungskompetenz 381 f Faires Verfahren Beiziehung eines Rechtsbeistandes im Untersuchungsausschuss 328 Finanzausgleich Kommunaler — s. dort Finanzausgleichsgesetz (Mecklenburg·Vorpommern) 293 Finanzpolitik Unzulässigkeit prozvklischer — 131 Fingerabdruck, genetischer 74 ff Fraktion Ausschluss aus der —, Beurteilungsspielraum 195 ff Ausschluss aus der —, verfassungsrechtliche Anforderungen 194 ff Organstreitverfahren, Antragsbefugnis 186 Organstreitverfahren, Beteiligtenfähigkeit 141, 185 Organstreitverfahren, Fortsetzung durch Nachfolgefraktion 35, 50 f

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Organs treitverfahren, Parteifähigkeit 49 f parlamentarischer Geschäftsführer, Aufwandsentschädigung 470, 473 f, 476 personelle Diskontinuität 50 Prozessstandschaft für Rechte des Parlaments 52, 185 f Prozessstandschaft für Rechte einzelner Abgeordneter 144 Untersuchungsausschuss, Beweiserhebungsrecht 187, 189 im Untersuchungsausschuss 185 Vorschlagsrecht für Ministerpräsidentenwahl 142 f Vorsitzender, Aufwandsentschädigung 470 Freiheit der Person und Aufenthaltsverbot, polizeiliches 333, 391 f und Identitätsfeststellung, polizeiliche 363, 376 ff Freizügigkeit und Aufenthaltsverbot, polizeiliches 392 f Zulässigkeit landesrechtlicher Beschränkungen 389 f Frist Anpassung an neue Rechtslage, Ubergangs— 94 für Gemeindeanhörung bei Gebietsreform 212 f Organstreitverfahren 52 f, 444 f Verfassungsbeschwerde 91, 275, 277 f Gebührenrecht Abgabengerechtigkeit 86, 92 ff Aquivalenzprinzip 92 f Einschätzungs- und GestaltungsSpielraum des Gesetzgebers 91 ff Kalkulationsgrundlagen 92 Gemeinde Amtsangehörige kein Anspruch auf Ausgestaltung der Amtsverwaltung 206 Anhörung bei Gemeindegebietsreform 210 ff Beteiligten fähigkeit bei kommunaler Verfassungsbeschwerde 207, 300 Einheitsgemeinde 254, 269 f Gebietsreform, Anhörung der — 207 ff LVcrfGE 14

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Gebietsreform, Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers 214 Gebietsreform, Unterbleiben der Bevölkerungsanhörung 199 ff Jugendhilfeaufgaben, Verpflichtung zur Wahrnehmung 158 ff, 164 f Neugliederung als Lösung der StadtUmland-Problematik 215 f örtlicher Jugendhilfeträger auf Antrag 158, 161 ff Rechtsanspruch auf Kindertagesstättenplatz 147, 160 ff Vertretung bei Anhörung 210 ff Gemeindevetbände Amt, Ausgestaltung 206 Amtsdirektor, Anhörung bei Gemeindegebietsreform 210 ff Jugendhilfeaufgaben, Verpflichtung zur Wahrnehmung 158 f Gemeinwohl Kriminalitätsbekämpfung 373 f, 377, 386 Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht als Ziel der Haushaltsgesetzgebung 105 f, 117 ff, 125, 131 Gesetzesvorbehalt staatsschuldenrechtlicher — 35, 53 ff Gesetzgebung s. a. Parlament s. a. Volksgesetzgebung Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum 91 ff, 97, 103 f, 120, 123, 126, 214, 293, 302 f, 369 f, 385, 388, 395, 401,403, 4 1 3 , 4 3 0 parlamentarische — und Volksgesetzgebung 253 Gesetzgebungskompetenz Gefahrenabwehrrecht 380, 389 gerichtliches \ r erfahrcn 333, 358 f, 381 ff Prüfungsbefugnis, landesverfassungsgerichtliche 156 f, 357 ff Übertragung der Trägerschaft für Jugendhilfeaufgaben 146 f, 156 ff, 160 ff, 166 versammlungsbezogene Straftaten 380 Gesetzgebungsverfahren Transparenzgebot für diätenrelevante Gesetze 458, 467 ff Gewährträgerschaft 60, 62 LVerfGE 14

Gewaltenteilung Meinungsbildungspflicht der Regierung 437, 452 ff Gleichheitsgrundsatz Abgabengerechtigkeit 86, 92 ff Aufwandsentschädigung im Landtag, pauschalierte 458 f, 469 ff Eckgrundstücksvergünstigungen 97 ff, 102 ff Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers 91 ff, 97, 104 f Härtefallregelung 97 Interkommunales Gleichbehandlungsgebot 293, 302 ff und Wahlrecht s. Wahlgleichheit Grundrechte Freiheit der Person 333, 363, 376 ff, 391 f Freizügigkeit 333, 389 ff Grundrechtsverzicht, konkludenter 407 f Handlungsfreiheit, allgemeine 31 ff, 333 f, 363, 391 ff Informationelle Selbstbestimmung s. a. Datenschutz 79 ff, 363 ff Menschenwürde 79 prozeduraler Schutz 366 ff, 401 f Recht auf zügiges Verfahren vor Gericht 171 ff Versammlungsfreiheit 387 ff Grundrechtsklage s. Verfassungsbeschwerde Hamburg Online-Roulette 233 ff Personalhoheit des Senats 254 ff Sperrwirkung einer Volksinitiative 246 ff Verkauf von Mehrheitsanteilen an Krankenhäusern 246 ff Hamburg (Landesverfassung) Fragerecht, parlamentarisches 227 ff Normenkontrollverfahren 233 ff Organstreitverfahren 221 ff, 246, 254 ff parlamentarische Verantwortung des Senats 255, 270 f Personalhoheit des Senats 254 f, 269 f Rechtsstaatsprinzip 241 f

Sachregister stadtstaatliche Einheitsverwaltung 254, 269 f Handlungsfreiheit und Aufenthaltsverbot, polizeiliches 333 f, 391 ff und Identitätsfeststellung, polizeiliche 363 strafrechtliche Ahndung einer Tat ohne Schuld 31 ff Hare/Niemayer-Quotenmethode und Wahlrechtsgleichheit 15 Haushalt Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers 105 f, 120, 123, 126 Flucht in Nebenhaushalte 58 f Gebot des Haushaltsausgleichs 116 Genehmigungspflicht einer I Iaushaltsüberschreitung 44 Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht, Wahrung 104 f, 117 ff, 124 ff, 131 Gesetzesvorbehalt, staatsschuldenrechtlicher 35, 53 ff Haushaltsautonomie, materielle 124 Haushaltsgrundsätzegesetz 56 f, 124 haushaltsrechtliche Selbstständigkeit juristischer Personen 35, 55 ff Kreditbegrenzungsgebot 104 ff, 117 ff, 125 Parallelpolitik, kein Zwang zur 119, 131 Haushalts gesetz Darlegungspflicht der Ziele 120, 126 f, 129 ff Nichtigkeitserklärung 106, 134 f Haushaltsgrundsätzegesetz 56 f, 124 Haushaltsnotlage Darlegungspflicht 123, 132 ff eines Landes und Bundesstaatsprinzip 122 und Kreditbegrenzungsgebot 104 ff, 121 ff, 132 f Hessen (Landesverfassung) rechtliches Gehör 280, 285 ff Verfassungsbeschwerde s. dort Informationelle Selbstbestimmung Datenabgleich, polizeilicher 378 f Durchsuchung von Personen und Sachen 377 ff genetischer Fingerabdruck 79 ff

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Informationsgewinnung durch Verdeckte Ermittler 334, 400 ff Videoüberwachung, präventivpolizeiliche 334, 406 ff Investitionsförderungsgesetz Aufbau Ost 293, 305 Jugendhilferecht s. Kinder- und Jugendhilferecht Juristische Person des öffentlichen Rechts haushaltsrechtliche Selbstständigkeit 35, 55 ff Kreditaufnahme durch - und Gesetzesvorbehalt 35, 54 ff Kinder- und Jugendhilferecht Trägerschaft, Begriff 147, 161, 167 f Übertragung der Trägerschaft für Jugendhilfeaufgaben, fehlende Landeskompetenz 146 f, 166 ff Kindertagesstättengesetz (Brandenburg) 146 ff Kommunale Selbstverwaltung Aufgabenübertragung und finanzielle Ausgleichspflicht 413, 427 fehlende Gesetzgebungskompetenz für Eingriff 156 ff Finanzausstattungsgarantie 301 f Finanzhoheit 426 Gemeindegebietsreform, Bevölkemngsanhörung 201 f, 207 ff, 218 Gemeindegebietsreform, Gemeindeanhörung 210 ff Jugendhilfeaufgaben 162 Konnexitätsprinzip 427 öffentliches W ohl als Rechtfertigung für Eingriffe 214 ff Pflichtaufgabe zur Erfüllung in eigener Verantwortung 428 Pflichtig-Machen bisher freiwilliger Aufgabe 4 1 3 , 4 2 8 , 4 3 1 Kommunale Verfassungsbeschwerde Aussetzung des Verfahrens 426 Beschwerdebefugnis 155 f, 206, 300 f, 425 f Beteiligtenfälligkeit amtsangehöriger Gemeinde 300 Beteiligtenfähigkeit aufgelöster Gemeinde 207 Finanzausgleich 293 ff, 413 ff

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Gemeindegebietsreform, Gemeindeanhörung 203 ff Gemeindegebietsreform, Unterbleiben der Bevölkerungsanhörung 199 ff Prüfungsbefugnis bzgl. Landesgesetzgebungskompetenz 157 Subsidiarität 301 Kommunaler Finanzausgleich Aufgabe, neue 428 Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers 293, 302 f, 413, 430 Einwohnerzahl als Maßstab 293, 303 ff Interkommunales Gleichbehandlungsgebot 293, 302 ff Kostendeckung 413, 429 ff Kostenprognose des Gesetzgebers 413, 428 f Mehrbelastung durch Aufgabenübertragung 413, 431 f Pauschalierung, zulässige 293, 303 ff Planungs Sicherheit der Kommunen 429 Schlüsselzuweisungen 304 Zweckzuweisungen 304 f, 307 Kreditbegrenzungsgebot in der Berliner Verfassung 104 ff, 117 ff, 125 f Kreditbegriff 53, 60 ff Kreise s. Landkreis Kriminalitätsbekämpfung Notwendigkeit des Einsatzes Verdeckter Ermittler 399 Zulässigkeit präventiv-polizeilicher Maßnahmen 360 ff Landesverfassungsgerichtsbarkeit Antwort auf parlamentarische Anfrage, Nachprüfbarkeit 221, 229 ff Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, eingeschränkte Uberprüfbarkeit 97, 103 f, 120, 214, 302 f, 403 Fraktionsausschluss, eingeschränkte Überprüfbarkeit 195 ff freie Beweiswürdigung 475 f Gerichtsentscheidungen, Uberprüfbarkeit 84 keine Zurückverweisung an zuständiges Gericht nach Aufhebungsentscheidung 325 f

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Landkreis örtlicher Jugendhilfeträger 158, 161 ff, 165 f Rechtsanspruch auf Kindertagesstättenplatz 147, 161 Landtag s. Parlament Landtagspräsident eigene Zuständigkeit kraft Aufgabenübertragung 145 Organstreitverfahren, Antragsgegner 145 Legitimation s. a. Demokratieprinzip Bürgermeister als Gemeindevertreter bei Anhörung 211 und Entscheidungsfreiheit einer Bezirksversammlung 270 Mandat s. a. Abgeordneter Aufwand, mandatsbedingter und Entschädigung 458 f, 471 ff Ausgleichsmandate und Wahlrechtsgleichheit 11, 63 f Ausgleichsmandate, Verteilung 63, 69 f freies - 194, 469 f, 473 Mecklenburg-Vorpommern Finanzausgleichsgesetz 293 ff Mecklenburg-Vorpommern (Landesverfassung) Kommunaler Finanzausgleich 293 ff Menschenwürde und genetischer Fingerabdruck 79 Minderheitenschutz durch Prozessstandschaft 52 Rechte im Untersuchungsausschuss 187 ff Ministervorbehalt Einrichtung von polizeilichen Kontrollbereichen 382 f, 386 Nichtigkeitserklärung Absehen von — 479 Teil— 326 ff Normenkontrolle (abstrakte) Aufwandsentschädigung für Landtagsabgeordnete, pauschalierte 458 ff Online-Roulette, keine Zulassung nach SpielbankG 233 ff Sächsisches Polizeigesetz 333 ff

Sachregister Öffentlicher Personennahverkehr und europarechtliches Verbot staatlicher Beihilfen 426 und Kommunale Selbstverwaltung 413 ff Öffentliches Wohl Rechtfertigung kommunaler Neugliederung 214 ff Opposition Organstreitverfahren, Beteiligtenfähigkeit 141 Recht auf Chancengleichheit 144 f Organstreitverfahren Antragsbefugnis 142 ff, 186, 194, 246, 251 f Antragsgegner 145 f Beteiligtenfähigkeit 141, 185 Fortsetzung durch Nachfolgefraktion 50 f Frist 52 f, 444 f Ministerpräsidentenwahl, Zurückweisung eines Wahlvorschlags 139 ff öffentliches Interesse an der Entscheidung 226 Rechtsschutzbedürfnis 51 f, 141 f, 186, 194 subjektiv-rechtlicher Prüfungsmaßstab 142 Parlament Ausschussvorsitzender, Aufwandsentschädigung 470, 473 f, 476 Einschränkung der Entscheidungsfreiheit 105, 117 Fragerecht und Antwortpflicht 221 ff, 437 ff Fraktionsausschluss 194 f ministerielle Berichtspflicht nach Polizeirecht 367, 374 Präsident, Aufwandsentschädigung 470 Tendenzanfrage 447 ff, 451 f Zustimmung zu Teilprivatisierung von Krankenhäusern 252 Parteifähigkeit Organstreitverfahren, Fraktion 49 f Persönlichkeitswahl und Wahlrechtsgleichheit 11 f Plebiszit s. Volksgesetzgebung

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Polizeigesetz, Sächsisches Normenkontrollverfahren 333 ff Polizeirecht Aufenthaltsverbot 333 f, 389 ff Datenabgleich 378 f, 384, 386 f Einrichtung von Kontrollbereichen 333, 379 ff Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers 369 f, 385, 388, 395, 401, 403 Erfordernis verbindlichen Konzepts für Präventionsmaßnahmen 333, 357, 367 f erkennungsdienstliche Behandlung 375 f Fahndungsbefugnis legitimes Gesetzgebungsziel 369 Gesetzgebungskompetenz 333, 358 f und Grenzschutz 359 Identitätsgewahrsam 376 f Identitätskontrollen, ereignis- und verdachtsunabhängige 333, 357 ff Ingewahrsamnahme Selbsttötungswilliger 334, 403 f Sistierung 375 f Verdeckter Ermittler, nachträgliche Information des Betroffenen 334, 397 ff versammlungsbezogene Straftaten 380 Videoüberwachung, präventive 334, 406 ff Zurechnungszusammenhang 371 ff, 378 Prozessstandschaft Antragsgegner 146 Fraktion für einzelne Abgeordnete 144 Fraktion für Rechte des Parlaments 52, 185 f gegen den Willen des Organs 52 und Minderheitenschutz 52 Rechtliches Gehör Beiziehung eines Rechtsbeistandes im Untersuchungsausschuss 328 Nichtberücksichtigung wesentlichen und substantiierten Vorbringens 280, 285 ff Rechtsbehelf außerordentlicher — und Frist für Verfassungsbeschwerde 275 ff

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488

Sachregister

unklare Statthaftigkeit und Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde 287, 289 f Rechtsnachfolger Fraktion im Organstreitverfahren 50 f Rechtsschutz und Bestimmtheitsgebot 364 f Dokumentationserfordernis für polizeiliche Präventionsmaßnahmen 333, 357, 367 ff Gewährung effektiven —es 19, 23 ff, 365, 368 Gewährung vorläufigen —es und Abschiebung 19, 23 ff Information des Betroffenen über Einsatz verdeckter Ermittler 334, 397 ff Recht auf zügiges Verfahren vor Gericht 171 für Volksinitiative 251 Rechtsschutzbedürfnis Organstreitverfahren 51 f, 141 f, 186, 194 Rechtsschutzgarantie Einsatz verdeckter Ermittler, Information des Betroffenen 334, 397 ff und Praktikabilitätserwägungen 399 f Rechtsstaatsprinzip Änderung des Bernessungsgrundlage für Straßenreinigung 93 f Prüfungsbefugnis, landesverfassungsgerichtliche bzgl. Landesgesetzgebungskompetenz 157 Rechtsverordnungen, Anforderungen 241 ff und strafrechtliche Ahndung einer Tat ohne Schuld 31 ff Rechtsverordnung Anforderungen, verfassungsrechtliche 241 ff Rechtswegerschöpfung durch einstweiliges Anordnungsverfahren 315 ff Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde 275, 278, 287, 315 ff Verzicht auf — 316 f bei Verzicht auf Hauptsacheverfahren 315 ff Zumutbarkeit 171, 315

UVerfGE 14

Regierung Antwortpflicht bei parlamentarischer Anfrage 227 ff, 437 ff Antwortverweigerungsrecht 228 f, 437, 449 keine Auskunftspflicht über Sicherheitskonzept für —mitglieder 229 ff Bestellung des Bezirksamtsleiters 254 f, 260 ff dienstordnungsrechtliche Würdigung von Beamtenverhalten 453 Eigenverantwortung, Kernbereich 446 f, 452 Meinungsbildungspflicht 437, 451 ff Personalhoheit 254 f, 264, 269 f, 446 Verbindlichkeit von Volksgesetzgebung 253 Regierungsbezirk Zwischenschaltung bei Wahl 11, 14 Richtervorbehalt Einsatz \^erdeckter Ermittler 401 ff Identitätsgewahrsam 377 Roulette keine Zulassung von Online— 233 ff Saarland Parlamentarischer Untersuchungsausschuss, Beiziehung eines Rechtsbeistandes 311 ff Saarland (Landesverfassung) Behörde, Begriff 318 f faires Verfahren 328 Gleichheitsgrundsatz 328 f rechtliches Gehör 328 Rechtsbeistand in behördlichem Verfahren 318 ff Sachsen Polizeigesetz 333 ff Sachsen (Landesverfassung) Bestimmtheitsgebot 364 ff Freiheit der Person 333, 363, 376 ff, 391 f Handlungsfreiheit 333 f, 363, 391 ff Informationelle Selbstbestimmung 334, 363 ff Nachprüfung des Einsatzes nachrichtendienstlicher Mittel 403 Normenkontrollverfahren 333 ff Rechtsweggarantie 334, 397 ff Versammlungsfreiheit 387 ff Zitiergebot 388 f, 400

Sachregister Sachsen-Anhalt Öffentlicher Personennahverkehr 413 ff Sachsen-Anhalt (Landesverfassung) Kommunaler Finanzausgleich 413, 427 ff Sainte-Lague/Schepers-Divisorverfahren und Wahlrechtsgleichheit 3 , 1 5 Schengener Übereinkommen 359 f Schutzpflicht des Staates gegenüber friedlichen Versammlungsteilnehmern 388 Selbsttötung Ingewahrs amnahme S elb s ttö tungswilliger 334, 403 f Selbstverwaltung s. Kommunale Selbstverwaltung Senat der Stadt Hamburg s. Regierung Sicherheit als Verfassungswert 374 Sozialgesetzbuch VIII Gesetzgebungskompetenz, konkurrierende 157 f, 165 Trägerschaft für Jugendhilfe 147,161 f Spielbankgesetz, Hamburgisches Beschränkung auf Präsenzspiele 243 ff Stadt, kreisfreie örtlicher Jugendhilfeträger 158, 161 ff, 165 f Rechtsanspruch auf Kindertagesstättenplatz 147 Strafprozessrecht DNA-Erfassung bei Tat von erheblicher Bedeutung 74 ff Strafverfolgung Identitätsfeststellung bei Fahndung, Gesetzgebungskompetenz 381 f Subsidiarität der kommunalen Verfassungsbeschwerde 301 der Verfassungsbeschwerde 275, 278, 287, 315 ff Thüringen Aufwandsentschädigung für Landtagsabgeordnete, pauschalierte 458 ff Thüringen (Landesverfassung) Fragerecht, parlamentarisches 437 ff Mandat, freies 469 f, 473

489

Normenkontrollverfahren 458 ff Organstreitverfahren 437 ff Thüringer Abgeordnetengesetz 458 ff Trägerschaft Begriff 147, 161, 167 ff Typisierung von Sachverhalten verfassungsrechtliche Zulässigkeit 101, 104, 293, 306, 459, 474 ff Ubermaßverbot s. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Untersuchungsausschuss als Behörde 318 ff Beiziehung eines Rechtsbeistandes für Betroffene 311 Beweiserhebungsrecht der qualifizierten Minderheit 187 ff Verfahrensdauer Asylverfahren 172 ff Verfassungsbeschwerde kommunale — s. dort Verfassungsbeschwerde (Berlin) Begründungserfordernis 79 Frist 91 Gewährung effektiven Rechtsschutzes 19 Gleichheitsgrundsatz 92 ff Handlungsfreiheit, allgemeine 31 ff Menschenwürde 79 Recht auf informationelle Selbstbestimmung 79 ff Straßenreinigung 86 ff Verfassungsbeschwerde (Brandenburg) kommunale — s. dort Recht auf zügiges Verfahren vor Gencht 169 ff Verfassungsbeschwerde (Hessen) Frist 275, 277 f rechtliches Gehör 280 ff Rechtsbehelfe, außerordentliche 275 ff Subsidiarität bei Nichtergreifen des Rechtsbehelfs 287, 289 f Verfassungsbeschwerde (Saarland) Beschwerde von allgemeiner Bedeutung 316 Parlamentarischer Untersuchungsausschuss, Beiziehung eines Rechtsbeistandes 311 ff LVerfGE 14

490

Sachregister

Verfassungsstreitigkeit s. Organstreitverfahren Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Aufenthaltsverbot, polizeiliches 395 ff Einsatz Verdeckter Ermittler, Ausschluss der Information Betroffener 402 f gebührenrechtliche Ausprägung 93 genetischer Fingerabdruck 85 Identitätskontrollen, ereignis- und verdachtsunabhängige 369 ff, 385 f kommunale Neugliederung 216 f verdeckte Informationsgewinnung 399 ff Videoüberwachung, präventiv-polizeiliche 408 ff Verhältniswahl Höchstzahlverfahren nach d'IIondt 10, 13, 15 Quotenverfahren nach Hare/Niemever 10,15 Zuteilungsverfahren nach Sainte-Lague/ Schepers 3, 15 Versammlungsrecht und Länderpolizeirecht 380 und Maßnahmen, polizeilich-präventive 387 ff Vertrauensschutz Änderung des Bemessungsgrundlage für Straßenreinigung 93 f Änderung des Verteilungsmaßstabs für kommunalen Finanzausgleich 306 f Videoüberwachung, präventivpolizeiliche Anforderungen, verfassungsrechtliche 334, 406 ff Bestimmtheitsgebot 408 Gesetzgebungskompetenz 405 kein konkludenter Grundrechtsverzicht 407 f \ 7 erhältnismäßigkeitsgrundsatz 408 ff Volksbegehren 246 Volksgesetzgebung und parlamentarische Gesetzgebung 253

LVerfGE 14

Sperrwirkung einer Volksinitiative 246 ff Volksinitiative Antragsbefugnis im Organstreitverfahren 246, 250 f Ausstattung mit Verfassungsrechten 246, 251 Umdeutung 254 Vollstreckung Schutz vor — kraft Verfassungsrechts 26 Vorbehalt des Gesetzes s. Gesetzesvorbehalt Wahlen s. a. Wahlprüfungsverfahren Ministerpräsidentenwahl, Zurückweisung eines \Xahlvorschlags 139 ff Wahlergebnis Berechnungsverfahren 3, 9 f, 15 Wahlprüfungsverfahren Begrenzung der Prüfauftrags 3, 9 Begründungserfordernis für Einspruch 68 f Einspruchsberechtigung 68 kein Normenkontrollverfahren 8 Wahlrechtsgleichheit und mathematisches Zuteilungsverfahren 3, 15 und parteipolitische Zusammensetzung des Parlaments 3, 10 f und regionale Zusammensetzung des Parlaments 3, 11 Wesentlichkeitstheorie s. a. Gesetzesvorbehalt und parteiinterner Proporz bei Wahlen 71 f Wiedereinsetzung in den vorigen Stand Verfassungsbeschwerde, Fristversäumnis 2 7 5 , 2 7 8 Willkürverbot Erfordernis eines Konzepts für polizeiliche Präventionsarbeit 366, 368 Zitiergebot 388 f, 400

Gesetzesregister Bundesrecht DNA-Identitätsfeststellungsgesetz vom 7. September 1998 (BGBl. I S. 2646) - DNA-IFG -

§2

Nr. 4 (B)

Einführungsgeserz zum Gerichtsverfassungsgesetz v o m 27. Januar 1877 (RGBl. S. 77) - E G G V G -

§ 11 Abs. 6

Nr. 1 (HB)

Gesetz, betreffend die Einführung der Zivilprozessordnung v o m 30. Januar 1877 (RGBl. S. 244) - E G Z P O -

§ 26 Nr. 5 § 26 Nr. 8

Nr. 3 (I-IE) Nr. 3 (HE)

Gesetz über das Bundesverfassungsgericht idF der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl. I S. 1473) mit späterer Änderung — BVerfGG -

§ 31 Abs. 2 Satz 3 § 93 Abs. 1

Nr. 1 (BW) Nr. 2 (He)

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 (BGBl. I S. 1) - GG -

Art. Art. Art. Art.

72 74 Abs. 1 Nr. 7 84 Abs. 1 100 Abs. 1

Nr. Nr. Nr. Nr.

2 2 2 2

(Bbg) (Bbg) (Bbg) (Bbg)

Art. Art. Art. Art. Art.

11 70 72 73 74

Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.

1 1 1 1 1

(S) (S) (S) (S) (S)

Gesetz über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern im Bundesgebiet vom 9. Juli 1990 (BGBl. I S. 1354) - AuslG -

ξ 9? Abs. 1

Nr. 1 (B)

Haushaltsgrundsätzegesetz v o m 19. August 1969 (BGBl. I S. 1273) -

ξ \ Satz 2 , 2 Sat2 \

Nr 9 (B) Nr' 2 (B)

Investitionsförderungsgesetz Aufbau Ost vom 23. Juni 1993 (BGBl. S. 944) - IFG -

§ 42 Abs. 1 § 48 Abs. 2 Satz 1 ξ \ ρ

Nr. 2 (B) Nr. 2 (B) Nr. 1 (MV) t (MV)

492

Gesetzesregister

Sozialgesetzbuch, Achtes Buch: Kinder- u. Jugendhilfe vom 9. April 2002 (BGBl. I S. 1 2 3 9 ) - S G B V I I I -

§ § l § §

3 Abs. 2 Satz 2 24 69 79 85

Strafprozessordnung iclF der Bekanntmachung vom 7. April 1987 (BGBl. I S. 1074, ber. S. 1319) - StPO -

§ 81g

Nr. 4 (B)

Verwaltungsgerichtsordnung idF der Bekanntmachung vom 19. März 1991 (BGBl. I S. 686) - V w G O -

§ 80 Abs. 4 ξ 80 Abs. 5

Nr. 1 (B) Nr. 1 (B)

Zivilprozessordnung idF vom 12. September 1950 (BGBl. S. 533) - ZPO

§ § § §

Nr. Nr. Nr. Nr.

321a 544 545 Abs. 1 546 Abs. 1

Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.

2 2 2 2 2

3 3 1 1

(Bbg) (Bbg) (Bbg) (Bbg) (Bbg)

(He) (He) (He) (He)

Landesrecht Baden-Württemberg Gesetz über die Landtagswahlen idF vom 6. September 1983 (GBl. S. 509), geändert durch Gesetz vom 15. Oktober 1990 (GBl. S. 293), vom 18. Februar 1991 (GBl. S. 85), vom 3. Juli 1995 (GBl. S. 509) und vom 12. Februar 1996 (GBl. S. 94) - LWahlG)

Gesetz über die Prüfung der Landtagswahlen (Landtagswahlprüfungsgesetz) vom 7. November 1955 (GBl. S. 231), zuletzt geändert durch Gesetz vom 11. April 1983 (GBl. S. 161, ber. S. 635) - LWPrG -

LVerfGE 14

§ 1 Abs. 1 § 1 Abs. 2 Satz 1

Nr. 1 (BW) Nr. 1 (BW)

§ 1 Abs. 3

Nr. 1 (BW)

§ 2 Abs. 1

Nr. 1 (BW)

§ 2 Abs. 2

Nr.

§ 2 Abs. 3

Nr. 1 (BW)

1 (BW)

§ 2 Abs. 3 Satz 2

Nr.

§ 2 Abs. 4

Nr. 1 (BW)

§ 2 Abs. 4 Satz 1

Nr. 1 (BW)

§ 2 Abs. 4 Satz 2

Nr.

1 (BW)

§ 2 Abs. 4 Satz 3

Nr.

1 (BW)

§ 2 Abs. 5

Nr. 1 (BW)

§ 2 Abs. 7

Nr. 1 (BW)

§ 1 Abs. 1 § 1 Abs. 3

Nr. 1 (BW) Nr. 1 (BW)

1 (BW)

Gesetzesregister Gesetz über den Staatsgerichtshof v o m 13. Dezember 1954 (GBl. S. 171), zuletzt geändert durch Gesetz v o m 9. März 1976 (GBl. S. 3 1 0 ) - S t G I I G -

Verfassung des Landes Baden-Württemberg vom 11. November 1953 (GBl. S. 173) mit Änderungen und Ergänzungen - LV -

493

§ 23 Abs. § 23 Abs. Buchst, a § 23 Abs. § 52 Abs. § 52 Abs. Buchst, b Art. 26 Art. 28 Art. 68 Nr. 2 Art. 68

1 1 Satz 1 1 Satz 2 1 Satz 1 1 Satz 2

Nr. 1 (B\X) Nr. 1 (BW) Nr. 1 (BW) Nr. 1 (BW) Nr. 1 (BW)

Abs. 4 Abs. 1 Abs. 1 Satz 2 Abs. 4 Satz 2

Nr. 1 (BW) Nr. 1 (BW) Nr. 1 (BW) Nr. 1 (BW)

Berlin Gesetz über die Feststellung des Haushaltsplans von Berlin für die Haushaltsjahre 2002 und 2003 v o m 19. Juli 2002 (GVB1. S. 213) - HG 02/03 -

ξ 3 Abs. 1 Satz 1

Nr. 6 (B)

Gesetz über den \ r erfassungsgerichtshof vom 18. November 1990 (GVB1. S. 2246; GBAB1. S. 510) - VerfGHG -

§ § § § §

Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.

Landeswahlgesetz vom 25. September 1987 (GAT31. S. 2370) - LWahlG -

\η \bs 3 J 17 Abs! 4

14 36 37 37 42

Nr. 1 Abs. 1 Abs. 3 Abs. 2 Nr. 5

2 2 2 2 3

(B) (B) (B) (B) (B)

Nr 3 (B) Nr! 3 (B)

§ 19

Nr. 3 (B)

Landeswahlordnung vom 8. Februar 1988 (GVB1. S. 373) - LWahlO -

§ 73 Abs. 6 Buchst, d Satz 6

Nr. 3 (B)

Straßenreinigungsgesetz v o m 19. Dezember 1978 (GVB1. S. 2501) StrReinG -

§ 7 Abs. 2 § 7 Abs. 3 § 7 Abs. 4

Nr. 5 (B) Nr. 5 (B) Nr. 5 (B)

Verfassung von Berlin vom 23. November 1995 (GVB1. S. 779) - V v B -

Art. Art. Art. Art. Art. Art. Art. Art.

Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.

10 15 33 84 85 87 87 88

Abs. 1 Abs. 4 Satz 1 Abs. Abs. Abs. Abs.

2 Nr. 1 1 1 2 Satz 2

4 4 4 1 1 3 4 2

(B) (B) (B) (B) (B) (B) (B) (B)

LVcrfGE 14

494

Gesetzesregister

Brandenburg Amtsordnung für das Land Brandenburg idF der Bekanntmachung vom 10. Oktober 2001 (GVB1. I S. 188) - AmtsO -

§ 4 Abs. 3

Nr. 8 (Bbg)

Fraktionsgesetz vom 29. März 1994 (GVB1. I S. 86) - FraktG -

§2

Nr. 6 (Bbg)

6. Gemeindegebietsreformgesetz vom 24. März 2003 (GVB1. I 2003, S. 93) - 6. GemGebRefG -

Art. 1 § 8

Nr. 4 (Bbg)

Gemeindeordnung für das Land Brandenburg idF der Bekanntmachung vom 10. Oktober 2001 (GVB1. I S. 154) mit späteren Änderungen — GO —

§ 67 Abs. 1

Nr. 8 (Bbg)

Geschäftsordnung des Landtages Brandenburg vom 28. Februar 2000 (GVB1. I S. 4) - GOLT -

§41

Nr. 1 (Bbg)

Gesetz über das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg idF der Bekanntmachung vom 22. November 1996 (GVB1. I S. 344) mit späteren Änderungen — Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg - VerfGGBbg -

§ 30 Abs. 1 § 41 Satz 2

Nr. 4 (Bbg) Nr. 2 (Bbg)

Kindertagesstättengesetz vom 10. Juni 1992 (GVB1. I S. 178) - KitaG -

§12 §16 §16a §18 Art. 2 Abs. ! Art. 52 Abs. 4 Satz 1 Art. 56 Abs. 1 Art. 67 Abs. 1 Art. 72 Abs. 1 Art. 72 Abs. 3 Art. 83 Abs. 1 Satz 2 Art. 97

Nr. 2 (Bbg) Nr. 2 (Bbg) Nr. 2 (Bbg) Nr. 2 (Bbg) Nr. 2 (Bbg) Nr. 3 (Bbg) Nr. 6 (Bbg) Nr. 5 (Bbg) Nr. 5 (Bbg) Nr. 5 (Bbg) Nr. 1 (Bbg) Nr. 2, 4, 8 (Bbg) Nr. 4 (Bbg) Nr. 8 (Bbg) Nr. 8 (Bbg) Nr. 7 (Bbg)

Verfassung des Landes Brandenburg vom 20. August 1992 (G\T31. I S. 298) mit späteren Änderungen - LV —

Art. Art. Art. Art.

LVerfGE 14

98 98 Abs. 1 98 Abs. 2 98 Abs. 2 Satz 3

Gesetzesregister

495

Hamburg Bezirksverwaltungsgesetz vom 11. Juni 1997 (HmbGVBl. S. 205, 206) mit späterer Änderung - BezVG -

§ § § §

3 Abs. 1 5 17 26

Gesetz über die Zulassung einer öffentliehen Spielbank v o m 24. Mai 1976 (GVB1. S. 139) mit späteren Änderungen — SpielbankG —

§2 §4 § 6 Abs. 4

Nr. 2 (H) Nr. 2 (H) Nr. 2 (H)

Gesetz über das Hamburgische Verfassungsgericht idF v o m 23. März 1982 (HmbGVBl. S. 59) mit späteren Änderungen - HVerfGG -

§ § § § § §

Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.

Hamburgisches Gesetz über Volksiniüative, Volksbegehren und Volksentscheid v o m 20. Juni 1996 (HmbGVBl. S. 136) mit späteren Änderungen — H m b V W G —

§ 2 Abs. 1 Satz 1 § 3 Abs. 2 Nr. 1 § 3 Abs. 2 Nr. 3

Nr. 3 (H) Nr. 3 (H) Nr. 3 (H)

Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg v o m 6. Juni 1952 (HmbBl I 100a) mit späteren Änderungen — HV —

Art. 4 Art. 25 Art. 30 Art. 33 Art. 45 Satz 1 Art. 48 Abs. 1 Art. 53 Abs. 1 Art. 50 Art. 65 Abs. 3 Nr. 2 Art. 65 Abs. 3 Nr. 3 Art. 65 Abs. 3 Nr. 4 Art. 72 Abs. 3

Nr. 4 (H) Nr. 1 (H) Nr. 1 (H) Nr. 4 (H) Nr. 4 (H) Nr. 3 (H) Nr. 2 (H) Nr. 3 (H) Nr. 1, 3 (H) Nr. 2 (I I) Nr. 4 (H) Nr. 3 (H)

\^erordnung über die Spielordnung für die öffentliche Spielbank in I Iamburg v o m 28. Mai 2002 (HmbGVBl. S. 81) - SpielO -

§ 1 Abs. 2 § 1 Abs. 3

Nr. 2 (H) Nr. 2 (H)

14 Nr. 2 14 Nr. 3 14 Nr. 4 35 Abs. 1 39a 43

Nr. Nr. Nr. Nr.

4 4 4 4

(H) (H) (H) (H)

1, 3 (H) 2 (II) 4 (H) 3 (H) 3 (H) 4 (H)

LVerfGE 14

496

Gesetzesregister

Hessen Gesetz über den Staatsgerichtshof des Landes Hessen vom 19. Januar 2001 (GVbl. I S. 28) - StGHG -

Verfassung des Landes Hessen vom 1. Dezember 1946 (GVB1. 1946 S. 229) - HV -

§ 25 Abs. § 43 Abs. § 43 Abs. § 44 Abs. § 44 Abs. § 44 Abs. § 45 Abs.

2 1 Satz 2 1 Satz 1 Satz 1 Satz 1

1 1 2 3

Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.

2 (He) 1 (He) 1 (I Ie) 1 (lie) 2, 3 (He) 2 (He) 2 (lie)

Art. 3

Nr. 1 (He)

§ 6 Abs. 1 § 6 Abs. 2 §7 §8 § 10b Abs. 2 Satz 1 § 10d § 10e § 10h Abs. 1 Satz 2 § 10h Abs. 1 Satz 3 § 11 Abs. 1 Nr. 10 § 51 Abs. 2 § 52 Satz 1 § 53

Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.

§ 127 Abs. 1 Satz 6

Nr. 1 (MV)

Mecklenburg-Vorpommern Finanzausgleichsgesetz idF der Bekanntmachung vom 4. Januar 2002 (GVOB1. S. 19) - FAG -

Gesetz über das Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern vom 19. Juli 1994 (G\OB1. S. 734), zuletzt geändert durch 1. LVerfGG-AndG M-V vom 9. Juli 2002 (GVOB1. S. 450) - IVerfGG Kommunalverfassung für das Land Mecklenburg-\ 7 orpommern idF der Bekanntmachung vom 13. Januar 1998 (GVOB1. S. 29, ber. S. 890), zuletzt geändert durch 4. AndG vom 9. August 2000 (GVOB1. S. 360) - KV M-V X'erfassung des Landes MecklenburgVorpommern vom 23. Mai 1993 (GVOB1. S. 371), geändert durch 1. AndG vom 4. April 2000 (GVOB1. S. 158) - LV -

LVerfGE 14

Art. 53 Nr. 8 Λγ{ 7 2 A b s

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1

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1 (MV) 1 (MV) 1 (MV) 1 (MV) 1 (MV) 1 (MV) 1 (MV) 1 (MV) 1 (MV) 1 (MV) 1 (MV) 1 (MV) 1 (MV)

Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV)

497

Gesetzesregister

Saarland Gesetz Nr. 645 über den Verfassungsgerichtshof des Saarlandes idF der Bekanntmachung vom 6. Februar 2001 (Amtsbl. S. 582) - VerfGHG -

§ 55

Nr. 1 (SL)

Gesetz über den Landtag des Saarlandes vom 20. Juni 1973 (ABl S. 517) - LTG -

§ 54 § 57

Nr. 1 (SL)

\'erfassung des Saarlandes vom 15. Dezember 1947 (Amtsbl. S. 1077), zuletzt geändert durch Gesetz Nr. 1478 vom 5. September 2001 (Amtsbl. S. 1630) -SVerf-

Art. 14 Abs. 1

Nr. 1 (SL)

Gesetz über den Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen vom 18. Februar 1993 (GVB1. S. 177, ber. S. 495), geändert durch 1. AndG vom 27. September 1995 (GVB1. S. 321) - SächsVerfGHG -

§ 7 Nr. 2 § 21 Nr. 1 § 23 Satz 2

Nr. 1 (S) Nr. 1 (S) Nr. 1 (S)

Polizeigesetz des Freistaates Sachsen idF der Bekanntmachung vom 13. August 1999 (GVB1. S. 466) - SächsPolG -

§ 19 §20 § 21 § 22 § 23 § 24 § 37 § 38 § 39 ξ 43 § 46

Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.

1 (S) 1 (S) 1 (S) 1 (S) 1 (S) 1 (S) 1 (S) 1 (S) 1 (S) 1 (S) 1 (S)

Verfassung des Freistaates Sachsen vom 27. Mai 1992 (GVB1. S. 243) - SächsVerf-

Art. Art. Art. Art. Art. Art. Art. Art. Art. Art.

Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.

1 (S) 1 (S) 1 (S) 1 (S) 1 (S) 1 (S) 1 (S) 1 (S) 1 (S) 1 (S)

Sachsen

1 3 Abs. 2 15 16 Abs. 1 Satz 2 17 23 33 37 Abs. 1 38 Satz 1 39 Abs. 2

LVerfGE 14

498

Gesetzesregister Art. 81 Abs. 1 Nr. 2 Art. 83 Abs. 3

Nr. 1 (S) Nr. 1 (S)

Gesetz zur Gestaltung des Öffentlichen Personen-Nahverkehrs im Land-SachsenAnhalt vom 24. November 1995 (LSAGVB1. S. 339) idF vom 27. April 2000 (LSA-G\^B1. S. 226)

Art. 1 Abs. 1 Art. 3 Art. 15 Nr. 1

Nr. 1 (SA) Nr. 1(SA) Nr. 1 (SA)

Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt vom 16. Julr 1992 (LSA-GVB1. S. 600) - LVerfG -

Art. 87

Nr. 1 (SA)

Gesetz über den Thüringer Verfassungsgerichtshof vom 28. Juni 1994 (GVB1. S. 81) - ThürVerfGHG -

§ 11 Nr. 3 § 11 Nr. 4 § 15 Abs. 1 Satz 1 §§ 21 ff §22 §25 § 28 Abs. 1 ξ 39 Abs. 3 Satz 1 §43

Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.

Thüringer Abgeordnetengesetz idF der Bekanntmachung vom 9. März 1995 (GVB1. S. 121) - ThürAbgG -

§ 5 Abs. § 5 Abs. § 5 Abs. aF § 6 Abs. § 6 Abs. § 6 Abs. §10 § 51

Nr. 2 (Thür) Nr. 2 (Thür)

Sachsen-Anhalt

Thüringen

Sechstes Gesetz zur Änderung des Thüringer Abgeordnetengesetzes vom 20. Dezember 2000 (GVB1. S. 419)

LVerfGE 14

1 2 Satz 1 Nr. 2 2 Satz 1 Nr. 3 1 2 3

Art. 1 Nr. 2

Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.

1 (Thür) 2 (Thür) 2 (Thür) 2 (Thür) 2 (Thür) 2 (Thür) 1, 2 (Thür) 1 (Thür) 2 (Thür)

2 2 2 2 2 2

(Thür) (Thür) (Thür) (Thür) (Thür) (Thür)

Nr. 2 (Thür)

499

Gesetzesregister Thüringer Gesetz zur Deregulierung und Beschleunigung disziplinarrechtlicher Verfahren bei Beamten v o m 21. Juni 2002 (GVB1. S. 257) - Disziplinargesetz - ThürDG -

§ 27 Abs. 1

Nr. 1 (Thür)

Thüringer Reisekostengesetz v o m 10. März 1994 (GVB1. S. 265) - ThürRKG -

ξ 6 Abs. 2

Nr. 2 (Thür)

Verfassung des Freistaats Thüringen vom 25. Oktober 1993 (GVB1. S. 625) -ThürVerf-

Art. 2 Abs. 1 Art. 48 Abs. 2 Art. 53 Abs. 1 Art. 53 Abs. 2 Art. 54 Abs. 1 Art. 67 Abs. 1 Art. 67 Abs. 3 Nr. 2 Art. 67 Abs. 3 Art. 80 Abs. 1 Art. 80 Abs. 1 Art. 81 ff Art. 86 Abs. 1

Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.

2 1 2 1 1 1

(Thür) (Thür) (Thür) (Thür) (Thür) (Thür)

Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.

1 1 1 2 2 2

(Thür) (Thür) (Thür) (Thür) (Thür) (Thür)

Satz 2 Satz 1 Satz 1 Satz 2 Nr. 3 Nr. 4

LVerfGE 14

Verzeichnis der Verfassungsgerichte der Länder (Stand: März 2005) 1.

Staatsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg Postfach 10 36 53, 70031 Stuttgart Ulrichstraße 10, 70182 Stuttgart Tel.: 0711 / 212-30 26 Fax: 0711 / 212-30 24 E-Mail: [email protected] \v\vw.baden-wuerttemberg.de/staatsgerichtshof

2.

Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin Elßholzstraße 30-33 10781 Berlin Tel.: 030 / 90 15 26 52 Fax: 030 / 90 15 26 66 E-Mail: [email protected] www.berlin.de/verfassungsgericht

3.

Verfassungsgericht des Landes Brandenburg Allee nach Sanssouci 6 14471 Potsdam Tel.: 0331 / 9 83 81 02 Fax: 0331 / 9 67 93 18 E-Mail: [email protected] www.verfassungsgericht.brandenburg.de

4.

Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen Osterdeich 17 28203 Bremen Tel.: 0421 / 36 12 190 Fax: 0421 / 36 14 172 E-Mail: [email protected] www2.bremen.de/staatsgcrichtshof/

5.

Hamburgisches Verfassungsgericht Sievekmgplatz 2 20355 Hamburg Tel.: 040 / 42 843 0 Fax: 040 / 42 843 40 97 wAvw.hamburg.de/StadtPol/Gerichte/VerfG/welcome, htm

502

Verzeichnis der Verfassungsgerichte der Länder

6.

Staatsgerichtshof des Landes Hessen Mühlgasse 2 65183 Wiesbaden Tel.: 0611 / 32 27 38 Fax: 0611 / 32 26 17 www.staatsgerichtshof.hessen.de

7.

Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern Domstraße 7 17489 Greifswaid Tel.: 03834 / 89 06 61 Fax: 03834 / 89 06 62 E-Mail: [email protected]

8.

Niedersächsischer Staatsgerichtshof Herminenstraße 31 31757 Bückeburg Tel.: 05722 / 29 02 18 Fax: 05722 / 29 02 17 E- Mail: [email protected] www.staatsgenchtshof.niedersachsen.de

9. Verfassungsgerichtshof des Saarlandes Franz-Josef-Röder-Straße 15 66119 Saarbrücken Tel.: 0681 / 501 52 36 und 501 53 50 Fax: 0681 / 501 53 51 E-Mail: [email protected] www.verfassungsgerichtshof-saarland.de/ 10. Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen Postfach 10 09 64, 04009 Leipzig Harkortstraße 9, 04107 Leipzig Tel.: 0341 / 21 41 0 Fax: 0341 / 21 41 250 www.justiz.sachsen.de/gerichte/homepagcs/verfg/ 11. Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt Postfach 14 26, 06813 Dessau Willy-Lohmann-Straße 29, 06844 Dessau Tel.: 0340 / 202 14 51 Fax: 0340 / 202 15 60 www.lverfg.justiz.sachsen-anhalt.de/ 12. Thüringer Verfassungsgerichtshof Postfach 23 62, 99404 Weimar Kaufstraße 2-4, 99423 Weimar Tel.: 03643 / 206 0 Fax: 03643 / 206 224 E-Mail: [email protected] www. thvergh. thucringen. de