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German Pages 560 Year 2002
Entscheidungen der Verfassungsgerichte der Länder Baden-Württemberg, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen
Entscheidungen der Verfassungsgerichte der Länder Baden-Württemberg, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen
Herausgegeben von den Mitgliedern der Gerichte
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RECHT
2002 De Gruyter Recht · Berlin
Entscheidungen der Verfassungsgerichte der Länder Baden-Württemberg, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen LVerfGE 11. Band 1.1. bis 31. 12. 2000
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2002 De Gruyter Recht · Berlin
Zitierweise Für die Zitierung dieser Sammlung wird die Abkürzung LVerfGE empfohlen, ζ. B. LVerfGE 1,79 (= Band 1 Seite 79)
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufitahme Entscheidungen der Verfassungsgerichte der Länder = LVerfGE / hrsg. von den Mitgliedern der Gerichte. — Berlin ; New York : de Gruyter Recht Bd. 11. Baden-Württemberg, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen : 1. 1. bis 31. 12. 2000. - 2002 ISBN 3-89949-012-6 (De Gruyter Recht) ISBN 3-11-017513-4 (de Gruyter)
© Copyright 2002 by De Gruyter Rechtswissenschaften Verlags-GmbH, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: WERKSATZ Schmidt & Schulz GmbH, Gräfenhainichen Druck: WB-Druck, Rieden am Forggensee Bindung: Lüderitz & Bauer Buchgewerbe GmbH, Berlin
Vorwort „Im Hinblick auf die besondere Stellung der Landesverfassungsgerichte als Verfassungsorgane und wegen der spezifischen Inhalte ihrer Rechtsprechung haben sich die Verfassungsgerichte der Länder Berlin, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern entschlossen, die wichtigsten ihrer zur Veröffentlichung bestimmten Entscheidungen in einer gemeinsamen Sammlung zusammenzufassen, deren erster Band hiermit vorgelegt wird. Es wäre wünschenswert, wenn künftig auch die Entscheidungen anderer Landesverfassungsgerichte Eingang in diese Sammlung fänden." Diesem Wunsch aus dem Vorwort zu dem 1996 erschienenen Band 1 der Entscheidungen der Verfassungsgerichte der Länder haben im Laufe der Jahre die meisten der damals noch nicht einbezogenen Landesverfassungsgerichte Rechnung getragen. Nunmehr sind in dieser Sammlung auch vertreten: der Staatsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg, der Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen, das Hamburgische Verfassungsgericht, der Staatsgerichtshof des Landes Hessen, der Niedersächsische Staatsgerichtshof sowie die Verfassungsgerichtshöfe des Saarlandes und des Freistaates Sachsen. Lediglich der Bayerische Verfassungsgerichtshof, der Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen und der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz, welche eine lange Tradition spezifischer Entscheidungssammlungen aufweisen, konnten sich bislang nicht zu einem Beitritt entschließen. Die sehr begrüßenswerte deutliche Erweiterung des Teilnehmerkreises hatte für die beteiligten Landesverfassungsgerichte allerdings den Zwang zur Selbstbeschränkung zur Folge. Dies betrifft insbesondere diejenigen Verfassungsgerichte, die für Individualverfassungsbeschwerden zuständig sind. Die intensive Inanspruchnahme dieses außerordentlichen Rechtsbehelfs führt zwangsläufig zu deutlich mehr Entscheidungen als im Falle der Staatsgerichtshöfe, denen eine solche Zuständigkeit fehlt. Bereits der Band 10 der Sammlung war als Jahresband konzipiert; einige Entscheidungen sind nur mit den Leitsätzen abgedruckt oder gekürzt wiedergegeben. Auch künftig soll pro Jahr ein Band mit einem Gesamtumfang von etwa 550 Seiten erscheinen. Der vorliegende Band 11 bezieht sich auf Entscheidungen aus dem Zeitraum vom 1.1. bis 31.12.2000. Für die langjährige engagierte, zuverlässige und wohlwollende Förderung der Entscheidungssammlung sind die beteiligten Landesverfassungsgerichte dem Verlag Walter de Gruyter und insoweit besonders Frau Dr. Dorothee Walther&ovAc Frau Dr. Ute von derAa zu großem Dank verpflichtet. Auf Anregung des Verlages werden von nun an in jeden Band der Entscheidungssammlung Vorworte aufgenommen. Diese werden von demjenigen Präsidenten
verfaßt, der in dem betreffenden Jahr des Erscheinens Gastgeber der Jahrestagung der Präsidentin und der Präsidenten der Staats- und Verfassungsgerichtshöfe des Bundes und der Länder ist bzw. war. Die diesjährige Tagung fand vom 22. bis 24. Mai 2002 in Berlin statt. Berlin, im Juni 2002
Professor Dr. Helge Sodan Präsident des Verfassungsgerichtshofes des Landes Berlin
Inhalt* Entscheidungen des Staatsgerichtshofs fut das Land Baden-Württemberg . . . . Nr. 1
Nr. 2
Nr. 3
Nr. 4
8.2.2000 GR 1/98 8.2.2000 GR 1/00
19.5.2000 GR 2/99
5.12.2000 GR 3/99
Seite
Rechts- und Gesetzeskraft eines NormenkontrollUrteils, das die Unvereinbarkeit einer Norm mit der Landesverfassung feststellt
3
Kein Normenkontrollverfahren gegen Landesgesetze auf Antrag eines Einzelnen und keine Landesverfassungsbeschwerde vor dem Staatsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg
19
Möglichkeit der Verletzung von Rechten einer Landtagsfraktion oder des Landtags durch Regierungsmitglieder oder die Landesregierung infolge Zuwiderhandlungen gegen Art. 53 Abs. 2 Sätze 1,2 LV . . .
23
Verfahrensbeendende Wirkung einer Antragsrücknähme
34
Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin Nr. 1
Nr. 2
Nr. 3
Nr. 4
21.2.2000 VerfGH 122/99
Wahlprüfungsverfahren; Einreichung von Wahlvorschlagen; Begriff der politischen Partei
39
8.3.2000 VerfGH 121/98
Überprüfung einer gerichtlichen Entscheidung am Maßstab des Grundrechts auf rechtliches Gehör; Wiedereinsetzung in den vorigen Stand; Wartezeit bei angezeigter Verspätung eines Verfahrensbeteiligten .
44
18.5.2000 VerfGH 78/99
Einspruch gegen die Feststellung des Nichtzustandekommens eines Volksbegehrens; Anforderungen an das Abstimmungsverfahren
49
15.6.2000 VerfGH 47/99
Beteiligtenfähigkeit der Berliner Bezirke im Organstreit- und Verfassungsbeschwerdeverfahren . . . .
62
* Die entsprechend gekennzeichneten Entscheidungen sind entweder nur mit den Leitsätzen abgedruckt oder gekürzt wiedergegeben und im Volltext bei den jeweiligen Landesverfassungsgerichten erhältlich (Adressen s. Anhang).
Vili
Inhalt
Nr. 5
23.11.2000 VerfGH 117/99
Verfassungsbeschwerde gegen Akte im Rahmen des Wahlverfahrens; Verhältnis von Wahlprüfung und Verfassungsbeschwerde; Geltendmachung einer Verlegung des subjektiven Wahlrechts (hier: Bereitstellung von Wahlschablonen für blinde Wähler); Rechtsschutzbedürfnis
Nr. 6
23.11.2000 VerfGH 72/00
Überprüfung einer zivilgerichtlichen Entscheidung am Grundrecht auf Eigentum; Mieterhöhung nach Erhalt öffentlicher Fördermittel für Modernisierungsmaßnahmen; Ansatz von Kürzungsbeträgen ....
Nr. 7
21.12.2000 VerfGH 136/00
Parteifahigkeit der Studentenschaft einer Hochschule im Verfassungsbeschwerdeverfahren
Entscheidungen des Verfassungsgerichts des Landes Brandenburg Nr. 1*
20.1.2000 VfGBbg 53/98 3/99
Kommunale Selbstverwaltung und Gesetz zur rechtliehen Stabilisierung der Zweckverbände für WasserVersorgung und Abwasserbeseitigung; gemeindliche Organisationshoheit und rückwirkende Heilung fehlerhafter Zweckverbandsgründungen
Nr. 2*
17.2.2000 VfGBbg 39/99
Verstoß gegen das Willkürverbot und das Recht auf rechtliches Gehör und Recht auf ein faires Verfahren bei Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung trotz Unklarheit über Mitteilung des Auflagenbeschlusses
Nr. 3*
17.2.2000 VfGBbg 43/99
Keine Verletzung von Prozeßgrundrechten nach unterbliebener Vollziehung einer einstweiligen Verfügung im Wege der Auslandszustellung, wenn der Verfügungskläger sich nicht nach dem Verbleib des Zustellungsnachweises erkundigt
Nr. 4*
17.2.2000 VfGBbg 45/99
Pflicht zur unverzüglichen Benachrichtigung einer Person des Vertrauens bei Entscheidung über den Freiheitsentzug für den Fall, daß das Vertrauensverhältnis zu dem Pflichtverteidiger gestört ist
Nr. 5*
16.3.2000 VfGBbg 42/99
Keine Verletzung von Prozeßgrundrechten bei Berücksichügung veränderter Anträge im Verfahren auf Erlaß einer einstweiligen Verfügung wegen presserechtlicher Gegendarstellung
Inhalt Nr. 6*
16.3.2000 VfGBbg 6/00
IX
Zur Frage einer Verletzung von Prozeßgrundrechten in einem zivilrechtlichen Verfahren für den Fall, daß das einfache Bestreiten wegen vorangegangenen Prozeßverhaltens der Partei nicht berücksichtigt wird; Bedeutung eines Hinweisbeschlusses
128
Nr. 7*
16.3.2000 VfGBbg 2/00
Anforderungen an das Verfahren im Räumungsprozeß wegen Eigenbedarfs
129
Nr. 8*
15.6.2000 VfGBbg 32/99
Kommunale Verfassungsbeschwerde gegen die VerOrdnung zur Verbindlicherklärung des Braunkohlenplans Tagebau Jänschwalde; Abgrenzung zwischen „Auflösung" einer Gemeinde und (anderweitigem) Eingriff in die Planungshoheit; Erforderlichkeit einer eigenen Entscheidungsverantwortlichkeit des Verordnungsgebers; Erforderlichkeit gesetzlicher Vorgaben für die Zusammensetzung und Arbeitsweise des Braunkohlenausschusses
129
21.9.2000 VfGBbg 38/00
Keine generelle Verpflichtung des Gerichts (hier: im Verkehrsunfallprozeß) zur Einholung eines Zweitgutachtens (hier: zur Ermittlung der Ausgangsgeschwindigkeit)
147
12.10.2000 VfGBbg 19/00
Wahlprüfungsbeschwerde: Beschwerdeberechtigung, Beginn der Beschwerdefrist, Anforderungen an die Rechtsmittelbelehrung; kein Nachrücken einer Ersatzperson aus der Landesliste, wenn ausscheidender Abgeordneter im Wahlkreis gewählt worden ist und die Partei, der er angehört, über bis zu zwei Uberhangmandate verfügt
148
12.10.2000 VfGBbg 20/00
Bestimmtheitsgebot und gesetzlicher Biotopschutz; Bedeutung eines landesrechtlichen Biotop-Verzeichnisses
160
12.10.2000 VfGBbg 37/00
Verletzung des Rechts auf Gelegenheit zur Zuziehung eines Rechtsbeistands vor richterlicher Entscheidung über Freiheitsentziehung bei nicht rechtzeitiger Ankündigung einer Anhörung vor der Strafvollstreckungskammer
161
Zur Pflicht der Landesregierung zur Beantwortung parlamentarischer Anfragen „nach bestem Wissen und Gewissen"
166
Nr. 9*
Nr. 10*
Nr. 11*
Nr. 12*
Nr. 13*
16.11.2000 VfGBbg 31/00
X Nr. 14*
Inhalt 16.11.2000 VfGBbg VfGBbg 49/00
Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde gegenüber fachgerichtlichem Hauptsacheverfahren bei Untersagung einer Äußerung durch einstweilige Verfügung
175
Entscheidungen des Staatsgerichtshofs der Freien Hansestadt Bremen Nr. 1
14.2.2000 St 1/98
Volksbegehren zur Verfassungsänderung
179
Nr. 2
29.8.2000 St 4/99
Kommunalwahlrecht und Stadtstaatlichkeit
199
Entscheidungen des Hamburgischen Verfassungsgerichts (in diesem Band keine Entscheidungsveröffentlichung)
Entscheidungen des Staatsgerichtshofs des Landes Hessen Nr. 1
5.4.2000 P.St. 1302
Rechtliches Gehör und gerichtlicher Hinweis
....
217
Nr. 2
14.6.2000 P.St. 1351
Prüfungsgegenstand und Frist bei Grundrechtsklage
227
Nr. 3
9.8.2000 P.St. 1547
Rechtliches Gehör; Wahlprüfung
236
Nr. 4
14.9.2000 P.St. 1314
Steuererhebungsermächtigung von Landkreisen und kreisfreien Städten-Jagdsteuer
242
6.12.2000 P.St. 1596
Staatsgerichtshof - Ausscheiden eines berufsrichterliehen Mitgliedes
254
Nr. 5
Entscheidungen des Landesverfassungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern Nr. 1
18.5.2000 LVerfG 5/98
Dynamische Verweisung; Überwachung von Wohnungen zum Zweck der Gefahrenabwehr; vorbeugende Bekämpfung von Straftaten im Sinne der polizeilichen Aufgabenzuweisung; organisierte Kriminalität; besondere Vertrauensverhältnisse; Amts- und Berufsgeheimnis; Umwidmung personenbezogener Daten zur Strafverfolgung
265
Inhalt Nr. 2
14.12.2000 LVerfG 4/99
Beteiligtenfáhigkeit politischer Parteien im Organstreitverfahren; Wettbewerbschancen einer Partei als Bestandteil des verfassungsrechtlichen Status; Recht auf Teilhabe am Verfassungsleben; 5 %-Sperrklausel; gesetzgeberisches Unterlassen; mögliche Gefahrdung der Funktionsfähigkeit einer Kommunalvertretung .
XI
306
Entscheidungen des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs Nr. 1
24.2.2000 StGH 2/99
Wahlprüfung; Bedeutung der Wahlkreisgröße für die Wahlrechtsgleichheit; Bestandsschutz einer gewählten Volksvertretung
335
Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes des Saarlandes (in diesem Band keine Entscheidungsveröffentlichung) Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes des Freistaates Sachsen Nr. 1
Nr. 2
Nr. 3
Nr. 4
24.2.2000 Vf. 37-IV-99
Eigentumsgarantie; Enteignung; vorzeitige Besitzeinweisung zum Zweck der Energieversorgung; Gesetzesvorbehalt; erforderliche gesetzliche Entschädigungsgrundlage
343
9.3.2000 Vf. 3-1-00 Vf. 4-1-00
Organstreitverfahren; vom Präsidium des Sächsischen Landtags erlassene Ausfuhrungsbestimmungen zu § 6 Abs. 4 SächsAbgG unzulässiger Verfahrensgegenstand; zum Antragsgegner
348
14.7.2000 Vf. 40-VIII-98
Heuersdorfgesetz; kommunale Selbstverwaltungsgarantie; Freigabe eines Gemeindegebiets zur Devastierung; verfassungsrechtliche Anforderungen an eine Anhörung nach Art. 88 Abs. 2 S. 3 SächsVerf; zum Einschätzungs- und Prognosevorrang des Gesetzgebers
356
17.8.2000 Vf. 62-11-99
Abstrakte Normenkontrolle; Gesetz zur Neuordnung der öffentlich-rechtlichen Kreditinstitute im Freistaat Sachsen einschließlich der Sächsischen Aufbaubank GmbH vom 3.5.1999; Selbstverwaltungsgarantie; kommunale Sparkasse als Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft; Durchbrechung des objektiv-rechtlichen Prinzips dezentraler Aufgabenverteilung; Gesetzesvorbehalt gem. Art. 82 Abs. 2 SächsVerf;
XII
Inhalt Rechtfertigung durch überwiegende Allgemeinwohlgründe; Einschätzungs- und Prognosevorrang; verfassungskonforme Auslegung
393
Entscheidungen des Landesverfassungsgerichts Sachsen-Anhalt Nr. 1
Nr. 2
13.7.2000 LVG 20/97
Kommunaler Finanzausgleich — Kostendeckung bei Aufgabenübertragung
429
29.8.2000 LVG1/00
Volksinitiative - Landtagsbehandlung des Gesetzentwurfes
462
Entscheidungen des Thüringer Verfassungsgerichtshofes Nr. 1
Nr. 2*
Nr. 3*
25.5.2000 VerfGH 2/99
Verfahren der abstrakten Normenkontrolle betreffend § 8 des Thüringer Abgeordnetenüberprüfungsgesetzes (Mandatsverlust wegen Zusammenarbeit mit dem MfS/AfNS)
481
25.5.2000 VerfGH 4/99
Organstreitverfahren betreffend den Beschluß des Thüringer Landtags über den Mandatsverlust einer Abgeordneten
503
25.5.2000 VerfGH 6/00
Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung VerfGH 6/00 betreffend den Beschluß eines Landtagsausschusses über den Ausschluß eines Fraktionsmitarbeiters von den nichtöffentlichen Ausschußsitzungen
504
Sachregister
505
Gesetzesregister
527
Verzeichnis der Verfassungsgerichte der Länder
541
Abkürzungsverzeichnis Az a.A. a.F. aaO AfNS AG AGBSHG AH-Drs. AK-GG AktG ÄltR ÄltRProt amtl. Begr. AmtsO ÄndG AnwBl AöR AP ArbG ArbGG Art. ASG Aufl. AÜG AuslG BAG BAT BauGB BauVorlV BayObLGZ BayVerfGH BayVGH n.F. BBergG BbgBO BbgDSG BbgLPIG
Aktenzeichen anderer Ansicht alte Fassung am angegebenen Ort Amt für Nationale Sicherheit Aktiengesellschaft Ausfiihrungsgesetz zum Bundessozialhilfegesetz (Baden-Württemberg) Abgeordnetenhaus-Drucksache Alternativ-Kommentar zum Grundgesetz Aktiengesetz Ältestenrat Ältestenratsprotokoll amtliche Begründung Amtsordnung Änderungsgesetz Anwaltsblatt Archiv des öffentlichen Rechts Nachschlagewerk des Bundesarbeitsgerichts — Arbeitsrechtliche Praxis — Arbeitsgericht Arbeitsgerichtsgesetz Artikel Aufgabensicherungsgesetz Auflage Arbeitnehmerüberlassungsgesetz Ausländergesetz Bundesarbeitsgericht Bundes angestellten-Tarifvertrag Baugesetzbuch Bauvorlagenverordnung (Brandenburg) Entscheidungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts in Zivilsachen Bayerischer Verfassungsgerichtshof Entscheidungssammlung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (neue Fassung) Bundesberggesetz Brandenburgische Bauordnung Brandenburgisches Datenschutzgesetz Brandenburgisches Landesplanungsgesetz
XIV BbgLWahlG BbgPolG BbgPsychKG BbgSchulG BbgVerfG BbgVerfSchG BbgWahlG BbgWG Bd. BDSG BFH BGB BGBl. BGH BGHSt BGHZ BHO BLG BPflV BRAGO BremVf BStU Buchst. BVerfG BVerfGE BVerfGG BVerwG BVcrwGE BWG BWVB1. BWVPr. CCPR DDR DDR-GB1 DDR-KV DDR-KV DenkmalSchG ders. DJT DÖV Drs. DtZ DVB1. DWW
Abkürzungsverzeichnis Brandenburgisches Landeswahlgesetz Brandenburgisches Polizeigesetz Brandenburgisches Psychisch-Kranken-Gesetz Gesetz über die Schulen im Land Brandenburg Verfassungsgericht für das Land Brandenburg Brandenburgisches Verfassungsschutzgesetz Brandenburgisches Landeswahlgesetz Brandenburgisches Wassergesetz Band Bundesdatenschutzgesetz Bundesfinanzhof Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bundeshaushaltsordnung Bundesleistungsgesetz Bundespflegesatzverordnung Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen D D R Buchstabe Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Gesetz über das Bundesverfassungsgericht Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Bundeswahlgesetz Baden-Württembergisches Verwaltungsblatt Baden-Württembergische Verwaltungspraxis UN-Pakt über bürgerliche und politische Rechte Deutsche Demokratische Republik Gesetzblatt der D D R Gesetz über die Selbstverwaltung der Gemeinden und Landkreise in der D D R Kommunalverfassung der D D R Denkmalschutzgesetz derselbe Deutscher Juristentag Die Öffentliche Verwaltung Drucksache Deutsch-Deutsche-Rechts-Zeitschrift Deutsches Verwaltungsblatt Deutsche Wohnungswirtschaft
Abkürzungsverzeichnis EA ebd. EGGVG EMRK EOS ESVGH EuGRZ EV EzKommR f, ff FAG FGG Fn. GBl. GemO GeschOLT GFG G F G 1998 GG ggf. GKG GmbH GmbHG GO GOBT GO-SLT GR GVB1. GVG GVOB1. HbgVf HdB HGrG HmbBeihVO HmbBG HmbVerfG Hrsg. HS. HStR HV IMS insbes. IPbR
XV
Einstweilige Anordnung ebenda Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz Europäische Menschenrechtskommission Erweiterte Oberschule Entscheidungssammlung des Hessischen VGH und des VGH BadenWürttemberg (mit Entscheidungen der Staatsgerichtshöfe) Europäische Grundrechte-Zeitschrift Einigungsvertrag Entscheidungen zum Kommunalrecht folgend, fortfolgende Finanzausgleichsgesetz Baden-Württemberg Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit Fußnote Gesetzblatt Gemeindeordnung Geschäftsordnung des Landtags Brandenburg Gemeindefinanzierungsgesetz Gemeindefinanzierungsgesetz 1998 (Brandenburg) Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gegebenenfalls Gesetz über die kommunale Gemeinschaftsarbeit im Land Brandenburg Gesellschaft mit beschränkter Haftung Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung Geschäftsordnung Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages Geschäftsordnung des Sächsischen Landtages Geschäftsregister des Staatsgerichtshofs Baden-Württemberg Gesetz- und Verordnungsblatt Gerichtsverfassungsgesetz Gesetz- und Verordnungsblatt Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg Handbuch Haushaltsgrundsätzegesetz Hamburgische Beihilfeverordnung Hamburgisches Beamtengesetz Hamburgisches Verfassungsgericht Herausgeber Halbsatz Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg oder Verfassung des Landes Hessen Inoffizieller Mitarbeiter für Staatssicherheit insbesondere Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte
XVI iVm. JbSächsOVG JR JWG JZ KAG KG KSchG KV MV KV M-V KWahlG (auch: KWG) KWG Rh.-Pf. LAG L-Bank LBG Lfg. LG LHO lit. LKrO LKV LT-Drs. LT-Prot. LV LVerfG M-V LVerfGE LVerfGG LWaG mwN MdL MfS MfS/ANS Mio n.F. NdsStGH NdsVf NJ NJW NJ W-RR NLWG Nord-ÖR NRW NRWVerf NRWVerfGH
Abkürzungsverzeichnis in Verbindung mit Jahrbücher des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts Juristische Rundschau Jugendwohlfahrtsgesetz Juristenzeitung Kommunalabgabengesetz für das Land Brandenburg oder Gesetz über kommunale Abgaben für das Land Hessen Kammergericht Kündigungsschutzgesetz Kommunalverfassung für das Land Mecklenburg-Vorpommern Kommunalverfassung Mecklenburg-Vorpommern Kommunalwahlgesetz Kommunalwahlgesetz Rheinland-Pfalz Landesarbeitsgericht Landeskreditbank Landesbeamtengesetz Lieferung Landgericht Landeshaushaltsordnung litera Landkreisordnung für Baden-Württemberg Landes- und Kommunalverwaltung Landtagsdrucksache Landtagsprotokoll Landesverfassung Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern Entscheidungen der Verfassungsgerichte der Länder Landesverfassungsgerichtsgesetz Wassergesetz des Landes Mecklenburg-Vorpommern mit weiteren Nachweisen Mitglied des Landtages Ministerium für Staatssicherheit der DDR Ministerium für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit Millionen) neue Fassung Niedersächsischer Staatsgerichtshof Niedersächsische Verfassung Neue Justiz Neue Juristische Wochenschrift Neue Juristische Wochenschrift - Rechtsprechungsreport Niedersächsisches Landeswahlgesetz Zeitschrift für öffentliches Recht in Norddeutschland Nordrhein-Westfalen Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen
Abkürzungsverzeichnis NStZ NV NVwZ NVwZ-RR NWVB1. NZA OLG OVG OVGE PlenProt. Prot. Rn. RegBkPIG Rn. ROG RZwVerbG S. SächsAbgG SächsABl. SächsGemO SächsGVBl. SächsKomZG SächsLPIG SächsVBl SächsVerf SächsVerfGH SächsVerfGHG SGB SGG SOG M-V StAnz. std. Rspr. StGB StGH StGHG StPO Thür LWG ThürAbgG ThürAbgÜpG ThürGOG ThürKO ThürVBl. ThürVerf
XVII
Neue Zeitschrift für Strafrecht Niedersächsische Verfassung Neue Zeitschrift füir Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht - Rechtsprechungsreport Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter Neue Zeitschrift füir Arbeitsrecht Oberlandesgericht Oberverwaltungsgericht Entscheidungen der Oberverwaltungsgerichte Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein Plenarprotokoll Protokoll Randnummer Gesetz zur Einfuhrung der Regionalplanung und der Braunkohlenund Sanierungsplanung im Land Brandenburg Randnummer Raumordnungsgesetz Reichszweckverbandsgesetz Seite Sächsisches Abgeordnetengesetz Sächsisches Amtsblatt Sächsische Gemeindeordnung Sächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt Sächsisches Gesetz über kommunale Zusammenarbeit Gesetz zur Raumordnung und Landesplanung des Freistaates Sachsen Sächsische Verwaltungsblätter Verfassung des Freistaates Sachsen Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen Gesetz über den Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen Sozialgesetzbuch Sozialgerichtsgesetz Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung in MecklenburgVorpommern Staatsanzeiger Baden-Württemberg ständige Rechtsprechung Strafgesetzbuch Staatsgerichtshof des Landes Hessen Gesetz über den Staatsgerichtshof (Hessen) Strafjprozeßordnung Thüringer Landeswahlgesetz Thüringer Abgeordnetengesetz Thüringer Abgeordnetenüberprüfungsgesetz Gesetz über die Geschäftsordnung des Thüringer Landtages Thüringer Kommunalordnung Thüringer Verwaltungsblätter Verfassung des Freistaats Thüringen
XVIII ThürVerfGH ThürVerfGHG TWh u. a. UA unveröffend. UPR Urt. VerfGGBbg VerfGH Saarl. VerfSachsAnh VermLiegG VfGBbg VG vgl. VIZ VOB1. Vorb. V-Person VvB WDStRL VWG VwGO VwRR MO VwZG WahlprüfungsG WPrüfG WRÄndG ZaöRV ZAR ZfB ZG ZPO ZVS ZwVerbSG ZwVerbStabG
Abkürzungsverzeichnis Thüringer Verfassungsgerichtshof Thüringer Verfassungsgerichtshofsgesetz Terrawattstunden unter anderem; und andere Urteilsausfertigung unveröffentlicht Umwelt- und Planungsrecht Urteil Gesetz über das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg Verwaltungsgerichtshof des Saarlandes Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt Vermessungs- und Liegenschaftsgesetz (Brandenburg) Verfassungsgerichtshof des Landes Brandenburg Verwaltungsgericht vergleiche Zeitschrift für Vermögens- und Investitionsrecht Verordnungsblatt Vorbemerkung Person, deren Zusammenarbeit mit der Polizei Dritten nicht bekannt ist Verfassung von Berlin Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Gesetz über Volksantrag, Volksbegehren und Volksentscheid (Sachsen) Verwaltungsgerichtsordnung VerwaltungsRechtsReport Mittelost Hamburgisches Verwaltungszustellungsgesetz Wahlprüfungsgesetz (Hessen) Wahlprüfungsgesetz für das Land Brandenburg Gesetz zur Änderung wahlrechtlicher Vorschriften (M-V) Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift fur Ausländerrecht Zeitschrift für Bergrecht Zeitschrift f. Gesetzgebung Zivilprozeßordnung Zentrale Vergabestelle für Studienplätze Gesetz zur Sicherung der Arbeitsfähigkeit von Zweckverbänden Gesetz zur rechtlichen Stabilisierung der Zweckverbände für Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung
Entscheidungen des Staatsgerichtshofes für das Land Baden-Württemberg
Die amtierenden Richterinnen und Richter des Staatsgerichtshofes für das Land Baden-Württemberg Lothar Freund, Präsident Prof. Dr. Hans Jordan, ständiger Stellvertreter (bis 20.7.2000) Hans Georgii Eberhard Stilz Martin Dietrich (bis 20.7.2000) Prof. Dr. Thomas Oppermann Dr. Rudolf Schieler Prof. Dr. Peter Mailänder Ute Prechd Prof. Dr. Wolfgang Jäger Sybille Stamm
Stellvertretende Richterinnen und Richter Dr. Roland Hauser Michael Hund Dr. Ulrich Gauß (bis 20.7.2000) Prof. Dr. Alexander Roßnagel Dr. Siegfried Kasper Prof. Dr. Alexander Roßnagel Dr. Manfred Oechsle (bis 20.7.2000) Prof. Dr. Dieter Walther Dr. Robert Maus Prof. Dr. Dr. Günter Altner Prof. Dr. Eberhard Jüngel Adelheid Kiesinger
Kommunaler Finanzausgleich - Rechts- u. Gesetzeskraft des Normenkontrollurteils
3
Nr. 1 1. Über den Wortlaut des § 23 Abs. la) StGHG hinaus kommt auch denjenigen Urteilen des Staatsgerichtshofs Gesetzeskraft zu, welche die Nichtvereinbarkeit einer landesgesetzlichen Norm mit der Landesverfassung feststellen, ohne diese für nichtig zu erklären. 2. Die bloße Nichtvereinbarkeitserklärung hat zur Folge, daß die Norm formell fortbesteht; materiell entsprechen die Konsequenzen der Entscheidung aber denen einer Nichtigkeitserklärung. Gerichte und Behörden dürfen die Norm nicht mehr anwenden. 3. Die Rechts- und Gesetzeskraft einer solchen Entscheidung steht einer erneuten gerichtlichen Überprüfung der Vereinbarkeit der Norm mit der Landesverfassung durch den Staatsgerichtshof grundsätzlich entgegen. 4. Die Rechts- und Gesetzeskraft eines Normenkontrollurteils kann überwunden werden, wenn substantiiert geltend gemacht wird, daß tatsächliche Veränderungen die Grundlage der gerichtlichen Entscheidung berühren und deren Überprüfung nahelegen (wie StGH, Urt. v. 10.5.1999, VB1BW 1999,294). Verfassung des Landes Baden-Württemberg Art. 68 Abs. 1 Nr. 2, 76 Gesetz über den Staatsgerichtshof §§ 8 Abs. 1 Nr. 8, 23 Gesetz über den kommunalen Finanzausgleich § 21 Staatshaushaltsgesetz 1998/1999 § 16 Änderungsgesetz zum Staatshaushaltsgesetz 1998/1999 Art. 3 Urteil vom 8. Februar 2000 - GR 1/98 in dem kommunalrechtlichen Normenkontrollverfahren des Landkreises Konstanz, vertreten durch den Herrn Landrat Frank Hämmerle, Landratsamt Konstanz, Benediktinerplatz 1, 78467 Konstanz Verfahrensbevollmächtigte: Prof. Dr. Hartmut Maurer, Säntisblick 10, 78465 Konstanz, Prof. Dr. Max-Emanuel Geis, Mögginger Steig 20, 78315 Radolfzell LVerfGE 11
4
Staatsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg
beteiligt:
die Landesregierung von Baden-Württemberg, vertreten durch das Finanzministerium Verfahrensbevollmächtigter: Prof. Dr. Thomas Würtenberger, Beethovenstraße 9, 79100 Freiburg Entscheidungsformel: Der Antrag ist unzulässig. Das Verfahren ist kostenfrei. Gründe: A. 1. Nach §§ 96, 99 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG), §§ 1, 2 des BadenWürttembergischen Ausfuhrungsgesetzes zum BSHG (AGBSHG) sind die Stadt- und Landkreise örtliche Träger der Sozialhilfe, während überörtliche Sozialhilfeträger die Landeswohlfahrtsverbände sind. Soweit die sachliche Zuständigkeit der überörtlichen Sozialhilfeträger nicht ausdrücklich gesetzlich begründet wird, ist der örtliche Sozialhilfeträger, also der Land- oder Stadtkreis, sachlich für die Sozialhilfe zuständig. Er führt sie als weisungsfreie Pflichtaufgabe durch. Nach § 6 AGBSHG obliegen die Kosten den jeweiligen Sozialhilfeträgern, für die örtliche Sozialhilfe also den Stadt- und Landkreisen. Ein Kostenausgleich wird dadurch geschaffen, daß das Land den Stadtund Landkreisen den Ertrag der Grunderwerbssteuer überläßt und Ausgleichsleistungen gem. § 21 des Finanzausgleichsgesetzes (FAG) zur weiteren Deckung der Sozialausgaben vorsieht. Zusätzlich wirkt auch die Landeswohlfahrtsumlage (LWV-Umlage) ausgleichend. Nach § 21 FAG idF von § 16 Staatshaushaltsgesetz 1998/99 v. 11.2.1998 (GBl. S. 57) und Art. 3 ÄndG vom 15.12.1998 (GBl. S. 669) erhalten die Stadt- und Landkreise die Sozialhilfeausgaben, die je Einwohner 110% des Kreisdurchschnitts überschreiten, zu 30 % des übersteigenden Betrages ersetzt. Finanziert wird der Ausgleich aus der Finanzausgleichsmasse (§ 2 Nr. 3 FAG). 2. Der Staatsgerichtshof hat in seinem Urteil vom 10.5.1999 in dem kommunalrechtlichen Normenkontrollverfahren des Ortenaukreises und des Landkreises Schwäbisch-Hall (GR 2/97*, im folgenden nach dem Umdruck zitiert) für Recht erkannt, daß die Regelung u. a. der § § 1 , 2 und 21 des Gesetzes über den kommunalen Finanzausgleich (FAG) mit der Verfassung des Landes Baden-Württemberg nicht vereinbar ist. * Siehe auch Abdruck im Volltext in LVerfGE 10, S. 3 ff.
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B. Der Antragsteller hat den Staatsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg mit Schriftsatz vom 15.9.1998 mit der Behauptung angerufen, daß das Gesetz über den kommunalen Finanzausgleich, insbesondere § 21 FAG, insoweit gegen Art. 71 und 73 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg verstoße, als es die Kosten des Antragstellers im Bereich der Sozial- und Jugendhilfe nicht ausreichend ausgleiche. Der Antragsteller beantragt festzustellen, daß das Gesetz über den kommunalen Finanzausgleich, insbesondere § 21 FAG, gegen Art. 71 und 73 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg verstoße, als es die Kosten des Antragstellers im Bereich der Sozial- und Jugendhilfe nicht ausreichend ausgleiche. II. Zur Begründung macht der Antragsteller geltend: 1. Der Normenkontrollantrag sei zulässig. a) § 23 Abs. la), 2 StGHG stünde der Zulässigkeit des Antrags nicht entgegen. Zwar habe der StGH in seinem Urteü vom 10.11.1993 (GR 3/92, ESVGH 44,1 ff) auf Antrag desselben Antragstellers wie in diesem Verfahren — § 21 FAG mit Art. 71 und 73 LV für vereinbar angesehen. Diese in Rechts- bzw. in Gesetzeskraft erwachsene Entscheidung schließe jedoch eine erneute Anfechtung nicht aus. Nach gefestigter Rechtsprechung hindere die Rechtskraft und Gesetzeskraft nicht die Berufung auf neue Tatsachen, die nach der früheren Entscheidung entstanden sind. Solche neuen Tatsachen könnten insbesondere in einer wesentlichen Änderung der äußeren Lebensumstände gesehen werden. Der StGH habe dies selbst im Urteil GR 3/92 (ESVGH 44, 5) anerkannt, als er 1993 eine Gefahrdung der angemessenen Finanzausstattung des Antragstellers zur kraftvollen Erfüllung der Selbstverwaltungsaufgaben „noch" nicht erkennen konnte. Beim Landkreis Konstanz habe sich im Vergleich zur Finanzsituation des Jahres 1990, die dem Urteil GR 3/92 zugrundelag, mit der Entwicklung der Jahre 1991-1997 die Lage der Einnahmen- und Ausgabenseite dramatisch verschlechtert, so daß vom Vorliegen neuer Tatsachen gesprochen werden müsse. Der Antragsteller weist insbesondere darauf hin, daß der Anteil der „freien Spitze" am Gesamthaushalt nunmehr lediglich 2,1 % betrage. Dies sei ein Eingriff in den Kernbereich der Selbstverwaltungsgarantie, da der Landkreis die Durchführung freiwilliger sozialer Aufgaben 1998 weitgehend einschränken müsse. Eine „freie Spitze" unterhalb 5% begründe eine absolute Verfassungswidrigkeit. Statt einer „kraftvollen" sei nur mehr eine „notleidende" Aufgabenerfüllung möglich. — Ferner macht der Antragsteller strukturelle Mängel des kommunalen Finanzierungssystems geltend. Die Ausgaben des Landkreises Konstanz seien für 1991-1997 von 33,280 Mio. DM auf 53,326 Mio. DM (= 60,23 % Steigerungsrate) angewachsen. Demgegenüber habe sich der Soziallastenausgleich 1992-1997 zwischen 3,8 und 4,6 Mio. DM auf und ab bewegt. Zwar sei die LVerfGE 11
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Landeswohlfahrtsumlage in diesen Jahren von über 50 Mio. DM auf ca. 39 Mio. DM gesunken. Dafür hätten sich die Kosten fur die Jugendhilfe 1992—1997 von ca. 21 Mio. DM auf nahezu 28 Mio. DM nach oben bewegt. Insgesamt habe sich der Zuschußbedarf des Landkreises im Bereich der sozialen Sicherung von 85,565 Mio. DM 1991 auf 140,343 Mio. DM 1997 gesteigert, also um ca. 64%. Auf der anderen Seite habe der Landkreis keine Möglichkeit, die Defizite durch die gesetzlich festgelegten Einnahmequellen abzudecken. Die meisten Quellen seien marginal. Auch die Schlüsselzuweisungen nach dem FAG gingen von der Steuerkraft aus und vernachlässigten die überproportionalen Steigerungen im Sozialbedarf. Der Soziallastenausgleich des § 21 FAG sei vom Volumen her strukturell nicht in der Lage, das Defizit im Sozialbereich auch nur annähernd aufzufangen. Schließlich stoße auch die Kreisumlage an rechtliche Grenzen. Sie habe sich bereits entgegen dem Subsidiaritätsgrundsatz des § 49 Abs. 2 LKrO zu einem wesentlichen Einnahmeposten des Kreises entwickelt. Im Landkreis Konstanz habe sie 1998 mit 38,25% einen auch im Vergleich mit anderen Landkreisen „unerreichten Gipfel" erreicht. Eine übermäßige Kreisumlage höhle die ihrerseits durch Art. 73 Abs. 1 LV geschützte Selbstverwaltungsgarantie der Gemeinden aus. Mehrere Konstanzer Mitgliedsgemeinden hätten bereits gegen den Kreisumlagebescheid Widerspruch eingelegt. Aus alledem ergebe sich die Zulässigkeit des Normenkontrollantrages auch nach dem Urteil des StGH vom 10.11.1993 (GR 3/92) infolge des Vorhandenseins neuer Tatsachen. b) Nach Auffassung des Antragstellers besteht für ihn auch ein Rechtsschutzbedürfnis als ungeschriebene Zulässigkeitsvoraussetzung des Normenkontrollantrages, da er keine andere juristische Möglichkeit zur Herbeiführung eines ihm günstigeren Zustandes habe. Auch insoweit sei auf die Veränderung der Sachlage seit dem Urteil GR 3/92 zu verweisen. Dieses Rechtsschutzbedürfnis sei auch nicht durch das Urteil des Staatsgerichtshofs vom 10.5.1999 (GR 2/97) entfallen. Dort sei es gemäß den Anträgen der Landkreise Ottenau und Schwäbisch Hall um die Verfassungsmäßigkeit der § § 1 , 2 und 21 FAG insgesamt gegangen. Der Staatsgerichtshof habe diesen Anträgen nur teilweise stattgegeben, indem er lediglich die Unvereinbarkeit und nicht die Nichtigkeit der §§ 1, 2 und 21 FAG festgestellt habe. Aus den Gründen des Urteils ergebe sich überdies, daß diese Unvereinbarkeit nur insoweit gelte, als der prozedurale Schutz der Finanzgarantie des Art. 71 Abs. 1 iVm Art. 73 Abs. 1 fehle. Dagegen sei der Feststellungsantrag des Landkreises Konstanz zugleich enger und weiter. Enger insoweit, daß das FAG, insbesondere § 21, gegen Art. 71, 73 der Landesverfassung verstoße, da es die Kosten des Antragstellers im Bereich der Sozial- und Jugendhilfe nicht ausreichend ausgleiche. Andererseits reiche der Antrag weiter, weil der Antragsteller nicht nur eine verfahrensrechtliche, sondern auch eine Sachentscheidung dahingehend anstrebe, daß die 1993 für den Landkreis Konstanz „noch" nicht festzustellende Belastungsgrenze aufgrund der veränderten Sachlage inzwischen überschritten sei. InsLVerfGE 11
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besondere sei in dem Verfahren GR 2/97 nicht darüber entschieden worden, daß das FAG und sein § 21 keinen Lastenausgleich für die Kosten der Jugendhilfe vorsehe. Das Rechtsschutzbedürfnis zur Klärung dieser Frage bestehe fort. Ebenso geht der Antragsteller davon aus, daß er ein Klarstellungsinteresse an einem rechtsrichtigen Verständnis der Art. 71, 73 LV habe. c) Schließlich stehe auch die Gesetzeskraft des Urteils des Staatsgerichtshofs vom 10.5.1999 (GR 2/97) nach § 23 Abs. la) StGHG dem Antrag des Landkreises Konstanz nicht entgegen. Gesetzeskraft bedeute eine Erweiterung der Rechtskraft zwischen den Prozeßbeteiligten in subjektiver Hinsicht auf jedermann. Sie gehe damit aber nicht über die Bindungswirkungen der Rechtskraft hinaus. Rechtskraft und Gesetzeskraft beschränkten sich auf den Tenor der Entscheidung. Die Entscheidungsgründe erwüchsen nicht in Rechts- und Gesetzeskraft. Sie müßten jedoch erforderlichenfalls zur Ermittlung des Sinnes der Entscheidungsformel herangezogen werden. Der Staatsgerichtshof habe in dem Urteil GR 2/97 §§1,2, 21 FAG nicht für nichtig erklärt, sondern lediglich ihre Unvereinbarkeit mit Art. 71, 73 LV ausgesprochen. Im Falle der Nichtigkeitserklärung wäre dem Antrag des Antragstellers der Boden entzogen worden. Bei der Unvereinbarkeit sei dagegen der Grad der Nichtigkeit noch nicht erreicht. Das gelte insbesondere, wenn eine Norm wie hier nur unter bestimmten Aspekten, nämlich wegen der fehlenden prozeduralen Sicherungen für verfassungswidrig erklärt worden sei. Das Urteil GR 2/97 enthalte keine materiellen Vorgaben. Der Landkreis Konstanz begehre jedoch die Feststellung, daß § 21 FAG insoweit gegen Art. 71,73 LV verstoße, als er die Kosten des Antragstellers im Bereich der Sozial- und Jugendhilfe nicht ausreichend ausgleiche. Der Antrag sei jedenfalls insoweit zulässig, als der Staatsgerichtshof inhaltlich entscheiden könne, ob die Untergrenze der finanziellen Ausstattung des Landkreises eindeutig unterschritten sei. Art. 71 Abs. 1 und Art. 73 Abs. 1 LV forderten nicht nur prozedurale Sicherungen, sondern auch materielle Maßstäbe. Dies habe die Kritik in der Literatur an dem Urteil GR 2/97 hervorgehoben. Entgegen der Auffassung der Landesregierung erwarte der Antragsteller nicht, daß ihm bei einer obsiegenden Entscheidung des Staatsgerichtshofs Ausgleichszahlungen für zurückliegende Jahre zufließen würden. Sein Rechtsschutzinteresse gehe aber dahin, fur die Zukunft eine bessere Berücksichtigung seiner Finanzsituation zu erlangen. 2. Der Antrag ist nach Auffassung des Antragstellers auch begründet. a) Die finanzielle Lage des Landkreises Konstanz habe sich seit der Beurteilung durch den Staatsgerichtshof mit Blick auf 1990 in dem Urteil vom 10.11.1993 (GR 3/92) in den Jahren 1991—1997 dramatisch verschlechtert. Eine kraftvolle Erledigung seiner Selbstverwaltungsaufgaben im Sinne der Art. 71, 73 LV sei nicht mehr möglich. Die wesentlichen Gründe für die Verschlechterung der Finanzsituation (Absinken der „freien Spitze" und strukturelle Mängel des Finanziervingssystems im Verhältnis der Ausgaben- und Einnahmenseite), wie sie der Antragsteller geltend macht, seien bereits oben (Β. II 1 .a)) angesprochen worden. Das hierzu vorgelegte Zahlenmaterial enthalte LVerfGE 11
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auch ein „Gutachten zu Struktur und Rahmenbedingungen der Sozialleistungen im Landkreis Konstanz" der ISG Sozialforschung und Gesellschaftspolitik GmbH/Köln vom 3.3.1999. Aus ihm ginge u. a. hervor, daß der Antragsteller seine Sozialausgaben sorgsam verwalte. Die pro Hilfeempfanger im Landkreis getätigten Ausgaben der Hilfe zum Lebensunterhalt betrügen nur 89 % des Landesdurchschnitts. Trotz aller Bemühungen und ungeachtet gewisser Verbesserungen bleibe die Finanzsituation des Landkreises auch 1999 und mit Blick auf das Jahr 2000 jedoch so prekär, daß die verfassungsrechtlich gebotene Aufgabenerfullung nicht gewährleistet sei. Relevante Parameter seien insbesondere die Steigerung der Netto-Aufwendungen zur sozialen Sicherung von 98 Mio. DM (1992) auf zu erwartende 148 Mio. DM (2000), eine Stagnation der Grunderwerbssteuereinnahmen bei ca. 26 Mio. DM im Durchschnitt, die nur mäßige Steigerung der Schlüsselzuweisungen von 13 Mio. DM (1992) auf zu erwartende 16 Mio. DM (2000). Auf der anderen Seite steige die Kreisumlage explosiv von 78 Mio. DM (1992) auf zu erwartende 142 Mio. DM (2000). Eine derzeit an einzelnen Stellen etwas günstiger erscheinende finanzielle Lage von Kreisen und Gemeinden sei nur ein „kurzes Strohfeuer", dem nach 2001 wieder massive Finanzlücken folgen würden. Wesentliche Ursache sei die Fehlerhaftigkeit des Ausgleichssystems. b) Anders als die kommunale Ebene sei das Land infolge seiner eigenen Steuerquellen und der Möglichkeiten, im Bundesrat auf finanzwirksame Gesetzgebung Einfluß zu nehmen, eher in der Lage, finanzielle Engpässe zu überwinden. Gemäß Art. 71, 73 LV sei es zugleich verfassungsrechtlich zu einer ausreichenden Finanzausstattung der Kommunen verpflichtet. In diesem Zusammenhang seien verschiedene der Landesverfassung zugrundeliegende Prinzipien zu beachten. Der Staatsgerichtshof habe in seinem Urteil vom 10.5.1999 (GR 2/97, Umdruck S. 37) die Gleichwertigkeit von Landes· und Kommunalaufgaben zum Ausdruck gebracht. Dieser Grundsatz verpflichte den Gesetzgeber, eine dieser Gleichwertigkeit entsprechende, gerechte Verteilung bestehender Lasten und beschränkter Einnahmen zum Ausgleich zu bringen. Die in Art. 73 Abs. 1 LV enthaltene Pflicht des Landes, für eine Finanzausstattung der Gemeinden und Gemeindeverbände zu sorgen, die ihnen eine angemessene und kraftvolle Erfüllung ihrer Aufgaben erlaubt und nicht durch Schwächung der Finanzkraft zu einer Aushöhlung des Selbstverwaltungsrechts führt (StGH GR 3/92, ESVGH 44, 5; GR 2/97, Umdruck S. 36) müsse als Anerkennung eines Rechts auf angemessene Finanzausstattung verstanden werden. Dies müsse auch gegenüber dem vom Staatsgerichtshof (GR 2/97, Umdruck S. 37) aus Art. 73 Abs. 3 LV abgeleiteten Vorbehalt der finanziellen Leistungsfähigkeit des Landes gelten. Auch wenn es auf den Terminus nicht ankomme, habe sich der Staatsgerichtshof in seiner Rechtsprechung in der Sache zum Prinzip der aufgabengerechten Verteilungssymmetrie zwischen dem Land und der kommunalen Ebene bei der Gestaltung des finanziellen Ausgleichssystems bekannt. Dazu gehöre, daß der Gestaltungsbereich des Gesetzgebers um so mehr eingeschränkt sei, je mehr der Kernbereich der Selbstverwaltungsgarantie betroffen werde. Die KomLVerfGE 11
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munen müßten die Möglichkeit behalten, freie Aufgaben wahrzunehmen. In diesen Zusammenhang gehöre die verfassungsrechtliche Garantie einer „freien Spitze" jedenfalls im Sinne einer allgemeinen Richtlinie, wofür meist ungefähr 5 % des kommunalen Gesamthaushaltes genannt würden. In diesem Bereich dürfe sich der Staat nicht dadurch seiner Finanzierungspflicht endedigen, indem er staatliche und von ihm zu finanzierende Aufgaben zu Selbstverwaltungsangelegenheiten erkläre. c) Im Ergebnis ist der Antragsteller der Auffassung, daß sich Art. 71, 73 LV nicht nur prozedurale Absicherungen entnehmen ließen, wie sie im Urteil GR 2/97 des Staatsgerichtshofs angesprochen würden. Art. 73 Abs. 1 LV hielte auch materiell-rechtliche Maßstäbe für die Finanzausstattung der Landkreise bereit. Auch wenn wegen der Komplexität der Materie keine präzisen Maßstäbe, Parameter, Kennziffern, Quoten oder Beträge verfassungsrechtlich vorgegeben werden könnten, müsse doch eine materielle Evidenzkontrolle in dem Sinne stattfinden, ob der Mindeststandard der Finanzausstattung verfassungswidrig eindeutig unterschritten sei. Der Staatsgerichtshof könne darüber befinden, ab welchem Punkt eine gesetzliche Verteilungsregelung strukturell so verfehlt konstruiert sei, daß sich daraus zwangsläufig eine Rechtsverletzung ergebe. Dabei könne die Unterschreitung bestimmter Rechnungsgrößen Indizwirkung auslösen. In diesem Sinne sei der Antrag des Landkreises Konstanz zu verstehen. Auch das Bundesverfassungsgericht habe bei seiner Rechtsprechung zur Rundfunkfinanzierung (bes. BVerfGE 90, 60 ff), an der sich der Staatsgerichtshof nach Auffassung des Antragstellers im Urteil GR 2/97 orientiert habe, nicht alle materiellen Maßstäbe eliminiert. 3. In der mündlichen Verhandlung vom 8.2.2000 hat der Antragsteller ferner geltend gemacht, daß der in dem Urteil des Staatsgerichtshofs vom 10.5.1999 (GR 2/97) geforderte prozedurale Schutz der kommunalen Finanzausstattung nach den bisherigen Gesprächen zwischen dem Land und den kommunalen Spitzenverbänden einschließlich der Vereinbarung vom 17.1.2000 über die Bildung einer Finanzverteilungskommission zur Gewährleistung des prozeduralen Schutzes der kommunalen Selbstverwaltung den Maßstäben des Staatsgerichtshofs in dem Urteil GR 2/97 nicht genüge. C. Der Landtag hat zu dem Normenkontrollantrag des Landkreises Konstanz nicht Stellung genommen. Für die Landesregierung hat sich das Finanzministerium mit Schriftsatz vom 26.1.1999 geäußert und vorgetragen: 1. Der Normenkontrollantrag sei unzulässig a) wegen der Gesetzeskraft des Urteils des Staatsgerichtshofs vom 10.11.1993 (GR 3/92). LVerfGE 11
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Der Staatsgerichtshof habe damals auf Antrag des Landkreises Konstanz entschieden, daß § 21 FAG nicht gegen die Art. 71 und 73 LV verstoße. Auch wenn ein neuer Normenkontrollantrag bei Verschlechterung der Finanzsituation des Antragstellers grundsätzlich zulässig sei, müsse es sich hierbei um eine „erhebliche" Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse handeln. Davon könne nicht gesprochen werden. Der Staatsgerichtshof habe sich bei seiner Entscheidung vor allem auf die Relation zwischen den Sozialhilfeausgaben (einschließlich und ohne Landeswohlfahrtsumlage) und der Steuerkraft des Jahres 1990 gestützt. Diese Relation habe sich seither praktisch nicht verändert. Auch die Steigerung im Bereich der Jugendhilfekosten stelle keine rechtserhebliche neue Tatsache dar. Sie liege nur leicht über der Steigerung der Steuerkraft des Landkreises und hätte überdies durch eine sparsame Mittelbewirtschaftung abgefangen werden können. b) wegen der Gesetzeskraft des Urteils des Staatsgerichtshofs vom 10.5.1999 (GR 2/97). Nach Auffassung der Landesregierung steht die Gesetzeskraft des Urteils des Staatsgerichtshofs vom 10.5.1999 (GR 2/97) iSv § 23 Abs. la) StGHG der Zulässigkeit des Antrages entgegen. Diese Normenkontrollentscheidung sei allgemein verbindlich und wirke erga omnes (Bekanntmachung des Präsidenten des Staatsgerichtshofs vom 14.5.1999, GBl. S. 250). Es sei unzulässig, eine Norm als mit der Landesverfassung unvereinbar erklären zu lassen, die bereits durch gesetzeskräftige Entscheidung des Staatsgerichtshofs in diesem Sinne für unvereinbar erklärt wurde. Die Anträge der Landkreise Ortenau und Schwäbisch Hall im Verfahren GR 2/97 und der Antrag des Landkreises Konstanz in diesem Verfahren GR 1 /98 beträfen den gleichen Verfahrensgegenstand, nämlich den Antrag, das Gesetz über den kommunalen Finanzausgleich (FAG) in seiner geltenden Fassung als mit Art. 71 und Art. 73 LV für unvereinbar und damit nichtig zu erklären. Der Antrag des Landkreises Konstanz konzentriere sich besonders auf § 21 FAG. Der Antrag betreffe auch denselben Streitgegenstand wie im Verfahren GR 2/97, nämlich die sprunghaft gestiegenen Sozial- und Jugendhilfekosten der Landkreise. Der Staatsgerichtshof habe in diesem Zusammenhang § 21 FAG als mit der Landesverfassung für nicht vereinbar erklärt. Entgegen der Auffassung des Antragstellers seien auch die Jugendhilfekosten als Teil des Sozialbudgets Gegenstand des Verfahrens GR 2/97 gewesen. Der Staatsgerichtshof habe zwar im Verfahren GR 2/97 § 21 FAG in der Fassung der letzten Änderung des Gesetzes durch Art. 15 Haushaltsstrukturgesetz 1997 (GBl. 1996, S. 7) und § 14 Staatshaushaltsgesetz 1997 (GBl. S. 26) für unvereinbar mit der Landesverfassung erklärt, während der Landkreis Konstanz das FAG in der Fassung der späteren Änderung vom 11.2.1998 (GBl. S. 57) angreife. Dies sei jedoch irrelevant, da § 21 FAG nicht geändert worden sei und auch die vom Staatsgerichtshof geforderten prozeduralen Sicherungen bei dieser Gesetzesänderung noch nicht praktiziert wurden. LVerfGE 11
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Es bestehe auch kein Rechtsschutzbedürfnis bzw. Klarstellungsinteresse an einer erneuten Normenkontrollentscheidung des Staatsgerichtshofs nach dem Urteil vom 10.5.1999 (GR 2/97). Der Landkreis Konstanz könne nicht über die Feststellungen des Staatsgerichtshofs im Verfahren GR 2/97 hinaus eine Feststellung begehren, daß § 21 FAG gegen die Landesverfassung verstoße, weil die Kosten des Landkreises Konstanz im Bereich der Sozial- und Jugendhilfe durch diese Norm nicht ausreichend ausgeglichen seien. Es könne dahingestellt bleiben, ob überhaupt eine erneute Normenkontrollentscheidung des Staatsgerichtshofs statthaft sein könne, nachdem dieser die angegriffene Norm für unvereinbar mit der Verfassung erklärt habe. Zwar könne nach gefestigter Auffassung der kommunalen Normenkontrolle grundsätzlich auch eine Rechtsschutzfunktion zukommen. Ein Rechtsschutzbedürfnis setze aber voraus, daß im Zeitpunkt der Entscheidung des Staatsgerichtshofs diese die rechtliche Stellung des Antragstellers zu verbessern vermöge. Das Rechtsschutzbedürfnis entfalle bei Nutzlosigkeit des angestrebten Rechtsschutzes. Hier fehle es dem Landkreis Konstanz seit der Entscheidung des Staatsgerichtshofs vom 10.5.1999 (GR 2/97) an einem allgemeinen Rechtsschutzbedürfnis, da er seine rechtliche Situation selbst durch ein obsiegendes Urteil nicht verbessern könne. Nach den Gründen des Urteils vom 10.5.1999 könnten dem Antragsteller auch bei Obsiegen keine Ausgleichszahlungen für die zurückliegenden Jahre zufließen. Der Staatsgerichtshof habe nicht nur die allgemeine Finanzsituation der baden-württembergischen Landkreise berücksichtigt, sondern auch die konkrete Belastung der antragstellenden Landkreise Ortenau und Schwäbisch Hall einbezogen. Das Urteil sei damit auch unter der Prämisse gefällt worden, daß ein einzelner Kreis wie Konstanz möglicherweise in seinem Recht auf ausgabengerechte Finanzausstattung im Bereich der Sozial- und Jugendhilfekosten verletzt sei. Selbst wenn der Landkreis Konstanz — was keinesfalls zweifelsfrei sei — Defizite seiner verfassungsrechtlich gebotenen Finanzausstattung darlegen könne, würde dies nicht zu einem anderen Urteil des Staatsgerichtshofs führen, weil die vergleichbare Situation der Landkreise Ortenau und Schwäbisch Hall bereits Gegenstand des Verfahrens GR 2/97 gewesen sei. Eine nochmalige Feststellung im Verfahren GR 1 /98 sei daher überflüssig. Dem Landkreis Konstanz fehle es daher am Rechtsschutzbedürfnis. Falls man bei der kommunalen Normenkontrolle auf die Qualität als abstrakte Normenkontrolle abstellen wolle, fehle es dem Antragsteller an dem dann zu fordernden Klarstellungsinteresse, weil mit dem Urteil vom 10.5.1999 (GR 2/97) zur streitgegenständlichen Norm bereits eine verfassungsgerichtliche Entscheidung vorliege. Der Antrag des Landkreises Konstanz sei somit in jedem Falle als unzulässig zurückzuweisen. 2. Der Normenkontrollantrag sei aber auch unbegründet. a) Zur tatsächlichen Seite sei grundsätzlich zu berücksichtigen, daß nicht nur die Haushaltssituation der Landkreise und Gemeinden, sondern auch diejenige des Landes in den letzten Jahren äußerst angespannt gewesen sei. Dies habe die Landesregierung LVerfGE 11
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im Verfahren GR 2/97 ausführlich dargelegt. 1998 hätten sich die Steuereinnahmen des Landes und der Kommunen günstiger entwickelt als ursprünglich angenommen. Dadurch habe sich die kommunale Finanzsituation deutlich entspannt (um 400 Mio. DM höherer Gemeindeanteil an der Einkommenssteuer, 800 Mio. DM Steigerung bei den Gewerbesteuereinnahmen in den ersten drei Quartalen 1998, um 300 Mio. DM höhere Zuweisungen des Landes im kommunalen Finanzausgleich). Der Landkreis Konstanz erhalte rund 0,6 Mio. DM = 5 % höhere Schlüsselzuweisungen. Die finanzielle Lage des Landkreises Konstanz sei insgesamt nicht so schlecht, wie vom Antragsteller dargestellt. Manche Schwierigkeiten seien „hausgemacht". Das Regierungspräsidium Freiburg i.Br. habe am 22.7.1998 die Gesetzmäßigkeit der Haushaltssatzung mit Haushaltsplan des Landkreises Konstanz für das Haushaltsjahr 1998 bestätigt. Für die bestehenden Schwierigkeiten habe das Regierungspräsidium neben der — vom Landkreis beeinflußbaren — Steigerung des Zuschußbedarfs zur sozialen Sicherung Fehleinschätzungen des Kreistages verantwortlich gemacht. Die Kreisumlage sei mehrfach nicht rechtzeitig angehoben worden. Auch hätten zu optimistische Prognosen im Einnahmebereich zu Fehlbeträgen geführt. Ferner seien vertretbare Einsparungsmöglichkeiten nicht ausgeschöpft worden. Inzwischen habe der Landkreis Konstanz jedoch beachtliche Schritte zur Einsparung und zum sachgerechten Abbau von Leistungsstandards unternommen, wie sich am Zuschuß für die Pflegeeinrichtungen, im Bereich der Jugendhilfe und bei den Sozialhilfeaufwendungen im einzelnen ablesen lasse. Es bestehe aber immer noch ein beachtliches Einsparungspotential. Das lasse auch das — nicht entscheidungserhebliche — ISG-Gutachten vom 3.3.1999 erkennen. Im Jahre 1999 habe sich die erfreuliche Tendenz zur Entspannung der Haushaltslage weiter fortgesetzt. Hierzu legt die Landesregierung zu den Leistungen des Landes und Bundes sowie zur Verwaltungs- und Finanzpraxis des Landkreises Zahlen vor (Pauschale Ausgabenerstattung und Ende der personenbezogenen Erstattung nach dem Flüchtlingsaufnahmegesetz (FlüAG), finanzielle Konsequenzen der Praxis der Duldungserteilung). Landesweit hätten sich die Kommunalfinanzen seit 1998 bis Mitte 1999 wieder erfreulich entwickelt. Ab 2000 würden der kommunalen Ebene nach § 42 Abs. 27 FAG zusätzliche 500 Mio. DM zur Verfügung gestellt. Die Stadt- und Landkreise seien die großen Gewinner der Reform durch die FAG-Novelle 2000. Der Landkreis Konstanz würde um 4 Mio. DM entlastet. Hinzuträten weitere Verbesserungen durch Umschichtung der Finanzausgleichsmasse (Verbesserung für den Konstanzer Raum um rund 4,7 Mio. DM) sowie durch eine deutliche Kostenentlastung des Kreishaushaltes bei der Flüchtlingsunterbringung. b) Zur rechtlichen Seite weist die Landesregierung darauf hin, daß die Verpflichtung des Landes zum Ausgleich der Mehrbelastungen, die den Kommunen durch gesetzliche Aufgabenübertragung entstehen (Art. 71 Abs. 3 LV), sich nur auf die UberLVerfGE 11
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tragung durch Landesgesetz beziehe. Dies habe der Staatsgerichtshof bereits dargetan (Urteil GR 3/92, ESVGH 44,1 (LS 1), 2 ff). Insgesamt habe das Land nach der st. Rspr. des Staatsgerichtshofs für eine Finanzausstattung der Landkreise zu sorgen, die ihnen eine kraftvolle Erfüllung ihrer Aufgaben erlaube, ohne daß es zu einer Aushöhlung ihres Selbstverwaltungsrechtes komme. Das bedeute aber anders, als es der Antragsteller auffasse, keinen Anspruch auf angemessene, aufgabenadäquate Finanzausstattung, sondern nur einen Anspruch, überhaupt in der Lage zu sein, Freiwilligkeitsaufgaben in Angriff zu nehmen bzw. fortzuführen oder anders ausgedrückt, die vordringlichsten Aufgaben unter evtl. Zurückstellung von manch Wünschenswertem durchführen zu können. Dabei stelle Art. 73 Abs. 1 LV auf die gesamte Finanzkraft der kommunalen Ebene ab und nicht auf einen isolierten Ausgleich der Sozial- und Jugendhilfekosten. Der Gesetzgeber habe einen weiten Gestaltungsspielraum, wie er in politischer Einschätzungsprärogative die verfassungsrechtlich gebotene finanzielle Mindestausstattung gewährleiste. Dabei gelte grundsätzlich ein Vorrang der Erfüllung der Pflichtaufgaben vor den freiwilligen Aufgaben. Ferner stehe die Finanzausstattung der kommunalen Ebene unter dem allgemeinen verfassungsrechtlichen Vorbehalt der finanziellen Leistungsfähigkeit des Landes. Ihn habe der Staatsgerichtshof bereits anerkannt (GR 3/92, ESVGH 44, 7; GR 2/97, Umdruck, S. 37). Das bedeute, daß in Zeiten schwieriger Haushaltssituation das Land plausibel machen müsse, daß es sich selbst eine vergleichbare Sparsamkeit auferlegt, wie es sie von den Kommunen erwartet. Die Kreise hätten ihrerseits sparsam zu wirtschaften und zu berücksichtigen, daß ihnen in einer solchen Lage lediglich ein Mindestmaß an Finanzmitteln für die Wahrnehmung von Freiwilligkeitsaufgaben und weisungsfreien Pflichtaufgaben zur Verfügung stehe. Eine proportionale Verteilungssymmetrie bei der Verteilung der Finanzmassen zwischen Land und Kommunen sei kein Grundsatz des baden-württembergischen Finanzverfassungsrechts, sondern nur der erwähnte Anspruch der Kommunen auf eine Finanzausstattung, die ihnen eine kraftvolle Aufgabenerledigung ermöglicht. Der Staatsgerichtshof habe im Urteil vom 10.5.1999 (GR 2/97) das Prinzip der Verteilungssymmetrie aus guten Gründen nicht erwähnt. Die Verteilung des Finanzvolumens erfolge durch den politischen Gestaltungswillen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers und nicht durch eine „entpolitisierte" Verfassungsauslegung. Ebenso gebe es weder blindes- noch landesverfassungsrechtlich eine verfassungsrechtliche Garantie einer „freien Spitze" von 5 % des Gesamthaushaltes, die den Kommunen als Manövriermasse zur Erledigung von Freiwilligkeitsaufgaben zur Verfügung stehen müßte. Nach vorherrschender Auffassung entspreche die Finanzausstattung der Kreise der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie, wenn die vorhandenen Mittel zumindest einen gewissen Spielraum für die Erledigung freiwilliger Aufgaben ermöglichten. Eine darüber hinausgehende garantierte „freie Spitze" von 5 % würde eine ungerechtfertigte verfassungsrechtliche Privilegierung der Kommunen im Vergleich zur Bundes- und Landesebene bedeuten. Im Falle des Landkreises Konstanz sei in diesem Zusammenhang bei den Förderbudgets LVerfGE 11
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im freiwilligen Bereich eine ansehnliche Aktivität und auch denkbares Einsparungspotential festzustellen. Beziehe man berechtigterweise den „Selbstverwaltungsanteil" bei den weisungsfreien und weisungsgebundenen Pflichtaufgaben mit ein, stünden dem Landkreis Konstanz mehr als 10 % seiner Haushaltsmittel für die Selbstverwaltung zur Verfügung. Damit bestünden erhebliche Spielräume zur kraftvollen Betätigung. Insgesamt weist die Landesregierung darauf hin, daß nach ihrer Auffassung sich die Finanzausstattung des Antragstellers weiterhin im Rahmen der vom Staatsgerichtshof in dem Urteil vom 10.11.1993 (GR 3/92) aufgestellten Grundsätze halte. In diesem Zusammenhang seien auch die schon seit 1997 erfolgten zusätzlichen Entlastungen der Kreishaushalte durch den Landesgesetzgeber zu berücksichtigen (Kommunaler Investitionsfonds, Schlüsselzuweisungen, Umschichtungen aus der Finanzausgleichsmasse Β in A, künftige Erhöhungen der Finanzausgleichsmasse und anderer Zuweisungen). c) Die prozedurale Absicherung der kommunalen Finanzausstattung in dem Sinne, wie sie der Staatsgerichtshof im Urteil vom 10.5.1999 (GR 2/97) der Landesverfassung entnommen habe, werde inzwischen in einem Meinungsaustausch zwischen dem Land und den kommunalen Verbänden entwickelt. Am 17.1.2000 habe dieser zum Abschluß einer Vereinbarung zwischen dem Land und den kommunalen Spitzenverbänden über die Bildung einer Finanzverteilungskommission zur Gewährleistung des prozeduralen Schutzes der kommunalen Selbstverwaltung gefuhrt. Nach alledem ist nach Meinung der Landesregierung der Antrag des Landkreises Konstanz unbegründet. Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze bei den Gerichtsakten verwiesen. Entscheidungsgründe: I. Der Antrag ist unzulässig. Ihm steht die Rechts- und Gesetzeskraft des Urteils des Staatsgerichtshofes vom 10.5.1999 (GR 2/97) entgegen. 1. Der Antragsteller ist ein nach Art. 76 LV beteiligungsfähiger Gemeindeverband. Er macht insoweit zulässig geltend, das Gesetz über den kommunalen Finanzausgleich (FAG) idF vom 26.9.1991, zuletzt geändert durch Gesetz vom 15.12.1998 (GBl. S. 669), insbesondere § 21 FAG, verstoße insoweit gegen Art. 71 und 73 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg, als es die Kosten des antragstellenden Landkreises Konstanz im Bereich der Sozial- und Jugendhilfe nicht ausreichend ausgleiche. 2. Es braucht nicht entschieden zu werden, ob der Zulässigkeit des Antrages die Rechts- und Gesetzeskraft des Urteils des Staatsgerichtshofes vom 10.11.1993 (GR 3/92, ESVGH 44,1 ff) entgegensteht. In ihm hatte der Staatsgerichtshof zum damaligen Zeitpunkt die Vereinbarkeit des Finanzausgleichsgesetzes, insbesondere des Soziallastenausgleichs nach § 21 FAG mit der Landesverfassung festgestellt.
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a) In dem damaligen, ebenfalls auf Antrag des Landkreises Konstanz eingeleiteten Normenkontrollverfahren war geltend gemacht worden, „die Regelungen des FAG, insbesondere § 21 FAG", verletzten insoweit die Art. 71 und 73 der Landesverfassung, als sie die Kosten des antragstellenden Landkreises im Bereich der Sozialund Jugendhilfe nicht ausreichend ausgleichen würden. Der Gegenstand des hier vorliegenden Verfahrens deckt sich daher mit dem im Verfahren GR 3/92 bereits rechtsund gesetzeskräftig entschiedenen. b) Die Rechtskraft der Normenkontrollentscheidungen des Staatsgerichtshofs erstreckt sich auf alle Prozeßbeteiligten (§ 23 Abs. 2 StGHG), im Falle des Urteils GR 3/92 demgemäß auf den Landkreis Konstanz. Diese Entscheidungen haben zugleich Gesetzeskraft (§ 23 Abs. la) StGHG). Das schließt grundsätzlich eine neue Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der geprüften Vorschriften aus (StGH, Beschl. v. 29.10.1955, GR 6/55 - unveröff. - ; Urt. v. 10.5.1999, GR 2/97, Umdruck, S. 18). Die Gesetzeskraft einer Normenkontrollentscheidung bewirkt, daß die Gültigkeit oder Nichtigkeit eines Gesetzes nicht nur im Verhältnis zwischen den Verfahrensbeteiligten, sondern verbindlich mit Wirkung für und gegen jedermann festgestellt wird. Die Gesetzeskraft eines Urteils steht grundsätzlich einer erneuten Entscheidung über denselben Streitgegenstand als Prozeßhindernis entgegen. c) Die Rechts- und Gesetzeskraft eines Urteils des Staatsgerichtshofes kann jedoch überwunden werden, wenn substantiiert geltend gemacht wird, daß zwischenzeitlich tatsächliche Veränderungen eingetreten sind, welche die Grundlage der früheren Entscheidung berühren und deren Überprüfung nahelegen (StGH, Urt. v. 10.5.1999, GR 2/97, Umdruck, S. 18 ff). Die in § 23 StGHG vorgesehene Rechts- und Gesetzeskraft eines Urteils bezieht sich auf den Zeitpunkt, in dem die jeweilige Entscheidung ergangen ist. Sie erfaßt nicht solche Veränderungen, die nach Erlaß der Entscheidung eingetreten sind. Hierzu gehören tatsächliche Veränderungen, wie die von einer kommunalen Selbstverwaltungskörperschaft geltend gemachte weitere Verschlechterung ihrer Finanzausstattung infolge stetig und erheblich ansteigender Aufgaben- und Kostenbelastung bei gleichzeitiger finanzieller Unterdeckung (StGH aaO). Unter diesen Voraussetzungen kann der Staatsgerichtshof gesetzliche Vorschriften einer erneuten Überprüfung unterziehen, deren Vereinbarkeit mit der Verfassung er bereits festgestellt hat. 3. Es kann indessen dahinstehen, ob der Antragsteller eine seit dem Urteil des Staatsgerichtshofs vom 10.11.1993 (GR 3/92) eingetretene relevante Änderung der tatsächlichen Verhältnisse substantiiert vorgetragen hat. Der Zulässigkeit des erneuten Normenkontrollantrages des Antragstellers in diesem Verfahren steht jedenfalls die Rechts- und Gesetzeskraft des Urteils des Staatsgerichtshofs vom 10.5.1999 (GR 2/97) entgegen. a) In diesem Urteil hat der Staatsgerichtshof auf Antrag der Landkreise Ottenau und Schwäbisch Hall die Regelung der §§ 1, 2 und 21 FAG idF vom 29.9.1991 (GBl. LVerfGE 11
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S. 658), zuletzt geändert durch Art. 15 Haushaltsstrukturgesetz 1997 (GBl. 1996, S. 7) und § 14 Staatshaushaltsgesetz 1997 (GBl. S. 26) für nicht vereinbar mit der Verfassung des Landes Baden-Württemberg erklärt. In der Sache bezieht sich diese Feststellung des Staatsgerichtshofes auch auf die Fassung des Finanzausgleichsgesetzes nach den Änderungen durch § 16 Staatshaushaltsgesetz 1998/99 vom 11.2.1998 (GBl. S. 57) und Art. 3 ÄndG vom 15.12.1998 (GBl. S. 669), da § 21 FAG hierdurch weder im Wordaut noch im weiteren Regelungsgehalt verändert worden ist. b) Nach dem Wortlaut des § 23 Abs. la) StGHG erlangen zwar nur solche Normenkontrollentscheidungen Gesetzeskraft, „die eine Rechtsvorschrift ... als mit der Verfassung unvereinbar für nichtig erklären". Über den Gesetzeswordaut hinaus kommt jedoch in sinngemäßem Verständnis auch denjenigen Urteilen des Staatsgerichtshofs Gesetzeskraft zu, welche - wie das Urteil vom 10.5.1999 (GR 2/97) - die Nichtvereinbarkeit von landesgesetzlichen Normen mit der Landesverfassung feststellen, ohne diese als mit der Verfassung unvereinbar für nichtig zu erklären. Auch bei solchen Urteilen erstreckt sich die Gesetzeskraft der Entscheidung über den Kreis der Verfahrensbeteiligten hinaus für und gegen jedermann. aa) Der Staatsgerichtshof hält sich seit langem für befugt, in Normenkontrollverfahren lediglich die Unvereinbarkeit eines zur Überprüfung gestellten Landesgesetzes mit der Landesverfassung festzustellen, ohne hieran zwingend die sofortige Nichtigerklärung der betreffenden Normen zu knüpfen. Dies gilt vor allem, wenn der durch eine Nichtigerklärung herbeigeführte Zustand der Verfassung noch ferner stünde als der bisherige oder wenn dem Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten zur Beseitigung eines Verfassungsverstoßes zur Verfügung stehen (StGH, ESVGH 26, 129, 141; 29, 160, 169; ebenso BVerfGE 61, 43, 68 mwN). Der Staatsgerichtshof sieht sich daran auch nicht durch das Gesetz über den Staatsgerichtshof und darin insbesondere § 50 StGHG gehindert, wonach er bei Normenkontrollentscheidungen die Nichtigkeit der beanstandeten Bestimmung feststellt. Diese Vorschriften stammen aus einer Zeit, als man nahezu einhellig von der ausnahmslosen ex-tunc-Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze ausging. Seitdem hat namentlich die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Rechtsfortbildung aus gewichtigen Gründen Fallgruppen verfassungswidriger Gesetze von der unmittelbaren Nichtigkeitsfolge ausgenommen. Der Staatsgerichtshof hat sich seinerseits diese Rechtsprechung zu eigen gemacht (StGH ESVGH 26,129,141). bb) In Fortführung dieser Rechtsprechung hat der Staatsgerichtshof im Urteil vom 10.5.1999 (GR 2/97, Umdruck S. 2) lediglich die Nichtvereinbarkeit der Regelung der § § 1 , 2 und 21 FAG mit der Verfassung des Landes Baden-Württemberg festgestellt, da der durch eine Nichtigkeitserklärung herbeigeführte Zustand der Verfassung noch ferner stünde als der bisherige und weil eine Nichtigkeit der angefochtenen Regelung die Rechtsgrundlage für Ansprüche der Gemeinden und Gemeindeverbände aus dem kommunalen Finanzausgleich entfallen ließe (StGH, Urt. v. 10.5.1999, GR LVerfGE 11
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2/97, Umdruck S. 50). Das Absehen von der Nichtigkeitserklärung hindert indessen den Eintritt der Gesetzeskraft dieser Normenkontrollentscheidung nicht. Da das Land aufgrund des Urteils von Verfassungs wegen gehalten ist, alsbald fur eine verfassungsgemäße Regelung zu sorgen, hat die Feststellung der NichtVereinbarkeit einer Norm mit der Landesverfassung grundsätzlich dieselben Wirkungen wie eine Nichtigkeitserklärung. Der Entscheidung des Staatsgerichtshofs im Verfahren GR 2/97 kommt daher ohne Einschränkung Gesetzeskraft zu. cc) Die Nichtvereinbarkeitserklärung hat zur Folge, daß alle Gerichte und Behörden die Norm in dem sich aus dem Tenor und den tragenden Gründen ergebenden Umfang nicht mehr anwenden dürfen. Sie verpflichtet gleichzeitig den Gesetzgeber und alle Beteiligten zur Herstellung einer der Verfassung entsprechenden Gesetzeslage (BVerfGE 37, 217, 261; 55,100, llOf). Die Nichtvereinbarkeitserklärung bewirkt, daß die Norm lediglich formell fortbesteht, materiell aber die Konsequenzen denen einer Nichtigkeitserklärung entsprechen. Der Feststellung der NichtVereinbarkeit einer gesetzlichen Regelung mit der Landesverfassung durch den Staatsgerichtshof kommt damit auch aus diesen Gründen Gesetzeskraft iSd § 23 Abs. 1 StGHG zu. c) Nach alledem entfaltet das Urteil des Staatsgerichtshofs vom 10.5.1999 (GR 2/97) Bindungswirkung nicht nur zwischen den Prozeßbeteiligten jenes Verfahrens. Es stellt die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Regelungen über den Soziallastenausgleich nach dem Finanzausgleichsgesetz mit Wirkung für jedermann fest, also auch im Verhältnis zum Antragsteller dieses Verfahrens, dem Landkreis Konstanz. Dies schließt eine nochmalige Uberprüfung dieser Vorschriften aus. Die Gesetzeskraft des Urteils vom 10.5.1999 (GR 2/97) bindet den Landkreis Konstanz im dort entschiedenen Umfang. Die Grenzen der Rechtskraft und der Gesetzeskraft bestimmen sich nach dem Inhalt der Entscheidung (BVerfGE 69,92,103). Dem Urteil vom 10.5.1999 lag in einem förmlichen Sinne der Antrag der Landkreise Ottenau und Schwäbisch Hall zugrunde, festzustellen, daß die §§ 1,2 und 21 FAG mit Art. 71 und 73 der Landesverfassung unvereinbar und damit nichtig sind. Aus der Antragsbegründung ergibt sich indessen, daß die antragstellenden Landkreise bereits in dem Verfahren GR 2/97 einen materiellen Verstoß gegen die Finanzausstattungsgarantie der Landesverfassung iSd Art. 71 Abs. 1 S. 1 iVm Art. 73 Abs. 1 LV aus der erheblichen Verschlechterung ihrer Finanzlage herleiteten. Sie war nach ihrer Auffassung durch eine stetig ansteigende Aufgaben- und Kostenbelastung „insbesondere auf dem Gebiet der Sozial- und Jugendhilfe" bedingt, bei gleichzeitig defizitärer Finanzausstattung durch das Land. Die Kostenbelastung im Bereich der Jugendhilfe war danach bereits Gegenstand des Verfahrens 2/97. In gleicher Weise beanstandet der Landkreis Konstanz im vorliegenden Verfahren seine in den letzten Jahren nochmals gestiegenen Kosten im Bereich der Sozial- und Jugendhilfe, die nach seiner Auffassung durch die geltende Regelung des Finanzausgleichsgesetzes entgegen der Verfassung nicht ausreichend ausgeglichen würden. Er stellt damit unter allen wesentlichen Aspekten den gleichen Sachverhalt LVerfGE 11
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zur erneuten Entscheidung des Staatsgerichtshofes, der bereits im Verfahren GR 2/97 Prüfungsgegenstand war. Mit der Nichtvereinbarkeitserklärung im Urteil vom 10.5.1999 (GR 2/97) hat der Staatsgerichtshof über diesen Sachverhalt befunden und ist damit gem. § 23 StGHG an einer nochmaligen Entscheidung über dieselben Vorschriften des Finanzausgleichsgesetzes zum Soziallastenausgleich gehindert, die er bereits am 10. Mai 1999 als mit der Landesverfassung nicht vereinbar erklärt hatte. 4. Eine nochmalige Prüfung gesetzlicher Vorschriften, deren Unvereinbarkeit mit der Landesverfassung bereits durch den Staatsgerichtshof festgestellt worden ist, würde auch Wesen und Sinn der kommunalen Normenkontrolle nach Art. 76 LV widersprechen. Ein zulässiger Antrag auf kommunale Normenkontrolle nach Art. 76 LV iVm §§ 8 Abs. 1 Nr. 8, 54 und 50 StGHG setzt voraus, daß der Antragsteller schlüssig geltend macht, daß ein Gesetz die Vorschriften der Art. 71 bis 75 der Landesverfassung verletze. Die Verfassung bringt damit die individualrechtliche Seite des Schutzgehaltes der kommunalen Normenkontrolle als einer „kommunalen Verfassungsbeschwerde, die als Normenkontrollverfahren ausgestaltet ist", zum Ausdruck {Bachof FS Eduard Kern, 1968, S. 1). Diese individual-rechtliche Komponente wird auch dadurch betont, daß Art. 76 LV die Zulässigkeit eines Antrages an die Behauptung bindet, ein Gesetz „verletze" die Vorschriften der Art. 71—75 LV. Diese einem abstrakten Normenkontrollverfahren fernstehende Ausgestaltung der Antragsbefugnis betont den gleichzeitig subjektiv-rechtlichen Charakter des Verfahrens nach Art. 76 LV {Braun Kommentar zur Verfassung des Landes Baden-Württemberg 1984, Art. 76 Rn. 2; Sander in: Feuchte (Hrsg.), Verfassung des Landes Baden-Württemberg, 1987, Art. 76 Rn. 2; jüngst ähnlich Sächs. VerfGH, Beschl. v. 3.12.1998, DVB1.1999, 852). Wenn demnach Art. 76 LV ersichtlich den Zweck verfolgt, den kommunalen Körperschaften einen klagbaren Schutz gegen legislative Eingriffe in ihr Selbstverwaltungsrecht zu sichern, so setzt die Antragsbefugnis von Gemeinden und Gemeindeverbänden die Darlegung einer entsprechenden individuellen Beschwer voraus (StGH, ESVGH 26,129,130). Hierzu gehört, daß vom Antragsteller nachvollziehbar vorgetragen wird, daß er durch eine geltende gesetzliche Regelung in seinen Selbstverwaltungsrechten betroffen wird. An einer solchen gegenwärtigen Rechtsbetroffenheit fehlt es indessen, wenn eine gesetzliche Regelung keine belastenden Rechtswirkungen mehr zu entfalten vermag, weil ihre NichtVereinbarkeit mit der Landesverfassung vom Staatsgerichtshof bereits rechts- und gesetzeskräfrig festgestellt worden ist. Auch wenn der Staatsgerichtshof sich auf die Feststellung der NichtVereinbarkeit der maßgeblichen Vorschriften des Finanzausgleichsgesetzes beschränkt und nicht ihre Nichtigkeit festgestellt hat, ist damit die Möglichkeit einer Verletzung des Antragstellers durch diese Vorschriften iSd Art. 76 LV entfallen. 5. Hieran ändert auch nichts, daß die Feststellung der NichtVereinbarkeit des § 21 FAG mit Art. 71 und 73 LV im Urteil des Staatsgerichtshofs vom 10.5.1999 (GR 2/97) LVerfGE 11
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nur im Hinblick auf den fehlenden prozeduralen Schutz der kommunalen Finanzgarantie und nicht wegen Verstoßes gegen materielle Maßstäbe dieser Garantie erfolgt ist. Die Wirkung der Nichtvereinbarkeitserklärung ist notwendig umfassend und unabhängig von ihrer Begründung. Es kann daher dahingestellt bleiben, ob es verfassungsgerichtlich möglich ist, wie der Antragsteller und Stellungnahmen zu dem Urteil vom 10.5.1999 (Goerlich DVB1. 1999,1358 ff; Henneke ZG 1999, 256 ff; F. KirchhoßZ 1999, 1054 ff) meinen, über die bisherigen Erkenntnisse hinaus praktikable Maßstäbe für eine materielle Kontrolle ausreichender kommunaler Finanzausstattung aufzustellen, anhand derer beurteilt werden könnte, ob ein Mindeststandard eindeutig unterschritten sei oder ob es sich insoweit um politische Entscheidungen handelt, welche der Landtag zu treffen hätte (Würtenberger FS Leisner, 1999, S. 973ff). Diese Frage würde sich nur dann stellen, wenn dargetan werden könnte, daß die vom Staatsgerichtshof in dem Verfahren GR 2/97 der Verfassung entnommenen Anforderungen an effektiven prozeduralen Schutz offenkundig nicht ausreichten, um eine zufriedenstellende Finanzverteilungsregelung zwischen Land und Kommunen unter Berücksichtigung der im Urteil vom 10.5.1999 benannten Grundsätze zu schaffen. Davon kann gegenwärtig nicht gesprochen werden. Bisher ist noch nicht einmal der Meinungsaustausch zwischen dem Land und der kommunalen Seite abgeschlossen. Auch die Vereinbarung vom 17.1.2000 über die Bildung einer Finanzverteilungskommission zur Gewährleistung des prozeduralen Schutzes der kommunalen Selbstverwaltung soll gemäß ihrem § 7 erst mit Zustimmung des Landtages in Kraft treten. Nach alledem ist der Antrag des Landkreises Konstanz als unzulässig abzuweisen. II. Das Verfahren vor dem Staatsgerichtshof ist kostenfrei (§ 55 Abs. 1 StGHG). Zu einer Entscheidung nach § 55 Abs. 3 StGHG besteht keine Veranlassung.
Nr. 2 1. Das baden-württembergische Landesrecht kennt keine Normenkontrollverfahren gegen Landesgesetze vor dem Staatsgerichtshof auf Antrag eines Einzelnen. Die Zulässigkeit eines solchen Verfahrens ergibt sich auch nicht aus Art. 23 LV (Rechtsstaatsprinzip) oder aus Art. 67 LV (Rechtsweggarantie) und ist nicht Inhalt der Normativbestimmung in Art. 28 Abs. 1 GG für die Landesverfassung. 2. Das Gleiche gilt für die Zulässigkeit einer Landesverfassungsbeschwerde.
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Staatsgerichtshof fur das Land Baden-Württemberg Grundgesetz Art. 19 Abs. 4,28 Abs. 1,100 Abs. 1 Verfassung des Landes Baden-Württemberg Art. 23, 67 Beschluß vom 8. Februar 2000 - 1/00 -
in dem Normenkontrollverfahren auf Antrag des Beteiligten Hans-Joachim Zimmer, Hainbuchenweg 10, 71549 Auenwald-Mittelbrüden — Antragsteller — Entscheidungs formel: Der Antrag auf Eröffnung des Verfahrens wird verworfen. Das Verfahren ist kostenfrei. Von der Anordnung einer Auslagenerstattung wird abgesehen. Gründe: I. Der Antragsteller hat sich mit Schriftsatz vom 7. Januar 2000 an den Staatsgerichtshof gewandt und „Verfassungsklage" erhoben und die Feststellung beantragt, daß „das Wahlrecht in Baden-Württemberg" nicht mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und der Verfassung des Landes Baden-Württemberg vereinbar ist; es verstoße gegen Art. 28 Abs. 1 GG (verfassungsmäßige Ordnung — Homogenitätsgebot — und Gewährleistung der kommunalen Selbstverwaltung), da von den 120 zu wählenden Abgeordneten 50 nicht unmittelbar gewählt wurden und nicht gewählt werden können; darin liege ein Verstoß gegen die Freiheit des Wählers, Abgeordnete frei zu wählen; ferner liege darin ein Verstoß gegen Art. 27 Abs. 1 LV, weil diese 50 Abgeordneten nicht die vom Volk gewählten Vertreter seien; dies verstoße auch gegen Art. 27 Abs. 3 S. 1 LV, da sie eben nicht Vertreter des ganzen Volkes, sondern allenfalls Parteivertreter seien; es liege ferner ein Verstoß gegen Art. 28 LV vor, denn mit nur einer Wahlstimme könne der Wähler nicht gleichzeitig in einer Persönlichkeits- und einer Verhältniswahl abstimmen; § 2 Abs. 1 des Landeswahlgesetzes sei mit Art. 3 GG unvereinbar, da „die exklusive Vorab-Zuweisung" aller 120 Abgeordnetenmandate an Parteien eine Benachteiligung anderer wegen ihrer politischen Anschauungen bedeute; eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes liege auch darin, daß den Parteien in Baden-Württemberg mindestens 50 Abgeordnetenmandate überlassen werden, die dann für sonstige Wahlbewerber absolut unzugänglich seien; Parteien hätten aber grundsätzlich keinen besonderen Anspruch auf die Belegung von Landtagsmandaten; Folge des gegebenen Wahlrechts in Baden-Württemberg sei, daß das Volk nicht mehr Inhaber der Staatsmacht sei, was gegen Art. 20 GG (Staatsstrukturprinzip und LVerfGE 11
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Widerstandsrecht) sowie Art. 25 LV (Demokratie, Gesetzesvorrang, Gewaltenteilung) verstoße: im übrigen werde beantragt festzustellen, daß die Macht nur dann als vom Volke ausgehend angesehen werden kann, wenn der Ministerpräsident tatsächlich die Richtlinien der Politik bestimme und die Abgeordneten ohne jeglichen Fraktionszwang diese Richtlinien bewerten, prüfen und in Form von Gesetzesbeschlüssen verabschieden können. Der Präsident des Staatsgerichtshofs hat mit Schreiben vom 13. Januar 2000 den Antragsteller unter detaillierter Darlegung der Zuständigkeiten des Staatsgerichtshofs auf die Bedenken gegen die Statthaftigkeit seines Antrags hingewiesen und ihm Gelegenheit zur Rücknahme seines Antrags gegeben. Der Antragsteller hat demgegenüber ausgeführt, er nehme „aus Prinzip" den Antrag nicht zurück. Der völlige Ausschluß von Normenkontrollanträgen Einzelner durch die Verfassung von Baden-Württemberg und das sonstige Landesrecht sei mit dem GG nicht vereinbar. Das gleiche gelte für die Verweigerung, vor dem Staatsgerichtshof eine Verfassungsbeschwerde zu erheben. Die Landesregierung und der Landtag von Baden-Württemberg haben sich zur Sache nicht geäußert. II. Der Staatsgerichtshof entscheidet gem. § 17 Abs. 2 StGHG mit Zustimmung sämtlicher Richter im schriftlichen Verfahren. Der Antrag auf Eröffnung des Normenkontrollverfahrens war zu verwerfen, da er von einem Nichtberechtigten gestellt ist. Auch als Verfassungsbeschwerde ist das Begehren des Antragstellers unstatthaft, da das baden-württembergische Landesrecht ein solches Verfahren nicht zur Verfugung stellt. Mit seinem Begehren auf Feststellung, daß „das gegebene Wahlrecht im Land Baden-Württemberg nicht mit der Verfassung Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland — vereinbar ist", beantragt der Antragsteller die Rechtskontrolle des einschlägigen baden-württembergischen Landtagswahlrechts mit dem Ziel, die Nichtigkeit einzelner Regelungen wegen der von ihm behaupteten Verstöße gegen höherrangiges Recht im Wege der individuellen Normenkontrolle festzustellen, bzw. im Wege einer individuellen Verfassungsbeschwerde auszusprechen. Er ist für ein solches Normenkontrollverfahren jedoch nicht antragsberechtigt, als Verfassungsbeschwerde ist sein Antrag unstatthaft; auf die Bedenken gegen die Antragsbefugnis und auch auf die Zulässigkeit anderer Verfahren vor dem Staatsgerichtshof zur Verfolgung seines Ziels war der Antragsteller bereits in dem Aufklärungsschreiben des Präsidenten vom 13. Januar 2000 hingewiesen worden. Der Staatsgerichtshof macht sich diese Ausführungen zu eigen und weist den Antragsteller nochmals darauf hin, daß der Staatsgerichtshof zur Entscheidung über die Vereinbarkeit von Landesrecht mit der Landesverfassung in einem NormenkonLVerfGE 11
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trollverfahren nur auf Antrag der Landesregierung oder mindestens eines Viertels der Mitglieder des Landtags, auf Antrag von Gemeinden oder Gemeindeverbänden sowie auf gerichtliche Vorlage hin berufen ist (Art. 68 Abs. 1 Nr. 2 und 3, Abs. 2 Nr. 2 LV). Ein darüber hinausgehendes unmittelbares prozessuales Antragsrecht Einzelner auf Normenkontrolle oder ein Recht auf eine Landesverfassungsbeschwerde gegen Gesetze vermag der Staatsgerichtshof nicht zu erkennen. Es ergibt sich insbesondere nicht aus dem landesrechtlichen Rechtsstaatsprinzip in Art. 23 LV. Dieses den Ländern durch Art. 28 Abs. 1 GG verbindlich vorgeschriebene und in dessen Abs. 3 durch den Bund gewährleistete Prinzip verlangt auch in seiner dem Art. 19 Abs. 4 GG entsprechenden Ausgestaltung in Art. 67 LV als Gewährung justizförmigen Rechtsschutzes gegen Verletzungen eigener Rechte durch die staatliche Gewalt nicht die Einrichtung eines Gerichtsverfahrens mit dem Ziel einer unmittelbaren Normenkontrolle. Gegen Rechtsverletzungen durch vollzugsbedürftige Gesetze reicht die dem Individualrechtsschutz dienende fachgerichtliche Inzidentkontrolle des Gesetzes mit der Pflicht zur Vorlage an den Staatsgerichtshof nach Art. 100 Abs. 1 GG iVm Art. 68 Abs. 1 Nr. 3 LV (vgl. Maun^/Dürig Grundgesetz, Losebl.Kommentar, Art. 19 Abs. IV, Rn. 93 ff, insbes. 95). Daß mit einer dem Einzelnen gegenüber nicht vollzugsbedürftigen gesetzlichen Regelung der Landtagswahlen unmittelbar Rechte des Antragstellers berührt sein können, was insoweit den Gedanken an einen direkten gerichtlichen Zugriff auf das Gesetz auf Antrag des Betroffenen nahe legen und insofern die Gewährung eines entsprechenden individuellen und unmittelbaren Normenkontrollverfahrens erfordern könnte, ist nicht ersichtlich. Eine Landesverfassungsbeschwerde gegen Gesetze ist durch das Rechtsstaatsgebot ebenfalls nicht geboten, da auch ohne sie lückenloser Rechtsschutz durch die Fachgerichte und notfalls nach Art. 67 Abs. 2 LV durch die Verwaltungsgerichte gewährleistet ist. Schließlich kann auch nicht von einer nur unvollkommenen und lückenhaften Befolgung der Normativbestimmung des Art. 28 Abs. 1 GG durch den baden-württembergischen Verfassungs- und Gesetzgeber gesprochen werden. Aus dem Gestaltungsauftrag des Grundgesetzes folgt für die Länder insoweit nur der Zwang zur Institutionalisierung der Rechtsstaatlichkeit mit justizförmigem Rechtsschutz gegen die Verletzung eigener Rechte; eine strikte Pflicht zur Einfuhrung eines unmittelbaren und individuellen Nomenkontrollverfahrens für den Einzelnen oder einer individuellen Verfassungsbeschwerde läßt sich dem Art. 28 Abs. 1 GG nicht entnehmen. Das Verfahren ist kostenfrei (§ 55 Abs. 1 StGHG); von der Anordnung einer Kostenerstattung gem. § 55 Abs. 3 StGHG wurde abgesehen.
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Nr. 3 Die Rechtsstellung einer Landtagsfraktion bezieht sich auf ihre Mitwirkung im innerparlamentarischen Raum. Dese Stellung wird durch das außerparlamentarische Verhalten von Regierungsmitgliedern (Innehaben von Leitungsund Aufsichtsorganstellen in wirtschaftlichen Unternehmen ohne Ausnahmegewährung durch den Landtag) nicht berührt. Es zieht auch nicht automatisch die Zuständigkeit des Landtags zur Ausnahmegewährung in Zweifel oder erschwert die Wahrnehmung dieses Rechts. Durch einen sachlich rechtswidrigen Beschluß des Landtags wird das verfassungsmäßige Mitwirkungsrecht einer Fraktion im Landtag nicht in Frage gestellt. Auch die Rechtsstellung des Landtags selbst wird dadurch nicht verkürzt. Im übrigen kann eine Fraktion Rechte des Landtags im Wege der Prozeßstandschaft nur gegenüber anderen Verfassungsorganen wahrnehmen, nicht aber gegenüber dem Landtag selbst (wie schon StGH, Urt. v. 20.11.1996 - GR 2/95 - , ESVGH 47,1). Verfassung des Landes Baden-Württemberg Art. 53 Abs. 2 Gesetz über den Staatsgerichtshof § 45 Abs. 1 Aktiengesetz § 101 Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung § 52 Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen Art. 113 Abs. 2 Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg Art. 39 Abs. 2 Niedersächsische Verfassung Art. 34 Abs. 2 Verfassung des Freistaats Sachsen Art. 62 Abs. 2 Nordrhein-Westfälische Verfassung Art. 64 Abs. 3 Urteil vom 19. Mai 2000 - GR 2/99 in dem Organstreitverfahren gem. Art. 68 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 LV der Fraktion der SPD im 12. Landtag von Baden-Württemberg — Antragstellerin Verfahrensbevolknächtigter: Rechtsanwalt und Vizepräsident des Landtags Frieder Birzele, Dreikönigsweg 8, 73033 Göppingen LVerfGE 11
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Staatsgerichtshof füir das Land Baden-Württemberg
gegen den Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg Erwin Teufel, Richard Wagner-Straße 15, 70184 Stuttgart die Landesregierung von Baden-Württemberg, vertreten durch den Ministerpräsidenten, Richard-Wagner-Straße 15, 70184 Stuttgart Finan2minister Gerhard Stratthaus, Schloßplatz 4 (Neues Schloß), 70173 Stuttgart Sozialminister Dr. Friedhelm Repnik, Schellingstraße 15, 70174 Stuttgart Minister fur Umwelt und Verkehr Ulrich Müller, Kernerplatz 9, 70182 Stuttgart Minister im Staatsministerium Dr. Christoph Palmer, Richard-Wagner-Straße 15,70184 Stuttgart den 12. Landtag von Baden-Württemberg, vertreten durch den Präsidenten Peter Straub, Haus des Landtags, Konrad-Adenauer-Straße 3, 70173 Stuttgart — Antragsgegner — Verfahrensbevollmächtigter: Rechtsanwalt Prof. Dr. Klaus-Peter Dolde, Gerling-Haus, Heilbronner Straße 156, 70191 Stuttgart Entscheidungs formel: Die Anträge werden verworfen. Das Verfahren ist kostenfrei. Auslagen werden nicht erstattet. Gründe: I. Im November 1998 schieden bisherige Minister aus der Landesregierung aus, und die Antragsgegner Ziff. 3—6 traten als Minister in die Landesregierung ein. Am 11.11.1998 stimmte der Landtag ihrer Berufung zu und sie wurden vereidigt (LT-Prot. 12/4289). Am 30.11.1998 beschloß die Landesregierung, die Antragsgegner Ziff. 1 und 3 in die Gewährträgerversammlung der neu gegründeten Landesbank und die Antragsgegner Ziff. 3,4 und 5 in die Verwaltungsräte der alten Landeskreditbank (L-Bank) und der neuen Landeskreditbank (Förderbank) zu entsenden. Hinsichtlich der alten Landeskreditbank (L-Bank) entsprach dies einem Kabinettsbeschluß vom 27.11.1996, demzufolge die Landesregierung im Verwaltungsrat unter anderem durch den Finanzminister, den Sozialminister und den Minister für Umwelt und Verkehr vertreten sein sollte. Zugleich beantragte die Landesregierung beim Landtag die Erteilung der Ausnahmegenehmigung gem. Art. 53 Abs. 2 S. 3 LV (LT-Drs. 12/3510). In seiner Sitzung
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vom 3.12.1998 vertagte der Ständige Ausschuß des Landtages die Befassung mit dem Antrag, weil die Landesregierung weitere Neubesetzungen von Aufsichts- und Leitungsorganen in Aussicht gestellt hatte. Die Antragsgegner Ziff. 1 und 3 nahmen am 7.12.1998 an einer Sitzung der Gewährträgerversammlung der Landesbank, die Antragsgegner Ziff. 3 und 4 am 25.11.1998 an einer Sitzung des Verwaltungsrats der Landeskreditbank (L-Bank) und die Antragsgegner Ziff. 4 und 5 Anfang Dezember 1998 an einem Beschluß des Verwaltungsrats der Landeskreditbank (Förderbank) teil, der im Umlaufverfahren gefaßt wurde. Am 18.1.1999 beantragte die Landesregierung beim Landtag unter anderem die Erteilung der Ausnahmegenehmigung für die Mitgliedschaft des Antragsgegners Ziff. 3 im Aufsichtsrat der Badischen Staatsbrauerei Rothaus AG und des Antragsgegners Ziff. 6 im Aufsichtsrat der Einkaufszentrale für Bibliotheken GmbH und im Aufsichtsrat der Filmakademie Baden-Württemberg GmbH (LT-Drs. 12/3644). Die Antragsgegner Ziff. 3 und 6 waren in diese Aufsichtsorgane bereits vor ihrer Berufung in die Landesregierung gewählt worden. Der Antragsgegner Ziff. 3 nahm am 22.12.1998 an einer Sitzung des Aufsichtsrats der Badischen Staatsbrauerei Rothaus AG, der Antragsgegner Ziff. 6 am 25.11.1998 an einer Sitzung des Aufsichtsrats der Einkaufszentrale für Bibliotheken GmbH und am 16.12.1998 an einer Sitzung des Aufsichtsrats der Filmakademie Baden-Württemberg GmbH teil. Der Ständige Ausschuß des Landtags befaßte sich mit den Anträgen am 21.1.1999 (LT-Drs. 12/3659), der Landtag am 28.1.1999 (LT-Prot. 12/4792). Der Landtag erteilte die Ausnahmegenehmigungen. Auf Antrag der Fraktionen der CDU und der FDP/ DVP stellte er fest, daß die Ausnahmegenehmigungen mit Rückwirkung zum 16.11.1998 gelten (LT-Drs. 12/3694); einen gegenläufigen Antrag der Antragstellerin lehnte er ab (LT-Drs. 12/3690). II. 1. Am 19.7.1999 hat die Antragstellerin - die Fraktion der SPD im Landtag beim Staatsgerichtshof beantragt festzustellen, daß die Antragsgegner Ziff. 1 und 3—6 durch die Wahrnehmung von Mandaten in Organen wirtschaftlicher Unternehmen vor dem 28.1.1999 und die Antragsgegnerin Ziff. 2 durch die entsprechenden Beschlüsse zur Übernahme von Mandaten und Billigung dieses Verhaltens die Rechte des Landtags und der Antragstellerin aus Art. 53 Abs. 2 LV verletzt haben und daß der Antragsgegner Ziff. 7 durch seine Beschlüsse vom 28.1.1999 (Ablehnung des Antrags LT-Drs. 12/3690, Annahme des Antrags LT-Drs. 12/3694) das Recht der Antragstellerin aus Art. 53 Abs. 2 LV verletzt hat. Zur Begründung führt sie aus: Als Fraktion des Landtags mache sie das eigene Recht und das Recht des Landtags auf rechtzeitige Entscheidung über die Zulassung von Ausnahmen gem. Art. 53 Abs. 2 LVerfGE 11
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LV geltend. Das sei zulässig, und zwar auch gegenüber dem Landtag selbst. Andernfalls entstehe eine unerträgliche Rechtsschutzlücke. Der Antrag sei auch innerhalb der geltenden Sechsmonatsfrist gestellt; von der Teilnahme der Antragsgegner Ziff. 1 und 3—6 an Sitzungen von Aufsichts- und Leitungsorganen wirtschaftlicher Unternehmungen schon vor der Beschlußfassung des Landtags habe sie nämlich erst in der Sitzung des Ständigen Ausschusses am 21.1.1999 erfahren. Die Anträge seien auch begründet. Die Wahrnehmung von Mandaten in Leitungs- oder Aufsichtsorganen wirtschaftlicher Unternehmen sei Mitgliedern der Landesregierung durch die Verfassung verboten. Dieses Verbot diene der Vermeidung von Interessenkollisionen und solle schon dem „bösen Schein" wehren. Ausnahmen bedürften der Zulassung durch den Landtag. Dies müsse vorher geschehen; eine rückwirkende Zulassung einer Ausnahme komme nicht in Betracht. Anders könne der Landtag sein Kontrollrecht nicht wirksam ausüben. Dürfe die Landesregierung bereits Fakten schaffen und sich lediglich nachträglich genehmigen lassen, so werde der offene Diskurs im Landtag über die Berechtigung einer Ausnahme vom prinzipiellen Verbot beeinträchtigt. Auch sei die Ungewißheit, ob eine Mandatswahrnehmung nachträglich vom Landtag sanktioniert werde oder nicht, verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar. Das ergebe sich sowohl aus dem Gewicht des grundsätzlichen Wahrnehmungsverbots als auch aus dem Gebot der Rechtsklarheit. Schließlich werde eine andere Handhabung auch nicht durch die Bedürfnisse der Praxis erzwungen. Die Landesregierung habe es in der Hand, durch rechtzeitige Antragstellung beim Landtag oder durch eine entsprechende Vertretungsregelung sicherzustellen, daß die Belange des Landes in den wirtschaftlichen Unternehmungen mit Landesbeteiligung jederzeit hinreichend wahrgenommen werden. Im übrigen zeige die Entstehungsgeschichte des Art. 53 Abs. 2 LV, daß der Verfassunggeber eine rückwirkende Ausnahmegenehmigung habe ausschließen wollen. Er habe sich nämlich einen Vorschlag, Ausnahmen durch die Landesregierung zuzulassen und dem Landtag lediglich zur Kenntnis zu bringen, nicht zu eigen gemacht. Eine rückwirkende Ausnahmegenehmigung durch den Landtag käme dem aber gleich. 2. Die Antragsgegner beantragen, die Anträge abzuweisen. Sie halten die Anträge für unzulässig, weil durch die in Rede stehenden Maßnahmen der Antragsgegner weder eigene Rechte der Antragstellerin noch Rechte des Landtags, die diese für ihn wahrnehmen könnte, betroffen seien. Das eigene Recht der Antragstellerin als Fraktion auf gleiche Teilnahme an der parlamentarischen Tätigkeit sei von vornherein nicht berührt. Dasselbe gelte hinsichtlich der Rechte des Landtags, wobei allerdings zu differenzieren sei. Daß Rechte des Landtags durch Maßnahmen des Landtags selbst — des Antragsgegners Ziff. 7 — verletzt werden könnten, sei ausgeschlossen. Rechte des Landtags habe auch die Landesregierung — die Antragsgegnerin Ziff. 2 — nicht verletzen können. Seine Entscheidungsfreiheit sei weder durch den LVerfGE 11
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Beschluß der Landesregierung, die Ausnahmegenehmigung des Landtags einzuholen, noch durch ihren weiteren Beschluß, die Antragsgegner Ziff. 1 und 3 - 6 in Leitungsund Aufsichtsorganen wirtschaftlicher Unternehmen zu entsenden, beeinträchtigt worden. Der Entsendebeschluß sei im übrigen für die Wahrnehmung derartiger Mandate nicht konstitutiv. Es handele sich lediglich um Vorschläge für entsprechende Bestellungen durch die Hauptversammlung bzw. die Gesellschafterversammlung des Unternehmens (§ 101 AktG, § 52 GmbHG). Besonderheiten gälten insofern lediglich hinsichtlich der Gewährträgerversammlung der Landesbank — die indes kein Leitungs- oder Aufsichtsorgan iSv Art. 53 Abs. 2 LV darstelle — sowie hinsichtlich des Verwaltungsrats der Landeskreditbank. Auch durch die „Billigung" der Wahrnehmung von Mandaten in Leitungs- und Aufsichtsorganen wirtschaftlicher Unternehmen würden Rechte des Landtags nicht verletzt, schon weil die Landesregierung nicht verpflichtet sei, ihre Mitglieder an einer derartigen Wahrnehmung vor Erteilung der Zustimmung des Landtags zu hindern. Im übrigen scheide eine Verletzung von Rechten des Landtags auch deshalb aus, weil der Landtag die Ausnahmegenehmigungen rückwirkend erteilt habe. Die Anträge seien aber auch unzulässig, soweit sie sich gegen die Antragsgegner Ziff. 1 und 3—6 richteten. Ein Recht des Landtages, daß Mitglieder der Landesregierung Mandate in Leitungs- oder Aufsichtsorganen wirtschaftlicher Unternehmen erst nach der Beschlußfassung des Landtags über eine Ausnahme nach Art. 53 Abs. 2 S. 3 LV wahrnehmen, bestehe nicht. Sollte ein Mitglied der Landesregierung gegen Art. 53 Abs. 2 LV verstoßen, etwa weil der Landtag eine Ausnahme von diesem Verbot verweigere, so verletze es zwar seine Verfassungspflichten, nicht aber zugleich auch die Rechte des Landtags. Werde die Zustimmung durch den Landtag nachträglich erteilt, so entfalle auch die Verletzung der Verfassungspflicht. Die Anträge seien auch unbegründet. Die Ausnahmegenehmigung nach Art. 53 Abs. 2 S. 3 LV könne rückwirkend erteilt werden. Wordaut und Entstehungsgeschichte der baden-württembergischen Vorschrift wie der Parallelvorschriften in anderen Landesverfassungen und im Grundgesetz seien unergiebig. Die Staatspraxis habe von Anfang an Ausnahmen rückwirkend zugelassen, auch bei Landesregierungen unter Beteiligung der SPD. Das entspreche allein auch Sinn und Zweck der Vorschrift. Das grundsätzliche Verbot für Mitglieder der Landesregierungen, neben ihrem Regierungsamt einem anderen Beruf nachzugehen oder der Leitung oder dem Aufsichtsorgan eines Wirtschaftsunternehmens anzugehören, solle ihre Arbeitskraft ungeschmälert dem Regierungsamt vorbehalten und Interessenkollisionen vermeiden. Diese Belange seien aber von vornherein nicht gefährdet, wenn es — wie im vorliegenden Falle — um die Vertretung des Landes in Wirtschaftsunternehmen mit Landesbeteiligung gehe. Deren Leitungs- und Aufsichtsorganen gehörten Regierungsmitglieder häufig schon kraft Amtes an; die Wahrnehmung dieser Mandate sei keine private Nebentätigkeit, sondern gehöre zu ihren Amtspflichten, weshalb auch Vergütungen abgeliefert werden müßten; und Interessenkollisionen schieden von vornherein aus. Werde das Regelverbot des Art. 53 Abs. 2 LV in diesen Fällen daher relativiert, so müsse die Aus-
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nahmegenehmigung auch rückwirkend erteilt werden können. Andernfalls sei das Land nach einem Ministerwechsel in den Aufsichtsorganen seiner eigenen Unternehmen so lange nicht vertreten, bis der Landtag tätig geworden sei. Hierdurch würden die Interessen des Landes beschädigt. 3. Die Antragstellerin hat erwidert, aus der Entstehungsgeschichte des Art. 53 Abs. 2 LV ergebe sich die Absicht des Verfassunggebers, die Stellung des Landtags gegenüber der Landesregierung auch hinsichtlich wirtschaftlicher Unternehmen mit Landesbeteiligung zu stärken; dem liefe es aber zuwider, wenn die Landesregierung vollendete Tatsachen schaffen könne, ehe der Landtag beschließe. Die Verfassungspraxis belege, daß die SPD-Fraktion von Anfang an darauf bestanden habe, daß Regierungsmitglieder nur Mandate wahrnehmen dürften, die in Sachzusammenhang mit ihrem Ressort stehen, daß die Landesregierung die Zustimmung des Landtags unmittelbar nach dem Zusammentritt eines neuen Landtags und der Bildung einer neuen Regierung einholen müsse und daß diese Zustimmung keine Rückwirkung entfalte und nur für die jeweilige Legislaturperiode gelte. Auch im Verwaltungsrecht sei anerkannt, daß Dispense stets vorher einzuholen seien und konstitutiv wirkten; das müsse erst recht im Verfassungsrecht gelten. Praktische Schwierigkeiten seien nicht erkennbar. Die Zustimmung des Landtags könne rasch eingeholt und erteilt werden; in der Zwischenzeit könne sich das Regierungsmitglied vertreten lassen. Eine Mitgliedschaft in Leitungs- oder Aufsichtsorganen kraft Regierungsamtes gebe es nicht; die Landesregierung habe ihre Mitglieder stets persönlich entsandt. 4. Die Beteiligten haben ihre Standpunkte in der mündlichen Verhandlung näher erläutert. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Beteiligten und die Gerichtsakten verwiesen. Entscheidungsgründe: Die Anträge sind unzulässig. Nach Art. 68 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 LV entscheidet der Staatsgerichtshof über die Auslegung der Landesverfassung aus Anlaß von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Landesorgans oder anderer Beteiligter, die durch die Verfassung oder in der Geschäftsordnung des Landtags oder der Regierung mit eigener Zuständigkeit ausgestattet sind. Einen diesbezüglichen Antrag kann auch eine Fraktion des Landtags stellen, da sie in der Geschäftsordnung des Landtags mit eigenen Zuständigkeiten ausgestattet ist (§ 44 StGHG; vgl. StGH, Urt. v. 14.3.1985 - GR 1/83 - , ESVGH 35,161,162 = VB1BW1985,213; Urt. v. 13.8.1991 - GR 1/91 - , ESVGH 42, 7, 8; Urt. v. 20.11.1996 - GR 2/95 - , ESVGH 47,1). Ein solcher Antrag ist aber nur zulässig, wenn der Antragsteller geltend macht, daß er oder das Organ, dem er angehört, durch eine Handlung oder Unterlassung des Antragsgegners in der Wahrnehmung seiner ihm durch die Verfassung übertragenen Rechte und Pflichten verletzt LVerfGE 11
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oder unmittelbar gefährdet sei (§ 45 Abs. 1 StGHG), und wenn der Antrag binnen sechs Monaten gestellt wird, nachdem die beanstandete Handlung oder Unterlassung dem Antragsteller bekannt geworden ist (§ 45 Abs. 3 StGHG). Diese Voraussetzungen sind bei keinem Antrag voUständig erfüllt. I. Durch das Verhalten der Anttagsgegner Ziff. 1 und 3 bis 6 — des Ministerpräsidenten und vier Ministern — wurde weder die verfassungsrechtliche Rechtsstellung der Antragstellerin noch diejenige des Landtags, dessen Teil die Antragstellerin ist, verletzt oder unmittelbar gefährdet. Als rechtsverletzende oder -gefährdende Handlung dieser Antragsgegner bezeichnet die Antragstellerin die Wahrnehmung von Mandaten in Organen wirtschaftlicher Unternehmen vor der Beschlußfassung des Landtags über die Zulassung einer diesbezüglichen Ausnahme. Dabei gilt es zweierlei zu unterscheiden: Zum einen behauptet die Antragstellerin, die Wahrnehmung von Mandaten sei materiell verfassungswidrig, weil sie Regierungsmitgliedern grundsätzlich verboten sei und der Landtag eine Ausnahme rückwirkend nicht wirksam zulassen könne (1.). Zum anderen meint sie, die Antragsgegner Ziff. 1 und 3—6 hätten das Verfahrenstccht des Landtags und der Oppositionsfraktionen auf „rechtzeitige", das heißt aber vorgängige Befassung mit der Zulassung einer Ausnahme verletzt (2.). Unter beiden Gesichtspunkten kommt eine Verletzung oder Gefährdung der verfassungsrechtlichen Rechtsstellung der Antragstellerin oder des Landtags durch die Antragsgegner Ziff. 1 und 3—6 jedoch selbst dann nicht in Betracht, wenn die von der Antragstellerin für richtig erachtete Auslegung von Art. 53 Abs. 2 LV zugrunde gelegt wird und deshalb die Antragsgegner Ziff. 1 und 3—6 sich verfassungswidrig verhalten hätten. 1. Handeln Regierungsmitglieder den Verboten des Art. 53 Abs. 2 S. 1 und/oder 2 LV zuwider, so verletzen sie zwar ihre verfassungsrechtlichen Amtspflichten; sie verletzen oder gefährden dadurch aber nicht zugleich die verfassungsrechtliche Rechtsstellung des Landtags oder einer Landtagsfraktion. Eine Verletzung oder Gefahrdung der Rechtsstellung einer Landtagsfraktion scheidet aus. Die Rechte, über welche die Antragstellerin als Fraktion verfügt, beziehen sich nur auf ihre Mitwirkung im innerparlamentarischen Raum (StGH, Urt. v. 20.11. 1996, GR 2/95 - , ESVGH 47,1, 3; BVerfGE 1,208, 229). Ihre Funktion besteht darin, den einzelnen Abgeordneten die Ausübung ihrer Rechte zu erleichtern, gleichzeitig diese Rechtsausübung zu kanalisieren und dadurch die Arbeitsfähigkeit des Gesamtparlaments zu verbessern (st. Rspr.; vgl. BVerfGE 80, 188, 231 mwN). Durch das außerparlamentarische Verhalten von Mitgliedern der Landesregierung kann dies nicht berührt werden. Aber auch die Rechtsstellung des Landtags — welche die Antragstellerin als dessen Teil ebenfalls geltend machen kann — ist nicht berührt. Nach Art. 53 Abs. 2 S. 1 LV darf LVerfGE 11
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ein hauptamtliches Mitglied der Regierung kein anderes besoldetes Amt, kein Gewerbe und keinen Beruf ausüben, und nach Art. 53 Abs. 2 S. 2 LV darf kein Mitglied der Regierung der Leitung oder dem Aufsichtsorgan eines auf wirtschaftliche Betätigung gerichteten Unternehmens angehören. Handelt ein Mitglied der Regierung einem dieser Verbote zuwider, so verletzt es seine Amtspflichten als Ministerpräsident oder Minister, was die Frage ihres weiteren Verbleibs im Regierungsamt aufwirft und in bestimmten Fällen auch zu einer Ministeranklage führen mag (Art. 57 Abs. 1 LV). Es verletzt jedoch nicht die Rechtsstellung des Landtags. Dessen Befugnis zur Kontrolle der Regierung wird nicht verkürzt; es ist ihm unbenommen, das Verhalten des betreffenden Regierungsmitglieds öffentlich zu debattieren und die Entlassung des Ministers zu verlangen (Art. 56 LV) oder dem Ministerpräsidenten gem. Art. 54 LV das Vertrauen zu entziehen (ebenso Hartmut Beyer Die Unvereinbarkeit von Amtern innerhalb der Bundesregierung, 1976, S. 306; Oldiges in: Sachs, Grundgesetz, 1996, Art. 66 GG Rn. 20; Hermes in: Dreier, Grundgesetz, Band II, 1998, Art. 66 GG Rn. 16). Zu einer anderen Beurteilung führt auch nicht, daß der Landtag Ausnahmen von den Verboten des Art. 53 Abs. 2 LV zulassen kann (Art. 53 Abs. 2 S. 3 LV). Allerdings ist diese Zuständigkeit ein Recht des Landtags, das im Wege des Organstreitverfahrens verteidigt werden kann. Voraussetzung ist jedoch, daß die Zuständigkeit des Landtags von dem jeweiligen Antragsgegner als solche in Zweifel gezogen wird. Das ist denkbar, wenn etwa die Landesregierung sich der Befugnis berühmen sollte, selbst über Ausnahmen zu befinden (vgl. die Rechtslage in Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Sachsen: Art. 113 Abs. 2 BremVerf, Art. 39 Abs. 2 HbgVerf, Art. 34 Abs. 2 NdsVerf, Art. 62 Abs. 2 SächsVerf), oder wenn das Regierungsmitglied ein positives Votum allein des Ständigen Ausschusses schon als ausreichend erachten sollte (vgl. die Rechtslage in Nordrhein-Westfalen: Art. 64 Abs. 3 NWVerf). Die Zuständigkeit des Landtags wird demgegenüber durch einen Streit über die sachliche — auch die zeitliche — Reichweite des grundsätzlichen Betätigungsverbots oder einer möglichen Ausnahme nicht berührt. 2. Allerdings könnte die Zuständigkeit des Landtags nicht nur dann bezweifelt werden, wenn seine Befugnis zur Zulassung von Ausnahmen überhaupt bestritten wird, sondern auch, wenn die wirksame Wahrnehmung dieser Befugnis erschwert oder gar vereitelt wird. Das ist aber bei einem Zuwiderhandeln gegen eines der Verbote aus Art. 53 Abs. 2 LV nicht automatisch gegeben. Ein solcher Sachverhalt ist vielmehr erst anzunehmen, wenn die Einholung einer Ausnahme aus sachfremden Gründen verzögert oder dem Landtag die zur Sachbehandlung nötigen Informationen vorenthalten werden. Hierfür liefert das Verhalten der Antragsgegner Ziff. 1 und 3—6 keinen Anhaltspunkt. Zum einen oblag ihnen nicht, die Befassung des Landtags mit der Zulassung einer Ausnahme herbeizuführen; das obliegt nach der Staatspraxis der Landesregierung (vgl. unten Π.3.). Zum anderen ist nicht erkennbar, daß durch die Wahrnehmung von Mandaten in Gewährträger-, Leitungs- oder Aufsichtsorganen schon vor der Befassung des Landtags dessen Beratungs- und Entscheidungsfreiheit beeinträchtigt worden wäre. LVerfGE 11
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Das wird von der Antragstellerin zwar behauptet; doch trägt sie nicht vor, inwiefern diese Freiheit nicht nur politisch, sondern in rechtlich erheblicher Weise beeinträchtigt worden sein sollte. Der Landtag war vielmehr frei, auch gerade diesen Umstand zur Sprache zu bringen und zu bewerten, und hat davon auch Gebrauch gemacht. II. Die Anträge sind auch unzulässig, soweit sie sich gegen die Antragsgegnerin Ziff. 2 — die Landesregierung — richten. Die Antragstellerin sieht ihre oder doch die verfassungsrechtliche Rechtsstellung des Landtags durch die Beschlüsse der Landesregierung „zur Übernahme" dieser Mandate durch die Antragsgegner Ziff. 1 und 3 - 6 (unten 1.) sowie weiterhin durch deren „Billigung" des Verhaltens dieser Antragsgegner (unten 2.) verletzt oder unmittelbar gefährdet. Auch wenn sie ihre Anträge nicht ausdrücklich darauf erstreckt, so wird aus ihrem Vortrag doch immerhin deutlich, daß sie sich auch gegen die Beschlüsse der Landesregierung, Ausnahmezulassungen durch den Landtag herbeizuführen, und dabei insbesondere gegen deren Zeitpunkt wendet (unten 3.). 1. a) Die Landesregierung hat am 30.11.1998 beschlossen, die Antragsgegner Ziff. 1 und 3 in die Gewährträgerversammlung der neu gegründeten Landesbank BadenWürttemberg und die Antragsgegner Ziff. 3, 4 und 5 in die Verwaltungsräte der alten Landeskreditbank Baden-Württemberg (L-Bank) und der neuen Landeskreditbank Baden-Württemberg (Förderbank) zu entsenden. Hinsichtlich dieser Beschlüsse ist der Rechtsschutzantrag der Antragstellerin verspätet. Die Landesregierung hat ihre Beschlüsse noch am selben Tage dem Landtag mitgeteilt; spätestens am 3.12.1998 wurde die diesbezügliche Landtagsdrucksache (12/3510) ausgegeben, wodurch die Kenntnis der Antragstellerin begründet wurde. Die sechsmonatige Frist, innerhalb deren der Staatsgerichtshof nur angerufen werden konnte, lief spätestens mit dem 4.6.1999 ab. Der vorliegende Antrag ist beim Staatsgerichtshof aber erst am 19.7.1999 eingegangen. b) Am 18.1.1999 hat die Landesregierung weitere Beschlüsse gefaßt. Die Antragstellerin rügt ersichtlich lediglich die Beschlüsse, welche die Mitgliedschaft des Antragsgegners Ziff. 3 im Aufsichtsrat der Badischen Staatsbrauerei Rothaus AG und des Antragsgegners Ziff. 6 im Aufsichtsrat der Einkaufszentrale für Bibliotheken GmbH und im Aufsichtsrat der Filmakademie Baden-Württemberg GmbH betrafen; denn nur diese drei Aufsichtsratsmandate wurden vor der Ausnahmeerteilung durch den Landtag wahrgenommen. Insofern hat die Landesregierung am 18.1.1999 jedoch keine „Entsendebeschlüsse" gefaßt. Die Antragsgegner Ziff. 3 und 6 haben vielmehr unwidersprochen vorgetragen, schon vor ihrer Berufung in die Landesregierung in diese Aufsichtsorgane gewählt worden zu sein. Anders hätten sie ihre Aufsichtsratsmandate auch nicht schon am 25.11.1998 bzw. am 16.12.1998 wahrnehmen können, wie die Antragstellerin selbst geltend macht. Damit liegt die von der Antragstellerin als verfassungswidrig behauptete Handlung der Antragsgegnerin Ziff. 2 nicht vor.
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2. Soweit die Antragstellerin geltend macht, die Antragsgegnerin Ziff. 2 habe die Wahrnehmung der Mandate durch ihre Mitglieder vor Zustimmung des Landtags „gebilligt", ist damit eine verfassungsrechtlich erhebliche Handlung oder Unterlassung der Landesregierung nicht bezeichnet. Die Antragstellerin macht auch nicht deutlich, worin sich diese „Billigung" manifestiert hätte. Allerdings wird in der Literatur gelegentlich die Ansicht vertreten, die zuständigen Organe treffe eine verfassungsrechtliche Rechtspflicht, ein Mitglied einer Regierung, das seine Amtspflichten aus den Erwerbstätigkeitsverboten beharrlich verletze, zu entlassen (Herzog in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Stand Oktober 1984, Art. 66 G G Rn. 14; Hermes aaO Rn. 16; kritisch Oldiges aaO Rn. 19). Ob dem zu folgen wäre, mag dahinstehen. Keinesfalls könnte die Landesregierung eines ihrer Mitglieder oder den Ministerpräsidenten endassen; die behauptete „Billigung" ließe sich schon deshalb nicht als Weigerung deuten, diesen Weg zu beschreiten. Zudem würde auch hierdurch nicht ein Recht des Landtags oder einer seiner Fraktionen berührt. 3. So bemängelt die Antragstellerin in der näheren Begründung ihres Antrags denn auch in erster Linie, daß die Landesregierung die als erforderlich erachtete Ausnahmezulassung durch den Landtag verspätet eingeholt habe. Auch insofern ist ihr Antrag indes unzulässig. Dabei mag noch davon abgesehen werden, daß dieser Gesichtspunkt im Antrag selbst nicht erwähnt wird und deshalb Zweifel bestehen, ob die Handlung der Landesregierung, in welcher die Rechtsverletzung oder -gefahrdung gesehen wird, genügend bezeichnet wurde (vgl. StGH, Urt. v. 27.2.1981 - GR 1/80 - , ESVGH 31, 81, 83 = VB1BW 1981,136). Die Landesregierung hat am 30.11.1998 und am 18.1.1999 Beschlüsse gefaßt, die Zulassung von Ausnahmen gemäß Art. 53 Abs. 2 S. 3 LV durch den Landtag zu beantragen. Soweit die Beschlüsse vom 30.11.1998 in Rede stehen, ist der Antrag zur Einleitung des vorliegenden Organstreitverfahrens wiederum verspätet (vgl. oben l.a). Hinsichtlich der Beschlüsse vom 18.1.1999 ist eine Verletzung oder Gefährdung von Rechten der Antragstellerin oder des Landtags, dem diese angehört, nicht erkennbar. Wie bereits ausgeführt wurde, kommt eine solche Verletzung oder Gefährdung nur in Betracht, wenn die Landesregierung entweder die Zuständigkeit des Landtags zur Zulassung von Ausnahmen geleugnet oder aber die wirksame Wahrnehmung dieser Zuständigkeit durch den Landtag vereitelt oder doch erschwert hätte (oben 1.2.). In beiden Hinsichten ist nichts vorgetragen oder erkennbar. Indem die Landesregierung die Zulassung von Ausnahmen durch den Landtag beantragt, bestätigt sie gerade dessen Zuständigkeit und bezweifelt sie nicht. Es ist auch nicht ersichtlich, daß die Antragstellung erst am 18.1.1999 die wirksame Wahrnehmung dieser Zuständigkeit durch den Landtag irgendwie erschwert hätte. Bei einer Verzögerung um nur zwei Monate, in denen zudem die Weihnachtspause lag, ist das auch kaum vorstellbar.
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III. Auch der gegen den Landtag — den Antragsgegner Ziff. 7 - gerichtete Antrag ist mangels möglicher Rechtsverletzung der Antragstellerin und des Landtags unzulässig. Insofern bemängelt die Antragstellerin die Beschlüsse des Landtags vom 28.1.1999, durch welche der Antrag der Regierungsfraktionen (LT-Drs. 12/3694) angenommen und der Antrag der Antragstellerin (LT-Drs. 12/3690) abgelehnt wurden. Mit beiden Beschlüssen hat der Landtag die von der Landesregierung beantragten Ausnahmen vom Verbot des Art. 53 Abs. 2 S. 2 LV für die Antragsgegner Ziff. 1 und 3—6 rückwirkend zum 16.11.1998 zugelassen. Zugleich hat er damit die Rechtsmeinung zum Ausdruck gebracht, derartige rückwirkende Ausnahmen seien rechtlich zulässig. Die verfassungsrechtliche Stellung der Antragstellerin als Fraktion wurde hierdurch nicht berührt. Selbst wenn die Rechtsmeinung des Landtags unzutreffend und die beiden angeführten Beschlüsse damit rechtswidrig gewesen sein sollten, wäre doch nicht die Möglichkeit der Antragstellerin zur innerparlamentarischen Mitwirkung verkürzt gewesen. Dadurch, daß der Landtag einen sachlich rechtswidrigen Beschluß faßt, wird das Mitwirkungsrecht seiner Mitglieder und Fraktionen nicht in Frage gestellt. Die Antragstellerin hat von ihrem Mitwirkungsrecht im Gegenteil gerade dadurch Gebrauch gemacht, daß sie den Antrag LT-Drs. 12/3690 gestellt und die Landtagsmehrheit von der Richtigkeit ihrer eigenen Rechtsmeinung zu überzeugen gesucht hat. Aber auch die Rechtsstellung des Landtags selbst ist durch dessen eigene Beschlüsse nicht verkürzt worden. Im übrigen hat der Staatsgerichtshof bereits entschieden, daß eine Fraktion Rechte des Landtags in Prozeßstandschaft nur gegenüber einem anderen Verfassungsorgan iSd § 44 StGHG wahrnehmen kann, insbesondere gegenüber der Regierung. Es ist dagegen nicht zulässig, daß eine Fraktion Rechte des Landtags gegenüber diesem selbst als Antragsgegner geltend macht (StGH, Urt. v. 20.11.1996 aaO, 5 mit eingehender Begründung). Hieran ist festzuhalten. Allein der Umstand, daß dann eine „bedenkliche Rechtsschutzlücke" entstünde, wie die Antragstellerin meint, rechtfertigt keine andere Entscheidung (vgl. StGH ebd.). Die Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs führt allerdings dazu, daß Meinungsunterschiede innerhalb des Landtags über die Reichweite von dessen Befugnissen nicht im Wege des Organstreits vor dem Staatsgerichtshof ausgetragen werden können, wenn nicht gerade die Befugnisse des Landtagsplenums gegenüber der antragstellenden Fraktion (oder dem anderen antragstellenden Mitglied oder Teil des Landtags), sondern gegenüber Dritten in Rede stehen. Das aber gilt allgemein; der Organstreit ist kein Verfahren zur Wahrung des objektiven Rechts oder fremder Rechte (StGH, Urt. v. 10.5.1985 GR 2/84 - mwN, ESVGH 35,241, 242 = VB1BW 1985, 329).
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Das Verfahren ist kostenfrei (§ 55 Abs. 1 StGHG). Anlaß fur die Anordnung, daß Auslagen erstattet werden, besteht nicht (§ 55 Abs. 3 StGHG).
Nr. 4 Im Verfahren über eine kommunalrechtliche Normenkontrolle hängt die verfahrensbeendende Wirkung einer Antragsrücknahme wie im Falle übereinstimmender Erledigungserklärungen davon ab, daß keine Gründe des öffentlichen Interesses die Fortführung des Verfahrens erfordern (im Anschluß an StGH Bad.-Württ., Beschl. v. 17.11.1994 - GR 5/92 - . Gesetz über den kommunalen Finanzausgleich § 35 Verfassung des Landes Baden-Württemberg Art. 71 Abs. 1, 73 Abs. 1 Gesetz über den Staatsgerichtshof §§16 Abs. 1 S. 2, 48, 50, 54, 55 Urteil vom 5. Dezember 2000 - GR 3/99 in dem kommunalrechtlichen Normenkontrollverfahren 1. der Gemeinde Allensbach, vertreten durch den Bürgermeister Helmunt Kenneknecht, Rathaus, 78473 Allensbach 2. der Gemeinde Mühlhausen-Ehingen, vertreten durch den Bürgermeister Hans-Peter Lehmann, Schloßstr. 46, 78258 Mühlhausen-Ehingen 3. der Stadt Singen, vertreten durch den Oberbürgermeister Andreas Renner, Rathaus, 78207 Singen 4. der Gemeinde Volkertshausen, vertreten durch den Bürgermeister Alfred Mutter, Hauptstr. 27, 78269 Volkertshausen Verfahrensbevollmächtigter: Prof. Dr. Max-Emanuel Geis, Mögginger Steig 20, 78315 Radolfzell beteiligt: die Landesregierung Baden-Württemberg, vertreten durch das Finanzministerium Verfahrensbevollmächtigter: Prof. Dr. Thomas Würtenberger, Direktor des Instituts für Öffentliches Recht an der Albert-Ludwig-Universität Freiburg, Platz der Alten Synagoge 1, 79085 Freiburg
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Verfahrensbeendende Wirkung einer Antragsrücknahme
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Entscheidungsformel: I. Das Verfahren wird eingestellt. IL Das Verfahren ist kostenfrei. Auslagen werden nicht erstattet. Gründe: I. Die Antragstellerinnen haben am 26.7.1999 den Staatsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg angerufen mit dem Antrag festzustellen, daß das Gesetz über den kommunalen Finanzausgleich (FAG), insbesondere dessen § 35, insoweit gegen Art. 71 Abs. 1 und Art. 73 Abs. 1 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg (LV) verstößt, als es die antragstellenden Gemeinden nicht hinreichend gegen eine Verletzung der kommunalen Mindestfinanzausstattung schützt. Der Landtag hat zu dem Normenkontrollantrag keine Stellung genommen. Die Landesregierung hat sich geäußert. Sie hält den .Antrag für unzulässig und auch nicht für begründet. Die Antragstellerinnen haben am 9.11.2000 ihren Antrag zurückgenommen, weil ihre inzwischen verbesserte finanzielle Gesamtsituation es ihnen erlaube, mögliche Lösungsansätze auf der politischen Ebene zu suchen. Die Landesregierung tritt dem nicht entgegen. II. Der Staatsgerichtshof konnte mit Zustimmung aller Beteiligter aufgrund einstimmigen Beschlusses ohne mündliche Verhandlung entscheiden ( § 1 6 Abs. 1 S. 2 StGHG). Das kommunalrechtliche Normenkontrollverfahren war einzustellen, weil ein öffentliches Interesse an seiner Fortsetzung nach Rücknahme des Antrags nicht mehr besteht. Das kommunalrechtliche Normenkontrollverfahren enthält Elemente der abstrakten Normenkontrolle sowie des individuellen Rechtsschutzes zugunsten der antragsberechtigten Gemeinden und Gemeindeverbände. Die Zulässigkeit eines Antrages nach Art. 76 LV ist an die Möglichkeit der Verletzung von Rechten der antragstellenden Gemeinde geknüpft. Andererseits ist das Verfahren nach § 54, 48 und 50 StGHG so ausgestaltet, daß es einer abstrakten Normenkontrolle mit primär objektivem Verfahrenszweck ähnlich ist. Unter diesen Umständen führt eine Antragsrücknahme zu einer Einstellung des kommunalrechtlichen Normenkontrollverfahrens, es sei denn, daß ein öffentliches Interesse an der Fortsetzung des Verfahrens gegeben ist. Dies entspricht der Entscheidung des Staatsgerichtshofes vom 17.11.1994 (GR 5/92) LVerfGE 11
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für den Fall übereinstimmender Erledigungserklärungen der Verfahrensbeteiligten und der dort zitierten Praxis anderer Verfassungsgerichte in Deutschland. Auch das Bundesverfassungsgericht macht die verfahrensbeendende Wirkung einer Antragsrücknahme beim abstrakten Normenkontrollverfahren davon abhängig, daß keine Gründe des öffentlichen Interesses die Fortfuhrung des Verfahrens erfordern (BVerfG, st. Rspr. seit E 1, 396,414). Die am Verfahren beteiligten Träger öffentlichen Interesses sehen keinen Grund fur dessen Fortführung. Auch der Staatsgerichtshof erkennt kein unabhängig davon bestehendes öffentliches Interesse daran, die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Regelungssystems des § 35 FAG in diesem Verfahren zu entscheiden. Das Verfahren vor dem Staatsgerichtshof ist kostenfrei (§ 55 Abs. 1 StGHG). Zu einer Entscheidung nach § 55 Abs. 3 StGHG besteht keine Veranlassung.
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Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin
Die amtierenden Richtefinnen und Richter des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin Prof. Dr. Helge Sodan, Präsident Dr. Ulrich Storost, Vi2epräsident Angelika Bellinger Dr. Klaus-Martin Groth Andreas Knuth Dr. Dietrich Mahlo Dr. Renate Möcke Prof. Dr. Albrecht Randelzhofer Martina Zünkler
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Begriff der politischen Partei
Nr. 1 Vereinigungen, die lediglich bestimmte politische Einzelinteressen verfolgen, die nur für oder gegen ein bestimmtes Vorhaben bzw. politische oder gesetzgeberische Maßnahmen eintreten (hier Rechtschreibreform), erfüllen in der Regel nicht den Parteibegriff.* ParteiG § 2 Abs. 1 Satz 1 VerfGHG § 40 Abs. 2 Nr. 1 LWahlG § 10 Abs. 1 Satz 2 Beschluß vom 21. Februar 2000 - VerfGH 122/99 in dem Wahlprüfungsverfahren über den Einspruch der B., vertreten durch den Landesvorstand, dieser vertreten durch den Landesvorsitzenden D., Verfahrensbevollmächtigte: Rechtsanwälte K. — gegen die Gültigkeit der Wahl zum Abgeordnetenhaus von Berlin am 10. Oktober 1999 Weitere Beteiligte: der Landeswahlleiter, vertreten durch die Senatsverwaltung für Inneres, die Senatsverwaltung für Inneres, der Präsident des Abgeordnetenhauses von Berlin, die Fraktionen der im Abgeordnetenhaus von Berlin vertretenen Parteien Entscheidungs formel: Der Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl zum Abgeordnetenhaus von Berlin am 10. Oktober 1999 wird zurückgewiesen. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei. Auslagen werden nicht erstattet. * Nichtamtlicher Leitsatz. LVerfGE 11
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Gründe: I. Die Einsprechende wendet sich gegen die Gültigkeit der Wahl zum Abgeordnetenhaus von Berlin am 10. Oktober 1999. Mit schriftlicher An2eige vom 21. April 1999 hat die Einsprechende dem Landeswahlleiter ihre Absicht mitgeteilt, an der Wahl zum Abgeordnetenhaus am 10. Oktober 1999 als Partei mit einer Landesliste teilzunehmen; mit dieser Anzeige hat sie ihre Satzung und ihr Programm übersandt. Nach weiteren Briefwechseln hat der Landeswahlausschuß in seiner Sitzung vom 5. Juli 1999 beschlossen, die Landesliste der Einsprechenden nicht zur Wahl zum Abgeordnetenhaus am 10. Oktober 1999 zuzulassen; die Einsprechende erfülle nicht die notwendigen Voraussetzungen für die Feststellung der Eigenschaft als politische Partei. Die Einsprechende stützt ihren Einspruch auf § 40 Abs. 2 Nr. 1 VerfGHG und macht geltend, die Entscheidung des Landeswahlausschusses sei rechtswidrig. Entgegen der Annahme des Landeswahlausschusses sei sie eine politische Partei iSd § 2 Abs. 1 ParteiG. Bei ihr handele es sich um eine Vereinigung mit einer in der Satzung festgelegten Organisationsstruktur. Satzung und Programm böten ausreichende Gewähr für die Ernsthaftigkeit ihrer Absicht, an der politischen Willensbildung des Volkes im Abgeordnetenhaus von Berlin mitzuwirken. Der objektiv-erfolgsbezogene Begriff der Ernsthaftigkeit sei bereits erfüllt, wenn die Absicht der parlamentarischen Vertretung nicht völlig aussichtslos und unrealisierbar sei; das sei bei ihr nicht der Fall. Zwar stelle ihr Programm schwerpunktmäßig auf Erhaltung und Pflege der deutschen Sprache ab. Doch mache eben dieses Programm zugleich deutlich, daß ihre Programmatik auch auf eine Anzahl weiterer politischer Probleme gerichtet sei. Insbesondere die angestrebte Stärkung der plebiszitären Elemente der Berliner Verfassung und die Unterstützung von deren Gebrauch sei eine alle Felder der politischen Willensbildung umfassende Zielsetzung. Die Senatsverwaltung für Inneres hat zugleich im Namen des Landeswahlleiters von der den Beteiligten eingeräumten Möglichkeit einer Stellungnahme Gebrauch gemacht. Der Verfassungsgerichtshof hat einstimmig beschlossen, auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu verzichten (vgl. § 24 Abs. 1 VerfGHG). II. Der Einspruch hat keinen Erfolg. Die Annahme des Landeswahlausschusses, die Einsprechende erfülle nicht die Anforderungen, die nach dem Gesetz über die politischen Parteien in der Fassung der Bekanntmachung vom 31. Januar 1994 (BGBl. I, 149) — Parteiengesetz (ParteiG) — an eine politische Partei zu stellen sind, ist nicht zu beanstanden. LVerfGE 11
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Nach § 10 Abs. 1 S. 2 LWahlG kann eine Landesliste im Wahlgebiet nur von Parteien im Sinne des Parteiengesetzes eingereicht werden. Bei Vereinigungen, die sich wie die Einsprechende an der letzten Wahl zum Abgeordnetenhaus oder an der letzten Wahl zum Deutschen Bundestag nicht mit einem eigenen Wahlvorschlag beteiligt haben, entscheidet der Landeswahlausschuß — nach Prüfung der gem. § 10 Abs. 2 S. 1 LWahlG iVm § 27 Abs. 2 LWahlO einzureichenden Unterlagen — über die Feststellung der Parteieigenschaft (§10 Abs. 2 S. 2 LWahlG). Im Rahmen dieses Feststelhingsverfahrens ist die Legaldefinition des § 2 ParteiG maßgebend. Nach § 2 Abs. 1 S. 1 ParteiG sind Parteien Vereinigungen von Bürgern, die dauernd oder für längere Zeit für den Bereich des Bundes oder eines Landes auf die politische Willensbildung Einfluß nehmen und an der Vertretung des Volkes im Deutschen Bundestag oder einem Landtag mitwirken wollen, wenn sie nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse, insbesondere nach Umfang und Festigkeit ihrer Organisation, nach der Zahl ihrer Mitglieder und nach ihrem Hervortreten in der Öffentlichkeit eine ausreichende Gewähr für die Ernsthaftigkeit dieser Zielsetzung bieten. Der Parteibegriff beinhaltet mit dem Willen zur politischen Betätigung im Parlament (auch Landesparlament) sowohl ein subjektives Kriterium als auch, soweit für die Beurteilung der „Ernsthaftigkeit" der Absicht politischer Mitwirkung eine Gesamtbetrachtung unter Würdigung verschiedener Indizien erforderlich ist, objektiv zu bestimmende Merkmale (vgl. ^»«¿Politische Parteien im Grundgesetz, Jura 1991, 247,250; Wietschel Unzulässige Parteiverbotsanträge wegen NichtVorliegens der Parteieigenschaft:, ZRP 1996, 208, 210). Die insoweit wesentlichen rechtlichen Maßstäbe für die Feststellung der Parteieigenschaft sind vom Bundesverfassungsgericht in den Jahren 1993 und 1994 in vier grundlegenden Entscheidungen herausgearbeitet worden (BVerfGE 89, 266 ff; 89, 291 ff; 91, 262 ff; 91,276 fQ. Zu den subjektiven Anforderungen gehört danach, daß mit der Gründung einer politischen Partei eine ständige Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes ernstlich beabsichtigt ist (BVerfGE 91, 262, 270; 91, 276, 287). Auch Parteien, die sich — wie vorliegend die Einsprechende — in der Gründungsphase befinden, müssen ansatzweise, mit wachsendem zeitlichen Abstand zum Gründungsdatum zunehmend in der Lage sein, die ihnen nach dem Parteiengesetz zugedachten Aufgaben wirksam zu erfüllen (BVerfGE 91, 262, 269f). Allein der Wille einer politischen Vereinigung, „Partei" zu sein, ist mithin nicht ausreichend. Ebensowenig genügt für sich genommen die verbale Erklärung einer Vereinigung, ständig an der politischen Willensbildung des Volkes ernsthaft teilnehmen und an der Vertretung des Volkes im Parlament mitwirken zu wollen (BVerfGE 91, 262, 270). Zur Begründung der Parteieigenschaft muß sich die Ernsthaftigkeit dieser Zielsetzung vielmehr durch Tatsachen, insbesondere die in § 2 Abs. 1 S. 1 ParteiG genannten Kriterien, belegen lassen. Die Parteieigenschaft ist daher auch nach äußeren Merkmalen zu beurteilen. Die insoweit in § 2 Abs. 1 S. 1 ParteiG aufgeführten objektiven Merkmale, die Indizien fur die Ernsthaftigkeit der politischen Zielsetzung sind, gewinnen dabei mit fortschreitender Dauer LVerfGE 11
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des Bestehens der politischen Vereinigung zunehmend an Gewicht; in der Phase des Beginns kommt es nach den genannten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts dagegen mehr auf den sich in der Gründung der Partei artikulierenden Willen zur Mitwirkung an der politischen Willensbildung an (BVerfGE 91, 262, 270). Auch hinter diesem Willen müssen aber gewisse Wirklichkeiten stehen, die es erlauben, ihn als Ausdruck eines ernsthaften, in nicht zu geringem Umfang im Volke vorhandenen Willens anzusehen. Entscheidend ist, ob die Gesamtwürdigung der tatsächlichen Verhältnisse einer Partei — unter Einschluß der Dauer ihres Bestehens — den Schluß zuläßt, daß sie ihre erklärte Absicht, an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken, ernsthaft verfolgt (BVerfGE 91,262, 271; 91,276,289). Bei Anlegung dieser Maßstäbe ist dem Landeswahlausschuß in der Ansicht beizupflichten, nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse fehle bei der Einsprechenden die ernsthafte Absicht einer ständigen oder zumindest für längere Zeit vorgesehenen Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes. Nach dem Vorbringen des Landesvorsitzenden der Einsprechenden (Schreiben an den Landeswahlleiter von Ende Juni 1999) war die Einsprechende bis dahin in der Öffentlichkeit als Partei nicht in Erscheinung getreten. Auf eine Mitgliederwerbung ist nach diesem Vorbringen wegen des (damals) laufenden Volksbegehrens zur Rechtschreibreform bewußt verzichtet worden; weitere Aktivitäten zur Darstellung der Partei und Werbung von Wählerstimmen für die im Oktober 1999 durchgeführten Wahlen zum Abgeordnetenhaus von Berlin haben offensichtlich — mit Ausnahme eines von der Partei geschalteten Info-Telefons — nicht stattgefunden. Eine ernsthafte politische Betätigung war mithin im Zeitpunkt der Entscheidung des Landeswahlausschusses nicht erkennbar. Auch das überarbeitete Programm der Einsprechenden vermittelt keinen anderen Eindruck. Es bezieht sich vorrangig auf die Förderung der Bildung und Erziehung auf dem Gebiet der deutschen Sprache sowie auf die parlamentarische Unterstützung eines etwaigen Volksentscheids gegen die Rechtschreibreform und bringt im wesentlichen die gleichen Ziele, wie sie vom Berliner Verein für deutsche Rechtschreibung und Sprachpflege e.V. verfolgt werden, zum Ausdruck. Darüber hinaus enthält das Programm, mit Ausnahme der Angabe, die Einsprechende setze sich ein für den Erhalt der steuerfinanzierten Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst sowie für die Einrichtung und Erweiterung direkter demokratischer Beteiligungsformen, lediglich eine Ankündigung, das Parteiprogramm werde entsprechend der aktuellen berechtigten Interessen der Berliner Bürger und gesamtgesellschaftlichen politischen Notwendigkeiten geändert werden. Bei dieser einseitigen Ausrichtung der Partei auf das Thema „deutsche Rechtschreibung" ist kein ernsthafter Wille erkennbar, nach Einführung der Rechtschreibreform und einem Scheitern des dagegen gerichteten Volksbegehrens noch nennenswert an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken. Zwar ist der Parteibegriff nicht auf den traditionellen Typ der deutschen Partei beschränkt; vielmehr werden auch bloße „Interessenparteien", die bestimmten Bevölkerungsgruppen zur Durchsetzung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Interessen dieLVerfGE 11
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nen, von § 2 Abs. 1 S. 1 PartG erfaßt (vgl. Seifert Die politischen Parteien im Recht der Bundesrepublik Deutschland, 1975, S. 167). Doch setzt die Anerkennung als politische Partei eine im Programm zum Ausdruck kommende politische Zielsetzung voraus, die in Form eines „Aktionsprogramms" den ernsthaften Willen zur politischen Betätigung im Parlament und zur Vertretung des Volkes erkennen läßt; politischen Vereinigungen, die als Partei anerkannt werden wollen, können von den zuständigen Wahlorganen politische Zielvorstellungen abverlangt werden (so ausdrücklich BVerfGE 89, 291, 306). Vereinigungen, die lediglich bestimmte politische Einzelinteressen verfolgen, die nur fur oder gegen ein bestimmtes Vorhaben bzw. politische oder gesetzgeberische Maßnahmen eintreten, erfüllen in der Regel nicht den Parteibegriff (vgl. Henke in: Bonner Kommentar, Art. 21, Rn. 28); ihre Gleichstellung mit politischen Parteien ist angesichts ihrer begrenzten politischen Zielsetzung verfassungsrechtlich nicht geboten (Schreiber Handbuch des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag, Kommentar zum Bundeswahlgesetz, 6. Aufl. 1998, § 19 Rn. 2 mwN). Daß die Einsprechende neben den in ihrem Programm lediglich pauschal angeführten eher allgemeinpolitischen Zielen wie Erhalt der Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst und Einrichtung und Erweiterung von Mitteln der direkten demokratischen Mitbestimmung, die letztlich wieder in einem Sach2usammenhang mit dem Thema „deutsche Rechtschreibung" stehen, den Schwerpunkt ihrer gesamten Arbeit im Bereich der Rechtschreibreform und damit konzentriert auf ein bestimmtes Vorhaben sieht, wird bestätigt durch die Stellungnahme ihres Landesvorsitzenden vor dem Landeswahlausschuß, in der er ausweislich des auch den Beteiligten zur Kenntnis gebrachten Auszuges aus dem Protokoll der Sitzung vom 5. Juli 1999 dieses Thema als das zentrale Thema für die Berliner Landespolitik bezeichnet hat. Eine derartig einseitige Ausrichtung auf ein Schwerpunktthema, das mit der Einführung der Rechtschreibreform alsbald immer mehr an Bedeutung verlieren wird, kann nicht als Ausdruck einer ernsthaften Absicht angesehen werden, dauerhaft oder zumindest auf längere Zeit an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken. Aussagen über politische Themenbereiche, die über die Rechtschreibung und Sprachpflege hinausgehen und den verbalen Anspruch der Einsprechenden zur ständigen Mitwirkung an der politischen Willensbildung stützen, sind jedoch weder aus ihrem Parteiprogramm noch aus der Stellungnahme ihres Landesvorsitzenden vor dem Landeswahlausschuß zu entnehmen. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 33 f VerfGHG. Dieser Beschluß ist unanfechtbar.
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Nr. 2 Das Grundrecht des rechtlichen Gehörs kann es dem Gericht bei angezeigter Verspätung eines Verfahrensbeteiligten gebieten, eine nach Maßgabe der Umstände des Einzelfalles angemessene, auch erheblich über 15 Minuten hinausgehende, Wartezeit einzuhalten. VvB Art. 15 Abs. 1 OWiG § 74 Abs. 2 Beschluß vom 8. März 2000 - VerfGH 121/98 in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde der Frau B. Verfahrensbevollmächtigter: Rechtsanwalt C. gegen 1. den Beschluß des Landgerichts Berlin vom 18. November 1998 - 538 Qs 127/98 - , 2. den Beschluß des Amtsgerichts Tiergarten vom 2. Oktober 1998 - 336 OWi 268/98 Weitere Beteiligte: Der Präsident des Landgerichts Berlin, Tegeler Weg 17—21,10589 Berlin, die Senatsverwaltung für Justiz, Salzburger Straße 21-25,10825 Berlin Entscheidungsformel: Der Beschluß des Amtsgerichts Tiergarten vom 2. Oktober 1998 - 336 OWi 268/98 - sowie der Beschluß des Landgerichts Berlin vom 18. November 1998 - 538 Qs 127/98 — verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 15 Abs. 1 VvB. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht Tiergarten zurückverwiesen. Das Land Berlin hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten. Gründe: I. Gegen die Beschwerdeführerin, von Beruf Grundstücksverwalterin, erging am 20. März 1998 ein Bußgeld des Bezirksamts Treptow von Berlin über 5 000 DM wegen Verstoßes gegen die Bauordnung. Auf ihren Einspruch gegen den Bußgeldbescheid LVerfGE 11
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beraumte das AG Tiergarten Termin zur Hauptverhandlung für den 24. August 1998, 10.00 Uhr, an. Am Terminstag verließ die Beschwerdeführerin zusammen mit ihrem Verteidiger ihre Geschäftsräume gegen 9.05 Uhr, um gemeinsam mit ihm in dessen Kraftfahrzeug zum AG Tiergarten zu fahren. Sie nahmen den Weg über den Stadtring, da im Verkehrsfunk auf dem Adlergestell eine erhebliche Verkehrsstörung gemeldet worden war. Auf dem Stadtring gerieten sie in einen Stau. Nachdem es ihnen gelungen war, die Autobahn zu verlassen, informierte der Verteidiger um 10.08 Uhr die Geschäftsstelle und kündigte eine 20-minütige Verspätung infolge des Staus an. Diese Mitteilung wurde dem Gericht überbracht. Als um 10.20 Uhr weder der Verteidiger noch die Beschwerdeführerin erschienen waren, wurde der Einspruch gem. § 74 Abs. 2 OWiG verworfen. Um 10.22 Uhr trafen die Beschwerdeführerin und ihr Verteidiger im Gerichtssaal ein. Den Antrag der Beschwerdeführerin auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Hauptverhandlung verwarf das AG Tiergarten mit Beschluß vom 2. Oktober 1998 als unbegründet. Es sei allgemein bekannt, daß der 24. August 1998 der erste Schultag nach den großen Ferien gewesen sei, an dem erfahrungsgemäß mit Verkehrsstaus zu rechnen sei. Unter diesen Umständen sei die Fahrzeit von 45 bis 50 Minuten zu knapp bemessen gewesen. Üblicherweise zu erwartende Verkehrsstaus seien zur Entschuldigung nicht geeignet. Die gegen diese Entscheidung erhobene sofortige Beschwerde verwarf das LG durch Beschluß vom 18. November 1998, zugestellt am 30. November 1998. Staus und Verkehrsunfälle, die zu nicht unerheblichen Beeinträchtigungen des Verkehrsflusses fuhren könnten, seien in einer Großstadt wie Berlin inzwischen eher die Regel als die Ausnahme. Hiermit habe die Beschwerdeführerin rechnen und sich entsprechend einrichten müssen. Mit der Verfassungsbeschwerde wird die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gem. Art. 15 Abs. 1 der Verfassung von Berlin gerügt. AG und LG hätten den Wiedereinsetzungsantrag in den vorigen Stand zu Unrecht zurückgewiesen. Die Beschwerdeführerin sei ohne ihr Verschulden an einer rechtzeitigen Terminswahrnehmung gehindert gewesen. Zunächst sei grundsätzlich davon auszugehen, daß von einer Säumnis in der Hauptverhandlung iSd § 74 OWiG erst dann ausgegangen werden könne, wenn eine gewisse Wartezeit, die von der Rechtsprechung mit etwa 15 Minuten angenommen werde, verstrichen sei. Unter Umständen, insbesondere wenn, wie im vorliegenden Fall, das alsbaldige Erscheinen des Betroffenen angekündigt gewesen sei, sei das Gericht verpflichtet, auch über einen etwas längeren Zeitraum hinweg zu warten. Dies gelte insbesondere in Anbetracht der Bedeutung der Angelegenheit. Die Beschwerdeführerin habe ihr verspätetes Erscheinen auch nicht mit zumutbaren Mitteln verhindern können. In der Regel sei eine Fahrzeit von etwa 45 Minuten ausreichend, um rechtzeitig zum AG Tiergarten zu gelangen. Bei einer Abfahrt gegen 9.05 Uhr sei nach der Vorstellung der Beschwerdeführerin und ihres Verteidigers selbst bei einer unvorhergesehenen Verzögerung ein rechtzeitiges Erscheinen vor Gericht
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gewährleistet gewesen. Von einem Erfahrungssatz, wonach am ersten Schultag nach den großen Ferien regelmäßig mit erheblichen Verkehrsstaus zu rechnen sei, sei der Beschwerdeführerin nichts bekannt. Die Beschwerdeführerin habe keine schulpflichtigen Kinder und deshalb auch keine Veranlassung gehabt, besonders auf den Schulbeginn zu achten. Im übrigen hätten die Verkehrsstaus, die das rechtzeitige Erscheinen zur Hauptverhandlung verhindert hätten, nicht auf einem höheren Verkehrsaufkommen, sondern auf Unfällen beruht. Der Verkehrsstau auf der Stadtautobahn sei nach einem bereits dem AG überreichten Zeitungsbericht der Berliner Morgenpost vom 25. August 1998 darauf zurückzuführen gewesen, daß nahe der Ausfahrt „Kaiserdamm" ein Lkw mit Motorschaden liegen geblieben sei. Der Stau auf dem Adlergestell stadteinwärts, der dazu geführt habe, die Stadtautobahn zu benutzen, sei auf einen Olstreifen, welchen ein Tankwagen hinterlassen hatte, zurückzuführen gewesen. Dem Präsidenten des LG und der Senatsverwaltung für Justiz ist Gelegenheit zu Stellungnahme gegeben worden. II. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet. Die mit ihr angegriffenen Entscheidungen des AG Tiergarten und des LG Berlin halten einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand. Sie verletzen das Grundrecht der Beschwerdeführerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Wird der Termin zur Hauptverhandlung in einem auf einen Einspruch gegen einen Bußgeldbescheid folgenden Verfahren versäumt und der Einspruch deshalb verworfen, hängt die Möglichkeit, rechtliches Gehör zum Verfahrensgegenstand zu erlangen, davon ab, daß dem Betroffenen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gem. § 74 Abs. 2 und Abs. 5 OWiG iVm § 235 StPO gewährt wird (vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 26.11.1993, NStZ 84, 320f; ferner BVerfGE 54, 80 ff). Dem Wiedereinsetzungsantrag ist stattzugeben, sofern den Rechtsuchenden an der Versäumung des Hauptverhandlungstermins kein eigenes Verschulden trifft. AG und LG haben in ihren Entscheidungen die Auffassung vertreten, daß die Verspätung verschuldet gewesen sei, da die Beschwerdeführerin und ihr Verteidiger es versäumt hätten, bei ihrer Zeitplanung in Rechnung zu stellen, daß in einer Großstadt wie Berlin auch mit nicht vorhersehbaren Staus und deshalb mit einer längeren Fahrzeit jederzeit zu rechnen sei. Dies gelte insbesondere vor dem Hintergrund, daß am Terminstag (24. August 1998), dem Tag nach dem Ende der Sommerschulferien in Berlin, bekanntermaßen mit einem hohen Verkehrsaufkommen zu rechnen gewesen sei. Die angegriffenen Beschlüsse überspannen die Anforderungen an die Entschuldbarkeit des Betroffenen bzw. seines Verteidigers im Wiedereinsetzungsverfahren. Das Rechtsinstitut der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dient insbesondere in den Fällen des „ersten Zugangs" zum Gericht unmittelbar der Verwirklichung verfassungsrechtlich verbürgter Rechtsschutzgarantien. Deshalb dürfen bei der AnwenLVerfGE 11
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dung und Auslegung der für die Wiedereinsetzung maßgeblichen prozeßrechtlichen Vorschriften die Anforderungen daran nicht überspannt werden, was der Betroffene veranlaßt haben und vorbringen muß, um nach einer Fristversäumung Wiedereinsetzung zu erhalten (ebenso zu Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG, BVerfGE 54, 80 f). Entsprechendes gilt für die Terminsversäumung, wenn sie, wie im vorliegenden Fall dazu führt, daß ein Einspruch gegen einen Bußgeldbescheid gem. § 74 Abs. 2 OWiG verworfen worden ist. Zwar obliegt es grundsätzlich dem Betroffenen sowie dem von ihm gewählten Verteidiger, durch geeignete Vorkehrungen ihre rechtzeitige Anwesenheit in der Hauptverhandlung sicherzustellen. Denn aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt das Interesse der Allgemeinheit an der Durchführbarkeit des Verfahrens und seiner Beschleunigung. Diesem Interesse gegenüber steht jedoch das Interesse des Betroffenen an der Berücksichtigung seiner Belange. Das Gericht muß die unterschiedlichen Interessenlagen zu einem angemessenen Ausgleich bringen unter Berücksichtigung insbesondere der Bedeutung der Angelegenheit für den Betroffenen. So hat die Rechtsprechung mit Rücksicht auf mögliche zeitliche Verschiebungen anderer, vom Verteidiger wahrzunehmender Termine oder auch im Hinblick auf mögliche verkehrsbedingte Unpünktlichkeiten für den Regelfall den Grundsatz aufgestellt, daß das Gericht mit dem Beginn der Hauptverhandlung wenigstens 15 Minuten warten muß, ehe es eine Entscheidung nach § 74 Abs. 2 OWiG ohne Beteiligung des Betroffenen oder seines Verteidigers trifft (s. BayObLG, Beschl. v. 26.7.1984, VRS 67, 438 f mwN, OLG Düsseldorf, Beschl. v. 26.11.1983, NStZ 84, 320f). Darüber hinaus hält die Rechtsprechung ein längeres Zuwarten jedenfalls dann für geboten, wenn der Verteidiger seine Verspätung dem Gericht gegenüber angekündigt, insbesondere mitgeteilt hatte, daß er wegen eines Verkehrsstaus nicht pünktlich erscheinen könne (vgl. OLG Köln, VRS 42, 184f; BayObLG, VRS 47,303; 60,304; 67,438 f; StV 85,6 f; 89,94f; NJW 95,3134; OLG Stuttgart, MDR 85, 871 f; OLG Düsseldorf, StV 95,454f; OLG Hamm, NZV 97,408 f; ebenso zu den Anforderungen an den Erlaß eines Versäumnisurteils wegen Nichterscheinens vor Gericht: OLG Dresden, Beschl. v. 11.1.1995, NJW-RR 96, 246 und BGH, Urt. v. 19.11.1998, NJW 1999, 724f). Maßgeblich sind die Umstände des Einzelfalls, wobei die Bedeutung der Sache, die Lage des Verfahrens bei Eintritt des Verhinderungsfalles, der Anlaß für die Terminsversäumnis, die Voraussehbarkeit und die voraussichtliche Dauer der Verhinderung berücksichtigt und abgewogen werden müssen. Diesen von der Rechtsprechung zur Wahrung des Grundrechts auf rechtliches Gehör und des Rechtsstaatsgebots entwickelten Maßstäben genügen die angegriffenen Entscheidungen nicht. Das AG hatte im vorliegenden Fall innerhalb der gerichtsüblichen Wartezeit Kenntnis darüber erhalten, daß sich die Betroffene und ihr Verteidiger wegen eines Verkehrsunfalls verspäteten und daß mit ihrem alsbaldigen Erscheinen zu rechnen war. Tatsächlich sind diese dann auch innerhalb der von ihnen angekündigten Frist im Gerichtssaal erschienen. LVerfGE 11
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Es spricht bereits vieles dafür, daß unter den gegebenen Umständen bereits die prozessuale Fürsorgepflicht geboten hätte, auch nach Ablauf der üblichen Wartezeit von 15 Minuten bis zum Eintreffen der Betroffenen und ihres Verteidigers zuzuwarten. Dabei war insbesondere das Interesse der Betroffenen an einer Sachentscheidung, das sich aus der Höhe der festgesetzten Geldbuße von 5 000 DM ergab, zu beachten. Daß das Gericht wegen weiterer Termine unter Zeitdruck stand und deshalb ein weiteres Zuwarten nicht in Betracht kam, läßt sich den angegriffenen Entscheidungen nicht entnehmen. Zumindest hätten die Gerichte die gebotene Interessenabwägung unter Berücksichtigung des Vorbringens im Wiedereinsetzungsverfahren vornehmen müssen. Die Verwerfung des Wiedereinsetzungsantrags mit der Begründung, die Versäumung des Termins sei durch das Verhalten der Beschwerdeführerin verschuldet, überspannt unter den gegebenen Umständen die Anforderungen daran, was die Beschwerdeführerin und ihr Verteidiger hätten unternehmen müssen, um die Terminsversäumung zu vermeiden. Die Beschwerdeführerin hat ihr Wiedereinsetzungsgesuch damit begründet, daß die Wegezeit üblicherweise 45 Minuten beträgt und der Antritt der Fahrt bereits 55 Minuten vor Beginn des angesetzten Termins unter normalen Umständen hätte ausreichen müssen. Von dem Ende der Schulferien und einem damit verbundenen verstärkten Verkehrsaufkommen am Tag der Hauptverhandlung habe sie keine Kenntnis gehabt. Im übrigen seien die Staus auf dem Adlergestell und auf der Stadtautobahn nachweislich nicht auf ein verstärktes Verkehrsaufkommen, sondern auf unvorhersehbare Verkehrsunfalle zurückzuführen gewesen. AG und LG haben dem Vortrag der Beschwerdeführerin zur Wegezeit unter normalen Verkehrsverhältnissen und zur Unvorhersehbarkeit der Verkehrsunfälle auf dem Adlergestell und dem Stadtring nicht widersprochen. Sie haben statt dessen allein darauf abgestellt, daß in einer Großstadt wie Berlin Staus jederzeit mit eingerechnet werden müßten, dies insbesondere vor dem Hintergrund des allgemein bekannten hohen Verkehrsaufkommens nach Beendigung der Sommerschulferien. Auf unvorhersehbare Verkehrsunfälle und damit verbundene Staus mußten sich die Beschwerdeführerin und ihr Verteidiger aber nicht einstellen (vgl. BGH, NJW 1989, 2393 f; OLG Dresden, NJW-RR 1996, 246; BGH, NJW 1999, 724f). Ohne die tatsächlich eingetretene Behinderung hätten die Betroffene und ihr Verteidiger den Termin nach ihrem unwidersprochen gebliebenen Vortrag rechtzeitig wahrnehmen können. Die Beschwerdeführerin hat angegeben, daß eine Reservezeit von 10 Minuten eingeplant worden sei und daß die Reservezeit unter Berücksichtigung der gerichtsüblichen Wartezeit sogar 25 Minuten betragen habe. Angesichts dieses Vortrage ist nicht nachvollziehbar, welche darüber hinausgehende Reservezeit nach Auffassung der Gerichte hätte eingeplant werden müssen. Die Forderung, die Beschwerdeführerin habe sich darauf einstellen müssen, daß am Tag nach den Sommerferien erfahrungsgemäß mit einem hohen Verkehrsaufkommen zu rechnen gewesen sei, überspannt LVerfGE 11
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ebenfalls die Verhaltensanforderungen gegenüber der Beschwerdeführerin. Diese hat ihre sofortige Beschwerde gegen den die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verwerfenden Beschluß des Amtsgerichts u.a. damit begründet, daß sie keine schulpflichtigen Kinder habe und deshalb keine Veranlassung hatte, besonders auf den Schulbeginn zu achten. Das Landgericht hat diesem Vortrag keine Bedeutung beigemessen, sondern die Auffassung vertreten, daß verkehrsunfallbedingte Staus in einer Großstadt wie Berlin inzwischen eher die Regel als die Ausnahme seien. Auch diese Begründung läßt nicht erkennen, welche Zeitplanung dem Rechtsuchenden und seinem Verteidiger unter diesen Umständen zumutbar sein soll. Schließlich übergehen die angegriffenen Entscheidungen den innerhalb der gerichtsüblichen Wartefrist erfolgten Anruf mit der Erklärung der Verspätung und der Ankündigung, daß innerhalb von 20 Minuten mit dem Erscheinen zu rechnen sei. Mit dem Anruf hatte der Verteidiger die ihm bzw. der Betroffenen zumutbare Vorkehrung getroffen, um das Gericht von der — behobenen — Behinderung und dem unverzüglichen Erscheinen zu benachrichtigen. Den angegriffenen Entscheidungen läßt sich nicht entnehmen, warum sich das Amtsgericht unter Berücksichtigung der konkreten Umstände daran gehindert sah, 20 Minuten ab Anruf des Verteidigers abzuwarten. Ein die Verwerfung des Wiedereinsetzungsantrags rechtfertigendes Verschulden der Beschwerdeführerin legen die angegriffenen Entscheidungen unter den gegebenen Umständen nicht nachvollziehbar dar. Deshalb verletzt die Verwerfung des Wiedereinsetzungsantrags die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 15 Abs. 1 VvB. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG. Dieser Beschluß ist unanfechtbar.
Nr. 3 Bei der Ausgestaltung des Abstimmungsverfahrens über ein Volksbegehren ist die Entscheidung der Verfassung für eine Volksgesetzgebung zu berücksichtigen. Dies schließt unbillige Erschwerungen der Eintragungsmöglichkeiten durch die zuständigen Behörden aus, bedeutet aber nicht, daß für das Abstimnuingsverfahren dieselben verfassungsrechtlichen Vorgaben gelten wie bei Wahlen. Die Frage, ob die Auslegungszeiten und Auslegungsstellen für die Eintragung im Rahmen eines Volksbegehrens ausreichend waren, unterliegt nur eingeschränkt gerichtlicher Kontrolle.* * Nichtamtlicher Leitsatz.
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Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin VvB Art. 2 S. 1, Art. 62, 63 VerfGHG §§ 14 Nr. 7, 55 Abs. 1 VlnGBln §§ 21,41 Beschluß vom 18. Mai 2000 - VerfGH 78/99 -
in dem Verfahren über den Einspruch 1. des Herrn S., 2. des Herrn Dr. B., 3. des Herrn F., 4. des Herrn H., 5. des Herrn Prof. Dr. R., als Vertrauenspersonen des Volksbegehrens „Schluß mit der Rechtschreibreform !", - Beschwerdeführer — Verfahrensbevollmächtigte: Rechtsanwälte W u. S., gegen die Entscheidung des Landesabstimmungsleiters vom 28. Juli 1999 über das Ergebnis des Volksbegehrens „Schluß mit der Rechtschreibreform!" weitere Beteiligte: 1. Der Landesabstimmungsleiter des Landes Berlin, Alt-Friedrichsfelde 60,10315 Berlin, vertreten durch die Senatsverwaltung für Inneres, 2. die Senatsverwaltung für Inneres, Klosterstraße 47,10179 Berlin, 3. die Senatsverwaltung für Justiz, Salzburger Straße 21—25,10825 Berlin, 4. die Bezirksabstimmungsleiter der 23 Berliner Bezirke Entscheidungsformel: Der Einspruch wird zurückgewiesen. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei. Auslagen werden nicht erstattet. Gründe: I. Die Beschwerdeführer sind vom Träger des Volksbegehrens „Schluß mit der Rechtschreibreform!" als Vertrauenspersonen zu Vertretern dieses Volksbegehrens bestimmt worden, das in der Zeit vom 10. Mai bis zum 9. Juli 1999 in Berlin stattfand. LVerfGE 11
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Nachdem der Senat von Berlin die Zulässigkeit des Antrags auf Zulassung des Volksbegehrens festgestellt hatte, machte die Senatsverwaltung für Inneres im Amtsblatt von Berlin vom 13. April 1999 (S. 1527 ff) sowohl den Wordaut des Volksbegehrens als auch die Eintragungsfrist, die Auslegungszeiten und die Auslegungsstellen bekannt. Als Auslegungszeiten wurden bestimmt: Montag, Mittwoch und Freitag von 10 bis 16 Uhr, Dienstag von 10 bis 18 Uhr und Donnerstag von 10 bis 19 Uhr mit Ausnahme der gesetzlichen Feiertage am Donnerstag, dem 13. Mai 1999 (Christi Himmelfahrt), und am Montag, dem 24. Mai 1999 (Pfingstmontag), sowie die Sonnabende und Sonntage 29. und 30. Mai, 19. und 20. Juni, 26. und 27. Juni und 3. und 4. Juli 1999 jeweils von 10 bis 16 Uhr. Als Auslegungsstellen wurden insgesamt 91 öffentliche Einrichtungen benannt, die über alle Bezirke verteilt waren. Von den Beschwerdeführern noch vor Beginn der Eintragungsfrist vorgetragene Beanstandungen, die sich auf die Begrenzung der Auslegungszeiten und der Auslegungsstellen sowie die fehlende Versendung von Benachrichtigungskarten an die Stimmberechtigten bezogen, wies die Senatsverwaltung für Inneres zurück. Am 28. Juli 1999 stellte der Landesabstimmungsleiter unter Bekanntgabe des Gesamtergebnisses fest, daß das Volksbegehren nicht zustande gekommen sei, da die nach der Verfassung von Berlin erforderliche Zustimmung eines Zehntels der Stimmberechtigten nicht erreicht worden sei. Nach dieser im Amtsblatt von Berlin vom ó.August 1999 (S. 3031) bekanntgemachten Feststellung waren für das Volksbegehren 106080 gültige Eintragungen erfolgt, was bei 2415364 Stimmberechtigten am letzten Tag der Eintragungsfrist einer Quote von 4,4 % entsprach. Der Landesabstimmungsleiter stellte zugleich fest, daß die für das Volksbegehren geltenden Vorschriften beachtet worden seien. Mit dem am 6. September 1999 eingegangenen Einspruch greifen die Beschwerdeführer ihre bereits im Vorfeld des Volksbegehrens vorgetragenen Beanstandungen auf. Zur Begründung des Einspruchs tragen sie im wesentlichen vor: Die Festlegung von nur 91 Auslegungsstellen, die — bezogen auf die Gesamtzahl der Stimmberechtigten — einem Verhältnis von 26543 Stimmberechtigten je Auslegungsstelle entspreche, sei zu gering und werde weder den gesetzlichen Vorgaben noch der verfassungsrechtlichen Bedeutung des Volksgesetzgebungsverfahrens gerecht. Das Gesetz über Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid vom 19. Juni 1997 (GVB1. S. 304) - VInG - sehe hinsichtlich der Bestimmung der Auslegungsstellen und -Zeiten ausdrücklich vor, daß jeder Stimmberechtigte ausreichend Gelegenheit haben müsse, sich an dem Volksbegehren zu beteiligen; die Auslegung dieser Vorschrift müsse sich an den verfassungsrechtlichen Vorgaben orientieren. Danach sei das Volksbegehren ein dem parlamentarischen Verfahren gleichwertiges LVerfGE 11
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Verfahren der Gesetzgebung; ihm und der Möglichkeit der Beteiligung daran komme allerhöchste Priorität zu, wie sie auch Bundestags- oder Landtagswahlen genössen. Da das VInG, soweit es keine abschließenden Regelungen enthalte, ausdrücklich auf die Bestimmungen des Landeswahlrechts verweise, seien die Vorschriften der Landeswahlordnung über die Einteilung in Stimmbezirke auf das Eintragungsverfahren entsprechend anzuwenden. Auch wenn man die Zahl von ca. 2 800 Wahllokalen bei Bundestags- oder Abgeordnetenhauswahlen angesichts der Dauer der Eintragungsfrist für ein Volksbegehren als zu hoch ansehe, wären zumindest 300 Auslegungsstellen (entsprechend einem Verhältnis von 8 100 Stimmberechtigten je Auslegungsstelle) erforderlich gewesen. Die dagegen angeführten finanziellen Erwägungen seien nicht geeignet, eine Einschränkung des verfassungsrechtlich garantierten Rechts auf Teilnahme an der Volksgesetzgebung zu rechtfertigen. Wenn — wie vorliegend — eintragungsbereite Personen wegen der Anzahl und Lage der Auslegungsstellen im Einzelfall (ζ. B. in Reinickendorf und Köpenick) bis zu 10 km zur nächstgelegenen Auslegungsstelle hätten zurücklegen müssen und Auslegungsstellen teilweise kaum zu finden gewesen seien, habe keine ausreichende Gelegenheit zur Teilnahme am Volksbegehren bestanden. Die vorhandenen Auslegungsstellen seien zudem nicht gleichmäßig — entsprechend der Größe und Einwohnerzahl - auf die Bezirke verteilt gewesen. So sei in Charlottenburg eine Auslegungsstelle auf ca. 41 000 stimmberechtigte Einwohner entfallen, in Mitte dagegen auf nur 18 500. Gerade die bevölkerungsreichen und großen Bezirke seien mit unterdurchschnittlich wenig Auslegungsstellen ausgestattet gewesen. Dies habe sich auch im Ergebnis des Volksbegehrens niedergeschlagen, da in diesen Bezirken wie Spandau, Neukölln und Reinickendorf unterdurchschnittlich wenig Eintragungen erfolgt seien. Mit der Einrichtung von nur drei Auslegungsstellen in Charlottenburg und Mitte sowie zwei Stellen in Tiergarten, die mit Ausnahme der Rathäuser gerade nicht zentral gelegen seien, sei darüber hinaus auch der immer wieder betonte Vorteil, nicht nur am Wohnort, sondern „beispielsweise beim Einkauf in der City" abstimmen zu können, konterkariert worden. Die Dauer der Auslegungszeit sei nicht geeignet, die geringe Zahl der Auslegungsstellen zu kompensieren; sie sei von der Verfassung selbst vorgegeben und beruhe auf der im Vergleich zu Wahlen geringeren Motivation der Bevölkerung zur Teilnahme. Außerdem hätten die für die Bestimmung der Auslegungsstellen zuständigen Bezirksabstimmungsleiter hinsichtlich der Zahl der Auslegungsstellen keine eigene Ermessensentscheidung getroffen, sondern Vorgaben der Senatsverwaltung für Inneres übernommen. Die vom Landesabstimmungsleiter bestimmten Tage und Zeiten, an denen die Eintragungen vorgenommen werden konnten, seien ebenfalls nicht ausreichend gewesen. Die Zeiten seien so festgelegt worden, daß sie zu 75% in die Arbeitszeit fielen. Sie hätten zwar den gesetzlichen Mindestvorgaben entsprochen, jedoch den Berufstätigen eine Teilnahme am Volksbegehren sehr erschwert. Angesichts der üblichen Arbeitszeiten wäre es erforderlich gewesen, die Auslegungszeiten montags, mittwochs und freitags bis mindestens 17 Uhr, dienstags und donnerstags bis mindestens 20 Uhr, LVerfGE 11
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samstags bis mindestens 16 Uhr und sonntags bis mindestens 18 Uhr auszudehnen. Die Eintragungsfrist sei zudem durch die Herausnahme der beiden gesetzlichen Feiertage unnötig eingeschränkt worden. Als Ersatz hätte das Wochenende am 12. und 13. Juni 1999 zusätzlich zur Auslegung bestimmt werden können. Insbesondere der 13. Juni 1999 hätte wegen der an diesem Tag durchgeführten Wahl zum Europäischen Parlament mit den dabei zur Verfugung stehenden Wahllokalen ohne zusätzlichen organisatorischen und personellen Aufwand auch für die Eintragung zum Volksbegehren genutzt werden können. Das Verbot von Unterschriftensammlungen im Zusammenhang mit Wahlen stehe dem nicht entgegen, da das Volksbegehren keine Unterschriftensammlung im Sinne des Bundeswahlgesetzes sei. Die erstmalige Wochenendöffnung der Auslegungsstellen drei Wochen nach Beginn des Volksbegehrens werde den gesetzlichen Vorgaben ebenfalls nicht gerecht. Statt dieses schon in der Urlaubszeit liegenden Wochenendes hätte ohne Schwierigkeiten das erste Wochenende nach Beginn des Volksbegehrens bestimmt werden können. Nicht ausreichend sei auch die Form der Bekanntmachung allein im Amtsblatt von Berlin. Sie entspreche zwar § 18 VInG; ergänzend sei jedoch die Bestimmung der Landeswahlordnung über die Benachrichtigung der Wahlberechtigten heranzuziehen. Danach hätte jedem Stimmberechtigten eine schriftliche Benachrichtigung über die Eintragungsfrist und die Anschrift der nächstgelegenen Auslegungsstelle übersandt werden müssen. Dabei hätte auch auf die Möglichkeit der Abstimmung mittels Eintragungsscheins — entsprechend der Briefwahl — hingewiesen werden können; diese Möglichkeit sei nicht einmal in der amtlichen Bekanntmachung erwähnt worden. Darüber hinaus wäre es erforderlich gewesen, spätestens eine Woche vor Beginn des Volksbegehrens durch Plakatanschlag auf die Eintragungsfrist sowie die Auslegungsstellen und -Zeiten hinzuweisen und die Auslegungsstellen innerhalb wie außerhalb der Gebäude für die Stimmberechtigten kenntlich zu machen. Bis auf vereinzelte Ausnahmen sei keine Kennzeichnung von außen erfolgt; dadurch sei das Auffinden der ohnehin teilweise schlecht zugänglichen Auslegungsstellen zusätzlich erschwert worden. Uber diese allgemeinen Verfahrensfehler hinaus sei das Eintragungsverfahren nicht überall entsprechend der amtlichen Bekanntmachung durchgeführt worden. So seien in Spandau und Steglitz Auslegungsstellen ohne entsprechenden Hinweis ausgewechselt worden; die Öffnungszeiten seien teilweise nicht eingehalten worden, so daß eintragungsbereite Personen ihre Unterschrift nicht hätten abgeben können. In einzelnen Fällen, u. a. in Zehlendorf, seien die zur Eintragung vorgesehenen Unterschriftsbögen nicht in ausreichender Zahl vorhanden gewesen. Den Insassen der Berliner Justizvollzugsanstalten habe nur eine verkürzte Eintragungsfrist von etwa einem Monat zur Verfügung gestanden. Die Beschwerdeführer beantragen, 1. die im Amtsblatt für Berlin vom 6. August 1999 veröffentlichte Entscheidung des Landesabstimmungsleiters, LVerfGE 11
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Von der den Beteiligten eingeräumten Gelegenheit zur Stellungnahme haben die Senatsverwaltung für Inneres, zugleich im Namen des Landesabstimmungsleiters, die Senatsverwaltung für Justi2 und die Bezirksabstimmungsleiter aller Bezirke mit Ausnahme von Kreuzberg und Tempelhof Gebrauch gemacht. Der Landesabstimmungsleiter und die Senatsverwaltung für Inneres beantragen, den Einspruch zurückzuweisen. Sie sind der Ansicht, die zuständigen Bezirksabstimmungsleiter hätten von ihrem Entscheidungsspielraum in rechtlich einwandfreier Weise Gebrauch gemacht. Auch im übrigen seien die gesetzlichen Regelungen beachtet worden. Innerhalb der ausdrücklich geregelten Mindestvorgaben liege die Bestimmung der Auslegungszeiten im Ermessen des Landesabstimmungsleiters, das gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar sei. Ein Ermessensfehler sei insoweit nicht zu erkennen. Auch Berufstätigen sei ausreichend Gelegenheit gegeben worden, am Volksbegehren teilzunehmen. Dies gelte um so mehr, als jeder Stimmberechtigte jede Auslegungsstelle zur Eintragung habe nutzen können. Sachgerecht sei es auch gewesen, die beiden gesetzlichen Feiertage auszusparen, da diese erfahrungsgemäß von vielen Berlinern für einen Kurzurlaub genutzt würden. Eine Pflicht zur Öffnung an allen Wochenenden und Feiertagen bestehe nach dem Gesetz nicht. Auf eine Verbindung des Volksbegehrens mit der Wahl zum Europäischen Parlament sei bewußt verzichtet worden, da das Europawahlgesetz in Verbindung mit dem Bundeswahlgesetz jede Unterschriftensammlung in unmittelbarem Zusammenhang mit der Wahlhandlung verbiete. Die amtliche Bekanntmachung des Volksbegehrens habe den gesetzlichen Vorschriften entsprochen und sei ausreichend gewesen. Eine schriftliche Benachrichtigung der Stimmberechtigten sei nach der Abstimmungsordnung ausdrücklich nur beim Volksentscheid, nicht aber beim Volksbegehren vorgesehen. Für eine entsprechende Anwendung der Regelungen des Landeswahlrechts über die Benachrichtigung der Wahlberechtigten sei daher kein Raum. Anders als bei Wahl und Volksentscheid handele es sich bei einem Volksbegehren um eine in der Form der Unterschrift an amtlicher Stelle zum Ausdruck gebrachte Unterstützung eines Anliegens, bei dem die Information der Stimmberechtigten in erster Linie Aufgabe des Trägers des Volksbegehrens sei. Die Behörden seien insoweit zur Neutralität verpflichtet. Hinweise auf die Möglichkeit der Eintragung mittels Eintragungsscheins seien gesetzlich ebensowenig vorgesehen wie eine Plakatierung eine Woche vor Beginn des Volksbegehrens. Die Senatsverwaltung für Justiz hat mitgeteilt, die Justizvollzugsanstalten des Landes hätten nach Erhalt der erforderlichen Unterlagen Anfang Juni mit Aushängen und Bekanntmachungen auf das Volksbegehren hingewiesen. Lediglich den Anstalten Moabit und Plötzensee sei dies erst am 15. Juni möglich gewesen, da dort zunächst nicht genügend Plakate zur Verfügung standen. Danach hätten alle Insassen jederzeit LVerfGE 11
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die Möglichkeit gehabt, die entsprechenden Formblätter zur Übersendung des Eintragungsscheins zu erhalten. Den durch die Medien informierten Gefangenen sei dies auch schon zuvor durch schriftlichen Antrag an das Bezirksamt möglich gewesen. Auf die Aushänge und Bekanntmachungen habe es jedoch nur wenig Resonanz gegeben. Die Bezirkswahlleiter haben in ihren Stellungnahmen im einzelnen erläutert, welche Überlegungen für die Bestimmung der Auslegungsstellen jeweils maßgeblich waren. Der Verfassungsgerichtshof hat gem. § 24 Abs. 1 VerfGHG einstimmig auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet. II. Der Einspruch ist gem. § 41 Abs. 1 und 2 VInG iVm §§ 14 Nr. 7, 55 Abs. 1 VerfGHG zulässig. Der Antrag zu 2, die Wiederholung des Volksbegehrens anzuordnen, ist im Rahmen des vorliegenden Verfahrens allerdings nicht statthaft. Denn nach § 55 Abs. 2 VerfGHG kann der Verfassungsgerichtshof im Einspruchsverfahren lediglich auf Zurückweisung des Einspruchs oder auf Aufhebung der angegriffenen Entscheidung erkennen. Der Einspruch ist jedoch unbegründet. Die von den Beschwerdeführern erhobenen Beanstandungen rechtfertigen die Aufhebung der angegriffenen Entscheidung nicht. Bei dem Einspruchsverfahren nach § 41 VInG handelt es sich, wie der Verfassungsgerichtshof bereits in seinem Beschluß vom 2.6.1999 - VerfGH 31A/99, 31/99 (DVB1. 1999, 979, 980) festgestellt hat, um ein Verfahren der objektiven Rechtskontrolle, das dem Wahlprüfungsverfahren ähnlich ist. Gegenstand der rechtlichen Beurteilung im Einspruchsverfahren ist ebenso wie im Wahlprüfungsverfahren nicht die Verletzung subjektiver Rechte, sondern die objektive Gültigkeit des festgestellten Abstimmungsergebnisses unter Berücksichtigung der Einhaltung der für das Volksbegehren geltenden Vorschriften. Vorrangiger Prüfungsmaßstab ist mithin, ob die für die Durchführung des Volksbegehrens geltenden Verfahrensvorschriften beachtet worden sind, wobei diese Inzident, soweit dazu Veranlassung besteht, auch auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung von Berlin zu überprüfen sind. Dabei kann der Einspruch nur dann Erfolg haben, wenn sich etwaige Verfahrensverstöße auf das festgestellte Abstimmungsergebnis ausgewirkt haben können. Der für das Wahlprüfungsverfahren geltende Maßstab, daß dafür eine nur theoretische Möglichkeit nicht ausreicht, diese vielmehr nach der allgemeinen Lebenserfahrung konkret und nicht ganz fernliegend sein muß (vgl. BVerfGE 89, 243, 254), gilt hier ebenfalls. Nach Art. 2 S. 1 VvB ist Träger der öffentlichen Gewalt die Gesamtheit der Deutschen, die in Berlin ihren Wohnsitz haben. Sie üben nach der Verfassung ihren Willen unmittelbar durch Wahl zu der Volksvertretung und durch Abstimmung, mittelbar durch die Volksvertretung aus (Art. 2 S. 2 VvB). Im Wege der Willensbildung unmittelLVerfGE 11
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bar durch das Volk können nach Art. 59 Abs. 2 VvB Gesetzesvorlagen nicht nur aus der Mitte des Abgeordnetenhauses oder durch den Senat, sondern auch im Wege des Volksbegehrens eingebracht werden. In Art. 62 und 63 VvB sind die Voraussetzungen und Grenzen einer derartigen unmittelbaren Gesetzesinitiative, die in der Regel mit einem Volksentscheid abgeschlossen wird, geregelt; das Nähere ist der einfachgesetzlichen Ausgestaltung überlassen (vgl. Art. 63 Abs. 5 VvB). Diese Entscheidung der Verfassung für eine Volksgesetzgebung neben den Gesetzgebungsakten des Parlaments (Art. 60 Abs. 1 VvB) ist bei der Ausgestaltung des Abstimmungsverfahrens zu berücksichtigen; die Auslegung und Anwendung der insoweit einfachgesetzlich erlassenen Vorschriften muß der Bedeutung der verfassungsrechtlich eingeräumten politischen Handlungsmöglichkeiten der stimmberechtigten Staatsbürger gerecht werden. Die Durchführung des Volksbegehrens wie eines anschließenden Volksentscheids liegt grundsätzlich in der Hand des Staates. Dieser muß einem - zulässigen (vgl. Art. 62 Abs. 1 und 5 VvB) — Volksbegehren seinen Verwaltungsapparat zur Durchführung des Abstimmungsverfahrens zur Verfügung stellen. Unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben und Anforderungen muß dabei sichergestellt sein, daß das Verfassungsinstitut der Volksgesetzgebung auch praktisch erfolgreich Anwendung finden kann; dies schließt unbillige Erschwerungen der Eintragungsmöglichkeiten durch die zuständigen Behörden von Rechts wegen aus (vgl. HessStGH, Urt. v. 3.6.1968 - P.St.486 - ESVGH 19, 1, 4; VerfGH NordrheinWestfalen, Urt. v. 26.4.1975 - VerfGH 8/74 - OVGE 30, 288,292). Aus der verfassungsrechtlichen Verankerung des Volksgesetzgebungsverfahrens läßt sich jedoch — entgegen der Ansicht der Beschwerdeführer — nicht schließen, daß dem Abstimmungsverfahren damit „allerhöchste Priorität", vergleichbar mit Bundestags- oder Abgeordnetenhauswahlen, zukomme. Wahlen und Abstimmungen ist zwar gemeinsam, daß beide als Form der Willenskundgabe durch das Volk in der Verfassung vorgesehen sind. Gleichwohl bestehen zwischen beiden Formen der unmittelbaren Ausübung des Volkswillens erhebliche Unterschiede. Bei den Wahlen zur Volksvertretung handelt es sich, da in der Demokratie alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht (Art. 2 Abs. 1 VvB), um einen den Staat konstituierenden Grundakt. Die periodisch wiederkehrende Volkswahl des Parlaments ist eine verfassungsrechtliche Notwendigkeit in der Demokratie, weil sie den Staatsorganen die für die Ausübung der Staatsgewalt erforderliche demokratische Legitimation vermittelt (vgl. BVerfGE 13, 54, 92). Bei Volksbegehren und Volksentscheid handelt es sich dagegen nicht um einen derartigen konstituierenden Grundakt, sondern um einen Akt der Gesetzgebung, entsprechend der Gesetzgebung des Parlaments. Gegenstand des Volksgesetzgebungsverfahrens ist nicht die Übertragung von Herrschaft auf Zeit, sondern die Abstimmung über eine bestimmte Sachfrage (hier: die Rechtschreibreform). Einer solchen Abstimmung kommt in der Demokratie nicht annähernd die gleiche Bedeutung zu wie den Wahlen zu den Volksvertretungen (vgl. BayVerfGH, Entsch. v. 19.1.1994 - Vf. 89-III-92, 92-III-92 - VerfGHE 4 7 , 1 , 1 3 f ) . LVerfGE 11
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Bei Anlegung dieser Maßstäbe ist das im vorliegenden Fall durchgeführte Abstimmungsverfahren im Ergebnis nicht zu bestanden. Nach § 21 Abs. 2 S. 1 VInG sind die Auslegungsstellen und Auslegungszeiten für die bei Zustimmung zum Volksbegehren zu verwendenden Unterschriftsbögen so zu bestimmen, daß jeder Stimmberechtigte ausreichend Gelegenheit hat, sich an dem Volksbegehren zu beteiligen. Adressaten dieser Vorschrift sind gem. § 21 Abs. 1 VInG hinsichtlich der Auslegungszeiten der Landesabstimmungsleiter, hinsichtlich der Auslegungsstellen die Bezirksabstimmungsleiter. Sie haben bei der Beurteilung, wann die Gelegenheit zur Beteiligung „ausreichend" ist, einen gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren Beurteilungsspielraum. Dies ergibt sich für die Bezirksabstimmungsleiter schon daraus, daß mangels konkreter rechtlicher Maßstäbe nicht genau zu bemessen ist, bei welcher Anzahl von Auslegungsstellen die gesetzliche Vorgabe erfüllt ist. Es wäre nicht sachgerecht, insoweit die richterliche Überzeugung völlig an die Stelle der von den Bezirksabstimmungsleitern getroffenen Entscheidungen treten zu lassen. Der in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu berufsbezogenen Prüfungen (BVerfGE 84, 34, 49) und zur Zulassung privater Grundschulen (BVerfGE 88, 40, 45) aus Art. 19 Abs. 4 GG entwickelte Grundsatz vollständiger gerichtlicher Kontrolle von Verwaltungsentscheidungen kann im vorliegenden Zusammenhang keine Geltung beanspruchen, weil Art. 19 Abs. 4 GG im Rahmen des Einspruchsverfahrens nach § 41 VInG als eines Verfahrens der objektiven Rechtskontrolle keine Anwendung findet (vgl. Urteil des Verfassungsgerichtshofs vom 2.6.1999, aaO). Für die dem Landesabstimmungsleiter zugewiesene Bestimmung der Auslegungszeiten gilt nichts anderes. Zwar konkretisiert § 21 Abs. 2 S. 2 VInG den unbestimmten Rechtsbegriff „ausreichend" insoweit durch Mindestvorgaben, wonach die Auslegungszeiten sich an zwei Tagen in der Woche mindestens bis 18 Uhr erstrecken und vorher zu bestimmende Sonnabende, Sonntage oder gesetzliche Feiertage umfassen müssen. Die in diesem Rahmen notwendigerweise zu treffende Auswahl kann jedoch ebenfalls nur einer verfassungsgerichtlichen Vertretbarkeitskontrolle unterzogen werden. Die Anerkennung eines eigenständigen Beurteilungsspielraums innerhalb der gesetzlichen Mindestvorgaben, dessen Ausfüllung der Verfassungsgerichtshof nur auf die Vertretbarkeit der dafür maßgeblichen Erwägungen hin überprüfen kann, entspricht dem Gebot wechselseitiger Rücksichtnahme der Träger verfassungsrechtlicher Kompetenzzuweisungen bei der Ausübung ihrer Kompetenzen. Die vom Landesabstimmungsleiter bestimmten Auslegungszeiten halten sich im Rahmen der gesetzlichen Mindestvorgaben. Daß damit keine ausreichende Gelegenheit zur Eintragung — insbesondere für die von den Beschwerdeführern angeführte Gruppe der Berufstätigen — gewährleistet gewesen sei, läßt sich nicht feststellen. Wer die verlängerten Öffnungszeiten am Dienstag- und Donnerstagabend nicht nutzen konnte, hatte an vier Wochenenden, d. h. insgesamt an acht Sonnabenden und Sonntagen, zwischen 10 und 16 Uhr Gelegenheit, sich an dem Volksbegehren zu beteiligen. Eine darüber hinausgehende Öffnung der Auslegungsstellen, vor allem in den AbendLVerfGE 11
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stunden, mag zwar wünschenswert gewesen sein; eine Verpflichtung hierzu bestand jedoch nicht. Der Landesabstimmungsleiter durfte bei seiner Entscheidung den mit verlängerten Öffnungszeiten verbundenen Personaleinsatz mit berücksichtigen und auch finanzielle Erwägungen einbeziehen. In Anbetracht dessen kann seine Entscheidung nicht als unvertretbar angesehen werden. Dies gilt auch für die von den Beschwerdeführern beanstandete Herausnahme der gesetzlichen Feiertage Christi Himmelfahrt und Pfingstmontag. Aus § 21 Abs. 2 S. 2 VInG ergibt sich, daß der Gesetzgeber bewußt davon abgesehen hat, eine Öffnung an allen Wochenenden und gesetzlichen Feiertagen vorzuschreiben. Auch ein Ausgleich durch zusätzliche Öffnung der Auslegungsstellen an einem weiteren Wochenende war deshalb nicht zwingend geboten. Die vom Landesabstimmungsleiter angeführte Erwägung, daß sich an den genannten Feiertagen, die zu verlängerten Wochenenden genutzt werden können, erfahrungsgemäß viele Stimmberechtigte nicht in Berlin aufhalten, kann durchaus als sachgerecht angesehen werden. Inwieweit eine Öffnung der Auslegungsstellen am Sonntag, dem 13. Juni 1999, im Zusammenhang mit der Wahl zum Europäischen Parlament, zulässig gewesen wäre, bedarf hier keiner Entscheidung. § 32 Abs. 1 BWahlG iVm § 4 des Europawahlgesetzes verbietet jede Unterschriftensammlung während der Wahlzeit im Bereich der Wahllokale. Auch wenn man die Beteiligung an einem Volksbegehren durch Eintragung in Unterschriftsbögen angesichts des amtlichen Charakters dieses Vorgangs als nicht vom Anwendungsbereich jener Vorschriften erfaßt ansieht, besteht jedenfalls keine Verpflichtung des Landesabstimmungsleiters, durch Anpassung der Auslegungszeiten an den Tag und die Zeit einer zufällig während der Eintragungsfrist stattfindenden Wahl die Beteiligung an einem anderen Zwecken dienenden Volksbegehren zu fördern. Auch der Umstand, daß die Auslegungsstellen erstmals drei Wochen nach Beginn des Volksbegehrens an einem Wochenende geöffnet waren, läßt keinen Verfahrensfehler erkennen. Wenn — wie vorliegend — eine Öffnung an allen Wochenenden gesetzlich nicht vorgeschrieben ist, muß die Festlegung der Wochenenden letztlich, soweit insgesamt ausreichend Gelegenheit zur Eintragung gewährleistet ist, der Auswahl des Landesabstimmungsleiters überlassen bleiben. Die von ihm getroffene Entscheidung kann, da eine unbillige Erschwerung der Beteiligung an dem Volksbegehren insoweit nicht ersichtlich ist, nicht als unvertretbar angesehen werden. Die Bestimmung der Auslegungsstellen durch die Bezirksabstimmungsleiter ist verfassungsgerichtlich ebenfalls nicht zu beanstanden. Nicht zu folgen ist insoweit der Auffassung der Beschwerdeführer, daß die Bestimmungen der Landeswahlordnung über die Stimmbezirke und Wahllokale (§§ 10,12 LWahlO) entsprechende Anwendung auf das Volksbegehren finden müßten. § 43 VInG sieht eine entsprechende Anwendung von Bestimmungen des Landeswahlrechts nur vor, „soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt". § 21 Abs. 2 S. 1 VInG, der hinsichtlich der Auslegungsstellen auf eine ausreichende Gelegenheit zur Beteiligung an dem Volksbegehren abstellt, ist als eine derartige andere Regelung zu verstehen. Dies entspricht im Hinblick LVerfGE 11
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auf die dargelegten Unterschiede zwischen Wahlen und Abstimmungen im Rahmen des Volksgesetzgebungsverfahrens der gebotenen engen Auslegung der generalklauselartigen Verweisung in § 43 VInG. Insbesondere das Volksbegehren weist gegenüber den Wahlen zur Volksvertretung erhebliche Besonderheiten auf. So sind Eintragungen nicht wie bei Wahlen auf einen Wahltag beschränkt, sondern können innerhalb einer Eintragungsfrist von zwei Monaten erfolgen (Art. 62 Abs. 4 VvB, § 18 Abs. 2 VInG). Anders als bei Wahlen, bei denen die Wahlberechtigten ihre Stimme grundsätzlich nur in ihrem Stimmbezirk abgeben können, darf bei Volksbegehren gem. § 22 Abs. 2 S. 2 VInG jeder Stimmberechtigte die Eintragung in jeder der eingerichteten Auslegungsstellen vornehmen. Im Hinblick auf diese unterschiedlichen gesetzlichen Regelungen für Wahlen und Volksbegehren erscheint es gerechtfertigt, nicht während der gesamten Eintragungszeit wahlähnliche Bedingungen aufrechtzuerhalten. Daß in § 5 der Abstimmungsordnung die Vorschriften der Landeswahlordnung über die Stimmbezirke lediglich bei der Durchführung des Volksentscheides für entsprechend anwendbar erklärt werden, begegnet insoweit keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Denn anders als beim Volksbegehren bestehen beim Volksentscheid mit Blick auf die Abstimmungsmodalitäten deutliche Parallelen zum Wahlverfahren. Aus der Pflicht, die Auslegungsstellen so zu bestimmen, daß jeder Stimmberechtigte ausreichend Gelegenheit hat, sich an dem Volksbegehren zu beteiligen, folgt entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer nicht, daß eine möglichst gleichmäßige Verteilung der Zahl dieser Stellen auf die einzelnen Bezirke gewährleistet sein muß. Dagegen spricht schon, daß der Gesetzgeber in § 21 Abs. 1 VInG nur eine einheitliche Bestimmung der Auslegungszeiten durch den Landesabstimmungsleiter vorgesehen, die Bestimmung der Auslegungsstellen einschließlich ihrer Zahl dagegen den Bezirksabstimmungsleitern zugewiesen hat, obwohl nach § 22 Abs. 2 S. 2 VInG jede stimmberechtigte Person in einer Auslegungsstelle ihrer Wahl die Eintragung vornehmen kann. Als Maßstab einer gleichmäßigen Verteilung käme zudem nur die Bevölkerungsstärke der jeweiligen Bezirke oder deren flächenmäßige Ausdehnung in Betracht. Da Eintragungen jedoch nicht wohnortabhängig vorgenommen werden müssen, sondern bezirksübergreifend in jeder der eingerichteten Auslegungsstellen vorgenommen werden können, ließen sich Berechnungen nach beiden Maßstäben nicht auf die einzelnen Bezirke begrenzen, sondern müßten auch das von den beruflichen Bindungen und dem Freizeitverhalten beeinflußte, bezirksübergreifende Präferenzverhalten der Stimmberechtigten in einer mobilen Stadtgesellschaft einbeziehen. Nachvollziehbare und gerichtlich verwertbare Erkenntnisse hierzu, die die Bezirksabstimmungsleiter unvertretbar außer Acht gelassen hätten, sind im Verfahren jedoch nicht vorgelegt worden. Daß nicht alle zur Abstimmung aufgerufenen Bürger so mobil sind, daß sie ihre Stimme bevorzugt in der Nähe ihrer Arbeitsstelle oder ihrer Einkaufs- oder Freizeitstätte abgeben, heißt noch nicht, daß die sich den entsprechend mobilen Bürgern bietenden zusätzlichen Gelegenheiten zur Beteiligung an dem Volksbegehren bei der Bestimmung der Auslegungsstellen außer Betracht bleiben müßten. Die VerhältLVerfGE 11
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nisse von Flächenstaaten lassen sich insoweit nicht auf die Berliner Verhältnisse übertragen. Entsprechendes gilt für die Bedenken der Beschwerdeführer gegen die Bestimmung der Gesamtzahl der Auslegungsstellen. Diese bewegt sich in der Größenordnung, die in der bisherigen Rechtsprechung für Volksbegehren in anderen Großstädten als ausreichend angesehen wurde (vgl. HessStGH, ESVGH 19, 1, 5; HambOVG, Beschl. v. 26.2.1998 - 3 Bs 63/98 -). Daß der Berliner Gesetzgeber ausweislich der Gesetzesmaterialien der Bürgernähe besonderes Gewicht beimessen wollte (vgl. Amtliche Begründung zum VInG, AbgDrs. 13/709, S. 6; Abg. Gram, Plenarprotokoll 13/29, S. 2228), ist kein Gesichtspunkt, aus dem sich mit den Mitteln einer nachvollziehbaren Gesetzesauslegung die gerichtliche Bestimmung einer Mindestzahl von mehr als 91 Auslegungsstellen herleiten ließe. Ebensowenig nachvollziehbar zu rechtfertigen wäre eine solche gerichtliche Bestimmung dadurch, daß sie sich — aus rechtlicher Sicht zufällig — an den Entscheidungen der Bezirksabstimmungsleiter von Mitte, Weißensee, Pankow und Wilmersdorf orientiert, die ein im Vergleich eher günstiges Verhältnis von Auslegungsstellen und Zahl der stimmberechtigten Einwohner ergeben haben. Die Zuweisung der Entscheidung über die Zahl der Auslegungsstellen an die Bezirksabstimmungsleiter schließt deren Recht ein, die örtlichen Gegebenheiten auch insoweit unterschiedlich zu bewerten. Erst recht läßt sich dem Gesetz keine Verpflichtung der Bezirksabstimmungsleiter entnehmen, ganz bestimmte Auslegungsstellen — etwa in Schulen oder Bibliotheken — einzurichten. Auch insoweit haben sie einen Beurteilungsspielraum, bei dessen Ausfüllung sie auch die vorhandene Personalsituation berücksichtigen können. Die vorliegend im einzelnen bestimmten Auslegungsstellen waren jedenfalls nicht von vornherein ungeeignet. Aus den eingereichten Stellungnahmen der Bezirksabstimmungsleiter ergeben sich keine Anhaltspunkte für sachfremde Gesichtspunkte bei der Auswahl der Gebäude; diese waren den Stellungnahmen zufolge auch jeweils von außen gut erkennbar gekennzeichnet. Die Beschwerdeführer sind dem nicht substantiiert entgegengetreten. Ihr Hinweis, daß einzelne Auslegungsstellen fern jedes Passantenverkehrs gelegen seien, kann keinen Verfahrensfehler begründen. Denn die Einrichtung der Auslegungsstellen muß sich nicht danach ausrichten, ob auch zufälligerweise vorbeikommende Personen zur Eintragung veranlaßt werden; es reicht aus, daß eintragungsbereite Personen, die sich bewußt an dem Volksbegehren beteiligen wollen, die Auslegungsstellen ohne größere Schwierigkeit finden können. Die Bekanntmachung des Volksbegehrens im Amtsblatt für Berlin entsprach den Anforderungen des § 18 Abs. 1 VInG. Eine ausdrückliche Benachrichtigung der Stimmberechtigten über die Auslegungsstellen und Auslegungszeiten ist danach nicht vorgesehen. Die insoweit für Wahlen geltende Vorschrift des § 15 LWahlO wird gem. §§ 43, 44 Abs. 1 Nr. 3 VInG in § 6 der Abstimmungsordnung nur für den Volksentscheid für entsprechend anwendbar erklärt. Weitergehende Anforderungen, insbesondere eine Versendung von Benachrichtigungskarten an alle Stimmberechtigten, sind LVerfGE 11
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auch aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht geboten. Die vorherige Versendung von Benachrichtigungskarten bei Wahlen zielt im Hinblick auf die Bedeutung der Wahlen als eines den Staat konstituierenden Grundakts auf eine möglichst umfassende Unterrichtung der Wahlbeteiligten durch den Staat mit dem Ziel einer hohen Wahlbeteiligung ab. Eine derartige Inanspruchnahme des Staates zur Aktivierung der Stimmberechtigten erscheint bei einem Volksbegehren, dem — wie dargelegt — nicht annähernd die gleiche Bedeutung zukommt, nicht erforderlich. Die Werbung für das zur Abstimmung anstehende Sachbegehren ist in erster Linie Sache des Trägers des Volksbegehrens, während der Staat insoweit zur Neutralität verpflichtet ist. Außerdem können auch von den Stimmberechtigten selbst gewisse Anstrengungen erwartet werden; denn wenn das Volk im Rahmen einer unmittelbaren demokratischen Willensbildung selbst gesetzesinitiativ tätig werden will, setzt dies notwendigerweise die Bereitschaft voraus, sich mit dem betreffenden Sachbegehren und den Möglichkeiten, seine Unterstützung dafür zum Ausdruck zu bringen, vertraut zu machen (vgl. HessStGH, ESVGH 19, 1, 5; VerfGH Nordrhein-Westfalen, OVGE 30, 288, 292). Aus denselben Gründen muß auch auf die Möglichkeit der Eintragung mittels Eintragungsscheins (vgl. § 23 VlnG) in der öffentlichen Bekanntmachung des Volksbegehrens nach § 18 Abs. 1 VlnG nicht hingewiesen werden. Soweit die Beschwerdeführer darüber hinaus rügen, daß die bekanntgemachten Abstimmungsmodalitäten teilweise nicht eingehalten worden seien und den Insassen der Berliner Justizvollzugsanstalten nur eine etwa einmonatige Eintragungsfrist zur Verfügung gestanden habe, mögen insoweit zwar Verfahrensfehler vorliegen. Denn zur ordnungsgemäßen Durchführung des Volksbegehrens gehört selbstverständlich auch, daß genügend Unterschriftsbögen für eintragungsbereite Bürger zur Verfügung stehen, daß die Auslegungszeiten vollständig eingehalten werden und daß alle Stimmberechtigten die volle Eintragungsfrist nutzen können. Die Angaben der Beschwerdeführer lassen allerdings mit Ausnahme der Nennung eines einzigen konkreten Falles nicht erkennen, wann und wie häufig in Auslegestellen Öffnungszeiten nicht beachtet worden sein sollen. Im übrigen sprechen sie nur unkonkret von einer „nicht unerheblichen Zahl" und „zahlreichen Fällen". Auch für das Fehlen von Unterschriftsbögen wird nicht vorgetragen, daß dies in auch nur einem einzigen Fall zur Verhinderung einer Unterschrift geführt hätte. Es erscheint daher ausgeschlossen, daß sich derartige Unregelmäßigkeiten auf das Gesamtergebnis des Volksbegehrens ausgewirkt haben bzw. hätten auswirken können. Nach der für diese Beurteilung maßgeblichen allgemeinen Lebenserfahrung können durch die gerügten Unregelmäßigkeiten in den einzelnen von den Beschwerdeführern insoweit angeführten Bezirken nur so wenige eintragungsbereite Personen von der Abgabe ihrer Unterstützungsunterschrift abgehalten worden sein, daß bei einer festgestellten Zustimmungsquote von 4,4 % (= 106 080 gültige Stimmen) das zum Zustandekommen des Volksbegehrens erforderliche Quorum von 10% (= 241 537 gültige Stimmen) auch ohne jene Unregelmäßigkeiten nicht erreicht worden wäre. Dies gilt auch für die etwa 5 000 Insassen der Berliner Vollzugsanstalten. Selbst LVerfGE 11
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wenn man insoweit von einer hypothetischen Zustimmungsquote von 100 % ausginge, kann angesichts des Fehlens von über 135000 Stimmen bis zum Erreichen des Quorums ein Einfluß auf das Ergebnis — das NichtZustandekommen des Volksbegehrens — ausgeschlossen werden. Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 33 f VerfGHG. Dieser Beschluß ist unanfechtbar.
Nr. 4 1. Den Berliner Bezirken fehlt die Beteiligtenfähigkeit für ein Organstreitverfahren nach § 36 VerfGHG. 2. Jedenfalls aus der Systematik des Art. 84 Abs. 2 VvB ergibt sich, daß den Bezirken, die Teile der vollziehenden Gewalt des Landes Berlin sind, von Verfassungs wegen auch die Beteiligtenfahigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren fehlt, soweit dieses — wie hier - nicht der Verteidigung verfassungsrechtlich gesicherter prozessualer Rechte dient. VvB Art. 84 Abs. 2 VerfGHG §§ 14 Nr. 1 und 6; 36,49 Abs. 1 Beschluß vom 15. Juni 2000 - VerfGH 47/99 in dem verfassungsgerichtlichen Verfahren des Bezirks H. von Berlin, vertreten durch den Bezirksbürgermeister, — Antragsteller — Verfahrensbevollmächtigter: Rechtsanwalt Dr. R. G. gegen das Abgeordnetenhaus von Berlin, vertreten durch den Präsidenten — Antragsgegner — Entscheidungsformel: Der Antrag wird zurückgewiesen. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei. Auslagen werden nicht erstattet. LVerfGE 11
Beteiligtenfahigkeit im Organstreitverfahren
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Gründe: I. Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist das Gesetz über die Feststellung des Haushaltsplans von Berlin für das Haushaltsjahr 1999 (Haushaltsgesetz 1999 — HG 99) vom 22. Dezember 1998 (GVB1. S. 434ff). Der antragstellende Bezirk macht geltend, die ihn betreffenden Globalzuweisungen im Haushaltsgesetz 1999 (Haushaltsplan) verletzten seine Verfassungsrechte auf Zuweisung einer Globalsumme „zur Erfüllung seiner Aufgaben" (Art. 85 Abs. 2 S. 1 VvB) sowie auf „gerechten Ausgleich unter den Bezirken" (Art. 85 Abs. 2 S. 2 VvB). Im Rahmen des jährlichen Haushaltsgesetzes erhalten die Berliner Bezirke zur Deckung ihres auf andere Weise nicht auszugleichenden Haushaltsfehlbedarfs allgemeine Finanzzuweisungen (sog. Globalsummen) vom Land Berlin. Diese Zuweisungen werden nach ihrer Zweckbestimmung getrennt veranschlagt für konsumtive Sachausgaben, für Personalausgaben und für Investitionen. Die Zuweisungen für konsumtive Sachausgaben, die den allgemeinen Finanzbedarf der Bezirke abdecken sollen, soweit er nicht durch bezirkseigene Einnahmen und die besonderen Zuweisungen für Personal- und Investitionsausgaben ausgeglichen wird, gliedern sich wiederum in einen sogenannten A- und einen Z-Teil. Für die Bezirke im wesentlichen nicht steuerbare Ausgaben (ζ. B. Sozialleistungen) werden im Z-Teil erfaßt, von den Bezirken zu beeinflussende Ausgaben im Α-Teil. Die von den Bezirken auf der Grundlage der zugewiesenen Globalsummen aufgestellten Bezirkshaushaltspläne sind Teile des Berliner Landeshaushalts. Die Bemessung der den Bezirken im sog. Α-Teil zur Verfügung gestellten Mittel beruht auf einem seit einigen Jahren verwendeten, mit den Bezirken abgestimmten „Bedarfsmodell". Ausgehend von einer für alle Bezirke einheitlichen Berechnungsgrundlage, die u.a. die bezirklichen Ausgaben für Lernmittel, Hoch-, Tiefbau- und Grünflächenunterhaltung, beeinflußbare Sozialleistungen, Grundstücksbewirtschaftung und Beköstigung in Kinder- und Jugendeinrichtungen erfaßt, wird der jährlich zu erwartende Bedarf der Bezirke ermittelt. Während in früheren Jahren die so errechneten Beträge vom Land Berlin ausfinanziert wurden, stellen diese nunmehr die Basis für die Verteilung der zur Verfügung stehenden Finanzmittel dar. Mit Blick auf die angespannte Haushaltslage Berlins sind beginnend ab dem Haushaltsjahr 1995 für alle Bezirke pauschale Konsolidierungsabschläge — bezogen auf den sog. Α-Teil der konsumtiven Sachausgaben — eingeführt worden. Für die Bezirke im Osten Berlins betrug dieser Konsolidierungsabschlag im Haushaltsjahr 1999 46,06% (für die westlichen Bezirke 53,2%); um diesen Prozentsatz ist der vom antragstellenden Bezirk auf der Grundlage der Modellrechnung für das Jahr 1999 ermittelte Bedarf gekürzt worden. Mit seinem am 18. Juni 1999 eingegangenen Antrag wendet sich der Bezirk H. von Berlin sowohl gegen die der Bemessung der Globalsumme im Α-Teil der konsumtiven
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Sachausgaben zugrundeliegende Ermittlung des Modellbedarfs als auch gegen die pauschale Kürzung der danach vom Land Berlin geleisteten Finanzzuweisungen. Der Antrag sei als Organstreit, hilfsweise als Verfassungsbeschwerde zulässig. Art. 85 Abs. 2 VvB statte die Bezirke, die nach der Verfassung an der Verwaltung nach den Grundsätzen der Selbstverwaltung beteiligt und denen verfassungsrechtlich eigene Rechte zur Wahrnehmung von Aufgaben eingeräumt seien, mit eigenen Rechten auf Zuweisung einer ausreichenden Globalsumme zur Erfüllung ihrer Aufgaben sowie auf gerechten Ausgleich unter den Bezirken aus. Dieser dem Antragsteller verfassungsrechtlich gewährleistete Finanzausstattungsanspruch werde durch das angefochtene Haushaltsgesetz verletzt. Die vom Haushaltsgesetzgeber vorgenommenen Einschränkungen und Kürzungen seien weder sachgerecht noch verhältnismäßig. Bereits bei der Ermittlung des Modellbedarfs seien die spezifischen städtebaulichen, demographischen und sonstigen Besonderheiten des Bezirks H. weitgehend unberücksichtigt geblieben. Die darüber hinaus ohne Berücksichtigung der Bezirksbelange festgelegten, jährlich steigenden pauschalen Kürzungen führten dazu, daß dem Bezirk in bestimmten Bereichen die finanzielle Mindestausstattung zur Erfüllung seiner Aufgaben fehle. Die finanziellen Zuwendungen reichten offensichtlich nicht aus, die Kosten der ihm übertragenen Aufgaben zu decken. Der Antragsteller beantragt, festzustellen, daß das Gesetz über die Feststellung des Haushaltsplans von Berlin für das Haushaltsjahr 1999 vom 22. Dezember 1998 (GVB1. S. 434 ff) mit Art. 85 Abs. 2 S. 1 und 2 VvB insofern unvereinbar und nichtig ist, als es Mittel füir den Bezirk H. ausweist. Der Antragsgegner hält den Antrag sowohl für unzulässig als auch unbegründet. Der Senat von Berlin hat gem. § 38 Abs. 2 und § 53 Abs. 3 VerfGHG Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. Der Richter Dr. G. ist gem. § 16 Abs. 1 Ziff. 3 iVm Ziff. 2 VerfGHG in diesem Verfahren von der Ausübung seines Richteramtes ausgeschlossen. Der Verfassungsgerichtshof hat gem. § 24 Abs. 1 VerfGHG einstimmig auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet. II. Der Antrag ist sowohl im Organstreitverfahren wie als Verfassungsbeschwerde unzulässig. 1. Nach § 36 VerfGHG können Antragsteller und Antragsgegner in Organstreitigkeiten nur die in § 14 Nr. 1 VerfGHG genannten Beteiligten sein. Beteiligtenfähig sind danach oberste Landesorgane oder andere Beteiligte, die durch die Verfassung von Berlin oder durch die Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Der antragstellende Bezirk ist kein oberstes Landesorgan von Berlin. Er ist LVerfGE 11
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auch weder durch die Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses noch — was vorliegend allein in Betracht käme - durch die Verfassung von Berlin mit eigenen Rechten, die im Organstreitverfahren geltend gemacht werden könnten, ausgestattet. Es fehlt ihm deshalb an der Beteiligtenfähigkeit für ein Organstreitverfahren. Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs ist das Verfahren nach Art. 84 Abs. 2 Nr. 1 VvB für Beteiligte vorgesehen, die sich in einem verfassungsrechtlichen Rechtsverhältnis befinden und über verfassungsrechtliche Fragen aus diesem Rechtsverhältnis streiten. „Andere Beteiligte" iSd Art. 84 Abs. 2 Nr. 1 VvB kommen als Parteien eines Organstreitverfahrens von vornherein nur in Betracht, wenn sie den obersten Verfassungsorganen Berlins in Rang und Funktion dadurch gleichkommen, daß sie materiell Träger vergleichbarer Rechte und damit dem „Verfassungsrechtskreis" zugehörig sind. Es muß sich mithin um Organe handeln, die nach ihrem Status und ihrer Kompetenz unmittelbar von der Verfassung eingerichtet und insbesondere einem anderen Organ nicht untergeordnet sind (Urt. v. 19.10.1992 - VerfGH 39/92 - LVerfGE 1, 40, 42f mwN sowie Beschl. v. 6.10.1998 - VerfGH 46/98 —). In den genannten Entscheidungen ist dies sowohl für eine Bezirksverordnetenversammlung als auch für eine ihr zugehörige Fraktion verneint worden. Im Ergebnis nichts anderes kann für den antragstellenden Bezirk gelten. Die Bezirke bzw. Bezirksverwaltung werden zwar in Art. 3 Abs. 2, Art. 66 ff sowie Art. 85 Abs. 2 VvB ausdrücklich erwähnt. Diese Vorschriften verschaffen ihnen jedoch nicht die Möglichkeit zu verfassungsrechtlichem und verfassungsgerichtlichem Streit im Sinne der vorgenannten Grundsätze. Der Verfassungsgerichtshof hat wiederholt entschieden, daß die Bezirke auch nach Erweiterung und stärkerer Ausgestaltung ihrer Zuständigkeiten nach den Grundsätzen kommunaler Selbstverwaltung durch das 28. Gesetz zur Änderung der Verfassung von Berlin vom 8. Juli 1994 (GVB1. S. 217) nach wie vor nur ein verselbständigter Teil der nachgeordneten Verwaltung der Einheitsgemeinde Berlin sind (Urt. v. 10.5.1995 - VerfGH 14/95 - LVerfGE 3, 28, 32f = LKV 1995,366,367; Beschl. v. 17.3.1997 - VerfGH 90/95 - LVerfGE 6,32,41 = LKV 1998, 142, 144 sowie Beschl. v. 6.10.1998 - VerfGH 46/98 -). Sie stehen damit, unabhängig davon, daß die Verfassung ihnen eigene Rechte zur Wahrnehmung von Aufgaben innerhalb Berlins gewährleistet, den zum Organstreitverfahren befähigten obersten Landesorganen in Rang und Funktion fern. Da sie nicht auf „oberster", sondern nur auf nachgeordneter Ebene wirken, kann der Bezirk vorliegend sein Begehren nicht im Wege des Organstreitverfahrens verfolgen (vgl. zur fehlenden Beteiligtenfähigkeit von Gemeinden und Gemeindeverbänden BVerfGE 27, 240, 244ff). 2. Der Bezirk kann sein Begehren auch nicht im Verfassungsbeschwerdeverfahren verfolgen, da ihm dafür die Beteiligtenfahigkeit fehlt. Nach § 49 Abs. 1 VerfGHG kann jedermann mit der Behauptung, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner in der Verfassung von Berlin enthaltenen Rechte verletzt zu sein, die Verfassungsbeschwerde zum Verfassungsgerichtshof erheben. Der Begriff „jedermann" wird vom Gesetz nicht definiert. Mit Blick auf die vom Gesetz LVerfGE 11
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geforderte Behauptung der Verletzung in der Verfassung von Berlin enthaltener „Rechte" wird man darunter denjenigen verstehen müssen, der Träger derartiger Rechte sein kann. Der Verfassungsgerichtshof hat im Urteil vom 19. Oktober 1992 (VerfGH 36/92 - LVerfGE 1,33,36 f ) darauf hingewiesen, daß der Wortlaut des § 49 Abs. 1 VerfGHG - anders als die bundesrechtliche Regelung in § 90 Abs. 1 BVerfGG — die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde des Berliner Landesrechts nicht auf das Geltendmachen der Verletzung von Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten beschränkt; § 49 Abs. 1 VerfGHG ist vielmehr insoweit „anders gefaßt". Ausdrücklich offengelassen worden ist in der Entscheidung, ob dieser Wortfassung entsprechend mit einer Verfassungsbeschwerde auch die Verletzung eines im damaligen Verfahren angeführten Rechts auf bezirkliche Selbstverwaltung gerügt werden kann oder ob § 49 Abs. 1 VerfGHG in dem Sinne zu verstehen ist, daß er den Weg ausschließlich für eine auf die Rüge der Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten gestützte Verfassungsbeschwerde eröffnet. Wäre letzteres der Fall, so wäre dem Bezirk vorliegend, da er weder die Verletzung eines Grundrechts noch eines grundrechtsgleichen Rechts rügt, schon deswegen auch das Verfassungsbeschwerdeverfahren verschlossen. Unabhängig von der zur Begründetheit gehörenden Frage, ob und inwieweit Art. 85 Abs. 2 VvB den Bezirken einen Anspruch auf eine angemessene Finanzausstattung garantiert, wird man die bezirkliche Finanzausstattung nicht als durch ein grundrechtsgleiches Recht geschützt ansehen können. Für ein etwaiges Recht auf bezirkliche Selbstverwaltung wird dies in der genannten Entscheidung Inzident vorausgesetzt. Letztlich muß auch im vorliegenden Verfahren nicht entschieden werden, ob die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde des Berliner Landesrechts auf die Rüge der Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten beschränkt ist oder auch die Geltendmachung der Verletzung sonstiger Rechte umfaßt, die sich aus der Verfassung von Berlin ergeben. Jedenfalls aus der Systematik des Art. 84 Abs. 2 VvB ergibt sich, daß den Bezirken, die Teile der vollziehbaren Gewalt des Landes Berlin sind (vgl. Urt. v. 17.3.1997 — VerfGH 90/95 - LVerfGE 6, 32, 41 f), von Verfassungs wegen die Beteiligtenfähigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren fehlt, soweit dieses — wie hier - nicht der Verteidigung verfassungsrechtlich gesicherter prozessualer Rechte dient. Nach Art. 84 Abs. 2 Nr. 3 VvB, § 14 Nr. 9 iVm § 57 VerfGHG haben die Bezirke ein eigenständiges Antragsrecht, mit dem sie die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Zuständigkeitsverteilung vom Verfassungsgerichtshof überprüfen lassen können. Dieses als Normenkontrolle der Zuständigkeitsabgrenzung bezeichnete Verfahren ist erst durch Art. EX des Gesetzes zur Reform der Berliner Verwaltung (Verwaltungsreformgesetz) vom 19. Juli 1994 (GVB1. S. 241) in das Gesetz über den Verfassungsgerichtshof eingeführt worden. Es knüpft an die Neuregelung der Zuständigkeitsverteilung zwischen der Hauptverwaltung und den Bezirksverwaltungen an, wie sie durch das 28. Gesetz zur Änderung der Verfassung von Berlin vom 6. Juli 1994 erfolgt ist (Art. 51 LVerfGE 11
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VvB a.F., jetzt Art. 67 VvB). Nur für diesen eng umschriebenen Bereich ihrer eigenen verfassungsmäßigen Kompetenzen, d. h. der neuen verfassungsrechtlichen Zuständigkeitsverteilung, sollte den Bezirken eine Antragsbefugnis zum Verfassungsgerichtshof eingeräumt werden. Eine Änderung der Rechtsstellung der Bezirke innerhalb der Einheitsgemeinde Berlin war damit nicht beabsichtigt (vgl. zur Änderung des Art. 72 VvB a.F. - Art. 84 VvB — die Begründung der auf einem Gruppenantrag von Mitgliedern des Abgeordnetenhauses beruhenden Gesetzesvorlage, AbgDrs. 12/4874, S. 10 vom 13. September 1994). Diese spezialgesetzliche Regelung macht deutlich, daß der Gesetzgeber davon ausgegangen ist, die Bezirke könnten die ihnen verfassungsrechtlich eingeräumten Rechte zur Wahrnehmung von Aufgaben nicht schon im Wege der allgemeinen Verfassungsbeschwerde — oder im Wege des Organstreitverfahrens — durchsetzen. Hätte der Gesetzgeber dies anders gesehen, so wäre die Einführung einer „neuen" Antragsbefugnis entbehrlich gewesen. Einer Öffnung des allgemeinen Verfassungsbeschwerdeverfahrens — quasi als kommunale Verfassungsbeschwerde — stehen damit entscheidende systematische Bedenken entgegen. Während das Verfahren nach § 1 4 Nr. 9 iVm § 57 VerfGHG auf Zuständigkeitsabgrenzungen durch den Gesetzgeber beschränkt ist, könnten die Bezirke im Verfassungsbeschwerdeverfahren gegen jede Art „öffentlicher Gewalt" vorgehen. Für Eingriffe der Hauptverwaltung in die bezirklichen Zuständigkeiten würde dies ersichtlich mit der gesondert geregelten Antragsbefugnis der Bezirke kollidieren. Selbst wenn man im Rahmen der Zulässigkeit die Möglichkeit der Verletzung eines verfassungsmäßigen Rechts bejaht, kann der antragstellende Bezirk das von ihm reklamierte Recht auf eine angemessene Finanzausstattung danach nicht im Wege der allgemeinen Verfassungsbeschwerde geltend machen. Insoweit ist die Entscheidung einstimmig ergangen. Vier Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs halten die Verfassungsbeschwerde darüber hinaus schon deshalb für unzulässig, weil sich aus Sinn und Zweck dieses Verfahrens ergebe, daß die öffentliche Hand bzw. Teile davon im Verfassungsbeschwerdeverfahren grundsätzlich nicht beteiligtenfähig sei bzw. seien. Die gegenüber § 90 Abs. 1 BVerfGG andere Fassung des § 49 Abs. 1 VerfGHG führe nämlich nicht dazu, daß Wesen und Zweck der Verfassungsbeschwerde des Berliner Landesrechts grundlegend anders seien als die der Verfassungsbeschwerde nach Bundesrecht, der sie im Kern erkennbar nachgebildet sei (siehe Wilke Der Verfassungsgerichtshof Berlin, in: Franßen/Redeker/Schlichter/Wilke (Hrsg.), Bürger— Richter-Staat, Festschrift für H. Sendler, 1991, S. 139,152). Die Verfassungsbeschwerde sei der verfassungsgerichtliche Rechtsbehelf des Bürgers gegenüber Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt. Auch juristische Personen des Privatrechts seien nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsbeschwerdeverfahren insoweit beteiligtenfähig, als die Grundrechte ihrem Wesen nach auf sie anwendbar seien. Wesen und Zweck der Verfassungsbeschwerde sei es aber nicht, Organe der öffentlichen Gewalt vor der öffentlichen Gewalt schützen. An dieser grundsätzlichen Funktion der Verfassungsbeschwerde LVerfGE 11
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ändere sich nichts dadurch, daß das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung ausnahmsweise (grundsätzlich verneint das Bundesverfassungsgericht die Grundrechtsträgerschaft juristischer Personen des öffentlichen Rechts und damit ihre Beteiligtenfahigkeit/Parteifähigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren: BVerfGE 15, 256, 262; 21, 362, 369 f; 61, 82, 105 ff) auch juristischen Personen des öffentlichen Rechts die Beteiligtenfähigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren zuspricht, wenn diesen juristischen Personen des öffentlichen Rechts die Aufgabe zukommt, dem Schutz und der Verwirklichung von Grundrechten zu dienen. In diesem Sinne hat das Bundesverfassungsgericht die Beteiligtenfahigkeit der Universitäten bezüglich des Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 GG bejaht (BVerfGE 15, 256, 262) und die der Rundfunkanstalten bezüglich der Freiheit der Berichterstattung durch den Rundfunk aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG (BVerfGE 31, 314, 321 f; 59, 231, 254 f ) anerkannt. Keiner dieser Ausnahmetatbestände treffe auf Behörden der unmittelbaren Staatsverwaltung zu. Als Teile der vollziehenden Gewalt des Landes Berlin könnten die Bezirke nicht beteiligtenfahig im Verfassungsbeschwerdeverfahren sein, dessen Sinn und Zweck gerade der Schutz gegen die öffentliche Gewalt sei (vgl. BVerfGE 45, 63, 78 f; 61, 82,103; 75,192, 195 ff; siehe ferner die abweichenden Meinungen der Richter Kunig und Dittricb, LVerfGE 1, 9,25 ff und 30 ff zum Urteü vom 19.10.1992- VerfGH 24/92 - LVerfGE 1, 9,15 ff, sowie Pestalosga NVwZ 1993,1070; Uerpmann Vier Jahre Verfassungsrechtsprechung in Berlin, LKV 1996, S. 228; Waechter Kommunalrecht, 3. Aufl. 1997, S. 223, Fn. 197; Neumann in: Pfennig/Neumann (Hrsg.), Verfassung von Berlin, Kommentar, 3. Aufl. 2000, Rn. 24 zu Art. 66, 67 VvB). Die Entscheidung über die Kosten beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG. Dieser Beschluß ist unanfechtbar.
Nr. 5 In Berlin ist die Verfassungsbeschwerde gegen Akte im Rahmen des Wahlverfahrens durch die Vorschriften der §§ 40 ff VerfGHG über die Wahlprüfung nicht ausgeschlossen. VvB Art. 39 Abs. 1, 84 Abs. 2 Nr. 5 VerfGHG §§ 40 ff Beschluß vom 23. November 2000 - VerfGH 117/99 in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Herrn K., Verfahrensbevollmächtigte: Frau Dr. T. LVerfGE 11
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gegen die Durchführung der Wahlen vom 10. Oktober 1999 zum Abgeordnetenhaus von Berlin und zu den Bezirksverordnetenversammlungen Entscheidungsformel: Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei. Auslagen werden nicht erstattet. Gründe: I. Mit seiner am 9. Dezember 1999 eingegangenen Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen die fehlende Bereitstellung von Wahlschablonen für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus von Berlin und zu den Bezirksverordnetenversammlungen. Der Beschwerdeführer, der seit 1985 erblindet ist, war Wahlberechtigter bei den am 10. Oktober 1999 durchgeführten Wahlen zum Abgeordnetenhaus von Berlin und zu den Bezirksverordnetenversammlungen. Von der in § 52 Abs. 4 der Landeswahlordnung (LWahlO) vorgesehenen Möglichkeit, sein Wahlrecht auszuüben, indem er sich bei der Stimmabgabe einer Person seines Vertrauens bedient, hat er keinen Gebrauch gemacht. Bereits im Vorfeld der Wahlen hatte sich der Beschwerdeführer u. a. über die Vertreterin seines Wahlkreises im Abgeordnetenhaus sowie über die Internationale Liga für Menschenrechte um die Bereitstellung von Wahlschablonen bemüht. Derartige vom Landeswahlleiter zertifizierte und in haptischer (erhabener) Schrift gestaltete Wahlschablonen, die es blinden und stark sehbehinderten Wahlberechtigten ermöglichen, ihr Wahlrecht geheim und ohne Hilfeleistung einer Vertrauensperson auszuüben, waren in Berlin bereits bei den Europawahlen 1994 und 1999 sowie bei der Volksabstimmung über die Bildung eines gemeinsamen Bundeslandes Berlin-Brandenburg verwendet worden, teilweise wurden sie über den Allgemeinen Berliner Blindenund Sehbehindertenverein kostenlos zur Verfügung gestellt. In den das Anliegen des Beschwerdeführers betreffenden Schreiben der Landesbeauftragten des Senats für Behinderte bei der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales und des Regierenden Bürgermeisters von Berlin wird ausgeführt, daß eine entsprechende Vorgehensweise bei den Wahlen am 10. Oktober 1999 wegen der Vielzahl von 124 verschiedenen Stimmzetteln, deren Inhalt erst Ende August 1999 endgültig feststand, aus technischen und organisatorischen Gründen nicht möglich gewesen sei. Der Beschwerdeführer begehrt im vorliegenden Verfahren zum einen die Feststellung, hinsichtlich der Wahlen am 10. Oktober 1999 in seinen Rechten aus Art. 39 LVerfGE 11
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Abs. 1, Art. 15 Abs. 4 und Art. 11 S. 1 der Verfassung von Berlin (VvB) verletzt zu sein, zum anderen die Verpflichtung des Gesetzgebers, für künftige Wahlen organisatorische Möglichkeiten zu schaffen, die es blinden und stark sehbehinderten Wählern ermöglichen, ihre Stimme unter Wahrung des Grundsatzes der Geheimheit und Nichtbenachteiligung abzugeben. Zur Begründung trägt er vor: Die Durchführung der Wahlen zum Abgeordnetenhaus von Berlin und zu den Bezirksverordnetenversammlungen am 10. Oktober 1999 unter Ablehnung der Bereitstellung von Wahlschablonen, wie sie sich aus der Antwort des Senats von Berlin auf die Kleine Anfrage Nr. 5171 sowie der „Entscheidungen" der Landesbeauftragten vom 10. September 1999 und des Regierenden Bürgermeisters von Berlin vom 28. September 1999 ergebe, verletze ihn als Akt der öffentlichen Gewalt des Landes Berlin selbst, gegenwärtig und unmittelbar in seinem Recht aus Art. 39 Abs. 1 VvB. Auch wenn die Wahlen bei Erhebung der Verfassungsbeschwerde bereits abgeschlossen seien, sei er angesichts der noch laufenden Legislaturperiode und der Gefahr einer Wiederholung gegenwärtig beschwert. Eine erneute Nichtvorhaltung von Wahlschablonen bei künftigen Wahlen im Land Berlin sei jedenfalls nicht ausgeschlossen. Da das vor der Wahl angerufene VG Berlin in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seine Zuständigkeit verneint habe, sei der Rechtsweg erschöpft; der Anrufung des OVG habe es insofern nicht bedurft. Der in Art. 39 Abs. 1 VvB verankerte Grundsatz der geheimen Wahl, der der wichtigste institutionelle Schutz der Wahlfreiheit sei, bedeute, daß sich der Wähler bei der Wahlhandlung ohne Kenntnisnahme anderer Personen entscheiden könne. Mit Blick auf die besondere Bedeutung des Wahlgeheimnisses für freie Wahlen sei der Staat verpflichtet, die Geheimheit der Wahl zu gewährleisten. Erforderlich sei danach eine technische Gestaltung des Wahlvorgangs, die es unmöglich mache, die Wahlentscheidung eines Wählers zu rekonstruieren. Diesen Anforderungen werde weder die von amtlicher Seite aufgezeigte Möglichkeit, auf dem jeweiligen Stimmzettel die Kurzbezeichnung der gewählten Partei zu vermerken, noch die Vorschrift der Landeswahlordnung über die Stimmabgabe mit Hilfe einer Vertrauensperson gerecht. Durchbrechungen des Grundsatzes der geheimen Wahl seien nur unter engen Voraussetzungen zulässig, um die Ausübung des Wahlrechts zu gewährleisten. Für die Wahlberechtigten, die — wie er — blind oder stark sehbehindert seien, sei die mit der Hinzuziehung einer Vertrauensperson verbundene Durchbrechung des Wahlgeheimnisses weder erforderlich noch verhältnismäßig. Vielmehr wäre auch diesem Personenkreis bei ordnungsgemäßer Wahlvorbereitung eine Wahrnehmung des Wahlrechts und eine geheime Stimmabgabe durch Zurverfügungstellung von Wahlschablonen oder geeigneten Wahlmaschinen möglich. Die Tatsache, daß insgesamt 124 verschiedene Stimmzettel für die Wahlen am 10. Oktober 1999 erforderlich gewesen seien, entbinde das Land Berlin nicht von seiner Verpflichtung, eine geheime Stimmabgabe organisatorisch sicherzustellen. Da die Problematik bereits seit Jahren bekannt sei, sei nicht nachvollziehbar, warum die Herstellung von LVerfGE 11
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Wahlschablonen bei rechtzeitiger Vorbereitung technisch, organisatorisch und zeitlich nicht möglich gewesen sei. II. Die Verfassungsbeschwerde kann keinen Erfolg haben, da sie zwar statthaft, aber aus anderen Gründen nicht zulässig ist. 1. Insbesondere mit Blick auf die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Schutz des subjektiven Wahlrechts und zum Verhältnis von Wahlprüfung und Verfassungsbeschwerde auf Landesebene ist der vom Beschwerdeführer eingelegte Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde statthaft. Nach den vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen stellt das bundesrechtlich in Art. 41 GG geregelte Wahlprüfungsverfahren das gegenüber der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG speziellere Verfahren dar. Durch Art. 41 Abs. 1 GG, nach dem die Wahlprüfung Sache des Bundestages ist, werde die Korrektur etwaiger Wahlfehler einschließlich solcher, die Verletzungen subjektiver Rechte enthielten, dem Rechtsweg des Art. 19 Abs. 4 GG entzogen (so unter ausdrücklicher Berufung auf Art. 41 GG: BVerfGE 22, 277, 281; 34, 81, 94; 46, 196, 198; 66, 232, 234; kritisch dazu Olschewski Wahlprüfung und subjektiver Wahlrechtsschutz, 1970, S. 135 ff; Bettermann Die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 96 (1971), 528, 544ff; Meyer Wahlgrundsätze und Wahlverfahren, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. II 1987, § 38 Rn. 63 ff; Versteyl in: von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 3. Aufl. 1995, Art. 41 Rn. 19; Schenke in: Bonner Kommentar, Art. 19 Abs. 4 Rn. 243f). Diese Spezialitätsthese hat das Bundesverfassungsgericht auch auf das Verhältnis von Wahlprüfungsbeschwerde und Verfassungsbeschwerde übertragen. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichts stellen Entscheidungen und Maßnahmen, die sich unmittelbar auf das Wahlverfahren beziehen, keine mit der Verfassungsbeschwerde anfechtbaren Hoheitsakte dar (vgl. die Nachweise bei Storost in: Umbach/Clemens, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1992, § 48 Rn. 13, sowie aus neuerer Zeit BVerfG, Beschl. v. 14.4.1994 - 2 BvR 2686/93 u. a. - NVwZ 1994, 893, 894). Zur Begründung wird darauf verwiesen, daß die Verfolgung subjektiver Rechte Einzelner gegenüber der Notwendigkeit zurücktreten müsse, die Stimmen einer Vielzahl von Bürgern in einer einheitlichen, wirksamen Wahlentscheidung zusammenzufassen, und daß die Wahl sich nur dann gleichzeitig und termingerecht durchführen lasse, wenn die Rechtskontrolle der auf das Wahlverfahren bezogenen Entscheidungen während des Wahlverfahrens begrenzt werde und im übrigen einem nach der Wahl durchzuführenden Prüfungsverfahren vorbehalten bleibe (BVerfG, NVwZ 1994, 893, 894 mwN). Nach Art. 41 Abs. 3 GG iVm § 49 BWG bezieht sich die Exklusivität der Wahlprüfung auf Entscheidungen und Maßnahmen der Wahlorgane und Wahlbehörden bei der Erledigung ihrer AufLVerfGE 11
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gaben. Umfaßt sind damit sowohl Einzelmaßnahmen, die vor der Wahlhandlung getroffen werden (ζ. B. Nichtzulassung eines Wahlvorschlags), als auch die Wahlhandlung als solche (z. B. — wie vorliegend geltend gemacht — die Verletzung des Wahlgeheimnisses) sowie Entscheidungen der Wahlorgane nach der Wahl (z.B. bei der Ermittlung und Festsetzung des Wahlergebnisses oder der Sitzverteilung, vgl. Schreiber Handbuch des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag, Komm, zum Bundeswahlgesetz, 6. Aufl. 1998, § 49 Rn. 4). Auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind dagegen Verfassungsbeschwerden, soweit sie sich direkt gegen Vorschriften des Wahlrechts richten, zulässig und werden durch das Wahlprüfungsverfahren nicht verdrängt (vgl. BVerfGE 57,43, 54; 58,177,188; 82, 322, 336). Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Verhältnis von Wahlprüfung und Verfassungsbeschwerde hat auch für den Bereich von Wahlen auf Landesebene, für die Art. 41 GG nicht gilt (vgl. BVerfGE 34, 81, 94), Zuspruch erfahren. Unter Hinweis auf die vom Bundesverfassungsgericht betonte Notwendigkeit einer gleichzeitigen und termingerechten Durchführung von Wahlen, die eine Begrenzung der Rechtskontrolle der zahlreichen sich auf das Wahlverfahren beziehenden Einzelentscheidungen erfordere, hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof für seinen Zuständigkeitsbereich die Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden verneint (BayVerfGH, Entsch. v. 5.2.1992 - Vf. 36-III-91 u.a. - BayVBl. 1992, 267, 268f mwN; vgl. auch NdsStGH, Beschl. v. 18.4.1975 - StGH 2/75 - DVB1. 1975, 628, 631; HessStGH, Beschl. v. 20.7.1988 - P.St. 1075 - NVwZ 1989, 647). Der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin hat dagegen, auch wenn er die Entscheidung des Problems letztlich dahingestellt sein lassen konnte, bereits im Beschluß vom 31.7.1998 (VerfGH 92/95 — LVerfGE 9, 23, 26 f) Zweifel anklingen lassen, ob sich die vom Bundesverfassungsgericht zum Bundesrecht entwickelten Grundsätze auf das Berliner Landesrecht übertragen lassen. Denn anders als im Bund und in anderen Bundesländern (vgl. den Überblick bei Sachs Grundgesetz, 2. Aufl. 1999, Art. 41, S. 1149; in Bayern ist die Wahlprüfung beispielsweise in Art. 33 der Landesverfassung verankert; ebenso in Art. 11 Abs. 2 der Niedersächsischen Verfassung und in Art. 78 der Verfassung des Landes Hessen) ist die Wahlprüfung im Land Berlin lediglich einfachgesetzlich geregelt (§§ 40 ff VerfGHG). Die Verfassung von Berlin enthält mithin keine Vorschrift, nach der die Beachtung der für Wahlen zum Abgeordnetenhaus von Berlin und zu den Bezirksverordnetenversammlungen geltenden Vorschriften durch die Wahlorgane einer verfassungsgerichtlichen Prüfung im Rahmen eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens entzogen ist oder die das Wahlprüfungsverfahren unter dem Gesichtspunkt der Spezialität den Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde ausschließt. Der außerordentliche Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde ist, soweit es um die Verletzung subjektiver, in der Verfassung enthaltener Rechte geht, umfassend in Art. 84 Abs. 2 Nr. 5 VvB gewährleistet. Allein mit dem Hinweis auf den besonderen Rechtscharakter von Wahlen und die Notwendigkeit, einen reibungslosen Ablauf des Wahlverfahrens sicherzustellen, läßt sich eine Exklusivität des Wahlprüfungsverfahrens LVerfGE 11
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und ein Ausschluß von Verfassungsbeschwerden, mit denen — wie vorliegend — eine Verletzung des subjektiven Wahlrechts geltend gemacht wird, nicht rechtfertigen (eine Einschränkung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens mit Blick auf die Natur des Beschwerdegegenstandes ablehnend: SachsVerfGH, Beschl. v. 24.1.1997 - Vf 15-IV-96 - LVerfGE 6, 244, 248f unter Hinweis auf BVerfGE 34, 81, 95). Gegen die Annahme, die Vorschriften über die Wahlprüfung in den §§ 40 ff VerfGHG stellten eine gegenüber dem Verfassungsbeschwerdeverfahren abschließende Sonderregelung dar, spricht der überwiegend objektive Charakter des Wahlprüfungsverfahrens. Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs dient das Wahlprüfungsverfahren — ebenso wie im Bund — dem Schutz des objektiven Wahlrechts; es ist dazu bestimmt, die richtige Zusammensetzung des Parlaments zu gewährleisten (vgl. zuletzt Beschl. v. 20.12.1999 -VerfGH 102/99-NVwZ-RR 2000,193,194). Gegenstand der Wahlprüfung ist nicht die Verletzung subjektiver Rechte, sondern die Gültigkeit der Wahl als solche. Der einzelne Wahlberechtigte hat dementsprechend, soweit ihm nicht ausdrücklich ein Einspruchsrecht nach § 40 Abs. 3 VerfGHG eingeräumt ist, keine Möglichkeit, den Verfassungsgerichtshof wegen der Verletzung seines subjektiven Wahlrechts anzurufen. Eine derartige Möglichkeit ist ihm allein im Verfassungsbeschwerdeverfahren eröffnet. Sowohl nach Ziel und Zweck als auch vom Anwendungsbereich her unterscheiden sich mithin Wahlprüfung und Verfassungsbeschwerde. Der Ausschluß des Individualrechtsschutzes im Wahlprüfungsverfahren läßt es nicht gerechtfertigt erscheinen, von einer grundsätzlichen Spezialität der Wahlprüfung auszugehen und den verfassungsrechtlich verankerten Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde für Fälle der vorliegenden Art, in denen es nicht um die Gültigkeit des festgestellten Wahlergebnisses und die richtige Zusammensetzung des Parlaments geht, als von vornherein unstatthaft anzusehen (vgl. zum Gesichtspunkt unterschiedlicher Prüfungsgegenstände StorostwO, § 48 Rn. 16 sowie bereits Beschl. v. 2.4.1996 - VerfGH 18/96 - LVerfGE 4, 34,37). Gegen ein derartiges Verständnis des Verhältnisses von Wahlprüfung und Verfassungsbeschwerde spricht vor allem die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Der Verfassungsgerichtshof hat bereits in seinem Beschluß vom 30.7.1998 (VerfGH 92/95 - LVerfGE 9, 23, 26 f) auf die vom Bundesverfassungsgericht für den Bereich der Wahlgleichheit betonte verfassungsrechtliche Verpflichtung des Landesgesetzgebers hingewiesen, auch das Recht der Wahlberechtigten bei den Wahlen auf Landesebene durch ein Verfahren zur gerichtlichen Uberprüfung entsprechender Zweifel zu schützen (vgl. BVerfGE 85,148,158). In seinem Beschluß vom 16.7.1998 (2 BvR 1953/95 - BVerfGE 99,1 = NJW 1999, 43) hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts weitergehend zum Schutz des subjektiven Wahlrechts bei Wahlen in den Ländern Stellung genommen. Danach sind die Länder — unter objektivrechtlicher Bindung an die Homogenitätsanforderungen des Art. 28 Abs. 1 GG — für den subjektivrechtlichen Schutz des Wahlrechts zu den Volksvertretungen in ihrem jeweiligen Verfassungsraum allein zuständig (BVerfGE 99, 1,17). Hinsichtlich des den Bürgern zur Verteidigung ihres LVerfGE 11
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subjektiven Wahlrechts bei Wahlen in den Ländern zur Verfügung stehenden Rechtswegs verweist das Bundesverfassungsgericht zum einen auf das in allen Ländern vorgesehene Wahlprüfungsverfahren. Zum anderen geht es davon aus, daß „zusätzlich" die meisten Länder, d.h. die Länder, die einen subjektiven verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz kennen, wegen der Verletzung des subjektiven Wahlrechts bei Wahlen zu ihren Volksvertretungen eine Verfassungsbeschwerde, Grundrechts- oder Popularklage eröffnen (BVerfGE 99,1,18). Der nachfolgende Hinweis, daß zukünftig auch die Landesverfassungsgerichte derjenigen Länder eine Verfassungsbeschwerde als zulässig anzusehen haben, die — wie etwa das Saarland — die Möglichkeit zur Anrufung des Landesverfassungsgerichts von der Zulässigkeit der Einlegung einer Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht abhängig machen, läßt sich nur dahingehend verstehen, daß das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich von der Zulässigkeit einer landesverfassungsrechtlich eröffneten Verfassungsbeschwerde ausgeht (vgl. Lang Zur Effizienz des Rechtsschutzes in getrennten Verfassungsräumen, DOV 1999, 712, 717, der von einer Verpflichtung der Landesverfassungsgerichte spricht, zum Schutz des subjektiven Wahlrechts eine Verfassungsbeschwerde als zulässig anzusehen; weitere Besprechungen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts finden sich bei Sachs JuS 2000, 79; Len^ NJW 1999, 34; Tiet/e]v& 1999, 957; Breuer Έ>χγ\ΓΒΑ. 1999, 210;/»Ä^'NJ 1998, 640). Auf das im Mittelpunkt der Entscheidung stehende Recht auf Wahlgleichheit wird man die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts nicht beschränken können. Der Zweite Senat hebt vielmehr allgemein die Bedeutung des subjektiven Wahlrechts hervor (BVerfGE 99, 1, 1 unter Hinweis auf BVerfGE 1,14, 33); dies spricht gegen die Annahme eines die Verfassungsbeschwerde verdrängenden Vorrangs der landesrechtlichen Wahlprüfung. Die vorliegende Verfassungsbeschwerde kann mithin nicht von vornherein als unstatthaft angesehen werden. Fraglich könnte lediglich sein, ob sich die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts nur auf Verfassungsbeschwerden im Vorfeld der Wahl oder auch auf nachträglich, d. h. — wie vorliegend — nach Ablauf des Wahlakts, erhobene Verfassungsbeschwerden beziehen (vgl. die von Lang DOV 1999, 712, 717 aufgeworfene Fragestellung). Die damit angesprochenen Probleme betreffen jedoch nicht das Verhältnis von Wahlprüfung und Verfassungsbeschwerde und die Frage einer grundsätzlichen Statthaftigkeit der Verfassungsbeschwerde, sondern sind im Rahmen der sonstigen Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Verfassungsbeschwerde — insbesondere beim Rechtsschutzbedürfnis - zu klären. 2. Die statthafte Verfassungsbeschwerde ist jedoch aus anderen Gründen nicht zulässig. Nach § 49 Abs. 1 VerfGHG kann jedermann mit der Behauptung, durch die öffentliche Gewalt des Landes Berlin in einem seiner in der Verfassung von Berlin enthaltenen Rechte verletzt zu sein, die Verfassungsbeschwerde zum Verfassungsgerichtshof erheben. In der Begründung der Beschwerde sind das Recht, das verletzt sein soll, und die Handlung oder Unterlassung des Organs oder der Behörde, durch die der LVerfGE 11
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Beschwerdeführer sich verletzt fühlt, zu bezeichnen (§ 50 VerfGHG). Das Merkmal „bezeichnen" in § 50 VerfGHG verlangt für die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde, daß hinreichend deutlich die Möglichkeit einer Verletzung eines dem Beschwerdeführer von der Verfassung von Berlin verbürgten Grundrechts durch einen Akt der öffentlichen Gewalt des Landes Berlin vorgetragen wird (Beschl. v. 11.1.1995 — VerfGH 81/94 — LVerfGE 3, 3, 5 f; st. Rspr.). Die Geltendmachung einer Verletzung in eigenen Rechten schließt dabei die Darlegung ein, durch die angegriffene Maßnahme selbst und aktuell in einer verfassungsrechtlich geschützten Rechtsposition beeinträchtigt zu sein (vgl. zum Bundesrecht BVerfGE 53, 30, 48). a) Soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 15 Abs. 4 und Art. 11 S. 1 VvB rügt, genügt sein Vorbringen nicht den dargelegten Anforderungen. Allein die Aufzählung einzelner, in der Verfassung enthaltener Vorschriften reicht für die von §§ 49 Abs. 1, 50 VerfGHG vorausgesetzte Darlegung einer möglichen Rechtsverletzung nicht aus. In der Begründung seiner Verfassungsbeschwerde bezieht sich der Beschwerdeführer allein auf Art. 39 Abs. 1 VvB; hinsichtlich der übrigen als verletzt gerügten Grundrechte hat er weiteren Vortrag zwar angekündigt, aber nicht eingereicht. Insofern ist seine Verfassungsbeschwerde bereits mangels hinreichender Substantiierung unzulässig. Mit der Berufung auf Art. 39 Abs. 1 VvB (sowie — bezogen auf die Wahlen zu den Bezirksverordnetenversammlungen — Art. 70 Abs. 1 S. 1 VvB) rügt der Beschwerdeführer zwar substantiiert eine Verletzung einer subjektiven Rechtsposition. Die in Art. 39 Abs. 1 und Art. 70 Abs. 1 S. 1 VvB enthaltenen Wahlrechtsgrundsätze sind nicht nur Vorschriften des objektiven Verfassungsrechts, aus ihnen ergeben sich auch subjektive Rechte der Wahlberechtigten, die der einzelne Wähler mit der Verfassungsbeschwerde verfolgen kann (vgl. zum Grundsatz der geheimen Wahl Beschl. v. 20.12.1999 - VerfGH 102/99 - NVwZ-RR 2000,193,194). b) Es fehlt jedoch an einem mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Akt der öffentlichen Gewalt, durch den der Beschwerdeführer in einer ein gegenwärtiges Rechtsschutzbedürfnis begründenden Weise betroffen ist. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer in erster Linie eine Rechtsverletzung durch die am 10. Oktober 1999 abgehaltenen Wahlen und bezieht sich zur Begründung ausdrücklich auf verschiedene Maßnahmen von Trägern öffentlicher Gewalt, wie des Senats von Berlin, der Landesbeaufttagten des Senats für Behinderte und des Regierenden Bürgermeisters. Aufgrund dieser „Entscheidungen" seien bei den letzten Wahlen zum Abgeordnetenhaus von Berlin und zu den Bezirksverordnetenversammlungen keine Wahlschablonen zur Verfügung gestellt worden. Auch wenn der Begriff der „öffentlichen Gewalt" in § 49 Abs. 1 VerfGHG umfassend zu verstehen ist (vgl. zum Bundesrecht Kley/Rühmann in: Umbach/Clemens, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1992, § 90 Rn. 29), scheiden die vom Beschwerdeführer angeführten behördlichen Vorgänge als mit der Verfassungsbeschwerde angreifbare LVerfGE 11
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Hoheitsakte aus. Weder die Antwort des Senats von Berlin auf die Kleine Anfrage Nr. 5171 noch das Schreiben des Regierenden Bürgermeisters sind direkt an den Beschwerdeführer gerichtet. Sie enthalten ebensowenig wie das Schreiben der Landesbeauftragten eine materielle Entscheidung über das Anliegen des Beschwerdeführers. Dafür fehlt es bereits an der Zuständigkeit. Nach § 6 LWahlO liegt die Verantwortung für die Vorbereitung und Durchführung der Wahlen in Berlin beim Landeswahlleiter. Dieser ist in seiner Eigenschaft als Wahlorgan (§ 3 Abs. 1 Buchstabe a LWahlO) unabhängig und Einzelweisungen nicht unterworfen (§ 4 Abs. 9 S. 1 LWahlO). Nach § 49 Abs. 1 LWahlO ist er für die Gestaltung der Stimmzettel verantwortlich. Die vom Beschwerdeführer eingereichten Schreiben geben mithin nur die Gründe wieder, aus denen eine Bereitstellung von Wahlschablonen für die Wahlen am 10. Oktober 1999 nicht möglich gewesen sei; als unmittelbar gegen den Beschwerdeführer gerichtete Hoheitsakte kommen sie nicht in Betracht (vgl. allgemein zum notwendigen Inhalt mit der Verfassungsbeschwerde angreifbarer Hoheitsakte KJey/Riihmann aaO, § 90 Rn. 36 sowie BVerfGE 33,18, 20f). Eine das Begehren des Beschwerdeführers betreffende ausdrückliche Entscheidung des Landeswahlleiters läßt sich, jedenfalls bezogen auf die konkret beanstandete Wahl, dem Beschwerdevorbringen nicht entnehmen. Als beschwerdefähige Maßnahme der öffentlichen Gewalt des Landes Berlin käme insofern allenfalls die Gestaltung der Wahlhandlung als solche, d. h. die Art und Weise der Durchführung der Wahl und die Organisation der Stimmabgabe durch blinde Wähler in Betracht. Sieht man — wie oben dargelegt — das Verfassungsbeschwerdeverfahren zur Verteidigung des subjektiven Wahlrechts grundsätzlich als statthaft an, so erfaßt dies auch angebliche Rechtsverletzungen, die sich auf die eigentliche Wahlhandlung beziehen. Beschwerdegegenstand wäre dementsprechend die Organisation der Stimmabgabe und — als eine das Wahlverfahren sowie das subjektive Wahlrecht des Beschwerdeführers betreffende Maßnahme der öffentlichen Gewalt — die zumindest Inzident vom Landeswahlleiter getroffene Entscheidung, bei den Wahlen am 10. Oktober 1999 weder in amtlicher Eigenschaft noch, wie in der Vergangenheit geschehen, über den Allgemeinen Berliner Blindenund Sehbehindertenverein Wahlschablonen zur Verfügung zu stellen. Stellt man vorrangig auf ein entsprechendes Unterlassen und nicht auf eine die Art und Weise der Wahlhandlung betreffende Regelung des Landeswahlleiters ab, so könnte auch ein derartiges Unterlassen Gegenstand der Verfassungsbeschwerde sein (vgl. § 50 VerfGHG). Ob das Beschwerdevorbringen im vorliegenden Fall entsprechend auszulegen ist, kann offenbleiben. Denn die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde ist jedenfalls aus anderen Gründen zu verneinen. Soweit der Beschwerdeführer mit seiner Verfassungsbeschwerde begehrt, den Gesetzgeber zu verpflichten, für künftige Wahlen organisatorische Möglichkeiten zu schaffen, die es blinden und stark sehbehinderten Wählern ermöglichen, ihre Stimme unter Wahrung des Grundsatzes der Geheimheit abzugeben, ist diese unzulässig, da eine solche Verpflichtung im Verfassungsbeschwerdeverfahren nicht ausgesprochen LVerfGE 11
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werden kann. § 54 Abs. 2 bis 4 VerfGHG erlaubt nur feststellende oder kassatorische Entscheidungen, gibt dem Verfassungsgerichtshof aber keine Befugnis, Verpflichtungsaussprüche zu treffen (vgl. Besch! v. 20.8.1997 - VerfGH 101/96 - LVerfGE 7, 3,7). Die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde scheitert im übrigen am fehlenden Rechts schutzbedürfnis. Da es sich bei der Verfassungsbeschwerde um einen außerordentlichen Rechtsbehelf zum Schutz subjektiver Rechte handelt, setzt ihre Zulässigkeit ebenso wie bei anderen subjektiven Rechtsschutzverfahren ein allgemeines Rechtsschutzinteresse voraus. Gesonderter Feststellung bedarf das Rechtsschutzbedürfnis vor allem dann, wenn Gerichtsschutz gegen erledigtes staatliches Handeln in Anspruch genommen wird (Scbmidt-Aßmann in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 19 Abs. 4 Rn. 245). Damit setzt auch die vom Beschwerdeführer begehrte Feststellung, durch die bereits in der Vergangenheit liegenden Wahlen in seinen Rechten verletzt zu sein, ein entsprechendes Rechtsschutzbedürfnis voraus (vgl. BVerfGE 81, 138, 140). Mit Blick auf die vom Bundesverfassungsgericht verwendete Formel, der Beschwerdeführer müsse vortragen, „selbst, gegenwärtig und unmittelbar" in seinen Rechten betroffen zu sein (vgl. BVerfGE 53, 30, 48; 72, 1, 5), geht es mithin um die Frage, ob der Beschwerdeführer geltend machen kann, noch oder bezogen auf künftige Wahlen schon gegenwärtig in seinem subjektiven Wahlrecht betroffen zu sein. Für die Fälle, in denen sich das mit der Verfassungsbeschwerde verfolgte Begehren vor einer Entscheidung erledigt hat, hat das Bundesverfassungsgericht die entscheidenden Kriterien für das Fortbestehen eines Rechtsschutzbedürfnisses zum einen darin gesehen, daß andernfalls die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung unterbliebe und der gerügte Grundrechtseingriff besonders belastend erscheint, zum anderen darin, daß eine Wiederholung der angegriffenen Maßnahme zu besorgen ist oder daß die aufgehobene oder gegenstandslos gewordene Maßnahme den Beschwerdeführer noch weiterhin beeinträchtigt (vgl. BVerfGE 69, 161, 168; 81,138,140; 91,125, 133; jeweils mwN; vgl. auch die Darstellung der Rechtsprechung bei Schmidt-Bleibtreu in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Stand: Febr. 1999, § 90 Rn. 184). Die genannten Kriterien hat das Bundesverfassungsgericht auch im Bereich des Wahlrechts angewandt (vgl. zur Wiederholungsgefahr BVerfGE 69, 257, 266; zu unmittelbar gegen gesetzliche Regelungen im Bereich des Wahlrechts gerichteten Verfassungsbeschwerden Beschl. v. 15.8.1995 - 2 BvR 2883/93 - NJ 1996,25,26). (1) Bei Anlegung dieser Maßstäbe erscheint der letztgenannte Gesichtspunkt — eine noch fortwährende Beeinträchtigung des Beschwerdeführers durch die zurückliegenden Wahlen — ausgeschlossen. Der Beschwerdeführer bezieht sich insoweit zwar auf die noch laufende Legislaturperiode; die Tatsache, daß das am 10. Oktober 1999 gewählte Abgeordnetenhaus bzw. die gleichzeitig gewählten BezirksverordnetenverLVerfGE 11
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Sammlungen ihre Aufgaben ohne die demokratische Legitimation des Beschwerdeführers wahrnehmen, ist jedoch nicht geeignet, eine fortwirkende Beeinträchtigung seines subjektiven Wahlrechts zu begründen. Auch wenn der Beschwerdeführer die Möglichkeit gehabt hätte, seine Stimme mittels einer Wahlschablone geheim abzugeben, hätte dies an der Zusammensetzung der Volksvertretungen nichts geändert. (2) Eine ein fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis begründende Wiederholungsgefahr ist zu verneinen. Der Beschwerdeführer trägt insoweit lediglich vor, daß eine erneute NichtVorhaltung von Wahlschablonen bei künftigen Wahlen im Land Berlin jedenfalls nicht ausgeschlossen sei. Dies mag zwar zutreffen, doch reicht das Beschwerdevorbringen für die Besorgnis einer Wiederholung der angegriffenen Maßnahme nicht aus. Aus den vom Beschwerdeführer eingereichten Anlagen ergibt sich, daß das Problem einer geheimen Stimmabgabe für blinde und stark sehbehinderte Wahlberechtigte und die Frage einer Bereitstellung von Wahlschablonen seit längerem bekannt ist (vgl. auch Schreiber aaO, § 33 Rn. 4). Die Zurverfügungstellung von Stimmzettelschablonen war in der Vergangenheit bereits Gegenstand von Erörterungen zwischen den Wahlbehörden und Wahlleitern auf Bundes- und Landesebene. Obwohl, anders als bei bundesweiten Wahlen, für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus von Berlin und zu den Bezirksverordnetenversammlungen weitaus mehr unterschiedliche Stimmzettel erforderlich sind, hat sich die Senatsverwaltung für Inneres, der die Aufsicht über die Wahlen obliegt (§ 1 LWahlO), bereits 1997 für den Einsatz von Wahlschablonen ausgesprochen. Daß dies bei den Wahlen am 10. Oktober 1999 nicht möglich war, ist von amtlicher Seite ausdrücklich bedauert und mit „derzeit" bestehenden technischen Schwierigkeiten begründet worden, die eine rechtzeitige Auslieferung der Wahlschablonen verhindert hätten. Bei dieser Sachlage läßt sich nicht übersehen, ob bei den nächsten Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen, die erst in vier Jahren stattfinden (vgl. § 7 Abs. 1 LWahlG), die Ausgabe von Wahlschablonen erneut abgelehnt und vergleichbare Schwierigkeiten bei der technischen Herstellung und Auslieferung angeführt werden. Ebensowenig läßt sich absehen, ob die vom Beschwerdeführer mittelbar angegriffene Vorschrift des § 52 Abs. 4 LWahlO über die Stimmabgabe mit Hilfe einer Vertrauensperson bei den kommenden Wahlen unverändert in Kraft sein wird (vgl. zu diesem Aspekt BVerfGE 72, 1, 7; BVerfG, NJ 1996, 25, 26). Auch wenn sich dies nicht völlig ausschließen läßt, sprechen die vorgenannten Gesichtspunkte gegen die Annahme einer hinreichend konkreten Wiederholungsgefahr, die trotz des bereits in der Vergangenheit liegenden Wahlaktes ausnahmsweise ein fortbestehendes schutzwürdiges Interesse des Beschwerdeführers an der Feststellung einer Grundrechtsverletzung zum jetzigen Zeitpunkt rechtfertigen könnte. (3) Auch bei fehlender Wiederholungsgefahr und ohne Rücksicht auf eine fortwirkende Beeinträchtigung kann das Rechtsschutzbedürfnis — wie ausgeführt — nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dann fortbestehen, wenn andernLVerfGE 11
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falls die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung unterbliebe und der gerügte Grundrechtseingriff besonders belastend, tiefgreifend oder folgenschwer erscheint (vgl. BVerfG, NJ 1996, 25, 26 mwN). Daß eine verfassungsgerichtliche Klärung des Anliegens des Beschwerdeführers angesichts der seit Jahren laufenden Diskussion grundsätzliche Bedeutung hätte, läßt sich nicht von der Hand weisen. Bei dem Beschwerdeführer liegt jedoch kein besonders belastender, tiefgreifender oder folgenschwerer Grundrechtseingriff vor (vgl. zu den insoweit vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fällen die Nachweise bei Schmidt-Bleibtreu aaO, § 90 Rn. 184). Die Wahlrechtsgrundsätze in Art. 39 Abs. 1 und Art. 70 Abs. 1 S. 1 VvB stellen zwar eine wichtige Ausprägung des Demokratieprinzips dar (vgl. zum Bundesrecht Jarass/Pieroth Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl. 1997, Art. 38 Rn. 1), und die Bedeutung des subjektiven — aktiven und passiven Wahlrechts — ist vom Bundesverfassungsgericht in seiner neueren Rechtsprechung hervorgehoben worden (BVerfGE 99, 1,19), dennoch ist der Beschwerdeführer durch die im vergangenen Jahr durchgeführten Wahlen nicht in besonders belastender, tiefgreifender oder folgenschwerer Weise betroffen worden. Durch die in § 52 Abs. 4 LWahlO vorgesehene Möglichkeit der Stimmabgabe mit Hilfe einer Vertrauensperson konnte er von seinem Wahlrecht Gebrauch machen, darüber hinaus ist ihm von amtlicher Seite eine Möglichkeit aufgezeigt worden, seine Wahlentscheidung ohne fremde Hilfe geheim zu treffen (Kennzeichnung der Stimmzettel mit dem Kürzel der von ihm gewählten Partei). Er ist damit nicht vollständig von der Ausübung seines aktiven Wahlrechts, nicht einmal von seinem Recht auf geheime Stimmabgabe ausgeschlossen worden. Daß der Beschwerdeführer sein Recht auf geheime Wahl nur bei Bereitstellung von Wahlschablonen oder mit Blindenschrift ausgestatteten Wahlmaschinen gewährleistet sieht, reicht für die Annahme eines besonders belastenden Grundrechtseingriffs nicht aus. Mit den vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fällen, in denen es insbesondere um Eingriffe in die persönliche Freiheit, die Berufsausübung oder das Versammlungsrecht ging, ist der vorliegende Fall nicht vergleichbar. Abgesehen davon erscheint es durchaus fraglich, ob eher objektive Gesichtspunkte wie die grundsätzliche Bedeutung der aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Frage und die Bedeutsamkeit des Grundrechts überhaupt im Rahmen des subjektiven Rechtsschutzverfahrens der Verfassungsbeschwerde Anwendung finden und zu einer Bejahung des dem subjektiven Rechtsschutz dienenden fortbestehenden Rechtsschutzbedürfnisses führen können (vgl. zur Kritik an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Kley/Rühmann aaO, § 90 Rn. 67 f). (4) Soweit das Bundesverfassungsgericht über die genannten Kriterien hinaus ein Rechtsschutzbedürfnis bejaht hat, wenn die belastende Maßnahme sich auf eine Zeitspanne beschränkt, in der der Betroffene nach dem regelmäßigen Geschäftsgang eine Entscheidung des Gerichts nicht erlangen kann, der Grundrechtsschutz daher bei Ablehnung eines fortbestehenden Rechtsschutzbedürfnisses in unzumutbarer Weise verkürzt LVerfGE 11
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würde (vgl. zur Ausstrahlung von Wahlwerbespots BVerfGE 69, 257, 266 f mwN; weitere Rechtsprechungsnachweise bei Kky/Rähmann aaO, § 90 Rn. 66), ist dies auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar. Der Beschwerdeführer hat erst nach Ablauf der Wahlen, hinsichtlich der er die Feststellung einer Verletzung seines subjektiven Wahlrechts begehrt, Verfassungsbeschwerde erhoben. Der Gesichtspunkt, daß er nach dem regelmäßigen Geschäftsgang eine Entscheidung des Gerichts kaum erlangen konnte und den dadurch bedingten Zeitablauf nicht zu vertreten hat, kann daher keine Rolle spielen. Zudem hat das Bundesverfassungsgericht auch in diesem Zusammenhang auf besonders tiefgreifende und folgenschwere Grundrechtsverstöße abgestellt (vgl. BVerfGE 81,138, 140 f), die hier — wie dargelegt — nicht vorliegen (kritisch zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch insoweit Kley/Riihmann aaO, § 90 Rn. 67). 3. Angesichts der Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde ist auf die Frage ihrer Begründetheit nicht mehr einzugehen. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG. Dieser Beschluß ist unanfechtbar.
Nr. 6 Bei der Entscheidung über die Zulässigkeit und Begründetheit eines auf § 2 MHG gestützten Mieterhöhungsverlangens haben die Fachgerichte sowohl den im Gesetz verankerten Mieterschutz als auch den sich aus der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie ergebenden Anspruch des Vermieters auf gerichtliche Durchsetzung der gesetzlich zulässigen Miete zu berücksichtigen. Soweit bereits bei der Bewilligung öffentlicher Fördermittel eine Begrenzung der Miethöhe vereinbart ist, die die Bezuschussung der Modernisierungsarbeiten zugunsten des Mieters berücksichtigt, darf der Ansatz von Kürzungsbeträgen nach § 2 Abs. 1 S. 2 MHG im Einzelfall nicht zu einer doppelten Belastung des Vermieters führen.* VvB Art. 23 Abs. 1 MHG § 2 Abs. 1 Satz 2 Beschluß vom 23. November 2000 - VerfGH 72/00 in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Herrn Dr. M. * Nichtamtlicher Leitsatz.
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Verfahrensbevollmächtigter: Rechtsanwalt K. gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 20. April 2000 - 61 S 323/99 Beteiligte gem. § 53 Abs. 1 und 2 VerfGHG: 1. Der Präsident des Landgerichts Berlin, Tegeler Weg 17-21,10589 Berlin 2. Herr B. Entscheidungsformel: Das Urteil des Landgerichts Berlin vom 20. April 2000 - 61 S 323/99 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 23 Abs. 1 S. 1 VvB. Es wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Berlin zurückverwiesen. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei. Das Land Berlin hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten. Gründe: I. 1. Der Beschwerdeführer ist Eigentümer eines in Berlin-Charlottenburg gelegenen Hausgrundstücks. Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet er sich gegen ein Urteil des LG Berlin, mit dem seine Klage auf Zustimmung zur Mietzinserhöhung nach § 2 des Gesetzes zur Regelung der Miethöhe (MHG) abgewiesen worden ist. Das vom Beschwerdeführer 1980 erworbene Haus wurde aufgrund eines am 29./30. November 1984 mit der Wohnungsbau-Kreditanstalt (WBK) - jetzt: Investitionsbank Berlin (IBB) — geschlossenen Modernisierungsvertrages nach dem Landesmodernisierungsprogramm umfassend modernisiert und instandgesetzt. Zur Finanzierung der Baumaßnahmen, die Ende 1985 abgeschlossen waren, erhielt der Beschwerdeführer öffentliche Fördermittel u. a. in Form eines Baukostenzuschusses sowie sog. Vorauszahlungsmittel. Der Beschwerdeführer verpflichtete sich dafür im Modernisierungsvertrag, während der Dauer des auf 20 Jahre nach mittlerer Bezugsfertigkeit abgeschlossenen Vertrages keine höheren Mieten zu fordern, sich versprechen zu lassen oder anzunehmen als im Vertrag vereinbart. In § 7 Abs. 5 und 6 des Vertrages wird insoweit auf die Mehrertragsberechnung verwiesen, die sowohl Angaben über die Einstiegsmiete als auch die Durchschnittsmiete nach Modernisierung — ohne Berücksichtigung der dem Beschwerdeführer von der WBK erstatteten Aufwendungszuschüsse — enthält. Für die Zeit der gesetzlichen Mietpreisbindung durfte der Beschwerdeführer daneben zulässige Grundmietenerhöhungen und BetriebskostenzuLVerfGE 11
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Schläge verlangen. Mit Aufhebung des Altbaumietpreisrechts sollte er zur Vornahme von Kapital- und Betriebskostenerhöhungen gem. §§ 4 und 5 MHG berechtigt sein. Der Beteiligte zu 2. war zunächst von Juni 1978 bis Ende Juli 1984 Mieter einer im ersten Geschoß jenes Hauses gelegenen Einzimmerwohnung. Mit Räumungsvereinbarung vom 22./31. Juli 1984 wurde dieses Mietverhältnis im gegenseitigen Einvernehmen gelöst, dem Beteiligten zu 2. während der Dauer der Modernisierungs- und Instandsetzungsarbeiten eine „Zwischenumsetzwohnung" zur Verfügung gestellt und ein Vorvertrag über die nunmehr von ihm bewohnte Dreizimmerwohnung im dritten Obergeschoß des Hauses mit einer Wohnfläche von 86,16 qm vereinbart. Der entsprechende Mietvertrag wurde nach Abschluß der Bauarbeiten am 24. Februar 1986 mit Wirkung zum 1. März 1986 geschlossen. Auf der Grundlage der nach dem Modernisierungsvertrag zulässigen Einstiegsmiete von 4,00 DM pro qm und einer Grundmietenerhöhung von 4 % zum 1. Januar 1986 betrug der Mietzins ohne Berücksichtigung des Vorschusses für Warmwasserbereitung 351,99 DM monatlich. Anfang 1996 — zehn Jahre nach mittlerer Bezugsfertigkeit (1. Januar 1986) — entschied die zuständige Senatsverwaltung, daß die dem Beschwerdeführer im Rahmen des Landesmodernisierungsprogramms gewährten Vorauszahlungsmittel zurückzuzahlen seien (§ 4 Abs. 4 S. 2 des Modernisierungs Vertrages). Die mit der IBB am 20. Juni/3. August 1996 geschlossene Rückzahlungsvereinbarung sah die Rückzahlung eines einmaligen (Teil-)Betrages mit Bonus vor, der in Form eines Schuldnachlasses gewährt wurde. In der Vereinbarung mit der IBB wurde dem Beschwerdeführer gestattet, nach Ablauf des Bindungszeitraums des Modernisierungsvertrages die Mieterhöhungsmöglichkeiten des § 2 MHG auszuschöpfen. Im Bindungszeitraum sollte er berechtigt sein, Mieterhöhungen nach § 2 MHG unter Berücksichtigung des § 7 Abs. 6 des Modernisierungsvertrages zu verlangen. Mit Schreiben vom 19. Oktober 1998 forderte der Beschwerdeführer nach § 2 MHG vom Beteiligten zu 2. die Zustimmung zur Erhöhung des Mietzinses von 569,84 DM brutto kalt um monatlich 162,16 DM auf 732,00 DM zuzüglich eines unveränderten Vorschusses für Heiz- und Warmwasserkosten von 30,00 DM monatlich. Zur Begründung bezog sich der Beschwerdeführer in dem formularmäßigen Mieterhöhungsverlangen auf die für entsprechenden Wohnraum nach dem Berliner Mietspiegel 1998 ortsübliche Vergleichsmiete. In einer dem Anschreiben als Anlage beigefügten Erklärung zur Mietberechnung legte der Beschwerdeführer die zum 1. Oktober 1998 anfallenden Betriebskostenerhöhungen sowie die ihm nach Ablösung der Vorauszahlungsmittel durch Kreditaufnahme entstehenden Kapitalkosten dar, die anteilig auf die Miete umgelegt werden könnten. Da der Beteiligte zu 2. der Mieterhöhung nicht zustimmte, erhob der Beschwerdeführer am 24. Februar 1999 Klage beim Amtsgericht Charlottenburg auf Zustimmung zur Mietzinserhöhung. Der Beteiligte zu 2. trat dem Klageanspruch erstinstanzlich insbesondere mit dem Hinweis auf die Regelung in § 2 Abs. 1 S. 2 MHG entgegen. Da der Beschwerdeführer für die durchgeführten Modernisierungs- und InstandsetzungsLVerfGE 11
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arbeiten öffentliche Fördermittel erhalten habe, sei eine Mieterhöhung nach § 2 MHG nur bei Berücksichtigung entsprechender Kürzungsbeträge zulässig, die der Beschwerdeführer nicht angesetzt habe. Mit Urteil vom 5. Mai 1999 gab das Amtsgericht Charlottenburg - 7 C 116/99 - der Klage in vollem Umfang statt, da die Vorschrift des § 2 Abs. 1 S. 2 MHG mit Blick auf den erst nach Abschluß der Modernisierungsarbeiten abgeschlossenen Mietvertrag nicht anwendbar sei. Der vom Beschwerdeführer verlangte Mietzins entspreche demjenigen vergleichbaren Wohnraums. Der Beteiligte zu 2. legte gegen dieses Urteil Berufung ein und verwies auf die noch laufende Bindungsfrist des Modernisierungsvertrages. Während der Bindungsfrist sei es dem Beschwerdeführer verwehrt, ein Mieterhöhungsverlangen nach § 2 MHG allein auf die nach dem Mietspiegel ortsübliche Vergleichsmiete zu stützen; ein Zusammenhang mit Zins- und Tilgungsleistungen sei der Mieterhöhung nicht zu entnehmen. Der Beschwerdeführer vertrat demgegenüber unter Hinweis auf eine Entscheidung des LG Berlin die Ansicht, die Regelung des § 2 Abs. 1 S. 2 MHG über den Abzug von Kürzungsbeträgen sei nicht anwendbar. Ein derartiger Abzug sei schon deshalb nicht möglich, weil eine einheitliche Baumaßnahme öffentlich gefördert worden sei, zwischen Zuschüssen zur Modernisierung und Zuschüssen zur Instandsetzung sei insofern nicht unterschieden worden. Die Kürzungsbeträge seien bereits in vollem Umfang in der durch den Modernisierungsvertrag festgelegten Mietbegrenzung berücksichtigt. Der geforderte Mietzins liege eindeutig unterhalb der nach dem Modernisierungsvertrag zulässigen Miete. Mit Urteil vom 20. April 2000 änderte das LG die erstinstanzliche Entscheidung und wies die Klage ab. In den Entscheidungsgründen wird ausgeführt, daß entgegen der im amtsgerichtlichen Urteil vertretenen Auffassung das Verlangen auf Zustimmung zur Mietzinserhöhung vom 19. Oktober 1998 nicht gerechtfertigt sei. Da nach § 2 Abs. 1 S. 2 iVm § 3 Abs. 1 S. 3 bis 7 MHG für Modernisierungsmaßnahmen gewährte öffentliche Fördermittel zu berücksichtigen seien, stehe dem Beschwerdeführer ein Anspruch auf Zustimmung unabhängig von den insoweit zu stellenden formalen Anforderungen nicht zu. Daß vorliegend eine Sachverhaltskonstellation gegeben sei, die die vom Gesetzgeber vorgeschriebene Vorgehensweise aufgrund ihrer Atypik obsolet mache, sei nach dem Vorbringen des Beschwerdeführers nicht ersichtlich. Er habe nicht vorgetragen, daß dem Beteiligten zu 2. die gewährte Förderung, insbesondere in Form des Verzichtsbetrages bei der Mietzinsbildung, in solcher Weise zugute gekommen sei, daß die mit § 2 MHG bezweckte Förderung des Mieters gewährleistet sei. Verhalte es sich aber so, sei nicht davon auszugehen, daß der Regelungsmechanismus des Modernisierungsvertrages außer Kraft gesetzt sei und dem Beschwerdeführer die Erhöhungsmöglichkeit des § 2 MHG uneingeschränkt zur Verfügung stehen müsse. Die im Modernisierungsvertrag vorgesehenen abgestuften Erhöhungsmöglichkeiten seien als Bestandteil der Weitergabe der öffentlichen Förderung anzusehen. Da der Beschwerdeführer diese Erhöhungsmöglichkeiten nicht umgesetzt habe, stelle sich LVerfGE 11
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die nunmehr angestrebte Erhöhung gem. § 2 MHG als eine Mietzinssteigerung dar, die außerhalb des konzipierten Förderungssystems stattfinden solle. Daß die nach § 2 MHG angestrebte Erhöhung ohne Einbeziehung der erhaltenen öffentlichen Förderung (Verzichtsbetrag) gleichwohl die im Modernisierungsvertrag zugunsten des Mieters konzipierte Förderung gewährleiste, habe der Beschwerdeführer nicht dargestellt. Die Tatsache, daß der Beteiligte zu 2. nach dem Vortrag des Beschwerdeführers geltend gemachte Mieterhöhungen wegen des Abbaus der Aufwendungszuschüsse und der Ablösung der Vorauszahlungsmittel nicht beachte, rechtfertige keine andere Betrachtungsweise. Soweit das Amtsgericht die Auffassung vertreten habe, eine Erhöhung nach § 2 MHG sei wegen der vor Mietbeginn vollständig abgeschlossenen Modernisierung ohne Abzug von Kürzungsbeträgen möglich, könne sich die Kammer dem wegen der noch laufenden Bindungsfrist des Modernisierungsvertrages nicht anschließen. Aus der vom Beschwerdeführer angeführten Entscheidung der 65. Kammer folge nichts anderes, da in dem dort zugrunde liegenden Sachverhalt die Bindungsfrist bereits abgelaufen gewesen sei. 2. Mit seiner gegen das Berufüngsurteil des LG Berlin gerichteten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 23, Art. 15 Abs. 1 und Abs. 5 S. 2 sowie Art. 10 Abs. 1 der Verfassung von Berlin (VvB). Die angegriffene Entscheidung verletze ihn in seinem Eigentumsgrundrecht, da sie überspannte Anforderungen an die Wirksamkeit des Mieterhöhungsverlangens stelle und ihn damit in der Nutzung seines Eigentums beeinträchtige. Der vom LG wegen der öffentlichen Förderung für erforderlich gehaltene Abzug von Kürzungsbeträgen im Rahmen eines Zustimmungsverlangens nach § 2 MHG sei vorliegend auf etwas Unmögliches gerichtet. Im Landesmodernisierungsprogramm sei eine Pauschalförderung einer gesamten Baumaßnahme vorgenommen worden, zu keiner Zeit sei nach Zuschüssen zur Modernisierung und Zuschüssen zur Instandsetzung unterschieden worden. Im konkreten Fall sei es daher unmöglich festzustellen, ob überhaupt und in welcher Höhe Zuschüsse zur Modernisierung gewährt worden seien. Dem Beschwerdeführer sei es infolge des Urteils verwehrt, normale Mietzinserhöhungen während der Laufzeit des Modernisierungsvertrages vorzunehmen, obwohl die geforderte Miete unterhalb des nach dem Vertrag vorgesehenen und zulässigen Mietzinses liege. Da die öffentlichen Zuschüsse, Zinsverbilligungen und Aufwendungszuschüsse nur insoweit als Vergünstigung in Bezug auf die durchgeführten Modernisierungsmaßnahmen anzusehen seien, als sie zu der vertraglich mit dem Land Berlin vereinbarten Miete geführt hätten, stelle jeder darüber hinausgehende Abzug eine gravierende Benachteiligung durch doppelte Berücksichtigung dar. Die Entscheidung des LG beruhe zudem auf einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, da wesentlicher Tatsachenvortrag des Beschwerdeführers nicht zur Kenntnis genommen worden sei. Mit den bereits im Berufungsverfahren vorgetraLVerfGE 11
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genen Hinweisen auf Art und Weise der öffentlichen Förderung und die insoweit atypischen Umstände der streitigen Mietzinserhöhung habe sich das LG in keiner Weise auseinandergesetzt. Der Beschwerdeführer vertritt darüber hinaus die Auffassung, das Urteil verstoße gegen Art. 15 Abs. 5 S. 2 VvB, weil das LG nach § 541 Abs. 1 ZPO zur Vorlage an das Kammergericht verpflichtet gewesen sei und diese Verpflichtung willkürlich außer acht gelassen habe. Die Frage einer Anwendung des § 2 Abs. 1 S. 2 MHG könne sich bei der Gewährung von Zuschüssen zur Modernisierung und Instandsetzung durch die WBK (IBB) jederzeit wiederholen und sei daher von allgemeiner Bedeutung. Mit Blick auf die bereits in der Berufungserwiderung zitierte abweichende Entscheidung der 65. Kammer des LG Berlin wäre das Gericht verpflichtet gewesen, einen Rechtsentscheid zu der Frage einzuholen, ob bei Mieterhöhungen nach § 2 MHG im Hinblick auf die öffentliche Förderung einer vorangegangenen Modernisierung Zuschüsse abzuziehen seien, wenn Gegenstand des Mietvertrages von vornherein eine modernisierte Wohnung sei. In der angegriffenen Entscheidung seien insofern künstlich Unterschiede im Sachverhalt konstruiert worden. Die Entscheidung sei damit unter keinem Gesichtspunkt rechtlich vertretbar und willkürlich. 3. Gem. § 53 Abs. 1 und 2 VerfGHG ist den Beteiligten zu 1. und 2. Gelegenheit gegeben worden, sich zu der Verfassungsbeschwerde zu äußern. a) Der Beteiligte zu 1. hat mitgeteilt, der Vorsitzende der Zivilkammer 61 habe sich dahingehend geäußert, daß die Klage nicht wegen formaler Mängel des Zustimmungsverlangens durch Prozeßurteil, sondern aus materiellen Gründen abgewiesen worden sei. Insofern habe die Kammer keine unzumutbaren formalen Anforderungen an das vorprozessuale Zustimmungsverlangen gestellt. Den Vortrag des Beschwerdeführers, zu einer Aufschlüsselung der auf die Modernisierung entfallenden Förderung nicht in der Lage zu sein, habe die Kammer zur Kenntnis genommen, aber nicht für geeignet gehalten, von den gesetzlichen Anforderungen des § 2 Abs. 1 S. 2 MHG abzusehen. Diese bestimmten sich nicht danach, in welcher Weise die WBK eine Modernisierung und Instandsetzung fördere oder eine solche Förderung mit dem Vermieter vereinbare. Die Bedenken der Kammer seien ebenso wie der Regelungsmechanismus des Modernisierungsvertrages in der Berufungsverhandlung mit den Parteien erörtert worden. Bei der Einholung eines Rechtsentscheids habe die Kammer bislang allein das Vorhandensein zweier landgerichtlicher Entscheidungen — ihre Divergenz im vorliegenden Fall unterstellt — nicht als ausreichend angesehen. Wegen der sich regelmäßig auf eine Vielzahl von Fällen erstreckenden Auswirkungen wohnungsmietrechtlicher Entscheidungen wäre ansonsten eine Vorlage an das Kammergericht quasi „in jedem zweiten Fall" erforderlich. b) Der Beteiligte zu 2. ist der Auffassung, daß dem Beschwerdeführer allein mit der ortsüblichen Vergleichsmiete begründete Mieterhöhungsverlangen durch die LVerfGE 11
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öffentliche Förderung verwehrt seien. Lediglich Verluste durch vorzeitige Rückzahlung öffentlicher Mittel könnten durch eine entsprechende Mieterhöhung ausgeglichen werden. Dies sei dann jedoch darzustellen und müsse sich eindeutig aus dem Zustimmungsverlangen ergeben, was vorliegend nicht der Fall sei. II. Die fristgerecht erhobene Verfassungsbeschwerde ist hinsichtlich der gerügten Verletzung des Rechts aus Art. 23 Abs. 1 S. 1 VvB zulässig und begründet. Auf die übrigen Rügen kommt es danach nicht mehr an. 1. Nach § 49 Abs. 1 VerfGHG kann jedermann mit der Behauptung, durch die öffentliche Gewalt des Landes Berlin in einem seiner in der Verfassung von Berlin enthaltenen Rechte verletzt zu sein, Verfassungsbeschwerde zum Verfassungsgerichtshof erheben. Soweit — wie hier — Gegenstand der Verfassungsbeschwerde auf Bundesrecht beruhende Entscheidungen der Berliner Gerichte sind, besteht die Prüfungsbefugnis des Verfassungsgerichtshofs in den Grenzen der Art. 141, 31 G G hinsichtlich solcher Grundrechte, die mit vom Grundgesetz verbürgten Grundrechten übereinstimmen (st. Rspr.; u.a. Beschl. v. 6.10.1998 - VerfGH 32/98 - NJW 1999, 47). Dies ist hinsichtlich des Eigentumsgrundrechts aus Art. 23 Abs. 1 S. 1 VvB im Verhältnis zu Art. 14 Abs. 1 S. 1 G G der Fall (vgl. Beschl. v. 13.8.1996 - VerfGH 63/94 - LVerfGE 5, 3,10). Insoweit wird auch eine Rechtsverletzung substantiiert vorgetragen. 2. Das angegriffene Urteil des L G Berlin verletzt den Beschwerdeführer in seinem durch Art. 23 Abs. 1 S. 1 VvB geschützten Recht auf Eigentum. a) Zu den verfassungsrechtlich geschützten Rechtspositionen, die das bürgerliche Recht einem privaten Rechtsträger zuordnet, gehört auch das Eigentum an Mietwohnungen (vgl. zum inhaltsgleichen Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG: BVerfGE 95, 64, 82). Dabei ist es Sache des Gesetzgebers, Inhalt und Schranken des verfassungsrechtlich geschützten Eigentums und damit die konkrete Reichweite der Eigentumsgarantie zu bestimmen (Art. 14 Abs. 1 S. 2 G G sowie Art. 23 Abs. 1 S. 2 VvB). Der verfassungsrechtliche Schutz einer Eigentumsposition reicht mithin nicht weiter als die mit ihr in zulässiger Weise verbundenen, gesetzlich definierten Befugnisse. Gesetzliche Mietpreisbindungen, wie sie sich im Bereich des Wohnraummietrechts aus den Vorschriften des Gesetzes zur Regelung der Miethöhe ergeben, schränken insoweit die grundsätzliche Freiheit des Eigentümers ein, sein Eigentum durch Vermietung wirtschaftlich zu nutzen. Sie bezwecken mit Blick auf die Sozialbindung des Eigentums und die hohe Bedeutung, die der Wohnung fur den Einzelnen und die Familie zukommt, einen angemessenen Ausgleich zwischen den Interessen von Vermietern und Mietern (vgl. zur Verfassungsmäßigkeit des MHG: BVerfGE 53, 352, 357; zur Vorgängerregelung BVerfGE 37,132,139ff). Die Gerichte, die mit einem im Klagewege geltend gemachten Anspruch des Vermieters auf Mietzinserhöhung befaßt sind, haben diese vom Gesetzgeber im grundLVerfGE 11
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rechtlichen Bereich vorgenommene Abwägung zwischen den Belangen des Mieters und denen des Vermieters bei der Anwendung und Auslegung der einschlägigen Vorschriften zu beachten (vgl. BVerfGE 53, 352, 357). Sie müssen die im Gesetz auf verfassungsmäßiger Grundlage zum Ausdruck gekommene Interessenabwägung nachvollziehen und der Zweckbestimmung der gesetzlichen Vorschriften Rechnung tragen. Bei der Entscheidung über die Zulässigkeit und Begründetheit eines auf § 2 MHG gestützten Mieterhöhungsverlangens haben die Fachgerichte mithin sowohl den im Gesetz bewußt verankerten Mieterschutz (vgl. BVerfGE 49,244,251) als auch den sich aus der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie ergebenden Anspruch des Vermieters auf gerichtliche Durchsetzung der gesetzlich zulässigen Miete zu berücksichtigen (vgl. BVerfGE 53,352,353; BVerfG, Beschl. v. 14.5.1986 - 1 BvR 494/85 - NJW 1987, 313 mwN). Die gesetzgeberische Abwägung der gegenseitigen Rechte und Pflichten darf dabei weder einseitig zu Lasten des Mieters noch zu Lasten des Vermieters verändert werden. Diesen Anforderungen wird die Entscheidung des LG nicht gerecht. b) Das LG hat die Klageabweisung maßgeblich auf die Vorschrift des § 2 Abs. 1 S. 2 MHG gestützt. Nach dieser Vorschrift sind bei einem Mieterhöhungsverlangen nach § 2 Abs. 1 MHG von dem Jahresbetrag des nach S. 1 Nr. 2 zulässigen Mietzinses die Kürzungsbeträge nach § 3 Abs. 1 S. 3 bis 7 des Gesetzes abzuziehen. Der Gesetzgeber hat damit auch für Mieterhöhungsbegehren, die eine Anhebung des Mietzinses an die ortsübliche Vergleichsmiete bezwecken, den Abzug von Kürzungsbeträgen für von der öffentlichen Hand, dem Meter oder Dritten bezahlte Verbesserungen der Mietsache vorgeschrieben. Sinn der 1978 durch das Gesetz zur Änderung des Wohnungsmodernisierungsgesetzes (BGBl. I, 878, 882) eingeführten Ergänzung des § 2 MHG war es, zu gewährleisten, daß sich bei der Erhöhung auf die Vergleichsmiete Leistungen, die zur Modernisierung von Wohnraum u. a. aus öffentlichen Haushalten erbracht werden, in jedem Fall durch entsprechende Kürzungsbeträge zugunsten des Mieters auswirken. Vor der Ergänzung des § 2 MHG ergab sich diese Berücksichtigungspflicht nur für Mittel aus dem Wohnungsmodernisierungsgesetz (vgl. dort § 14 Abs. 2), nicht aber für solche aus anderen Förderprogrammen. Leistungen aus öffentlichen Haushalten sollten aber dem Mieter allgemein — und nicht nur im Geltungsbereich des Wohnungsmodernisierungsgesetzes — zugute kommen (vgl. die Begründung des Bundesrates zur Anrufung des Vermittlungsausschusses betr. das Gesetz zur Änderung des Wohnungsmodernisierungsgesetzes, BT-Drs. 8/1861, 5; BGH, Urt. v. 8.10.1997 - VIII ZR 373/96 - WuM 1998,100,103). Durch die Verweisung in § 2 Abs. 1 S. 2 MHG auf § 3 Abs. 1 S. 3 bis 7 des Gesetzes soll mithin sichergestellt werden, daß die Vorteile einer öffentlichen Förderung von Modernisierungsmaßnahmen nicht beim Vermieter verbleiben. Der Vermieter soll nicht zugleich Fördermittel und eine erhöhte Miete für die modernisierte Wohnung erhalten. Nach dem vom Gesetzgeber vorgenommenen Interessenausgleich soll die LVerfGE 11
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Förderung dem Mieter wirtschaftlich dauerhaft zugute kommen, indem der Vermieter gezwungen ist, erhaltene Fördermittel über den Mietzins an den Mieter weiter zu reichen (vgl. KG, Beschl. v. 15.9.1997 - 8 RE-Miet 6517/96 - WuM 1997, 605, 607; LG Berlin, Urt. v. 8.5.1990 - 65 S 299/89 - MM 1990, 229). Der insoweit vom Gesetz vorgesehene Abzug von Kürzungsbeträgen beschränkt die Mieterhöhungsmöglichkeiten des Eigentümers, der öffentliche Gelder dazu genutzt hat, sein privates Eigentum zu mehren. Er kann nicht uneingeschränkt die am Markt erzielbare ortsübliche Vergleichsmiete verlangen, sondern muß Wertverbesserungen seines Hauses, die auf öffentlichen Mitteln beruhen, in Abzug bringen. Diese Beschränkungen, die dem Vermieter im Interesse des Mieters auferlegt worden sind, dürfen im Einzelfall jedoch nicht in einer Weise ausgelegt werden, die die gesetzliche Eigentumsbindung des Vermieters noch über das Maß hinaus verstärkt, das sich aus der Verpflichtung zur Weitergabe des Fördervorteils ergibt. Die Zivilgerichte müssen bei der Prüfung, ob ein wirksames Mieterhöhungsverlangen die Angabe von Kürzungsbeträgen erfordert, dem dargelegten Sinn und Zweck des § 2 Abs. 1 S. 2 MHG Rechnung tragen. Dieser erfordert einen Schutz des Mieters, wenn und soweit der Eigentümer öffentliche Fördermittel für Modernisierungsarbeiten in Anspruch nimmt und nach Abschluß der Arbeiten nunmehr einen an der ortsüblichen Vergleichsmiete orientierten erhöhten Mietzins für die modernisierte Wohnung verlangt. Die Sachlage kann sich jedoch dann anders darstellen, wenn der Eigentümer bereits aus anderen Gründen in seinen Mieterhöhungsmöglichkeiten beschränkt ist. Der mit § 2 Abs. 1 S. 2 MHG bezweckte Mieterschutz kann insbesondere in den Fällen entbehrlich sein, in denen schon bei der Gewährung öffentlicher Fördermittel durch öffentlichrechtlichen Vertrag eine Begrenzung der Miethöhe vereinbart worden ist, die die Bezuschussung der Modernisierungsarbeiten zugunsten des Mieters berücksichtigt (vgl. Voelskowmr. Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 3, 3. Aufl. 1995, § 3 MHG Rn. 15, der die komplizierte Regelung in § 3 Abs. 1 S. 3 bis 7 insoweit für überflüssig hält). Soweit im Rahmen eines derartigen Vertrages sichergestellt ist, daß die öffentlichen Fördermittel nicht beim Vermieter verbleiben, sondern dem Mieter zugute kommen, widerspräche eine Auslegung des § 2 Abs. 1 S. 2 MHG, die im Einzelfall zu einer doppelten Berücksichtigung von Kürzungsbeträgen — sowohl im Rahmen der gesetzlichen Regelung als auch der vertraglich festgelegten Begrenzung der zulässigen Miethöhe — fuhren würde, der verfassungsrechtlich verankerten Eigentumsgarantie. Sie würde die im Gesetz auf verfassungskonformer Grundlage vorgesehene Eigentumsbeschränkung des Vermieters in verfassungswidriger Weise verstärken. Eine verfassungskonforme Auslegung und Anwendung des § 2 Abs. 1 S. 2 MHG setzt mithin voraus, daß die Gerichte in dem zu entscheidenden Rechts fall prüfen, ob der Vermieter entsprechende vertragliche Verpflichtungen eingegangen ist und ob die sich daraus ergebenden Bindungen hinsichtlich der zulässigen Miethöhe die Bezuschussung schon zugunsten des Mieters berücksichtigen. Ohne eine derartige Prüfung läßt sich nicht feststellen, ob der Zweckbestimmung des § 2 Abs. 1 S. 2 MHG im konkreten Einzelfall LVerfGE 11
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bereits durch die vertraglichen Bindungen Genüge getan ist, so daß ein (erneuter) Abzug von Kürzungsbeträgen entbehrlich ist. c) Gemessen an diesen verfassungsrechtlich zu beachtenden Grundsätzen kann die Entscheidung des LG keinen Bestand haben. Dabei begegnet es zunächst keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, daß das LG davon ausgegangen ist, § 2 Abs. 1 S. 2 MHG sei grundsätzlich auch auf den vorliegenden Mietvertrag, der erst nach Abschluß der Modernisierungsarbeiten abgeschlossen worden ist, anwendbar. Unabhängig von der Frage, ob bei der Neuvermietung bereits modernisierten Wohnraums eine Anwendung der §§ 2, 3 MHG in Betracht kommt (vgl. Emmerich in: Staudinger, WKSchG II, Art. 2 MÜG - Mietrecht 3 - , 13. Bearb. 1997, Art. 3 WKSchG, § 2 MHRG Rn. 82; Börstinghaus Kürzungsbeträge bei Mieterhöhungen im preisfreien Wohnungsbau, MDR 1998,933, 934), hat sich der Beschwerdeführer jedenfalls in § 7 Abs. 3 des Modernisierungsvertrages verpflichtet, während der Dauer des Vertrages keine höheren Mieten zu fordern, sich versprechen zu lassen oder anzunehmen als im Vertrag vereinbart. Er hat sich damit gegenüber der WBK — jetzt: IBB — öffentlich-rechtlich verpflichtet, für die mit öffentlichen Mitteln modernisierten und instandgesetzten Wohnungen nur eine Miete zu fordern, die die Bezuschussung der Modernisierungsarbeiten berücksichtigt. Dies ergibt sich sowohl aus den Regelungen über die zulässige Miethöhe in § 7 Abs. 6 und Abs. 10a des Vertrages als auch aus der insoweit in Bezug genommenen Mehrertragsberechnung. Diese gegenüber der WBK bzw. IBB eingegangene Verpflichtung, für die der Beschwerdeführer im Gegenzug öffentliche Fördermittel erhalten hat, ist nicht an die Person des Mieters, sondern an die Wohnung gebunden (vgl. Beuermann Der Abzug von Kürzungsbeträgen bei Mieterhöhungsverlangen gem. § 2 MHG, GE 1996, 1514, 1518; Kun^e/Tiet^sch Abzug von Kürzungsbeträgen nach § 2 MHG zeitlich begrenzt?, WuM 1997, 308, 312, 313). Bei Abschluß des (neuen) Mietvertrages ist dementsprechend auf die öffentliche Bezuschussung der Modernisierungsarbeiten hingewiesen und der Mietzins auf der Grundlage des Modernisierungsvertrages festgelegt worden. Die öffentliche Förderung war damit von Beginn an Gegenstand des Mietvertrages. Bei dieser Sachlage ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, daß das LG mit Blick auf die noch nicht abgelaufene Bindungsfrist des Modernisierungsvertrages davon ausgegangen ist, die öffentliche Förderung müsse auch bei künftigen Erhöhungsverlangen Berücksichtigung finden. Das LG ist im Grundsatz auch davon ausgegangen, daß der in § 2 Abs. 1 S. 2 MHG normierte Abzug von Kürzungsbeträgen im Zusammenhang mit den Verpflichtungen zu sehen ist, die der Beschwerdeführer im Rahmen des Modernisierungsvertrages eingegangen ist. Es hat insoweit jedoch angenommen, der Beschwerdeführer habe nicht vorgetragen, daß dem Mieter die gewährte Förderung, insbesondere in Form des Verzichtsbetrages bei der Mietzinsbildung, in solcher Weise zugute gekommen sei, daß die mit § 2 MHG bezweckte Förderung des Mieters gewährleistet sei. Verhalte es sich LVerfGE 11
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aber so, könne nicht davon ausgegangen werden, daß der Regelungsmechanismus des Modernisierungsvertrages außer Kraft gesetzt sei und dem Beschwerdeführer die Erhöhungsmöglichkeiten nach § 2 MHG uneingeschränkt zur Verfügung stehen müßten. Die angestrebte, auf § 2 M H G gestützte Erhöhung stelle sich vielmehr als eine Mietzinssteigerung dar, die außerhalb des konzipierten Förderungssystems stattfinden solle. Aus diesem Grund hat sich das LG nicht in der Lage gesehen, von dem gesetzlich vorgesehenen Abzug von Kürzungsbeträgen nach § 2 Abs. 1 S. 2 MHG abzusehen, und das streitige Verlangen auf Zustimmung zur Mietzinserhöhung, das keine derartigen Angaben enthielt, als nicht gerechtfertigt angesehen (vgl. zur Wirksamkeit von Mieterhöhungsverlangen ohne entsprechende, im Einzelfall erforderliche Angaben: Beuermann Miete und Mieterhöhung bei preisfreiem Wohnraum, 3. Aufl. 1999, § 2 MHG Rn. 104a; Maaejemki Kürzungsbeträge bei Mieterhöhung, MM 1998, 97). In eine sachlich-rechtliche Uberprüfung des geltend gemachten Mieterhöhungsanspruchs ist das LG dabei nicht eingetreten. Es hat die Klage zwar nicht als unzulässig, sondern als unbegründet abgewiesen, hat die Klageabweisung aber maßgeblich allein auf die Vorschrift des § 2 Abs. 1 S. 2 MHG gestützt, ohne inhaltlich zu prüfen, ob sich die streitige Mieterhöhung im Rahmen der dem Beschwerdeführer im Modernisierungsvertrag auferlegten Bindungen hält, die mit Blick auf die Inanspruchnahme öffentlicher Fördermittel bereits eine Begrenzung der zulässigen Miethöhe vorsehen. Es hat damit unberücksichtigt gelassen, daß der Beschwerdeführer schon nach dem Modernisierungsvertrag nicht uneingeschränkt zu einer Mieterhöhung nach § 2 MHG berechtigt ist. Das dem Beschwerdeführer im Zuge der abschließenden Bestimmung über die Vorauszahlungsmittel von der IBB unterbreitete Rückzahlungsangebot sieht in der vom Beschwerdeführer angenommen ersten Alternative vielmehr eine abgestufte Regelung vor. Danach kann der Beschwerdeführer nach Ablauf des Bindungszeitraums die Mieterhöhungsmöglichkeiten nach § 2 MHG ausschöpfen. Im Bindungszeitraum dürfen Mieterhöhungen nach § 2 MHG dagegen nur unter Berücksichtigung des § 7 Abs. 6 des Modernisierungsvertrages verlangt werden. Die im Rahmen der Rückzahlung der Vorauszahlungsmittel getroffene Zusatzvereinbarung ermöglicht dem Beschwerdeführer mithin, in teilweiser Abänderung des Modernisierungsvertrages, Mieterhöhungen nach § 2 MHG geltend zu machen. Er bleibt dabei aber während der Laufzeit des Vertrages an die Vorgaben des § 7 Abs. 6 gebunden. Diese Vertragsbestimmung enthält unter Bezugnahme auf die Mehrertragsberechnung, die ebenfalls Bestandteil des Modernisierungsvertrages ist, ausdrückliche Angaben über den zulässigen Mietertrag nach Modernisierung. Auch soweit der Beschwerdeführer zur Finanzierung der Rückzahlung der Vorauszahlungsmittel eine Mieterhöhving nach § 2 MHG geltend macht (vgl. zu dieser Möglichkeit Wollenschläger Umwandlung von Förderungsmitteln für LAMOD-Vorhaben und Abrechnung von Sanierungsgrundstücken, G E 1994,1216), muß er damit die sich aus dem Modernisierungsvertrag hinsichtlich der zulässigen Miethöhe ergebenden Beschränkungen beachten. Die Mieterhöhungsmöglichkeit des § 2 MHG steht ihm nicht uneingeschränkt
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außerhalb des im Modernisierungsvertrag konzipierten Förderungssystems zur Verfugung, vielmehr nimmt die mit der IBB abgeschlossene Zusatzvereinbarung ausdrücklich auf die vertraglichen Vorgaben Bezug. Während des Bindungszeitraums müssen sich auch auf § 2 MHG gestützte Mieterhöhungsverlangen im Rahmen des vertraglichen Förderungssystems und der öffentlich-rechtlich eingegangenen Verpflichtungen des Beschwerdeführers halten. Der Beschwerdeführer hat insoweit bereits im Berufungsverfahren vorgetragen, daß die streitige Mietzinserhöhung diese Vorgaben wahre und der geforderte Mietzins eindeutig unterhalb der nach dem Modernisierungsvertrag zulässigen Miete liege. Ob dies zutrifft, ist eine Frage einfachen Rechts, die der Verfassungsgerichtshof nicht zu entscheiden hat. Es wäre Aufgabe des LG gewesen, den Angaben des Beschwerdeführers nachzugehen und zu prüfen, ob mit den Beschränkungen, denen der Beschwerdefuhrer nach dem Modernisierungsvertrag und der mit der IBB geschlossenen Zusatzvereinbarung während der Laufzeit des Vertrages unterliegt, nicht dem Sinn und Zweck der Kürzungsvorschrift des § 2 Abs. 1 S. 2 MHG Genüge getan ist. Dafür hätte um so mehr Anlaß bestanden, als das LG in seinen Entscheidungsgründen selbst davon ausgegangen ist, daß die im Modernisierungsvertrag vorgesehenen abgestuften Erhöhungsmöglichkeiten als Bestandteil der Weitergabe der öffentlichen Förderung anzusehen sind. Es hätte insofern auch die Zusatzvereinbarung, die auf diese vertraglichen Vorgaben gerade Bezug nimmt und Mieterhöhungen nach § 2 MHG während des Bindungszeitraums beschränkt, in seine Überlegungen einbeziehen müssen. Denn eine verfassungskonforme Handhabung der gesetzlichen Regelung setzt — wie ausgeführt — voraus, daß der Richter die gesetzliche Interessenabwägung nachvollzieht und der Zweckbestimmung des § 2 Abs. 1 S. 2 MHG Rechnung trägt. Weder eine einseitige Bevorzugung noch eine einseitige Benachteiligung des Vermieters steht mit der verfassungsrechtlichen Vorstellung eines sozialgebundenen Privateigentums in Einklang (vgl. zum Bundesrecht: BVerfGE 37, 132, 141). Der grundrechtliche Bezug der Regelung verbietet sowohl eine Verstärkung der Eigentumsbeschränkung als auch eine Verkürzung des sich aus Art. 23 Abs. 1 S. 1 VvB ergebenden Anspruchs des Vermieters, die zulässige Miete mit Hilfe der Gerichte durchzusetzen. Soweit bereits bei Bewilligung der öffentlichen Fördermittel eine Begrenzung der Miethöhe vereinbart wird, die die Bezuschussung der Modernisierungsarbeiten zugunsten des Mieters berücksichtigt, darf die Auslegung und Anwendung des § 2 Abs. 1 S. 2 MHG im Einzelfall nicht zu einer doppelten Belastung des Vermieters führen. Die Entscheidung des LG, die maßgeblich auf eine uneingeschränkte, außerhalb des konzipierten Förderungssystems stattfindende Mieterhöhung nach § 2 MHG abhebt, ohne auf die sich aus der Zusatzvereinbarung ergebenden vertraglichen Bindungen des Beschwerdeführers einzugehen, begegnet insofern nicht nur einfachrechtlichen Bedenken, über die der Verfassungsgerichtshof nicht zu befinden hätte. Sie wird auch der Bedeutung und Tragweite der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie im Rahmen des § 2 Abs. 1 S. 2 MHG nicht gerecht und kann daher verfassungsrechtlich keinen Bestand haben.
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Auf die Frage, ob der Beschwerdeführer angesichts der Bewilligungspraxis der WBK (ÏBB) überhaupt in der Lage wäre, die sich auf Modernisierungsmaßnahmen beziehenden Kürzungsbeträge anzugeben, kommt es danach vorliegend nicht mehr an (vgl. in diesem Zusammenhang einerseits LG Berlin, Urt. v. 6.1.1997 - 62 S 474/96 GE 1997, 240,241; andererseits Kun^e/Tietych aaO, S. 312, 314). Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG. Dieser Beschluß ist unanfechtbar.
Nr. 7 1. Als Teilkörperschaft der Universität, die bezüglich der Freiheit von Forschung und Lehre Grundrechts schütz genießt, ist auch die Studentenschaft insoweit Trägerin des Grundrechts aus Art. 21 VvB. 2. Darüber hinaus ist sie auch Trägerin der verfahrensrechtlichen Grundrechte aus Art. 15 Abs. 1 und 4 VvB. VvB Art. 15 Abs. 1 und 4, Art. 21 BerlHG § 18 Abs. 1 Beschluß vom 21. Dezember 2000 - VerfGH 136/00 in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde der Studentenschaft der F. Universität Berlin, vertreten durch den Allgemeinen Studentenausschuß (AStA), dieser vertreten durch die Vorsitzende, Frau S. Verfahrensbevollmächtigte: Rechtsanwälte M./J./H. gegen 1. den Beschluß des Oberverwaltungsgerichts Berlin vom 29. August 2000 — OVG 8 L 25/99 - , 2. den Beschluß des Verwaltungsgerichts Berlin vom 11. März 1999 - VG 2 A 133/98 Entscheidungsformel: Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei. Auslagen werden nicht erstattet. LVerfGE 11
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Gründe: I. Der Beschwerdeführerin wurde im Wege der einstweiligen Anordnung vom V G Berlin am 22. Januar 1998 unter Androhung eines Ordnungsgeldes bis zu DM 500 000 untersagt, allgemeinpolitische, nicht hochschulbezogene Äußerungen abzugeben. Die Zulassung der Beschwerde dagegen lehnte das OVG Berlin durch Beschluß vom 25. Mai 1998 ab. Die dagegen erhobene Verfassungsbeschwerde wies der Verfassungsgerichtshof durch Beschluß vom 27. Januar 1999 - VerfGH 66/98 — als unzulässig zurück, da die Beschwerdeführerin als juristische Person des öffentlichen Rechts nicht Trägerin der gerügten Grundrechte der Verfassung von Berlin sei. Mit Beschluß vom 11. März 1999 setzte das V G Berlin wegen Verstoßes gegen das obengenannte Verbot, allgemeinpolitische, nicht hochschulbezogene Äußerungen abzugeben, ein Ordnungsgeld von DM 10000 und für den Fall, daß dies nicht beigetrieben werden kann, zwei Tage Ordnungshaft gegen den Vorsitzenden bzw. die Vorsitzende des AStA der F. Universität Berlin fest. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das OVG Berlin durch Beschluß vom 29. August 2000 zurück. Dagegen erhob die Beschwerdeführerin am 26. September 2000 außerordentliche Beschwerde zum Bundesverwaltungsgericht. Mit der am 31. Oktober 2000 eingegangenen Verfassungsbeschwerde macht die Beschwerdeführerin geltend, „in ihren Rechten aus Art. 1 Abs. 3, 7, 10 Abs. 1, 15 Abs. 1, 2 und 4 , 1 4 Abs. 1, 20, 21, 36 Verfassung von Berlin verletzt zu sein". Die Verfassungsbeschwerde ist zunächst vorsorglich erhoben worden, „um für den Fall, daß der Verfassungsgerichtshof der Auffassung sein sollte, daß es sich bei der außerordentlichen Beschwerde um ein offensichtlich unzulässiges Rechtsmittel handele, nicht durch Fristablauf von der Verfassungsbeschwerde ausgeschlossen zu sein". Die Beschwerdeführerin hat angeregt, das Verfahren der Verfassungsbeschwerde bis zu einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ruhen zu lassen. Mit Schreiben vom 28. November 2000 hat sie mitgeteilt, daß das Bundesverwaltungsgericht durch Beschluß vom 3. November 2000 die außerordentliche Beschwerde als unzulässig verworfen hat, und um Durchführung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens gebeten. Der Richter Dr. M. ist gem. § 16 Abs. 1 Nr. 3 VerfGHG im vorliegenden Verfahren von der Ausübung des Richteramtes ausgeschlossen. II. 1. Vorweg sei darauf hingewiesen, daß kein Anlaß bestanden hätte, der Anregung der Beschwerdeführerin zu folgen, das Verfahren bis zu einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ruhen zu lassen, da die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs nicht vom Ergebnis der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts LVerfGE 11
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abhängt, und eine Verfassungsbeschwerde gegen eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts nicht zulässig wäre, da es sich nicht um einen Akt der öffentlichen Gewalt des Landes Berlin handelt. 2. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, da die Beschwerdeführerin nicht Trägerin der von ihr als verletzt gerügten Grundrechte der Art. 7, 10 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 und Art. 20 VvB ist, und die gerügte Verletzung der Grundrechte der Verfassung von Berlin, deren Trägerin sie ist, nämlich der Art. 15 Abs. 1 und 4 sowie Art. 21, nicht hinreichend substantiiert vorgetragen ist. a) Die Beschwerdeführerin ist nach § 18 Abs. 1 S. 2 BerlHG eine rechtsfähige Teilkörperschaft der F. Universität, die ihrerseits nach § 2 Abs. 1 S. 1 BerlHG eine Körperschaft des öffentlichen Rechts und zugleich staatliche Einrichtung ist. Daher ist auch die Beschwerdeführerin eine juristische Person des öffentlichen Rechts. Sie ist daher grundsätzlich nicht Trägerin von materiellen Grundrechten, da die öffentliche Gewalt im allgemeinen nicht zugleich Adressatin und Trägerin von Grundrechten sein kann. b) Eine Ausnahme von diesem Grundsatz gilt, wenn die juristische Person des öffentlichen Rechts solche Aufgaben wahrnimmt, die ihrerseits unmittelbar Grundrechtsschutz genießen, wie dies für Universitäten hinsichtlich der Freiheit von Forschung und Lehre der Fall ist (s. Beschl. v. 27.1.1999 - VerfGH 66/98 - NVwZ 2000, 549; so auch schon Beschl. v. 16. 8.1995 - VerfGH 7/95 - LVerfGE 3, 47, 48 f). Nach § 18 Abs. 2 S. 1 HS 2 BerlHG hat die Studentenschaft auch die Aufgabe, „die Ziele und Aufgaben der Hochschulen zu fördern". Als Aufgaben der Hochschulen nennt § 4 Abs. 1 BerlHG die Pflege und Entwicklung von Wissenschaft und Kunst durch Forschung, Lehre und Studium. Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind durch Art. 21 S. 1 VvB grundrechtlich geschützt. Als Teilkörperschaft der Universität ist daher die Studentenschaft Trägerin dieses Grundrechts. Dies steht nicht im Gegensatz zu der Aussage im Beschluß vom 16. August 1995 -VerfGH 7/95 - LVerfGE 3, 47, 49, daß der Studentenschaft bezüglich der Erfüllung ihrer Aufgaben aus der Verfassung von Berlin kein Grundrechtsschutz zusteht. Diese Aussage bezog sich auf die Rechtslage unter der Verfassung von Berlin von 1950, die kein Grundrecht bezüglich Wissenschaft und Kunst sowie Forschung und Lehre enthielt. Es besteht auch kein Gegensatz zum Beschluß vom 27. Januar 1999 — VerfGH 66/98 — NVwZ 2000, 549, in dem die Aussage wiederholt wird, der Studentenschaft stehe bezüglich der Erfüllung ihrer Aufgaben nach der Verfassung von Berlin kein Grundrechtsschutz zu. Im dortigen Fall ging es um die Frage, ob das an die Beschwerdeführerin gerichtete Verbot, allgemeinpolitische, nicht hochschulbezogene Äußerungen abzugeben, gegen Grundrechte verstieß. Hierzu hatte die Beschwerdeführerin die Auffassung vertreten, sie habe gem. § 18 Abs. 1 S. 1 HS 1 BerlHG die Belange der Studentinnen und LVerfGE 11
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Studenten nicht nur in der Hochschule, sondern gerade auch in der Gesellschaft wahrzunehmen; sie nehme daher, wie in § 18 Abs. 2 S. 2 BerlHG zum Ausdruck komme, in diesem Sinne auch ein politisches Mandat wahr, welches über den reinen Hochschulbezug hinausreiche. Dieser Aufgabenzuweisung hat der Verfassungsgerichtshof den in Anspruch genommenen Grundrechtsschutz versagt, wie sich aus dem Zusammenhang der Gründe des genannten Beschlusses ergibt. Das gleiche gilt bezüglich der Aufgaben, die der Studentenschaft durch § 18 Abs. 1 S. 3 Ziff. 1 - 4 BerlHG übertragen sind. Auch diese Aufgaben haben mit der grundrechtlich geschützten Wissenschaftsfreiheit, mit Forschung und Lehre nichts zu tun. Mit dem heutigen Beschluß ist klargestellt, inwieweit die Studentenschaft Trägerin des Grundrechts aus Art. 21 VvB und inwieweit sie daher parteifähig im Verfassungsbeschwerdeverfahren ist. Die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde scheitert aber im vorliegenden Fall daran, daß eine Verletzung dieses Grundrechts nicht hinreichend substantiiert dargetan wird. Das Merkmal „bezeichnen" in § 50 VerfGHG verlangt für die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde, daß hinreichend deutlich die Möglichkeit einer Verletzung eines der Beschwerdeführerin von der Verfassung von Berlin verbürgten Grundrechts durch die angegriffenen Maßnahmen vorgetragen wird (s. Beschl. v. 11.8.1993 VerfGH 64/93 - ; Beschl. v. 11.1.1995 - V e r f G H 81/94 - LVerfGE 3,3,5f). Bezüglich Art. 21 VvB wird auf Seite 12-14 der Verfassungsbeschwerde zwar die Behauptung aufgestellt, die Beschwerdeführerin sei in diesem Grundrecht verletzt, ohne daß aber substantiell etwas zur Beeinträchtigung der Freiheit von Forschung und Lehre vorgetragen wird. c) Als rechtsfähige Teilkörperschaft der Freien Universität ist die Beschwerdeführerin auch Trägerin der verfahrensrechtlichen Grundrechte aus Art. 15 Abs. 1 und 4 VvB (vgl. zum entsprechenden Bundesrecht BVerfGE 61, 82, 104f). Insoweit ist sie grundsätzlich beschwerdebefugt. Die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde scheitert aber auch hier daran, daß eine Verletzung dieser Grundrechte nicht hinreichend substantiiert dargetan wird. Der Vortrag der Verfassungsbeschwerde, das Herausreißen von Äußerungen aus dem hochschulpolitischen Zusammenhang, die Anwendung der Regeln des Anscheinsbeweises, die Annahme eines Fortsetzungszusammenhanges sowie die Bildung einer Gesamtstrafe ohne die Bestimmung der einzelnen Taten und Strafen verletzten das Recht der Beschwerdeführerin auf rechtliches Gehör, genügt dieser Anforderung nicht, sondern wendet sich allein gegen die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts durch die Fachgerichte. Entsprechendes gilt für ihre Rüge, die genannten Rechtsfehler schlössen sie im Ergebnis von ihrem Recht auf Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes aus. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG. Dieser Beschluß ist unanfechtbar.
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Entscheidungen des Verfassungsgerichts des Landes Brandenburg
Die amtierenden Richterinnen und Richter des Verfassungsgerichts des Landes Brandenburg Dr. Peter Macke, Präsident Dr. Wolfgang Knippel, Vizepräsident Dr. Matthias Dombert Prof. Dr. Beate Harms-Ziegler Florian Havemann Dr. Sarina Jegutidse Prof. Dr. Richard Schröder Monika Weisberg-Schwarz Prof. Dr. Rosemarie Will
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Nr. 1* 1. Amtsangehörige Gemeinden werden auch im Kommunalverfassungsbeschwerdeverfahren nach den allgemeinen kommunalrechtlichen Bestimmungen durch das Amt vertreten. 2. Zur Vermeidung einer Verkürzung des verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes können Gemeinden im allgemeinen nicht darauf verwiesen werden, vor Erhebung einer Kommunalverfassungsbeschwerde zunächst fachgerichtlichen Rechtsschutz gegen etwaige Einzelakte - hier: gegen das Ergebnis eines Feststellungsverfahrens nach § 14 ZwVerbStabG — in Anspruch zu nehmen. 3. Die gesetzlich bestimmte Aufgabenerledigung mittels eines Zweckverbandes stellt auch dann einen Eingriff in die gemeindliche Organisationshoheit dar, wenn das Gesetz für die rückwirkende Heilung fehlerhafter Verbandsgründungen an das bei der (fehlgeschlagenen) Gründung zutage getretene Verhalten anknüpft. Eine solche Regelung gerät in den praktischen Auswirkungen in die Nähe eines Aufgabenentzuges und muß daher besonderen verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen. 4. Ein unzulässiger Eingriff in die kommunale Selbstverwaltung liegt, und zwar auch mit Blick auf das Demokratieprinzip, nicht schon deshalb vor, weil der Gesetzgeber eine einzelne Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft regelt, die ansonsten der Beschlußfassung der Gemeindevertretung unterläge. 5. Die Abwendung der mit der rechtlichen Unsicherheit über die Existenz zahlreicher Wasserzweckverbände zusammenhängenden Gefahren für eine geordnete Wasserver- und -entsorgung ist ein Gemeinwohlbelang, der einen Eingriff in die kommunale Organisationshoheit rechtfertigen kann. 6. Soweit es nach § 2 Abs. 2 ZwVerbStabG denkbar ist, daß selbst eine Gemeinde, die keinen Beschluß zur Verbandsgründung gefaßt und/oder deren Außenvertretungsberechtigter keine entsprechende Willenserklärung abgegeben hat, rückwirkend Mitglied eines Zweckverbandes wird, ist das * Die Entscheidung ist im Volltext abgedruckt im Supplementband Brandenburg zu LVerfGE 11 (Suppl. Bbg. zu Bd. 11), S. 3 ff, hrsgg. vom Verfassungsgericht des Landes Brandenburg (Adresse s. Anhang) und dort gegen Gebühr erhältlich. Abdruck (gekürzt) auch in: LKV 2000, 199 ff; DVB1. 2000,981 ff.
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Zurechnungskriterium des § 2 Abs. 2 Satz 1 ZwVerbStabG - Auftreten der Gemeinde als Zweckverbandsmitglied - unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten verfassungskonform dahin auszulegen, daß ein auf Dauer angelegtes Mitwirken der Gemeinde in dem Zweckverband mit Duldung der Vertretungskörperschaft erforderlich ist. 7. Das Verbot der Rückwirkung von Gesetzen kommt auch Gemeinden zugute. £s findet seinen Grund und seine Grenze im Vertrauensschutz. Der rückwirkenden Heilung von bei der Gründung von Wasserzweckverbänden unterlaufenen Mängeln durch das ZwVerbStabG steht kein schutzwürdiges Vertrauen auf Seiten der Gemeinden entgegen. Verfassung des Landes Brandenburg Art. 2 Abs. 1 und 5; 97; 100 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg § 51 Amtsordnung für das Land Brandenburg § 4 Abs. 3 Gesetz zur rechtlichen Stabilisierung der Zweckverbände für Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung §§ 1 Abs. 3; 2 Abs. 2 und 3; 4 Abs. 2; 7 Urteil vom 20. Januar 2000 - VfBbg 53/98 und 3/99 in den Verfahren über die kommunalen Verfassungsbeschwerden 1. Gemeinde Pretschen, vertreten durch das Amt Märkische Heide, dieses vertreten durch den Amtsdirektor 2. Gemeinde Rangsdorf, vertreten durch das Amt Rangsdorf, dieses vertreten durch den Amtsdirektor — VfGBbg 53/983. Gemeinde Breydin, vertreten durch das Amt Biesenthal-Barnim, dieses vertreten durch den Amtsdirektor -VfGBbg 3 / 9 9 betreffend Art. 1 § 1 Abs. 3, § 2 Abs. 2 und 3, § 3, § 4 Abs. 2 und § 7 des Gesetzes zur rechtlichen Stabilisierung der Zweckverbände für Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung und zur Änderung des Gesetzes über kommunale Gemeinschaftsarbeit im Land Brandenburg vom 6. Juli 1998 (GVB1.1 S. 162) Entscheidungsformel: 1. Die Verfassungsbeschwerden werden mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß das Auftreten einer Gemeinde als Zweckverbandsmitglied iSv § 2 Abs. 2 S. 1 des Gesetzes zur rechtlichen Stabilisierung der Zweckverbände für Wasserversorgung und LVerfGE 11
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Abwasserbeseitigung ein auf Dauer angelegtes Mitwirken der Gemeinde in dem Zweckverband mit Duldung der Vertretungskörperschaft erfordert. 2. Den Beschwerdefuhrerinnen sind ein Viertel ihrer notwendigen Auslagen zu erstatten. Gründe: A. Gegenstand der Kommunalverfassungsbeschwerden sind Vorschriften des Gesetzes zur rechtlichen Stabilisierung der Zweckverbände für Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung (im Folgenden: ZwVerbStabG), die auf eine rückwirkende Heilung von Mängeln bei der Gründung von Wasserzweckverbänden abzielen. (...)
B. Die Kommunalverfassungsbeschwerden sind gem. Art. 100 LV, § 51 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg (VerfGGBbg) zulässig. I. Die Beschwerdefuhrerinnen werden als amtsangehörige Gemeinden gem. § 4 Abs. 3 Amtsordnung für das Land Brandenburg (AmtsO) durch das Amt und dieses gem. § 9 Abs. 4 AmtsO durch den Amtsdirektor vertreten. Diese Vorschriften finden nach der ständigen Spruchpraxis des Verfassungsgerichts auch in verfassungsgerichtlichen Verfahren Anwendung, solange, wie hier auf Seiten des Amtes kein Interessenkonflikt zu besorgen ist (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 17.7.1997 - VfGBbg 1/97 - , LVerfGE 7, 74, 83f mwN). Soweit das Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern zu der dortigen Rechtslage die Auffassung vertritt, die Regelung über die Vertretung amtsangehöriger Gemeinden durch das Amt gelte nicht für Kommunalverfassungsbeschwerdeverfahren (s. Urt. v. 4.2.1999 — LVerfG 1/98 —, 8f des Entscheidungsumdrucks, insoweit nicht abgedruckt in LKV 1999, 319ff; kritisch dazu bereits Darsow LKV 1999, 308f), vermag sich das Verfassungsgericht dem für die brandenburgische Rechtslage nicht anzuschließen. § 4 Abs. 3 AmtsO ordnet ohne weitere Differenzierung eine Vertretung der amtsangehörigen Gemeinden durch die Amter „in gerichtlichen Verfahren" an. Dies gilt gleichermaßen für fachgerichtliche wie verfassungsgerichtliche Verfahren. Hierzu ergibt sich aus Art. 100 LV und § 51 Abs. 1 VerfGGBbg nichts Abweichendes. Zwar setzen diese Vorschriften eine Gemeinde oder einen Gemeindeverband als Beschwerdeführer voraus, wobei Amter nicht zu den Gemeindeverbänden zählen (Verfassungsgericht des Landes LVerfGE 11
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Brandenburg, Beschl. v. 21.1.1998 - VfGBbg 8/97 - , NJ 1998,197 L, s. a. LVerfGE 8, 71, 77ff). Daraus folgt jedoch nur, daß die Amter nicht selbst Kommunalverfassungsbeschwerde erheben können. Hingegen läßt sich den Vorschriften nicht entnehmen, wie eine amtsangehörige Gemeinde bei Geltendmachung ihrer Selbstverwaltungsrechte vor dem Verfassungsgericht vertreten wird. Es verbleibt hiernach für das Land Brandenburg auch vor dem Verfassungsgericht bei den allgemeinen kommunalrechtlichen Bestimmungen über die Außenvertretung der Gemeinden. (...)
III. Die Beschwerdeführerinnen können nicht darauf verwiesen werden, daß der Gesetzgeber in § 14 ZwVerbStabG ein behördliches Feststellungsverfahren vorgesehen hat, dessen Ergebnis die Gemeinden vor den Verwaltungsgerichten angreifen können (s. § 14 Abs. 2 ZwVerbStabG). Das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung gilt für die Kommunalverfassungsbeschwerde allenfalls in abgeschwächter Form. Dies findet seinen Grund darin, daß für den Einzelnen nach Ausschöpfung des Rechtswegs vor den Fachgerichten die Verfassungsbeschwerde zur Verfügung steht, mit der er eine (inzidente) verfassungsgerichtliche Uberprüfung des betreffenden Gesetzes am Maßstab der für ihn geltenden Grundrechte erreichen kann, während die Gemeinden nicht die Möglichkeit haben, die fachgerichtliche Endentscheidung vor dem Verfassungsgericht mit der Behauptung anzugreifen, das zugrundeliegende Gesetz verletze ihr Recht auf Selbstverwaltung. Einerseits entfällt eine Individualverfassungsbeschwerde, weil das Recht auf kommunale Selbstverwaltung kein Grundrecht ist (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschl. v. 21.10.1999 - VfGBbg 26/99 - , S. 7 des Umdrucks, s.a. LVerfGE 10, 257ff). Andererseits können die Gemeinden in diesen Fällen aber auch keine Kommunalverfassungsbeschwerde erheben, weil diese zufolge Art. 100 LV nur gegen Gesetze eröffnet ist. Hinzu kommt, daß vielfach nach Abschluß eines fachgerichtlichen Verfahrens auch bereits die Jahresfrist zur Erhebung einer Kommunalverfassungsbeschwerde gegen das Gesetz abgelaufen sein wird. Zur Vermeidung einer Verkürzung des verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes können Gemeinden deshalb im allgemeinen nicht darauf verwiesen werden, vor Erhebung der Kommunalverfassungsbeschwerde gegen das Gesetz zunächst fachgerichtlichen Rechtsschutz gegen etwaige Einzelakte in Anspruch zu nehmen (vgl. BVerfGE 76,107, 112 ff; 71, 25, 35 f). Entsprechendes gilt hier im Verhältnis zu dem Feststellungsverfahren nach § 14 ZwVerbStabG. (...)
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C. Die Kommunalverfassungsbeschwerden bleiben im wesentlichen ohne Erfolg. Allerdings greifen die angegriffenen Vorschriften des ZwVerbStabG in die kommunale Selbstverwaltung ein; dieser Eingriff hält jedoch — hinsichtlich § 2 Abs. 2 S. 1 ZwVerbStabG bei verfassungskonformer Auslegung, die dem Gericht Anlaß zu einer förmlichen Maßgabe gibt — der verfassungsrechtlichen Uberprüfung stand (dazu I.). Die angegriffenen Vorschriften bleiben auch im Einklang mit dem (relativen) Rückwirkungsverbot der Landesverfassung (dazu II.). I. 1. Art. 97 Abs. 1 und 2 LV sichert die Gemeinden in einem grundsätzlich alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft umfassenden Aufgabenbereich sowie in der Befugnis zur eigenverantwortlichen Führung der Geschäfte in diesem Bereich ab (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 19.5.1994 — VfGBbg 9/93 —, LVerfGE 2, 93, 101; Urt. v. 17.10.1996 - VfGBbg 5/95 - , LVerfGE 5, 79, 85; BVerfGE 79, 127, 143). Das ZwVerbStabG greift in dieses Recht ein. Es stellt sich als Regelung der Art und Weise der Aufgabenerledigung dar, die in ihren Auswirkungen einem Aufgabenentzug nahekommt und deshalb erhöhten verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen muß. Im einzelnen: a. Die Wasserver- und Abwasserentsorgung ist gem. §§ 59,66 BbgWG eine Pflichtige Selbstverwaltungsaufgabe der Gemeinden. Dies wird durch das ZwVerbStabG nicht in Frage gestellt; die Wasserver- und Abwasserentsorgung bleibt in der Zuständigkeit der Gemeinden. Das Gesetz gibt den betroffenen Gemeinden jedoch vor, auf welche Art und Weise sie diese Aufgabe zu erledigen haben, nämlich mittels eines Zweckverbandes. Darin liegt ein Eingriff in die gemeindliche Organisationshoheit (in ihrer Ausprägung als Kooperationshoheit), derzufolge die Gemeinden selbst darüber entscheiden, ob sie eine bestimmte ihnen obliegende Aufgabe selbst oder gemeinsam mit anderen Gemeinden, etwa in der Form eines Zweckverbandes, erledigen (vgl. BVerfG, NVwZ 1987,123f; Gern Deutsches Kommunalrecht, 2. Aufl. 1997, Rn. 174). Der hier in Frage stehende Eingriff ist allerdings, wie das Verfassungsgericht nicht verkennt, einem Aufgabenentzug angenähert. Die betroffenen Gemeinden verlieren, soweit ihnen die Aufgabenerledigung durch einen von ihnen lediglich mitgetragenen Zweckverband vorgegeben wird, die eigene Wahrnehmungskompetenz für die Aufgabe. Als eines von mehreren Mitgliedern des Zweckverbandes verfügen sie nur noch über einen begrenzten Einfluß auf die Art und Weise der Erledigung der Aufgabe. Insoweit findet eine Kompetenzverlagerung statt (Gern aaO, Rn. 935; vgl. auch Millgramm SächsVBl. 1998,125,129: „Aufgabenverlagerung auf der Horizontalen"). Sie ist in gewisser Weise mit der gesetzlich angeordneten Verlagerung einer Selbstverwaltungsaufgabe von den amtsangehörigen Gemeinden auf die Amter vergleichbar, wie LVerfGE 11
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sie das erkennende Gericht in anderem Zusammenhang beschäftigt hat. Das Gericht hat sich hierzu auf den Standpunkt gestellt, daß eine Aufgabenverlagerung auf das Amt unbeschadet des den Gemeinden über den Amtsausschuß verbleibenden Einflusses auf einen Entzug der Aufgabe hinauslaufe (Urt. v. 17.10.1996 - VfGBbg 5/95 —, LVerfGE 5, 79, 89 f). Ahnlich ist es hier. Daß eine im Rahmen eines Zweckverbandes wahrgenommene Aufgabe rechtlich eine solche der Gemeinde bleibt und im Falle des Ausscheidens aus dem Zweckverband auf sie zurückfallt, ändert nichts daran, daß die Gemeinde nicht mehr eigenständig über die Art und Weise der Aufgabenerledigung entscheiden kann. Die gesetzlich angeordnete Aufgabenerledigung durch einen Zweckverband stellt deshalb einen Eingriff in die Organisationshoheit dar, der, wenn auch rechtlich kein Aufgabenentzug im Sinne einer Hochzonung, wegen der damit verbundenen weitgehenden Kompetenzverlagerung in den praktischen Auswirkungen in die Nähe eines Aufgabenentzuges gerät. Ein solchermaßen weitgehender Eingriff in die gemeindliche Selbstverwaltung muß besonderen verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen. b. Der dargestellte Eingriffscharakter des ZwVerbStabG besteht entgegen der Auffassung der Landesregierung unbeschadet dessen, daß das Gesetz für die rückwirkende Heilung fehlerhafter Verbandsgründungen an das bei der (fehlgeschlagenen) Gründung zutage getretene Verhalten der Gemeinden anknüpft und — so die Landesregierung sinngemäß — letztlich nur das rechtlich absichere, was die Gemeinden ursprünglich gewollt hätten. Mögen auch die betreffenden Gemeinden seinerzeit Aktivitäten zur Gründung von Zweckverbänden entfaltet haben, so hat sich doch die Willensrichtung jedenfalls im Falle der Beschwerdeführerinnen im weiteren Verlauf geändert. Nachdem die erheblichen finanziellen Belastungen offenbar geworden sind, die sich fur sie aus der Mitgliedschaft in den Zweckverbänden ergeben, wollen sie diese Mitgliedschaft gerade nicht mehr und berufen sich deshalb darauf, daß die Zweckverbandsgründung fehlerhaft und damit nicht rechtswirksam sei. Um ihnen eben dieses abzuschneiden, hat der Gesetzgeber die rückwirkende Heilung der Gründungsmängel bestimmt. Damit hat er nicht dem Willen der Gemeinden zum Durchbruch verholfen, sondern sie gegen ihren Willen rückwirkend zu Mitgliedern von Zweckverbänden gemacht, die sie ohne das ZwVerbStabG nicht wären. Angesichts der geänderten Interessenlage auf selten der Gemeinden stellt die mit dem ZwVerbStabG bewirkte rückwirkende Zweckverbandsgründung — wovon auch die Landesregierung selbst noch in ihrem Gesetzentwurf ausgegangen ist (vgl. LT-Drs. 2/5171, S. 15) — einen Eingriff in das kommunale Selbstverwaltungsrecht dar. c. Daß die Gemeinden auch im Falle unwirksamer Verbandsgründungen damit rechnen müssen, für die Altschulden in Anspruch genommen zu werden, stellt den Eingriffscharakter des ZwVerbStabG nicht in Frage. In der Tat wird in Rechtsprechung und Schrifttum die Ansicht vertreten, daß unter bestimmten Voraussetzungen nach einer fehlgeschlagenen Zweckverbandsgründung eine gesamtschuldnerische Haftung LVerfGE 11
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der Gemeinden — ähnlich wie nach einer fehlgeschlagenen GmbH-Gründung eine gesamtschuldnerische Haftung der Vor-Gesellschafter — auf Schadensersatz in Betracht kommen kann (vgl. Brandenburgisches OLG, LKV 1999, 243, 246 ff; Pencereä/Bluhm LKV 1998,172; ÄW/WrNJW 1997, 3265,3271). Dies ändert jedoch nichts daran, daß die zwangsweise Zuordnung zu einem Zweckverband einen Eingriff in die gemeindliche Selbstverwaltung bedeutet. Zum einen dürfte die zivilrechtliche Lage bei unwirksamer bzw. unwirksam bleibender Verbandsgründung für die Gemeinden günstiger sein als im Falle einer (rückwirkenden) Heilung der Verbandsgründung, weil sich zivilrechtlich gegebenenfalls schwierige Zurechnungsfragen je nach den Umständen des Einzelfalls stellen und darüber hinaus eine Minderung des Schadensersatzanspruchs unter dem Gesichtspunkt des Mitverschuldens des Vertragspartners in Betracht kommt (vgl. Brandenburgisches OLG aaO und LKV 1997, 426 f, wo jeweils ein überwiegendes Mitverschulden von 70 % angenommen wurde). Aber auch unabhängig von der zivilrechtlichen Lage bleibt es dabei, daß das ZwVerbStabG einen Eingriff in die Selbstverwaltung der Beschwerdeführerinnen darstellt. Er ergibt sich unmittelbar daraus, daß die Beschwerdeführerinnen gezwungen werden, sich zur Wahrnehmung einer Selbstverwaltungsaufgabe eines Zweckverbandes zu bedienen, und der darin liegenden Beschränkung der Wahrnehmungskompetenz. 2. Der Eingriff in das Recht der kommunalen Selbstverwaltung bleibt indes - mit den aus dem Tenor ersichtlichen Maßgaben — im Rahmen der Landesverfassung. Die kommunale Selbstverwaltung steht unter dem Vorbehalt gesetzlicher Ausgestaltung (Art. 97 Abs. 2 und 5 LV). Die angegriffenen Vorschriften des ZwVerbStabG sind in mit den Maßgaben des Tenors — formeller und materieller Hinsicht mit der Landesverfassung vereinbar. a. Die formellen Anforderungen sind gewahrt. Das Zweckverbandsrecht fällt als Teil des Kommunalrechts in die Gesetzgebungskompetenz des Landes (Art. 70 GG). Die sich aus Art. 97 Abs. 4 LV ergebenden Anhörungspflichten sind beachtet worden; die kommunalen Spitzenverbände (Städte- und Gemeindebund, Landkreistag) hatten im Gesetzgebungsverfahren Gelegenheit zur Stellungnahme (Anhörung im Innenausschuß am 14. Mai 1998, Ausschußprotokoll 2/993-1). b. In materieller Hinsicht sind die durch Art. 97 LV gesetzten Grenzen nicht überschritten. Die zur Überprüfung gestellten Vorschriften greifen nicht in den Kernbereich der kommunalen Selbstverwaltung ein. Sie sind durch hinreichend gewichtige Gemeinwohlgründe legitimiert und wahren den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Insbesondere knüpft die rückwirkende Zweckverbandsbildung bei verfassungskonformer Auslegung in ausreichendem Maße an die innergemeindliche Willensbildung an. Im einzelnen: aa. Das ZwVerbStabG greift nicht in den Kernbereich der kommunalen Selbstverwaltung ein. LVerfGE 11
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(1) Zu dem unantastbaren Kernbereich der kommunalen Selbstverwaltung zählen nur die unverzichtbaren identitätsstiftenden Merkmale kommunaler Selbstverwaltung, die das Bild der gemeindlichen Selbstverwaltung entscheidend prägen (vgl. BVerfGE 86, 90, 107; 83, 363, 381). Davon ausgehend ist die hier in Rede stehende Organisationshoheit der Gemeinden nicht schlechthin und in allen ihren Ausprägungen, sondern nur in ihrem Grundbestand für den Gesetzgeber unantastbar (vgl. BVerfGE 78, 331,341; 52,95,117; Gern aaO, Rn. 174). Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu ausgeführt: „Der Kernbereich der kommunalen Selbstverwaltung verbietet Regelungen, die eine eigenständige organisatorische Gestaltungsfähigkeit der Kommunen im Ergebnis ersticken würden. Dies wäre der Fall bei einer Regelungsdichte, die den Gemeinden die Möglichkeit nähme, eine Hauptsatzung zu erlassen, oder ihnen hierbei keinerlei Entscheidungsspielraum mehr beließe, oder wenn die Organisation der Gemeinden durch staatliche Behörden beliebig steuerbar wäre."(BVerfGE 91,228,239). Eine solche, die Organisationshoheit gleichsam erstickende Wirkung kommt den hier angegriffenen Vorschriften nicht zu. Die Organisationshoheit wird nicht in Gänze, sondern nur bezogen auf die Erledigung der Selbstverwaltungsaufgabe Wasserver- und Abwasserentsorgung, und auch das nur für eine bestimmte historische - nämlich durch Fehlgründungen von Zweckverbänden in der Nachwendezeit geprägte — Situation, eingeschränkt. Außerhalb des durch das Gesetz bewirkten Zusammenschlusses mit anderen Gemeinden zu einem Wasserzweckverband bleibt die organisatorische Gestaltungsfähigkeit der betroffenen Gemeinden unberührt. (2) Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerinnen ergibt sich ein Eingriff in den unantastbaren Kernbereich kommunaler Selbstverwaltung auch nicht daraus, daß der Gesetzgeber hier an Stelle der Gemeinden eine Angelegenheit geregelt hat, die zufolge § 35 Abs. 2 Ziffer 29 Gemeindeordnung für das Land Brandenburg (GO) in die Organkompetenz der Vertretungskörperschaft (Gemeindevertretung) fällt. Das kommunale Selbstverwaltungsrecht schützt die Gemeinden, und zwar auch mit Blick auf das Demokratieprinzip, nicht absolut davor, daß der Gesetzgeber eine Entscheidung an Stelle der Gemeindevertretung trifft. Kommunale Selbstverwaltung bedeutet mit Blick auf das Demokratieprinzip Selbstbestimmung der eigenen Angelegenheiten durch die Bürger über die Wahl der Gemeindevertretung sowie — im Land Brandenburg (s. Art. 22 Abs. 2 S. 2 LV) — gegebenenfalls Beteiligung an Einwohneranträgen, Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden. In diesem Sinne findet das Demokratieprinzip für die kommunale Ebene seine Verankerung in Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG, Art. 22 Abs. 1 und 2 LV, wonach in den Gemeinden und Gemeindeverbänden gewählte Vertretungskörperschaften bestehen und sich die Bürger an Einwohneranträgen, Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden beteiligen können. Konsequenz des Demokratieprinzips ist die Notwendigkeit einer demokratischen Verfassung auch der kommunalen Ebene; die handelnden Organe der Gemeinden müssen, soweit ihnen die Ausübung von Staatsgewalt übertragen ist,
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demokratisch legitimiert sein (BVerfGE 47, 253, 272; 38, 258, 271). Das hiernach auch fur die kommunale Ebene geltende Demokratieprinzip wäre verletzt, wenn der Gesetzgeber auf kommunaler Ebene Organisationsstrukturen einfuhren würde, die den genannten Grundsätzen zuwiderlaufen (vgl. hierzu etwa BVerfGE 91,228, 244; 52, 95, 109 ff; 47, 253 ff; 38, 258, 270). Indessen bedeutet es nicht gleichsam automatisch eine Verletzung des Demokratieprinzips, wenn der Gesetzgeber der Gemeindevertretung aus besonderen Gründen eine einzelne Entscheidung aus der Hand nimmt. Das gilt auch für die von den Beschwerdeführerinnen so genannten „Verfassungsfragen" der Gemeinde, zu denen sie die Entscheidung über die Mitgliedschaft in einem Zweckverband zählen und für die sie eine Beschlußfassung der Gemeindevertretung für schlechterdings unersetzbar halten (ähnlich Cramme LKV 1999, 122, 124; Millgramm SächsVBl. 1998, 125ff). Letztlich bedeutet jede gesetzliche Beeinträchtigung der kommunalen Selbstverwaltung, sei es durch den Entzug einer Aufgabe oder durch die Regelung der Aufgabenerledigung, eine Beschneidung der Kompetenzen der Gemeindevertretung, indem der Gesetzgeber insoweit an ihrer Stelle (und gegebenenfalls gegen ihren Willen) eine Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft regelt. Die Gestaltungsmöglichkeiten der Gemeinden und damit auch der Gemeindevertretungen bestehen insgesamt nur im Rahmen der Gesetze, soweit diese nicht ihrerseits verfassungswidrig in die kommunale Selbstverwaltung eingreifen. Der verfassungsrechtlich verankerte Parlamentsvorbehalt für Fragen von wesentlicher Bedeutung für das Gemeinwesen (vgl. hierzu etwa Schul^e-Fielits^ in: Dreier, Grundgesetz, Bd. 2, 1998, Art. 20 — Rechtsstaat — Rn. 103 ff) läßt sich nicht auf kommunale Vertretungen übertragen. Sie sind keine Parlamente, sondern — ungeachtet ihrer Rechtsetzungsbefugnis, die in mancher Hinsicht legislatorischen Charakter aufweist (vgl. BVerfGE 32, 346, 361) — Gremien der Selbst,,Verwaltung" (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 25.1.1996 - VfGBbg 13/95 - , LVerfGE 4,85,94; BVerfGE 65,283,289). Die Landesverfassung ordnet die Selbstverwaltungsorgane im System der staatlichen Gewaltenteilung der Exekutive zu (Art. 2 Abs. 4 S. 2 LV). Als Teil der vollziehenden Gewalt müssen sie den Vorrang des Gesetzes beachten (vgl. Art. 2 Abs. 5 S. 2,97 Abs. 5 LV) und es gegebenenfalls — soweit die diesbezüglichen Eingriffsvoraussetzungen vorliegen — hinnehmen, daß der Gesetzgeber auch in „Verfassungsfragen" der Gemeinde eine Entscheidung trifft, die ansonsten in der Entscheidungsgewalt der Gemeindevertretung stünde. Die Grenze des Zulässigen würde mit Blick auf das Demokratieprinzip erst dann überschritten, wenn der Gesetzgeber die Entscheidungsbefugnisse der Gemeindevertretung etwa flächendeckend gleichsam auf Null zurückführen oder jedenfalls so weitgehend einschränken würde, daß die Funktion als kommunalpolitisches Hauptorgan (vgl. Gern Deutsches Kommunalrecht, 2. Aufl. 1997, Rn. 315) verloren ginge. Davon kann hier aber keine Rede sein. Die Entscheidungsbefugnisse der betroffenen Gemeindevertretungen nach § 35 GO bleiben bis auf die Frage der Mitgliedschaft in einem Wasserzweckverband in Bereinigung einer — auch durch eigenes Tun der Gemeinden entstandenen — unklaren Rechtslage ungeschmälert. LVerfGE 11
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Daß dem Gesetzgeber auch „Verfassungsfragen" der Gemeinden nicht entzogen sein können, bestätigt sich im übrigen darin, daß sogar noch weitergehende Entscheidungen bis hin zur Auflösung einer Gemeinde durch Gesetz in Betracht kommen (vgl. Art. 98 LV). Soweit es um Zweckverbände geht, kann der Gesetzgeber schon nach einfachem Recht zufolge § 22 GKG, dessen Verfassungsmäßigkeit nicht in Frage steht, Gemeinden zur gemeinsamen Erledigung freiwilliger Aufgaben für die Zukunft zu einem Zweckverband zusammenschließen. Soweit es um die Durchführung von Pflichtaufgaben geht, steht eine solche Befugnis sogar der Aufsichtsbehörde zu (s. zum Pflichtverband § 13 GKG). Auch soweit die Beschwerdefuhrerinnen auf allgemeine Grundsätze des Kommunalrechts verweisen, läßt sich aus diesen nicht herleiten, daß hier ein Beschluß der Gemeindevertretung nicht ersetzbar gewesen wäre. Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, daß einfachrechtliche Ausprägungen der kommunalen Selbstverwaltung keinen unmittelbaren Rückschluß auf den unantastbaren Gehalt der kommunalen Selbstverwaltung nach der Landesverfassung erlauben. Zum verfassungsrechtlich gewährleisteten Kernbereich der kommunalen Selbstverwaltung zählen allein die unverzichtbaren identitätsstiftenden Merkmale kommunaler Selbstverwaltung, die das Bild der gemeindlichen Selbstverwaltung prägen (s. o.). Diesem hergebrachten Bild der kommunalen Selbstverwaltung ist aber ein Rechtssatz etwa des Inhalts, daß die Willensbildung in der Gemeindevertretung durch einen förmlichen Beschluß schlechterdings unverzichtbar ist, nicht zu entnehmen. Vielmehr können sich auch nach hergebrachtem Kommunalrecht Konstellationen ergeben, in denen es auf eine Beschlußfassung der Gemeindevertretung nicht ankommt. Es entspricht insoweit nahezu allgemeiner Auffassung, daß das Außenvertretungsrecht des Hauptverwaltungsbeamten aus Gründen des Vertrauensschutzes grundsätzlich nicht durch die interne Beschlußlage beschränkt ist, die Gemeinde also aus einer (formgültigen) Erklärung des Außenvertretungsberechtigten auch dann verpflichtet wird, wenn diese nicht der innergemeindlichen Willensbildung entspricht (vgl. zum Abstraktionsprinzip etwa BGHZ 92, 164; Schmidt-Aßmann Kommunalrecht, in: ders., Besonderes Verwaltungsrecht, 10. Aufl. 1995, Rn. 78; ebenso bereits RGZ 139, 59, 62 ff; a.A. für die Rechtslage in Bayern BayObLG, NJW-RR 1986, 1080 f). Für die Beitrittserklärung des Bürgermeisters zu einem Zweckverband gilt nichts anderes (VGH BW, VB1BW 1983, 210; Gern aaO, Rn. 433 mwN). Dies ist zwar in bezug auf die Vertretungsbefugnis des Bürgermeisters nach § 27 DDR-KV, um die es hier geht, vereinzelt anders gesehen worden (vgl. OLG Naumburg, LKV 1994, 303 f; OLG Jena, DtZ 1996, 318). Diese Betrachtungsweise hat sich aber letztlich nicht durchgesetzt (vgl. etwa BGH, NJW 1998, 3056 und DtZ 1997, 358 f; Brandenburgisches OLG, LKV 1997, 426 f; OLG Dresden, OLG-NL 1996, 267; OLG Rostock, OLG-NL 1995, 145; Reuter DtZ 1997,15ff; VietmeierLKM 1995,178ff). Jedenfalls läßt sich ein allgemeiner kommunalrechtlicher Grundsatz dahin, daß die Willensbildung in der Gemeindevertretung schlechthin unersetzlich sei, nicht ausmachen. Das gilt auch im Lichte der von den Beschwerdeführerinnen weiter herangezogenen Europäische Charta der kommunalen
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Selbstverwaltung vom 15. Oktober 1985 (BGBl. 1987 II, 65), die in dem hier interessierenden Zusammenhang nicht über die Landesverfassung hinausgeht. bb. Die angegriffenen Regelungen des ZwVerbStabG sind durch hinreichende Gemeinwohlgründe gerechtfertigt (vgl. zu dieser Voraussetzung Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 15. Oktober 1998 - VfGBbg 38/97, 39/97, 21/98 und 24/98 - , NVwZ-RR 1999,90; Gern aaO, Rn. 84 mwN). Das gilt auch unter Berücksichtigung dessen, daß in dieser Hinsicht angesichts der einem Aufgabenentzug nahekommenden Eingriffsqualität (s.o. C.I.l.a.) und wegen der grundsätzlichen Zuständigkeitspriorität der Gemeinden erhöhte Anforderungen gelten (vgl. für den Fall eines „echten" Aufgabenentzugs: Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 17. Oktober 1996 - VfGBbg 5/95 - , LVerfGE 5, 79, 91; Urt. v. 17. Juli 1997 VfGBbg 1/97 LVerfGE 7, 74, 91 ff; zur Zwangsverbandsbildung: BVerfGE 26, 228, 240 f; VerfGH NW, DVB1. 1979, 668 f; Dreier in: ders., Grundgesetz, Bd. 2, 1998, Art. 28 Rn. 128; s. auch StGH BW, DÖV 1976, 595ff). Hierbei ist dem Gesetzgeber allerdings eine gewisse Einschätzungsprärogative zuzubilligen (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 15. Oktober 1998 - VfGBbg 38/97, 39/97, 21/98 und 24/98 - , NVwZ-RR 1999, 90). Das Verfassungsgericht kann die der gesetzlichen Regelung zugrundeliegende Bewertung nur darauf überprüfen, ob sie unter Berücksichtigung der Intensität des Eingriffs sachlich vertretbar oder offensichtlich fehlsam erscheint. Hiernach sind die zur Uberprüfung stehenden Regelungen nicht zu beanstanden; der Gesetzgeber hat sich dabei auf hinreichend gewichtige Gemeinwohlgründe gestützt. Ausweislich der amtlichen Begründung des Gesetzentwurfs hat sich der Gesetzgeber im wesentlichen davon leiten lassen, daß angesichts der rechtlichen Unsicherheit über die Existenz zahlreicher Wasserzweckverbände eine funktionsfähige Wasserversorgung und Abwasserentsorgung im Land Brandenburg gefährdet und zur Stabilisierung der Situation in einem ersten Schritt eine rechtliche Absicherung der faktisch vorhandenen Zweckverbände geboten sei. Hierzu heißt es im Gesetzentwurf (LT-Drs. 2/5171 S. 15): „Die gesetzliche Regelung greift in die kommunale Selbstverwaltung, speziell in die sogenannte Kooperationshoheit der Gemeinden, ein (Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG, Art. 97 Abs. 1 Satz 1 LV). Mit den vorgesehenen Bestimmungen wird die freie Willensentscheidung der Gemeindevertretungen unmittelbar berührt, insbesondere indem die Gemeinden an der Verbandsbildung ungeachtet eines fehlenden Beschlusses der Gemeindevertretungen (Art. 1 § 2 Abs. 2) und ungeachtet schwerwiegender Satzungsmängel (Art. 1 §§ 6—13) festgehalten werden. Das rückwirkende Entstehen der Zweckverbände als Körperschaften des öffentlichen Rechts unter punktueller Einschränkung von Bekanntmachungserfordernissen berührt zugleich das Rechtsstaatsprinzip. Diese Eingriffe sind jedoch gerechtfertigt, weil sie den einzigen Weg darstellen, um die Gefahr für die vorgenannten überwiegenden Gründe des Allgemeinwohls LVerfGE 11
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abzuwenden. Unmittelbar gefährdet ist zunächst die ordnungsgemäße, den fachgesetzlichen Vorgaben entsprechende Wasserver- und Abwasserentsorgung im Land. Zur Sicherung der öffentlichen Aufgaben nach dem Brandenburgischen Wassergesetz ist es erforderlich, daß die Gemeinden zunächst in den (faktischen) Zweckverbänden, die über Jahre hinweg hohe Investitionen getätigt haben, verbleiben und kein ungeordneter Auflösungsprozeß stattfindet. Ein derartiger Prozeß droht in erster Linie deshalb, weil bei einer Vielzahl fehlerhaft gegründeter und nunmehr teilweise auseinanderstrebender Zweckverbände sowohl die weitere Aufgabenwahrnehmung durch den Zweckverband als auch die Auseinandersetzung und Aufgabenrückübertragung auf die gemeindlichen Träger durch innerverbandliche Streitigkeiten im Zusammenhang mit der Wirksamkeit der Verbandsgründung und einzelner Akte des Zweckverbandes blockiert ist. Die drohende unmittelbare Haftung der Gemeinden fur die hohen Verbindlichkeiten ihrer Zweckverbände, die infolge der zunehmenden Zahlungsverweigerungen seitens der Abgabenschuldner kontinuierlich steigen, gefährdet in diesem Zusammenhang die grundsätzliche Funktionsfähigkeit der gemeindlichen Ebene als Träger eigener und übertragener Verwaltungsaufgaben. Schließlich bestehen bei einem ungeordneten Rückfall der Aufgaben der Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung auf gemeindliche Träger, die nicht über die erforderlichen personellen, technischen und finanziellen Mittel zur Aufgabenwahrnehmung verfugen, erhebliche Gefahren für die natürlichen Lebensgrundlagen, insbesondere den Wasser- und Bodenschutz, deren Schutz Verfassungsrang genießt (vgl. Präambel Art. 2 Abs. 1 sowie Art. 39 f LV)." Diese Einschätzung der bei ungehindertem Lauf der Dinge zu besorgenden Gefahren für das Gemeinwohl und des Gewichts dieser Gefahren erscheint sachlich vertretbar und ist damit von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Sie ist von den im Gesetzgebungsverfahren angehörten Sachverständigen geteilt worden (vgl. hierzu Ausschußprotokoll 2/993-1, S. 2 f, Landeswasserverbandstag Brandenburg e. V.; S. 16 f, Städte- und Gemeindebund Brandenburg; S. 18f, Landkreistag Brandenburg). Aus den nämlichen Gründen und in vergleichbaren Situationen haben die Gesetzgeber auch in den anderen neuen Bundesländern in die gleiche Richtung zielende Heilungsgesetze für notwendig erachtet (vgl. etwa § 8a Abs. 1 S. 1 GKG-LSA; § 170a Abs. 1 S. 1 Kommunalverfassung Mecklenburg-Vorpommern; Art. 2 Abs. 1 des Gesetzes zur Ordnung der Rechtsverhältnisse der Verwaltungsverbände, Verwaltungsgemeinschaften und Zweckverbände im Freistaat Sachsen; § 19 des thüringischen Gesetzes über die kommunale Gemeinschaftsarbeit). Das Ausmaß der Gefahren für eine funktionierende Wasserwirtschaft im Land Brandenburg tritt darin zutage, daß hier als Folge der vielfachen Gründungsmängel die Existenz von mehr als 90 % der Zweckverbände für Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung — nach Angaben der Landesregierung in der mündlichen Verhandlung sind rund 80 % der Gemeinden im Lande in solchen Verbänden organisiert — zweifelhaft geworden war. Zugleich belief sich bereits Ende 1996 die Gesamtkreditsumme der Aufgabenträger im Abwasserbereich auf rund 2 500 000 000 DM (Angaben nach Huppe/Zwölfer LKV 1998,436).
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Die Abwendung der in Rede stehenden Gefahren fur eine geordnete Wasserverund -entsorgung der Bevölkerung - sowohl mit Blick auf die aktuellen Bedürfnisse der Bevölkerung als auch wegen der langfristigen Bedeutung für die natürlichen Lebensgrundlagen, insbesondere den Wasser- und Bodenschutz — ist ein Gemeinwohlbelang von hohem Gewicht, der einen Eingriff in die kommunale Organisationshoheit unbeschadet dessen rechtfertigt, daß er einem Aufgabenentzug nahekommt (so auch VerfG Sachsen-Anhalt, LVerfGE 7, 304, 316ff). Der Gesetzgeber hatte Grund davon auszugehen, daß die Gemeinden, die nach den fehlgeschlagenen Zweckverbandsgründungen ihrerseits Träger der Aufgabe wären, aus eigener Kraft zu einer ordnungsgemäßen Aufgabenerfüllung nicht, jedenfalls nicht sofort und ohne Ubergangsschwierigkeiten, in der Lage waren. Dafür spricht bereits, daß sich die von dem ZwVerbStabG betroffenen Gemeinden in der Nachwendezeit von sich aus zur gemeinsamen Aufgabenerfüllung in (faktischen) Zweckverbänden zusammengeschlossen hatten, eben weil sie sich aus eigener Kraft zur Wahrnehmung der Aufgabe nicht in der Lage sahen. In der ab 1996 eingetretenen Situation wären diese Gemeinden, darunter eine Vielzahl von Klein- und Kleinstgemeinden, mit der zügigen Sicherstellung einer eigenen Wasserver- und Abwasserentsorgung, die zunächst die zeit- und kostenintensive Aufstellung eines Abwasserplans, sodann die wiederum kostenaufwendige Planung, Erstellung und Finanzierung geeigneter Anlagen sowie eine Neukalkulation der Entgelte erfordert hätte, unter gleichzeitiger Bewältigung der sich aus den fehlerhaften Verbandsgründungen ergebenden Folgen (innerverbandliche Streitigkeiten, mögliche unmittelbare Haftung für die Verbindlichkeiten, Schaffung von Rechtsgrundlagen für die Beitragsund Gebührenerhebung) jedenfalls bei typisierender Betrachtungsweise, die der Gesetzgeber anzustellen befugt ist, überfordert gewesen. cc. Die Vorgehensweise des Gesetzgebers genügt dem verfassungsrechtlichen Gebot der Verhältnismäßigkeit. (1) Der mit dem ZwVerbStabG eingeschlagene Weg durfte dem Gesetzgeber im Hinblick auf die hier in Rede stehenden Gemeinwohlbelange - Sicherung einer geordneten Wasserwirtschaft und Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen — geeignet und erforderlich erscheinen. Die mit dem ZwVerbStabG bewirkte rückwirkende Heilung von Gründungsmängeln schafft die rechtlichen Voraussetzungen für die Aufgabenerfüllung (einschließlich Beitrags- und Gebührenerhebung) durch dafür zur Verfügung stehende Aufgabenträger und trägt schon auf diese Weise zur Sicherung einer geordneten Wasserwirtschaft und damit — in dem Maße, in dem eine unkontrollierte Wasserbewirtschaftung, insbesondere eine unkontrollierte Abwasserentsorgung, vermieden wird — zugleich zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen bei. Der grundsätzlichen Eignung des Gesetzes zur Erreichung der angestrebten Ziele steht nicht entgegen, daß es gewissermaßen „blind" heilt, indem es unterschiedslos alle unwirksam gegründeten Wasserzweckverbände, darunter gegebenenfalls auch solche, die über Jahre hinaus unwirtschaftlich gearbeitet haben, rechtlich absichert und (zunächst) fortexistieren läßt. LVerfGE 11
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Die „Rettung" auch solcher Zweckverbände mag zwar für sich betrachtet einer dauerhaften Lösung des Problems nicht unbedingt dienlich sein. Eine auf den Einzelfall abstellende und etwa je nach Geschäftsergebnis differenzierende gesetzliche Regelung hätte jedoch Unstimmigkeiten anderer Art und Abgrenzungsschwierigkeiten hervorgerufen. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, daß die rechtliche Absicherung der Wasserzweckverbände nach dem Gesamtkonzept nur den ersten Schritt zu einer langfristigen Konsolidierung darstellt. Aufbauend auf dem ZwVerbStabG sollen im Rahmen eines Schuldenmanagements in den nächsten 10 Jahren 380 Mio. DM, auch in Form verlorener Zuschüsse, zur finanziellen Unterstützung der Zweckverbände zur Verfugung gestellt und mit dem Angebot fachkundiger Beratung vor Ort verbunden werden, um so eine wirtschaftliche Sanierung zu befördern. Daneben sollen nach dem Konzept des Landes weitere Schritte zur Verbesserung der rechtlichen Rahmenbedingungen der Zweckverbände treten (vgl. zum Gesamtkonzept das Programm der Landesregierung zur dauerhaften rechtlichen und wirtschaftlichen Stabilisierung der Wasser- und Abwasserzweckverbände vom 27. August 1998, LT-Drs. 2/5597; vgl. speziell zum Schuldenmanagementprogramm die Richtlinie des Ministeriums des Innern vom 18. Dezember 1998, AmtsBl. S. 1058; hierzu Hüppe/ZwölferUCV 1998,436, 438). Eingebunden in ein solches Gesamtkonzept erscheint die rechtliche Absicherung selbst zur Zeit unwirtschaftlich arbeitender Zweckverbände als ein geeigneter erster Schritt zur langfristigen Absicherung einer geordneten Wasserwirtschaft. Die rückwirkende rechtliche Absicherung der unwirksam gegründeten Zweckverbände durfte der Gesetzgeber auch als erforderlich erachten, um die ab 1996 eingetretene Situation zu bewältigen. Evident besser geeignete Mittel sind nicht ersichtlich. Das gesetzliche Instrumentarium des GKG, insbesondere die Möglichkeit, für die Zukunft Pflichtverbände zu bilden (§13 GKG), hätte die Schwierigkeiten der in der Vergangenheit unwirksam gegründeten (faktischen) Zweckverbände und ihrer Mitgliedsgemeinden nicht mindern können. Es wäre — anders als die Beschwerdeführerinnen wohl meinen — auch keine probate Alternative gewesen, den Dingen einfach ihren Lauf zu lassen. Zwar hätte sich für die Schwierigkeiten auf der finanziellen Ebene wohl letztlich, gegebenenfalls über Schadensersatzansprüche unmittelbar gegen die Gemeinden, eine — irgendwie geartete, wenn auch schwer kalkulierbare — zivilrechtliche „Lösung" gefunden (s. o.). Dem Gesetzgeber ging es jedoch nicht um eine Abwicklung, sondern um eine Sicherung der Aufgabenwahrnehmung in den vorhandenen Strukturen und auf dem schon bisher eingeschlagenen Weg. Insoweit durfte er in vertretbarer Weise davon ausgehen, daß die von ihm vorgeschlagene Lösung einer nachträglichen rechtlichen Absicherung des Bestehenden einer geordneten Wasserwirtschaft eher dienlich ist als ein fortschreitender Erosionsprozeß, wie er bereits im Gange war und den hinzunehmen mit der Gefahr eines möglichen Zusammenbruchs einer geordneten Wasserwirtschaft im Lande verbunden gewesen wäre. Soweit die Beschwerdeführerinnen in diesem Zusammenhang geltend machen, daß der Gesetzgeber die finanziellen Folgen der (durch ein Versagen seiner AufsichtsLVerfGE 11
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behörden mit zu verantwortenden) fehlerhaften Zweckverbandsgründungen einseitig den Gemeinden aufbürde, kann dies nicht zu einer anderen verfassungsrechtlichen Beurteilung der Eignung und Erforderlichkeit des Gesetzes fuhren. Die Gewährleistung einer funktionierenden Wasserversorgung der Bevölkerung einschließlich der Entsorgung des Abwassers ist eine pflichtige Selbstverwaltungsaufgabe der Gemeinden. Sie selbst — und nicht in erster Linie das Land — sind für die ordnungsgemäße Erledigung dieser Aufgabe verantwortlich und haben für die von ihnen verursachten finanziellen Folgen einzustehen. Unbeschadet dessen beschränkt sich das Land - wie ausgeführt — nicht auf eine bloße Heilung der Zweckverbände, sondern bietet den Gemeinden spürbare (auch finanzielle) Hilfestellungen zur weiteren Bewältigung der ihnen obliegenden Aufgaben im Bereich der Wasserwirtschaft an. (2) Die mit den angegriffenen Vorschriften des ZwVerbStabG verbundene Beeinträchtigung der kommunalen Selbstverwaltung gerät nicht außer Verhältnis zu den damit verfolgten Gemeinwohlbelangen. (a) Dies gilt — bei verfassungskonformer Auslegung nach Maßgabe des Tenors — zunächst für den von den Beschwerdeführerinnen vorrangig angegriffenen § 2 Abs. 2 und 3 ZwVerbStabG, wonach fehlende oder nicht feststellbare Beschlüsse der Vertretungskörperschaft zur Verbandsbildung und fehlende oder nicht feststellbare Willenserklärungen zur Bildung des Zweckverbandes („Außenerklärungen") einer Verbandsbildung mit dieser Gemeinde nicht entgegenstehen, wenn sie in der Folgezeit als Verbandsmitglied aufgetreten ist. Freilich ist der Gesetzgeber mit § 2 Abs. 2 und 3 ZwVerbStabG — entgegen der kurz greifenden amtlichen Überschrift — über die Heilung von Form- und Verfahrensfehlern deutlich hinausgegangen (vgl. zum Begriff der Form- und Verfahrens fehler OVG Sachsen, SächsVBl. 1999, 14, 17). Er hat sich nicht darauf beschränkt, einzelne Förmlichkeiten des Gründungsvorgangs zu beheben, was für sich betrachtet—wie auch die Beschwerdeführerinnen einräumen — unbedenklich wäre und auf der Linie anderer Vorschriften läge, mit denen die Folgen einzelner Satzungsmängel begrenzt werden (vgl. etwa §§ 214ff Baugesetzbuch, § 5 Abs. 4 GO). Vielmehr hat der Gesetzgeber unter den in der Vorschrift genannten Voraussetzungen auch den Beschluß der Gemeindevertretung und die auf die Verbandsbildung gerichtete Willenserklärung des Außenvertretungsberechtigten für verzichtbar erklärt, also nicht nur die Förmlichkeit des Gründungsaktes ersetzt, sondern Teile des Gründungsaktes selbst. Es ist danach denkbar, daß eine Gemeinde rückwirkend Mitglied eines Zweckverbandes wird (und für die Verbindlichkeiten der Vergangenheit mit haftet), deren Vertretung keinen Beschluß zur Verbandsgründung gefaßt und deren Außenvertretungsberechtigter keine entsprechende Willenserklärung abgegeben hat. Den Beschwerdeführerinnen ist zuzugestehen, daß sich der Gesetzgeber mit dieser Regelung von den allgemeinen kommunalrechtlichen Vorschriften über die Gründung von Zweckverbänden in weitgehender Weise entfernt. Dies gilt zwar isoliert
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betrachtet nicht so sehr fur den Verzicht auf die innergemeindliche Willensbildung; auch nach allgemeinem Kommunalrecht sind formgültige Erklärungen des Außenvertretungsberechtigten für die Gemeinde bindend, selbst wenn ihnen kein dahingehender Beschluß der Gemeinde zugrunde liegt (zum Abstraktionsprinzip s. o. I.2.b.aa. (2)). Der Gesetzgeber ersetzt aber durch § 2 Abs. 3 ZwVerbStabG zusätzlich auch die formgültige Erklärung des Außenvertretungsberechtigten. In dieser Koppelung — mit der Folge, daß selbst solche Gemeinden zu Zweckverbandsmitgliedern werden, in denen es hierzu nie einen Beschluß der Gemeindevertretung noch eine Willenserklärung des gesetzlichen Vertreters gegeben hat — geht der Gesetzgeber durchaus an die Grenzen des Vertretbaren. Auch eine solche Regelung ist jedoch nach Auffassung des Gerichts unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten noch hinnehmbar, wenn ausreichende Sicherungen bestehen, daß wirklich nur solche Gemeinden erfaßt werden, die sich durch eigenes Verhalten auf die Aufgabenerfüllung in einer Zweckverbandsgemeinschaft eingelassen haben. Der Gesetzgeber muß, wenn er schon einen Beschluß der Gemeindevertretung und eine Willenserklärung des gesetzlichen Vertreters der Gemeinde für verzichtbar hält, die Heilungswirkungen in anderer, verfassungsrechtlich noch hinreichender Weise an eine zurechenbare Willensäußerung der jeweiligen Gemeinde knüpfen. Dem wird das ZwVerbStabG indes gerecht. (aa) § 2 Abs. 2 und 3 ZwVerbStabG koppelt die rückwirkende Heilung der Zweckverbandsgründung nicht vollständig von dem Willen der Gemeinden ab und drängt nicht auch solche Gemeinden nachträglich in einen Zweckverband, die mit dem Zweckverband gleichsam nichts zu tun gehabt haben, sondern knüpft — für den Fall, daß eine Beteiligung an der Verbandsgründung nicht dokumentiert ist — an das tatsächliche Auftreten der Gemeinden als Zweckverbandsmitglied in der Folgezeit an. Von daher werden die betreffenden Gemeinden nur so behandelt, wie sie selbst aufgetreten sind. Dies erscheint im Grundsatz nicht als unverhältnismäßige Benachteiligung der Gemeinden. Das ZwVerbStabG greift in dieser Weise der Sache nach auf die auch sonst im Recht anerkannte Haftung nach Rechtsscheingesichtspunkten zurück und überträgt diesen Gedanken für einen Sonderfall auf die Zurechnung von Handlungen und Willenserklärungen im Kommunalrecht. Die Gemeinden werden festgehalten an dem Rechtsschein, den sie selbst durch ihr Auftreten als Verbandsmitglied gegenüber den anderen Verbandsmitgliedern und Dritten gesetzt haben. Richtig ist, daß im allgemeinen Rechtsverkehr die Grundsätze der Rechtsscheinhaftung die kommunalrechtlichen Vertretungsregelungen nicht verdrängen können. Eine Gemeinde kann nach allgemeinem Kommunalrecht grundsätzlich nur durch (formgültige) Erklärungen ihres Außenvertretungsbefugten verpflichtet werden (vgl. hierzu etwa Schuhmacher Gemeindeordnung Brandenburg, § 67 Ziffer 3.6). Unbeschadet dessen kann es dem Gesetzgeber aber nicht verwehrt sein, für eine besonders gelagerte Konstellation auf den Gedanken der Rechtsscheinhaftung auch für den kommunalen LVerfGE 11
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Bereich zurückzugreifen und eine diesen Gedanken aufgreifende Regelung zu treffen, solange die Rechtsfolge an das von den Gemeinden tatsächlich Gewollte anknüpft. (bb) Um letzteres sicherzustellen, bedarf allerdings das Zurechnungskriterium des § 2 Abs. 2 S. 1 ZwVerbStabG — Auftreten der Gemeinde als Zweckverbandsmitglied — von Verfassungs wegen der Präzisierung und verfassungskonformen Auslegung. Die gesetzliche Formulierung stellt in auslegungsbedürftiger Weise nur darauf ab, ob „die Gemeinde" in der Folgezeit als Verbandsmitglied aufgetreten ist. Das geht in dieser Form zu weit. Das Handeln irgendeines Gemeindebediensteten kann nicht ohne weiteres mit dem Willen „der Gemeinde" als Körperschaft gleichgesetzt werden. Die eigentliche Willensbildung innerhalb der Gemeinde vollzieht sich über die Gemeindevertretung. Das Auftreten einzelner Personen fur die Gemeinde, die nicht ihr gesetzlicher Vertreter sind, kann deshalb selbst unter Rechtsscheingesichtspunkten nur dann die Mitgliedschaft in dem Zweckverband und eine Haftung der Gemeinde für die Verbindlichkeiten des Zweckverbandes auslösen, wenn dieses Auftreten nicht ganz und gar an der Gemeindevertretung vorbei erfolgt ist, sondern dieser bekannt war und sich in dieser Weise zurechenbar im Rahmen einer dahingehenden Willenshaltung der Gemeindevertretung hält. Der Gesetzgeber darf deshalb unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten eine Gemeinde, bei der ein förmlicher Beschluß der Gemeindevertretung über den Beitritt zu dem Zweckverband nicht erfolgt oder nicht feststellbar ist, nur dann an einem tatsächlichen Auftreten „als Zweckverbandsmitglied" festhalten, wenn dieses Auftreten in irgendeiner Form, und sei es nur durch ein wissentliches Gewährenlassen des Auftretens für die Gemeinde, der für die Willensbildung der Gemeinde zuständigen Gemeindevertretung zurechenbar ist. Der Gesetzgeber hat dem zwar in § 2 Abs. 2 S. 2 ZwVerbStabG in gewissem Umfang bereits Rechnung getragen. Danach ist ein Auftreten der Gemeinde als Verbandsmitglied „insbesondere" dann anzunehmen, wenn stimmberechtigte Vertreter „mit Kenntnis der Vertretungskörperschaft" für die Gemeinde mehrmals an den Sitzungen der Verbandsversammlung teilgenommen und sich an Beschlußfassungen beteiligt haben. Damit hat der Gesetzgeber jedoch nur ein Beispiel formuliert („insbesondere"), das bei der Auslegung des § 2 Abs. 2 S. 1 ZwVerbStabG von den Rechtsanwendern als Indiz für das Auftreten der Gemeinde als Verbandsmitglied herangezogen werden kann. Dies schließt es aber dem Wortlaut nach nicht aus, im Einzelfall die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Satz 1 ZwVerbStabG auch dann anzunehmen, wenn sich der für die Gemeinde Auftretende nicht im Rahmen einer zurechenbaren Duldung seines Auftretens durch die Gemeindevertretung bewegt hat. Auch die amtliche Begründung des Gesetzentwurfs läßt, wenn auch in diese Richtung gehend (vgl. LTDrs. 2/5171, S. 18f), nicht mit Sicherheit den Schluß zu, daß nach den Vorstellungen des Gesetzgebers das Auftreten der Gemeinde als Verbandsmitglied von der Gemeindevertretung zurechenbar geduldet gewesen sein muß. LVerfGE 11
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Da § 2 Abs. 2 ZwVerbStabG somit eine einfachrechtliche Auslegung zuläßt, die in unverhältnismäßiger Weise in die kommunale Selbstverwaltung eingreifen würde, ist eine verbindliche verfassungskonforme Auslegung dahin vorzunehmen, daß ein Auftreten der Gemeinde als Verbandsmitglied iSd § 2 Abs. 2 S. 1 ZwVerbStabG ein Handeln mit Kenntnis der Gemeindevertretung voraussetzt. Damit wird für das Auftreten als Verbandsmitglied ein Mindestmaß an Zurechenbarkeit sichergestellt. (cc) Einer weiteren Präzisierung bedarf § 2 Abs. 2 S. 1 ZwVerbStabG hinsichtlich der Dauer und Häufigkeit des Auftretens einer Gemeinde als Verbandsmitglied. Auch insoweit ist das „Auftreten als Verbandsmitglied" unterschiedlichen Wertungen zugänglich. Es erschiene bedenklich, etwa aus der inaktiven Teilnahme an einer Verbandsversammlung bloß zu Informationszwecken eine Mitgliedschaft der Gemeinde und eine Haftung für die Verbindlichkeiten des Zweckverbandes abzuleiten. Unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten ist vielmehr zu verlangen, daß sich das Auftreten der Gemeinde als tatsächliche und gewollte Mitwirkung im Zweckverband darstellt, also eine gewisse Kontinuität und Substanz aufweist. Nur dann kann aus dem Verhalten der Gemeinde der Rückschluß gezogen werden, daß sie tatsächlich „als Verbandsmitglied" aufgetreten ist. Auch dem trägt § 2 Abs. 2 S. 2 ZwVerbStabG bereits in gewissem Umfang Rechnung („mehrmals teilgenommen und sich an Beschlußfassungen beteiligt"). Auch insoweit ist jedoch wegen der Formulierung als Beispiel („insbesondere") nicht ausgeschlossen, daß ein Rechtsanwender im Einzelfall geringere Anforderungen ausreichen läßt, zumal auch die Gesetzesbegründung nicht zu einer Auslegung in dem hier für notwendig erachteten Sinne zwingt (vgl. LT-Drs. 2/5171, S. 18f). Auch diesbezüglich ist deshalb eine verfassungskonforme Auslegung vorzugeben dahingehend, daß ein Auftreten als Verbandsmitglied iSd § 2 Abs. 2 S. 1 ZwVerbStabG ein auf Dauer angelegtes Mitwirken im Zweckverband voraussetzt. (dd) Mit diesen Maßgaben bleibt die Verhältnismäßigkeit des in § 2 Abs. 2 und 3 ZwVerbStabG liegenden Eingriffs in die kommunale Selbstverwaltung jedenfalls unter Mitberücksichtigung auch der weiteren Sicherungen gewahrt, mit denen der Gesetzgeber den Eingriff abmildert. Hierzu zählt zunächst § 4 Abs. 2 ZwVerbStabG. Danach ist — gleichsam spiegelbildlich zur faktischen Gründung — ein faktischer Austritt aus dem Zweckverband möglich. Das Ausscheiden gilt nach Satz 4 der Vorschrift als vollzogen, wenn die Auseinandersetzung erfolgt ist oder die ausscheidende Gemeinde nach Kundgabe ihres Austrittswillens ohne Widerspruch des Zweckverbandes über einen Zeitraum von mindestens einem Jahr nicht mehr als Verbandsmitglied aufgetreten ist. Der Gesetzgeber verzichtet also nicht nur zu Lasten, sondern auch zugunsten der Gemeinden auf die Einhaltung der nach dem GKG vorgeschriebenen Voraussetzungen. Dies kommt denjenigen Gemeinden zugute, die sich in der Anfangsphase eines Zweckverbandes faktisch als Mitglieder engagiert und dann wieder zurückgezogen haben. Sie haften nur LVerfGE 11
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für die bis zu ihrem faktischen Ausscheiden nach § 4 Abs. 2 ZwVerbStabG entstandenen Verbindlichkeiten. Des weiteren wird den Gemeinden durch § 16 Abs. 1 ZwVerbStabG ein erleichterter Austritt aus dem Zweckverband ermöglicht. Gemeinden, die keinen Beschluß zur Verbandsbildung gefaßt haben - also in den Fällen des § 2 Abs. 2 ZwVerbStabG können binnen eines Monats nach der Bekanntmachung des Ergebnisses des behördlichen Feststellungsverfahrens durch einseitige Erklärung und damit unter leichteren Bedingungen als nach dem GKG aus dem Verband wieder ausscheiden. Freilich ändert dies nichts an der anteiligen Haftung für die bis dahin entstandenen Verbindlichkeiten des Verbandes. Auch ein Austritt nach § 16 Abs. 1 ZwVerbStabG erfordert eine vorherige Auseinandersetzung der Beteiligten, über die notfalls — wenn die Beteiligten keine Einigung erzielen — von der Aufsichtsbehörde entschieden wird (vgl. § 16 Abs. 2 ZwVerbStabG). Soweit die Beschwerdefuhrerinnen für den Austritt nach § 16 ZwVerbStabG eine Beschränkung der Haftung auf die tatsächlich gezogenen Vorteile angeregt haben, war der Gesetzgeber zu einer solchen Regelung unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten nicht verpflichtet. Sie würde dazu führen, daß sich die Gemeinden durch eine bloße Austrittserklärung von einem Großteil der Schulden befreien könnten, die sie durch ihre faktische Mitarbeit in dem Zweckverband mit verursacht haben. Eine dahingehende Regelung liefe sogar Gefahr, ihrerseits mit Art. 97 LV in Konflikt zu geraten, weil sie denjenigen Gemeinden, denen keine Gründungsfehler unterlaufen sind und die deshalb nicht ohne weiteres austreten können, überproportionale Lasten aufbürden würde. ee) Im übrigen ist über die Frage, ob die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 und 3 ZwVerbStabG im Einzelfall gegeben sind, in dem Verfahren nach § 14 Abs. 2 ZwVerbStabG zu befinden. Das dort geregelte Verfahren ermöglicht die gerichtliche Anfechtung der mit dem Feststellungsbescheid verbundenen Verbandszugehörigkeit und gewährleistet für jede betroffene Gemeinde im Sinne effektiven Rechtsschutzes die einzelfallbezogene Überprüfung dieser behördlichen Entscheidung. (b) Auch gegen die weiteren zur verfassungsgerichtlichen Prüfung gestellten Vorschriften des ZwVerbStabG ergeben sich unter dem Aspekt der Angemessenheit keine verfassungsrechtlichen Einwände. Sie sichern die vom Gesetzgeber bezweckte rückwirkende Heilung hinsichtlich weiterer denkbarer Verbandsgründungsfehler ab oder betreffen (lediglich) eher technische Modalitäten. Im einzelnen: (aa) § 1 Abs. 3 ZwVerbStabG betrifft Gemeinden, die sich vor dem Inkrafttreten des GKG zu einem faktischen Zweckverband zusammengeschlossen haben. Diese Zweckverbände konnten nach zum Teil vertretener Ansicht (vgl. o. B.II, l.b.) keine Rechtsfähigkeit als juristische Personen des öffentlichen Rechts erlangen, weil es insoweit nach damaliger Rechtslage (bis zum Inkrafttreten des GKG) an einer ausdrücklichen gesetzlichen Grundlage gefehlt habe. Ob diese Ansicht zutrifft, kann auch in diesem Zusammenhang offenbleiben (vgl. zu einem solchen Vorgehen LVerfG MeckLVerfGE 11
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lenburg-Vorpommern, LKV 1999, 319, 321 f). Sofern schon vor Inkrafttreten des GKG eine ausreichende Rechtsgrundlage fur die Bildung von Zweckverbänden bestanden hat, käme § 1 Abs. 3 ZwVerbStabG lediglich eine — verfassungsrechtlich von vornherein unbedenkliche — klarstellende Funktion zu. Geht man hingegen davon aus, daß eine solche Rechtsgrundlage erst mit dem GKG geschaffen worden ist, käme § 1 Abs. 3 ZwVerbStabG konstitutive Wirkung zu: Die Vorschrift würde den betreffenden Verbänden, obwohl bei ihnen die Voraussetzungen für die Entstehung einer juristischen Person des öffentlichen Rechts nie gegeben gewesen wären, rückwirkend Rechtspersönlichkeit verleihen, um sie auf diesem Wege in den Anwendungsbereich des ZwVerbStabG einzubeziehen. Auch hiergegen ergeben sich indes keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Die Vorschrift stellt für diesen Fall lediglich sicher, daß die Heilungsvorschriften des ZwVerbStabG auf alle seit dem 3. Oktober 1990 gegründeten Wasserzweckverbände unabhängig davon anwendbar sind, ob sie vor oder nach dem Inkrafttreten des GKG gegründet wurden. Dies ist sachlich gerechtfertigt. Das Gemeinwohlbedürfnis einer rechtlichen Absicherung der Wasserzweckverbände ist bei den vor dem 31. Dezember 1991 gegründeten Verbänden nicht geringer als bei den später gegründeten Verbänden. Unter Umständen ist es bei den älteren Verbänden sogar größer, weil sie schon länger am Rechtsverkehr teilnehmen und sich ihre Strukturen demgemäß in besonderer Weise verfestigt haben. Es ist deshalb von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, daß der Gesetzgeber mit § 1 Abs. 3 ZwVerbStabG die Voraussetzungen für eine Heilung von Gründungsmängeln auch bei den älteren, vor dem 31. Dezember 1991 gegründeten Verbänden geschaffen hat. (bb) § 3 ZwVerbStabG begegnet unter dem Gesichtspunkt der kommunalen Selbstverwaltung ebenfalls keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Die Vorschrift stellt sich als Begleitregelung eher technischer Art dar. Sie dient der Bestimmung des Zeitpunktes des Entstehens des Zweckverbandes für den Fall, daß entgegen § 11 Abs. 1 GKG die Bekanntmachung der Verbandssatzung und/oder ihrer Genehmigung unterblieben ist. Da in diesen Fällen der Zeitpunkt der Entstehung nicht aus § 11 Abs. 2 S. 1 GKG folgt, mußte der Gesetzgeber den Entstehungszeitpunkt fingieren. Er hat dabei auf das erstmalige Erscheinen des Zweckverbandes in einer öffentlichen Bekanntmachung abgestellt. Ob mit dieser Regelung den Gesichtspunkten der Rechtssicherheit und Publizität gegenüber dem Bürger, in dessen Interesse die Vorschriften über die öffentliche Bekanntmachung von Satzungen vornehmlich liegen, hinreichend Rechnung getragen ist, bedarf hier keiner Entscheidung. Eine unangemessene Beeinträchtigung der kommunalen Selbstverwaltung läßt das Anknüpfen an den vom Gesetzgeber gewählten Zeitpunkt jedenfalls nicht erkennen. (cc) Auch § 4 Abs. 2 ZwVerbStabG begegnet keinen verfassungsrechtlichen Einwänden. Die Vorschrift überträgt den für die Gründung von Zweckverbänden bestimmten Verzicht auf einen Beschluß der Gemeindevertretung und einer entsprechenden Erklärung des Außenvertretungsberechtigten auf den Beitritt einer LVerfGE 11
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Gemeinde zu einem (bestehenden) Zweckverband. Für den Fall, daß Beschlüsse der Gemeindevertretung 2um Verbandsbeitritt, Beitrittsanträge sowie Satzungsänderungsbeschlüsse des Verbandes fehlen oder nicht feststellbar sind, kommt es darauf an, ob die Gemeinde den Beitritt tatsächlich vollzogen hat. Hierzu bestimmt § 4 Abs. 2 S. 2 ZwVerbStabG, daß der Beitritt als vollzogen gilt, wenn die Gemeinde entsprechend § 2 Abs. 2 ZwVerbStabG als Verbandsmitglied aufgetreten ist. Über die Verweisung auf § 2 Abs. 2 ZwVerbStabG gilt die für jene Vorschrift getroffene Maßgabe des erkennenden Gerichts zur Auslegung des Zurechnungskriteriums „Auftreten der Gemeinde als Verbandsmitglied" (s. hierzu im einzelnen oben I.2.b.cc.(2) (a) (bb) und (cc)) gleichermaßen für § 4 Abs. 2 S. 2 ZwVerbStabG. Damit bleibt auch für den Fall des Beitritts zu einem Zweckverband sichergestellt, daß das „Auftreten als Verbandsmitglied" tatsächlich zurechenbar ist. Im Ergebnis werden vom Gesetzgeber, was verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, Gründungsmitglieder und später beigetretene Gemeinden rechtlich gleich behandelt. Außerdem ermöglicht die Vorschrift zugunsten der Gemeinden einen faktischen Austritt aus dem Zweckverband und mildert so die Eingriffsintensität des Gesetzes ab (s.o. I.2.b.cc.(2)(a)(dd)). (dd) Der ferner angegriffene § 7 ZwVerbStabG betrifft fehlende oder unvollständige Mitgliederverzeichnisse und damit einen inhaltlichen Mangel der Verbandssatzungen. Auch insoweit knüpft der Gesetzgeber an den Willen der Gemeinden an, indem neben den in den Verbandsunterlagen aufgeführten auch diejenigen Gemeinden als Mitglieder gelten, die gem. § 2 Abs. 2 ZwVerbStabG als solche aufgetreten sind. Durch die Verweisung auf § 2 Abs. 2 ZwVerbStabG ist die zu jener Vorschrift getroffene Maßgabe des erkennenden Gerichts zur Auslegung des Zurechnungskriteriums „Auftreten der Gemeinde als Verbandsmitglied" (s. hierzu wiederum I.2.b.cc.(2) (a) (bb) und (cc)) auch für § 7 Abs. 1 S. 2 ZwVerbStabG verbindlich. Damit bleibt gewährleistet, daß die Rechtswirkungen des Gesetzes auch im Falle unvollständiger oder fehlender Mitgliederverzeichnisse in hinreichender Weise an den Willen der Gemeinde anknüpfen. Als weiteres Korrektiv erweist sich § 7 Abs. 2 ZwVerbStabG. Danach zählen Gemeinden, deren Beteiligung an der Verbandsgründung nicht dokumentiert ist und die in der Folgezeit auch nicht als Verbandsmitglieder aufgetreten sind, nicht als Verbandsmitglieder, selbst wenn sie als solche im Mitgliederverzeichnis oder in der Verbandssatzung aufgeführt sind. Auch von daher ist es also nicht etwa so, daß eine gänzlich unbeteiligte Gemeinde in die Haftung genommen wird, nur weil sie, aus welchen Gründen auch immer, in den Verbandsunterlagen als Mitglied geführt wird. Unter Mitberücksichtigung dieser Sicherung verstößt auch § 7 ZwVerbStabG nicht gegen das Recht der kommunalen Selbstverwaltung nach der Landesverfassung. II. Die angegriffenen Vorschriften des ZwVerbStabG verstoßen nicht gegen das aus dem Rechtsstaatsprinzip der Landesverfassung ableitbare (relative) Rückwirkungsverbot. LVerfGE 11
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1 .a. Das in Art. 2 Abs. 1 und 5 LV verankerte Rechtsstaatsprinzip schützt auch die Gemeinden vor rückwirkenden Gesetzen. Sie dürfen sich ebenso wie der Einzelbürger jedenfalls grundsätzlich auf die Beständigkeit des Rechts verlassen und brauchen jedenfalls grundsätzlich nicht damit zu rechnen, daß der Gesetzgeber in der Vergangenheit liegende Lebenssachverhalte nachträglich anders regelt (vgl. LVerfG Sachsen-Anhalt, LVerfGE 7, 304, 323 ff; LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, LKV 1999,319, 322; Ä%/LKV 1998,168,171). b. Die hier in Frage stehende rückwirkende Heilung von Verbandsgründungsmängeln stellt sich als rückwirkende Umgestaltung der Rechtslage dar. Es handelt sich um eine sog. echte Rückwirkung in der Form einer Rückbewirkung von Rechtsfolgen (vgl. zur Terminologie in der Rechtsprechung des 1. und 2. Senats des BVerfG Schult^eFielit^ in: Dreier, Grundgesetz, Bd. 2, Art. 20 - Rechtsstaat - Rn. 144 ff; Möller/Rühr/»iwrNJW 1999,908 ff). Die Heilung der fehlgeschlagenen Zweckverbandsgründungen ändert die Rechtsstellung für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum. Gemeinden, die bislang keine Zweckverbandsmitglieder waren, werden rückwirkend zu Verbandsmitgliedern und verlieren damit nachträglich die Wahrnehmungskompetenz für die Aufgabe der Abwasserbeseitigung. Gleichzeitig haften sie anteilig für die seit der Gründung bzw. ihrem Beitritt entstandenen Verbindlichkeiten. Derartige Rechtswirkungen sind entsprechend dem (relativen) Rückwirkungsverbot der Landesverfassung unter dem Aspekt des Vertrauensschutzes grundsätzlich nicht zulässig. 2. Im Grundsatz des Vertrauensschutzes findet das Rückwirkungsverbot freilich nicht nur seinen Grund, sondern auch seine Grenze. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, der sich das erkennende Gericht für die Auslegung des Rückwirkungsverbotes nach der Landesverfassung anschließt, gilt das Rückwirkungsverbot dort nicht, wo sich ausnahmsweise kein schutzwürdiges Vertrauen bilden konnte. Das ist namentlich dann der Fall, wenn die Betroffenen schon in dem Zeitpunkt, auf den die Rückwirkung bezogen wird, nicht mit dem Fortbestand der Regelungen rechnen konnten. Ferner kommt der Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes nicht zum Tragen, wenn die Rechtslage so unklar und verworren war, daß ein Eingreifen des Gesetzgebers erwartet werden mußte. Diese vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Fallgruppen sind Ausprägungen des allgemeinen Grundsatzes, daß nur schutzwürdiges Vertrauen einer Rückwirkung entgegen steht (vgl. LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, aaO; BVerfGE 72, 200, 258; BVerfG, NJW 1998, 1547, 1548; vgl. auch — seine bisherige Rechtsprechung zusammenfassend — BVerfGE 88, 384, 404). Danach ist die hier in Frage stehende rückwirkende Heilung der in der Nachwendezeit bei der Gründung von Wasserzweckverbänden unterlaufenen Gründungsmängel hinzunehmen. In dieser Hinsicht hat sich zu keiner Zeit ein schutzwürdiges Vertrauen auf selten der Gemeinden gebildet, das der Gesetzgeber hätte enttäuschen können. Insoweit ist zu unterscheiden zwischen dem anfänglichen Vertrauen in die LVerfGE 11
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Wirksamkeit der Verbandsgründungen (dazu a.) und der später - nach Kenntnis der Unwirksamkeit zahlreicher Verbandsgründungen — aufkeimenden Hoffnung, von Rechts wegen nicht Mitglied eines Zweckverbandes geworden zu sein (dazu b.). a. Die Gemeinden sind zunächst davon ausgegangen, nicht nur faktisch, sondern auch rechtlich wirksam Zweckverbände gegründet zu haben. Sie waren naheliegenderweise der Meinung, durch Gründung oder Beitritt Mitglied eines Zweckverbandes geworden zu sein. Dieses Vertrauen hat der Gesetzgeber des ZwVerbStabG nicht enttäuscht, sondern bestätigt, indem er das seinerzeit Gewollte nachträglich rechtlich abgesichert hat. aa. Das gilt zunächst fur § 1 Abs. 3 ZwVerbStabG, mit dem der Gesetzgeber nachträglich den bis zum Inkrafttreten des GKG gegründeten Zweckverbänden Rechtspersönlichkeit als juristische Personen des öffentlichen Rechts verliehen hat. In der Nachwendezeit entsprach es zunächst nahezu allgemeiner Auffassung, daß Zweckverbände als rechtsfähige Körperschaften des öffentlichen Rechts errichtet werden konnten, sei es allein aufgrund des § 61 DDR-KV oder in Verbindung mit dem RZwVerbG. Diese Auffassung wurde nicht nur in der Kommentarliteratur vertreten (s. etwa Schlemp Kommunalverfassung, 1990, Teil II, Β 1, § 61; Βretinger/Büchner- Uhder Kommunalverfassung, Handbuch für die kommunale Praxis in den neuen Bundesländern, 1990, § 61 DDR-KV, Rn. 2, 3 und 6; s. auch die Nachweise bei Klügel LKV 1998, 169 mwN), sondern auch in der kommunalen Praxis (s. etwa die in Zusammenarbeit mit dem Bundesinnenministerium entstandene Arbeitshilfe der Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände zur Gründung von Zweckverbänden, 1991, S. 4), in der Rechtsprechung (s. zur Fortgeltung des RZwVerbG etwa OVG Sachsen, LKV 1997, 223; LKV 1997,418 und LKV 1997, 420; Brandenburgisches OLG, LKV 1997, 426f; LG Potsdam, LKV 1997, 430f), nicht zuletzt auch von den Landesgesetzgebern in den neuen Bundesländern, wie sich etwa darin zeigt, daß mit der Einführung der Landesgesetze über die kommunale Gemeinschaftsarbeit das RZwVerbG jeweils aufgehoben wurde (s. für das Land Brandenburg § 32 Ziffer 1 GKG, für MecklenburgVorpommern § 177 Abs. 3 Nr. 3 Kommunalverfassung MV). Erst mit dem Beschluß des OVG Magdeburg vom 14. Mai 1997 (LKV 1997,417 f) und dem kurz darauf ergangenen Urteil des Landesverfassungsgerichts Sachsen-Anhalt vom 3. Juli 1997 (LVerfGE 7, 251 ff) setzte sich die Auffassung durch, daß § 61 DDR-KV für sich genommen keine ausreichende Grundlage für Zweckverbandsgründungen bilde und auch das RZwVerbG für die neuen Bundesländer nicht die notwendige gesetzliche Ergänzung bereitstelle (vgl. hierzu etwa Wellmann LKV 1997, 402 ff; Kollhosser, NJW 1997, 3266). Bis dahin aber fehlte es den Gemeinden schon an dem Bewußtsein, daß Zweckverbände nicht entstehen konnten. Die Gründung der Zweckverbände war vielmehr rechtsirrig — im Vertrauen darauf erfolgt, daß der Vorgang mit der Rechtslage in Einklang stehe. Dieses Vertrauen hat der Gesetzgeber nicht enttäuscht, sondern nachträglich gerechtfertigt (vgl. LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, LKV 1999, 319, 322 f; LVerfGE 11
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LVerfG Sachsen-Anhalt, LVerfGE 7, 304, 327 £; vgl. auch — zur nachträglichen Heilung von Beurkundungsmängeln — BVerfGE 72, 302 ff). bb. Ahnliches gilt für die weiteren angegriffenen Heilungsvorschriften des ZwVerbStabG. Auch insoweit haben die betroffenen Kommunen — ablesbar an ihrem Auftreten als Verbandsmitglieder — zunächst darauf vertraut, daß der Gründungsvorgang nicht mit die rechtliche Wirksamkeit der Verbandsgründung in Frage stellenden Mängeln behaftet sei. Diese Vertrauen ist durch die rückwirkende Heilung der erst nachträglich erkannten Mängel nicht enttäuscht worden. Allerdings waren die wesentlichen kommunalrechtlichen Anforderungen an die Gründung von Zweckverbänden - anders als die Frage, ob Zweckverbände nach damaligem Recht Rechtspersönlichkeit erlangen konnten — auch schon vor dem Inkrafttreten des GKG hinreichend klar geregelt. Es ist deshalb vorstellbar, daß einzelne Gemeinden, die damals an unwirksamen Verbandsgründungen mitgewirkt bzw. in solchen Verbänden in der Folgezeit als Mitglied aufgetreten sind, dies von Anfang an in dem Bewußtsein getan haben, daß ihnen hieraus wegen der (von ihnen bereits erkannten) Unwirksamkeit keine nachteiligen Folgen erwachsen und sie jederzeit wieder „aussteigen" könnten. Solche Gemeinden hätten in der Tat von Anfang an auf den Fortbestand der seinerzeit geltenden und von ihnen richtig verstandenen Vorschriften über die Zweckverbandsgründung vertraut und wären in diesem Vertrauen durch die rückwirkende Heilung der Gründungsmängel enttäuscht worden. Ob derartige Fälle tatsächlich vorgekommen sind, kann indes dahinstehen. Jedenfalls ist nicht ersichtlich, daß die Beschwerdeführerinnen ein solches Vertrauen gehegt hätten. Ein so geartetes „Vertrauen" wäre aber auch nicht schutzwürdig. Wenn eine Gemeinde die Unwirksamkeit einer Verbandsgründung erkennt, aber gleichwohl weiterhin als Verbandsmitglied auftritt, verhält sie sich arglistig, handelt jedenfalls wider besseres Wissen und verdient insoweit keinen Schutz (vgl. KlügelLKN 1998,168,171). b. Enttäuscht worden sind die Gemeinden durch die Heilungsregelungen allenfalls in der später aufkeimenden Hoffnung, sich angesichts der nunmehr durch verschiedene Gerichtsentscheidungen offenbar werdenden Gründungsmängel einerseits und der immer kritischere Ausmaße annehmenden Verschuldung der Zweckverbände andererseits aus dem Zweckverband zurückziehen zu können. In dieser Situation konnte indes kein Vertrauen in den Fortbestand einer bestimmten Rechtslage entstehen. Die damalige Rechtslage war nach dem Bekanntwerden ganz verschiedenartiger Gründungsmängel insgesamt labil und unsicher und konnte keine Grundlage für schutzwürdige Dispositionen bilden. Die Gemeinden mußten in dieser Lage von Anfang an damit rechnen, daß der Gesetzgeber eingreifen würde (vgl. LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, LKV 1999, 319, 323). Die etwa doch bestehende Hoffnung einzelner Gemeinden, als Folge von Gründungsmängeln nicht Mitglied eines Zweckverbandes geworden zu sein, ist sodann bereits durch das — hier nicht zur verfassungsgerichtlichen Überprüfung stehende — ZwVerbSG aus dem Jahre 1996 enttäuscht worLVerfGE 11
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den, mit dem der Gesetzgeber alle bis dahin bekannt gewordenen Gründungsmängel zu heilen versucht und damit seinen Willen zur Aufrechterhaltung der Zweckverbände zu erkennen gegeben hat. Nunmehr hatten die Gemeinden damit zu rechnen, daß der Gesetzgeber auf dem einmal eingeschlagenen Weg fortfahren werde, sofern sich dieser erste Heilungsversuch als unzureichend herausstellen würde. Daß abweichend hiervon die beschwerdeführenden Gemeinden darauf vertraut hätten, daß das ZwVerbSG eine abschließende Regelung darstelle und deshalb die Verbandsgründung aus von diesem Gesetz nicht erfaßten, von ihnen aber bereits erkannten Gründen endgültig unwirksam bleibe, ist nicht ersichtlich. Dergleichen wird von den beschwerdeführenden Gemeinden selbst nicht geltend gemacht. Hiervon abgesehen wäre eine derartige Vertrauensposition nur schutzwürdig, soweit auf dieser Grundlage bereits Dispositionen getroffen und durch das ZwVerbStabG im nachhinein entwertet worden wären (vgl. zur sog. Vertrauensbetätigung LVerfG Sachsen-Anhalt, LVerfGE 7, 304, 328). Das wäre etwa der Fall, wenn die Gemeinden im Vertrauen darauf, nicht Mitglied eines Wasserzweckverbandes zu sein, schon damit begonnen hätten, eine eigene Wasserver- und Abwasserentsorgung aufzubauen. Dafür ist indes nichts ersichtlich. c. Zusammenfassend stellt sich die Situation der Gemeinden hiernach so dar, daß ihr anfängliches Vertrauen in die Wirksamkeit der Verbandsgründungen durch den Gesetzgeber nicht enttäuscht, sondern bestätigt worden ist und sich in der Folge bis zum Erlaß des ZwVerbStabG ein schützenswertes neues Vertrauen, diesmal in die Unwirksamkeit der Verbandsgründungen, nicht bilden konnte, das durch das ZwVerbStabG hätte enttäuschen werden können. In dieser Situation war dem Gesetzgeber eine rückwirkende Regelung deshalb nicht verwehrt (vgl. LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, LKV 1999, 319, 323; LVerfG Sachsen-Anhalt, LVerfGE 7, 304, 327 f; Darsow LKV 1999, 308 f). III. Die Entscheidung über die teilweise Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 32 Abs. 7 S. 2 VerfGGBbg.
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Nr. 2* 1. Die Möglichkeit eines Straferlasses im Wege der Begnadigung steht der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde gegen eine unanfechtbare gerichtliche Entscheidung unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität nicht entgegen. 2. Der Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung kann gegen das Willkürverbot verstoßen, wenn die Verkündung des Bewährungsbeschlusses unterblieben und die schriftliche Bekanntgabe nicht nachgewiesen ist. 3. Eine Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör nach Art. 52 Abs. 3 LV und auf ein faires Verfahren nach Art. 52 Abs. 4 Satz 1 LV kann sich daraus ergeben, daß sich das Gericht ohne nähere Begründung über das Vorbringen des Beteiligten bestätigende Feststellungen des Rechtsmittelgerichts (in einer zurückweisenden Entscheidung) hinwegsetzt.** Verfassung des Landes Brandenburg Art. 9; 52 Abs. 3 und Abs. 4 Satz 1 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg § 45 Abs. 2 Satz 1 Strafprozeßordnung §§ 33a, 35 Abs. 1, 268a Abs. 1 und 3 Strafgesetzbuch § 56f Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 Beschluß vom 17. Februar 2000 - VfGBbg 39/99 in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren des Herrn R. gegen den Beschluß des Amtsgerichts F. vom 14. Juli 1998 - 4.10. AR 147/97 - , gegen den Beschluß des Landgerichts F. vom 28. September 1998 - 22 Qs 104/98 - und den Beschluß des Landgerichts F. vom 29. September 1999 - 22 Qs 104/98 - betreffend den Widerruf einer Strafaussetzung auf Bewährung. Entscheidungsformel: 1. Die Beschlüsse des Amtsgerichts F. vom 14. Juli 1998 - 4.10 AR 147/97 sowie des Landgerichts F. vom 29. September 1998 - 22 Qs 104/98 - und vom 28. September 1999 — 22 Qs 104/98 — verletzen den Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Art. 52 Abs. 3 und 4 der Verfassung des Landes Brandenburg. * Die Entscheidung ist im Volltext abgedruckt im Supplementband Brandenburg zu LVerfGE 11 (Suppl. Bbg. zu Bd. 11), S. 45 ff, hrsgg. vom Verfassungsgericht des Landes Brandenburg (Adresse s. Anhang) und dort gegen Gebühr erhältlich. Abdruck (gekürzt) auch in: NStZ-RR 2000,172 ff. ** Nichtamtliche Leitsätze.
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Vollziehung einer einstweiligen Verfügung durch Auslandszustellung
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2. Die Beschlüsse werden aufgehoben. Die Sache wird zur Entscheidung über die Kosten des den Widerruf der Strafaussetzung betreffenden Verfahrens an das Landgericht zurückverwiesen. 3. Das Land Brandenburg hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Nr. 3* 1. Unterläßt es ein Verfahiensbeteiligtef, der zur Einhaltung der Vollziehungsfrist für eine einstweilige Verfügung nach § 929 Abs. 2 ZPO eine Auslandszustellung beantragt hat, sich nach angemessener Zeit nach dem Verbleib des Zustellungsnachweises im Sinne des § 202 Abs. 2 ZPO zu erkundigen und damit zur Aufklärung und Behebung einer im innergerichtlichen Bereich entstandenen Verfahrensverzögerung beizutragen, verletzt die die Entscheidung tragende Auffassung des Gerichts, die Auslandszustellung sei nicht „demnächst" iSd § 207 Abs. 1 ZPO bewirkt, weder das Willkürverbot noch den Anspruch auf ein faires Verfahren. 2. Der Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 52 Abs. 3 LV, 103 Abs. 1 GG beinhaltet auch unter den zu 1. genannten Umständen grundsätzlich keine besonderen Hinweispflichten des Gerichts, wenn die Frage der Einhaltung der Zustellungsfrist Gegenstand der Erörterung in der mündlichen Verhandlung gewesen ist.** Verfassung des Landes Brandenburg Art. 6 Abs. 2; 52 Abs. 3 und 4 Satz 1 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg § 45 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 Zivilprozeßordnung §§ 199, 202 Abs. 1 und 2, 207 Abs. 1, 922 Abs. 2, 929 Abs. 2 und 3 Beschluß vom 17. Februar 2000 - VfGBbg 43/99 in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren 1. des Herrn R., 2. der Frau H. und 3. des Herrn M. gegen das Urteil des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 25. November 1999 - 5 U 89/99 - . Entscheidungs formel: Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen. * Die Entscheidung ist im Volltext abgedruckt im Supplementband Brandenburg zu LVerfGE 11 (Suppl. Bbg. zu Bd. 11), S. 54ff, hrsgg. vom Verfassungsgericht des Landes Brandenburg (Adresse s. Anhang) und dort gegen Gebühr erhältlich. ** Nichtamtliche Leitsätze.
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Nr. 4 * 1. Ein Verstoß gegen die Pflicht zur unverzüglichen Benachrichtigung einer Person des Vertrauens bei richterlichen Entscheidungen über Anordnung oder Fortdauer eines Freiheitsentzugs nach Art. 9 Abs. 2 Satz 3,1. Halbsatz LV kann grundsätzlich auch noch nach rechtskräftiger Aburteilung mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden. 2. Eine bei dem erstmaligen Erlaß eines Haftbefehls erfolgte Benachrichtigung entbindet das Gericht nicht von der Pflicht, auch bei jeder weiteren Entscheidung über die Haftdauer unverzüglich eine Person des Vertrauens nach Art. 9 Abs. 2 Satz 3,1. Halbsatz LV zu benachrichtigen. 3. Die Benachrichtigung eines von Amts wegen bestellten Pflichtverteidigers genügt den Anforderungen des Art. 9 Abs. 2 Satz 3,1. Halbsatz LV nicht, wenn sich dem Gericht Zweifel an der Vertrauensbeziehung zwischen dem Gefangenen und seinem Pflichtverteidiger aufdrängen müssen.1*"11 Verfassung des Landes Brandenburg Art. 6 Abs. 2 Satz 3,1. HS Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg §§ 45 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1; 47 Beschluß vom 17. Februar 2000 - VfGBbg 45/99 in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren des Herrn S. gegen das Urteil des Landgerichts N. vom 20. April 1999 - 11 Ks 359 Js 21561/98 (25/98) - , gegen das Unterlassen einer rechtzeitigen Entscheidung über einen Antrag auf Haftprüfung sowie das Unterlassen der unverzüglichen Benachrichtigung einer Vertrauensperson von den Haftbefehlen des Amtsgerichts Z. - 4 Gs 72/98 - und des Landgerichts N. vom 21. September 1998 - 11 Qs 359 Js 21561/98 (215/98) - und den Beschlüssen des Landgerichts N. vom 26. Februar 1999 und 20. April 1999 - 1 Ks 359 Js 21561/98 (25/98) - über die Fortdauer der Haft. Entscheidungsformel: 1. Das Landgericht N. hat das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 9 Abs. 2 Satz 3, 1. HS LV dadurch verletzt, daß es nicht unverzüglich eine Vertrauens* Die Entscheidung ist im Volltext abgedruckt im Supplementband Brandenburg zu LVerfGE 11 (Suppl. Bbg. zu Bd. 11), S. 63 ff, hrsgg. vom Verfassungsgericht des Landes Brandenburg (Adresse s. Anhang) und dort gegen Gebühr erhältlich. Abdruck (gekürzt) auch in: NStZ-RR 2000,185 ff. * * Nichtamtliche Leitsätze.
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Änderung des Antrags auf Gegendarstellung
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person des Beschwerdeführers von dem Erlaß des Haftbefehls vom 21. September 1998 - 11 Qs 359 Js 21561/98 (215/98) - benachrichtigt hat. Im übrigen wird die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen. 2. Das Land Brandenburg hat dem Beschwerdeführer ein Zehntel der notwendigen Auslagen zu erstatten.
Nr. 5* Zur Frage der Verletzung des Grundrechts auf Pressefreiheit (Art. 19 Abs. 2 Satz 1 LV) durch Anordnung zur Veröffentlichung einer durch das Gericht geänderten Gegendarstellung.11"*1 Grundgesetz Art. 5 Abs. 1 Satz 2; Art. 103 Abs. 1 Verfassung des Landes Brandenburg Art. 19 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1; Art. 52 Abs. 3 Brandenburgisches Landespressegesetz § 12 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg § 45 Abs. 2 Satz 1 Beschluß vom 16. März 2000 - VfGBbg 42/99 in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren 1. der Märkischen Verlags- und Druckhaus GmbH & Co. KG, vertreten durch die Märkische Verlags- und Druckhaus Verwaltungs-GmbH, diese vertreten durch die Geschäftsführer 2. des Chefredakteurs Dr. K. gegen das Urteil des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 13. Oktober 1999 - 1 U 17/99-. Entscheidungsformel: Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.
* Die Entscheidung ist im Volltext abgedruckt im Supplementband Brandenburg zu LVerfGE 11 (Suppl. Bbg. zu Bd. 11), S. 73 ff, hrsgg. vom Verfassungsgericht des Landes Brandenburg (Adresse s. Anhang) und dort gegen Gebühr erhältlich. ** Nichtamtlicher Leitsatz.
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Nr. 6 * 1. Keine Verletzung des Willkürverbots, wenn ein Gericht das Bestreiten einer vom Gegner behaupteten Tatsache im Hinblick auf das vorangegangene Prozeßverhalten der bestreitenden Partei für unbeachtlich hält und deshalb von einer Beweisaufnahme absieht. 2. Weicht ein Gericht von einem rechtlichen Hinweis in einem Hinweisbeschluß bei seiner abschließenden Entscheidung wieder ab, stellt dies für sich genommen weder eine mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 52 Abs. 3 LV) unvereinbare Uberraschungsentscheidung noch eine Verletzung des Anspruchs auf ein faires Verfahren (Art. 52 Abs. 4 Satz 1 LV) dar.""1' Verfassung des Landes Brandenburg Art. 52 Abs. 3 und 4 Satz 1 Beschluß vom 16. März 2000 - VfGBbg 6/00 in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren der Frau H. gegen das Urteil des Amtsgerichts K. vom 7. Dezember 1999 - 4 C 360/99 Entscheidungs formel: Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.
* Die Entscheidung ist im Volltext abgedruckt im Supplementband Brandenburg zu LVerfGE 11 (Suppl. Bbg. zu Bd. 11), S. 82 ff, hrsgg. vom Verfassungsgericht des Landes Brandenburg (Adresse s. Anhang) und dort gegen Gebühr erhältlich. * * Nichtamtliche Leitsätze.
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Entscheidungsverantwortlichkeit des Verordnungsgebers und Braunkohlenplanung
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Nr. 7* Zu den Anfordet ungen an die gerichtliche Verfahrensweise im Räumungsprozeß nach Kündigung wegen Eigenbedarfs.** Grundgesetz Art. 14 Abs. 1; 103 Abs. 1 Verfassung des Landes Brandenburg Art. 41 Abs. 1; 47 Abs. 2; 52 Abs. 3 und Abs. 4 Satz 1 Bürgerliches Gesetzbuch §§ 556a; 564b Abs. 2 Nr. 2 Beschluß vom 16. März 2000 - VfGBbg 2/00 in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren der Frau P. und des Herrn P. gegen das Urteil des Landgerichts N. vom 5. November 1999 - 4 S 170/99 - . Entscheidungs formel: Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.
Nr. 8* 1. Zur Abgrenzung zwischen „Auflösung" einer Gemeinde iSv Art. 98 Abs. 2 S. 2 LV und (anderweitigem) Eingriff in die kommunale Selbstverwaltung iSv Art. 97 Abs. 1 S. 1 LV im Zuge des Braunkohlentagebaus. 2. Soweit für die Fortführung des Braunkohlentagebaus in der Region Lausitz-Spreewald wegen der Inanspruchnahme von sorbischem Siedlungsgebiet bzw. wegen der erheblichen umweltpolitischen Tragweite eine parlamentsgesetzliche Grundlage erforderlich ist, steht diese mit dem brandenburgischen Braunkohlengrundlagengesetz vom 7. Juli 1997 zur Verfügung. * Die Entscheidung ist im Volltext abgedruckt im Supplementband Brandenburg zu LVerfGE 11 (Suppl. Bbg. zu Bd. 11), S. 88 ff, hrsgg. vom Verfassungsgericht des Landes Brandenburg (Adresse s. Anhang) und dort gegen Gebühr erhältlich. ** Nichtamtlicher Leitsatz. * Die Entscheidung ist im Volltext abgedruckt im Supplementband Brandenburg zu LVerfGE 11 (Suppl. Bbg. zu Bd. 11), S. 99 ff, hrsgg. vom Verfassungsgericht des Landes Brandenburg (Adresse s. Anhang) und dort gegen Gebühr erhältlich. Abdruck (gekürzt) auch in: L K V 2000, 397 ff; DVB1. 2000,1440 ff; DÖV 2000, 870 ff; NVwZ 2000,1285.
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3. Bei einer gesetzlichen Ermächtigung zum Erlaß einer Rechtsverordnung muß sichergestellt sein, daß der Verordnungsgeber über eigenen Gestaltungsspielraum verfügt und nicht in Wahrheit fremden Entscheidungen unterliegt. Von daher ist die Verordnungsermächtigung gemäß § 12 Abs. 6 RegBkPIG (Verbindlicherklärung von Braunkohlen- und Sanierungsplänen, die der Braunkohlenausschuß aufstellt, durch Rechtsverordnung der Landesregierung) mit der Landesverfassung nicht vereinbar. Die Verfassungswidrigkeit der Ermächtigungsnorm schlägt auf die darauf gestützte Verordnung über die Verbindlichkeit des Braunkohlenplans Tagebau Jänschwalde vom 8. September 1998 durch. 4. In einem System, in dem ein Braunkohlenausschuß Entscheidungsbefugnisse von Gewicht hat und sich insoweit als Träger von Hoheitsgewalt darstellt, darf der Gesetzgeber die Zusammensetzung und Arbeitsweise des Braunkohlenausschusses nicht vorgabenfrei einer Verordnung der Landesregierung überlassen. Landesverfassung Art. 80, 97 Abs. 1 S. 1, 98 Abs. 2 S. 2, Art. 100 Gesetz zur Einführung der Regionalplanung und der Braunkohlenund Sanierungsplanung im Land Brandenburg §§ 12,14 Brandenburgisches Braunkohlengrundlagengesetz Art. 1, §§ 1—3 Verordnung über die Verbindlichkeit des Braunkohlenplans Tagebau Jänschwalde vom 8. September 1998 Verordnung über die Bildung des Braunkohlenausschusses des Landes Brandenburg vom 8. April 1992 Urteil vom 15. Juni 2000 - VfGBbg 32/99 in dem kommunalen Verfassungsbeschwerdeverfahren der Gemeinde Grießen, vertreten durch das Amt Jänschwalde, dieses vertreten durch den Amtsdirektor, betreffend die Verordnung der Landesregierung des Landes Brandenburg über die Verbindlichkeit des Braunkohlenplans Tagebau Jänschwalde vom 8. September 1998 (GVB1. II S. 570). Entscheidungsformel: 1. § 12 Abs. 6 S. 1 des Gesetzes zur Einführung der Regionalplanung und Braunkohlen- und Sanierungsplanung im Land Brandenburg vom 13. Mai 1993 (GVB1. I S. 170) ist mit der Verfassung des Landes Brandenburg nicht vereinbar. 2. Die Verordnung über die Verbindlichkeit des Braunkohlenplans Tagebau Jänschwalde vom 8. September 1998 (GVB1. II S. 570) ist nichtig. LVerfGE 11
Entscheidungsverantwortlichkeit des Verordnungsgebers und Braunkohlenplanung 131 3. Das Land Brandenburg hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten. Gründe: A. Die kommunale Verfassungsbeschwerde wendet sich gegen die Verordnung der Landesregierung zur Verbindlicherklärung des Braunkohlenplans Tagebau Jänschwalde. (...)
B. Die kommunale Verfassungsbeschwerde ist gem. Art. 100 LV, § 51 VerfGGBbg zulässig. (...)
C. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Die Verordnung über die Verbindlichkeit des Braunkohlenplans Tagebau Jänschwalde vom 8. September 1998 verstößt wegen Fehlens einer verfassungskonformen gesetzlichen Grundlage gegen die Landesverfassung und verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Recht auf kommunale Selbstverwaltung. Zwar handelt es sich im Fall der Beschwerdeführerin nicht um eine nur durch gesetzliche Regelung mögliche - „Auflösung" der Gemeinde iSd Art. 98 Abs. 2 S. 2 LV. Jedoch verstößt das hier vom Gesetzgeber gewählte Regelungsmodell der Braunkohlenplanung gegen Art. 80 LV. I. Die Verordnung über die Verbindlichkeit des Braunkohlenplans Tagebau Jänschwalde vom 8. September 1998 ist nicht schon deshalb verfassungswidrig, weil die darin vorgesehene Inanspruchnahme weiter Teile des Gemeindegebietes der Beschwerdeführerin auf eine „Auflösung" der Gemeinde iSv Art. 98 Abs. 2 S. 2 LV hinausliefe, wie sie — der genannten Verfassungsbestimmung zufolge — nur durch förmliches Gesetz erfolgen darf. Das Gericht verkennt nicht, daß das Heranrücken des Tagebaus bis auf wenige hundert Meter an die Bebauung hohe Belastungen für das gemeindliche Leben und für die Einwohner des Ortes mit sich bringt. Unbeschadet dessen sind die Ausführungen des erkennenden Gerichts in seinem Urteil vom 1. Juni 1995 in dem Verfahren über die kommunale Verfassungsbeschwerde der Gemeinde Horno betreffend LVerfGE 11
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die Verordnung über die Verbindlichkeit des Braunkohlenplans Tagebau Jänschwalde vom 28. Februar 1994 (VfGBbg 6/95, LVerfGE 3, 157, 163f) auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar: 1. Die tatsächlichen Verhältnisse liegen hier in wesentlichen Punkten anders. Im Fall Horno sah der Braunkohlenplan die Abbaggerung des gesamten Gemeindegebietes vor, während das Gebiet der Beschwerdeführerin nur zu einem Teil — wenn auch zu einem großen Teil — abgebaggert werden soll. Etwa 75% des Gemeindegebietes werden erfaßt. Das erfaßte Gebiet besteht ausschließlich aus landwirtschaftlicher Nutzfläche, Feldern und Wäldern. Es befinden sich dort keine bebauten Grundstücke. Die gesamte bebaute Ortslage liegt außerhalb des Abbaugebietes und bleibt erhalten. Das Dorf als solches wird nicht zerstört, die Gemeinde bleibt bewohnbar und erreichbar. Die Anbindung an das Straßennetz bleibt unter Verlegung der Β 112 bestehen, der Anschluß an die öffentlichen Versorgungseinrichtungen aufrechterhalten. 2. Darüber hinaus steht das Gemeindegebiet der Beschwerdeführerin nach Abbaggerung der Braunkohle und Rekultivierung wieder in seiner Gesamtheit zur Verfügung. Das Dorf als natürlicher Mittelpunkt, von dem aus das Gemeindegebiet dann wieder verwaltet werden wird, bleibt in der Zwischenzeit erhalten. Auch in dieser Hinsicht liegt der Fall entscheidend anders als der Fall Homo, in dem auch das Dorf selbst als der Lebensmittelpunkt seiner bisherigen Bewohner dem Braunkohlentagebau weichen soll. Es steht auch nicht fest, daß etwa sämtliche Bürger wegen des herannahenden Tagebaus wegziehen werden. Es gibt vielfältige, auch emotionale Gründe, am angestammten Wohnort zu verbleiben. Für den im Ort ansässigen landwirtschaftlichen Betrieb sieht der Braunkohlenplan Ersatzflächen vor. 3. Der Braunkohlenplan führt hier auch nicht dazu, daß die Beschwerdeführerin auf die Beendigung ihrer eigenen Existenz festgelegt würde und kein substantieller Raum für eigene Planungen verbliebe (vgl. hierzu Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 1.6.1995 - VfGBbg 3, 157, 164). 20-25% des Gemeindegebietes einschließlich der bebauten Ortslage bleiben vom Tagebau frei und bleiben damit — jedenfalls dem Grundsatz nach — kommunaler Bauleitplanung zugänglich. Das gilt — mit Einschränkungen — auch insoweit, als das vom Tagebau unberührt bleibende Gebiet zu etwa einem Drittel im Naturschutzgebiet „Neißeinsel Grießen" und ein weiterer Teil im Landschaftsschutzgebiet „Neißeaue um Grießen" liegt. Freilich unterfallen diese Flächen Beschränkungen nach dem Brandenburgischen Naturschutzgesetz und sind damit nur eingeschränkt nutzbar (vgl. §§ 21, 22 Gesetz über den Naturschutz und die Landschaftspflege im Land Brandenburg — Brandenburgisches Naturschutzgesetz — BbgNatSchG]). Sie sind aber nicht gänzlich der gemeindlichen Planung entzogen.
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Entscheidungsverantwortlichkeit des Verordnungsgebers und Braunkohlenplanung 133 II. Unbeschadet dessen liegt ein Eingriff in das Recht der Beschwerdeführerin auf kommunale Selbstverwaltung vor. 1. Nicht betroffen ist allerdings die Gebietshoheit der Beschwerdeführerin. In die Gebietshoheit wird eingegriffen, wenn das Gemeindegebiet durch Gesetz neu gegliedert wird und die Gemeinde wegen Verlusts von Gemeindeteilen auf Dauer nicht lebensfähig ist (vgl. BVerfGE 50, 50, 52). Vorliegend handelt es sich jedoch nicht um eine Veränderung des Gemeindegebietes. Die Zuordnung eines bestimmten Teils der Erdoberfläche zum Hoheitsbereich der Beschwerdeführerin bleibt unverändert. Es geht vielmehr darum, daß auf einem größeren Teil des Gemeindegebietes für einen bestimmten Zeitraum dem Braunkohlentagebau Vorrang vor anderen Nutzungen eingeräumt wird. Insofern ist nicht die Gebietszugehörigkeit, sondern die Nutzungsmöglichkeit und unter diesem Gesichtspunkt die Planungshoheit der Beschwerdeführerin betroffen. 2. Ein Eingriff in die Planungshoheit der Beschwerdeführerin liegt indes vor: Die Planungshoheit umfaßt das Recht der Gemeinde, die städtebauliche Entwicklung ihres Gebietes sowie seine bauliche und sonstige Nutzung zu ordnen. Zu ihr gehört zum einen die örtliche Bauleitplanung. Sie zählt zu den Angelegenheiten des örtlichen Wirkungskreises, die von der Selbstverwaltungsgarantie umfaßt sind (vgl. BVerfGE 76,107,117; Löwer in·. von Münch/Kunig, GG, Bd. 2, 3. Aufl. 1995, Art. 28 Rn. 74). Neben der Bauleitplanung ist auch die Landschaftsplanung Teil der kommunalen Planungshoheit. Sie verwirklicht sich in der Aufstellung von Landschafts- und Grünordnungsplänen, für deren Aufstellung die Gemeinden als Träger der Bauleitplanung zuständig sind (vgl. § 7 Abs. 1 BbgNatSchG). Für diese Gestaltungsbefugnisse der Gemeinde bleibt, soweit und solange der Braunkohlenplan Geltung beansprucht, kein Raum. Der Braunkohlenplan beinhaltet jedenfalls insoweit Ziele der Raumordnung und Landesplanung, als er in einem festgelegten und zeichnerisch dargestellten Gebiet der Braunkohlenförderung Vorrang vor anderen Nutzungen einräumt (vgl. Schulte Raumplanung und Genehmigung bei der Bodenschätzegewinnung, 1996, S. 279; s. Punkt 1.2 Braunkohlenplan Tagebau Jänschwalde; vgl. dazu auch Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 18.6.1998 VfGBbg 27/97 - , LVerfGE 8, 99, 118). Ziele der Raumordnung und Landesplanung aber sind für Gemeinden, also auch für die Beschwerdeführerin, verbindlich (§ 4 Abs. 1 ROG 1998, § 1 Abs. 4 BauGB). Die Beschwerdeführerin muß insoweit ihre Planungen an den Vorgaben des Braunkohlenplans ausrichten. 75 % des Gemeindegebietes sind auf Jahre hinaus nicht mehr beplanbar, weil diese Fläche für den Braunkohlentagebau ausgewiesen ist. Damit liegt die Beeinträchtigung der Planungshoheit der Beschwerdeführerin auf der Hand. 3. Ob der in Frage stehende Eingriff in die Planungshoheit die Beschwerdeführerin im — jedem Eingriff entzogenen — Kernbereich der kommunalen SelbstverwalLVerfGE 11
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tung trifft, kann letztlich offenbleiben, weil die in ihm liegende Beeinträchtigung der Selbstverwaltung der Beschwerdeführerin jedenfalls aus den nachfolgenden Gründen mit der Landesverfassung nicht vereinbar ist. III. Zwar ist die Inanspruchnahme von Gemeindegebiet der Beschwerdeführerin für Zwecke des Braunkohlentagebaus „dem Grunde nach" rechtlich möglich (s. dazu nachfolgend 1.). Die Verordnung über die Verbindlichkeit des Braunkohlentagebaus Jänschwalde ist aber bereits aus formalen Gründen verfassungswidrig und kann deshalb den Eingriff in die Planungshoheit der Beschwerdeführerin nicht rechtfertigen (s. dazu nachfolgend 2.). 1. Das Recht auf kommunale Selbstverwaltung gilt nicht uneingeschränkt, sondern ist der Ausgestaltung und — unter den dafür geltenden Voraussetzungen — der Beschränkung durch Gesetz zugänglich. Ein Eingriff ist auch aufgrund eines Gesetzes durch Verordnung denkbar. Ein förmliches Parlamentsgesetz ist — allgemein — nur in Ausnahmefällen, namentlich bei Fragen von wesentlicher Bedeutung, erforderlich (vgl. Dreier in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. 2,1998, Art. 28 Rn. 109). Insbesondere sind dem parlamentarischen Gesetzgeber alle wesentlichen Entscheidungen vorbehalten, die in den Bereich der Grundrechte eingreifen (vgl. BVerfGE 49, 89, 126; 61, 260, 275). Dieser Bereich ist hier nicht berührt. Die landesplanerische Entscheidung über den Braunkohlentagebau Jänschwalde mag zwar mittelbar Einfluß auf grundrechtlich geschützte Bereiche haben, greift jedoch nicht unmittelbar in den Schutzbereich von Grundrechten ein. Allerdings kann sich auch in Grundsatzentscheidungen von Bedeutung für die Allgemeinheit aus dem Demokratieprinzip die Notwendigkeit einer parlamentarischen Entscheidung ergeben. Einen solchen Fall anzunehmen, liegt hier deshalb nahe, weil es um eine großflächige Inanspruchnahme von — in diesem Fall freilich „nur" unbebautem Gelände — im angestammten Siedlungsgebiet der Sorben (Wenden) geht, welches in herausgehobener Weise den Schutz der Landesverfassung genießt (Art. 25 Abs. 1 LV), und es sich bei der Fortführung des Braunkohlentagebaus zugleich um eine Entscheidung von großer umweltpolitischer Tragweite handelt (s. Urt. des erkennenden Gerichts v. 1.6.1995 - VfGBbg 6/95 - , LVerfGE 3,157,166). Eine hinreichende parlamentarische Grundsatzentscheidung ist indes mit dem Gesetz zur Förderung der Braunkohle im Land Brandenburg (— Art. 1 BbgBkGG) gegeben. Art. 1 § 1 BbgBkGG enthält die Grundentscheidung für die Fortführung des Braunkohlentagebaus in der Region Lausitz-Spreewald, und zwar nach Maßgabe von Art. 1 § 2 BbgBkGG auch um den Preis bergbaubedingter Umsiedlungen im allgemeinen und nach Maßgabe von Art. 1 § 3 BbgBkGG im Siedlungsgebiet der Sorben (Wenden) im besonderen. Der Gesetzgeber war sich bewußt, daß es im Zuge des Braunkohlentagebaus zu Eingriffen in das angestammte Siedlungsgebiet der Sorben (Wenden) bis hin zur Umsiedlung sorbischer Dörfer oder von Teilen derselben kommen würde. Die LVerfGE 11
Entscheidungsverantwortlichkeit des Verordnungsgebers und Braunkohlenplanung 135 Inanspruchnahme von Freiflächen im sorbischen Siedlungsgebiet hat der Gesetzgeber zwar nicht ausdrücklich angesprochen. In der Begründung zu Art. 1 § 3 BbgBkGG heißt es jedoch allgemein: „Hiermit wird der verfassungsrechtliche Grundsatz des Schutzes des sorbischen Siedlungsgebietes (Art. 25 Abs. 1 S. 1 LV) in bezug auf bergbaubedingte Umsiedlungen konkretisiert." (LT-Drs. 2/3750, S. 15). Die Einzelbegründung zu Art. 1 §§ 2 und 3 BbgBkGG befaßt sich sodann naheliegenderweise näher nur mit der ggf. erforderlichen Umsiedlung und nicht mit der Abbaggerung unbebauter Gemeindeflächen (unter der Beeinträchtigung von Siedlungen) (vgl. LT-Drs. 2/3750, S. 31 ff). Es versteht sich jedoch von selbst, daß das Gesetz die Abbaggerung von Freiflächen einschließt. Das erkennende Gericht hat die in Art. 1 § 1 BbgBkGG liegende Grundentscheidung fur den Braunkohlentagebau (auch) im Siedlungsgebiet der Sorben (Wenden) in seinem Urt. v. 18.6.1998 (VfGBbg 27/97, LVerfGE 8, 99 ff) insgesamt als mit der Landesverfassung noch vereinbar befunden. Auch soweit die Fortfuhrung des Braunkohlentagebaus eine Entscheidung von erheblicher umweltpolitischer Tragweite ist und man auch unter diesem Gesichtspunkt eine Entscheidung durch den parlamentarischen Gesetzgeber für erforderlich hält, ist eine ausreichende Rechtsgrundlage gegeben. Dabei kann dahinstehen, ob sich diese bereits aus dem Regional- und Braunkohlenplanungsgesetz ergibt. Denn jedenfalls bietet Art. 1 § 1 BbgBkGG auch insoweit eine ausreichende parlamentsgesetzliche Grundlage für die Fortführung des Braunkohlentagebaus in der Region Lausitz-Spreewald. Bereits aus dem Wortlaut des Art. 1 § 1 BbgBkGG, wonach die in der Region Lausitz-Spreewald lagernde Braunkohle unter Berücksichtigung des Lagerstättenschutzes und des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen und bei schonender Nutzung des Bodens gewonnen werden kann, ergibt sich, daß sich der Gesetzgeber bei seiner Entscheidung für den Abbau der Lausitzer Braunkohle auch der umweltpolitischen Tragweite bewußt gewesen ist. Das bestätigt sich in den Gesetzesmaterialien, in denen davon die Rede ist, daß es sich um eine gesetzgeberische Entscheidung von erheblicher umweltpolitischer Bedeutung handele (vgl. LT-Drs. 2/3750, S. 15). 2. Gleichwohl ist die Verordnung über die Verbindlichkeit des Braunkohlenplans Tagebau Jänschwalde — und damit der darin liegende Eingriff in die kommunale Selbstverwaltung der Beschwerdeführerin — verfassungswidrig. § 12 Abs. 6 S. 1 RegBkPIG als unmittelbare Ermächtigungsnorm ist mit der Landesverfassung nicht vereinbar. Die Verfassungswidrigkeit von § 12 Abs. 6 S. 1 RegBkPIG führt dazu, daß die Verordnung über die Verbindlichkeit des Braunkohlenplans ihrerseits mit der Landesverfassung nicht in Einklang steht. a. Die Ermächtigungsnorm des § 12 Abs. 6 S. 1 RegBkPIG, auf der die Verbindlicherklärung des Braunkohlenplans als solche beruht, genügt nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen. LVerfGE 11
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aa. § 12 Abs. 6 S. 1 RegBkPIG ist zwar formell verfassungsgemäß. Insbesondere hat sich der Landesgesetzgeber im Rahmen seiner Gesetzgebungskompetenz bewegt. Die Prüfung der Gesetzgebungskompetenz des Landes beantwortet dabei keine bundesrechtliche Vorfrage, sondern ist erforderlich, weil das Rechtstaatsgebot des Art. 2 LV dem Landesgesetzgeber untersagt, Landesrecht zu setzen, ohne dazu befugt zu sein (Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 21.3.1996 - VfGBbg 18/95 - , LVerfGE 4,114,129 sowie Urt. v. 18.6.1998 - VfGBbg 27/97 - , LVerfGE 8,97,118). Die Gesetzgebungskompetenz des Landes zur Regelung der Braunkohlenplanung (im zweiten Abschnitt des Regional- und Braunkohlenplanungsgesetzes) ergibt sich aus Art. 75 Abs. 1 Nr. 4, 72 Abs. 1 GG. Die Braunkohlenplanung zählt als besondere Form der Regionalplanung zur Landesplanung; es handelt sich nicht um eine energiepolitische Fachplanung. Die Ausführungen des erkennenden Gerichts zur Gesetzgebungskompetenz des Landes für das Braunkohlengrundlagengesetz lassen sich insofern auf das Regional- und Braunkohlenplanungsgesetz übertragen (vgl. eingehend Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 18.6.1998 - VfGBbg 27/97 - , LVerfGE 8, 97,118ff). Anhaltspunkte für Fehler im Gesetzgebungsverfahren zum Regional- und Braunkohlenplanungsgesetz sind nicht ersichtlich. Ob es sich bei dem Regional- und Braunkohlenplanungsgesetz um ein Gesetz iSv Art. 97 Abs. 4 LV handelt, das allgemeine Fragen regelt, die unmittelbar Gemeinden und Gemeindeverbände berühren, und deshalb die Anhörung der kommunalen Spitzenverbände erfordert, kann letztlich offenbleiben, weil die ggf. erforderliche Anhörung erfolgt ist. Der Landkreistag Brandenburg hat im Rahmen der öffentlichen Anhörung zum Regional- und Braunkohlenplanungsgesetz im Ausschuß für Landesentwicklung und Umweltschutz eine Stellungnahme abgegeben, der sich der Städte- und Gemeindebund angeschlossen hat; seine Änderungsvorschläge sind vorgetragen worden (vgl. Ausschußprotokoll 1/646, S. 2ff). Daneben sind die Vertreter von 11 Landkreisen und der kreisfreien Stadt Cottbus angehört worden (Ausschußprotokoll 1/646, S. 5 ff). bb. § 12 Abs. 6 S. 1 RegBkPIG ist jedoch in materieller Hinsicht nicht mit der Landesverfassung vereinbar. Die Regelung verstößt gegen das Prinzip der Entscheidungsverantwortlichkeit des Verordnungsgebers, wie es Art. 80 LV zugrundeliegt. (1) Rechtsverordnungen stellen sich materiell als Rechtssätze dar, die allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen (vgl. Wilke in: von Mangoldt/Klein, GG, Bd. III, 2. Aufl. 1974, Art. 80 Anm. II.2). Verordnungsmacht ist von der Legislative an die Exekutive verliehene Rechtsetzungsmacht (Ossenbüh/HbStR III 2. Aufl. 1996, § 64 Rn. 1). Dementsprechend sind über den Verfassungswordaut hinaus besondere rechtsstaatliche Anforderungen an die jeweilige Ermächtigungsnorm zu stellen. Es muß sichergestellt sein, daß die Verantwortung für den Inhalt der Verordnung von derjenigen Stelle wahrgenommen wird, der das Parlament die Rechtsetzungsbefugnis übertragen hat (vgl. BVerfGE 91,148,165). Eine Zuständigkeitsverlagerung derart, daß der VerordnungsLVerfGE 11
Entscheidungsverantwortlichkeit des Verordnungsgebers und Braunkohlenplanung 137 geber in dem ihm übertragenen Regelungsbereich in Wahrheit fremden Entscheidungen unterliegt, ist nicht zulässig. Aus dem Wesen der Rechtsverordnung ergibt sich, daß die ermächtigte Stelle — im gesetzlich vorgegebenen Rahmen — frei entscheiden kann, ob sie tätig wird, und ihrerseits keinen inhaltlichen Vorgaben unterliegt, als denen der gesetzlichen Ermächtigung. Insbesondere ist die Mitwirkung eines Dritten bei dem Erlaß einer Rechtsverordnung nur unter engen Voraussetzungen zulässig. Die Grundsätze, die diesbezüglich zu Art. 80 Abs. 1 GG entwickelt wurden, sind unbeschadet dessen, daß Art. 80 LV - anders als Art. 80 Abs. 1 GG - den Kreis der Delegatare nicht einschränkt, auf die Rechtslage nach Art. 80 LV zu übertragen. Eine Ermächtigungsnorm ist demnach verfassungswidrig, wenn der Delegatar derart an die Entscheidung eines Außenstehenden gebunden ist, daß ohne dessen Mitwirkung eine Rechtsverordnung nicht ergehen kann. Neben offenen und verdeckten Mitwirkungsrechten werden etwa Vorschlags- oder Initiativrechte als verfassungswidrig angesehen, wenn der Verordnungsgeber ohne den Vorschlag nicht tätig werden darf oder dem Vorschlag entsprechen muß (vgl. Wilke in: von Mangoldt/Klein, GG, Bd. III, 2. Aufl. 1974, Art. 80 Anm. V.10; vgl. auch OssenbMHbStR, Bd. III, 2. Aufl. 1996, § 64 Rn. 60f; vorsichtiger Stern Staatsrecht, Bd. II, 1980, § 38 III le, S. 669). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist eine Mitwirkung von Außenstehenden an der Verordnungsgebung nur dann zulässig, wenn die Letztentscheidung bei dem Verordnungsgeber verbleibt und dieser in seiner Entscheidung frei ist (vgl. zum ganzen ζ. B. auch BVerfGE 28, 66, 84; 55,144,148f). (2) Diesen Voraussetzungen genügt § 12 Abs. 6 S. 1 RegBkPIG nicht. Die Regelung knüpft die Verordnungsbefugnis allein an eine Uberprüfung der Rechtmäßigkeit der Planungsentscheidung des Braunkohlenausschusses. Ein Initiativrecht zur Durchführung der Braunkohlen- und Sanierungsplanung oder eine eigene inhaltliche Gestaltungsbefugnis der Landesregierung sind nicht vorgesehen. Die Landesregierung wird nach § 12 Abs. 6 S. 1 RegBkPIG zwar ermächtigt, Braunkohlen- und Sanierungspläne durch Rechtsverordnung für verbindlich zu erklären; die sachlichen und verfahrensmäßigen Entscheidungen zur Erarbeitung der Braunkohlen- und Sanierungspläne liegen jedoch allein bei dem Braunkohlenausschuß. Ungeachtet des von den Beteiligten geschilderten informellen Verwaltungshandelns steht der Landesregierung auf der Grundlage des geltenden Regional- und Braunkohlenplanungsgesetzes kein rechtliches Instrumentarium zur Verfügung, um auf den Inhalt des Braunkohlenplanes einzuwirken. Planungsbefugnis, wie sie § 14 Abs. 1 S. 1 RegBkPIG dem Braunkohlenausschuß einräumt, bedeutet schon aus sich heraus Gestaltungsspielraum (vgl. nur BVerwGE 34, 301, 304). Planung ohne Gestaltungsbefugnis wäre ein Widerspruch in sich. Dem durch Gesetz eingeräumten Gestaltungsspielraum aber entspricht regelmäßig eine eingeschränkte rechtliche Kontroll-, Aufsichts- und Einwirkungsbefugnis anderer Stellen. LVerfGE 11
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Auch der Fassung des § 12 Abs. 6 S. 1 RegBkPIG, nämlich „Braunkohlen- und Sanierungspläne werden durch Rechtsverordnung der Landesregierung für verbindlich erklärt, soweit sie nach Maßgabe dieses Gesetzes aufgestellt sind und sonstigen Rechtsvorschriften nicht widersprechen.", ist zu entnehmen, daß die Landesregierung darauf beschränkt ist, die Gesetzeskonformität des Braunkohlenplanes zu überprüfen, nicht aber die Befugnis hat, dem Braunkohlenausschuß fachliche Vorgaben zu machen oder den Braunkohlenplan selbst zu ändern. Dieses Verständnis der Vorschrift bestätigt sich außer in ihrem Wordaut auch in der systematischen Stellung des § 12 Abs. 6 S. 1 RegBkPIG im Gesamtgefüge des Regional- und Braunkohlenplanungsgesetzes sowie im Zweck der Vorschrift: Schon seinem Wortlaut nach beschränkt § 12 Abs. 6 S. 1 RegBkPIG die Landesregierung auf die (bloße) Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Braunkohlen- und Sanierungspläne. Die Gesetzesmaterialien verhalten sich freilich zur Reichweite der Prüfungskompetenz der Landesregierung nicht eindeutig. Zu § 12 Abs. 6 RegBkPIG heißt es in der amtlichen Begründung des Gesetzentwurfs der Landesregierung: „Die Braunkohlen- und Sanierungspläne werden erst durch Rechtsverordnung der Landesregierung verbindlich. Die im Braunkohlen- und Sanierungsplan enthaltenen Ziele der Raumordnung und Landesplanung sind Rechtsnormen und damit in entsprechender Rechtssatzform zu erlassen (vgl. Begründung zu § 2 Abs. 6). Die Aufstellung der Braunkohlen- und Sanierungspläne in Form einer Satzung (wie bei den Regionalplänen) ist nicht möglich, weil dem Braunkohlenausschuß (im Gegensatz zur Regionalen Planungsgemeinschaft) keine Satzungsbefugnis zusteht." (LT-Drs. 1/1452, S. 20) Die Begründung zu § 2 Abs. 6, auf die damit verwiesen wird, lautet: „Abs. 6 regelt das Verfahren bis zur Verbindlicherklärung des Regionalplanes durch Genehmigung der Satzung. Von diesem Zeitpunkt an sind die im Regionalplan enthaltenen Grundsätze und Ziele der Raumordnung und Landesplanung verbindlich und entfalten die genannten Rechtswirkungen. Die Verbindlicherklärung der Regionalpläne kann nicht durch die Landesplanungsbehörde allein erfolgen. Es muß in jedem Fall das Einvernehmen mit den fachlich zuständigen Landesministern hergestellt werden. Regionalpläne sind Rechtsnormen (vgl. Bielenberg/Erbguth/Söfker Raumordnungs- und Landesplanungsrecht, M500 Rn. 32 ff) und daher in Rechtssatzform — hier als Satzung — zu erlassen. Damit ist klargestellt, daß der Regionalplan in einem Normenkontrollverfahren gem. § 47 VwGO gerichtlich überprüfbar ist." (LT-Drs. 1/1452, S. 15) Daß sich § 12 Abs. 6 S. 1 RegBkPIG derselben Formulierung wie § 2 Abs. 6 S. 2 RegBkPIG bedient („... wird ... für verbindlich erklärt, soweit sie nach Maßgabe dieses Gesetzes aufgestellt ist und sonstigen Rechtsvorschriften nicht widerspricht."), läßt aber nicht den Schluß zu, daß die Landesregierung zur fachlichen Überprüfung der Braunkohlen- und Sanierungspläne befugt wäre. Zwar gelten gegenüber den Regionalen Planungsgemeinschaften in der Tat fachaufsichtliche Elemente: So kann die LanLVerfGE 11
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desplanungsbehörde nach § 2 Abs. 9 RegBkPIG in Abstimmung mit den zuständigen obersten Landesbehörden Richtlinien mit einheitlichen Kriterien über die Inhalte und deren Darstellung sowie über das Verfahren bei der Aufstellung, Fortschreibung, Änderung und Ergänzung der Regionalpläne erlassen. Zur Beachtung dieser Richtlinien kann sie, ebenso wie hinsichtlich des Planungszeitraums, gem. § 4 Abs. 3 S. 3 RegBkPIG Weisungen erteilen und bei Nichtbefolgung die Planung ganz oder teilweise selbst durchführen (§ 4 Abs. 3 S. 4 RegBkPIG). Sie kann ferner nach § 2 Abs. 8 S. 2 RegBkPIG verlangen, daß der Regionalplan innerhalb einer festzusetzenden Frist geändert wird, soweit landesplanerische Erfordernisse vorliegen. Wieweit die fachlichen Einflußmöglichkeiten der Landesplanungsbehörde auf die Regionalen Planungsgemeinschaften im einzelnen reichen, ohne mit der gesetzlichen Leitvorstellung eines „Zusammenwirkens" von Land, Regionalen Planungsgemeinschaften und Kommunen (§ 1 S. 4 RegBkPIG), der gesetzlichen Stellung der Regionalen Planungsgemeinschaften als „Träger" der Regionalplanung (§ 4 Abs. 2 S. 1 RegBkPIG) und ihrer — durch die Verleihung des Satzungsrechts begriffsnotwendig vorausgesetzten (vgl. BVerfGE 33, 125,156) — Autonomie in Konflikt zu geraten, kann indes dahinstehen. Denn jedenfalls hat der Gesetzgeber in bezug auf den Braunkohlenplan der Landesregierung keine vergleichbaren Befugnisse zu einer auch sachlich-inhaltlichen Einflußnahme eingeräumt. Der Braunkohlenplanung liegt vielmehr ein grundlegend anderes Konzept zugrunde. Der Braunkohlenausschuß trifft die sachlichen und verfahrensmäßigen Entscheidungen zur Erarbeitung der Braunkohlen- und Sanierungsplanung selbst ( § 1 4 Abs. 2 RegBkPIG). Weder der Erlaß von Richtlinien noch die Erteilung von Weisungen an den Braunkohlenausschuß sieht das Gesetz vor. Eine „Genehmigung" des Braunkohlenplanes durch die Landesplanungsbehörde ist nicht vorgesehen. Anders als im Fall von § 2 Abs. 8 S. 2 RegBkPIG für die Regionalpläne kann die Landesplanungsbehörde keine Änderung des Braunkohlenplanes erzwingen. Im Verfahren der Braunkohlenplanung ist sie darauf beschränkt, die Stellungnahme der Regionalen Planungsgemeinschaft, den vom Braunkohlenausschuß festgestellten Braunkohlenplan sowie ggf. die abweichenden Meinungen der Beteiligten und die Stellungnahme des Braunkohlenausschusses hierzu entgegenzunehmen (§14 Abs. 3 S. 2 bis 4 RegBkPIG). Entgegen der Auffassung der Landesregierung folgt hieraus jedoch ebensowenig wie im Verfahren der Bauleitplanung (vgl. § 3 Abs. 2 S. 6 BauGB), daß der Behörde eine Fachaufsicht zusteht. Sie ist zwar einbezogen, aber nicht „Herr des Verfahrens". Das bestätigt sich in § 15 RegBkPIG. Danach wird bei der Landesplanungsbehörde eine gesonderte Planungsstelle für die Braunkohlen- und Sanierungsplanung eingerichtet, die im Auftrag des Braunkohlenausschusses Entwürfe für Braunkohlen- und Sanierungspläne erarbeitet. Die Planungsstelle nimmt zugleich die Funktion der Geschäftsstelle des Braunkohlenausschusses wahr. Auch dies dient erkennbar der Einbindung der Landesplanungsbehörde, um ihr ggf. Gelegenheit zu Anregungen einerseits und Änderungen andererseits zu geben, gewährt ihr aber gerade keine Aufsichts- oder Weisungsrechte gegenüber dem Braunkohlenausschuß. LVerfGE 11
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Auch der Landesregierung räumt das Regional- und Braunkohlenplanungsgesetz solche Rechte nicht ein. Das gilt unbeschadet dessen, daß offenbar auch in diesem Verhältnis eine fachliche Abstimmung stattfindet. Die Landesregierung hat insoweit vielfaltige und enge Verflechtungen des Braunkohlenausschusses mit der Ministerialverwaltung beschrieben und insbesondere auf die Interministerielle Arbeitsgruppe Braunkohle des Landes Brandenburg (IMAB) verwiesen, die bereits im Vorfeld der Verbindlicherklärung Einfluß auf die Aufstellung von Braunkohlenplänen nehmen könne. Uber die Prüfung der rechtlichen Vorgaben hinaus bilde sich die IMAB eine Meinung auch dazu, wieweit der Plan mit den Vorstellungen der Landesregierung zu vereinbaren sei. Die Landesregierung prüfe die Braunkohlenpläne auch inhaltlich. Die vom Braunkohlenausschuß vorgenommene Gewichtung der Abwägungsziele und des Abwägungsmaterials müsse von der in parlamentarischer Verantwortung stehenden Landesregierung nicht nur nachvollzogen werden können, sie müsse sich diese auch zu eigen machen. Im Dezember 1993 habe die Landesregierung die ihr vorliegenden Braunkohlenpläne Jänschwalde und Cottbus-Nord nicht für verbindlich erklärt, sondern mit der Bitte um Prüfung und erneute Befassung an den Braunkohlenausschuß zurückgegeben, weil die Auswirkungen der vorzeitigen Sdllegung des Tagebaus Meuro noch unklar gewesen seien. Ein förmliches Weisungsrecht wird aber auch von der Landesregierung nicht in Anspruch genommen. Die Kabinettvorlage vom 19. Juni 1998 zu der hier in Frage stehenden Verordnung über die Verbindlichkeit des Braunkohlenplans Tagebau Jänschwalde zielt nicht auf eine originäre inhaltliche Entscheidung der Landesregierung. Vielmehr geht es allein darum, den Braunkohlenplan als die Entscheidung einer dazu berufenen anderen Stelle in der gesetzlich vorgesehenen Weise in Kraft zu setzen. Träger der Braunkohlenplanung, wie sie sich in dem Braunkohlenplan niederschlägt, bleibt der Braunkohlenausschuß. Dementsprechend wird in der Kabinettvorlage lediglich festgehalten, daß die Änderung und Ergänzung des vom Braunkohlenausschuß des Landes Brandenburg am 4. Dezember 1997 festgestellten Braunkohlenplans Tagebau Jänschwalde gemäß den Vorgaben des Regional- und Braunkohlenplanungsgesetzes erfolgt sei und die regionale Planungsgemeinschaft LausitzSpreewald die Vereinbarkeit des Braunkohlenplans mit dem bisher festgestellten bzw. eingeleiteten Zielen der Regionalplanung erklärt habe (Kabinettvorlage Nr. 3748/98, S. 2). Die von der Landesregierung vorgetragene Einbindung des Braunkohlenausschusses in die Ministerialverwaltung findet im Regional- und Braunkohlenplanungsgesetz ebensowenig Niederschlag wie die IMAB; diese ist keine Stelle, die von Gesetzes wegen mit der Braunkohlenplanung befaßt ist, sondern eine unselbständige Arbeitseinheit der Landesregierung. Die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs Nordrhein-Westfalen, wonach der Braunkohlenplan der Fachaufsicht der Landesplanungsbehörde und des zuständigen Fachministers unterliege (VerfGH NW, Urt. v. 9.6.1997 - VerfGH 20/95 u. a. - , DVB1. 1997, 1107, 1110), läßt sich entgegen der Auffassung der Landesregierung auf die Verhältnisse im Land Brandenburg nicht übertragen. § 34 Abs. 2 nordrhein-west-
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fälisches Landesplanungsgesetz (LP1G NW), auf den der Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen insoweit abstellt, und § 12 Abs. 6 RegBkPIG sind unterschiedlichen Zuschnitts. Nach § 34 Abs. 2 LP1G NW sind Braunkohlenpläne nur dann zu genehmigen, wenn sie den Erfordernissen einer langfristigen Energieversorgung auf der Grundlage des Landesentwicklungsprogramms entsprechen und die Erfordernisse der sozialen Belange der vom Braunkohlentagebau Betroffenen und des Umweltschutzes angemessen berücksichtigen. Der nordrhein-westfàlische Gesetzgeber hat der Landesplanungsbehörde als genehmigender Stelle damit ausdrücklich ein Prüfungsprogramm auch in fachlicher Beziehung und unter Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten vorgegeben. Darüber hinaus kann die nordrhein-westfàlische Landesplanungsbehörde Teile des Braunkohlenplans vorweg genehmigen oder Teile von der Genehmigung ausnehmen (§ 34 Abs. 1 S. 3 LP1G NW). Demgegenüber sieht das Regional- und Braunkohlenplanungsgesetz des Landes Brandenburg eine Verbindlicherklärung von Teilen eines Braunkohlenplans nicht vor. Gemessen an den nordrhein-westfälischen Regelungen weist das Regional- und Braunkohlenplanungsgesetz dem Braunkohlenausschuß des Landes Brandenburg eine deutlich herausgehobene Stellung zu. Während sich § 34 Abs. 1 LP1G NW auf die Beschreibung der Aufgaben des Braunkohlenausschusses beschränkt, bezeichnet § 14 Abs. 1 S. 1 RegBkPIG den Braunkohlenausschuß ausdrücklich als Träger der Braunkohlen- und Sanierungsplanung. Während der nordrhein-westfàlische Braunkohlenausschuß als Sonderausschuß des Bezirksplanungsrates des Regierungsbezirks Köln errichtet wird (§ 26 Abs. 1 LP1G NW) und auf diese Weise in die Landesverwaltung eingebunden ist, handelt es sich beim Braunkohlenausschuß des Landes Brandenburg um ein eigenständiges und von der sonstigen Landesverwaltung abgehobenes Gremium. Eingebunden in die Landesverwaltung ist lediglich die Planungsstelle nach § 15 RegBkPIG. Der Braunkohlenausschuß selbst ist dagegen als Entscheidungsträger — wie die Landesregierung einräumt — nicht in die Landesverwaltung eingebunden. Zusammenfassend ergibt sich, daß das Regional- und Braunkohlenplanungsgesetz dem Braunkohlenausschuß die entscheidende Verantwortung für den Inhalt des Braunkohlenplanes als dem eigentlichen Gegenstand der nach § 12 Abs. 6 S. 1 RegBkPIG zu erlassenden Verordnung eingeräumt hat. Dies ist mit der Delegierung von Rechtsetzungsmacht auf einen Verordnungsgeber nicht zu vereinbaren. (3) § 12 Abs. 6 S. 1 RegBkPIG verstößt zugleich gegen das Prinzip der parlamentarischen Regierungsverantwortlichkeit. Der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit verlangt, daß ein Staatsorgan, das eine Entscheidung zu treffen hat, dafür die Verantwortung trägt. Verantwortung aber kann nicht tragen, wer in seiner Entscheidung inhaltlich an die Willensentscheidung eines anderen gebunden ist (vgl. BayVfGH N E Bd. 4, Teil II, S. 30,47 sowie BVerfGE 9,268, 281 f). Die beschriebene Abhängigkeit von der Beschlußfassung im Braunkohlenausschuß läßt für eine letztverantwortliche Gestaltung der Braunkohlen- und Sanierungspläne LVerfGE 11
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durch die Landesregierung keinen Raum. Die Entscheidungsbefugnisse des Braunkohlenausschusses sind auch nicht etwa von nur untergeordneter Bedeutung. Mit dem Braunkohlenplan wird in landesplanerischer Hinsicht festgelegt, daß in einem bestimmten Gebiet der Braunkohlentagebau Vorrang vor anderen Nutzungen hat. Bei dieser Festlegung sind widerstreitende Interessen von erheblichem Gewicht abzugleichen. Dem wirtschaftlichen Interesse des Bergbauuntemehmens stehen gegenläufige Interessen an der Nutzung des Gebietes beispielsweise zu Wohnzwecken oder als landwirtschaftliche Nutzfläche gegenüber. Den Ausgleich zwischen diesen Interessen stellt auf der Ebene der Landesplanung der Braunkohlenplan her. Er legt die Einzelheiten des Tagebaus fest wie beispielsweise die Breite von Sicherheitszonen, den Verlauf von Straßen und Versorgungsleitungen sowie die Einrichtung von Schutzmaßnahmen am Tagebaurand. Weiter ist ein Konzept für die Tagebaufolgelandschaft und deren Nutzung zu erarbeiten. Angesichts der weitreichenden Auswirkungen der Braunkohlenplanung handelt es sich um eine hoheitliche Aufgabe. Sie darf in einem System, in dem der Braunkohlenplan durch Rechtsverordnung der Landesregierung für verbindlich erklärt wird, nicht gleichzeitig der Regierungsverantwortung entzogen werden und in wesentlichen Teilen in der Hand einer Stelle liegen, die Parlament und Regierung nicht verantwortlich ist. (4) Rechtlicher Gestaltungsspielraum der Landesregierung kann auch nicht im Wege einer verfassungskonformen Auslegung in § 12 Abs. 6 S. 1 RegBkPIG hineingelesen werden. Eine verfassungskonforme Auslegung darf nicht „mit dem Wordaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten" (vgl. BVerfGE 71, 81, 105; 86,288,320; 95,64,93). Es „darf einem nach Wordaut und Sinn eindeutigen Gesetz nicht ein entgegengesetzter Sinn verliehen" oder „der normative Gehalt der auszulegenden Norm nicht grundlegend neu bestimmt" werden (BVerfGE 71, 81, 105; 90, 263, 276). So aber wäre es angesichts des Wortlauts und der Systematik hier. (5) Nach alledem fehlt es bereits an einer verfassungskonformen Grundlage für die Verordnung über die Verbindlicherklärung des Braunkohlenplans. Die Verfassungswidrigkeit der Ermächtigungsgrundlage schlägt auf die darauf gestützte Verordnung durch. Ermächtigungsgrundlage und Verordnung bilden eine funktionale Einheit, so daß die Rechtsverordnung das Schicksal ihrer Ermächtigungsgrundlage teilt (vgl. OssenbühlHbStR III, 2. Aufl. 1996, § 64 Rn. 71 mwN). Rechtsverordnungen, die auf einer dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip nicht genügenden und damit verfassungsrechtlich unzulänglichen Ermächtigungsgrundlage beruhen, sind rechtswidrig und damit grundsätzlich nichtig (vgl. z.B. BVerfGE 20, 257, 271; 23, 208, 228; 58, 289, 298 f). Infolgedessen ist die Verordnung über die Verbindlichkeit des Braunkohlenplans Tagebau Jänschwalde vom 8. September 1998 ihrerseits — zwingend als Ganze - verfassungswidrig. b. Das Gericht sieht Veranlassung, darauf aufmerksam zu machen, daß sich verfassungsrechtliche Bedenken, die ggf. auf den Braunkohlenplan und dessen
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Entscheidungsverantwortlichkeit des Verordnungsgebers und Braunkohlenplanung 143 Verbindlicherklärung durchschlagen, auch daraus ergeben, daß § 14 Abs. 1 S. 2 RegBkP1G die Landesregierung vorgabenfrei ermächtigt, die Grundsätze der Bildung des Braunkohlenausschusses und seine Zusammensetzung durch Rechtsverordnung zu regeln. Dies läßt der Landesregierung zuviel Spielraum. In einem System, in dem der Braunkohlenausschuß Entscheidungsbefugnisse von Gewicht hat und sich insoweit als Träger von Hoheitsgewalt darstellt (vgl. VerfGH NW, Urt. v. 9.6.1997 - VerfGH 20/95 u.a. - , DVB1. 1997, 1107, 1110), darf der Gesetzgeber die Zusammensetzung und Arbeitsweise des Braunkohlenausschusses vor dem Hintergrund des Rechtsstaatsprinzips und des Demokratiegebotes nach Art. 80 S. 2 LV („Ausmaß" der Ermächtigung) nicht vorgabenfrei einer Verordnung der Landesregierung — hier konkret: Verordnung über die Bildung des Braunkohlenausschusses des Landes Brandenburg vom 8. April 1992 — überlassen. Der Landesgesetzgeber ist vielmehr je nach dem Gewicht der dem Braunkohlenausschuß zukommenden Entscheidungsverantwortung von Verfassungs wegen gehalten, nähere Maßgaben zur Zusammensetzung des Braunkohlenausschusses zu treffen. Zwar braucht er die Zusammensetzung des Braunkohlenausschusses nicht in allen Einzelheiten selbst zu regeln (s. dazu nachfolgend aa.). Jedoch muß er bei einem Gremium von der Bedeutung des Braunkohlenausschusses der Landesregierung sachdienliche Vorgaben machen, um eine ausgewogene Zusammensetzung des Ausschusses und die demokratische Legitimation seiner Entscheidungen sicherzustellen (s. dazu nachfolgend bb.). aa. Eine abschließende Regelung der Zusammensetzung des Braunkohlenausschusses in allen Einzelheiten durch den parlamentarischen Gesetzgeber selbst erscheint freilich verzichtbar. Eines förmlichen Gesetzes bedarf es vor allem dann, wenn es um die Einschränkung von Grundrechten geht und die Grenzen konkurrierender Freiheitsrechte abgesteckt werden sollen (vgl. BVerfGE 73, 280, 296). Einen unmittelbaren Grundrechtsbezug weist die Tätigkeit des Braunkohlenausschusses indes jedenfalls nach der geltenden Rechtslage nicht auf. Mit dem Braunkohlenplan legt der Braunkohlenausschuß die raumplanerischen Grundlagen für den Braunkohlentagebau fest. Die Festlegung des Gebietes, in dem der Bergbau Vorrang vor anderen Nutzungen hat, stellt die Weichen für die spätere Nutzung des Gebietes und wirkt in dieser Weise nur mittelbar auf die Interessen des Bergbautreibenden und der in diesem Gebiet ansässigen Personen ein. Unmittelbare Befugnisse dem Einzelnen gegenüber hat der Braunkohlenausschuß nach geltender Rechtslage nur insofern, als nach § 14 Abs. 4 RegBkPIG die im Braunkohlen- und Sanierungsgebiet ansässigen Personen und dort tätigen Betriebe verpflichtet sind, dem Braunkohlenausschuß erforderliche Auskünfte zu erteilen und Unterlagen zugänglich zu machen. Dieses Auskunftsrecht, das ggf. auch Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse umfaßt — die zu kennzeichnen und getrennt vorzulegen sind —, ist aber nicht derart gewichtig, daß schon im Hinblick hierauf der parlamentarische Gesetzgeber gefordert wäre, die Zusammensetzung des Braunkohlenausschusses in allen Einzelheiten selbst zu regeln. LVerfGE 11
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bb. Gleichwohl darf der Gesetzgeber der Landesregierung bei der Zusammensetzung eines Gremiums mit Entscheidungsbefugnissen von Gewicht nicht völlig freie Hand lassen. Die Erarbeitung eines Braunkohlenplans ist eine Entscheidung von weittragender Bedeutung. Bei einem Gremium, in dessen Hand der Gesetzgeber eine solche Aufgabe legt, darf die Zusammensetzung nicht im Belieben der Landesregierung stehen. Je größer die Entscheidungsspielräume sind, über die der Braunkohlenausschuß verfugt, desto höher sind die Anforderungen, die an die Zusammensetzung des Gremiums zu stellen sind. Die Bindung des Braunkohlenausschusses an die mit dem Braunkohlengrundlagengesetz getroffene Grundentscheidung zugunsten des Braunkohlentagebaus entsprechend der sog. Variante 1 (vgl. wiederum Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 18.6.1998 - VfGBbg 27/97 - , LVerfGE 8,99,117 f) schließt eigene Planungs- und Gestaltungsmöglichkeiten des Braunkohlenausschusses von Gewicht etwa bei der Fesdegung von Sicherheitszonen und bei der Führung von Verkehrstrassen oder bei der Fesdegung von Grünflächen als Immissionsschutz nicht aus. Für gesetzgeberische Vorgaben zur Zusammensetzung des Braunkohlenausschusses sprechen auch sonstige funktionale Gründe. Die Verlagerung des Planungsverfahrens auf einen Ausschuß, der dem Parlament gegenüber nicht verantwortlich ist, entzieht das Verfahren der Kontrolle durch Parlament und Öffentlichkeit. Darüber hinaus ist Planungsentscheidungen ein weites Ermessen des Planungsträgers eigen; sie unterliegen nur eingeschränkt der gerichtlichen Kontrolle. Auch aus diesen Gründen hat, zumal angesichts der politischen Tragweite des Braunkohlentagebaus in der Lausitz, der parlamentarische Gesetzgeber durch sachdienliche Vorgaben an den Verordnungsgeber eine ausgewogene Zusammensetzung des Braunkohlenausschusses sicherzustellen. Es muß gewährleistet sein, daß die einzelne Entscheidung von einer Mehrheit der demokratisch legitimierten Mitglieder des Ausschusses getragen ist. Auch in anderen Bundesländern, die einen Braunkohlenausschuß — durchweg in unselbständigerer Ausgestaltung als in Brandenburg — kennen, hat sich der parlamentarische Gesetzgeber der Zusammensetzung des Braunkohlenausschusses angenommen. So hat der Landesgesetzgeber in Nordrhein-Westfalen (vgl. §§ 26 bis 30 LP1G NW) eine eingehende Regelung zur Zusammensetzung des Braunkohlenausschusses und zur Wahl und Berufung seiner einzelnen Mitglieder sowie zu weiteren, den Braunkohlenausschuß betreffenden Fragen (Inkompatibilitätsregelungen, Bildung von Unterausschüssen, Vorsitz und Gang der Sitzungen, Geschäftsordnung) getroffen. Auch in Sachsen ist die Zusammensetzung des Braunkohlenausschusses — unbeschadet ansonsten bestehender Unterschiede — im einzelnen im Landesplanungsgesetz geregelt (vgl. §§ 8,23 Abs. 1 Gesetz zur Raumordnung und Landesplanung des Freistaates Sachsen — SächsLPIG). Im Land Brandenburg hat der Gesetzgeber die Mitgliedschaft in den Regionalen Planungsgemeinschaften und die Zusammensetzung ihrer Organe näher geregelt (§§ 4 bis 7 RegBkPIG), obwohl die Rechtsstellung der Regionalen Planungsgemeinschaften im Vergleich zum Braunkohlenausschuß ansonsten schwächer er-
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Entscheidungsverantwortlichkeit des Verordnungsgebers und Braunkohlenplanung 145 scheint, weil die Planungsgemeinschaften — wie schon erwähnt — einer Aufsicht der Landesplanungsbehörde unterliegen, die sich partiell auch auf fachlich-inhaltliche Fragen erstreckt. Auch im Vergleich hierzu hätte es nahegelegen, daß der Gesetzgeber Regelungen zur Zusammensetzung auch des Braunkohlenausschusses trifft. Der Ansicht der Landesregierung, daß der Gesetzgeber die wesentlichen Regelungen zur Zusammensetzung des Braunkohlenausschusses der Sache nach getroffen habe, vermag sich das Gericht nicht anzuschließen. § 14 Abs. 1 S. 2 RegBkPIG macht seinem Wortlaut nach keinerlei Vorgaben für die Zusammensetzung des Braunkohlenausschusses. Hinreichende inhaltliche Vorgaben an den Verordnungsgeber lassen sich auch nicht durch Auslegung ermitteln. Durch Rückgriff auf den ersten Abschnitt des Regional- und Braunkohlenplanungsgesetzes könnte allenfalls darauf geschlossen werden, daß die betroffenen Kreise und kreisfreien Städte ebenso wie an der Regionalplanung auch an der Braunkohlenplanung zu beteiligen seien. Das Regional- und Braunkohlenplanungsgesetz gibt aber keinen Hinweis darauf, ob eine Mitgliedschaft im Braunkohlenausschuß darüber hinaus möglich sein soll und wer dafür in Betracht kommt. Auch mit Blick auf die Brandenburgische Braunkohlenausschußverordnung des Jahres 1992 läßt sich § 14 Abs. 1 S. 2 RegBkPIG nicht in verfassungskonformer Weise ausfüllen. Zwar war dem Gesetzgeber des Regional- und Braunkohlenplanungsgesetz bekannt, daß es bereits aufgrund von § 20 VorschaltG eine Verordnung über die Zusammensetzung des Braunkohlenausschusses gab. Der Gesetzentwurf zum Regional- und Braunkohlenplanungsgesetz (vgl. LT-Drs. 1/1452, S. 9) enthält in einer Fußnote zu § 14 Abs. 1 S. 2 einen Hinweis auf diese Verordnung. Indessen ist § 20 VorschaltG durch § 14 Abs. 1 S. 2 RegBkPIG ersetzt worden (vgl. § 17 RegBkPIG). Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, derzufolge der Gesetzgeber in Bereichen, die früher bereits durch eine Verordnung geregelt waren, ggf. davon ausgehen darf, daß der Verordnungsgeber sich an den bisherigen Grundsätzen orientieren wird (vgl. BVerfGE 34, 52, 61; 62, 203, 210), kann wegen der Besonderheiten der Braunkohlenplanung im Land Brandenburg auf § 14 Abs. 1 S. 2 RegBkPIG nicht übertragen werden. Die diesbezüglichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts betrafen die Aufstellung von Prüfungsordnungen, zu denen der Verordnungsgeber des Bundes auf Verordnungen der zuvor zuständig gewesenen Länder zurückgreifen konnte, die die gleiche Materie auf Landesebene geregelt hatten. Dabei ging es um den nämlichen Regelungsgegenstand. Vorliegend geht es jedoch um einen Braunkohlenausschuß neuer Art. Bei dem Regional- und Braunkohlenplanungsgesetz handelt es sich erstmalig um eine geschlossene gesetzliche Regelung der Regional- und Braunkohlenplanung auf Landesebene. Das Vorschaltgesetz zum Landesplanungsgesetz beschränkte sich auf Ubergangsvorschriften zur Braunkohlenplanung, sah aber noch nicht die Aufstellung von Braunkohlen- und Sanierungsplänen vor. Die Aufgabe des Braunkohlenausschusses bestand allein darin, nach Beteiligung der Gemeinden und Landkreise eine Stellungnahme abzugeben, die die Landesplanungsbehörde zu berücksichtigen hatte, wenn sie ihrerseits eine Stellungnahme gegenüber LVerfGE 11
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der Bergbehörde abgab (vgl. § 19 VorschaltG). Die Befugnisse des Braunkohlenausschusses — für den § 20 VorschaltG, ähnlich wie § 14 Abs. 1 S. 2 RegBkPIG, eine Ermächtigung an den Verordnungsgeber ohne inhaltliche Vorgaben enthielt — unterscheiden sich von denen des Braunkohlenausschusses nach § 14 RegBkPIG erheblich. §§19 und 20 VorschaltG waren als Ubergangsregelungen für die Zeit bis zur Schaffung endgültiger gesetzlicher Regelungen zur Braunkohlenplanung gedacht (vgl. § 19 Abs. 1 VorschaltG). Wie sich aus der Gesetzesbegründung zu § 19 VorschaltG (vgl. LT-Drs. 1/144, S. 49) ergibt, ist der Gesetzgeber des Vorschaltgesetzes davon ausgegangen, daß sich das Aufstellen eines Braunkohlenplans im Vergleich zu der Abgabe einer Stellungnahme gegenüber der Bergbehörde einen anderen und höheren Stellenwert haben würde und einer eingehenden gesetzlichen Regelung bedürfe. Diesem Anspruch ist der Gesetzgeber des Regional- und Braunkohlenplanungsgesetzes dann allerdings insofern nicht in jeder Hinsicht gerecht geworden, als im Gesetzgebungsverfahren der erste Abschnitt des Regional- und Braunkohlenplanungsgesetzes, die Regionalplanung, den weitaus größeren Raum einnahm, während die Gesetzgebungsarbeiten im übrigen — eine verbindliche Regelung der Landesplanung war Ende 1992 / Anfang 1993 überfällig — unter Zeitdruck standen. Hinsichtlich der Braunkohlenplanung schien man sich einig zu sein und schenkte daher dem zweiten Abschnitt des Regional- und Braunkohlenplanungsgesetzes keine gesteigerte Aufmerksamkeit mehr. Die Gesetzesbegründung zu § 14 Abs. 1 RegBkPIG beschränkt sich auf folgendes: „Abs. 1 regelt Sitz und Bildung des Braunkohlenausschusses in Cottbus. Auf der Grundlage des § 20 des Vorschaltgesetzes zum Landesplanungsgesetz und Landesentwicklungsprogramm hat die Landesregierung die Verordnung über die Bildung des Braunkohlenausschusses des Landes Brandenburg vom 8. April 1992 (Bbg BkAusV, GVB1. II Nr. 18, S. 139) erlassen." (LT-Drs. 1/1452, S. 20) In der ersten Lesung des Regional- und Braunkohlenplanungsgesetzes hieß es sodann, daß bei der Braunkohlen- und Sanierungsplanung nahtlos an die schon laufende Arbeit des Braunkohlenausschusses angeknüpft werden könne, der mit der Erarbeitung der Planungsgrundlagen bereits beschäftigt sei (Plenarprotokoll 1/60, vom 18.12.1992, S. 4558; Abg. Nooke). Änderungen zu § 14 RegBkPIG wurden nicht vorgeschlagen. Insgesamt ergab sich zum zweiten Abschnitt des Regional- und Braunkohlenplanungsgesetzes kein nennenswerter Diskussionsbedarf. Der Berichterstatter des Ausschusses für Landesentwicklung und Umweltschutz konstatierte: „Zur Braunkohlen- und Sanierungsplanung gab es weitgehende Zustimmung." (vgl. Plenarprotokoll 1/67 vom 28.04.1993, S. 5221, Abg. Prof. Dr. Gonnermann). Auch angesichts dieses Gesetzgebungsverlaufs, bei dem die Zusammensetzung des Braunkohlenausschusses nicht reflektiert worden ist, ist für eine Auslegung des § 14 Abs. 1 S. 2 RegBkPIG dahin, daß für den Braunkohlenausschuß neuen Rechts die Zusammensetzung des bisherigen Braunkohlenausschusses als rechtliche Vorgabe zu gelten habe, kein Raum. Vielmehr hat man die Zusammensetzung des Ausschusses der Landesregierung überantwortet, LVerfGE 11
Keine generelle Pflicht zur Einholung eines Zweitgutachtens im Zivilprozeß
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ohne ihr Vorgaben zu machen, wie sie diesbezüglich für eine tragfáhige Verordnungsermächtigung erforderlich gewesen wären. Auch die nicht auf verfassungskonformer Grundlage beruhende Zusammensetzung des Braunkohlenausschusses schlägt ggf., weil der von dem so zusammengesetzten Ausschuß erarbeitete Braunkohlenplan den Gegenstand der Verordnung über dessen Verbindlichkeit bildet, bis auf diese Verordnung durch. Ein förmlicher Ausspruch, daß auch § 14 Abs. 1 S. 2 RegBkPIG nichtig sei, erübrigt sich indes, weil die mit der vorliegenden kommunalen Verfassungsbeschwerde angegriffene Verordnung über die Verbindlichkeit des Braunkohlenplans Tagebau Jänschwalde vom 8. September 1998 schon deshalb — und logisch vorrangig — für nichtig zu erklären war, weil § 12 Abs. 6 S. 1 RegBkPIG, auf die sie sich stützt, mit der Landesverfassung nicht vereinbar ist. c. Das Gericht hat erwogen, ob Anlaß besteht, die Verordnung über die Verbindlichkeit des Braunkohlenplans Tagebau Jänschwalde vom 8. September 1998 zur Vermeidung eines der verfassungsmäßigen Ordnung noch ferner stehenden Rechtszustandes übergangsweise in Geltung zu lassen (vgl. BVerfGE 79, 245, 250 f; 41, 251, 266 f), hierzu aber im Ergebnis keine hinreichende Veranlassung gesehen. Das Gericht hat mit der hier getroffenen Entscheidung nicht über konkret durch Betriebspläne genehmigte bergbauliche Tätigkeiten befunden. Wie sich das Fehlen eines verbindlichen Braunkohlenplans in dieser Hinsicht auswirkt, ist eine Frage des einfachen Rechts. Sie ist nicht Gegenstand dieses Verfahrens und ggf. von den Fachgerichten zu entscheiden. IV.
Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 32 Abs. 7 S. 1 VerfGGBbg.
Nr. 9* Von Verfassungs wegen keine generelle Verpflichtung des Gerichts (hier: im Verkehrsunfallprozeß) zur Einholung eines Zweitgutachtens (hier: zur Ermittlung der Ausgangsgeschwindigkeit).** * Die Entscheidung ist im Volltext abgedruckt im Supplementband Brandenburg zu LVerfGE 11 (Suppl. Bbg. zu Bd. 11), S. 133 ff, hrsgg. vom Verfassungsgericht des Landes Brandenburg (Adresse s. Anhang) und dort gegen Gebühr erhältlich. ** Nichtamtliche Leitsätze.
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Verfassung des Landes Brandenburg Art. 52 Abs. 3 Zivilprozeßordnung § 412 Abs. 1 Beschluß vom 21. September 2000 - VfGBbg 38/00 in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren des Herrn S. gegen die Urteile des Amtsgerichts B., Zweigstelle F., vom 30. Juli 1999 - 21 C 518/98 - und des Landgerichts C. vom 21. Juni 2000 - 1 S 356/99 - . Entscheidungsformel: Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.
Nr. 10* 1. Für die Beschwerdeberechtigung nach § 59 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 VerfGGBbg reicht es aus, daß der Beschwerdeführer jedenfalls auch noch zum Zeitpunkt der Einlegung des Einspruchs nach § 3 WPrüfG wahlberechtigt gewesen ist. 2. Die Zwei-Monats-Frist für die Erhebung der Wahlprüfungsbeschwerde nach § 12 Abs. 2 WPrüfG und § 59 Abs. 1 Satz 1 VerfGGBbg beginnt nicht bereits mit der Beschlußfassung des Landtages, sondern erst mit der Zustellung der mit einer ordnungsgemäßen Rechtsmittelbelehrung versehenen Entscheidung an die Beteiligten. 3. Der Hinweis auf das in § 59 Abs. 1 Nr. 2 VerfGGBbg geregelte Erfordernis des Beitritts von hundert Wahlberechtigten muß in der nach § 11 Abs. 2 WPrüfG zu erteilenden Rechtsmittelbelehrung enthalten sein. 4. § 43 Abs. 1 Satz 1 BbgLWahlG ist mit Blick auf Wesen und Bedeutung des demokratischen Wahlrechts und den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl einschränkend dahin auszulegen, daß das Nachrücken einer Ersatzperson aus der Landesliste entfällt, wenn der oder die ausscheidende Abgeordnete nicht nach der Landesliste, sondern im Wahlkreis gewählt worden ist und die Partei, der sie angehört, über bis zu zwei Überhangmandate verfügt. * Die Entscheidung ist im Volltext abgedruckt im Supplementband Brandenburg zu LVerfGE 11 (Suppl. Bbg. zu Bd. 11), S. 143ff, hrsgg. vom Verfassungsgericht des Landes Brandenburg (Adresse s. Anhang) und dort gegen Gebühr erhältlich. Abdruck (gekürzt) auch in: DVB1. 2001, 67 ff; LKV 2001,267 ff.
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Wahlprüfungsbeschwerde; Überhangmandate
Grundgesetz Art. 38 Abs. 1 Satz 1; 28 Abs. 1 Satz 2 Verfassung des Landes Brandenburg Art. 3 Abs. 1 Satz 1; 6 Abs. 1; 22 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsordnung §§ 57 Abs. 1; 58 Bundeswahlgesetz §§ 6; 48 Abs. 1 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg §§13 Abs. 1; 59 Abs. 1 Brandenburgisches Landeswahlgesetz §§ 1 Abs. 2; 3; 5 Abs. 1; 43 Abs. 1 Satz 1 Wahlprüfungsgesetz §§ 3; 11; 12 Abs. 2 Urteil vom 12. Oktober 2000 - VfGBbg 19/00 in dem Wahlprüfungsbeschwerdeverfahren des Herrn S. gegen den Beschluß des Landtags Brandenburg vom 15. Dezember 1999 (LT-Drs. 3/233-B) in der Wahlprüfungssache Az. 3/WPA/LTW99/12-1. Beteiligte: Frau Angelika Thiel-Vigh, MdL. Entscheidungsformel: 1. Die Berufung von Frau Angelika Thiel-Vigh als Ersatzperson für die aus dem Landtag ausgeschiedene Abgeordnete Frau Dr. Regine Hildebrandt ist unwirksam. 2. Das Land Brandenburg hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten. Gründe: A. I. Bei der Wahl zum 3. Landtag Brandenburg am 5. September 1999 entfielen auf die Landesliste der SPD nach dem Ergebnis der Zweitstimmen 36 Sitze. Da in 37 Wahlkreisen Bewerber der SPD gewählt wurden, fiel der SPD ein Überhangmandat zu. Nachdem die im Landtagswahlkreis 35 (Elbe-Elster I) gewählte Abgeordnete Dr. Regine Hildebrandt ihren Verzicht auf das Mandat erklärt hatte, wurde die an erster Stelle der Ersatzpersonen der Landesliste der SPD stehende Frau Angelika Thiel-Vigh in der Sitzung des Landtages am 13. Oktober 1999 gemäß § 43 Abs. 1 Satz 1 Brandenburgisches Landeswahlgesetz (BbgLWahlG) als Nachfolgerin berufen.
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B. Die Wahlprüfungsbeschwerde ist zulässig. I. Der Beschwerdeführer ist als Wahlberechtigter iSd § 59 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 VerfGGBbg beschwerdeberechtigt. Daß er noch vor Erhebung der Wahlprüfungsbeschwerde nach Berlin gezogen ist und damit seinen am Sitz der Hauptwohnung vermuteten ständigen Wohnsitz (vgl. § 5 Abs. 1 S. 2 BbgWahlG) in ein anderes Bundesland verlegt hat, ist zwar im Hinblick auf die sachlichen Voraussetzungen des Wahlrechts gem. § 5 Abs. 1 BbgLWahlG iVm Art. 3 Abs. 1 S. 1 LV beachtlich, wirkt sich aber hier auf die Beschwerdeberechtigung im Wahlprüfungsverfahren nicht mehr aus. Maßgeblich — und damit für die Annahme der Beschwerdeberechtigung ausreichend — ist, daß der Beschwerdeführer jedenfalls auch noch zum Zeitpunkt der Einlegung des Wahleinspruchs nach § 3 Wahlprüfungsgesetz (WPrüfG) wahlberechtigt gewesen ist. Die durch die Einleitung des Einspruchsverfahrens erlangte Stellung als Verfahrensbeteiligter wird durch den späteren Verlust der Wahlberechtigung nicht berührt. Die Unbeachtlichkeit der Wohnsitzverlegung folgt freilich nicht schon aus dem Wordaut des § 5 Abs. 1 S. 1 BbgWahlG. Die Worte „am Wahltag" dienen erkennbar der Berechnung des Lebensalters (§ 5 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BbgWahlG) und der Monatsfrist (§ 5 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BbgWahlG; vgl. BVerfGE 5, 2, 7 zu § 1 BWG in der damals geltenden Fassung). Von daher ist lediglich davon auszugehen, daß der Verlust des aktiven Wahlrechts nach der Stimmabgabe „zunächst nicht in Erscheinung" tritt (vgl. BVerfGE 5, 6). Entscheidend ist hier indes § 59 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 VerfGGBbg. Soweit § 59 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 VerfGGBbg die Beschwerdeberechtigung solchen Wahlberechtigten einräumt, „deren Wahlanfechtung vom Landtag verworfen worden ist", liegt die Betonung erkennbar auf dem Nebensatz. Voraussetzung der Beschwerdeberechtigung ist danach die erfolglose Einlegung des Einspruchs und nicht das Fortbestehen der sachlichen Voraussetzungen des Wahlrechts gem. § 5 Abs. 1 BbgLWahlG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 S. 1 LV. Die Bezeichnung „Wahlberechtigter" dient in diesem Zusammenhang lediglich der Abgrenzung zu den anderen Beschwerdeberechtigten (Abgeordnete, Fraktionen oder Minderheiten des Landtages). Auch § 13 Abs. 2 WPrüfG steht dieser Auslegung nicht entgegen. Hiernach findet eine Wiederholungswahl nur dann aufgrund derselben Wählerverzeichnisse wie die Hauptwahl statt, wenn die Hauptwahl nicht länger als sechs Monate zurückliegt; ein dann nicht mehr wahlberechtigter Beschwerdeführer kann mithin im Fall einer erst nach diesem Zeitpunkt zum Erfolg führenden Wahlanfechtung nicht mehr an der Wiederholungswahl teilnehmen, die infolge Ungültigerklärung nach § 13 Abs. 1 WPrüfG stattfindet. Hieraus kann jedoch nicht gefolgert werden, daß die einmal gegebene Beschwerdeberechtigung für die Wahlprüfungsbeschwerde mit dem nachträglichen Verlust der Wahlberechtigung allgemein oder jedenfalls dann entfiele, wenn der Wahltag — wie vorliegend — bereits länger als sechs LVerfGE 11
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Monate zurückliegt. Es widerspräche dem objektiven Charakter des Wahlprüfungsverfahrens (vgl. hierzu etwa BVerfGE 1,430,433; 66,369,378; 79,47,48), wenn ein durch zulässigen Einspruch eingeleitetes Wahlprüfungsverfahren wegen des späteren Wegfalls persönlicher Voraussetzungen bei dem Beschwerdeberechtigten keiner Sachentscheidung mehr zugeführt werden könnte. II. Die Wahlprüfungsbeschwerde ist nicht verspätet. Gem. § 12 Abs. 2 WPrüfG, § 59 Abs. 1 S. 1 VerfGGBbg ist die Beschwerde gegen die Entscheidung des Landtages in Wahlprüfungssachen innerhalb einer Frist von 2 Monaten seit der Entscheidung des Landtages beim Verfassungsgericht zu erheben. Zwar legt der bloße Wortlaut beider Bestimmungen zunächst die Auslegung nahe, daß die Frist bereits mit Beschlußfassung des Landtages zu laufen beginnt. Aus systematischen und teleologischen Gründen ist der Begriff „Entscheidung" in diesem Zusammenhang jedoch im Sinne einer „zugestellten und mit zutreffender Rechtsmittelbelehrung versehenen Entscheidung" zu verstehen (s. nachfolgend 1). Diese ist hier frühestens mit der Zustellung der berichtigten Rechtsmittelbelehrung durch den Präsidenten des Landtages am 2. März 2000 erfolgt (s. nachfolgend 2); die Zwei-MonatsFrist war mithin zum Zeitpunkt des Eingangs der Wahlprüfungsbeschwerde beim Verfassungsgericht am 2. Mai 2000 noch nicht abgelaufen. 1. a) Die Zwei-Monats-Frist beginnt — anders als nach § 48 Abs. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) — nicht bereits mit der Beschlußfassung des Landtages, sondern erst mit der Zustellung an die Beteiligten. § 12 Abs. 2 WPrüfG und § 59 Abs. 1 S. 1 VerfGGBbg unterscheiden sich schon im Wordaut von § 48 Abs. 1 BVerfGG. Während dort von „Beschlußfassung" des Bundestages die Rede und damit der parlamentarische Akt angesprochen ist, knüpfen sowohl § 12 Abs. 2 WPrüfG als auch § 59 Abs. 1 S. 1 VerfGGBbg an die „Entscheidung" an. Beide Vorschriften greifen damit einen Sprachgebrauch auf, der eine Auslegung dahin eröffnet, daß unter „Entscheidung" die dem späteren Rechtsmittelfiihrer zugestellte Entscheidung zu verstehen ist. Hätte der Landesgesetzgeber allein auf die Beschlußfassung des Landtages abstellen, also auf die Zustellung als Voraussetzung für den Fristbeginn verzichten wollen, hätte eine Formulierung wie im Bundesverfassungsgerichtsgesetz nahe gelegen. Nur wenn es für die Beschwerdefrist auf die Zustellung ankommt, macht es im übrigen Sinn, daß nach § 11 Abs. 2 WPrüfG der Entscheidung der Beschluß des Landtages, die Beschlußempfehlung und der Bericht des Wahlprüfungsausschusses sowie eine Rechtsmittelbelehrung beizufügen sind. „Entscheidung" im Sinne des Gesetzes bedeutet hiernach Bekanntgabe des Landtagsbeschlusses an den Einspruchsführer und gegebenenfalls die betroffenen Abgeordneten. Hinzu kommt, daß § 11 Abs. 1 WPrüfG ausdrücklich bestimmt, daß die Entscheidung des Landtages dem Beschwerdeführer innerhalb von zwei Wochen nach der Beschlußfassung zuzustellen ist. Das Zustellungserfordernis LVerfGE 11
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beinhaltet nach der im Land Brandenburg geltenden Rechtslage zugleich, daß die Beschwerdefrist erst mit dem Zeitpunkt der Zustellung zu laufen beginnt. Dies ergibt sich aus der — in Verbindung mit der Verweisungsnorm des § 13 Abs. 1 VerfGGBbg hier anwendbaren — Bestimmung des § 57 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), derzufolge der Lauf einer Frist, soweit nichts anderes bestimmt ist, mit der Zustellung beginnt. Zwar ist die Zustellung des Parlamentsbeschlusses auch im Bundesrecht vorgeschrieben (vgl. § 13 Abs. 3 Wahlprüfungsgesetz des Bundes); dies hat jedoch dort keine Auswirkungen auf den Lauf der Beschwerdefrist, weil es eine § 13 Abs. 1 VerfGGBbg vergleichbare Verweisungsvorschrift im Bundesverfassungsgerichtsgesetz nicht gibt und deshalb § 57 Abs. 1 VwGO nicht zur Anwendung kommt. Für die hier vertretene Auslegung spricht schließlich der in Art. 6 Abs. 1 LV verankerte Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes. Eine Beschränkung des Rechtsschutzes durch Befristung setzt grundsätzlich voraus, daß die Verfahrensbeteiligten in der Lage sind, Fristbeginn und -ende exakt zu bestimmen. Dem würde eine Bestimmung, derzufolge die Frist bereits mit der Beschlußfassung des Landtages zu laufen beginnt, schwerlich gerecht. Zwar ergeht der Beschluß grundsätzlich in öffentlicher Sitzung (vgl. § 19 S. 1 der Geschäftsordnung des Landtages Brandenburg), so daß Interessierte theoretisch die Möglichkeit haben, unmittelbar Kenntnis zu nehmen. Eine vorherige Information des Wahleinspruchsführers über den Termin der Sitzung, in der der Landtag über den Einspruch entscheidet, ist jedoch gesetzlich nicht vorgesehen. Auch kann einem Einspruchsführer zumutbarerweise nicht abverlangt werden, sich gleichsam „ins Blaue hinein" in regelmäßigen Abständen zu erkundigen, ob die Beschlußfassung in seiner Wahlprüfungssache auf der Tagesordnung einer Sitzung des Landtages steht, um auf diese Weise sicherzustellen, daß er rechtzeitig vor Ablauf der Zwei-Monats-Frist Kenntnis von der Entscheidung des Landtages erlangt. b) Der Lauf der Frist nach § 12 Abs. 2 WPrüfG und § 59 Abs. 1 S. 1 VerfGGBbg setzt weiterhin voraus, daß der zugestellten Entscheidung eine ordnungsgemäße Rechtsmittelbelehrung beigefügt ist. Das Erfordernis einer Rechtsmittelbelehrung ist in § 11 Abs. 2 WPrüfG ausdrücklich bestimmt. Ohne solche Rechtsmittelbelehrung beginnt die Beschwerdefrist nicht zu laufen. Dies ergibt sich aus der - wiederum in Verbindung mit der Verweisungsnorm des § 13 Abs. 1 VerfGGBbg anwendbaren - Bestimmung des § 58 Abs. 1 VwGO, derzufolge die Frist für ein Rechtsmittel oder einen anderen Rechtsbehelf nur zu laufen beginnt, wenn der Beteiligte über den Rechtsbehelf, die Verwaltungsbehörde oder das Gericht, bei denen der Rechtsbehelf anzubringen ist, den Sitz und die einzuhaltende Frist schriftlich belehrt worden ist. Angesichts dieser Rechtslage ist es hinzunehmen, daß bei fehlender oder fehlerhafter Rechtsmittelbelehrung die Wahlprüfungsbeschwerde über die in §§ 12 Abs. 2 WPrüfG, 59 Abs. 1 S. 1 VerfGGBbg bestimmte Zwei-Monats-Frist hinaus bis zu einem Jahr lang möglich ist (vgl. § 58 Abs. 2 VwGO) und dementsprechend die endgültige Klärung der Zusammensetzung des Parlaments längere Zeit in der Schwebe bleiben kann. Da ein erhebliches öffentliches Interesse an LVerfGE 11
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der alsbaldigen Klärung der Gültigkeit oder Ungültigkeit einer Wahl (vgl. BVerfGE 21, 359, 361 im Zusammenhang mit der Wahlprüfungsbeschwerde nach § 48 BVerfGG) besteht und die Wahlprüfungsbeschwerde in erster Linie dem Schutz des objektiven Wahlrechts im Interesse der gesetzmäßigen Zusammensetzung des Parlaments dient (vgl. BVerfGE 1, 430, 432 f; 66, 311, 313), hätte es allerdings gute Gründe auch für eine Lösung wie auf Bundesebene gegeben. Der Landesgesetzgeber hat sich jedoch durch die auch für das Verfahren der Wahlprüfungsbeschwerde geltende Verweisungsnorm des § 13 Abs. 1 VerfGGBbg für die Anwendung des § 58 Abs. 1 VwGO und damit für eine Einspruchsführer-freundliche Regelung entschieden. 2. Hiervon ausgehend ist die Frist der §§ 12 Abs. 2 WPrüfG, 59 Abs. 1 S. 1 VerfGGBbg erst mit der Zustellung der „berichtigten Rechtsmittelbelehrung" des Präsidenten des Landtages an den Beschwerdeführer am 2. März 2000 in Gang gesetzt worden. Die dem Beschluß des Landtages vom 15. Dezember 1999 als Ziffer III. angefügte Rechtsmittelbelehrung war unvollständig iSd § 58 Abs. 1 VwGO und konnte deshalb die Beschwerdefrist nicht auslösen. Dabei fällt nicht ins Gewicht, daß der Sitz des Verfassungsgerichts nicht genannt war. Im Hinblick darauf, daß das Landesverfassungsgericht zum Kreis der Verfassungsorgane gehört und es im Land Brandenburg nur ein Verfassungsgericht — ebenso wie nur einen Landtag und eine Landesregierung — gibt, ist im Rahmen der entsprechenden Anwendung des § 58 Abs. 1 VwGO bei der Rechtsmittelbelehrung die — sich von selbst verstehende — Angabe des Sitzes des Verfassungsgerichts entbehrlich. Anders verhält es sich jedoch mit dem fehlenden Hinweis auf das in § 59 Abs. 1 Nr. 2 VerfGGBbg geregelte Erfordernis des Beitritts von hundert Wahlberechtigten. Insoweit ist die Rechtsmittelbelehrung unvollständig. Zwar gehört das Beitrittserfordernis naturgemäß nicht zu dem in § 58 Abs. 1 VwGO ausdrücklich geregelten Mindestinhalt einer Rechtsbehelfsbelehrung. Es handelt sich jedoch um eine zwingende Zulässigkeitsvoraussetzung, die den Zugang zum Rechtsschutz für den Beschwerdeführer erheblich beschränkt. Eine fehlende oder in diesem Punkte unzutreffende Belehrung dürfte das Risiko, daß die erforderlichen hundert Beitrittserklärungen nicht rechtzeitig innerhalb der Zwei-Monats-Frist erlangt werden können, beträchtlich vergrößern. Eine Verlängerung oder Neueröffnung der Frist kommt wegen des öffentlichen Interesses an einer alsbaldigen Klärung der Gültigkeit oder Ungültigkeit der Wahl nicht in Betracht (vgl. BVerfGE 21, 359, 361 f; 58, 172). Auch die Möglichkeit einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand besteht nach allgemeiner Ansicht nicht (vgl. Storost in: Umbach/Clemens, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1992, Rn. 35 zu § 48; Schmidt-Bleibtreu in; Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/ Ulsamer, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Stand Februar 1999, Rn. 35 zu § 48). Vor diesem Hintergrund kommt dem Hinweis auf das Erfordernis des Beitritts von hundert Wahlberechtigten eine so entscheidende Bedeutung zu, daß er in der nach § 11 Abs. 2 WPrüfG zu erteilenden Rechtsmittelbelehrung — auch ohne in § 58 Abs. 1 VwGO erwähnt zu sein — zwingend enthalten sein muß. LVerfGE 11
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Da mithin weder die Beschlußfassung des Landtages als solche noch — wegen der Unvollständigkeit der beigefügten Rechtsmittelbelehrung — die Zustellung des Landtagsbeschlusses an den Beschwerdeführer die Zwei-Monats-Frist gem. § § 1 2 Abs. 2 WPrüfG, 59 Abs. 1 S. 1 VerfGGBbg in Gang gesetzt haben, ist hier die Frist für die Anrufung des Landesverfassungsgerichts gewahrt. Die Zwei-MonatsFrist nach §§ 12 Abs. 2 WPrüfG, 59 Abs. 1 S. 1 VerfGGBbg hat erst mit der Zustellung der „berichtigten Rechtsmittelbelehrung" des Präsidenten des Landtages an den Beschwerdeführer am 2. März 2000 zu laufen begonnen. Somit ist die Erhebung der Wahlprüfungsbeschwerde am 2. Mai 2000 rechtzeitig erfolgt. Ohne Bedeutung bleibt, ob der Beschwerdeführer durch die unvollständige Rechtsmittelbelehrung an einer frühzeitigen Erhebung der Wahlprüfungsbeschwerde tatsächlich gehindert war. C. Die Wahlprüfungsbeschwerde ist begründet. Die Berufung von Frau Thiel-Vigh als Nachfolgerin der ausgeschiedenen Abgeordneten Dr. Hüdebrandt ist unwirksam. Sie läßt sich auf die — insoweit allein in Betracht kommende — Vorschrift des § 43 Abs. 1 S. 1 BbgLWahlG nicht stützen. Für den Fall, daß ein gewählter Bewerber die Annahme der Wahl ablehnt oder ein Abgeordneter nachträglich aus dem Landtag ausscheidet, bestimmt § 43 Abs. 1 S. 1 BbgLWahlG, daß der Sitz auf die nächste noch nicht gewählte Ersatzperson der Landesliste derjenigen Partei übergeht, für die die ausgeschiedene Person bei der Wahl aufgetreten ist. Die Feststellung trifft nach § 43 Abs. 4 S. 1 BbgLWahlG der Landeswahlleiter. Geht man isoliert vom Wordaut der Regelung aus, lagen die gesetzlichen Voraussetzungen für die Nachfolge hier vor. Nach dem Ausscheiden der Abgeordneten Dr. Hildebrandt aus dem Landtag infolge ihres Verzichts (vgl. § 41 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BbgLWahlG) hätte danach der Sitz auf Frau Thiel-Vigh als nächste noch nicht gewählte Ersatzperson der Landesliste der SPD übergehen müssen. § 43 Abs. 1 S. 1 BbgLWahlG ist jedoch mit Blick auf Wesen und Bedeutung des demokratischen Wahlrechts und den in Art. 22 Abs. 3 S. 1 LV, Art. 38 Abs. 1 S. 1,28 Abs. 1 S. 2 Grundgesetz (GG) geregelten Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl einschränkend dahin auszulegen, daß das Nachrücken einer Ersatzperson aus der Landesliste entfällt, wenn der oder die ausscheidende Abgeordnete nicht nach der Landesliste, sondern im Wahlkreis gewählt worden ist und die Partei, der sie angehört, über bis zu zwei Uberhangmandate verfügt. Dies ergibt sich aus folgenden Überlegungen: a) § 43 Abs. 1 S. 1 BbgLWahlG entspricht weitgehend der Regelung des § 48 Abs. 1 Bundeswahlgesetz (BWG). Nach der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. Beschl. v. 26.2.1998 - 2 BvC 28/96 - , BVerfGE 97, 317) setzt eine Nachfolgeregelung für aus dem Parlament ausscheidende Bewerber voraus, daß die nachrückenden Listenbewerber schon bei der Wahl als Ersatzleute mitLVerfGE 11
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gewählt werden. Da nach dem Wahlsystem und seiner Ausgestaltung durch das Bundeswahlgesetz diese Mitwahl ausschließlich über die Zweitstimme erfolgt, ist ein Rückgriff auf Listenplätze nicht möglich, wenn der Sitz eines Wahlkreisabgeordneten einer Partei frei wird, die — und solange sie — über Uberhangmandate verfugt; denn hierbei handelt es sich um Direktmandate, die durch die gesetzliche Anrechnung keinen Listensitz verdrängt haben und damit nicht auch durch das Zweitstimmenergebnis getragen werden. Die Nachfolgeregelung des § 48 Abs. 1 BWG ist daher in einem solchen Fall nicht anwendbar. Entgegen der in seinem den Wahleinspruch zurückweisenden Beschluß zum Ausdruck kommenden Auffassung des Landtages ist diese Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf die Auslegung des § 43 Abs. 1 S. 1 BbgLWahlG zu übertragen. Die in Art. 28 Abs. 1 S. 2 und 38 Abs. 1 S. 1 GG umschriebenen Wahlrechtsgrundsätze gelten als allgemeine Rechtsprinzipien für Wahlen zu allen Volksvertretungen im staatlichen und kommunalen Bereich (BVerfGE 47, 253, Leitsatz 3). Zwar verlangt Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG keine schematische Übernahme des Bundeswahlrechts durch die Länder (vgl. Dreier in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 1998, Rn. 65 zu Art. 28). Soweit das Wahlrecht für die Wahlen zum Landtag jedoch erkennbar in Anlehnung an das Bundeswahlrecht ausgestaltet ist, ist die hierzu ergangene Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einschlägig. Die wesentlichen wahlsystembestimmenden Grundentscheidungen sind im Bund und im Land Brandenburg identisch. Wie der Bundesgesetzgeber hat sich auch der brandenburgische Landesgesetzgeber — der Vorgabe in Art. 22 Abs. 3 LV entsprechend — für ein System der personalisierten Verhältniswahl entschieden. Danach wird ein Teil der Abgeordneten mit relativer Mehrheit in den Wahlkreisen, der andere Teil auf Grund von Landeslisten nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt; durch Anrechnung der Direktmandate auf die nach dem Zweitstimmenergebnis der Landesliste zustehende Sitzzahl findet sodann ein Verhältnisausgleich statt (vgl. im einzelnen § 6 BWG, § 3 LWG). Einem Rückgriff auf die dargelegte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für die Auslegung des § 43 Abs. 1 S. 1 BbgLWahlG steht entgegen der Auffassung des Landtages nicht entgegen, daß das Landeswahlrecht mit den Regelungen des Bundeswahlrechts nicht in allen Einzelheiten deckungsgleich ist. Soweit Unterschiede bestehen, wirken sie sich im vorliegend interessierenden Zusammenhang nicht aus. Entscheidend ist, daß auch § 43 Abs. 1 S. 1 BbgLWahlG für die hier zugrundeliegende Konstellation keine Regelung der Nachfolge ausgeschiedener Wahlkreisabgeordneter für den Fall enthält, daß die betreffende Partei über Überhangmandate verfügt. Eine Abweichung von der bundesrechtlichen Rechtslage besteht insoweit nur unter der — hier nicht gegebenen — Voraussetzung, daß die Zahl der Überhangmandate mehr als zwei beträgt und andererseits nicht eine Höhe erreicht, die bei Anwendung der Ausgleichsregelung des § 3 Abs. 6 ff dazu führen würde, daß die Höchstzahl von 110 Abgeordneten überschritten wird (vgl. § 3 Abs. 9 BbgLWahlG). Im einzelnen ergibt der Vergleich von Bundes- und Landeswahlrecht folgendes: LVerfGE 11
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Das Brandenburgische Landeswahlgesetz sieht ebensowenig wie das Bundeswahlgesetz vor, daß für Wahlkreisbewerber Ersatzleute aufgestellt werden, die am Wahltag mit der Erststimme mitgewählt werden, um im Fall des Ausscheidens des erfolgreichen Wahlkreisbewerbers an seine Stelle treten zu können (vgl. BVerfGE 97, 317, 326). Dementsprechend werden auch in Brandenburg Ersatzleute fur parteiangehörige Wahlkreisabgeordnete ebenso wie fur gewählte Bewerber der Landesliste ausschließlich mit den für die Landesliste abgegebenen Zweitstimmen (vgl. § 1 Abs. 2 BbgLWahlG) gewählt. Wie die entsprechende bundesrechtliche Regelung des § 6 Abs. 4 BWG sieht auch § 3 Abs. 5 BbgLWahlG vor, daß die Direktmandate auf die Sitzzahl, die der Landesliste nach dem Zweitstimmenergebnis zusteht, angerechnet werden, so daß die Sitze der Wahlkreisabgeordneten in der Regel auch vom Ergebnis der Zweitstimmen getragen werden. Wie im Bund entfällt die Anrechnung jedoch, wenn eine Partei über mehr Direktmandate verfügt als ihr Listensitze zustehen. Solche Überhangmandate sind also auch in Brandenburg nicht vom Zweitstimmenergebnis getragen, so daß die Landesliste insoweit keine mitgewählten Ersatzleute vorhält. Allerdings sehen die Regelungen des brandenburgischen Wahlrechts in § 3 Abs. 7 ff BbgLWahlG im Gegensatz zum Bundeswahlrecht grundsätzlich einen Verhältnisausgleich vor, demzufolge im Fall von Uberhangmandaten die Gesamtzahl der Abgeordneten nach einem im einzelnen geregelten Verfahren erhöht und erneut auf der Grundlage des Zweitstimmenergebnis ses auf die Parteien verteilt wird. Dies hat gegebenenfalls zur Folge, daß die errungenen Direktmandate nunmehr vollständig auf die (erhöhte) Sitzzahl, die auf die Landesliste nach dem Zweitstimmenergebnis entfallen, angerechnet werden. Da die Uberhangmandate unter diesen Voraussetzungen auch vom Zweitstimmenergebnis mitgetragen werden, wäre in einem solchen Fall die Nachfolge einer Ersatzperson der Landesliste für einen ausgeschiedenen Wahlkreisabgeordneten in der Tat nicht zu beanstanden. Ein Verhältnisausgleich findet jedoch vorliegend nicht statt. Er kommt nach § 3 Abs. 11 BbgLWahlG nicht zum Tragen, wenn Parteien, politische Vereinigungen oder Listenvereinigungen — wie hier — nur bis zu zwei Sitze nach § 3 Abs. 6 BbgLWahlG erreicht haben, die Zahl der Überhangmandate mithin nicht höher als zwei ist. Bis zu zwei Überhangmandate beruhen mithin weiterhin ausschließlich auf dem Erststimmenergebnis im Wahlkreis und werden nicht auch durch das - für § 43 Abs. 1 S. 1 BbgLWahlG allein maßgebliche — Zweitstimmenergebnis getragen. c) Entgegen der in dem Beschluß des Landtages wiedergegebenen Auffassung des Landeswahlleiters bewirkt die Brandenburgische Regelung des Verhältnisausgleichs keine „enge wahlsystemimmanente Koppelung von Erst- und Zweitstimmen bei der Stimmabgabe", die den Wählern bewußt sei und es daher — so wohl die Stoßrichtung des Arguments — rechtfertige, die Abgabe der Erststimme zugleich als Wahl der Bewerber der Landesliste der Partei dieses Bewerbers zu werten. Der Verhältnisausgleich hat vielmehr gerade zum Ziel, den nach den Zweitstimmen zu bestimmenden Proporz LVerfGE 11
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zwischen den im Landtag vertretenen Parteien, der durch das Anfallen von — allein durch Erststimmen getragenen — Uberhangmandaten beeinträchtigt wird, wiederherzustellen. Durch den Verhältnisausgleich kommt es mithin nicht zu einer „Koppelung von Erst- und Zweitstimmen", sondern — im Gegenteil — zu einer möglichst weitgehenden „Entkoppelung" in dem Sinne, daß Auswirkungen der Erststimmen auf den durch das Zweitstimmenergebnis hergestellten Proporz minimiert werden. Für den Wähler zum Landtag ist mithin noch weniger als für den Wähler zum Bundestag erkennbar, daß er mit seiner Erststimme für einen Wahlkreisbewerber zugleich die Bewerber der Landesliste der Partei dieses Bewerbers als mögliche Nachrücker wählt. Unter diesen Umständen wäre das Nachrücken eines Landeslisten-Bewerbers mit dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl nicht zu vereinbaren (vgl. BVerfGE 97, 317, 326 f). d) Daß der Gesetzgeber hinsichtlich der Nachfolgeregelung bewußt von der für das Bundeswahlrecht geltenden Rechtslage hätte abweichen wollen, ist (ungeachtet der Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit) nicht ersichtlich. Er hat vielmehr — ebenso wie der Bundesgesetzgeber — die erst mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 1998 zutage getretene Problematik des Nachrückens von Listenbewerbern für ausscheidende Wahlkreisabgeordnete bei Bestehen von Uberhangmandaten gar nicht gesehen. Dies wird aus der Entstehungsgeschichte des Gesetzes deutlich. In dem Gesetzentwurf der Landesregierung (LT-Drs. 1/2084) heißt es in der Einzelbegründung zu § 43: „Fällt ein gewählter Bewerber aus oder scheidet ein Mitglied des Landtages aus, dann rückt der nächste bisher noch nicht berücksichtigte Listenbewerber derjenigen Partei, politischen Vereinigung oder Listenvereinigung nach, über deren Wahlvorschlag der Ausgeschiedene gewählt war. Dieser Grundsatz gilt auch für die in den 44 Wahlkreisen gewählten Bewerber." (Hervorhebung durch das Gericht) Und in der Einzelbegründung zu § 1 heißt es: „Ein im Laufe der Wahlperiode ausscheidender Wahlkreisabgeordneter wird nicht durch Nachwahl in seinem Wahlkreis, sondern über die Landesliste ersetzt (s. § 43; Ausnahme davon s. § 44 Abs. 1)". Als einzige Ausnahme vom Nachrücken — mit der Folge der Durchführung einer Ersatzwahl — wurde mithin der Fall gesehen, daß der ausgeschiedene Abgeordnete als Einzelbewerber oder als Wahlkreisabgeordneter einer Partei, politischen Vereinigung oder Listenvereinigung gewählt war, für die keine Landesliste zugelassen worden war. Ohne Bedeutung bleibt, daß der Regierungsentwurf in § 3 Abs. 7 noch vorsah, daß die Zahl der Ausgleichsmandate die Hälfte der Zahl der Uberhangmandate nicht übersteigen dürfe. Bei einer derartigen Regelung hätte sich das Problem eines Nachrückens von Listenbewerbern für ausscheidende Wahlkreisabgeordnete bei Überhangmandaten nicht erübrigt, sondern - im Gegenteil — umso dringlicher gestellt, da eine Wiederherstellung des Proporzes und damit eine Abstützung der ÜberhangmanLVerfGE 11
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date durch das Zweitstimmenergebnis in keinem Fall mehr in Betracht gekommen wäre. Im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens ist die Tragweite der Nachrückerregelung nicht mehr problematisiert worden. Andererseits lassen die Gesetzesmaterialien deutlich erkennen, daß sich die Sitzverteilung im Landtag möglichst weitgehend am Zweitstimmenergebnis orientieren sollte. Zu Beginn wurde zwar teilweise ein vollständiger Verzicht auf Ausgleichsmandate gefordert (z.B. Abg. Dr. Knoblich in der Sitzung des Rechtsausschusses vom 18.8.1993, Ausschußprot. 1/786). Im weiteren Verlauf der Beratungen bestand jedoch Ubereinstimmung zwischen den Fraktionen, mit der Anwendung von Uberhang- und Ausgleichsmandaten die Zusammensetzung des Landtags „weitgehend dem Wählerwillen bei Erst- und Zweitstimmen zugleich entsprechen zu wollen." (vgl. Beschlußempfehlung und Bericht des Hauptausschusses, LT-Drs. 1/2701, S. 72). Streitig blieb lediglich die Kappungsgrenze, d. h. die Frage, ob und wie die durch Überhang- und Ausgleichsmandate bewirkte Erhöhung der Gesamtzahl der Abgeordneten im Interesse der Kostenbegrenzung und der Arbeitsfähigkeit des Parlaments zu beschränken sei (vgl. Beschlußempfehlung und Bericht des Hauptausschusses, aaO, sowie die Redebeiträge der Abg. Nooke (BÜNDNIS) und Dr. Vette (CDU), Plenarprot. 1/85 vom 26.1.1994, S. 6892 bzw. 6895). Die von einer derartigen Ausnahme vom Verhältnisausgleich ausgehenden Auswirkungen auf die Nachrückerregelung des § 43 sind indes — soweit ersichtlich - nicht erörtert worden. Dies gilt erst recht für die - im vorliegenden Zusammenhang maßgebliche — Ausnahme des § 3 Abs. 11 BbgLWahlG. Die Bestimmung geht auf einen vom Hauptausschuß erbetenen Formulierungsvorschlag des Ministeriums des Innern zu § 3 des Entwurfs zurück. Eine nähere Begründung für die in Absatz 11 enthaltene Regelung enthielt der Vorschlag nicht. Die Formulierung wurde in der Sitzung des Hauptausschusses vom 18.1.1994 ohne weitere Erörterung mehrheitlich beschlossen (vgl. Ausschußprot. 1/939). Insgesamt kann bei dieser Sachlage nicht davon ausgegangen werden, daß der Gesetzgeber mit der Nachfolgeregelung des § 43 BbgLWahlG verbundene Abweichungen von einer ausschließlich am Zweitstimmenergebnis ausgerichteten Sitzverteilung bewußt hätte in Kauf nehmen wollen. e) Für den hier zu entscheidenden Fall ergibt sich hieraus: Da bei der Wahl zum 3. Landtag Brandenburg am 5. September 1999 nur ein einziges Überhangmandat angefallen ist und deshalb nach § 3 Abs. 11 BbgWahlG die Ausgleichsregelung nicht zur Anwendung gekommen ist, hat das betreffende Direktmandat keinen Listenplatz — hier der SPD — verdrängt und wird damit nicht auch durch das Zweitstimmenergebnis getragen. Soweit vom Landeswahlleiter ausweislich der Begründung des Landtagsbeschlusses im Einspruchsverfahren ergänzend darauf abgestellt worden ist, daß die SPD im Vergleich zu den anderen im Landtag vertretenen Gruppierungen die höchste Zahl von Zweitstimmen pro erlangtem Mandat hat, gibt dies für den hier zu entscheidenden Fall nichts her, weil sich nichts daran ändert, daß das errungene Überhangmandat nicht LVerfGE 11
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auch von dem — in dem Verfahren nach § 3 Abs. 3 und 4 BbgLWahlG ermittelten — maßgeblichen Zweitstimmenanteil getragen ist, sondern allein auf den Erststimmen im Wahlkreis beruht. Ohne Bedeutung bleibt auch, daß die Anwendung der Ausgleichsformel im konkreten Fall keine andere Sitzverteilung ergeben hätte, wie sich aus dem folgenden ergibt: Ohne Ausgleichsregelung entfallen nach der Feststellung des Landeswahlausschusses auf der Grundlage des endgültigen Wahlergebnisses von den insgesamt 89 Sitzen (vgl. Amtsblatt fur Brandenburg 1999, 920, 966 ff) 37 Sitze auf die SPD (einschließlich des Überhangmandates), 25 Sitze auf die CDU, 22 Sitze auf die PDS und 5 Sitze auf die DVU. Bei Anwendbarkeit der Ausgleichsregelung des § 3 Abs. 8 BbgLWahlG wäre zur Errechnung der Gesamtzahl der Abgeordneten die Zahl der in den Wahlkreisen errungenen Sitze der SPD (als der einzigen Partei, die ein Überhangmandat errungen hat) durch die Zahl ihrer Zweitstimmen im Wahlgebiet (nach dem endgültigen Wahlergebnis: 433 521) zu teilen und mit der Gesamtzahl aller zu berücksichtigenden Zweitstimmen im Wahlgebiet (d. h. der Summe der für SPD, CDU, PDS und DVU abgegebenen Stimmen, nach dem endgültigen Wahlergebnis: 1 041 711) zu multiplizieren. Da Zahlenbruchteile ab 0,5 auf die darüber liegende ganze Zahl gerundet werden, ergäbe sich wiederum eine Gesamtzahl von 89 Abgeordneten, die gem. § 3 Abs. 8 S. 3 nach den Absätzen 3 bis 6 zu verteilen wäre mit dem Ergebnis, daß auf die SPD ein zusätzlicher Sitz entfallen würde, auf den das bisherige Überhangmandat nach § 3 Abs. 5 S. 1 BbgLWahlG anzurechnen wäre. Derartige hypothetische Erwägungen verbieten sich jedoch schon im Hinblick auf den Umstand, daß der Gesetzgeber in § 3 Abs. 11 BbgLWahlG ausdrücklich angeordnet hat, daß ein Verhältnisausgleich nach Absatz 7 nicht stattfindet, wenn Parteien ausschließlich bis zu zwei Überhangmandate erreicht haben. f) Nach alledem war ein Rückgriff auf die Landesliste der SPD nach dem Freiwerden des Sitzes der im Wahlkampf fiir die SPD aufgetretenen und in ihrem Wahlkreis direkt gewählten Abgeordneten Dr. Hildebrandt nicht zulässig. D. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 32 Abs. 7 S. 2 VerfGGBbg. E. Das Urteil ist mit 6 zu 2 Stimmen ergangen.
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Nt. 11* 1. Die Bußgeldvorschrift des § 73 Abs. 1 Nr. 9 in Verbindung mit der Biotopschutzbestímmung des § 32 Abs. 1 Nr. 5 Brandenburgisches Naturschutzgesetz verstößt jedenfalls hinsichtlich des Biotoptyps „Bruchwald" nicht gegen das in Art. 53 Abs. 1 Landesverfassung verankerte Bestimmtheitsgebot. 2. Eine Auslegung, derzufolge die Ahndung der Zerstörung oder erheblichen oder nachhaltigen Beeinträchtigung eines Bruchwalds als Ordnungswidrigkeit keine Eintragung des Biotops in das Verzeichnis der gesetzlich geschützten Biotope nach § 32 Abs. 3 Brandenburgisches Naturschutzgesetz voraussetzt, verstößt nicht gegen Art. S3 Abs. 1 Landesverfassung.** Grundgesetz Art. 3 Abs. 1; 75 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, Abs. 3; 103 Abs. 2 Verfassung des Landes Brandenburg Art. 41 Abs. 1; 52 Abs. 3, Abs. 4 Satz 1; 53 Abs. 1 Bundesnaturschutzgesetz §§ 2 Abs. 1 Nr. 10; 4 Satz 1; 20c Abs. 1 Nr. 3 Brandenburgisches Naturschutzgesetz §§ 1 Abs. 2 Nr. 2; 32 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 3; 73 Abs. 1 Nr. 9 Beschluß vom 12. Oktober 2000 - VfGBbg 20/00 in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren des Herrn S. gegen den Beschluß des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 22. März 2000 - 1 Ss (Owi) 69 B/99 - betreffend die Verurteilung im Bußgeldverfahren wegen Verstoßes gegen das Brandenburgische Naturschutzgesetz. Entscheidungsformel: Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.
* Die Entscheidung ist im Volltext abgedruckt im Supplementband Brandenburg zu LVerfGE 11 (Suppl. Bbg. zu Bd. 11), S. 157 ff, hrsgg. vom Verfassungsgericht des Landes Brandenburg (Adresse s. Anhang) und dort gegen Gebühr erhältlich. Abdruck (gekürzt) auch in: NuR 2001,146 ff. ** Nichtamtliche Leitsätze.
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Zuziehung eines Rechtsbeistands vor Entscheidung über Freiheitsentziehung
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Nr. 12* Verletzung des Rechts auf Gelegenheit zur Zuziehung eines Rechtsbeistands vor jeder richterlichen Entscheidung über Anordnung oder Fortdauer eines Freiheitsentzugs (Art. 9 Abs. 2 S. 2 Verfassung des Landes Brandenburg) bei Ankündigung des Termins einer mündlichen Anhörung vor der Strafvollstreckungskammer erst drei Tage vorher.** Landesverfassung Art. 6 Abs. 2; 9 Abs. 2 S. 2; 52 Abs. 4 Strafgesetzbuch § 67e Strafprozeßordnung §§ 454 Abs. 1 S. 3; 463 Abs. 3 Beschluß vom 12. Oktober 2000 - VfGBbg 37/00 in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren des Herrn L. gegen den Beschluß des Landgerichts Potsdam vom 29. März 2000 - 20 StVK 617/99 - und den Beschluß des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 11. Mai 2000 - 2 Ws 149/00 - . Entscheidungsformel: 1. Die Beschlüsse des Landgerichts Potsdam vom 29. März 2000 - 20 StVK 617/99 — und des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 11. Mai 2000 — 2 Ws 149/00 — verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 9 Abs. 2 S. 2 der Verfassung des Landes Brandenburg. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung nach abermaliger Anhörung des Beschwerdeführers (mit Gelegenheit zur Zuziehung seines Rechtsbeistandes nach Maßgabe der Entscheidungsgründe dieser Entscheidung) an das Landgericht Potsdam zurückverwiesen. 2. Das Land Brandenburg hat dem Beschwerdeführer die in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten. Gründe: (...)
B. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und hat im wesentlichen Erfolg. * Die Entscheidung ist im Volltext abgedruckt im Supplementband Brandenburg zu LVerfGE 11 (Suppl. Bbg. zu Bd. 11), S. 173 ff, hrsgg. vom Verfassungsgericht des Landes Brandenburg (Adresse s.Anhang) und dort gegen Gebühr erhältlich. Abdruck (gekürzt) in JMB1. 2001,lOff. ** Nichtamtlicher Leitsatz.
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I. Die Verfassungsbeschwerde ist nach Art. 6 Abs. 2, 113 Nr. 4 LV, § § 1 2 Nr. 4, §§ 45 ff Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg (VerfGGBbg) zulässig. II. 1. Die Verfassungsbeschwerde hat auch in der Sache selbst Erfolg. Die angegriffenen Gerichtsentscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in dem grundrechtsgleichen Verfahrensrecht auf Beiziehung eines Rechtsbeistandes seiner Wahl nach Art. 9 Abs. 2 S. 2 LV. a) Nach Art. 9 Abs. 2 S. 2 LV ist dem Betroffenen vor jeder richterlichen Entscheidung über Anordnung oder Fortdauer eines Freiheitsentzugs Gelegenheit zu geben, einen Rechtsbeistand seiner Wahl beizuziehen. Dieses grundrechtsgleiche Verfahrensrecht ist eine Ausprägung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 52 Abs. 4 LV) und grundgesetzkonform dahin auslegen, daß der Verurteilte die Möglichkeit haben muß, sich auch während einer mündlichen Anhörung des Beistands eines Rechtsanwalts seiner Wahl zu bedienen. Dem entspricht ein Anwesenheitsrecht des Rechtsanwalts. Die Strafvollstreckungskammer hat den Verurteilten so frühzeitig über den Anhörungstermin zu benachrichtigen, daß er in der Lage ist, den Rechtsanwalt von dem Anhörungstermin zu verständigen. Bei kurzfristiger Terminierung ist die Strafvollstreckungskammer gehalten, den Rechtsanwalt von sich aus zu benachrichtigen. Im einzelnen: Das Bundesverfassungsgericht hat aus dem — seinerseits aus den Erfordernissen eines rechtsstaatlichen Verfahrens folgenden — Recht auf ein faires Verfahren das Recht des Verurteilten entwickelt, sich in dem Verfahren über die Fortdauer der Freiheitsentziehung bei seiner mündlichen Anhörung durch einen Rechtsanwalt seiner Wahl beraten und vertreten zu lassen. Als Element der Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens und daran anknüpfender Verfahren schließt es das Recht auf ein faires Verfahren ein, prozessuale Rechte und Möglichkeiten sachkundig — d. h. auch: mit sachkundiger Hilfe eines Rechtsanwalts — wahrnehmen und Ubergriffe der rechtsstaatlich begrenzten Ausübung staatlicher Stellen oder anderer Verfahrensbeteiligter angemessen abwehren zu können (vgl. BVerfGE 38, 105, 111). Ebenso wie Beschuldigten, Zeugen und Verletzten im Strafverfahren, denen das Strafprozeßrecht ausdrücklich das Recht einräumt, sich des Beistands eines Rechtsanwalts zu bedienen, steht das nämliche Recht wegen der Bedeutung der mündlichen Anhörung für die Wiedererlangung der Freiheit auch — und erst recht — dem Verurteilten etwa im Verfahren zur Aussetzung des Strafrests zu (s. BVerfG, NJW 1993, 2301, 2303). Diesem Recht des Verurteilten entspricht das Recht des Verteidigers auf Anwesenheit während der mündlichen Anhörung vor der Strafvollstreckungskammer (vgl. BVerfG, aaO wie StV 1994, 552, 553). Hiervon ausgehend ist es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, der das erkennende Gericht folgt, eine von Verfassungs wegen nicht hinnehmbare VerLVerfGE 11
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kiirzung der prozessualen Rechte des Verurteilten, wenn er darauf verwiesen wird, daß sein Verteidiger schriftlich zu dem Ergebnis der mündlichen Anhörung Stellung nehmen könne. Die gesetzlich nicht geregelte Form der Anhörung, bei der ein Protokoll nicht aufgenommen zu werden braucht, bietet auch keine hinreichende Gewähr, daß der Verteidiger im schriftlichen Verfahren fur den Verurteilten in interessengerechter Weise Stellung nehmen kann (vgl. BVerfG, NJW 1993,2301, 2302). Begrenzt wird das Recht auf Beiziehung eines Rechtsbeistandes freilich durch das öffentliche Interesse an der Effizienz des Verfahrens. Die Gerichte haben eine Abwägung unter Berücksichtigung der persönlichen und tatsächlichen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen (vgl. BVerfGE 38, 105, 118). Grundsätzlich kann es aber nicht die Aufgabe des Gerichts sein, den Rechtsanwalt von sich aus von dem Termin zu benachrichtigen. Der Betroffene muß selbst Vorsorge dafür treffen, daß sein Rechtsbeistand zur mündlichen Anhörung erscheint und seine Interessen vertritt. Entstehende Kosten hat er selbst zu tragen. Erfolgt die Anhörung jedoch kurzfristig, so hat das Gericht den Verteidiger zu benachrichtigen, da anders der Anspruch auf eine faire Verfahrensgestaltung nicht einzulösen ist (BVerfG, NJW 1993, 2301, 2303; StV 1994, 552, 553). b) Nach Lage des Falles ist der Beschwerdeführer in seinem nach Maßgabe des Vorstehenden zu verstehenden Recht auf Beiziehung eines Rechtsbeistands nach Art. 9 Abs. 2 S. 3 LV verletzt worden. aa) Die Entscheidung, in dem Verfahren nach §§ 67e Abs. 2 StGB iVm §§ 463 Abs. 3, 454 Abs. 1 S. 3 StPO ist eine Entscheidung über die Fortdauer eines Freiheitsentzugs iSv Art. 9 Abs. 2 S. 2 LV. Die Strafvollstreckungskammer hat darüber zu befinden, ob die Vollstreckung der Unterbringung in dem psychiatrischen Krankenhaus zur Bewährung ausgesetzt werden kann (vgl. § 67e Abs. 1 S. 1 StGB). bb) Die Strafvollstreckungskammer hat hier dem Beschwerdeführer keine (hinreichende) Gelegenheit iSv Art. 9 Abs. 2 S. 2 LV gegeben, den von ihm mandatierten Rechtsanwalt als den Rechtsbeistand seiner Wahl zu dem Anhörungstermin hinzuzuziehen. Die Vorsitzende der Strafvollstreckungskammer hat den Termin zur Anhörung am 12. Januar 2000 auf den 20. Januar 2000 terminiert. Aus dem Strafvollstreckungsheft ergibt sich, daß die Landesklinik und die Staatsanwaltschaft hiervon am 17. Januar 2000 telefonisch über den Anhörungstermin in Kenntnis gesetzt worden sind. Soweit der Beschwerdeführer geltend macht, daß er erst am 18. Januar durch Mitarbeiter der Landesklinik informiert worden sei, kommt es hierauf nicht an. Auch wenn er bereits am 17. Januar benachrichtigt worden ist, wäre dies nicht so rechtzeitig gewesen, daß er iSv Art. 9 Abs. 2 S. 2 LV (hinreichende) Gelegenheit zur Beiziehung eines Rechtsbeistands gehabt hätte. (1) Wieviel Zeit zwischen der Benachrichtigung des Verurteilten von der Anhörung und der Anhörung liegen muß, um dem Verurteilten ausreichend Gelegenheit zur LVerfGE 11
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Benachrichtigung eines Rechtsbeistands seiner Wahl zu geben, wird in der Rechtsprechung uneinheitlich beantwortet und hängt gegebenenfalls von den Umständen des Einzelfalls ab. Die Mitteilung des Anhörungstermins erst 15 Minuten vor Beginn ist jedenfalls zu kurzfristig (vgl. BVerfG, StV 1994, 552, 553). In der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte wird angesichts der Schwierigkeiten, die ein Strafgefangener bei der Kontaktaufnahme mit Außenstehenden habe, eine Frist von drei Tagen als zu gering bemessen angesehen. Der Verurteilte müsse von dem Anhörungstermin mindestens eine Woche vorher erfahren (OLG Zweibrücken, StV 1993, 315, 316). In der Literatur wird selbst die Wochenfrist als zu knapp befunden (Bnngewai NStZ 1996,17, 20 Fn. 22). (2) Das erkennende Gericht neigt zu der Auffassung, daß für den Normalfall — im Sinne einer „Faustregel" — eine Frist von einer Woche ausreichend, aber auch erforderlich ist, sieht jedoch keine Veranlassung, sich zu dieser Frage abschließend festzulegen. Vorliegend erscheint jedenfalls die Frist von drei Tagen, die dem Beschwerdeführer maximal zur Verfügung stand, im Lichte des Art. 9 Abs. 2 S. 2 LV zu kurz. Hierbei ist mit zu berücksichtigen, daß der Beschwerdeführer in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht ist. Ein so Untergebrachter hat zwar nach § 25 Abs. 1 S. 1 des Gesetzes über Hilfen und Schutzmaßnahmen sowie über den Vollzug gerichtlich angeordneter Unterbringung für psychisch Kranke (Brandenburgisches Psychisch-Kranken-Gesetz — BbgPsychKG) das Recht auf fernmündliche und elektronische Nachrichtenübermittlung. Der Telefonverkehr unterliegt jedoch der Ausgestaltung durch die jeweilige Hausordnung (vgl. § 27 Abs. 1 S. 2 BbgPsychKG). Demzufolge hat der Untergebrachte nicht jederzeit und uneingeschränkt die Möglichkeit, Telefongespräche zu führen. Einerseits wird er in dieser Hinsicht dem Gesetzeswortlaut nach etwas großzügiger behandelt als der Strafgefangene, dem (lediglich) „zu gestatten" ist, mit seinem Anwalt fernmündlich Kontakt aufzunehmen (vgl. § 26 iVm § 32 Strafvollzugsgesetz). Andererseits bleibt die Situation aber mit der des Strafgefangenen durchaus vergleichbar. In beiden Fällen besteht grundsätzlich das Recht, telefonischen Kontakt zu dem Verteidiger aufzunehmen. Dieses Recht kann aber nur in Abhängigkeit von der jeweiligen Anstaltsleitung ausgeübt werden. Im Falle der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus kann deshalb die Frist, die dem Untergebrachten von der Benachrichtigung über den Anhörungstermin bis zu diesem Anhörungstermin zur Beiziehung eines Rechtsbeistands seiner Wahl zuzubilligen ist, nicht generell kürzer angesetzt werden. Dies gilt umso mehr als es einem psychisch Kranken vielfach nicht möglich sein wird, seine Belange mit der gleichen Zielstrebigkeit und Entschlossenheit wie ein Gesunder wahrzunehmen. Unter Einbeziehung dessen war hier die Zeit von maximal 3 Tagen, die dem Beschwerdeführer verblieb, um mit seinem Rechtsanwalt in Kontakt zu treten und ihn von dem Termin über die mündliche Anhörung in Kenntnis zu setzen, zu kurz. Daß hier schon einmal Termin zur Anhörung des Beschwerdeführers vor der Einzelrichterin für den 11. Januar 2000 angesetzt (und wieder aufgehoben) worden war, führt hier zu keiner anderen Beurteilung. Zwar mußte der Beschwerdeführer bereits
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seit der — am 3. Januar 2000 herausgegangenen — Ladung zu diesem früheren Anhörungstermin damit rechnen, daß ein Anhörungstermin bevorstand, und hätte sich deshalb bereits mit seinem Rechtsanwalt in Verbindung setzen können. Der Anhörungstermin selbst war jedoch noch offen. Bei der Benachrichtigung von der Aufhebung des zunächst angesetzten Termins war auch nicht etwa angekündigt worden, daß ein neuer Anhörungstermin — was in der Tat Anlaß für eine umgehende Kontaktaufnahme mit dem Rechtsanwalt hätte geben können — stattfinden, sondern lediglich, daß er in Kürze bekanntgegeben werde. Es bleibt daher dabei, daß dem Beschwerdeführer für die Benachrichtigung seines Rechtsanwalts von dem Anhörungstermin vor der Strafvollstreckungskammer nur maximal drei Tage zur Verfügung standen. Dies war nach Lage des Falles nicht lang genug, um dem Beschwerdeführer iSv Art. 9 Abs. 2 S. 2 LV Gelegenheit zu geben, einen Rechtsbeistand seiner Wahl beizuziehen. Daß der von dem Beschwerdeführer mandatierte Rechtsanwalt Gelegenheit hatte, sich im Anschluß an den Anhörungstermin schriftsätzlich zu dem Ergebnis der Anhörung zu äußern, reicht aus den bereits dargelegten Gründen nicht aus. (c) Die von dem Beschwerdeführer angefochtenen Gerichtsentscheidungen beruhen auf der Verletzung seines Rechts aus Art. 9 Abs. 2 S. 2 LV Es ist jedenfalls denkbar, daß das LG zu einer für den Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung gelangt wäre, wenn der Rechtsanwalt bei der Anhörung in dem Verfahren zur Uberprüfung der Unterbringung des Beschwerdeführers bei der Anhörung in dem Verfahren zur Uberprüfung der Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus zugegen gewesen wäre (vgl. dazu BVerfG, StV 1994, 552, 553). Die Beschlüsse des Brandenburgischen OLG vom 11. Mai 2000 und des LG P. vom 29. März 2000 waren daher aufzuheben. Die Sache ist zur erneuten Entscheidung nach abermaliger Anhörung des Beschwerdeführers unter rechtzeitiger Bekanntgabe des Anhörungstermins an das LG zurückzuverweisen. 2. Daneben wird der Beschwerdeführer nicht auch durch die Ablehnung der Beiordnung seines Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger (in dem Verfahren zur Uberprüfung der Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus) in seinen Rechten aus der Landesverfassung verletzt. Aus der Landesverfassung ergibt sich kein genereller Anspruch auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Anhörungsverfahren. Die Frage ist vor dem Hintergrund des Rechts auf ein faires Verfahren in entsprechender Anwendung der §§ 140 ff StPO zu entscheiden (vgl. BVerfGE 70, 297, 323). In dieser Hinsicht sind die hier zugrundeliegenden Gerichtsentscheidungen nicht zu beanstanden. 3. Auf die von dem Beschwerdeführer ferner aufgeworfene Frage, ob zugleich Art. 53 Abs. 4 LV verletzt ist, wonach sich ein Beschuldigter in jeder Lage des Verfahrens des Beistandes eines Verteidigers bedienen kann, kommt es, angesichts dessen, daß die Verfassungsbeschwerde unter dem Gesichtspunkt von Art. 9 Abs. 2 S. 2 LV Erfolg hat, nicht an. LVerfGE 11
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4. Ob der Beschwerdeführer durch den Verstoß gegen Art. 9 Abs. 2 S. 3 LV zugleich in seiner durch Art. 9 Abs. 1 LV geschützten persönlichen Freiheit verletzt worden ist, bedarf hier keiner Entscheidung. In der jetzigen Phase des Verfahrens wirkt sich das Verfahrensgrundrecht des Art. 9 Abs. 2 S. 2 LV als Sonderregelung ("lex specialis") aus, die für den Fall, daß dagegen verstoßen worden ist, zu einer erneuten Entscheidung des Fachgerichts über die Anordnung oder Fortdauer des Freiheitsentzugs führt. III. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers beruht auf § 32 Abs. 7 VerfGGBbg. IV. Eine Entscheidung über den Antrag auf Prozeßkostenhilfe erübrigt sich, da die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers, insbesondere seine Anwaltskosten, vom Land Brandenburg zu erstatten sind. Gerichtskosten fallen nicht an.
Nr. 13* 1. Zur Pflicht der Landesregierung zur Beantwortung parlamentarischer Anfragen „nach bestem Wissen und vollständig". 2. Nach der Verfassungsrechtslage im Land Brandenburg unterliegen Art und Umfang der Beantwortung parlamentarischer Anfragen durch die Landesregierung in vollem Umfang der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung. 1 "* Verfassung des Landes Brandenburg Art. 56 Abs. 2 und 4; 113 Nr. 1 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg §§ 12 Nr. 1; 32 Abs. 7 S. 2; 35 ff Beschluß vom 16. November 2000 - VfGBbg 31/00 in dem verfassungsgerichtlichen Verfahren des Mitglieds des Landtags Brandenburg Frau Dr. Esther Schröder * Die Entscheidung ist im Volltext abgedruckt im Supplementband Brandenburg zu LVerfGE 11 (Suppl. Bbg. zu Bd. 11), S. 183 ff, hrsgg. vom Verfassungsgericht des Landes Brandenburg (Adresse s. Anhang) und dort gegen Gebühr erhältlich. Abdruck (gekürzt) auch in: DÖV 2001,164 ff; L K V 2001,167 ff. * * Nichtamtliche Leitsätze.
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Beantwortung parlamentarischer Anfragen
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gegen die Regierung des Landes Brandenburg, vertreten durch den Minister der Justiz und für Europaangelegenheiten betreffend die Beantwortung parlamentarischer Anfragen gemäß Art. 56 Abs. 2 Landesverfassung. Entscheidungsformel: 1. Es wird festgestellt, daß die Antragsgegnerin a) mit ihrer Antwort vom 4. Mai 2000 auf die Kleine Anfrage Nr. 359 der Antragstellerin vom 31. März 2000 sowie b) mit ihrer Antwort in der 15. Sitzung des Landtages vom 17. Mai 2000 auf die Mündliche Anfrage Nr. 237 der Antragstellerin gegen Art. 56 Abs. 2 S. 2 der Landesverfassung verstoßen hat. 2. Auslagen sind der Antragstellerin nicht zu erstatten. Gründe: A. Gegenstand des Organstreitverfahrens ist die Frage, ob die Landesregierung das Recht einer Abgeordneten auf ordnungsgemäße Beantwortung einer Kleinen und einer Mündlichen Anfrage verletzt hat. (...) B. Das Verfassungsgericht hat eine mündliche Verhandlung einstimmig nicht für erforderlich gehalten (§ 22 Abs. 1 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg — VerfGGBbg). Der Antrag der Antragstellerin hat Erfolg. I. Der Antrag ist nach Art. 113 Nr. 1 LV, §§ 12 Nr. 1,35 ff. VerfGGBbg zulässig. Gegenstand des Verfahrens ist die Auslegung der Landesverfassung aus Anlaß einer Streitigkeit über den Umfang der den Beteiligten durch die Verfassung übertraLVerfGE 11
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genen Rechte und Pflichten. Die Antragstellerin ist als Abgeordnete gemäß Art. 113 Nr. 1 LV und § 35 iVm § 12 Nr. 1 VerfGGBbg im Organstreitverfahren beteiligtenfahig. Da sie geltend macht, durch die Antwort der Antragsgegnerin auf ihre Anfragen in ihrem Recht auf eine „nach bestem Wissen" und „vollständig" zu erteilende Auskunft nach Art. 56 Abs. 2 S. 2 LV verletzt zu sein, ist sie gem. § 36 Abs. 1 VerfGGBbg auch antragsbefugt. Die Antragsgegnerin ist als Verfassungsorgan ebenfalls beteiligtenfáhig. Die sechsmonatige Antragsfrist nach § 36 Abs. 3 VerfGGBbg ist gewahrt. Das Rechtsschutzinteresse der Antragstellerin ist nicht dadurch entfallen, daß die Landesregierung mit Schreiben vom 8. November 2000 eine Antwort auf die in der Kleinen Anfrage gestellten Fragen in der gewünschten tabellarischen Anordnung gegeben hat. Da der Wordaut des an das Verfassungsgericht und des an die Antragstellerin gerichteten Ubersendungsschreibens der Landesregierung auch kein Eingeständnis einer Verletzung des verfassungsrechtlichen Fragerechts der Antragstellerin durch die ursprünglichen Antworten erkennen läßt, besteht das berechtigte Interesse an der Feststellung eines darin liegenden Verfassungsverstoßes fort. II. Der Antrag ist begründet. Die Antragsgegnerin hat das in Art. 56 Abs. 2 S. 2 LV gewährleistete Recht der Antragstellerin verletzt, indem sie es unterlassen hat, die Kleine Anfrage Nr. 359 (hierzu nachfolgend 1.) und die Mündliche Anfrage Nr. 237 (hierzu nachfolgend 2.) unverzüglich nach bestem Wissen und vollständig zu beantworten. 1. a) Nach Art. 56 Abs. 2 S. 1 LV haben die Abgeordneten u.a. das Recht, im Landtag Fragen zu stellen. Fragen an die Regierung sind unverzüglich nach bestem Wissen und vollständig zu beantworten (Art. 56 Abs. 2 S. 2 LV). Das Nähere regelt die Geschäftsordnung (Art. 56 Abs. 2 S. 3 LV). Vollständig ist die Antwort, wenn alle Informationen, über die die Regierung verfügt oder mit zumutbarem Aufwand verfügen könnte, lückenlos mitgeteilt werden, d. h. nichts, was bekannt ist oder was mit zumutbarem Aufwand hätte in Erfahrung gebracht werden können, verschwiegen wird. Nicht vollständig ist auch eine ausweichende Antwort (vgl. Sächsischer Verfassungsgerichtshof, Urt. v. 16.4.1998 - Vf. 19-1-97, LKV 1998, 315; Niedersächsischer Staatsgerichtshof, Beschl. v. 25.11.1997 - StGH 1/97 - , S. 8 des Entscheidungsumdrucks). Dies bedeutet allerdings nicht, daß die Auskunft ohne Rücksicht darauf, was und wie genau gefragt worden ist, in Details ausufern muß. In Zweifelsfallen kann es Sache der/des Abgeordneten sein, ergänzend nachzufragen. In jedem Fall muß die Auskunft jedoch stimmig und aus sich selbst heraus verständlich sein und darf nichts Wesentliches oder erkennbar Interessierendes vorenthalten (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 18.12.1997 - VfGBbg 16/97 - , LVerfGE 7,138,141, zu dem in Art. 56 Abs. 3 LV gewährleisteten Auskunftsrecht der Abgeordneten). Bestem Wissen entspricht die Antwort, wenn das Wissen, das bei der LVerfGE 11
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Landesregierung präsent ist, sowie jene Informationen mitgeteilt werden, die innerhalb der Antwortfrist mit zumutbarem Aufwand eingeholt werden können (vgl. Sächsischer Verfassungsgerichtshof, Urt. v. 16.4.1998 - Vf. 19-1-97, LKV 1998, 315). Obgleich Art. 56 Abs. 2 LV — anders als die entsprechenden Regelungen einiger anderer Landesverfassungen (vgl. Art. 40 Abs. 3 der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Art. 51 Abs. 2 der Verfassung des Freistaats Sachsen, Art. 23 Abs. 3 der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Art. 67 Abs. 3 der Verfassung des Freistaats Thüringen; der Fassung in Brandenburg vergleichbar dagegen: Art. 24 Abs. 1 der Niedersächsischen Verfassung und Art. 53 Abs. 2 LV der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt) — dies nicht ausdrücklich regelt, unterliegt allerdings die dem Fragerecht des Abgeordneten korrespondierende Antwortpflicht der Landesregierung Grenzen. Solche Grenzen ergeben sich zum einen aus der Verbandskompetenz des Landes und der Organkompetenz der Regierung. Da die Landesregierung nur für ihre Amtsführung — im Sinne einer Rechenschafts- und Einstandspflicht für eigenes Handeln — verantwortlich ist, braucht sie nur in solchen Angelegenheiten Auskunft zu geben, die in ihre Zuständigkeit fallen (vgl. Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt, Urt. v. 17.1.2000 - LVG 6/99 - , NVwZ 2000, 671, 672). Im übrigen kann zur Bestimmung der sich aus der Verfassung ergebenden Grenzen der Antwortpflicht die — dem Wortlaut nach zunächst nur die in Art. 53 Abs. 3 LV geregelte Erteilung von Auskünften und Vorlage amtlicher Unterlagen betreffende — Schrankenbestimmung des Art. 56 Abs. 4 LV entsprechend herangezogen werden. Für eine unterschiedliche Behandlung von Auskunftsersuchen im Rahmen parlamentarischer Anfragen ist kein sachlicher Grund ersichtlich. Nach Art. 56 Abs. 4 S. 1 LV darf aber die Erteilung von Auskünften oder die Vorlage von Akten und sonstigen amtlichen Unterlagen (nur) abgelehnt werden, wenn überwiegende öffentliche oder private Interessen an der Geheimhaltung dies zwingend erfordern. Mit dem Begriff der „privaten Interessen an der Geheimhaltung" nimmt der Verfassungsgesetzgeber die Grundrechtsverbürgung des Art. 11 LV in Bezug (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 20.6.1996 — VfGBbg 3/96 —, LVerfGE 4, 179, 186). Öffentliche Interessen an der Geheimhaltung können sich etwa aus dem Wesen der Exekutiwerantwortung ergeben. In diesem Sinne ist ein „Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung" anzuerkennen, der — in im einzelnen schwer abzusteckenden Grenzen — einen selbst im Verhältnis zu parlamentarischen Untersuchungsausschüssen nicht offenbarungspflichtdgen Initiativ-, Beratungs- und Handlungsbereich einschließt (vgl. BVerfGE 67, 100,139). Ob bereits das Gebot, daß die Funktions- und Arbeitsfähigkeit der Regierung nicht gefährdet werden darf, die Verweigerung der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage rechtfertigen kann (so Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 4.10.1993 — VerfGH 15/92 - , NVwZ 1994, 678, 679 f; offengelassen durch den Sächsischen Verfassungsgerichtshof; Urt. V. 16.4.1998 - Vf. 14-1-97, LKV 1998, 316, 317; ablehnend etwa Versteyl in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, 3. Aufl. 1995, Rn. 22 zu Art. 43) oder gegebenenfalls nur eine Verzögerung der Beantwortung rechtfertigt (vgl. LVerfGE 11
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Weis DVB1. 1988, 268, 273), bedarf aus Anlaß des vorliegenden Falles - wie nachfolgend unter b)bb) dargelegt wird — keiner abschließenden Entscheidung. Art. 56 Abs. 4 S. 1 LV bestimmt weiter, daß die öffentlichen oder privaten Interessen an der Geheimhaltung „überwiegend" sein und die Auskunftsverweigerung „zwingend erfordern" müssen. Im Rahmen der danach anzustellenden Abwägung zwischen dem Informationsinteresse des Abgeordneten und dem gegebenenfalls zu berücksichtigenden Geheimhaltungsinteresse (vgl. zu diesem Abwägungserfordernis bereits Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 20.6.1996 - VfGBbg 3/96 —, LVerfGE 4,179,187) ist auch der Bedeutung der Pflicht zur erschöpfenden Beantwortung parlamentarischer Anfragen für die Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Systems Rechnung zu tragen (vgl. BVerfG, NJW 1996, 2085; BVerfGE 57, 1, 5). Das Fragerecht erfüllt keinen Selbstzweck, sondern hat die Funktion, den sachlichen Aufgaben der/des einzelnen Abgeordneten zu dienen. Die Abgeordneten sind aufgrund ihres Mandats berufen, eigenverantwortlich an den Aufgaben mitzuwirken, die dem Landtag obliegen. Das setzt voraus, daß sie über die hierfür erforderlichen Informationen verfugen. Wegen der Komplexität der im Landtag zu behandelnden Gegenstände und der von ihm mitzugestaltenden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Zusammenhänge sind die Abgeordneten dabei in der Regel auf die Informationen angewiesen, die der Regierung insbesondere durch die Ministerialverwaltung zur Verfügung stehen (vgl. Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen, aaO, 679; Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt, Urt. v. 17.1.2000 - LVG 6/99 - , NVwZ 2000, 671, 672). Hätten die Abgeordneten keinen Zugriff auf den Informationsstand der Ministerialverwaltung, wäre die Kontrolle der Regierung durch das Parlament erheblich erschwert. Der Landesverfassungsgeber war in diesem Sinne bestrebt, einem — in den alten Ländern und im Bund vielfach zu beobachtenden — informationellen Ungleichgewicht zwischen Exekutive und Legislative und insbesondere zwischen Exekutive und Opposition mit der Einräumung möglichst umfassender Informationsrechte jedes einzelnen Abgeordneten entgegenzuwirken (vgl. Breidenbach/Kneifel-Haverkamp in: Simon/Franke/Sachs, Handbuch der Verfassung des Landes Brandenburg, Rn. 30 zu § 21). Dieser Zielsetzung entsprechend kommt in Zweifelsfällen dem Informationsinteresse des Abgeordneten das höhere Gewicht zu. Daraus folgt weiter, daß die Landesregierung nach der Verfassungsrechtslage im Land Brandenburg — anders als etwa in Nordrhein-Westfalen (vgl. hierzu Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 4.10.1993 - VerfGH 15/92, NVwZ 1994, 678,679) - bei der Beurteilung der Frage, welche Informationen sie den Abgeordneten zur Verfugung stellt, keinen nicht nachprüfbaren Beurteilungsspielraum hat, sondern in dieser Hinsicht der vollen verfassungsgerichtlichen Nachprüfung unterliegt (so auch Verfassungsgerichtshof des Freistaats Sachsen, Urt. v. 18.4.1998 - Vf. 14-1-97 - , LKV 1998, 316, 317, zu Art. 51 Abs. 2 der Sächsischen Verfassung). Dem entspricht, daß nach Art. 56 Abs. 4 S. 2 LV die Entscheidung über die Verweigerung einer Auskunft dem Abgeordneten mitzuteilen und zu begründen ist.
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Beantwortung parlamentarischer Anfragen
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b) Die Behandlung der Kleinen Anfrage der Antragstellerin durch die Landesregierung wird den dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht gerecht. Die Antwort der Landesregierung vom 4. Mai 2000 war nicht vollständig und nach bestem Wissen erteilt (aa). Auf die verfassungsrechtlichen Grenzen ihrer Antwortpflicht hat sich die Landesregierung weder berufen noch ist ersichtlich, daß sie vorliegend berührt waren (bb). aa) Nach dem Wordaut der Kleinen Anfrage Nr. 359 — soweit Gegenstand des vorliegenden Verfahrens — begehrte die Antragstellerin Informationen darüber, wie viele Angestellte und wie viele Beamte der Ministerien des Landes Brandenburg (bezogen auf den Wohnsitz vor dem Jahr 1989) jeweils aus den alten und wie viele jeweils aus den neuen Bundesländern stammen, wie die Personalstruktur hinsichtlich der Herkunft (im Sinne der Frage 1) und aufgeschlüsselt nach Ministerium und Personalebenen entsprechend einer vorgegebenen Tabelle aussieht und welche Gehaltsstaffelung sich gegenwärtig in den Personalebenen des jeweiligen Ministeriums in bezug auf die Bezahlung nach BAT-Ost und BAT-West entsprechend einer vorgegebenen Tabelle ergibt. In ihrer schriftlichen Antwort vom 4. Mai 2000 verwies die Landesregierung auf die Antworten zu den Anfragen 1592 (LT-Drs. 2/5126), 1847 (LT-Drs. 2/5967) und 1903 (LT-Drs. 2/6224). Gleichzeitig führte sie aus, daß die Anfrage im Vergleich zu den bereits zur gleichen Thematik beantworteten Kleinen Anfragen von Mitgliedern der PDS-Landtagsfraktion aus den Jahren 1998/99 nuanciert andere Fragestellungen beinhalte und eine detaillierte Beantwortung erneute Ressortumfragen erforderlich machen würden. Diesen Aufwand halte sie — die Landesregierung — nicht für angebracht, da im zehnten Jahr der deutschen Einheit die biografische Herkunft der Beschäftigten in den Ministerien keine Rolle mehr spielen sollte. So würden Neueinstellungen grundsätzlich nach fachlicher Eignung, Befähigung und Leistung vorgenommen. Die Frage des Wohnsitzes vor 1989 sei dabei unerheblich. Im Ergebnis würden daher Bewerber aus sämtlichen Bundesländern sowie den Mitgliedstaaten der Europäischen Union eingestellt. Mit diesem Inhalt war die Antwort auf die Frage der Antragstellerin unvollständig und entsprach nicht bestem Wissen iSd Art. 56 Abs. 2 S. 2 LV. Die Antwort war schon nicht in sich stimmig. Denn einerseits wird die Antragstellerin auf drei „zur gleichen Thematik" ergangene Antworten zu parlamentarischen Anfragen aus der vorangegangenen Wahlperiode des Landtages verwiesen. Andererseits spricht die Landesregierung ihrerseits von einer „nuanciert anderen Fragestellung", deren detaillierte Beantwortung erneute Ressortumfragen erforderlich machen würde. Auch abgesehen von diesem inneren Widerspruch konnte die Antwort schon deshalb nicht „vollständig" sein, weil die Verhältnisse nicht gleichgeblieben waren. Vor allem auf der Leitungsebene der Ministerialverwaltung kann sich die Personalstruktur verhältnismäßig schnell verändern. Mit derartigen Veränderungen ist vornehmlich dann zu rechnen, wenn wie vorLVerfGE 11
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liegendenfalls nach einer Neuwahl des Landtages die Zusammensetzung der Regierung wechselt. Schon wegen dieses besonderen Aktualitätsbezuges konnte hier das im Rahmen früherer Anfragen anderen Abgeordneten unterbreitete Zahlenmaterial dem Informationsinteresse der Abgeordneten nicht mehr gerecht werden. Die ausweichende und sich im Kern in einer politischen Bewertung der Fragestellung erschöpfende Antwort der Landesregierung war auch nicht mit Blick auf durch die Formulierung der Kleinen Anfrage eröffnete Auslegungsspielräume gerechtfertigt. Die Fragen der Antragstellerin waren hinreichend klar formuliert. Sie zielten erkennbar nicht auf eine politische Bewertung, sondern auf konkretes Zahlenmaterial. Die begehrten Informationen lagen auch nicht außerhalb des Zugriffs der Landesregierung, sondern hätten — wie im übrigen schon in der Antwort der Landesregierung selbst eingeräumt und nach Einleitung des Organstreitverfahrens in die Tat umgesetzt - mittels einer Ressortumfrage in Erfahrung gebracht werden können. Der Landesregierung blieb es im übrigen unbenommen, in ihrer Antwort darauf aufmerksam zu machen, daß und warum nach ihrer Auffassung der Aussagewert des in dieser Form erfragten Zahlenmaterials begrenzt sei. bb) Die Verweigerung einer vollständigen und nach bestem Wissen erteilten Antwort auf die Kleine Anfrage der Antragstellerin war nicht gerechtfertigt. Dabei kann dahinstehen, ob die Unvollständigkeit der Beantwortung schon deshalb verfassungswidrig ist, weil es entgegen Art. 56 Abs. 4 S. 2 LV an einer Begründung der in dieser Verfassungsbestimmung vorausgesetzten Art fehlte. Die Landesregierung hat sich nicht etwa auf die verfassungsrechtlichen Grenzen ihrer Antwortpflicht berufen, sondern lediglich mitgeteilt, daß sie den mit der detaillierten Beantwortung verbundenen Aufwand „nicht für angebracht" halte. Auch im verfassungsgerichtlichen Verfahren hat sie im übrigen — ohne Begründung — davon abgesehen, Ausführungen zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung ihres Verhaltens zu machen. Es ist auch nicht ersichtlich, daß die verfassungsrechtlichen Grenzen der Antwortpflicht der Regierung hier berührt sein könnten. Fragen der Personalstruktur der Ministerialverwaltung liegen nicht außerhalb der Kompetenz des Landes oder des Verantwortungsbereichs der Landesregierung. Private Interessen, insbesondere Belange des Datenschutzes, standen der Auskunft nicht entgegen, da lediglich statistische Angaben erfragt wurden. Soweit — insbesondere auf Minister- und Staatssekretärsebene — eine Anonymisierung faktisch nicht durchführbar ist, hätte gegebenenfalls — wie etwa in der Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage Nr. 1903 (LT-Drs. 2/6224) geschehen — der Versuch unternommen werden können, von der begehrten Differenzierung nach Amtergruppen oder Ressorts teilweise abzusehen. Letztlich dürfte allerdings insoweit kein „überwiegendes" Geheimhaltungsinteresse im Sinne der Schrankenbestimmung des Art. 56 Abs. 4 S. 1 LV bestehen, weil die Lebensläufe der Regierungsmitglieder und politischen Beamten der Landesregierung durchweg ohnehin aus anderen Quellen erschließbar sind und das Interesse von Abgeordneten an
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Beantwortung parlamentarischer Anfragen
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der Unterrichtung über die biografische Herkunft der fuhrenden Vertreter der Landesregierung und ihre besoldungsrechtliche Einstufung im Zweifel von dem Informationsanspruch der Mandatsträger gedeckt ist. Auch öffentliche Interessen, die die Geheimhaltung hätten erfordern können, sind hier nicht erkennbar. Der „Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung" der Landesregierung im Sinne eines nicht ausforschbaren Initiativ-, Beratungs- und Handlungsbereichs wird durch die hier erbetene Auskunft über die aktuelle Personal- und Gehaltsstruktur in den Ministerien nicht berührt. Insbesondere fallen die Fragen nicht etwa deshalb in den „Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung", weil sie die Organisationsgewalt und Personalhoheit der Landesregierung berühren. Es geht nicht — was möglicherweise bedenklich wäre — um konkrete Personalentscheidungen, sondern um Auskunft über einen Gesamtbefund. Eine vollständige Antwort auf die Fragen der Antragstellerin stellt auch keine Gefahr für die Funktions- und Arbeitsfähigkeit der Regierung dar. Ob ein solcher Auskunftsverweigerungsgrund nach der Verfassung überhaupt anzuerkennen wäre, kann dabei offen bleiben. Es ist nichts dafür ersichtlich, daß dieser Gesichtspunkt im vorliegenden Fall zum Tragen gekommen wäre. Soweit die Landesregierung in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage auf den mit den erforderlichen Ressortumfragen verbundenen „Aufwand" hingewiesen hat, führen sowohl die Beantwortung vergleichbarer parlamentarischer Anfragen in der vorangegangenen Wahlperiode als auch die Beschaffung der erfragten Informationen während der Anhängigkeit des vorliegenden Organstreitverfahrens vor Augen, daß eine Gefährdung der Arbeits- und Funktionsfähigkeit der Regierung durch die Beantwortung derartiger Anfragen nicht zu besorgen ist. Ob im Hinblick auf die zur Beschaffung der Informationen erforderliche Ressortumfrage ohne Verstoß gegen das Erfordernis der „Unverzüglichkeit" iSd Art. 56 Abs. 2 S. 2 LV eine längere Bearbeitungszeit einzuräumen gewesen wäre, kann dahinstehen. An die in § 60 Abs. 3 S. 2 der Geschäftsordnung des Landtages (GeschO LT) bestimmte Frist von vier Wochen zur Beantwortung Kleiner Anfragen ist die Landesregierung — entgegen der Auffassung der Antragstellerin — rechtlich ohnehin nicht gebunden (vgl. hierzu Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 18.12.1997 — VfGBbg 16/97 —, LVerfGE 7,138,141). Die Landesregierung hat auch nicht etwa den Versuch gemacht, über den Präsidenten des Landtages das — wenn auch rechtlich nicht zwingend erforderliche — Einverständnis der Antragstellerin zu einer Fristverlängerung einzuholen (vgl. § 61 Abs. 2 S. 1 GeschO LT). Vielmehr hat sie die vollständige Beantwortung unter Hinweis auf den damit verbundenen Aufwand endgültig abgelehnt. 2. Auch die für die Landesregierung durch den Chef der Staatskanzlei in der Sitzung des Landtages vom 17. Mai 2000 erteilte Antwort auf die mündliche Anfrage Nr. 237 entsprach nicht den Anforderungen des Art. 56 Abs. 2 S. 2 LV. Die Beantwortung erfolgte unvollständig, ohne daß hierfür eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung bestand. Dabei kann dahinstehen, ob die für die schriftliche Beantwortung der Kleinen
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Anfragen geltenden verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Vollständigkeit (vgl. oben zu l.a) im Hinblick auf die begrenzten Möglichkeiten der mündlichen Darstellung in der Sitzung des Landtages uneingeschränkt Anwendung finden können. Vorliegend war die mündliche Anfrage nicht als selbständige mündliche Anfrage innerhalb der Fragestunde zu behandeln (vgl. § 62 Abs. 1 GeschO LT iVm der als Anlage 2 beigefügten Richtlinie für die Fragestunde), sondern als Fortsetzung des Verfahrens der vorangegangenen schriftlichen Beantwortung der Kleinen Anfrage Nr. 359 dar (vgl. § 61 Abs. 1 S. 1 GeschO LT). Die Frage, wie die Personalstruktur in der Staatskanzlei und den Ministerien hinsichtlich der Herkunft aus den alten bzw. neuen Bundesländern bei Staatssekretären, Abteilungsleitern, Referatsleitern und sonstigen Mitarbeitern aussehe, stellte sich als verkürzte Fassung der detaillierteren Fragestellung in der Kleinen Anfrage dar. Dieser Zusammenhang war, wie der Verweis auf die schriftliche Antwort zeigt, auch der Landesregierung bewußt. Die Beantwortung konnte deshalb nicht mit Bück auf die zeitlichen Grenzen der Fragestunde abgelehnt werden. Die inhaltlichen Ausführungen des Chefs der Staatskanzlei in der Sitzung des Landtags genügten dem Informationsanspruch der Antragstellerin ebenfalls nicht. Soweit der Chef der Staatskanzlei auf die schriftliche Antwort verwiesen hat, kann auf die obigen Ausführungen oben (zu 1.) Bezug genommen werden. Weitere Informationen zur Sache ließen sich den mündlichen Ausführungen nicht entnehmen. Die Landesregierung machte vielmehr lediglich geltend, daß sie die Frage weder für notwendig noch für sinnvoll halte und daß das Problem „sich auswachse". Derartige politische Bewertungen sind zwar auch im Rahmen der Beantwortung parlamentarischer Anfragen selbstverständlich zulässig. Richtet sich das Auskunftsbegehren eines Abgeordneten aber — wie hier — auf Fakten, kann eine bewertende Stellungnahme der Landesregierung aber immer nur ergänzender und kommentierender Art sein, eine sachliche Information jedoch nicht ersetzen. Soweit in der Antwort schließlich darauf hingewiesen wurde, daß eine Definition des „Landeskindes" fehle, ging auch das an der Sache vorbei. Der Wortlaut der Kleinen Anfrage bezeichnet den Wohnsitz vor dem Jahr 1989 als Abgrenzungskriterium. Darüber, ob dies sachgerecht ist, mag man verschiedener Meinung sein. Die Eindeutigkeit der Fragestellung wird hierdurch jedoch nicht berührt. Verfassungsrechtliche Grenzen der Antwortpflicht hat die Landesregierung auch in bezug auf die Beantwortung der mündlichen Anfrage der Antragstellerin nicht geltend gemacht. Insofern kann auf die Ausführungen zu 1. verwiesen werden. Insbesondere ist auch insoweit für eine erhebliche und unvermeidbare Vernachlässigung sonstiger vordringlicher Regierungsaufgaben als Folge der Beantwortung der Anfrage nichts dargetan oder ersichtlich. 3. Abschließend ist darauf hinzuweisen, daß weder das Fax-Schreiben des Chefs der Staatskanzlei an den Parlamentarischen Geschäftsführer der PDS-Fraktion vom 14. Juni 2000 noch die unter dem 8. November 2000 übermittelte Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage der Antragstellerin Gegenstand des vorliegenden LVerfGE 11
Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde gegenüber Hauptsacheverfahren
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Organstreitverfahrens sind. Der Umfang der Prüfung durch das Landesverfassungsgericht wird im Verfahren der Organklage durch den Antrag bestimmt, der den Streitgegenstand begrenzt (vgl. BVerfGE 57,1,4, mwN). III. Der Antrag der Antragstellerin auf Anordnung der Erstattung ihrer Auslagen hat keinen Erfolg. Insoweit kann weiterhin offenbleiben, ob in einem Organstreitverfahren eine Auslagenerstattung deshalb außer Betracht bleiben muß, weil die Beteiligten derselben Rechtsperson angehören (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 20.6.1996 - VfGBbg 3/96 - , LVerfGE 4,179,189). Denn jedenfalls sind besondere Billigkeitsgründe iSd § 32 Abs. 7 VerfGGBbg, die eine angesichts der Kostenfreiheit des Verfahrens (§ 32 Abs. 1 VerfGGBbg) und des fehlenden Anwaltszwangs nur ausnahmsweise in Betracht kommende Auslagenerstattung rechtfertigen würden, nicht ersichtlich. Das Obsiegen der Antragstellerin für sich allein rechtfertigt eine Anordnung der Erstattung der Auslagen im Organstreitverfahren — anders als im Verfassungsbeschwerdeverfahren — nicht (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, aaO).
Nr. 14* Nach der Rechtslage im Land Brandenburg ist der Verfassungsbeschwerdeführer unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität auch in Fällen, in denen ihm durch einstweilige Verfügung eine Äußerung untersagt worden ist, grundsätzlich zunächst auf den Ausgang des Hauptsacheverfahrens zu verweisen.*11' Grundgesetz Art. 5 Abs. 1 Satz 1; 100 Abs. 3 Verfassung des Landes Brandenburg Art. 19 Abs. 1 Satz 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz § 90 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch § 823 Abs. 2
* Die Entscheidung ist im Volltext abgedruckt im Supplementband Brandenburg zu LVerfGE 11 (Suppl. Bbg. zu Bd. 11), S. 198 ff, hrsgg. vom Verfassungsgericht des Landes Brandenburg (Adresse s. Anhang) und dort gegen Gebühr erhältlich. Abdruck (gekürzt) auch in: L K V 2 0 0 1 , 2 1 5 ff. ** Nichtamtlicher Leitsatz.
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Strafgesetzbuch §§ 185,186 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg § 45 Abs. 2 Beschluß vom 16. November 2000 - VfGBbg 49/00 in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren des Herrn T. gegen die Urteile des Amtsgerichts P. vom 25. Februar 2000 - 29 C 572/99 - und des Landgerichts P. vom 19. Juli 2000-2 S 2/00Entscheidungsformel: Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.
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Entscheidungen des Staatsgerichtshofs der Freien Hansestadt Bremen
Die amtierenden Richtefinnen und Richter des Staatsgerichtshofs der Freien Hansestadt Bremen* Prof. Günter Pottschmidt, Präsident (Brigitte Dreger) (Dr. Hein Bölling) Prof. Dr. Alfred Rinken, Vizepräsident (Hans Alexy) (Günter Bandisch) Dr. Jörg Bewersdorf (Annegret Derleder) (Dr. Axel Boetticher) Dr. Manfred Ernst (Wolfgang Grotheer) (Dr. Guido Tögel) Prof. Dr. Eckart Klein (Prof. Dr. Dr. h.c. Josef Isensee) (Prof. Dr. Erich Röper) Prof. Dr. Ulrich K. Preuß (Sabine Heinke) (Horst Frehe) Konrad Wesser (Peter Friedrich) (Dr. Herbert Müffelmann)
* In Klammern die Stellvertreterinnen und Stellvertreter.
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Nr. 1 1. Plebiszitäre Gesetzgebung hat im wesentlichen die Funktion, Defizite der parlamentarischen Gesetzgebung zu mildern oder auszugleichen. 2. Die im Volksgesetzgebungsverfahren verabschiedeten Gesetze müssen verfahrensrechtlich die Gewähr für ihre demokratische Verallgemeinerungsfähigkeit enthalten. 3. Das demokratische Prinzip des Art. 28 Abs. 1 GG erfordert, daß Minderheiten sich für das Recht, das Volk zur Entscheidung aufzurufen, qualifizieren. Dem Zweck demokratischer Qualifizierung dienen Unterstützungsquoren für das Volksbegehren. Sie sollen das Volksbegehren dem Test der Ernsthaftigkeit unterwerfen und verhindern, daß Anliegen, die in der Bevölkerung keinen Widerhall gefunden haben, Zugang zu diesem Verfahren finden. a) Die erschwerte Abänderbarkeit von Verfassungen im Vergleich zu einfachen Gesetzen gehört im Bund und in den Ländern zum festen Bestand des Verfassungsrechts im Sinne des Art. 28 Abs. 1 GG. Auch für das Verfahren der plebiszitären Verfassungsänderung gelten erhöhte Anforderungen. Das Unterstützungsquorum für ein Volksbegehren zur Verfassungsänderung muß daher zum Ausdruck bringen, daß damit eine Angelegenheit zum Volksentscheid gebracht werden soll, die nicht nur für eine Minderheit von Bedeutung ist. b) Die Bürgerschaft ist ein zentraler Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung der Freien Hansestadt Bremen. Die vorzeitige Beendigung ihrer Wahlperiode stellt einen gravierenden Eingriff in die Verteilung der Gewichte zwischen den Verfassungsorganen dar und hat eine erhebliche Bedeutung für die Stabilität der politischen Ordnung des Landes. Es ist mit dem demokratischen Prinzip nicht vereinbar, im Volksgesetzgebungsverfahren die Hürden für eine Korrektur der Wahlentscheidung des Souveräns übermäßig abzusenken. c) Obwohl die Verfahren der Volksgesetzgebung Instrumente interessierter Minderheiten sind, müssen sie auch im Verfahren der einfachen Gesetzgebung ihre Fähigkeit erweisen, ihrem Anliegen eine die Bindungswirkung von Gesetzen rechtfertigende Verallgemeinerung zu sichern. Dies erfordert, daß Zulassungsvoraussetzungen für die Volksgesetzgebung nicht übermäßig herabgesetzt werden.
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Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen
4. Die Bürgerschaft kann der ihr durch Art. 109 Abs. 2 GG auferlegten Verpflichtung, bei der Aufstellung des Haushalts den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen, nur nachkommen, wenn die Mitwirkung anderer Verfassungsorgane, die keine Verantwortung für das Gesamtbudget tragen, begrenzt wird. Grundgesetz Art. 28 Abs. 1, Art. 109 Abs. 2 Bremisches Volksentscheidgesetz § 9 Abs. 2 Urteil vom 14. Februar 2000 - St 1 /98 betreffend Antrag auf Zulassung eines Volksentscheides zur Änderung der Landesverfassung Entscheidungsformel: Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zulassung eines Volksbegehrens über den „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen" sind nicht gegeben. Gründe: A. Gegenstand des Verfahrens ist die Frage, ob die gesetzlichen Grundlagen für die Zulassung eines Volksbegehrens über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen gegeben sind. I. Mit Schreiben vom 9. September 1998 hat der Senat der Freien Hansestadt Bremen durch seinen Präsidenten dem Staatsgerichtshof einen am 15. Juli 1998 beim Landeswahlleiter eingereichten Antrag auf Zulassung eines Volksbegehrens über den „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen" gem. § 12 Abs. 2 des Gesetzes über das Verfahren beim Volksentscheid vom 27. Februar 1996 — BremVEG — (Brem.GBl. S. 41) zur Entscheidung über die Zulässigkeit des Volksbegehrens vorgelegt. Der Gesetzentwurf lautet wie folgt: Artikel 1 Die Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen vom 21. Oktober 1947 (SaBremR-a-1), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 3. März 1998 (Brem.GBl. S. 83), wird wie folgt geändert: LVerfGE 11
Volksbegehren zur Verfassungsänderung
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1. Der Artikel 69 erhält folgende Fassung: „Artikel 69 Eine Volksinitiative befasst die Bürgerschaft im Rahmen ihrer Zuständigkeit mit bestimmten Gegenständen der politischen Willensbildung. Der Volksinitiative kann auch ein Entwurf auf Erlaß, Änderung oder Aufhebung eines Gesetzes zugrundeliegen. Sie ist zustandegekommen, wenn sie von so vielen Stimmberechtigten unterstützt wird, wie 1,5 Prozent der bei der letzten Bürgerschaftswahl abgegebenen gültigen Stimmen entspricht. Die Volksinitiative wird durch drei Vertrauensleute vertreten. Erklärungen der Vertrauensleute müssen einstimmig erfolgen. Die Vertrauensleute und die von ihnen benannten Personen haben das Recht, während der Beratungen in der Bürgerschaft und ihren Ausschüssen gehört zu werden." 2. Nach Artikel 69 werden folgende Artikel 69a und 69b eingefugt: ,Artikel 69 a Stimmt die Bürgerschaft der Volksinitiative nicht binnen vier Monaten nach Einreichung der Unterschriften in unveränderter Form oder in einer Fassung, der die Vertrauensleute der Volksinitiative zugestimmt haben, zu, findet auf Verlangen der Vertrauensleute ein Volksbegehren statt. Die Eintragungsfrist für das Volksbegehren beträgt sechs Kalendermonate. Es ist zustandegekommen, wenn es von so vielen Stimmberechtigten unterstützt wird, wie fünf Prozent der bei der letzten Bürgerschaftswahl abgegebenen gültigen Stimmen entspricht. Bei Vorlagen zur Änderung der Verfassung beträgt dieser Satz zehn Prozent. Die Unterschriften werden in freier Sammlung beigebracht. Daneben werden die Eintragungsfristen in Behörden ausgelegt. Das zustandegekommene Volksbegehren ist in der Bürgerschaft zu behandeln. Die Vertrauensleute und die von ihnen benannten Personen haben das Recht, während der Beratungen in der Bürgerschaft und in ihren Ausschüssen gehört zu werden. Artikel 69 b Entspricht die Bürgerschaft nicht binnen vier Monaten nach Einreichung der Unterschriften dem Volksbegehren in unveränderter Form oder in einer Fassung, der die Vertrauensleute der Volksinitiative zugestimmt haben, findet innerhalb von weiteren drei Monaten ein Volksentscheid statt. Die Bürgerschaft kann eine eigene Vorlage zum Volksentscheid unterbreiten. Eine Vorlage auf Abänderung der Verfassung muß die Bürgerschaft mit der Mehrheit ihrer Mitglieder beschließen. Uber den Haushaltsplan (Art. 131 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1) im ganzen findet kein Volksentscheid statt." 3. Die Artikel 70 bis 74 erhalten folgende Fassung: .Artikel 70 Die Bürgerschaft kann mit der Mehrheit ihrer Mitglieder eine Verfassungsänderung dem Volksentscheid unterbreiten. Die Bürgerschaft kann eine andere zu ihrer Zuständigkeit gehörende Frage dem Volksentscheid unterbreiten. Artikel 71 Ein Volksentscheid über die vorzeitige Beendigung der Wahlperiode findet statt, wenn ein entsprechendes Volksbegehren von so vielen Stimmberechtigten unterLVerfGE 11
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Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen stützt wird, wie zehn Prozent der bei der letzten Bürgerschaftswahl abgegebenen gültigen Stimmen entspricht. Art. 69a Abs. 2 Satz 1 und Art. 69a Abs. 3 gelten entsprechend. Artikel 72 Beim Volksentscheid ist stimmberechtigt, wer zur Bürgerschaft wahlberechtigt ist. Die Abstimmung ist allgemein, gleich, unmittelbar, frei und geheim; sie kann nur bejahend oder verneinend lauten. Der Abstimmungstag muß ein Sonntag oder allgemeiner öffentlicher Ruhetag sein. Volksentscheide werden, soweit es den Fristen entspricht, mit anderen Volksentscheiden und Wahlen zusammengelegt. Auf Antrag der Vertrauensleute kann zu diesem Zweck die Frist zwischen der Behandlung eines Volksbegehrens in der Bürgerschaft und dem Volksentscheid verlängert werden. Artikel 73 Beim Volksentscheid entscheidet die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen. Stehen mehrere Vorlagen zur Abstimmung, können die Stimmberechtigten jede einzelne Vorlage annehmen oder ablehnen. Für den Fall, daß mehrere sich widersprechende Vorlagen zum gleichen Gegenstand angenommen werden, können die Abstimmenden darüber befinden, welche sie vorziehen. Jeder Haushalt erhält vor einem Volksentscheid ein Informationsheft, das die mit Begründungen versehenen Abstimmungsvorlagen enthält. Bei Volksentscheiden aufgrund von Volksbegehren enthält das Heft jeweils im gleichen Umfang die Auffassungen der Vertrauensleute der Volksinitiative und der Bürgerschaft. Die Vertrauensleute der Volksinitiative haben, wenn das Volksbegehren zustandegekommen ist, Anspruch auf Erstattung der notwendigen Kosten einer angemessenen Werbung für den Volksentscheid. Artikel 74 Der Senat hat die durch Volksentscheid beschlossenen Gesetze innerhalb von zwei Wochen nach Feststellung des Abstimmungsergebnisses auszufertigen und im Bremischen Gesetzblatt zu verkünden. Das Verfahren beim Volksentscheid regelt ein besonderes Gesetz." 4. Artikel 76 wird wie folgt geändert a) Absatz 1 Buchstabe b erhält folgende Fassung: ,,b) durch Volksentscheid gemäß Art. 71." b) Absatz 2 wird aufgehoben. c) Der bisherige Absatz 3 wird zu Absatz 2. 5. Artikel 87 Abs. 1 erhält folgende Fassung: „Anträge auf Beratung und Beschlußfassung über einen Gegenstand können, sofern sie nicht vom Senat ausgehen, nur aus der Mitte der Bürgerschaft oder durch Volksinitiative, Volksbegehren und durch Bürgerantrag gestellt werden." 6. Artikel 123 Abs. 1 erhält folgende Fassung: „Gesetzesvorlagen werden durch Volksinitiative, Volksbegehren, Bürgerantrag, vom Senat oder aus der Mitte der Bürgerschaft eingebracht."
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Artikel 2 Dieses Gesetz tritt am Tage nach seiner Verkündung in Kraft. Die dem Gesetzentwurf beigefugte Begründung beschreibt als Ziel der Initiative die Erleichterung der unmittelbaren Mitwirkung „der Bürgerinnen und Bürger als Souverän des Staates an der Gesetzgebung und Regierung in der Freien Hansestadt Bremen" und verweist darauf, daß sich die vorgeschlagenen Regelungen an Erfahrungen mit der direkten Demokratie im In- und Ausland orientierten. II. Der Senat hält die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zulassung des Volksbegehrens nach § 9 Nr. 2 lit. a und b BremVEG zwar in formeller, nicht aber in materieller Hinsicht fxir gegeben, da der vorgelegte Gesetzentwurf geschriebene und ungeschriebene Fundamentalprinzipien der Landesverfassung verletze, die ohne Verstoß gegen das sich aus Art. 28 Abs. 1 GG ergebende Homogenitätsprinzip nicht geändert werden dürften. Darüber hinaus sehe der Entwurf Regelungen im bremischen Landesrecht vor, die mit bundesrechtlich geregelten Vorschriften des Haushaltsrechts nicht zu vereinbaren seien. Im einzelnen verletze der Entwurf folgende Verfassungsgrundsätze: — Er verstoße gegen das Prinzip der Volkssouveränität: Nach Art. 66 Abs. 1 BremLV gehe die Staatsgewalt vom Volke aus, wobei gem. Art. 66 Abs. 2 lit. a BremLV unter Volk die Gesamtheit der stimmberechtigten Bewohner des bremischen Staatsgebietes zu verstehen seien. Dies sei gem. Art. 20 Abs. 2 S. 1,28 Abs. 1 GG auch ein für die Landesverfassung verbindlicher Grundsatz. Dem Antrag auf Zulassung zum Volksbegehren liege jedoch ein anderer Volksbegriff zugrunde, da er lediglich auf einen Teil der stimmberechtigten Bürger abstelle, nämlich auf die Zahl derer, die bei der letzten Bürgerschaftswahl eine gültige Stimme abgegeben hätten. Dies reduziere die Kopfzahl des bremischen Souveräns auf nur ein Drittel gegenüber dem in Art. 66 Abs. 1 BremLV verwendeten Begriff. — Der Entwurf verstoße auch gegen das Demokratieprinzip, weil er darauf verzichte, im Volksentscheid das Prinzip der Herrschaft einer Mehrheit zur Geltung zu bringen. Der Antrag arbeite vielmehr darauf hin, den Volksentscheid zu einem Instrument der Entscheidung durch Minderheiten zu machen. Selbst bei Verfassungsänderungen und Entscheidungen über die vorzeitige Beendigung der Wahlperiode werde nicht sichergestellt, daß eine qualifizierte Mehrheit hierüber zu entscheiden habe. — Darüber hinaus verletze der Entwurf das Budgetrecht des Parlaments und sei unvereinbar mit den Vorgaben des Bundesrechts. Die beabsichtigten Regelungen — Streichung des bisherigen Haushaltsvorbehalts in Art. 70 BremLV und Erklärung lediglich des Volksentscheides über den Haushaltsplan im Ganzen als unzulässig — schränkten die Bürgerschaft in ihrer Handlungsfähigkeit übermäßig ein und entzögen ihr damit letztlich die Steuerungsverantwortung für den Gesamthaushalt. Zugleich verLVerfGE 11
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stoße der Entwurf gegen Bundesrecht, da er mit den auf der Gesetzgebungskompetenz des Bundes nach Art. 109 Abs. 3 GG beruhenden einfachgesetzlichen Regelungen des Haushaltsgrundsätzegesetzes (HGRG) unvereinbar sei. — Der Antrag verletze des weiteren das in der Landesverfassung mit Verfassungsrang ausgestattete Prinzip, daß jede Staatsgewalt die finanzielle Verantwortung für ihr politisches Handeln im Rahmen des Haushaltsplanes zu tragen habe. Die Landesverfassung enthalte in den Art. 70, 79,102 und 119 Regelungen, die staatliches Handeln in besonderer Weise zur Rücksichtnahme auf die öffentlichen Finanzen zwängen und aus denen zu entnehmen sei, daß die Verfassung keine Staatsgewalt dulde, die befugt sei, frei von Bindungen über die Finanzen des Staates zu verfugen. Einer Änderung seien die genannten Vorschriften nicht zugänglich, da andernfalls die nach Art. 109 Abs. 3 GG iVm dem Haushaltsgrundsätzegesetz vorgegebenen Grundsätze für das Haushaltsrecht, für eine konjunkturgerechte Haushaltswirtschaft und für die mehrjährige Finanzplanung in Bremen nicht einzuhalten seien. — Die in dem Entwurf vorgesehenen Eingriffe in die Befugnisse von Senat und Parlament gingen im übrigen über den Bereich des Haushalts weit hinaus. Wenn durch Volksentscheid etwa ohne Einschränkungen über die Finanzen verfugt werden könne, könnten Bürgerschaft und Senat ihrerseits kaum noch politische Initiativen ergreifen, die — wie dies fast stets der Fall sei —finanzielleDeckung erforderten. Faktisch liefe die Vorprägung durch Volksentscheide auf einen Zwang zum Absehen von politischem Handeln hinaus. Der Entwurf greife auf diese Weise in die Kernbereiche der Handlungsmöglichkeiten von Senat und Bürgerschaft ein und verstoße damit gegen das in Art. 67 BremLV statuierte Gewaltenteilungsprinzip. — Der Entwurf verletze die Befugnisse der Bürgerschaft als Gesetzgebungsorgan, indem er in den Art. 69a und 69b vorschlage, im Volksentscheidsverfahren Kompromißmöglichkeiten zu institutionalisieren, wobei Partner des gedachten Kompromisses die Vertrauenspersonen einerseits und die Bürgerschaft andererseits sein sollten. Die Handlungen der Vertrauenspersonen seien aber nicht durch eine Legitimation gedeckt, die mit der Legitimation des Parlaments vergleichbar sei; die Befugnisse der Vertrauenspersonen beruhten lediglich darauf, daß sie eine Volksinitiative initiiert hätten oder von den hinter einer Volksinitiative stehenden Personen als Vertrauenspersonen benannt, gewählt oder auch bloß akzeptiert worden seien. Damit sei aber kein Ansatz gegeben, den Vertrauenspersonen auf die Inhalte von Entscheidungen der Bürgerschaft Einfluß einzuräumen. — Schließlich sei der Antrag auch deswegen verfassungswidrig, weil er die Gewichte zwischen unmittelbarer Ausübung der Staatsgewalt durch das Volk und mittelbarer Ausübung durch das Parlament in einer mit Art. 28 Abs. 1 GG nicht zu vereinbarenden Weise verschiebe. Er ersetze das Nebeneinander von Repräsentationsprinzip und direkter Entscheidung durch das Volk durch ein System, in der die unmittelbare Ausübung der Staatsgewalt das System der repräsentativen Demokratie stark zurückdränge, so daß es zu einem Ubergewicht der unmittelbaren Ausübung der LVerfGE 11
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Staatsgewalt komme. Dies gelte insbesondere im Hinblick auf die mit dem Volksbegehren verfolgten Erleichterung von Verfassungsänderungen, für die es bei einer Realisierung des Entwurfs keiner qualifizierten Mehrheiten mehr bedürfe. Der Senat beantragt, festzustellen, daß die Voraussetzungen für die Zulassung des Volksbegehrens zur Änderung der Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen nicht gegeben sind. III. Der Staatsgerichtshof hat den Vertrauenspersonen gem. § 15 Abs. 2 BremStGHG sowie dem Präsidenten der Bremischen Bürgerschaft und dem Senator fur Justiz und Verfassung gem. § 14 Abs. 2 BremStGHG Gelegenheit zur Äußerung gegeben. Die an dem Verfahren beteiligten Vertrauenspersonen halten das beantragte Volksbegehren für zulässig und tragen vor: Ziel der angestrebten Verfassungsänderungen sei es, die unmittelbare Mitwirkung des Volkes als Souverän des Staates an der Gesetzgebung und Regierung in der Freien Hansestadt Bremen dadurch zu ermöglichen, daß die Organe der repräsentativen Demokratie um funktionsfähige und direktdemokratische Instrumente ergänzt würden. Der Gesetzgebungsentwurf stehe damit im Einklang mit einer Entwicklung, die in Deutschland und anderen Staaten mit parlamentarischer Verfassungstradition seit einigen Jahren zu beobachten sei, und verlasse trotz der deutlichen Stärkung der Volksgesetzgebung nirgends den Standard der Verfassungen anderer Bundesländer. Materiellrechtlicher Prüfungsmaßstab für die Zulässigkeit des Volksbegehrens seien gemäß § 9 Nr. 2 BremVEG die Normen des geltenden Bundesrechts sowie Art. 1 und 20 BremLV. Alle übrigen Bestimmungen der Landesverfassung seien dagegen bei der Zulässigkeitsprüfung unbeachtlich. Daß die Ziele des Volksbegehrens gegen die genannten Fundamentalnormen der Landesverfassung verstießen, sei nicht ersichtlich. Es komme daher allenfalls ein Verstoß gegen Bundesrecht in Betracht, wobei hier als Prüfungskriterium in erster Linie der den sog. Homogenitätsgrundsatz statuierende Art. 28 GG heranzuziehen sei. Hinsichtlich der Zulässigkeit von Plebisziten in Finanzfragen sei auch noch auf Art. 109 Abs. 3 GG in Verbindung mit dem Haushaltsgrundsätzegesetz abzustellen. Die Meßlatte des Homogenitätsprinzips sei gegenüber der Verfassungshoheit der Länder sehr vorsichtig anzuwenden. Auch wenn man über die verfassungspolitische Sinnhaftigkeit einzelner Vorschläge des Verfasssungsänderungsentwurfes der Antragsteller durchaus verschiedener Ansicht sein könne, so vermöge diese Überlegung jedoch keine Verfassungswidrigkeit iSd Art. 28 Abs. 1 GG zu begründen. Im einzelnen gelte folgendes: - Ein Verstoß gegen die Volkssouveränität liege nicht vor. Art. 69a Abs. 2 des Entwurfs reduziere keineswegs den in Art. 66 BremLV verwendeten Begriff des Volkes durch eine Reduzierung der Zahl der Stimmberechtigten. Die Möglichkeit der LVerfGE 11
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Teilnahme sei durch den Änderungsvorschlag in keiner Weise behindert oder gar ausgeschlossen, da selbstverständlich auch jeder Stimmberechtigte, der der letzten Bürgerschaftswahl ferngeblieben oder eine ungültige Stimme abgegeben habe, eine Volksinitiative oder ein Volksbegehren unterschreiben könne. Nur die Höhe des zu erreichenden Unterstützungsquorums werde auf der Grundlage der Summe der bei der letzten Wahl abgegebenen gültigen Stimmen bestimmt. Es liege daher lediglich eine von der üblicherweise auf die Gesamtheit der Stimmberechtigten abstellenden Berechnung des erforderlichen Quorums abweichende Berechnungsart vor. Der Berechnungsmodus entspreche dem bei der Berechnung der Fünf-ProzentHürde bei den Bürgerschaftswahlen. Denn hierbei werde ebenfalls nicht auf die Gesamtheit der stimmberechtigten Bürger, sondern auf die Zahl der abgegebenen Stimmen abgestellt (Art. 75 Abs. 3 BremLV). Die vom Senat geäußerten grundsätzlichen Bedenken gegen die vorgesehene Stärkung der Stellung der Vertrauenspersonen griffen ebenfalls nicht durch. Die Bürgerschaft werde in ihrer Entscheidungsfreiheit in keiner Weise eingeschränkt oder behindert. Wenn das Parlament mit den Kompromißangeboten der Vertrauenspersonen nicht einverstanden sei, sei es ihm unbenommen, eine eigene Vorlage zum Volksentscheid zu unterbreiten oder ein eigenes oder überhaupt kein Gesetz zu verabschieden. Die Einwände gegen die angeblich mangelnde demokratische Legitimation der Vertrauenspersonen seien ebenfalls unbegründet. Die Vertrauenspersonen seien Vertreter derjenigen Stimmberechtigten, die die Volksinitiative oder das Volksbegehren unterstützten. Volksinitiative und Volksbegehren seien aber lediglich Vorbereitungsstufen analog zum Gesetzgebungsverfahren im Parlament selbst und seien nicht schon als Emanation staatlicher Gewalt anzusehen. Einer weitergehenden demokratischen Legitimation der Vertrauenspersonen bedürfe es daher auch unter dem Gesichtspunkt des Homogenitätsprinzips nicht. — Das Demokratieprinzip sei ebenfalls nicht verletzt. Zwar könne nicht bestritten werden, daß im Extremfall, der jedoch weitgehend theoretischer Natur sei, sich eine sehr kleine Minderheit gegen eine große passive Mehrheit durchsetzen könne. Die latente Drohung einer solchen Möglichkeit berechne der Gesetzgebungsvorschlag jedoch geradezu als strategisches Moment ein, um möglichst viele Bürger zur Teilnahme an der Abstimmung und damit zur aktiven politischen Einmischung zu mobilisieren. Im übrigen lasse sich aus dem Demokratieprinzip nicht das Erfordernis einer bestimmten numerischen Mehrheit herleiten. Die in der Abstimmung oder Wahl unterlegene Minderheit, die faktisch durchaus die Mehrheit sein könne, wenn man sich an der Zahl der Abstimmungsberechtigten ausrichte, unterwerfe sich von vornherein dem Procedere der Mehrheitsabstimmung und akzeptiere sie auch für den Fall, daß sie sich geirrt habe. Das Richtige könne nicht ein für allemal festgestellt werden; es müsse im ständigen trial-and-error-Verfahren jeweils neu festgelegt werden. In dieser Korrekturmöglichkeit, letztlich in der Chance für die Minderheit, beim nächsten Mal die Mehrheit zu werden, liege der Schutz der durch die Mehrheitsentscheidung überLVerfGE 11
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stimmten Minderheit. So könne denn auch unterschiedlich geregelt werden, welches der Bezugspunkt sei, von dem aus sich die Mehrheit berechne. Kein Wahlsystem, weder Bundes- noch auf Landesebene, aber auch nicht im Ausland, berechne die Mehrheit an den Stimmberechtigten, sondern an der Zahl der abgegebenen Stimmen. Andernfalls wären Länder mit notorisch niedriger Wahlbeteiligung, wie die USA oder die Schweiz, nicht als demokratische Systeme zu bezeichnen, weil — gemessen an der realen Mehrheit der Stimmberechtigten — letztlich kleine Minderheiten entscheiden. - Auch das Rechtsstaatsprinzip in Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG werde nicht dadurch verletzt, daß der Entwurf davon absehe, bei einem verfassungsändernden Gesetzgebungsvorschlag ein Zustimmungsquorum oder eine qualifizierte Mehrheit zu verlangen. Da der Homogenitätsgrundsatz des Art. 28 Abs. 1 GG von den Ländern nicht fordere, eine förmliche Verfassung zu verabschieden, könnten sie auf eine solche verzichten und sich mit Regelungen auf einfachgesetzlicher Ebene begnügen. Sei dies aber so, so folge hieraus, daß es keinen Zwang geben könne, Quorenhürden fur Verfassungsänderungen aufzustellen. Es existiere auch kein Gebot der Kohärenz zwischen den Grenzen für die Abänderung der Verfassung durch das Parlament einerseits und den Volksgesetzgeber andererseits, wie das Beispiel Bayerns zeige. — Schließlich ergäben die prognostizierten Folgen der vorgeschlagenen Änderungen auf die Homogenitätsprinzipien des Art. 28 Abs. 1 GG keine Hinweise auf eine Verfassungswidrigkeit des Entwurfs: Der Entwurf zur Volksgesetzgebung führe entgegen der Ansicht des Senats nicht dazu, daß beständig eine numerische Minderheit den Mehrheitswillen, gemessen an der Gesamtzahl der Stimmberechtigten, verdränge. In keinem der Bundesländer, in denen keine Zustimmungsquoren bestanden, habe die Praxis dazu geführt, daß sich nur kleine Gruppen an den Abstimmungen beteiligten. Auch eine Sichtung der empirischen Daten zum Bürgerentscheid auf kommunaler Ebene bestätige diese Ergebnisse. Entsprechende Erfahrungen seien im Ausland (Schweiz, Kalifornien) gemacht worden. Es könne auch keine Rede davon sein, daß im Zusammenhang mit der vorgeschlagenen Erweiterung des Gegenstandsbereichs der Volksgesetzgebung das Parlament entfunktionalisiert werde. Grundsätzlich solle die prioritäre Zuständigkeit der Volksvertretung nicht tangiert werden. Dies werde auch in dem Änderungsvorschlag deutlich, der den bisherigen umfassenden Finanzvorbehalt des Art. 70 Abs. 2 S. 1 BremLV auf den „Haushaltsplan im ganzen" eingrenze, den Vorbehalt aber nicht aufhebe. Obwohl der Entwurf im Vergleich mit anderen landesverfassungsrechtlichen Regelungen sehr weit gehe, tangiere er nicht den Kernbereich des Budgetrechts iSd Art. 28 Abs. 1 GG. Zwar wäre das Parlament an das entsprechend der geplanten Kompetenzverschiebung erlassene haushaltsrelevante Volkgesetz gebunden; das Parlament hätte jedoch die Möglichkeit, ein weiteres derogierendes Gesetz zu erlassen. Die geplante haushaltsrelevante Kompetenzverschiebung verstoße auch nicht gegen andere bundesrechtliche Normen. Der Hinweis des Senats auf Art. 109 Abs. 1 LVerfGE 11
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GG und die auf Art. 109 Abs. 3 GG beruhenden einfachgesetzlichen Regelungen des Haushaltsgrundsätzegesetzes gehe fehl. Art. 109 Abs. 1 GG sage lediglich etwas über das Verhältnis der Haushaltswirtschaft zwischen Bund und Ländern aus, nichts jedoch darüber, welches Organ in den Ländern die Haushaltsentscheidungen zu treffen habe, wie also die Kompetenzverteilung auf der Ebene der Länder vorzunehmen sei. Die Regelungen des Haushaltsgrundsätzegesetzes seien selbstverständlich auch für den von einer haushaltsrelevanten Volksgesetzgebung beeinflußten Landeshaushalt verbindlich. Das beantragte Volksbegehren sei daher unter allen Gesichtspunkten zulässig. Sollte der Staatsgerichtshof allerdings gleichwohl zu dem Ergebnis der Unzulässigkeit kommen, müßte er die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 100 Abs. 1 GG einholen. Dies ergebe sich aus folgendem: Prüfungsmaßstab im vorliegenden Verfahren sei eine Norm des Grundgesetzes, nämlich Art. 28 Abs. 1 GG. Dabei gehe es nicht um eine Vorfrage, sondern um die Hauptfrage des Verfahrens. Es handele sich mithin nicht um die Konstellation, in der Art. 28 Abs. 1 GG als eine in die Landesverfassung hineinwirkende Grundsatznorm in Frage stehe. Schon sehr früh habe das Bundesverfassungsgericht entschieden, daß Art. 28 GG „für" und nicht „in" den Ländern gelte, und mit diesem Argument auf seiner alleinigen Prüfungskompetenz beharrt. Wenn daher — wie hier — Art. 28 GG unmittelbarer Prüfungsmaßstab für eine potentielle Landesverfassungsnorm sei, könne an der alleinigen Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts im Kontext des Art. 100 Abs. 1 und 3 GG und damit an der Vorlagepflicht des Staatsgerichtshofs kein Zweifel bestehen. Die vorstehenden Überlegungen gälten zwar grundsätzlich nur für die konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG. Für die präventive Normenkontrolle — wie hier — gelte jedoch nichts anderes. Sinn von Verfahren der vorliegenden Art sei es nämlich, unnötigen organisatorischen Aufwand und politische Schwierigkeiten, die entstehen, wenn ein Gesetz nachträglich für nichtig erklärt wird, zu vermeiden. Der Präsident der Bremischen Bürgerschaft hat von einer Stellungnahme abgesehen. Der Senator für Justiz und Verfassung tritt den Überlegungen des Senats bei und verweist ergänzend darauf, daß der Entwurf auch deshalb gegen das Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG verstoße, weil er ein Verfassungsreferendum ohne Quorum und ohne qualifizierte Mehrheit einfuhren wolle und sich damit von dem gesamtdeutschen Standard, wonach parlamentarische Verfassungsreformen durchweg qualifizierte Mehrheiten erforderten, absetze. B. Der Antrag des Senats ist zulässig (I.) und begründet (II.). Eine Pflicht zur Einholung einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts besteht nicht (III.). LVerfGE 11
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I. Der Staatsgerichtshof ist nach Art. 140 Abs. 2 BremLV iVm § 12 Abs. 2 BremV E G und § 31 Abs. 1 BremStGHG berufen, über die Zulassung eines Volksbegehrens im Lande Bremen zu entscheiden. § 12 Abs. 2 bestimmt, daß die Entscheidung des Staatsgerichtshofes durch den Senat herbeigeführt wird, wenn dieser die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zulassung nach § 9 Nr. 1 oder § 10 Abs. 2 Nr. 1 BremVEG nicht für gegeben hält. Der Senat hat in seinem Antrag die Gründe darzulegen, aus denen er das Volksbegehren für nicht zulässig hält. Diese Voraussetzungen hat der Senat mit seinem Antrag an den Staatsgerichtshof vom 9. September 1998 erfüllt. II. Der Antrag des Senats ist begründet. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zulassung eines Volksbegehrens über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen sind nicht gegeben. Die Uberprüfung durch den Staatsgerichtshof erstreckt sich bei Volksbegehren, die auf eine Änderung der Landesverfassung gerichtet sind, darauf, ob der Zulassungsantrag einen ausgearbeiteten Gesetzentwurf enthält, der durch Gründe erläutert sein soll und der den Bestimmungen des Art. 125 Abs. 1 BremLV entsprechen muß (§10 Abs. 2 Nr. 1 BremVEG); des weiteren hat der Staatsgerichtshof zu prüfen, ob die materiellen Voraussetzungen eines Volksbegehrens nach § 9 Nr. 2 BremVEG vorliegen (vgl. BremStGH, LVerfGE 6,123,144). 1. Der Zulassungsantrag betrifft den ausgearbeiteten Entwurf eines die Landesverfassung ändernden Gesetzes, der dem in Art. 125 Abs. 1 BremLV verankerten Gebot der Textänderung entspricht und auch eine Begründung enthält. Ob diese im vorliegenden Fall den üblicherweise an eine Gesetzesbegründung zu stellenden Anforderungen genügt, kann offenbleiben, da es sich bei § 10 Abs. 2 Nr. 1 BremVEG nur um eine Sollvorschrift handelt und der Entwurf zudem aus sich heraus verständlich ist (vgl. Urt. des StGH v. 11.5.1998 - St 3/98 - , NordÖR 1998,297). 2. Das Volksbegehren ist unzulässig, weil der Gesetzentwurf nicht die inhaltlichen Voraussetzungen erfüllt, die § 9 Nr. 2 lit. b BremVEG erfordert. Die vorgeschlagenen Verfassungsartikel 69a Abs. 2 S. 2 und 3, 69b Abs. 3, 71 S. 1 und 73 Abs. 1 sind mit geltendem Bundesrecht unvereinbar. Ob daneben noch weitere Regelungen des Entwurfs gegen Bundesrecht verstoßen, kann dahinstehen, da bereits ohne die genannten Bestimmungen die verbleibende Regelung ihren Sinn und ihre Rechtfertigung verliert mit der Folge der Unzulässigkeit des Volksbegehrens im ganzen (vgl. BVerfGE 53,1, 23). a) Nach Art. 28 Abs. 1 S. 1 G G muß die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechts-
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staats im Sinne des Grundgesetzes entsprechen. Die Vorschrift konkretisiert damit das Bundesstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG: Sie setzt einerseits die Verfassungsautonomie der Länder voraus und erkennt damit deren Staatsqualität und eigene Hoheitsmacht an; andererseits begrenzt sie die Verfassungsautonomie der Gliedstaaten, indem sie dieser bestimmte inhaltliche Schranken setzt. In dem durch Art. 28 Abs. 1 S. 1 und 2 GG gesteckten Rahmen können die Länder ihre Verfassungsordnung frei gestalten, soweit das Grundgesetz nicht außerhalb des Art. 28 weitere Vorgaben für den Landesverfassungsgeber macht. Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Rechtszustand dahin beschrieben, daß durch Art. 28 Abs. 1 GG nur ein „Mindestmaß an Homogenität der Bundesverfassung und der Landesverfassung" gefordert werde (BVerfGE 36, 342, 361; vgl. auch ähnlich BVerfGE 96, 345, 368 f). Durch die von den Initiatoren des Volksbegehrens angestrebte Änderung der Landesverfassung wird das in Art. 28 Abs. 1 GG enthaltene Demokratieprinzip berührt. Es gebietet die Legitimation aller Formen der Staatsgewalt durch das Volk. Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG stellt es den Ländern frei, kraft ihrer Verfassungsautonomie eine eigenständige Ausgestaltung dieses Prinzips vorzunehmen. Zwingendes verfassungsrechtliches Minimum ist gem. Art. 28 Abs. 1 S. 2 eine aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangene Vertretung des Landesvolkes; somit wäre eine vollständige Verdrängung der parlamentarischen durch die plebiszitäre Gesetzgebung unzulässig. Ebenso wie Volksvertretungen nur dann das demokratische Prinzip verwirklichen, wenn sie aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen sind und zusätzlich in ein Rahmenwerk flankierender Einrichtungen wie einer unabhängigen und pluralistischen Presse, einem ungehinderten Parteienwettbewerb und effektiven grundrechtlichen Garantien politischer Freiheit eingebettet sind, muß auch die verfassungsrechtliche Einrichtung der Volksgesetzgebung bestimmte Voraussetzungen erfüllen, um als Ausdrucksform des demokratischen Prinzips im Sinne des Art. 28 Abs. 1 GG gelten zu können. Die im Volksgesetzgebungsverfahren verabschiedeten Gesetze haben gem. Art. 123 BremLV dieselbe Bindungswirkung wie die von der Bürgerschaft erlassenen Gesetze. Sie müssen daher in prinzipiell vergleichbarer Weise den Zwang zur öffentlichen Rechtfertigung ihrer Gemeinwohlorientierung unterliegen wie Parlamentsgesetze, ohne dadurch ihren Charakter als eigenständige Verwirklichungsform des demokratischen Prinzips zu verlieren Das im Volksgesetzgebungsverfahren erlassene Gesetz muß deshalb verfahrensrechtlich die Gewähr für seine demokratische Verallgemeinerungsfähigkeit enthalten (vgl. Maihof er HdBVerfR, 2. Aufl. 1994, § 12, Rn. 48 ff, 52). aa) Dieses Erfordernis bedeutet nicht, daß die für die Gemeinwohlqualität parlamentarischer Gesetze geltenden Maßstäbe auf die Volksgesetzgebung übertragen werden. Der Staatsgerichtshof verkennt nicht, daß die Formen, die Funktion und die Legitimationsanforderungen beider — gleichermaßen demokratischer — LVerfGE 11
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Gesetzgebungsverfahren sehr verschieden sind und daß daher die demokratische Qualität der jeweils erzeugten Rechtsakte auf unterschiedliche Weise gewonnen wird. Das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren ist durch die verfassungsrechtliche Konstruktion des Willensbildungsprozesses in der Gesetzgebungskörperschaft darauf angelegt, daß sich die letztlich verabschiedeten Gesetze am Gemeinwohl orientieren. Partikulare Interessen und Werte werden im Wege wechselseitiger Angleichung und Kompromißbildung durch spezifische Verfahren und Institutionen in einen Gemeinwillen umgeformt, wobei insbesondere das freie Mandat (vgl. Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG, Art. 83 Abs. 1 BremLV) den Abgeordneten durch die Bereitstellung eines politischen Handlungsspielraumes den Ausgleich und die sachliche Integration partikularer Interessen ermöglicht. Die Bedeutung dieses Prozesses liegt darin, daß durch ihn die Vielzahl gesellschaftlicher Minderheiten mit ihren gruppenspezifischen Anliegen in eine Mehrheit geformt wird (vgl. Hofmann/Dreier in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, Rn. 38ff). Für die Leistungsfähigkeit der repräsentativen Demokratie kommt es daher in erster Linie auf die Fähigkeit der Parteien, des Parlaments und der Abgeordneten an, die Vielfalt der auseinanderstrebenden partikularen Interessen und Strebungen in einen gemeinverbindlichen Volkswillen umzuwandeln. So sehr eine hohe Wahlbeteiligung im Hinblick auf das demokratische Leitbild des aktiven Bürgers (vgl. Art. 9 S. 2 BremLV, Art. 26 Abs. 3 BaWüVerf, Art. 117 S. 2 BayVerf) erwünscht ist und darüber hinaus auch dem demokratischen Prinzip der Legitimation staatlicher Herrschaft durch das Volk mehr entspricht als Wahlabstinenz, so hängt doch die Gemeinwohlqualität der parlamentarisch verabschiedeten Gesetze nicht entscheidend davon ab, daß eine möglichst große Zahl der Bürger von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht hat. Die Erfahrung lehrt, daß die Formen und Verfahren der parlamentarisch-repräsentativen Gesetzgebung keine Garantie, sondern lediglich eine erhöhte Chance der Gemeinwohlverwirklichung enthalten. Die parlamentarische Repräsentation unterliegt den Gefahren der Absonderung der Repräsentanten von dem von ihnen repräsentierten Volk, der Erstarrung des politischen Betriebes und der Undurchschaubarkeit für die Bürger, der Privilegierung mächtiger und gut organisierter Interessengruppen beim Zugang zu politischen Entscheidungsprozessen und der Vernachlässigung von Minderheiten, die sich wegen ihrer geringen gesellschaftlichen Macht kein Gehör im politischen Prozeß zu verschaffen vermögen (vgl. hierzu Grimm Art. Repräsentation, in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft. 7. Aufl. 1988/1995, Bd. 4, Sp. 878 ff; Hofmann/Dreier in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 5, Rn. 17, 59; Schneider HdBVerfR, 2. Aufl. 1994, § 13, Rn. 104 ff; v. Byrne Der Gesetzgeber. Der Bundestag als Entscheidungszentrum, 1997, S. 207ff). Im Hinblick auf diese Gefahren fur das Gelingen demokratischer Repräsentation ist die Einführung der Volksgesetzgebung wiederholt als ein mögliches Gegenmittel erörtert worden (vgl. Schneider aaO, Rn. 137 ff; Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BT-Drs. 12/6000, 83 ff). LVerfGE 11
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bb) Den Verfahren der unmittelbaren Gesetzgebung stehen die der parlamentarischen Repräsentation verfügbaren Möglichkeiten zur Gemeinwohlorientierung gegenüber der Vielzahl von Sonderinteressen jedoch nur in erheblich geringerem Maße zur Verfügung. Doch folgt daraus nicht, daß das Fehlen dieser Elemente durch das Erfordernis einer besonders hohen Bürgerbeteiligung ausgeglichen werden muß. Ein derartiges Erfordernis verkennt, daß die Formen und Verfahren der unmittelbaren Demokratie nur als Ergänzung zur Regelform der parlamentarischen Repräsentation in Betracht kommen. Trotz der genannten Schwächen parlamentarischer Repräsentation kann nur auf ihrer Grundlage die Aufgabe bewältigt werden, in einer durch vielfaltige Wert- und Interessengegensätze und durch einen sich beschleunigenden Wandel gekennzeichneten komplexen Gesellschaft demokratisch legitimierte verbindliche Entscheidungen herzustellen. Den Verfahren der unmittelbaren Gesetzgebung bleibt im wesentlichen nur die Funktion, Defizite der parlamentarischen Gesetzgebung zu mildern oder auszugleichen. Sie eröffnen die Chance der Eindämmung bürgerschaftlicher Entfremdung, indem sie die öffentliche Thematisierung von Problemen ermöglichen, die im parlamentarischen Bereich vernachlässigt worden sind, weil sie entweder verbände- und parteimäßig nicht oder nur schwer organisierbar sind oder weil die Interessen einer besonders intensiv betroffenen Gruppe bei den in parlamentarischen Gremien gefundenen Kompromissen nicht hinlänglich berücksichtigt worden sind. Darüber hinaus gibt das Volksgesetzgebungsverfahren Gelegenheit, sich für bestimmte Werte oder Interessen zu engagieren, für die der professionelle parlamentarische Betrieb keinen Raum läßt. Und schließlich ist das plebiszitäre Verfahren ein gangbarer Weg, um bestimmte parlamentarische Entscheidungen wieder aufzugreifen, wodurch das Parlament in Einzelfällen zur Selbstkorrektur, zumindest aber zur öffentlichen Rechtfertigung veranlaßt werden kann (vgl. Heussner Volksgesetzgebung in den USA und in Deutschland. Ein Vergleich der Normen, Funktionen, Probleme und Erfahrungen, 1994, S. 81 f). Hieraus folgt, daß das Volksgesetzgebungsverfahren insbesondere ein Instrument von Minderheiten ist, die sich von den im Parlament vertretenen politischen Parteien in bestimmten Fragen nicht hinreichend vertreten fühlen. Zwischen der häufig vorhandenen Partikularität der von Initiatoren der Volksgesetzgebungverfolgten Interessen einerseits und dem Anspruch des Gesetzes auf Allgemeinverbindlicheit anderseits besteht ein Spannungsverhältnis. Da — wie erwähnt — direkt-demokratisch beschlossene Gesetze dieselbe Verbindlichkeit haben wie parlamentarische, müssen sich Minderheiten, die sich des Instruments der Volksgesetzgebung bedienen, für das Recht qualifizieren, den Souverän zur Entscheidung aufzurufen. Diesem Zweck demokratischer Qualifizierung dienen Zulassungsquoren für das Volksbegehren. Sie haben die Funktion, das Volksbegehren dem Test der Ernsthaftigkeit zu unterwerfen und zu verhindern, daß Anliegen, die nur eine marginale Unterstützung in der Bevölkerung finden, Zugang zu diesem Verfahren finden. Sie schützen damit zugleich die zentrale Gesetzgebungsfunktion des Parlaments (vgl. Schneider aaO, Rn. 138), das durch ein zu niedriges Zulassungsquorum für das VolksLVerfGE 11
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begehren aus seiner Integrationsfunktion verdrängt werden und in der Folge seine demokratische Legitimation einbüßen könnte. Im Hinblick auf die „Korrektur-, Partizipadons- und Integrationsfunktion" der Volksgesetzgebung {Heussner aaO, S. 82) sollen Zulassungsquoren darüber hinaus auch eine Signalfunktion für das Parlament und die in ihr vertretenen Repräsentanten der Mehrheit haben, um sie über die Resonanz des Anliegens zu unterrichten und sie gegebenenfalls zu eigenen gesetzgeberischen Initiativen zu veranlassen. Allerdings dürfen Zulassungsquoren für Volksbegehren nicht so hoch sein, daß sie einen Entmutigungseffekt haben und im Ergebnis die Inanspruchnahme dieses Instruments demokratischer Partizipation verhindern. cc) Aus der dargelegten Verschiedenheit der Funktionen der parlamentarischen und der Volksgesetzgebung für die Verwirklichung des demokratischen Prinzips folgt, daß für sie unterschiedliche institutionelle Anforderungen zu stellen sind. Daher kann dem Erfordernis der Sicherstellung der demokratischen Legitimation durch ein Quorum nicht entgegengehalten werden, daß weder das Grundgesetz noch eine der Verfassungen der Bundesländer Teilnahmequoren für Wahlen zu den gesetzgebenden Körperschaften kenne. Abgesehen davon, daß — wie dargelegt — beim parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren Vorkehrungen bestehen, die dem Ziel der Gemeinwohlorientierung der Gesetze dienen, verbietet sich ein Vergleich der Volksgesetzgebung mit Parlamentswahlen schon deshalb, weil die aus den Wahlen hervorgehenden Parlamente und Regierungen — anders als die auf punktuelle Gegenstände gerichteten Volksbegehren und -entscheide — die politische Verantwortung für die gesamte Politik der jeweiligen Gebietskörperschaft tragen und daher für die Funktionsfähigkeit des Staates zwingend erforderlich sind; das Funktionieren der politischen Ordnung insgesamt wäre gefährdet, machte man die Wahlen von einem Teilnahmequorum und damit die Wirksamkeit dieses Entscheidungsaktes von denjenigen abhängig, die den Wahlen fernbleiben. Darüber hinaus spricht gegen eine Vergleichbarkeit von Volksgesetzgebung und Parlamentswahlen, daß Gesetzgebungsakte in aller Regel prinzipiell auf eine dauerhafte Regelung abzielen, während Wahlen sich periodisch wiederholen und damit von vornherein auf eine Korrekturmöglichkeit angelegt sind. b) Diesen aus dem Demokratieprinzip des Art. 28 Abs. 1 GG entwickelten Maßstäben wird der vorgelegte Gesetzentwurf nicht gerecht: aa) Hinsichtlich der in dem Entwurf vorgesehenen Verfassungsänderung sieht Art. 69 a Abs. 2 S. 3 für das Volksbegehren ein Unterstützungsquorum von 10 % der bei der letzten Bürgerschaftswahl abgegebenen gültigen Stimmen vor; dieses Quorum entspricht unter Zugrundelegung des Ergebnisses der Wahl zur Bremischen Bürgerschaft am 6.6.1999 (veröffentlicht im Amtsblatt der Freien Hansestadt Bremen vom 6.7.1999, S. 509) 5,94% der Stimmberechtigten. Für den Volksentscheid über ein erfolgreiches Volksbegehren zur Verfassungsänderung sieht der Entwurf weder ein Teilnahme- noch ein Zustimmungsquorum vor. Damit sind die Mindestanforderungen an die demokratische Legitimation einer Verfassungsänderung unterschritten. LVerfGE 11
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(1) Vorab ist festzuhalten, daß entgegen der Auffassung des Senats die Regelungen der Art. 69 a Abs. 2 und 73 Abs. 1 des Entwurfs nicht deswegen gegen das Demokratieprinzip verstoßen, weil bei der Berechnung der dort vorgesehenen Quoren als Bezugsgröße nicht die Gesamtheit der Stimmberechtigten, sondern die Zahl der bei der letzten Bürgerschaftswahl abgegebenen gültigen Stimmen gewählt worden ist. Darin liegt keine Neudefinition des Souveräns, da nach Art. 72 Abs. 1 S. 1 des Entwurfs die Wahlberechtigten, die gem. Art. 66 Abs. 2 lit. a als „Gesamtheit der stimmberechtigten Bürger des bremischen Staatsgebietes" die Aktivbürgerschaft bilden, im Volksgesetzgebungsverfahren stimmberechtigt sein sollen. Der Entwurf fuhrt lediglich eine neue Berechnungsmethode für die erforderlichen Beteiligungsquoren der Volksinitiative und des Volksbegehrens ein. Das demokratische Prinzip schreibt nicht vor, in welcher Weise im konkreten Falle Quoren berechnet werden. (2) Der Entwurf verstößt vielmehr aus folgenden Gründen gegen das Demokratieprinzip: Die Verfassung gründet in der verfassunggebenden Gewalt des Volkes und hat daher den höchsten Rang im Stufenbau der Rechtsordnung. Darauf beruht ihre allen anderen Gesetzen überlegene Autorität und ihr Vorrang, der nach dem Grundgesetz zu den wesentlichen Elementen des demokratischen Rechtsstaats iSd Art. 28 Abs. 1 GG gehört. Er ermöglicht erst die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung (Art. 20 Abs. 3 GG), die Grundrechtsbindung aller Staatsfunktionen (Art. 1 Abs. 3 GG), die Verfassungsgerichtsbarkeit (Art. 92 ff GG) und das richterliche Prüfungsrecht (vgl. dazu Badura HStR VII, 1992, § 160 Rn. 3 ff; Isensee Verfassungsreferendum mit einfacher Mehrheit. Der Volksentscheid zur Abschaffung des Bayerischen Senats als Paradigma, 1999, S. 45 f). Dieser Vorrang erfordert einen erhöhten Bestandsschutz der Verfassung und damit ihre erschwerte Abänderbarkeit; zugleich soll durch ihre erschwerte Abänderung die Opposition vor Majorisierung geschützt und die Verfassungsänderung an eine breite Akzeptanz geknüpft werden (vgl. dazu Bushart Verfassungsänderung in Bund und Ländern, 1989, S. 108 ff). Die Verfassung ist Rahmenordnung für die Mehrheiten und Minderheiten umschließende Gesamtheit. Sie ist die rechtliche Grundlage für die politisch bedeutsamen Beziehungen der verschiedenen Kräfte des Verfassungslebens zueinander und bedarf daher in besonderem Maße der Beständigkeit. Die erschwerte Abänderbarkeit von Verfassungen gehört deshalb im Bund und in den Ländern zum festen Bestand des Verfassungsrechts. Sie gilt auch im Volksgesetzgebungsverfahren, wie die Regelungen über plebiszitäre Verfassungsänderungen in den Bundesländern belegen. Alle Länder, die das Volk an Verfassungsänderungen beteiligen — allein im Saarland ist das Volk von der Änderung gänzlich und in Berlin und Nordrhein-Westfalen weitgehend ausgeschlossen - , lassen eine Änderung mit nur einfacher Mehrheit allein der am Plebiszit teilnehmenden Wahlberechtigten nicht zu. Sieht man von dem Sonderfall Hessen ab, wo zwar die einfache Mehrheit genügt, wo aber die erschwerte Abänderbarkeit der Verfassung dadurch erreicht wird, daß Parlament und LVerfGE 11
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Volk in der Weise zusammenwirken müssen, daß die Änderung sowohl im Parlament als auch beim Plebiszit mit (einfacher) Mehrheit beschlossen werden muß, verlangen alle übrigen Länder bei Verfassungsänderungen im Wege der Volksgesetzgebung Quoten. In den Ländern, in denen eine vollplebiszitäre Verfassungsänderung zugelassen ist, wird in aller Regel entweder die Zustimmung durch mindestens die Hälfte der Stimmberechtigten (Brandenburg, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein) oder durch die Mehrheit der Stimmberechtigten (Baden-Württemberg, Bremen, Rheinland-Pfalz, Sachsen und Thüringen) verlangt. Auch in Bayern, in dessen Verfassung ein Zustimmungsquorum bei Verfassungsänderungen im Wege der Volksgesetzgebung nicht ausdrücklich vorgeschrieben ist, ist nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs ein — angesichts der Vorgaben der dortigen Verfassung allerdings niedrigeres — Zustimmungsquorum erforderlich (BayVerfGH, BayVBl 1999, 719, 722 ff). Gegen das Erfordernis der erschwerten Abänderbarkeit von Verfassungen spricht entgegen der Ansicht der Initiatoren des Gesetzentwurfs nicht der Umstand, daß die Länder aufgrund ihrer unabgeleiteten Hoheitsmacht zwar das Recht hätten, sich eine Verfassung zu geben, doch dazu nicht zur Schaffung einer förmlichen Verfassung verpflichtet seien. Art. 28 Abs. 1 GG setzt normative Vorgaben für die „verfassungsmäßige Ordnung" in den Ländern und macht damit deutlich, daß — unabhängig von der Form — jedenfalls die dort genannten Grundsätze für die Rechtsordnung der Länder konstitutiv sein müssen. Wie ausgeführt, verlangt das demokratische Prinzip, daß die das Zusammenleben der vielfältigen und gegensätzlichen politischen Kräfte des Landes regelnden rechtlichen Normen der Disposition einer Minderheit entzogen sein müssen. Wenn dieses Prinzip in einer förmlichen Verfassungsurkunde kodifiziert ist, wird es u. a. durch das Gebot des erhöhten Bestandsschutzes der Verfassung erfüllt. In welcher Weise es gegebenenfalls zu erfüllen wäre, wenn ein Land keine förmliche Verfassung besitzt, bedarf keiner Erörterung, da dieser Sachverhalt nicht gegeben ist. Die in Art. 69a Abs. 2 S. 3 des Entwurfs vorgesehene Verdoppelung des Unterstützungsquorums für Volksbegehren zur Änderung der Verfassung auf 10% der bei der letzten Bürgerschaftswahl abgegebenen Stimmen bedeutet zwar eine Erschwerung der Anderbarkeit der Verfassung im Vergleich zu einfachen Gesetzen; doch bewirkt diese Regelung nicht den von Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG geforderten Bestandsschutz. Der für das Verständnis und die verfassungspolitische Rechtfertigung direktdemokratischer Verfahren der Willensbildung und Entscheidung maßgebliche Gesichtspunkt des Schutzes intensiv betroffener oder interessierter Minderheiten muß im Falle von Verfassungsänderungen gegenüber der Bedeutung der Verfassung als gemeinsame Grundlage für Mehrheit und Minderheit zurückstehen. Das Unterstützungsquorum für ein Volksbegehren zur Verfassungsänderung muß daher zum Ausdruck bringen, daß damit eine Angelegenheit zum Volksentscheid gebracht werden soll, die nicht nur für eine Minderheit von Bedeutung ist. Ob diese Voraussetzung von LVerfGE 11
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dem vorgesehenen Quorum erfüllt wird, erscheint dem Staatsgerichtshof zweifelhaft, bedarf aber keiner abschließenden Entscheidung. Jedenfalls in Verbindung mit dem Fehlen eines Teilnahme- oder Zustimmungsquorums für einen Volksentscheid über eine Verfassungsänderung ist die aus Gründen des Demokratieprinzips erforderliche Hürde der Verfassungsänderung derart abgesenkt, daß der Bestandsschutz und die darin enthaltene Kontinuitätsgewähr der Verfassung nicht mehr hinlänglich gesichert ist. Der Staatsgerichtshof verkennt nicht das Gewicht der von den Initiatoren des Volksbegehrens vorgetragenen und in der wissenschaftlichen Literatur ausführlich erörterten Bedenken gegen Teilnahme- oder Zustimmungsquoren bei Volksentscheiden (vgl. Heussner aaO, S. 356 ff, 368 ff; Degenhardt in·. Der Staat, Bd. 31 (1992), S. 77 ff, 96; Jürgens Direkte Demokratie in den Bundesländern, 1993, S. 249 ff, 259). Eine Auseinandersetzung damit ist im vorliegenden Falle jedoch nicht erforderlich, da der hier zu beurteilende Entwurf infolge seiner singulären Verbindung eines extrem niedrigen Unterstützungsquorums für ein Verfassungsvolksbegehren mit dem Fehlen eines Teilnahme- oder Zustimmungsquorums für den Verfassungsvolksentscheid in einer Weise die Verfassung zur Disposition von Minderheiten stellt, die sich mit dem demokratischen Prinzip nicht mehr vereinbaren läßt. bb) Die vorgeschlagene Erleichterung der vorzeitigen Beendigung der Wahlperiode der Bremischen Bürgerschaft durch Absenkung des Unterstützungsquorums für ein entsprechendes Volksbegehren (Art. 71 S. 1 des Entwurfs) in Zusammenhang mit dem Wegfall eines Entscheidungsquorums (Art. 73 des Entwurfs) verletzt Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG. Die Bürgerschaft ist ein zentraler Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes. Die vorzeitige Beendigung ihrer Wahlperiode — damit der Versuch einer Korrektur der vorangegangenen Wahl — stellt einen gravierenden Eingriff in die Verteilung der Gewichte zwischen den Verfassungsorganen dar und hat damit eine erhebliche Bedeutung für die Stabilität der politischen Ordnung des Landes. Es wäre mit dem für die Landesverfassung verbindlichen demokratischen Prinzip nach Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG nicht vereinbar, die Hürden für eine Korrektur der Wahlentscheidung des Souveräns derart abzusenken, daß das zur Integration widerstreitender gesellschaftlicher Kräfte berufene Parlament bei der Bewältigung dieser schwierigen Aufgabe der dazu erforderlichen institutionellen Stabilität beraubt und dem permanenten Druck der Auflösung unterworfen würde, sobald unpopuläre Entscheidungen getroffen werden müssen. Die Kumulierung der Absenkung des Unterstützungsquorums von derzeit 20% der Stimmberechtigten (Art. 70 Abs. 1 lit. c BremLV) auf nunmehr 10% der bei der letzten Wahl zur Bürgerschaft abgegebenen gültigen Stimmen — derzeit 5,94 % der Stimmberechtigten — mit dem völligen Wegfall eines Beteiligungsquorums, unterschreitet daher den durch Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG gesetzten Mindeststandard der demokratischen Legitimation, welche von einem Volksbegehren und einem Volksentscheid zur vorzeitigen Beendigung der Wahlperiode gefordert wird. LVerfGE 11
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cc) Der in dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen vorgeschlagene Verfassungsartikel 69b Abs. 3 verstößt wegen der weitgehenden Öffnung der Volksgesetzgebung für budgetrelevante Gesetze bis zur Grenze des „Haushaltsplans im ganzen" gegen die in Art. 109 Abs. 2 GG auch den Ländern auferlegte Pflicht zur Wahrung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts bei ihrer Haushaltswirtschaft. Diese dem Land auferlegte Verpflichtung kann nur die Bremische Bürgerschaft als verfassungsmäßige Inhaberin des Budgetrechts (Art. 131 Abs. 2 BremLV) erfüllen. Sie kann ihr nur nachkommen, wenn die Mitwirkung anderer Verfassungsorgane am Budgetprozeß, die keine Verantwortung für die Anpassung des Gesamtbudgets an die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts tragen, in einem Maße begrenzt wird, daß die Erfüllung ihrer verfassungsrechtlichen Budgetpflichten dadurch nicht unmöglich gemacht oder wesentlich beeinträchtigt wird. Der Staatsgerichtshof hat wiederholt den dieses Budgetrecht respektierenden Finanzvorbehalt des Art. 70 Abs. 2 BremLV damit gerechtfertigt, daß dieser darauf abziele, Volksbegehren und Volksentscheide bei finanzwirksamen Gesetzen zu begrenzen und diese weitgehend dem parlamentarischen Gesetzgeber zuzuweisen, da allein dieser alle Einnahmen und notwendigen Ausgaben im Blick habe, diese unter Beachtung der haushaltsrechtlichen Vorgaben der Verfassung und des Vorbehalts des Möglichen sowie eines von ihm demokratisch zu verantwortenden Gesamtkonzepts in eine sachgerechte Relation zueinander setzen könne und für einen Ausgleich von Einnahmen und Ausgaben sorgen müsse, und in diesem Zusammenhang u. a. ausgeführt: „Der .Parlamentsvorbehalt' wird im Hinblick auf den Haushaltsplan deshalb gemacht, weil verhindert werden soll, daß Haushaltsschieflagen dadurch entstehen, daß entweder Prioritäten neu festgelegt werden müssen oder entsprechende Korrekturen bei der Durchführung staatlicher Aufgaben erforderlich sind, ohne daß diese Konsequenzen für jedermann bei der Abstimmung erkennbar würden, zumal plebiszitäre Gesetzentwürfe bei finanzwirksamen Gesetzen nicht der Deckungspflicht des Art. 102 BremLV unterliegen." (StGH, Urt. v. 17.6.1997 - St 7/97 - , S. 32; vgl. auch StGH, Urt.v. 11.5.1998-St 3/97-,S. 16f). Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zielen die Initiatoren offenbar darauf, die gegenwärtigen Begrenzungen der Volksgesetzgebung durch Art. 70 Abs. 2 LV durch eine Verfassungsänderung zu überwinden. Es ist wahrscheinlich — jedenfalls nicht auszuschließen —, daß die Mitwirkung des Volksgesetzgebers an der Budgetgesetzgebung zur Verabschiedung von Gesetzen führen kann, die auf den Gesamtbestand des Haushalts Einfluß nehmen, damit das Gleichgewicht des gesamten Haushalts stören und zu einer Neuordnung des Gesamtgefüges zwingen können. Daraus folgt, daß der Entwurf wegen Verstoßes gegen Art. 109 Abs. 2 GG unzulässig ist. Ob er auch gegen Art. 109 Abs. 3 GG iVm dem Haushaltsgrundsätzegesetz verstößt, kann daher offenbleiben. dd) Schließlich ist der Entwurf auch insoweit mit Art. 28 Abs. 1 GG unvereinbar, als er die Volksgesetzgebung für einfache Gesetze regelt. Der Entwurf enthält drei LVerfGE 11
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Elemente, die das Maß der notwendigen Beteiligung am Volksgesetzgebungsverfahren absenken: Er halbiert das Unterstützungsquorum fur das Volksbegehren von derzeit 10% auf 5%. Er bezieht das Unterstützungsquorum auf die bei der letzten Wahl zur Bürgerschaft abgegebenen gültigen Stimmen mit der Folge, daß unter Zugrundelegung des Ergebnisses der letzten Wahl zur Bürgerschaft auf Landesebene nur 2,98 % und auf der Ebene der Stadtgemeinde Bremen nur 3,07 % der stimmberechtigten Bürger ein Volksbegehren initiieren könnten. Schließlich verzichtet er auf ein Teilnahme- und Zustimmungsquorum beim Volksentscheid. Ob jedes dieser Elemente für sich genommen bereits zu einem Verfassungsverstoß führte, bedarf keiner Entscheidung. Jedenfalls ist die Kumulierung dieser Elemente mit Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG unvereinbar. Auf diese Weise ermöglicht es der Gesetzentwurf, daß — gemessen an der Zahl der Stimmberechtigten - eine verschwindend geringe Zahl von interessierten aktiven Bürgern für die Gesamtheit verbindliches Recht setzt. Der Staatsgerichtshof verkennt nicht, daß infolge der in Art. 69b Abs. 2 des Entwurfs vorgesehenen Möglichkeit der Bürgerschaft, eine eigene Vorlage zum Volksentscheid zu unterbreiten, ein Mobilisierungsdruck auf die parlamentarische Mehrheit dahingehend erzeugt werden kann, daß sie ihre Vorstellungen gegen die Herausforderung durch eine im Volksbegehren qualifizierte Minderheit verteidigt, so daß die Wahrscheinlichkeit einer hohen Abstimmungsbeteiligung steigt (vgl. zu diesem Argument Heussner aaO, S. 370 f; Degenhart aaO, S. 96 und Jürgens aaO, S. 259). Ungeachtet dieser Erwägungen erfüllt der Entwurf nicht die von Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG gestellten Anforderungen. Obwohl — wie oben ausgeführt — die Verfahren der Volksgesetzgebung zunächst Instrumente interessierter Minderheiten sind, müssen diese doch ihre Fähigkeit erweisen, ihrem Anliegen eine die Bindungswirkung von Gesetzen rechtfertigende Verallgemeinerung zu sichern. Sie müssen daher in der Lage sein, Mobilisierungsdruck zu erzeugen, der stark genug ist, die im Parlament vertretene Mehrheit oder doch erhebliche Teile von ihr inhaltlich herauszufordern. Während zu hohe Zulassungsvoraussetzungen für Volksbegehren und Volksentscheide eine entmutigende Wirkung auf aktive Minderheiten haben und damit deren Integration in das politische System erschweren können, können auch zu niedrige Zugangsbedingungen diesen Effekt haben, indem sie das Volksgesetzgebungsverfahren in eine Art verfassungsrechtliches Sondergut mehr oder minder randständiger Minderheiten verwandeln. Damit werden diese Minderheiten nicht nur in ihrer Minderheitensituation isoliert, sondern auch die verfassungsrechtliche Einrichtung der Volksgesetzgebung kann auch durch Unterforderung der Bürger Schaden nehmen. Der Schaden kann nicht zuletzt dadurch bewirkt werden, daß zu kleine Minderheiten durch wiederholte oder wechselnde Begehren die Gemeinschaft der Stimmbürger zu wiederholter (GegendMobilisierung nötigen können. Sich ausbreitende Ablehnung und wachsende Diskreditierung der plebiszitären Gesetzesregelung bei den Stimmbürgern können die Folge sein. Auch das Parlament wird dem Fortbestand mit geringer Zustimmung beschlossener plebiszitärer Gesetze auf die Dauer kein Gewicht beimessen. Im politischen LVerfGE 11
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Bewußtsein und für das Handeln des parlamentarischen Gesetzgebers könnte die Gleichgewichtigkeit des plebiszitären Gesetzes mit dem Parlamentsgesetz schwinden. Das alles könnte das Institut der Volksgesetzgebung als einer ernsthaften Ergänzung zur parlamentarischen Repräsentation gefährden. Der Entwurf ist damit auch im Hinblick auf die einfache Gesetzgebung untauglich, das Zustandekommen plebiszitärer Gesetze demokratisch auszugestalten. III. Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist nicht einzuholen. Die Voraussetzungen des Art. 100 Abs. 1 GG sind nicht gegeben. Eine vorbeugende Normenkontrolle (vgl. Schmidt NVwZ 1982, S. 181 f) findet nicht statt. Angesichts des eindeutigen Wortlauts des Art. 100 Abs. 1 GG können Vorlagegegenstand nur zustande gekommene Gesetze sein. C. Diese Entscheidung ist einstimmig ergangen.
Nr. 2 1. Es lag im staatsorganisatorischen Spielraum des bremischen Gesetzgebers, auch nach Einfuhrung des Kommunalwahlrechts für Unionsbürger am traditionellen Modell der Stadtstaatlichkeit Bremens festzuhalten. 2. In Bremen haben nur die Unionsbürger ein selbständiges aktives und passives Wahlrecht zur Stadtbürgerschaft; die deutschen Bürger können nur die Bürgerschaft (Landtag) wählen und beeinflussen damit zugleich die Zusammensetzung der Stadtbürgerschaft. Diese Differenzierung ist zur Herstellung der angestrebten Kompatibilität von stadtstaatlicher Struktur und Öffnung des Wahlrechts zur Stadtbürgerschaft für Unionsbürger rechtlich zulässig. Die einzige Alternative - die Verselbständigung der Stadtbürgerschaft — wäre demgegenüber eine staatsorganisatorisch tiefgreifende und folgenreiche Entscheidung; der Gesetzgeber war von Verfassungs wegen nicht verpflichtet, diese Alternative zu wählen. 3. Für eine Überprüfung der 5%-Klausel bei der Wahl zur Bürgerschaft (Landtag) bestand für den Gesetzgeber kein Anlaß, da sich die Verhältnisse nicht geändert haben. Da es keine selbständige Wahl zur Stadtbürgerschaft gibt, fehlt es hier schon an einem möglichen Objekt der Prüfungspflicht. LVerfGE 11
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EG Vertrag Art. 19 Abs. 1 Grundgesetz Art. 28 Abs. 1 Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen Art. 75 Abs. 3, Art. 145 Abs. 1, Art. 148 Abs. 1 Bremisches Wahlgesetz § 1 Abs. 1 a, § 4 Abs. 2, § 5 Abs. 3, § 37 Abs. 1 Urteil vom 29. August 2000 - St 4/99 betreffend die Frage der Gültigkeit der Wahl zur Bremischen Bürgerschaft (Einbeziehung der Unionsbürger) Entscheidungsformel: Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluß des Wahlprüfungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen vom 29. November 1999 (WK 1714/99) wird zurückgewiesen. Gründe: I. Gegenstand dieses Verfahrens ist die Gültigkeit der Wahl zur Bürgerschaft vom ó.Juni 1999. Die Antragstellerin, die Wählervereinigung Arbeit für Bremen und Bremerhaven (AfB), bewarb sich bei der Wahl zur Bremischen Bürgerschaft am 6. Juni 1999 in den Wahlbereichen Bremen und Bremerhaven um Sitze in der Bremischen Bürgerschaft. Nach der Feststellung des endgültigen Wahlergebnisses durch den Landeswahlleiter (BremABl. 1999 S. 509 ff) entfielen auf die Antragstellerin — bei einem Stimmenanteil von 2,44 % im gesamten Land - im Wahlbereich Bremen 5 269 Stimmen (= 2,15%) und im Wahlbereich Bremerhaven 1 841 Stimmen (= 4,01 %). Da die Antragstellerin in keinem Wahlbereich mindestens 5% der abgegebenen gültigen Stimmen errungen hatte, erhielt sie gem. Art. 75 Abs. 3 BremLV, § 7 Abs. 4 BremWG weder im Wahlbereich Bremen noch im Wahlbereich Bremerhaven einen Sitz in der Bremischen Bürgerschaft (Landtag). Erstmals nahmen an dieser Bürgerschaftswahl auch Staatsangehörige der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft teil. Ihr Wahlrecht galt gem. § 1 a BremWG in der durch das Gesetz vom 6. Oktober 1996 (Brem.GBl. 1996 S. 303) geänderten Fassung jedoch ausschließlich für die Zusammensetzung der Stadtbürgerschaft. Die Antragstellerin hat mit Schriftsatz vom 20. Juli 1999 über den Landeswahlleiter beim Wahlprüfungsgericht Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl zur StadtLVerfGE 11
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bürgerschaft Bremen vom 6. Juni 1999 eingelegt. Zur Begründung hat sie im wesentlichen ausgeführt: Eine Anfechtung der Wahl zur Stadtbürgerschaft sei zulässig. § 5 Abs. 3 BremWG sehe ausdrücklich die Wahl der Stadtbürgerschaft durch die Wahlberechtigten gem. § 1 Abs. 1 und 1 a vor. Die nach § 1 Abs. 1 a BremWG wahlberechtigten Unionsbürger dürften ihr Wahlrecht ausschließlich für die Wahl zur Stadtbürgerschaft, nicht jedoch zur Bürgerschaft (Landtag) nutzen. Es müsse deshalb auch ein auf die Wahl zur Stadtbürgerschaft beschränktes Wahlanfechtungsrecht geben. Die Wahlanfechtung sei auch begründet. Ihre Rechte auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb gem. Art. 21 Abs. 1 GG und auf Gleichheit der Wahl gem. Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG seien verletzt, weil die 5 %-Sperrklausel nicht aufgehoben worden sei, obwohl dies mit der Einfuhrung des Wahlrechts für Unionsbürger geboten gewesen wäre. Eine Überprüfung der Sperrklausel hätte ergeben, daß sie zur Vermeidung einer drohenden Funktionsunfähigkeit des Kommunalparlaments nicht mehr erforderlich sei. Verfassungsrechtlich problematisch sei auch das sog. Doppelmandat der im Wahlbereich Bremen gewählten Bürgerschaftsabgeordneten. Die wahlberechtigten bundesdeutschen Bürger der Stadtgemeinde Bremen hätten nicht die Möglichkeit, wie die Unionsbürger gesondert Abgeordnete in das Kommunalparlament zu wählen. In der verfassungsrechtlichen Diskussion werde hierin ein gravierender Verstoß gegen den Grundsatz der kommunalen Selbstverwaltung gesehen, da dieser Grundsatz einen Anspruch des Bürgers auf Gewährleistung der kommunalen Selbstverwaltung beinhalte. Damit korrespondiere der Anspruch auf Teilhabe an einer eigenen Kommunalwahl. Die Antragstellerin hat beantragt, die Wahl zur Stadtbürgerschaft vom 6. Juni 1999 für ungültig zu erklären, hilfsweise, die Bürgerschaftswahl vom 6. Juni 1999 für ungültig zu erklären. Der Beteiligte zu 2) — der Präsident der Bremischen Bürgerschaft - hat beantragt, den Einspruch zurückzuweisen. Er hat im wesentlichen vorgetragen: Das Bremische Wahlgesetz sehe einen Einspruch gegen die Wahl zur Stadtbürgerschaft nicht vor. In Bremen finde seit jeher keine gesonderte Wahl zur Stadtbürgerschaft statt. Die Landtagsabgeordneten würden kraft der Landesverfassung neben dem Landtagsmandat ein Stadtbürgerschaftsmandat wahrnehmen. Hieran habe sich mit der Einführung des Wahlrechts für Unionsbürger nichts geändert. Der Charakter der Wahl als Landtagswahl sei hierdurch nicht verändert worden. Die Gültigkeit der Sperrklausel sei in Bremen anerkannt. Dies habe der Staatsgerichtshof als Wahlprüfungsgericht II. Instanz bereits in seiner Entscheidung vom 4. Mai 1991 festgestellt. Die Umstände, die die Festlegung der Sperrklausel in dieser Entscheidung gerechtfertigt hätten, seien nach wie vor unverändert. Es habe deshalb für den Gesetzgeber keine Verpflichtung gegeben, die Sperrklausel zu überprüfen. Allein die Einführung des Wahlrechts für Unionsbürger rechtfertige die Aufhebung der Sperrklausel nicht. Die Entscheidungen der Verfassungsgerichte anderer LVerfGE 11
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Bundesländer könnten hier nicht herangezogen werden, da die Umstände, die zu diesen Entscheidungen gefuhrt hätten, mit den bremischen Verhältnissen nicht vergleichbar seien. Im übrigen habe die Bürgerschaft die Streichung der 5 %-Sperrklausel für die bevorstehende Wahl zur Stadtverordnetenversammlung von Bremerhaven nach ausführlicher Debatte am 20. Juli 1999 verworfen. Der Beteiligte zu 3 — der Landeswahlleiter - hat keinen Antrag gestellt. Er hat vorgetragen: Die Zusammensetzung der Stadtbürgerschaft ergebe sich aus einem einzigen Wahlakt zur Bürgerschaft (Landtag) im Wahlbereich Bremen. Die Teilnahme von Unionsbürgern am Wahlakt „Bürgerschaftswahl" habe an dieser Rechtslage nichts geändert. Das Wahlprüfungsgericht hat den Einspruch der Antragstellerin mit Beschluß vom 29. November 1999 zurückgewiesen. In den Gründen hat es ausgeführt: Der Einspruch sei zulässig. Der Zulässigkeit stehe insbesondere nicht entgegen, daß die Antragstellerin mit ihrem Hauptantrag nicht die Wahl zur Bürgerschaft am ó.Juni 1999 insgesamt angefochten habe, sondern ausdrücklich nur die Gültigkeit der Wahl zur Stadtbürgerschaft. § 37 Abs. 1 S. 1 BremWG stelle neben der Prüfung der Gültigkeit der Wahl insgesamt auch die Prüfung von Teilen der Wahl in die Zuständigkeit des Wahlprüfungsgerichts. Es fänden sich im Gesetz keine Anhaltspunkte dafür, daß die Prüfung eines Teils der Wahl sich allein auf räumlich begrenzte Teile der Wahl beziehe. Der Einspruch sei hinsichtlich des Haupt- und Hilfsantrags unbegründet. Die 5 %-Sperrklausel werde in Bremen für die Bürgerschaft (Landtag) bereits unmittelbar in Art. 75 Abs. 3 BremLV angeordnet und finde über die Regelung des Art. 148 Abs. 1 S. 2 BremLV auch Anwendung auf die Stadtbürgerschaft. Diese Vorschriften seien mit Bundesrecht und insbesondere mit Bundesverfassungsrecht vereinbar. Weder liege ein Verstoß gegen den Grundsatz der gleichen Wahl vor, der durch Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG für die Länder und Gemeinden bindend vorgegeben sei, noch gegen den Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien (Art. 21 Abs. 1 GG). Das Bundesverfassungsgericht und ihm folgend der Staatsgerichtshof hätten in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß jedenfalls bei der Verhältniswahl jede Stimme den gleichen Erfolgswert haben müsse. Differenzierungen bei dem Erfolgswert der Stimme bedürften stets eines besonderen rechtfertigenden zwingenden Grundes. Einschränkungen des Erfolgswerts der Stimme beim Verhältniswahlsystem, auch in der Form einer Sperrklausel, habe das Bundesverfassungsgericht als zulässig angesehen, wenn die Funktionsfähigkeit des Parlaments dies erfordere. Die Einschränkung des Erfolgswerts der Stimme durch die Sperrklausel diene der Verwirklichung der mit der Parlamentswahl verfolgten Ziele, nämlich der Wahl als eines Integrationsaktes bei der politischen Willensbildung des Volkes und der Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung (BVerfGE 95, 408, 418). Die Abbildung vieler kleiner Gruppen im Parlament erschwere oder verhindere die Bildung stabiler Mehrheiten. Weiterhin sei gefestigte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, daß bezüglich der Zulässigkeit LVerfGE 11
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einer Sperrklausel auf die Verhältnisse in dem jeweiligen Land und die Aufgaben der zu wählenden Volksvertreter abzustellen sei. Dieser Rechtsprechung schließe sich das Wahlprüfungsgericht uneingeschränkt an. Die Stadtbürgerschaft habe einen Aufgabenkreis, der eine 5 %-Sperrklausel rechtfertige. Dies folge zum einen daraus, daß die von den stadtbremischen wahlberechtigten Bürgern in die Bürgerschaft gewählten Vertreter zugleich Abgeordnete der Stadtbürgerschaft und der Bürgerschaft (Landtag) seien, soweit es sich nicht um Unionsbürger handele. Den Abgeordneten oblägen damit sowohl der Aufgabenbereich des Landtags wie der Stadtbürgerschaft. Ein Anspruch auf Trennung der Wahl zur Bürgerschaft und Stadtbürgerschaft bestehe nicht. Die Übertragung der Aufgabenkreise von Bürgerschaft und Stadtbürgerschaft auf die Abgeordneten in Form eines Doppelmandats sei eine Folge der bremischen Staatsorganisation. Eine solche Gestaltung des Aufgabenkreises liege im Rahmen der staatsorganisatorischen Kompetenz des bremischen Landesgesetzgebers. Unabhängig von dem Doppelmandat begründe sich die Zulässigkeit der Sperrklausel auch allein aus dem Aufgabenkreis der Stadtbürgerschaft. Die Stadtbürgerschaft habe die Ausschüsse zu wählen, und ihr oblägen alle Aufgaben der kommunalen Selbstverwaltung. Auch die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, daß bei großstädtischen Verhältnissen ein besonderes Bedürfnis für eine Sperrklausel bestehe, treffe auf den Wahlbereich Bremen zu. Eine Verpflichtung zu einer besonderen Prüfung, ob die Sperrklausel weiterhin erforderlich sei, bestehe nicht. Es seien keine Änderungen von Gewicht eingetreten. Auch die Einführung des kommunalen Wahlrechts der Unionsbürger berühre die wesentlichen Gesichtspunkte für die Zulässigkeit der Sperrklausel nicht. Gegen diesen Beschluß hat die Antragstellerin am 9. Dezember 1999 Beschwerde eingelegt. Zur Begründung fuhrt sie aus: Die Zulässigkeit ihres Wahlprüfungsantrags ergebe sich bereits daraus, daß eine selbständige Wahl zur Stadtbürgerschaft durchgeführt worden sei. Dies folge aus der Tatsache, daß die Unionsbürger ihr Wahlrecht ausschießlich bei der Wahl zur Stadtbürgerschaft hätten ausüben können. Folgerichtig werde nach § 60a der Bremischen Landeswahlordnung das Wahlergebnis zur Stadtbürgerschaft gesondert ausgewiesen. Zutreffend habe das Wahlprüfungsgericht bei der Uberprüfung der Verfassungsmäßigkeit der 5 %-Sperrklausel auf den Aufgabenkreis der zu wählenden Volksvertreter abgestellt, bei der Beschreibung dieses Aufgabenkreises jedoch Aufgaben einbezogen, welche allein die Abgeordneten mit Doppelmandat wahrzunehmen hätten. Hierin liege ein entscheidender Bruch in der Argumentation. Die Stadtbürgerschaft wähle weder einen Bürgermeister noch einen Hauptverwaltungsbeamten als Verwaltungs spitze der Kommunalverwaltung. Insofern liege eine deutliche Reduzierung der Aufgabenstellung gegenüber anderen Kommunalverwaltungen vor. Damit seien die Verhältnisse in Bremen durchaus vergleichbar mit denen in Nordrhein-Westfalen, wo die Beibehaltung der Sperrklausel bei Kommunalwahlen nach einer Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs für Nordrhein-Westfalen als nicht erforderlich erachtet worden sei. LVerfGE 11
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In der Begründung zur Änderung des Art. 148 Abs. 1 S. 3 BremLV sei ausgeführt, daß diese Änderung das bisher verankerte Gebot einer Personalidentität zwischen Mitgliedern der Stadtbürgerschaft und der Bürgerschaft (Landtag) im Wahlbereich Bremen aufhebe. Vor diesem Hintergrund stelle sich die Frage, ob nicht getrennte Listen für die Stadtbürgerschaft und die Bürgerschaft hätten zugelassen werden müssen und ob nicht schon aus diesem Grunde die angefochtene Wahl zur Stadtbürgerschaft ungültig sei. Bei der Änderung der Bremischen Landesverfassung hätte der Gesetzgeber auch die Vorschriften des Bremischen Wahlgesetzes anpassen und den stadtbremischen Wählern die Möglichkeit geben müssen, Bürgerschaft (Landtag) und Stadtbürgerschaft in zwei getrennten Wahlakten zu wählen. Die Antragstellerin hätte dann Kandidaten fur die Stadtbürgerschaft gesondert aufgestellt. Der Staatsgerichtshof habe in seiner Entscheidung vom 4. Mai 1981 für die damaligen Verhältnisse zutreffend dargelegt, daß einerseits nach der Bremischen Landesverfassung die Gemeindeangelegenheiten und die Stadtangelegenheiten getrennt zu sehen seien, andererseits die Doppelfunktion nicht aufgeteilt werden könne. Durch die Änderung des Art. 148 Abs. 1 S. 3 BremLV sei diese Doppelfunktion/Personalunion aufgehoben worden und damit die Entscheidung des Staatsgerichtshofs vom 4. Mai 1981 nicht mehr einschlägig. Nachdem für die Unionsbürger ein selbständiges Kommunalwahlrecht eingeführt worden sei, könne den stadtbremischen deutschen Wählern dieses eigenständige Kommunalwahlrecht nicht mehr verweigert werden. Die Antragstellerin beantragt, die Wahl zur Stadtbürgerschaft vom 6. Juni 1999 für ungültig zu erklären, hilfsweise, die Bürgerschaftswahl vom 6. Juni 1999 für ungültig zu erklären. Die Verfahrensbeteiligten zu 2) und 3), der Präsident der Bremischen Bürgerschaft und der Landeswahlleiter, beantragen, die Beschwerde zurückzuweisen. Der Verfahrensbeteiligte zu 2), der Präsident der Bremischen Bürgerschaft, führt aus: Der Einspruch der Antragstellerin gegen die Wahl zur Stadtbürgerschaft sei unzulässig. Es habe keine selbständige Wahl zur Stadtbürgerschaft stattgefunden. Die am 6. Juni 1999 durchgeführte Wahl sei eine Landtagswahl gewesen. Die Zusammensetzung der Stadtbürgerschaft sei lediglich Rechtsfolge aus Art. 148 Abs. 1 S. 3 BremLV. Konsequenterweise sehe das Bremische Wahlgesetz auch keinen gesonderten Einspruch gegen die Wahl der Stadtbürgerschaft vor. Auch die Unionsbürger hätten an der Landtagswahl teilgenommen. Dies gelte unabhängig davon, daß ihre Stimmen ausschließlich für die Bürgerschaftswahl gezählt worden seien. Auch sie hätten die Zusammensetzung der Stadtbürgerschaft nur durch Einspruch gegen die Landtagswahl angreifen können. Der Einspruch gegen die Wahl zur Bürgerschaftswahl (Landtag) im Rahmen des Hilfsantrages sei verspätet. LVerfGE 11
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Für die Begründetheit sei es entgegen der Ansicht der Antragstellerin nicht von Belang, ob die Stadtbürgerschaft die Gemeindeexekutive unmittelbar wähle oder die Bürgerschaft (Landtag) den Senat wähle und dieser über Art. 148 Abs. 1 S. 2 BremLV die Aufgaben der Gemeindeexekutive wahrnehme. Entscheidend bleibe vielmehr, daß die Verhältnisse, die seinerzeit für die derzeitige Rechtslage gegolten hätten, unverändert seien. Der Beteiligte zu 3), der Landeswahlleiter, führt aus: Die Anfechtung einer Wahl zur Stadtbürgerschaft sei im geltenden Wahlrecht nicht vorgesehen. Es gebe keine selbständige Wahl zur Stadtbürgerschaft. Vielmehr handele es sich bei der gleichzeitigen Wahl zum Landtag und zur Stadtbürgerschaft um einen einheitlichen und untrennbaren Wahlakt, zu dem auch getrennte Listen für Landtag und Stadtbürgerschaft nicht möglich seien. Der einheitliche untrennbare Wahlakt sei auch für den Einspruch nicht aufteilbar. Nichtdeutschen Unionsbürgern stünde der gleiche Rechtsweg zur Anfechtung der Wahl zu, allerdings und entsprechend den Auswirkungen beim Wahlakt nur hinsichtlich solcher Wahlfehler, die sich auf die Zusammensetzung der Stadtbürgerschaft: ausgewirkt hätten. Der Teilnahmeberechtigte, Senator für Justiz und Verfassung, trägt im wesentlichen vor: Die Rechte der Antragstellerin seien durch Anwendung der 5 %-Sperrklausel nicht verletzt. Art. 75 Abs. 3 BremLV sehe diese Sperrklausel vor. Die Einführung des Wahlrechts für ausländische Unionsbürger sei kein Grund gewesen, Art. 75 Abs. 3 BremLV zu modifizieren. Mit der Einführung des Wahlrechts für Unionsbürger sei lediglich der Kreis der aktiv und passiv Wahlberechtigten erweitert worden. Änderungen des Staatsaufbaus und der Institutionen seien weder beabsichtigt gewesen noch vorgenommen worden. Insbesondere habe der Landesgesetzgeber keine eigenständige stadtbremische Kommunalvertretung etabliert. Ebensowenig habe es eine selbständige Wahl zur Stadtbürgerschaft gegeben. Für das passive Wahlrecht der Unionsbürger gelte, daß sie auf den für die Landtagswahl eingereichten Listen hätten kandidieren, ein Mandat jedoch nur in der Stadtbürgerschaft hätten wahrnehmen können. Die Gründe, die seit 1947 die Zulässigkeit der Sperrklausel auch im Blick auf die Verteilung der 80 Sitze im Wahlbereich Bremen getragen hätten, wirkten fort. Der Hinweis auf das Urteil des Verfassungsgerichtshofs für Nordrhein-Westfalen führe zu keinem anderen Ergebnis, da die dortigen Verhältnisse mit den bremischen nicht vergleichbar seien. II. Die gegen des Beschluß des Wahlprüfungsgerichts vom 29. November 1999 gerichtete Beschwerde ist gem. § 39 BremWG zulässig. Die Beschwerde ist jedoch nicht begründet. Das Wahlprüfungsgericht hat den Einspruch der Antragstellerin gegen die Gültigkeit der Wahl zur Bürgerschaft vom 6. Juni 1999 zu Recht zurückgewiesen. LVerfGE 11
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Der Zulässigkeit des Einspruchs steht — wie das Wahlprüfungsgericht zutreffend ausgeführt hat — nicht entgegen, daß die Antragstellerin mit ihrem Hauptantrag nur die Gültigkeit der Wahl zur Stadtbürgerschaft und nicht die Gültigkeit der Wahl zur Bürgerschaft insgesamt angefochten hat. § 37 Abs. 1 S. 1 BremWG sieht die Wahlprüfung nicht nur für die Prüfung der Gültigkeit der Wahl insgesamt vor, sondern ausdrücklich auch für die Prüfung von Teilen der Wahl. Da sich aus dem Wahlgesetz keine Beschränkung des Einspruchsrechts nur auf räumlich begrenzte Teile der Wahl ergibt, steht einer Anwendung dieser Vorschrift auf eine Anfechtung der Wahl zur Stadtbürgerschaft als eines Teils der einheitlichen Wahl von Bürgerschaft (Landtag) und Stadtbürgerschaft nichts entgegen. Für diese Auslegung des § 37 Abs. 1 S. 1 BremWG spricht auch, daß es mit den Unionsbürgern auf Grund der Neuregelungen in Art. 148 Abs. 1 S. 3 BremLV und § 1 Abs. l a BremWG eine Personengruppe gibt, die an der Wahl zur Bürgerschaft teilnimmt, deren Wahlrecht jedoch ausschließlich für die Zusammensetzung der Stadtbürgerschaft gilt. Der Einspruch der Antragstellerin ist jedoch nicht begründet. Die Wahl vom ó.Juni 1999 ist weder in bezug auf die Stadtbürgerschaft — so der Hauptantrag — noch in bezug auf die Bürgerschaft (Landtag) — so der Hilfsantrag — ungültig. Das hat das Wahlprüfungsgericht zu Recht festgestellt. Die dagegen gerichteten Angriffe der Beschwerde haben keinen Erfolg. Nach § 39 Abs. 2 BremWG und § 30 Abs. 1 BremStGHG kann die Beschwerde nur darauf gestützt werden, daß die Entscheidung des Wahlprüfungsgerichts das Grundgesetz, die Landesverfassung oder das Wahlgesetz verletzt habe. Da die Wahlprüfung nur auf begründeten Einspruch hin erfolgt (§ 38 Abs. 1 und 2 BremWG), ist der Prüfungsumfang des Staatsgerichtshofs bei der Untersuchung von Wahlfehlern im engeren Sinne (Fehler bei der Anwendung der die Wahl betreffenden Rechtsnormen) durch das substantiierte Vorbringen der Einspruchsführer eingegrenzt (vgl. BVerfGE 40,11,30 ff; 66,369,379; BremStGHE4,111,151). Solche Wahlfehler werden von der Antragstellerin nicht geltend gemacht. Die Beschwerdeführerin hält die Entscheidung des Wahlprüfungsgerichts vielmehr für rechtswidrig, weil sie in Anwendung verfassungswidriger Wahlrechtsnormen ergangen sei. Sie ist der Auffassung, die die Wahl zur Stadtbürgerschaft regelnden Bestimmungen verstießen gegen die verfassungsrechtlich gewährleistete Wahlrechts- und Chancengleichheit sowie gegen die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung. Der Staatsgerichtshof prüft in dem die Gültigkeit der Wahl betreffenden Beschwerdeverfahren auch, ob die die Wahl regelnden Vorschriften mit höherrangigem Recht vereinbar sind; von der Verfassungsmäßigkeit wahlgesetzlicher Vorschriften kann die Entscheidung über die Gültigkeit der Wahl abhängen (BremStGHE 1,205,211; 4,111,123 mwN). In diesem Verfahren geht es insbesondere um die Frage, ob das Land Bremen im Zuge der Umsetzung der EG-Richtlinie zur Einführung des Kommunalwahlrechts für Unionsbürger dadurch gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl verstoßen hat, daß es die Wahl zur Stadtbürgerschaft nicht von der Wahl zur Bürgschaft (Landtag) LVerfGE 11
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getrennt und die 5 %-Sperrklausel für die Wahl zur Stadtbürgerschaft nicht aufgehoben hat. Nach Art. 19 Abs. 1 EG-Vertrag hat jeder Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, in dem Mitgliedstaat, in dem er seinen Wohnsitz hat, das aktive und passive Wahlrecht zu Kommunalwahlen, wobei für ihn dieselben Bedingungen gelten wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaates. Einzelheiten sind in der Richtlinie 94/80/EG des Rates vom 19. Dezember 1994 (ABl. EG Nr. L 368 S. 38) festgelegt. Die Richtlinie verlangt keine umfassende Harmonisierung der verschiedenen nationalen Kommunalwahlrechte, sondern beschränkt sich auf die Fesdegung von Rahmenbedingungen. Mit den europarechtlichen Bestimmungen korrespondiert Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG; danach sind bei Wahlen in Kreisen und Gemeinden auch Personen, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaft besitzen, nach Maßgabe von Recht der Europäischen Gemeinschaft wahlberechtigt und wählbar. Durch Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 94/80/EG des Rates vom 19. Dezember 1994 über die Einzelheiten der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Kommunalwahlen für Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, vom 6. Oktober 1996 (Brem.GBl. 1996 S. 303) wurde Art. 148 Abs. 1 S. 3 BremLV geändert. Die Bestimmung hatte bis dahin folgenden Wordaut: „Die Stadtbürgerschaft besteht aus den von den stadtbremischen Wählern in die Bürgerschaft gewählten Vertretern". Sie erhielt folgende Neufassung: „Die Stadtbürgerschaft besteht aus den von den stadtbremischen Wählern mit der Wahl zur Bürgerschaft im Wahlbereich Bremen gewählten Vertretern". Durch Art. 2 wurde das Bremische Wahlgesetz um eine Reihe von Bestimmungen ergän2t. In § 1 wurde ein neuer Absatz 1 a eingefügt, der wie folgt lautet: „Unter den gleichen Voraussetzungen wie Deutsche können auch Staatsangehörige der übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft (Unionsbürger) an der Wahl zur Bürgerschaft im Wahlbereich Bremen teilnehmen. Ihr Wahlrecht gilt jedoch ausschließlich für die Zusammensetzung der Stadtbürgerschaft." § 4 Abs. 2 erhielt die folgende Fassung: „Ein nach § 1 Abs. 1 a Wahlberechtigter ist ausschließlich zur Stadtbürgerschaft wählbar." Dem § 5 wurde folgender Absatz 3 angefügt: „Die Stadtbürgerschaft setzt sich aus den im Wahlbereich Bremen von den Wahlberechtigten nach § 1 Abs. 1 und l a gewählten Mitgliedern zusammen." Die Antragstellerin hält diese auf die Stadtbürgerschaft bezogenen Wahlrechtsbestimmungen und in diesem Zusammenhang die sich auf die Stadtbürgerschaft auswirkende 5 %-Sperrklausel (Art. 75 Abs. 3 iVm Art. 148 Abs. 1 S. 2 BremLV; § 7 Abs. 4 BremWG) für unvereinbar mit dem Grundgesetz. Dem folgt der Staatsgerichtshof nicht. Die angegriffenen Bestimmungen verstoßen nicht gegen höherrangiges Recht. 1. Die zur Prüfung gestellten Wahlrechtsbestimmungen stimmen mit den Anforderungen des Europäischen Gemeinschaftsrechts überein. Den Unionsbürgern wird LVerfGE 1 1
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ein volles Wahlrecht zur kommunalen Vertretungskörperschaft der Stadtgemeinde Bremen (Stadtbürgerschaft) eingeräumt. Daß die Unionsbürger von der Wahl in den Senat auch in dessen Eigenschaft als kommunales Hauptverwaltungsorgan ausgeschlossen sind (vgl. Art. 107 Abs. 4 S. 1 BremLV), wird durch Art. 5 Abs. 3 der EU-Richtlinie gedeckt. Danach können die Mitgliedstaaten bestimmen, daß nur ihre eigenen Staatsangehörigen in die Amter des Leiters des Exekutivorgans, seines Vertreters oder eines Mitglieds des leitenden kollegialen Exekutivorgans einer lokalen Gebietskörperschaft der Grundstufe wählbar sind. 2. Bundesverfassungsrecht ist ebenfalls nicht verletzt. a) Nach Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG muß die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne des Grundgesetzes entsprechen. Im Rahmen ihrer Bindung an die Grundsätze des Art. 28 GG genießen die Länder im staatsorganisatorischen Bereich Autonomie. In diesem Rahmen regeln sie Wahlsystem und Wahlrecht zu ihren Parlamenten und den kommunalen Vertretungen des Volkes. Das Grundgesetz bindet die Länder hierbei an die in Art. 28 Abs. 1 S. 2 genannten Wahlrechtsgrundsätze (vgl. BVerfGE 99,1,11 f). Danach muß das Volk in den Ländern, Kreisen und Gemeinden eine Vertretung haben, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist. Der für die Wahl zur bremischen Bürgerschaft in Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG und Art. 75 Abs. 1 S. 1 BremLV und für die Wahl zur Stadtbürgerschaft in Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG und Art. 148 Abs. 1 S. 2 iVm Art. 75 Abs. 1 S. 1 BremLV gewährleistete Grundsatz der gleichen Wahl verlangt, daß die Stimme eines jeden Wahlberechtigten den gleichen Zählwert und im Verhältniswahlrecht grundsätzlich auch den gleichen Erfolgswert hat (vgl. BVerfGE 95, 408, 417; BremStGHE 4, 111, 123; jeweüs mwN). Den gleichen Anforderungen hat das Wahlrecht auch im Hinblick auf die gem. Art. 21 Abs. 1 GG, Art. 75 Abs. 1 S. 1 BremLV verfassungsrechtlich verbürgte Chancengleichheit der Parteien zu genügen (vgl. BVerfGE 82, 322, 337 f). Hieraus folgt, daß dem Gesetzgeber bei der Ordnung des Wahlrechts für Differenzierungen nur ein eng bemessener Spielraum verbleibt; letztere bedürfen stets eines rechtfertigenden Grundes (vgl. BVerfGE 1, 208, 249; auch BremStGHE 4,111,123). Wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 10. April 1997 (BVerfGE 95, 408, 418 mwN) ausgeführt hat, verlangt dies allerdings nicht, daß sich die Differenzierungen von Verfassungs wegen als zwangsläufig oder notwendig darstellen. Es werden vielmehr auch Gründe zugelassen, die durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sind, das der Wahlrechtsgleichheit die Waage halten kann. Dabei ist es nicht erforderlich, daß die Verfassung diese Zwecke zu verwirklichen gebietet. In diesem Zusammenhang rechtfertigt das Bundesverfassungsgericht Differenzierungen auch durch „zureichende", „aus der Natur des Sachbereichs der Wahl der Volksvertretung sich ergebende Gründe". Differenzierende Regelungen müssen zur Verfolgung ihrer Zwecke geeignet und erforderLVerfGE 11
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lieh sein. Ihr erlaubtes Ausmaß richtet sich daher auch danach, mit welcher Intensität in das — gleiche — Wahlrecht eingegriffen wird (vgl. BVerfGE 71, 81, 96). Ebenso können gefestigte Rechtsüberzeugung und Rechtspraxis Beachtung finden (vgl. BVerfGE 1, 208, 249; 95, 408, 418 mwN). Der Grad der zulässigen Differenzierung richtet sich nach der Struktur des jeweils in Frage stehenden Sachbereichs (vgl. BVerfGE 71, 81, 96). Es ist grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, die Gebote der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der politischen Parteien mit anderen, durch die Verfassung legitimierten, hinreichend gewichtigen Zielen zum Ausgleich zu bringen. Der Staatsgerichtshof achtet diesen Spielraum. Er prüft lediglich, ob dessen Grenzen überschritten sind, nicht aber, ob der Gesetzgeber zweckmäßige oder rechtspolitisch erwünschte Lösungen gefunden hat. Der Staatsgerichtshof kann daher einen Verstoß gegen die Wahlgleichheit nur feststellen, wenn die differenzierende Regelung nicht an einem Ziel orientiert ist, das der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wahlrechts verfolgen darf, wenn sie zur Erreichung dieses Zieles nicht geeignet ist oder das Maß des zur Erreichung dieses Zieles Erforderlichen überschreitet (im Anschluß an BVerfGE 95,408, 420 mwN). An diesen Maßstäben gemessen, kann ein Verstoß der angegriffenen Wahlrechtsregelungen gegen die Grundsätze der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit nicht festgestellt werden. Es lag im staatsorganisatorischen Gestaltungsspielraum des bremischen Gesetzgebers, auch nach Einführung des Kommunalwahlrechts für Unionsbürger am traditionellen Modell der Stadtstaatlichkeit Bremens festzuhalten. Das vom Gesetzgeber verabschiedete Wahlrecht ist durch das Bemühen gekennzeichnet, das Recht auf Wahlgleichheit sowohl für die wahlberechtigten deutschen Bürger der Stadtgemeinde Bremen als auch fur die wahlberechtigten Unionsbürger bei Aufrechterhaltung der überkommenen stadtstaatlichen Organisationsstruktur in größtmöglichem Umfang zu sichern (vgl. dazu unter b). Die aus der Gesetz gewordenen Lösung resultierenden Differenzierungen im Wahlrecht der Stadtgemeinde Bremen werden durch zureichende, durch die Landesverfassung abgesicherte Ziele gerechtfertigt. Die zur Erreichung dieser Ziele vom Gesetzgeber eingesetzten Mittel sind nicht unverhältnismäßig; die Intensität der mit ihnen verbundenen Ungleichbehandlungen ist gering (vgl. dazu unter c.) Eine Pflicht des Gesetzgebers, die 5 %-Sperrklausel für die Wahl zur Stadtbürgerschaft aufzuheben, bestand nicht (vgl. dazu unter d.). b) Der bremische Gesetzgeber durfte auch nach Einführung des Kommunalwahlrechts für Unionsbürger am traditionellen Modell der Stadtstaatlichkeit Bremens festhalten. Dabei ist es unter dem Blickwinkel des die Verfassungsautonomie der Länder achtenden Homogenitätsgebots des Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG von besonderer Bedeutung, daß diese stadtstaatliche Struktur durch Art. 148 BremLV abgesichert ist und somit auf einer Entscheidung des bremischen Verfassunggebers beruht. Gerade im Bereich der Staatsorganisation läßt die Normativbestimmung des Art. 28 Abs. 1 S. 1 LVerfGE 11
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GG weiten Raum für die Selbständigkeit landesrechtlicher Strukturbildung (vgl. BVerfGE 27,44, 52). Für das bis zur Einführung des Kommunalwahlrechts für Unionsbürger geltende Wahlrecht hat der Staatsgerichtshof in seiner Entscheidung vom 4. Mai 1981 (BremStGHE 4, 111, 136 ff) festgestellt, die strukturelle Identität der Mandate des Landtags und der Stadtbürgerschaft, die eine getrennte Wahl und damit eine Differenzierung bei der Stimmabgabe ausschließe, verstoße nicht gegen die Wahlfreiheit. Im Gegensatz zu der vom Bundesverfassungsgericht im Beschluß vom 15. Februar 1978 zu beurteilenden Fallkonstellation (BVerfGE 47, 253, 283 f - Bezirksvertretungen in Nordrhein-Westfalen) sei der Wähler bei der Wahl zur Bürgerschaft (Landtag) und zur Stadtbürgerschaft vor die Entscheidung über beide Gremien mit identischen, feststehenden Bewerbern gestellt, obwohl es sich um einen einheitlichen Wahlakt handle. Durch diesen Wahlakt werde den gesetzlichen Organen des Landes und der Stadtgemeinde Bremen, wenn auch inhaltlich zusammengefaßt, die erforderliche demokratische Legitimation verschafft. Dem Gesetzgeber müsse bei der Regelung der demokratischen Organisation der Staatsgewalt ein Ermessensspielraum im Rahmen der Verfassung eingeräumt sein, bei dessen Ausfüllung auch die historisch bedingten tatsächlichen Gegebenheiten innerhalb eines Landes zu berücksichtigen seien. Der Staatsgerichtshof hat darauf hingewiesen, daß die sowohl nach der Person des Abgeordneten als auch nach der Funktion des Mandates vorgenommene Zusammenfassung von staatlichen und kommunalen Elementen auf eine lange und durchgehende bremische Tradition verweisen könne, und hervorgehoben, daß das Doppelmandat der stadtbremischen Abgeordneten keine wahlrechtliche Konstruktion, sondern eine Folge der bremischen Staatsorganisation sei. An dieser rechtlichen Würdigung des bremischen Wahlrechts hält der Staatsgerichtshof auch im Hinblick auf die durch das Gesetz vom 6. Oktober 1996 eingeführten Änderungen fest. Die durch die Richtlinie 94/80/EG des Rates vom 19. Dezember 1994 entstandene Verpflichtung zur Einführung des Kommunalwahlrechts für Unionsbürger stellte den bremischen Gesetzgeber vor eine schwierige Aufgabe; denn den Unionsbürgern mußte - bei Aufrechterhaltung der einheitlichen Wahl zur Bürgerschaft (Landtag) und Stadtbürgerschaft: — die Wahl zur Stadtbürgerschaft eröffnet werden, ohne sie gleichzeitig an der Wahl zur Bürgerschaft (Landtag) zu beteiligen, an der gem. Art. 20 Abs. 2, 28 Abs. 1 S. 1 GG nur Deutsche teilnehmen dürfen (vgl. BVerfGE 83, 37, 53 - Kommunalwahlrecht für Ausländer in Schleswig-Holstein). Nachdem Versuche des Landes Bremen, der besonderen Situation Bremens durch europarechtliche oder bundesrechtliche Sonderregelungen Rechnung zu tragen, gescheitert waren, wurden im Gesetzgebungsverfahren verschiedene Lösungsmodelle diskutiert (vgl. zu den Einzelheiten Bremische Bürgerschaft - Landtag - , Drs. 14/294 v. 9.5.1996, S. 4ff, 6 ff). Diese Diskussion stand unter der vom Bundesrat formulierten Prämisse, daß die Kommunalwahlrichtlinie nicht den Anspruch erhebe, die Adressaten müßten ihre gewachsenen Strukturen umformen; vielmehr solle die Gleichstellung von Staatsangehörigen und LVerfGE 11
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Unionsbürgern auf der Grundlage der vorgefundenen Strukturen geschehen (BR-Drs. 294/94 v. 20.5.1994). Nach der Gesetz gewordenen Regelung erhalten die Unionsbürger das aktive und passive Wahlrecht zur Stadtbürgerschaft vermittelt über ein Teilnahmerecht an der Wahl zur Bürgerschaft (Landtag). Es bleibt bei der einen Wahl zur Bürgerschaft mit differenzierten Auswirkungen für die Bürgerschaft (Landtag) einerseits und die Stadtbürgerschaft andererseits. Es handelt sich um ein Modell praktischer Konkordanz zwischen den Besonderheiten der stadtstaatlichen Struktur Bremens einerseits und den verfassungsrechtlichen Anforderungen einer demokratischen Wahl andererseits. Durch die Absicherung dieses Modells auf der Ebene der Landesverfassung (Art. 148 Abs. 1 S. 3 BremLV) hat das staatsorganisatorische Element ein normativ hochrangiges, auch gegenüber den bundesrechtlichen Anforderungen des Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG beachtliches Gewicht. Das vom (verfassungsändernden) Landesgesetzgeber beschlossene Konkordanzmodell wäre nur dann verfassungswidrig, wenn es mit unverhältnismäßigen Differenzierungen im Bereich der Wahlrechtsgleichheit verbunden wäre. Das ist nicht der Fall. c) Die durch das Gesetz vom 6. Oktober 1996 eingeführten wahlrechtlichen Bestimmungen führen zu Differenzierungen zwischen dem Wahlrecht der deutschen Bürger der Stadtgemeinde Bremen und dem Wahlrecht der Unionsbürger. Im Wahlbereich Bremen haben nur die Unionsbürger ein selbständiges aktives und passives Wahlrecht zur Stadtbürgerschaft:. Die deutschen Wähler können nur die Bürgerschaft (Landtag) wählen; sie beeinflussen damit zugleich mittelbar die Zusammensetzung der Stadtbürgerschaft; eine Wahl der Stadtbürgerschaft unabhängig von der Entscheidung bei der Landtagswahl ist ihnen versagt. In dieser unterschiedlichen Ausgestaltung des Wahlrechts fur Unionsbürger einerseits und für deutsche Wähler andererseits liegt zwar eine Ungleichbehandlung, diese Ungleichheit der Wahl ist aber auch unter Zugrundelegung des unter 2. a) entwickelten Maßstabs der Wahlrechtsgleichheit durch den auf der Ebene der Landesverfassung (Art. 148 BremLV) abgesicherten „zureichenden" Grund der Erhaltung der Stadtstaatlichkeit Bremens gerechtfertigt. Die Differenzierung ist zur Herstellung der vom Landesgesetzgeber angestrebten Kompatibilität von stadtstaatlicher Struktur und Öffnung des Wahlrechts zur Stadtbürgerschaft für Unionsbürger geeignet; sie ist im Sinne des mildesten zur Verfügung stehenden Mittels erforderlich und — schon angesichts ihrer geringen Eingriffsintensität — nicht überproportional. Die Zahl der „begünstigten" Unionsbürger ist — zumindest zur Zeit — sehr gering; die materielle Veränderung des Wahlrechts der deutschen Bürger ist marginal. Die einzige Alternative, die Verselbständigung der Stadtbürgerschaft — eine Alternative, die nach Art. 145 Abs. 1 S. 1 BremLV nicht vom (einfachen) Landesgesetzgeber, sondern nur von der Stadtgemeinde Bremen realisiert werden könnte —, wäre demgegenüber eine staatsorganisatorisch tiefgreifende und folgenreiche Entscheidung. Von Verfassungs wegen war der Gesetzgeber nicht verpflichtet, zur Vermeidung der aufLVerfGE 11
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gezeigten wahlrechtlichen Konsequenzen diese Alternative zu wählen. Eine solche Verpflichtung ergibt sich aus den darlegten Gründen auch nicht aus dem Gesichtspunkt der Garantie der kommunalen Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG). Der Gesetzgeber hat allerdings die Pflicht, die tatsächlichen Verhältnisse und die praktische Handhabung des Gesetzes zu beobachten und bei einer relevanten Verstärkung der Ungleichheitslage korrigierend einzugreifen. d) Entgegen der von der Antragstellerin vorgetragenen Auffassung war der Gesetzgeber bei der Novellierung der wahlrechtlichen Regelungen nicht gehalten, die in der Landesverfassung (Art. 75 Abs. 3) verankerte 5 %-Sperrklausel zu überprüfen und für die Wahl zur Stadtbürgerschaft zu beseitigen. Die Antragstellerin bezieht sich auf die neuere verfassungsgerichtliche Rechtsprechung, in der die Pflicht der Wahlgesetzgeber betont wird, eine einmal erlassene und bei ihrem Erlaß mit dem Recht auf Gleichheit der Wahl und Chancengleichheit der politischen Parteien im Einklang stehende Sperrklausel unter Kontrolle zu halten; der Gesetzgeber müsse prüfen, ob die Verhältnisse, derentwegen die Sperrklausel ehemals für erforderlich gehalten wurde, unverändert fortbestehen oder sich in erheblicher Weise geändert haben, und gegebenenfalls die Gesetzeslage korrigieren (BVerfGE 82, 322, 338 f; NWVerfGH, Urt. v. 29.9.1994, NVwZ 1994, 579; Urt. v. 6.7.1999 - VerfGH 14/98,15/98; BerlVerfGH, Urt. v. 17 3.1997, LVerfGE 6, 32,41 ff; HambVerfG, Urt. v. 30.9.1998, HVerfG 2/98). Bei der in diesem Verfahren zur Prüfung stehenden Wahl handelt es sich um eine Wahl zur Bürgerschaft (Landtag). Für Landtagswahlen ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bremischen Staatsgerichtshofs die Zulässigkeit einer 5%-Klausel anerkannt (vgl. BVerfGE 1, 208, 248f; 95, 408, 419f; st. Rspr.; BremStGHE 1, 205, 212 ff; 4,111, 122 ff; 5, 94, 99). An seiner diesbezüglichen Rechtsprechung, in der vor allem auf die besondere Situation Bremens abgestellt worden ist, hält der Staatsgerichtshof fest. Für eine Uberprüfung der 5 %-Klausel bei der Wahl zur Bürgerschaft (Landtag) bestand für den Gesetzgeber kein Anlaß, da sich die Verhältnisse nicht geändert haben. Da es nach bremischem Wahlrecht keine selbständige Wahl zur Stadtbürgerschaft gibt, fehlt es hier schon an einem möglichen Objekt der Prüfungspflicht. Die durch die Einführung des Wahlrechts der Unionsbürger zur Stadtbürgerschaft entstandene Möglichkeit des Auseinanderfallens der Doppelmandate Bürgerschaft/Stadtbürgerschaft in Einzelmandate Bürgerschaft und Stadtbürgerschaft, war kein Grund, der den Gesetzgeber verpflichtet hätte, die Wahl zur Bürgerschaft und Stadtbürgerschaft zu trennen und die Rechtfertigung der 5%-Sperrklausel bei der Wahl zur Stadtbürgerschaft zu überprüfen oder diese Klausel gar aufzuheben. Aufgrund des geringen zusätzlichen Stimmenanteils der Unionsbürger kann dieses Auseinanderfallen der Mandate nur in wenigen Einzelfällen auftreten, so daß vom Gesetzgeber unterstellt werden durfte, daß weit über 90 % der 80 Sitze in der Bürgerschaft/Stadtbürgerschaft weiterhin mit Doppelmandatsträgern besetzt sein würden (vgl. auch Bremische BürLVerfGE 11
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gerschaft, Drs. 14/294, S. 10). Deshalb durfte er davon ausgehen, daß auch der Aufgabenkreis bei weit mehr als 90% der Abgeordneten mit Doppelmandaten der gleiche bleiben würde. Das Wahlergebnis zur Bürgerschaftswahl am 6. Juni 1999 zeigt, daß diese Prognose richtig war. Die Wahlbeteiligung der Unionsbürger hat sich auf die Doppelmandate für die Bürgerschaft und Stadtbürgerschaft nicht ausgewirkt (vgl. die amtliche Bekanntmachung des endgültigen Wahlergebnisses, BremABl. vom 6. Juli 1999, S. 511). III. Diese Entscheidung ist einstimmig ergangen.
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Ents cheidungen des Staatsgerichtshofes des Landes Hessen
Die amtierenden Richterinnen und Richter des Staatsgerichtshofes des Landes Hessen Prof. Dr. Klaus Lange, Präsident Dr. Helmut Wilhelm, Vizepräsident (bis 30.4.2000) Dr. Wolfgang Teufel, Vizepräsident (ab 17.5.2000) Elisabeth Buchberger Felizitas Fertig Dr. Karl Heinz Gasser Paul Leo Giani Dr. Wilhelm Nassauer (ab 1.5.2000) Dr. Günter Paul Rudolf Rainer Georg Schmidt-von Rhein Dr. Manfred Voucko
Stellvertretende Richterinnen und Richter JörgBritzke (bis 27.4.2000) Werner Eisenberg Ferdinand Georgen Dr. Bernhard Heitsch Ulrike Kindermann Dr. Harald Klein Ursula Kraemer Dr. Helga Laux Dr. Wilhelm Nassauer (bis 30.4.2000) Dagmar Rechenbach (17.5.2000 bis 6.12.2000) Johann Nikolaus Scheuer (ab 17.5.2000) Petra Schott-Pfeifer (ab 19.12.2000) Adolf Tausch (ab 19.12.2000) Karin Wolski (bis 6.12.2000) Prof. Dr. Johannes Baltzer Helmut Enders Gerhard Fuckner Doris Möller-Scheu Joachim Poppe Manfred Stremplat
Rechtliches Gehör und gerichtlicher Hinweis
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Nr. 1 1. Die in der Hessischen Verfassung verbürgte Garantie rechtlichen Gehörs begründet für ein Gericht im Grundsatz keine Pflicht, auf seine Rechtsauffassung hinzuweisen oder ein Rechtsgespräch zu führen. 2. Lediglich in dem Ausnahmefall, in dem das Gericht bei seiner Entscheidung auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abzustellen beabsichtigt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen braucht, ist verfassungsrechtlich durch die Garantie rechtlichen Gehörs ein rechtlicher Hinweis des Gerichts geboten. HV Art. 3 StGHG § 43 Urteil vom 5.4.2000 - P.St. 1302 in dem Verfahren wegen Verletzung von Grundrechten der Frau I. und des Herrn D., an dem sich beteiligt haben: 1. die Hessische Landesregierung, vertreten durch den Hessischen Ministerpräsidenten, Staatskanzlei, Bierstadter Straße 2, 65189 Wiesbaden, 2. der Landesanwalt beim Staatsgerichtshof des Landes Hessen, Mühlgasse 2, 65183 Wiesbaden, und in dem Herr K. als durch die angefochtene Maßnahme begünstigter Dritter angehört worden ist Entscheidungs formel: Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Antragsteller gegen die Entscheidung des LG Frankfurt am Main über die auf Zahlung von 4 905,25 DM gerichtete Berufung des Klägers im Urteil vom 20. Januar 1998-2/11 S 178/97 - Grundrechtsklage erhoben hatten. Das Urteil des LG Frankfurt am Main vom 20. Januar 1998 - 2/11 S 178/97 verletzt die Antragsteller in ihrem durch Art. 3 der Verfassung des Landes Hessen verbürgten Grundrecht auf Gewährung rechtlichen Gehörs, soweit die Abweisung der Widerklage im Urteil einen Anspruch der Antragsteller auf Rückzahlung von LVerfGE 11
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Staatsgerichtshof des Landes Hessen
4176,36 DM überhöhten Mietzinses füir den Zeitraum vom 1. Juli 1991 bis 31. Dezember 1992 nebst 4 % Zinsen aus diesem Betrag seit dem 7. April 1995 betrifft. Das Urteil des L G Frankfurt am Main vom 20. Januar 1998 - 2/11 S 178/97 wird in diesem Umfang fur krafdos erklärt und die Sache insoweit an das L G Frankfurt am Main zurückverwiesen. Im übrigen werden die Anträge zurückgewiesen. Das Land Hessen hat den Antragstellern 1 / 5 der notwendigen Auslagen zu erstatten. Gerichtskosten werden nicht erhoben. Gründe: A I. Die Antragsteller wenden sich mit der Grundrechtsklage gegen ein Berufungsurteil des L G Frankfurt am Main in einer mietrechtlichen Streitigkeit. Die Antragsteller waren Mieter einer Wohnung, für die sie eine Kaution von 6 000,00 DM und eine monatliche Nettomiete von 2 000,00 DM zahlten. Mit Schreiben vom 31. Januar 1994 kündigten sie das Mietverhältnis mit ihrem Vermieter — dem Kläger des Ausgangsverfahrens - zum 30. April 1994. Der Kläger akzeptierte die Kündigung zu diesem Termin, verlangte aber nach § 15 des Mietvertrages die Rückgabe der Wohnung in „vollständig und handwerklich einwandfrei renoviertem Zustand". Mit Schreiben vom 19. April 1994 erklärten die Antragsteller unter Bezugnahme auf eine aus ihrer Sicht vorliegende Mietpreisüberhöhung, dass sie eine Renovierung nicht beabsichtigten. Wörtlich heißt es in diesem Schreiben: „Sollten sie bis 14.00 Uhr keinen Verzicht auf die bei unserem Auszug fälligen Renovierungsleistungen erklärt haben, werden wir — wie im Schreiben vom 5.4.1994 angekündigt — den Interessenverband Mieterschutz mit der Geltendmachung unserer RückZahlungsansprüche beauftragen. Gleichzeitig werden wir ihn veranlassen, das Wohnungsamt einzuschalten — dies mit den ihnen bekannten Konsequenzen für den Hauseigentümer." In einem Schreiben des Mieterschutzverbandes vom 20. April 1994, den die Antragsteller mit ihrer Vertretung beauftragt hatten, machten sie die Rückerstattung angeblich überzahlter Miete in Höhe von ca. 15 000,00 DM geltend. Der Kläger bestand auf der Renovierung und teilte dies den Antragstellern noch am 20. April 1994 per Fax mit. Die Antragsteller erwiderten mit Fax vom 21. April 1994, dass sie im Hinblick auf die erfolgte Uberzahlung von Mietzins eine Renovierung nicht vornehmen würden. Am 26. April 1994 gaben sie die Wohnung in unrenoviertem Zustand zurück. Der Kläger ließ die Wohnung renovieren und verlangte sodann mit beim AG Frankfurt am Main erhobener Klage Renovierungskosten in Höhe von 10 560,25 DM, LVerfGE 11
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Teppichreinigungskosten in Höhe von 345,00 DM sowie eine Nebenkostennachzahlung für 1993 in Höhe von 611,13 DM. Nach Abzug der Mietkaution von 6 000,00 DM machte der Kläger eine Klageforderung von 5 516,38 DM geltend. Die Antragsteller erhoben Widerklage auf Rückzahlung der Mietsicherheit in Höhe von 6 000,00 DM, auf Ersatz des ihnen durch die Inanspruchnahme der Mietsicherheit entstandenen Zinsnachteils in Höhe von 255,00 DM sowie auf Rückgewähr überhöhten Mietzinses in Höhe von insgesamt 10347,68 DM. Den von ihnen überzahlten Mietzins bezifferten die Antragsteller für die Zeiträume vom 1. Juli 1991 bis 30. Juni 1992 auf 6 544,32 DM, vom 1. Juli 1992 bis 30. Juni 1993 auf 3 471,36 DM und vom 1. Juli 1993 bis 30. April 1994 auf 332,00 DM. Die mit der Widerklage geltend gemachte Hauptforderung belief sich insgesamt auf 16602,68 DM. Mit Urteil vom 7. Februar 1997 - Az.: 33 C 4234/94 - 50 - verurteilte das AG Frankfurt am Main die Antragsteller zur Zahlung der von ihnen anerkannten Nebenkosten 1993 inHöhe von 611,13DM und wies die Klage im übrigen ab. Auf die Widerklage verurteilte es den Kläger zur Zahlung von 14665,06 DM, nämlich der Mietsicherheit in Höhe von 6 000,00 DM, des Zinsnachteils in Höhe von 255,00 DM sowie überzahlten Mietzinses in Höhe von 4939,44 DM im Zeitraum vom 1. Juli 1991 bis 30. Juni 1992, 3 352,32 DM im Zeitraum vom 1. Juli 1992 bis 30. Juni 1993 und 148,30 DM im Zeitraum vom 1. Juli 1993 bis 30. April 1994. Im Hinblick auf den Gesamtbetrag überzahlter Miete in Höhe von 8 440,06 DM sprach das AG Frankfurt am Main den Antragstellern einen Zinsanspruch von 4 % seit dem 7. April 1995 zu. Zur Begründung führte das AG u.a. aus, der Kläger könne keinen Schadensersatz wegen nicht durchgeführter Schönheitsreparaturen von den Antragstellern verlangen, weil hierfür vertraglich festgelegte Fristen noch nicht abgelaufen seien. Infolgedessen sei der Kläger verpflichtet, die in Anspruch genommene Mietbürgschaftssumme zurückzuzahlen. Zudem stünde den Antragstellern die Rückzahlung überhöhten Mietzinses in Höhe von zusammen 8440,06 DM zu, weil in dieser Höhe die Mietzinsvereinbarung wegen Mietpreisüberhöhung nach § 5 Wirtschaftsstrafgesetz (WiStG) nichtig sei. Der Kläger legte gegen das Urteil des AG Frankfurt am Main Berufung ein. Er beantragte, die Antragsteller unter Abänderung des amtsgerichtlichen Urteils zur Zahlung von weiteren 4 905,25 DM nebst 4 % Zinsen zu verurteilen und die Widerklage abzuweisen. Der Mietvertrag enthalte eine Individualvereinbarung hinsichtlich der Renovierung und der Zustand der Räume habe die Vornahme von Schönheitsreparaturen erfordert. Der Widerklage der Antragsteller habe das AG zu Unrecht stattgegeben. Die Vereinbarung des monatlichen Nettomietzinses von 2 000,00 DM verstoße nicht gegen § 5 WiStG. Der Vortrag der Antragsteller hierzu sei unsubstantiiert. Das AG habe zudem verkannt, dass eine Sondermarktsituation vorliege, in der sich die Wohnung überdies durch eine besonders luxuriöse Ausstattung auszeichne. Die Antragsteller traten der Berufung entgegen und verteidigten das angefochtene Urteil des AG, legten jedoch keine Anschlussberufung ein. LVerfGE 11
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Mit den Antragstellern am 16. Februar 1998 zugestelltem Urteil vom 20. Januar 1998 - 2/11 S 178/97 - verurteilte das LG Frankfurt am Main die Antragsteller unter Abänderung des amtsgerichtlichen Urteils zur Zahlung von weiteren 896,12 DM nebst 4 % Zinsen seit 1. Juli 1994, wies die Berufung des Klägers im übrigen zurück und die gesamte Widerklage der Antragsteller ab. Zur Begründung führte das LG im wesentlichen aus, der Kläger habe keinen Anspruch auf Schadensersatz wegen nicht durchgeführter Auszugsrenovierung, weil der Turnus bei Auszug der Antragsteller noch nicht abgelaufen gewesen sei. Der Kläger könne lediglich die entsprechend der abgelaufenen Wohndauer anteiligen Kosten nach dem Kostenvoranschlag eines Malers verlangen. Diese habe er in nachvollziehbarer Weise mit 6551,12 DM beziffert. Nach Abzug der in Anspruch genommenen Kaution von 6 000,00 DM verbleibe ein Rest von 551,12 DM zu Lasten der Antragsteller. Hinzu kämen 345,00 DM Reinigungskosten für den Teppich. Nach Ablauf einer fast dreijährigen Wohndauer gehöre aus hygienischen Gründen die Teppichreinigung zu einem ordnungsgemäßen Zustand der Wohnung, in dem diese zurückzugeben gewesen sei. Insgesamt sei die Klage in Höhe von 896,12 DM begründet. Die Widerklage habe dagegen keinen Erfolg. Die Kautionsrückzahlungsforderung sei durch Aufrechnung mit Gegenansprüchen erloschen. Die Antragsteller hätten auch keinen Anspruch auf Rückzahlung überhöhter Miete gem. §§ 5 WiStG, 134, 812 BGB, weil der vereinbarte Mietzins von 2 000,00 DM für die Wohnung für die Zeit ab 1. Januar 1993 zulässig gewesen sei und fur die vorherige Zeitspanne aus anderen Gründen nicht zurückgefordert werden könne. Für die Zeit vom 1. Juli 1991 bis zum 31. Dezember 1992 sei lediglich eine Miete von 1 767,98 DM zulässig gewesen. Dem Anspruch der Antragsteller auf Auskehrung des Differenzbetrages stünden §§ 138, 242, 226 BGB entgegen, ohne dass es darauf ankomme, ob der Kläger bei Abschluss des Mietvertrages ein geringes Angebot vergleichbarer Wohnungen ausgenutzt habe; denn die Antragsteller hätten die Widerklage gemäß §§ 5 WiStG, 134, 812 BGB nur erhoben, um den Kläger zu schädigen aus Enttäuschung darüber, dass dieser auf seinem Renovierungsanspruch beharrt habe und sich auch nicht durch das Schreiben der Antragsteller vom 19. April 1994, das den Straftatbestand der versuchten Nötigung (§ 240 Abs. 3 StGB) enthalte, von seiner Forderung habe abbringen lassen. Denn hätte der Kläger der Aufforderung in dem genannten Schreiben entsprochen und bis 14.00 Uhr einen Verzicht auf Durchführung von Renovierungsleistungen erklärt, hätten die Antragsteller — so die Aussage in dem Schreiben — von einer Geltendmachung von RückZahlungsansprüchen unter Einschaltung des Wohnungsamtes abgesehen. Es sei aber sittenwidrig, gegen den Vertragspartner finanzielle Ansprüche geltend zu machen, nur weil er sich durch ein strafrechtlich relevantes Verhalten nicht habe beeindrucken lassen. Da die Antragsteller Volljuristen seien, müssten sie sich der Tragweite des Schreibens vom 19. April 1994 bewusst gewesen sein. Am 16. März 1998 haben die Antragsteller beim Staatsgerichtshof Grundrechtsklage gegen das Urteil des LG Frankfurt am Main erhoben. LVerfGE 11
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Sie rügen Verletzungen des Willkürverbots des Art. 1 der Verfassung des Landes Hessen (kurz: Hessische Verfassung — HV —) sowie des sich aus Art. 3 HV ergebenden Grundrechts auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Die Begründung des LG zum Ausschluss ihrer Rückforderungsansprüche sei rechtlich abwegig und willkürlich. Zum einen sei es willkürlich, in ihrem Schreiben vom 19. April 1994 eine versuchte Nötigung zu sehen. Es handele sich vielmehr in seinem sachlichen Kern um einen ausgewogenen und vernünftigen Vergleichsvorschlag. Die Ankündigung, sich gegebenenfalls an das Wohnungsamt zu wenden, könne schon deswegen keine versuchte Nötigung sein, da § 9 WiStG zur Zurückerlangung des sogenannten Mehrerlöses ausdrücklich die Einschaltung des Wohnungsamtes vorsehe. Zum anderen sei es willkürlich, aus einer angenommenen versuchten Nötigung den endgültigen Verlust von Ansprüchen aus ungerechtfertigter Bereicherung herzuleiten. Die Voraussetzungen der vom LG hierzu als Begründung genannten Vorschriften der §§ 226,138 BGB seien offensichtlich nicht gegeben. Indem das Gericht die Ansprüche wegen einer angeblich versuchten Nötigung ausgeschlossen habe, obwohl weder der Vermieter diesen Einwand erhoben noch das Gericht einen entsprechenden Hinweis erteilt habe, habe es die Antragsteller zugleich in ihrem Grundrecht auf rechtliches Gehör verletzt. Zwar habe das LG in der mündlichen Verhandlung beiläufig geäußert, das Schreiben vom 19. April 1994 erfülle nach seiner Meinung den Tatbestand einer versuchten Nötigung; mit keiner Silbe sei jedoch die Auffassung angedeutet worden, dies könne zu einem Verlust des Bereicherungsanspruchs fuhren. Die Antragsteller hätten mit diesem Einwand auch nicht rechnen müssen, weil er unhaltbar und — soweit ersichtlich - noch von keinem anderen Gericht vertreten worden sei. Wäre ein entsprechender Hinweis erteilt worden, so hätten sie Gelegenheit gehabt, schon gegenüber dem LG die jetzt im Grundrechtsklageverfahren dargelegten Bedenken vorzutragen und es von der Unhaltbarkeit seiner Auffassung zu überzeugen. Die Antragsteller haben die ursprünglich gegen das gesamte Urteil des LG Frankfurt am Main gerichtete Grundrechtsklage insoweit zurückgenommen, als das LG auch über das mit der Berufung verfolgte Begehren des Klägers auf Zahlung von weiteren DM 4905,25 entschieden hat. Die Antragsteller beantragen, 1. festzustellen, dass das Urteil des LG Frankfurt am Main vom 20. Januar 1998 — 2/11 S 178/97 — das Gleichheitsgrundrecht des Art. 1 HV in dessen Ausprägung als Willkürverbot sowie das Grundrecht auf Menschenwürde und das Rechtsstaatgebot in deren Ausprägung als Grundrecht auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt, soweit die Widerklage abgewiesen worden ist, 2. das Urteil des LG Frankfurt am Main vom 20. Januar 1998 - 2/11 S 178/97 - fur kraftlos zu erklären, soweit die Widerklage abgewiesen worden ist, und den Rechtsstreit insoweit an das LG Frankfurt am Main zurückzuverweisen.
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Die Landesregierung hält die Grundrechtsklage wegen eines Verstoßes gegen den in der Hessischen Verfassung verbürgten Anspruch der Antragsteller auf rechtliches Gehör und wegen Verstoßes gegen das Willkürverbot für zulässig und begründet. Das LG habe einen für das angegriffene Urteil ursächlichen Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör begangen, indem es einen Hinweis auf die zivilrechtlichen Konsequenzen der strafrechtlichen Bewertung des Schreibens vom 19. April 1994 unterlassen habe. Schon diese Bewertung sei nach einfachrechtlichen Maßstäben überaus anfechtbar und hätte dem LG allenfalls Veranlassung geben können, die Akten der Staatsanwaltschaft zu übersenden. Damit, dass die Kammer aus ihrer Bewertung auch noch zivilrechtliche Folgen fur die Widerklage ableiten würde, hätten die Antragsteller nicht rechnen müssen. Insbesondere stelle die allgemein ausgesprochene strafrechtliche Missbilligung jenes Schreibens nicht schon aus sich heraus einen Hinweis auf deren Entscheidungserheblichkeit dar. Die vom LG hergestellte Verknüpfung zwischen dem Bestehen des Anspruchs und dem ursprünglichen Verfahren seiner Geltendmachung sei derart außergewöhnlich, dass das Gericht schlechthin nicht habe erwarten dürfen, die Antragsteller oder ihr Prozessbevollmächtigter hätten bei gehörigem Bemühen auch von sich aus diese Bewertung selbständig vollziehen können und müssen. Das LG hätte ihnen Gelegenheit geben müssen, sich zu diesem Gedankengang zu äußern. Dann hätten die Antragsteller versuchen können, es von der Unrichtigkeit seiner Rechtsauffassung zu überzeugen. Das Willkürverbot sei verletzt, weil das LG die Abweisung der Widerklage trotz eines von ihm dem Grunde nach bejahten Bereicherungsanspruchs unter Berufung auf die Vorschriften der §§ 138, 242, 226 BGB verneint habe. Das Verhalten der Antragsteller könne jedoch unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt unter diese Vorschriften subsumiert werden. Das LG habe dadurch, dass es den Antragstellern die ausdrücklich als berechtigt anerkannte Forderung nur deshalb aberkannt habe, weil die Antragsteller nach Auffassung des LG diese zunächst im Wege der Nötigung durchzusetzen versucht hätten, willkürlich gehandelt. Das Verhalten der Antragsteller sei weder sittenwidrig noch treuwidrig noch schikanös gewesen. Es gebe in Literatur und Rechtsprechung auch kein Beispiel gleicher oder ähnlicher Art, in dem eine solche Klageverwirkung angenommen worden sei. III. Der Landesanwalt teilt die Auffassung der Landesregierung, das LG habe gegen das Willkürverbot verstoßen. Dagegen hält er den Anspruch auf rechtliches Gehör nicht für verletzt. Dieser verpflichte ein Gericht weder zu einem Rechtsgespräch noch zu einem Hinweis auf seine Rechtsauffassung. Lediglich in besonderen Fällen könne es geboten sein, die Verfahrensbeteiligten auf eine Rechtsauffassung hinzuweisen, die das LVerfGE 11
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Gericht seiner Entscheidung zugrunde legen wolle, insbesondere wenn es auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellen wolle, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauche. Ein solcher Fall sei hier nicht gegeben. Der Hinweis des LG, das Schreiben der Antragsteller vom 19. April 1994 erfülle nach seiner Meinung den Tatbestand einer versuchten Nötigung, hätte ausreichen müssen, um die Antragsteller und ihren Prozessbevollmächtigten für die Frage der zivilrechtlichen Folgen einer solchen strafrechtlichen Bewertung zu sensibilisieren. IV. Der Kläger des Ausgangsverfahrens verteidigt das Urteil des LG Frankfurt am Main. V. Die Antragsteller haben das Urteil des LG Frankfurt am Main außer mit der Grundrechtsklage vor dem Staatsgerichtshof auch mit der Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht angegriffen. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Verfassungsbeschwerde mit Beschluss vom 2. Juni 1998 — I BvR 531/98 - nicht zur Entscheidung angenommen. VI. Die Verfahrensakte des LG ist vom Staatsgerichtshof beigezogen worden. Β I. Das Verfahren war gem. § 24 Abs. 3 des Gesetzes über den Staatsgerichtshof — StGHG — in dem Umfang einzustellen, in dem die Antragsteller ihre Anträge zurückgenommen haben. Die Grundrechtsklage ist im aus dem Tenor ersichtlichen Umfang zulässig und begründet, im übrigen unzulässig. Soweit das LG bei der Berufungsentscheidung über die Widerklage der Antragsteller deren auf Rückzahlung überhöhten Mietzinses für den Zeitraum vom 1. Januar 1993 bis 30. April 1994 in Höhe von 1 824,46 DM, einer Mietsicherheit in Höhe von 6000,00 DM sowie eines Zinsnachteils in Höhe von 255,00 DM gerichtetes Begehren zurückgewiesen hat, fehlt den Antragstellern die Antragsbefugnis für die Grundrechtsklage. Nach § 43 Abs. 2 StGHG erfordert diese, dass der Antragsteller das Grundrecht bezeichnet und mit der Angabe der Beweismittel die Tatsachen vorbringt, aus denen sich die Verletzung des Grundrechts ergeben soll. Die Antragsteller haben LVerfGE 11
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im Hinblick auf die Abweisung dieses Teils ihres mit der Widerklage verfolgten Begehrens keine Grundrechtsverletzungen des LG unter Angabe entsprechender Tatsachen gerügt. Die für die Zulässigkeit der Grundrechtsklage erforderliche Antragsbefugnis fehlt den Antragstellern auch insofern, als das LG den von ihnen mit der Widerklage für den Zeitraum vom 1. Juli 1991 bis 31. Dezember 1992 verfolgten Anspruch auf Rückgewähr überzahlten Mietzinses in Höhe von 6 615,60 DM der Höhe nach mit lediglich 4176,36 DM bemessen hat. Denn diese Berechnung der Mietüberzahlung durch das LG für den genannten Zeitraum haben die Antragsteller gleichfalls nicht als grundrechtsverletzend moniert. Zulässig ist die Grundrechtsklage, soweit die Antragsteller geltend machen, die Abweisung ihrer auf Erstattung überhöhter Mietzahlungen in Höhe von 4176,36 DM für den Zeitraum vom 1. Juli 1991 bis 31. Dezember 1992 sowie auf Zahlung von 4% Zinsen aus diesem Betrag seit dem 7. April 1995 gerichteten Widerklage beruhe auf einer Verletzung rechtlichen Gehörs. Im Hinblick auf diesen Teil des angegriffenen Berufungsurteils haben die Antragsteller den Anforderungen des § 43 Abs. 1 und 2 StGHG genügt. Sie haben substantiiert einen Lebenssachverhalt geschildert, aus dem sich — seine Richtigkeit unterstellt — plausibel die Möglichkeit einer Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör im fachgerichtlichen Verfahren, das zum Erlass des angegriffenen Urteils geführt hat, ergibt. Die Möglichkeit einer Verletzung des in der Hessischen Verfassung gewährten Verfahrensgrundrechts der Antragsteller auf rechtliches Gehör entfallt insbesondere nicht deshalb, weil Grundrechte der Hessischen Verfassung kein Maßstab für die Anwendung bundesrechtlich geregelten Verfahrensrechts, wie vorliegend das der Zivilprozessordnung, wären. Grundrechte der Hessischen Verfassung sind für die Fachgerichte des Landes insoweit Maßstab bei der Anwendung bundesrechtlicher Prozessordnungen, als sie mit parallel verbürgten Grundrechten des Grundgesetzes — GG — inhaltsgleich sind. Im selben Umfang hat der Staatsgerichtshof die Anwendung von bundesrechtlichem Verfahrensrecht durch Gerichte des Landes Hessen auf ihre Vereinbarkeit mit Grundrechten der Hessischen Verfassung zu überprüfen, es sei denn, ein Bundesgericht hat die Entscheidung des hessischen Fachgerichts bestätigt oder die Sache an das hessische Gericht unter Bindung an seine Maßstäbe zur Entscheidung zurückverwiesen (st. Rspr. des StGH, zuletzt Urt. v. 20.10.1999 -P.St. 1356-,ΝΖΜ 1999,1088,1089 f). Die Grundrechtsklage ist im aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet, weil die Zurückweisung des von den Antragstellern mit der Widerklage verfolgten Anspruchs auf Rückzahlung überhöhten Mietzinses für den Zeitraum vom 1. Juli 1991 bis 31. Dezember 1992 in Höhe von 4176,36 DM sowie des auf diesen Betrag entfallenden Zinsanspruchs im Urteil des LG auf einer Verletzung des Gehörsrechts der Antragsteller beruht. Das durch Art. 3 HV iVm dem der Hessischen Verfassung innewohnenden Rechtsstaatsprinzip in gleicher Weise wie durch Art. 103 Abs. 1 GG verbürgte GrundLVerfGE 11
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recht auf rechtliches Gehör ist eine Folgerung aus dem Rechtsstaatsgedanken für das gerichtliche Verfahren. Der Einzelne soll nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein, sondern er soll vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können. Da dies nicht nur durch tatsächliches Vorbringen, sondern auch durch Rechtsaus führ ungen geschehen kann, garantiert die Gewährleistung rechtlichen Gehörs den Verfahrensbeteiligten das Recht, sich nicht nur zu dem der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt, sondern auch zur Rechtslage zu äußern (vgl. StGH, Urt. v. 20.10.1999 - P.St. 1356 - , NZM 1999, 1088, 1090). Die von der Garantie rechtlichen Gehörs umfasste Befugnis eines Verfahrensbeteiligten, sich zur Rechtslage zu äußern, begründet allerdings für das Gericht im Grundsatz keine Pflicht, auf seine Rechtsauffassung hinzuweisen oder ein Rechtsgespräch zu fuhren (st. Rspr. des BVerfG, vgl. etwa BVerfGE 86, 133, 144ff). Denn grundsätzlich muss ein Verfahrensbeteiligter — auch wenn die Rechtslage umstritten oder problematisch ist — alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag darauf einstellen. Lediglich in dem Ausnahmefall, in dem das Gericht bei seiner Entscheidung auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abzustellen beabsichtigt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen braucht, ist verfassungsrechtlich durch die Garantie rechtlichen Gehörs ein rechtlicher Hinweis des Gerichts geboten (st. Rspr. des BVerfG, vgl. BVerfGE 86,133, 144). Eine dem verfassungsrechtlichen Anspruch genügende Gewährung rechtlichen Gehörs setzt nämlich voraus, dass der Verfahrensbeteiligte bei Anwendung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt zu erkennen vermag, auf welche rechtlichen Gesichtspunkte es für die Entscheidung ankommen kann. Nach diesem Maßstab beruht die Zurückweisung der Widerklage der Antragsteller in dem im Tenor beschriebenen Umfang auf einer Verletzung des Gehörsrechts der Antragsteller. Das LG hat für den Zeitraum vom 1. Juli 1991 bis 31. Dezember 1992 überhöhte Mietzahlungen in Höhe von insgesamt 4176,36 DM (Differenzbetrag von 232,02 DM zwischen dem geforderten monatlichen Mietzins von 2000,00 DM, und dem zulässigen Mietzins von 1 767,98 DM, multipliziert mit 18 Monaten) angenommen, einen entsprechenden RückZahlungsanspruch der Antragsteller jedoch unter Berufung auf Sittenwidrigkeit (§ 138 BGB), Treu und Glauben (§ 242 BGB) sowie das Schikaneverbot (§ 226 BGB) mit dem Argument verneint, die Antragsteller hätten die Widerklage nur erhoben, um den Kläger zu schädigen. Die Versagung des RückZahlungsanspruchs aus diesen Gesichtspunkten hätte von Verfassungs wegen nicht ohne vorherigen rechtlichen Hinweis erfolgen dürfen. Denn mit einem Ausschluss ihres Bereicherungsanspruchs wegen überhöhter Mietzahlungen aus diesen Erwägungen konnten und mussten die Antragsteller bei der gegebenen Sachlage auch unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nicht rechnen. Der vom LG mit dem Argument der ausschließlichen Schädigungsabsicht der LVerfGE 11
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Antragsteller und der Sittenwidrigkeit der Anspruchserhebung begründete Anspruchsausschluss ist auf Grundlage des im Urteil geschilderten Sachverhalts nämlich fernliegend und schwerlich vertretbar. Allerdings ist dem Bürgerlichen Recht ein Anspruchsausschluss als Folge unzulässiger Rechtsausübung (§ 242 BGB) oder des Schikaneverbots (§ 226 BGB) nicht fremd. Diese Ausschlusstatbestände, die der Geltendmachung eines gegebenen Anspruchs entgegenstehen können, betreffen jedoch nur Ausnahmefalle. Denn einem Anspruch — dem Recht, von einem anderen ein Tun oder ein Unterlassen zu verlangen (§ 196 BGB) — ist die Möglichkeit seiner Geltendmachung wesensgemäß. Im Fall der Antragsteller lagen keine Anhaltspunkte vor, die einen Anspruchsausschluss nach „§§ 138, 242, 226 BGB" rechtfertigen konnten. Es ist anhand des Urteils nicht nachvollziehbar, dass die Antragsteller den aus Sicht des LG bestehenden Rückzahlungsanspruch nicht geltend gemacht haben, um den Betrag zu erhalten, sondern allein, um den Kläger zu schädigen. Ebensowenig verständlich ist der im Urteil erhobene Vorwurf, die Geltendmachung dieser Forderung sei sittenwidrig. Selbst wenn die landgerichtliche Bewertung des Schreibens der Antragsteller vom 19. April 1994 als versuchte Nötigung noch vertretbar wäre, ist es die daraus vom LG gezogene zivilrechtliche Konsequenz eines Rechtsverlusts kaum mehr. Das Bürgerliche Recht sieht grundsätzlich nicht vor, dass ein Anspruch erlischt, weil der Gläubiger ihn zuvor durch eine Straftat durchzusetzen versucht hat. Für einen Verstoß der Antragsteller gegen Treu und Glauben durch die Geltendmachung des Bereicherungsanspruchs bietet der im Urteil mitgeteilte Sachverhalt keinen Anknüpfungspunkt. Die dem Anspruchsausschluss zugrundeliegende Auffassung des LG war auch für einen gewissenhaften und kundigen Prozessbevollmächtigten nach dem Prozessverlauf nicht vorhersehbar. Ein in dieser besonderen Prozesssituation von der Garantie rechtlichen Gehörs verfassungsrechtlich geforderter Hinweis des LG auf seine Auffassung ist unterblieben. Er liegt namentlich nicht darin, dass die Zivilkammer in der mündlichen Verhandlung geäußert hat, das Schreiben der Antragsteller vom 19. April 1994 erfülle ihrer Meinung nach den Tatbestand einer versuchten Nötigung. Denn die Antragsteller mussten nicht mit den aus dieser strafrechtlichen Bewertung von der Zivilkammer gezogenen zivilrechtlichen Konsequenzen rechnen. Auf diese — ihrer Ansicht nach eintretenden — Folgen hätte die Zivilkammer die Antragsteller hinweisen müssen. Im aus dem Tenor ersichtlichen Umfang beruht das angegriffene Urteil auf der damit gegebenen Verletzung des Grundrechts auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Es ist nicht auszuschließen, dass das LG bei Gewährung rechtlichen Gehörs und einem sich daran anschließenden Rechtsgespräch anders entschieden hätte. Da die Grundrechtsklage aus diesem Grund Erfolg hat, bedarf es hinsichtlich des als verletzt gerügten Willkürverbots der Hessischen Verfassung keiner Entscheidung des Staatsgerichtshofs mehr (vgl. StGH, Urt. v. 20.10.1999 - P.St. 1356 - , N Z M 1999, 1088,1091).
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II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 28 StGHG unter Berücksichtigung dessen, dass die Grundrechtsklage nur zu 1/5 Erfolg hat.
Nr. 2 1. Prüflingsgegenstand bei der Grundrechtsklage gegen gerichtliche Entscheidungen ist allein die Entscheidung des höchsten in der Sache zuständigen Gerichts des Landes Hessen. 2. Die Monatsfrist zur Erhebung von Grundrechtsklagen wird durch die Einlegung von Gegenvorstellungen oder außerordentlichen Beschwerden bei den Fachgerichten nicht offen gehalten. StGHG §§ 44 Abs. 1; 45 Abs. 1 Beschluss vom 14.6.2000 - P.St. 1351 auf die Anträge des Herrn K. wegen Verletzung von Grundrechten Entscheidungsformel: Die Anträge werden zurückgewiesen. Gerichtskosten werden nicht erhoben, außergerichtliche Kosten nicht erstattet. Gründe: A I. Der Antragsteller wendet sich mit der Grundrechtsklage gegen verwaltungsgerichtliche Kostenentscheidungen und die Zurückweisung seiner gegen sie erhobenen Gegenvorstellungen und außerordentlichen Beschwerden. Der Antragsteller ist Nießbraucher des in Wiesbaden gelegenen Hausgrundstückes L. Das Eigentum an dieser Immobilie hatte er am 10. Januar 1997 an seinen Sohn, den Verfahrensbevollmächtigten, übertragen. Der Antragsteller erhob in den Jahren 1990 und 1991 mehrere verwaltungsgerichtliche Klagen gegen die Stadt Wiesbaden. Er machte darin geltend, dass die Stadt
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Wiesbaden nicht genügend Vorkehrungen treffe, um ihn als Anlieger vor Lärmimmissionen zu schützen, die von stattfindenden Versammlungen und Demonstrationen ausgingen. Anfang 1995 änderte die Stadt Wiesbaden ihre Verwaltungspraxis und erließ gegenüber den Veranstaltern von Versammlungen Auflagen, die die Ausrichtung der Lautsprecher und die maximale Lärmverursachung regelten. Der Antragsteller erklärte daraufhin in einem beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof anhängigen Berufungsverfahren 1 UE 2260/93 sowie in den beim VG Wiesbaden anhängigen Verfahren 1 E 298/90 (V) und 1 E 432/90 (V) jeweils den Rechtsstreit für in der Hauptsache erledigt. Die Stadt Wiesbaden schloss sich den Erledigungserklärungen an. Der Hessische Verwaltungsgerichtshof legte im Berufungsverfahren 1 UE 2260/93 der Stadt Wiesbaden mit Beschluss vom 26. Februar 1997 die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen auf. Die Fortsetzungsfeststellungsklage des Antragstellers hätte im Verfahren beim VG Wiesbaden Χ/2 E 303/91 Erfolg haben müssen, der spätere Wegfall des Feststellungsinteresses beruhe auf der Änderung der Verwaltungspraxis der Stadt Wiesbaden. Das VG Wiesbaden stellte die Verfahren 1 E 298/90 (V) und 1 E 432/90 (V) mit Beschlüssen vom 4. Mai 1998 ein und hob die Kosten der Verfahren jeweils gegeneinander auf. Zur Begründung führte das VG Wiesbaden in den gleichlautenden Beschlüssen aus, es entspreche billigem Ermessen (§ 161 Abs. 2 VwGO), die Kosten des Verfahrens gegeneinander aufzuheben. Der bisherige Sach- und Streitstand lasse keine abschließende Entscheidung darüber zu, ob die Klage aller Voraussicht nach hätte Erfolg haben können oder ob sie hätte abgewiesen werden müssen. Zwar habe der Hessische Verwaltungsgerichtshof — ebenfalls in einer Berichterstatterentscheidung nach Erledigung der Hauptsache — die dortige Fortsetzungsfeststellungsklage (nach einer Demonstration gegen den Golfkrieg) für zulässig erachtet. Es bestünden aber erhebliche Bedenken, ob für weitere Fortsetzungsfeststellungsklagen, die im Ergebnis ein gleichartiges Klageziel hätten, ebenfalls ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse gegeben gewesen sei, weil der Antragsteller das Ziel seines Rechtsschutzbegehrens bereits im Verfahren Χ/2 E 303/91 = 1 UE 2260/93 umfassend und vollständig habe erreichen können. Mehrerer Fortsetzungsfeststellungsklagen, jeweils zur Feststellung, dass gleichartiges behördliches Handeln die Rechte des Antragstellers — immer wieder — verletze, habe es bei dieser Sachlage möglicherweise nicht bedurft, um die Rechte des Antragstellers gegenüber der Stadt Wiesbaden zu wahren. Dabei spiele es keine entscheidende Rolle, dass die vorliegende Klage zeitlich früher anhängig gemacht worden sei, das Gericht aber (als Musterverfahren) zunächst das Verfahren Χ/2 E 303/91 entschieden habe. Dieser Umstand ändere nichts daran, dass es sich um gleich gelagerte Sachverhalte gehandelt habe und der Antragsteller in jedem Verfahren die Klärung derselben Rechtsfragen erstrebt habe, die nach Ansicht des Gerichts aller Voraussicht nach in einem Verfahren umfassend und abschließend hätten geklärt werden können. Allerdings spreche in der Sache einiges dafür, dass die bisherige — und nun geänderte — behördliche Praxis des Umgangs mit Großkundgebungen nicht in allen LVerfGE 11
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Punkten die Rechte der Anwohner hinreichend berücksichtigt habe. Von daher erscheine eine Kostenaufhebung sachgerecht und angemessen. Einer ins Einzelne gehenden Prüfung der Zulässigkeit bzw. Begründetheit der Klage habe es nach Erledigung der Hauptsache nicht (mehr) bedurft, weil das Gericht im Rahmen der Kostenentscheidung nicht gehalten sei, schwierige Rechtsfragen zu klären oder weitere Sachverhaltsfeststellungen zu treffen. Der Beschluss vom 4. Mai 1998 im Verfahren 1 E 298/90 (V) wurde dem Antragsteller am 11. Mai 1998 zugestellt, der Beschluss vom selben Tag im Verfahren 1 E 432/90 (V) am 7. Mai 1998. Beide Beschlüsse enthalten eine Rechtsmittelbelehrung, nach der sie mit Ausnahme der in ihnen enthaltenen Streitwertfestsetzungen unanfechtbar sind. Mit am 3. Juni 1998 beim VG Wiesbaden eingegangenem Schreiben vom 25. Mai 1998 erhob der Antragsteller Gegenvorstellung, hilfsweise Beschwerde gegen die Einstellungsbeschlüsse vom 4. Mai 1998. Zur Begründung berief er sich auf Verletzungen seines Anspruchs auf rechtliches Gehör. Eine Grundrechtsverletzung sah er zunächst darin, dass das VG Wiesbaden ihn nicht auf die den Einstellungsbeschlüssen zugrunde liegende, aber unvertretbare Rechtsauffassung hingewiesen habe, nach der ein Feststellungsinteresse für eine früher erhobene Klage infolge einer gerichtlichen Entscheidung über eine inhaltlich ähnlich gelagerte, aber später erhobene Klage entfalle. Die auf dieser Rechtsauffassung basierenden Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Wiesbaden stellten gehörswidrige Überraschungsentscheidungen dar. Eine weitere Gehörsverletzung liege darin, dass ihm keine angemessene Frist eingeräumt worden sei, um zu einem Schriftsatz der Stadt Wiesbaden vom 21. April 1998 bis zur Beschlussfassung des Gerichts am 4. Mai 1998 Stellung zu nehmen. Das VG Wiesbaden wies die Gegenvorstellungen des Antragstellers mit Beschlüssen vom 17. Juli 1998 - 1 E 298/90 (V) und 1 E 432/90 (V) - zurück. In den gleichlautenden Beschlüssen ist ausgeführt, dass die vom Antragsteller vorgetragenen Gründe nicht geeignet seien, das Gericht zu einer anderen Sachentscheidung zu veranlassen. Das Gericht habe im Beschluss vom 4. Mai 1998 keine abschließende Entscheidung über den Verfahrensausgang zu treffen, sondern über die Kosten nach billigem Ermessen zu entscheiden gehabt. Das habe es getan und lediglich Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit wiederholter Fortsetzungsfeststellungsklagen mit gleicher Zielrichtung aufgezeigt. Diese Bedenken seien bei der Kostenverteilung zu berücksichtigen und zu gewichten gewesen. Die Zulässigkeitsbedenken habe das Gericht den Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Auflagenbescheide der Stadt Wiesbaden gegenübergestellt und die Kosten gegeneinander aufgehoben. Das sei schon im Hinblick darauf, dass im Falle der Unzulässigkeit der Klage eine Prüfung der Begründetheit von vornherein ausscheide, sachgerecht. Im übrigen werde die Kostenaufhebung bei offenem Verfahrensausgang allgemein als angemessen erachtet. Zwar wirke die Erledigterklärung hinsichtlich des Streitgegenstandes auf den Zeitpunkt der Klageerhebung zurück, die Kostenentscheidung nach § 161 Abs. 2 VwGO sei aber nach der LVerfGE 11
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Beurteilung des voraussichtlichen Ausgangs des Verfahrens im Entscheidungszeitpunkt zu treffen. Insoweit könne dem Argument des Antragstellers, die gerichtliche Entscheidung einer später erhobenen Klage könne auf die Zulässigkeit einer früher erhobenen keinen Einfluss haben, nicht gefolgt werden. Die vom Antragsteller aufrechterhaltenen außerordentlichen Beschwerden wies der Hessische Verwaltungsgerichtshof mit gleichlautenden Beschlüssen vom 28. September 1998 - 11 Ί Έ 3496/98 und 11 TE 3497/98 - zurück. Eine außerordentliche Beschwerde gegen eine mit Rechtsmitteln nicht mehr anfechtbare Entscheidung des Gerichts sei nur dann ausnahmsweise zulässig, wenn sie sich gegen eine Entscheidung richte, die wegen schwerwiegender Mängel von greifbarer Gesetzwidrigkeit geprägt sei. Es müsse sich um eine Entscheidung handeln, die offensichtlich mit der geltenden Rechtsordnung schlechthin unvereinbar sei, weil sie jeder gesetzlichen Grundlage entbehre und dem Gesetz inhaltlich fremd sei. Für das Verwaltungsstreitverfahren sei nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts offen, ob der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Zulässigkeit einer außerordentlichen Beschwerde in den genannten Ausnahmefällen zu folgen sei. Auch wenn man von der grundsätzlichen Möglichkeit einer außerordentlichen Beschwerde unter den genannten Voraussetzungen ausgehe, lägen diese im vorliegenden Fall jedoch nicht vor. Soweit der Antragsteller die außerordentliche Beschwerde damit begründe, dass sein Anspruch auf rechtliches Gehör im vorliegenden Verfahren verletzt worden sei, weil er nicht ausreichend Möglichkeit gehabt habe, auf den Schriftsatz der Stadt Wiesbaden vom 21. April 1998 zu antworten, könne er damit nicht durchdringen. Zum einen sei die Verletzung rechtlichen Gehörs keiner der Gesichtspunkte, die zur Zulässigkeit einer außerordentlichen Beschwerde führten. Zum anderen sei dieser Vortrag auch dadurch gegenstandslos geworden, dass der Antragsteller zu dem Vorbringen der Stadt Wiesbaden in seinen auf den Beschluss des VG vom 4. Mai 1998 bezogenen Schriftsätzen vom 7. Mai, 25. Mai und 19. Juni 1998 ausführlich Stellung genommen habe und das VG unter Berücksichtigung des Inhalts dieser Schriftsätze seinen Beschluss vom 17. Juli 1998 über die Zurückweisung der Gegenvorstellung des Antragstellers gegen den Beschluss vom 4. Mai 1998 gefasst habe. Soweit der Antragsteller im übrigen meine, das VG habe in seinem Beschluss vom 4. Mai 1998 eine andere Kostenentscheidung treffen müssen, reiche dies für die Begründung der Statthaftigkeit einer außerordentlichen Beschwerde nicht aus. Der Umstand, dass ein Beteiligter eine andere als die von einem Gericht in einer Entscheidung dargelegte Auffassung vertrete, begründe nicht die Zulässigkeit der auf wirkliche Ausnahmefalle krassen Unrechts beschränkten außerordentlichen Beschwerde. Selbst wenn eine gerichtliche Entscheidung auf einer eindeutig fehlerhaften Gesetzesanwendung beruhe, entbehre sie damit doch nicht jeder gesetzlichen Grundlage und vermöge dann auch nicht die Statthaftigkeit eines im Gesetz nicht vorgesehenen Rechtsmittels zu begründen. Unabhängig davon, dass der Antragsteller auch nicht dargelegt habe, dass der verwaltungsgerichtliche Beschluss vom 4. Mai 1998 unter Berücksichtigung des Beschlusses vom 17. Juli 1998 auf einer eindeutig fehlerhaften LVerfGE 11
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Gesetzesanwendung beruhe, lägen jedenfalls die Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer außerordentlichen Beschwerde nicht vor. Ergänzend solle nur darauf hingewiesen sein, dass der Umstand, dass das Verwaltungsgericht unter Abwägung aller für eine Ermessensentscheidung nach § 161 Abs. 2 VwGO zu berücksichtigenden Gesichtspunkte in einem bestimmten Punkt eine andere Auffassung als die von einem Senat des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs in einem Einstellungsbeschluss vertretene Rechtsmeinung vertrete, auf keinen Fall eine eindeutig fehlerhafte Gesetzesanwendung darstelle. Am 2. November 1998 hat der Antragsteller Grundrechtsklage beim Staatsgerichtshof erhoben. Er rügt Verletzungen des Willkürverbots, des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs sowie des Rechts auf effektiven Rechtsschutz durch die Beschlüsse des VG Wiesbaden vom 4. Mai 1998 und vom 17. Juli 1998 sowie die Beschlüsse des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 28. September 1998. Es sei gesetz- und verfassungswidrig, wenn ein Gericht eine früher erhobene Klage als unzulässig mangels Rechtsschutzbedürfnisses qualifiziere, nur weil es eine später erhobene Klage, in der es um vergleichbare Rechtsfragen gehe, als Musterfall vorgezogen habe. Das VG habe das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt, weil es von der Identität der Streitgegenstände der älteren und der jüngeren, aber früher entschiedenen Klage ausgehe, sich jedoch mit keinem Wort mit dem Argument des Antragstellers im Schriftsatz vom 27. Mai 1991 auseinandersetze, in welchem er auf die Unterschiede der Streitgegenstände hingewiesen habe. Zudem werde ihm mit den angefochtenen Entscheidungen im Ergebnis effektiver Rechtsschutz verweigert. Aufgrund der Zweifel des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs an der Zulässigkeit vorbeugenden Rechtsschutzes sei er auf die Fortsetzungsfeststellungsklage als praktisch einzige Rechtsschutzmöglichkeit verwiesen. Diese ihm verbleibende Rechtsschutzmöglichkeit werde aber praktisch entwertet, wenn die beklagte Stadt Wiesbaden durch Änderung ihrer Verwaltungspraxis die Erledigung der Verfahren erreichen könne und dies die Folge habe, dass die Kostenentscheidung auf der Grundlage von fehlerhaften und der Rechtsprechung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs entgegenstehenden Erwägungen zu seinen Lasten gehe. Schließlich seien die Entscheidungen des VG auch objektiv willkürlich, weil es in anderen Verfahren eine gänzlich andere Rechtsauffassung vertreten habe. Seine Grundrechtsklage sei auch nicht verfristet. Die Frist zur Erhebung der Grundrechtsklage habe mit der Zustellung der Entscheidungen des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 28. September 1998 am 2. Oktober 1998 erneut zu laufen begonnen. Denn bei der dargelegten Intensität der Rechtsverletzungen sei die von ihm eingelegte außerordentliche Beschwerde nicht offensichtlich aussichtslos gewesen. Er habe diesen Rechtsbehelf ergreifen müssen, um dem Grundsatz der Subsidiarität der Grundrechtsklage zu genügen. Im am 14. April 1999 beim Staatsgerichtshof eingegangenen Schreiben vom 13. April 1999 führte der Antragsteller weiterhin aus, dass es für die Zulässigkeit und LVerfGE 11
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Begründetheit der Grundrechtsklage ohne Relevanz sei, ob die Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs, nach der der außerordentliche Rechtsbehelf unzulässig sei, gegen ein Grundrecht verstoße. Die Grundrechtsklage müsse sich nicht gegen diese Entscheidung richten, sondern es genüge im Hinblick auf die fehlende Sachprüfung durch den Hessischen Verwaltungsgerichtshof wegen der vermeintlichen Unzulässigkeit der außerordentlichen Beschwerden ein Grundrechtsverstoß der angefochtenen Ausgangsentscheidungen, dem nicht abgeholfen worden sei. Deshalb sei auch nicht vertieft der im übrigen offenkundige Umstand dargelegt worden, dass der Hessische Verwaltungsgerichtshof seine zentralen Rügen (Verstoß gegen Art. 3 GG, insbesondere durch eine entscheidungstragende rechtliche Erwägung, die offensichtlich und ausdrücklich § 17 Abs. 1 GVG und § 261 Abs. 3 ZPO widerspreche) nicht nachvollziehbar behandelt habe. Mit am 11. November 1999 beim Staatsgerichtshof eingegangenem Schreiben vom 10. November 1999 hat der Antragsteller vorsorglich Antrag auf Wiedereinsetzung gestellt und hierzu die tatsächliche Entwicklung eines weiteren Klageverfahrens beim VG Wiesbaden - 1 E 236/98 - geschildert. Einen weiteren Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sowohl im Hinblick auf eine etwaige Versäumung der Grundrechtsklagefrist als auch bezüglich von Begründungsfristen hat der Antragsteller mit am 7. Februar 2000 beim Staatsgerichtshof eingegangenem Schreiben vom selben Tag gestellt. Als Wiedereinsetzungsgrund legte der Antragsteller in diesem Schreiben die weitere Entwicklung des Verfahrens 1 E 236/98 sowie die dort getroffene Entscheidung dar. Der Antragsteller beantragt sinngemäß, — hilfsweise unter Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumens der Grundrechtsklagefrist 1. festzustellen, dass die Beschlüsse des V G Wiesbaden vom 4. Mai 1998 - 1 E 298/ 90 (V) und 1 E 432/90 (V) - und vom 17. Juli 1998 - 1 E 298/90 (V) und 1 E 432/90 (V) - sowie die Beschlüsse des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 28. September 1998 - 11 TE 3496/98 und 11 TE 3497/98 - das Gleichheitsgrundrecht des Art. 1 HV in dessen Ausprägung als Willkürverbot, das Recht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 2 Abs. 3 HV sowie das Grundrecht auf Menschwürde und das Rechtsstaatsgebot in deren Ausprägung als Grundrecht auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzen, 2. diese Beschlüsse des V G Wiesbaden und des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs für krafdos zu erklären und den Rechtsstreit an das V G Wiesbaden zurückzuverweisen.
II. Die Landesregierung hält die Grundrechtsklage für unzulässig. Der Antragsteller habe die Frist zur Erhebung der Grundrechtsklage gegen die Beschlüsse des VG Wiesbaden vom 4. Mai 1998, die die maßgeblichen verfahrensabschließenden EntscheiLVerfGE 11
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düngen iSd § 45 Abs. 1 S. 2 des Gesetzes über den Staatsgerichtshof - StGHG — seien, versäumt. Die Monatsfrist zur Einreichung der Grundrechtsklage sei auch durch die Entscheidungen über die Gegenvorstellungen sowie über die außerordentlichen Beschwerden des Antragstellers weder unterbrochen noch neu in Lauf gesetzt worden. Selbst wenn man die Gegenvorstellungen hier ausnahmsweise als formlose Rechtsbehelfe zulassen wollte mit der Folge, dass die Frist zur Einreichung der Grundrechtsklage mit dem Zugang der auf die Gegenvorstellungen ergangenen Beschlüsse vom 17. Juli 1998 beginnen würde, wäre die Grundrechtsklage wegen der Versäumung der Monatsfrist unzulässig. Denn die Beschlüsse des VG Wiesbaden vom 17. Juli 1998 seien dem Antragstellervertreter am 11. August 1998 zugestellt worden. Die Grundrechtsklage sei aber erst am 2. November 1998 beim Staatsgerichtshof eingegangen. Ob im verwaltungsgerichtlichen Verfahren eine außerordentliche Beschwerde zulässig sei, sei der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht eindeutig zu entnehmen. Einfluss auf den Lauf der Grundrechtsklagefrist könne ein derartiger außerordentlicher Rechtsbehelf jedenfalls dann nicht nehmen, wenn seine Voraussetzungen — wie im Fall des Antragstellers - offensichtlich nicht gegeben seien. Auf eine Verletzung rechtlichen Gehörs könne eine außerordentliche Beschwerde nicht gestützt werden, da insofern eine Selbstkorrektur des Gerichts auf eine Gegenvorstellung hin möglich sei. Eine greifbare Gesetzwidrigkeit der Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Wiesbaden im Sinne einer grundsätzlichen Unvereinbarkeit mit der geltenden Rechtsordnung habe der Antragsteller nicht dargelegt, sie sei auch nicht ersichtlich. Ferner habe der Antragsteller Grundrechtsverletzungen durch die Beschlüsse des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 28. September 1998 nicht hinreichend substantiiert. III. Die Landesanwaltschaft hat erklärt, sich an dem Verfahren über die Grundrechtsklage des Antragstellers nicht zu beteiligen. IV. Die Verfahrensakten des Verwaltungsgerichts Wiesbaden (5 Pendelhefter) sind vom Staatsgerichtshof beigezogen worden. Β I. Die Grundrechtsklage ist unzulässig. Die gegen die Beschlüsse des VG Wiesbaden vom 4. Mai 1998 - 1 E 298/90 (V) und 1 E 432/90 (V) — gerichtete Grundrechtsklage wahrt nicht die Frist des § 45 Abs. 1 StGHG. LVerfGE 11
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Die Grundrechtsklage ist innerhalb eines Monats einzureichen, § 45 Abs. 1 S. 1 StGHG. Nach § 45 Abs. 1 S. 2 S t G H G beginnt die Frist mit der schriftlichen Bekanntgabe der vollständigen Entscheidung des höchsten in der Sache zuständigen Gerichts des Landes Hessen an die antragstellende Person. Das höchste in der Sache zuständige Gericht des Landes Hessen in diesem Sinne ist das Gericht, mit dessen Entscheidung der Rechtsweg erschöpft ist. Dies folgt aus dem Regelungszusammenhang mit § 44 Abs. 1 S. 1, 2 und 3 StGHG. Nach § 44 Abs. 1 S. 1 S t G H G kann die Grundrechtsklage, wenn für ihren Gegenstand der Rechtsweg zulässig ist, nämlich erst erhoben werden, wenn der Rechtsweg erschöpft ist. Der Staatsgerichtshof prüft demgemäß nur, ob die Entscheidung des höchsten in der Sache zuständigen Gerichts (des Landes Hessen) auf der Verletzung eines von der Verfassung des Landes Hessen gewährten Grundrechts beruht, § 44 Abs. 1 S. 2 und 3 StGHG. Für die vom Antragsteller mit der Grundrechtsklage angegriffenen Kostenentscheidungen war das V G Wiesbaden das höchste in der Sache zuständige Gericht. Eine Kostenentscheidung nach § 161 Abs. 2 V w G O ist — da eine Entscheidung in der Hauptsache nicht ergangen ist — gem. § 158 Abs. 2 V w G O unanfechtbar. Damit ist gegen sie ein Rechtsweg, d.h. eine gesetzlich normierte Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts (StGH, Urt. v. 3.5.1999 - P.St. 1296 - , StAnz. 1999,1790,1794; BVerfGE 67, 157,170; BayVerfGH, NJW 1994, 575), nicht gegeben. Die sonach den Prüfungsgegenstand des Verfahrens des Staatsgerichtshofs bildenden Beschlüsse des VG Wiesbaden vom 4. Mai 1998 - 1 E 298/90 (V) und 1 E 432/90 (V) - wurden dem Antragsteller am 11. Mai 1998 bzw. am 7. Mai 1998 zugestellt. Die Monatsfrist zur Erhebung der Grundrechtsklage endete mit Ablauf des 12. Juni 1998, da der 11. Juni 1998 in Hessen gesetzlicher Feiertag war, bzw. mit Ablauf von Montag, dem 8. Juni 1998. Die Grundrechtsklage des Antragstellers ging beim Staatsgerichtshof erst am 2. November 1998 und damit nach Fristablauf ein. Die Frist zur Erhebung der Grundrechtsklage wurde auch nicht durch die vom Antragsteller erhobenen Gegenvorstellungen und außerordentlichen Beschwerden gegen die mit der Grundrechtsklage angegriffenen Beschlüsse des V G Wiesbaden vom 4. Mai 1998 - 1 E 298/90 (V) und 1 E 432/90 (V) - offen gehalten. Der hessische Gesetzgeber hat in § 45 Abs. 1 S t G H G den Lauf der Klagefrist allein an die schriftliche Bekanntgabe der Entscheidung des höchsten in der Sache zuständigen hessischen Gerichts an die antragstellende Person und damit an die Erschöpfung des Rechtswegs geknüpft. Eine Beeinflussung des Laufs dieser Frist durch die Einlegung außerordentlicher Rechtsbehelfe scheidet damit aus (vgl. StGH, Beschluss vom 11.1.2000 - P.St. 1331 - ; Beschl. v. 4.4.2000 - P.St. 1413 und 1422 - ) , und zwar auch dann, wenn diese wegen des Grundsatzes der Subsidiarität geboten sein sollte. Dies gilt gleichermaßen für die grundsätzlich unbefristet mögliche Erhebung von Gegenvorstellungen wie für die Einlegung von außerordentlichen Beschwerden wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit, selbst wenn diese — ihre Statthaftigkeit im Verwaltungsprozess unterstellt — als fristgebunden anzusehen sein sollten (vgl. Meyer-Ladewig in: Schoch/Schmidt-Aßmann/
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Prüfungsgegenstand und Frist bei Grundrechtsklage
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Pietzner, VwGO, Vorb. § 124 Rn. 12; Schmidt m·. Eyermann, VwGO, 10. Aufl., § 124 Rn. 12; für die entsprechende Fragestellung im Zivilprozess Zöller-Gummer ZPO, 21. Aufl., § 567 Rn. 21 mwN). Dem Antragsteller kann auch weder von Amts wegen noch auf seine mit Schriftsätzen vom 10. November 1999 und vom 7. Februar 2000 gestellten Anträge hin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Erhebung der Grundrechtsklage gewährt werden. Nach § 25 Abs. 2 Satz 1 StGHG ist auf Antrag in den vorigen Stand einzusetzen, wer glaubhaft macht, ohne Verschulden verhindert gewesen zu sein, eine Frist nach diesem Gesetz einzuhalten, innerhalb derer ein Antrag zu stellen war. Der Antragsteller war nicht ohne Verschulden verhindert, die Monatsfrist des § 45 Abs. 1 StGHG zu wahren. Verschuldet ist eine Fristversäumung, wenn ein Antragsteller die Sorgfalt außer Acht gelassen hat, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Prozessfuhrenden geboten ist und die ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falles zuzumuten war (vgl. StGH, Beschl. v. 11.1.2000 - P.St. 1331 - ) . Die Versäumung der Frist zur Erhebung der Grundrechtsklage nach § 45 Abs. 1 StGHG mag durch den Rechtsirrtum des Antragstellers veranlasst gewesen sein, dass diese Frist durch die Einlegung außerordentlicher Rechtsbehelfe wie der Gegenvorstellung oder der außerordentlichen Beschwerde unterbrochen wird und mit Bekanntgabe der fachgerichtlichen Entscheidungen über die jeweiligen außerordentlichen Rechtsbehelfe neu zu laufen beginnt. Eine derartige Rechtsfolge der Einlegung außerordentlicher Rechtsbehelfe konnte der Antragsteller dem Wortlaut des § 45 Abs. 1 StGHG indessen nicht entnehmen. Die Auffassung, nach der eine Einlegung außerordentlicher Rechtsbehelfe Einfluss auf die Frist zur Erhebung der Grundrechtsklage nimmt, findet sich auch in der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs nicht. Zu der dem § 45 Abs. 1 StGHG entsprechenden Vorschrift des Art. 51 Abs. 2 S. 2 des Gesetzes über den Bayerischen Verfassungsgerichtshof, wonach die Verfassungsbeschwerde spätestens zwei Monate nach der schriftlichen Bekanntgabe der vollständigen letztgerichtlichen Entscheidung an den Beschwerdeführer beim Verfassungsgerichtshof einzureichen ist, hatte der Bayerische Verfassungsgerichtshof festgestellt, dass die durch den Grundsatz der Subsidiarität gebotene Ausschöpfung nicht zum Rechtsweg gehöriger Rechtsbehelfe nicht von der Pflicht entbinde, die Beschwerdefrist einzuhalten. Diese Entscheidung vom 10. Oktober 1997 wurde in Heft 16 der Neuen Juristischen Wochenschrift vom 15. April 1998 (NJW 1998, 1136f) und damit vor Ablauf der Frist zur Erhebung dieser Grundrechtsklage veröffentlicht. Bei dieser Sachlage konnte der Antragsteller nicht darauf vertrauen, dass die vom Bundesverfassungsgericht zur Verfassungsbeschwerde entwickelte Rechtsprechung, nach der die Monatsfrist des § 93 Abs. 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht durch die fachgerichtliche Entscheidung über einen außerordentlichen Rechtsbehelf, der nicht offensichtlich unzulässig ist, neu in Lauf gesetzt werden kann (vgl. insbesondere BVerfG, NJW 1997,46 f), ohne weiteres auf die Frist zur Erhebung der Grundrechtsklage nach § 45 Abs. 1 StGHG übertragbar ist. Unter diesen Umstän-
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den hätte die zumutbare Sorgfalt den anwaltlich vertretenen Antragsteller dazu veranlassen müssen, zur Vermeidung von Rechtsnachteilen auch die Grundrechtsklage fristwahrend zu erheben. Dies hat er vorwerfbar nicht getan. Die auf die Gegenvorstellungen des Antragstellers ergangenen Beschlüsse des VG Wiesbaden vom 17. Juli 1998 - 1 E 298/90 (V) und 1 E 432/90 (V) - sowie die die außerordentlichen Beschwerden des Antragstellers zurückweisenden Beschlüsse des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 28. September 1998 — 11 TE 3496/98 und 11 TE 3497/98 — sind vom Antragsteller nicht in einer zulässigen Weise angegriffen worden. Denn dass diese eine selbständige grundrechtsrelevante Beschwer enthielten, wird vom Antragsteller selbst nicht behauptet. II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 28 StGHG.
Nr. 3 1. Das Wahlprüfungsgericht ist ein parlamentarisches Wahlprüfungsorgan, kein Gericht im Sinne des Art. 126 HV. 2. Verletzungen seines grundrechtlich geschützten aktiven und passiven Wahlrechts kann der Bürger in Hessen mit der Grundrechtsklage gegen die Entscheidung des Wahlprüfungsgerichts vor dem Staatsgerichtshof geltend machen. 3. Gegenüber Entscheidungen des Wahlprüfungsgerichts greift mangels Gerichtsqualität dieses Gremiums eine Beschränkung der Kontrolldichte des Staatsgerichtshofs nicht ein. HV Art. 3, Art. 78, Art. 126 Beschluss vom 9. August 2000 - P.St. 1547 auf die Anträge von Mitgliedern des Hessischen Landtags wegen Verletzung von Grundrechten Entscheidungs formel: Die Anträge werden zurückgewiesen. Gerichtskosten werden nicht erhoben, außergerichtliche Kosten nicht erstattet. LVerfGE 11
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Gründe: A I. Die Antragsteller wenden sich mit der Grundrechtsklage gegen Verfahrenshandlungen des Wahlprüfungsgerichts bei der Prüfung der Gültigkeit der Wahlen zum 15. Hessischen Landtag. Die Antragsteller sind Abgeordnete im 15. Hessischen Landtag. Das Wahlprüfungsgericht beim Landtag stellte durch Urteil vom 1. Juli 1999 - 1 0 4 / 2 - 1 9 9 9 - (StAnz. 1999, 2350) die Gültigkeit der Wahlen zum Hessischen Landtag vom 7. Februar 1999 fest. Mit Beschluss vom 3. März 2000 entschied das Wahlprüfungsgericht, das Verfahren zur Prüfung der Gültigkeit der Wahlen wieder aufzunehmen. Die Antragsteller lehnten mit Schreiben vom 28. März 2000 die beiden berufsrichterlichen Mitglieder des Wahlprüfungsgerichts sowie einen Vertreter eines berufsrichterlichen Mitglieds wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Mit Beschluss vom 29. Juni 2000 verwarf das Wahlprüfungsgericht die Ablehnungsgesuche der Antragsteller als unzulässig, da diese nicht Beteiligte des Verfahrens vor dem Wahlprüfungsgericht seien. Am 13. Juli 2000 haben die Antragsteller beim Staatsgerichtshof Grundrechtsklage erhoben. Sie rügen eine Verletzung ihres grundrechtlich verbürgten passiven Wahlrechts und ihres Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Ihr passives Wahlrecht werde dadurch verletzt, dass das Wahlprüfungsgericht außerhalb des Gesetzes zielgerichtet die Entziehung ihrer Mandate betreibe. Die Ablehnung ihrer Beteiligung im Verfahren des Wahlprüfungsgerichts und die darauf beruhende Verwerfung ihrer Befangenheitsanträge durch das Wahlprüfungsgericht verletzten sowohl ihren Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs als auch ihr passives Wahlrecht. Die Antragsteller beantragen sinngemäß festzustellen, dass die Ablehnung ihrer Beteiligung im wieder aufgenommenen Verfahren zur Prüfung der Wahlen zum Hessischen Landtag vom 7. Februar 1999 und die Verwerfung ihrer Befangenheitsanträge vom 28. März 2000 durch Beschluss des Wahlprüfungsgerichts vom 29. Juni 2000 ihr passives Wahlrecht aus Art. 75 Abs. 2 iVm Art. 73 der Verfassung des Landes Hessen (kurz: Hessische Verfassung - HV - ) und ihren Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs nach Art. 3 HV iVm dem Rechtsstaatsprinzip verletzen. Wegen der Einzelheiten des Vorbringens der Antragsteller wird auf die Antragsschrift vom 13. Juli 2000 Bezug genommen. II. Der Landesregierung und der Landesanwaltschaft ist Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden. LVerfGE 11
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Β I. Die Grundrechtsklage ist unzulässig, soweit die Antragsteller eine Verletzung ihres passiven Wahlrechts durch ein auf die Entziehung ihrer Mandate abzielendes, sich außerhalb des geltenden Rechts bewegendes Vorgehen des Wahlprüfungsgerichts behaupten. Im übrigen ist die Grundrechtsklage offensichtlich unbegründet. Die mit der Grundrechtsklage erhobene Rüge einer auf Mandatsentziehung abzielenden Verfahrensweise des Wahlprüfungsgerichts genügt nicht den Anforderungen des § 43 Abs. 1 und 2 des Gesetzes über den Staatsgerichtshof — StGHG —. Diese Vorschrift verlangt vom Antragsteller die substantiierte Schilderung eines Sachverhalts, aus dem sich — seine Richtigkeit unterstellt — plausibel die Möglichkeit einer Verletzung von durch die Hessische Verfassung gewährleisteten Grundrechten ergibt (st. Rspr. des StGH, vgl. etwa Urt. v. 3.5.1999 - P.St. 1296 - , NVwZ 2000, 430, 431; Beschl. v. 18.8.1999 - P.St. 1391 - , NZM 2000,179). Die Antragsteller haben die behauptete Zielrichtung des Vorgehens des Wahlprüfungsgerichts nicht hinreichend mit Tatsachen belegt, die eine entsprechende Schlussfolgerung zulassen würden. Insbesondere läßt sich dies nicht damit begründen, dass das Wahlprüfungsgericht ohne Beachtung der Vorgaben des § 15 Abs. 1 des Wahlprüfungsgesetzes vom 5. August 1948 (GVB1. S. 93), geändert durch Gesetz vom 4. Juli 1962 (GVB1. S. 314),-WahlprüfungsG-eine Überprüfung der gesamten Wahlen zum Hessischen Landtag vornähme. Es kann unentschieden bleiben, ob Art. 78 HV oder § 15 Abs. 1 WahlprüfungsG einer Überprüfung der gesamten Wahl in allen Wahlbezirken entgegenstehen. Jedenfalls würde eine insoweit fehlerhafte Auslegung des Art. 78 HV oder des Wahlprüfungsgesetzes durch das Wahlprüfungsgericht für sich nicht den Schluss auf die Durchführung eines Wahlprüfungsverfahrens mit dem vorab festgelegten Ergebnis zulassen, den Antragstellern („extra legem") ihre Mandate zu entziehen. Die Grundrechtsklage ist zulässig, soweit die Antragsteller eine Verletzung ihres passiven Wahlrechts und ihres Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs durch die Versagung der Beteiligtenstellung im Wahlprüfungsverfahren vor dem Wahlprüfungsgericht und die hierauf beruhende Verwerfung ihres Ablehnungsgesuchs rügen. Die Antragsteller sind insofern nach § 43 Abs. 1 und 2 StGHG antragsbefugt. Das angegriffene Verhalten des Wahlprüfungsgerichts ist Ausübung öffentlicher Gewalt des Landes Hessen. Die Antragsteller haben eine mögliche Verletzung der von ihnen benannten Grundrechte durch die unterbliebene Einräumung einer Beteiligtenstellung und die Verwerfung ihres Ablehnungsgesuchs im Wahlprüfungsverfahren nachvollziehbar dargelegt. Auch das Gebot der Rechtswegerschöpfung nach § 44 Abs. 1 StGHG steht der Grundrechtsklage insofern nicht entgegen. Denn ein Rechtsweg iSd § 44 Abs. 1 StGHG, d.h. eine gesetzlich normierte Möglichkeit der Anrufung eines Fachgerichts (vgl. StGH, Urt. v. 3.5.1999 - P.St. 1296 - , NVwZ 2000,430,431), ist weder gegen die LVerfGE 11
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Versagung der Beteiligtenstellung der Antragsteller im Wahlprüfungsverfahren noch gegen die Verwerfung ihres Ablehnungsgesuchs eröffnet. Der Verwaltungsrechtsweg scheidet aus, da Streitigkeiten über die Gültigkeit von Wahlen zum Parlament und damit auch über die Gestaltung des insoweit eingeschlagenen Verfahrens verfassungsrechtlicher Natur sind. Das Wahlprüfungsgesetz selbst enthält keine Regelung, nach der gegen Maßnahmen des Wahlprüfungsgerichts die Fachgerichte angerufen werden könnten. Die auf die Verletzung des passiven Wahlrechts und des Anspruchs auf rechtliches Gehör gestützte Grundrechtsklage der Antragsteller ist jedoch offensichtlich unbegründet. Denn beide Grundrechte der Hessischen Verfassung verlangen nicht die Beteiligung der Antragsteller am Wahlprüfungsverfahren vor dem Wahlprüfungsgericht. Das Grundrecht auf rechtliches Gehör wird in der Hessischen Verfassung nicht ausdrücklich erwähnt. Aus dem der Hessischen Verfassung zugrunde liegenden Rechtsstaatsprinzip folgt jedoch als objektiver Verfahrensgrundsatz, dass der Betroffene vor Gericht Gehör finden muss. Eine solche Verfahrensposition des Betroffenen ist für ein rechtsstaatliches Gerichtsverfahren grundsätzlich unabdingbar. Das Gehörsrecht vor Gericht ist zugleich Bestandteil der durch Art. 3 HV für unantastbar erklärten Würde des Menschen und hat Grundrechtscharakter (st. Rspr. des StGH, vgl. etwa Beschl. v. 13.1.1988 - P.St. 1039 - , StAnz. 1988,1873; Urt. v. 5.4.2000 - P.St. 1302 - , StAnz. 2000,1840). Eine Verletzung des den Antragstellern garantierten Gehörsrechts vor Gericht durch die angegriffene Verfahrensweise des Wahlprüfungsgerichts scheidet aus, da das Wahlprüfungsgericht kein Gericht iSd Art. 126 HV ist. Nach Art. 126 Abs. 1 HV wird die rechtsprechende Gewalt ausschließlich durch die nach den Gesetzen bestellten Gerichte ausgeübt. Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen, Art. 126 Abs. 2 HV. Gerichte sind danach Organe des Staates, die speziell zu dem Zweck geschaffen sind, Aufgaben staatlicher Rechtsprechung wahrzunehmen. Ihre Mitglieder sind Richter, also Organwalter, die durch organisatorische Selbständigkeit, persönliche und sachliche Unabhängigkeit sowie Neutralität und Distanz gegenüber den Verfahrensbeteiligten gekennzeichnet sind (vgl. BVerfGE 18, 241, 254 f). Dem Wahlprüfungsgericht kommt hiernach aufgrund seiner Stellung im System der Gewaltenteilung sowie seiner personellen Zusammensetzung keine Gerichtsqualität zu. Nach Art. 78 Abs. 1 S. 1 HV prüft ein beim Landtag gebildetes Wahlprüfungsgericht die Gültigkeit der Wahlen. Das Wahlprüfungsgericht besteht aus den beiden höchsten Richtern des Landes und drei vom Landtag für seine Wahlperiode gewählten Abgeordneten, Art. 78 Abs. 3 HV. Art. 78 HV steht im vierten Abschnitt „Der Landtag" des zweiten Hauptteils „Aufbau des Landes Hessen" der Hessischen Verfassung. Bereits der Wortlaut des Art. 78 Abs. 1 S. 1 HV und die Stellung der Norm im Abschnitt über den Landtag legen nahe, dass die Wahlprüfung durch das Wahlprüfungsgericht dem Landtag als parlamentarische Aufgabe zugewiesen ist, die lediglich durch ein spezifisch zusammengesetztes Gremium wahrgenommen wird. LVerfGE 11
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Der Befund, dass das Wahlprüfungsgericht im System der Gewaltenteilung zuvörderst der gesetzgebenden, nicht der rechtsprechenden Gewalt zuzuordnen ist, wird durch die historische Auslegung bestärkt. Art. 78 HV knüpft entstehungsgeschichtlich an Art. 31 der Weimarer Reichsverfassung an. Art. 31 der Weimarer Reichsverfassung lautet in den hier interessierenden Passagen: „Bei dem Reichstag wird ein Wahlprüfungsgericht gebildet. Es entscheidet auch über die Frage, ob ein Abgeordneter die Mitgliedschaft verloren hat. Das Wahlprüfungsgericht besteht aus Mitgliedern des Reichstags, die dieser für die Wahlperiode wählt, und aus Mitgliedern des Reichsverwaltungsgerichts, die der Reichspräsident auf Vorschlag des Präsidiums dieses Gerichts bestellt. Das Wahlprüfungsgericht erkennt auf Grund öffentlicher mündlicher Verhandlung durch drei Mitglieder des Reichstags und zwei richterliche Mitglieder." In den Beratungen zur Hessischen Verfassung wurde erörtert, ob die Wahlprüfung Sache des Parlaments sei oder ob sie sogleich dem Staatsgerichtshof anzuvertrauen sei (vgl. Sitzung des vom Verfassungsausschuss eingesetzten Siebener-Ausschusses vom 20.9.1946 in: Berding (Hrsg.), Die Entstehung der Hessischen Verfassung von 1946, 1996, Dokument 47, S. 702 f; Verhandlungen des Verfassungsausschusses der Verfassungsberatenden Landesversammlung Hessen, Sitzung vom 24.9.1946, Berding aaO, Dokument 51, S. 758 ff). Die Entscheidung fiel zugunsten eines beim Landtag zu bildenden Wahlprüfungsgerichts aus, in dem zahlenmäßig die parlamentarischen die berufsrichterlichen Mitglieder überwiegen. Die Bezeichnung Wahlprüfungsgericht wurde vom Vorsitzenden des vom Verfassungsausschuss eingesetzten Siebener-Ausschusses, Dr. Bergsträsser, in der Sitzung vom 20. September 1946 „nur (als) anderer Name" bezeichnet; das Wahlprüfungsgericht sei „ein Ausschuss, der die rechtlichen Möglichkeiten eines Untersuchungsausschusses hat. Das heißt, er kann auch Auskünfte einholen und Zeugen vernehmen. Das ist der tiefere Sinn" (Berding, aaO, Dokument 47, S. 702). Die durch die organisatorische Anbindung an das Parlament angezeigte fehlende Gerichtseigenschaft des Wahlprüfungsgerichts kommt schließlich in seiner personellen Struktur zum Ausdruck. Unparteilichkeit und Neutralität als unabdingbare Wesensmerkmale richterlicher Tätigkeit verlangen, dass Richter als unbeteiligte Dritte entscheiden. Sie lassen eine personelle Verzahnung zwischen Richteramt und parlamentarischem Amt nicht zu und verbieten, dass ein Richter in eigener Sache entscheidet (vgl. BVerfGE 3, 377, 381; 4, 331, 346; 14,56, 69; 18,241,254f; 21,139,145f; 27, 312,322; 54,159,166). Diesen Erfordernissen wird das aus drei Abgeordneten und zwei Berufsrichtern zusammengesetzte Wahlprüfungsgericht bei der Wahlprüfung nicht gerecht. Die personelle Verschränkung des Wahlprüfungsgerichts mit dem Parlament ist mit den für die Qualifizierung als Gericht unabdingbaren Postulaten der Unabhängigkeit und Neutralität unvereinbar (ebenso BremStGH, LVerfGE 5,137,148 für das aus zwei berufsrichterlichen Mitgliedern und aus fünf Abgeordneten der Bremischen Bürgerschaft bestehende Bremische Wahlprüfungsgericht).
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Da das Wahlprüfungsgericht somit kein Gericht iSd Art. 126 HV ist, besteht auch kein grundrechtlich geschützter Anspruch der Antragsteller auf Gewährung rechtlichen Gehörs im Verfahren vor dem Wahlprüfungsgericht, der durch die Ablehnung ihrer Beteiligtenstellung verletzt sein könnte. Insbesondere lässt sich ein derartiger Anspruch — anders als das Gehörsrecht vor Gericht — nicht als notwendiger Ausdruck des personalen Werts des Menschen aus dem Grundrecht der Menschenwürde in Art. 3 HV herleiten. Die Menschenwürde verbietet es, den Menschen zum bloßen Objekt im Staat zu machen. Sie wird verletzt durch eine Behandlung des Menschen durch den Staat, in der sich eine Verachtung des Wertes ausdrückt, der dem Menschen kraft seines Personseins zukommt (st. Rspr. des BVerfG, vgl. etwaBVerfGE 30,1, 25 f). Demgemäß fordert die Achtung der Menschenwürde, dass der Staat nicht kurzerhand endgültig über Rechte des Menschen verfugen kann, ohne diesem die Möglichkeit zu geben, zu Wort zu kommen, um seine Rechtsposition zu behaupten (vgl. BVerfGE 9, 89, 95 f; 55, 1,5 f). Hiernach würde die Menschenwürdegarantie des Art. 3 HV ein Gehörsrecht und eine Beteiligung der Antragsteller im Verfahren vor dem Wahlprüfungsgericht verlangen, wenn dort endgültig über ihr passives Wahlrecht entschieden würde. Dies ist indes nicht der Fall. Verletzungen seines grundrechtlich geschützten aktiven und passiven Wahlrechts kann der Bürger in Hessen mit der Grundrechtsklage vor dem Staatsgerichtshof geltend machen (vgl. StGH, Beschl. v. 20.7.1988 - P.St. 1075 - , StAnz. 1988, 21 ff). Hierdurch hat der Einzelne die Möglichkeit, sein grundrechtlich geschütztes Wahlrecht in einer der Menschenwürdegarantie entsprechenden Weise zu behaupten. Eine auf die Verletzung des grundrechtlich geschützten Wahlrechts gestützte Grundrechtsklage gegen eine Entscheidung des Wahlprüfungsgerichts ermöglicht im Rahmen der geltend gemachten Grundrechtsverletzung eine umfassende Prüfung der Gültigkeit der jeweiligen Wahl durch den Staatsgerichtshof in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht (Präzisierung der früheren Rspr. des StGH, vgl. etwa Beschl. v. 19.1.1984-P.St. 1000-,StAnz. 1984,823 ff; Beschl. v. 1.9.1988-P.St. 1 0 7 5 - S t A n z . 1988, 2121 ff; Beschl. v. 9.12.1992-P.St. 1 1 3 9 - S t A n z . 1993,143 ff). Denn gegenüber einer Entscheidung des Wahlprüfungsgerichts, das ein parlamentarisches Wahlprüfungsorgan ist, ist die Kontrolldichte des Staatsgerichtshofs als Verfassungsgericht nicht limitiert. Die Beschränkung der Prüfung des Staatsgerichtshofs auf eine so genannte verfassungsspezifische Verletzung hessischer Grundrechte, d.h. auf eine Gesetzesanwendung oder -auslegung, die auf einer grundsätzlich falschen Anschauung von der Bedeutung der betroffenen hessischen Grundrechte beruht oder die Grundrechtsrelevanz schlechthin verkennt, beansprucht Geltung im Verhältnis des Staatsgerichtshofs zu den Fachgerichten. Sie folgt nämlich funktional aus der Aufgabenverteilung zwischen Fach- und Verfassungsgerichten (st. Rspr. des StGH, vgl. etwa Beschl. v. 18.8.1999 - P.St. 1391 - , ZMR 2000, 12, 14). Gegenüber Entscheidungen des Wahlprüfungsgerichts greift mangels Gerichtsqualität dieses Gremiums eine Beschränkung der Kontrolldichte des Staatsgerichtshofs nicht ein. LVerfGE 11
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Die mit der Grundrechtsklage verbundene Möglichkeit der Erlangung vorläufigen Rechtsschutzes durch eine einstweilige Anordnung nach § 26 StGHG gewährleistet dem Bürger, sein Wahlgrundrecht gegenüber Entscheidungen des Wahlprüfungsgerichts auch in zeitlicher Hinsicht wirksam zu sichern. Dies gilt namentlich für den Fall der Ungültigerklärung einer Wahl durch das Wahlprüfungsgericht. Abgeordnete könnten dann unter Berufung auf eine Verletzung ihres passiven Wahlrechts beim Staatsgerichtshof um vorläufigen Rechtsschutz nachsuchen. Der Staatsgerichtshof könnte — bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 26 StGHG — im Rahmen der ihm zukommenden Regelungskompetenz anordnen, den bisherigen Landtag vorläufig im Amt zu belassen. Die durch Grundrechtsklage und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung eröffnete Möglichkeit einer wirksamen Behauptung der eigenen Rechtsposition hat zur Folge, dass jedenfalls die verfassungsrechtlich verankerte Menschenwürde ein Gehörsrecht und eine daraus abgeleitete Beteiligung der Antragsteller bereits im Verfahren vor dem Wahlprüfungsgericht nicht zwingend gebietet. Zugleich wird durch die dargelegten Rechtsschutzmöglichkeiten vor dem Staatsgerichtshof als einem Gericht iSd Art. 126 HV der Rechtsweggarantie des Art. 2 Abs. 3 HV und dem Homogenitätsprinzip des Art. 28 Abs. 1 GG genügt, soweit dieses den Schutz des subjektiven Wahlrechts durch die Gerichtsbarkeit des Landes erfordert (vgl. BVerfGE 99,1,12,17 ff). Schließlich können sich die Antragsteller auch nicht mit Erfolg gegen die Ablehnung ihrer Beteiligung am Verfahren vor dem Wahlprüfungsgericht und die darauf beruhende Verwerfung ihrer Befangenheitsanträge auf ihr grundrechtlich geschütztes passives Wahlrecht berufen. Denn soweit diesem materiellen Grundrecht eine verfahrensrechtliche Funktion zukommen sollte, fordert auch diese wegen der dargelegten Möglichkeit der wirksamen Verteidigung des Grundrechts vor dem Staatsgerichtshof jedenfalls nicht, dass über die Frage der Beteiligung der Antragsteller schon vor Abschluss des Verfahrens vor dem Wahlprüfungsgericht durch den Staatsgerichtshof entschieden wird. Ob die Beteiligung der Antragsteller am Verfahren vor dem Wahlprüfungsgericht gem. § 13 WahlprüfungsG einfachgesetzlich geboten ist, ist hier nicht zu entscheiden. II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 28 StGHG.
Nr. 4 1. Der hessische Gesetzgeber hat durch die in § 8 Abs. 1 KAG enthaltene Ermächtigung von Landkreisen und kreisfreien Städten zur Erhebung einer Jagdsteuer nicht die ihm durch das Grundgesetz und die Hessische Verfassung LVerfGE 11
Steuererhebungsermächtigung von Landkreisen und kreisfreien Städten - Jagdsteuer 2 4 3
hinsichtlich der Ausübung seiner Gesetzgebungsbefugnis aus Art. 105 Abs. 2 a GG gesetzten Schranken überschritten. 2. Die Pflicht von Jägern zur Hege steht auch unter Berücksichtigung der den Umweltschutz zum Staatsziel bestimmenden Art. 20 a GG und Art. 26 a HV der landesrechtlich eröffneten Möglichkeit, Jagdsteuern zu erheben, nicht entgegen. GG Art. 20a, Art. 105 Abs. 2a HV Art. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 26a StGHG § 44 KAG § 8 Abs. 1 Beschluss vom 14. September 2000 - P.St. 1314 auf die Anträge des Herrn H. wegen Verletzung von Grundrechten Entscheidungs formel: Die Anträge werden zurückgewiesen. Gerichtskosten werden nicht erhoben, außergerichtliche Kosten nicht erstattet. Gründe: A. I. Der Antragsteller ist Pächter des Eigenjagdbezirkes D. im Bezirk des Hessischen Forstamts A. Er wendet sich in einer jagdsteuerrechtlichen Streitigkeit mit der Grundrechtsklage gegen ein Urteil des Verwaltungsgerichts Gießen sowie gegen einen Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs, mit dem sein Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Gießen abgelehnt wurde. Nach § 8 Abs. 1 des Gesetzes über kommunale Abgaben in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 31. Oktober 1991 (GVB1.1S. 333) - KAG — können die Landkreise und die kreisfreien Städte Steuern auf die Ausübung des Jagdrechts (Jagdsteuer) und des Fischereirechts (Fischereisteuer) erheben. Der Kreistag des Vogelsbergkreises beschloss am 9. Dezember 1991 eineJagdsteuersatzung-JagdStS —. Nach § 1 JagdStS ist Gegenstand der Steuer die Ausübung des Jagdrechtes im Vogelsbergkreis. Jagdsteuerpflichtig ist jeder, der auf Grundstücken, die im Landkreis gelegen sind, das Jagdrecht ausübt oder die Jagd durch Dritte ausüben lässt, § 2 Abs. 1 JagdStS. Gemäß § 3 LVerfGE 11
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Abs. 1 JagdStS ist Besteuerungsgrundlage der Jagdwert. Bei verpachteten Jagden gilt als Jagdwert der von dem Pächter aufgrund des Pachtvertrages zu entrichtende Pachtpreis einschließlich der Nebenleistungen, die der Jagdpächter nach Abrede oder Übung zu gewähren verpflichtet ist, § 4 Abs. 1 S. 1 JagdStS. § 5 S. 1 JagdStS sieht vor, dass bei nicht verpachteten Jagden als Jagdwert pro Hektar ein aus den versteuerten Jahrespachtpreisen aller verpachteten Jagden im Landkreis errechneter Durchschnittsbetrag gilt. Die Berechnung des Jagdwertes nach § 5 kann auch bei verpachteten oder unterverpachteten Jagden der Besteuerung zugrunde gelegt werden, wenn der tatsächliche Pachtpreis erheblich und offensichtlich unangemessen niedriger ist als der Durchschnittswert gem. § 5 (§ 6 JagdStS). Der Kreisausschuss des Vogelsbergkreises setzte mit Bescheid vom 16. Juli 1992 und Widerspruchsbescheid vom 31. März 1994 gegen den Antragsteller eine Jagdsteuer in Höhe von 1 062,48 DM für das Jahr 1992 fest. Die hiergegen gerichtete Anfechtungsklage des Antragstellers wies das VG Gießen mit Urteil vom 18. März 1997 — 9 E 782/94 — ab. Zur Begründung führte das VG Gießen im Wesentlichen aus, der angefochtene Bescheid finde seine Rechtsgrundlage in der Jagdsteuersatzung des Vogelsbergkreises vom 9. Dezember 1991. Diese Satzung sei rechtmäßig. Sie finde ihre gesetzliche Grundlage in §§ 2, 8 Abs. 1 KAG. § 8 Abs. 1 KAG seinerseits biete eine wirksame gesetzliche Grundlage fur die Jagdsteuersatzung des Vogelsbergkreises. Insbesondere verletze § 8 Abs. 1 KAG weder das Grundgesetz noch die Hessische Verfassung. Das Bundesrecht gestatte den Ländern die Einführung der Jagdsteuer. Das ergebe sich aus Art. 105 Abs. 2a GG. Es verstoße nicht gegen Art. 3 GG, wenn der Gesetzgeber die Jagdausübung, nicht aber andere Freizeitaktivitäten mit besonderem Aufwand der Besteuerung unterwerfe. § 8 Abs. 1 KAG verletze auch nicht Landesverfassungsrecht. Dass nach Art. 26 a der Hessischen Verfassung die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen unter dem Schutz des Staates und der Gemeinden stünden, stehe entgegen der vom Antragsteller vertretenen Auffassung weder im Zusammenhang mit dem allgemeinen Gleichheitssatz noch für sich allein als Staatsziel Umweltschutz der Jagdsteuer entgegen. Das Bundes jagdgesetz bestimme in seinem § 1 als Inhalt des Jagdrechts, dass das Jagdrecht die ausschließliche Befugnis sei, auf einem bestimmten Gebiet wildlebende Tiere, die dem Jagdrecht unterlägen, zu hegen, auf sie die Jagd auszuüben und sie sich anzueignen. Das Vorbringen des Antragstellers, die starke staatliche Reglementierung der Ausübung des Jagdrechts diene fast ausschließlich dem Umweltschutz und damit der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlage des Menschen, möge zutreffen. Jedoch sei damit keineswegs ausgeschlossen, dass die Jagdausübung an sich typischerweise auch der Freude, der Lust und dem Prestige des Jägers diene, der dafür freiwillig die großen Mühen der Jägerprüfung und erheblichen Aufwand auf sich nehme. Die Jagdsteuersatzung des Vogelsbergkreises ihrerseits genüge den rechtlichen Anforderungen des Kommunalen Abgabengesetzes; insbesondere bestimme sie den Kreis der Abgabepflichtigen, den die Abgabe begründenden Tatbestand, den Maßstab und den Satz der Abgabe sowie den Zeitpunkt LVerfGE 11
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der Entstehung der Fälligkeit der Schuld (§ 2 KAG). Entgegen der vom Antragsteller vertretenen Rechtsauffassung würden durch § 3 Abs. 1 und 2 iVm. § 4 Abs. 1 JagdStS der Maßstab und der Satz der Abgabe konkret bestimmt. Die Regelung in § 4 Abs. 1 JagdStS sei nicht etwa deshalb unbestimmt, weil zu dem Jagdwert, der die Besteuerungsgrundlage bilde (§ 3 Abs. 1 JagdStS), auch Nebenleistungen gehörten und § 4 Abs. 1 keine Auflistung von Nebenleistungen enthalte. § 4 Abs. 1 JagdStS bestimme nämlich, dass bei verpachteten Jagden als Jagdwert der von dem Pächter aufgrund des Pachtvertrages zu entrichtende Pachtpreis einschließlich der Nebenleistungen, die der Jagdpächter nach Abrede oder Übung zu gewähren verpflichtet sei, gelte. Nebenleistungen seien somit solche Leistungen, die der Jagdpächter neben dem Pachtzins auf der rechtlichen Grundlage des Jagdpachtvertrages zu bezahlen habe. Soweit der Antragsteller meine, der Begriff der Nebenleistungen sei unklar, weil nicht erkennbar sei, ob etwa Beiträge, die der Jagdpächter zwangsweise an die „Standesorganisation" abzuführen habe oder Prämien für die Feuerversicherung einer gepachteten Jagdhütte oder Fütterungskosten oder Zahlungsverpflichtungen für Wildschäden ebenfalls Nebenleistungen iSv § 4 Abs. 1 seien, könne er mit diesem Vorbringen nicht durchdringen. Denn nach der Satzungsregelung seien nur die Leistungen, die auf der rechtlichen Grundlage des Pachtvertrages zu zahlen seien, aber eben auch nur diese, Nebenleistungen, die den Jagdwert mitbestimmten. Alle finanziellen Verpflichtungen, die ihre rechtliche Grundlage nicht in dem Jagdpachtvertrag, sondern in Gesetzen, Verordnungen oder anderen Vorschriften hätten, seien damit keine Nebenleistungen im Sinne der Jagdsteuersatzung. Der Hessische Verwaltungsgerichtshof lehnte mit dem Antragsteller am 23. April 1998 zugestelltem Beschluss vom 16. März 1998 - 5 UZ 3123/97 - dessen Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des VG Gießen ab. Die Darlegungen seines Bevollmächtigten zum Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO — Bestehen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils — weckten beim Senat keine derartigen Zweifel. Im wesentlichen wiederhole der Antragstellerbevollmächtigte die Ausführungen des Antragstellers aus der ersten Instanz, mit denen sich das VG bereits ausführlich auseinander gesetzt habe. Der Senat folge diesen Ausführungen des VG und verweise weitgehend auf sie. Auch er habe im Hinblick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die durch den Vogelsbergkreis erhobene Jagdsteuer, die auf einer Ungleichbehandlung mit anderen Freizeitaktivitäten oder anderen „Umweltschützern" beruhen könnten. Art. 3 Abs. 1 GG verbiete im Sinne eines Willkürverbotes lediglich eine sachwidrige Ungleichbehandlung vergleichbarer Gruppen. Ob die Gruppe der Jäger vorrangig den Umweltschützern zuzuordnen sei, sei bereits zweifelhaft. Ein Verbot für öffentliche Körperschaften, Aufwandsteuern auf die mit der Ausübung des Jagdrechts dokumentierte besondere Leistungsfähigkeit des Ausübenden zu erheben, folge daraus jedenfalls nicht. Diese besondere Leistungsfähigkeit sei zum einen Umweltschutzaktivitäten nicht immanent, zum anderen habe der Gesetzgeber insofern bei der Steuergesetzgebung LVerfGE 11
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eine weite Gestaltungsfreiheit, wie bereits das Verwaltungsgericht im Anschluss an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Einzelnen dargelegt habe. Den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) habe der Antragstellerbevollmächtigte bereits nicht in dem nach § 124 a Abs. 1 S. 5 VwGO vorgeschriebenen Umfang dargelegt. Dafür wäre es erforderlich gewesen, eine rechtliche — oder unter bestimmten Umständen auch tatsächliche — Frage aufzuwerfen, die für die Entscheidung des Streitfalles maßgeblich sei und über ihre Bedeutung für den zu entscheidenden konkreten Fall hinaus wesentliche Bedeutung für die einheitliche Auslegung und Anwendung oder für die Fortbildung des Rechts habe. Allein der Vortrag, zu dem „Themenkomplex Umweltschutz und Jagd" sei noch keine Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs ergangen, genüge diesen Anforderungen nicht. Am 22. Mai 1998 hat der Antragsteller beim Staatsgerichtshof Grundrechtsklage erhoben. Der Antragsteller meint, VG und Verwaltungsgerichtshof hätten in den angegriffenen Entscheidungen die Verfassungswidrigkeit der dem Jagdsteuerbescheid zugrunde liegenden gesetzlichen und satzungsrechtlichen Ermächtigungsgrundlagen verkannt und hierdurch seine in Art. 2 Abs. 1 der Verfassung des Landes Hessen (Hessische Verfassung — HV) garantierte allgemeine Handlungsfreiheit sowie den Gleichheitssatz des Art. 1 HV verletzt. § 8 Abs. 1 KAG als Rechtsgrundlage der Jagdsteuersatzung des Vogelsbergkreises sei verfassungswidrig. Für die den Landkreisen und kreisfreien Städten durch § 8 Abs. 1 KAG eröffnete Möglichkeit der Erhebung von Jagdsteuern fehle dem hessischen Gesetzgeber wegen der staatlichen Bestimmung des Art. 26a HV bereits die Gesetzgebungskompetenz. Art. 26a HV stehe auch inhaltlich der Erhebung von Jagdsteuern entgegen. Die Inhabern des Jagdrechts durch das Hessische Jagdgesetz auferlegten natur- und umweltschutzrechtlichen Pflichten hätten durch Art. 26 a HV verfassungsrechtliches Gewicht erhalten. Indem Jäger Umwelt- und Naturschutz betrieben, würden sie in Erfüllung des an den Staat gerichteten Verfassungsauftrags des Art. 26 a HV tätig. Art. 26a HV verbiete dem Gesetzgeber, sie hierfür zusätzlich mit einer Steuer zu belasten. Die Verfassungswidrigkeit des § 8 Abs. 1 KAG resultiere ferner daraus, dass die Erhebung von Jagdsteuern auch im Widerspruch zur bundesrechtlichen Gesamtkonzeption des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen stehe. Bundesjagdgesetz und Bundesnaturschutzgesetz verpflichteten Jäger zum Tätigwerden im Interesse des Natur- und Umweltschutzes. Jäger wirkten damit entsprechend der bundesrechtlichen Staatszielbestimmung des Art. 20a GG beim Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen mit. Mit einer Besteuerung ihres Aufwandes für die Jagd würde eine Steuerlast für verfassungsrechtlich gewollten Umwelt- und Naturschutz geschaffen. Eine landesrechtliche Jagdsteuer passe demgemäß nicht in das bundesrechtliche System des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen. LVerfGE 11
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§ 8 Abs. 1 KAG verletze darüber hinaus den Gleichheitssatz des Art. 1 HV mehrfach. Jäger würden durch eine Besteuerung ihres Aufwands im Vergleich zu anderen Gruppen ohne rechtfertigenden Grund benachteiligt. Dies gelte zunächst im Hinblick auf die Vergleichsgruppe sonstiger Umweltschützer, wie beispielsweise die der Vogelschützer, die — ohne dass die Frage der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit auch nur aufgeworfen würde - zu keiner Aufwandsteuer herangezogen würden. Durch die Erhebung der Jagdsteuer würden ferner Jäger untereinander unterschiedlich behandelt. Jäger, die der Jagd nur im Ausland nachgingen und die den mit der Jagdausübung verbundenen umweltschutzrechtlichen Aufgaben im Inland nicht nachkommen müssten, würden nämlich nicht mit einer Jagdsteuer belastet. Weiterhin gebe es keinen sachlichen Grund, den Aufwand für die Freizeitaktivität des Jagens zu besteuern, den Aufwand für andere Freizeitaktivitäten hingegen nicht. Dies gelte umso mehr, als mit der Jagd Umweltschutzaufgaben wahrgenommen würden. § 8 Abs. 1 KAG sei schließlich auch deshalb verfassungswidrig, weil im seiner Wiedereinführung im Jahr 1991 vorausgegangenen Gesetzgebungsverfahren die Bedeutung der Jagd für die zuvor in die Hessische Verfassung aufgenommene Staatszielbestimmung des Art. 26a HV nicht bedacht worden sei. Für die Jagdsteuersatzung des Vogelsbergkreises fehle es infolge der Verfassungswidrigkeit des § 8 Abs. 1 KAG zunächst an einer wirksamen Rechtsgrundlage. Die Jagdsteuersatzung verstoße jedoch auch unabhängig hiervon gegen höherrangiges Recht. § 4 Abs. 1 JagdStS bestimme den Jagdwert nach dem aufgrund des Pachtvertrages zu entrichtenden Pachtpreis einschließlich der Nebenleistungen, die der Jagdpächter nach Abrede oder Übung zu gewähren verpflichtet sei. Durch die Verwendung der unbestimmten Begriffe „Nebenleistungen" und „Übung" habe der Satzungsgeber gegen das Rechtsstaatsprinzip verstoßen, das unklare und unbestimmte Gesetze verbiete. Da der in § 4 Abs. 1 S. 1 JagdStS normierte Jagdwert gem. § 3 Abs. 1 JagdStS Besteuerungsgrundlage sei, bewirke die Unwirksamkeit des § 4 Abs. 1 S. 1 JagdStS die Unwirksamkeit der gesamten Satzung. Das Rechtsstaats- und das Verhältnismäßigkeitsprinzip verletzten auch die §§ 5 und 6 JagdStS. § 6 JagdStS setze u. a. voraus, dass ein Pachtpreis offensichtlich unangemessen niedriger sei als der in § 5 JagdStS geregelte Durchschnittswert. Diese Formulierung sei zu unbestimmt. Die Verfassungswidrigkeit der Jagdsteuersatzung ergebe sich überdies daraus, dass auch der Satzungsgeber Art. 26 a HV beim Erlass der Satzung nicht hinreichend berücksichtigt habe. Der Antragsteller beantragt sinngemäß, 1. festzustellen, dass das Urteil des VG Gießen vom 18. März 1997 - 9 E 782/94 und der Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 16. März 1998 5 UZ 3123/97 - das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 HV und den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 1 HV verletzen, 2. das Urteil des VG Gießen und den Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs für kraftlos zu erklären und den Rechtsstreit an das VG Gießen zurückzuverweisen. LVerfGE 11
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II. Die Landesregierung hält die Grundrechtsklage für unzulässig, jedenfalls aber für unbegründet. Die Möglichkeit einer Verletzung der vom Antragsteller benannten Grundrechte sei seinem Vortrag nicht mit der für die Zulässigkeit der Grundrechtsklage gem. § 43 Abs. 1 und 2 des Gesetzes über den Staatsgerichtshof — StGHG — erforderlichen Plausibilität zu entnehmen. Der Antragsteller habe nicht verdeutlicht, inwieweit eine spezifische Grundrechtsverletzung gerade durch die angegriffene Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 16. März 1998 verursacht worden sei. Der behauptete Verstoß des Gesetz- und des Satzungsgebers gegen die Staatszielbestimmung Umweltschutz in Art. 26 a HV sowie den Gleichheitssatz des Art. 1 HV sei nicht plausibel. Art. 26 a HV verbiete die Heranziehung von Jägern zur Jagdsteuer auch dann nicht, wenn diese Personengruppe durch jagdrechtliche Vorschriften für den Umweltschutz in Anspruch genommen würde. Einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz durch die steuerliche Inanspruchnahme der Gruppe der Jäger aus der Gesamtheit aller Umweltschützer habe der Antragsteller nicht nachvollziehbar dargetan. Selbst wenn der Gesichtspunkt des Umweltschutzes bei der Ermessensausübung des jeweiligen Normgebers zwingend Beachtung finden müsse, sei nicht ersichtlich, dass Gesetz- und Satzungsgeber ihr bei der Erschließung von Steuerquellen weites Ermessen willkürlich ausgeübt hätten. Nicht nachvollziehbar sei ferner der Vorwurf des Antragstellers, der Satzungsgeber habe durch Verwendung der Begriffe „Nebenleistungen" und „Übung" in § 4 Abs. 1 S. 1 JagdStS gegen das Rechtsstaatsprinzip verstoßen. Beide Begriffe seien im Kontext der Jagdsteuersatzung hinreichend bestimmbar. Auch sei nicht erkennbar, dass § 6 JagdStS, nach dem bei unangemessen niedrigen Pachtpreisen als Jagdwert ein Durchschnittsbetrag nach Maßgabe des § 5 JagdStS zugrunde gelegt werden könne, gegen das Rechtsstaatsprinzip und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoße. Sofern der Antragsteller die Verletzung von Justizgrundrechten habe rügen woËen, habe er dies jedenfalls nicht in einer den Anforderungen des § 43 Abs. 1 und 2 StGHG genügenden Weise getan. Auch in der Sache könne die Grundrechtsklage - ihre Zulässigkeit unterstellt — keinen Erfolg haben. § 8 Abs. 1 KAG und die Jagdsteuersatzung stünden im Einklang mit der Hessischen Verfassung. Die Jagdsteuer sei als traditionelle Aufwandsteuer legitim. Insbesondere sei der Gleichheitssatz nicht verletzt, wenn der Gesetzgeber den besonderen Aufwand, den die Jagdausübung erfordere, besteuere, an den Aufwand für andere Freizeitaktivitäten hingegen keine Steuerlast knüpfe. III. Die Landesanwaltschaft hat mitgeteilt, sich an dem Verfahren über die Grundrechtsklage nicht zu beteiligen.
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IV. Die verwaltungsgerichtliche Verfahrensakte ist vom Staatsgerichtshof beigezogen worden. Β I. Die Grundrechtsklage ist unzulässig, soweit sie sich gegen das Urteil des VG Gießen richtet, im übrigen offensichtlich unbegründet. Die Grundrechtsklage gegen das Urteil des VG Gießen ist nicht statthaft. Dies folgt daraus, dass § 44 Abs. 1 S. 2 und 3 StGHG allein die Entscheidung des höchsten in der Sache zuständigen Gerichts des Landes Hessen zum Prüfungsgegenstand des Staatsgerichtshofs bei der Grundrechtsklage bestimmt (st. Rspr. des StGH, vgl. etwa Beschl. v. 2.11.1998 - P.St. 1328 - , NVwZ-RR 1999,482 f), hier also den Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs über die Nichtzulassung der Berufung gegen das Urteil des VG Gießen. Die Beschränkung der Grundrechtsklage auf die letztinstanzliche Entscheidung eines Gerichts des Landes Hessen gilt auch, wenn sich diese — wie hier — nicht als Entscheidung in der Sache selbst darstellt, sondern vordergründig als bloße prozessuale Entscheidung, die in Anwendung bundesrechtlicher, die Zulassung eines Rechtsmittels regelnder Verfahrensvorschriften (hier des § 124 Abs. 2 VwGO) ergangen ist. Soweit der Entscheidung des Rechtsmittelgerichts selbst Grundrechtsverletzungen zugrunde liegen, versteht sich dies von selbst. Nichts anderes kann aber gelten, wenn Grundrechtsverletzungen dem Verfahren oder der Entscheidung erster Instanz anhaften, da diese jedenfalls durch eine die Zulassung des Rechtsmittels - trotz ordnungsgemäßer und dem Gesetz entsprechender Darlegung der Zulassungsgründe — ablehnende Entscheidung des Rechtsmittelgerichts gleichsam perpetuiert werden, so dass der Staatsgerichtshof der ihm obliegenden verfassungsrechtlichen Uberprüfung gegebenenfalls durch Aufhebung dieser letztinstanzlichen Entscheidving gerecht werden kann (st. Rspr. des StGH, vgl. Beschl. v. 2.11.1998 - P.St. 1328 - , aaO). Soweit sich die Grundrechtsklage gegen den Nichtzulassungsbeschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs richtet, ist sie zulässig. Der Antragsteller hat den Anforderungen des § 43 Abs. 1 und 2 StGHG genügt. Er hat substantiiert einen Sachverhalt geschildert, aus dem sich plausibel die Möglichkeit von Verletzungen seiner Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 HV und Art. 1 HV durch den Nichtzulassungsbeschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs ergibt. Insbesondere hat der Antragsteller eine mögliche Verletzung spezifischen Verfassungsrechts durch den Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs, auf die sich die verfassungsgerichtliche Kontrolle fachgerichtlicher Entscheidungen beschränkt (st. Rspr. des StGH, vgl. etwa Beschl. v. 18.8.1999 - P.St. 1391 - , NZM 2000, 12ff), hinreichend deutlich gemacht. Denn der Antragsteller hat eine mögliche Verfassungswidrigkeit der LVerfGE 11
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vom Verwaltungsgerichtshof im Zulassungsverfahren angewendeten normativen Grundlagen des ihn belastenden Jagdsteuerbescheides substantiiert dargelegt. Eine den Bürger belastende fachgerichtliche Entscheidung aber, die darauf beruht, dass das Gericht seiner Prüfung eine verfassungswidrige Norm 2ugrunde gelegt hat, ist in jedem Fall eine spezifische Verfassungsverletzung (vgl. st. Rspr. des BVerfG seit BVerfGE 1, 418,420, etwa BVerfGE 55,72; 55,132,141; 55,144,147). Denn dann liegt kein bloßer Anwendungsfehler des Fachgerichts vor, sondern ein Verfassungsverstoß des Normgebers, der durch die angegriffene fachgerichtliche Entscheidung vermittelt wird. Auch der Grundsatz der Subsidiarität steht der Zulässigkeit der Grundrechtsklage des Antragstellers gegen den Nichtzulassungsbeschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs nicht entgegen. Der Grundsatz der Subsidiarität von Grundrechtsklagen als zusätzliche, von der Rechtswegerschöpfung unabhängige Zulässigkeitsvoraussetzung verlangt vom Antragsteller, dass er alle ihm bei den Fachgerichten zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ergreift, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken und eine Grundrechtsverletzung zu verhindern (st. Rspr. des StGH, vgl. etwa Urt. v. 3.5.1999 - P.St. 1296 - , NVwZ 2000, 430, 431). Deshalb müssen verfassungsrechtliche Einwendungen schon vor den Fachgerichten erhoben werden, soweit das möglich und zumutbar ist (st. Rspr. des StGH, vgl. etwa Beschl. v. 10.11.1999 - P.St. 1414 - , StAnz. 1999, 3692). Der Antragsteller hat auch diesem Zulässigkeitserfordernis genügt. Er hat im Rahmen des Zulassungsgrundes der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) die Verfassungswidrigkeit der dem Jagdsteuerbescheid zugrunde liegenden Normen in einer dem Darlegungserfordernis des § 124 a Abs. 1 S. 4 VwGO genügenden Weise gerügt. Die gegen den Nichtzulassungsbeschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs gerichtete Grundrechtsklage ist jedoch offensichtlich unbegründet. Durch die Ver-neinung des Zulassungsgrundes der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils des VG Gießen hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof die vom Antragsteller benannten Grundrechte der Hessischen Verfassung nicht in verfassungsspezifischer Weise verletzt. Denn § 8 Abs. 1 KAG und die Jagdsteuersatzung als die gesetzlichen Grundlagen des vom Verwaltungsgerichtshof im Zulassungsverfahren mittelbar zu prüfenden Jagdsteuerbescheides sind sowohl mit dem Grundgesetz als auch mit der Hessischen Verfassung vereinbar. Die Gesetzgebungskompetenz des Landesgesetzgebers für die den Landkreisen und kreisfreien Städten in § 8 Abs. 1 KAG zugewiesene Befugnis, auf die Ausübung des Jagdrechts eine Steuer zu erheben, folgt aus Art. 105 Abs. 2 a GG. Danach haben die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung über die örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern, solange und soweit diese nicht bundesgesetzlich geregelten Steuern gleichartig sind. Die Jagdsteuer, zu deren Erhebung der Hessische Gesetzgeber Landkreise und kreisfreie Städte in § 8 Abs. 1 KAG ermächtigt hat, ist eine örtliche Aufwandsteuer, die bundesgesetzlich geregelten Steuern nicht gleichartig ist. Aufwandsteuern sind Steuern auf die in der Vermögens- oder Einkommensverwendung für den LVerfGE 11
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persönlichen Lebensbedarf zum Ausdruck kommende besondere Konsumfähigkeit des Steuerpflichtigen (vgl. BVerfG, NVwZ 1989, 1152). Sie sollen einen besonderen Aufwand erfassen, d.h. eine über die Befriedigung des allgemeinen Lebensbedarfs hinausgehende Verwendung von Einkommen oder Vermögen. Die Jagdsteuer ist eine Aufwandsteuer. Sie knüpft an die Aufwendung von Einkommen oder Vermögen für die Jagdausübung als einen persönlichen Bedarf an, der nicht zum allgemeinen Lebensbedarf zählt. In der Einkommens- bzw. Vermögensverwendung für die Jagd zeigt sich auch eine besondere Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen. Denn die Ausübung des Jagdrechts erfordert regelmäßig die Aufwendung erheblicher finanzieller Mittel. Die Jagdsteuer, zu deren Erhebung § 8 Abs. 1 KAG ermächtigt, ist auch eine örtliche Steuer iSd Art. 105 Abs. 2 a GG, da sie an die Jagdausübung als Vorgang im Gebiet der jeweils steuererhebenden Körperschaft anknüpft. Eine gleichartige bundesrechtliche Steuer besteht nicht. Der hessische Gesetzgeber hat durch die in § 8 Abs. 1 KAG enthaltene Ermächtigung von Landkreisen und kreisfreien Städten zur Erhebung einer Jagdsteuer auch nicht die ihm durch das Grundgesetz und die Hessische Verfassung hinsichtlich der Ausübung seiner Gesetzgebungsbefugnis aus Art. 105 Abs. 2 a GG gesetzten Schranken überschritten. Für einen Verstoß des hessischen Gesetzgebers gegen das aus dem Prinzip der Bundestreue folgende Verbot der missbräuchlichen Inanspruchnahme einer an sich gegebenen Gesetzgebungskompetenz (vgl. hierzu BVerfGE 4, 115, 140; 32, 199, 280; 34, 9, 44f; 81, 310, 337) fehlt jeder Anhaltspunkt. Ob und gegebenenfalls in welchem Umfang bundesrechtlich das Rechtsstaatsprinzip unter dem Blickwinkel der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung einen Verfassungssatz darstellt, der der Ausübung einer an sich gegebenen Rechtsetzungsbefugnis durch den Normgeber Schranken setzt (bejahend BVerfGE 98,106,118ff, verneinend BVerfGE 81, 310, 338), kann dahinstehen. Denn entgegen der Auffassung des Antragstellers steht die landesrechtliche Möglichkeit der Erhebung von Jagdsteuern nicht im Widerspruch zur bundesrechtlichen Gesamtkonzeption zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen. Nach Art. 20 a GG schützt der Staat auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung. Die gem. § 1 Abs. 1 S. 2 des Bundesjagdgesetzes — BJagdG — mit dem Jagdrecht verbundene Pflicht zur Hege, deren Ziel die Erhaltung eines den landschaftlichen und landeskulturellen Verhältnissen angepassten artenreichen und gesunden Wildbestandes sowie die Pflege und Sicherung seiner Lebensgrundlagen ist (§ 1 Abs. 2 Satz 1 1. HS BJagdG), dient dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen. Der bundesrechtlichen Inpflichtnahme von Jägern zur Hege ist indes weder ausdrücklich noch der Sache nach zu entnehmen, dass der konsumtive Aufwand für die Ausübung der Jagd nicht Anknüpfungspunkt einer landesrechtlichen Steuer sein darf. Dies gilt auch, wenn die Hegepflicht als einfachgesetzlicher Ausdruck der Staatszielverpflichtung des Art. 20 a GG zu verstehen ist. Denn Art. 20 a GG beinLVerfGE 11
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haltet ebensowenig wie § 1 Abs. 1 Satz 2 BJagdG einen Rechtssatz, nach dem der Aufwand für die Jagd von einer Besteuerung freizustellen ist, weil die Jagdausübung mit der Hegepflicht verbunden ist. Die den Landkreisen und kreisfreien Städten landesgesetzlich eröffnete Möglichkeit, zur Erzielung von Einkünften Jagdsteuern zu erheben, und die bundesrechtliche Inpflichtnahme von Jägern zur Hege bestehen vielmehr nebeneinander und beeinflussen sich gegenseitig nicht. Ob nach der Hessischen Verfassung landesverfassungsrechtlich eine inhaltliche Widersprüchlichkeit zweier Regelungskonzeptionen des hessischen Gesetzgebers für diesen eine Kompetenzausübungsschranke bei der Normgebung zu bilden vermag, kann gleichfalls offen bleiben. Denn auch die Staatszielbestimmung des Art. 26 a HV, nach der die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen unter dem Schutz des Staates und der Gemeinden stehen, und die Hegepflicht nach dem Hessischen Jagdgesetz schließen aus den dargelegten Gründen die Möglichkeit einer Besteuerung des Aufwands für die Jagdausübung nicht aus. § 8 Abs. 1 KAG verletzt ferner nicht den im Grundgesetz und in der Hessischen Verfassung verankerten allgemeinen Gleichheitssatz. Für die vom Antragsteller insofern beanstandete Ungleichbehandlung von Jägern mit Umweltschützern sowie mit den Betreibern sonstiger Freizeitaktivitäten folgt dies daraus, dass der Gesetzgeber bei seiner Grundentscheidung über die Erschließung einer Steuerquelle grundsätzlich nur dem Willkürverbot unterworfen ist. Die Entscheidung, eine Steuerquelle zu erschließen, eine andere hingegen nicht auszuschöpfen, berührt nämlich in der Regel weder die besonderen Freiheitsgrundrechte noch stellt sie eine Differenzierung anhand personengebundener Merkmale dar (vgl. zum allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 1 HV StGH, Urt. v. 3.5.1999 - P.St. 1296 - , NVwZ 2000, 430, 432). Eine willkürliche Ungleichbehandlung durch den Normgeber kann der Staatsgerichtshof als Verfassungsgericht aufgrund des dem Gesetzgeber im gewaltenteilenden Staat zukommenden Einschätzungs- und Gestaltungsspielraums allerdings nur dann feststellen, wenn für die Differenzierung jeder vernünftige oder sachlich einleuchtende Grund fehlt (st. Rspr. des StGH, vgl. etwa Urt. v. 3.5.1999 - P.St. 1296 - , aaO). Demgemäß legitimieren finanzpolitische, volkswirtschaftliche, sozialpolitische und steuertechnische Erwägungen eine unterschiedliche Inanspruchnahme möglicher Steuerquellen durch den Gesetzgeber (vgl. BVerfGE 65, 325, 354; 81, 108, 117). Die legislative Gestaltungsfreiheit endet erst dort, wo die Behandlung der geregelten Sachverhalte nicht mehr mit einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise vereinbar ist. Hiernach ist die durch § 8 Abs. 1 KAG eröffnete Möglichkeit der Erhebung von Jagdsteuern auch vor dem Hintergrund der Nichtbesteuerung von Umwelt- und anderen Freizeitaktivitäten verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Ausübung des Jagdrechts wird seit jeher besteuert, weil sie in der Regel die Verwendung finanzieller Mittel über die Befriedigung des allgemeinen Lebensbedarfs hinaus erfordert (vgl. BVerfG, NVwZ 1989,1152f). Soweit andere Freizeitaktivitäten im Einzelfall gleichfalls einen erhöhten finanziellen Aufwand erfordern, durfte der Gesetzgeber in Anbetracht LVerfGE 11
Steuererhebungsermächtigung von Landkreisen und kreisfreien Städten - Jagdsteuer 253 der ihm gestatteten pauschalierenden und typisierenden Betrachtungsweise von einer Besteuerung absehen, ohne sich hierdurch willkürlich zu verhalten. Das Fehlen einer Regelung in § 8 Abs. 1 KAG, nach der der Aufwand fur die Jagd im Ausland von Landkreisen und kreisfreien Städten besteuert werden kann, vermag einen Verstoß des hessischen Gesetzgebers gegen den Gleichheitssatz schon deshalb nicht zu begründen, weil dem hessischen Gesetzgeber für eine derartige Regelung die Gesetzgebungskompetenz fehlt. Der Gleichheitssatz bindet nämlich jeden Träger öffentlicher Gewalt allein in dessen Zuständigkeitsbereich (vgl. BVerfGE 21, 54,68; 76, 1, 73; 79, 127, 158). Nach Art. 105 Abs. 2 a GG haben die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung über die örtlichen Aufwandsteuern, d. h. die Steuer muss an örtliche Gegebenheiten, vor allem an die Belegenheit einer Sache oder an einen Vorgang im Gebiet der steuererhebenden Gemeinde anknüpfen (vgl. BVerfGE 16, 306, 327; 65, 325, 349). Dem Aufwand für die Auslandsjagd fehlt diese die Kompetenz des Landesgesetzgebers begründende örtliche Radizierung. Eine Verfassungswidrigkeit des § 8 Abs. 1 KAG folgt schließlich nicht daraus, dass der hessische Gesetzgeber im der Wiedereinführung dieser Norm vorangegangenen Gesetzgebungsverfahren die Bedeutung der Jagd für den in Art. 20 a GG und Art. 26 a HV verankerten Umwelt- und Naturschutz nicht bedacht hätte. Dabei kann die verfassungsrechtliche Kontroverse, ob sich die verfassungsgerichtliche Überprüfung eines förmlichen Gesetzes über die Ergebniskontrolle hinaus auch auf die Rationalität des Prozesses der parlamentarischen Entscheidungsfindung erstreckt (vgl. hierzu Gusy, ZRP 1985, 291 ff; Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, 4. Aufl. 1997, Rn. 503 ff), hier unentschieden bleiben. Zum einen ist die vom Antragsteller vorgenommene Zuordnung der privaten Jagdausübung zum an den Staat gerichteten Auftrag, die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen, nicht eindeutig, sondern eine politische Wertung, die der Gesetzgeber nicht teilen muss. Zum anderen ist der Naturschutzaspekt der Jagd im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens im Parlament zur Sprache gekommen (vgl. Änderungsantrag der Fraktionen der CDU und der FDP vom 18. September 1991 — LT-Drs. 13/610; Wortbeitrag des Abgeordneten Wilke anlässlich der zweiten Lesung des Gesetzesentwurfs - Hessischer Landtag, 13. Wahlperiode, Protokoll der 17. Sitzung vom 19.9.1991, S. 830), Die vom Antragsteller beanstandeten Vorschriften der Jagdsteuersatzung des Vogelsbergkreises halten gleichfalls verfassungsrechtlichen Anforderungen stand. Es bedarf insofern keiner Entscheidung, ob der Staatsgerichtshof die Satzung mit derselben Kontrolldichte zu prüfen hat wie ein förmliches Gesetz oder ob er — da Satzungen bereits der fachgerichtlichen Kontroll- und Verwerfungskompetenz unterfallen — als Verfassungsgericht lediglich die fachgerichtliche Kontrolle der Satzung ihrerseits auf die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts hin untersucht (vgl. hierzu Pestatola, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 1991, S. 167 ff; Zuck, Das Recht der Verfassungsbeschwerde, 2. Aufl. 1988, Rn. 471 ff, insbesondere Fn. 726). Denn auch bei Anlegung des strengeren, für die Überprüfung förmlicher Gesetze geltenden Kontrollmaßstabes LVerfGE 11
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ist die Jagdsteuersatzung verfassungskonform. Die vom Antragsteller beanstandete Verwendung der Begriffe „Nebenleistungen" und „Übung" zur Bestimmung des Jagdwertes in § 4 Abs. 1 S. 1 JagdStS verstößt ebenso wenig wie der Gebrauch des Begriffs des Pachtpreises, der „erheblich und offensichtlich unangemessen niedriger ist als der Durchschnittswert gemäß § 5" in § 6 JagdStS gegen den rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgrundsatz. Der Bestimmtheitsgrundsatz fordert vom eine Ermächtigungsgrundlage schaffenden Normgeber, dass er die der staatlichen Eingriffsmöglichkeit offen liegende Rechtssphäre selbst abgrenzt, indem er Inhalt, Zweck und Ausmaß der Eingriffe mit hinreichender Genauigkeit festlegt, so dass die Eingriffe messbar und in gewissem Umfang für den Bürger voraussehbar und berechenbar bleiben (vgl. StGH, Urt. v. 12.6.1991 - P.St. 1106 - , StAnz. 1991, 1702; st. Rspr. des BVerfG, vgl. etwa BVerfGE 9,137,147; 69,1, 41; 83,130,142). Dieser Grundsatz verbietet dem Normgeber allerdings nicht die Verwendung unbestimmter und damit auslegungsbedürftiger Rechtsbegriffe (st. Rspr. des BVerfG, vgl. etwa BVerfGE 3,225,243; 21,73,79; 79,106, 120). Denn hierdurch wird es dem Normgeber möglich, die Lebensverhältnisse in ihrer Vielfalt zu erfassen und zugleich einen Weg zur auch im Einzelfall gerechten Entscheidung zu eröffnen. Die vom Antragsteller angegriffenen unbestimmten Rechtsbegriffe in den Vorschriften der Jagdsteuersatzung sind hiernach verfassungsrechtlich unbedenklich. Denn ihr Inhalt ist, wie bereits die Ausführungen des VG Gießen im Urteil vom 18. März 1997 - 9 E 782/94 (2) - zum Merkmal der Nebenleistungen in § 4 Abs. 1 S. 1 JagdStS belegen, mit Hilfe der anerkannten Auslegungsregeln ausreichend ermittelbar. Schließlich ist auch ein Verfassungsverstoß des Satzungsgebers bei Ausübung seines Normsetzungsermessens nicht feststellbar. Insbesondere war der Satzungsgeber des Vogelsbergkreises ebenso wenig wie der hessische Gesetzgeber dazu verpflichtet, die private Jagdausübung als ein Verhalten zu bewerten, das im Wesentlichen dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen dient, und es in diesem Sinne in sein Satzungsermessen einzubeziehen. II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 28 StGHG.
Nr. 5 1. Richter im Sinne von Art. 130 Abs. 1 S. 1 H V und § 2 Abs. 1 S. 1, § 3 Abs. 1 S. 2 StGHG sind diejenigen, denen die rechtsprechende Gewalt anvertraut ist und die kein anderes Hauptamt wahrnehmen als eines, in dem sie diese rechtsprechende Gewalt in richterlicher Unabhängigkeit auch ausüben. LVerfGE 11
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2. Ein an eine Stelle außerhalb der Justiz abgeordneter Richter kann nicht berufsrichterliches Mitglied des Staatsgerichtshofs sein, da bei ihm die Voraussetzung fehlt, hauptamtlich keine andere als richterliche Tätigkeit wahrzunehmen. HV Art. 130 Abs. 1 S. 1, Art. 126 Abs. 2, Art. 127 Abs. 1 StGHG §§ 2 Abs. 1 S. 1, 3 Abs. 1 S. 2,11 Abs. 2 S. 1, Abs. 3 Beschluss vom 6.12.2000 - P.St. 1596 über die Mitgliedschaft im Staatsgerichtshof gemäß § 11 Abs. 3 S. 1 StGHG Entscheidungsformel: Es wird festgestellt, dass Frau Richterin am Verwaltungsgericht D. aus ihrem Amt als stellvertretendes berufsrichterliches Mitglied des Staatsgerichtshofs kraft Gesetzes ausgeschieden ist. Gründe: A I. Gem. § 11 Abs. 3 S. 1 des Gesetzes über den Staatsgerichtshof — StGHG — entscheidet der Staatsgerichtshof in Zweifels fallen durch Beschluss, wer Mitglied ist oder ob ein Mitglied durch Verzicht oder kraft Gesetzes aus seinem Amt ausgeschieden ist. II. Frau D. ist Richterin am Verwaltungsgericht. Sie wurde am 17. Mai 2000 als zweites stellvertretendes Mitglied für das ständige berufsrichterliche Mitglied R. vom Landtag gewählt. Zweifel an der Mitgliedschaft von Frau D. im Staatsgerichtshof haben sich daraus ergeben, dass Frau D. seit dem 1. Juli 2000 an das Hessische Ministerium der Justiz abgeordnet ist. Eine Entscheidung über die Mitgliedschaft von Frau D. im Staatsgerichtshof ist geboten, weil Vertretungsfälle, in denen Frau D. zur Mitwirkung berufen ist, jederzeit eintreten können. III. Frau D., dem Landtag, der Landesregierung und der Landesanwaltschaft ist Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden. Sie halten übereinstimmend für erforderLVerfGE 11
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lieh, aber auch ausreichend, dass ein berufsrichterliches Mitglied des Staatsgerichtshofs dienstrechtlich den Status einer Richterin oder eines Richters auf Lebenszeit hat. Für die Annahme, dass Art. 130 Abs. 1 der Verfassung des Landes Hessen (kurz: Hessische Verfassung — HV - ) und § 3 Abs. 1 StGHG darüber hinausgehend die konkrete Ausübung richterlicher Tätigkeit forderten, fehle es an hinreichenden Anhaltspunkten. Berufsrichterliche und andere Mitglieder des Staatsgerichtshofs seien bei der Entscheidungsfindung im Staatsgerichtshof in gleicher Weise der Unabhängigkeit verpflichtet. Diese Unabhängigkeit sei bei beiden Gruppen als in der Person des jeweiligen Verfassungsrichters wurzelnd gesehen worden, nicht in dessen konkreter beruflicher Stellung. Die die Wählbarkeit ausschließende Inkompatibilitätsregelung in § 3 Abs. 2 StGHG sei demgemäß abschließend. Gefährdungen der Unabhängigkeit im übrigen werde für sämtliche Mitglieder des Staatsgerichtshofs durch § 17 StGHG begegnet, der sach- und anlassbezogen den Ausschluss von der Amtsausübung im konkreten Fall regele.
Β I. Frau D. ist aus ihrem Amt als stellvertretendes berufsrichterliches Mitglied des Staatsgerichtshofs ausgeschieden, da sie seit ihrer Abordnung an das Hessische Ministerium der Justiz ihr Richteramt nicht mehr ausübt und damit nicht Richterin iSv Art. 130 Abs. 1 S. 1 HV und § 2 Abs. 1 S. 1, § 3 Abs. 1 S. 2 StGHG ist. Nach § 11 Abs. 2 S. 1 StGHG scheidet ein Mitglied des Staatsgerichtshofs aus seinem Amt aus, wenn bei ihm die Voraussetzungen der Wählbarkeit nicht mehr gegeben sind. Zu den Voraussetzungen der Wählbarkeit äußert sich § 3 StGHG. Nach § 3 Abs. 1 S. 2 iVm § 2 Abs. 1 S. 1 StGHG müssen die fünf Mitglieder, die Richterinnen oder Richter sein müssen, Richterinnen oder Richter auf Lebenszeit im Landesdienst sein. Gem. § 4 Abs. 4 StGHG gelten die für die ständigen Mitglieder geltenden Vorschriften auch für die stellvertretenden Mitglieder. Bei Frau D. ist die Wählbarkeitsvoraussetzung, Richterin auf Lebenszeit iSd § 3 Abs. 1 S. 2 StGH zu sein, mit ihrer Abordnung an das Hessische Ministerium der Justiz entfallen. Richter iSd § 3 Abs. 1 S. 2 StGHG sind nämlich diejenigen, denen die rechtsprechende Gewalt anvertraut ist und die kein anderes Hauptamt wahrnehmen als eines, in dem sie diese rechtsprechende Gewalt in richterlicher Unabhängigkeit auch ausüben. Dienstrechtlich bezeichnet der in § 3 Abs. 1 S. 2 StGHG verwendete Begriff des Richters auf Lebenszeit allerdings lediglich den Regelstatus, in den Berufsrichter zu berufen sind (vgl. § 8 Deutsches Richtergesetz — DRiG —) und der durch eine Abordnung nicht berührt wird. Ein allein auf diese dienstrechtliche Begrifflichkeit abstellendes Verständnis des § 3 Abs. 1 S. 2 StGHG berücksichtigt indes nicht hinreichend den LVerfGE 11
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Verfassungsbezug dieser Vorschrift. Diese bezieht sich nämlich ausdrücklich auf „die Mitglieder nach § 2 Abs. 1 S. 1". § 2 Abs. 1 S. 1 StGHG spricht seinerseits von den „fünf Mitgliedern), die Richterinnen oder Richter sein müssen", und greift damit ersichtlich auf Art. 130 Abs. 1 S. 1 HV zurück, wonach der Staatsgerichtshof „aus 11 Mitgliedern" besteht, „und zwar fünf Richtern und sechs vom Landtag nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählten Mitgliedern, die nicht dem Landtag angehören dürfen". § 3 Abs. 1 S. 2 StGHG konkretisiert den in dieser Verfassungsnorm verwendeten Begriff des Richters lediglich einfachgesetzlich. Maßgeblich ist damit, welche Anforderungen die Hessische Verfassung an die fünf Richter, die Mitglieder des Staatsgerichtshofs sind, stellt. Der Wortlaut des Art. 130 HV, in dem von Richtern die Rede ist, deutet nicht auf ein formal-statusrechtliches Begriffsverständnis hin, bei dem mit Richter auch jemand gemeint sein könnte, der gar nicht als Richter tätig ist, sondern lediglich nichtrichterliche Aufgaben in der Verwaltung oder beim Parlament wahrnimmt. Es liegt nach dem Wortsinn vielmehr nahe, dass die Verfassung unter Richter jemanden versteht, der eine richterliche Tätigkeit ausübt und damit in seinem Amtsverständnis und seiner Amtsführung durch die richterlicher Tätigkeit eigene Selbständigkeit, persönliche und sachliche Unabhängigkeit sowie Neutralität und Distanz gegenüber den Verfahrensbeteiligten geprägt ist. Dies ist das Richterbild, das auch mit dem Begriff des Richters auf Lebenszeit, wie er in § 3 Abs. 1 S. 2 StGHG verwendet wird, im allgemeinen wie im juristischen Sprachgebrauch verbunden wird und das Bestehen dieses Status erst legitimiert. Der Richter auf Lebenszeit ist rechtlich wie tatsächlich der Grundtyp des Richters, der in besonderer Unabhängigkeit, Neutralität und Distanz die Aufgabe der rechtsprechenden Gewalt wahrnimmt (vgl. § 28 DRiG). Die Lebenszeiternennung von Richtern, die Art. 127 Abs. 1 HV im Anschluss an Art. 104 Abs. 1 der Weimarer Reichsverfassung — WRV — zwingend für die „planmäßigen hauptamtlichen Richter" vorschreibt, erhält ihre Berechtigung gerade dadurch, dass sie die Unabhängigkeit der Richter bei der Ausübung der rechtsprechenden Gewalt stärkt. Die systematische Auslegung des Art. 130 HV bestärkt, dass unter Richter im Sinne dieser Verfassungsnorm niemand verstanden werden kann, der gar keine richterliche, sondern eine andere Tätigkeit ausübt. In systematischer Hinsicht ist nämlich zu berücksichtigen, dass die Hessische Verfassung in dem unmittelbar vorangehenden siebten Abschnitt (Die Rechtspflege) ihres Zweiten Hauptteils (Aufbau des Landes) eingehend die Verhältnisse der Rechtspflege ordnet und hierbei vor allem den Richter und seine Rechtsstellung im Blick hat. Dies spricht dafür, dass der Richterbegriff der Hessischen Verfassung, der auch für die Richtervorbehalte in Art. 19, Art. 20, Art. 21 Abs. 1, Art. 23 S. 2 HV von Bedeutung ist, ein einheitlicher ist, nämlich der der Art. 126 bis Art. 128 HV. Der Richterbegriff der Hessischen Verfassung ist danach dadurch charakterisiert, dass der Richter unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen ist (Art. 126 Abs. 2 HV) und bei planmäßiger hauptamtlicher Tätigkeit auf Lebenszeit berufen wird (Art. 127 Abs. 1 HV). LVerfGE 11
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Für die Identität des Art. 130 Abs. 1 S. 1 HV zugrunde liegenden Richterbegriffs mit dem der Art. 126 Abs. 2, Art. 127 Abs. 1 HV steht auch die Entstehungsgeschichte der Hessischen Verfassung. Im Verfassungsentwurf von Walter Jellinek (in: Berding (Hrsg.), Die Entstehung der Hessischen Verfassung von 1946,1996, S. 153 ff), der dem Vorbereitenden Verfassungsausschuss als Diskussionsgrundlage diente, war im Zweiten Hauptteil ein siebter Abschnitt mit der Bezeichnung „Die Rechtspflege" vorgesehen. An der Spitze dieses Abschnitts stand in Übernahme des Art. 102 WR.V der Satz, die Richter seien unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen (Art. 99 des Verfassungsentwurfs). Nach Art. 102 Abs. 1 S. 1 des Verfassungsentwurfs werden die planmäßigen hauptamtlichen Richter der ordentlichen und der Verwaltungsgerichtsbarkeit auf Lebenszeit ernannt. Art. 104 des Verfassungsentwurfs als letzter Artikel des Abschnitts über die Rechtspflege beschäftigt sich mit dem Staatsgerichtshof. Nach Art. 104 S. 2 des Verfassungsentwurfs entscheidet der Staatsgerichtshof in der Besetzung von fünf hohen richterlichen Beamten und sechs vom Landtag aus seiner Mitte gewählten Mitgliedern. Die Anknüpfung an die vorangegangenen Artikel des Verfassungsentwurfs sowie die historische Identität der Begriffe des richterlichen Beamten und des Richters (vgl. Anschiit^ Die Verfassung des Deutschen Reichs, 12. Aufl. 1930, Art. 104 Anm. 1 bis 4; Mende in: Anschütz/Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 2,1932, S. 77 ff) belegen, dass die „fünf hohen richterlichen Beamten" Richter iSd Art. 99, Art. 102 des Verfassungsentwurfs sein sollten. Die Einordnung der Regelung über den Staatsgerichtshof in den Abschnitt über die Rechtspflege blieb auch im Verfassungsentwurf des Vorbereitenden Verfassungsausschusses vom 18. Juni 1946 erhalten (vgl. Art. 107 ff, insbesondere Art. 111 des Verfassungsentwurfs des Vorbereitenden Verfassungsausschusses, in: Berding, aaO, S. 173 ff, 188 f). Lediglich im Hinblick auf die Bedeutung der Institution und weil es „vom Standpunkt der Systematik aus auch sehr förderlich sein (würde)", wurden die Bestimmungen über den Staatsgerichtshof später im wesentlichen in einem eigenen Abschnitt zusammengefasst, der an den über die Rechtspflege anschließt (vgl. Protokoll über die Verhandlungen des Verfassungsausschusses der Verfassungberatenden Landesversammlung vom 25.9.1946, in: Berding, aaO, S. 787). Eine Neubestimmung des Richterbegriffs gerade für die richterlichen Mitglieder des Staatsgerichtshofs war damit nicht verbunden. Für eine Identifizierung der fünf berufsrichterlichen Mitglieder iSd Art. 130 Abs. 1 HV als Richter iSd Art. 127 Abs. 1 HV spricht zudem in verfassungssystematischer Hinsicht, dass auch der Staatsgerichtshof ein Gericht ist, das Recht spricht. Die nach Art. 130 Abs. 1 S. 1 HV zwingende Mitwirkung von — wenn auch in der Minderzahl befindlichen — berufsrichterlichen Mitgliedern trägt diesem Charakter der Verfassungsgerichtsbarkeit als rechtsprechender Gewalt Rechnung. Gewährleistet werden hierdurch ein justizförmiges Verfahren, eine juristisch geprägte Sachbehandlung sowie eine mit ihr verbundene Kontinuität der Rechtsprechung. Dieser Aspekt der Mitwirkung von Richtern im Staatsgerichtshof kam auch in der Sitzung des Verfassungsausschusses vom 25. September 1946 zum Ausdruck (vgl. Berding, aaO, LVerfGE 11
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S. 761, 781—788). Die Forderung nach richterlichen Mitgliedern dient ferner auch der Betonung der Unabhängigkeit des Staatsgerichtshofs (vgl. Gehb, Verfassung, Zuständigkeiten und Verfahren des Hessischen Staatsgerichtshofs, 1987, S. 37). Dieser Gesichtspunkt wurde in der Sitzung des Verfassungsausschusses vom 25. September 1946 im Hinblick auf die berufsrichterlichen Mitglieder des Staatsgerichtshofs allerdings nicht erneut zur Sprache gebracht. Die Unabhängigkeit der Richter war nämlich Gegenstand der in derselben Sitzung schon zuvor geführten Diskussion über den Abschnitt „Die Rechtspflege" im Verfassungsentwurf des Vorbereitenden Verfassungsausschusses vom 18. Juni 1946, in den die Regelungen über den Staatsgerichtshof damals integriert waren (vgl. Berding, aaO, S. 764 ff, 769). Dass berufsrichterliche Mitglieder im Verfassungsgericht nicht nur wegen ihrer fachlichen Qualifikation mitwirken sollten, lässt sich daraus folgern, dass wiederholte Vorschläge mit dem Ziel, zur Ergänzung oder an Stelle des berufsrichterlichen Sachverstandes auf die juristischen Kenntnisse anderer Berufe oder allein auf die Befähigung zum Richteramt zurückzugreifen (vgl. Ziffer 5 A der „Hochwaldhäuser Beschlüsse" der SPD, bei Berding, aaO, S. 195; Art. 77 Abs. 3 des Verfassungsentwurfs Caspary (SPD), bei Berding, aaO, S. 215; Art. 35 des „Wiesbadener Entwurfs" der CDU, bei Berding, aaO, S. 305; Art. 26 Abs. 2 des Verfassungsentwurfs Kanka (CDU), bei Berding, aaO, S. 316; Art. 131 des Verfassungsentwurfs der LDP-Fraktion, bei Berding, aaO, S. 388; Art. 111 eines SPD-Antrags in der Sitzung des Verfassungsausschusses der Verfassungberatenden Landesversammlung vom 25.9.1946, bei Berding, aaO, S. 783), ohne Erfolg blieben. Nach Verfassungssystematik und Entstehungsgeschichte müssen die fünf berufsrichterlichen Mitglieder des Staatsgerichtshofs mithin Richter iSd Art. 127 Abs. 1 HV sein. Die Entstehungsgeschichte des Gesetzes über den Staatsgerichtshof belegt, dass dies auch dem einfachen Gesetzgeber bewusst war. § 3 Abs. 1 S. 2 StGHG ist nämlich an die Stelle der bis zum 6. Dezember 1994 geltenden Regelung des § 2 Abs. 1 S. 1 des Gesetzes über den Staatsgerichtshof vom 12. Dezember 1947 — StGHG a.F. — getreten. Diese Vorschrift lautete: „Die fünf Mitglieder, die Richter (Art. 127 Abs. 1 HV) sein müssen, werden vom Landtag auf sieben Jahre gewählt". Anhaltspunkte dafür, dass der einfache Gesetzgeber durch die Streichung des Klammerzusatzes in § 2 Abs. 1 S. 1 StGHG a.F. und seine Ersetzung durch den Passus „Die Mitglieder nach § 2 Abs. 1 S. 1 müssen Richterinnen oder Richter auf Lebenszeit im Landesdienst sein" in § 3 Abs. 1 StGHG nicht nur eine Klarstellung, sondern eine Veränderung der geltenden Rechtslage beabsichtigte, bestehen nicht. Art. 127 Abs. 1 HV lautet: „Die planmäßigen hauptamtlichen Richter werden auf Lebenszeit berufen". Voraussetzung der Berufung auf Lebenszeit ist danach die Eigenschaft, planmäßiger und hauptamtlicher Richter zu sein. Planmäßig bedeutet, dass für die Ernennung eine Planstelle existieren muß (vgl. Reh, in: Zinn/Stein, Verfassung des Landes Hessen, Stand 1999, Art. 127, 128, Erl. C III. Nr. 5). Hauptamtliche Richter sind solche, die keine andere Haupttätigkeit als die des Richters ausüben (vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 910 f; Meyer, in: LVerfGE 11
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von Münch/Kunig (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 1996, Art. 97 Rn. 27; Detterbeck, in: Sachs (Hrsg.), GG, 2. Aufl. 1999, Art. 97 Rn. 23). Dieses Verständnis der Hauptamtlichkeit legt bereits der Wordaut nahe. Es wird bestätigt, wenn der Sinn der Lebenszeiternennung von Richtern ins Auge gefasst wird, die Art. 127 Abs. 1 HV im Anschluss an die Weimarer Reichsverfassung von der Hauptamtlichkeit abhängig macht. Grund der Berufung zum Richter auf Lebenszeit ist es nämlich seit jeher, dem Personenkreis, der die Aufgaben der rechtsprechenden Gewalt wahrnimmt, die persönliche Unabhängigkeit zu gewährleisten, die Voraussetzung einer unabhängigen, nur dem Recht verpflichteten Rechtsprechung ist (vgl. etwa Anschiit^ aaO, Art. 104 Anm. 4; Mende, aaO, S. 81 („Die Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit werden auf Lebenszeit ernannt. Hierin liegt die Hauptsicherung für die Unabhängigkeit der Rechtspflege"); Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: Oktober 1999, Art. 97 Rn. 11, 45ff). Für den hauptamtlichen Richter iSd Art. 127 Abs. 1 HV ist damit die Ausübung richterlicher Tätigkeit entscheidend. Infolge der Identität des von der Hessischen Verfassung in Art. 130 Abs. 1 S. 1 HV und Art. 127 Abs. 1 HV verwendeten Richterbegriffs ist daher auch § 3 Abs. 1 S. 2 StGHG als einfachgesetzliche Ausfüllung des Art. 130 Abs. 1 S. 1 HV entsprechend zu verstehen: Richter im Sinne dieser Vorschrift bezeichnet diejenigen, denen die rechtsprechende Gewalt anvertraut ist und die kein anderes Hauptamt wahrnehmen als eines, in dem sie diese rechtsprechende Gewalt in richterlicher Unabhängigkeit auch ausüben. Die im Hinblick auf ihre hauptamtliche richterliche Tätigkeit begründete besondere Stellung der berufsrichterlichen Mitglieder des Staatsgerichtshofs wird auch in dem für sie geltenden speziellen Wahlverfahren sichtbar. Die Hessische Verfassung schreibt für die übrigen Mitglieder die Verhältniswahl vor, „um zu vermeiden, dass der Staatsgerichtshof hinsichtlich der Mitglieder, die vom Landtag zu wählen sind, nur nach dem Mehrheitsprinzip besetzt wird" (Abg. Dr. Stein (CDU) in der Sitzung des Verfassungsausschusses vom 25.9.1946, Berding, aaO, S. 781), und lässt das Verfahren für die Wahl der berufsrichterlichen Mitglieder offen. Der Landtag entschied sich im Gesetz über den Staatsgerichtshof dafür, sie einem aus seiner Mitte gewählten Wahlausschuss zu übertragen und für jedes berufsrichterliche Mitglied einen besonderen Wahlgang sowie eine Zweidrittelmehrheit vorzusehen (§ 5 Abs. 2 und 7 StGHG a.F., § 5 Abs. 2 und 7 StGHG). Dahinter stand die Uberzeugung, es sei „unerfreulich ... Richter auf Fraktions- oder Parteilisten zu wählen" (Abg. Dr. Kanka, Stenographische Protokolle des Hessischen Landtags, Erste Wahlperiode, S. 735). „Da es sich um eine Persönlichkeitswahl seltenster Art handelt, (muss) ... die sorgfältige Auswahl auf alle Fälle garantiert werden. ... und diese Garantie sehen wir auch darin ..., dass möglichst ein verkleinertes Wahlgremium die Wahl der Berufsrichter vornehmen soll" (Abg. Dr. Seibert, ebd., S. 737). Es sollte vermieden werden, dass die berufsrichterlichen Mitglieder „irgendwie auf der Liste einer Partei erscheinen; denn es muss der Anschein vermieden werden, dass es Richter der Parteien seien, die in irgendeiner Form an das gebunden sein könnten, was von den politischen Parteien ausgeht" (Abg. Dr. Rabe, ebd., S. 741). LVerfGE 11
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„Die Verfassung schreibt aber keinen Wahlmodus vor. Eine Verhältniswahl wäre deshalb an sich möglich gewesen. Die Mehrheit des Ausschusses war der Ansicht, dass diese Wahlart sich mit den Funktionen der richterlichen Mitglieder nicht vertrüge. Sie hat auch die Wahl mit einfacher Mehrheit nicht für richtig gehalten, weil das hohe Amt eines richterlichen Mitgliedes dann auch von einer Minderheit des Landtages übertragen werden könnte. Deshalb, und weil es unter Umständen sehr schwer sein könnte, im Landtage selbst eine qualifizierte Mehrheit zustande zu bringen, hat die Mehrheit des Rechtsausschusses sich zum System der Wahlmänner, die mit Zweidrittelmehrheit zu wählen haben, entschlossen" (Abg. Dr. Kanka, ebd., S. 892). Dieses Wahlsystem, das den Zwang zur Einigung, den die qualifizierte Stimmenmehrheit erfordert, durch ein nichtöffentliches Verfahren praktikabel zu machen sucht und notwendig auf Kompromisse angelegt ist, versucht, den berufsrichterlichen Mitgliedern in ihrer besonderen Eigenart gerecht zu werden, sie aus der offenen parteipolitischen Debatte herauszuhalten und — was von besonderer Bedeutung ist — ihre berufliche Neutralität nicht durch die offene Zuordnung zu einer politischen Partei in Zweifel ziehen zu lassen. Diese besondere Rücksichtnahme aber ist allein dem Bild des in der Rechtsprechung tätigen Richters geschuldet, das Art. 127 Abs. 1 HV zugrunde liegt. Ist damit der Begriff des Richters auf Lebenszeit iSd § 3 Abs. 1 S. 2 StGHG auch dadurch charakterisiert, dass hauptamtlich jedenfalls keine andere als richterliche Tätigkeit wahrgenommen wird, so fehlt einem an eine Stelle außerhalb der Justiz abgeordneten Richter diese Voraussetzung der Wählbarkeit als berufsrichterliches Mitglied des Staatsgerichtshofs. Anders als im Falle etwa eines Gerichtspräsidenten, der nach § 4 Abs. 2 Nr. 1 DRiG außer Aufgaben der rechtsprechenden Gewalt auch Aufgaben der Gerichtsverwaltung wahrnehmen darf, ist dem zur Wahrnehmung von Aufgaben der gesetzgebenden oder der vollziehenden Gewalt abgeordneten Richter, soweit auf ihn keiner der Ausnahmetatbestände des § 4 Abs. 2 DRiG zutrifft, die Wahrnehmung rechtsprechender Gewalt durch § 4 Abs. 1 DRiG sogar ausdrücklich untersagt. Jemand, der wegen einer von ihm ausgeübten mit Rechtsprechung inkompatiblen Tätigkeit nicht einmal richten darf, kann auch nicht Richter iSd an Art. 130 HV anknüpfenden § 3 Abs. 1 S. 2 StGHG sein. II. Gegen das Ausscheiden aus dem Staatsgerichtshof als Folge der Abordnung eines Richters an eine Stelle außerhalb der rechtsprechenden Gewalt lässt sich auch der temporäre Charakter von Abordnungen nicht mit Erfolg anführen. Dieser temporäre Charakter kommt darin zum Ausdruck, dass eine Abordnimg nach § 37 Abs. 2 DRiG auf eine bestimmte Zeit auszusprechen ist. Dem entspricht die Rechtsauffassung, dass die Abordnung nicht zum Eindruck einer auf Dauer angelegten Tätigkeit führen darf, ihr Charakter als vorübergehende Tätigkeit erhalten bleiben muss (vgl. Fürst/Mühl/ Arndt, in: Fürst (Hrsg.), Gesamtkommentar Öffentliches Dienstrecht, Stand: Oktober 2000, Bd. I, Teil 4: Richterrecht, § 37 Rn. 4). LVerfGE 11
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In der Praxis kommt es indessen durchaus zu Abordnungen von Richtern, die durch mehrfache Verlängerung in eine dauerhafte Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben einmünden, bei welcher der schließliche Wechsel in das Beamtenverhältnis einen längst erfolgten inhaltlichen Wechsel von richterlicher zu Verwaltungstätigkeit nur noch formell bestätigt. Dass die lediglich formelle Beibehaltung des Richterstatus bei dauerhafter hauptamtlicher Wahrnehmung nichtrichterlicher Aufgaben nicht ausreicht, um Richter iSv Art. 130 HV, § 2 Abs. 1, § 3 Abs. 1 S. 2 StGHG zu sein, liegt auf der Hand. Die Festlegung einer Abordnungsdauer durch den Staatsgerichtshof, deren Überschreitung erst zum Verlust der Eigenschaft als Richter im Sinne der genannten Normen wegen dauerhafter hauptamtlicher Wahrnehmung nichtrichterlicher Aufgaben fuhrt, kommt aber, abgesehen von den schwer vermeidbaren dezisionistischen Elementen einer solchen Festlegung, schon deshalb nicht in Betracht, weil eine Ersetzung der hauptamtlichen richterlichen Tätigkeit durch eine hauptamtliche Tätigkeit in einem Ministerium oder beim Landtag mit dem Richterbild des Art. 130 HV und der daran anknüpfenden § 2 Abs. 1, § 3 Abs. 1 S. 2 StGHG nicht vereinbar ist. III. Dem temporären Charakter von Abordnungen kann auch nicht dadurch Rechnung getragen werden, dass eine Abordnung lediglich für ihre Dauer die Ausübung des Amtes als berufsrichterliches Mitglied des Staatsgerichtshofs hindert, die Mitgliedschaft im Staatsgerichtshof als solche hingegen unberührt lässt. Für eine Mitgliedschaft im Staatsgerichtshof bei gleichzeitigem abordnungsbedingtem Ruhen der Mitgliedschaftsrechte und -pflichten gibt es keine Rechtsgrundlage. Eine analoge Anwendung der §§ 4, 37 DRiG in dem Sinne, dass ein Richter bei Beibehaltung seines Status als berufsrichterliches Mitglied des Staatsgerichtshofs zu einem Ministerium oder zum Landtag abgeordnet werden kann, während der Dauer der Abordnung aber keine Rechtsprechung ausüben darf, kann nicht in Betracht kommen. Sie widerspräche der gesetzlichen Regelung der Mitwirkungsrechte von ständigen und stellvertretenden Mitgliedern des Staatsgerichtshofs. Die Rechte des Landtags hinsichtlich der Wahl der ständigen und der stellvertretenden Mitglieder des Staatsgerichtshofs würden verkürzt und der Sinn des aufwendigen Wahlverfahrens unterlaufen.
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Entscheidungen des Landes Verfassungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern
Die amtierenden Richterinnen und Richter des Landesverfassungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern Dr. Gerhard Hückstädt, Präsident Helmut Wolf, Vizepräsident Peter Häfner Dr. Dietmar Schneider Brunhild Steding Joachim von der Wense Prof. Dr. Maximilian Wallerath
Stellvertreterinnen und Stellvertreter Dr. Siegfried Wiesner Klaus-Dieter Essen Matthias Lipsky Dr. Christa Unger Karin Schiffer Rolf Christiansen Gudrun Köhn
Großer Lauschangriff
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Nr. 1* 1. Eine Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen ein Gesetz ist zulässig, wenn in ihm bestimmt ist, daß davon abgesehen werden kann, einen heimlich durchgeführten Vollzugsakt nachträglich den Betroffenen bekanntzugeben. 2. Die Gesetzgebungskompetenz des Landes aus Art. 70 GG für das allgemeine Recht der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ist auch dafür gegeben, daß das Landesrecht den Weg dazu eröffnet, präventiv erhobene Daten zur Strafverfolgung umzuwidmen. Die Befugnis zur Nutzung dieser Daten für die Strafverfolgung kann sich nur aus dem Strafverfahrensrecht ergeben. 3. Art. 5 Abs. 3 der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern (LV), wonach die im Grundgesetz festgelegten Grundrechte und staatsbürgerlichen Rechte Bestandteil dieser Verfassung sind, verweist auf die jeweils geltende — gegebenenfalls nach Inkrafttreten der Landesverfassung geänderte — Fassung der einschlägigen Bestimmungen des Grundgesetzes („dynamische Verweisung"). 4. Die in Art. 13 Abs. 4 S. 1 GG n.F. verwendeten Begriffe, welche die notwendigen inhaltlichen Voraussetzungen der Überwachung von Wohnungen zum Zweck der Gefahrenabwehr fesdegen, sind vorrangig nicht nach Maßgabe des Rechts der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, sondern spezifisch verfassungsrechtlich auszulegen. 5. Eine Vorschrift, die der Polizei die Befugnis gibt, zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person Wohnungen mit technischen Mitteln zu überwachen, entspricht den inhaltlichen Anforderungen des durch Art. 5 Abs. 3 LV in den Grundrechtsbestand des Landes inkorporierten Art. 13 Abs. 4 S. 1 GG n.F. Vor Inkrafttreten dieser Verfassungsnorm ermächtigte Art. 13 Abs. 3 GG a.F. zu einer solchen Regelung. 6. Art. 13 Abs. 4 GG bietet keine Grundlage für die Überwachung von Wohnungen mit technischen Mitteln zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten im Sinne der polizeilichen Aufgabenzuweisung nach § 7 Abs. 1 Nr. 4 SOG M-V.
* Die Entscheidung ist im Volltext beim Landesverfassungsgericht des Landes MecklenburgVorpommern erhältlich (Adresse s. Anhang).
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Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern
a) Für den Begriff „öffentliche Sicherheit" in Art. 13 Abs. 4 S. 1 GG hat die Nennung,insbesondere einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr" eine tatbestandsteuernde Funktion. Andere Gefahren müssen, damit zu ihrer Abwehr Wohnungen heimlich überwacht werden dürfen, von vergleichbarer Wertigkeit sein. b) Auch durch den Begriff „dringend" wird betont, daß der Eingriff nur zum Schutz besonders hochrangiger Rechtsgüter zulässig ist. c) Die organisierte Begehungsform von Straftaten ist kein Umstand, der generell oder auch nur regelmäßig geeignet wäre, ihnen ein solches Gewicht zu geben, daß sie in den Anwendungsbereich von Art. 13 Abs. 4 GG hineinwüchsen. Nur ein geringer Teil der banden-, gewerbs-, serienmäßig oder sonst organisiert begangenen Kriminalität ist organisierte Kriminalität. Wie weit das Drohen von Straftaten der organisierten Kriminalität die heimliche Überwachung von Wohnungen rechtfertigen kann, hat der Gesetzgeber zu erwägen. d) Der Begriff „Abwehr" in Art. 13 Abs. 4 S. 1 GG schließt es aus, daß Wohnungen mit technischen Mitteln zur Verhütung von Störungen der öffentlichen Sicherheit, die nicht unmittelbar bevorstehen, und zur möglichen Verfolgung künftiger Straftaten überwacht werden. 7. Der durch ihren Art. 5 Abs. 3 in die Landesverfassung einbezogene Art. 13 Abs. 4 GG bestimmt in verfassungsmäßiger Weise Grenzen der in Art. 13 Abs. 1 GG gewährleisteten Unverletzlichkeit der Wohnung. In der heimlichen Überwachung von Wohnungen liegt ein Eingriff von höchster Intensität. Auf allen Stufen des Eingriffs ist strikt das Prinzip der Verhältnismäßigkeit zu beachten. 8. Andere als die für die Gefahr verantwortlichen Personen dürfen durch die Überwachung von Wohnungen nur betroffen werden, soweit das unvermeidbar ist. 9. Besondere Vertrauensverhältnisse — ζ. B. unter Ehepartnern — sind bei Eingriffen, durch die schwere Schäden für besonders hohe Rechtsgüter abgewendet werden sollen, nicht absolut geschützt. Indessen ist ein Eingriff in Vertrauensverhältnisse nachrangig gegenüber einem Eingriff, durch den Vertrauensverhältnisse nicht berührt werden. 10. Auch für mittels Amts- oder Berufsgeheimnis geschützte Vertrauensverhältnisse darf für den polizeilichen Notstand bestimmt werden, daß ihr Schutz hinter dem Allgemeininteresse an der Verhinderung schwerer Schäden für besonders hochrangige Rechtsgüter zurücktritt. 11. Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, daß für den Bereich der Gefahrenabwehr Strafverteidiger nicht aus dem Kreis derjenigen herausLVerfGE 11
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genommen worden sind, die im polizeilichen Notstand unter engen gesetzlichen Voraussetziingen Betroffene einer heimlichen Datenerhebung sein können. 12. Die im Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Mecklenburg-Vorpommern enthaltenen Verfahrensvorschriften über die Anordnung der Überwachung von Wohnungen mit technischen Mitteln sind verfassungsmäßig. 13. Die Zielpersonen, auf die sich eine Überwachung richtet, und die anderen von der Maßnahme Betroffenen haben grundsätzlich einen Anspruch auf Unterrichtung. 14. Die Einleitung eines Ermitdungsverfahrens entbindet die Polizei nicht von ihrer Verantwortung dafür, daß die Unterrichtung des Betroffenen sicherzustellen ist. 15. Eine Regelung, nach welcher der Landesbeauftragte für den Datenschutz erst dann zu unterrichten ist, wenn die Überwachung den Betroffenen nach fünf Jahren nach Abschluß der Maßnahme nicht mitgeteilt worden ist, ist verfassungswidrig. 16. Personenbezogene Daten, welche die Polizei aus der Überwachung von Wohnungen oder von besonderen Vertrauensverhältnissen zum Zweck der Gefahrenabwehr erlangt hat, dürfen nur insoweit zur Strafverfolgung umgewidmet werden, als es sich um Straftaten handelt, bei denen der Eingriff auch im Strafverfahren hätte stattfinden können. Grundgesetz Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1, Art. 13 Abs. 1, Art. 13 Abs. 3, Art. 13 Abs. 3 a.F., Art. 13 Abs. 4, Art. 13 Abs. 6, Art. 13 Abs. 7, Art. 70 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes Art. 1 Strafgesetzbuch §§ 129 Abs. 1,129a, 203, 261, 324 bis 330a Strafprozeßordnung §§ 53, 53a, 100a, 100c Abs. 1 Nr. 1, lOOd Abs. 3 S. 1, lOOf Abs. 1,101, § 148 Landesverfassungsgerichtsgesetz §§11 Abs. 1 Nr. 8, § 51 Abs. 1, § 52 S. 1 Landesverfassung Mecklenburg-Vorpommern Art. 5 Abs. 3, Art. 6 Abs. 1 Sicherheits- und Ordnungsgesetz §§ 7 Abs. 1 Nr. 4, 33, 34, 45, 49, 71 Abs. 1 Landesdatenschutzgesetz §§ 25 Abs. 6 S. 1, 26, 28 Urteil vom 18. Mai 2000 - LVerfG 5/98 LVerfGE 11
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in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde gegen § 33 Abs. 4 und 6 Sicherheitsund Ordnungsgesetz Mecklenburg-Vorpommern Entscheidungs formel: I. Unter Zurückweisung der Verfassungsbeschwerde im übrigen wird festgestellt: 1. § 33 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 des Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Mecklenburg-Vorpommern (Sicherheits- und Ordnungsgesetz — SOG M-V —) in der Neufassung vom 25. März 1998 (GVOB1. M-V S. 335), neu gefaßt durch Art. 1 Nr. 19 Buchst, e) des Ersten Gesetzes zur Änderung des Sicherheits- und Ordnungsgesetzes vom 9. Februar 1998 (GVOB1. M-V S. 126), ist mit Art. 5 Abs. 3 der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern iVm Art. 13 Abs. 1 und 4 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig. 2. § 33 Abs. 6 S. 1 des Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Mecklenburg-Vorpommern, angefügt durch Art. 1 Nr. 19 Buchst, f) des Ersten Gesetzes zur Änderung dieses Gesetzes, ist mit Art. 5 Abs. 3 der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern iVm Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes insoweit unvereinbar und nichtig, als dort der Polizei die Befugnis gegeben worden ist, personenbezogene Daten mit technischen Mitteln außerhalb von Wohnungen unter den Voraussetzungen des Absatzes 4 S. 1 Nr. 2 zu erheben. 3. § 34 Abs. 2 S. 3 des Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Mecklenburg-Vorpommern, neu gefaßt durch Art. 1 Nr. 20 Buchst, c) des Ersten Gesetzes zur Änderung dieses Gesetzes, ist mit Art. 6 Abs. 1 sowie mit Art. 5 Abs. 3 der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern iVm Art. 13 Abs. 1 und 4, Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig. 4. § 34 Abs. 5 S. 2 des Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Mecklenburg-Vorpommern ist mit Art. 6 Abs. 1 und 2 sowie mit Art. 5 Abs. 3 der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern iVm Art. 13 Abs. 1 und 4, Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes unvereinbar. II. Die Entscheidung ergeht kostenfrei. Das Land Mecklenburg-Vorpommern hat den Beschwerdeführern drei Viertel ihrer notwendigen Auslagen zu erstatten.
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Entscheidungsgründe: A. Mit ihrer am 17.9.1998 erhobenen Verfassungsbeschwerde wenden sich die Beschwerdeführer dagegen, daß in Mecklenburg-Vorpommern die Polizei von Gesetzes wegen befugt ist, mit technischen Mitteln in und aus Wohnungen sowie aus mittels Amts- oder Berufsgeheimnis geschützten Vertrauensverhältnissen Daten zu erheben (sogenannter großer Lauschangriff, großer Spähangriff).
I. 1. § 33 Abs. 4 S. 1 des Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Mecklenburg-Vorpommern (Sicherheits- und Ordnungsgesetz — S O G M-V —) vom 4.8.1992 (GVOB1. M-V S. 498) lautete: In oder aus Wohnungen kann die Polizei personenbezogene Daten mit den in Abs. 1 genannten Mitteln nur erheben, wenn dies zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben einer Person unerläßlich ist. 2. Durch Art. 1 Nr. 19 Buchst, e) und f) des Ersten Gesetzes zur Änderung des Sicherheits- und Ordnungsgesetzes vom 9.2.1998 (GVOB1. M-V S. 126) wurde § 33 Abs. 4 des Sicherheits- und Ordnungsgesetzes, das nunmehr in der Neufassung vom 25.3.1998 (GVOB1. M-V S. 335) gilt, neu gefaßt und ein neuer Absatz 6 angefügt. Diese Regelungen sind Gegenstand der Verfassungsbeschwerde. Sie lauten: (4) In und aus Wohnungen von Personen, die fur eine Gefahr verantwortlich sind, kann die Polizei personenbezogene Daten mit technischen Mitteln nur erheben 1. über Personen, die für eine Gefahr verantwortlich sind, und unter den Voraussetzungen des § 71 Abs. 1 über andere Personen zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder 2. über Personen, bei denen Tatsachen die Annahme der Gefahr rechtfertigen, daß sie mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in näherer Zeit banden-, gewerbs-, serienmäßig oder sonst organisiert ein Verbrechen oder ein Vergehen im Sinne des § 100a der Strafprozeßordnung, nach den §§ 261 oder 324 bis 330a des Strafgesetzbuches begehen werden, zur Verhütung dieser Straftaten oder ihrer möglichen Verfolgung, soweit dies hierzu unerläßlich ist. In oder aus Wohnungen von Personen, die nicht für eine Gefahr verantwortlich sind, ist die Datenerhebung nur zulässig, wenn die Gefahrenabwehr auf andere Weise nicht oder nicht rechtzeitig möglich wäre und dabei überwiegende Rechte und Pflichten der Personen nicht verletzt werden ...
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Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern (5) ... (6) Aus einem mittels Amts- oder Berufsgeheimnis geschützten Vertrauensverhältnis im Sinne der § 53, 53a der Strafprozeßordnung kann die Polizei personenbezogene Daten mit technischen Mitteln außerhalb von Wohnungen nur unter den Voraussetzungen des Absatzes 4 S. 1 Nr. 1 und 2 erheben und in oder aus Wohnungen nur unter den Voraussetzungen des Absatzes 4 S. 1 Nr. 1. Ein Eingriff mit technischen Mitteln in das Beichtgeheimnis ist nicht zulässig.
In § 33 Abs. 1 Nr. 2 S O G M-V ist als ein besonderes Mittel der Datenerhebung bezeichnet: der verdeckte Einsatz der durch Verwaltungsvorschrift des Innenministeriums zugelassenen technischen Mittel, insbesondere solcher zur Bild- und Tonüberwachung oder Bild- und Tonaufzeichnung. In § 34 S O G M-V, der teilweise in der ursprünglichen, teilweise in geänderter Fassung gilt, ist das Verfahren beim Einsatz besonderer Mittel der Datenerhebung geregelt. 3. Der Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Sicherheits- und Ordnungsgesetzes wurde am 7.4.1997 durch die Landesregierung eingebracht (LT-Drs. 2 / 2 4 6 8 v. 8.4.1997). In der ersten Lesung vom 23.4.1997 (PlenProt. 2/59, S. 3569ff) überwies der Landtag den Gesetzentwurf an den Innenausschuß und zur Mitberatung an den Rechtsausschuß. Die Ausschüsse veranstalteten in einer gemeinsamen Sitzung am 29.10.1997 eine öffentliche Anhörung zu dem Gesetzentwurf. D o r t wurden vornehmlich, einschließlich der datenschutzrechtlichen Probleme, Fragen zu den im Änderungsgesetz erstmalig geregelten ereignis- und verdachtsunabhängigen Kontrollen sowie zum verdeckten Einsatz technischer Mittel erörtert. Der Innenausschuß legte seine Beschlußempfehlung und seinen Bericht am 21.1.1998 (LT-Drs. 2/3478) vor. Zum verdeckten Einsatz technischer Mittel und zum Eingriff in geschützte Vertrauensverhältnisse empfahl er, anders als zur ereignis- und verdachtsunabhängigen Identitätsfeststellung, eine Reihe von Änderungen des Gesetzentwurfs. Der Landtag führte die zweite Lesung und Schlußabsdmmung am 28.1.1998 durch (PlenProt. 2 / 7 6 , S. 4757 ff). Das Gesetz wurde in der Fassung der Empfehlungen des Innenausschusses in namentlicher Abstimmung verabschiedet. Das Änderungsgesetz ist am 19.2.1998 in Kraft getreten. 4. Nach Abschluß des Gesetzgebungsverfahrens in Mecklenburg-Vorpommern ist das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 13) vom 26.3.1998 (BGBl. I, 610) erlassen worden. In Art. 13 G G sind neue Absätze 3 bis 6 eingefugt worden; der bisherige Absatz 3 wurde Absatz 7. Art. 13 G G lautet nunmehr: (1) Die Wohnung ist unverletzlich. (2) . . .
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(3) Begründen bestimmte Tatsachen den Verdacht, daß jemand eine durch Gesetz einzeln bestimmte besonders schwere Straftat begangen hat, so dürfen zur Verfolgung der Tat auf Grund richterlicher Anordnung technische Mittel zur akustischen Überwachung von Wohnungen, in denen der Beschuldigte sich vermutlich aufhält, eingesetzt werden, wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise unverhältnismäßig erschwert oder aussichtslos wäre. Die Maßnahme ist zu befristen. Die Anordnung erfolgt durch einen mit drei Richtern besetzten Spruchkörper. Bei Gefahr im Verzuge kann sie auch durch einen einzelnen Richter getroffen werden. (4) Zur Abwehr dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit, insbesondere einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr, dürfen technische Mittel zur Uberwachung von Wohnungen nur auf Grund richterlicher Anordnung eingesetzt werden. Bei Gefahr im Verzuge kann die Maßnahme auch durch eine andere gesetzlich bestimmte Stelle angeordnet werden; eine richterliche Entscheidung ist unverzüglich nachzuholen. (5) ... (6) Die Bundesregierung unterrichtet den Bundestag jährlich über den nach Absatz 3 sowie über den im Zuständigkeitsbereich des Bundes nach Absatz 4 und, soweit richterlich überprüfungsbedürftig, nach Absatz 5 erfolgten Einsatz technischer Mittel. Ein vom Bundestag gewähltes Gremium übt auf der Grundlage dieses Berichts die parlamentarische Kontrolle aus. Die Länder gewährleisten eine gleichwertige parlamentarische Kontrolle. (7) Eingriffe und Beschränkungen dürfen im übrigen nur zur Abwehr einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr für einzelne Personen, auf Grund eines Gesetzes auch zur Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, insbesondere zur Behebung der Raumnot, zur Bekämpfung von Seuchengefahr oder zum Schutze gefährdeter Jugendlicher vorgenommen werden. Das Änderungsgesetz ist am 1.4.1998 in Kraft getreten. II. Die Beschwerdeführer sind in Mecklenburg-Vorpommern als Rechtsanwälte in überörtlicher Sozietät tätig. Sie wirken auch als Verteidiger in Strafprozessen. Ihre Verfassungsbeschwerde gegen § 33 Abs. 4 und Abs. 6 SOG M-V begründen sie wie folgt: (...)
III. Die Landesregierung hält die Verfassungsbeschwerde für zulässig, aber unbegründet. (...) LVerfGE 11
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IV. (...) V. (...) B. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. 1. Die Verfassungsbeschwerde ist nach Art. 53 Nr. 6 LV, § 11 Abs. 1 Nr. 8 LVerfGG statthaft. Nach diesen Vorschriften können Landesgesetze Gegenstand von Verfassungsbeschwerden sein. Die vorliegende Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Neufassung von § 33 Abs. 4 SOG M-V durch Art. 1 Nr. 19 Buchst, e) des Ersten Gesetzes zur Änderung des Sicherheits- und Ordnungsgesetzes sowie die Anfügung des § 33 Abs. 6 SOG M-V durch Art. 1 Nr. 19 Buchst, f) des Änderungsgesetzes, mithin gegen ein Landesgesetz. 2. Die fur Verfassungsbeschwerden gegen Landesgesetze in § 52 S. 1 LVerfGG festgelegte Frist von einem Jahr seit Inkrafttreten des Gesetzes ist eingehalten. 3. Dem Begründungserfordernis aus § 53 LVerfGG ist genügt. Die Beschwerdeführer haben hinreichend Rechte, die verletzt sein sollen, bezeichnet, nämlich ihre Grundrechte aus Art. 5 Abs. 3 LV iVm Art. 6 Abs. 1,12 Abs. 1 und 13 Abs. 1 GG. Als verletzende gesetzliche Bestimmungen haben sie § 33 Abs. 4 und 6 SOG M-V bezeichnet. Auch haben sie verdeutlicht, weshalb aus ihrer Sicht diese gesetzlichen Regelungen nicht der Landesverfassung genügen sollen. 4. Die Beschwerdeführer sind gem. Art. 53 Nr. 6 LV, § 51 Abs. 1 LVerfGG beschwerdebefugt. a) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 1, 97, 101; 64, 301, 319; 81, 70, 82; 90, 128, 135; 100, 313, 354) setzt die Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz voraus, daß der Beschwerdeführer durch dieses selbst, gegenwärtig und unmittelbar in Grundrechten betroffen ist; ergibt sich die Betroffenheit erst aus der Gesetzesanwendung, so kann Verfassungsbeschwerde nur gegen den Vollzugsakt erhoben werden. Dem hat sich das Landesverfassungsgericht für den Rechtskreis des Landes angeschlossen (Urt. v. 9.7.1998, NordÖR 1998, 302, 302 f; Zwischenurteil v. 6.5.1999, VwRR MO 1999,265,266 = DÖV1999,643 = NVwZ-RR 1999, 617 = NordÖR 1999, 501). Das gilt um so mehr, als in den genannten Vorschriften der Landesverfassung und des Landesverfassungsgerichtsgesetzes das Erfordernis, unmittelbar betroffen zu sein, ausdrücklich aufgenommen worden ist. Die von den Beschwerdeführern angegriffenen Vorschriften des Sicherheits- und Ordnungsgesetzes bedürfen der Umsetzung durch polizeiliches Handeln. Selbst, LVerfGE 11
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gegenwärtig und unmittelbar betroffen wären die Beschwerdeführer mithin erst, wenn eine Überwachungsmaßnahme, bei der Bild- oder Tonaufnahmen von ihnen gemacht werden dürfen, ergriffen worden wäre oder unmittelbar bevorstände. Anhaltspunkte dafür sind nicht ersichtlich. b) Jedoch kann nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 30,1,16f; 100, 313, 354 = NJW 2000, 55, 56) ein Gesetz, obwohl erst ein Vollzugsakt den Einzelnen selbst, gegenwärtig und unmittelbar beschweren würde, dann unmittelbar angegriffen werden, wenn fachgerichtlicher Rechtsschutz gegen den Vollzugsakt nicht möglich wäre, weil der Betroffene keine Kenntnis von ihm erhalten würde. Dieser Rechtsprechung schließt sich das Landesverfassungsgericht für seinen Rechtskreis an. Daran ist es nicht dadurch gehindert, daß in der Rechtsordnung des Landes Mecklenburg-Vorpommern die unmittelbare Betroffenheit durch ein Gesetz ausdrücklich zu einer Voraussetzung der Verfassungsbeschwerde gegen dieses gemacht worden ist (§51 Abs. 1 LVerfGG). Der Verfassunggeber hat mit der Herausstellung dieses Erfordernisses die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts übernommen, nicht aber höhere Hürden errichtet, als sie für Verfahren der Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht bestehen. Mithin hat das Landesverfassungsgericht die Befugnis, Ausnahmen von diesem Erfordernis anzuerkennen. Die Ausnahme ist hier geboten, weil, wenn der Einzelne nichts von der Maßnahme erfährt, einzig über die Anfechtung unmittelbar des Gesetzes bei einem Verfassungsgericht Rechtsschutz erlangt werden kann. Die Anfechtung unmittelbar des Gesetzes beim Landesverfassungsgericht ist nicht nur dann zulässig, wenn nach der gesetzlichen Regelung die Betroffenen niemals Kenntnis von einem heimlichen Vollzugsakt der in Rede stehenden Art erhalten, sondern darüber hinaus auch dann, wenn eine nachträgliche Bekanntgabe zwar vorgesehen ist, von ihr aber abgesehen werden kann. Denn dann ist ebenfalls nicht gewährleistet, daß der Betroffene gem. Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG fachgerichtlichen Rechtsschutz erlangen kann. c) Nach diesen Maßstäben ist die Beschwerdebefugnis zu bejahen: Es ist möglich, daß die Beschwerdeführer von der Anwendung technischer Mittel nach Maßgabe von § 33 Abs. 4 und 6 SOG M-V betroffen werden können. Sollte dies geschehen, wäre fachgerichtlicher Rechtsschutz vor oder während der Überwachung wegen deren notwendiger Heimlichkeit höchstwahrscheinlich ausgeschlossen. Auch nachträglicher Rechtsschutz wäre nicht gewährleistet. Freilich bestimmt § 34 Abs. 5 S. 1 SOG M-V, daß nach Abschluß einer Überwachung mit technischen Mitteln der Betroffene zu unterrichten ist, sobald dies ohne Gefährdung des Zwecks der Maßnahme geschehen kann. Die Pflicht zur Unterrichtung entfällt jedoch teilweise; ferner kann sie zum Teil in einer Weise hinausgeschoben werden, daß ein effektiver Rechtsschutz auch nach einer endlich gegebenen Mitteilung äußerst fraglich wäre: Nach § 34 Abs. 6 S. 1 SOG M-V ist die Unterrichtung dann nicht geboten, wenn keine Aufzeichnungen mit personenbezogenen Daten erstellt oder sie unverzüglich LVerfGE 11
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nach Beendigung der Maßnahme vernichtet worden sind. Dann steht es also im behördlichen Ermessen, ob dem Betroffenen eröffnet wird, daß ein Grundrechtseingriff stattgefunden hat. Nach § 34 Abs. 6 S. 2 SOG M-V unterbleibt die Unterrichtung, wenn sich an den auslösenden Sachverhalt ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen den Betroffenen anschließt. Diese Vorschrift kann so verstanden werden, daß die Unterrichtung auch dann nicht stattfindet, wenn die Uberwachungsmaßnahme im Ermittlungsverfahren nicht offenbart wird; bei dieser Interpretation würde der Betroffene niemals etwas von der Maßnahme erfahren. Somit würde bei einem Absehen von der Unterrichtung in Fällen dieser Art die Möglichkeit eines Rechtsschutzes überhaupt ausscheiden. Das genügt, um die Befugnis zur Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen das Gesetz zu bejahen. d) Das Landesverfassungsgericht kann danach dahinstehen lassen, ob die Beschwerdebefugnis sich auch daraus ergibt, daß der verwaltungsgerichtliche Rechtsschutz, auch soweit er möglich bleibt, beträchtlich erschwert und in seiner Effektivität beeinträchtigt sein kann. Aus § 34 Abs. 5 S. 2 SOG M-V folgt, daß bis zur Unterrichtung mehr als 5 Jahre nach dem Abschluß der Maßnahme vergehen können. Ferner kann die Vernichtung personenbezogener Daten vor der Unterrichtung (vgl. § 34 Abs. 6 S. 1 SOG M-V) dazu führen, daß nur noch beschränkt nachgeprüft werden kann, ob genügender Anlaß für eine Überwachung bestanden hat. C. Die Verfassungsbeschwerde ist zum Teil begründet. Es ist mit der Landesverfassung vereinbar, daß nach Maßgabe des § 33 Abs. 4 S. 1 Nr. 1, S. 2 SOG M-V personenbezogene Daten mit technischen Mitteln in oder aus Wohnungen zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person erhoben werden, soweit dies hierzu unerläßlich ist. Hingegen genügt die durch § 33 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 SOG M-V der Polizei gegebene Eingriffsbefugnis, ohne Vorliegen einer solchen akuten Gefahr für hochrangige Rechtsgüter technische Mittel zur Datenerhebung in oder aus Wohnungen einzusetzen, in verschiedener Hinsicht nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Die in § 33 Abs. 6 S. 1 SOG M-V getroffene Regelung über die Datenerhebung mit technischen Mitteln aus mittels Amts- oder Berufsgeheimnissen geschützten Vertrauensverhältnissen ist verfassungsmäßig, soweit eine Gefahrenlage iSd § 33 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SOG M-V besteht. Das gilt für die Datenerhebung in oder aus Wohnungen und gleichermaßen außerhalb von Wohnungen. Für Eingriffe bei geringerer Gefahr fehlt eine verfassungsmäßige Ermächtigungsgrundlage. Soweit die Anwendung technischer Mittel zur Erhebung personenbezogener Daten in oder aus Wohnungen oder aus geschützten Vertrauensverhältnissen zulässig ist, muß auch im Verfahren vor und nach Erhebung der Daten den Art. 5 Abs. 3 und LVerfGE 11
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Art. 6 Abs. 1 und 2 LV Rechnung getragen werden. Das erfordert teilweise eine verfassungskonforme Auslegung von Bestimmungen des Sicherheits- und Ordnungsgeset2es. Nicht mit der Verfassung vereinbar ist, daß nach § 34 Abs. 2 S. 3 SOG M-V Daten, die gem. § 33 Abs. 4 oder 6 SOG M-V über zufallig Betroffene erhoben worden sind, zur Verfolgung von Straftaten von erheblicher Bedeutung iSd § 49 SOG M-V verwendet werden dürfen. Die in § 34 Abs. 5 S. 2 SOG M-V festgelegte Verpflichtung, dem Landesbeauftragten für den Datenschutz erst 5 Jahre nach Abschluß der Maßnahme mitzuteilen, daß der Betroffene noch nicht unterrichtet worden ist, genügt ebenfalls nicht verfassungsrechtlichen Anforderungen. I. 1. Prüfungsgegenstand des Verfassungsbeschwerdeverfahrens sind die Vorschriften, in denen die materiellen Voraussetzungen für den verdeckten Einsatz technischer Mittel zur Erhebung personenbezogener Daten in oder aus Wohnungen sowie aus einem geschützten Vertrauensverhältnis festgelegt sind. Das sind zunächst die Sätze 1 und 2 des § 33 Abs. 4 SOG M-V. Nicht in das Verfahren einbezogen sind die Sätze 3 und 4 der Vorschrift. Sie befassen sich mit den Befugnissen eines verdeckten Ermittlers. Verfassungsrechtliche Probleme, die sich im Zusammenhang mit dem Einsatz von verdeckten Ermittlern in Wohnungen ergeben könnten, sind in der Beschwerdeschrift nicht angesprochen worden. Ein untrennbarer Regelungszusammenhang besteht zwischen den Normen über den verdeckten Einsatz technischer Mittel iSv § 33 Abs. 1 Nr. 2 SOG M-V und denjenigen über den Einsatz verdeckter Ermittler iSv Nr. 4 der Vorschrift nicht. In diesem Verfahren ist ferner die Verfassungsmäßigkeit von § 33 Abs. 6 S. 1 SOG M-V zu prüfen; S. 2 ist unter dem eingeschränkten Aspekt mit einzubeziehen, ob es verfassungsrechtlich zu rechtfertigen ist, daß nur das Beichtgeheimnis gegen den verdeckten Einsatz technischer Mittel absolut geschützt ist, während in die sonstigen durch ein Amts- oder Berufsgeheimnis geschützten Vertrauensverhältnisse unter gesetzlich bestimmten Voraussetzungen eingedrungen werden darf. 2. Notwendiger Bestandteil der gesetzlichen Regelung sind nicht nur die genannten, mit der Verfassungsbeschwerde ausdrücklich angegriffenen Vorschriften. Denn die Tragweite des verdeckten Einsatzes technischer Mittel zur Erhebung personenbezogener Daten in oder aus Wohnungen sowie aus geschützten Vertrauensverhältnissen erschließt sich erst, wenn zusätzlich die organisations- und verfahrensgestaltenden Normen in den Blick genommen werden. Den Anforderungen an das Verfahren kommt bei der heimlichen Erhebung personenbezogener Daten besondere Bedeutung zu, weil die herkömmlichen Schutzmechanismen, insbesondere die Erlangung vorbeugenden oder jedenfalls gleichzeitigen Rechtsschutzes, hier versagen (BbGVerfG, Urt. v. 30.6.1999, LKV1999,450,455). Diese in § 34 SOG M-V geregelten Anforderungen sind, soweit die in den genannten Vorschriften festgelegten materiellen Voraussetzungen für den verLVerfGE 11
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deckten Einsatz technischer Mittel der Verfassung entsprechen, mit zu überprüfen. Das gilt auch dann, wenn sie durch das Erste Änderungsgesetz nicht geändert worden sind; denn insoweit sind diese Vorschriften in ein anderes gesetzliches Umfeld eingebettet worden, so daß von ihrer Anwendung neue belastende Wirkungen ausgehen können (LVerfGM-V, Endurteil v. 21.10.1999, VwRRMO 1999,415,417 = LKV 2000,149,150 - unter Bezugnahme auf BVerfGE 100,313,356 = NJW 2000,55, 56). In die verfassungsrechtliche Überprüfung sind ferner die gesetzlichen Vorschriften über die Verarbeitung und Nutzung der durch die Überwachung erlangten Daten einzubeziehen. II. Im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde gegen landesgesetzliche Vorschriften hat das Landesverfassungsgericht auch der Frage nachzugehen, ob diese durch die Gesetzgebungskompetenz des Landes gedeckt sind (LVerfG M-V, aaO). Die Gesetzgebungszuständigkeit des Landes für das allgemeine Recht der öffentlichen Sicherheit und Ordnung folgt aus Art. 70 GG. Diesem Rechtsbereich sind die angegriffenen Vorschriften zuzurechnen. Mit ihnen hat der Landesgesetzgeber nicht in das gerichtliche Verfahren iSd Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG hinübergegriffen, das Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung ist; bei konkurrierender Gesetzgebung sind nach Art. 72 Abs. 1 GG die Länder zur Gesetzgebung nur befugt, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat. 1. § 33 Abs. 4 S. 1 Nr. 1, S. 2 SOG M-V ist eindeutig eine Regelung über die Gefahrenabwehr. Das bedarf keiner weiteren Ausführungen. 2. Auch § 33 Abs. 4 S. 1 Nr. 2, S. 2 SOG M-V hält sich innerhalb des Ordnungsrechts. Die Polizei ist danach befugt, personenbezogene Daten heimlich zur Verhütung oder zur möglichen Verfolgung im einzelnen bezeichneter Straftaten zu erheben. Die Verhütung von Straftaten und damit von künftigen Störungen der öffentlichen Sicherheit durch Sammeln von dafür geeigneten Informationen ist eine Aufgabe, die zum Bereich des Ordnungsrechts gehört. Gleiches gilt für das Sammeln von Daten zu dem Zweck, die künftige Verfolgung künftiger Straftaten zu ermöglichen, also Maßnahmen zur Sicherung eines künftigen gerichtlichen Verfahrens bereits zu einer Zeit zu ergreifen, bevor iSv § 152 Abs. 2 StPO zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine (begangene) Straftat vorliegen (können). Nach § 7 Abs. 1 Nr. 4 SOG M-V hat die Polizei demgemäß die Aufgabe, im Rahmen der Gefahrenabwehr auch Straftaten zu verhüten und für die Verfolgung künftiger Straftaten vorzusorgen (vorbeugende Bekämpfung von Straftaten). Diese Zuweisung von Aufgaben im Vorfeld künftiger Straftaten ist auf die Gesetzgebungskompetenz des Landes aus Art. 70 GG gegründet (LVerfG M-V, Endurteil v. 21.10.1999, VwRR MO 1999,415,417 = LKV 2000,149,150f). LVerfGE 11
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3. Die Gesetzgebungskompetenz des Landes ist auch dafür gegeben, daß das Landesrecht den Weg dazu eröffnet, präventiv erhobene Daten zur Strafverfolgung umzuwidmen. Derartige Vorschriften sind nicht so zu verstehen, daß sie eine Befugnis zur repressiven Nutzung der bei der präventiven Anwendung technischer Mittel gewonnenen Erkenntnisse begründen. Vielmehr kann sich die Befugnis zu einer solchen Nutzung nur aus dem Strafverfahrensrecht ergeben (ebenso Papier in: Maunz/ Dürig/Herzog/Scholz, GG, Lfg. Okt. 1999, Art. 13 Rn. 106). Das Land dagegen hat vorliegend nur geregelt, daß und in welchem Umfang personenbezogene Daten, die die Polizei in Erfüllung ihrer Aufgabe der Gefahrenabwehr gewonnen hat, zur Strafverfolgung herausgegeben werden dürfen. Damit greift das Land nicht auf das Strafverfahrensrecht hinüber, ebenso wie umgekehrt der Bund durch die Regelung des § lOOf Abs. 1 StPO nicht Gesetzgebung zum Ordnungsrecht ausgeübt hat. Nach dieser Vorschrift können durch den Einsatz akustischer Mittel zur Überwachung von Wohnungen gem. § 100c Abs. 1 Nr. 3 StPO ermittelte personenbezogene Informationen außer für Zwecke eines Strafverfahrens auch zur Abwehr einer im Einzelfall bestehenden Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder erhebliche Sach- oder Vermögenswerte verwendet werden. Dies ist keine bundesrechtliche Eingriffsbefugnis. Vielmehr muß die Nutzungsbefugnis sich aus Landesrecht ergeben. Nur wenn und soweit sie dort vorhanden ist, darf das Land die Informationen präventiv nutzen. III. 1. Maßstab für die verfassungsrechtliche Prüfung ist vornehmlich der durch ihren Art. 5 Abs. 3 in die Landesverfassung inkorporierte Art. 13 GG. Aus ihm ergibt sich, unter welchen inhaltlichen und verfahrensrechtlichen Voraussetzungen mit technischen Mitteln personenbezogene Daten in oder aus Wohnungen erhoben werden dürfen. Er enthält gegenüber dem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 LV, wonach jeder das Recht auf Schutz seiner personenbezogenen Daten hat, und gegenüber den Grundrechten aus Art. 5 Abs. 3 LV iVm Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG das speziellere, die allgemeinen Vorschriften insoweit verdrängende Grundrecht (vgl. BVerfGE 100, 313,358 = NJW 2000, 55,56 - zu Art. 10 GG). Da Art. 13 GG auch räumliche Bedingungen eines ungestörten privaten und beruflichen Lebens gewährleistet, sind bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung des Eingriffs die Art. 6 und 12 GG keine als Maßstabsnormen eigenständig hinzutretenden Grundrechte. Soweit es um die Modalitäten der nachträglichen Unterrichtung geht, tritt Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG hinzu. Das Grundrecht aus Art. 13 GG bleibt Maßstab auch für die Eingriffe nach Erhebung der Daten, also insbesondere deren Nutzung (ebenso Papier aaO Rn. 104). Mit dem Abstand von dem ersten Eingriff der Erhebung erlangen daneben aber auch andere Grundrechte, insbesondere dasjenige auf informationelle Selbstbestimmung, eigene Bedeutung. 2. Da das Erste Gesetz zur Änderung des Sicherheits- und Ordnungsgesetzes in Kraft getreten ist, bevor die Änderung des Art. 13 GG verabschiedet wurde, müssen LVerfGE 11
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die angegriffenen Vorschriften des Sicherheits- und Ordnungsgesetzes, um Bestand zu haben, sowohl mit der alten als auch mit der neuen Fassung des Art. 13 GG vereinbar sein. a) Soweit bei Inkrafttreten des Ersten Änderungsgesetzes am 19.2.1998 Vorschriften dieses Gesetzes der damals maßgeblichen alten Fassung des Art. 13 GG widersprochen haben sollten, wären sie nichtig gewesen, mithin nur scheinbar in Kraft getreten. Daran hätte sich mit dem Inkrafttreten der Neufassung von Art. 13 GG nichts ändern können, selbst wenn dadurch — erstmals — eine hinreichende verfassungsrechtliche Grundlage für die heimliche Anwendung technischer Mittel zur Erlangung von Informationen in oder aus Wohnungen gegeben worden wäre. Denn ein unter der Verfassung erlassenes Gesetz muß dieser zu jeder Zeit seiner Geltung genügen. Ein Gesetz darf nicht „im Vorgriff auf eine künftige Verfassungsänderung erlassen werden (vgl. BVerfGE 34, 9, 21 ff - zur Frage kompetenzbegründender Verfassungsänderungen). Eine „Heilung" eines nichtigen Gesetzes durch eine Verfassungsänderung gibt es nicht. b) Seit Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 13) am 1.4.1998 ist die neue Fassung des Art. 13 GG - weiterer — Prüfungsmaßstab im vorliegenden Verfahren. Die Änderung des Grundgesetzes hat nämlich zugleich unmittelbar auf die Landesverfassung in der Weise eingewirkt, daß nunmehr durch Art. 5 Abs. 3 LV der Art. 13 GG in seiner neuen Fassung in sie inkorporiert ist. Denn die im Grundgesetz festgelegten Grundrechte und staatsbürgerlichen Rechte sind in ihrer jeweils aktuell geltenden Fassung Bestandteil der Landesverfassung und damit unmittelbar geltendes Recht des Landes. Art. 5 Abs. 3 LV enthält somit eine dynamische Verweisung auf das Grundgesetz (Pirsch in: Thiele/Pirsch/Wedemeyer, Die Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Art. 5 Rn. 11; Starck Die Verfassungen der neuen deutschen Länder, S. 42; Classen in: Manssen/Schütz, Staats- und Verwaltungsrecht für Mecklenburg-Vorpommern, 1999, S. 22; Zwischenbericht der Kommission für die Erarbeitung einer Landesverfassung, LT-Drs. 1/2000 vom 30. April 1992, S. 73; Abschlußbericht der Kommission für die Erarbeitung der Landesverfassung, LT-Drs. 1/3100 vom 7. Mai 1993, S. 84). aa) Der Interpretation, daß Art. 5 Abs. 3 LV eine dynamische Verweisung enthält, steht nicht Art. 56 LV entgegen. Nach dessen Abs. 1 kann die Verfassung nur durch ein Gesetz geändert werden, das ihren Wortlaut ausdrücklich ändert oder ergänzt; nach Abs. 2 bedürfen verfassungsändernde Gesetze einer Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Landtages. Art. 5 Abs. 3 LV selbst ist aber gerade mit dem vom Willen des Verfassungsgebers getragenen Inhalt, daß — von den Art. 6 bis 10 LV abgesehen — der Grundrechtsbestand des Landes stets mit demjenigen des Bundes inhaltsgleich sein soll, Bestandteil der Verfassung. Nach Art. 56 Abs. 3 LV darf eine Verfassungsänderung der Würde des Menschen und den in Art. 2 LV niedergelegten Grundsätzen nicht widersprechen. Dort ist das LVerfGE 11
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Land Mecklenburg-Vorpommern als ein republikanischer, demokratischer, sozialer und dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen verpflichteter Rechtsstaat bezeichnet. Entsprechende Grenzen sind dem Verfassunggeber des Bundes, dessen Recht inkorporiert wird, durch Art. 79 Abs. 3 GG gezogen. bb) Die dynamische Verweisung verletzt nicht das in Art. 3 Abs. 1 LV niedergelegte demokratische Prinzip. Aus ihm wird abgeleitet, daß es dem jeweiligen Gesetzgeber obliegt, den Inhalt der Gesetze in eigenverantwortlicher parlamentarischer Willensbildung selbst zu bestimmen und dabei auch ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen (BVerfGE 47, 285, 315f). Zwar rezipiert der Gesetzgeber mit Verweisungen, die auf die jeweilige Fassung des Verweisungsobjektes Bezug nehmen, keinen bestimmten, ihm vor Augen stehenden Normenkomplex (Stern Deutsches Staatsrecht, Bd. II, S. 635; OssenbühlOVSA. 1967, 401, 404ff). Er muß die gesetzlichen Tatbestände jedoch nicht stets selbst umschreiben, sondern darf im Wege sowohl der statischen als auch der dynamischen Verweisung auf andere Vorschriften Bezug nehmen (BVerfGE 26,338,366; 60,135,155; 64,208,214f; BVerwG, Urt. v. 3.3.1989, BayVBl. 1990,249, 251). Indessen ist es dem Gesetzgeber versagt, sich seiner Verantwortung für den Inhalt der Normierung völlig zu entäußern. Dynamische Verweisungen dürfen nicht zu einer versteckten Verlagerung von Gesetzgebungsbefugnissen führen. Die dem Demokratieprinzip endehnte Forderung, der zuständige Gesetzgeber müsse den Inhalt der von ihm verantworteten Gesetze in seinen Willen aufgenommen haben, verlangt deshalb, daß der Inhalt der Regelungen, auf die verwiesen wird, im wesentlichen feststeht (BVerfGE 60,135,154f). Das ist bei dem Bestand des Grundgesetzes an Grundrechten und staatsbürgerlichen Rechten der Fall. Diese Rechte stehen allgemein bekannt fest, und sie dürfen nach Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG nur durch ein Gesetz geändert werden, das den Wordaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändert oder ergänzt. Zudem bedarf nach Art. 79 Abs. 2 GG ein solches Gesetz der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates. Endlich sind die Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG einzuhalten. Die Grundrechte und staatsbürgerlichen Rechte des Grundgesetzes gelten ohnehin in ihrer jeweiligen aktuellen Fassung als Bundesrecht unmittelbar auch ohne Rezeption durch die Landesverfassung in deren Geltungsbereich. Sie binden nach Art. 1 Abs. 3,20 Abs. 3 GG, Art. 4 LV die Landesstaatsgewalt. Im Kollisionsfall gehen sie nach Art. 31 GG dem Landesrecht, auch dem Landesverfassungsrecht, vor. Somit bewirkt die Inkorporierung in das Verfassungsrecht des Landes, daß die Bindung der Staatsgewalt des Landes verdeutlicht wird, und verhindert durch die Ausgestaltung als dynamische Verweisung, daß zwischen Grundrechten des Landes und denen des Bundes Konflikte auftreten können (vgl. Art. 142 GG). c) In den Vordergrund seiner Erwägungen stellt das Landesverfassungsgericht die Überprüfung am Maßstab der neuen Fassung des Art. 13 GG. Soweit festgestellt LVerfGE 11
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wird, daß Vorschriften des Sicherheits- und Ordnungsgesetzes mit der Landesverfassung unvereinbar sind, erübrigt sich eine Erörterung, ob sie auch den Erfordernissen der alten Fassung nicht genügt hätten. Soweit die Vorschriften der neuen Fassung gerecht werden, wird kurz herauszustellen sein, daß sie auch bei einem engen Verständnis von Art. 13 a.F. diesem ebenfalls nicht widersprochen haben (s. u. IV. 5.). 3. Durch das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 13) vom 26.3.1998 (BGBl. I, 610) hat der verfassungsändernde Gesetzgeber erstmals eine Grundlage dafür gegeben, daß technische Mittel zur akustischen Überwachung von Wohnungen zum Zwecke der Strafverfolgung eingesetzt werden dürfen (Art. 13 Abs. 3 n.F.). Hingegen konnte für das Ordnungs- und Polizeirecht schon zuvor Art. 13 Abs. 3 GG a.F. eine Grundlage für die Überwachung von Wohnungen mit technischen Mitteln bilden. Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat nunmehr in Art. 13 Abs. 4 n.F. GG eine spezifische Norm zur präventiven Überwachung von Wohnungen mit technischen Mitteln gegeben. Diese Regelung ist, wie in der Begründung des Regierungsentwurfs (BT-Drs. 13/8650, S. 5) ausgeführt, abschließend. Sowohl für den präventiven als auch für den repressiven Bereich ist in Art. 13 Abs. 6 GG n.F. bestimmt, daß der Bundestag und die Parlamente der Länder in ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereichen in die Kontrolle von Wohnungsüberwachungen mit technischen Mitteln einzuschalten sind. Bei der Umschreibung der sachlichen Voraussetzungen für den Einsatz technischer Mittel zur Überwachung von Wohnungen mit präventiver Zielrichtung in Art. 13 Abs. 4 S. 1 GG n.F. hat der verfassungsändernde Gesetzgeber durchgängig Begriffe verwendet, die bereits in Abs. 3 a.F. = Abs. 7 n.F. enthalten sind, und sie in der neuen Vorschrift in den besonderen Zusammenhang der heimlichen Überwachung von Wohnungen gestellt. Der Eingriff darf „zur Abwehr" stattfinden; damit wird die Formulierung aus der ersten Alternative von Abs. 3 a.F. übernommen, der dort der Begriff „Verhütung" in der zweiten Alternative gegenübergestellt ist. Sowohl in Abs. 4 als auch in Abs. 3 a.F. — in beiden Alternativen — geht es darum, daß „Gefahren" begegnet wird. In Abs. 4 muß die Gefahr „für die öffentliche Sicherheit" bestehen, während die erste Alternative des Abs. 3 a.F. „eine gemeine Gefahr oder eine Lebensgefahr für einzelne Personen" voraussetzt; die gemeine Gefahr und die Lebensgefahr wiederum sind in Abs. 4 als diejenigen Gefahren hineingenommen, die „insbesondere" den Einsatz technischer Mittel zur Überwachung von Wohnungen rechtfertigen. Der Einsatz ist nach Abs. 4 nur zulässig zur Abwehr „dringender" Gefahren; nach der zweiten Alternative von Abs. 3 a.F. müssen die Gefahren, die verhütet werden sollen, „dringend" sein. Aus diesen systematischen Bezügen wird für die Auslegung von Art. 13 Abs. 4 GG deutlich, daß zwar die Voraussetzungen eines Eingriffs nach Art. 13 Abs. 4 S. 1 GG weiter gefaßt sind als diejenigen der ersten Alternative von Abs. 3 a.F., andererseits aber eine Nähe zu jenen gegeben ist. Diese aufgezeigten wesentlichen Zusammenhänge im System des Art. 13 GG sind bei seiner Auslegung zwingend zu berücksichtigen. Für die Auslegung des Abs. 4 bedeutet das: Die dort in Satz 1 auf der TatLVerfGE 11
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bestandsseite verwendeten Begriffe sind sämtlich auch in Gesetzen, die das Recht der öffentlichen Sicherheit und Ordnung regeln, gebräuchlich. Auch hat bei der Festlegung der Voraussetzungen, unter denen nach Art. 13 Abs. 3 a.F. (jetzt Abs. 7) GG Eingriffe und Beschränkungen stattfinden dürfen, die Begrifflichkeit des Ordnungsrechts im Hintergrund gestanden. Die Begriffe sind indessen in einen spezifisch verfassungsrechtlichen Zusammenhang gestellt worden. Das zeigt sich gerade auch nach der Neufassung eindeutig bei der Untersuchung der gegenseitigen Bezüge zwischen den Einzelregelungen, die in Art. 13 GG für unterschiedliche Felder getroffen worden sind. Abs. 4 ist also vorrangig nicht nach Maßgabe des Rechts der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowie eventueller Veränderungen der dort verwendeten Begriffe, sondern spezifisch verfassungsrechtlich auszulegen. Beispielsweise läßt das Grundgesetz den Ländern nicht die Freiheit, den Begriff der „Gefahr" iSv Art. 13 Abs. 4 GG ohne weiteres mit den verschiedenen polizeirechtlichen Ausformungen dieses Begriffs im Sinne ihrer jeweiligen Polizeigesetze zu identifizieren. Vielmehr determiniert der in Abs. 4 angeführte Begriff der Gefahr zusammen mit den anderen in der Vorschrift genannten Begriffen, wie ein Landesgesetz ausgestaltet sein muß, das die Polizei ermächtigt, technische Mittel zur Überwachung von Wohnungen einzusetzen. IV. § 33 Abs. 4 S. 1 Nr. 1, S. 2 SOG M-V entspricht den inhaltlichen Anforderungen, die der durch Art. 5 Abs. 3 LV inkorporierte Art. 13 Abs. 4 S. 1 GG für die Überwachung von Wohnungen mit technischen Mitteln aufstellt. 1. Das Gesetz erlaubt die Überwachung nur zur Verteidigung von Rechtsgütern höchsten Ranges, nämlich von Leib, Leben oder Freiheit einer Person. Die Formel, in der die drei Rechtsgüter zusammengestellt werden, bezeichnet solche Rechtsgutgefährdungen, die in besonderem Maße und in besonderer Intensität — etwa bei Geiselnahmen — schadensträchtig sind. In diesem Sinne verwendet sie das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur Kontaktsperre (BVerfGE 49, 24, 56) ebenfalls mit Selbstverständlichkeit. Das Gesetz läßt mithin entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer den Einsatz nicht auch zur Abwehr geringfügiger Beeinträchtigungen von Leib oder Freiheit zu. Das Leben ist in Art. 13 Abs. 4 GG ausdrücklich als Schutzgut genannt. Wenn Gefahren „insbesondere" für das Leben durch die heimliche Überwachung von Wohnungen abgewendet werden dürfen, so ist offensichtlich, daß vergleichbar schwere Beeinträchtigungen des Leibes und der Freiheit innerhalb des Rahmens liegen, in dem die Verfassungsnorm die Überwachung zuläßt. 2. § 33 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SOG M-V verlangt eine „gegenwärtige Gefahr". Das bedeutet, daß ein Schaden für die genannten hochrangigen Rechtsgüter in unmittelbarer Zukunft, in allernächster Zeit, zu erwarten ist, wenn nicht in die Entwicklung einLVerfGE 11
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gegriffen wird (vgl. SächsVerfGH, Urt. v. 14.6.1996, LVerfGE 4, 303, 349 = LKV 1996, 273,280 = DVB1.1996,1423,1427). Daß durch Art. 13 Abs. 4 S. 1 GG jedenfalls die Verteidigung der Rechtsgüter bei großer zeitlicher Nähe des drohenden Schadens legitimiert ist, bedarf keiner weiteren Ausführungen. 3. Nach § 33 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SOG M-V dürfen Wohnungsüberwachungen nur „zur Abwehr" der Gefahr stattfinden. Damit wird das bereits gefundene Ergebnis der Übereinstimmung mit Art. 13 Abs. 4 GG untermauert. Denn „Abwehr" iSv § 33 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SOG M-V meint eine Tätigkeit bei einer gegebenen gegenwärtigen Gefahr. Dies wird dem gleichlautenden Begriff in Art. 13 Abs. 4 GG gerecht. 4. Dem Art. 13 Abs. 4 GG genügt es ebenfalls, daß im polizeilichen Notstand der Eingriff sich auch gegen einen anderen als den für die Gefahr Verantwortlichen richten darf. Primär kann die Polizei nur auf denjenigen zugreifen, der für die Gefahr verantwortlich ist. Nach der Regel des Satzes 1 ist seine Wohnung Gegenstand des Eingriffs; nach S. 1 Nr. 1 dürfen grundsätzlich nur über ihn Informationen im Wege der Wohnungsüberwachung beschafft werden. Nach § 26 Abs. 1 S. 1 SOG M-V sind die Daten grundsätzlich beim Betroffenen zu erheben. Alle anderen Personen sind Dritte. Diese dürfen von der Datenerhebung nur betroffen werden, soweit das unvermeidbar ist (§ 33 Abs. 3 SOG M-V). Lediglich dann, wenn dies im polizeilichen Notstand unvermeidbar ist, darf auch ein Dritter zur Zielperson der Überwachung gemacht werden. Dann dürfen über einen Dritten Daten erhoben werden. Auch darf nach § 33 Abs. 4 S. 2 SOG M-V gegebenenfalls die Wohnung eines Dritten Objekt des Eingriffs sein. Im Notstand dürfen entsprechend § 26 Abs. 1 S. 2 SOG M-V auch bei Dritten Daten erhoben werden. Dabei hat der Gesetzgeber das zwingende Prinzip der Nachrangigkeit der Inanspruchnahme eines nicht für die Gefahr Verantwortlichen in besonderer Weise herausgearbeitet. Er hat nämlich einerseits für die Datenerhebung über andere als die verantwortlichen Personen auf die Voraussetzungen des § 71 Abs. 1 SOG M-V verwiesen, andererseits aber in § 33 Abs. 4 S. 2 für die Datenerhebung in oder aus anderen Wohnungen als solchen des Verantwortlichen eine eigene, die einschlägigen Elemente des § 71 SOG M-V umfassende Umschreibung gewählt; letzteres ist offensichtlich mit der Intention geschehen, füir die Rechtsanwendung die engen Grenzen deutlich herauszustellen. Ferner bestimmt das Gesetz ausdrücklich, daß jegliche Überwachung von Wohnungen nur zulässig ist, wenn sie zur Abwehr der gegenwärtigen Gefahr für die genannten hohen Rechtsgüter unerläßlich ist. Das erlegt eine intensive Prüfung insbesondere auch für den Fall auf, daß zu Lasten von nichtverantwortlichen Personen vorgegangen werden soll. Die Staffelung von jeweils die Eingriffsbefugnis verengenden, ausdrücklichen Anforderungen an den Eingriff zeigt, daß den Rechten der Bürger mit aller Sorgfalt Rechnung getragen werden soll. LVerfGE 11
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Art. 13 Abs. 4 GG läßt den Einsatz technischer Mittel zu Lasten von Personen, die fur die Gefahr nicht verantwortlich sind, unter den im Gesetz bestimmten Voraussetzungen zu. Wenn eine für die nahe Zukunft drohende Verletzung von Leib, Leben oder Freiheit, der noch begegnet werden kann, anders als durch die Inanspruchnahme von nichtverantwortlichen Personen nicht mit Aussicht auf Erfolg abzuwenden ist, muß dieses von Verfassungs wegen hingenommen werden, damit jene überragenden Rechte anderer Personen — nach Möglichkeit — gewahrt werden können. Bei der Anordnung der Maßnahme und ihrer Durchführung ist die durch Art. 13 Abs. 1 GG gewährleistete Privatheit zwingend zu berücksichtigen (s. u. V. 3.). 5. Vom Inkrafttreten des § 33 Abs. 4 S. 1 Nr. 1, S. 2 SOG M-V am 19.2.1998 bis zum Inkrafttreten des Art. 13 GG n.F. am 1.4.1998 war der damals in die Landesverfassung inkorporierte Art. 13 GG a.F. die Maßstabsnorm. Die gesetzliche Regelung entsprach auch jener Verfassungsbestimmung: Das Landesverfassungsgericht zweifelt nicht daran, daß Art. 13 Abs. 3,2. Alt. GG a.F. die Grundlage dafür bot, durch Gesetz die Befugnis zur präventiven Überwachung von Wohnungen mit technischen Mitteln zu schaffen. Hier braucht nicht im einzelnen erörtert zu werden, welche Grenzen solchen Gesetzen gezogen waren; denn auch bei restriktiver Auslegung wären sie durch § 33 Abs. 4 S. 1 Nr. 1, S. 2 SOG M-V eingehalten worden. Die denkbar höchste formelle Anforderung an ein Gesetz, das der Polizei die Befugnis gibt, mit technischen Mitteln präventiv Wohnungen zu überwachen, hätte sein können, daß die Anordnung der Überwachung unter den für Durchsuchungen von Wohnungen geltenden Richtervorbehalt des Art. 13 Abs. 2 GG gestellt worden wäre. Dem wird durch § 34 Abs. 3 SOG M-V entsprochen. Materiell wäre als höchste Anforderung in Betracht gekommen, daß ein Gesetz den Eingriff nur zur Abwehr von Gefahren, die denen der ersten Alternative des Art. 13 Abs. 3 GG a.F. nahekommen, zulassen durfte. Dem ist dadurch genügt, daß nach § 33 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SOG M-V der Eingriff nur zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit zulässig ist. V. § 33 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 SOG M-V ist mit der Landesverfassung unvereinbar und nichtig. Die Vorschrift verstößt gegen Art. 5 Abs. 3 LV iVm Art. 13 Abs. 1 GG, weil die durch Art. 13 Abs. 4 GG für den Grundrechtseingriff gezogenen Grenzen nicht eingehalten sind. 1. Die Vorschrift ist konzipiert und ausgestaltet als Ermächtigung an die Polizei, das Instrument der heimlichen Überwachung von Wohnungen zum Zweck der vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten einzusetzen. Nach der im Regierungsentwurf (LT-Drs. 2/2468) vorgesehenen Fassung des Gesetzes sollte die Befugnis ausdrücklich LVerfGE 11
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„zur vorbeugenden Bekämpfung" der in Nr. 2 aufgeführten Straftaten eingeräumt werden; nach der Begründung war beabsichtigt, mit Nr. 2 die Voraussetzungen für den Einsatz zur vorbeugenden Kriminalitätsbekämpfung zu schaffen (aaO, S. 8, 26). Aufgrund des Berichts des Innenausschusses (LT-Drs. 2/3478) wurde diese ausdrückliche Zweckbestimmung gestrichen (aaO, S. 12). Dennoch bleibt zweifelsfrei, daß durch die Befugnisnorm ein Teil der in § 7 Abs. 1 Nr. 4 SOG M-V festgelegten polizeilichen Aufgabe, „im Rahmen der Gefahrenabwehr auch Straftaten zu verhüten und für die Verfolgung künftiger Straftaten vorzusorgen (vorbeugende Bekämpfung von Straftaten)", umgesetzt wird. Dabei hat der Gesetzgeber in der Befugnisnorm die der Aufgabenzuweisung innewohnende Tendenz, bereits vor Entstehung einer konkreten Gefahr zu handeln, aufzufangen versucht, indem er, auch insoweit abweichend vom Regierungsentwurf, formuliert hat, Tatsachen müßten die „Annahme der Gefahr" rechtfertigen. Ferner ist durch die Formel „mit hinreichender Wahrscheinlichkeit" die im Gesetz genannte Gefahr nochmals umschrieben. Endlich ist festgelegt, daß die Begehung einer Straftat „in näherer Zeit" zu erwarten sein muß. Wird somit einerseits eine gewisse Gefahr zur Voraussetzung des Eingriffs erhoben, so sind andererseits fur die Eingriffsbefugnis Zwecke festgelegt, die nicht in der Abwehr einer konkreten Gefahr bestehen. „Verhütung" bedeutet nicht nur die Unterbindung einer unmittelbar drohenden Störung der öffentlichen Sicherheit, sondern bei vorbeugender Bekämpfung von Straftaten insbesondere, daß bereits im Vorfeld von Gefahren Maßnahmen getroffen werden, damit schon deren Entstehung verhindert wird. Die Vorsorge für „mögliche Verfolgung" von Straftaten hat vorrangig nicht die Verhinderung einer Störung im Blick, sondern das Sammeln von Erkenntnissen für eine eventuelle Strafverfolgung während eines Zeitraums, in dem die gesetzlichen Voraussetzungen für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens noch nicht vorliegen. Als Befugnisnorm zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten wird § 33 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 SOG M-V ferner dadurch kenntlich, daß die heimliche Überwachung von Wohnungen nur stattfinden darf, um Straftaten zu begegnen, die organisiert begangen werden. Der Ansatz für die Vorverlagerung von Polizeibefugnissen im Rahmen vorbeugender Bekämpfung von Straftaten ist, daß der organisierten Kriminalität zu begegnen sei. Dies ist auch im gesamten Gesetzgebungsverfahren übereinstimmend als die Intention der Vorschrift gesehen worden. 2. § 33 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 SOG M-V genügt in verschiedener Hinsicht nicht den Anforderungen des Art. 13 Abs. 4 GG. Diese Verfassungsnorm bietet keine Grundlage für die Überwachung von Wohnungen mit technischen Mitteln zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten im Sinne der polizeirechtlichen Aufgabenzuweisung nach § 7 Abs. 1 Nr. 4 SOG M-V (a.A. BbgVerfG, Urt. v. 30.6.1999, LKV 1999,450,462ff). Denn sie ermächtigt nur dazu, dieses Instrument bei akuten Gefahren für besonders hochrangige Rechtsgüter einzusetzen. Das ergibt sich aus verschiedenen systematischen Gesichtspunkten. Wie oben (III. 3.) dargestellt, sind in den Art. 13 Abs. 4 GG LVerfGE 11
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Begriffe aus Abs. 3 a.F. übernommen und in eine Spezialregelung eingestellt worden. Dieser Zusammenhang bildet eine verbindliche Richtschnur für die Auslegung des Art. 13 Abs. 4 S. 1 GG. a) Die Schutzgüter der in § 33 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 SOG M-V genannten Straftatbestände können vielfach nicht der „öffentlichen Sicherheit" im Sinne der Verfassungsnorm zugerechnet werden, (vgl. auch die Bedenken bei Papier aaO, Rn. 95). aa) Im Schutz nur der öffentlichen Sicherheit liegt bereits eine Einschränkung gegenüber der zweiten Alternative von Art. 13 Abs. 3 a.F., dem jetzigen Abs. 7, in der auch die öffentliche Ordnung als Schutzgut genannt ist. Indes ist polizeirechtlich die öffentliche Sicherheit ein weiter Begriff. Sie umfaßt die Unverletzlichkeit der Rechtsordnung, der subjektiven Rechte und Rechtsgüter des Einzelnen sowie der Einrichtungen und Veranstaltungen des Staates oder sonstiger Träger der Hoheitsgewalt (Denninger in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 2. Aufl. 1996, E Rn. 6, mwN; Schenke Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner, Besonderes Verwaltungsrecht, 6. Aufl. 1999, II C Rn. 30,35). Jedoch hat in Art. 13 Abs. 4 S. 1 GG der Begriff von Verfassungs wegen einen wesentlich engeren Inhalt. Denn die Schutzgüter, die nach der Vorschrift verteidigt werden dürfen, werden entscheidend dadurch beschränkt, daß die Maßnahme zur Abwehr „insbesondere einer gemeinen Gefahr oder einen Lebensgefahr" zugelassen werden darf. Diese Einfügung nach der Nennung der öffentlichen Sicherheit hat eine tatbestandsteuernde Funktion. Damit hat der verfassungsändernde Gesetzgeber zwingend die Richtung vorgegeben, in welcher die Ermächtigung nur ausgenutzt werden darf. Das wird um so deutlicher dadurch, daß die in Art. 13 Abs. 4 GG unter „insbesondere" aufgeführten Gefahren identisch mit denen sind, die nach der ersten Alternative von Abs. 7 verfassungsunmittelbar einen Eingriff in die Unverletzlichkeit der Wohnung rechtfertigen. Auf gesetzlicher Grundlage können durch die heimliche Überwachung von Wohnungen nunmehr auch andere als gemeine Gefahren und Lebensgefahren abgewendet werden; die Gefahren müssen aber von vergleichbarer Wertigkeit sein. Dabei ist die gemeine Gefahr iSv Art. 13 Abs. 7 GG dadurch gekennzeichnet, daß eine unbestimmte Zahl von nicht näher bestimmten Rechtsgütern gefährdet ist {Mating in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 13 Rn. 19) und daß ein unüberschaubares Gefahrenpotential gegeben ist (Hermes in: Dreier, GG, 1996, Art. 13 Rn. 46); teilweise wird verlangt, daß die Gefahr lebensbedrohend sein muß (Küttig in: von Münch/Kunig, GG, 4. Aufl. 1992, Art. 13 Rn. 40) oder daß die Gefahr für Personen oder Sachen jedenfalls einer Lebensgefahr nahekommt (Berkemann in: GG-Alternativkommentar, 2. Aufl. 1989, Art. 13 Rn. 69; Jarass in: Jarass/Pieroth, GG, 5. Aufl. 2000, Art. 13Rn.22). bb) Bestätigt und untermauert wird die tatbestandsteuernde Funktion der Begriffe „gemeine Gefahr" und „Lebensgefahr" dadurch, daß Art. 13 Abs. 4 GG eine „dringende" Gefahr verlangt. Durch diese Voraussetzung soll die dringende Notwendigkeit des Einschreitens herausgestellt werden. Der Begriff enthält den qualitativen LVerfGE 11
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Aspekt, daß eine für den Einzelnen, die Gemeinschaft oder den Staat besonders schädliche Störung der öffentlichen Sicherheit drohen muß. Demgemäß ist in der Begründung des Regierungsentwurfs (BT-Drs. 13/8650, S. 5) gesagt: „Schließlich nennt S. 1 als Beispielsfalle dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit insbesondere die gemeine Gefahr und die Lebensgefahr und betont damit, daß eine „dringende" Gefahr drohende Beeinträchtigungen für hochrangige Rechtsgüter voraussetzt." Der Begriff „dringend" läßt in seinem verfassungsrechtlichen Zusammenhang keinen Raum für eine Ausdehnung der Eingriffsbefugnis, sondern betont im Gegenteil, daß der Eingriff nur zum Schutz besonders hochrangiger Rechtsgüter zulässig ist. cc) Daraus folgt, daß ein so weitgehender Straftatenkatalog, wie er in § 33 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 SOG M-V enthalten ist, in einer auf Art. 13 Abs. 4 GG gestützten Befugnisnorm nicht zulässig ist. Der Gesetzgeber hat das polizeiliche Einschreiten hinsichtlich aller Straftatbestände zugelassen, die im Katalog des § 100 a StPO genannt sind. Jener Katalog gilt für die Überwachung der Telekommunikation. Auch sie ist ein schwerer, im Gewicht jedoch deutlich hinter der heimlichen Kenntnisnahme von Handlungen und Äußerungen, die nach dem Willen der Beteiligten in der Wohnung bleiben sollen, zurückbleibender Eingriff. Die Verwendung des Katalogs eröffnet der Polizei ein breites Feld für die heimliche Überwachung. Die Schutzgüter und das Maß ihrer Beeinträchtigung stehen vielfach hinter einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr zurück, zu deren Abwehr Art. 13 Abs. 4 GG den Einsatz technischer Mittel „insbesondere" zuläßt. Dasselbe gilt für die undifferenzierte Aufnahme des § 261 StPO (Geldwäsche) in den Kreis der Straftaten, denen nach § 33 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 SOG M-V entgegengewirkt werden darf; der Bundesgesetzgeber hat zwischenzeitlich nur die Absätze 1 bis 4 der Strafnorm in den Katalog eingestellt. Ebenso haben viele Rechtsgutbeeinträchtigungen durch Umweltstraftaten nach den §§ 324 bis 330 a StGB eine weit hinter einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr zurückstehende Wertigkeit. dd) Die organisierte Begehungsform, die nach § 33 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 SOG M-V die Straftaten aufweisen müssen, ist kein Umstand, der generell oder auch nur regelmäßig geeignet wäre, ihnen solches Gewicht zu geben, daß sie in den Anwendungsbereich von Art. 13 Abs. 4 GG hineinwüchsen (vgl. Papier aaO, Rn. 97). Hinter der Vorschrift steht die Absicht des Gesetzgebers, die organisierte Kriminalität zu bekämpfen; indessen ist nur ein geringer Teil der organisiert begangenen Kriminalität auch organisierte Kriminalität in diesem Sinne. Weder jedes bandenmäßige Zusammenwirken mehrerer Personen bei einer Straftat noch jede gewerbs- oder serienmäßige Begehung noch gar jede „sonst organisierte" Begehung kann schon eine Qualifizierung als höchstgefährliche Straftat rechtfertigen. Soweit es um organisierte Kriminalität geht, deren rechtliche Konturen im übrigen nach wie vor unklar sind (vgl. Denninger in: Lisken/Denninger, Handbuch, E Rn. 161 und die dort wiedergegebene Umschreibung durch die Innenministerkonferenz), wird gegebenenfalls zu erwägen sein, wie weit darunter fallende Straftaten zu einer derart intensiven Beeinträchtigung Einzelner, der LVerfGE 11
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Gesellschaft oder des Staates fuhren (können), daß eine der Lebensgefahr oder der gemeinen Gefahr vergleichbare Lage gegeben ist. Ergänzend sei bemerkt, daß der Katalog des § 100a StPO zwar im allgemeinen enger ist als derjenige der Straftaten von erheblicher Bedeutung in § 49 SOG M-V. Andererseits sind einige Straftaten nur in dem erstgenannten, nicht auch in dem zweiten Katalog enthalten. Das fuhrt zu dem widersprüchlichen Ergebnis, daß in diesen Fällen eine Überwachung mit technischen Mitteln auf der Straße nach § 33 Abs. 2 SOG M-V nicht erlaubt wäre, wohl aber in und aus Wohnungen nach Abs. 4 S. 1 Nr. 2 der Vorschrift. ee) Das Landesverfassungsgericht weist darauf hin, daß es verfassungsrechtlich unzulässig wäre, im Falle einer eventuellen Neuregelung den Katalog des § 100c Abs. 1 Nr. 3 StPO in das Ordnungsrecht zu übernehmen. Denn Art. 13 Abs. 3 GG n.F., in dessen Ausführung diese Norm der Strafprozeßordnung geschaffen wurde, gewährleistet zwar weitergehende verfahrensrechtliche Sicherungen als der Abs. 4; inhaltlich ist Abs. 3 aber wohl weiter gefaßt. Abs. 4 gibt mit einem spezifischen eingeengten verfassungsrechtlichen Begriff der öffentlichen Sicherheit selber strikte Grenzen für eine Eingriffsbefugnis vor. Nach Abs. 3 n.F. hingegen rechtfertigt der Verdacht von besonders schweren Straftaten, deren Bestimmung dem Gesetzgeber überlassen wird, die akustische Überwachung von Wohnungen. Der Bindung durch einen strikt zu interpretierenden verfassungsrechtlichen Begriff in Art. 13 Abs. 4 GG steht in Abs. 3 eine verfassungsrechtliche Vorgabe gegenüber, die dem Gesetzgeber mehr Spielraum lassen dürfte. Jedenfalls aber ist der Katalog des § 100 c Abs. 1 Nr. 3 StPO so gefaßt, daß die Gefahren, die durch die drohende Begehung dort genannter Straftaten entstehen, vielfach nicht die mit einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr vergleichbare Wertigkeit erreichen. b) Dem Art. 13 Abs. 4 GG wird ferner insoweit nicht genügt, als die der Polizei nach § 33 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 SOG M-V erlaubte Tätigkeit über , Abwehr" im Sinne der Verfassungsnorm hinausgeht. aa) Die Abwehr ist im Kontext des Art. 13 GG der Gegenbegriff zur „Verhütung". Mit diesem Inhalt fand er sich in Abs. 3 a.F. und ist so in den neuen Abs. 4 übernommen worden. In der ersten Alternative von Abs. 3 a.F. (jetzt Abs. 7) hat der Begriff eine stark eingrenzende Funktion. Das folgt schon daraus, daß dort verfassungsunmittelbar Eingriffe erlaubt werden. Es muß eine konkrete, akute Gefahr vorliegen (vgl. Berkemann aaO, Art. 13 Rn. 69). Danach ist der spezifisch verfassungsrechtliche — nicht polizeirechtliche — Begriff in Art. 13 Abs. 4 GG so zu verstehen, daß er Verhütung im Sinne der Gefahrenvorsorge (§ 7 Abs. 1 Nr. 4 SOG M-V) nicht ermöglicht. Unter Berufung auf die zur zweiten Alternative von Art. 13 Abs. 3, 2. Alt. GG n.F. ergangene Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 17, 232, 251 f) läßt sich mithin für Art. 13 Abs. 4 GG keine Ermächtigung zu Eingriffen im Vorfeld von konkreten Gefahren begründen. LVerfGE 11
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bb) Gerade die Verhütung von Straftaten im Sinne der Aufgabennorm des § 7 Abs. 1 Nr. 4 SOG M-V aber ist der den § 33 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 SOG M-V prägende Zweck. Nach Art. 13 Abs. 4 GG darf aber die Verhütung von Straftaten nur in dem Sinne der Zweck einer präventiven Wohnraumüberwachung sein, daß durch Beseitigung einer akuten Gefahr eine unmittelbar bevorstehende Störung „verhütet" werden soll. Die Vorsorge für eine „mögliche Verfolgung" von Straftaten ist noch weiter von einer „Abwehr" iSv Art. 13 Abs. 4 GG entfernt. Im Fall einer eventuellen Neuregelung wird der Gesetzgeber zu überlegen haben, wie die aus dem Verfassungsbegriff der Abwehr zu folgernde zeitliche Nähe normativ gefaßt werden kann. Die Formulierung in § 33 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 SOG M-V, daß eine Straftat „in näherer Zeit" droht, dürfte für die notwendige Eingrenzung nicht ausreichen. 3. Der so auszulegende Art. 13 Abs. 4 GG bestimmt in verfassungsmäßiger Weise Grenzen der in Art. 13 Abs. 1 GG gewährleisteten Unverletzlichkeit der Wohnung. Die Schranken, die dem Gesetzgeber bei Änderung der Verfassung gezogen sind, ergeben sich aus Art. 79 Abs. 3 GG; die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG ist hier keine Maßstabsnorm (Dreier aaO, Art. 19 Abs. 2 Nrn. 6 und 7; Kiihne in: Sachs, GG, 2. Aufl. 1999, Art. 19 Rn. 26; Papier aaO, Rn. 62). Art. 13 Abs. 4 GG wahrt die Menschenwürde, auf deren Achtung und Schutz der Staat durch Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtet ist. Ebenso wird der Rechtsstaatlichkeit (Art. 20 Abs. 3 GG) genügt. a) Das Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 GG gewährleistet dem Einzelnen im Hinblick auf seine Menschenwürde und auf seine freie Entfaltung einen elementaren Lebensraum (BVerfGE 51, 97, 110). Es steht in nahem Zusammenhang mit dem verfassungsrechtlichen Gebot unbedingter Achtung der Privatsphäre des Bürgers; dem Einzelnen soll das Recht, in Ruhe gelassen zu werden, gerade in seinen Wohnräumen gesichert werden (BVerfGE 75, 318, 328). Das Grundrecht garantiert den für ein menschenwürdiges Leben notwendigen privaten Rückzugsraum, in dem der Einzelne selbst über sich bestimmen kann. Das schließt insbesondere ein, daß er dort unbeobachtet handeln und sich äußern kann (vgl. Gornig in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 4. Aufl. 1999, § 13 Rn. 1). Die Wohnung ist der gegenständliche Bereich eines auf Ausgrenzung gerichteten Sozialverhaltens (Berkemann aaO, Rn. 13). Diese Ausgrenzung nimmt der Einzelne nicht nur für sich, sondern zugleich auch für diejenigen, mit denen er in der Wohnung Zusammensein und kommunizieren will, vor. Gerade auch von dieser Kommunikation sollen alle anderen ausgeschlossen sein. Diejenigen, die an der Kommunikation teilnehmen, bestimmen selbst, was in den vier Wänden bleiben soll. Das Vertrauen auf den Schutz vor Eingriffen von außen konstituiert die Kommunikation in einer Wohnung. b) Durch den heimlichen Einsatz technischer Mittel zur Überwachung von Wohnungen gewinnt der Staat die Herrschaft über Informationen, welche die Betroffenen LVerfGE 11
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nur für sich und unter sich behalten wollen (vgl. Amelung NJW 1991, 2533, 2535). Im heimlichen Abhören und Ausspähen von Wohnungen liegt ein Eingriff von höchster Intensität (Kühne in: Sachs, aaO, Art. 13 Rn. 25). Die Ungeschütztheit und Arglosigkeit der Betroffenen wird ausgenutzt und es kann auf intimste Bereiche zugegriffen werden (Gornig aaO, Rn. 67). Der Eingriff ist noch deutlich intensiver als der schwere Eingriff des Abhörens von Telekommunikation. Bei der Telefonüberwachung greift der Staat auf das Wort zu, das der Betroffene von dem einen an einen anderen Ort übermittelt. Art. 13 Abs. 4 GG hingegen betrifft die vertrauliche Nahkommunikation. Damit kann fur den Betroffenen seine Privatheit gerade dort, wo er sie am meisten ausübt, aufgehoben werden. aa) Aus der Intensität der Beeinträchtigung folgt für die notwendige Abwägung zwischen dem Maß der grundrechtlichen Betroffenheit und den Belangen der Allgemeinheit (vgl. BVerfGE 100,313,375 f = NJW 2000,55,61), daß nur überragende Allgemeininteressen den Eingriff rechtfertigen können. Die Abwehr einer akuten Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit ist ein Belang von höchstem Rang. Andere Gefahren müssen nach Art. 13 Abs. 4 S. 1 GG von vergleichbarer Wertigkeit sein, wenn zu ihrer Abwehr Wohnungen mit technischen Mittel überwacht werden sollen (s. ο. V. 2.a) aa)). Aus der Tiefe des Eingriffs folgt ferner, daß auf allen seinen Stufen — bei der Anordnung der Überwachung, bei ihrer Durchführung und bei dem Umgang mit den erlangten Informationen — strikt das Verfassungsprinzip der Verhältnismäßigkeit in dem Sinne zu beachten ist, daß die Einzelmaßnahme zur Zweckerreichung unerläßlich ist (vgl. BVerfGE 65,1, 44). Da auch derjenige, der für eine Gefahr verantwortlich ist, Träger des Grundrechts aus Art. 13 Abs. 1 GG ist, darf die Überwachung nur angeordnet und durchgeführt werden, wenn nicht gewährleistet ist, daß die Gefahr bereits durch offene Erlangung von Informationen abgewendet werden kann. bb) Kennzeichnend für den Eingriff ist, daß er regelmäßig nicht nur den für die Gefahr Verantwortlichen als Zielperson trifft. Denn die Erkenntnisse sollen zumeist aus seiner Kommunikation mit anderen gewonnen werden. Der Gesprächspartner kann für die Gefahr ebenfalls verantwortlich sein. Dann ergibt sich für ihn keine besondere Schutzbedürftigkeit; denn das Grundrecht gewährleistet die Wohnung nicht als Ort zur Verabredung schwerer Straftaten. Vielfach aber steht der Dritte der Gefahr, die abgewendet werden soll, völlig fem. Daher gebietet das Grundrecht, daß Dritte nicht mehr als unvermeidbar betroffen werden dürfen; dies hat der Landesgesetzgeber durch die Vorschrift des § 33 Abs. 3 SOG M-V umgesetzt. Eingegriffen wird vielfach in Vertrauensverhältnisse, die im Schutz der Wohnung gelebt werden. Einen generellen Ausschluß solcher Vertrauensverhältnisse von der heimlichen Überwachung fordert die Verfassung nicht. Jedoch ist bei der Überwachung darauf zu achten, daß der Eingriff in Vertrauensverhältnisse nachrangig gegenüber einem Eingriff zu sein hat, durch den Vertrauensverhältnisse nicht berührt werden. LVerfGE 11
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Das Bundesverfassungsgericht erkennt einen unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung an, bei dem eine Abwägung nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ausscheidet (BVerfGE 34, 238, 245). Der BGH hat in der Kommunikation zwischen Ehepartnern einen solchen Kernbereich gesehen (BGHSt 31, 296, 299 f = NJW 1983,1569,1570). Indessen läßt sich der unantastbare Kernbereich nicht abstrakt und allgemein bestimmen, etwa in der Weise, daß niemals aus einem Gespräch zwischen Eheleuten in der Wohnung oder aus einem Gespräch des Rechtsanwalts mit seinem Mandanten in der Kanzlei Daten erhoben und verwendet werden dürften. Vielmehr richtet sich der Umfang des Kernbereichs wesentlich auch nach dem Zweck des Eingriffs und dem Gewicht des mit ihm verfolgten Allgemeininteresses. Demgemäß hat das Bundesverfassungsgericht in seiner zweiten Tagebuchentscheidung den Kernbereich ausdrücklich nur für das Strafverfahren bestimmt (BVerfGE 80, 367, 374). Ebenso lassen sich aus der Auffassung des BGH (aaO) über den Schutz von Gesprächen unter Eheleuten keine zwingenden Schlüsse über das Strafverfahren hinaus ziehen. Denn Art. 13 Abs. 4 GG betrifft die Prävention. Er gibt die Grundlage für Gesetze, durch welche die Polizei ermächtigt wird, zum Zweck der Abwehr künftiger großer Schäden für besonders hochrangige Rechtsgüter mit technischen Mitteln Wohnungen zu überwachen. Dürfen im Strafverfahren Daten nicht erhoben und/oder verwendet werden, so hat das zur Folge, daß der Täter einer geschehenen Straftat - möglicherweise — nicht überführt werden kann. Bei der Prävention hingegen geht es darum, daß die großen Schäden noch verhindert werden können. Die Befugnis dazu darf der Polizei in der Weise eingeräumt werden, daß notfalls tief in Vertrauensverhältnisse eingegriffen wird. Wäre es etwa der Polizei untersagt, als ultima ratio Daten auch aus solchen Vertrauensverhältnissen zu erheben und/oder diese zu verwenden, so könnte ihr das einzige Mittel genommen sein, durch das sie ein schweres Verbrechen, z.B. einen Sprengstoffanschlag oder eine Geiselnahme, verhindern könnte. Das wäre nicht hinnehmbar. cc) Bei der Überwachung ist besonderer Bedacht darauf zu nehmen, daß Daten, die zur Erreichung des Überwachungszwecks ungeeignet sind, nicht erhoben oder jedenfalls alsbald gelöscht oder gesperrt werden. Das ist vor allem dann geboten, wenn sich ergibt, daß ein Gespräch dem unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzuordnen ist, weil es nach seinem Inhalt höchstpersönlichen Charakter hat (vgl. BVerfGE 80,367,374). Das Grundrecht verlangt strenge Verwendungsbeschränkungen für die Daten, die durch heimliche Eingriffe in Wohnungen oder besondere Vertrauensverhältnisse erlangt worden sind. c) Art. 13 Abs. 4 GG genügt dem Rechtsstaatsprinzip. Die Überwachung von Wohnungen wird nur in rechtlich streng geordneten Formen und nach dem BestimmtLVerfGE 11
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heitsgebot eindeutig entsprechenden inhaltlichen Anforderungen zugelassen. Das Grundrecht schließt den Anspruch ein, über Wohnraumüberwachungen nachträglich unterrichtet zu werden; nachträglicher Rechtsschutz ist durch Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG gewährleistet (s. u. VII. 1.). VI. § 33 Abs. 6 S. 1 SOG M-V ist mit der Landesverfassung insoweit unvereinbar und nichtig, als dort der Polizei die Befugnis gegeben worden ist, personenbezogene Daten mit technischen Mitteln außerhalb von Wohnungen unter den Voraussetzungen des Absatzes 4 S. 1 Nr. 2 zu erheben. Im übrigen ist die Vorschrift verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. 1. Durch die Vorschrift -wird der Einsatz technischer Mittel gegen durch Amtsoder Berufsgeheimnis geschützte Vertrauensverhältnisse erschwert, indem — soweit es nach dem System des Gesetzes möglich ist — die materiellen Eingriffsvoraussetzungen „hochgezont" werden: Für Eingriffe außerhalb von Wohnungen (§ 33 Abs. 2 SOG M-V) wird fingiert, sie fanden in einer Wohnung statt. Für Eingriffe in Wohnungen ist bestimmt, daß sie nur stattfinden dürfen, wenn die materiellen Voraussetzungen der gegenüber § 33 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 SOG M-V engeren Befugnis nach Nr. 1 vorliegen. Nicht eindeutig aus dem Gesetz zu beantworten ist die Frage, wie es zu verstehen ist, daß in der zweiten Alternative von § 33 Abs. 6 S. 1 SOG M-V nur auf die Voraussetzungen von Abs. 4 S. 1 Nr. 1 und nicht auch auf diejenigen von Abs. 4 S. 2 verwiesen wird. Das kann dahin interpretiert werden, daß Satz 2 nicht anzuwenden ist, somit technische Mittel gegen Wohnungen von Personen, die nicht für die Gefahr verantwortlich sind, nicht eingesetzt werden dürfen. Ebenso kann auch die Auslegung gewählt werden, daß es sich um eine Verweisung auf die materiellen Anforderungen von Satz 1 Nr. 1 handelt und im übrigen auch bei Vertrauensverhältnissen der Kreis der möglichen Zielpersonen genau so gezogen ist wie in den sonstigen Fällen der Anwendung, mithin im Notstand auch auf Wohnungen — nicht zuletzt die Geschäftsräume — von in §§ 53 und 53 a StPO genannten Personen zugegriffen werden kann. Da diese Frage des einfachen Rechts nicht durch Rechtsprechung der dafür zuständigen Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit geklärt ist, hat das Landesverfassungsgericht die Vorschrift in beiden Auslegungen an der Landesverfassung zu messen (vgl. BVerfGE 18, 85, 92; 80, 286, 296; PestaloVerfassungsprozeßrecht, 3. Aufl. 1991, § 12 Rn. 13). 2. Soweit § 33 Abs. 6 S. 1 SOG M-V die Befugnis gibt, Daten aus besonderen Vertrauensverhältnissen außerhalb von Wohnungen mit technischen Mitteln unter den Voraussetzungen von Abs. 4 S. 1 Nr. 2 zu erheben, ist die Vorschrift mit Art. 5 Abs. 3 LV iVm Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG unvereinbar und nichtig. Das folgt daraus, daß die Bestimmung, auf die verwiesen ist, ihrerseits nichtig ist (s. ο. V. 2.). LVerfGE 11
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3. Soweit die Befugnis zur Datenerhebung aus besonders geschützten Vertrauensverhältnissen — in oder aus Wohnungen oder an anderen Orten — unter den Voraussetzungen von § 33 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 S O G M-V eingeräumt worden ist, genügt die Vorschrift den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Das ist für die Datenerhebung in oder aus Wohnungen darzulegen. Da diese zulässig ist, ergibt sich daraus zugleich ohne weiteres die Zulässigkeit an anderen Orten. Das Landesverfassungsgericht braucht nicht allgemein zu klären, wie weit das Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 GG, das informationelle Selbstbestimmungsrecht der von Amts oder Berufs wegen zur Verschwiegenheit verpflichteten Person und des auf ihre Verschwiegenheit Vertrauenden sowie die Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG) des zur Verschwiegenheit Verpflichteten den Gesetzgeber verpflichten, für Eingriffe in die geschützten Vertrauensverhältnisse höhere Eingriffsschwellen als sonst vorzuschreiben. Denn hier genügt es, folgendes festzuhalten: a) Es gibt keinen generell absoluten Schutz der in der Vorschrift genannten Vertrauensverhältnisse (s.o. V. 3. b) bb)). Der Gesetzgeber darf aber solche Vertrauensverhältnisse nicht unberücksichtigt lassen, wenn er Befugnisnormen für die Erhebung von Daten mit technischen Mitteln schafft. Die notwendigen Abwägungen dürfen nicht gänzlich in die Hand der Verwaltung gegeben werden, sondern müssen so weit wie möglich bereits auf der Ebene des Gesetzes vorgenommen werden (SächsVerfGH, Urt. v. 14.5.1996, LVerfGE 4, 303, 365f = LKV 1996, 273, 285 = DVB1. 1996,1423, 1432). Das hat der Gesetzgeber vorliegend mit seinem Schutzkonzept des Hochzonens in sachgerechter Weise getan. b) Die dem Gesetzgeber inhaltlich gesetzten Grenzen sind ohne weiteres eingehalten. Das Eindringen in durch Amts- oder Berufsgeheimnis geschützte Vertrauensverhältnisse ist als ultima ratio in der extremen Ausnahmelage, daß dies zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person unerläßlich ist, zulässig. Dann darf ausnahmsweise auch Kenntnis über solche Geheimnisse beschafft werden, bei deren Preisgabe die Vertrauensperson selbst einen Straftatbestand des §203 StGB erfüllen würde. Aus der Nichtigkeit von § 33 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 S O G M-V folgt, daß gegenwärtig sowohl innerhalb als auch außerhalb von Wohnungen in das geschützte Vertrauensverhältnis nur eingegriffen werden darf, wenn es eine akute Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit abzuwehren gilt. Bei einer Gefahr für diese Rechtsgüter könnte nach § 28 Abs. 2 S. 4 S O G M-V auch eine Auskunft nicht unter Berufung auf eine Pflicht zur Zeugnisverweigerung abgelehnt werden. In die Vertrauensverhältnisse darf nur unter den Voraussetzungen des polizeilichen Notstands eingegriffen werden. Nach der einen Auslegung des einfachen Rechts ist es sogar in diesem Fall ausgeschlossen, die Wohnung der Vertrauensperson zu überwachen. Nach der anderen Auslegung hingegen besteht diese Befugnis. Auch in diesem Verständnis ist die Regelung verfassungsmäßig. Denn sie gewährleistet, daß nur unter
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besonders strengen Voraussetzungen die Datenerhebung mit technischen Mitteln in oder aus der Wohnung der Vertrauensperson zulässig ist. Freilich kann es zu einem Eingriff in ein Vertrauensverhältnis auch dann kommen, wenn die Voraussetzungen des Notstands nicht vorliegen. Das ist etwa denkbar, wenn die Vertrauensperson ein Gespräch mit dem für die Gefahr Verantwortlichen, der überwacht wird, in dessen Wohnung führt. Das kann indessen weitgehend dadurch vermieden werden, daß Gespräche in der Wohnung der Vertrauensperson geführt werden. 4. Der Gesetzgeber hat in § 33 Abs. 6 SOG M-V den Kreis der geschützten Vertrauensverhältnisse, in die nur unter besonders strengen Voraussetzungen eingegriffen werden darf, sachgerecht abgegrenzt. a) Nach Satz 2 ist ein Eingriff mit technischen Mitteln in das Beichtgeheimnis niemals zulässig. Für diese Hervorhebung gegenüber den sonstigen Vertrauensverhältnissen gibt es hinreichende Gründe. Die Beichte steht in engem Zusammenhang mit der Freiheit von Glauben und Gewissen, die in Art. 4 Abs. 1 GG ohne Gesetzesvorbehalt als unverletzlich gewährleistet ist. Innerhalb der Glaubens- und Gewissensfreiheit ist das forum internum, die Bildung des eigenen Glaubens und Gewissens in sich selbst, staatlichem Zugriff nicht zugänglich. Dieser Bereich ist berührt, wenn jemand seine Gewissensnot einem Seelsorger anvertraut. § 33 Abs. 6 S. 2 SOG M-V ist eine Vorschrift, durch die der Gesetzgeber in zulässiger Weise dem spezifischen, mit der Menschenwürde verknüpften Gehalt des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 1 GG Rechnung getragen hat. b) Es ist von Verfassungs wegen hinzunehmen, daß der Gesetzgeber hinsichtlich des Einsatzes technischer Mittel nicht auch für die Vertrauensverhältnisse zu den in § 52 Abs. 1 StPO aufgeführten Personen — also Verlobten, Ehegatten, engen Verwandten und Schwägern — die bei Vertrauensverhältnissen zu Trägern von Amts- und Berufsgeheimnissen geltenden höheren Hürden errichtet hat. Damit ist nicht der Schutz von Ehe und Familie, den Art. 13 Abs. 1 GG im räumlichen Bereich gewährleistet, außer Acht gelassen worden. Anders als bei dem Personenkreis der §§ 53 und 53 a StPO knüpft das Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 StPO nicht an die Geheimhaltungsbedürftigkeit des Inhalts der Kenntnisse an, die in dem Vertrauensverhältnis erlangt worden sind. Es geht vielmehr darum, den nahen Angehörigen den persönlichen Konflikt mit sich und ihrer Familie zu ersparen, in den sie geraten könnten, wenn sie gezwungen wären, über den Beschuldigten auszusagen, und sich dabei zwischen die Alternative gestellt sehen könnten, entweder jenen zu belasten oder die Unwahrheit zu sagen (BGHSt 2, 351, 354 = NJW 1952, 755, 756; 12,235,239 = NJW 1959,445,446; 22, 35, 36 = NJW 1968, 559). Eine solche Zwangslage aber besteht nicht, wenn Erkenntnisse aus einer familiären Beziehung auf andere Weise als durch die Zeugenaussage eines nahen Angehörigen gewonnen werden. Daß durch die Art und den Inhalt dessen, was im räumlich abgeschlossenen Familienkreis vor sich geht, Grenzen für den Umgang mit heimlich erlangten personenbezogenen Daten gesetzt sind, ist nicht durch LVerfGE 11
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ein über die Rücksicht auf diese Grenzen weit hinausgehendes generelles Verbot zu sichern, sondern durch Zurückhaltung bei der Erhebung und Verwendung, falls durch den Einsatz technischer Mittel der innere, höchstpersönliche Bereich des familiären Lebens betroffen ist (vgl. V. 3. b)). 5. Nicht zu beanstanden ist, daß die Verteidiger von Beschuldigten (§ 53 Abs. 1 Nr. 2 StPO) und Strafverteidigung ausübende Rechtsanwälte (Nr. 3 aaO) nicht aus dem Kreis derjenigen ausgenommen worden sind, die unter den engen Voraussetzungen des § 33 Abs. 6 S. 1 SOG M-V Betroffene einer heimlichen Datenerhebung sein können. Die Beschwerdeführer meinen, aus § 148 Abs. 1 StPO ergebe sich, daß nicht nur im repressiven, sondern auch im präventiven Bereich Gespräche nicht überwacht werden dürften; in § 148 Abs. 2 StPO und im Kontaktsperregesetz (§§ 31 ff EGGVG) sei abschließend geregelt, in welchem Umfang aus präventiven Gründen Eingriffe in das Vertrauensverhältnis zwischen Verteidigern und Beschuldigten zulässig seien. Damit ist geltend gemacht, die Einbeziehung auch der Strafverteidiger verstoße gegen Bundesrecht und sei daher nach Art. 31 GG — „Bundesrecht bricht Landesrecht" — nichtig. Das Landesverfassungsgericht braucht im vorliegenden Verfahren nicht der Frage nachzugehen, ob, wie weit und unter welchen Aspekten es zu der Prüfung der Ubereinstimmung von Landesrecht mit Bundesrecht befugt ist, und wie es im Falle einer von ihm festgestellten Kollision zu verfahren hätte. Denn jedenfalls liegt hier die von den Beschwerdeführern behauptete Kollision nicht vor. Es trifft zu, daß die Einschränkungen, denen nach § 148 Abs. 2 StPO der schriftliche und mündliche Verkehr von Gefangenen mit ihrem Verteidiger unterworfen werden kann, (jedenfalls auch) der Prävention dienen. Die sich auch auf den Verkehr mit dem Verteidiger erstreckende Kontaktsperre, deren Verfassungsmäßigkeit das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat (BVerfGE 49, 24), setzt nach § 31 S. 1 EGGVG voraus, daß sie zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit geboten ist. Damit hat der Bundesgesetzgeber nicht abschließend geregelt, wann zu dem Zweck, künftigen Schaden zu verhindern, in das Vertrauensverhältnis zwischen Beschuldigtem und Verteidiger eingegriffen werden darf. Die Vorschriften beziehen sich nur auf enge Ausschnitte des Verhältnisses zwischen dem Beschuldigten und dem Verteidiger. § 148 Abs. 2 StPO ist nur anwendbar, wenn der Beschuldigte nicht auf freiem Fuß ist und Gegenstand der Untersuchung eine Straftat nach § 129a StGB ist. § 31 EGGVG setzt eine gegenwärtige Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit einer Person, die von einer terroristischen Vereinigung ausgeht, voraus. Dann ist bei Gefangenen, die wegen einer Straftat nach § 129a StGB oder einer dort bezeichneten Straftat rechtskräftig verurteilt worden sind oder gegen die wegen einer solchen Straftat ein Haftbefehl besteht, unter bestimmten weiteren Voraussetzungen eine Kontaktsperre zulässig. Wie weit die Gewährleistung des freien schriftlichen und mündlichen Verkehrs durch § 148 Abs. 1 StPO eine Überwachung zu präventiven Zwecken hindert, ist in LVerfGE 11
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Auslegung und Anwendung jener Vorschrift zu entscheiden. Die Norm dient der Sicherung der Rechte des Beschuldigten im Strafverfahren. Sie erfordert, daß der Verteidiger zum Zwecke der Verteidigung tätig ist (BVerfGE 46,1,12; 49, 24, 48). Da oft — insbesondere im Fall organisierter Schwerkriminalität, bei der nach §§ 129 Abs. 1 und 129 a Abs. 1 StGB schon durch die Mitgliedschaft ein Straftatbestand erfüllt wird Repression und Prävention nicht zu trennen sind, dürfte in aller Regel durch Bundesrecht der Eingriff mit technischen Mitteln in das Vertrauensverhältnis zwischen Beschuldigtem und Verteidiger ausgeschlossen sein. Eine Ausnahme erscheint freilich denkbar, wenn von dem Beschuldigten eine Gefahr iSv § 33 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SOG M-V ausgeht, die keinen Zusammenhang mit der Straftat, wegen der er beschuldigt wird, aufweist, und wenn die Polizei auf Grund bestimmter Tatsachen annehmen darf, daß ein Kontakt zwischen ihm und dem Verteidiger sich nur auf jene — andersartige — Gefahr bezieht. Dies im Einzelfall zu klären, ist Sache der Strafgerichte. Dabei kann sich herausstellen, daß der Anwendungsbereich von § 33 Abs. 6 SOG M-V, soweit er durch die Bezugnahme auf § 53 Abs. 1 Nr. 2 und 3 StPO Strafverteidiger einschließt, eng bemessen ist. Deshalb ist die Vorschrift aber nicht bundesrechtswidrig. VII. Die Verfahrensvorschriften über die Anordnung der Überwachung mit technischen Mitteln sind verfassungsmäßig. 1. Nach § 34 Abs. 3 SOG M-V wird der zu befristende Einsatz technischer Mittel zur Erhebung personenbezogener Daten in oder aus Wohnungen oder aus Vertrauensverhältnissen endgültig durch den Amtsrichter, bei Gefahr im Verzuge einstweilen durch den Behördenleiter angeordnet. a) Die in § 34 Abs. 3 S. 1 SOG M-V vorgeschriebene Anordnung durch den Richter stimmt mit den .Anforderungen des Art. 13 Abs. 4 S. 1 GG überein. b) Dem Art. 13 Abs. 4 S. 2 GG entspricht, daß nach § 34 Abs. 3 S. 2 SOG M-V bei Gefahr im Verzug für Leib, Leben oder Freiheit einer Person der Behördenleiter die Überwachung anordnen kann und daß eine richterliche Entscheidung unverzüglich nachzuholen ist. Der Verfassung genügt, daß der Landesgesetzgeber als die bei Gefahr im Verzuge zur Anordnung befugte Stelle den Leiter der Polizeibehörde bestimmt und die Befugnis nicht einer höheren Stelle vorbehalten hat. Bei der Gefahr im Verzug handelt es sich um eine Lage, bei der die gegenwärtige Gefahr iSv § 33 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SOG M-V in der Weise nochmals gesteigert ist, daß es zur Abwehr der Gefahr unerläßlich erscheint, auf der Stelle mit der Überwachung zu beginnen. Dann ist der Behördenleiter derjenige, der zügig, sachnah und verantwortlich reagieren kann. In Anbetracht der Schwere des Eingriffs bedeutet die Verpflichtung des Behördenleiters, eine richterliche Entscheidung unverzüglich nachzuholen, daß dies mit der größten möglichen Beschleunigung zu geschehen hat. LVerfGE 11
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2. Dem Art. 13 Abs. 4 GG wird in besonderem Maße gerecht, daß nach § 34 Abs. 3 S. 1,2. HS. SOG M-V die richterliche Anordnung zu befristen ist. Anders als in Art. 13 Abs. 3 S. 2 GG ist für die Überwachung einer Wohnung im Rahmen der Gefahrenabwehr in Art. 13 Abs. 4 GG eine Befristung nicht ausdrücklich vorgeschrieben. Ihre Notwendigkeit ergibt sich aber aus der Natur der Sache, weil an die Gegenwärtigkeit der Gefahr iSv § 33 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SOG M-V hohe Anforderungen zu stellen sind. Schon deshalb kann die Überwachung regelmäßig nur für kürzere Zeit zugelassen werden. Der Zeitraum kann je nach Sachlage variabel sein. Es obliegt der Polizei, sich ständig darüber Rechenschaft zu geben, ob die Maßnahme noch notwendig ist; trifft dies nicht mehr zu, ist sie schon vor Ablauf der durch den Richter gesetzten Frist abzubrechen. Dem Amtsrichter obliegt es, bei der erstmaligen Anordnung der Überwachung sich eine eigene Überzeugung darüber zu verschaffen, daß die Voraussetzungen des § 33 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SOG M-V vorliegen. Es genügt nicht, daß die Berechtigung der Maßnahme ihm durch die Polizei lediglich plausibel oder glaubhaft gemacht wird (vgl. BVerfG, Beschl. v. 27.10.1999, NJW 2000,1175). Der Amtsrichter hat die Maßnahme in der Weise unter Kontrolle zu halten, daß er keine weiträumigen Fristen gewährt und daß er sich bei einem eventuellen Antrag auf Verlängerung über die Fortdauer der gesetzlichen Voraussetzungen vergewissert. Dies ist um so notwendiger, weil die durch die Anwendung technischer Mittel Betroffenen in diesem Stadium den durch Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG gewährleisteten Rechtsschutz nicht in Anspruch nehmen können. 3. Der Amtsrichter hat seine Entscheidung nach den Grundsätzen des Verfahrens der freiwilligen Gerichtsbarkeit (§ 34 Abs. 3 S. 4 SOG M-V) schriftlich zu begründen; ordnet der Behördenleiter die Maßnahme bei Gefahr im Verzug an, folgt die Begründungspflicht aus § 34 Abs. 1 S. 2 SOG M-V. In der Begründung muß — gegebenenfalls zusammen mit anderen Dokumenten — die Einschätzung niedergelegt sein, die Grundlage für die Anordnung ist. Das ist notwendig, um auch im nachhinein, insbesondere bei einer Verwendung erlangter Daten ζ. B. in einem Strafverfahren oder bei einer verwaltungsgerichtlichen Klage des Betroffenen, feststellen zu können, ob der Eingriff rechtmäßig war, und damit effektiven Rechtsschutz zu geben (vgl. BbgVerfG, Urt. v. 30.6.1999, LKV 1999,450,457 und 465). 4. § 34 Abs. 3 SOG M-V bietet dasselbe Schutzniveau auch bei Eingriffen in mittels Amts- oder Berufsgeheimnis geschützte Vertrauensverhältnisse, die außerhalb von Wohnungen stattfinden. Damit wird offensichtlich den bei solchen Eingriffen berührten Positionen aus anderen Grundrechten hinreichend Rechnung getragen. VIII. Die Regelungen über die Unterrichtung der Betroffenen, des Landesbeauftragten für den Datenschutz und des Landtags von der Überwachung mit technischen Mitteln sind überwiegend nicht zu beanstanden. Verfassungswidrig ist indessen § 34 Abs. 5 S. 2 LVerfGE 11
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SOG M-V; in der Vorschrift ist für den Fall, daß vorher die Betroffenen noch nicht haben unterrichtet werden können, bestimmt, der Landesbeauftragte für den Datenschutz sei erst nach 5 Jahren zu unterrichten. Bei einigen anderen Vorschriften ist eine verfassungskonforme Auslegung geboten. 1. Das Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 GG gewährt dem Betroffenen den Anspruch, Kenntnis von der Uberwachungsmaßnahme zu erlangen (vgl. BVerfGE 100, 313, 361 = NJW 2000, 55, 57 - zu Art. 10 GG). Die Verfassung gebietet, daß eine Benachrichtigung stattfindet, wenn Daten heimlich erhoben worden sind; davon darf nur abgesehen werden, wenn und solange der mit der Datenerhebung verfolgte Gemeinwohlbelang durch die Benachrichtigung gefährdet wäre (vgl. BVerfGE 30, 1, 21, 31). Hierbei handelt es sich zunächst um ein spezifisches Datenschutzrecht gegenüber den staatlichen Stellen, welche die Daten erheben und verarbeiten. Erst die Benachrichtigung von dem heimlichen Grundrechtseingriff gibt dem Betroffenen die Möglichkeit, die Unrechtmäßigkeit der Erhebung, Verarbeitung oder Nutzung der Daten sowie etwaige Berichtigungs- oder Löschungsansprüche geltend zu machen (BVerfGE 100, 313, 361). Das gleiche ergibt sich aus Art. 6 Abs. 1 und 2 LV. Abs. 1 gewährleistet das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, wie es das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung (BVerfGE 65,1) entwickelt hat (LVerfG M-V, Endurteil v. 21.10.1999, VwRR MO 1999,415,418f = LKV 2000,149,154). Zusätzlich ist in Art. 6 Abs. 2 LV gesondert bestimmt, daß jeder das Recht auf Auskunft über ihn betreffende Daten hat. Das Landesverfassungsgericht legt diese Vorschrift dahin aus, daß durch sie nicht nur das Recht, auf Nachfrage eine Auskunft zu erhalten, sondern darüber hinaus gewährleistet ist, Kenntnis von einer heimlichen Datenerhebung zu erlangen. Die Unterrichtung ist zugleich ein Gebot des Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG. Eine gerichtliche Kontrolle der Überwachung auf Veranlassung des Betroffenen ist nur möglich, nachdem dieser über die Maßnahme unterrichtet worden ist; erst dann kann er die Rechtsschutzinitiative, wie sie bei offenen Eingriffen ohne weiteres offensteht, entfalten (SächsVerfGH, Urt. v. 14.5.1996, LVerfGE 4,303,372 = LKV 1996,273,287 = DVB1.1996,1423,1434). Dabei hat der Betroffene einen Anspruch darauf, daß der Rechtsschutz effektiv ist. Insofern kann eine spezifische Konflikdage dadurch entstehen, daß es einerseits dem Datenschutz entspricht, nicht (mehr) benötigte Daten zu löschen, und daß andererseits durch die Löschung ein effektiver Rechtsschutz vereitelt werden kann. Vernichtungspflicht und Rechtsschutzgarantie sind miteinander abzustimmen (BVerfGE 100, 313, 364 f = NJW 2000, 55, 58). Dies hat so zu geschehen, daß, wenn der Betroffene ein ernsthaftes, grundsätzlich zu vermutendes Interesse an Rechtsschutz oder an der Geltendmachung seines Datenschutzrechts gegenüber der zuständigen Stelle haben kann, die Daten einstweilen nicht gelöscht, sondern gesperrt werden und zu keinem anderen Zweck mehr als zur Information des Betroffenen verwendet werden dürfen. LVerfGE 11
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Das Vorstehende gilt auch für die Unterrichtung über eine außerhalb von Wohnungen stattgefundene Anwendung technischer Mittel zur Erhebung von Daten aus gesetzlich geschützten Vertrauensverhältnissen, auch wenn insoweit Art. 13 Abs. 1 GG nicht (auch) eine verfassungsrechtliche Grundlage für das beschriebene subjektive Datenschutzrecht darstellt. 2. Durch § 34 Abs. 5 S. 1 SOG M-V ist vorgeschrieben, daß nach Abschluß einer Überwachungsmaßnahme der Betroffene zu unterrichten ist, sobald dies ohne Gefährdung des Zwecks der Maßnahme geschehen kann. a) „Betroffener" ist zunächst derjenige, gegen den sich die Uberwachungsmaßnahme gerichtet hat. Da in der Norm „der Betroffene" im Singular genannt wird, könnte sie dahin verstanden werden, daß nur die jeweilige Zielperson zu unterrichten wäre; andererseits geht § 33 Abs. 3 SOG M-V davon aus, daß Dritte von einer Datenerhebung „betroffen" sein können. Die Verfassung gebietet die Interpretation, daß grundsätzlich jeder, über den durch eine Überwachung von Wohnungen personenbezogene Daten erlangt worden sind, als Betroffener zu unterrichten ist. Denn gerade diejenigen, denen die Gefahr, zu deren Abwehr gehandelt wurde, nicht zugerechnet werden kann, sind vielfach durch die heimliche Überwachung unter grundrechtlichen Aspekten besonders schutzwürdig. Dies kommt darin zum Ausdruck, daß nach § 33 Abs. 3 SOG M-V Dritte nicht mehr als unvermeidbar betroffen sein dürfen. Die Unterrichtung ist die Voraussetzung dafür, daß der Einzelne überprüfen (lassen) kann, ob dem genügt worden ist. Eine Grenze ist der Unterrichtungspflicht allerdings dadurch gesetzt, daß umfangreiche Ermittlungen über die Identität Unbeteiligter nicht angestellt zu werden brauchen (vgl. — zur Benachrichtigungspflicht nach § 101 StPO — Maiwald in: Alternativkommentar, § 101 Rn. 2; Nack in: Karlsruher Kommentar, § 101 Rn. 3). b) Durch die Unterrichtung darf der Zweck der Maßnahme nicht gefährdet sein. Die Verfassung gebietet, bei der Feststellung dieser Voraussetzung den Anspruch der Betroffenen auf Unterrichtung miteinzubeziehen. Insbesondere genügt es für das Absehen von einer Unterrichtung nicht, daß durch diese die künftige Arbeit der Polizei erschwert werden könnte. Unter dem Zweck darf nicht ein lediglich allgemeines Interesse an Prävention oder Repression verstanden werden. 3. Nach § 34 Abs. 6 S. 1 SOG M-V ist die Unterrichtung dann nicht geboten, wenn keine Aufzeichnungen mit personenbezogenen Daten erstellt oder sie unverzüglich nach Beendigung der Maßnahme vernichtet worden sind. Die Vorschrift ist verfassungskonform auszulegen und anzuwenden. Den unter 1. umschriebenen Rechten der Betroffenen muß genügt werden. Dazu ist festzuhalten: a) Die Personen, auf die sich eine Anordnung (§ 34 Abs. 3 SOG M-V) bezogen hat, sind immer zu unterrichten. Das sind diejenigen, die die Polizei als für eine Gefahr LVerfGE 11
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Verantwortliche oder im Notstand als Nichtverantwortliche überwachen durfte. Für diese Personen wird der Anspruch auf spätere Unterrichtung bereits durch den Umstand begründet, daß gegen sie eine Anordnung ergangen ist. Der tiefe Eingriff, den die heimliche Überwachung von Wohnungen darstellt, löst aus dem Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnungen zwingend die Verpflichtung des Staates aus, den Eingriff nachträglich den Zielpersonen offenzulegen. Es ist ein elementares Recht des Einzelnen, zu erfahren, daß und warum eine derartig einschneidende Maßnahme gegen ihn ergriffen wurde. Das gilt auch dann, wenn es nicht gelungen war, bei der Uberwachung personenbezogene Daten zu erheben. b) Gleichermaßen haben einen Anspruch auf Unterrichtung die Beteiligten an dem Vertrauensverhältnis iSd §§ 53 und 53 a StPO, wenn in dieses eingegriffen wurde oder nach Maßgabe einer ergangenen Anordnung eingegriffen werden sollte. Wegen der Schutzwürdigkeit des Vertrauensverhältnisses besteht dieser Anspruch auch dann, wenn der Träger des Amts- oder Berufsgeheimnisses nicht Zielperson der Uberwachung war, aber dennoch in das Vertrauensverhältnis eingedrungen wurde, etwa anläßlich des Besuches eines Arztes bei der Zielperson in deren Wohnung. c) Regelmäßig wird bei den unter a) und b) genannten Personen auch deren rechtliches Interesse an Auskunft über die Daten und eventuellem Rechtsschutz einer Löschung vor Bekanntgabe entgegenstehen. Nach dem Gesetz werden die Daten nicht gelöscht, sondern gesperrt, solange Grund zu der Annahme besteht, daß durch die Löschung schutzwürdige Belange des Betroffenen beeinträchtigt werden (§ 45 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SOG M-V) oder die Nutzung der personenbezogenen Daten zur Behebung einer bestehenden Beweisnot in einem gerichtlichen Verfahren oder einem Verwaltungsverfahren unerläßlich ist (Nr. 2 aaO). Diese Voraussetzungen werden regelmäßig zu bejahen sein, vor allem auch dann, wenn erhobene Daten zwar nicht mehr benötigt werden, aber vorher ausgewertet worden sind. d) Hingegen wird eine Verpflichtung zur Unterrichtung regelmäßig zu verneinen sein, wenn gem. § 34 Abs. 2 S. 1 SOG M-V Daten, die ausschließlich über andere als die in § 33 Abs. 2 , 3 , 4 oder 6 SOG M-V genannten Personen erhoben worden sind, unverzüglich gelöscht worden sind. Dabei handelt es sich um Personen, die nicht einmal voraussehbar mitbetroffene Dritte (§ 33 Abs. 3 SOG M-V) sind, die mithin rein zufällig bei Gelegenheit der Maßnahme mit technischen Mitteln erfaßt wurden. Hier ist es gerechtfertigt, daß der Gesetzgeber, um jegliche Weiterungen für die Betroffenen zu vermeiden, die unverzügliche Löschung angeordnet hat. Ebenso wird regelmäßig ein (möglicher) Anspruch, nachträglich von der Datenerhebung Kenntnis zu erhalten und gegebenenfalls den Rechtsweg zu beschreiten, nicht erkennbar sein. e) Bei den Dritten iSv § 33 Abs. 3 SOG M-V, die nicht mehr als unvermeidbar betroffen werden sollen, darf grundsätzlich nicht nach Löschung gem. § 34 Abs. 6 S. 1 SOG M-V von einer Unterrichtung abgesehen werden. Für sie ist der Eingriff vielfach LVerfGE 11
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besonders gravierend. Das spricht dafür, sie rückhaltlos zu unterrichten. Auf der anderen Seite ist es denkbar, daß im Einzelfall ihre Kenntnis von der Überwachung Mißtrauen und Zerwürfnisse im persönlichen Umfeld — insbesondere in der Beziehung zu der Zielperson — auslösen oder vertiefen kann. Dieser Gesichtspunkt kann es erlauben, ausnahmsweise in engen Grenzen im Einzelfall die Daten zu löschen und dann die Unterrichtung zu unterlassen. f ) Im übrigen begegnet es keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, grundsätzlich Dritte, über die keine Aufzeichnungen mit personenbezogenen Daten erstellt worden sind, nicht zu unterrichten. g) Aber auch wenn Daten nach sorgfältiger Abwägung mit den Belangen des Betroffenen vernichtet worden sind, kann im Einzelfall eine Verpflichtung der Polizei bestehen, den Betroffenen zu unterrichten. Er kann ein grundrechtlich verbürgtes Recht darauf haben, jedenfalls zu erfahren, daß, warum, wann und wo Daten über ihn mit technischen Mitteln erhoben worden sind. 4. Nach § 34 Abs. 6 S. 2 SOG M-V unterbleibt eine Unterrichtung des Betroffenen, wenn sich an den auslösenden Sachverhalt ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen ihn anschließt. Die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens kann die Polizei nicht von ihrer Verantwortung dafür entbinden, daß die Unterrichtung sicherzustellen ist. Die Vorschrift ist einschränkend dahin auszulegen, daß die Unterrichtung durch die PoÜ2ei nicht unterbleiben darf, wenn von vornherein absehbar ist, daß dadurch die sachgerechte Durchführung des Ermittlungsverfahrens nicht beeinträchtigt wird. Die Polizei muß den Betroffenen ferner unterrichten, wenn dies im Ermittlungsverfahren nicht geschehen ist. Der Betroffene ist daher spätestens nach Abschluß der Ermittlungen zu unterrichten, wobei von der Unterrichtung abgesehen werden kann, wenn er im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Kenntnis von der Maßnahme erlangt hat (vgl. § 33 Abs. 7 S. 2 des Brandenburgischen Polizeigesetzes). 5. a) Gem. § 34 Abs. 5 S. 2 SOG M-V ist der Landesbeauftragte für den Datenschutz zu unterrichten, wenn die Unterrichtung des Betroffenen gem. Satz 1 nach 5 Jahren nach Abschluß der Maßnahme nicht möglich ist. Die Vorschrift ist insoweit verfassungswidrig, als der Datenschutzbeauftragte erst nach diesem Zeitraum unterrichtet zu werden braucht. Die Einschaltung unabhängiger Stellen bei der Uberprüfung geheimgehaltener Maßnahmen ist ein wesentliches Element des Grundrechtsschutzes, den die Betroffenen selbst (noch) nicht wahrnehmen können. Während § 101 Abs. 1 S. 2 StPO für den Fall einer nicht zeitigen Benachrichtigung über die Anwendung technischer Mittel eine richterliche Entscheidung über die Benachrichtigung vorsieht, hat der Landesgesetzgeber die Unterrichtung des Datenschutzbeauftragten bestimmt. Diese Regelung ist zur Wahrung der Rechte von Betroffenen in hohem Maße geeignet. Der Landesbeauftragte für den Datenschutz übt in Unabhängigkeit (Art. 37 LVerfGE 11
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Abs. 2 S. 1 LV, § 25 Abs. 6 S. 1 des Landesdatenschutzgesetzes - DSG M-V - ) die Kontrolle darüber aus, ob die öffentlichen Stellen die Vorschriften über den Datenschutz einhalten (§ 26 DSG M-V). Er kann Verstöße beanstanden (§ 28 DSG M-V). Er kann sich jederzeit an den Landtag wenden (§ 26 Abs. 9 DSG M-V). Damit hat er effektive Mittel, um nötigenfalls auf die Korrektur der Entscheidung, einen Betroffenen noch nicht zu unterrichten, hinzuwirken. Verfassungsrechtlich zu beanstanden ist die Frist von 5 Jahren, die zwischen dem Abschluß der Uberwachungsmaßnahme und der Unterrichtung des Datenschutzbeauftragten verstreichen darf. Die Voraussetzungen der Gefahr nach § 33 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SOG M-V werden vielfach nach kurzer Zeit beseitigt sein. Damit entsteht grundsätzlich der Anspruch der Betroffenen auf Unterrichtung über die Datenerhebung in oder aus Wohnungen sowie aus geschützten Vertrauensverhältnissen. Ist die Unterrichtung aus polizeilicher Sicht ausnahmsweise auf längere oder gar unabsehbare Zeit nach dem Abschluß der Maßnahme hinauszuschieben, muß der Landesbeauftragte für den Datenschutz bald die Gelegenheit erhalten, von unabhängiger Warte seine Meinung zu bilden und, soweit sie von derjenigen der Polizei abweicht, mit seinen Mitteln auf die Unterachtung des Betroffenen hinzuwirken. Das Landesverfassungsgericht hat im vorliegenden Verfahren nicht zu entscheiden, welche Frist im einzelnen verfassungsrechtlich hinnehmbar ist. Eine Frist von einem Jahr (vgl. § 101 Abs. 1 S. 2 StPO) dürfte ein sachgerechter Ausgangspunkt für die Überlegungen sein, die der Gesetzgeber anzustellen hat. Ergibt sich nach der Uberprüfung durch den Landesbeauftragten für Datenschutz, daß der Betroffene noch nicht benachrichtigt wird, so darf dies nicht dazu führen, daß er in der folgenden Zeit den Vorgang nicht (wieder) überprüft. Er wird jeweils in seiner Verantwortung festzulegen haben, in welchen Abständen er sich wieder mit dem Vorgang befaßt. b) Da die Fesdegung der Frist von 5 Jahren für die Unterrichtung des Landesbeauftragten für den Datenschutz verfassungswidrig ist, stellt das Landesverfassungsgericht die Unvereinbarkeit des § 34 Abs. 5 S. 2 SOG M-V mit der Landesverfassung fest. Mit dem ersatzlosen Fortfall der Norm träte nämlich ein Zustand ein, welcher der Verfassung ferner stünde als bei weiterer Anwendung des Gesetzes. Daher ist von der Feststellung der Nichtigkeit hier ausnahmsweise abzusehen (vgl. LVerfG M-V, Endurteil v. 21.10.1999, LKV 2000, 149, 159). Die Feststellung der Unvereinbarkeit gilt das sei klarstellend bemerkt — nur insoweit, als technische Mittel zur Erhebung von Daten in oder aus Wohnungen sowie aus besonders geschützten Vertrauensverhältnissen eingesetzt worden sind. Wie die gesetzliche Frist in den sonstigen Fällen des § 33 SOG M-V bemessen werden darf, ist nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens. c) Das Land Mecklenburg-Vorpommern hat bis zum 30.6.2002 eine Regelung in Kraft zu setzen, die nach Maßgabe dieses Urteils für die Fälle des verdeckten Einsatzes technischer Mittel zur Erhebung von Daten in oder aus Wohnungen sowie aus mittels LVerfGE 11
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Amts- oder Berufsgeheimnis geschützten Vertrauensverhältnissen iSd §§ 53, 53a StPO eine Frist bestimmt, nach welcher der Landesbeauftragte für den Datenschutz darüber zu unterrichten ist, daß die Betroffenen noch nicht benachrichtigt worden sind. 6. Nach § 34 Abs. 7 SOG M-V unterrichtet das Innenministerium ein aus 5 vom Landtag gewählten Mitgliedern bestehendes Gremium mindestens einmal jährlich über Anlaß und Dauer der erfolgten Einsätze technischer Mittel zur Erhebung personenbezogener Daten in oder aus Wohnungen oder aus Vertrauensverhältnissen. Die Landesregierung unterrichtet den Landtag jährlich über die Zahl dieser Einsätze. Diese Regelung ist verfassungsmäßig. Nach Art. 13 Abs. 6 S. 3 GG haben die Länder eine parlamentarische Kontrolle zu gewährleisten, die der in den Sätzen 1 und 2 für den Zuständigkeitsbereich des Bundes vorgeschriebenen parlamentarischen Kontrolle gleichwertig ist. Dem wird § 34 Abs. 7 SOG M-V gerecht. Allerdings ist nicht zu verkennen, daß auf den ersten Blick die Regelung des Landes hinter dem zurückbleibt, was für den Bund gefordert wird. Nach Art. 13 Abs. 6 S. 1 GG unterrichtet die Bundesregierung den Bundestag über den Einsatz technischer Mittel. Aus Satz 2 folgt, daß dieser Bericht die Grundlage für die parlamentarische Kontrolle des vom Bundestag gewählten Gremiums ist; mithin muß der Bericht mehr enthalten als die Nennung der bloßen Zahl von Einsätzen technischer Mittel. In § 34 Abs. 7 S. 5 SOG M-V ist dagegen bestimmt, daß die Landesregierung den Landtag jährlich lediglich über die Zahl der Einsätze unterrichtet. Die landesrechtliche Regelung bleibt zwar insofern hinter dem, was für den Bund vorgeschrieben ist, zurück, als über die Einsätze nicht die Regierung das Parlament, sondern lediglich das Innenministerium das Gremium unterrichtet. Indessen gewährleistet das Landesrecht damit ein Schutzniveau, das „gleichwertig" iSv Art. 13 Abs. 6 S. 3 GG ist. Für die verfassungsrechtliche Bewertung ist herauszustellen, daß nach Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaats im Sinne des Grundgesetzes entsprechen muß. Diese Verpflichtung der Länder auf — lediglich — Grundsätze bedeutet zugleich, daß es Sache der Länder ist, mit welcher Gestaltung im einzelnen sie die Vorgaben des Grundgesetzes erfüllen (vgl. BVerfGE 90,60, 84 f; Dreier aaO, Art. 28 Rn. 57 mwN). Daher ist der Bund gehindert, den Ländern vorzuschreiben, wie die parlamentarische Kontrolle des Einsatzes technischer Mittel im einzelnen auszugestalten ist. Wenn in Art. 13 Abs. 6 S. 3 GG eine „gleichwertige" parlamentarische Kontrolle verlangt wird, so reicht aus, daß das landesrechtliche Schutzniveau dem, was für den Bund vorgeschrieben ist, im wesentlichen entspricht. Nach diesem Maßstab ist die landesrechtliche Regelung nicht zu beanstanden. Zunächst hindert das Gesetz nicht, dem Landtag mehr als die bloße Anzahl der LVerfGE 11
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Einsätze technischer Mittel zur Erhebung personenbezogener Daten in oder aus Wohnungen oder aus Vertrauensverhältnissen mitzuteilen. Überdies haben die Abgeordneten des Landtages nach Maßgabe des Art. 40 LV einen Anspruch auf Beantwortung ihrer Anfragen. Das Ablehnungsrecht der Landesregierung nach Art. 40 Abs. 3 LV würde eine generelle Verweigerung der Auskunft über den verdeckten Einsatz technischer Mittel in oder aus Wohnungen sowie aus besonders geschützten Vertrauensverhältnissen nicht decken. IX. Die Vorschrift des § 34 Abs. 2 S. 3 SOG M-V ist verfassungsrechtlich zu beanstanden. Die gesetzlichen Vorschriften, durch die eine Änderung des Zweckes von nach § 33 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 und Abs. 6 SOG M-V erhobenen Daten zugelassen wird, sind so auszulegen und anzuwenden, daß sie zur Strafverfolgung nur umgewidmet werden dürfen, wenn es sich um eine Straftat handelt, zu deren Aufklärung nach der Strafprozeßordnung oder nach anderen Gesetzen, die in Ausführung des Art. 13 Abs. 3 GG ergangen sind, die Anwendung technischer Mittel zulässig gewesen wäre. 1. § 34 Abs. 2 S. 3 SOG M-V ist mit der Landesverfassung unvereinbar und nichtig. § 34 Abs. 2 SOG M-V lautet: Daten, die ausschließlich über andere als die in § 33 Abs. 2,3,4 oder 6 genannten Personen erhoben worden sind, sind unverzüglich zu löschen. Dies gilt nicht, wenn die nach § 33 Abs. 2 erhobenen Daten zur Verfolgung von Straftaten benötigt werden. Für Daten, die in oder aus Wohnungen nach § 33 Abs. 4 oder aus Vertrauensverhältnissen nach § 33 Abs. 6 erhoben worden sind, kann eine Löschung nur unterbleiben, wenn sie zur Verfolgung von Straftaten von erheblicher Bedeutung (§ 49) benötigt werden. Nach dem systematischen Zusammenhang sowie dem Sinn und Zweck der Regelung kann § 34 Abs. 2 S. 3 SOG M-V sich nur auf die Zufallsbetroffenen in dem oben (VIII. 3. d) dargestellten Sinne beziehen. Die vorangehenden Sätze 1 und 2 beschränken sich zweifellos auf diesen Personenkreis. Ferner würde es keinen Sinn machen, von der Löschung der Daten über für die Gefahr Verantwortliche und über unvermeidbar betroffene Dritte (nur) abzusehen, wenn diese zur Verfolgung von Straftaten von erheblicher Bedeutung benötigt werden. Denn dann könnten die Daten dem Erhebungszweck — der Abwehr von Gefahren — nicht oder nur sehr eingeschränkt dienen. Die Vorschrift verstößt gegen Art. 6 Abs. 1 sowie Art. 5 Abs. 3 LV iVm Art. 13 Abs. 1 und 4, Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG. Wegen der außerordentlichen Tiefe des Grundrechtseingriffs, die in der Anwendung technischer Mittel zur Datenerhebung in oder aus Wohnungen und aus besonders geschützten Vertrauensverhältnissen liegt, müssen für die Verarbeitung und Nutzung der dabei erhobenen personenbezogenen Daten strikte, dem durch Art. 13 GG und Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Persönlichkeitsrecht Rechnung traLVerfGE 11
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gende Begrenzungen bestehen. Daten, die durch heimliche Überwachung von Wohnungen und von geschützten Vertrauensverhältnissen erhoben worden sind, dürfen nicht in gleicher Weise auch für Zwecke zugänglich gemacht werden, die eine derartige Überwachung nicht gerechtfertigt hätten (BVerfGE 100, 313, 389f = NJW 2000, 55, 65). Das schließt indessen nicht jegliche Umwidmung der erlangten Daten zu anderen Zwecken aus. Insbesondere kann eine Verwendung zur Strafverfolgung in Betracht kommen. Die Umwidmung muß aber in einem angemessenen Verhältnis zur Bedeutung der Sache und den vom Einzelnen hinzunehmenden Einbußen stehen (BVerfG 100, 391, unter Bezugnahme auf BVerfGE 65, 1, 54 sowie 67, 157, 173, 178). Zwingend geboten sind dabei ein hohes Gewicht des jeweils in Rede stehenden Rechtsguts und eine hinreichende Tatsachenbasis für den Verdacht einer Straftat (BVerfGE 100, 313, 392 = NJW 2000, 55, 66). Daher verbietet die Verfassung, die durch präventive Überwachung erlangten Daten für Zwecke zu verwenden, die in ihrer Wertigkeit nicht wenigstens annähernd dem Zweck der ursprünglichen Erhebung entsprechen. Solche Wertigkeit besitzt der Rechtsgüterschutz, der durch die Verfolgung von Straftaten von „erheblicher Bedeutung" geleistet wird, zu einem großen Teil nicht. Denn in dem Katalog des § 49 SOG M-V, der zudem noch offen ist („insbesondere") sind alle Verbrechen, sowie eine beträchtliche Anzahl von Vergehen, insgesamt Straftaten von höchst unterschiedlichem Gewicht und verschiedener Zielrichtung enthalten. Das bedarf keiner weiteren Ausführungen. 2. Bei der Anwendung sämtlicher gesetzlicher Vorschriften über die Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten (§§ 36 ff SOG M-V), insbesondere des § 36 Abs. 1 S. 2 und des § 39, ist zwingend zu beachten, daß personenbezogene Daten aus der Überwachung von Wohnungen oder besonderen Vertrauensverhältnissen nur dann zur Strafverfolgung umgewidmet werden dürfen, wenn es sich um Straftaten handelt, zu deren Ermittlung unter Wahrung des Grundrechts aus Art. 13 Abs. 1 GG Wohnungen hätten überwacht werden können. Ob durch § 100 c Abs. 1 Nr. 3 StPO das Grundrecht gewahrt ist, ist Gegenstand von Verfahren beim Bundesverfassungsgericht. Einerseits ist nach dem unter 1. Gesagten eine wesentliche Einschränkung der Umwidmung geboten. Andererseits können mit der Umwidmung zur Verfolgung der in § 100 c Abs. 1 Nr. 3 StPO aufgeführten Straftaten auch Daten repressiv verwendet werden, zu deren Erhebung eine Überwachung gemäß § 33 Abs. 4 S. 1 Nr. 1, S. 2 SOG M-V nicht hätte angeordnet werden dürfen (s. ο. V. 2. a) ee). Eine derartige Ausdehnung der Verwendbarkeit ist — noch — mit der Landesverfassung vereinbar. Da die Daten durch einen tiefen Grundrechtseingriff erlangt worden sind, wäre es verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen, die Übermittlungsschwelle unter diejenige abzusenken, die bei der Strafverfolgung für Eingriffe in das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung gilt (vgl. BVerfGE 100, 313,394 = NJW 2000, 55, 66). Die Bedenken, die für den Bereich der Überwachung von Wohnungen hiergegen desLVerfGE 11
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halb erhoben werden können, weil das Anwendungsfeld des § 100 c Abs. 1 Nr. 3 StPO gegenüber § 33 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SOG M-V weiter ist, schlagen nicht durch. Dem hochrangigen Verfassungsgut der Sicherheit der Bevölkerung und des Staates als verfaßte Friedens- und Ordnungsmacht (BVerfGE 49, 24, 56 f), dem insbesondere auch die Strafverfolgung dient, darf Rechnung getragen werden. Das rechtfertigt es, in dem stattgefundenen präventiven Eingriff einen — aus dem Blickwinkel der Strafverfolgungsbehörden — „hypothetischen Ersatzeingriff' zu sehen, der zur Repression zulässig gewesen wäre. Auf diesem Gedanken beruht § 104 Abs. 2 StPO, der im umgekehrten Fall gestattet, personenbezogene Informationen zu Beweiszwecken zu verwenden, wenn sie durch Maßnahmen erlangt worden sind, die dem § 100 c Abs. 1 Nr. 3 StPO entsprechen (BT-Drs. 13/8650, S. 15). Sind bei einer präventiven Wohnungsüberwachung Informationen aus einem in § 53 Abs. 1 StPO genannten Vertrauensverhältnis erlangt worden, so dürfen diese nicht in das Strafverfahren gegeben werden, da die Strafverfolgungsbehörden in das Vertrauensverhältnis nicht durch Überwachung hätten eingreifen dürfen (§ lOOd Abs. 3 S. 1 StPO). Ebenfalls sind bei der Weitergabe zur Strafverfolgung bezüglich der Erkenntnisse aus sonstigen Vertrauensverhältnissen die durch § lOOd Abs. 3 StPO gesetzten Grenzen zu beachten. Endlich dürfen Erkenntnisse aus einer visuellen Wohnraumüberwachung nicht umgewidmet werden, da nach Art. 13 Abs. 3 S. 1 GG n.F., § 100 c Abs. 1 Nr. 3 StPO im Strafverfahren Wohnungen nur akustisch überwacht werden dürfen. D. Das Verfahren ist nach § 32 Abs. 1 LVerfGG kostenfrei. Soweit die Verfassungsbeschwerde sich als begründet erwiesen hat, sind gem. § 33 Abs. 1 LVerfGG den Beschwerdeführern ihre notwendigen Auslagen durch das Land Mecklenburg-Vorpommern zu erstatten. Soweit die Verfassungsbeschwerde keinen Erfolg hat, ordnet das Landesverfassungsgericht die teilweise Erstattung der Auslagen im Hinblick darauf an, daß das Verfahren insgesamt zur Klärung wichtiger verfassungsrechtlicher Fragen geführt hat. Daraus folgt, daß das Land MecklenburgVorpommern den Beschwerdeführern drei Viertel ihrer notwendigen Auslagen zu erstatten hat. E. Nach § 28 Abs. 2 S. 3 LVerfGG hat der Ministerpräsident die Entscheidungsformel (I. des Urteilstenors) im Gesetz- und Verordnungsblatt für Mecklenburg-Vorpommern zu veröffentlichen.
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Nr. 2* 1. Politische Parteien können als „andere Beteiligte", die durch die Verfassung mit eigenen Rechten ausgestattet worden sind, eine Verletzung oder unmittelbare Gefahrdung des ihnen verliehenen verfassungsrechtlichen Status durch ein Verfassungsorgan im Wege der Organstreitigkeit vor dem Landesverfassungsgericht geltend machen. 2. Zum verfassungsrechtlichen Status einer Partei gehören gleiche Wettbewerbschancen bei Wahlen unter Einschluß der Kommunalwahlen. Sieht sich eine politische Partei durch das Verhalten eines Verfassungsorgans in diesem Status beeinträchtigt, so kämpft sie auch insoweit um ihr Recht auf Teilhabe am Verfassungsleben. 3. Gesetzgeberisches Unterlassen (hier: Unterbleiben der Uberprüfung der 5 %-Sperrklausel im Kommunalwahlgesetz Mecklenburg-Vorpommern) kann ein zulässiger Streitgegenstand im Organstreitverfahren sein. 4. Dem Gesetzgeber ist bei Regelungen, welche die politische Willensbildung des Volkes berühren, jede unterschiedliche Behandlung von politischen Parteien, durch die deren Chancengleichheit bei Wahlen verändert werden kann, von Verfassungs wegen versagt, sofern sie sich nicht durch einen zwingenden Grund rechtfertigen läßt. 5. Bei der Einschätzung und Bewertung von Umständen, die auf eine mögliche Gefährdung der Funktionsfähigkeit einer Kommunalvertretung hindeuten, hat sich der Gesetzgeber - unbeschadet seiner Freiheit zur näheren Ausgestaltung von Wahlsystem und Wahlverfahren - an der politischen Wirklichkeit zu orientieren; hierbei ist auf die konkrete, durch tatsächliche Anhaltspunkte gestützte und mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwartende Möglichkeit der Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Vertretungen abzustellen. Grundgesetz Art. 21 Abs. 1, Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 Landesverfassungsgerichtsgesetz § 11 Abs. 1 Nr. 1, § 36 Landesverfassung Mecklenburg-Vorpommern Art. 3 Abs. 3, Art. 3 Abs. 4, Art. 5 Abs. 3 Kommunalverfassung Mecklenburg-Vorpommern § 38 Abs. 4 S. 1,2. HS Kommunalwahlgesetz Mecklenburg-Vorpommern § 37 Abs. 2 S. 1 * Die Entscheidung ist im Volltext beim Landesverfassungsgericht des Landes MecklenburgVorpommern erhältlich (Adresse s. Anhang).
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Gesetz zur Änderung kommunalverfassungsrechtlicher Vorschriften und zur Einfuhrung der direkten Wahl der Bürgermeister und Landräte Art. 4 § 1 Urteil vom 14. Dezember 2000 - LVerfG 4/99 in dem Organstreitverfahren über die Pflicht zur Überprüfung der 5 %-Klausel in § 37 Abs. 2 S. 1, 2. HS Kommunalwahlgesetz Mecklenburg-Vorpommern. Entscheidungsformel: Der Landtag Mecklenburg-Vorpommern hat gegen Art. 3 Abs. 3 und 4 der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern dadurch verstoßen, daß er es unterlassen hat, die Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung der 5%-Klausel in § 37 Abs. 2 S. 1,2. HS Kommunalwahlgesetz Mecklenburg-Vorpommern vom 26. November 1993 - KWG M-V - (GVOB1. S. 938) vor der Kommunalwahl 1999 zu überprüfen. Die Entscheidung ergeht kostenfrei. Das Land Mecklenburg-Vorpommern hat drei Viertel der der Antragstellerin entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten. Entscheidungsgründe: A. Die Antragstellerin wendet sich dagegen, daß der Antragsgegner es unterlassen habe, die ihrer Ansicht nach aufgrund von Änderungen des Kommunal(wahl)rechts verfassungswidrig gewordene 5 %-Sperrklausel im Kommunalwahlgesetz Mecklenburg-Vorpommern zu überprüfen und gegebenenfalls aufzuheben oder zu ändern. I. 1. Die 5 %-Sperrklausel, die Parteien und Wählergruppen, nicht aber Einzelbewerber von einer Berücksichtigung bei der Sitzverteilung ausschließt, ist in § 37 Abs. 2 S. 1 Kommunalwahlgesetz Mecklenburg-Vorpommern vom 26. November 1993 - KWG M-V (GVOB1. 1993, S. 938) geregelt. Die Bestimmung lautet: „Die im Wahlgebiet zu vergebenden Sitze werden nach den folgenden Sätzen 2 bis 5 auf die Wahlvorschläge verteilt, wobei bei der Berechnung der Sitzverteilung die fiir eine Partei oder Wählergruppe abgegebenen Stimmen unberücksichtigt bleiben, wenn sie weniger als 5 vom Hundert der Gesamtzahl der im Wahlgebiet gültigen Stimmen betragen." Zuvor hatte das Gesetz über die Wahlen zu Kreistagen, Stadtverordnetenversammlungen, Stadtbezirksversammlungen und Gemeindevertretungen vom 6. März 1990 (GBl. I 1990, S. 99) - Kommunalwahlgesetz DDR - gegolten, aufgrund dessen die ersten Gemeindevertretungen nach der ebenfalls im Jahre 1990 neu beschlossenen LVerfGE 11
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Kommunalverfassung DDR (Gesetz vom 17. Mai 1990 - GBl. 11990, S. 255) gebildet wurden. Dieses Gesetz enthielt keine Sperrklausel, sah allerdings ein Unterschriftenquorum für Einzelbewerber in Höhe von 5 %, jedoch nicht mehr als 200 Unterschriften, vor. Bei der Beratung des Gesetzentwurfs der Landesregierung für das Kommunalwahlgesetz im Innenausschuß (vgl. Bericht des Abgeordneten Bollinger, LT-Drs. 1/3764 vom 3.11.1993, S. 5, 15) hatten sich die Fraktionen der SPD und der LL/PDS dafür ausgesprochen, die neu vorgesehene Klausel ersatzlos zu streichen; hierzu wurde u. a. vorgebracht, die kommunalen Vertretungen würden „keine Beeinträchtigung ihrer Arbeit erleiden, obwohl in der Vergangenheit keine Sperrklausel zum Tragen gekommen sei". Der Antrag fand, wie auch ein entsprechender von der Fraktion der LL/PDS im Plenum gestellter Antrag (LT-Drs. 1/3787), keine Mehrheit, so daß § 37 KWG M-V schließlich in der Fassung des Entwurfs der Landesregierung angenommen wurde (LTProt. 1/91, S. 5366, 5372). 2. Die 5 %-Sperrklausel ist bei Novellierungen des Kommunalwahlgesetzes und der Kommunalverfassung in der Folgezeit beibehalten worden. Das galt zunächst für die Einführung des Kommunalwahlrechts für Unionsbürger durch das Erste Gesetz zur Änderung wahlrechtlicher Vorschriften vom 18. Dezember 1995 (GVOB1. S. 651), sowie für das Zweite Gesetz zur Änderung wahlrechtlicher Vorschriften (2. WRÄndG) vom 28. Oktober 1997 (GVOB1. S. 546). Anträge der Fraktion der PDS, die Sperrklausel zu streichen (LT-Drs. 2/737 und 2/3197 — neu), fanden wiederum keine Mehrheit. Die Abgeordnete Jünger hatte hierzu in der 2. Lesung des Gesetzentwurfs zum 2. WRÄndG (der noch unter der Bezeichnung „Entwurf des Ersten Gesetzes zur Änderung wahlrechtlicher Vorschriften — 1. WRÄndG —" eingebracht worden war), u. a. ausgeführt: „Wir lehnen weiterhin die 5 %-Sperrklausel in den Wahlgesetzen ab. Sperrklauseln stellen einen sehr willkürlichen Eingriff in die Wahlrechte und Mitbestimmungsrechte von Wählerinnen und Wählern dar. Sie sind als Instrument einer demokratischen Auseinandersetzung um Minderheiten völlig ungeeignet" (Sitzung vom 22.10.1997, LT-Prot. 2/69, S. 4280,4282). In dem Verfahren zum Erlaß des am 29. November 1997 in Kraft getretenen Gesetzes zur Änderung kommunalverfassungsrechtlicher Vorschriften und zur Einführung der direkten Wahl der Bürgermeister und Landräte (Gesetz vom 26. November 1997 — GVOB1. S. 694) kam die 5 %-Sperrklausel nicht zur Sprache. Dieses Gesetz sah erstmals die Direktwahl von hauptamtlichen Bürgermeistern und Landräten in Mecklenburg-Vorpommern vor; nach der Übergangsregelung in Art. 1 Nr. 113 des Gesetzes (= § 176 Kommunalverfassung — KV M-V n.F.) sollte das neue Wahlverfahren erstmals ab der nächsten Wahl zu den Gemeindevertretungen und Kreistagen im Lande Mecklenburg-Vorpommern Anwendung finden. Im Gesetzgebungsverfahren zur Herabsetzung des aktiven Wahlalters von 18 auf 16 Jahre durch das Erste Gesetz zur Änderung des Kommunalwahlgesetzes vom LVerfGE 11
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3. März 1999 (GYOB1. S. 212) machte der Innenausschuß des Landtages den Wegfall der 5 %-Sperrklausel zum Gegenstand einer öffentlichen Anhörung (LT-Drs. 3/214 vom 24. Februar 1999). Er empfahl dem Landtagsplenum aber keine entsprechende Änderung. Während der 3. Lesung des Gesetzentwurfes nahmen mehrere Redner zur Frage des Wegfalls der 5%-Klausel Stellung. In der Landtagsdebatte am 3.3.1999 führte Innenminister Dr. Timm (LT-Prot. 3/10, S. 399, 400) aus, die Umstellung der Wahl der Bürgermeister und Landräte erfolge erst ab dem Jahre 2001, so daß es erforderlich sei, „daß sich der Landtag zu gegebener Zeit, und zwar ausführlich und gründlich, mit dieser Frage befaßt und sicherlich auch befassen wird"; das sei allerdings vor der Kommunalwahl nicht möglich und nicht notwendig, weil das Problem erst nach dem Jahre 2001 anstehe. II. Die Antragstellerin hat das vorliegende Organstreitverfahren am 9. April 1999 eingeleitet. (...) III. Der Landtag Mecklenburg-Vorpommern als Antragsgegner hat sich mit Schriftsatz vom 28. Juli 1999 dahingehend geäußert, eine Stellungnahme ausschließlich zur Zulässigkeit des Verfahrens abgeben zu wollen. Hierzu hat er mit Schriftsatz vom 29. September 2000 näher ausgeführt: (...) IV. Namens der Landesregierung hat das Justizministerium eine Stellungnahme abgegeben: (...) B. Der zur Entscheidung gestellte Antrag ist zulässig. Nach Art. 53 Nr. 1 der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern (LV) vom 23. Mai 1993 (GVOB1. S. 371) in der Fassung vom 4. April 2000 (GVOB1. S. 158), § 11 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes über das Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern (LVerfGG) vom 19. Juli 1994 (GVOB1. S. 734) in der Fassung vom 28. Oktober 1997 (GVOB1. S. 546) entscheidet das Landesverfassungsgericht über die Auslegung der Verfassung aus Anlaß von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und LVerfGE 11
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Pflichten eines obersten Landesorgans oder anderer Beteiligter, die durch die Verfassung oder in der Geschäftsordnung des Landtages mit eigenen Rechten ausgestattet sind. I. 1. Die Antragstellerin ist im vorliegenden Verfahren beteiligtenfähig (§ 35 LVerfGG). Sie kann als politische Partei im Wege des Organstreits geltend machen, durch das Unterlassen der Nachprüfung der 5%-Klausel in § 37 Abs. 2 S. 1, 2. HS KWG M-V in ihrem verfassungsrechtlichen Status auf Chancengleichheit bei Wahlen verletzt oder unmittelbar gefährdet zu sein. Die Antragstellerin ist als politische Partei iSv Art. 21 Abs. 1 GG sowie Art. 3 Abs. 4 LV im Organstreitverfahren „andere Beteiligte" im Sinne von § 11 Abs. 1 Nr. 1 LVerfGG. a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (seit der Plenumsentscheidung vom 20.7.1954, BVerfGE 4, 27, 31; s. BVerfGE 6, 367, 372; 66, 107,115; 73,1,29; 82, 322, 335; 84,290,298; 85,264,284) können politische Parteien als „andere Beteiligte", die durch die Verfassung mit eigenen Rechten ausgestattet worden sind, eine Verletzung oder unmittelbare Gefährdung des ihnen verliehenen verfassungsrechtlichen Status durch ein Verfassungsorgan im Wege der Organstreitigkeit geltend machen. Antragsteller können auch die Landesverbände der politischen Parteien sein (BVerfGE 66,107,115). Der verfassungsrechtliche Status der politischen Parteien umfaßt namentlich das Recht auf Chancengleichheit bei der rechtlichen Gestaltung des Wahlverfahrens (s. BVerfGE 6, 367, 371 f). Das gilt auch für die Geltendmachung der Gleichheit der Wettbewerbschancen bei den Gemeindewahlen (BVerfGE 6, 367, 372). Demgegenüber sind politische Parteien nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (nur) dann zur Verfassungsbeschwerde befugt, wenn sie in ihrem Recht auf Gleichbehandlung nicht durch ein Verfassungsorgan, sondern durch ein Verwaltungsorgan (im funktionellen Sinne) beeinträchtigt werden (BVerfGE 14,121,129; 67,149,151). b) Danach war für die zunächst von der Antragstellerin erhobene Verfassungsbeschwerde kein Raum. Das Landesverfassungsgericht folgt fur seinen Jurisdiktionsbereich — trotz der im Schrifttum vorgebrachten Kritik (namentlich Kunig in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2,1987, § 33 Rn. 84-J. Ipsen in: Sachs (Hrsg.), GG, 2. Aufl. 1999, Art. 21 Rn. 49 ff; Tsatsos/Morlok Parteienrecht, 1982, S. 129 f) — der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der eine politische Partei (nur) im Organstreitverfahren vor dem Verfassungsgericht beteiligtenfähig ist, soweit sie sich auf eine Verletzung ihres verfassungsrechtlichen Status aus Art. 3 Abs. 4 LV durch Verfassungsorgane beruft. Zwar sind politische Parteien unbeschadet ihrer Anerkennung durch Art. 21 Abs. 1 GG, Art. 3 Abs. 4 LV frei gebildete, im gesellschaftlichen Bereich wurzelnde GruppieLVerfGE 11
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rungen, die nicht an der inneren Staatswillensbildung beteiligt sind und denen deshalb auch nicht die Eigenschaft „oberster Landesorgane" zukommt (BVerfGE 20, 56,101). Indessen messen Grundgesetz und Landesverfassung den Parteien insoweit eine besondere Funktion im Verfassungsleben bei, als diese politische Impulse aufzunehmen, zu Alternativen zu formen, bei der Konstituierung der Parlamente durch Wahlen mitzuwirken und die verschiedenen politischen Positionen auch zwischen den Wahlen gegenüber den Staatsorganen zur Geltung zu bringen haben (BVerfGE 85, 264, 286; Küttig aaO, § 33 Rn. 82; Tsatsos/Morlok aaO, S. 127). Diese Funktionszuweisung liegt zugleich im Interesse des auf Repräsentation bauenden staatlichen Entscheidungssystems (BVerfGE 1, 351, 359; E. Klein Verfassungsprozeßrecht, AöR 108/1983, 561, 563). Ihr entsprechen die besonderen Anforderungen, die das Grundgesetz an die innere Ordnung der politischen Parteien stellt, wie auch der spezifische Schutz, der in Art. 21 Abs. 3 GG seinen Ausdruck findet. Der daraus folgende besondere Status gründet, wie die systematische Stellung von Art. 21 GG und Art. 3 Abs. 4 LV in der Verfassung bestätigt, jedenfalls nicht allein in grundrechtlichen Freiheiten, sondern legt offen, daß die politischen Parteien in den organisatorischen Verfassungsrechtskreis mit eingewoben sind (vgl. Stern Staatsrecht, Bd. III/l, 1988, § 63 V 4b, 383). Angesichts des eigenständigen Auftrages, den die politischen Parteien im Schnittfeld zwischen Staat und Gesellschaft wahrnehmen, ist das Organstreitverfahren die angemessenere verfassungsgerichtliche Rechtsschutzform zur Verteidigung des durch Art. 3 Abs. 4 LV verliehenen verfassungsrechtlichen Status der politischen Parteien gegenüber einer möglichen Beeinträchtigung durch Verfassungsorgane (im Ergebnis ebenso BbgVerfG, LVerfGE 3,135,139; VerfGH NW, DVB1. 1995,153; 1999,1271). Die Organstreitigkeit vor dem Verfassungsgericht des Landes Mecklenburg-Vorpommern umfaßt — anders als die Verfassungsbeschwerde — auch den Fall der „Gefährdung" organschaftlicher Rechte wie auch ausdrücklich den Fall der Unterlassung; sie ist nicht auf Gesetzgebungsakte wie die (in Mecklenburg-Vorpommern im Hinblick auf den letzten Halbsatz des Art. 53 Nr. 7 LV im Vordergrund stehende) Normenverfassungsbeschwerde beschränkt. Letztlich ist die Frage, ob politische Parteien durch die Zuerkennung der Beteiligtenfähigkeit im Organstreitverfahren und damit in verfassungsprozessualer Hinsicht auf die Ebene oberster Landesorgane gehoben werden, eine durch Art. 53 Nr. 1 LV rechtlich vorgezeichnete Wertungsfrage. Die sich auf der Ebene der Bundesverfassungsgerichtsbarkeit stellende, verschiedentlich herausgestellte Problematik (vgl. etwa Ipsen aaO, Art. 21 Rn. 47 ff; Henh NVwZ 1985, 616, 619) unterschiedlicher Kreise von Antragsberechtigten nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG und § 63 BVerfGG stellt sich auf der Ebene der Landesverfassungsgerichtsbarkeit Mecklenburg-Vorpommern nicht: § 35 LVerfGG bezieht sich auf § 11 Abs. 1 Nr. 1 LVerfGG. Dieser wiederholt soweit hier von Belang — wörtlich Art. 53 Nr. 1 LV. Landesverfassungsgerichtsgesetz und Landesverfassung benennen damit den Kreis der in einem Organstreit Beteiligtenfähigen übereinstimmend unter Einschluß „anderer Beteiligter", die durch die VerLVerfGE 11
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fassung (oder in der Geschäftsordnung des Landtages) mit eigenen Rechten ausgestattet sind. c) Die Beteiligtenfähigkeit der Antragstellerin ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil es sich vorliegend um den Streit über ein Verhalten des Antragsgegners handelt, das die normativen Voraussetzungen einer Kommunalwahl betrifft. Die Antragstellerin macht eine Verletzung ihres verfassungsrechtlichen Status durch die am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe bei der näheren Ausgestaltung des Wahlverfahrens zur Kommunalwahl geltend. Auch hierfür ist das Organstreitverfahren die geeignete Verfahrensart (ebenso BVerfGE 6, 367, 371 f; 13,1,9f; VerfGH NW, DVB1.1995, 153, NWVB1. 1996, 58; anderer Ansicht etwa Clemens in: ders./Umbach (Hrsg.), BVerfGG, 1992, §§ 63, 64 Rn. 100). Mit Recht hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 6, 367, 373) betont, daß eine politische Partei es sich kaum leisten kann, im politischen Wettbewerb auf eine Beteiligung an Kommunalwahlen zu verzichten. Demgemäß hebt Art. 3 Abs. 2 LV ausdrücklich hervor, daß die Selbstverwaltung in den Gemeinden und Kreisen dem Aufbau der Demokratie von unten nach oben dient. Die Mitwirkung der politischen Parteien an der Willensbildung in den Kommunalvertretungen vollzieht sich auf der unteren Ebene des Staatsganzen. Dem entspricht, wenn Kommunalpolitik traditionell mit dem Bild als „Schule der Demokratie" verbunden wird (vgl. etwa Glaser in Darsow/Gentner/Glaser/Meyer (Hrsg.), Schweriner Kommentierung der Kommunalverfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern, 2. Aufl. 1999, § 1 Rn. 1). Durch Stellungnahmen zu kommunalpolitischen Fragen kann eine politische Partei „unter Umständen Wählerschichten für sich gewinnen, die ihr dann auch bei Bundestags- und Landtagswahlen treu bleiben — und umgekehrt" (BVerfGE 6, 367, 373). Zum verfassungsrechtlichen Status einer Landespartei gehören deshalb gleiche Wettbewerbschancen auf allen Ebenen, auch auf der kommunalen. Sieht sich eine politische Partei durch das Verhalten eines Verfassungsorgans in diesem Status beeinträchtigt, so kämpft sie auch insoweit um ihr Recht auf Teilhabe am Verfassungsleben. 2. Der Landtag ist als oberstes Landesorgan gem. §§11 Abs. 1 Nr. 1,35 LVerfGG möglicher Antragsgegner. II. Gegenstand des Organstreits kann nach Art. 53 Nr. 1 LV, § 36 Abs. 1 LVerfGG eine Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners sein, welche die Antragstellerin in ihren durch die Landesverfassung übertragenen Rechten oder Pflichten verletzt oder unmittelbar gefährdet. 1. Die Antragstellerin macht geltend, sie werde in ihrem Recht auf gleiche Wahlen und Chancengleichheit politischer Parteien verletzt oder gefährdet, indem der Antragsgegner es pflichtwidrig unterlassen habe, die Voraussetzungen für die AufrechtLVerfGE 11
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erhaltung der 5%-Klausel in § 37 Abs. 2 S. 1, 2. HS KWG M-V rechtzeitig vor der Kommunalwahl zu überprüfen. Sie rügt damit der Sache nach ein Unterlassen des Gesetzgebers (hierzu BVerfGE 56, 54, 71 f; 92, 80, 87). Zwar hat der Gesetzgeber mit dem Erlaß des § 37 Abs. 2 S. 1, 2. HS KWG MV (5 %-Sperrklausel) eine explizite Entscheidung über die 5 %-Klausel getroffen. Dennoch ist die Antragstellerin nicht darauf zu verweisen, sie hätte gegen diese Norm als Maßnahme des Antragsgegners — mit der Folge der Versäumnis der Frist des § 36 Abs. 3 LVerfGG — vorgehen können. Eine besondere Fallgruppe gesetzgeberischen Unterlassens stellt nämlich die Verletzung einer „gesetzgeberischen Nachbesserungspflicht" dar. Wird gerügt, daß eine bestimmte Regelung aufgrund geänderter Umstände in die Rechte des Antragstellers eingreife und deshalb der Nachbesserung bedürfe, geht es einerseits um einen gegebenenfalls verfassungswidrig gewordenen Gesetzgebungsakt, was nach den vorstehend genannten Kriterien dem Angriff auf ein gesetzgeberisches Tun entspricht. Andererseits ist der Streitgegenstand mit dem bei der Rüge anfänglicher Verfassungswidrigkeit der Maßnahme (Normsetzung) jedoch nicht identisch, sondern unterscheidet sich von diesem in seiner zeitlichen Dimension. Vorliegend beanstandet die Antragstellerin nicht den Erlaß einer ihre Rechte verletzenden Norm und damit eine „Maßnahme" iSd § 36 Abs. 1 LVerfGG, sondern das Unterlassen ihrer Uberprüfung und Anpassung an später veränderte Umstände; sie stellt ausdrücklich auf die sich im Lauf der Zeit geänderte Sach- und Rechtslage ab. Diese bewirke nunmehr, daß sie durch das geltende Recht, konkret die 5 %-Sperrklausel, in ihren Rechten verletzt werde. Gegenstand des Streits ist auch nicht etwa die Herbeiführung eines verfassungswidrigen Zustandes durch den Antragsgegner als Gesetzgeber des Gesetzes zur Einfuhrung der Direktwahl der Bürgermeister und Landräte vom 26. November 1997 (GVOB1. S. 694) im Sinne einer positiven Maßnahme. Die Antragstellerin wendet sich nicht gegen die gesetzliche Einführung der Direktwahl der Bürgermeister und Landräte, was ihr angesichts des Fristerfordernisses des § 36 Abs. 3 LVerfGG auch verwehrt wäre, sondern gegen ein Unterlassen der Überprüfung mit dem Ziel einer Aufhebung oder Milderung der Sperrklausel. 2. Im Organstreitverfahren kann auch gesetzgeberisches Unterlassen ein zulässiger Streitgegenstand sein. Das Bundesverfassungsgericht hat bislang allerdings im Organstreitverfahren — anders als im Verfassungsbeschwerdeverfahren (siehe BVerfGE 56, 54, 70 f; insoweit einschränkend BVerfG, 3. Kammer des Ersten Senats, NJW 1998, 3264 ff) — lediglich eine Rüge, die auf ein nicht legislatives Unterlassen gerichtet war, als zulässigen Streitgegenstand anerkannt (siehe etwa BVerfGE 4,250,269 f; 45,1, 28; 68, 1, 66; 71, 299, 303 ff). Dagegen hat es ausdrücklich offen gelassen, „ob bloße Unterlassungen des Gesetzgebers im Wege des Organstreitverfahrens (überhaupt) angreifbar sind" (BVerfGE 92, 80, 87). Das Landesverfassungsgericht bejaht dies für LVerfGE 11
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seinen Zuständigkeitsbereich. Daß der Erlaß eines Gesetzes eine „Maßnahme" iSd § 36 Abs. 1 LVerfGG sein kann, hat das Landesverfassungsgericht bereits — in Übereinstimmung mit dem Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 80,188, 209) entschieden (Urt. v. 11.7.1996, LVerfG 1/96, LVerfGE 5, 203, 217 = LKV 1997, 94, 95). § 36 LVerfGG stellt der Maßnahme ein „Unterlassen" des Antragsgegners gleich; ein gesetzgeberisches Unterlassen ist hiervon nicht ausgenommen (so auch VerfGH NW, DVB1. 1995, 153; NWVB1.1996, 58). Durchschlagende Bedenken hiergegen — etwa aus dem Prinzip der Gewaltenteilung — bestehen nicht. Zwar sind der rechtsprechenden Gewalt nach diesem Prinzip u. a. Grenzen gegenüber dem zur Gesetzgebung berufenen Parlament insofern gesetzt, als die Verfassungsgerichte sich nicht an die Stelle des Gesetzgebers setzen dürfen. Dieses Prinzip ist jedoch in einer Fallkonstellation, in der Streitgegenstand ein pflichtwidriges legislatorisches Unterlassen ist, nicht in Frage gestellt. Aufträge an den Gesetzgeber, Gesetze zu erlassen, können sich aus den verschiedensten Quellen ergeben (vgl. die Aufzählung bei Lücke in: Sachs, aaO, Art. 76 Rn. 14). Der nach dem Gewaltenteilungsprinzip gebotenen Zurückhaltung gegenüber vorschneller Anerkennung gerichtlich durchsetzbarer Gesetzgebungspflichten ist durch Berücksichtigung des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraumes im Rahmen des Organstreitverfahrens Rechnung zu tragen, nicht jedoch durch grundsätzliche Ausklammerung aus möglichen Streitgegenständen. III. Die Antragstellerin ist gem. § 36 Abs. 1 LVerfGG antragsbefugt. 1. Nach § 36 Abs. 1 LVerfGG ist für die Zulässigkeit des Antrages erforderlich, daß der Antragsteller eine Verletzung oder unmittelbare Gefährdung seiner ihm durch die Landesverfassung übertragenen Rechte oder Pflichten bzw. solcher des Organs, dem er angehört, geltend macht. Das bedeutet, daß er tatsächliche Behauptungen substantiiert vortragen muß, die — ihre Richtigkeit unterstellt — eine Rechts- oder Pflichtenverletzung bzw. eine unmittelbare Rechts- oder Pflichtengefährdung durch ein Verhalten des Antragsgegners möglich erscheinen lassen (vgl. BVerfGE 2, 143, 168; 21, 312,319; 80,188,209). § 36 Abs. 1 LVerfGG setzt der Maßnahme, also einem positiven Tun, die Unterlassung gleich. Wie sonst in der deutschen Rechtsordnung gilt auch hier, daß für die Gleichsetzung von positivem Tun und Unterlassen eine — hier verfassungsrechtliche - Rechtspflicht zum Handeln besteht (vgl. BVerfGE 96, 264, 277; Stern in: Kommentar zum Bonner GG, Art. 93 Rn. 177). 2. Die Antragstellerin wendet sich dagegen, daß der Antragsgegner seiner Uberprüfungspflicht im Hinblick auf die Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung der 5 %-Klausel in § 37 Abs. 2 S. 1, 2. HS KWG M-V nicht rechtzeitig vor der Kommunalwahl 1999 nachgekommen sei, obwohl sich maßgebliche Umstände, die ursprünglich LVerfGE 11
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ihren Erlaß rechtfertigten, verändert hätten. Mit der Einführung der Direktwahl von Bürgermeistern und Landräten in die Kommunalverfassung sei eine wichtige Aufgabe der Kommunalvertretung, mit der die Aufnahme der Sperrklausel bislang wesentlich gerechtfertigt worden sei, weggefallen. Sperrklauseln bewirkten gleichheitswidrige Behandlungen der im politischen Wettbewerb stehenden Parteien. Nunmehr könne die Beibehaltung der Sperrklausel nicht mehr hinreichend gerechtfertigt werden. Deren gleichheitswidrige Auswirkungen müsse sie nicht mehr hinnehmen. a) Dieses Vorbringen läßt eine Verletzung bzw. unmittelbare Gefährdung des sich aus Art. 3 Abs. 3 und 4 LV ergebenden Rechts der Antragstellerin auf Wahlrechts- und Chancengleichheit infolge einer unterlassenen Rechtspflicht des Landtages zum Handeln möglich erscheinen. Eine solche Rechtspflicht kann sich daraus ergeben, daß der Landtag als Wahlgesetzgeber veränderte Umstände vorgefunden hat, denen durch eine Änderung des Gesetzes Rechnung getragen werden muß (BVerfGE 82, 322, 338f). Aus den Grundsätzen der Gleichheit der Wahl und der Chancengleichheit der politischen Parteien im Wettbewerb folgt die Pflicht des Gesetzgebers, eine bei ihrem Erlaß verfassungsmäßige Sperrklausel darauf unter Kontrolle zu halten, ob sich die Verhältnisse, die sie gerechtfertigt haben, in erheblicher Weise geändert haben (VerfGH NW, DVB1. 1995,153,155f). Die die Rechtspflicht zum Handeln begründenden besonderen Umstände hat die Antragstellerin hinreichend substantiiert behauptet, indem sie vorgetragen hat, mit der Einführung der Direktwahl der Bürgermeister und Landräte sei das Kompetenzgefüge zwischen den kommunalen Organen erheblich verändert worden. Es ist nicht von vornherein ausgeschlossen, daß das Recht der Antragstellerin auf Gleichheit der Wahl und auf Chancengleichheit eine bisher nicht erfüllte Pflicht des Antragsgegners ausgelöst hat, die 5 %-Sperrklausel im Kommunalwahlrecht zu überprüfen und diese gegebenenfalls aufzuheben oder zu ändern. b) Mit ihrer Behauptung, das Unterlassen der Nachprüfung, Aufhebung oder Abmilderung der Sperrklausel beeinträchtige sie in ihrem Recht auf Chancen- und Wahlrechtsgleichheit, macht die Antragstellerin eine (bereits eingetretene) eigene Rechtsverletzung geltend. Fehlt es, wie die Antragstellerin vorbringt, an einer weiteren Legitimation für die Aufrechterhaltung der Sperrklausel, so bedeutet die Nichterfüllung der Pflicht, diese zu überprüfen und zu ändern, jedenfalls zugleich eine Verletzung der Rechte der Antragstellerin. Kommt der Antragsgegner seiner Pflicht nicht hinreichend nach, eine bestimmte Norm unter Kontrolle zu halten, welche die Rechte eines anderen am Verfassungsleben Beteiligten beeinträchtigt, so ist zwangsläufig dessen verfassungsrechtlicher, im Organstreitverfahren nach Art. 53 Nr. 1 LV, § 36 Abs. 1 LVerfGG verteidigungsfähiger Status, hier derjenige aus Art. 3 Abs. 3 und 4 LV, berührt. Politische Parteien werden durch Wahlgesetze unmittelbar betroffen. Diese berühren ihren verLVerfGE 11
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fassungsrechtlichen Status; bevorstehende oder vergangene Wahlen bringen die im Wahlrecht angelegten Vor- und Nachteile lediglich aktuell zur Wirkung (BVerfGE 1, 208, 230; 92, 80, 89). Sperrklauseln beeinträchtigen diejenigen politischen Parteien in ihren Rechten auf Chancen- und Wahlrechtsgleichheit, denen es nicht gelingt, das jeweilige Quorum, hier 5 %, bei Wahlen zu erreichen, und die deshalb von der Sitzzuteilung in der zu wählenden Körperschaft ausgeschlossen sind. Nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechunggilt jedoch, daß Sperrklauseln stets einer besonderen Rechtfertigung durch einen zwingenden Grund bedürfen, um den Eingriff in den verfassungsrechtlichen Status der von ihr betroffenen kleineren Parteien zu legitimieren. Der Wegfall der den Eingriff legitimierenden Gründe führt deshalb zur Verfassungswidrigkeit des Eingriffes (der Sperrklausel) selbst. Sieht man in der Änderung des Aufgabenzuschnitts der Kommunalvertretungen den Wegfall eines die Sperrklausel im Kommunalwahlrecht legitimierenden Umstandes, bedeutet das Unterlassen des Gesetzgebers, dem nachzugehen und den veränderten Verhältnissen durch eine Änderung des Gesetzes Rechnung zu tragen, nicht nur eine unmittelbare Gefahrdung des materiellen Rechts auf Chancengleichheit bei den anstehenden Kommunalwahlen, sondern auch eine Verletzung des der Antragstellerin aus Art. 3 Abs. 3 und 4 LV erwachsenden (Teil-)Rechts auf Uberprüfung und Nachbesserung der sie beeinträchtigenden Rechtslage. Insoweit enthält Art. 3 Abs. 4 LV seinerseits bereits eine Vorverlagerung des Schutzes gegenüber Beeinträchtigungen des Status politischer Parteien. Diese hat eine ähnliche Dimension wie die Garantie der Entstehenssicherung bei Grundrechten oder der Grundrechtsschutz durch Verfahren (abweichend VerfGH Saarl., Urt. v. 14.7.1998, Umdruck S. 11). IV. Nach § 36 Abs. 2 LVerfGG ist die Bestimmung der Landesverfassung zu bezeichnen, gegen die durch die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung verstoßen wird. Die Antragstellerin rügt einen Verstoß gegen ihr Recht auf Chancengleichheit bei Wahlen durch pflichtwidriges Unterlassen des Antragsgegners und benennt dafür als verletzte Norm Art. 21 Abs. 1 GG. Nicht ausdrücklich benannt, auch nicht unter Bezugnahme auf die Antragsschrift im Verfahren LVerfG 3/99, hat sie Art. 3 Abs. 4 LV, der — soweit es die politischen Parteien betrifft — eine wortlautidentische normative Aussage enthält. Versteht man Art. 21 Abs. 1 GG zugleich als eine Norm des Landesverfassungsrechts (so das BVerfG in st. Rspr, vgl. BVerfGE 6, 367, 375; 27,10,17; 60, 53, 61; s. a. VerfGH NW, DÖV 1992, 268, 269; DVB1. 1995,153), so ist dem Formerfordernis des § 36 Abs. 2 LVerfGG ohne weiteres entsprochen. Aber auch wenn man, wozu das Landesverfassungsgericht neigt, Art. 21 Abs. 1 GG lediglich als sog. „Durchgriffsnorm" (siehe Dreier a&O, Art. 28 Rn. 49 f; Stern in: BK Art. 100 Rn. 21) deutet, die unmittelbare LVerfGE 11
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Geltung auch gegenüber der Landesstaatsgewalt beansprucht, ohne als solche zugleich Bestandteil der Landesverfassung zu sein, gilt im Ergebnis nichts anderes: Art. 3 Abs. 4 LV greift erkennbar die Regelung des Art. 21 Abs. 1 GG auf und trifft — in dem genannten Rahmen — eine entsprechende landesverfassungsunmittelbare Anordnung. Insofern bestehen keine grundsätzlichen Bedenken dagegen, die Antragsbegründung mit in die Auslegung des -Antrages einzubeziehen (vgl. BVerfGE 68, 1, 63 f zu § 64 BVerfGG). Würdigt man das Vorbringen der Antragstellerin vor dem angeführten Hintergrund, insbesondere der inhaltlichen Konvergenz beider Bestimmungen, ohne „förmelnde Enge" (BVerfGE 4,115,123), so ergibt sich, daß sie mit der Rüge der Verletzung ihres Rechtes auf Chancengleichheit auch Art. 3 Abs. 4 LV als verletzt ansieht. V. Entgegen der Auffassung des Antragsgegners ist der Antrag nicht gem. § 36 Abs. 3 LVerfGG verfristet. Nach dieser Bestimmung muß der Antrag binnen 6 Monaten, nachdem die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung dem Antragsteller bekannt geworden ist, gestellt werden. Diese Frist ist eingehalten. 1. Ebenso wie die - wortgleiche — Vorschrift des § 64 Abs. 3 BVerfGG enthält die Bestimmung eine gesetzliche Ausschlußfrist, nach deren Ablauf Rechtsverletzungen im Organstreitverfahren nicht mehr geltend gemacht werden können (vgl. BVerfGE 71, 299, 304; 80, 188, 210). Die Frist läuft nach der ausdrücklichen Regelung des § 36 Abs. 3 LVerfGG unabhängig davon, ob Angriffsgegenstand eine Maßnahme oder ein Unterlassen ist. Dies gilt im Falle des Organstreitverfahrens gegen ein Unterlassen des Gesetzgebers auch dann, wenn das von ihm verlangte Handeln nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt zu erfüllen war, sondern dieser einer Verpflichtung zum Handeln über eine längere Zeit hinweg nicht nachkam (fortdauerndes Unterlassen). Mit der Ausschlußfrist des § 36 Abs. 3 LVerfGG sollen im Organstreitverfahren angreifbare Rechtsverletzungen nach einer bestimmten Zeit im Interesse der Rechtssicherheit außer Streit gestellt werden (vgl. BVerfGE 80,188, 210; VerfGH Saarl. Urt. v. 14.7.1998, S. 9). Das rechtfertigt die Befristung für die Einleitung eines Organstreites auch dann, wenn Angriffsziel ein Unterlassen des Antragsgegners ist, das über eine gewisse Zeit fortbesteht; andererseits ist das Fristerfordernis des § 36 Abs. 3 LVerfGG nicht darauf angelegt, die beteiligten Organe zur Einleitung eines Organstreitverfahrens „auf bloßen Verdacht" hin anzuhalten. Wann unter solchen Umständen die Frist für die Einleitung eines Organstreitverfahrens beginnt, läßt sich nicht generell und für alle Fallgestaltungen einheitlich festlegen. Sie wird aber jedenfalls dadurch in Lauf gesetzt, daß sich der Antragsgegner erkennbar eindeutig weigert, in der Weise tätig zu werden, die der Antragsteller zur Wahrung der Rechte aus seinem verfassungsrechtlichen Status für erforderlich hält. In einer derartigen Weigerung liegt zugleich ein Geschehen, das — iSv § 36 Abs. 3 LVerfGE 11
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LVerfGG - als Bekanntwerden des Unterlassens zu werten ist und an das deshalb trotz fortdauernden Unterlassens für den Fristbeginn anzuknüpfen ist (vgl. BVerfGE 92, 80, 89; VerfGH NW, DVB1.1995,153). 2. Diese Voraussetzung ist vorliegend (erst) im Zusammenhang mit der Änderung des Kommunalwahlgesetzes zum Zwecke der Herabsetzung des Wahlalters von 18 auf 16 Jahre (Erstes Gesetz zur Änderung des Kommunalwahlgesetzes für das Land Mecklenburg-Vorpommern vom 3. März 1999 - GVOB1. S. 212) erfüllt. a) Der Entwurf der Fraktionen der SPD und der PDS für das Erste Gesetz zur Änderung des Kommunalwahlgesetzes (LT-Drs. 3/34 vom 18.11.1998) sah keine Aufhebung der 5 %-Sperrklausel vor. Nach dem Entwurf sollte neben redaktionellen Änderungen nur das aktive Wahlalter von 18 auf 16 Jahre herabgesetzt werden. Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens machte der Innenausschuß den Wegfall der 5 %-Sperrklausel aber zum Gegenstand der Anhörung und erwähnte das Thema auch in seinem dem Landtag übermittelten Bericht. In der Beschlußempfehlung war die Frage allerdings nicht ausdrücklich aufgeführt (LT-Drs. 3/214 vom 24.2.1999). Daraufhin machte die Antragstellerin ihre Forderung an den Gesetzgeber, die Sperrklausel aufzuheben, öffentlich. So wies die Antragstellerin auf die von ihr behauptete Ungleichbehandlung von kleineren Parteien und Wählergruppen einerseits und von Einzelbewerbern andererseits sowie auf die Hinfälligkeit der Sperrklausel wegen der Einführung der Direktwahl von Bürgermeistern und Landräten hin. Der Landtag befaßte sich im Zuge der 2. Lesung des Gesetzes sodann am 3. März 1999 inhaltlich mit der Abschaffung, Änderung oder Beibehaltung der Sperrklausel (LT-Prot. vom 3.3.1999, 3/10, S. 398). Mehrere Abgeordnete erörterten die Beibehaltung oder Abschaffung der Sperrklausel vor allem unter dem Gesichtspunkt ihrer Wirksamkeit zur Bildung stabiler Mehrheiten in der jeweiligen Vertretungskörperschaft. Der Landtagsabgeordnete und Innenminister Dr. Timm führte im Hinblick auf die Auswirkungen der Einführung der Direktwahl der Bürgermeister und Landräte auf die Sperrklausel aus, daß deren Überprüfung gegenwärtig nicht notwendig sei, weil sich diese Gesetzesänderung erst ab dem Jahr 2001 auswirke; bis dahin sei hinreichend Zeit, die Auswirkungen der Direktwahl der Bürgermeister und Landräte auf die Sperrklausel ausführlich und gründlich zu prüfen. In der Schlußabstimmung über den Entwurf zum Ersten Gesetz zur Änderung des Kommunalwahlgesetzes (Herabsetzung des Wahlalters von 18 auf 16 Jahre) hat der Landtag mehrheitlich die Beschlußempfehlung des Innenausschusses angenommen, die keine Änderung oder Abschaffung der Sperrklausel vorsah. Wenn sich Innenausschuß und Plenum des Landtages inhaltlich mit der Verfassungskonformität der 5 %-Sperrklausel, auch mit der Frage der gegenwärtigen Notwendigkeit einer Gesetzesänderung wegen der Einführung der Direktwahl von Bürgermeistern und Landräten, auseinandergesetzt haben, in dem (Landtags-)Beschluß vom 3. März 1999 aber dennoch nur Änderungen des Wahlalters, der Regelungen über LVerfGE 11
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Wahlvorschläge, sowie weitere geringfügige redaktionelle Änderungen ohne zusätzlichen Prüfungsauftrag ihren Niederschlag gefunden haben, kann das nur dahin verstanden werden, daß der Gesetzgeber die 5 %-Sperrklausel beibehalten und umgekehrt Änderungs- und Abschaffungsbegehren jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt ablehnen wollte. Vor allem die Begründung der für die Mehrheit des Landtages sprechenden Abgeordneten machte deutlich, weshalb eine Aufhebung der 5 %-Klausel — zumindest derzeit — nicht beabsichtigt sei: Indem der Landtag mit dem Gesetzesbeschluß vom 3. März 1999 der Empfehlung des vorbereitenden Ausschusses (LT-Drs. 3/214) folgte, den Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und PDS auf Drucksache 3/34 mit den in der Beschlußempfehlung des Innenausschusses „enthaltenen Maßgaben und im übrigen unverändert anzunehmen" (LT-Prot. 3/10, S. 415), hat er der Sache nach über das Begehren der Antragstellerin mitentschieden. In dem der Beschlußempfehlung beigefugten Bericht hatte der Ausschuß Anregungen des Städteund Gemeindetages zur Aufhebung der 5 %-Sperrklausel erwähnt; wenn diese der Empfehlung entsprechend nicht mit aufgegriffen wurden, kann dies nur so verstanden werden, daß der Landtag die Forderung der Antragstellerin — die sich voll mit der Anregung des Städte- und Gemeindetages deckte — inhaltlich ablehnte. Mit diesem Beschluß, der zugleich ein Gesetzesbeschluß war, wurde manifest, daß eine Änderung des Kommunalwahlgesetzes im Hinblick auf die 5%-Klausel einstweilen nicht erfolgen würde. Diese Weigerung ist der Antragstellerin in der öffentlichen Sitzung des Landtages am 3. März 1999, und zwar mit der Beschlußfassung über den Gesetzentwurf, spätestens jedoch mit der Verkündung des Ersten Gesetzes zur Änderung des Kommunalwahlgesetzes am 5. März 1999, bekannt geworden und hat die Antragsfrist des § 36 Abs. 3 LVerfGG ausgelöst. Auf welches konkrete Datum für das „Bekanntwerden" der Weigerung auf Seiten der Antragstellerin abzustellen ist, braucht vorliegend nicht entschieden zu werden. In beiden Fällen ist die nach § 36 Abs. 3 LVerfGG einzuhaltende Sechsmonatsfrist gewahrt: Die Antragstellerin hat am 18. März 1999 die Antragsschrift; beim Landesverfassungsgericht als Verfassungsbeschwerde eingereicht. Diese ist am 9. April 1999 auf eine Organstreitigkeit umgestellt worden. Damit ist die geforderte Frist eingehalten. b) Der Landtag und die Landesregierung stellen hingegen darauf ab, spätestens mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung kommunalverfassungsrechtlicher Vorschriften und zur Einführung der direkten Wahl der Bürgermeister und Landräte sei eindeutig klar gewesen, daß der Gesetzgeber die 5 %-Sperrklausel zumindest für die im Jahr 1999 stattfindenden Kommunalwahlen nicht abschaffen werde, vielmehr hätten die Kommunalwahlen 1999 bereits abschließend geregelt werden sollen. Daran ändere auch nichts das Erste Gesetz zur Änderung des Kommunalwahlgesetzes vom 3. März 1999, das im wesentlichen nur die Herabsetzung des Wahlalters geregelt habe; die Absicht des Gesetzgebers, die Kommunalwahlen 1999 im Gesetz zur Änderung LVerfGE 11
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kommunalverfassungsrechtlicher Vorschriften und zur Einfuhrung der direkten Wahl von Bürgermeistern und Landräten vom 29. November 1997 abschließend zu regeln, sei dadurch nicht in Frage gestellt worden. Darauf, ob der Gesetzgeber mit dem Gesetzesbeschluß über das Gesetz zur Änderung kommunalverfassungsrechtlicher Vorschriften und zur Einfuhrung der Direktwahl der Bürgermeister und Landräte im November 1997 möglicherweise beabsichtigte, die Vorschriften für die Kommunalwahlen 1999 abschließend zu regeln, kommt es entgegen der Auffassung des Antragsgegners und der Landesregierung für die Frage des Beginns der Sechsmonatsfrist des § 36 Abs. 3 LVerfGG nicht an. Zweifel daran ergeben sich bereits insoweit, als er anschließend die Herabsetzung des Wahlalters mit dem Kommunalwahländerungsgesetz vom 3. März 1999 beschlossen hat, das insofern die weitreichende Grundsatzentscheidung enthält, noch nicht Volljährige in die Verantwortung für die Zusammensetzung der kommunalen Vertretungen einzubinden. Entscheidend ist indes, wie dargelegt, ob sich der Antragsgegner in einer die Ausschlußfrist des § 36 Abs. 3 LVerfGG auslösenden Weise erkennbar eindeutig geweigert hat, so tätig zu werden, wie dies die Antragstellerin zur Wahrung der Rechte aus ihrem verfassungsrechtlichen Status für erforderlich hielt (BVerfGE 92, 80, 89). Unter dem hier allein maßgeblichen Aspekt nachträglich geänderter Umstände hat der Antragsgegner eine solche eindeutige Weigerung gegenüber der Antragstellerin erstmals anläßlich der 2. Lesung des Ersten Gesetzes zur Änderung des Kommunalwahlgesetzes am 3. März 1999 erkennen lassen. Zwar hatte sich der Landtag schon zuvor mit der Frage der Beibehaltung der Sperrklausel beschäftigt. So blieben Anträge der Fraktion der LL/PDS vom 10. November 1993 (Drs. 1/3787) und vom 30. August 1995 (Drs. 2/737) zur Verhinderung bzw. Aufhebung der Sperrklausel erfolglos. Der Städte- und Gemeindetag hatte die Aufhebung der Sperrklausel gegenüber dem Landtag in einem Expertengespräch am 8. November 1995 anläßlich des Gesetzgebungsverfahrens zum Ersten Wahlrechtsänderungsgesetz vom 18. Dezember 1995, im Zusammenhang mit dem Zweiten Wahlrechtsänderungsgesetz (LT-Prot. 2/69, S. 4280 ff) sowie am 20. Januar 1999 bei der Anhörung im Gesetzgebungsverfahren zum Kommunalwahländerungsgesetz vom 3. März 1999 angeregt, jedoch ebenfalls keine Resonanz gefunden. In dem Verfahren zum Erlaß des am 29. November 1997 in Kraft getretenen Gesetzes zur Änderung kommunalverfassungsrechtlicher Vorschriften und zur Einführung der direkten Wahl der Bürgermeister und Landräte selbst kam die 5%-Sperrklausel nicht zur Sprache. Das entsprach dem Umstand, daß eine Überprüfungs- und etwaige Änderungspflicht des Antragsgegners im Hinblick auf die 5%-Sperrklausel selbst gar nicht Beschlußgegenstand in dem damaligen Gesetzgebungsverfahren war. Vielmehr bildete erst die in diesem Verfahren beschlossene Veränderung des Aufgabenzuschnitts der Kommunalvertretung die Grundlage für eine Änderung der maßgeblichen Verhältnisse, aus der sich als weitere Rechtsfolge die in Frage stehende Überprüfungspflicht des Antragsgegners ergeben konnte. LVerfGE 11
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Wohl wurde in dem Verfahren über den Entwurf des Zweiten Gesetzes zur Änderung wahlrechtlicher Vorschriften (2. WRÄndG) vom 28. Oktober 1997 (GVOB1., S. 546 ff) u. a. auch über Anträge der Fraktion der PDS, die Sperrklausel zu streichen (LT-Drs. 2/737 und 2/3197 — neu), abgestimmt, ohne daß diese eine Mehrheit fanden. Wenn die Abgeordnete Jünger hierzu in der 2. Lesung des Gesetzesentwurfs ausführte, ihre Fraktion lehne „weiterhin die 5 %-Sperrklausel in den Wahlgesetzen ab", weil „Sperrklauseln einen sehr willkürlichen Eingriff in die Wahlrechte und Mitbestimmungsrechte von Wählerinnen und Wählern" darstellten (LT-Prot. 2/69 S. 4280,4282), so zeigt dies, daß mit dem Antrag (lediglich) ein bereits zu einem früheren Zeitpunkt vorgebrachtes, allgemein-politisches Anliegen der Fraktion verfolgt wurde, das den Aspekt einer sich möglicherweise aus veränderten rechtlichen Rahmenbedingungen ergebenden Uberprüfungs- und Anpassungspflicht (noch) nicht zum Gegenstand hatte. Fehlte diesem Verfahren ein systematischer, hinreichend deutlich erkennbarer Bezug zur Einführung der Direktwahl, so konnte die Frist für die Geltendmachung eines pflichtwidrigen gesetzgeberischen Unterlassens in einem parallel betriebenen Gesetzgebungsverfahren nur ausgelöst werden, wenn der Gesetzgeber in seiner Entscheidung hinreichend deutlich machte, daß er trotz der Neuregelung der Wahl der Bürgermeister und Landräte an der 5%-Hürde festhalten wollte. Ein solcher Bedeutungsinhalt kann den in der Sitzung am 22. Oktober 1997 gefaßten Beschlüssen jedoch nicht beigemessen werden. Denn der objektivierte, für die Antragstellerin erkennbare Erklärungswert des Verhaltens des Landtages am 22. Oktober 1997 war nicht etwa, daß er eine Uberprüfung der Sperrklausel im Hinblick auf die Umstellung der Wahl der Bürgermeister und Landräte ablehne. Vielmehr hat der Landesgesetzgeber mit seinem Verhalten ausschließlich zu erkennen gegeben, daß er einem von einer Oppositionsfraktion in einem anderen systematischen (Einführung des Wahlrechts für Unionsbürger) und zeitlichen (1995) Zusammenhang eingebrachten Vorschlag nicht folgen wollte. Von einer vor dem 3. März 1999 hinreichend eindeutig erkennbaren Weigerung des Landtages, die Sperrklausel unter der Perspektive veränderter Verhältnisse zu diskutieren und gegebenenfalls aufzuheben, kann nach allem daher keine Rede sein. C. Der Antrag ist auch begründet. Der Antragsgegner hat dadurch gegen Art. 3 Abs. 3 und 4 LV verstoßen, daß er es im Zusammenhang mit dem Erlaß des Gesetzes zur Änderung kommunalverfassungsrechtlicher Vorschriften und zur Einführung der direkten Wahl der Bürgermeister und Landräte vom 26. November 1997 (GVOB1. S. 694 ff) unterlassen hat, rechtzeitig, d. h. vor der Kommunalwahl 1999, zu prüfen, ob eine Aufhebung oder Änderung des § 37 Abs. 2 S. 1, 2. HS KWG M-V geboten ist.
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I. Das Unterlassen des Antragsgegners, der Frage einer weiteren Rechtfertigung der Sperrklausel des § 37 Abs. 2 S. 1,2. Halbsat2 KWG M-V nachzugehen, verstößt gegen das in (Art. 21 Abs. 1 GG iVm.) Art. 3 Abs. 3 und 4 LV gewährleistete Recht der Antragstellerin auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb bei Wahlen. 1. Nach Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG und Art. 3 Abs. 4 LV wirken die Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes mit; ihre Gründung ist frei (Art. 21 Abs. 1 S. 2 GG). Aus diesen Bestimmungen ergibt sich der an der freiheitlichen demokratischen Grundordnung wesentlich teilhabende Verfassungsgrundsatz, daß Parteien bei Wahlen gleiche Wettbewerbschancen haben müssen (BVerfGE 3, 19, 26). In einem freiheitlichen Staat, in dem der Mehrheitswille in den Grenzen der Rechtsstaatlichkeit entscheidet, müssen Minderheitsgruppen die Möglichkeit haben, zur Mehrheit zu werden. Demokratische Gleichheit fordert, daß der jeweils herrschenden Mehrheit und der oppositionellen Minderheit bei jeder Wahl aufs neue die grundsätzlich gleichen Chancen im Wettbewerb um die Wählerstimmen offengehalten werden. Die Gewährleistung gleicher Chancen im Wahlwettbewerb ist deshalb ein unabdingbares Element des vom Grundgesetz und von der Landesverfassung gewollten freien und offenen Prozesses der Meinungs- und Willensbildung des Volkes. Dieser Prozeß setzt in der modernen parlamentarischen Demokratie die Existenz politischer Parteien voraus. Sie sind vornehmlich berufen, die Aktivbürger freiwillig zu politischen Handlungseinheiten mit dem Ziel der Beteiligung an der Willensbildung in den Staatsorganen organisatorisch zusammenzufassen. Aus diesem Grund erkennen Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG, Art. 3 Abs. 4 LV ausdrücklich an, daß die Parteien an der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken. Die Parteien sammeln und leiten die auf die politische Macht und ihre Ausübung in Wahlen und Staatsorganen gerichteten Meinungen, Interessen und Bestrebungen, gleichen sie in sich aus und formen sie zu Alternativen, unter denen die Bürger auswählen können. Wahlen zu den Repräsentationsorganen wirken damit als politisches Werturteil über ihr Programm und bestimmen wesentlich den Einfluß, den die Parteien auf die Willensbildung und die Entscheidung in diesen Organen haben (BVerfGE 44,125,145f; 73, 40, 85). Die Entscheidung über den Wert des Programmes einer politischen Partei und über ihr Recht, an der Bildung des Staatswillens (organisatorisch) mitzuwirken, kann allein von den Wählern getroffen werden; hier liegt die ursprünglichste und wichtigste Außerungsform der repräsentativen Demokratie überhaupt (BVerfGE 3, 19, 26). Damit die Wahlentscheidung in voller Freiheit gefallt werden kann, ist es unerläßlich, daß die Parteien mit gleichen Chancen in den Wahlkampf eintreten können. Deshalb ist mit der in Art. 21 Abs. 1 S. 2 GG ausdrücklich angesprochenen Freiheit der Gründung im Grundsatz auch die gleichberechtigte Mitwirkung aller Parteien bei der Wahl verbunden. Von hierher empfangt der Verfassungsgrundsatz der gleichen Wettbewerbschancen der politischen Parteien das ihm eigene Gepräge (BVerfGE 14, 121,133; s.a. Kunigin: Isensee/Kirchhof LVerfGE 11
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(Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 2, 1987, § 33 Rn. 62; Tsatsos/Morlok Parteienrecht, 1982, S. 88). Das Prinzip der Chancengleichheit der Parteien hängt damit eng mit dem Grundsatz der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl (Art. 38 Abs. 1 GG, Art. 3 Abs. 3 LV) zusammen. Die durch die Verfassung gebildete staatliche Grundordnung trägt im Bereich der politischen Willensbildung bei Wahlen insofern einen formalen Charakter, als sie unbeschadet der bestehenden sozialen Unterschiede alle Staatsbürger absolut gleich bewertet (BVerfGE 14, 121, 132). Der Grundsatz der gleichen Wahl gebietet, daß alle wahlberechtigten Bürger mit der Stimme, die sie abgeben, grundsätzlich formal gleichen Einfluß auf das Wahlergebnis ausüben und daß das Gewicht ihrer Stimme weder nach ihrem Zähl- noch — von engen Ausnahmen abgesehen — in ihrem Erfolgswert differenziert wird. Da es heute die Parteien sind, welche die Aktivbürger für die Wahlen zu politischen Handlungseinheiten organisatorisch zusammenschließen, hat die Formalisierung des Gleichheitssatzes im Bereich der politischen Willensbildung des Volkes zur Folge, daß auch die Chancengleichheit der politischen Parteien in dem gleichen formalen Sinne verstanden werden muß (BVerfGE 24, 300, 340 f). Nur der Wahlakt kann in der parlamentarischen Demokratie das „entscheidende Vertretungsorgan des in seiner Gesamtheit auf Repräsentation angewiesenen Staatsvolkes kreieren" und die vom Demokratieprinzip geforderte Legitimationsgrundlage für die Ausübung öffentlicher Gewalt schaffen (vgl. BVerfGE 97, 317, 323). Aus diesem Grund ist dem Gesetzgeber bei Regelungen, welche die politische Willensbildung des Volkes berühren, zu denen auch die Chancengleichheit der Parteien bei Wahlen zählt, jede unterschiedliche Behandlung der Parteien, durch die deren Chancengleichheit bei Wahlen verändert werden kann, von Verfassungs wegen versagt, sofern sie sich nicht durch einen besonderen zwingenden Grund rechtfertigen läßt (BVerfGE 44,125,146; 51, 222, 235; 82, 322, 337f; s.a. 95,408, 417). 2. a) Sperrklauseln beeinträchtigen das Recht auf Chancengleichheit, indem sie Parteien oder Wählergruppen, die das festgesetzte Quorum nicht erfüllen, von der Sitzzuteilung in der zu wählenden Volksvertretung ausschließen. Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung (BVerfGE 6, 104, 114ff; 51, 222, 236ff; 82, 322, 338 ff; 95, 408, 418 ff) entschieden, daß jedenfalls bei der Verhältniswahl, wie sie das Kommunalwahlgesetz M-V — in einer durch Elemente der Persönlichkeitswahl modifizierten Form — vorsieht, jede Stimme grundsätzlich den gleichen Erfolgswert haben muß. Differenzierungen bei dem Erfolgswert der Stimmen bedürfen zu ihrer Rechtfertigung stets eines zwingenden Grundes (BVerfGE 51, 222, 235 f; 82, 322, 338; 93, 375, 377; 95, 408, 418; Beri. VerfGH, LKV 1998, 142, 143; VerfGH NW, DVB1. 1995,153,155). Als ein solcher ist — mit dem Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 82, 322, 338) — insbesondere die Sicherung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung anzusehen. Auch in seinen neueren Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht LVerfGE 11
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(BVerfGE 95, 335, 366; 95, 408, 419) die Gewährleistung der Handlungs- und Entscheidungsfáhigkeit des zu wählenden Repräsentationsorgans als zureichenden Rechtfertigungsgrund hervorgehoben. Mit dem Ziel der Wahl, ein Repräsentationsorgan zu schaffen, das ein Spiegelbild der in der Wählerschaft vorhandenen politischen Meinungen wiedergibt, verbindet sich zugleich das Anliegen, ein funktionsfähiges Organ hervorzubringen, das imstande ist, die ihm durch die staatliche Kompetenzordnung übertragenen Aufgaben wirksam wahrzunehmen. Ein unbegrenzter Proporz könnte durch die Abbildung vieler kleiner Gruppen in der Vertretungskörperschaft die Bildung stabiler Mehrheiten erschweren oder verhindern. Dies kann — je nach Aufgabenzuschnitt der beteiligten Organe — zu einer Verschiebung der verfassungsrechtlich vorausgesetzten innerkörperschaftlichen Aufgabenverteilung, unter Umständen auch zu ernsthaften Beeinträchtigungen der Handlungsfähigkeit der staatlichen oder kommunalen Körperschaft führen. b) Bei der Beurteilung der Zulässigkeit einer Sperrklausel ist auf die Verhältnisse in dem jeweiligen Land und insbesondere auf den Aufgabenkreis der zu wählenden Volksvertretung abzustellen (BVerfGE 82, 322, 338; st. Rspr. seit BVerfGE 1, 208, 259). Beim Bundestag und den Landtagen hat das Bundesverfassungsgericht die 5%Sperrklausel durch die Aufgaben der Gesetzgebung und Regierungsbildung, bei den Kommunalvertretungen vor allem vor dem Hintergrund der Aufgaben der eigenverantwortlichen Selbstverwaltung und der notwendigen Wahlen von Bürgermeistern (Gemeindedirektoren) und Ausschüssen als gerechtfertigt angesehen (BVerfGE 6,104, 114ff; 51,222,237). Ob eine Sperrklausel zur Sicherung der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit einer Volksvertretung geboten ist, kann nicht ein für allemal abstrakt beurteilt werden; eine solche Einschränkung des Rechts auf gleiche Wahl kann in dem einen Gemeinwesen zu einem bestimmten Zeitpunkt gerechtfertigt sein und in einem anderen oder zu einem anderen Zeitpunkt nicht. Deshalb sind die Verhältnisse des Landes, für das sie gelten soll, jeweils zu berücksichtigen (BVerfGE 82, 322, 338). Dabei ist allerdings in Rechnung zu stellen, daß der Wahlakt die entscheidende Legitimationsgrundlage für die Ausübung staatlicher und kommunaler Befugnisse bereithält und das Wahlrecht „das vornehmste Recht des Bürgers im demokratischen Staat" ist (BVerfGE 1,14, 33; s.a. BVerfGE 97, 317, 323; 99, 69, 77f), dessen Einschränkung stets unter einem besonderen Rechtfertigungsdruck steht. Von daher bleibt dem Gesetzgeber nur ein eng bemessener Spielraum (BVerfGE 95, 408, 418 f; 99, 69, 78; VerfGH NW, DVB1. 1995, 153,155; DVB1. 1999,1271,1272). Unbeschadet seiner Freiheit in der Gestaltung des jeweiligen Wahlsystems und der näheren Ausformung des Wahlverfahrens hat er sich bei der Einschätzung und Bewertung von Umständen, die auf eine mögliche Gefährdung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Vertretungskörperschaften hindeuten, an der politischen Wirklichkeit zu orientieren; insbesondere darf er seiner Entscheidung nicht lediglich abstrakt konstruierte Fallgestaltungen zugrundelegen (BVerfGE LVerfGE 11
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95, 408, 418f; s.a. BVerfGE 93, 373, 378). Unzulässig ist eine Einschränkung des Grundsatzes der Chancengleichheit bei der Wahl, wenn die Regelung nicht an dem Ziel orientiert ist, Störungen der Funktionsfähigkeit des zu wählenden Organs zu verhindern, oder wenn sie das Maß des zur Erreichung dieses Zieles Erforderlichen überschreitet (BVerfGE 6, 84,94; 51,222, 238). 3. Das Fortwirken von einmal beschlossenen Sperrklauseln bewirkt eine dauerhafte Beeinträchtigung des verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechts auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb der Parteien bei Wahlen. Deshalb besteht die Pflicht des Gesetzgebers, Sperrklauseln unter Kontrolle zu halten und die Voraussetzungen für ihren Erlaß bei entsprechendem Anlaß zu überprüfen; gegebenenfalls hat er sie zu korrigieren. Zwar zwingt eine solche Überprüfiings- und ggf. daraus folgende Anderungspflicht den Gesetzgeber nicht generell zu einer fordaufenden Kontrolle des Gesetzes; bestehen indes Anhaltspunkte dafür, daß sich innerhalb des Geltungsbereiches eines Wahlgesetzes die Verhältnisse wesentlich geändert haben, so kann sich eine gegenüber der bisherigen Einschätzung abweichende Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit einer Sperrklausel ergeben. Findet der Wahlgesetzgeber in diesem Sinne veränderte Umstände vor, so muß er sie berücksichtigen. Demgemäß hat er die Pflicht zu prüfen, ob die Verhältnisse, derentwegen die Sperrklausel ehemals für erforderlich gehalten wurde, unverändert fortbestehen oder sich in erheblicher Weise geändert haben, und ggf. die Gesetzeslage zu korrigieren (BerlVerfGH, LKV 1998,143; VerfGH NW, DVB1. 1995,153,155; DVB1.1999,1271,1272; vgl. zu Nachbesserungspflichten des Gesetzgebers auch BVerfGE 50,290, 395; 73,40, 94; 77, 308,334). II. 1. Nach diesen Kriterien war der Antragsgegner verpflichtet, mit Erlaß des Gesetzes über die Einführung des Gesetzes zur Änderung kommunalverfassungsrechtlicher Vorschriften und zur Einführung der direkten Wahl der Bürgermeister und Landräte vom 26. November 1997 (GVOB1. S. 694 ff) rechtzeitig in eine nähere Prüfung einzutreten, ob eine Aufrechterhaltung des § 37 Abs. 2 S. 1,2. HS KWG M-V in der bisherigen Form weiterhin gerechtfertigt ist. Mit dem Erlaß dieses Gesetzes haben sich die für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der Sperrklausel maßgeblichen Umstände wesentlich geändert. a) Nach der Kommunalverfassung M-V vom 18. Februar 1994 hatten die Gemeindevertretung und der Kreistag u. a. die Aufgabe, den Bürgermeister bzw. Landrat zu wählen (§§ 38 Abs. 1, 39 Abs. 4 KV, 116 Abs. 1 KV 1994). Diese Aufgabe ist in Mecklenburg-Vorpommern mit Inkrafttreten der Änderung der Kommunalverfassung und des Kommunalwahlgesetzes 1997 entfallen. Damit ist den Gemeindevertretungen und Kreistagen eine bedeutsame Personalentscheidung aus der Hand genommen worden; zugleich sehen sie sich einer Verwaltungsspitze mit erheblich gestärkter, unmittel-
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barer demokratischer Legitimation gegenüber. Hierdurch hat sich die Rechtslage im Vergleich zu der Situation unter der Geltung der Kommunalverfassung 1994 im Hinblick auf die 5%-Sperrklausel so erheblich geändert, daß eine Uberprüfung der ihrer Rechtfertigung dienenden Gründe geboten war. aa) Bei der näheren Bestimmung einer Gefahr für die Funktionsfähigkeit von Volksvertretungen hat die Rechtsprechung von Anfang an in hohem Maße auf die in einem parlamentarischen System angelegte Notwendigkeit der Bildung sicherer Mehrheiten insbesondere bei der Regierungsbildung hingewiesen (BVerfGE 1,208,248; 6, 84, 92). Diese Rechtsprechung ist nicht zuletzt unter dem Eindruck des sog. „Weimarer Traumas" entwickelt worden (hierzu namentlich Meyer in: Isensee/Kirchhof aaO, § 38 Rn. 27; s. a. Wenner Sperrklauseln im Wahlrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1986, S. 346; Pauly AöR 123/1998, 232, 256). Ihr entspricht die Vorstellung, daß die auf den staatlichen Ebenen von Bund und Ländern nach dem (personalisierten) Verhältniswahlsystem gewählten Parlamente durch Mehrheitsbeschluß eine Regierung zu bilden haben. Der Regierung muß nicht nur für die Erledigung unumgänglicher Staatsgeschäfte, sondern auch für ihre laufende Arbeit durch eine positive, mit ihr übereinstimmende Parlamentsmehrheit ein ständiger Rückhalt geboten werden. Der Erlaß der notwendigen Gesetze, insbesondere die Genehmigung des Staatshaushaltes setzt eine positive Parlamentsmehrheit voraus. Die Bildung eines „Mehrheitsblocks" mehrerer Parteien durch eine sog. Koalition wird häufig um so schwieriger, je mehr Parteien ein Bündnis eingehen müssen, um eine regierungsfähige Mehrheit zu schaffen. Bloß negative Parlamentsmehrheiten können die Funktionen eines Staates lahmlegen. Wenn das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 6, 104,118; 51, 222, 237 mwN) auch bei der Wahl von Kommunalvertretungen maßgeblich mit auf die notwendigen Wahlen von Bürgermeister, Gemeindedirektor und Ausschüssen abgestellt hat, so liegt dem der gleiche Gedanke zugrunde. bb) Während die Kommunalverfassung M-V bis zu ihrer Änderung im Jahre 1997 die Wahl der Bürgermeister bzw. Landräte durch die Vertretungskörperschaften kannte und insoweit dem parlamentarischen Regierungssystem auf staatlicher Ebene deutlich angenähert war, hat die Einführung der Direktwahl eine bedeutsame strukturelle Änderung der Kommunalverfassung gebracht (so auch die Einschätzung durch den damaligen Innenminister Geil in der Schlußberatung am 5.3.1997, LT-Prot. 2/57, S. 3387; s. a. Meyer LKV 1998, 85, 86): Es ist nicht zuletzt das jeweilige Kräfteverhältnis von Vertretungskörperschaft und administrativer Spitze, das den spezifischen Charakter der jeweiligen Kommunalverfassung ausmacht. Demgemäß wird dieses Verhältnis traditionell als wesentliches Unterscheidungsmerkmal für die nähere Ausformung unterschiedlicher Gemeindeverfassungstypen im Kommunalrecht hervorgehoben (vgl. nur Schmidt-Aßmann in: ders. (Hrsg.), Bes. Verwaltungsrecht, 11. Aufl. 1999,1. Abschn., Rn. 55 ff mwN). Die systemprägende Bedeutung dieses Verhältnisses findet Ausdruck in § 21 KV M-V, wenn dort die Gemeindevertretung und der Bürgermeister als die Organe der Gemeinde bezeichnet sind. LVerfGE 11
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Nach §§ 38 Abs. 1 und 32 Abs. 4,116 Abs. 1,110 Abs. 4 KV M-V1994 lagen Wahl und Abwahl der Bürgermeister und Landräte in der Hand der Gemeindevertretung bzw. des Kreistages. Mit der Einführung der Direktwahl der Bürgermeister und Landräte durch das am 29. November 1997 in Kraft getretene Gesetz zur Änderung kommunalverfassungsrechtlicher Vorschriften und zur Einführung der direkten Wahl der Bürgermeister und Landräte vom 26. November 1997 sind diese für den Verwaltungsablauf innerhalb der Kommune wichtigsten Personalentscheidungen den Gemeindevertretungen und Kreistagen entzogen worden. Damit hat sich das Risiko, daß Splitterparteien auf eine zentrale Kreationsaufgabe mit der weitreichenden Folge der erheblichen Funktionsbeeinträchtigung der kommunalen Selbstverwaltung störend einwirken konnten, substantiell verringert. b) Der Einschätzung, daß es sich bei der Einführung der Direktwahl von Bürgermeistern und Landräten um einen für die Rechtfertigung der 5%-Sperrklausel wesentlichen Umstand handelte, der den Gesetzgeber zur Uberprüfung der bisherigen Rechtslage zwang, steht nicht entgegen, daß den kommunalen Vertretungen, wie der Antragsgegner geltend macht, auch nach der Einführung der Direktwahl der Bürgermeister und Landräte noch eine Vielzahl im einzelnen aufgeführter Aufgaben verblieb. Denn hier ist nicht zu entscheiden, ob sich insoweit möglicherweise — trotz der gesetzlichen Vorkehrungen in §§ 30 Abs. 3, 38 Abs. 4 S. 1, 2. HS, 108 Abs. 3 KV M-V - ein konkretes Gefährdungspotential durch in der Kommunalvertretung repräsentierte Splittergruppen belegen läßt. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, entfiele nicht die durch den Erlaß des Gesetzes zur Änderung kommunalverfassungsrechtlicher Vorschriften und zur Einführung der direkten Wahl der Bürgermeister und Landräte vom 26. November 1997 begründete Überprüfungsbedürftigkeit der der Sperrklausel zugrundeliegenden Umstände. Gleiches gilt für die landesspezifische Besonderheit, daß neben den Kreistagen lediglich ein kleiner Teil der Gemeindevertretungen von der 5%-Sperrklausel betroffen ist, weil bei den — die weit überwiegende Anzahl von Kommunen ausmachenden — Gemeinden mit einer Einwohnerzahl bis zu 7 500 Einwohnern eine immanente Sperre von 5 % greift; eine rein quantitative Betrachtung kann nicht die auf strukturellen legislatorischen Veränderungen beruhende Nachprüfungspflicht des Gesetzgebers und die daraus ggf. folgende inhaltliche Entscheidung des Gesetzgebers in Frage stellen. Umgekehrt ist — anders als die Antragstellerin meint — im vorliegenden Verfahren nicht darüber zu befinden, ob sich die unterschiedliche Behandlung von Einzelbewerbern und Listenbewerbern, die als Ausnahme von der 5%-Sperrklausel ihrerseits einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung bedarf (siehe BVerfGE 6, 84,95 f; 95, 335, 358 f — Überhangmandate; 95, 408, 420 — Grundmandate), mit dem Grundsatz der Chancengleichheit der politischen Parteien bei der Wahl vereinbaren läßt. Insoweit macht die Antragstellerin keine Veränderung der Verhältnisse geltend, die eine Überprüfungsund etwaige Nachbesserungspflicht des Antragsgegners auslösen könnte.
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2. Die Neubestimmung des Aufgabenkreises der Kommunalvertretungen durch die Verlagerung der Aufgabe, den Bürgermeister bzw. den Landrat zu wählen, auf die Bürger verlangte nach alledem eine neue Bewertung der Erforderlichkeit einer 5%Sperrklausel im Kommunalwahlrecht. Der Landtag ist dieser Pflicht zur Uberprüfung und ggf. erneuten Rechtfertigung, Abmilderung oder Aufhebung der Sperrklausel nicht rechtzeitig nachgekommen. a) Mit der Einfuhrung der direkten Wahl der Bürgermeister und Landräte ist dem Gesetzgeber die besondere Pflicht zugewachsen, die Sperrklausel auf ihre verfassungsrechtliche Erforderlichkeit gerade im Kontext mit der vorbezeichneten Neuregelung hin zu untersuchen. Dieser spezifischen Pflicht konnte der Gesetzgeber nicht dadurch genügen, daß er den in einem parallel betriebenen Gesetzgebungsverfahren zur Änderung des Kommunalwahlgesetzes eingebrachten Antrag zur Streichung der 5 %-Hürde (LT-Drs. 2/737) ohne Auseinandersetzung mit der durch das Gesetz zur Änderung kommunalverfassungsrechtlicher Vorschriften und zur Einführung der direkten Wahl der Bürgermeister und Landräte vom 26. November 1997 aufgeworfenen Gleichheitsproblematik ablehnte. Insbesondere hat der Antragsgegner seiner aus der Einführung der Direktwahl der Bürgermeister und Landräte erwachsenen Pflicht nicht bereits dadurch entsprochen, daß er am 22. Oktober 1997 einen Gesetzentwurf diskutiert und abgelehnt hat, der sowohl zeitlich als auch systematisch ohne Zusammenhang mit der im Landtag geführten Diskussion der Direktwahl eingebracht und behandelt wurde (LT-Prot. 2/69 S. 4282; s.a. den Gesetzentwurf der Landesregierung aus Anlaß der Einführung des Wahlrechts für Unionsbürger - Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung wahlrechtlicher Vorschriften, LT-Drs. 2/674 - mit Änderungsantrag der PDS-Fraktion — Drs. 2/737 - jeweils aus 1995 —, Änderungsantrag der PDS-Fraktion vom 22.10.1997, LT-Drs. 2/3196 - n e u , Bericht des Innenausschusses vom 15.10.1997 -LT-Drs. 2/3166). b) Es kann offen bleiben, ob der Gesetzgeber idealerweise zeitgleich mit dem Gesetzgebungsverfahren zur Einführung der Direktwahl der Bürgermeister und Landräte auch eine Überprüfung der Sperrklausel vorgenommen hätte. Hiergegen mag sprechen, daß ein entsprechend frühes Handeln auf die Ungewißheit stieß, ob und wie das Gesetzesvorhaben der Einführung der Direktwahl der Bürgermeister und Landräte überhaupt verwirklicht werden konnte. Jedenfalls war mit Inkrafttreten der alle maßgeblichen Regelungen enthaltenden Gesetzesänderung am 29. November 1997 geklärt, daß die Direktwahl der Bürgermeister und Landräte nach der nächsten Kommunalwahl (die am 13. Juni 1999 stattfand) nicht mehr zu den Aufgaben der kommunalen Vertretung zählte, sondern Aufgabe der Bürger war. Vorliegend kommt es nicht darauf an, zu welchem genauen Zeitpunkt die Uberprüfungspflicht des Antragsgegners einsetzte, um rechtzeitig bis zum 13. Juni 1999 die notwendigen Schritte im Hinblick auf § 37 Abs. 2 S. 1, 2. HS KWG M-V einzuleiten. Jedenfalls lag dieser Zeitpunkt zeitnah zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung LVerfGE 11
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der Direktwahl der Bürgermeister und Landräte am 29. November 1997. Zum Zeitpunkt der Antragstellung am 9. April 1999 konnte ihr bereits nicht mehr angemessen nachgekommen werden, denn zu diesem Zeitpunkt war es, wie sich aus der Stellungnahme des Landeswahlleiters in der öffentlichen Anhörung des Innenausschusses des Landtages am 20.1.1999 (LT-Drs. 2/214, S. 10) ergibt, nicht mehr möglich, die gesetzgeberische Überprüfung rechtzeitig bis zur Kommunalwahl am 13. Juni 1999 in angemessener und sachgerechter Weise durchzuführen. Soweit in der Landtagsdebatte am 3. März 1999 darauf abgestellt wurde, das Problem der Verfassungswidrigkeit der Sperrklausel infolge der Einführung der Direktwahl der Bürgermeister und Landräte stelle sich erst mit Ablauf des Jahres 2001 und nicht bereits zum damaligen Zeitpunkt (3. März 1999), so daß ausreichend Zeit zur Uberprüfung der Sperrklausel bestehe, mag dies darauf zurückzuführen sein, daß die hauptamtlichen Bürgermeister und Landräte auch schon in der Wahlperiode 1994 - je nach Hauptsatzung - für sieben oder neun Jahre gewählt worden waren (§§ 38 Abs. 5, 116 Abs. 5 KV M-V a.F.) und ihre Direktwahl am 13. Juni 1999 durch die Bürger tatsächlich noch gar nicht anstand. Die regelmäßig erst ab 2001 zu erwartende direkte Neuwahl der hauptamtlichen Bürgermeister und Landräte konnte jedoch an der durch den Erlaß des Gesetzes zur Änderung kommunalverfassungsrechtlicher Vorschriften und zur Einführung der direkten Wahl der Bürgermeister und Landräte vom 26. November 1997 ausgelösten Uberprüfungspflicht des Antragsgegners nichts ändern. Der Zeitpunkt der ersten direkten Wahl der Bürgermeister und Landräte ist für die hier allein in Frage stehende Befassungs- und Neubewertungspflicht des Landtages nicht von Belang. Entscheidend ist allein, daß mit dem Gesetz zur Änderung kommunalverfassungsrechtlicher Vorschriften und zur Einführung der direkten Wahl der Bürgermeister und Landräte vom 26. November 1997 den im Jahre 1999 zu wählenden kommunalen Vertretungen ein maßgebliches Kreationsrecht entzogen wurde. Damit war die Pflicht zur Neubewertung der in § 37 Abs. 1 S. 1, 2. HS KWG M-V enthaltenen 5%-Klausel unter Berücksichtigung des veränderten kommunalen Kompetenzgefüges ausgelöst. Selbst wenn der Zeitpunkt der nächsten regulären Direktwahlen hauptamtlicher Bürgermeister und Landräte für die dem Antragsgegner überantwortete Sachentscheidung erheblich gewesen wäre, wäre in Rechnung zu stellen gewesen, daß dieser Zeitpunkt innerhalb der am 13. Juni 1999 begonnenen Wahlperiode der Gemeindevertretungen und Kreistage lag. Die sich hieraus ergebende Abwägungsproblematik hätte also mit einer erst für die darauf folgenden Wahlperiode wirksam werdenden Entscheidung nicht gelöst werden können. c) Ob die Einführung des Kommunalwahlrechtes für Unionsbürger (durch das Erste Gesetz zur Änderung wahlrechtlicher Vorschriften vom 18. Dezember 1995, GVOB1. 1995, S. 651) und die Herabsetzung des Wahlalters bei Kommunalwahlen weitere Anlässe waren, die uneingeschränkte Aufrechterhaltung der Sperrklausel zu überprüfen, kann angesichts der vorstehend dargestellten strukturellen Änderung des LVerfGE 11
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Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern
Kommunalverfassungsrechts offen bleiben; diese haben jedenfalls im Hinblick auf die vom Gesetzgeber zu treffende Entscheidung über § 37 Abs. 2 S. 1, 2. HS KWG M-V nicht das gleiche Gewicht wie die Änderungen des kommunalverfassungsrechtlichen Kompetenzgefuges durch die Einfuhrung der Direktwahl der Bürgermeister und Landräte. 3. Die aus der gesetzlichen Neuregelung der Wahl der Bürgermeister und Landräte erwachsene Überprüfungspflicht dauert fort, solange ihr nicht hinreichend nachgekommen ist. Es ist grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, bei der anstehenden, rechtzeitig vor der nächsten Kommunalwahl zu treffenden Neuentscheidung über die 5 %-Sperrklausel in § 37 Abs. 2 S. 1, 2. HS KWG M-V das AnHegen integrativer Repräsentanz und die Gebote der Wahlrechts- und Chancengleichheit der politischen Parteien einerseits mit dem Belang der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung andererseits zum Ausgleich zu bringen. Bei der insoweit mit anzustellenden Gefahrenprognose für die Funktionsfähigkeit der zu wählenden Gemeindevertretungen bzw. Kreistage wird der Gesetzgeber zu berücksichtigen haben, daß diese sich an der konkreten politischen Wirklichkeit und nicht lediglich an abstrakt konstruierten Fallgestaltungen zu orientieren hat (s. vorstehend C. I. 2 b). Angesichts der grundlegenden verfassungsrechtlichen Bedeutung, die dem Recht auf Chancengleichheit politischer Parteien bei der Wahl zu den Vertretungskörperschaften auf staatlicher wie auf kommunaler Ebene zukommt, genügt nicht eine den kommunalen Körperschaften aufgrund einer Parteienzersplitterung drohende, bloße Erschwernis der internen Willensbildung oder eine weitgehend abstrakte, theoretisch nicht auszuschließende Gefahr für deren Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit (BerlVerfG, LKV 1998, 142 ff mit abl. Sondervotum der Richter Finkelnburg, Driehaus und Töpfer; HmbVerfG, DÖV 1999, 296, 299; VerfGH NW, DVB1. 1999, 1273 f). Abzustellen ist vielmehr auf die konkrete, durch tatsächliche Anhaltspunkte gestützte und mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwartende Möglichkeit der Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Gemeindevertretung bzw. des Kreistages (s.a. BerlVerfG, aaO; VerfGH NW aaO; Ehlers Jura 1999, 660, 655). Hierbei können die zwischenzeitlich gewonnenen Erfahrungen in Ländern mit einem Kommunalwahlrecht, das ohne eine 5 %-Sperrklausel auskommt, nicht außer Acht gelassen werden (ebenso VerfGH NW, DVB1. 1995,155,156). Insgesamt beträgt der Erfahrungszeitraum mit einer solchen Rechtslage in den beiden Ländern Niedersachsen und Baden-Württemberg mehr als 50 Jahre. In Bayern ist die Sperrklausel 1952 abgeschafft worden, nachdem der Bayerische Verfassungsgerichtshof diese im gleichen Jahr (DÖV 1952, 438ff) für verfassungswidrig erklärt hatte. Zu berücksichtigen ist ebenfalls, daß es für die nach dem Gesetz über Wahlen zu Kreistagen, Stadtverordnetenversammlungen, Stadtbezirksversammlungen und Gemeindevertretungen vom 6. März 1990 (GBl. 1 1990, S. 99) neu gewählten Gemeindevertretungen und Kreistage in den neuen Bundesländern zunächst keine 5 %-Sperrklausel gab (vgl. oben Α. I. 1.), LVerfGE 11
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eine Ausgangslage, die auch heute noch in den Ländern Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt gilt. Bei Einführung der 5%-Klausel in Mecklenburg-Vorpommern durch § 37 Abs. 2 S. 1 KWG M-V vom 26. November 1993 wurden Funktionsstörungen infolge der bisherigen Regelung nicht geltend gemacht (vgl. Bericht des Abgeordneten Bollinger, LT-Drs. 1/3764 vom 3.11.1993, S. 5,15). III. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 32 Abs. 1, 33 Abs. 2 LVerfGG. Die Antragstellerin hat durch die Vorbereitung und Durchführung des Verfahrens zur Klärung grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Fragen beigetragen. Sie kann nicht — wie dies in aller Regel bei allen an einem Organstreit Beteiligten der Fall ist — die für die Führung des Rechtsstreits erforderlichen Aufwendungen aus Mitteln öffentlicher Haushalte bestreiten. Unter Berücksichtigung der Teilrücknahme der Anträge und des Ausgangs des Verfahrens, soweit entschieden worden ist, erschien es deshalb billig, die Erstattung der Auslagen durch das Land Mecklenburg- Vorpommern, dem das Verhalten des Antragsgegners zuzurechnen ist (vgl. BVerfGE 73, 40, 103; s.a. BVerfGE 44, 125, 166 f; 82, 322, 351; VerfGH NW, NWVB1. 1996, 58, 61), gem. § 33 Abs. 2 LVerfGG in dem tenorierten Umfang anzuordnen.
LVerfGE 11
Entscheidungen des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs
Die amtierenden Richterinnen und Richter des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs Prof. Dr. Manfred-Carl Schinkel (Präsident) Helga Oltrogge (Vizepräsidentin) Dr. Rudolf Wassermann Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Schneider Prof. Dr. Christian Starck Heinrich Beckmann Hartwin Kramer Christa Biermann Prof. Dr. Ulrike Wendeüng-Schröder
Stellvertretende Richterinnen und Richter Helga Zeuner Hans-Jürgen Eßer (bis Juni 2000) Margarete Fabricius-Brand Prof. Dr. Jürgen Helle Prof. Dr. Volkmar Götz Dr. Werner Hanisch Dr. Eckhart Dembowski Dr. Friedrich Dehne (bis Juni 2000) Hartmut Pust (ab Juni 2000) Harald Schliemann (ab Juni 2000)
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Wahlprüfungsverfahren
Nr. 1 1. Zur Bedeutung der Wahlkreisgröße im Lichte der Wahlrechtsgleichheit. 2. Zur Wirkung des aus dem Demokratieprinzip fließenden Bestandsschutzes einer gewählten Volksvertretung. Niedersächsische Verfassung Art. 7, 8 Abs. 1, 9,12 Niedersächsisches Landeswahlgesetz §§ 14 Abs. 4, 33 Gesetz über die Prüfung der Wahl zum Niedersächsischen Landtag (Wahlprüfungsgesetz) § 2 Abs. 1 Nr. 1 Urteil vom 24. Februar 2000 - StGH 2/99 in dem Wahlprüfungsverfahren betreffend die Wahl zum 14. Niedersächsischen Landtag am 1. März 1998 Entscheidungs formel: Die Beschwerde gegen den Beschluß des Niedersächsischen Landtages vom 17. Februar 1999 wird zurückgewiesen. Gründe: A. Die Beschwerdeführer sind in Niedersachsen wohnhaft und zum Niedersächsischen Landtag wahlberechtigt. Sie wenden sich unter Hinweis auf die unterschiedliche Größe der Wahlkreise gegen die Gültigkeit der am 1.3.1998 durchgeführten Wahl zum Niedersächsischen Landtag. I. Das endgültige Ergebnis der Landtagswahl vom 1.3.1998 hat der Landeswahlleiter gem. §§ 69 Abs. 7 iVm 77 Abs. 1 Nr. 1 NLWO im Niedersächsischen Ministerialblatt Nr. 14 vom 22.4.1998, S. 581 ff bekanntgemacht. Mit Schreiben vom 17.5.1998, das am 19.5.1998 bei dem Niedersächsischen Landtag einging, haben die Beschwerdeführer gem. § 2 Abs. 1 Nr. 1 WPrG Einspruch gegen die Wahl zum NieLVerfGE 11
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Niedersächsischer Staatsgerichtshof
dersächsischen Landtag am 1.3.1998 erhoben. Dem Wahleinspruch sind mindestens 100 Wahlberechtigte beigetreten. Der Wahleinspruch hatte zum Ziel, die Landtagswahl vom 1.3.1998 insgesamt für ungültig zu erklären, weil die Zahl der Wahlberechtigten in einzelnen Wahlkreisen erheblich voneinander abwich. Beispielhaft aufgeführt wurde in der Einspruchsschrift, daß die Anzahl der Wahlberechtigten in den Wahlkreisen Goslar um 26,7 %, Bad Münder um 26,9 % und Harz um 41,3 % unter sowie in den Wahlkreisen Vechta um 44,7 %, Oldenburg um 49,2 % und Cloppenburg um 59,9 % über der durchschnittlichen Wahlkreisgröße gelegen habe. Der Landtag habe seiner Pflicht zu einer gerechten Wahlkreiseinteilung mit dem 11. Gesetz zur Änderung des Niedersächsischen Landeswahlgesetzes vom 23.7.1997 (Nds.GVBl. S. 368) nicht zeitgerecht genügt, weil dieses Gesetz erst auf die im Jahre 2003 turnusmäßig stattfindende Wahl des Landtags der 15. Wahlperiode Anwendung finde. Der Niedersächsische Landtag hat den Wahleinspruch für zulässig, jedoch für unbegründet gehalten und ihn durch Beschluß vom 17.2.1999 zurückgewiesen. II. Gegen den ihnen am 20.2.1999 zugestellten Beschluß haben die Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 18.3.1999, eingegangen beim Staatsgerichtshof am Montag, dem 22.3.1999, Beschwerde eingelegt. Die Beschwerdeführer beantragen, 1. den Beschluß des Niedersächsischen Landtags vom 17.2.1999 aufzuheben, 2. die Wahl zum Niedersächsischen Landtag am 1.3.1998 für ungültig zu erklären. Sie vertreten die Ansicht, in der unterschiedlichen Größe der Wahlkreise liege im Hinblick auf die Direktwahl von Abgeordneten in den Wahlkreisen ( § 3 1 Abs. 1 NLWG) ein Verstoß gegen Art. 8 Abs. 1 NV, der zur Unwirksamkeit der gesamten Wahl zum Niedersächsischen Landtag am 1.3.1998 führe. Zwar sei ausschlaggebend für die Größe der jeweiligen Fraktionen und damit für das zahlenmäßige, parteipolitische Kräfteverhältnis im Parlament die Zweitstimme, mit der Landeslisten nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt werden. Mit der Erststimme bestimme der Wahlberechtigte jedoch, welche Kandidaten nach den Grundsätzen der Mehrheitswahl direkt in den Wahlkreisen gewählt werden. Sie verschaffe ihm die Möglichkeit, selbst und direkt zumindest teilweise die konkrete personelle Zusammensetzung des Landtages zu bestimmen. Die Gleichheit der Mehrheitswahl in den Wahlkreisen erfordere, daß die Zahl der für den Mandatserwerb notwendigen Stimmen im Ausgangspunkt annähernd gleich sei. Die Abweichung dürfe jedenfalls nicht 33V 3 % der durchschnittlichen Wahlkreisgröße überschreiten. Dem Niedersächsischen Landtag und der Landesregierung ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. LVerfGE 11
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Der Präsident des Niedersächsischen Landtages führt im wesentlichen aus: Die Parlamentsmehrheit habe vor der Verabschiedung der Änderung des Niedersächsischen Landeswahlgesetzes vom 23.7.1997 deutlich gemacht, daß sie einen Neuzuschnitt der Landtagswahlkreise bereits für die Wahl zum Landtag der 14. Wahlperiode aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht für erforderlich halte. Denn es gebe im Niedersächsischen Landeswahlgesetz anders als im Wahlrecht des Bundes keine Regelung über die höchstzulässige Abweichung der Größe der Wahlkreise. Außerdem seien für entstehende Überhangmandate Ausgleichsmandate vorgesehen, so daß ein gleicher Erfolgswert aller Stimmen gegeben sei. Ob aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10.4.1997 (BVerfGE 95, 335) zur Verfassungsmäßigkeit der Überhangmandate im Bundestag, die teilweise von der bisherigen Rechtsprechung abweiche, ein deutlicher Hinweis auf die niedersächsische Rechtslage gewonnen werden könne, erscheine zweifelhaft. Im übrigen werde etwaigen verfassungsrechtlichen Bedenken dadurch Rechnung getragen, daß der Landtag die Wahlkreiszuschnitte für die Wahl zum Landtag der 15. Wahlperiode geändert und sich bei der höchstzulässigen Divergenz an der Regelung in § 3 Abs. 1 Nr. 3 des Bundeswahlgesetzes in der seinerzeit geltenden Fassung (BGBl. 1996 1,1712) orientiert habe, nach der die Abweichung nicht mehr als 25 % von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl der Wahlkreise betragen dürfe. Anlaß zu sofortigem Tätigwerden habe für den Niedersächsischen Landtag keinesfalls bestanden. Jedenfalls eine offensichtliche Verfassungswidrigkeit, die nach BVerfGE 16, 130 ff vorliegen müsse, damit eine auf den Zuschnitt der Wahlkreise gestützte Wahlanfechtung erfolgreich sein könne, habe nicht vorgelegen. Unabhängig hiervon wäre es für ein regulär vorbereitetes, dem komplizierten Gegenstand angemessenes und rechtzeitig vor der Wahl abschließendes Gesetzgebungsverfahren bereits deutlich zu spät gewesen. Die Landesregierung nimmt im wesentlichen wie folgt Stellung: Da nach § 33 Abs. 7 NLWG Überhangmandate durch sog. Ausgleichsmandate „neutralisiert" würden, sei in Niedersachsen anders als auf Bundesebene der Proporz nach Zweitstimmen letztlich das allein maßgebliche Verteilungssystem. Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur wahlrechtlichen Relevanz unterschiedlicher Wahlkreisgrößen für ein Wahlsystem, in dem Überhangmandate ausgeglichen werden, insbesondere dem Beschluß vom 28.11.1979 — 2 BvR 870/79 —, könne nach wie vor eindeutig entnommen werden, daß die verschiedene Größe der Wahlkreise für die Frage, ob der Grundsatz der gleichen Wahl verletzt worden sei, nicht von Belang sei. Hingegen werde in der Entscheidung vom 10.4.1997 (BVerfGE 95, 335) nur unter dem Gesichtspunkt, in welchen Grenzen sich das Entstehen nicht ausgeglichener Überhangmandate rechtfertigen lasse, gefordert, daß sich die Wahlkreisgröße nicht zu sehr unterscheiden dürfe. Aufgrund dieser Entscheidung, in der zudem deutlich werde, daß der zuständige Senat gespalten sei, habe kein erkennbar rechtlicher Grund für eine Änderung und erst recht nicht die Notwendigkeit bestanden, die Novelle vom 23.7.1997 bereits zur Wahl am 1.3.1998 in Kraft zu setzen. Denn das Bundesverfassungsgericht räume dem GesetzLVerfGE 11
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geber eine verfassungsrechtlich hinzunehmende Korrekturfrist ein. Die Änderung des Niedersächsischen Landeswahlgesetzes vom 23.7.1997 verschiebe die Grenzen von insgesamt 53 der 100 Wahlkreise. Damit seien nicht nur über 33V 3 % hinausgehende Abweichungen beseitigt, sondern es sei eine länger währende Neuordnung angestrebt worden. Diese Änderung habe zum Zeitpunkt der Verkündung am 31.7.1997 faktisch nicht mehr für den bereits auf den 1.3.1998 bestimmten Wahltag umgesetzt werden können. Die größeren Parteien hätten in der ganz überwiegenden Mehrheit ihre Wahlkreisnominierungen bereits in der ersten Jahreshälfte 1997 durchgeführt. Falls die Neuregelung bereits für die Wahl der 14. Wahlperiode beschlossen worden wäre, hätten in 53 Wahlkreisen insgesamt 171 Mitglieder- und Delegiertenversammlungen wiederholt werden müssen. Weitreichende Irritationen nicht nur innerhalb der Parteien, sondern auch bei der Wählerschaft wären wohl die Folge gewesen. Danach habe der Landtag in überzeugender Abwägung der Gründe entschieden, die Wahlkreisneueinteilung erst für die 15. Wahlperiode in Kraft treten zu lassen. B. Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. I. Die der Wahl am 1.3.1998 zu Grunde gelegte Wahlkreiseinteilung, soweit sie die Grundlage für die Direktwahl der Abgeordneten des Landtags mit der Erststimme bildete, war in einigen Wahlkreisen nicht mit dem Verfassungsgrundsatz der Gleichheit der Wahl (Art. 8 Abs. 1 NV) vereinbar. Das niedersächsische Wahlsystem stellt ein Verhältniswahlrecht mit eingegliedertem Mehrheitswahlrecht dar. Da das Wahlergebnis in seinem parteipolitischen Verhältnis von den Zweitstimmen abhängig ist, die nach dem Verhältnisprinzip die Sitzverteilung im Landtag bestimmen (§ 33 NLWG), spielt die Komponente des Mehrheitswahlrechts insoweit eine untergeordnete Rolle. Die in den Wahlkreisen abgegebenen Erststimmen sind für die Parteien nur insofern von Bedeutung, als die von ihnen vorgeschlagenen und erfolgreichen Wahlkreisbewerber als Mandatsträger bestimmt werden. Dies rechtfertigt allerdings nicht eine unterschiedliche Gewichtung der Erststimmen, die sich aus Unterschieden der Zahl der Wahlberechtigten in den verschiedenen Wahlkreisen ergibt. Zwar bleibt in diesen Fällen das Stimmgewicht der Erststimme innerhalb des Wahlkreises gleich; ein Ungleichgewicht entsteht aber gegenüber den Erststimmen, die in Wahlkreisen mit einer deutlich abweichenden Zahl von Wahlberechtigten abgegeben werden. Denn je größer die Zahl der Wahlberechtigten und damit der möglichen Wähler in einem Wahlkreis ist, umso weniger Gewicht hat die einzelne Stimme. Spiegelbildlich dazu wird die Chancengleichheit der Wahlkreiskandidaten dadurch beeinflußt. Sie benötigen in einem kleineren Wahlkreis weniger Stimmen als in einem größeren, um sich durchzusetzen. LVerfGE 11
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Die Wahl der Wahlkreiskandidaten mit der Erststimme nach dem Prinzip der relativen Mehrheit hat gegenüber dem für die Zweitstimme geltenden Verhältnisprinzip eine selbstständige Bedeutung. Dies ergibt sich schon daraus, daß nach dem Landeswahlgesetz 100 von regelmäßig 155 Abgeordneten durch Mehrheitsentscheidung im Wahlkreis zu wählen sind, und zwar auch als Einzelbewerber, die nicht von politischen Parteien aufgestellt sind (§14 Abs. 4 NLWG). Zudem besteht zwischen der Wählerschaft des Wahlkreises und dem im Wahlkreis direkt gewählten Abgeordneten eine engere Beziehung als zwischen ihr und einem über eine Landesliste gewählten Abgeordneten. Der direkt gewählte Abgeordnete repräsentiert den Wahlkreis im Rahmen seiner Funktion als Vertreter des ganzen Volkes (Art. 12 NV) in besonderem Maße. Aus diesem Grunde muß der Zuschnitt der Wahlkreise dem Prinzip der Wahlgleichheit entsprechen (Frowein DÖV 1963, 857, 859; W. Bidder Oie Einteilung der Parlamentswahlkreise, Göttingen (Institut für Völkerrecht) 1976, S. 84 f, 163f; J.Ipsen/Koch, Nds.VBl. 1996, 269, 271 ff). Diese Voraussetzungen waren bei der angefochtenen Wahl zum Niedersächsischen Landtag nicht für alle Wahlkreise gegeben. Die durchschnittliche Größe der 100 Wahlkreise wurde zu diesem Zeitpunkt auf 59293 Wahlberechtigte berechnet. Zahlreiche Wahlkreise wichen von der Größenordnung erheblich ab. Zwischen dem kleinsten Wahlkreis 17 (Harz) mit 34799 Wahlberechtigten (= 38% unter dem Durchschnitt) und dem größten Wahlkreis 79 (Cloppenburg) mit 94 751 Wahlberechtigten (= 50,4% über dem Durchschnitt) belief sich die Differenz immerhin auf die Größenordnung eines durchschnittlichen Wahlkreises. Allerdings ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zutreffend herausgearbeitet worden, daß ein gewisses Maß an Abweichungen von der Durchschnittsgröße hingenommen werden muß. Denn jeder Wahlkreis soll zugleich ein abgerundetes, zusammengehöriges Ganzes bilden. Die historisch verwurzelten Verwaltungsgrenzen sollen sich nach Möglichkeit mit den Wahlkreisgrenzen decken. Wegen der Bevölkerungsbewegung im Lande läßt sich das Prinzip der Gleichheit der Wahl im Rahmen des Mehrheitswahlrechts nicht mit mathematischer Exaktheit, sondern immer nur annähernd verwirklichen (BVerfGE 16,130,141; 95, 335, 363 f). Die Grenzbestimmung tolerierbarer Abweichung von der Durchschnittsgröße der Wahlkreise hat das Bundesverfassungsgericht in seiner letzten einschlägigen Entscheidung — freilich in Anbetracht der nicht auszugleichenden Uberhangmandate nach Bundeswahlrecht — dahin umschrieben, daß es künftig nicht mehr genüge, die bisher zugelassene Abweichungsgrenze von 33 '/3 % einzuhalten (BVerfGE 95,335,365). In einer Anhörung der Reformkommission zur Größe des Deutschen Bundestages (vgl. Sten. Ber. der 5. Sitzung am 28.2.1996) haben sich die Sachverständigen Badura, Btyde, Knies, Mabrenhol\ und Η. P. Schneider ähnlich geäußert. Insbesondere hat keiner die Ansicht vertreten, die Abweichung dürfe mehr als 33 y 3 % nach oben oder unten betragen. Im vorliegenden Urteil ist eine konkrete Aussage zur Toleranzgrenze nach niedersächsischem Wahlrecht nicht erforderlich. Denn bei einigen Wahlkreisen sind die LVerfGE 11
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Niedersächsischer Staatsgerichtshof
Abweichungen vom Durchschnitt so hoch, daß dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit insoweit offensichtlich nicht genügt war. II. Dies rechtfertigt es jedoch nicht, die Ungültigkeit der Landtagswahlen vom 1.3.1998 festzustellen und damit Neuwahlen zu veranlassen. Denn die Neuwahlen könnten nicht auf den gerügten Wahlfehler beschränkt werden, sondern würden das Wahlergebnis vom 1.3.1998 insgesamt für die Zukunft ersetzen. Aus dem in den Art. 7 bis 9 NV konkretisierten Demokratieprinzip resultiert aber ein größtmöglicher Bestandsschutz für die aus Wahlen hervorgegangene Volksvertretung (vgl. BVerfGE 89, 243, 253). Der Wahlfehler ist in seiner möglichen Wirkung auf die Zusammensetzung des Landtages jedoch nicht so gewichtig, daß der Bestandsschutz des gewählten Landtages zurücktreten müßte. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.
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Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes des Freistaates Sachsen
Die amtierenden Richter des Verfassungsgerichtshofes des Freistaates Sachsen Dr. Thomas Pfeiffer, Präsident Klaus Budewig, Vizepräsident Ulrich Hagenloch Alfred Graf von Keyserlingk Siegfried Reich Hans Dietrich Knoth Prof. Dr. Hans v. Mangoldt Prof. Dr. Hans-Peter Schneider Prof. Dr. Hans-Heinrich Trute
Stellvertreterinnen und Stellvertreter Heinrich Rehak Martin Burkert Jürgen Niemeyer Dr. Andreas Spilger Susanne Schlichting Hannelore Leuthold Prof. Dr. Martin Oldiges (seit Juni 1999) Heide Boysen-Tilly Prof. Dr. Christoph Degenhart
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Enteignung zum Zweck der Energieversorgung
Nr. 1 Für Enteignungen zum Zwecke der Energieversorgung fehlt es im Freistaat Sachsen an einer nach Artikel 32 Absatz 1 SächsVerf erforderlichen gesetzlichen Entschädigungsgrundlage.111 Verfassung des Freistaates Sachsen Art. 31 Abs. 1, 32 Abs. 1 Einigungsvertrag Anlage I Kapitel V Sachgebiet D Abschnitt III Nr. 11 Energiewirtschaftsgesetz vom 13. Dezember 1935 § 11 Abs. 2 Energiewirtschaftsgesetz vom 24. April 1998 § 12 Abs. 3 Baugesetzbuch §§ 85 Abs. 1,116 Beschluß vom 24. Februar 2000 - Vf. 37-IV-99 in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde der Frau X. Verfahrensbevollmächtigte: Rechtsanwälte Y. Entscheidungsformel: 1. Der Beschluß des Regierungspräsidiums C. vom 15. Dezember 1998 und das Urteil des Landgerichts C. vom 19. April 1999 verletzen Art. 32 Absatz 1 S. 2 der Sächsischen Verfassung. Sie werden aufgehoben. Das Verfahren wird an das Landgericht C. zur Entscheidung über die Kosten zurückverwiesen. 2. Der Freistaat Sachsen hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten. Gründe: I. Die Beschwerdeführerin wendet sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen den Besitzeinweisungsbeschluß des Regierungspräsidiums C. vom 15. Dezember 1998 und das Urteil des Landgerichts C. vom 19. April 1999. Beide Entscheidungen verletzten ihr * Nichtamtlicher Leitsatz.
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Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen
Grundrecht aus Art. 32 Abs. 1 S. 2 SächsVerf, weil sie ohne gesetzliche Grundlage ergangen seien. 1. Die Beschwerdeführerin ist Eigentümerin eines Grundstücks, auf dem sich eine 1-kV-Freileitung zur Energieversorgung befindet. Mit Schreiben vom 1. September 1998 beantragte die Energieversorgung S. AG beim Sächsischen Staatsministerium für Wirtschaft und Arbeit, die Zulässigkeit der Enteignung einer Teilfläche dieses Grundstücks für den Ersatzneubau, den Betrieb und die Unterhaltung der Freileitung festzustellen, da eine gütliche Einigung über den Rechtserwerb nicht herbeigeführt werden konnte. Mit Bescheid vom 15. September 1998 wurde die Zulässigkeit der Enteignung festgestellt. Daraufhin stellte die Energieversorgung S. AG mit Schreiben vom 11. November 1998 beim Regierungspräsidium C. unter anderem den Antrag, sie vorzeitig in den Besitz an dem Grundstücksstreifen einzuweisen. Nachdem diesem Antrag mit Beschluß vom 15. Dezember 1998 entsprochen worden war, stellte die Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 22. Dezember 1998 beim Regierungspräsidium C. einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung. Mit Urteil vom 19. April 1999, das der Beschwerdeführerin am 27. April 1999 zuging, wies das Landgericht C. den Antrag zurück, da der Beschluß zur vorzeitigen Besitzeinweisung weder in formeller noch in materieller Hinsicht rechtlichen Bedenken begegne. Insbesondere stütze er sich mit § 11 Abs. 2 des Gesetzes zur Förderung der Energiewirtschaft (Energiewirtschaftsgesetz) vom 13. Dezember 1935 (RGBl. 1,1451; BGBl. III 752-1) iVm Anlage I Kapitel V Sachgebiet D Abschnitt III Nr. 11 zu Art. 8 des Einigungsvertrages und § 116 des Baugesetzbuches (BauGB) auf eine wirksame Rechtsgrundlage. Dem stehe nicht entgegen, daß der im Einigungsvertrag ausdrücklich bezeichnete § 11 Abs. 2 des Energiewirtschaftsgesetzes vom 13. Dezember 1935 mit Erlaß des Gesetzes über die Elektrizitäts- und Gasversorgung (Energiewirtschaftsgesetz) vom 24. April 1998 (BGBl. I, 730) außer Kraft getreten und durch dessen weitestgehend inhaltsgleichen § 12 Abs. 3 ersetzt worden sei. Nach dem Willen des Gesetzgebers sei solange von einer Fortgeltung des § 11 Abs. 2 des Energiewirtschaftsgesetzes vom 13. Dezember 1935 auszugehen, bis ein Landesenteignungsgesetz in Kraft trete. 2. Mit ihrer am 27. Mai 1999 beim Verfassungsgerichtshof eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin, daß das Urteil des Landgerichts C. ihr Grundrecht aus Art. 32 Abs. 1 S. 2 SächsVerf verletze. Die vorzeitige Besitzeinweisung sei trotz ihrer enteignenden Wirkung nicht durch oder aufgrund eines Gesetzes erfolgt. Mit der Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts seien Enteignungen nur auf der Grundlage eines landesrechtlichen Enteignungsgesetzes möglich, welches im Freistaat Sachsen jedoch nicht existiere. Das Baugesetzbuch könne nicht als Rechtsgrundlage herangezogen werden, da sich die Verweisung im Einigungsvertrag allein auf § 11 Abs. 2 des Energiewirtschaftsgesetzes vom 13. Dezember 1935 beziehe. LVerfGE 11
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3. Das Sächsische Staatsministerium der Justiz, das Regierungspräsidium C. sowie die Energie S. B. AG (ehemals Energieversorgung S. AG) haben zum Verfahren Stellung genommen. II. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet. Der Besitzeinweisungsbeschluß des Regierungspräsidiums C. vom 15. Dezember 1998 und das Urteil des Landgerichts C. vom 19. April 1999 verletzen Art. 32 Abs. 1 S. 2 SächsVerf und sind daher aufzuheben. 1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. a) Die Beschwerdeführerin ist antragsbefugt. Sie hat substantiiert vorgetragen, durch die angegriffenen Entscheidungen möglicherweise unmittelbar in ihrem Recht aus Art. 32 Abs. 1 S. 2 SächsVerf verletzt zu sein. Da auch der Besitz zu den von der Eigentumsgarantie erfaßten Vermögenswerten Rechtspositionen zählt, wird durch eine vorzeitige Besitzeinweisung der Schutzbereich des Grundrechts berührt (vgl. Papier in: Maunz-Dürig, Grundgesetz, Stand: Mai 1994, Art. 14 Rn. 200; BVerfGE 89,1, 5ff). b) Der Verfassungsgerichtshof ist zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde befugt, obwohl die beanstandeten Entscheidungen aufgrund bundesgesetzlicher Vorschriften des Energiewirtschaftsgesetzes, des Baugesetzbuches sowie des Einigungsvertrages ergangen sind. Denn unmittelbarer Gegenstand des Verfahrens ist nicht die Auslegung oder Anwendung von Bundesrecht, das am Maßstab der Landesverfassung zu überprüfen dem Verfassungsgerichtshof verwehrt ist, sondern das Fehlen eines — bei nicht oder nicht mehr vorhandenen bundesgesetzlichen Regelungen — nach Art. 32 Abs. 1 S. 2 SächsVerf erforderlichen Landesgesetzes. c) Schließlich scheitert die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde auch nicht an mangelnder Rechtswegerschöpfung, da die Berufungssumme nicht erreicht wird (§ 221 Abs. 1 S. 1 BauGB iVm § 511 a Abs. 1 S. 1 ZPO). Die Streitwertfestsetzung des Landgerichts C. ist nicht zu beanstanden (vgl. BGHZ 61, 240, 252). 2. Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet. Die Sächsische Verfassung gewährleistet in Art. 31 Abs. 1 S. 1 das Eigentum des Einzelnen. Eine Enteignung, d. h. ein staatlicher Zugriff auf das Eigentum, der auf die vollständige oder teilweise Entziehung konkreter subjektiver Rechtspositionen, die durch Art. 31 Abs. 1 S. 1 SächsVerf geschützt sind, abzielt (vgl. BVerfGE 79,174,191), ist nach Art. 32 Abs. 1 S. 2 SächsVerf nur durch oder aufgrund eines Gesetzes gerechtfertigt, welches Art und Ausmaß der Entschädigung regelt. a) Die mit den angegriffenen Entscheidungen angeordnete bzw. bestätigte vorzeitige Besitzeinweisung stellt eine Enteignung im verfassungsrechtlichen Sinne dar. Sie LVerfGE 11
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ist auf die Entziehung eines von Art. 31 Abs. 1 S. 1 SachsVerf geschützten Rechts gerichtet, da sie die Beschwerdeführerin vollständig aus ihrem Besitzstand verdrängt und in ihrer tatsächlichen Verfiigungsbefugnis über das Grundstück einschränkt (vgl. § 116 Abs. 3 BauGB; Reisnecker m·. Brügelmann, BauGB, Stand: April 1999, § 116 Rn. 3 mwN; BayVerfGH NVwZ 1985,106,107). b) Entgegen der Auffassung des Regierungspräsidiums C. und des Landgerichts C. vermitteln die herangezogenen Vorschriften die nach Art. 32 Abs. 1 S. 2 SächsVerf erforderliche gesetzliche Entschädigungsgrundlage für diese Enteignung nicht. aa) Auf den zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt geltenden § 12 Abs. 3 des Energiewirtschaftsgesetzes vom 24. April 1998 iVm einem Landesenteignungsgesetz kann der Besitzentzug nicht gestützt werden, da bislang im Freistaat Sachsen — anders als in den anderen Bundesländern — kein Enteignungsrecht kodifiziert wurde. § 116 BauGB findet unmittelbar keine Anwendung, da das in Rede stehende Vorhaben zum Zweck der Energieversorgung nicht von dem in § 85 Abs. 1 BauGB umschriebenen Geltungsbereich erfaßt wird. bb) Auch in § 11 Abs. 2 des Energiewirtschaftsgesetzes vom 13. Dezember 1935 iVm Anlage I Kapitel V Sachgebiet D Abschnitt III Nr. 11 zu Art. 8 des Einigungsvertrages und § 116 BauGB kann keine den Anforderungen der Sächsischen Verfassung genügende Fesdegung von Art und Ausmaß der Entschädigung gesehen werden, da das Energiewirtschaftsgesetz vom 13. Dezember 1935 ausdrücklich durch Art. 5 Abs. 2 Nr. 1 des Gesetzes zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts vom 24. April 1998 (BGBl. I, 730, 736) außer Kraft gesetzt worden ist. Für die Annahme des Landgerichts C., daß § 11 Abs. 2 des Energiewirtschaftsgesetzes vom 13. Dezember 1935 trotzdem bis zum Erlaß eines Landesenteignungsgesetzes fortgelte, geben weder der Wordaut des Gesetzes zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts noch die Gesetzesmaterialien einen Anhalt (vgl. BT-Drs. 13/7274,26). cc) Schließlich kann § 12 Abs. 3 des Energiewirtschaftsgesetzes vom 24. April 1998 iVm Anlage I Kapitel V Sachgebiet D Abschnitt III Nr. 11 zu Artikel 8 des Einigungsvertrages und § 116 BauGB nicht als Entschädigungsregelung iSv Art. 32 Abs. 1 S. 1 SächsVerf herangezogen werden. (1) Zwar begegnet es keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken, daß die für Enteignungsmaßnahmen im Bereich der öffentlichen Energieversorgung notwendige gesetzliche Grundlage und die Fesdegung von Art und Ausmaß der Entschädigung in verschiedenen Vorschriften geregelt werden, da auch ein Eingriffsgesetz die gesetzlichen Tatbestände nicht selbst enthalten muß, sondern auf andere Normen verweisen kann (vgl. BVerfGE 26, 338, 366; 45, 297, 320). Ein Rückgriff auf die im Einigungsvertrag enthaltene Bezugnahme auf § 116 BauGB scheitert jedoch daran, daß diese ausdrücklich nur für Verfahren nach § 11 LVerfGE 11
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Abs. 2 des — zum Zeitpunkt der beanstandeten Entscheidungen nicht mehr geltenden - Energiewirtschaftsgesetzes vom 13. Dezember 1935 einschlägig ist. Es wurde weder eine gleichlautende Ubergangsregelung für Bundesländer, in denen noch keine Enteignungsgesetze erlassen wurden, in das Energiewirtschaftsgesetz aufgenommen noch der Einigungsvertrag dahingehend geändert (vgl. Art. 45 Abs. 2 des Einigungsvertrages), daß die - mit dem Außer-Kraft-Treten des Energiewirtschaftsgesetzes vom 13. Dezember 1935 gegenstandslos gewordene — Maßgabe der Anlage I Kapitel V Sachgebiet D Abschnitt III Nr. 11 für die Neufassung des Energiewirtschaftsgesetzes Anwendung finden soll. Schließlich lassen sich auch aus den dem Gesetzgebungsverfahren zugrundeliegenden Unterlagen keine entsprechenden Anhaltspunkte entnehmen (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung BR-Drs. 806/96, 43; BT-Drs. 13/7274,20). (2) Etwas anderes ergibt sich nicht, wenn berücksichtigt wird, daß die Benennung der — im Zeitpunkt der Vertragsunterzeichnung aktuellen — Fassung des Energiewirtschaftgesetzes vom 13. Dezember 1935 allein aus Gründen der Rechtsklarheit erfolgt sein dürfte und Änderungen desselben deshalb grundsätzlich auch im Beitrittsgebiet Geltung entfalten, ohne die Maßgaben des Einigungsvertrages zu beeinflussen (sog. dynamische Verweisung; vgl. zum Verwaltungsverfahrensgesetz Stelkens in: Stelkens/ Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 5. Aufl. 1998, Einleitung Rn. 124; Kloepfer/ Kroeger Rechtsangleichung nach Art. 8 und 9 des Einigungsvertrages DVB1.1991,1031, 1033). Legt ein Gesetz nicht selbst die Eingriffsvoraussetzungen fest, sondern verweist auf andere Normen, muß aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit klar erkennbar sein, welche Vorschriften im Einzelnen maßgeblich sein sollen (vgl. BVerfGE 26, 338, 367). Dies wäre bei Zugrundelegung der o. g. Normenkette nicht der Fall. Da das im Einigungsvertrag in Bezug genommene Energiewirtschaftsgesetz vom 13. Dezember 1935 nicht nur einer auf Einzelvorschriften beschränkten Gesetzesänderung unterlag, sondern das gesamte Energiewirtschaftsrecht inhaltlich wesentlich neu geregelt wurde, darf nicht ohne ausdrücklichen Hinweis des Gesetzgebers davon ausgegangen werden, daß eine formal gegenstandslos gewordene Maßgabe des Einigungsvertrages weiter Anwendung findet, insbesondere da das Problem fehlender Landesenteignungsgesetze bereits seit Unterzeichnung des Einigungsvertrages bekannt war und demnach bei der Neufassung des Energiewirtschaftsgesetzes hätte berücksichtigt werden können. Angesichts der grundrechtssichernden Funktion des Art. 31 Abs. 1 S. 2 SächsVerf konnte vielmehr darauf vertraut werden, daß Art und Ausmaß der für Enteignungen zu leistenden Entschädigung eindeutig — wenn auch durch nachvollziehbare Verweisungen — bestimmt sind. dd) Die in Folge des Fehlens eines Landesenteignungsgesetzes bestehende Regelungslücke bei Enteignungsverfahren zum Zweck der Energieversorgung läßt sich entgegen der Auffassung der Energie S. B. AG nicht durch eine richterliche Analogie — LVerfGE 11
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gleichgültig, ob zur Maßgabe der Anlage I Kapitel V Sachgebiet D Abschnitt III Nr. 11 des Einigungsvertrages oder zu § 116 BauGB — schließen. Der Gesetzesvorbehalt des Art. 32 Abs. 1 S. 2 SächsVerf ist strikt auszulegen und anzuwenden; denn er hat die Funktion, keinen Eingriff ohne Entscheidung des parlamentarischen Gesetzgebers zu ermöglichen, um damit dem hohen Rang der Eigentumsgarantie gerecht zu werden. Außerdem ist es Aufgabe der in Art. 32 Abs. 1 S. 2 SächsVerf angeordneten Verknüpfung von Enteignungs- und Entschädigungsregelung, dem Gesetzgeber bewußt zu machen, daß eine Regelung eine Enteignung darstellt, für die Mittel aus dem — allein vom Parlament zu verantwortenden — Haushalt zur Entschädigung bereit gestellt werden müssen. Um diese Budgetprärogative des Parlaments nicht zu umgehen, steht es weder der Exekutive noch der Judikative zu, eine vom Gesetz nicht ausdrücklich für diesen Fall zugebilligte Entschädigung zuzusprechen (vgl. BVerfGE 24, 367, 419; 58, 300, 324; Wieland in: Dreier, Grundgesetz, Bd. 1,1996, Art. 14 Rn. 101). III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 16 Abs. 3 SächsVerfGHG.
Nr. 2 Eine Streitigkeit um vom Präsidium des Sächsischen Landtags erlassene Ausführungsbestimmungen zu § 6 Abs. 4 SächsAbgG betrifft nicht das verfassungsorganschaftliche Verhältnis zwischen den Abgeordneten des Sächsischen Landtags und dem Sächsischen Landtag und kann damit nicht Gegenstand eines Organstreitverfahrens sein.1" Verfassung des Freistaates Sachsen Art. 39 Abs. 3, 42 Abs. 2 Satz 1, 42 Abs. 3 Satz 1 Sächsisches Abgeordnetengesetz § 6 Abs. 4 Beschluß vom 9. März 2000 - Vf. 3-I-00/Vf. 4-1-00 in dem Organstreitverfahren und dem Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung der Abgeordneten des 3. Sächsischen Landtages 1.-21.
— Antragsteller —
* Nichtamtlicher Leitsatz.
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gegen den Sächsischen Landtag, vertreten durch den Landtagspräsidenten — Antragsgegner — wegen Verletzung der Abgeordnetenrechte. Entscheidungsformel: 1. Der Antrag wird verworfen. 2. Damit erledigt sich der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung. Gründe: I. Die Antragsteller sind Abgeordnete des 3. Sächsischen Landtages. Sie streiten mit dem Sächsischen Landtag darüber, ob dieser durch die Regelungen der Ziffern 7 S. 1, 11 und 13 der vom Präsidium des Landtages am 4. November 1999 erlassenen Ausführungsbestimmungen für den Ersatz von Aufwendungen, die den Mitgliedern des Sächsischen Landtages durch die Beschäftigung von Mitarbeitern entstehen, ihre Rechte aus Art. 39 Abs. 3 sowie aus Art. 42 Abs. 2 S. 1 und Abs. 3 S. 1 SächsVerf verletzt. Bis zur Entscheidung über die Hauptsache begehren sie, durch einstweilige Anordnung den Vollzug dieser Ausfuhrungsbestimmungen auszusetzen und den Sächsischen Landtag anzuweisen, den Ersatz von Aufwendungen für ihre Mitarbeiter ohne Einschränkungen zu gewähren. 1. Uber die Berechtigung, den Ersatz von Aufwendungen für Mitarbeiter der Abgeordneten von der Abgabe einer „Persönlichen Erklärung" dieser Mitarbeiter hinsichtlich einer offiziellen oder inoffiziellen Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) oder des Amtes für Nationale Sicherheit (AfNS) abhängig zu machen, bestand bereits im 1. Sächsischen Landtag seit Oktober 1991 Streit. Durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Sächsischen Abgeordnetengesetzes vom 8. Januar 1991 wurde mit § 6 Abs. 4 folgendes bestimmt: „(4) Mitglieder des Landtages erhalten fur die Beschäftigung von Mitarbeitern Aufwendungsersatz nach Maßgabe des Haushaltsgesetzes und der Ausfuhrungsbestimmungen, die vom Präsidium zu erlassen sind. Ersatzfähig sind nur Aufwendungen für die Beschäftigung von Mitarbeitern, 1. die die „persönliche Erklärung" (Anlage I dieses Gesetzes) an das Präsidium abgegeben haben und 2. bei denen sich keine Erkenntnisse ergeben, die eine außerordentliche Kündigung eines Mitarbeiters des Sächsischen Landtages rechtfertigen würden. LVerfGE 11
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Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen Die Feststellung hierüber trifft das Präsidium unter Abwägung aller Umstände. Die Sätze 1—3 gelten entsprechend, soweit den Fraktionen vom Landtag Aufwendungen für Mitarbeiter erstattet werden." Anlage I dieses Gesetzes lautet: „Anlage I Name, Adresse, Geburtsdatum, Beschäftigung, Arbeitgeber Persönliche Erklärung 1. Waren Sie offizieller oder inoffizieller Mitarbeiter a) des Ministeriums für Staatssicherheit b) des Amtes für Nationale Sicherheit? Wenn ja: — Welcher Art war diese Tätigkeit (auch ehrenamtlich)? — Von welcher Dauer war die Tätigkeit? 2. Ich bin damit einverstanden, daß diese von mir abgegebene Erklärung zur Uberprüfung der unter Ziff. 1 gemachten Angaben bei dem Sonderbeauftragten der Bundesregierung für die personenbezogenen Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR verwendet wird. 3. Anschriften der letzten Jahre: Hiermit versichere ich, daß die Angaben wahrheitsgemäß und vollständig sind. Ort, Datum Unterschrift"
Der Vollzug dazu ergangener Ausfuhrungsbestimmungen wurde mehrmals ausgesetzt. Mit Beschluß vom 25. November 1998 verwarf das BVerfG den von der Fraktion L. und einem Abgeordneten des 1. Sächsischen Landtages gegen den Sächsischen Landtag und gegen dessen Präsidenten gerichteten Antrag, mit dem sich die Antragsteller gegen die Neufassung des § 6 Abs. 4 AbgG wandten, als unzulässig (2 BvH 1/92). Das Oberverwaltungsgericht Berlin stellte mit Beschluß vom 27. April 1999 (OVG 8 A 2.98) fest, daß der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR verpflichtet ist, dem Präsidium des Sächsischen Landtages Auskünfte über Mitarbeiter von Abgeordneten zu erteilen. Am 4. November 1999 beschloß das Präsidium des Sächsischen Landtages, die ausgesetzte Überprüfung nach Maßgabe folgender Ausfuhrungsbestimmungen wieder aufzunehmen: Ziff. 7 S. 1: „Der Ersatz von Aufwendungen ist frühestens ab dem Monat zulässig, in dem das Mitglied des Landtages der Verwaltung (ZD 1.4.) den Abschluß des Arbeitsvertrages schriftlich angezeigt und der Mitarbeiter des Abgeordneten die Persönliche Erklärung gem. § 6 Abs. 4 S. 2 Nr. 1 SächsAbgG abgegeben hat." Ziff. 11: Überprüfung durch den Sonderbeauftragten der Bundesregierung Die Mitarbeiter der Abgeordneten haben die „Persönliche Erklärung" gem. § 6 Abs. 4 S. 2 Nr. 1 SächsAbgG (Anlage I dieses Gesetzes) abzugeben. Zur Überprüfung der LVerfGE 11
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dort gemachten Angaben werden die erforderlichen Unterlagen bei dem Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik eingeholt. Ergeben sich Erkenntnisse aus dieser Uberprüfung, die eine außerordentliche Kündigung eines Mitarbeiters des Sächsischen Landtages rechtfertigen würden, trifft das Präsidium unter Abwägung aller Umstände die Feststellung über die Bewilligung des Aufwendungsersatzes. Ausgenommen von der Durchführung des Uberprüfungsverfahrens sind Abgeordnetenmitarbeiter, deren Beschäftigungsverhältnis im Sächsischen Landtag zwei Monate nicht überschreitet sowie diejenigen Abgeordnetenmitarbeiter, die am 3.10.1990 noch keine 18 Jahre alt waren. Ziff. 13: Ubergangsregelung Alle Mitarbeiter des 3. Sächsischen Landtages haben für bereits abgeschlossene Mitarbeiterverträge abweichend von Ziff. 7 S. 1 der Ausfuhrungsbestimmungen bis zum 31.12.1999 die „Persönliche Erklärung" der von ihnen beschäftigten Mitarbeiter gem. § 6 Abs. 4 S. 2 Nr. 1 SächsAbgG beizubringen. Verstreicht diese Frist ergebnislos, wird seitens des Sächsischen Landtages für die betreffenden Mitarbeiter ab 01.04.2000 kein Aufwendungsersatz mehr geleistet. Zur Abgabe verpflichtet sind auch die Mitarbeiter der Abgeordneten, die bereits für den Abschluß eines früheren Arbeitsvertrages die „Persönliche Erklärung" abgegeben haben bzw. für die eine Gauck-Anfrage seitens des Abgeordneten bereits eingeleitet wurde und ggf. eine Antwort vorliegt. Im Übrigen gilt Ziff. 11 entsprechend." 2. Die Antragsteller zu 1—20 haben mit am 19. Januar 2000 bei dem Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen eingegangenen Schriftsatz Organklage gegen den Sächsischen Landtag erhoben und den Erlaß einer einstweiligen Anordnung beantragt. Der Antragsteller zu 21 hat sich mit einem am 21. Januar 2000 bei dem Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen eingegangenen Schriftsatz den Anträgen der Antragsteller 1—20 angeschlossen. Die Antragsteller zu 1—21 beantragen festzustellen: Der Antragsgegner verletzt die Rechte der Antragsteller aus Art. 39 Abs. 3 sowie Art. 42 Abs. 2 S. 1 und Abs. 3 S. 1 SächsVerf durch die Regelungen der Ziffern 7 S. 1, 11 und 13 der Ausführungsbestimmungen des Präsidiums des Sächsischen Landtages für den Ersatz von Aufwendungen, die den Mitgliedern des Sächsischen Landtages durch die Beschäftigung von Mitarbeitern entstehen, idF der Präsidiumssitzung vom 4. November 1999. Sie beantragen, im Wege der einstweiligen Anordnung anzuordnen: Der Vollzug der Ziffern 7 S. 1, 11 und 13 der Ausführungsbestimmungen des Sächsischen Landtages für den Ersatz von Aufwendungen, die den Mitgliedern des Sächsischen Landtages durch die Beschäftigung von Mitarbeitern entstehen, idF der Präsidiumssitzung vom 4. November 1999 ist bis zur Entscheidung über die Organstreitigkeit auszusetzen. Der Antragsgegner wird angewiesen, bis zur Entscheidung über die Organstreitigkeit den Ersatz von Aufwendungen für die Beschäftigung von Mitarbeitern nach § 6 Abs. 4 SächsAbgG ohne Einschränkungen zu gewähren.
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Zur Begründung tragen sie vor: Der in der Hauptsache gestellte Antrag sei zulässig. Der Rechtsweg zum Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen sei eröffnet. Es läge eine verfassungsrechtliche Streitigkeit vor, da im Streit die Frage stehe, ob die auf der Basis des geltenden Abgeordnetengesetzes vom Präsidium des Sächsischen Landtages mit Beschluß vom 4. November 1999 geänderten Ausführungsbestimmungen in verfassungsrechtlich unzulässiger Weise in die Rechte der Antragsteller aus Art. 39 Abs. 1 und 3 sowie Art. 42 Abs. 2 S. 1 und Abs. 3 S. 1 SachsVerf eingreifen. Der Antragsgegner sei passiv legitimiert. Der Antrag sei auch begründet Aus den verfassungsrechtlich garantierten Rechten des Abgeordneten und der Freiheit der Mandatsausübung ergäbe sich, daß dieser in der Entscheidung, welchen Mitarbeiter er beschäftigte, frei sei. In diese ausschließliche Entscheidungsbefugnis des Abgeordneten griffen die beanstandeten Regelungen der Ausführungsbestimmungen des Präsidiums in verfassungswidriger Weise ein. Mit dem Entzug der Aufwandsentschädigung werde für den betreffenden Abgeordneten ein mit dem freien Mandat unvereinbarer Druck ausgeübt, einen von ihm geschätzten und ggf. langjährig beschäftigten Mitarbeiter nach „fremdbestimmten" Eignungskriterien, die für ein privatrechtliches Beschäftigungsverhältnis nicht gelten könnten, zu kündigen. Die Durchführung der Ausfuhrungsbestimmungen würden den Abgeordneten, der von der Involvierung seiner Mitarbeiter gewußt habe, zu einem vertragswidrigen Verhalten nötigen, wenn er aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen sei, die Kündigung auszusprechen. Es verstoße auch gegen den Grundsatz der formalen Gleichstellung aller Abgeordneten, wenn Abgeordnete, die sich weigerten, eine „Persönliche Erklärung" ihrer Mitarbeiter beizubringen, gegenüber denen, die eine solche Erklärung freiwillig vorlegen, schlechter gestellt würden. Weder die Ausführungsbestimmungen noch die gesetzliche Regelung enthielten für die Prüfung der vom Landtag eingeholten Auskünfte eine Verfahrensregelung, die der verfassungsrechtlichen Stellung der Abgeordneten durch Mitwirkungs- und Prüfungsrechte ausreichend Rechnung trage. Ein öffentliches Bekannt werden etwaiger „Belastungen" von Mitarbeitern wirke mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf den betreffenden Abgeordneten zurück. Dem betroffenen Abgeordneten müßten deshalb Beteiligungsrechte am Verfahren eingeräumt werden, die nicht nur das rechtliche Gehör gewährleisten, sondern ihm auch gestatten, aktiv an der Herstellung des Beweisergebnisses mitzuwirken. Die fehlende verfahrensrechtliche Regelung betreffe den Abgeordnetenstatus in verfassungsrechtlich nicht hinnehmbarer Weise. Der Erlaß der einstweiligen Anordnung sei zur Abwehr schwerer Nachteile erforderlich. 3. Der Antragsgegner hält die Organklage für sachlich unbegründet. Die angegriffenen Ausführungsbestimmungen zu § 6 Abs. 4 SächsAbgG verletzten oder gefährdeten die Antragsteller nicht in ihren durch die Verfassung übertragenen Rechten oder Pflichten. § 6 Abs. 4 SächsAbgG sei eine tragfähige RechtsLVerfGE 11
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grundlage; die Regelung sei verfassungsrechtlich hinreichend präzisiert. Die Einholung von Auskünften beim BStU stelle für die Antragsteller keinen wesentlichen Rechtsnachteil dar. Die Frage, welche Rechtsfolgen aus den Auskünften gezogen würden, bedürfe der umfassenden Abwägung des Präsidiums, dessen Entscheidung einer uneingeschränkten Prüfung zugänglich sei. Für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung fehle der erforderliche Anordnungsgrund. II. Der gegen den Sächsischen Landtag gerichtete Antrag ist unzulässig. Die Streitigkeit um die angegriffenen, vom Präsidium des Sächsischen Landtages erlassenen Ausführungsbestimmungen zu § 6 Abs. 4 SächsAbgG betrifft nicht das verfassungsorganschaftliche Verhältnis zwischen den Antragstellern und dem Sächsischen Landtag und kann damit nicht Gegenstand eines Organstreites gem. Art. 81 Abs. 1 Nr. 1 SächsVerf iVm § 7 Nr. 1 SächsVerfGHG sein kann. Der Antrag richtet sich darüber hinaus nicht gegen den richtigen Antragsgegner. 1. Gegenstand des Verfahrens sind die durch Beschluß des Präsidiums des Sächsischen Landtages am 4. November 1999 geänderten Ausfiihrungsbestdmmungen zu § 6 Abs. 4 SächsAbgG. Dies ergibt sich aus dem Wordaut des Antrages. Danach begehren die Antragsteller die Feststellung, daß die Regelungen in Ziffer 7 S. 1, 11 und 13 der Ausführungsbestimmungen sie in ihren verfassungsmäßigen Rechten als Abgeordnete verletzen. Die Ausführungsbestimmungen werden damit ausdrücklich als Verfahrensgegenstand bezeichnet (§ 18 Abs. 1, Abs. 2, § 20 Abs. 1 SächsVerfGHG). Der Wordaut ist eindeutig. Dieser Verfahrensgegenstand ergibt sich auch aus der Begründung des Antrages, die zur Feststellung des mit dem Antrag verfolgten prozessualen Begehrens zu berücksichtigen ist (vgl. BVerfGE 68,1, 68). Die Antragsteller haben in der Begründung ihres Antrages mehrmals ausgeführt, daß ausschließlich die durch Präsidiumsbeschluß vom 4. November 1999 geänderten Ausfuhrungsbestimmungen Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Uberprüfung sind. Seite 13 der Antragsschrift: „Im Streit steht die Frage, ob die auf der Basis des geltenden Abgeordnetengesetzes erlassenen Ausfuhrungsbestimmungen (...) in verfassungsrechtlich unzulässiger Weise in die Rechte der Antragsteller (...) eingreifen." Seite 14 der Antragsschrift: „Als die die Antragsteller in ihren Rechten beeinträchtigende Maßnahme ist der Beschluß des Landtagspräsidiums vom 04.11.1999 und der damit im Zusammenhang stehende Erlaß der Ausfuhrungsbestimmungen (...), idF der Präsidiumssitzung vom 4.11.1999 anzusehen.
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Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen Zwar schreibt die Bestimmung des § 6 Abs. 4 (...) vor, daß ersatz fähig nur Aufwendungen für die Beschäftigung von Mitarbeitern sind, die die „Persönliche Erklärung" an das Präsidium abgegeben haben (...). Wie unter I. dargelegt, hat diese Bestimmung bisher jedoch aus den verschiedensten Gründen keine Umsetzung erfahren. Zudem hat der Gesetzgeber die Leistung von Aufwendungsersatz für die Beschäftigung von Mitarbeitern an die Maßgaben des Haushaltsgesetzes und die vom Präsidium zu erlassenden Ausfuhrungsbestimmungen gebunden." Seite 17 der Antragsschrift: „In diese ausschließliche Entscheidungsbefugnis der Abgeordneten über die Auswahl und den Einsatz ihrer Mitarbeiter greifen die mit dem Antrag der Antragsteller angegriffenen Regelungen der Ausfuhrungsbestimmungen des Präsidiums des Sächsischen Landtages idF vom 4.11.1999 auf der Grundlage des geltenden § 6 Abs. 4 S. 2 SächsAbgG ein." Seite 19 der Antragsschrift: „Zur Uberzeugung der Antragsteller verletzen die (...) Ausführungsbestimmungen (...) in Verbindung mit § 6 Abs. 4 SächsAbgG nicht nur die Rechte der Antragsteller aus dem freien Mandat (...)." Seite 21 der Antragsschrift: „Die angegriffenen Regelungen (...) der Ausführungsbestimmungen (...) verletzen die Antragsteller schließlich in ihren Rechten aus (...)."
Daß die Antragsteller mit den Formulierungen „auf der Grundlage" und „in Verbindung" § 6 Abs. 4 SächsAbgG in ihre Argumentation einbeziehen, rechtfertigt es nicht, § 6 Abs. 4 SächsAbgG als selbständigen Angriffsgegenstand anzusehen. Die Antragsteller haben damit die Ausfuhrungsbestimmungen lediglich in den gesetzlichen Kontext gebracht, zugleich aber — in Abgrenzung zur gesetzlichen Regelung — klargestellt, daß sie allein die Ausfuhrungsbestimmungen zum Gegenstand des Verfahrens machen wollen (Seite 14 der Antragsschrift). An diese ausdrückliche Festlegung ist der Verfassungsgerichtshof gebunden. 2. Die angegriffenen, vom Präsidium des Sächsischen Landtages erlassenen Ausfïihrungsbestimmungen zu § 6 Abs. 4 SächsAbgG können nicht Gegenstand eines Organstreites zwischen den Antragstellern und dem Sächsischen Landtag sein (Art. 81 Abs. 1 Nr. 1 SächsVerf iVm § 7 Nr. 1 SachsVerfGHG). Das verfassungsorganschaftliche Verhältnis setzt voraus, daß es bei dem Streit der Beteiligten um Rechte und Pflichten geht, die sich unmittelbar aus der Sächsischen Verfassung ergeben (vgl. BVerfGE 27, 152, 157). Daran fehlt es im vorliegenden Organstreitverfahren. Streitgegenstand ist nicht die rechtliche Ausgestaltung des verfassungsrechtlichen Status des Abgeordneten durch das SächsAbgG, sondern der bloße Vollzug der Regelungen in § 6 Abs. 4 SächsAbgG über den Aufwendungsersatz von Mitarbeitern der Abgeordneten durch die Ausführungsbestimmungen des Präsidiums des SächLVerfGE 11
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sischen Landtages vom 4. November 1999. Ziffer 7 S. 1, Ziffer 11 und Ziffer 13 der Ausfiihrungsbestimmungen enthalten keine Regelung, die über die in § 6 Abs. 4 SächsAbgG getroffene Ausgestaltung des Status der Abgeordneten hinausgeht oder diesen in verfassungsrechtlich relevanter Weise verändert. a) Soweit Ziffer 7 S. 1 der Ausfiihrungsbestimmungen die Erstattungsfähigkeit der Aufwendungen von der Abgabe einer „Persönlichen Erklärung" iSd Anlage I des Sächsischen Abgeordnetengesetzes abhängig macht, ergibt sich diese Konsequenz bereits aus § 6 Abs. 4 S. 2 Nr. 1 SächsAbgG. Ein eigenständiger Regelungscharakter kommt der Bestimmung auch nicht unter dem Gesichtspunkt zu, daß die gesetzliche Regelung bislang keine Umsetzung erfuhr. b) Auch das in Ziffer 11 der Ausfuhrungsbestimmungen geregelte Überprüfungsverfahren betrifft den Status des Abgeordneten nicht in einer über die Vorschriften des Abgeordnetengesetzes hinausgehenden, dessen verfassungsrechtlichen Status verändernden Weise. Soweit hier eine Uberprüfung der in der „Persönlichen Erklärung" gemachten Angaben vorgesehen ist, ergibt sich dies bereits aus der Anlage I des SächsAbgG. c) Die in Ziffer 13 der Ausfuhrungsbestimmungen vorgesehene Ubergangsregelung stellt ebenfalls keine unmittelbar den Status des Abgeordneten betreffende Regelung dar. Ihre Notwendigkeit ergibt sich aus dem Vollzug des Sächsischen Abgeordnetengesetzes. Es kann deshalb dahingestellt bleiben, ob dem Präsidium des Sächsischen Landtages durch § 6 Abs. 4 S. 1 SächsAbgG die Kompetenz eingeräumt wurde und werden durfte, den verfassungsrechtlichen Status des Abgeordneten auszugestalten. 3. Der Antrag richtet sich auch nicht gegen den richtigen Antragsgegner. Der Sächsische Landtag hat die beanstandeten Ausfuhrungsbestimmungen nicht erlassen; ihm ist das Handeln des Präsidiums des Sächsischen Landtages auch nicht als eigenes zuzurechnen. Es besteht deshalb nicht die Möglichkeit, daß der Sächsische Landtag Rechte der Antragsteller verletzt oder unmittelbar gefährdet hat (§18 Abs. 1 SächsVerfGHG). III. Damit hat sich der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung erledigt. IV. Der Verfassungsgerichtshof ist zu dieser Entscheidung einstimmig gelangt und trifft sie daher durch Beschluß nach § 10 SächsVerfGHG iVm § 24 BVerfGG. V Die Entscheidung ist kostenfrei (§16 Abs. 1 S. 1 SächsVerfGHG). LVerfGE 11
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Nr. 3 1. Bei der Freigabe eines Gemeindegebietes zur Devastíerung bei gleichzeitig abgeschlossener Umsiedlung der Selbstverwaltungskörperschaft in eine andere Ortslage handelt es sich um einen Eingriff in die kommunale Selbstverwaltung, der an den Maßstäben des Art. 88 SächsVerf zu messen ist. 2. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Anhörung nach Art. 88 Abs. 2 S. 3 SächsVerf sind nicht erfüllt, wenn der spätere Gesetzentwurf in seinem normativen Regelungsgehalt erheblich vom Anhörungsentwurf abweicht oder keine hinreichende Klarheit über die Ziele und Mittel des Gesetzgebers besteht. 3. Die Entscheidung des Gesetzgebers nach Art. 88 Abs. 2 SächsVerf, das Gebiet einer Gemeinde aus energiepolitischen Gründen in Anspruch zu nehmen, ist verfassungsrechtlich nur zu beanstanden, wenn im Rahmen der dem Gesetzgeber zustehenden Einschätzungsprärogative nicht alle mit vertretbarem Aufwand zugänglichen Entscheidungsgrundlagen ausgeschöpft worden sind, unvertretbare tatsächliche Annahmen zur Grundlage gemacht wurden, in der Anwendung der Methoden Fehler gemacht worden sind oder die Prognose sonst eindeutig fehlerhaft ist. Verfassung des Freistaates Sachsen Art. 88 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 und Satz 3, 90 Gesetz über den Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen § 10 Abs. 1 Heuersdorfgesetz §§1,2 Gesetz über das Bundesverfassungsgericht § 35 Urteil vom 14. Juli 2000 - Vf. 40-VIII-98 in dem Verfahren der Normenkontrolle auf kommunalen Antrag der Gemeinde Heuersdorf, vertreten durch den Bürgermeister Verfahrensbevollmächtigte: Rechtsanwälte B. Entscheidungsformel: I. 1. Das Heuersdorfgesetz vom 8. April 1998 (GVB11998, S. 150 ff) ist mit Art. 88 Abs. 1, 2 SächsVerf unvereinbar und nichtig. 2. Der Antragstellerin sind die notwendigen Auslagen zu erstatten.
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Heuersdorf-Gesetz
II. Gem. § 10 Abs. 1 SächsVerfGHG iVm § 35 BVerfGG wird angeordnet: 1. Die Gemeinde Heuersdorf wird bis zum 30. September 2000 durch die Stadt Regis-Breitingen verwaltet. 2. Die Stadt Regis-Breitingen und der Freistaat Sachsen werden verpflichtet, bis zum 30. September 2000 keine aufschiebbaren Entscheidungen oder Maßnahmen zu treffen, die der Gemeinde Heuersdorf die Wiederherstellung ihrer Selbständigkeit unzumutbar erschwerten oder ihr nicht wiedergutzumachende Nachteile einbrächten. 3. Vom 1. Oktober 2000 bis zur Durchführung von Neuwahlen führt der Ortschaftsrat Heuersdorf die Geschäfte des Gemeinderats von Heuersdorf, längstens bis zum 31. Dezember 2001. 4. Vom 1. Oktober 2000 bis zur Durchführung von Neuwahlen führt der Ortsvorsteher des Ortschaftsrates Heuersdorf die Geschäfte des Bürgermeisters von Heuersdorf, längstens bis zum 31. Dezember 2001. 5. Die Wirksamkeit der in der Zeit vom 1. Januar 1999 bis zum 30. September 2000 ergangenen oder noch ergehenden Rechtshandlungen der Stadt Regis-Breitingen betreffend die Gemeinde Heuersdorf wird von der Nichtigkeit des Heuersdorfgesetzes nicht berührt. Gründe: I. Die Antragstellerin, die im Landkreis Leipziger Land gelegene Gemeinde Heuersdorf, wendet sich mit ihrem Antrag auf kommunale Normenkontrolle gegen die § § 1 , 2 Heuersdorfgesetz (GVB1 1998, S. 150 ff) und gegen das gesamte Gesetz, mit dem die Inanspruchnahme des Gebietes der Gemeinde Heuersdorf zum Zwecke der Rohstoffund Energieversorgung (Braunkohleabbau) ermöglicht wird und die Gemeinde zudem in die Stadt Regis-Breitingen eingegliedert wird. 1. Die Gemeinde Heuersdorf hat 303 Einwohner (Stand: 31. März 1997). Ihr Gebiet grenzt im Süden an die Gemeinde Ramsdorf, im Südosten an die Stadt RegisBreitingen, im Osten an die Gemeinde Deutzen, im Norden an die Gemeinde Neukieritzsch und im Westen an die Stadt Groitzsch. Sie gehört einer Verwaltungsgemeinschaft mit der erfüllenden Stadt Regis-Breitingen an. Das Gemeindegebiet liegt im Abbaubereich des Braunkohletagebaus „Vereinigtes Schleenhain", der 1949 aufgeschlossen wurde. Der Regionale Planungsverband Westsachsen hat am 18. August 1995 den Braunkohleplan „Vereinigtes Schleenhain" als Satzung festgestellt. Dieser weist u. a. die Fläche der Antragstellerin als Abbaugebiet für die dort lagernden BraunLVerfGE 11
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kohlevorräte aus. Ab 1999 soll der Braunkohleabbau im Abbaufeld Schleenhain weitergeführt werden, im Jahre 2005 soll der erste Abraumschnitt etwa 300 Meter vor der Ortslage von Heuersdorf zum Stehen kommen. Bis dahin soll nach Vorstellung des Braunkohleplans die Umsiedlung der Ortslage Heuersdorf abgeschlossen sein, die dann voraussichtlich 2010 teilweise und 2015 vollständig überbaggert werden soll. Begünstigter ist als Nutzungsberechtigter die Mitteldeutsche Braunkohlengesellschaft mbH (MIBRAG). Der Braunkohlenabbau soll der Versorgung des Kraftwerkes Lippendorf dienen, das von der Vereinigten Energiewerke AG (VEAG) aufgrund einer Bau- und Betriebsgenehmigung vom 2. Oktober 1995 errichtet wird und über zwei Blöcke mit jeweils 800 MW-Leistung verfügen wird, die im Juni 2000 in Betrieb genommen werden sollen. 1.1 Die Sächsische Staatsregierung hatte sich in den „Leitlinien der Staatsregierung zur künftigen Braunkohlepolitik in Sachsen" vom 2. Juni 1992 und im „Energieprogramm Sachsen" vom 6. April 1993 zur Fortführung eines subventionsfreien Braunkohlebaus und zur Kon2entration auf wenige Tagebaue sowie zur Auslösung von Investitionen im Tagebau- und Kraftwerksbereich und zum Erhalt von Arbeitsplätzen sowie einer fiktiven Altlastensanierung bekannt. Diese Zielvorgaben sind Teil des Landesentwicklungsplanes. In diesem wurde ein Vorrang des langfristigen Braunkohlebergbaus (Ziel 8.3.3. iVm Karte 7.1.) aufgenommen, dem das Gebiet des Tagebaus „Vereinigtes Schleenhain" angehört. In Ziel 9.1. des Entwicklungsplanes ist die Neuerrichtung des Kraftwerkes Lippendorf mit zweimal 800 MW-Leistung vorgesehen. Am 15. März 1994 faßte die Sächsische Staatsregierung den Beschluß, Braunkohle im Südraum Leipzig über einen Zeitraum von 40 Jahren abzubauen. Zugleich wurde die Notwendigkeit einer Absiedlung von Heuersdorf bekräftigt. Hintergrund dieses Beschlusses war die Feststellung des Braunkohleausschusses des Regionalen Planungsverbandes Westsachsen, daß er sich gehindert sehe, eine Empfehlung für die Inanspruchnahme der Ortslage Heuersdorf auszusprechen, wenn eine eindeutige Aussage der Staatsregierung über die Notwendigkeit der Inanspruchnahme des Gemeindegebietes und ein öffentlich-rechtlicher Vertrag mit einem Umsiedlungsangebot für Heuersdorf nicht vorliege. Mit dieser Begründung hatte sich der Braunkohleausschuß zuvor für eine Umfahrung der Ortslage Heuersdorf ausgesprochen. Nach dem Kabinettsbeschluß sprach sich der Braunkohleausschuß 1995 dann für die Inanspruchnahme der Ortslage Heuersdorf aus. Am 19. Juni 1995 schlossen der Freistaat Sachsen und die MIBRAG den „Heuersdorf'-Vertrag, der die Modalitäten für eine Umsiedlung der Gemeinde Heuersdorf regelt und insbesondere die Verpflichtung der MIBRAG zur Übernahme der umsiedlungsbedingten Kosten sowie Entschädigungsleistungen für die betroffenen Einwohner vorsieht. Der Vertrag enthält eine Drittbegünstigungsklausel, wonach sich die Einwohner von Heuersdorf unabhängig davon, ob die Gemeinde Heuersdorf dem Vertrag beitritt, auf den Vertrag berufen können. LVerfGE 11
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1.2 Am 7. Februar 1997 legte die Staatsregierung den ersten Referentenentwurf eines „Heuersdorfgesetzes" vor, den das Kabinett am 18. Februar 1997 zur Anhörung freigab. 1.2.1 Der Anhörungsentwurf lautete u. a. wie folgt: §1 Eingliederung Die Gemeinde Heuersdorf, Landkreis Leipziger Land, wird in die Stadt Regis-Breitingen, Landkreis Leipziger Land, eingegliedert. §2
Rechtsnachfolge Die Stadt Regis-Breitingen ist Rechtsnachfolgerin der Gemeinde Heuersdorf. §3 Einwohner und Bürger Die Bürger und Einwohner der Gemeinde Heuersdorf werden mit der Eingliederung in die Stadt Regis-Breitingen deren Bürger und Einwohner. Die Wohn- und Aufenthaltsdauer in der Gemeinde Heuersdorf wird auf die Wohn- und Aufenthaltsdauer in der Stadt Regis-Breitingen angerechnet. §4 Fortgeltung des Ortsrechts Das Ortsrecht der Gemeinde Heuersdorf gilt fort, bis es durch neues Ortsrecht ersetzt ist oder aus anderen Gründen außer Kraft tritt. §6
Ortschaftsverfassung (1) In der nach § 1 einzugliedernden Gemeinde ist die Ortschaftsverfassung einzuführen. Die Hauptsatzung der Stadt Regis-Breitingen ist entsprechend zu ändern. (2) Für die Dauer der laufenden Wahlperiode bilden die Gemeinderäte der nach § 1 einzugliedernden Gemeinde die Ortschaftsräte. (3) Die Gemeinderäte der nach § 1 einzugliedernden Gemeinde können beschließen, daß dem Bürgermeister mit Wirksamwerden der Gebietsänderung bis zum Ablauf seiner Amtszeit des Amt des Ortsvorstehers übertragen wird. Mit der Übertragung des Amtes ist er stimmberechtigtes Mitglied des Ortschaftsrates. Endet die Amtszeit nach Satz 1 während der Wahlperiode des Ortschaftsrates, kann der Ortschaftsrat den Amtsinhaber für die verbleibende Wahlperiode als Ortsvorsteher wiederwählen. Die Wiederwahl findet frühestens zwei Monate vor Ablauf der Amtszeit, spätestens am Tage vor Ablauf der Amtszeit statt. In diesem Falle bleibt der Ortsvorsteher stimmberechtigtes Mitglied des Ortschaftsrates. Er ist zum Ehrenbeamten auf Zeit zu ernennen.
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Der Entwurf enthielt weitere auf die Neugliederung bezogene Vorschriften zum Übergang und zur Abwicklung. 1.2.2 Hinsichtlich der gebietlichen Zuordnung war in dem Anhörungsentwurf ausgeführt, daß wesentlicher Gesichtspunkt für die Auswahl des Umsiedlungsstandortes die Sicherung des Gemeindegebiets von Heuersdorf als Standort für den Braunkohletagebau sein und zudem die Zuordnung mit den Gesichtspunkten der Raumordnung vereinbar sein müsse und den Zielen der gleichzeitig erfolgenden Gemeindegebietsreform nicht zuwider laufen dürfe. Die gegebene Begründung befaßte sich ausführlich mit den möglichen Umsiedlungsstandorten, von denen RegisBreitingen dann als geeigneter Standort ausgewiesen wurde. Im übrigen ist ausgeführt: „Die Stadt Regis-Breitingen übernimmt als zentraler Ort schon jetzt wichtige Funktionen im Rahmen der Grund- und qualifizierten Grundversorgung für die Gemeinde Heuersdorf. Die Erfüllung der öffentlichen Aufgaben wird durch eine zwischen Regis-Breitingen und Heuersdorf bestehenden Verwaltungsgemeinschaft gewährleistet. Wie die Gemeinde Heuersdorf hat auch die Stadt Regis-Breitingen in den letzten Jahren einen deutlichen Rückgang ihrer Einwohnerzahl zu verzeichnen, so daß die nach dem Landesentwicklungsplan für zentrale Orte angestrebte Mindestgröße von 5000 Einwohnern nicht erreicht wird. Durch die Eingliederung und Neuansiedlung von Heuersdorf wird damit sogleich eine Stärkung des zentralen Ortes Regis-Breitingen erreicht. Gegen eine Ansiedlung der neuen Ortslage auf der Gemarkung Heuersdorf spricht, daß die neue Ortslage auf einer erst 25 Jahre alten ehemaligen Abbaufläche des Tagesbaues Haselbach entstehen müßte. Die Kippenfläche befindet sich nur in geringer Entfernung vom neuen Abbaugebiet. Hierdurch wären die Bewohner erheblichen Einflüssen, insbesondere durch Tagebauemissionen, ausgesetzt. Aus gebietsreformerischer Sicht ist Heuersdorf mit 298 Einwohnern (Stand 30.6.1996) zu klein, um künftig selbstständig zu bleiben. Nach den Grundsätzen für die kommunale Zielplanung im Freistaat Sachsen sollen örtliche Verwaltungseinheiten aus Gründen der Tragfähigkeit und Wirtschaftlichkeit möglichst zwischen 5 000 und 8 000 Einwohner haben. Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht aus der Tatsache, daß Heuersdorf eine Verwaltungsgemeinschaft mit Regis-Breitingen eingegangen ist. Mitgliedsgemeinden einer Verwaltungsgemeinschaft sollen künftig eine Mindestgröße besitzen, die nicht unter 1000 Einwohnern liegt. Für die Bevölkerung würde es außerdem eine Doppelbelastung darstellen, wenn die neugebildete Gemeinde im Zuge der Gemeindegebietsreform erneut aufgelöst und in eine andere Gemeinde eingegliedert würde. Bei einer Eingliederung von Heuersdorf nach Borna (3 572 ha, 21 606 Einwohner, Stand: 30.6.1996) besteht die Besonderheit, daß das an den Standort für NeuHeuersdorf angrenzende Gebiet für eine intensive Nutzung als Erholungsgebiet vorgesehen ist. Im Entwurf des Flächennutzungsplanes für die Stadt Borna würde der Standort daher als Sondergebiet ausgewiesen werden. Für die Ausweisung eines Wohngebietes wurde keine raumordnerische Zustimmung gegeben. Hinzu kommt, daß sich für Heuersdorf völlig neue Rahmenbedingungen ergäben. Auf Grund der völlig veränderten Verflechtungsbeziehungen müßte das bisherige Lebensumfeld
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aufgegeben werden. Sowohl hinsichtlich der Bildungs-, Kultur- und Freizeiteinrichtungen als auch der sozialen Einrichtungen müßte eine Neuorientierung erfolgen. Aus der Verwaltungsgemeinschaft mit Regis-Breitingen müßte die Gemeinde Heuersdorf austreten." Eine weitere Auseinandersetzung mit Alternativen zur gebietlichen Neugliederung, insbesondere zu einer möglichen Eingliederung nach Deutzen — wie sie von der Gemeinde Heuersdorf bevorzugt wurde und auch in der vorhergehenden Diskussion mit dem Staatsministerium des Innern im Gespräch war — findet sich in der Begründung nicht. 1.2.3 Die Anhörung der Antragstellerin zum Referentenentwurf des Heuersdorfgesetzes fand vom 27. Februar bis zum 2. Juni 1997, die der betroffenen Einwohner vom 25. März bis zum 28. April 1997 statt. Die Anhörung der Nachbargemeinden des Landkreises und der sonstigen Träger der öffentlichen Belange erfolgte ebenfalls. Die Antragstellerin lehnte ihre Eingliederung ab und machte zur Begründung im Wesentlichen geltend, diese sei aus gebietsreformerischen Gründen nicht geboten und mißachte den Willen der Gemeinden Heuersdorf, Deutzen und Ramsdorf, sich langfristig zusammenzuschließen. Der Abbau der unter Heuersdorf lagernden Kohle sei weder wirtschaftlich noch aus sonstigen Gründen des Allgemeinwohls geboten. Die Annahmen zu Wirtschaftswachstum und Stromnachfrage seien unzutreffend. Uber eine Umsiedlung dürfe erst entschieden werden, wenn der Abbau von Braunkohle unter dem Ort unmittelbar bevorstehe. 1.3 Die Sächsische Staatsregierung brachte das Heuersdorfgesetz als Entwurf am 5. November 1997 in den Sächsischen Landtag ein (Drs. 2/7268), der in Text wie Begründung gegenüber dem Anhörungsentwurf geändert war. 1.3.1 Mit dem Gesetz sollte zum einen die rechtliche Voraussetzung für die Inanspruchnahme des Gebietes der Gemeinde Heuersdorf für die Zwecke der Rohstoffland Energieversorgung geschaffen werden, zum anderen sollte die gebietliche Neuordnung in diesem Verwaltungsraum durchgeführt werden. Der am 8. September 1998 für verbindlich erklärte Braunkohlenplan „Vereinigtes Schleenhain" weist unter anderem die Fläche der Gemeinde Heuersdorf als Abbaugebiet für die dort lagernden Braunkohlevorräte von ca. 48,8 Miot. aus. Das Gesetz sollte die Grundlage für die Inanspruchnahme schaffen und zugleich den Bürgern rechtzeitig Sicherheit über die künftige Entwicklung des Ortes geben. 1.3.2 In der Begründung zum Entwurf der Staatsregierung des Heuersdorfgesetzes ist im Hinblick auf die Notwendigkeit der Inanspruchnahme der Ortslage Heuersdorf für die Zwecke des Braunkohlenabbaus ausgeführt: 1.3.2.1 „Grundanliegen des Gesetzes zur Förderung der Energiewirtschaft (Energiewirtschaftsgesetz - EnWG) vom 13.12.1935 (BLGB1. III, 725-1), zuletzt geändert durch
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Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen Art. 3 Gesetz zur Änderung energierechtlicher Vorschriften vom 19.12.1977 (BGBl. I, 2750), ist die Gewährleistung einer möglichst sicheren, preiswürdigen sowie umweltund ressourcenschonenden Energieversorgung durch die Energieversorgungsunternehmen. Dieses Gesetzesziel läßt sich insbesondere aus der Präambel sowie den §§ 4, 5 und 7 EnWG iVm § 1 Bundestarifordnung Elektrizität (BTO Elt) entnehmen. Auch der anstehenden Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts liegt dieses Gesetzesziel, nämlich die sichere, preiswürdige sowie umweit- und ressourcenschonende Energieversorgung, zugrunde. In den neuen Bundesländern hat u. a. die Vereinigte Energiewerke AG (VEAG) als Verbundunternehmen die flächendeckende Stromversorgung im Sinne des EnWG zu gewährleisten. Einen wesentlichen Beitrag zur Stromversorgung — insbesondere im Grundlastbereich — leistet die subventionsfreie, wettbewerbsfähige Braunkohle der ostdeutschen Reviere. Die Sächsische Staatsregierung hat Aussagen zur Nutzung der heimischen Braunkohle u. a. in den „Leitlinien der Staatsregierung zur künftigen Braunkohlenpolitik in Sachsen" vom Juli 1992 und im „Energieprogramm Sachsen" vom April 1993 getroffen. Diese Aussagen fanden auch Eingang in den „Landesentwicklungsplan Sachsen", der am 16.8.1994 nach Zustimmung des Landtages in Kraft getreten ist. Danach soll der Braunkohlenbergbau sowohl in der Lausitz als auch im Mitteldeutschen Revier langfristig fortgeführt werden. Grundlage dieser politischen Entscheidung der Staatsregierung ist die Erkenntnis, daß eine preiswerte und sichere Energieversorgung nur auf der Basis eines ausgewogenen Energiemixes gewährleistet werden kann. Heimische, wettbewerbsfähige, subventionsfreie Braunkohle ist ein unverzichtbarer Bestandteil eines solchen Energiemixes. Das Haupteinsatzfeld für die Braunkohle ist ihre Verstromung in neu errichteten bzw. ertüchtigten Kraftwerken. Dazu hat die Sächsische Staatsregierung in den Leitlinien, im Energieprogramm und im Landesentwicklungsplan die politische Grundsatzentscheidung zum Bau von jeweils zwei Kraftwerksblöcken der 800-MW-Leistungsklasse an den Standorten Lippendorf und Boxberg getroffen. Welche Kraftwerkskapazitäten zur Erzeugung der bedarfsgerechten Strommenge vorhanden sein bzw. neu gebaut werden müssen, hat dabei das Energieversorgungsunternehmen - in diesem Fall die VEAG - zu entscheiden. Braunkohlenkraftwerke haben eine Betriebsdauer von 40 Jahren (Planungshorizont) und erfordern Investitionen in Milliardenhöhe. Den Entscheidungen zum Bau von Kraftwerken liegen daher langfristige Planungen zugrunde, die wiederum u.a. auf Strombedarfsprognosen und daraus ableitbaren Absatzchancen der Unternehmen basieren. Die Strombedarfsprognose ist von daher ein wesentlicher Bestandteil der unternehmerischen Investitionsentscheidung, die von der Energieaufsichtsbehörde nach § 4 Abs. 2 Satz 2 EnWG zu kontrollieren ist. Dort heißt es, daß Vorhaben der Energieversorgungsunternehmen nur dann untersagt werden dürfen, „wenn Gründe des Gemeinwohls es erfordern". Dieses Tatbestandsmerkmal ist nach dem Gesetzeszweck des Energiewirtschaftsgesetzes dahingehend auszulegen, daß eine Untersagung nur gerechtfertigt ist, wenn das angezeigte Vorhaben die sichere und preisgünstige Energieversorgung gefährdet. Im übrigen trägt das Energieversorgungsunternehmen prinzipiell die Verantwortung für die Sicherheit und Preiswürdigkeit der Versorgung. Damit räumt das Energiewirtschaftsgesetz dem investierenden
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Energieversorgungsunternehmen einen Prognosespielraum ein. Das bedeutet, daß die Energieaufsichtsbehörde die Prognose nur auf ihre Plausibilität überprüfen und diese bei offensichtlichen Mängeln (ζ. B. falsche Ausgangsdaten, gänzlich unvertretbare Annahmen) verwerfen kann. Eine offensichtlich mangelhafte Strombedarfsprognose liegt der Entscheidung zur Neuerrichtung des Kraftwerkes Lippendorf jedoch nicht zugrunde. Bei einer Liberalisierung der Strommärkte ist nach dem derzeitigen Stand des Gesetzgebungsverfahrens eine staatliche Investitionskontrolle nicht mehr vorgesehen. In den Jahren 1991 und 1992 wurde zur Abschätzung des Stromverbrauchs in den neuen Bundesländern u.a. im Auftrag der Bundesregierung und der VEAG eine Vielzahl von Bedarfsprognosen von renommierten Gutachtern (McKinsey 1991, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) 1991, Prognos AG 1991, IEAL Energie Consult GmbH 1992) erstellt. Auf der Grundlage dieser Prognosen wurde, forciert durch die Regelungen des Bundes-Immissionsschutzgesetzes, das Konzept der VEAG zum Neubau und zur Ertüchtigung von Braunkohlekraftwerken erarbeitet. Bestandteil dieses Konzeptes ist u.a. die Errichtung von zwei Kraftwerksblöcken der 800-MW-Leistungsklasse am Standort Lippendorf im Südraum von Leipzig. Davon wird der 1. Block von der sogenannten Südpartnergruppe (Bayernwerk AG, Energieversorgung Schwaben AG, Badenwerk AG) und der 2. Block von der VEAG errichtet. Der 1. Block wird zur Versorgung Südwestdeutschlands, der 2. Block zur Versorgung der neuen Bundesländer dienen. Unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Wirtschaftsentwicklung aktualisierte die VEAG 1996 ihre Prognosen zur Strombedarfsentwicklung in den neuen Bundesländern. Ubereinstimmend mit namhaften Wirtschaftsinstituten (Prognos AG 1995, Energiewirtschaftliches Institut der Universität Köln 1995) wird danach ab dem Jahr 1996 ein gegenüber dem ursprünglichen Prognosen geringerer, aber — übereinstimmend mit diesen — stetig steigender Strombedarf vorausgesagt. Der für das Jahr 2010 prognostizierte Wert liegt danach zwischen 90 und 100 TWh (Terrawattstunden). Für Gesamtdeutschland geht die Prognos AG in ihrem Gutachten aus dem Jahr 1995 von einem Zuwachs des Bruttostromverbrauches bis zum Jahr 2020 von 23 % aus. Um diesen Strombedarf abdecken zu können, wird ein Nettozubau an Kraftwerkskapazität in Deutschland von ca. 13 500 MW benötigt. Dadurch ist auch der sichere Stromabsatz des sogenannten Südpartnerblocks im Kraftwerk Lippendorf gewährleistet. Die Ergebnisse der o.g. Prognosen hat sich die Staatsregierung in den wesentlichen Grundaussagen und Annahmen zu eigen gemacht. Unter diesen Bedingungen ist für die neu zu bauenden Braunkohlenkraftwerke der VEAG und damit auch für Lippendorf ein durchgängiger Grundlastbetrieb mit mehr als 7 000 Vollbenutzungsstunden pro Jahr möglich. Im Rahmen des Anhörungsverfahrens zum Brandenburgischen Braunkohlengrundlagengesetz (sogenanntes „Hornogesetz") wurde durch das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH (WI) 1996 eine Strombedarfsprognose für die neuen Bundesländer vorgelegt. In dieser Prognose wird abweichend von den bisher zitierten höheren Prognosen ein Bedarf von 80 TWh im Jahr 2010 angenommen. Zusätzlich dazu haben verschiedenen Autoren (Herr Matthes vom Institut für angewandte Öko-
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Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen logie, Herr Dr. Ziesing vom DIW und Herr Dr. Jochem vom Fraunhofer Institut fur Systemtechnik) schriftliche Stellungnahmen im Anhörungsverfahren abgegeben, in denen ebenfalls von einem geringeren Bedarf als in den höheren Strombedarfsprognosen ausgegangen wird. Auf die Strombedarfsprognose des WI und die genannten schriftlichen Stellungnahmen wurde im Rahmen der Anhörung zu diesem Gesetzesentwurf Bezug genommen. Als ein wesentlicher Einwand gegen den Gesetzesentwurf wurde geltend gemacht, daß der Strombedarf in den neuen Bundesländern danach eine Inanspruchnahme Heuersdorfs nicht rechtfertige. Unabhängig davon, daß Prognosen generell mit Unsicherheiten behaftet sind, geht die sächsische Staatsregierung von den höheren Strombedarfsprognosen aus. Diese basieren auf einer positiveren wirtschaftlichen Entwicklung, als sie vom WI unterstellt wird und werden damit langfristigen Perspektiven und Zielen, flankiert durch wirtschaftspolitische Aktivitäten, gerecht. Die derzeitigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, wie z. B. die moderate Entwicklung von Preisen, Kosten und Zinsen sowie die nach wie vor hohe Investitionstätigkeit, sind günstige Voraussetzungen für ein kräftiges Wirtschaftswachstum und eine entsprechende Strombedarfsentwicklung in den kommenden Jahren. Selbst für den Fall, daß die Prognose des WI der Kraftwerksplanung zugrunde gelegt wird, ergeben sich bei der Anpassung des Kraftwerks-Zubauprogrammes (Boxberg IV, 2. Block) und entsprechendem Lastmanagement für das Kraftwerk Koppendorf immer noch Einsatzzeiten von ca. 7 000 Vollaststunden pro Jahr. Das Kraftwerk Lippendorf hat mit 42 % den höchsten Wirkungsgrad aller Braunkohlenkraftwerke und wird daher aus wirtschaftlichen Gründen von den Unternehmen mit erster Priorität, d. h. beispielsweise vor den nachgerüsteten und den übrigen neugebauten Kraftwerken, eingesetzt. Dieses wird auch durch die Ergebnisse der Studie des Instituts für Energetik und Umwelt (IFE) Leipzig („Die Energiewirtschaft Ostdeutschlands - Stand und Entwicklung") bestätigt, die Anfang September 1997 veröffentlicht wurde. Danach wird für die neuen Bundesländer (einschließlich Berlin-West) für das Jahr 2010 ein Strombedarf zwischen 87,6 und 99,3 TWh vorausgesagt. Das IFE prognostiziert unterschiedliche Entwicklungslinien, die einen Entwicklungskorridor definieren und kommt zu dem Ergebnis, daß auch bei einem geringen Strombedarf von 87,6 TWh das Kraftwerk Lippendorf im Grundlastbetrieb eingesetzt wird. Demgegenüber bedeutet der Verzicht auf die unter der Ortslage Heuersdorf lagernde Kohle einen durchschnittlichen jährlichen Vollastbetrieb des Kraftwerkes Lippendorf von weniger als 5 900 Stunden. Der damit verbundene Mittellastbetrieb der Anlagen ist unwirtschaftlich und aus betriebs- und volkswirtschaftlicher Sicht nicht vertretbar. Mit der Errichtung des zweiten Blockes des Kraftwerkes Lippendorf soll nicht ein Zubau an Kraftwerkskapazität im Freistaat Sachsen, sondern ein partieller Ersatzneubau erfolgen. Der Ersatzneubau ist erforderlich, weil Altanlagen mit einer Leistung von ca. 5 043 MW netto (Boxberg, Hagenwerder, Thierbach, Lippendorf-alt u. a.) vor allem aus Immissionsschutzgründen bereits stillgelegt wurden bzw. in den nächsten Jahren stillzulegen sind. Diesen Stillegungen steht eine Neubau-Kapazität der VEAG von maximal ca. 2 565 MW netto (zweimal 850 MW in Boxberg, einmal 865 MW in Lippendorf) gegenüber.
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Ein Verzicht auf die Kapazität des Neubau-Kraftwerkes Lippendorf und die Erzeugung der entsprechenden Energiemenge durch die Nutzung erneuerbarer Energien ist aus technologischen und wirtschaftlichen Gründen nicht realistisch. Nach dem derzeitigen technologischen Stand wären dazu Investitionen nötig, die die geplanten Kraftwerksinvestitionen um ein Mehrfaches übersteigen. Die vielfach nicht vorhandene Kongruenz zwischen Energieerzeugung und Energiebedarf bei der Nutzung erneuerbarer Energien erfordert außerdem eine effektive Energiespeicherung, für die es im großtechnischen Maßstab derzeit keine wirtschaftliche Lösung gibt. Eine sichere und preiswerte Stromversorgung ist unter solchen Bedingungen nicht zu gewährleisten. Zusätzlich ist zu berücksichtigen, daß die Stadt Leipzig beabsichtigt, 50% ihres Fernwärmebedarfs durch Wärmeauskopplung aus dem Kraftwerk Lippendorf zu decken. Bei einer alternativen Stromversorgung wäre dieser Wärmebedarf in Höhe von 200 MW durch zusätzliche Kapazitäten bereitzustellen. Mit der politischen Grundsatzentscheidung der Staatsregierung für den Einsatz der Braunkohle in der Stromerzeugung und dem Neubau des Kraftwerkes Lippendorf wird ein wesentlicher Beitrag zur sicheren und preiswerten Stromversorgung in Deutschland geleistet. Demgegenüber wurden im Rahmen der Anhörung zum Entwurf des „Heuersdorfgesetzes" Einwände erhoben, die die Wettbewerbsfähigkeit der Braunkohlenverstromung insgesamt, aber insbesondere auch bei der anstehenden Liberalisierung des Strommarktes bzw. bei einer umweltpolitischen Intervention (z.B. Einführung einer Energiesteuer) in Frage stellen. Dazu wurde auf das Gutachten des WI bzw. auf die schriftlichen Stellungnahmen von Herrn Matthes vom Institut für angewandte Ökologie, Herrn Dr. Jochem vom Fraunhofer Institut für Systemtechnik und auf eine Studie von Kleinwort-Benson („Das neue deutsche Stromgeschäft") verwiesen. Zu einer möglichen umweltpolitischen Intervention ist anzumerken, daß derzeit nicht absehbar ist, ob, wann und wie diese erfolgen wird. In der Vergangenheit sind unterschiedliche europäische und nationale Initiativen diskutiert und wieder verworfen worden. Der im März 1997 vorgelegte Entwurf eines EU-Richtlinienvorschlages zur Besteuerung von Energieerzeugnissen sieht eine brennstoffneutrale Out-put-Steuer für Strom vor. Die darüber hinaus vorgesehene Möglichkeit, national zusätzlich den Brennstoffinput zu besteuern, kann für Deutschland ausgeschlossen werden, da dieses einseitig zu Lasten des einzigen wirtschaftlichen heimischen Energieträgers gehen würde. Die anstehende Liberalisierung des Strommarktes wird unabhängig von dem derzeit noch nicht feststehenden Umfang der Marktöffnung den Kostendruck auf die Unternehmen erhöhen. Der Brennstoff Braunkohle hat aufgrund seiner sicheren Verfügbarkeit und der langfristig kalkulierbaren Preisstabilität gute Voraussetzungen für ein Bestehen im Wettbewerb. Unabhängig davon wird bei einer Liberalisierung das Erlösniveau der Versorgungsunternehmen tendenziell sinken. Damit sind die Unternehmen darauf angewiesen, Strom in besonders wirtschaftlich arbeitenden Kraftwerken zu produzieren. Für die VEAG bedeutet dies, daß insbesondere die Neubau-Kraftwerke - und hier aufgrund der Effizienz gerade Lippendorf — vorrangig eingesetzt werden müssen.
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Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen Durch die Liberalisierung des Strommarktes wird auch ausländischen Energieversorgungsunternehmen die Möglichkeit eröffnet, Strom nach Deutschland zu liefern. Generell sind Energie- und Stromimporte in erheblichem Ausmaß nicht wünschenswert, da kaum Einfluß auf die Preisgestaltung (Erzeugung, Transport, Wechselkurse) genommen werden kann. Damit wären negative Auswirkungen auf die Wirtschaft und die Haushalte denkbar. Unter diesen Rahmenbedingungen besteht ein besonderes Interesse, mit der heimischen Braunkohlenverstromung einen wesentlichen Beitrag zur langfristigen Versorgungssicherheit zu leisten. Die Exportchancen des ostdeutschen Braunkohlenstromes sind derzeit schwer abschätzbar. Diese sind vorwiegend durch die Bedarfs- und Erzeugungssituation in anderen Ländern bestimmt. Für eine Wettbewerbsfähigkeit des Braunkohlenstromes auch im Export spricht die Tatsache, daß Exportpreise durch Grenzkosten und damit Kosten für den Brennstoff und den Kraftwerksbetrieb bestimmt werden. Für das Kraftwerk Lippendorf ergeben sich insbesondere nach dem ersten kapitalintensiven Jahrzehnt daraus erhöhte Wettbewerbsvorteile. Die Staatsregierung hat am 15.3.1994 beschlossen, sich für den Erhalt des Standortes Lippendorf und den Neubau eines Braunkohlenkraftwerkes unter Fortführung des Tagebaus „Vereinigtes Schleenhain" einzusetzen und hält unter Abwägung aller Belange an dieser Entscheidung fest."
1.3.2.2 Die Gesetzesbegründung weist zudem auf die sogenannte Rohstoffsicherungsklausel (§§ 1 Nr. 1, 48 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 BBergG) hin, die der öffentlichen Energieversorgung einen besonders hohen Stellenwert als Allgemeinwohlbelang zuweist. Einmal aufgeschlossene Lagerstätten sind danach optimal auszubeuten. 1.3.2.3 Die Inanspruchnahme der Ortslage Heuersdorf sei notwendig, weil anders der Betrieb des Kraftwerkes Lippendorf wirtschaftlich nicht länger garantiert werden könne. Eine ausreichende Versorgung mit Braunkohle zu einem wettbewerbsfähigen Kohlepreis könne die MIBRAG jedoch nur dann gewährleisten, wenn die Tagebaufuhrung entsprechend gestaltet wird. Unter dem Gesichtspunkt der Liberalisierung des Energiemarktes gewannen die Forderungen des VEAG-Vorstandes noch an zusätzlichem Gewicht, da die VEAG im Wettbewerb nur konkurrenzfähig bleibt, wenn sie wettbewerbsfähige Strompreise anbieten kann. Voraussetzung dafür wiederum ist zumindest die ausreichende Versorgung mit Braunkohle zu einem wettbewerbsfähigen Kohlepreis durch die MIBRAG. Eine solche wettbewerbsfähige Preisgestaltung setzte wiederum eine Verbesserung der rationellen Betriebsführung der Tagebaue (u.a. durch Inanspruchnahme und nicht Umfahren von Heuersdorf) und den Neubau von Kraftwerken bei günstigen Braunkohlepreisen voraus. Dazu müsse jedoch folgende mittel- bis langfristige Kausalkette gewährleistet sein. Die Betriebszeit des Kraftwerks Lippendorf müsse auf 40 Jahre gesichert werden. Dazu ist die Inanspruchnahme der Ortslage Heuersdorf erforderlich. Denn dadurch könne die Betriebswirtschaftlichkeit der MIBRAG verbessert und infolgedessen eine günstige Versorgung des Kraftwerkes Lippendorf gewährleistet werden. Auch bietet eine betriebswirtschaftlich rationelle Braunkohleverstromung
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mittel- bis langfristig eine Stabilität der Energieversorgung (krisenfester Primärenergieträger). Von der Realisierung des Kraftwerksprojektes zum vorgesehenen Zeitpunkt und in der vorgesehenen Größenordnung hänge letztlich die Privatisierung der MIBRAG ab. Der Privatisierungsvertrag zwischen Treuhandanstalt und dem amerikanischbritischen Erwerbskonsortium enthalte Rücktrittsmöglichkeiten, u.a. für den Fall, daß das neue Kraftwerk nicht, nicht rechtzeitig oder nicht in der geplanten Größenordnung gebaut werde. Das Erwerberkonsortium der MIBRAG habe gegenüber der Staatsregierung zweifelsfrei erklärt, daß es in einem solchen Fall beabsichtige, von seinem Rücktrittsrecht Gebrauch zu machen. Damit würde auch das erste ausländische Engagement im deutschen Braunkohlebergbau scheitern. 1.3.2.4 Zu den verschiedenen Tagebaufiihrungen und den in den jeweiligen Varianten anfallenden Kohlemengen ist ausgeführt: „Die benötigte Kohlemenge ist im wesentlichen von der Größe des Kraftwerks abhängig. Für die geplanten 800 MW-Blöcke ergibt sich ein Kohlebedarf von 9,84 Mio t/a. Bezogen auf eine Gesamdaufzeit entspricht das einem Kohlebedarf von 393 Mio t. Da aufgrund des geologischen Erkundungsrisikos von ca. 3 % zusätzlich eine Feldreserve vorzuhalten ist, ist von einem Gesamtkohlebedarf von 400 Mio. t auszugehen (Dr.-Ing. A. Eckart, aaO, S. 8). Zum gleichen Ergebnis kommt auch das Gutachten von Prof. Dr.-Ing. habil. R. Steinmetz, TU Bergakademie Freiberg, zur Abbauführung des Tagebaus „Vereinigtes Schleenhain" bei besonderer Beachtung der Ortslage Heuersdorf (dort Seite 8). Um die erforderlichen Kohlevorräte zu garantieren und damit die Investitionsentscheidung für Kraftwerk und Tagebau zu ermöglichen, ist die Umsiedlung der Gemeinde Heuersdorf erforderlich, da ohne die unter der Ortslage von Heuersdorf lagernden Kohlevorräte die benötigte Gesamtmenge nicht erreicht werden kann. Der Betrieb des Tagebaus „Vereinigtes Schleenhain" ist in allen technisch möglichen Varianten untersucht worden. Unter Zugrundelegung der dargestellten Prämissen (Kohlemenge, -qualität, Wirtschaftlichkeit) verblieben sechs Varianten (bezeichnet als V 0 bis V 5). Die Varianten unterscheiden sich hauptsächlich durch die jeweils vom Abbau auszugrenzenden Schutzgüter, die Abbaureihenfolge und die gewinnbaren Kohlevorräte. Die Varianten 0,1 und 4 sehen die Inanspruchnahme von Heuersdorf, die Varianten 2, 3 und 5 die Umfahrung der Ortslage von Heuersdorf vor. Variante 0 (Antragsvariante der MIBRAG) Abbaureihenfolge: Baufeld Schleenhain - Baufeld Peres Baufeld Groitzscher Dreieck Betroffene Schutzgüter: Inanspruchnahme der Ortslagen Heuersdorf, Podelwitz und Obertitz beides Ortsteile der Stadt Groitzsch) sowie massive Eingriffe in das Landschaftsschutzgebiet „Elster/Schnauderaue". Gewinnbare Kohlemenge: 485 Mio. t Variante 1 Abbaureihenfolge: wie Variante 0 Betroffene Schutzgüter: Inanspruchnahme der Gemeinde Heuersdorf Gewinnbare Kohlemenge: 422 Mio. t LVerfGE 11
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Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen Der durch Erhalt der Schutzgüter Podelwitz, Obertitz und des Landschaftsschutzgebietes „Elster/Schnauderaue" eintretende Vorratsverlust beträgt 63 Mio. t. Variante 2 Abbaureihenfolge: Betroffene Schutzgüter:
wie Variante 0 Keine; der Tagebau käme vor Heuersdorf zum Stillstand Gewinnbare Kohlemenge: 316 Mio. t Gegenüber Variante 0 ergibt sich hierdurch ein Vorratsverlust von 169 Mio. t. Der relativ höhere Verlust gegenüber Variante 1 resultiert dabei aus der Tatsache, daß mit der Beendigung des Tagebaus vor Heuersdorf auch die dahinter liegenden Vorräte verloren gehen. Zusätzlich wäre der aus Gründen des Emissionsschutzes notwendige Schutzstreifen mit einem entsprechenden Verlust verbunden. Variante 3 Abbaureihenfolge: Betroffene Schutzgüter: Gewinnbare Kohlemenge:
wie Variante 0 Keine; Heuersdorf wird knapp umfahren 359 Mio. t
Gegenüber der Variante 0 ergibt sich hierdurch ein Verlust von 126 Mio. t. Variante 4 Abbaureihenfolge:
Baufeld Peres — Baufeld Schleenhain Baufeld Groitzscher Dreieck Betroffene Schutzgüter: Inanspruchnahme von Heuersdorf Gewinnbare Kohlemenge: 420 Mio. t Durch die veränderte Abbaureihenfolge würde die Inanspruchnahme der Ortslage Heuersdorf 15 Jahre später als bei Variante 0 und Variante 1 erforderlich. Hierdurch ergibt sich gegenüber Variante 0 ein Vorratsverlust von 65 Mio. t. Variante 5 Bei dieser Variante wird von den gleichen Bedingungen wie bei Variante 2 ausgegangen. Ein teilweiser Ausgleich der Vorratsverluste soll durch die zusätzliche Inanspruchnahme des Baufeldes Witznitz erreicht werden. Dieses Baufeld könnte dem Gutachter zufolge 77,1 Mio. t Kohle zuliefern. Eine darüber hinausgehende Belieferung scheitert an den entsprechenden Schutzgütern in diesem Feld (ζ. B. Abstand zur Stadt Rötha). Dies erfordert einen parallelen Betrieb der Baufelder Witznitz und Schleenhain in den Jahren 2000 bis 2015. Dennoch ergibt sich gegenüber der Variante 0 ein Vorratsverlust von rund 92 Mio. t Kohle. Hinzu kommt, daß unter Heuersdorf qualitativ hochwertige Kohle mit hohem Heizwert und geringem Schwefelgehalt liegt, die gegenüber der Kohle unter Podelwitz deutlich höhere Erlöse einbringt. Der Heizwert der Kohle unter Heuersdorf liegt bei ca. 11 MJ/kg und damit über dem Durchschnittswert im Teilfeld Schleenhain (10,6), während im Teilfeld Peres (dort liegen Podelwitz und Obertitz) lediglich 10,1 MJ/kg erreicht werden. Bezogen auf das Heizwertäquivalent bedeutet dies, daß gegenüber der reinen Kohlenmenge in Mio. t (Vorrat unter Podelwitz ca. 56 % des Vorrates unter Heuersdorf) nur noch ein heizwertbezogener Anteil von ca. 51 % unter Podelwitz erreicht wird (Quelle: Referat Braunkohlenplanung der Regionalen Planungsstelle Leipzig). Die Möglichkeit, Heuersdorf zu Lasten der Orte Obertitz
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und Podelwitz zu erhalten, ist aufgrund dieser wirtschaftlichen Gegebenheiten nicht vertretbar. Variante 2 kann mit einer gewinnbaren Kohlemenge von 326 Mio. t nicht den für die Versorgung des geplanten Kraftwerkes erforderlichen Kohlevorrat sicherstellen. Damit fehlt es bereits an der ersten Standortvoraussetzung. Ein ausreichender Kohlevorrat wäre nur bei einem Ausgleich des Vorratsverlustes durch die zusätzliche Inanspruchnahme des Tagebaus Witznitz der Fall (Variante 5). Für Variante 5 sind somit zusätzlich Wirtschaftlichkeitsaspekte zu berücksichtigen. Da in Mitteldeutschland kein weiterer laufender Tagebau mit freien Vorratsreserven zur Verfügung steht, erfordert ein Ausgleich von Vorratsverlusten auf diese Weise zwangsläufig den Betrieb eines bislang nicht vorgesehenen Tagebaus. Dieser muß voll ausgerüstet sein und aufgrund der durch die unterschiedliche Kohlequalität erforderlichen Mischprozesse zumindest in den Jahren 2000 bis 2015 parallel mit dem Tagebau „Vereinigtes Schleenhain" betrieben werden. Hierdurch würden zusätzliche Kosten entstehen. Diese Kosten sind um so höher, je geringer die geförderte Kohlenmenge aus dem außerhalb des Tagebaus Schleenhain liegenden Tagebaus ist. Gutachterliche Untersuchungen haben ergeben, daß eine Kohlezuführung von 77 Mio. t aus der Lagerstätte Witznitz wirtschaftlich unvertretbar ist. Hinzu kommt, daß bei einem Weiterbetrieb speziell des Tagebaus Witznitz eine Sanierungsverzögerung von rund 20 Jahren zu erwarten wäre. Dies hätte zur Konsequenz, daß aktuelle Umweltbelastungen aufrechterhalten und die ökologische Gesundung des Südraumes Leipzig als Voraussetzung für einen erfolgreichen Strukturwandel empfindlich verzögern würde. Auch der bei Variante 3 ausgewiesene gewinnbare Kohlevorrat genügt nicht, um die Versorgung des geplanten Kraftwerkes zu gewährleisten. Vielmehr könnte das Kraftwerk Lippendorf nur für ca. 34 Jahre mit Kohle aus dem Tagebau versorgt werden. Ein Ausgleich der Vorratsverluste aus dem Tagebau Witznitz wäre bei dieser Variante noch unwirtschaftlicher als bei Variante 5, da nur noch 43 Mio. t zuzufahren wären. Hinzu kommt auch hier die vorstehend dargelegte Sanierungsverzögerung. Gegenüber Variante 1 ergeben sich noch weitere Nachteile: — Der Verlust des Unternehmens beträgt über 425,9 Mio. DM absolut. — Aufgrund einer kürzeren Laufzeit und reduzierter Gewinnerwartungen nehmen die angrenzenden Gemeinden weniger Ertrags-, Kapital- und Grundsteuer ein. — Die Belegschaft von Tagebau und Kraftwerk könnte ca. sechs Jahre weniger beschäftigt werden. Aufgrund dieser Nachteile führte Variante 3 nicht nur zu höheren Kohle- und damit Strompreisen, sondern gefährdet wegen der negativen Gewinnerwartungen gerade in der investitionsintensiven Anfangsphase die Existenz der MIBRAG, die zu diesem Zeipunkt hohe Anfangsinvestitionen (Umrüstung des Tagebaus, Ersatz für veraltetes Material) tätigen muß, denen langfristig keine ausreichenden Gewinne für eine entsprechende Finanzierung gegenüberstünden. Variante 4 kann die geforderte Kohlenmenge sicherstellen. Aus der Ertragsbetrachtung des Gutachters geht allerdings hervor, daß mit der Verlagerung der Abbaureihenfolge der barwertmäßige Gesamtaufwand erheblich zunimmt und den barwertmäßigen Gesamtkohleerlös übersteigt. Die dynamischen, spezifischen Erlöse sinken bei Variante 4 um über 0,80 DM je Tonne. Im Ergebnis weist die Variante 4
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Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen zwar einen positiven absoluten Gesamtertrag auf, zeigt aber unter Hin2uziehung der Barwerte eine nicht durchgängige Finanzierbarkeit auf. Aufgrund der umgekehrten Abbaureihenfolge stehen den am Anfang zu tätigenden Investitionen zunächst keine entsprechenden Erträge gegenüber. Dadurch wird das Unternehmen u.a. durch einen entsprechend erhöhten Kapitaldienst belastet. Diese Variante ist somit wirtschaftlich nicht fahrbar. Damit verbleiben nur die Varianten 0 und 1. Beide Varianten erbringen sowohl den erforderlichen Kohlevorrat nach Menge und Qualität als auch den notwendigen Ertrag und sind damit als wirtschaftlich einzustufen. Der Regionale Planungsverband Westsachsen hat sich unter Abwägung dieser Gesichtspunkte fur die Abbauvariante 1 entschieden und in seiner Verbandsversammlung vom 18.8.1995 den Braunkohleplan „Tagebau Vereinigtes Schleenhain" mit dieser Variante beschlossen. Die MIBRAG hat gegenüber der Staatsregierung erklärt, der beschlossene Braunkohleplan weiche zwar von der Antragsvariante ab, die zugrundeliegende Abbauvariante 1 führe aber zu einem für die MIBRAG noch vertretbaren wirtschaftlichen Ergebnis. Mit dem ausgewiesenen Feldesinhalt von 422 Mio. t werde die erforderliche Vorratsbasis von 400 Mio. t gesichert und die 40jährige Versorgungssicherheit für das Kraftwerk gewährleistet. Der Braunkohlenplan ist damit trotz des Abweichens von der Antragsvariante vom bergbautreibenden Unternehmen gebilligt worden. Die Staatsregierung macht sich aufgrund dessen diese Entscheidung des Regionalen Planungsverbandes zu eigen."
1.3.2.5 Die Inanspruchnahme des Gebietes der Gemeinde Heuersdorf für den Braunkohlenabbau mache eine Umsiedlung der Bevölkerung erforderlich. Auch insofern bestehe ein enger Zusammenhang von gebietlicher Inanspruchnahme und Neugliederung. Die Ortslage von Heuersdorf müsse an anderer geeigneter Stelle neu entstehen. Die Begründung führt dazu aus: „Der Heuersdorf-Vertrag räumt den Betroffenen das Recht ein, maßgeblich bei der Bestimmung des Umsiedlungsstandortes mitzuwirken. Die Einwohner von Heuersdorf haben sich bisher nicht zu einem Umsiedlungsstandort geäußert. Auch wenn eine Mitwirkung der Betroffenen nicht erreicht werden kann, bleibt es die Verpflichtung des Freistaates Sachsen, dafür Sorge zu tragen, daß die Sozialverträglichkeit der Umsiedlung gesichert ist. Aus diesem Grund darf die durch die gebietliche Neugliederung geschaffene Einheitsgemeinde als Umsiedlungsstandort nicht gänzlich ungeeignet sein. Für die Einwohner von Heuersdorf würde es eine unzumutbare Doppelbelastung darstellen, wenn nach der Eingliederung in die Stadt Regis-Breitingen keine Möglichkeit einer geschlossenen Neuansiedlung bestünde, sondern diese in einer anderen Stadt erfolgen müßte. Anläßlich der Aufstellung des Braunkohlenplans „Vereinigtes Schleenhain" sind verschiedene Standorte, darunter Regis-Breitingen, Heuersdorf, Deutzen und Ramsdorf auf ihre Geeignetheit für eine Neuansiedlung von Heuersdorf untersucht worden. Maßgebend für die Bewertung der Standorte waren die Kriterien Infra- und Landschaftsstruktur, wirtschafte- und sozialgeographische Verflechtungsbeziehungen, Wohnumfeld und Entwicklungspotential sowie weiterhin bestehende Mitgliedschaft in den derzeitigen Gebietskörperschaften (Landkreis, Verwaltungsgemeinschaft). LVerfGE 11
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Das Gutachten kommt zu dem Ergebnis, daß es für die Neuansiedlung von Heuersdorf keinen „idealen Standort" gibt. Jedes der untersuchten Gebiete weist neben positiven Eigenschaften bzw. Rahmenbedingungen auch solche auf, die es bei freier Standortwahl als weniger geeignet erscheinen lassen. Grund hierfür ist, daß nahezu im gesamten Südraum Leipzig großflächiger Braunkohlentagebau betrieben wurde und wird. Für die Neuansiedlung von Heuersdorf stehen in Regis-Breitingen mehrere Standorte zur Verfügung, von denen jeder eine geschlossene Ansiedlung von Neu-Heuersdorf ermöglicht. Der Standort am Ortsausgang von Breitingen ist von dem Gutachter als besonders geeignetes Gebiet bewertet worden. Dieser Standort stellt eine große Freifläche dar, die durch das angrenzende Naturschutzgebiet mit kleinem Waldsaum attraktiver gestaltet wird. Die Ansiedlung von Neu-Heuersdorf müßte nicht direkt an die bestehenden Wohngebiete in Breitingen angegliedert werden. Vielmehr könnte ein Abstand zur bestehenden Wohnbebauung eingehalten werden und Neu-Heuersdorf als eigene Ortslage entstehen. Durch die Straße, die von Treben nach Breitingen fuhrt und die künftige Ortslage quert, wird diese an die Gemeinde Regis-Breitingen angebunden. Die neue Ortslage könnte als Dorf angelegt werden. Durch die Nutzung von Flächen als Gärten bzw. Freiflächen könnte der dörfliche Charakter noch verstärkt werden. Damit könnte einem wesentlichen Anliegen der Heuersdorfer entsprochen werden. Als nachteilig erweist sich aber, daß der Standort von einer Hochspannungsleitung gequert wird, mit der Folge, daß die Fläche unmittelbar unter der Hochspannungsleitung nicht bebaut werden darf. Diese Freifläche führt andererseits nur zu einer Baulücke, sie hat keine trennende Wirkung. Darüber hinaus ist nicht ausgeschlossen, daß eine Entscheidung zugunsten einer Verlegung der Hochspannungsleitung in absehbarer Zeit getroffen wird. Der Standort bietet ferner den Vorteil, daß er sich auf einer Fläche mit gewachsenem Boden befindet, also kein Kippengelände darstellt. Unabhängig davon steht es den Einwohnern von Heuersdorf frei, einen anderen Standort als Wiederansiedlungsstandort zu wählen." 1.3.3 Durch das Gesetz wird die Gemeinde zudem in die Stadt Regis-Breitingen eingegliedert. Der Gesetzgeber geht davon aus, daß die Gemeinde mit ihren 303 Einwohnern nicht die erforderliche Mindestgröße aufweist, um künftig selbständig bleiben zu können. Die Verwaltungs- und Finanzkraft von Heuersdorf sei zu gering, um künftig den Grundbestand gemeindlicher Aufgaben wahrnehmen zu können. Dies zeige sich darin, daß das Gewerbesteuer-Ist-Aufkommen 1996 je Einwohner 0,00 DM betrug. Die Steuerkraftmeßzahl nach dem Gesetz über einen Finanzausgleich in den Gemeinden und Landkreisen betrug im FAG 1997 DM 384,19/Einwohner. Sie lag unter 90 v. H. des Landesdurchschnitts von 475,86 DM je Einwohner. Die Arbeitslosenquote (Stichtag: 31.1.1997) lag mit 21,5 % (gemittelt) über dem Landesdurchschnitt. Investitionen seien aufgrund der beschränkten Haushaltsmittel — auch über einen längeren Zeitraum gestreckt — nur schwer finanzierbar. Die Schwäche der Gemeinde zeige sich noch deutlicher bei einem Vergleich der Realsteueraufbringungskraft, bei dem Heuersdorf je Einwohner lediglich über 30,4% der durchschnittlichen Realsteueraufbringungskraft
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der Gemeinden des Freistaates verfuge und sogar noch unter dem Durchschnitt des Landkreises Leipziger Land liege. Die Erfüllung der gemeindlichen Aufgaben sei damit in erheblichem Maße von den Zuweisungen des Freistaates Sachsen abhängig. Hinsichtlich der gebietlichen Zuordnung zu Regis-Breitingen geht der Gesetzgeber von folgenden Erwägungen aus: „Die aus dem Gewerbeort Regis und dem Dorf Breitingen entstandene Stadt RegisBreitingen (10,85 km2; 3590 Einwohner, Stand: 31.3.1997) ist im Landesentwicklungsplan des Freistaates Sachsen als Unterzentrum festgesetzt worden. Ihrem Funktionsnahbereich werden im Entwurf des Regionalplans der Planungsregion Westsachsen die zwischen ehemaligen Tagebauen und auf Landpfeilern stehengebliebenen Gemeinden Deutzen, Heuersdorf und Ramsdorf eindeutig zugeordnet. Die Stadt Regis-Breitingen und die Gemeinde Deutzen gehören raumstrukturell zum Verdichtungsraum Leipzig, die Gemeinden Heuersdorf und Ramsdorf zur Randzone dieses Verdichtungsraums. Regis-Breitingen und Heuersdorf sind durch die gemeinsame Gemarkungsgrenze einander benachbart. Die räumliche Lage der beiden Gemeinden ermöglicht eine örtliche Verbundenheit der Einwohner im räumlichen und funktionellen Sinn. Die Entfernung von ca. 6 km zwischen Heuersdorf und Regis-Breitingen ist zwar etwas weiter als die Entfernung zu dem ebenfalls benachbarten Deutzen, angesichts des Standes der Motorisierung und der öffentlichen Nahverkehrsverbindungen ist dieser Entfernungsunterschied aber als unerheblich anzusehen. Hinweise auf eine eingeschränkte Uberschaubarkeit der so vergrößerten Einheitsgemeinde sind angesichts der geringen Anzahl ausgewiesener Gemeindeteile, die in geringer Entfernung zum Zentralen Ort Regis-Breitingen liegen, ebenfalls nicht erkennbar. Die innere verkehrliche Erschließung zwischen Heuersdorf und Regis-Breitingen ist durch das vorhandene Straßennetz und mit Hilfe von OPNV-Verbindungen gut gegeben. Die Gemeinde Heuersdorf ist im Direktverkehr (Bus) bei kurzen Fahrzeiten und ausreichender Fahrthäufigkeit an die Stadt Regis-Breitingen angebunden. Weiterhin besteht täglich (vormittags) die Möglichkeit bei mittleren Fahrzeiten im gebrochenen Verkehr (mit Umsteigen in Deutzen) nach Regis-Breitingen zu gelangen. Heuersdorf und Regis-Breitingen sind über die Kreisstraße Κ 180 bzw. die Staatsstraße S 50 miteinander verbunden. Uber die Staatsstraße S 50 wird die Gemeinde Heuersdorf ferner an die Bundesstraßen Β 93, Β 95 und Β 176 in der Großen Kreisstadt Borna angebunden sowie durch die Eisenbahnstrecke Leipzig — Altenburg - Zwickau mit Zusteigemöglichkeit in Regis-Breitingen in die regionalen und überregionalen Verkehrsverbindungen einbezogen. Im Rahmen der Anhörung haben sich 60 % der Anhörungsberechtigten, für den Fall, daß eine Eingliederung unvermeidbar sei, für eine Eingliederung nach Deutzen mit dem Hinweis auf bestehende Verflechtungsbeziehungen (Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, gutnachbarliche Beziehungen, gleicher Bürgermeister) ausgesprochen. Eine Eingliederung der Gemeinde Heuersdorf in die Gemeinde Deutzen, die keine zentralörtliche Einstufung im Regionalplan erhalten hat, wird aus gesetzgeberischer Sicht jedoch nicht favorisiert. Die Gemeindegebietsreform soll zu einer funktionalen Stärkung der Zentralen Orte und damit zur Entwicklung einer ausgewogenen Sied-
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lungsstruktur in den einzelnen Teilräumen des Freistaates Sachsen beitragen. Wie die Gemeinde Heuersdorf hat auch die Stadt Regis-Breitingen in den letzten Jahren einen deutlichen Rückgang ihrer Einwohnerzahl zu verzeichnen, so daß die nach dem Landesentwicklungsplan für Unterzentren angestrebte Mindestgröße nicht erreicht wird. Mit der Eingliederung der Gemeinde Heuersdorf nach Regis-Breitingen wird zum einen eine einwohnermäßige Stärkung des Unterzentrums erzielt, das von seiner Einwohnerzahl her zu den kleineren seiner Art im Freistaat Sachsen zählt. Zum anderen wird vermieden, daß die Stadt Regis-Breitingen und die Gemeinde Deutzen aufgrund ihres Einwohnergrößenverhältnisses in eine den Verwaltungsraum eher schädigende Konkurrenzstellung zueinander treten. Die Gemeinde Deutzen erreicht die geforderte Mindesteinwohnerzahl für politisch selbständige Gemeinden in Verwaltungseinheiten und kann somit als Mitgliedsgemeinde in der Verwaltungsgemeinschaft mit der erfüllenden Stadt Regis-Breitingen bestehen bleiben. Mit der Eingliederung der Gemeinde Heuersdorf in die Stadt Regis-Breitingen wird zu einer funktionalen Stärkung des Zentralen Ortes beigetragen." 1.4 Der Gesetzgeber hat am 5. Februar 1998 durch den Innenausschuß eine öffentliche Anhörung durchgeführt, in der verschiedene Sachverständige zum Gesetzentwurf Stellung genommen haben. Ein Gutachter der Prognos-AG unter anderem zur Strombedarfsprognose, zur Wirtschaftlichkeit der Braunkohleverstromung und den Arbeitsplatzeffekten der Braunkohlenutzung. Der Gutachter prognostizierte einen deutlichen Zuwachs des Stromverbrauchs von im Jahre 1996 75,5 TWh auf 110,9 TWh im Jahre 2020. Damit war schon fur das Jahr 2000 mit 81,3 TWh zu rechnen und auf Grund dessen sah er eine Auslastung des Kraftwerkes Lippendorf für gesichert an. Selbst bei einem verringerten Stromverbrauch sei es als wirtschaftlichstes aller Braunkohlekraftwerke vorrangig ausgelastet. Hinsichtlich der Wirtschaftlichkeit der Braunkohleverstromung wies er auf die ungünstigen Ausgangsbedingungen infolge hoher Investitionen hin, ging aber auf Grund der langfristig stabilen Preissituationen bei der Braunkohle von einer auch künftig wirtschaftlichen konkurrenzfähigen Stromerzeugung aus Braunkohle aus. Die in der Begründung zum Heuersdorfgesetz genannten Arbeitsplatzeffekte lägen im Übrigen in der richtigen Größenordnung. Der Innenausschuß empfahl die Annahme des Gesetzes am 3. März 1998 mit einigen Änderungen. 1.5 Die auf den Seiten 21—24 der Begründung zum Gesetzentwurf der Staatsregierung zitierten Gutachten verschiedener Institute zum Strombedarf in Ostdeutschland und der Auslastung des geplanten Neubaus des Kraftwerkes Lippendorf sind ausweislich der Schreiben des Präsidenten des Sächsischen Landtages vom 7. März 2000 und vom 25. April 2000 nicht in den Geschäftsbereich des Sächsischen Landtages gelangt und lagen den Abgeordneten daher nicht als Teil der Unterlagen zum Gesetzentwurf vor. Das schließt nicht aus, daß einzelne Abgeordnete oder Fraktionen auf anderem Wege Kenntnis von den Gutachten bekommen haben. 1.6 Der Entwurf eines Gesetzes zur Gemeindegebietsreform in der Planungsregion Westsachsen (Gemeindegebietsreformgesetz Westsachen) sah in § 14 vor, daß die
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Gemeinden Heuersdorf und Ramsdorf in die Stadt Regis-Breitingen eingegliedert werden sollten. In der Begründung war ausführlich die Situation der Gemeinden Heuersdorf und Ramsdorf und die Notwendigkeit einer den Leitsätzen der Gemeindegebietsreform Rechnung tragenden Neugliederung dargelegt und mögliche Neugliederungsalternativen erwogen, insbesondere findet sich auch eine Auseinandersetzung mit der Alternative der Eingliederung der Gemeinden Heuersdorf und Ramsdorf in die Gemeinde Deutzen. 1.7 Die Auslegung des Referentenentwurfs des Gesetzes zur Gemeindegebietsreform in der Planungsregion Westsachsen zum Zwecke der Anhörung fand vom 27. Oktober 1997 bis zum 26. November 1997 statt. Die Gemeinde machte in ihrer Stellungnahme vom 22. Dezember 1997 insbesondere auf die für sie unübersichtliche Situation aufmerksam, sich sowohl dem Heuersdorfgesetz wie dem Neugliederungsgesetz gegenüberzusehen, ohne zu wissen, mit welchem Vorhaben die Staatsregierung welches Ziel erreichen wollte. Sie formulierte in ihrer Stellungnahme dazu eine Reihe von Fragen an die Staatsregierung, ohne in der Sache Stellung zu nehmen, da sie ihre Stellungnahme nur als Vorbereitung einer späteren ordnungsgemäßen Anhörung sehen wollte. In dem nunmehr vom Landtag verabschiedeten Gemeindegebietsreformgesetzes Westsachsen (SächsGVBl 1998 S. 575 ff) war eine Eingliederung der Gemeinde Heuersdorf im Hinblick auf das vorher erlassene Heuersdorfgesetz nicht mehr enthalten. 1.8 Der Sächsische Landtag beschloß am 19. März 1998 das Heuersdorfgesetz vom 8. April 1998 (GVB11998, S. 150ff). Das Gesetz lautet unter anderem wie folgt: §1 Nutzung des Gemeingebietes Das Gebiet der Gemeinde Heuersdorf kann zum Zwecke der Rohstoff- und Energieversorgung (Braunkohleabbau) in Anspruch genommen werden. §2 Eingliederung Die Gemeinde Heuersdorf, Landkreis Leipziger Land, wird in die Stadt Regis-Breitingen, Landkreis Leipziger Land, eingegliedert. §3 Rechtsnachfolge und weitere Folgen Die Stadt Regis-Breitingen ist Rechtsnachfolgerin der Gemeinde Heuersdorf. §7 Ortschaftsverfassung (1) Für das Gebiet der Gemeinde Heuersdorf ist die Ortschaftsverfassung einzuführen. Die Hauptsatzung der Stadt Regis-Breitingen ist bis zum 1. Januar 1999 entsprechend zu ändern. LVerfGE 11
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(2) Für die Dauer der laufenden Wahlperiode bildet der Gemeinderat der Gemeinde Heuersdorf den Ortschaftsrat. (3) Die gemäß Absatz 1 Satz 1 eingeführte Ortschaftsverfassung kann frühestens zum 31. Dezember 2010 aufgehoben werden. (4) Der Gemeinderat der Gemeinde Heuersdorf kann beschließen, daß dem Bürgermeister mit Wirksamwerden der Gebietsänderung bis zum Ablauf seiner Amtszeit das Amt des Ortsvorstehers übertragen wird. Mit der Übertragung des Amtes ist er stimmberechtigtes Mitglied des Ortschaftsrates. Endet die Amtszeit gemäß Satz 1 während der Wahlperiode des Ortschaftsrates, kann der Ortschaftsrat den Amtsinhaber für die verbleibende Wahlperiode als Ortsvorsteher wiederwählen. Die Wiederwahl findet frühestens zwei Monate vor Ablauf der Amtszeit, spätestens am Tage vor Ablauf der Amtszeit statt. In diesem Falle bleibt der Ortsvorsteher stimmberechtigtes Mitglied des Ortschaftsrates. Er ist zum Ehrenbeamten auf Zeit zu ernennen. (5) Für Verfahren über die Wirksamkeit dieses Gesetzes und von verwaltungsrechtlichen Entscheidungen, die die bergbauliche Inanspruchnahme des Gebietes der ehemaligen Gemeinde Heuersdorf betreffen, gilt die Gemeinde Heuersdorf solange als fortbestehend, bis eine Entscheidung über die Wirksamkeit der Eingliederung oder die bergbauliche Inanspruchnahme des ehemaligen Gemeindegebietes unanfechtbar wird, längstens jedoch bis 31. Dezember 2010. Der Ortsvorsteher vertritt gemäß Beschluß des Ortschaftsrates in diesem Rahmen gerichtlich die Interessen der ehemaligen Gemeinde Heuersdorf. §8 Erweiterung des Stadtrates (1) Der Gemeinderat der Gemeinde Heuersdorf wählt unverzüglich nach Verkündung dieses Gesetzes eine Person, die zum Zeitpunkt der Eingliederung in den Stadtrat der Stadt Regis-Breitingen übertritt. Die Zahl der Stadträte erhöht sich entsprechend. (2) Wählbar gemäß Absatz 1 Satz 1 sind die Mitglieder des Gemeinderates sowie der Bürgermeister. (3) Für den Gewählten sind zwei Ersatzpersonen zu wählen, deren Reihenfolge festzulegen ist. §n Stellenbewirtschaftung (1) Die Gemeinde Heuersdorf darf bis zum Inkrafttreten der Gebietsänderung freie oder frei werdende Stellen nicht besetzen, ausgenommen sind Stellen, für deren Besetzung bereits eine schriftliche Einstellungszusage gegeben wurde, Höhergruppierungen von Angestellten und Arbeitern nur auf Grund eines entsprechenden rechtlichen Anspruches durchführen. §10 Satz 2 gilt entsprechend. (2) In der Gemeinde Heuersdorf findet bis zum Wirksamwerden der Gebietsänderung eine Wahl des Bürgermeisters nicht mehr statt.
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Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen §12 Bestimmungen zu den Kommunalwahlen im Jahre 1999 Für die im Jahre 1999 in der Stadt Regis-Breitingen stattfindenden Stadtratswahlen ist das Gesetz über die Kommunalwahlen im Freistaat Sachsen (Kommunalwahlgesetz — KomWG) vom 18. Oktober 1993 (SächsGVBl. S. 937), geändert durch Artikel 3 des Gesetzes vom 14. Dezember 1995 (SächsGVBl. S. 414, 416), mit folgenden Maßgaben anzuwenden: Die Stadt Regis-Breitingen gilt für die Wahlvorbereitungen bis zum Inkrafttreten des § 2 dieses Gesetzes bereits in dem gebietlichen Umfang als bestehend, der sich aus diesem Gesetz ergibt. Unterstützungsunterschriften sind entsprechend § 6 Abs. 4 Satz 3 KomWG nicht erforderlich, sofern die Partei oder Wählervereinigung im Gemeinderat der Gemeinde Heuersdorf oder im Stadtrat der Stadt Regis-Breitingen vertreten war. § 14 Inkrafttreten Die §§ 7, 8,10 bis 13 treten am Tage nach der Verkündung dieses Gesetzes in Kraft. Im übrigen tritt dieses Gesetz am 1. Januar 1999 in Kraft; gleichzeitig treten Artikel 2 und 3 Nr. 1 bis 4 und 6 des Gesetzes zur Änderung kommunalrechtlicher Vorschriften und zur Vorbereitung der Gemeindegebietsreform (Kommunalrechtsänderungsgesetz - KomRÄndG) in der Fassung der Bekanntmachving vom 4. Oktober 1996 (SächsGVBl. S. 417) im Gebiet der Gemeinde Heuersdorf sowie in der Stadt RegisBreitingen in Kraft.
2. Die Antragstellerin hält die § § 1 , 2 Heuersdorfgesetz und somit das gesamte Heuersdorfgesetz mit Art. 82 Abs. 2, Art. 84 Abs. 1, Art. 88 Abs. 1 u. Abs. 2 SächsVerf für unvereinbar und nichtig. 2.1 Die Antragstellerin sieht sich in ihrem Anhörungsrecht verletzt. 2.1.1 So sei ihr nur die fur eine Neugliederung übliche Antragsfrist von 3 Monaten eingeräumt worden. Im Hinblick auf die vorliegende Besonderheit der bergbaurechtlichen Inanspruchnahme sei diese Frist jedoch nicht angemessen gewesen. 2.1.2 Die Antragstellerin macht zudem geltend, ihr sei der Anhörungsgegenstand nicht in seinem wesentlichen Inhalt mitgeteilt worden. In mehreren bedeutsamen Aspekten sei der Anhörungsgegenstand nicht mit dem endgültigen Gesetz identisch, so daß eine erneute Anhörung erforderlich gewesen sei. 2.1.2.1 So habe der Gesetzestext des Referentenentwurfs, der den Anhörungsentwurf dargestellt habe, nur von der Umsiedlung der Gemeinde Heuersdorf nach Regis-Breitingen gehandelt. Die Begründung habe sich zudem ausführlich mit dem Braunkohleabbau und der erforderlichen Umsiedlung befaßt. Die Ziele, Maßstäbe und Gründe für die Eingliederung seien aber nicht dargelegt worden. Zudem sei der Zielort Regis-Breitingen nach dem seinerzeitigen Geschehensablauf völlig überraschend LVerfGE 11
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gewählt worden, ohne daß sich vernünftige Erwägungen für diese Wahl im Referentenentwurf finden ließen. Auch habe die Staatsregierung in ihrer Begründung einen untrennbaren Zusammenhang zwischen Eingliederung und Umsiedlung gesehen. Eine Begründung der Eingliederung habe es im Wesentlichen nicht gegeben und mögliche alternative Lösungen, insbesondere eine mögliche Eingliederung nach Deutzen seien nicht erwogen worden. 2.1.2.2 Auch sei der Antragstellerin keine Gelegenheit eingeräumt worden, zu Größe und Struktur des künftigen Verwaltungsraumes Stellung zu nehmen. Nicht zuletzt habe die Antragstellerin erst durch den viel später vorgelegten Entwurf zum Gemeindegebietsreformgesetz Westsachsen — nach Abschluß der Anhörung zum Heuersdorfgesetz — erfahren, daß Ramsdorf ebenfalls nach Regis-Breitingen eingemeindet werden solle, was immerhin einen Bevölkerungszuwachs von ca. 24 % und einen Flächenzuwachs von 45 % gegenüber der alleinigen Eingliederung der Antragstellerin ausmache. 2.1.2.3 Schließlich aber sei eine erneute Anhörung schon deshalb erforderlich gewesen, weil — abweichend vom Referentenentwurf — im Gesetzentwurf der Staatsregierung nunmehr durch die Einführung des § 1 die Inanspruchnahme des Gebietes der Antragstellerin für den Braunkohleabbau vorgesehen sei. Damit sei eine ganz neue Dimension verbunden gewesen, da sie nunmehr nicht nur ihre rechtliche, sondern auch die tatsächliche Existenz ihrer Ortslage durch das Gesetz bedroht gesehen habe. Auch wenn nach Ansicht der Antragstellerin der § 1 des Heuersdorfgesetzes keine Norm darstelle, welche die (faktische) Auflösung einer Gemeinde rechtfertigen könne, so bereite sie doch ein solches Vorgehen vor und schränke damit die Antragstellerin erheblich in ihrer Planungshoheit ein. Sie müsse sich nunmehr nicht nur mit der Aufgabe ihrer rechtlichen Existenz auseinandersetzen, sondern sich auf die tatsächliche Zerstörung ihres Dorfes einstellen. Eine Anhörung zu dieser existenziellen Frage sei nicht erfolgt und könne auch nicht in der Anhörung zum Referentenentwurf gesehen werden, der sich ja nur in der Begründung, nicht aber in dem normativen Regelungsgehalt auf die Umsiedlung und Devastierung bezogen habe. 2.1.2.4 Außerdem sei eine Anhörung nicht zur Einfuhrung einer Mindestgeltungsdauer für die Ortschaftsverfassung und deren Aufhebung ohne Zustimmung des Ortschaftsrates (§ 7 Abs. 5 Heuersdorfgesetz) erfolgt. Ebensowenig sei zu dem Verbot einer neuen Bürgermeisterwahl bis zum Wirksamwerden der Gebietsänderungen eine Anhörung erfolgt. 2.2 Die Antragstellerin sieht sich zudem in dem aus dem Demokratieprinzip folgenden Grundsatz, wonach eine ununterbrochene Legitimationskette vom Volk zu den aufgabenbetrauten Organen und Amtswaltern der Verwaltung bestehen müsse sowie dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl verletzt. Die Wahlentscheidung der Heuersdorfer Bürger, die in der letzten Kommunalwahl (1994) getroffen worden sei, LVerfGE 11
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habe sich nach der zum 1.1.1999 wirksam gewordenen Eingliederung nicht im Stadtrat von Regis-Breitingen widerspiegeln können. Dies jedenfalls nicht bis zur Kommunalwahl 1999. Die Verletzung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit der Wahl, wie er sich aus Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG, Art. 86 Abs. 1 S. 1 SächsVerf ergebe, sei durch die Übergangsregelung des § 8 Abs. 1 Heuersdorfgesetz verletzt, da das Wirksamwerden vor der neuen Wahl nicht erforderlich gewesen sei, um die Zwecke des Gesetzes zu erreichen. 2.3 Die § § 1 , 2 Heuersdorfgesetz verstoßen nach ihrer Auffassung auch materiell gegen Art. 88, 82 Abs. 2, 84 SächsVerf. Die §§ 1, 2 regelten zwei voneinander unabhängige Maßnahmen, nämlich die rechtliche Auflösung der Gemeinde durch Eingliederung nach Regis-Breitingen (2.3.1) und die faktische Auflösung der Gemeinde durch die Freigabe des Gebietes der Gemeinde fïir die Zwecke des Braunkohlenabbaus (2.3.2). Beide würden in unzulässigerweise miteinander vermischt. Zudem sei die Prüfung nicht nur anhand des für Neugliederungen üblichen Gemeinwohlvorbehalts durchzuführen, sondern am Maßstab eines qualifizierten Gemeinwohlvorbehalts, der der besonderen Intensität des Eingriffs entspreche (2.3.3). 2.3.1 Das Heuersdorfgesetz werde den verfassungsrechtlichen Anforderungen einer Gebietsneugliederung schon deshalb nicht gerecht, weil es in erster Linie der Verwirklichung des Tagebaus „Vereinigtes Schleenhain" diene, wie es schon in der Begründung zum Referentenentwurf zum Ausdruck gekommen sei. Energiewirtschaftliche Gründe könnten aber für die Durchführung und den Zeitpunkt einer öffentlich-rechtlichen kommunalen Gebietsreform keine Rolle spielen; schon gar nicht die Interessen eines privatwirtschaftlichen Unternehmens. Die Durchsetzbarkeit eines Bergbauvorhabens gehöre nicht zu den Gründen einer Neugliederung. Insbesondere könnten energiewirtschaftliche Erwägungen keine Rechtfertigung für die gesonderte Eingliederung der Antragsteller in einem Einzelgesetz außerhalb der allgemeinen Gebietsreform begründen. Taktische „Winkelzüge" zur Flankierung des Braunkohleabbaus seien keine „sachlichen, grundsätzlich am Leitbild und Leitlinien der Reform ausgerichteten Erwägungen", wie sie in der Rechtsprechung zur Rechtfertigung von Eingriffen entwickelt worden seien. Das von der Staatsregierung bekundete „Gebot der Fairness" im Hinblick auf die Planungssicherheit lasse sich kaum anders denn als eine bewußte Irreführung der Öffentlichkeit bezeichnen. Die Planungssicherheit für den Bergbau heranzuziehen, wie es noch im Referentenentwurf geschehen sei, begründe ebenfalls einen eklatanten Abwägungs fehler, da dann die Eingliederung von den Geschäftsinteressen eines Privatunternehmens abhängig gemacht werde. Mit der zwangsweisen Eingemeindung nach Regis-Breitingen werde schließlich der Grundsatz des Vorrangs der freiwilligen Gemeindegebietsreform mißachtet. Schon im November 1995 habe der Landkreis Leipziger Land darauf hingewiesen, daß für die Gemeinde Ramsdorf und Heuersdorf einvernehmlich die Möglichkeit zur freiwilligen Eingliederung in die Gemeinde Deutzen bestehe, wodurch zwei etwa gleich große LVerfGE 11
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Gemeinden in diesem Verwaltungsraum entstehen würden. In ähnlicher Weise habe sich das Regierungspräsidium Leipzig geäußert. Die betreffenden Gemeinden hätten entsprechend positiv dazu Stellung genommen. So habe die Gemeinde Heuersdorf mit Beschluß Nummer 2 / 3 / 9 6 vom 26. März 1996 bei Erhalt ihrer Gemeinde den Willen zur Eingliederung nach Deutzen erklärt. Dieses wie weitere Äußerungen im Vorfeld des Gesetzes zeigten eindeutig, daß ein freiwilliger Zusammenschluß präferiert worden sei, den der Gesetzgeber mißachtet habe. Auch sei der Sachverhalt für die Präferenzentscheidung zu Gunsten von Regis-Breitingen eindeutig und nachweisbar unzureichend ermittelt worden, etwa wenn der Gesetzgeber den Entfemungsunterschied zwischen Heuersdorf/Deutzen und Heuersdorf/Regis-Breitingen für unerheblich erklärt habe und wenn ausgeführt werde, daß schon heute von den Heuersdorfer Bürgern die Verkehrsinfrastruktur von Regis-Breitingen genutzt werde. Der Gesetzgeber habe zudem gegen den Grundsatz der Systemgerechtigkeit verstoßen, indem er die Eingliederung von Heuersdorf mit dem Heuersdorfgesetz aus dem allgemeinen Zusammenhang der Gemeindegebietsreform herausgelöst habe. Zudem widerspreche die gesetzliche Eingemeindung dem ansonsten geltenden Grundsatz, den Willen der betreffenden Gemeinde bei einer Neugliederung zu berücksichtigen, wenn die freiwillig gewählte Variante den Erfordernissen und Zielvorstellungen der Gemeindegebietsreform entspreche. Die Begründung, Heuersdorf habe noch keine rechtswirksame Erklärung zur Eingliederung nach Deutzen abgegeben, entspreche nicht den Tatsachen. 2.3.2 Die in § 1 Heuersdorfgesetz eröffnete Möglichkeit der Inanspruchnahme des Gebietes der Gemeinde Heuersdorf für den Braunkohlenabbau stelle sich ebenfalls als verfassungswidriger Eingriff in ihr Selbstverwaltungsrecht dar. Dieser sei, weil er die Gemeinde faktisch auflöse, sogar erheblich schwerwiegender als die rechtliche Auflösung der Gemeinde. Die vom Gesetzgeber herangezogenen Gemeinwohlgründe könnten diesen Eingriff nicht rechtfertigen. 2.3.2.1 So sei im Hinblick auf den vom Gesetzgeber herangezogenen Gesichtspunkt „Energie- und Rohstoffversorgung" ein Abwägungsausfall im Hinblick auf die Prognose des Strombedarfs durch die VEAG festzustellen. Der Gesetzgeber habe den Strombedarf nicht eigenständig in ausreichender Weise ermittelt, sondern sich ohne eigene Prüfung auf die Angaben der MIBRAG und der VEAG und deren veraltete und widersprüchliche Gutachten gestützt. Die eigentliche Entscheidung über den Strombedarf habe danach nicht beim Gesetzgeber gelegen, sondern bei der VEAG. Zudem sei die Strombedarfsprognose fehlerhaft, weil von der Entwicklung längst überholt. So gehe das für den Gesetzgeber entscheidende Gutachten der Prognos AG von einem Wirtschaftswachstum in den neuen Bundesländern von ca. 8 % bis 9% aus, eine ersichtlich unrealistische Prognose. Auch sei die Wirtschaftslage, die Struktur der Wirtschaft und deren technischer Modernisierungsgrad so unterschiedlich, daß — anders als im Prognos-Gutachten - nicht einfach eine lineare Fortschreibung der Strombedarfs-
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prognose für die alten Länder zum Ausgangspunkt gemacht werden könne. Die Antragstellerin sieht sich zudem in ihrer skeptischen Einschätzung durch eine Reihe anderer Gutachten bestätigt. Es sei außerdem nicht zu verkennen, daß — ungeachtet der Braunkohleschutzklausel des Art. 4 § 3 des Gesetzes zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts — die Stromerzeugung aus der Braunkohle drastisch zurückgehen werde. Die Braunkohlenschutzklausel vermöge schon aus verfassungs- und europarechtlichen Gründen keinen absoluten Schutz der deutschen Braunkohle zu bewirken, zumal die Europäische Kommission davon ausgehe, daß die Schutzklausel nicht über das Jahr 2003 hinaus verlängert werden dürfe, ein etwaiger Schutz also noch vor der Devastierung der Ortslage Heuersdorf ende. Selbst die VEAG gehe mittlerweile davon aus, daß der Stromabsatz infolge des zunehmenden Wettbewerbs rückläufig sein werde und die Braunkohle verstärkt aus der Stromerzeugung verdrängt werde. 2.3.2.2 Die Antragstellerin bezweifelt weiterhin die Auffassung der Staatsregierung, wonach die Inanspruchnahme der Ortslage Heuersdorf erforderlich sei, um die Kohlezufuhr zum Kraftwerk Lippendorf für 40 Jahre zu sichern. Vielmehr könne die ausreichende Auslastung ohne Inanspruchnahme von Heuersdorf gesichert werden. Die geplante Auslastung und somit der Bedarf von 400 Mio. t sei ohnehin illusorisch. Dies werde durch das im Auftrag des Regionalen Planungsverbandes Westsachsen erstellte Gutachten Steinmetz bestätigt, welches auf der Grundlage von 7 500 Vollaststunden pro Jahr nur zu einem Gesamtvolumen von 364 bis 370 Mio. t Braunkohle komme. 2.3.2.3 Die auf der Grundlage des Gutachtens Eckart, EMPC Montanconsult Görlitz, von der Staatsregierung angegeben Kohlemengen seien unrealistisch, da das Gutachten aus technischer und bergwirtschaftlicher Sicht nicht haltbar sei. Die Antragstellerin bezieht sich dabei im Wesentlichen auf ein von ihr in Auftrag gegebenes Gutachten Rips. Die 7 500 Vollaststunden Kraftwerksbetrieb seien völlig unrealistisch; die durchschnittliche Ausnutzungsdauer von Braunkohlekraftwerken habe in Deutschland 1992 bei 5 773 h / a gelegen. Obwohl ohne die Devastierung von Heuersdorf eine Volllaststundenzahl von 7 100 h / a erreicht werden könne, gebe die Staatsregierung unzutreffend eine Zahl von 5 900 h / a an. 2.3.2.4 Ebenso wenig könnten die von der Staatsregierung dargelegten und erwogenen Varianten zur Tagebauführung und erreichbaren Kohlemengen überzeugen. So habe der Gesetzgeber die Kohlemenge von Variante 5 nicht exakt aufgeführt, die nämlich 393 Mio. t betrage; auch bei Variante 2 seien die Angaben widersprüchlich. Zudem sei die Variante 5, basierend auf Variante 3, nicht erwogen worden, die mit der Inanspruchnahme des Tagebaus Witznitz 432 Mio. t Braunkohle erbringen würde. Die Ablehnung der Einbeziehung des Abbaufeldes von Witznitz wegen wirtschaftlicher Unvertretbarkeit sei nicht nur nicht überzeugend, sondern offenbare auch eine Festlegung auf eine einmal beschlossene „Marschroute" zu Gunsten von Variante 1, wie die vielfach geänderten Begründungen für die UnWirtschaftlichkeit der Inan-
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spruchnahme von Witznitz deutlich machten. Auch die übrigen Varianten seien zum Teil fehlerhaft und widersprüchlich dargelegt. So betrage in Variante 3 die Versorgungszeit 36, nicht aber 34 Jahre; die auf der Zahl von 34 Jahren basierenden Rechnungen seien also falsch. In der Variante 4 sei die UnWirtschaftlichkeit nicht dargetan. Die Inanspruchnahme von Heuersdorf werde zudem zu einem Zeitpunkt erfolgen, in dem die mangelnde Auslastung des Kraftwerkes bereits deutlich sein werde. Schließlich sei eine im Gutachten Meyer-Miethke und Partner, das von dem Sächsischen Staatsministerium für Landwirtschaft in Auftrag gegeben worden sei, entwickelte Variante, die nur eine teilweise Inanspruchnahme von Heuersdorf vorsehe, überhaupt nicht berücksichtigt worden, obwohl sie die erforderliche Braunkohlenmenge erbringe. 2.3.2.5 Die Aussagen zur Wettbewerbsfähigkeit der Braunkohle, die dem ganzen Vorhaben zugrunde lägen, seien unzutreffend, wie schon die Einführung der Braunkohleschutzklausel für die neuen Länder in Art. 4 § 3 des Gesetzes zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts vom 24.4.1998 (BGBl I, 730) zeige, die ausweislich der Entstehungsgeschichte nur das Ziel gehabt habe, dafür Sorge zu tragen, daß die Energieversorgung und hier insbesondere die Braunkohleverstromung in den neuen Bundesländern ausreichend vor einem Verdrängungswettbewerb geschützt werde. Auch sei — wie die Entwicklung in Brandenburg und Sachsen Anhalt zeige — die Braunkohle nur mit staatlichen Subventionen am Markt zu halten. Auch der überhöhte Strompreis in den neuen Bundesländern beruhe letztlich auf einer indirekten Subvention der Braunkohle, die im übrigen bis zu 70 % der in Sachsen erzeugten Stromerzeugung darstelle, so daß von einem Energiemix — wie im Gesetzentwurf der Staatsregierung — kaum die Rede sein könne. 2.3.2.6 Soweit sich die Gesetzesbegründung auf Belange des Bodenschutzes berufe, die verlangten, eine einmal aufgeschlossene Lagerstätte möglichst optimal auszubeuten, vermag die Antragstellerin dem nicht zu folgen, zumal die Staatsregierung diesen Grundsatz in anderen Fällen, etwa bei der Lagerstätte Witznitz oder in Zwenkau, Espenhain und Bodnitz selber nicht befolge. 2.3.2.7 Auch die angegebenen Arbeitsplatzeffekte seien deutlich überhöht. Keinesfalls hingen die gesamten Arbeitsplätze von der Entscheidung für die Devastierung von Heuersdorf ab. Die Arbeitsplätze ergeben sich aus dem Betrieb des Kraftwerkes Lippendorf, der auch ohne die Devastierung von Heuersdorf stattfinden werde. 2.3.3 Sei § 1 des Heuersdorfgesetzes schon anhand des Maßstabes kommunaler Neugliederungen verfassungswidrig, gelte dies erst recht, wenn man einen qualifizierten Gemeinwohlvorbehalt zugrunde lege, der der Intensität der faktischen Auflösung der Gemeinde entspreche. Insoweit könne man sich an den Grundsätzen orientieren, die in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zur Rückneugliederung entwickelt worden seien. LVerfGE 11
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2.4 § 7 Abs. 5 Heuersdorfgesetz verstoße zudem gegen Bundesrecht und sei deshalb nichtig. Dem Landesgesetzgeber mangele es für den Erlaß dieser Norm an einer Gesetzgebungskompetenz, daher liege ein Verstoß gegen Art. 3 SachsVerf vor. Ziel der Vorschrift des § 7 Abs. 5 Heuersdorfgesetz sei es, der ehemaligen Gemeinde die Beteiligungsfähigkeit gemäß § 61 VwGO einzuräumen. Damit sei das Ziel eine Änderung der bundesrechtlichen Vorschrift des § 61 VwGO. Außerdem beschränke die Regelung in unzulässiger Weise das Selbstverwaltungsrecht der Gemeinde Regis-Breitingen, da diese durch eine etwaige Klage der „ehemaligen Gemeinde Heuersdorf' rechtlich gebunden werde und zudem der Grundsatz der Alleinzuständigkeit des Gebietshoheitsträgers durchbrochen werde. Darüber hinaus sei die zeitliche Befristung willkürlich. Die Nichtigkeit des § 7 Abs. 5 Heuersdorfgesetz habe die Nichtigkeit des gesamten Gesetzes zur Folge, da § 7 Abs. 5 eine der zentralen Bestimmungen des Heuersdorfgesetzes darstelle. Die Antragstellerin hat zudem den Erlaß einer einstweiligen Anordnung beantragt, über den der Sächsische Verfassungsgerichtshof mit Beschluß vom 6. November 1998 entschieden hat (SachsVerfGH, Beschl. v. 6.11.1998 - Vf 72-VIII98-). 3. Der Sächsische Staatsminister der Justiz hat Stellung genommen. 4. Die MIBRAG hat eine Stellungnahme zum Normkontrollantrag abgegeben. II. Der Antrag auf kommunale Normenkontrolle ist zulässig und begründet. § § 1 , 2 Heuersdorfgesetz sind mit Art. 88 Abs. 1, 2 SächsVerf unvereinbar und nichtig. Da die übrigen Teile des Gesetzes selbstständig nicht bestehen können, ist das Heuersdorfgesetz insgesamt nichtig. 1. Der Antrag ist zulässig, auch soweit er sich auf § 1 und § 7 Abs. 5 Heuersdorfgesetz bezieht. 1.1 Es kann dahinstehen, ob es für das nach der Sächsischen Verfassung und nach § 36 iVm §§ 22—24 SächsVerfGHG als Normkontrollverfahren ausgestaltete Verfahren nach Art. 90 SächsVerf darauf ankommt, daß die Antragstellerin selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen ist, wie es für das als Rechtssatzverfassungsbeschwerde ausgestaltete Verfahren nach Art. 9314a GG iVm § 91 BVerfGG angenommen wird (dazu Clemens in: Umbach/Clemens (Hrsg.), BVerfGG, § 91 Rn. 39ff). Angesichts der Vorwirkung des als „Kann"-Vorschrift ausgestalteten § 1 Heuersdorfgesetz schon zum jetzigen Zeitpunkt kann kein Zweifel daran bestehen, daß die Gemeinde Heuersdorf gegenwärtig und unmittelbar betroffen ist. Das Gesetz soll die Grundlage für die durch exekutive Planungsmaßnahmen vorbereitete Inanspruchnahme des Gemeindegebiets für den Braunkohlenabbau schaffen und äußert somit bereits gegenwärtig und unmittelbar Wirkungen für die Antragstellerin. LVerfGE 11
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1.2 Entgegen der Auffassung der Staatsregierung ist der Antrag auch zulässig, soweit er § 7 Abs. 5 Heuersdorfgesetz betrifft. Die Zulässigkeit des Antrages scheitert nicht schon daran, daß die Antragstellerin sich auf die fehlende Kompetenz des Landesgesetzgebers beruft. Die kommunale Selbstverwaltungsgarantie kann nur durch auf kompetenzgerechter Grundlage erlassene Gesetze eingeschränkt oder ausgestaltet werden. Im übrigen wendet sich die Antragstellerin nicht nur gegen die begünstigende Regelung des § 7 Abs. 5 Heuersdorfgesetz als solche, sondern auch gegen deren Ausgestaltung, die sie als mit dem Demokratieprinzip nicht vereinbar ansieht. Insoweit ist nicht von vornherein ausgeschlossen, daß sie insoweit auch in ihren Selbstverwaltungsrechten verletzt wird. 2. Der zulässige Antrag ist begründet, § § 1 , 2 Heuersdorfgesetz sind mit Art. 88 Abs. 1, 2 SächsVerf unvereinbar und daher nichtig. 2.1 Gemeinden können auch gegen ihren Willen aufgelöst werden (Art. 88 Abs. 1 iVm Art. 88 Abs. 2 S. 2 SächsVerf). Die einzelnen Gemeinden sind gegenüber Eingriffen in ihren Bestand aber nicht ohne Schutz, da Art. 88 Abs. 1 SächsVerf — das herkömmliche verfassungsrechtliche Verständnis vom Kernbereich kommunaler Selbstverwaltung in sich aufnehmend — Veränderungen des Gebietszuschnitts und des Bestandes nur aus Gründen des Wohls der Allgemeinheit sowie nach Anhörung der betroffenen Gemeinden (std. Rspr., vgl. SächsVerfGH, SachsVB1 1999, 236, 237; SächsVBl 1999, 243, 246) und der Bevölkerung der unmittelbar betroffenen Gebiete (Art. 88 Abs. 2 S. 3 SächsVerf) zuläßt. Art. 88 SächsVerf bezieht sich nicht nur auf klassische Maßnahmen gebietlicher Neugliederung. Vielmehr ist die Entscheidung des Gesetzgebers, eine Gemeinde nicht nur rechtlich aufzulösen, sondern ihr Gebiet für Zwecke des Braunkohleabbaus zur Inanspruchnahme freizugeben, darüber hinaus ein eigenständiger Eingriff in das kommunale Selbstverwaltungsrecht, der ebenfalls am Maßstab des Art. 88 Abs. 1 iVm Art. 88 Abs. 2 S. 2 SächsVerf zu messen ist. Zwar steht der Begriff der Auflösung in Art. 88 Abs. 2 S. 2 SächsVerf ersichtlich im Zusammenhang mit Gebietsänderungen, bezieht sich also auf kommunale Neugliederungen. Die Entscheidung des Gesetzgebers, der Gemeinde nicht nur ihre rechtliche Selbständigkeit zu nehmen, sondern zugleich das Gemeindegebiet zur Devastierung freizugeben, ist von seiner Intention wie von den Wirkungen her einer rechtlichen Auflösung gleichzustellen. Diese Regelung verändert die territorialen Grundlagen der bisherigen Selbstverwaltungskörperschaft, selbst dann, wenn eine geschlossene Umsiedlung in eine andere Ortslage vorgesehen ist. Ungeachtet der Tatsache, daß eine solche Umsiedlung ohnehin nur ein Angebot an die Einwohner darstellt, dessen Annahme ungewiß ist, wird der Selbstverwaltungskörperschaft ein Essentiale entzogen, ihr bisheriges Gebiet, und dieses durch ein anderes ersetzt. Es liegt auf der Hand, daß damit zugleich das Beziehungsgeflecht, das die kommunale Selbstverwaltung kennzeichnet, grundlegend verändert wird. Ein solcher Eingriff ist daher an den Maßstäben des Art. 88 SächsVerf zu messen. Er ist— wie jeder Eingriff in die kommunale Selbstverwaltung — nur durch LVerfGE 11
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dem Gewicht des Eingriffes Rechnung tragende Gründe des Gemeinwohls zu rechtfertigen. 2.2 Der Gesetzgeber hat bei einer kommunalen Neugliederung wie auch der Inanspruchnahme des Gemeindegebietes zum Zwecke des Abbaus von Bodenschätzen den — die Bestands- oder Gebietsveränderung verfassungsrechtlich legitimierenden — unbestimmten Begriff des Wohls der Allgemeinheit im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben zu konkretisieren. Daher sind zunächst die vom Gesetzgeber verfolgten Gemeinwohlziele an der verfassungsrechtlichen Garantie der kommunalen Selbstverwaltung zu messen. Sodann ist grundsätzlich zu prüfen, ob die aus diesem Reformziel gewonnenen Leitsätze eine Neugliederung zu rechtfertigen vermögen und ob die einzelne erwogene Maßnahme den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt (vgl. SächsVerfGH, SächsVBl 1997,79, 80; SächsVerfGH, SächsVBl 1999,243, 246). Im vorliegenden Fall der Neugliederung und faktischen Auflösung ist der Besonderheit Rechnung zu tragen, daß der Gesetzgeber nicht in Bindung an die Leitsätze einer allgemeinen Gebietsreform verfährt, sondern — außerhalb derselben - ein spezifisches Neugliederungsziel verfolgt. Insoweit ist daher zu prüfen, ob die Abkopplung von der allgemeinen Gebietsreform auf sachlichen Gründen beruht und ob die einzelne Maßnahme durch hinreichende Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt wird. 2.3 Der kommunalen Neugliederung ebenso wie der gesetzlichen Anordnung der Freigabe des Gemeingebiets für Zwecke des Braunkohlenabbaus hat eine Anhörung der betroffenen Gemeinde und für die kommunale Neugliederungsentscheidung der Bevölkerung der unmittelbar betroffenen Gebiete vorauszugehen. 2.3.1 Eine verfassungsmäßige Beteiligung der Träger kommunaler Selbstverwaltung erfordert, daß diese rechtzeitig vom wesentlichen Inhalt des Neugliederungsvorhabens und der dafür gegebenen Begründung Kenntnis erlangen. Um dem Zweck der Anhörung zu genügen, muß die Anhörung zu dem Gesetzgebungsvorhaben ergebnisoffen durchgeführt werden und die Stellungnahmen der Gebietskörperschaften in die Entscheidungsfindung eingehen (vgl. SächsVerfGH, JbSächsOVG 2,110,119 f). 2.3.1.1 Das Anhörungsrecht soll es den kommunalen Trägern der Selbstverwaltung ermöglichen, ihre Sicht des gesetzgeberischen Vorhabens in einer für sie existenziellen Frage zur Geltung zu bringen. Darüber hinaus dient es der Information des Gesetzgebers, der durch die Anhörung die Möglichkeit einer umfassenden und zuverlässigen Kenntnis von allen abwägungserheblichen Belangen rechtlicher und tatsächlicher Art erhält (vgl. SächsVerfGH, JbSächsOVG, 2, 61, 72; SächsVerfGH, JbSächsOVG 2,110,120; SächsVerfGH, SächsVBl 1999,237,238). 2.3.1.2 Angesichts der Zielsetzung sind die an eine Beteiligung der betroffenen Träger kommunaler Selbstverwaltung zu stellenden verfassungsrechtlichen Anforderungen nur gewahrt, wenn das Gesetzgebungsverfahren in jedem Stadium so ergebLVerfGE 11
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nisoffen wie möglich durchgeführt und in den endgültigen Abwägungsvorgang erst nach Abschluß der Anhörung eingetreten wird. 2.3.1.3 Darüber hinaus ist geboten, daß die Anhörungsberechtigten über den wesentlichen Inhalt des Neugliederungsvorhabens und die — für den Abwägungsprozeß unverzichtbare — Begründung informiert werden. Eine gegenteilige Handhabung erschwerte den Trägern der kommunalen Selbstverwaltung die Möglichkeit einer sachgerechten Stellungnahme, die mögliche Alternativen umfaßt (SächsVerfGH, JbSächsOVG 2, 61,73; SächsVerfGH, SächsVBl 1999,237,238). 2.3.1.4 Greift der Gesetzgeber auf bereits durchgeführte Anhörungen außerhalb des eigentlichen Gesetzgebungsverfahrens zurück, so setzt dies voraus, daß der Anhörungsgegenstand mit der vom Gesetzgeber beabsichtigten Maßnahme in wesentlichen Grundzügen identisch ist (SächsVerfGH, JbSächsOVG, 2, 110, 122). Wird das Vorhaben bis zu seiner endgültigen Festlegung in wesentlichen Punkten geändert, so muß der Träger kommunaler Selbstverwaltung erneut angehört werden. 2.3.2 Bei der kommunalen Neugliederung ist neben den Gemeinden vor der Gebietsänderung gem. Art. 88 Abs. 2 S. 3 SächsVerf die Bevölkerung der unmittelbar betroffenen Gebiete zu hören. Hierdurch soll der Wille der Bevölkerung erforscht werden, um ihn bei der Abwägung berücksichtigen zu können (vgl. StGH Bad.-Württ. ESVGH 25,1, 25; ders. DÖV 1997, 500, 501). Dieser Zweck der Anhörung setzt voraus, daß hinreichende Informationsmöglichkeiten bestehen (vgl. § 8 Abs. 4 SächsGemO iVm Art. 88 Abs. 4 SächsVerf). 2.4 Diesen vom Sächsischen Landtag gesetzten verfassungsrechtlichen Vorgaben korrespondiert die Kontrollkompetenz des Sächsischen Verfassungsgerichtshofs, der die Entscheidungsspielräume des Sächsischen Landtags zu respektieren hat. 2.4.1 Das allgemeine Ziel, das der Gesetzgeber mit der Neuregelung verfolgt, muß ebenso wie die Inanspruchnahme des Gebietes der Gemeinde für andere Zwecke das Gemeinwohl fördern (Art. 88 Abs. 1 SächsVerf). Dabei prüft der Verfassungsgerichtshof nur, ob — im Licht der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie betrachtet — verfassungsrechtlich legitime Reformziele verwirklicht werden sollen (vgl. SächsVerfGH, Jb SächsOVG 3,107,116). 2.4.2 Die Entscheidung des Gesetzgebers, die einzelnen Neugliederungsmaßnahmen außerhalb einer umfassenden Konzeption der kommunalen Neugliederung zu verfolgen, ist daraufhin zu überprüfen, ob diese Entkoppelung willkürlich erfolgt ist. 2.4.3 Bei der einzelnen Neugliederungsmaßnahme hat der Verfassungsgerichtshof nur zu beurteilen, ob der Sächsische Landtag den für seine Regelung erheblichen Sachverhalt ermittelt und berücksichtigt sowie die Gemeinwohlgründe und die Vorund Nachteile der Alternativen in die Abwägung eingestellt und das Gebot der kommunalen Gleichbehandlung beachtet hat. Der Gesetzgeber ist nicht verpflichtet, alle
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irgendwie mit einem Neugliederungsvorhaben zusammenhängenden Aspekte umfassend aufzuklären. Er muß jedoch insbesondere solche Sachverhaltselemente vollständig und sorgfältig ermitteln, die für sein selbst gesetztes Ziel erheblich sind (vgl. zuletzt SächsVerfGH, SächsVBl 1999,243,246). Erst auf der Grundlage eines in dieser Weise ermittelten Sachverhaltes läßt sich beurteilen, ob eine Maßnahme das Ergebnis einer umfassenden Gewichtung des Gesetzgebers ist. Hingegen ist es grundsätzlich allein Sache des demokratisch legitimierten Gesetzgebers, die relevanten Belange im Einzelfall zu gewichten und zu bewerten. Insoweit hat der Verfassungsgerichtshof zunächst darüber zu befinden, ob Ziele, Wertungen und Prognosen des Gesetzgebers offensichtlich und eindeutig widerlegbar sind oder den Prinzipien der verfassungsrechtlichen Ordnung widersprechen (vgl. SächsVerfGH, SächsVBl 1997,79,80). Sodann ist darüber zu erkennen, ob das Abwägungsergebnis zu den verfolgten Zielen deutlich außer Verhältnis steht oder von willkürlichen Gesichtspunkten oder Differenzierungen beeinflußt ist (vgl. BVerfGE 86, 90, 109). Für diese Prüfung ist unabdingbar, daß der Sächsische Landtag seiner Entscheidung eine Begründung beigibt, aus der die für den Abwägungsprozeß und sein Ergebnis relevanten Gesichtspunkte erkennbar werden. 2.5 Die Anhörung der Antragstellerin genügt nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen. 2.5.1 Allerdings entsprach die der Antragstellerin eingeräumte Frist von ca. 3 Monaten der bei kommunalen Neugliederungen üblichen Frist. Auch angesichts der besonders weitreichenden Folgen durch die Inanspruchnahme der Ortslage Heuersdorf für den Braunkohleabbau war die Einräumung einer längeren Frist nicht geboten. Zu Recht trägt die Staatsregierung vor, daß die damit zusammenhängenden Fragen bereits vielfach Gegenstand von Erörterungen und Gesprächen im Vorfeld der Erstellung des Referentenentwurfs der Staatsregierung waren, so daß die Antragstellerin nicht etwa darauf verwiesen war, die Grundlagen der gesetzgeberischen Prognose innerhalb dieses Zeitraums einer ggf. sachverständig unterstützten Prüfung zu unterziehen. 2.5.2 Der Anhörungsentwurf war aber von seinem normativen Regelungsgehalt her nicht mit dem späteren Gesetzentwurf der Staatsregierung identisch, da die Inanspruchnahme für Zwecke des Braunkohlenabbaus im Referentenentwurf keine eigenständige Regelungsgrundlage gefunden hatte. Vielmehr war die Erwägung zur Inanspruchnahme für den Braunkohlenabbau allein Teil der Gemeinwohlgründe für die beabsichtigte gebietliche Neugliederung. Da die normative Eröffnung der Inanspruchnahme einen eigenständigen Eingriff darstellt, liegt hierin eine erhebliche Abweichung von dem früheren Vorhaben, das allein eine gebietliche Neugliederung vorsah. Daran ändert nichts, daß der Referentenentwurf ausweislich seiner Begründung davon ausging, mit der gebietlichen Neugliederung auch gleichzeitig die Anforderungen an die gesetzliche Grundlage für die Inanspruchnahme zum Zwecke des Braunkohlenabbaus zu erfüllen. LVerfGE 11
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Zudem war der Anhörungsentwurf zum Heuersdorfgesetz auch insoweit unzureichend, als er sich im Hinblick auf die gebietliche Neugliederung allein zu den Fragen der Umsiedlung und dem geeigneten Umsiedlungsstandort verhält, nicht aber eine eigenständige Auseinandersetzung mit dem davon zu unterscheidenden Problemkreis der Entfaltung der Maßstäbe und Kriterien fiir eine gebietliche Zuordnung der Gemeinde Heuersdorf enthält. Ungeachtet der Frage, ob sich der Entwurf nicht dahingehend verstehen läßt, daß die Wahl des Umsiedlungsstandortes auch diejenige des Eingliederungsortes präjudiziert, blieb der Anhörungsentwurf und die Anhörung auf die Frage der energiewirtschaftlich veranlaßten Umsiedelung beschränkt. Dagegen zeigt der spätere Gesetzentwurf der Staatsregierung zum Heuersdorfgesetz eine deutliche Trennving von energiewirtschaftlicher Inanspruchnahme und dadurch bedingter Umsiedlung einerseits, sowie gebietlicher Neuordnung in Anlehnung an die allgemeinen Maßstäbe der Gebietsreform andererseits, die in der nunmehr veränderten normativen Fassung auch zum Ausdruck kommt. Darin liegt eine Konzeptänderung gegenüber den ursprünglichen, allein auf die energiewirtschaftliche Inanspruchnahme angelegten Umsiedlungs- und Eingliederungsüberlegungen. Zwar ist die Antragstellerin ebenso wie ihre Bevölkerung zum Entwurf des Gemeindegebietsreformgesetzes Westsachsen angehört worden, das eine ausfuhrliche Auseinandersetzung mit den möglichen gebietlichen Zuordnungsalternativen enthält. Indes ändert dies nichts an der Konzeptänderung des Heuersdorfgesetzes gegenüber dem Anhörungsentwurf. Im übrigen leidet die Anhörung insoweit auch - wie die Antragstellerin bereits in ihrer Stellungnahme zum Gemeindegebietsreformgesetz Westsachsen zum Ausdruck gebracht hat — an der für sie unklaren Situation, zum einen mit dem Entwurf der Staatsregierung zum Heuersdorfgesetz, zum anderen mit dem Referentenentwurf zum Gemeindegebietsreformgesetz Westsachsen konfrontiert gewesen zu sein, ohne daß hinreichend Klarheit über die Ziele und Mittel des Gesetzgebers bestanden hätte. Hierauf hat die Antragstellerin in ihrer Stellungnahme zur Anhörung zum Referentenentwurf des Gemeindegebietsreformgesetzes Westsachsen nachdrücklich hingewiesen, ohne daß der Gesetzgeber hierauf etwa in Form einer erneuten Anhörung eingegangen wäre. Damit war für die Gemeinde nicht ersichtlich, ob der Gesetzgeber die Neugliederung nach den Maßstäben und Kriterien des Gesetzentwurfs zum Heuersdorfgesetz oder denjenigen des Gemeindegebietsreformgesetzes Westsachsen vornehmen wollte. Es kommt im übrigen für die verfassungsrechtliche Beurteilung der Anhörung nicht darauf an, daß das gesetzgeberische Vorhaben möglicherweise in einem Umfeld vielfältiger Gespräche auf verschiedenen Ebenen mit unterschiedlichen Beteiligten diskutiert wurde. Solche Diskussionen finden vor und während eines Neugliederungsverfahren vielfältig statt und sind als solche eine sinnvolle Vorbereitung und Ergänzung, ohne doch die amtliche Anhörung ersetzen zu können. Als verfassungsrechtlich gesicherte Rechtsposition ist das Anhörungsrecht auf klare Zäsuren angewiesen, da sich mit der Durchführung der Anhörung für die betroffenen Träger der kommunalen Selbstverwaltung ihre verfahrensrechtliche Position zu einem bestimmten Neugliede-
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rungsvorhaben erfüllt. Die Anhörung verliert ihren Wert, wenn sie sich in einem allgemeinen Gespräch auflöst und nicht mehr bestimmbar ist, ob und wann dem Anhörungsrecht genüge getan ist (zum Ganzen bereits SächsVerfGH, JbSächsOVG 2, 110,127 f). Die Anhörung zum Heuersdorfgesetz genügt daher nicht den von Verfassungs wegen an sie zu stellenden Anforderungen. Das Heuersdorfgesetz verstößt schon insoweit gegen Art. 88 Abs. 1, 2 SachsVerf und ist daher nichtig. 2.6 § 1 Heuersdorfgesetz, der die Inanspruchnahme der Ortslage Heuersdorf für die Belange des Braunkohlenabbaus als Möglichkeit vorsieht, ist im übrigen aus weiteren Gründen mit Art. 88 Abs. 1, 2 SachsVerf unvereinbar und daher nichtig. 2.6.1 Der Gesetzgeber verfolgt mit § 1 Heuersdorfgesetz allerdings verfassungsrechtlich legitime Gemeinwohlziele. Die Gewährleistung einer möglichst sicheren, preiswürdigen sowie umweit- und ressourcenschonenden Energieversorgung durch Energieversorgungsunternehmen ist ein legitimes Gemeinwohlziel, das dem Energiewirtschaftsgesetz von 1935, aber auch dem Gesetz zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts vom 24. April 1998 (BGBl I, 730) zugrunde liegt, wie § 1 EnWG (1999) zeigt, der als Zweck des Gesetzes eine möglichst sichere, preisgünstige und umweltverträgliche leitungsgebundene Versorgung mit Elektrizität und Gas im Interesse der Allgemeinheit vorsieht. Auch wenn nach der Liberalisierung der Strommärkte die bisherige Konzeption geschlossener Versorgungsgebiete — die ersichtlich zumindest teilweise noch der gesetzgeberischen Begründung des Vorhabens zugrunde liegt — aufgegeben ist und die staatliche Verantwortung für diesen Bereich in ein wettbewerbsorientiertes Konzept eingefügt ist, ändert dies angesichts der staatlichen Gewährleistungsverantwortung für eine sichere Energieversorgung an den legitimen Allgemeinwohlzielen nichts (dazu ausführlich J. P. Schneider Liberalisierung der Stromwirtschaft durch regulative Marktorganisation, 1999, S. 116ff). In diesem Sinne läßt sich durchaus weiterhin davon sprechen, daß die Gewährleistung der Energieversorgung ein Gemeinschaftsinteresse höchsten Ranges darstellt (vgl. BVerfGE 30, 292, 323f; 66, 248,258; vgl. auch BVerfGE 91,186, 206). 2.6.2 Die von der Antragstellerin erhobene Rüge der Orientierung an privaten Gewinninteressen der MIBRAG bzw. der VEAG verfehlt den Zusammenhang von privater Energieversorgung in einem wettbewerblichen Umfeld und staatlicher Gewährleistungsverantwortung. An dem öffentlichen Zweck ändert sich nichts dadurch, daß der Staat — nach der Liberalisierung des Strommarktes verstärkt — die Erreichung der öffentlichen Zwecke den privaten Unternehmen überläßt, denen bestimmte Gemeinwohlverpflichtungen auferlegt werden (vgl. bereits BVerfGE 66, 248, 57 f zu Art. 14 Abs. 3 GG). Allenfalls können in solchen Fällen Sicherungen der öffentlichen Zweckbindung erforderlich werden, wenn das Verhalten Privater nicht schon aus sich heraus die Verfolgung der öffentlichen Zwecke gewährleistet (vgl. zu Art. 14 Abs. 3 GG BVerfGE 74,264,285 f). Zu Recht verweist im übrigen die BegrünLVerfGE 11
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dung des Gesetzesentwurfs auf die Zwecke des Bundesberggesetzes und die sogenannte Rohstoffsicherungsklausel (§ 1 Nr. 1, § 48 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 BBergG). Nicht nur, daß die ausreichende Versorgung des Marktes mit Bodenschätzen, die der öffentlichen Energieversorgung dienen, von dem Gesetz als zu verfolgender öffentlicher Zweck ausgezeichnet wurde, die privaten Unternehmen verwirklichen mit dem Lagerstättenabbau die öffentlichen Zwecke auch unmittelbar (vgl. BVerwGE 87, 241, 249). Die Erfüllung des gesetzgeberischen Zwecks ist damit nicht nur mittelbare Folge eines im übrigen auf Gewinnerzielung gerichteten privaten Vorhabens, sondern dient ungeachtet seiner Privatnützigkeit unmittelbar dem öffentlichen Zweck. 2.6.3 Ebenso sind die vom Gesetzgeber verfolgten arbeitsmarkt-, wirtschaftsund strukturpolitischen Ziele legitime Gründe des Wohls der Allgemeinheit, denen angesichts des wirtschaftsstrukturellen Umbruchs in den neuen Bundesländern ein besonderes Gewicht zukommt. Soweit es die arbeitsmarktpolitischen Gründe betrifft, werden diese bereits durch Art. 7 Abs. 1 SächsVerf gestützt, worauf die Sächsische Staatsregierung zu Recht hinweist. 2.6.4 Nach Art. 88 Abs. 1, 2 SächsVerf muß die Inanspruchnahme der Antragstellerin für energiepolitische Zwecke jedoch erforderlich sein, um die genannten Gemeinwohlziele zu erreichen. Die Beurteilung dieser Frage setzt eine Prognose des Gesetzgebers über die künftige Entwicklung des Strombedarfs voraus. Diese genügt vorliegend jedoch — auch unter Berücksichtigung der veränderten energierechtlichen Rahmenbedingungen — nicht den an sie von Verfassungs wegen zu stellenden Anforderungen. 2.6.4.1 Angesichts der Vielzahl der zu berücksichtigenden Faktoren sind die Prognosen des Gesetzgebers über die Strombedarfsentwicklung, die zugrunde liegenden Daten zur wirtschaftlichen Entwicklung, die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen naturgemäß mit Unsicherheiten verbunden. Sofern die vorhandenen Erkenntnisquellen keine eindeutige Klärung ermöglichen, führt dies nicht etwa zu einem Handlungsverbot des Gesetzgebers, zum Aufschub von Maßnahmen oder gar der Verfassungswidrigkeit von Maßnahmen. Vielmehr hat der Gesetzgeber die ihm mit vertretbarem Aufwand zugänglichen Erkenntnisquellen auszuschöpfen. Auf dieser Grundlage kommt ihm im Hinblick auf die künftige Entwicklung eine Einschätzungsprärogative zu. Auf dem Gebiet der Arbeitsmarkt-, Sozial- und Wirtschaftsordnung gebührt dem Gesetzgeber dabei ein besonders weitgehender Einschätzungs- und Prognosevorrang (vgl. BVerfGE 87, 363, 383). Seine Entscheidung kann verfassungsgerichtlich nur beanstandet werden, wenn die Prognose darauf beruht, daß nicht alle mit vertretbarem Aufwand zugänglichen Entscheidungsgrundlagen ausgeschöpft worden sind, wenn unvertretbare tatsächliche Annahmen zur Grundlage gemacht worden sind, wenn in der Anwendung der Methoden Fehler gemacht wurden oder wenn die Prognose sonst eindeutig fehlerhaft war (vgl. SächsVerfGH, SächsVBl 1999, 236, 238; StGH Bad.-Württ., ESVGH 23,1, 7f). LVerfGE 11
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2.6.4.2 Für die Frage, ob der Gesetzgeber die ihm mit vertretbarem Aufwand zugänglichen Erkenntnisgrundlagen im Hinblick auf die künftige Entwicklung des Strombedarfs in Ostdeutschland und die Auslastung des Kraftwerks Lippendorf ausgeschöpft hat, müssen die in der Begründung des Gesetzgebungsentwurfs genannten Gutachten, insbesondere die auf den Seiten 21—25 des Gesetzentwurfs zitierten und ausgewerteten Gutachten, außer Betracht bleiben. Ausweislich der zitierten Schreiben des Präsidenten des Sächsischen Landtages vom 7. März 2000 und 25. April 2000 sind diese Gutachten zu keinem Zeitpunkt zu den Akten des Parlaments und zu den Materialien der Ausschüsse gelangt. Sie sind daher zunächst nicht Grundlage der Prognose des Gesetzgebers geworden. 2.6.4.3 Es kann offen bleiben, ob schon dies einen Mangel der gesetzgeberischen Abwägung begründet, und ob dieser gegebenenfalls durch das weitere Gesetzgebungsverfahren, insbesondere die Anhörung im Innenausschuß des Sächsischen Landtages vom 5. Februar 1998 (Drs. 2/7278), geheilt worden ist. Denn unabhängig davon erweist sich die gesetzgeberische Prognose als defizitär. Zum einen fehlt es an einer ausreichenden Berücksichtigung der durch die Liberalisierung der europäischen Strommärkte ermöglichten und zum Zeitpunkt des Erlasses des Gesetzes bereits absehbaren Veränderungen. Der Gesetzentwurf der Staatsregierung war zumindest in Teilen deutlich an einem Modell geschlossener Versorgungsmärkte orientiert (vgl. Drs. 2/7268 S. 20). Diese Grundannahme war infolge der weitreichenden Liberalisierung der Strommärkte nicht haltbar. Die dem Gesetzentwurf zugrunde liegende — und von der Sächsischen Staatsregierung in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich als solche bestätigte — Modellvorstellung geht davon aus, ein erhöhter Stromverbrauch infolge eines prognostizierten Wirtschaftswachstums schlage sich als Erhöhung des Stromabsatzes der VEAG nieder. Dies wiederum begründe die Erwartung eines erhöhten Braunkohleabsatzes, der wiederum die Devastierung von Heuersdorf erforderlich mache. Dieses Modell geschlossener Versorgungsmärkte ist mit der Liberalisierung der Strommärkte nicht haltbar. Ein erhöhter Stromverbrauch in Ostdeutschland — der zudem zwischen den Gutachtern in hohem Maße umstritten war — schlägt sich nicht notwendig als Erhöhung des Stromabsatzes der VEAG nieder. An entscheidender Stelle fehlt daher der Prognose, die die Inanspruchnahme von Heuersdorf rechtfertigen soll, ein unentbehrliches Zwischenglied. Zwar ist in der Anhörung zum Gesetzentwurf bezüglich der Liberalisierung um Erläuterung gebeten worden. Insoweit erfolgten aber eher vage Überlegungen zu gesteigerten Wettbewerbs- und Wirtschaftlichkeitsanforderungen (vgl. das stenografische Protokoll der öffentlichen Anhörung im Innenausschuß des Landtages zum Heuersdorfgesetz vom 5.2.98, S. 53 — Spaniol, S. 56 — Eckart), die nicht über das hinausgingen, was auch bereits in der Begründung zum Gesetzentwurf der Staatsregierung zur Liberalisierung ausgeführt war. Mag also die Liberalisierung des Strommarktes als solche gesehen worden sein, so ist die Rückwirkung auf die Grundannahmen der gesetzgeberischen Prognose nicht
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ausreichend berücksichtigt worden. Bereits zu diesem Zeitpunkt waren aber differenziertere Aussagen zu den Folgen der Liberalisierungen möglich. Dies zeigt nicht zuletzt die in der mündlichen Verhandlung hervorgehobene Beteiligung der Sächsischen Staatsregierung an der Einführung und europarechtlichen Absicherung der Braunkohleschutzklausel des Art. 4 § 3 des Gesetzes zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts vom 28. April 1998 (BGBl I, 730), mit deren Hilfe der Zugang zum ostdeutschen Strommarkt für Wettbewerber zumindest zeitweise verhindert oder zumindest erschwert werden sollte (zu den zeitgleichen Bemühungen auf europäischer Ebene und ihren Motiven vgl. Entscheidung der Kommission vom 8. Juni 1999 über den Antrag Deutschlands auf eine Übergangsregelung gem. Art. 24 der Richtlinie 96/92/EG des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt, ABl Nr. L 319/18 vom 11.12.1999 Ziff. 16, 33). In das Abwägungsmaterial des Sächsischen Landtages ist dies ebenso wenig eingegangen wie die ungewissen Erfolgsaussichten der Bemühungen zur Einführung einer Braunkohleschutzklausel. 2.6.4.3.2 Zudem kontrastiert die in diesem Zusammenhang der ostdeutschen Braunkohleverstromung immer wieder attestierte Wirtschaftlichkeit (vgl. Drs. 2/7268 S. 20 f, zurückhaltender aber die Stellungnahme der Prognos-AG in der öffentlichen Anhörung des Innenausschusses des Sächsischen Landtages vom 5.2.1998 S. 9) mit den zum gleichen Zeitpunkt von der Bundesregierung gegenüber der Europäischen Kommission zur Rechtfertigung der geplanten Braunkohleschutzklausel des Art. 4 § 3 des Gesetzes zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts vom 28. April 1998 (BGBl I, 730) gemachten Angaben. Danach wird die geplante Schutzklausel gerade dadurch gerechtfertigt, daß jedenfalls bis 2003, möglicherweise auch bis 2005, der von der VEAG erzeugte Braunkohlenstrom nicht nur teurer als Elektrizität aus anderen Energieträgern, wie etwa Erdgaskraftwerken, sondern auch teurer als westdeutscher Braunkohlestrom sei, und zwar infolge der hohen Investitionskosten (vgl. Entscheidung der Kommission vom 8. Juni 1999 über den Antrag Deutschlands auf eine Ubergangsregelung gem. Art. 24 der Richtlinie 96/92/EG des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt, ABl Nr. L 319/18 vom 11.12.1999 Ziff. 46ff; vgl. auch Deutscher Bundestag, 13. WP, 169. Sitzung, Plenarprotokoll 13/169, S. 15216). 2.6.4.3.3 Zudem und mit der nicht mehr haltbaren Modellvorstellung zusammenhängend wird aus dem erhöhten Strombedarf auf eine Auslastung der vorhandenen Braunkohlekraftwerke, insbesondere des Kraftwerkes Lippendorf geschlossen (vgl. Prognos, Stellungnahme im Rahmen der Anhörung des Innenausschusses im Sächsischen Landtag vom 5.2.1998, S. 3ff). Ungeachtet der umstrittenen Grundannahmen, läßt die Strombedarfsprognose einen unmittelbaren Rückschluß auf die Auslastung der Kraftwerke ohnehin nicht zu. Dies gilt zum einen, weil sich der Energieträgermix ändern kann. Vor allem aber hätte der sich aus den Geschäftsberichten der LVerfGE 11
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VEAG ergebende kontinuierliche Rückgang ihres Stromabsatzes wie auch der Stromerzeugung Anlaß zur Überprüfung der Grundannahmen geben müssen. 2.6.4.3.4 Schon aus diesen Gründen genügt die Prognose des Gesetzgebers nicht dem Erfordernis, alle verfugbaren und mit vertretbarem Aufwand für die Entscheidung bedeutsamen Daten zu ermitteln und bei der Prognose der künftigen Entwicklung zu berücksichtigen. Die Beurteilung der Erforderlichkeit der Inanspruchnahme der Ortslage Heuersdorf entspricht damit nicht den verfassungsrechtlich an sie zu stellenden Anforderungen. Daher verstößt § 1 Heuersdorfgesetz gegen Art. 88 Abs. 1, 2 SächsVerf, ohne daß es auf die Prüfung der weiteren, von der Antragstellerin erhobenen Bedenken ankäme. 2.7 Damit ist aber nichts darüber ausgesagt, ob die Ortslage Heuersdorf auf der Grundlage einer den Anforderungen der Verfassung genügenden Prognose in Anspruch genommen werden könnte. 2.8 Das Heuersdorfgesetz ist insgesamt nichtig. Zwar bewirkt die Nichtigkeit einer oder mehrerer Bestimmungen des Gesetzes grundsätzlich nicht die Nichtigkeit des gesamten Gesetzes (vgl. BVerfGE 8, 274, 301; std. Rspr. vgl. etwa BVerfGE 65, 325, 358). Etwas anderes hat aber zu gelten, wenn sich aus dem objektiven Sinn des Gesetzes ergibt, daß die übrigen mit der Verfassung zu vereinbarenden Bestimmungen keine selbstständige Bedeutung haben. So liegt es hier. Mit der Nichtigkeit der § § 1 , 2 Heuersdorfgesetz fehlt den weiteren Vorschriften ihr Regelungsgegenstand. 2.9 Die nachgereichten Schriftsätze geben dem Gericht keinen Anlaß, erneut in eine mündliche Verhandlung einzutreten. III. Bei der nach § 10 Abs. 1 SächsVerfGHG iVm § 35 BVerfGG zu erlassenden Anordnung war zu berücksichtigen, daß die Antragstellerin seit mehreren Monaten faktisch in die Stadt Regis-Breitingen eingegliedert war und die Amtszeit des zuletzt gewählten Gemeinderats der Antragstellerin abgelaufen ist. Die mit der Vollstreckungsanordnung verbundene Einbuße an Entscheidungsbefugnissen der Antragstellerin erscheint hinnehmbar, um die mit der Rückabwicklung der Eingliederung verbundenen praktischen Schwierigkeiten zu mildern. Im Übrigen ist es diesbezüglich vorrangig Sache der Legislative und Exekutive, aus dieser Entscheidung in angemessener Zeit die erforderlichen Konsequenzen zu ziehen. IV. Der Antragstellerin sind die notwendigen Auslagen zu erstatten ( § 1 6 Abs. 4 SächsVerfGHG). LVerfGE 11
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Nr. 4 1. a) Die Selbstverwaltungsgarantie des Art. 82 Abs. 2 SächsVerf enthält ein verfassungsrechtliches Prinzip dezentraler Aufgabenverteilung, das vom zuständigen Gesetzgeber zu beachten ist und für Angelegenheiten mit relevantem örtlichen Charakter einen Vorrang dezentral-kommunaler vor zentraler, staatlich determinierter Aufgabenerfüllung begründet. b) Zu den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft gehört auch das Errichten und Betreiben einer kommunalen Sparkasse. 2. Die gesetzliche Ermächtigung, die Trägerschaft kommunaler Sparkassen auf den Sachsen-Finanzverbund zu übertragen, beeinträchtigt — unabhängig von der Freiwilligkeit der Übertragung — die objektive Rechtsinstitutionsgarantie kommunaler Selbstverwaltung, da die Eigenverantwortlichkeit kommunaler Betätigung wegen weitgehender Einwirkungsbefugnis des Verbandes nicht mehr gewährleistet ist. 3. a) Die Durchbrechung des Prinzips dezentraler Aufgabenverteilung durch das Neuordnungsgesetz ist bei verfassungskonformer Auslegung der die Befugnisse des Sachsen-Finanzverbundes regelnden Normen durch den Gesetzesvorbehalt gem. Art. 82 Abs. 2 SächsVerf durch überwiegende Gemeinwohlgründe gerechtfertigt, da sie zur Sicherstellung ordnungsgemäßer Aufgabenerfüllung erforderlich ist. b) Das Erfordernis der Sicherstellung ordnungsgemäßer Aufgabenerfüllung begrenzt sowohl die Zulässigkeit der Ubertragungsermächtigung selbst als auch die Ausgestaltung der Organisation und Befugnisse des neuen Trägers der kommunalen Sparkassen.* Verfassung des Freistaates Sachsen Art. 81 Abs. 1 Nr. 2, 82 Abs. 2, 84 Abs. 2 Gesetz über den Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen §§ 7 Nr. 2, 21 Nr. 1, 23 S. 2 Urteil vom 23. November 2000 - Vf. 62-11-99 in dem Verfahren der abstrakten Normenkontrolle auf Antrag von 36 Mitgliedern des 2. Sächsischen Landtages
* Nichtamtlicher Leitsatz.
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Art. 1 § 2 Abs. 1 des Gesetzes zur Neuordnung der öffentlich-rechtlichen Kreditinstitute im Freistaat Sachsen einschließlich der Sächsischen Aufbaubank GmbH vom 3. Mai 1999 (SächsGVBl. S. 190) ist mit der Sächsischen Verfassung vereinbar. Art. 1 § 12 Abs. 6 S. 1 und 4, Abs. 7 S. 1 iVm Art. 2 § 8 Abs. 3 Nr. 1 S. 1 des Gesetzes zur Neuordnung der öffentlich-rechtlichen Kreditinstitute im Freistaat Sachsen einschließlich der Sächsischen Aufbaubank GmbH vom 3. Mai 1999 sind verfassungskonform dahin auszulegen, daß die Genehmigung bzw. Zustimmung des Verbandsvorstandes zur Bestellung, Anstellung und Wiederbestellung von ordentlichen und voll stimmberechtigten stellvertretenden Vorstandsmitgliedern der Verbandssparkassen sowie die Genehmigung bzw. Zustimmung zur Bestellung und Wiederbestellung stellvertretender Vorstandsmitglieder mit beratender Funktion lediglich verweigert werden darf, wenn entweder die Bestellungsvoraussetzungen gem. § 19 Abs. 2 des Sparkassengesetzes des Freistaates Sachsen (SächsSparkG) vom 3. Mai 1999 (SächsGVBl. 190, 195) nicht vorliegen, oder wenn die Verweigerung der Genehmigung bzw. Zustimmung notwendig ist, um die Befolgung von Verbandsrichtlinien für die Geschäfts- oder Personalpolitik durchzusetzen, die zur Sicherstellung ordnungsgemäßer Aufgabenerfüllung der Verbandssparkasse erforderlich sind. Art. 1 § 12 Abs. 7 S. 4 des Gesetzes zur Neuordnung der öffentlich-rechtlichen Kreditinstitute im Freistaat Sachsen einschließlich der Sächsischen Aufbaubank GmbH vom 3. Mai 1999 ist verfassungskonform dahin auszulegen, daß der Verbandsvorstand eine Abberufung und Kündigung aus einem anderen wichtigen Grund iSd § 19 Abs. 5 S. 1 SächsSparkG gegen den Willen des Verwaltungsrates der Verbandssparkasse nur aussprechen darf, wenn das betroffene Vorstandsmitglied der Verbandssparkasse eine die weitere Zusammenarbeit ausschließende Pflichtverletzung gegenüber dem Verband zu vertreten hat. Zur Verweigerung einer vom Verwaltungsrat der Verbandssparkasse geforderten Abberufung oder Kündigung ermächtigt Art. 1 § 12 Abs. 7 S. 4 des Gesetzes zur Neuordnung der öffentlich-rechtlichen Kreditinstitute im Freistaat Sachsen einschließlich der Sächsischen Aufbaubank GmbH vom 3. Mai 1999 bei verfassungskonformer Auslegung nicht, wenn das Vorstandsmitglied seine Pflichten gegenüber der Verbandssparkasse in einer Weise verletzt hat, die seine Weiterbeschäftigung für diese untragbar erscheinen läßt. Art. 1 § 12 Abs. 6 S. 2 und 3, Abs. 7 S. 2 und 3, §§ 16 und 19 sowie Art. 2 § 6 Abs. 2 Nr. 2, § 6 Abs. 3, § 8 Abs. 3 Nr. 1 S. 2, Nr. 2, § 9 Abs. 2 Nr. 3, § 11 Abs. 3, § 19 Abs. 3 S. 2 und 5 des Gesetzes zur Neuordnung der öffentlich-rechtlichen Kreditinstitute im Freistaat Sachsen einschließlich der Sächsischen Aufbaubank GmbH vom 3. Mai 1999 sind mit der Sächsischen Verfassung vereinbar. Der Freistaat Sachsen hat den Antragstellern ein Drittel ihrer notwendigen Auslagen zu erstatten.
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Gründe: A. Die Antragsteller wenden sich im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle gegen Vorschriften des Gesetzes über den Sachsen-Finanzverband (VerbG) und gegen Vorschriften des Sächsischen Sparkassengesetzes (SächsSparkG), die durch Art. 1 und 2 des Gesetzes zur Neuordnung der öffentlich-rechtlichen Kreditinstitute im Freistaat Sachsen einschließlich der Sächsischen Aufbaubank GmbH vom 3. Mai 1999 (SächsGVBl. S. 190, 195) erlassen beziehungsweise neu gefaßt wurden und das Einbringen kommunaler Sparkassen in den vom Freistaat Sachsen zu errichtenden Sachsen-Finanzverband regeln. I. Am 24. März 1998 unterbreitete die Sächsische Staatsregierung den Gewährträgern der sächsischen Sparkassen Diskussionsvorschläge zur Neuordnung der öffentlich-rechtlichen Kreditinstitute in Sachsen. Der erste Referentenentwurf eines Neuordnungsgesetzes vom 30. Juni 1998 wurde nach überwiegend kritischen Stellungnahmen, insbesondere der kommunalen Spitzenverbände und des Ostdeutschen Sparkassen- und Giroverbandes überarbeitet. Die endgültige Fassung des zweiten Referentenentwurfs vom 17. September 1998 wurde mit Schreiben des Sächsischen Staatsministeriums der Finan2en vom 18. und 21. September 1998 dem Sächsischen Städte- und Gemeindetag, den Kreisfreien Städten und Landkreisen sowie dem Sächsischen Landkreistag zur Anhörung übermittelt. Am 5. November 1998 brachte die Sächsische Staatsregierung den Entwurf des Gesetzes zur Neuordnung der öffentlich-rechtlichen Kreditinstitute im Freistaat Sachsen einschließlich der Sächsischen Aufbaubank GmbH (DS 2/10015) in den Sächsischen Landtag ein. Dessen Haushalts- und Finanzausschuß führte am 11. Januar 1999 eine öffentliche Anhörung zum Gesetzentwurf durch und legte am 10. März 1999 dem Sächsischen Landtag seinen Bericht und eine in mehreren Punkten vom Gesetzentwurf abweichende, Anregungen der kommunalen Spitzenverbände aufgreifende Beschlußempfehlung (DS 2/11111) vor. Mit deren Text wurde das Gesetz am 17. März 1999 vom Sächsischen Landtag beschlossen, am 3. Mai 1999 ausgefertigt und am 21. Mai 1999 verkündet. Die fur das Verfahren wesentlichen Bestimmungen lauten: Artikel 1 Gesetz über den Sachsen-Finanzverband Abschnitt 1 Allgemeine Vorschriften §1 Entstehung, Name, Rechtsform,Sitz (1) Der Freistaat Sachsen errichtet den „Sachsen-Finanzverband" (nachstehend LVerfGE 11
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Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen Verband genannt) als rechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts. Trager der Anstalt sind die nach § 4 Abs. 1 am Stammkapital Beteiligten (Anteilseigner).
§2 Aufgaben, Eigenverantwortlichkeit der Vorstände der Kreditinstitute, Stärkung des regionalen Kundengeschäfts, Mittelstandsförderung (1) Dem Verband obliegt die Verwaltung der auf ihn nach Maßgabe der §§ 16 bis 18 übertragenen Sparkassen (Verbandssparkassen), der übertragenen Anteile an der Landesbank Sachsen Girozentrale und an der Sächsischen Aufbaubank G m b H . Er erläßt insbesondere Richtlinien für die Geschäfts- und Personalpolitik dieser Kreditinstitute unter Beachtung der in diesem Gesetz und in anderen Rechtsvorschriften enthaltenen besonderen Bestimmungen. Die Verwaltung der genannten Kreditinstitute hat unter Wahrung des bankaufsichtsrechtüchen Prinzips der Eigenverantwortlichkeit der Vorstände von Kreditinstituten zu erfolgen. (2) Als Träger der Verbandssparkassen sowie als Anteilseigner und Träger der Landesbank Sachsen Girozentrale hat der Verband deren Geschäfte nach Maßgabe dieses Gesetzes und der Satzung des Verbandes (nachstehend Satzung genannt) zur Stärkung ihrer Wettbewerbsfähigkeit und ihres öffentlichen Auftrags zu fördern. Er soll dabei vor allem das dezentrale Kundengeschäft der Verbandssparkassen in der Region stärken. Der Verbund zwischen den Verbandssparkassen und der Landesbank Sachsen Girozentrale sowie dem Verband soll auch der Verbesserung der Mittelstandsförderung und der Unterstützung der öffentlich-rechtlichen Körperschaften dienen. (3) Als Anteilseigner der Sächsischen Aufbaubank G m b H hat der Verband insbesondere die Aufgabe, dieses Kreditinstitut bei der Gewährung und Verwaltung staatlicher Finanzhilfen zu unterstützen. (4) Der Verband kann mit Zustimmung der Anteilseignerversammlung zur Unterstützung seiner Aufgaben andere Unternehmen gründen oder erwerben oder sich an ihnen beteiligen. (5) Der Verband ist berechtigt, Unternehmensverträge im Sinne des Aktiengesetzes mit den Verbandssparkassen und der Landesbank Sachsen Girozentrale (Tochteranstalten), der Sächsischen Aufbaubank G m b H und Unternehmen im Sinne des Absatzes 4, bei denen dem Verband zumindest die Mehrheit der Anteile zusteht (Tochtergesellschaften), abzuschließen.
§3 Gewährträgerhaftung, Anstaltslast (1) Für die Verbindlichkeiten des Verbands haften als Gewährträger die Anteilseigner unbeschränkt.... Im Innenverhältnis haften die Gewährträger entsprechend ihrer Beteiligung am Stammkapital des Verbands. (2) Die Gewährträger stellen als Anstaltsträger gemeinsam sicher, daß der Verband seine Aufgaben erfüllen kann (Anstaltslast). Im Innenverhältnis sind sie entsprechend ihrer Beteiligung am Stammkapital zu Leistungen aufgrund der Anstaltslast verpflichtet.
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§4 Stammkapital, Rücklagen (1) Der Verband hat ein Stammkapital. Am Stammkapital sind nach Maßgabe der §§ 16 bis 18 Landkreise, Kreisfreie Städte, von ihnen gebildete Zweckverbände bei Zweckverbandssparkassen und der Freistaat Sachsen beteiligt. Abschnitt 2 Organisation des Verbands Unterabschnitt 1 Anteilseignerversammlung §7 Zusammensetzung und Aufgaben der Anteilseignerversammlung (1) Die Anteilseignerversammlung ist die Vertretung der nach § 4 am Stammkapital Beteiligten. Die Stimmrechte der Vertreter der Anteilseigner bemessen sich nach der Höhe ihrer Beteiligungen am Stammkapital. Die Stimmabgabe hat fur jeden Anteilseigner einheitlich zu erfolgen. (9) Die Anteilseignerversammlung beschließt über 2. den Erlaß und die Änderung der Satzung der Verbandssparkassen; 4. die Verwendung des Jahresüberschusses; 11. die Richtlinien für die Filialpolitik für die Verbandssparkassen. Für die Dauer von sieben Jahren ab In-Kraft-Treten dieser Bestimmung beschließt die Anteilseignerversammlung auch über die Schließung von Filialen der Verbandssparkassen; diese Entscheidung ergeht nach vorheriger Anhörung des Verwaltungsrats der betroffenen Sparkasse und auf Vorschlag des zuständigen Sparkassenvorstands; 12. die Auflösung einer Verbandssparkasse auf Vorschlag des bisherigen Trägers der betroffenen Sparkasse; 13. Vereinbarungen über eine Vereinigung von Verbandssparkassen nach § 28 des Sparkassengesetzes des Freistaates Sachsen (SächsSparkG) vom 3. Mai 1999 (SächsGVBl. S. 190, 195) auf Vorschlag der bisherigen Träger der betroffenen Sparkassen; 16. allgemeine Richtlinien für die Personalpolitik des Verbands und für die Geschäftspolitik der Tochteranstalten und Tochtergesellschaften sowie die Richtlinien für das Kreditgeschäft der Tochteranstalten und Tochtergesellschaften, jeweils unter Beachtung der in diesem Gesetz und in anderen Rechtsvorschriften enthaltenen besonderen Bestimmungen; 18. die Grundsätze zur Anstellung von Vorständen der Tochteranstalten .... 19. die ganze oder teilweise Zuweisung des Jahresüberschusses der Verbandssparkassen in ihre Rücklagen nach § 27 Abs. 1 S. 2 SächsSparkG; 20. die formwechselnde Umwandlung des Verbands ...
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Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen (10) Beschlüsse nach Absatz 9 Nr. 2,4,11 bis 13 und 19 bedürfen der Mehrheit von drei Vierteln der abgegebenen Stimmen sowie der Mehrheit der von den kommunalen Anteilseignern abgegebenen Stimmen. Beschlüsse nach Absatz 9 Nr. 20 bis 22 bedürfen der Einstimmigkeit der nach Maßgabe der Absätze 1 und 2 insgesamt vorhandenen Stimmen. Im übrigen bedürfen die Beschlüsse nach Absatz 9 der Mehrheit der von den kommunalen Anteilseignern abgegebenen Stimmen und der Stimmen der Vertreter des Freistaates Sachsen. (13) Die Anteilseignerversammlung beschließt auf Vorschlag des Vorstands 1. über die Grundsätze der jährlich fortzuschreibenden mittelfristigen Unternehmensplanung des Verbandes und die allgemeinen Richtlinien zur jährlich fortzuschreibenden mittelfristigen Unternehmensplanung bei Tochteranstalten und Tochtergesellschaften; 2. über die allgemeinen Richtlinien der Personalpolitik für die Tochteranstalten und Tochtergesellschaften ... 4. im Falle der Beschlußfassung nach § 12 Abs. 6 S. 3. Beschlüsse nach S. 1 Nr. 1 bis 3. bedürfen der Mehrheit der abgegebenen Stimmen der kommunalen Anteilseigner und der Stimmen der Vertreter der Freistaates Sachsen. Beschlüsse nach S. 1 Nr. 4 bedürfen der Mehrheit von drei Vierteln der abgegebenen Stimmen sowie der Mehrheit der von den kommunalen Anteilseignern abgegebenen Stimmen. Unterabschnitt 3 Vorstand §12 Zusammensetzung, Bestellung und Aufgaben des Vorstands (1) Der Vorstand besteht aus mindestens zwei Mitgliedern. (2) Die Vorstandsmitglieder werden von der Anteilseignerversammlung bestellt und abberufen. ... (6) Der Genehmigung des Vorstands bedürfen Beschlüsse des Verwaltungsrats von Verbandssparkassen über die Bestellung und Anstellung der Mitglieder und der stellvertretenden Mitglieder des Vorstands nach § 19 Abs. 1 S. 2 SächsSparkG. Lehnt der Vorstand den Vorschlag des Verwaltungsrats der Verbandssparkasse für die Bestellung und Anstellung ab, unterbreitet der Verwaltungsrat der Verbandssparkasse dem Vorstand einen erneuten Vorschlag. Wird dieser erneut abgelehnt, kann der Vorstand mit Zustimmung der Anteilseignerversammlung einen eigenen Beschluß fassen. Dieses Verfahren gilt entsprechend für die Bestellung von stellvertretenden Mitgliedern des Vorstands nach § 19 Abs. 1 S. 3 SächsSparkG. (7) Über die Wiederbestellung der Mitglieder und der stellvertretenden Mitglieder des Vorstands der Verbandssparkassen nach § 19 Abs. 3 S. 5 SächsSparkG entscheidet der Vorstand des Verbands im Einvernehmen mit dem Verwaltungsrat der entsprechenden Verbandssparkasse. Findet der Vorschlag des Vorstands des Verbands, den Vorstand der Verbandssparkasse nicht wiederzubestellen, keine Zustimmung
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beim Verwaltungsrat der Verbandssparkasse, entscheidet der Vorstand des Verbands abschließend. Im Übrigen entscheidet bei Nichteinigung die Anteilseignerversammlung abschließend. Uber die Abberufung und Kündigung nach Maßgabe des § 19 Abs. 5 S. 1 SächsSparkG entscheidet der Vorstand des Verbands im Benehmen mit dem Verwaltungsrat der entsprechenden Verbandssparkasse. Abschnitt 4 Übertragung der Trägerschaft und von Anteilen an Kreditinstituten §16 Übertragung der Trägerschaft an sächsischen Sparkassen auf den Verband (1) Die Landkreise, die Kreisfreien Städte und die von ihnen gebildeten Zweckverbände können nach Maßgabe dieses Gesetzes und unter Beachtung der sonstigen anwendbaren Rechtsvorschriften die Trägerschaft an ihren Sparkassen auf den Verband übertragen. Die Übertragung der Trägerschaft erfolgt durch Vereinbarung zwischen dem kommunalen Träger und dem Verband nach Maßgabe des § 18. (2) Die Übertragung der Trägerschaft nach Absatz 1 ist nur zulässig, wenn der Austritt des kommunalen Trägers und seiner Sparkasse aus dem Beteiligungsverband sächsischer Sparkassen gleichzeitig erfolgt oder von einem Austrittsrecht zu einem früheren Zeitpunkt Gebrauch gemacht wurde, soweit solche Austrittsrechte nach dem Gesetz über die Landesbank Sachsen Girozentrale (LandesbankG) vom 3. Mai 1999 (SächsGVBl. S. 190, 203) bestehen. (3) Die kommunalen Träger, die ihre Trägerschaft auf den Verband übertragen haben, haften aufgrund ihrer bisherigen Gewährträgerhaftung für die Verbindlichkeiten der jeweiligen Verbandssparkasse, die zum Zeitpunkt der Übertragung begründet waren (Altverbindlichkeiten), neben dem Verband fort. Im Innenverhältnis zwischen dem Verband und dem ausgeschiedenen Gewährträger haftet für Altverbindlichkeiten ab dem Zeitpunkt der Übertragung ausschließlich der Verband. (4) Die für die Übertragung der Trägerschaft notwendigen Änderungen der Zweckverbandssatzung bei Zweckverbandssparkassen bedürfen einer Mehrheit von mindestens zwei Dritteln der Stimmen aller Vertreter der Verbandsversammlung. Der Beschluß bedarf der Zustimmung aller Verbandsmitglieder. § 26 Abs. 2 des Gesetzes über kommunale Zusammenarbeit (SächsKomZG) vom 19. August 1993 (SächsGVBl. S. 815, 1103), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 15. Januar 1998 (SächsGVBl. S. 2), gilt entsprechend. §18 Erstattung des Wertes, Beteiligungsverhältnisse, Wertermittlung (1) Die Übertragung der Trägerschaft an Sparkassen und der Anteile an Kreditinstituten nach §§ 16 und 17 erfolgt gegen eine Beteiligung am Stammkapital des Verbands nach Maßgabe des Absatzes 2. ... (2) Die Landkreise, Kreisfreien Städte, die von ihnen gebildeten Zweckverbände bei Zweckverbandssparkassen und der Freistaat Sachsen sind im Verhältnis der Beteiligungswerte am Stammkapital des Verbandes zu beteiligen. ...
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Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen §19 Rückübertragung (1) Die Anteilseigner sind berechtigt, bei Vorliegen eines wichtigen Grunds aus dem Verband auszuscheiden. Ein wichtiger Grund liegt insbesondere vor bei 1. der Vereinigung des Verbands mit anderen Unternehmen; 2. dem Abschluß von Unternehmensverträgen und sonstigen Verträgen, durch die der Verband dem beherrschenden Einfluß Dritter unterworfen wird; 3. einer materiellen Privatisierung; 4. einer Auflösung des Verbands; im übrigen in allen sonstigen Fällen wesentlicher struktureller Veränderungen des Verbands. (2) Der ausscheidende Anteilseigner hat einen Abfindungsanspruch in Höhe des Differenzbetrages zwischen dem Verkehrswert seiner Beteiligung am Verband und dem Verkehrswert der zurückzuübertragenden Trägerschaft an der Verbandssparkasse oder der zurückzuübertragenden Anteile an Kreditinstituten. Die Verkehrswerte sind auf den Zeitpunkt des Ausscheidens zu ermitteln. Ein etwaiger Differenzbetrag ist in bar abzugleichen. Die näheren Bedingungen der Rückübertragung einschließlich des Bewertungsverfahrens sind zwischen dem ausscheidenden Anteilseigner und dem Verband vertraglich zu regeln. Für den Fall der Nichteinigung binnen einer Frist von sechs Monaten ist von dem Präsidenten der Industrie- und Handelskammer am Sitz des Verbands ein unabhängiger Sachverständiger als Schiedsgutachter zu benennen. (3) D e m Verband steht ein Ausgleichsanspruch in entsprechender Anwendung des Absatzes 2 zu, soweit der Differenzbetrag zwischen dem Verkehrswert der Beteiligung des ausscheidenden Anteilseigners an dem Verband und dem Verkehrswert der auf diesen zurückzuübertragenden Trägerschaft an der Verbandssparkasse oder der zurückzuübertragenden Anteile an Kreditinstituten einen Saldo zugunsten des Verbandes ergibt.
Artikel 2 Sparkassengesetz des Freistaates Sachsen (SächsSparkG) Abschnitt 1 Allgemeine Vorschriften §1 Rechtsnatur, Trägerschaft (1) Sparkassen sind Einrichtungen der Landkreise, der Kreisfreien Städte, der von ihnen gebildeten Zweckverbände (Sparkassen mit kommunalem Träger) oder des als rechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts verfaßten Sachsen-Finanzverbands (Verbandssparkassen). Sie sind rechtsfähige Anstalten des öffentlichen Rechts.
§2 Anstaltszweck, öffentlicher Auftrag (1) Die Sparkassen sind Kreditinstitute mit der Aufgabe, in ihrem Geschäftsgebiet die Versorgung mit geld- und kreditwirtschaftlichen Leistungen sicherzustellen. Sie
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stärken den Wettbewerb im Kreditgewerbe. Sie erbringen ihre Leistungen für die Bevölkerung, die Wirtschaft, insbesondere den Mittelstand, und die öffentliche Hand unter Berücksichtigung der Markterfordernisse. Sie fördern das Sparen und die allgemeine Vermögensbildung. (3) Die Sparkassen führen ihre Geschäfte nach kaufmännischen Grundsätzen unter Wahrung ihres öffentlichen Auftrags.
§5 Geschäftsgebiet, Regionalprinzip (1) Das Geschäftsgebiet der Sparkasse ist das Gebiet ihres Trägers. Falls Träger der Sachsen-Finanzverband ist, gilt als Geschäftsgebiet der Sparkasse das vor der Ubertragung der Trägerschaft auf den Sachsen-Finanzverband bestehende Geschäftsgebiet. (2) Die Sparkasse soll sich nur in ihrem Geschäftsgebiet betätigen. Das betrifft insbesondere 1. die Zweigstellen, die von der Sparkasse nur im Gebiet ihres Trägers betrieben und errichtet werden können;... 2. die Kredite, die nur solchen Personen gewährt werden sollen, die im Geschäftsgebiet ihren Sitz, ihren Wohnsitz oder eine gewerbliche Niederlassung haben; Kredite an Kreditnehmer außerhalb des Geschäftsgebiets können gewährt werden, wenn der Kredit in unmittelbarem Zusammenhang mit der Förderung der Wirtschaft des Geschäftsgebiets steht oder das Beleihungsobjekt im Geschäftsgebiet liegt; ... (3) Das Staatsministerium der Finanzen wird ermächtigt, im Einvernehmen mit dem Staatsministerium des Innern ergänzende Regelungen zu Absatz 2 durch Rechtsverordnung zu erlassen, wenn dies der Förderung der Leistungsfähigkeit der Sparkassen dient. (4) Allgemeine oder bestimmte Geschäftsarten betreffende Abweichungen von Absatz 1 sind in der Satzung zu regeln. Sie bedürfen der Zustimmung der betroffenen Sparkasse, ihres Trägers und der obersten Sparkassenaufsichtsbehörde. §6 Zuständigkeiten der Vertretung des Trägers (2) Die Vertretung des kommunalen Trägers beschließt über 2. die Übertragung der Trägerschaft der Sparkasse auf den Sachsen-Finanzverband nach Maßgabe des § 16 des Gesetzes über den Sachsen-Finanzverband vom 3. Mai 1999 (SächsGVBl. S. 190); (3) Die Zuständigkeit des Sachsen-Finanzverbands als Vertretung des Trägers der Verbandssparkassen bestimmt sich nach dem Gesetz über den Sachsen-Finanzverband.
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Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen Abschnitt 2 Verfassung der Sparkasse Unterabschnitt 1 Verwaltungsrat §8
Aufgaben (1) Der Verwaltungsrat bestimmt die Richtlinien der Geschäftspolitik und überwacht die Geschäftsführung. Bei den Verbandssparkassen erfolgt die Bestimmung im Rahmen der vom Sachsen-Finanzverband erlassenen allgemeinen Richtlinien zur Geschäfts- und Personalpolitik. (3) Der Verwaltungsrat bei Verbandssparkassen beschließt außer in den übrigen durch dieses Gesetz bestimmten Fällen über 1. die Bestellung und Anstellung der Mitglieder des Vorstands nach § 19 Abs. 1 S. 2 nach Genehmigung durch den Sachsen-Finanzverband. Im Übrigen gilt § 12 Abs. 6 bis 8 des Gesetzes über den Sachsen-Finanzverband; 2. die Bestellung und Abberufung der stellvertretenden Mitglieder des Vorstands nach § 19 Abs. 1 S. 3. Im Übrigen gilt § 12 Abs. 6 bis 8 des Gesetzes über den Sachsen-Finanzverband;
§9 Zusammensetzung (1) Dem Verwaltungsrat gehören mindestens neun und höchstens 15 Mitglieder an. ... Die Satzung bestimmt die Zahl der Mitglieder, die durch drei teilbar sein muß. (2) Der Verwaltungsrat besteht aus 1. dem Vorsitzenden (§ 10); 2. weiteren Mitgliedern (§11 Abs. 1); 3. einem Vertreter des Sachsen-Finanzverbands bei Verbandssparkassen (§ 11 Abs. 3); 4. zu einem Drittel aus Beschäftigten der Sparkasse (§11 Abs. 4).
§10 Vorsitzender (1) Vorsitzender des Verwaltungsrats bei den Sparkassen mit kommunalem Träger ist der Leiter der Verwaltung des Trägers. ... (2) Bei Zweckverbandssparkassen wählt die Vertretung des Zweckverbands den Vorsitzenden aus dem Kreis der Leiter der Verwaltungen der Zweckverbandsmitglieder. ... (3) Bei Verbandssparkassen sind die Absätze 1 und 2 auf den bisherigen kommunalen Träger anwendbar.
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§11 Weitere Mitglieder, Vertreter des Sachsen-Finanzverbands, Beschäftigte (1) Bei Sparkassen mit kommunalem Träger wählt die Vertretung des Trägers nach der für sie geltenden Wahlordnung für die Dauer ihrer Wahlzeit, bei Zweckverbandssparkassen für fünf Jahre, die Mitglieder des Verwaltungsrats nach § 9 Abs. 2 Nr. 2. (2) Bei den Verbandssparkassen ist Absatz 1 auf den bisherigen kommunalen Träger anwendbar. (3) Das Mitglied des Verwaltungsrats nach § 9 Abs. 2 Nr. 3 wird vom Vorstand des Sachsen-Finanzverbands entsandt und abberufen. ... Unterabschnitt 2 Vorstand §19 Zusammensetzung, Bestellung (1) Der Vorstand besteht aus mehreren Mitgliedern. Neben ordentlichen Mitgliedern können stellvertretende Mitglieder bestellt werden, die nach Maßgabe der Bestellung ständiges und volles Stimmrecht im Vorstand besitzen. Es können auch stellvertretende Mitglieder des Vorstands bestellt werden, die nach Maßgabe der Bestellung an den Sitzungen des Vorstands nur beratend teilnehmen und im Fall der Verhinderung von Vorstandsmitgliedern deren Aufgabe wahrnehmen. ... (2) Die ordentlichen und stellvertretenden Mitglieder des Vorstands müssen persönlich und fachlich geeignet sein. Personen, die nach § 12 Abs. 1 Nr. 2 bis 5 dem Verwaltungsrat nicht angehören dürfen, können nicht bestellt werden. (3) Beschlüsse über die Bestellung der ordentlichen und der stellvertretenden Mitglieder des Vorstands bei Sparkassen mit kommunalem Träger bedürfen der Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des Verwaltungsrats. Für Verbandssparkassen gilt § 8 Abs. 3 Nr. 1 und 2; die Beschlußfassung bedarf der Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des Verwaltungsrats. ... (S. 5) Für die Wiederbestellung der ordentlichen und stellvertretenden Mitglieder des Vorstands nach Absatz 1 von Verbandssparkassen gilt ergänzend § 12 Abs. 7 des Gesetzes über den Sachsen-Finanzverband. (5) Der Verwaltungsrat bei Sparkassen mit kommunalem Träger und der Vorstand des Sachsen-Finanzverbands bei Verbandssparkassen haben ein ordentliches oder stellvertretendes Vorstandsmitglied abzuberufen und sein Anstellungsverhältnis zu kündigen, wenn es fachlich oder persönlich nicht mehr geeignet ist, ein Hinderungsgrund nach § 12 Abs. 1 Nr. 2 bis 5 eintritt oder ein anderer wichtiger Grund vorliegt. Für die Abberufung und Kündigung von ordentlichen oder stellvertretenden Vorstandsmitgliedern der Verbandssparkassen gilt § 12 Abs. 7 des Gesetzes über den Sachsen-Finanzverband ergänzend.
§§ 16 bis 18 und 23 VerbG sowie die angegriffenen Vorschriften des Sächsischen Sparkassengesetzes traten am 22. Mai 1999 in Kraft. §§ 1 bis 15 und §§19 bis 22 VerbG sind gem. Art. 6 Abs. 2 des Gesetzes zur Neuordnung der öffentlich-rechtlichen
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Kreditinstitute im Freistaat Sachsen einschließlich der Sächsischen Aufbaubank GmbH vom 3. Mai 1999 iVm § 1 der Verordnung der Sächsischen Staatsregierung zur Gründung des Sachsen-Finanzverbandes vom 26. September 2000 am 30. September 2000 in Kraft getreten. II. Die Antragsteller, 36 Abgeordnete des Sächsischen Landtages, beantragen, § 2 Abs. 1, § 12 Abs. 6, § 12 Abs. 7 sowie §§ 16 und 19 des Gesetzes über den Sachsen-Finanzverband vom 3. Mai 1999 (SächsGVBl. S. 190) sowie § 6 Abs. 2 Nr. 2, § 6 Abs. 3, § 8 Abs. 3 Nr. 1 und 2, § 9 Abs. 2 Nr. 3, § 11 Abs. 3 und § 19 Abs. 3 S. 2 und 5 des Sächsischen Sparkassengesetzes vom 3. Mai 1999 (SächsGVBl. S. 190,195) fur nichtig zu erklären. Sie sind der Auffassung, die angegriffenen Vorschriften verletzten die Gewährleistung kommunaler Selbstverwaltung gemäß Art. 82 Abs. 2 SächsVerf. Diese garantiere den kreisfreien Städten, den Landkreisen und deren Zweckverbänden das Recht, eigenverantwortlich Sparkassen als Einrichtungen der Daseinsvorsorge zu betreiben. Darüber hinaus begründe Art. 82 Abs. 2 SächsVerf als institutionelle Garantie ein verfassungsrechtliches Prinzip dezentraler Aufgabenerfüllung. In diese Gewährleistung werde durch die Schaffung eines landesweiten und im Wesentlichen vom Freistaat Sachsen geführten Finanzverbandes eingegriffen. Daß § 16 VerbG lediglich die freiwillige Übertragung der Trägerschaft kommunaler Sparkassen auf den Finanzverband vorsehe, stehe der Annahme eines Eingriffs nicht entgegen. Als institutionelle Garantie verbiete die Gewährleistung kommunaler Selbstverwaltung jede Umstrukturierung, die — sei es auch nur mit Angeboten an die betroffenen Kommunen — darauf abziele, deren dezentrale Aufgabenwahrnehmung durch ein zentralistisches System zu ersetzen. Unabhängig von der Reichweite des Verbots der Mischverwaltung im Verhältnis von Ländern und Kommunen dürften die Letzteren zugewiesenen Selbstverwaltungszuständigkeiten selbst mit deren Zustimmung nicht auf das Land verschoben werden. Darüber hinaus sei die Freiwilligkeit der Übertragung kommunaler Sparkassen zweifelhaft, da die Gründung des Verbandes unter den gegenwärtigen Wettbewerbsbedingungen einen wirtschaftlichen Sog oder gar Druck auf die kommunalen Sparkassen und deren Träger auslösen werde. Es sei zu befurchten, daß die dem Verband angeschlossene Landesbank die Verbandssparkassen besser behandeln werde als die verbleibenden kommunalen Sparkassen und daß deren Träger politisch in Mißkredit geraten könnten. Fragwürdig sei die Freiwilligkeit der Übertragung kommunaler Sparkassen auch, weil die Kommunen ihre Übertragungsentscheidung nicht beliebig rückgängig machen könnten. Zur Kompensation des Verluste der kommunalen Sparkassenträgerschaft seien die Beteiligungsrechte kommunaler Anteilseigner im Finanzverband mangels Gleichwertigkeit nicht geeignet. Wo eigenverantwortliche Selbstverwaltung möglich bleibe, dürfe sie nicht durch eine LVerfGE 11
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System kollektiver Gesamtverwaltung ersetzt werden. Der Freistaat sei vielmehr im Hinblick auf die aus dem Regionalprinzip erwachsenden Wettbewerbsnachteile der Sparkassen und die zunehmende europarechtlich begründete Kritik an der Gewährträgerschaft gem. Art. 87 Abs. 1 SachsVerf verpflichtet, die Sparkassen als kommunale Einrichtungen zu stärken. III. Der Sächsische Landtag hat von einer Stellungnahme abgesehen. IV. Die Staatsregierung des Freistaates Sachsen hält den Antrag für unbegründet. Zweifelhaft sei schon, ob die angegriffenen gesetzlichen Regelungen den Schutzbereich kommunaler Selbstverwaltung berührten. Jedenfalls könne das Eröffnen der Möglichkeit, die Trägerschaft kommunaler Sparkassen auf den Sachsen-Finanzverband zu übertragen, nicht als Eingriff qualifiziert werden. Darin liege weder ein Aufgabenentzug noch eine staatliche Determinierung der Aufgabenerfullung. Selbst wenn man diese Auffassung nicht teile und von einem Eingriff ausgehe, sei dieser verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Der Kernbereich kommunaler Selbstverwaltung bleibe unberührt. Die angegriffenen Regelungen seien durch Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt, die die allenfalls geringfügige Beeinträchtigung des kommunalen Selbstverwaltungsrechts deutlich überwögen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz werde gewahrt. Die Errichtung einer wettbewerbsfähigen, ertragsstarken und zukunftsträchtigen öffentlich-rechtlichen Finanzgruppe, die Stärkung der regionalen Wirtschaft und die Herbeiführung eines Interessenausgleichs zwischen den Kreditinstituten und den teils finanzschwachen Trägerkörperschaften seien legitime Ziele der Landespolitik. Zu ihrer Verwirklichung seien die getroffenen Regelungen erforderlich. Sie stellten das mildeste noch geeignete Mittel dar, da die Übertragung von Sparkassen auf den Finanzverband auf freier Entschließung der Träger beruhe, die Selbstständigkeit der Verbandssparkassen erhalten bleibe und der Einfluß des Verbandes auf die Geschäftstätigkeit gerade im operativen Kundengeschäft gering bleibe. Die Beschränkung der Möglichkeit zum Austritt aus dem Finanzverband sei sachlich geboten, um die notwendige Kontinuität und Stabilität der neu geschaffenen Institution zu wahren. Die Neuregelung stehe im Einklang mit den verfassungsrechtlichen Kompetenznormen. Insbesondere begründe sie keine unzulässige Mischverwaltung. B. Der Antrag ist zulässig, aber unbegründet.
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Der Antrag gem. Art. 81 Abs. 1 Nr. 2 SächsVerf iVm § 7 Nr. 2, § 21 Nr. 1 SächsVerfGHG ist zulässig. Die Antragsteller, mehr als ein Viertel der Mitglieder des 2. Sächsischen Landtages, halten landesrechtliche Regelungen des Art. 1 und 2 des Gesetzes zur Neuordnung der öffentlich-rechtlichen Kreditinstitute im Freistaat Sachsen einschließlich der Sächsischen Aufbaubank GmbH vom 3. Mai 1999 (SächsGVBl. S. 190) für verfassungswidrig und nichtig. Für die Zulässigkeit des Normenkontrollantrages ist ohne Belang, daß die Antragsteller mit dem Ende des 2. Sächsischen Landtages ihr bisheriges Abgeordnetenmandat verloren haben. Der einmal zulässig gestellte Antrag verliert dadurch nicht seine Wirksamkeit. Für seine Zulässigkeit maßgeblich ist vielmehr das fortdauernde objektive Interesse an der Klarstellung der Verfassungsmäßigkeit der zur Prüfung gestellten Normen (vgl. SächsVerfGH, JbSächsOVG 4 (1996), 50, 60 mwN). Dies liegt hier vor. Die angegriffenen landesgesetzlichen Vorschriften können auch, soweit sie bis zur mündlichen Verhandlung noch nicht in Kraft getreten waren, Gegenstand des Normenkontrollverfahrens sein. Es genügt, daß sie verkündet wurden, weil damit die Tätigkeit der am Normsetzungsverfahren beteiligten Verfassungsorgane abgeschlossen ist (vgl. BVerfGE 1, 396, 406). II. Der Antrag auf abstrakte Normenkontrolle ist jedoch nicht begründet. 1. Das Gesetzgebungsverfahren genügte der Anhörungspflicht gem. Art. 84 Abs. 2 SächsVerf. Die betroffenen Selbstverwaltungskörperschaften und deren Zusammenschlüsse erhielten rechtzeitig, nämlich bereits vor Einbringen des Gesetzentwurfs in den Sächsischen Landtag, Gelegenheit, sich zur beabsichtigten Neuregelung zu äußern. 2. Die angegriffenen Regelungen verstoßen auch nicht gegen Art. 82 Abs. 2 SächsVerf. Die Ermächtigung, die Trägerschaft kommunaler Sparkassen gem. § 16 VerbG, § 6 Abs. 2 Nr. 2 SächsSparkG dem Sachsen-Finanzverband zu übertragen, und dessen rechtliche Ausgestaltung und Befugnisse gem. §§ 2 Abs. 1, 12 Abs. 6 und 7,19 VerbG, §§ 6 Abs. 3, 8 Abs. 3 Nr. 1 und 2, 9 Abs. 2 Nr. 3,11 Abs. 3 und 19 Abs. 3 S. 2 und 5 SächsSparkG verletzen bei verfassungskonformer Auslegung von § 12 Abs. 6 S. 1 und 4, Abs. 7 S. 1 und 4 VerbG iVm § 8 Abs. 3 Nr. 1 S. 1 SächsSparkG nicht die Garantie kommunaler Selbstverwaltung gem. Art. 82 Abs. 2 SächsVerf. 2.1. Art. 82 Abs. 2 SächsVerf gewährleistet den Gemeinden, den Landkreisen und anderen Gemeindeverbänden das Recht, ihre Angelegenheiten im Rahmen der Gesetze unter eigener Verantwortung zu regeln. 2.1.1. Ob Sparkassenzweckverbände als andere Gemeindeverbände iSd Art. 82 Abs. 2 zu sehen und selbst Träger des Selbstverwaltungsrechts sein können (vgl. zu LVerfGE 11
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Zweckverbänden allgemein Kunymann/Haas/Baumann-Hasske SächsVerf, 2. Aufl. 1997, Art. 82, Rn. 5), bedarf im vorliegenden Verfahren keiner Entscheidung. Jedenfalls betrifft das angegriffene Neuordnungsgesetz die Selbstverwaltung der Kreisfreien Städte und Landkreise, die bei In-Kraft-Treten der angegriffenen Vorschriften Träger von Sparkassen waren oder es noch sind. 2.1.2. Die Selbstverwaltungsgarantie gem. Art. 82 Abs. 2 SächsVerf verbürgt den Kommunen das Recht zur Wahrnehmung aller Aufgaben des örtlichen Wirkungskreises, das Recht zur eigenverantwortlichen Erfüllung dieser Aufgaben und das Recht zur Selbstorganisation (SächsVerfGHJbSächsOVG 2,52,58 f; Urt. v. 18.11.1999, Vf. 174Vffl-98). Art. 82 Abs. 2 SächsVerf sichert ihnen zwar keinen gegenständlich bestimmten oder nach feststehenden Merkmalen bestimmbaren Aufgabenkatalog, wohl aber die Befugnis, sich aller Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft, die nicht durch Gesetz bereits anderen Trägern öffentlicher Verwaltung übertragen sind, ohne besonderen Kompetenztitel anzunehmen. Darüber hinaus folgt aus der Rechtsinstitutionsgarantie kommunaler Selbstverwaltung ein verfassungsrechtliches Prinzip dezentraler Aufgabenverteilung, das vom Zuständigkeitsverteilenden Gesetzgeber zu beachten ist und fur Angelegenheiten mit relevantem örtlichen Charakter einen Vorrang dezentralkommunaler vor zentraler, staatlich determinierter Aufgabenerfullung begründet (vgl. SächsVerfGHJbSächsOVG 2,79,85 f; vgl. BVerfGE 79,127,146 ff, 150,153; 83,363, 382). 2.1.3. Zu den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft gehört auch das Errichten und Betreiben einer kommunalen Sparkasse, die der geld- und kreditwirtschaftlichen Versorgung der örtlichen Bevölkerung und der ortsansässigen Betriebe dient (vgl. BVerfGE 75, 192, 195ff, 200; VerfGH NW, DÖV 1980, 691, 692; VerfG Brdbg., DVB1.1994, 657 f). 2.1.3.1. Die öffentlichen Sparkassen wurden im 19. Jahrhundert als unselbständige kommunale Einrichtungen gegründet, um insbesondere der weniger vermögenden Bevölkerung ausreichende Anlagemöglichkeiten und sonstige Bankdiensdeistungen anzubieten. Auch nach der Verselbständigung zu Anstalten des öffentlichen Rechts durch die Dritte Notverordnung des Reichspräsidenten vom 6. Oktober 1931 (RGBl. I, 537) sind die Sparkassen kommunale Einrichtungen geblieben (vgl. BVerfGE 75, 192, 197f; NierhausOÖY 1984, 662, 663f). 2.1.3.2. Auch unter Berücksichtigung einer Angleichung der Tätigkeit öffentlichrechtlicher und privater Kreditinstitute im Bereich allgemeiner Finanzdiensdeistungen und ungeachtet der Internationalisierung der Geschäftstätigkeit im Kreditgewerbe ist jedenfalls derzeit das Betreiben einer Sparkasse dem kommunalen Wirkungskreis zuzurechnen. Die durchaus beobachtbare Tendenz zur Entörtlichung von Bankgeschäften fuhrt nicht dazu, daß die spezifisch örtliche Bezüge in den Hintergrund treten. Zumindest derzeit ist das Sparkassenwesen noch durch die Erfüllung des gesetzlichen, LVerfGE 11
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der Gewinnerzielung übergeordneten Auftrags geprägt, die geld- und kreditwirtschaftliche Versorgung im kommunalen Geschäftsgebiet sicherzustellen, dazu der Bevölkerung und den örtlichen Wirtschaftsunternehmen unter besonderer Berücksichtigung wirtschaftlich schwächerer Kreise sowie mittelständischer und Kleinbetriebe Bankdiensdeistungen anzubieten sowie den Kommunen selbst als Hausbank zu dienen und damit die örtliche Struktur- und Wirtschaftsentwicklung zu unterstützen (vgl. § 2 Abs. 1 und 3 SächsSparkG). 2.1.3.3. Die Auffassung, dieser öffentliche Auftrag sei auf Grund der Marktentwicklung obsolet geworden (vgl. Möscbel WM 1999, 1455 unter Verweis auf dens. WM 1993, 93 ff), findet in den Fakten keine hinreichende Unterstützung. In Erfüllung ihres öffentlichen Auftrags verwalten derzeit rund 600 Sparkassen mit einem flächendeckenden Filialnetz von ca. 19 800 Geschäftsstellen bundesweit mehr als die Hälfte aller Spareinlagen und knapp die Hälfte aller Girokonten (vgl. Niemeyer/Hirsbrunner EuZW 2000, 364, 367; Banken-Jahrbuch, Kreditinstitute und Finanzierungsgesellschaften in der Bundesrepublik Deutschland 2000, S. V 39). Dazu zählen Girokonten für nahezu 80% aller Sozialhilfeempfänger, die von Privatbanken wegen geringer Umsätze und hoher Risiken häufig nicht als Kunden akzeptiert werden (vgl. Friedrich FoR 1996, 53; Haasts ZGesKredW 2000, 35, 38). Als Hausbanken lokaler mittelständischer Unternehmen und Handwerksbetriebe haben die Sparkassen einen überdurchschnittlichen Marktanteil von rund 50 bzw. 60% (vgl. Haasts ebd.). In Zusammenarbeit mit ihren kommunalen Trägern leisten sie einen wesentlichen Beitrag zur lokalen Struktur- und Wirtschaftsförderung. Sie vergeben rund 80 % ihrer Aufträge an heimische Unternehmen, sind an etwa der Hälfte aller Technologiezentren im Bundesgebiet beteiligt, finanzieren nahezu die Hälfte aller Existenzgründungen und bieten mit ihrem flächendeckenden Filialnetz und einer weit überdurchschnittlichen Ausbildungsquote qualifizierte Arbeitsplätze auch in strukturschwachen ländlichen Regionen. Schließlich leisten sie angesichts der angespannten Haushaltslage der Kommunen einen wichtigen Beitrag zur Förderung örtlicher Kultureinrichtungen, Sportvereine und sozialer Dienste (vgl. Haasts ZgesKredW 2000, 35, 38f). 2.1.3.4. Der spezifisch örtliche Bezug dieser Sparkassentätigkeit wird jedenfalls gegenwärtig noch nicht dadurch aufgehoben, daß die Sparkassen ihren örtlichen Kunden — etwa in Zusammenarbeit mit den Landesbanken und zentralen Sparkasseneinrichtungen — auch überregionale Finanzdienstleistungen anbieten (vgl. zur Zusammenarbeit von Sparkassen und Landesbanken v. Friesen EuZW 1999, 581, 584; Niemeyer/ Hirsbrunner EuZW 2000, 364, 367 f). Dabei kann offen bleiben, ob sich ein spezifisch örtlicher Bezug auch überregionaler Dienstleistungen daraus ableiten läßt, daß die Sparkasse sie wegen des Regionalprinzips gem. § 5 Abs. 1 und 2 SächsSparkG ausschließlich im Gebiet des kommunalen Trägers für diesen, seine Einwohner und die ortsansässigen Betriebe erbringen darf (vgl. dazu Henneke NdsVBl. 2000,129,134). Es genügt, daß nach derzeitigem Stand die überörtlichen Geschäftsaktivitäten noch der LVerfGE 11
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Erfüllung des öffentlichen Auftrags untergeordnet sind und nicht vorrangig der Gewinnmaximierung, sondern dazu dienen, für das kommunale Geschäftsgebiet ein ausreichendes Spektrum marktfähiger Finanzdienstleistungen zur Gewährleistung flächendeckender und angemessener Geld- und Kreditversorgung sicherzustellen (vgl. Gärtner Zm 1998, 6,15). 2.2. Die gesetzliche Ermächtigung, die Trägerschaft kommunaler Sparkassen gem. § 16 VerbG, § 6 Abs. 2 Nr. 2 SächsSparkG auf den Sachsen-Finanzverband zu übertragen, beeinträchtigt die objektive Rechtsinstitutionsgarantie kommunaler Selbstverwaltung. Der Sachsen-Finanzverband wird gem. § 1 Abs. 1 S. 1 VerbG staatlich errichtet und als rechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts gem. § 1 Abs. 1 S. 2, § 4 Abs. 1 VerbG nicht allein von den beteiligten Selbstverwaltungskörperschaften, sondern auch vom Freistaat Sachsen getragen. Nach den Vorschriften des angegriffenen Gesetzes steht er unter maßgeblichem staatlichen Einfluß und wird mit weitgehenden Einwirkungsbefugnissen gegenüber den örtlichen Verbandssparkassen ausgestattet. 2.2.1. Die Übertragung der Trägerschaft kommunaler Sparkassen auf den Verband gem. § 16 VerbG, § 6 Abs. 2 Nr. 2 SächsSparkG fuhrt für die betreffende Selbstverwaltungskörperschaft zu einer Veränderung des Aufgabenbestandes, die dem Verlust der Selbstverwaltungsaufgabe eigenverantwortlichen Betreibens der örtlichen Sparkasse gleichkommt. Die bisher kommunale Sparkasse wird gem. § 16 Abs. 1 S. 1 VerbG künftig allein vom staatlich errichteten und maßgeblich beeinflußten Verband getragen. Im Gegenzug erwirbt der bisherige kommunale Träger Mitwirkungsrechte im Verband, und damit die Beteiligung an der zentralen Verwaltung der Gesamtheit aller Verbandssparkassen sowie der in den Verband eingebrachten Anteile der Landesbank Sachsen Girozentrale und der Sächsischen Aufbaubank GmbH. Daneben bleibt der bisherige Sparkassenträger — im wesentlichen über die Besetzung des Verwaltungsrats - an der Verwaltung der Verbandssparkasse beteiligt. Insoweit ist jedoch die Eigenverantwortlichkeit kommunaler Betätigung wegen weitgehender Einwirkungsbefugnisse des Verbandes bis hin zu Devolutiv-, Letztentscheidungs- und Durchgriffsrechten nicht mehr gewährleistet. 2.2.1.1. Unmittelbare Einflußnahme auf die Verwaltung der eingebrachten Sparkasse bleibt dem bisherigen kommunalen Träger gem. § 7 Abs. 9 Nr. 12 und 13 VerbG lediglich insofern, als dieVerbandssparkasse nur auf seinen Vorschlag aufgelöst oder mit anderen Verbandssparkassen vereinigt werden darf. Allerdings ist der für beide Entscheidungen allein zuständige Verband nicht an den Vorschlag des ehemaligen Trägers gebunden. Er kann die Verbandssparkasse auf Grund einer Mehrheitsentscheidung, bei der die gem. § 7 Abs. 10 S. 1 VerbG erforderliche Mehrheit der kommunalen Anteilseigner gegen die Stimmen der betroffenen Selbstverwaltungskörperschaft zu Stande kommen kann, auch gegen deren Willen weiter betreiben. LVerfGE 11
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2.2.1.2. Die dem bisherigen Träger verbleibende mittelbare Einflußnahme auf die Verwaltung der eingebrachten Sparkasse hat angesichts weitreichender Befugnisse des Verbandes, die von der Richtlinienkompetenz bis zu konkreten Personalentscheidungen reichen, nicht mehr den Charakter eigenverantwortlicher kommunaler Aufgabenwahrnehmung. Zwar bleibt der Selbstverwaltungskörperschaft gem. §§ 9 Abs. 2 Nr. 1, 10 Abs. 1 S. 1 bzw. Abs. 2 S. 1 iVm Abs. 3 SächsSparkG weiterhin die Befugnis, den Verwaltungsratsvorsitzenden der von ihr eingebrachten Verbandssparkasse zu stellen und gem. § § 9 Abs. 2 Nr. 2, 11 Abs. 1 und 2 SächsSparkG weitere Verwaltungsratsmitglieder zu wählen, so daß gem. § 9 Abs. 1 und 2 SächsSparkG eine kommunale Mehrheit im Verwaltungsrat der Verbandssparkasse gesichert ist. Der durch diese Mehrheit vermittelte Einfluß auf die Verwaltung der Verbandssparkasse wird jedoch in wesentlichen Punkten durch Zuständigkeitsübertragungen auf den Verband, Genehmigungsvorbehalte und Zustimmungserfordernisse sowie Selbsteintritts- und Letztentscheidungsrechte des Verbandes so erheblich eingeschränkt, daß ein bestimmender Einfluß der Selbstverwaltungskörperschaft nicht mehr gewährleistet ist. Der Verband hat nicht nur die Befugnis, Richtlinien für die Filial- und Geschäftspolidk sowie das Kreditgeschäft der Verbandssparkassen (§§ 2 Abs. 1 S. 2, 7 Abs. 9 Nr. 11 und 16 VerbG) und allgemeine Richtlinien fur die jährlich fortzuschreibende mittelfristige Unternehmensplanung und die Personalpolitik der Verbandssparkassen zu erlassen (§§ 2 Abs. 1 S. 2, 7 Abs. 13 Nr. 1, 2. HS Nr. 2 VerbG). Er entscheidet auch über die Verwendung des Jahresüberschusses der Verbandssparkassen (§§ 7 Abs. 9 Nr. 19 VerbG, § 27 Abs. 1 SächsSparkG) sowie die Endastung des Vorstands und Verwaltungsrats der Verbandssparkassen (§ 10 Abs. 4 Nr. 2 und 3 VerbG). Weitgehende Entscheidungsrechte sind ihm hinsichtlich der Besetzung des Vorstands der einzelnen Verbandssparkassen eingeräumt. Er darf nicht nur Grundsätze zur Anstellung der Vorstände beschließen (§ 7 Abs. 9 Nr. 18, 1. HS VerbG), sondern konkrete Personalentscheidungen treffen und gegenüber dem Verwaltungsrat der Verbandssparkasse durchsetzen. Die Bestellung und Anstellung der ordentlichen und der voll stimmberechtigten stellvertretenden Vorstandsmitglieder steht gem. § 12 Abs. 6 S. 1 VerbG iVm §§ 8 Abs. 3 Nr. 1 S. 1 und 2,19 Abs. 3 S. 2 SächsSparkG unter dem Vorbehalt der an keine konkreten Voraussetzungen geknüpften Genehmigung des Verbandsvorstandes. Bei anhaltendem Dissens wird diesem gem. § 12 Abs. 6 S. 3 VerbG sogar ein Selbsteintrittsrecht eingeräumt. Genehmigungsvorbehalt und Selbsteintrittsrecht gelten gem. § 12 Abs. 6 S. 4 VerbG auch für die Bestellung der beratenden Vorstandsmitglieder der Verbandssparkassen gem. §§19 Abs. 1 S. 3, 8 Abs. 3 Nr. 2 SächsSparkG. Bei der Entscheidung über die Wiederbestellung von Vorstandsmitgliedern gem. § 12 Abs. 7 S. 1 VerbG iVm § 19 Abs. 3 S. 4 und 5 SächsSparkG räumt § 12 Abs. 7 S. 2 und 3 VerbG dem Verband im Konfliktfall ein Letztentscheidungsrecht ein. Zur Abberufung und Kündigung ordentlicher und voll stimmberechtigter stellvertretender Vorstandsmitglieder der Verbandssparkassen wegen Ungeeignetheit, Hinderungsgründen gem. § 12 Abs. 1 Nr. 2 bis 5 SächsSparkG oder anderen wichtigen Gründen gem. § 19 Abs. 5 S. 1 LVerfGE 11
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SächsSparkG ist gem. § 12 Abs. 7 S. 4 VerbG iVm § 19 Abs. 5 S. 2 SächsSparkG allein der Verbandsvorstand berechtigt, der sich mit dem Verwaltungsrat der Verbandssparkasse lediglich ins Benehmen setzen muß. Nur über die Abberufung beratender stellvertretender Vorstandsmitglieder hat der Verwaltungsrat der Verbandssparkasse gem. § 8 Abs. 3 Nr. 2 SächsSparkG selbst zu entscheiden. Dem Verband bleibt es nach der gesetzlichen Regelung überlassen, seinen Einfluß auf die Verbandssparkassen nach eigenem Dafürhalten weiter auszubauen. Die Befugnis, gem. §§ 2 Abs. 5 und 6,7 Abs. 13 S. 1 Nr. 3 S. 2 VerbG, § 3 Abs. 5 S. 6 SächsSparkG von den Verbandssparkassen den Abschluß von Unternehmensverträgen und die Einräumung atypisch stiller Beteiligungen mit mitunternehmerischen Rechten zu erzwingen, erlaubt sogar den Abschluß von Beherrschungsverträgen gegen den Willen der Verbandssparkassen und der betroffenen Selbstverwaltungskörperschaften. 2.2.1.3. Die Mitwirkung der bisherigen Träger an den Entscheidungen der Anteilseignerversammlung des Verbandes kann den Verlust der Eigenverantwortlichkeit nicht ausgleichen. Die Mitwirkungsbefugnisse begründen selbst, soweit das Einstimmigkeitserfordernis gem. § 7 Abs. 10 S. 2 VerbG reicht, keine Möglichkeit gezielter Einflußnahme auf die Verwaltung der bisherigen Sparkasse. Die einstimmig zu treffenden Entscheidungen gem. § 7 Abs. 9 Nr. 20 bis 22 VerbG haben ausschließlich die Verfügung über bereits begründete typisch stille Beteiligungen sowie wesentliche strukturelle Veränderungen des Verbandes zum Gegenstand, nicht jedoch die Verwaltung der Verbandssparkassen selbst. 2.2.2. Daß die Übertragung kommunaler Sparkassen auf den Verband nicht vom Gesetzgeber angeordnet, sondern gem. § 16 Abs. 1 VerbG der Entscheidung der bisherigen Träger überlassen wurde, schließt eine Beeinträchtigung der Rechtsinstitutionsgarantie kommunaler Selbstverwaltung gem. Art. 82 Abs. 2 SächsVerf nicht aus. Allerdings bleibt bei freiwilliger Übertragung die durch Art. 82 Abs. 2 SächsVerf vermittelte beschränkt-subjektive Rechtsstellung der jeweiligen Selbstverwaltungskörperschaft unberührt. Unabhängig von der Freiwilligkeit des Beitritts zum Finanzverband liegt ein Eingriff in Art. 82 Abs. 2 SächsVerf jedoch darin, daß das objektiv-rechtliche Prinzip dezentraler Aufgabenverteilung durch die Übertragung der Trägerschaft einer kommunalen Sparkasse auf den vom Freistaat Sachsen errichteten und maßgeblich beeinflußten Verband durchbrochen wird. 2.2.2.1. Der Auffassung der Antragsteller, die gesetzliche Neuregelung sei mangels Freiwilligkeit der kommunalen Beitrittsentscheidungen als Eingriff in die beschränkt-subjektive Rechtsstellung der kommunalen Sparkassenträger anzusehen, vermag der Verfassungsgerichtshof nicht zu folgen. Ein unmittelbar hoheitlich regelnder Zugriff auf Rechtspositionen kommunaler Sparkassenträger ist nicht gegeben. Die Voraussetzungen für das Vorliegen eines mittelbaren Eingriffs sind aus der Schutzrichtung der Selbstverwaltungsgarantie gem. LVerfGE 11
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Art. 82 Abs. 2 SachsVerf zu entwickeln (vgl. allgemein zur Konkretisierung von Gewährleistungsinhalten nach der Schutzrichtung Sachs in: Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 3. Bd., 2. Halbbd. 1994, § 78, S. 155, 4tt\Albers OVRl 1996, 238f; Weber-Dürkr W D S t R L 57 (1998), 57, 75 je mwN). Sie soll die kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften einerseits vor staatlichem Aufgabenentzug, andererseits vor staatlicher Determinierung kommunaler Aufgabenerfüllung bewahren, nicht jedoch vor den Folgen der von ihnen jeweils selbst zu treffenden und zu verantwortenden kommunalpolitischen Entscheidungen. Ebenso wenig schützt Art. 82 Abs. 2 SächsVerf die einzelne Selbstverwaltungskörperschaft vor nachteiligen Auswirkungen eigenverantwortlicher Entscheidungen anderer Selbstverwaltungsträger, sofern diese ihren eigenen Entscheidungsspielraum normativ uneingeschränkt lassen und nur unspezifische Veränderungen der faktischen Rahmenbedingungen herbeifuhren, die nicht Gegenstand der verfassungsrechtlichen Gewährleistung sind. Werden kommunale Selbstverwaltungskörperschaften gesetzlich ermächtigt, eine Selbstverwaltungsaufgabe auf einen höherstufigen Verwaltungsträger zu übertragen, liegt ein dem Gesetzgeber zuzurechnender Eingriff in ihre beschränkt-subjektive Rechtsstellung nicht schon vor, wenn die Ermächtigung darauf abzielt, Ubertragungsentscheidungen zu erwirken. Maßgebend ist vielmehr, ob der Gesetzgeber die kommunale Entscheidung durch normative Vorgaben so beeinflußt, daß eine zwangsgleiche Wirkung eintritt (vgl. zu diesem Kriterium BVerfGE 80, 109, 121; Sachs aaO, S. 130, 203 f), auf Grund derer ihm die Aufgabenübertragung wie eine normative Aufgabenentziehung zuzurechnen ist. Dies kann nicht nur bei Androhung erheblicher Nachteile für den Fall der Verweigerung der Übertragung zu bejahen sein, sondern auch — spiegelbildlich — bei Verknüpfung der Aufgabenübertragung mit Vorteilen, auf die nur unter Mißachtung existenzieller Interessen verzichtet werden kann (vgl. Sachs aaO, S. 137 ff; Weber-Dürler W D S t R L 57 (1998), 57, 70). Hinsichtlich der angedrohten bzw. angebotenen Nach- oder Vorteile ist allein auf die gesetzliche Regelung und die dadurch bewirkten Beeinträchtigungen oder Anreize abzustellen. Absichtsbekundungen im Gesetzgebungsverfahren, die im Normtext selbst keinen Niederschlag gefunden haben, müssen außer Betracht bleiben. Unbeachtlich für das vorliegende Verfahren sind auch die Umsetzung des Gesetzes begleitende Ereignisse im politischen Raum, etwa Einflußnahmen im Rahmen von Beitrittsverhandlungen mit kommunalen Trägern oder deren Zusammenschlüssen. Solche Umstände sind weder Gegenstand verfassungsgerichtlicher Normenkontrolle, noch können sie deren gesetzlich vorgegebenen Prüfungsgegenstand beeinflussen. Nach den dargelegten Kriterien greift die zur Überprüfung gestellte Neuregelung nicht in die beschränkt-subjektive Rechtsstellung der kommunalen Selbstverwaltungsträger ein. Sanktionen, die die Freiwilligkeit ihrer Entscheidung über den Verbandsbeitritt in Frage stellen könnten, sieht das Neuordnungsgesetz nicht vor. Es beschränkt sich vielmehr darauf, den kommunalen Trägern, die ihre Sparkassen in den Verband einbringen, eine deren Buchwert entsprechende Beteiligung am ausschüttungsberechLVerfGE 11
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tigten Stammkapital des Verbandes zuzuweisen, ihnen einen vertraglichen Ausgleichsanspruch fur den Fall eines höheren Ertragswerts einzuräumen, Mitwirkungsrechte in der Anteilseignerversammlung zu geben und im Innenverhältnis die Übernahme der Gewährträgerhaftung für die vor der Übertragung begründeten Sparkassenverbindlichkeiten zu regeln. Die gesetzliche Verknüpfung dieser Vorteile mit dem Verbandsbeitritt mag die Übertragung kommunaler Sparkassen insbesondere für finanzschwache Kommunen mit ertragsschwachen Sparkassen attraktiv erscheinen lassen. Sie schließt die Alternative, die eigene Sparkasse weiter in eigener Verantwortung zu betreiben, aber weder rechtlich noch faktisch aus. Weder aus dem Vorbringen der Antragsteller noch aus den beigezogenen und in das Verfahren eingeführten Akten und Unterlagen ergibt sich, daß der Betrieb einer kommunalen Sparkasse neben dem der Verbandssparkassen wirtschaftlich unmöglich wäre. Schon die Beibehaltung des Regionalprinzips gem. § 5 Abs. 1 und 2 SächsSparkG, das die kommunale Sparkasse — ungeachtet möglicher faktischer Erosionen — normativ vor öffentlich-rechtlicher Konkurrenz im Gebiet ihres Trägers schützt, verhindert einen Verdrängungswettbewerb. Die dem Staatsministerium der Finanzen erteilte Ermächtigung, im Einvernehmen mit dem Staatsministerium des Innern im Interesse der Leistungsfähigkeit der Sparkassen ergänzende Regelungen zur Beschränkung der Zweigstellenerrichtung und Kreditvergabe auf das regionale Geschäftsgebiet zu treffen (§ 5 Abs. 3 SächsSparkG), kann nicht als Ermächtigung zu nennenswerten Durchbrechungen des Regionalprinzips verstanden werden, da der Wortlaut von Ergänzung statt, wie § 5 Abs. 4 SächsSparkG, von Abweichung spricht. Ein mittelbarer Eingriff in die Rechtsstellung des einzelnen kommunalen Sparkassenträgers ist auch nicht mit dem Argument zu begründen, die gesetzliche Neuregelung ziele darauf ab, durch Wettbewerbsvorteile der in den Verband eingebrachten Sparkassen einen „wirtschaftlichen Sog" auszulösen, der schließlich selbst zunächst widerstrebende Träger in den Verband ziehen werde. Die freiwillige Beitrittsentscheidung anderer Träger ist ausschließlich diesen, und mangels maßgeblicher gesetzlicher Determinierung nicht dem Gesetzgeber zuzurechnen. Sie verkürzt auch nicht den rechtlichen Entscheidungsspielraum der verbleibenden kommunalen Träger, sondern führt lediglich zu einer unspezifischen Veränderung der von der Selbstverwaltungsgarantie nicht umfaßten tatsächlichen Rahmenbedingungen ihrer Entscheidung über einen Verbandsbeitritt. Unabhängig davon sind zureichende Anhaltspunkte für die Annahme, der Entscheidungsspielraum kommunaler Träger werde sich durch gesetzlich eingeräumte Wettbewerbsvorteile der Verbandssparkassen auf einen faktischen Zwang zum Verbandsbeitritt reduzieren, weder vorgetragen worden, noch aus den beigezogenen und in das Verfahren eingeführten Unterlagen zum Gesetzgebungsverfahren zu entnehmen. Gerade im Hinblick auf die Fortgeltung des Regionalprinzips ist nicht zu erkennen, daß die den Verbandssparkassen gesetzlich eingeräumten wettbewerbsrelevanten Vorteile eine Fortführung kommunaler Sparkassen in absehbarer Zeit unmöglich machen könnten.
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2.2.2.2. Die Ermächtigung zur Übertragung kommunaler Sparkassen auf den Sachsen-Finanzverband durchbricht jedoch — unabhängig von der Freiwilligkeit der Übertragung — das aus der Rechtsinstitutionsgarantie kommunaler Selbstverwaltung abzuleitende verfassungsrechtliche Prinzip dezentraler Aufgabenverteilung. Mit dem Vorrang dezentral-kommunaler vor zentraler, staatlich determinierter Aufgabenerfullung begründet das aus der Selbstverwaltungsgarantie abzuleitende Prinzip dezentraler Aufgabenverteilung ein Regel-Ausnahme-Verhältnis (vgl. BVerfGE 79, 127, 149f). Es gibt dem zuständigkeitsregelnden Gesetzgeber einen vom Willen der betroffenen Kommunen unabhängigen verfassungsrechtlichen Verteilungsmaßstab vor (vgl. BVerfGE 79, 127, 149f; 83, 363, 382; v. Münch/Küttig/Löwer GG, 2. Bd., 3. Aufl. 1995, Art. 28, Rn. 41, 45, 50; Dreier aaO, Art. 28, Rn. 95, 115 ff, 118), der seine Wurzeln im verfassungsrechtlichen Demokratieprinzip hat. Zu seiner Stärkung sichert die Garantie eigenverantwortlicher Selbstverwaltung die unmittelbare demokratische Teilhabe der Gemeindebürger an allen Entscheidungen über Angelegenheiten ihrer örtlichen Gemeinschaft. Mit dem Prinzip dezentraler Aufgabenverteilung wäre es deshalb nicht vereinbar, wenn der Gesetzgeber in großem Umfang kondominiale Strukturen schaffen oder dazu ermächtigen wollte mit der Folge, daß an die Stelle eigenständiger, örtlich-demokratisch legitimierter kommunaler Selbstverwaltungstätigkeit die Aufgabenwahrnehmung durch staatliche oder vom Staat mitgetragene und maßgeblich beeinflußte Verwaltungsträger treten würde — sei es auch unter Beteiligung kommunaler Körperschaften an einer nun nicht mehr eigenverantwortlichen, sondern staatlich geleiteten oder zumindest teilweise staatlich determinierten Aufgabenerfüllung. Die Träger kommunaler Selbstverwaltung sind ihrerseits verfassungsrechtlich gehindert, sich ihrer Verantwortung und dem Erfordernis unmittelbar-demokratischer Kontrolle ihrer Aufgabenwahrnehmung beliebig durch eine einvernehmliche Übertragung örtlicher Selbstverwaltungsaufgaben auf staatlich mitgetragene und beeinflußte Träger zu entziehen. Der Wortlaut des Art. 82 Abs. 2 S. 2 SächsVerf, der vom Recht zur Regelung der örtlichen Angelegenheiten spricht, steht dem kompetenzrechtlichen Verständnis des Prinzips dezentraler Aufgabenwahrnehmung nicht entgegen. Dabei kann offenbleiben, inwieweit das Recht der Kommunen zur Abwehr von Eingriffen in ihre Selbstverwaltung nicht nur als subjektives Recht begriffen (Dreier aaO, Art. 28, Rn. 96), sondern trotz der Zuordnung der Kommunen zur mittelbaren Staatsverwaltung grundrechtlich gedeutet (vgl. Ehlers DVB1. 2000, 1301 ff; a.A. etwa Dreier aaO, Art. 28, Rn. 81) oder zumindest als strukturell den Grundrechten ähnlich (vgl. Pieroth in: Jarass/Pieroth, GG, 4. Aufl. 1997, Art. 28, Rn. 5; Maurer DVB1. 1995, 1037, 1040 ff) verstanden werden kann. Abzulehnen sind jedenfalls Auffassungen, die die Selbstverwaltungsgarantie auf eine grundrechtliche Gewährleistung reduzieren (so wohl Ehlers DVB1. 2000,1301 ff). Die Garantie kommunaler Selbstverwaltung erschöpft sich nicht in subjektiv-rechtlichen Gewährleistungen, sondern hat auch kompetenzrechtlichen Charakter. Art. 82 Abs. 2 S. 2 SächsVerf sichert die kommunale Selbstverwaltung, indem er eine AllzuLVerfGE 11
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ständigkeit der Gemeinden füir örtliche Angelegenheiten begründet und den Zugriff des Freistaats auf diese Selbstverwaltungsaufgaben und die Eigenverantwortlichkeit ihrer Wahrnehmung begrenzt. Von anderen Kompetenzzuweisungen unterscheidet sich Art. 82 Abs. 2 S. 2 SachsVerf lediglich dadurch, daß er nicht zur Wahrnehmung der Selbstverwaltungsaufgaben verpflichtet, sondern den Kommunen im Rahmen des Gesetzesvorbehalts das Ob und Wie der Aufgabenwahrnehmung „unter eigener Verantwortung" freistellt. Daraus folgt aber nicht, daß die Aufgabenzuständigkeit selbst oder die Eigenverantwortlichkeit der Aufgabenerfüllung für die kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften verfügbar wären. Sie stehen ebenso wenig zu ihrer Disposition wie zur freien Verfügung des staatlichen Gesetzgebers. § 16 VerbG gestattet den kommunalen Sparkassenträgern entgegen dem Prinzip dezentraler Aufgabenverteilung, mit der Trägerschaft ihrer Sparkasse eine örtliche Selbstverwaltungsaufgabe auf eine staatlich errichtete, mitgetragene und maßgeblich beeinflußte Anstalt öffentlichen Rechts zu übertragen. Anders als die Tätigkeit kommunaler Zweckverbände ist die Verwaltung von Sparkassen durch den Sachsen-Finanzverband gem. §§ 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 und 2, Abs. 4 bis 8, 4 Abs. 1 VerbG nicht mehr als kollektive oder kooperative Ausübung kommunaler Selbstverwaltung einzuordnen. Mit dem vom Freistaat errichteten Sachsen-Finanzverband wird vielmehr ein vom Staat maßgeblich beeinflußtes Kondominium staatlicher und kommunaler Verwaltungsträger in einem ursprünglich kommunalen Aufgabenbereich geschaffen. Den maßgeblichen Einfluß des Freistaats Sachsen auf den Verband sichern vor allem die Mehrheitsregeln für Entscheidungen der Anteilseignerversammlung gem. § 7 Abs. 10, Abs. 13 S. 2 und 3 VerbG. Sie gewährleisten, daß der Freistaat Sachsen unabhängig vom Maß der Beteiligung kommunaler Träger entscheidendes Stimmgewicht erhält, und wesentliche Entscheidungen zumindest nicht ohne seine Zustimmung getroffen werden können. Soweit § 7 Abs. 10 S. 2 und 3, Abs. 13 S. 2 VerbG keine Einstimmigkeit oder Zustimmung des Freistaates fordert, verlangt § 7 Abs. IOS. 1, Abs. 13 S. 3 VerbG eine Drei-Viertel-Mehrheit, die gegen die Stimmen des Freistaates nicht zu Stande kommen kann. Abhängig vom Grad der Beteiligung sächsischer Sparkassen am Verband bleibt dem Freistaat Sachsen ein Stammkapital- und damit ein Stimmenanteil von mindestens 33 % bis höchstens 53 % (vgl. Gutachten der Rechtsanwälte Dr. Kasper und Partner vom 28. August 1998, Akten des Haushalts- und Finanzausschusses; Nr. 2, S. 24, die dortigen Angaben zu Beteiligungsquoten werden in der Erwiderung des Staatsministers der Finanzen vom 26. Oktober 1998, Akten des Haushalts- und Finanzausschusses, Nr. 5, Anlage 1, nicht dementiert). Das Erfordernis zumindest der Mehrheit der kommunalen Anteilseigner für alle die Verbandssparkassen betreffenden Entscheidungen der Anteilseignerversammlung gem. § 7 Abs. 10 S. 1 und 3, Abs. 13 VerbG verhindert zwar, daß der Freistaat bei ihm günstigen Anteilsquoten die Mehrheit der kommunalen Anteilseigner überstimmt. Es genügt aber nicht, dem einzelnen kommunalen Anteilseigner ein Mindestmaß an Einfluß auf Entscheidungen über die von ihm eingebrachte Sparkasse zu sichern, da er jederzeit von der Mehrheit der komLVerfGE 11
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munalen Anteilseigner überstimmt werden kann. Überdies liegt wegen der erheblichen Unterschiede der Ertragskraft und des Buchwerts sächsischer Sparkassen die Annahme nicht fern, daß Interessengegensätze in der Anteilseignerversammlung nicht allein zwischen Freistaat und kommunalen Körperschaften, sondern ebenso, wenn nicht nachhaltiger, im Verhältnis stammkapitalstarker zu stammkapitalarmen kommunalen Anteilseignern aufbrechen können. Letztere laufen Gefahr, im Verband jeden Einfluß auf die Verwaltung der bei ihnen ansässigen Sparkasse zu verlieren. Die Freiwilligkeit der Übertragung kommunaler Sparkassen auf den Verband schließt eine rechtfertigungsbedürftige Durchbrechung des Prinzips dezentraler Aufgabenverteilung nicht aus. Wegen des kompetenzrechtlichen Charakters dieses Prinzips liegt eine Durchbrechung nicht nur bei zwangsweiser Entziehung der Sparkassenträgerschaft vor. Auch die freiwillig-einvernehmliche Übertragung auf einen überkommunalen Verwaltungsträger, hier auf den staatlich errichteten, kondominial strukturierten Sachsen-Finanzverband, beeinträchtigt den Vorrang dezentral-kommunaler Aufgabenerfüllung. 2.3. Die Durchbrechung des Prinzips dezentraler Aufgabenverteilung durch das Neuordnungsgesetz ist jedoch, soweit unter diesem Gesichtspunkt problematische Vorschriften zur Überprüfung gestellt wurden, bei verfassungskonformer Auslegung der die Befugnisse des Sachsen-Finanzverbandes regelnden Normen durch den Gesetzesvorbehalt gem. Art. 82 Abs. 2 SächsVerf verfassungsrechtlich gerechtfertigt. 2.3.1. Als Element der Garantie kommunaler Selbstverwaltung ist das Prinzip dezentraler Aufgabenverteilung gem. Art. 82 Abs. 2 SächsVerf nicht schrankenlos gewährleistet. Der Gesetzesvorbehalt gem. Art. 82 Abs. 2 SächsVerf umfaßt auch die kommunale Zuständigkeit für örtliche Angelegenheiten und erstreckt sich damit auf das Prinzip dezentraler Aufgabenverteilung und den daraus abzuleitenden Vorrang dezentral-kommunaler vor zentraler, staatlich determinierter Aufgabenwahrnehmung (SächsVerfGH, JbSächsOVG 2 (1994), 79, 85 f). 2.3.1.1. Eine gesetzliche Ermächtigung zur Übertragung von Einrichtungen kommunaler Selbstverwaltung auf einen überkommunalen Träger bedarf gem. Art. 82 Abs. 2 SächsVerf der Rechtfertigung durch überwiegende Gemeinwohlgründe jedenfalls, wenn der neue Träger staatlich errichtet und die Aufgabenwahrnehmung durch ihn als Kondominium mit staatlicher Beteiligung und unter maßgeblichem staatlichen Einfluß ausgestaltet wird. Unter diesen Bedingungen ermöglicht die gesetzliche Übertragungsermächtigung nicht lediglich eine Kollektivierung auf kommunaler Ebene. Vielmehr wird mit der Übertragung der Trägerschaft eine Verlagerung der Aufgabenzuständigkeit von der kommunalen Selbstverwaltungskörperschaft auf einen staatlich geschaffenen, durch staatliche Beteiligung und maßgeblichen staatlichen Einfluß geprägten Träger geregelt (vgl. oben bei Β. II. 2.2.2.2.). Diese Aufgabenverlagerung kommt einem Aufgabenverlust der betroffenen Selbstverwaltungskörperschaft gleich (vgl. oben bei Β. II. 2.2.1.) und bewirkt, insoweit einer gesetzlichen „Hochzonung" von LVerfGE 11
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Selbstverwaltungsaufgaben (dazu vgl. SächsVerfGH, JbSächsOVG 2 (1994), 79, 85 f; vgl. BVerfGE 79, 127) vergleichbar, eine Einbuße unmittelbar örtlich-demokratischer Gestaltungsmöglichkeiten, Kontrolle und Legitimation. Beteiligungs- und Mitwirkungsrechte, die den Selbstverwaltungskörperschaften als Gegenleistung für eine Übertragung ihrer Einrichtungen in einer kondominialen Struktur des staatlichen Trägers eingeräumt werden, können ebenso wie die Heranziehung zur Aufgabenerfullung unter dessen Leitung weder den Verlust eigenverantwortlicher Selbstverwaltung noch die Verkürzung örtlich-demokratischer Legitimation ausgleichen. Vielmehr erschwert das Kondominium eine wirksame örtlich-demokratische Kontrolle zusätzlich, indem es die Grenzen kommunaler und staatlicher Verantwortung für die Verwaltungstätigkeit des neuen Trägers verwischt. 2.3.1.2. Durch überwiegende Gemeinwohlgründe ist die Ermächtigung zur Verlagerung kommunaler Aufgaben auf staatlich errichtete, mitgetragene und maßgeblich beeinflußte Träger gerechtfertigt, wenn sie zur Sicherstellung ordnungsgemäßer Aufgabenerfullung erforderlich ist. Dagegen können Gesichtspunkte der Verwaltungsvereinfachung oder Zuständigkeitskonzentration keine Durchbrechung des Prinzips dezentraler Aufgabenverteilung legitimieren. Gründe der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit genügen nur, wenn die ausschließlich dezentral-kommunale Aufgabenerfüllung zu einem unverhältnismäßigen Kostenanstieg führen würde (vgl. SächsVerfGH, JbSächsOVG 2 (1994), 79, 85f; vgl. BVerfGE 79,127,153f; 83, 363, 382f). 2.3.1.3. Das Erfordernis der Sicherstellung ordnungsgemäßer Aufgabenerfullung begrenzt nicht nur die Zulässigkeit der Ubertragungsermächtigung selbst, sondern auch die Ausgestaltung der Organisation und Befugnisse des neuen, kondominial strukturierten Trägers, soweit dieser ursprünglich örtliche Aufgaben selbst wahrnimmt oder an deren Erfüllung durch die an ihm beteiligten kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften mitwirkt. Dabei können die Befugnisse der Organe des Trägers gegenüber den Selbstverwaltungskörperschaften nicht weiter reichen als die verfassungsrechtlich legitimierte Kompetenz des Trägers selbst. Regelungen, die eine durch den Träger vermittelte maßgebliche staatliche Einflußnahme auf die örtliche Aufgabenwahrnehmung vorsehen, sind nur zulässig, soweit eine ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung anders nicht gewährleistet werden kann. Dabei sind Elemente staatlicher Determinierung um so bedenklicher, als die konkrete Aufgabenerfullung durch örtliche Bezüge geprägt wird. 2.3.1.4. Bei der Einschätzung der Relevanz örtlicher Bezüge, der Gewichtung der Gemeinwohlgründe und der Beurteilung, ob deren Wahrung eine Ermächtigung zur Aufgabenverlagerung auf überkommunale, staatlich errichtete und beeinflußte Träger gebietet, kommt dem Gesetzgeber ein weiter Einschätzungsspielraum zu. Typisierungen sind schon wegen des notwendig generellen Charakters der zu treffenden Regelung zulässig (vgl. BVerfGE 79, 127, 153f; 83, 363, 382 f). Allerdings muß die gesetzgeberische Einschätzung sich noch als vertretbare Ausfüllung des verfassungsrechtlichen LVerfGE 11
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Rahmens darstellen, den Art. 82 Abs. 2 SachsVerf mit dem Begriff der örtlichen Angelegenheiten und der Normierung des Prinzips dezentraler Aufgabenverteilung zieht. Danach ist der Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers um so enger, je mehr Substanz die kommunale Selbstverwaltung in Folge der gesetzlichen Regelung verliert (vgl. BVerfGE 79,127,154). Soweit die Einschätzung auf Prognoseelementen beruht, ist der Gesetzgeber verpflichtet, die ihm mit vertretbarem Aufwand zugänglichen Erkenntnisquellen auszuschöpfen. Auf dieser Grundlage kommt ihm im Hinblick auf die künftige Entwicklung eine Einschätzungsprärogative zu. Auf dem Gebiet der Arbeitsmarkt-, Sozial- und Wirtschaftsordnung gebührt dem Gesetzgeber dabei ein besonders weitgehender Einschätzungs- und Prognosevorrang (SächsVerfGH, Urt. v. 14.7.2000 - Vf. 40-VIII-98 —; vgl. BVerfGE 87, 363, 383). Dessen verfassungsrechtliche Grenzen sind erst überschritten, wenn die Prognose darauf beruht, daß nicht alle mit vertretbarem Aufwand zugänglichen Entscheidungsgrundlagen ausgeschöpft worden sind, wenn unvertretbare tatsächliche Annahmen zur Grundlage gemacht, in der Anwendung der Methoden Fehler gemacht wurden oder die Prognose sonst eindeutig fehlerhaft war (SächsVerfGH, Urt. v. 14.7.2000 - Vf. 40-VIII-98 - ; vgl. SächsVerfGH, SächsVBl. 1999,236, 238; StGH BW, ESVGH 23,1, 7 f). 2.3.1.5. Der verfassungsrechtlichen Bindung des Gesetzgebers korrespondiert die Kontrollkompetenz des Sächsischen Verfassungsgerichtshofs. Er hat die gesetzgeberische Entscheidung nicht lediglich auf das Fehlen sachfremder Erwägungen zu überprüfen, sondern muß beurteilen, ob der verfassungsrechtliche Rahmen des Art. 82 Abs. 2 SächsVerf vom Gesetzgeber vertretbar ausgefüllt wurde. Die Vertretbarkeitskontrolle sichert den Schutz der Selbstverwaltungsgarantie als Gewährleistung unmittelbar-demokratischer Teilhabe an allen örtlichen Angelegenheiten. Soweit der Gesetzgeber seine Entscheidung auf Prognosen stützt, erstreckt sich die Überprüfung darauf, ob die mit vertretbarem Aufwand zugänglichen Entscheidungsgrundlagen ausgeschöpft, vertretbare tatsächliche Annahmen zu Grunde gelegt, Fehler in der Anwendung der Methoden vermieden wurden und die Prognose auch im Übrigen keine eindeutigen Fehler aufweist (SächsVerfGH, Urt. v. 14.7.2000 - Vf. 40-VIII-98 -). 2.3.2. Den dargelegten Anforderungen entspricht das Neuordnungsgesetz, soweit es angegriffen wurde, bei verfassungskonformer Auslegung von § 12 Abs. 6 S. 1 und 4, Abs. 7 S. 1 und 4 VerbG iVm § 8 Abs. 3 Nr. 1 S. 1 SächsSparkG. 2.3.2.1. Die gesetzliche Ermächtigung zur Übertragung der Trägerschaft kommunaler Sparkassen auf den Sachsen-Finanzverband gem. § 16 VerbG iVm § 6 Abs. 2 Nr. 2 SächsSparkG ist vom Gesetzesvorbehalt gem. Art. 82 Abs. 2 SächsVerf gedeckt. Die mit der Übertragung einhergehende Verlagerung von Selbstverwaltungsaufgaben auf den Sachsen-Finanzverband ist durch überwiegende Gemeinwohlgründe gerechtfertigt. Der Gesetzgeber durfte eine Ermächtigung zur Übertragung kommunaler Kreditinstitute auf den staatlich mitgetragenen und maßgeblich beeinflußten kondo-
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minialen Verband für erforderlich halten, um angesichts sich stetig und rasch verschärfender, durch steigenden Kostendruck und fortschreitende Globalisierung geprägter Wettbewerbsbedingungen die ordnungsgemäße Erledigung der Sparkassenaufgaben und insbesondere die Erfüllung ihres öffentlichen Auftrags für die Zukunft sicher2ustellen.
Vertretbar erscheint die dem zu Grunde liegende Annahme des Gesetzgebers, ein weiterhin ausschließlich dezentral-kommunaler Sparkassenbetrieb werde — von einzelnen, im Rahmen zulässiger Typisierung unmaßgeblichen Ausnahmen ertragsstarker Großsparkassen abgesehen — in absehbarer Zeit nicht mehr wettbewerbsfähig sein, so daß die zuverlässige Erfüllung des öffentlichen Auftrages gefährdet werde. Diese Prognose beruht auf im Gesetzgebungsverfahren ausreichend erhobenen und in der öffentlichen Anhörung vom 11. Januar 1999 eingehend diskutierten Daten und sachverständigen Stellungnahmen (vgl. Stenografisches Protokoll der öffentlichen Anhörung vor dem Haushalts- und Finanzausschuß des Sächsischen Landtages vom 11. Januar 1999, S. 1 ff, 16ff, 29ff, 33ff, 41, 64). Die für den Sächsischen Landtag mit vertretbarem Aufwand zu erhebenden Daten wurden durch Stellungnahmen der betroffenen Träger und ihrer Zusammenschlüsse sowie durch Sachverständigengutachten und -Stellungnahmen zu den einschlägigen bankwirtschaftlichen, finanz- und
wirtschaftspolitischen Problemen in das Gesetzgebungsverfahren eingeführt. Die öffentliche Anhörung zahlreicher Sachverständiger vor dem Haushalts- und Finanzausschuß des Sächsischen Landtages am 11. Januar 1999 ergänzte diese Informationsgrundlage. Die parlamentarische Diskussion würdigte die erhobenen Daten ausreichend und ohne methodische oder sonst offenkundige Fehler. Dabei wurden auch die für die kommunale Sparkassenstruktur sprechenden Umstände, insbesondere die bisher gute Aufwands-Ertrags-Relation (p. Friesen EuZW 1999, 581, 583), berücksichtigt (vgl. Stenografisches Protokoll der öffentlichen Anhörung vom 11. Januar 1999, S. 6; Plenarprotokoll des Sächsischen Landtages, 2. Wahlperiode, 99. Sitzung, vom 17. März 1999, S. 7166,7172). Der Gesetzgeber mußte sie jedoch nicht zum Anlaß nehmen, eine Gefährdung der ordnungsgemäßen Aufgabenerfüllung zu verneinen. Vielmehr durfte er nach den insoweit im wesentlichen übereinstimmenden Stellungnahmen der Sachverständigen bei der öffentlichen Anhörung davon ausgehen, daß die derzeitige Sparkassenorganisation zumindest mittelfristig dem zunehmenden Kosten- und Wettbewerbsdruck, verstärkt durch die Konkurrenz zweigstellenloser Direktbanken, grenzüberschreitend tätiger ausländischer Banken und die Entwicklung neuer Finanzdienstleistungsprodukte und Vertriebswege nicht ohne erhebliche Strukturänderungen gewachsen sein würde (vgl. Stenografisches Protokoll der öffentlichen Anhörung vom 11. Januar 1999, S. 2, 12, 33ff, 36, 57; vergleichbare Einschätzungen z.B. bei v. Friesen EuZW 1999, 581, 583 ff, 587; Ambros WM 2000, 563 f). Die mittelfristige Gefährdung der Wettbewerbsfähigkeit der Sparkassen genügt, eine Gefährdung ordnungsgemäßer Aufgabenerfüllung vertretbar zu begründen. Der Gesetzgeber mußte nicht abwarten, ob und gegebenenfalls wann die Gefährdung der LVerfGE 11
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Wettbewerbsfähigkeit in eine konkrete Existenzgefáhrdung der bisherigen Strukturen umschlagen würde, und ob begonnene Initiativen der Sparkassen, eine kostensenkende Zentralisierung oder Auslagerung einzelner Geschäftsbereiche vorzunehmen (vgl. die Hinweise des Geschäftsfuhrenden Präsidenten des Ostdeutschen Sparkassen- und Giroverbandes, Stenografisches Protokoll der öffentlichen Anhörung vom 11. Januar 1999, S. 37), sich als rechtzeitig und ausreichend erfolgreich erweisen würden. Weil verlorene Marktanteile nur schwer zurückgewonnen werden können und jede Strukturanpassung Zeit erfordert, durfte der Gesetzgeber schon bei mittelfristiger Gefährdung der Wettbewerbsfähigkeit der Sparkassen eine Neuregelung für erforderlich halten und Organisationsanpassungen zur Optimierung der Sparkassenleistungen ermöglichen. Dabei sind Hinweise der Gesetzesbegründung auf Effizienzsteigerung und Kostensenkung als Ziele der Neuregelving (vgl. Drs. 2/10015, Vorblatt, S. 2 f ) nicht dahin mißzuverstehen, daß der Gesetzgeber die Neuordnung nur auf allgemeine Wirtschaftlichkeitserwägungen gestützt hätte. Vielmehr läßt sich sowohl der einfuhrenden Erläuterung des Gesetzesentwurfs (vgl. Drs. 2/10015, Vorblatt, S. 10) als auch seiner parlamentarischen Erörterung (vgl. Plenarprotokoll des Sächsischen Landtages, 2. Wahlperiode, 90. Sitzung vom 12. November 1998, S. 6505) entnehmen, daß die Effizienzsteigerung nicht als Selbstzweck, sondern als notwendiges Mittel zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der öffentlich-rechtlichen Kreditinstitute und damit als unabdingbare Voraussetzung zur Sicherung der Erfüllung ihres öffentlichen Auftrages angestrebt wurde. Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist die Einschätzung des Gesetzgebers, daß Regelungsalternativen, die die Trägerschaft und Verwaltung aller Sparkassen in kommunaler Eigenverantwortung belassen hätten, zur Sicherstellung ordnungsgemäßer Aufgabenerfüllung weniger geeignet seien. Solche Alternativen — insbesondere horizontale Fusionslösungen und das vom Ostdeutschen Sparkassen- und Giroverband vorgeschlagene „Ampelmodeü" der ertragsabhängigen Steuerung von Ausschüttungen — wurden bereits in den Erläuterungen zum Gesetzentwurf erörtert (Drs. 2/10015, Vorblatt, S. lOff). Sie wurden im Rahmen der öffentlichen Anhörung ebenso eingehend diskutiert wie der Vorschlag, eine Zentralisierung einzelner Funktionen ohne staatliche Beteiligung herbeizuführen bzw. auszubauen (vgl. Stenografisches Protokoll der öffentlichen Anhörung vom 11. Januar 1999, S. 16 ff, 37 f, 43). Die vorgeschlagenen Alternativen wurden auf Grund vertretbarer Überlegungen im Gesetzgebungsverfahren ohne Verfassungsverstoß zu Gunsten der kondominialen Verbandslösung verworfen, die ein arbeitsteiliges Zusammenwirken von Finanzverband und Sparkassen mit Konzentration des Nicht-Kundengeschäfts beim Verband (vgl. Drs. 2/10015, Vorblatt, S. 11: strategische Management Holding) und dezentraler, weitgehend eigenverantwortlicher Abwicklung des durch örtliche Bezüge geprägten Kundengeschäfts durch die einzelnen Sparkassen vorsieht. Unter Berücksichtigung des weiten Einschätzungsspielraums des Gesetzgebers in wirtschaftspolitischen Fragen ist seine Annahme vertretbar, diese Lösung sei am besten geeignet, unter sich verschärLVerfGE 11
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fenden Wettbewerbsbedingungen die künftige Aufgabenerfiillung der öffentlich-rechtlichen Kreditinstitute durch effiziente Zusammenarbeit und optimale Nutzung des Eigenkapitals zu gewährleisten, ohne — wie bei einer Fusionslösung — die marktrelevanten Vorzüge der dezentralen, örtliche Bezüge wahrenden Vertriebsstruktur aufzugeben (vgl. Drs. 2/10015, Vorblatt, S. lOf). Das Erfordernis der Sicherstellung ordnungsgemäßer Aufgabenerfüllung rechtfertigt die Übertragungsermächtigung gem. § 16 VerbG, § 6 Abs. 2 Nr. 2 SächsSparkG auch insoweit, als die Neuordnung dem Freistaat Sachsen durch Einbeziehen der Landesbank Sachsen Girozentrale und der Sächsischen Aufbaubank GmbH eine maßgebliche Beteiligung am Verband zuweist. Vertretbar ist die zu Grunde liegende Annahme, eine Doppelstruktur aus kommunalen Sparkassen einerseits und staatlich mitgetragenen, zentralen öffentlich-rechtlichen Kreditinstituten andererseits sei nicht geeignet, die zur Gewährleistung ordnungsgemäßer Aufgabenerfiillung erforderliche Wettbewerbsfähigkeit mittelfristig zu sichern, da Synergieeffekte und Möglichkeiten der Risikodiversifizierung nicht ausgeschöpft würden und zur Marktbehauptung erforderliche gemeinsame Strategien nicht zügig entwickelt und umgesetzt werden könnten (vgl. Drs. 2/10015, Vorblatt, S. 11). Sachlich ist die Einbeziehung der beiden zentralen Kreditinstitute durch deren Beteiligung an der Erfüllung des öffentlichen Auftrags der Sparkassen legitimiert. Die Landesbank Sachsen Girozentrale wirkt gem. § 2 Abs. 2 SächsLB, § 2 Abs. 2 VerbG als Zentralbank der sächsischen Sparkassen und als Kommunalbank der sächsischen Gemeinden und Gemeindeverbände unmittelbar an der Erfüllung des öffentlichen Auftrags flächendeckend ausreichender Geld- und Kreditversorgung, der Mittelstandsförderung und der Unterstützung kommunaler Selbstverwaltungskörperschaften mit. Ohne ihre Vermittlung überregionaler Finanzdienstleistungen wären die örtlichen Sparkassen kaum in der Lage, für ihre Kunden im kommunalen Geschäftsgebiet ein ausreichendes Spektrum marktfähiger, dem Standard heutiger Bankdienstleistungen angemessener Anlage- und Kreditangebote vorzuhalten. Die Tätigkeit der Sächsischen Aufbaubank GmbH betrifft die Erfüllung des öffentlichen Auftrags der Sparkassen insofern, als staatliche Förderung und Finanzhilfen vermittelt werden, die zur Wirtschafts- und Strukturförderung im kommunalen Bereich beitragen. Vertretbar erscheint danach die Einschätzung des Gesetzgebers, die zur ordnungsgemäßen Aufgabenerfüllung erforderliche Koordination der Tätigkeit örtlicher und zentraler öffentlich-rechtlicher Kreditinstitute sei nur durch eine gemeinsame Managementspitze ausreichend zu gewährleisten. Verfassungsrechtlich ist ebenfalls nicht zu beanstanden, daß die bisherigen kommunalen Träger durch ihre Beteiligung am Verband an der Erfüllung seiner über die Verwaltung der örtlichen Sparkasse hinausgehenden Aufgaben mitwirken, insbesondere an der Verwaltung von Anteilen der Landesbank Sachsen Girozentrale und der Sächsischen Aufbaubank GmbH. Art. 82 ff SächsVerf verbieten nicht die Beteiligung von Kommunen an der Erfüllung von Aufgaben, die neben örtlichen auch überkommunale Bezüge aufweisen. Danach ist eine kommunale Beteiligung an einer von Kommunen und Frei-
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Staat gemeinsam getragenen Anstalt, die neben Aufgaben mit örtlichem Bezug auch
staatliche Aufgaben wahrnimmt, nicht von vornherein verfassungsrechtlich ausgeschlossen. Die Voraussetzungen, unter denen solche Beteiligungen zulässig sind, und ihre verfassungsrechtlichen Grenzen müssen hier nicht abschließend geklärt werden. Von der Verbandskompetenz der Kommunen umfasst und durch die Entscheidungen ihrer Vertretungsorgane demokratisch legitimiert sind jedenfalls solche Beteiligungen, die - über fiskalische Erträge hinaus — zumindest mittelbar der Erfüllung ursprünglich örtlicher Aufgaben dienen (vgl. zur Legitimaüonswirkung des Aufgabenzusammenhangs Gramrt FS Blümel 1999, 119, 129, 132, 137), und bei denen Mitwirkungsrechte und Haftung noch durch den Aufgabenzusammenhang legitimiert sind. Diese Bedingungen sind für die Beteiligung der Kommunen an der Verwaltung von Anteilen der Landesbank Sachsen Girozentrale und der Sächsischen Aufbaubank GmbH durch den Sachsen-Finanzverband erfüllt. Der Zusammenhang der Tätigkeit beider Kreditinstitute mit der Erfüllung des öffentlichen Auftrags der örtlichen Sparkassen wurde oben bereits dargelegt. Die den Kommunen eingeräumten Mitwirkungsrechte in der Anteilseignerversammlung gem. § 7 VerbG überschreiten auch nicht den durch diesen Aufgabenzusammenhang gezogenen Rahmen. Gleiches gilt fur ihre Mithaftung, die gem. §§ 3 Abs. 1 S. 3, Abs. 2,4 Abs. 1 S. 2, 18 Abs. 1 S. 1 VerbG jeweils beschränkt ist auf das Verhältnis des Buchwerts der eingebrachten Sparkasse zum gesamten Stammkapital des Verbandes. Der Verzicht auf gesetzlich angeordneten Zwang schließt die Eignung der Neuregelung zum Aufbau wettbewerbsfähiger Strukturen im Bereich öffentlich-rechtlicher Kreditinstitute nicht aus. Die mit dem Beitritt verknüpften Vorteile, insbesondere die Beteiligung an den Ausschüttungen des Verbandes gem. § 15 Abs. 4 VerbG und die Übernahme der Gewährträgerhaftung für Altverbindlichkeiten gem. § 16 Abs. 3 S. 2 VerbG, lassen den Beitritt zum Finanzverband vor allem für diejenigen kommunalen Träger attraktiv erscheinen, deren Sparkassen mangels guter Wettbewerbsposition und ausreichender Erträge gem. § 27 Abs. 3 SächsSparkG keine nennenswerten Ausschüttungen erwarten lassen und ein erhöhtes Haftungsrisiko für ihren Gewährträger begründen. Gleichzeitig ermöglicht die Beschränkung der Neuregelung auf eine bloße Ermächtigung zur Übertragung ein weiterhin ausschließlich kommunales Betreiben derjenigen Sparkassen, die nach Marktanteilen und Ertragslage zur Sicherung ihrer Wettbewerbsfähigkeit nicht auf eine Zentralisierung angewiesen sind. Damit wird das die Übertragung rechtfertigende Erforderlichkeitskriterium in der Ausgestaltung des Beitrittsverfahrens umgesetzt. 2.3.2.2. Die an die Übertragungsentscheidung gem. § 16 VerbG iVm § 6 Abs. 2 Nr. 2 SächsSparkG geknüpfte Aufgabenzuweisung an den Sachsen-Finanzverband, gem. § 2 Abs. 1 VerbG, § 6 Abs. 3 SächsSparkG die Verbandssparkassen unter Wahrung des Prinzips der Eigenverantwortlichkeit ihrer Vorstände zu verwalten, ist bei verfassungskonformer Auslegung der die Verbandsbefugnisse ausgestaltenden Vorschriften ebenfalls verfassungsrechtlich gem. Art. 82 Abs. 2 SächsVerf gerechtfertigt. LVerfGE 11
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Nach den dargelegten Grundsätzen ist verfassungsrechtlich zulässig die in § 2 Abs. 1 S. 1 und 2 VerbG normierte Befugnis des Verbandes, die Verbandssparkassen zu verwalten und dabei allgemeine Richtlinien für deren Geschäfts- und Personalpolitik zu erlassen. Aus dem Zusammenhang mit § 2 Abs. 2 VerbG ergibt sich, daß diese Befugnis durch die Pflicht zur Förderung der Erfüllung des öffentlichen Auftrags der Sparkassen legitimiert und begrenzt wird. Sie dient damit der Sicherung ordnungsgemäßer Aufgabenerfüllung durch die Verbandssparkassen. Die Beschränkung der Richtlinienkompetenz auf den Erlaß allgemeiner Vorgaben gewährleistet, daß die Verwaltungstätigkeit des Verbandes sich nicht auf die Determinierung der durch konkret-örtliche Bezüge geprägten Geschäftstätigkeit der einzelnen Verbandssparkasse erstreckt. Auch die Pflicht zur Wahrung des Prinzips der Eigenverantwortlichkeit gem. § 2 Abs. 1 S. 3 VerbG schränkt die Verwaltungskompetenz des Verbandes ein und sichert den Verbandssparkassen die Verantwortung für das durch örtliche Bezüge geprägte Kundengeschäft einschließlich der Kreditvergabe (vgl. Drs. 2/10015, Vorblatt, S. 2). Inwiefern die Konkretisierung der Verwaltungsbefugnisse und der Richtlinienkompetenz des Verbandes durch §§ 7 Abs. 9 und 13, 10 Abs. 4 VerbG verfassungsrechtlichen Bedenken begegnen könnte — etwa hinsichtlich der Befugnis zum Erlaß von Richtlinien für die Filialpolitik und zur Schließung von Filialen gem. § 7 Abs. 9 Nr. 11 VerbG, der Richtlinienkompetenz für das Kreditgeschäft gem. § 7 Abs. 9 Nr. 16 VerbG oder der Zuständigkeit zur Entlastung des Vorstands und Verwaltungsrats der Verbandssparkassen gem. § 10 Abs. 4 Nr. 2 und 3 VerbG —, ist hier nicht zu erörtern, da diese Vorschriften im vorliegenden Verfahren nicht angegriffen und auch nicht gem. § 23 S. 2 SächsVerfGHG in die Entscheidung einzubeziehen sind. Von den angegriffenen Vorschriften bedürfen § 12 Abs. 6 S. 1 und 4, Abs. 7 S. 1 und 4 VerbG iVm § 8 Abs. 3 Nr. 1 S. 1 SächsSparkG der verfassungskonformen Auslegung. Ihrem Wortlaut nach gestatten sie dem Finanzverband über die verfassungsrechtlichen Grenzen der Verbandskompetenz hinaus, unmittelbar über die Besetzung des Vorstands der Verbandssparkassen zu entscheiden und damit die örtliche Geschäftstätigkeit zu beeinflussen, ohne daß dies durchweg vom Erfordernis der Sicherstellung ordnungsgemäßer Aufgabenerfüllung gedeckt wäre. § 12 Abs. 6 S. 1 und 4, Abs. 7 S. 1 VerbG, § 8 Abs. 3 Nr. 1 S. 1 SächsSparkG sind deshalb verfassungskonform dahin auszulegen, daß die Genehmigung bzw. Zustimmung des Verbandsvorstandes zur Bestellung, Anstellung und Wiederbestellung von ordentlichen und voll stimmberechtigten stellvertretenden Vorstandsmitgliedern der Verbandssparkassen gem. § 12 Abs. 6 S. 1 VerbG iVm § 8 Abs. 3 Nr. 1 S. 1 SächsSparkG, § 12 Abs. 7 S. 1 VerbG sowie die Genehmigung bzw. Zustimmung zur Bestellung und Wiederbestellung stellvertretender Vorstandsmitglieder mit beratender Funktion gem. § 12 Abs. 6 S. 1 und 4, Abs. 7 S. 1 VerbG lediglich verweigert werden darf, wenn entweder die Bestellungsvoraussetzungen gem. § 19 Abs. 2 SächsSparkG nicht vorliegen oder wenn die Verweigerung der Genehmigung bzw. Zustimmung erforderlich ist, um die Befolgung von Richtlinien durchzusetzen, die der Verband im Rahmen LVerfGE 11
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seiner - verfassungsrechtlich durch die Erforderlichkeit zur Sicherstellung ordnungsgemäßer Aufgabenerfullung begrenzten — Kompetenz gegenüber der Verbandssparkasse rechtmäßig erlassen hat. Ohne diese Einschränkung erlaubten der gesetzlich an keine konkreten Voraussetzungen geknüpfte Genehmigungsvorbehalt gem. § 12 Abs. 6 S. 1 und 4 VerbG und das ebenfalls an keine Voraussetzungen geknüpfte Zustimmungserfordernis gem. § 12 Abs. 7 S. 1 VerbG dem maßgeblich staatlich beeinflußten Verband, ohne jede sachliche Rechtfertigung die Besetzung des Vorstands der Verbandssparkassen mit nicht genehmen Kandidaten sowie deren Wiederbestellung zu verhindern. Wegen des Letztentscheidungsrechts des Verbandes gem. § 12 Abs. 6 S. 3, Abs. 7 S. 2 und 3 VerbG können Genehmigungsvorbehalte und Zustimmungserfordernisse vom kommunal majorisierten Verwaltungsrat der Verbandssparkasse nicht überwunden werden. Besonders das für die Wiederbestellung geltende Zustimmungserfordernis beeinträchtigt nicht nur die in § 18 Abs. 1 SächsSparkG normierte und durch § 2 Abs. 1 S. 3 VerbG geschützte Eigenverantwortlichkeit und Unabhängigkeit der zu berufenden Vorstandsmitglieder, sondern erlaubt gezielte Eingriffe in die diesen zugewiesene Führung der durch konkret-örtliche Bezüge geprägten Bankgeschäfte. Zur Sicherung ordnungsgemäßer Aufgabenerfüllung können die Genehmigungs- bzw. Zustimmungsvorbehalte nur gerechtfertigt sein, soweit sie ermöglichen, die Berufung oder Wiederbestellung von Vorstandsmitgliedern auszuschließen, die entweder die nötigen Voraussetzungen gem. § 19 Abs. 2 SächsSparkG nicht erfüllen, oder die Durchsetzung der vom Verband verfassungskonform und rechtmäßig erlassenen Richtlinien nicht gewährleisten. Nicht zu rechtfertigen ist eine Befugnis des Verbandsvorstandes, die Genehmigung bzw. Zustimmung auch aus anderen Gründen zu verweigern. Verfassungskonform auszulegen ist auch § 12 Abs. 7 S. 4 VerbG, der dem Verband die Befugnis zuweist, ordentliche und stellvertretende Vorstandsmitglieder der Verbandssparkassen unter den Voraussetzungen des § 19 Abs. 5 S. 1 SächsSparkG im Benehmen mit deren Verwaltungsrat abzuberufen und zu kündigen. Der Verbandsvorstand kann danach aus wichtigem Grund die Abberufung und Kündigung auch gegen den Willen des Verwaltungsrates der Verbandssparkasse aussprechen, andererseits aber auch die vom Verwaltungsrat der Verbandssparkasse geforderte Abberufung oder Kündigung verweigern. Diese Befugnisse sind mit Blick auf die verfassungsrechtlichen Grenzen einer Einflußnahme des staatlich beeinflußten Verbandes auf die örtliche Geschäftstätigkeit der Verbandssparkasse einschränkend zu konkretisieren. Zur Sicherstellung ordnungsgemäßer Aufgabenerfullung ist eine Abberufung und Kündigung durch den Verbandsvorstand gegen den Willen des Verwaltungsrates der Verbandssparkasse aus wichtigem Grund nur gerechtfertigt, wenn das betreffende Vorstandsmitglied der Verbandssparkasse verantwortlich ist für eine die weitere Zusammenarbeit ausschließende Pflichtverletzung gegenüber dem Verband selbst. Fordert der Verwaltungsrat der Verbandssparkasse eine Abberufung und Kündigung, hat der Verbandsvorstand dem zur Sicherstellung ordnungsgemäßer Aufgabenerfullung nachzukomLVerfGE 11
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men, wenn das Vorstandsmitglied sich einer Pflichtverletzung der Verbandssparkasse gegenüber schuldig gemacht hat, die seine Weiterbeschäftigung fur diese untragbar erscheinen läßt. § 12 Abs. 6 S. 2 und 3, Abs. 7 S. 2 und 3 VerbG sind nicht verfassungswidrig. Diese Verfahrensvorschriften dienen der Durchsetzung gem. § 12 Abs. 6 S. 1 und 4, Abs. 7 S. 1 und 4 VerbG zu treffender Entscheidungen und begegnen nach verfassungskonformer Auslegung dieser Vorschriften keinen davon unabhängigen verfassungsrechtlichen Bedenken. Die im selben Zusammenhang gerügten §§ 8 Abs. 3 Nr. 2,19 Abs. 3 S. 2 und 5 SächsSparkG sind ebenfalls verfassungsgemäß. Sie verweisen lediglich auf § 12 Abs. 6 und 7 VerbG, ohne die dort problematischen Regelungen zu treffen oder zu wiederholen. Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist auch die zur Uberprüfung gestellte Regelung der Entsendung eines Vertreters des Finanzverbandes in den Verwaltungsrat der Verbandssparkasse gem. §§ 9 Abs. 2 Nr. 3, 11 Abs. 3 SächsSparkG, weil dadurch zunächst nur die Effizienz wechselseitiger Information und Abstimmung zwischen Verband und Verbandssparkasse gewährleistet wird, ohne dem Verbandsvertreter bei Mehrheitsentscheidungen maßgebliches Stimmgewicht zuzubilligen (vgl. § 9 Abs. 5 SächsSparkG). Zweifel, ob auch die Befugnis des Verbandsvertreters gem. § 8 Abs. 9 SächsSparkG, die dort aufgezählten Entscheidungen der Zuständigkeit der Verbandssparkasse zu entziehen und einer abschließenden Entscheidung des Verbandes zuzuführen, noch durch das Erfordernis der Sicherstellung ordnungsgemäßer Aufgabenerfüllung gerechtfertigt ist, sind nicht Gegenstand dieses Verfahrens, weil die Antragsteller § 8 Abs. 9 SächsSparkG nicht angegriffen haben. Ebenfalls nicht zur Uberprüfung gestellt wurde die Ermächtigung des Verbandes gem. §§ 2 Abs. 5 bis 7, 7 Abs. 13 S. 1 Nr. 3, S. 2 VerbG, § 3 Abs. 5 S. 6 SächsSparkG, den Abschluß von Unternehmensverträgen und die Einräumung atypischer und typischer stiller Beteiligungen an einzelnen Verbandssparkassen gegen deren Willen und ohne die Zustimmung der betroffenen Selbstverwaltungskörperschaften zu erzwingen, und damit auch Beherrschungsverträge einseitig durchzusetzen. Eine Einbeziehung der genannten Vorschriften in die vorliegende Entscheidung kommt nicht in Betracht, weil die Voraussetzungen des § 23 S. 2 SächsVerfGHG nicht erfüllt sind. 2.3.2.3. Die Beschränkung des Rückübertragungsrechts der früheren kommunalen Träger gem. § 19 VerbG ist vom Gesetzesvorbehalt gem. Art. 82 Abs. 2 SächsVerf gedeckt. Der Gesetzgeber durfte das Recht der Anteilseigner zum Ausscheiden aus dem Verband gem. § 19 Abs. 1 VerbG vom Vorliegen eines wichtigen Grundes abhängig machen, um die für die Tätigkeit am Kapitalmarkt nötige Kontinuität und Stabilität des Verbandes zu gewährleisten. Da § 19 Abs. 1 S. 2 VerbG keine abschließende Aufzählung in Betracht kommender wichtiger Gründe enthält, wird die Entscheidungsfreiheit der Anteilseigner, insbesondere der beteiligten Kommunen, auch nicht unzumutbar eingeschränkt. Die von der Rüge des § 19 VerbG umfaßten Abwicklungs- und
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Folgeregelungen gem. § 19 Abs. 2 und 3 VerbG sind verfassungsrechtlich unbedenklich. 3. Bedenken gegen die Vereinbarkeit der Regelungen über die Gewährträgerhaftung (vgl. § 16 Abs. 3 VerbG) mit dem gemeinschaftsrechtlichen Verbot nicht notifizierter staatlicher Beihilfen gem. Art. 87 EG können dahinstehen, da die Frage im vorliegenden NormenkontroËverfahren nicht entscheidungserheblich geworden ist. Da als Prüfungsmaßstab gem. Art. 81 Abs. 1 Nr. 2 SachsVerf, §§ 7 Nr. 2, 21, 23 SachsVerfGHG allein die Sächsische Verfassung heranzuziehen ist, wäre die gemeinschaftsrechtliche Frage nur zu erörtern gewesen, wenn eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung entscheidungserheblicher landesverfassungsrechtlicher Vorschriften das Ergebnis der Normenkontrolle hätte beeinflussen können. Dies ist hier nicht der Fall. Insbesondere kann offen bleiben, ob die Befugnis der kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften, Sparkassen in der heutigen Ausgestaltung zu betreiben, wegen gemeinschaftsrechtlicher Bedenken gegen kommunale Anstaltslast und Gewährträgerhaftung aus dem Gewährleistungsbereich der kommunalen Selbstverwaltung gem. Art. 82 Abs. 2 SächsVerf auszugrenzen wäre. Wenn man dies bejahen wollte, wäre eine Verletzung der Selbstverwaltungsgarantie durch die angegriffenen Vorschriften von vornherein ausgeschlossen. Verneint man die Frage, mußte der Antrag jedenfalls erfolglos bleiben, weil unabhängig von gemeinschaftsrechtlichen Bedenken kein zur Nichtigkeit der angegriffenen Normen führender Verfassungsverstoß festzustellen war. C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 16 Abs. 1 und 4 SächsVerfGHG. Den Antragstellern ist ein Drittel ihrer notwendigen Auslagen zu erstatten, weil das Verfahren zur Rechtsfortbildung beigetragen hat.
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Entscheidungen des Landes Verfassungsgerichts Sachsen-Anhalt
Die amtierenden Richterinnen und Richter des Landes Verfassungsgerichts für das Land Sachsen-Anhalt Prof. Jürgen Goydke, Präsident Burkhard Guntau, Vizepräsident Dr. Edeltraut Faßhauer Margrit Gärtner Prof. Dr. Michael Kilian Erhard Köhler Prof. Dr. Harald Schultze
Stellvertreterinnen und Stellvertreter Carola Beuermann Dietrich Franke Dietmar Fromhage Wolfgang Pietzke Prof. Dr. Stefan Smid Dr. Peter Willms Werner Zink
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Nr. 1 1. Fût unverändert gebliebene oder zugunsten des Betroffenen geänderte Bestimmungen läuft mangels einer (neuen) belastenden Regelung ab Verkündung des Änderungsgesetzes keine neue Jahresfrist. Auch soweit der Gesetzgeber an seinem früheren „System" keine inhaltlichen Änderungen vorgenommen hat, kann dieses nicht aus Anlaß eines Änderungsgesetzes erstmals in Frage gestellt werden. 2. Das Landesverfassungsgericht hält an seiner Rechtsprechung zu Art. 87 Abs. 3 LSA-Verf fest: Soweit die danach gebotene Kostendeckungsregelung in dem Gesetz, das die Aufgabe überträgt, unterblieben ist, muß sie nachgeholt werden. Ist dies bis zum In-Kraft-Treten der Übertragung nicht geschehen, wirkt sich der Fehler auf künftige Gesetze aus, die den Finanzausgleich betreffen. Da der Ausgleich nach Art. 87 Abs. 3 LSA-Verf „finanzkraftunabhängig" zu gewähren ist, muß in die „Angemessenheitsprüfung" auch Eingang finden, welche Finanzmasse noch übrig bleibt, um den allgemeinen Finanzausgleich nach Art. 88 LSA-Verf zu leisten. 3. Art. 88 Abs. 1 LSA-Verf verlangt nicht, einen „Kernbereich" kommunaler Aufgaben anders zu behandeln als einen schwächer geschützten „Randbereich". Die Bestimmung läßt es zu, die Leistungsfähigkeit des Landes zu berücksichtigen. Art. 88 Abs. 1 LSA-Verf gewährt keinen „Bestandsschutz". Bei veränderten Umständen darf der Landesgesetzgeber frühere, höhere Finanzmassen kürzen. Mit der Verfassung vereinbar ist, eine Teilmasse zu bilden, sofern hierfür ein besonderer Grund besteht. Für Investitionshilfen, welche die Kommunen in die Lage versetzen sollen, Fremdmittel zur Investitionsförderung abzurufen, besteht ein Landesinteresse. 4. Art. 88 Abs. 1, 2 LSA-Verf verlangen kein „Verfahrensgesetz" (a.A. für das dortige Landesrecht: StGH BW, Urt. v. 10.5.1999 - GR 2/97 - ) .
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Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt Art. 2 Abs. 1 und 3; 75 Nr. 7; 87 Abs. 1 und 3; 88 Abs. 1 und 2 Finanzausgleichsgesetz des Landes 1995 §§ 3 Abs. 2 Nr. 5; 4 Nr. 3,7; 7; 11 a; 13 Abs. 13; 15 Haushaltsbegleitgesetz des Landes 1997 Verwaltungsgerichtsordnung § 60 Urteil vom 13. Juli 2000 - LVG 20/97 -
in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren wegen des Finanzausgleichgesetzes des Landes vom 31.1.1995 (LSA-GVB1. S. 41) und Art. 1 § 1 des Haushaltbegleitgesetzes 1997 vom 17.12.1996 (LSA-GVB1. S. 416) Entscheidungsformel: Es wird festgestellt, daß Art. 1 § 1 Nr. 4 des Haushaltsbegleitgesetzes 1997 vom 17.12.1996 (LSA-GVB1. S. 416) insoweit gegenwärtig gegen Art. 87 Abs. 3 der Landesverfassung verstößt, als keine besondere Finanzierungsregelung über die Kostendeckung für die Aufgaben des § 3 des Gesetzes zur Gestaltung des Öffentlichen Personennahverkehrs im Land Sachsen-Anhalt vom 24.11.1995 (LSA-GVB1. S. 339) LSA-ÖPNVG - vorgesehen ist. Die weitergehende Verfassungsbeschwerde wird verworfen, soweit sie sich gegen Art. 1 § 1 Nr. 5 des Haushaltsbegleitgesetzes 1997 vom 17. Dezember 1996 (LSAGVB1. S. 416) und § 7 Abs. 2 Nr. 2 des Finanzausgleichsgesetzes vom 31. Januar 1995 (LSA-GVB1. S. 41) richtet; im übrigen wird sie zurückgewiesen. Gerichtskosten werden nicht erhoben. Das Land hat dem Beschwerdeführer ein Viertel der außergerichtlichen Kosten zu erstatten. Gründe: I. Das Finanzausgleichsgesetz (des Landes) vom 31.1.1995 (LSA-GVB1. S. 41) — LSA-FAG - , das sich Rückwirkung zum 1.1.1995 beilegte (§ 30 Abs. 1 LSA-FAG) und gleichzeitig die früheren Regelungen über die Gemeindefinanzierungen aufhob (§ 30 Abs. 2 S. 1 LSA-FAG), gewährte den Kommunen allgemeine Finanzzuweisungen, Sonderzuweisungen und Bedarfszuweisungen (§ 2 Abs. 1), legte fest, daß zur allgemeinen Finanzmasse 45% der dem Land zufließenden Bundesergänzungszuweisungen gem. § 11 Abs. 4 FAG(-Bund) gehörte (§ 3 Abs. 2 Nr. 5 LSA-FAG), teilte die Finanzmasse in Teilmassen für den Ausgleich der Sozialhilfelasten, zur Finanzierung allgemeiner LVerfGE 11
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Zuweisungen sowie zur Ausstattung eines Ausgleichsfonds auf (§§ 4 Abs. 1; 12 FAG LSA), legte ergänzende Zuweisungen für die Sozialhilfelasten (§10 LSA-FAG) und für die Straßenbaulast (§11 LSA-FAG) fest und sah vor, daß die Träger der Schülerbeförderung einen pauschalierten jährlichen Zuschuß nach Maßgabe des Haushaltsplans erhielten, mindestens jedoch 75 Mio. DM (§13 Abs. 1 LSA-FAG); innerhalb der Vorschriften über die „allgemeinen Zuweisungen" (§§ 5 ff LSA-FAG) bestimmten die §§ 7, 15 LSA-FAG wie mit Hilfe von Bedarfsmeßzahlen die Zuteilung auf die Gemeinden und Landkreise erfolgen sollte. Durch Art. 1 § 1 des Haushaltsbegleitgesetzes 1997 vom 17.12.1996 - LSAHaushBeglG 1997 - wurden zahlreiche Vorschriften des Finanzausgleichsgesetzes von 1995 modifiziert. Der Landesgesetzgeber hat durch das Gesetz zur Gestaltung des Öffentlichen Personennahverkehrs im Land Sachsen-Anhalt vom 24.11.1995 (LSA-GVB1. S. 339) LSA-ÖPNVG — die Landkreise und kreisfreien Städte zu örtlichen Trägern bestimmt; dazu hat das Landesverfassungsgericht entschieden (LVerfG LSA, Urt. v. 17.9.1998 LVG 4/96 - LVerfGE 9, 329 ff), § 15 LSA-ÖPNVG sei insoweit nicht mit Art. 87 Abs. 3 LSA-Verf vereinbar, als er für die Kostenfaktoren des § 15 Abs. 3 LSA-ÖPNVG kein Verfahren zur Bestimmung der Kostenhöhe festlege. Der Landesgesetzgeber hat ferner durch das Gesetz zur Förderung und Betreuung von Kindern in Tageseinrichtungen vom 26.6.1991 (LSA-GVB1. S. 126), geändert durch Gesetz vom 18.7.1996 (LSA-GVB1. S. 224), erneut geändert durch Art. 2 des Haushaltsbegleitgesetzes 1997 (jetzt: Gesetz zur Förderung und Betreuung von Kindern — KiBeG —), die Gemeinden bei Aufgaben der Jugendhilfe mit Investitionskosten belastet; dazu hat das Landesverfassungsgericht entschieden (LVerfG LSA, Urt. v. 8.12. 1998 - LVG 19/97 - LVerfGE 9, 390ff), § 12 Abs. 2 KiBeG sei insoweit mit Art. 87 Abs. 3 LSA-Verf nicht vereinbar, als weder die Vorschrift selbst, noch § 11 KiBeG ein Verfahren zur Bestimmung der Zuschußhöhe hinsichtlich der Investitionskosten enthalte. Die Verfassungsbeschwerde eines Landkreises hat das Gericht zurückgewiesen (LVerfG LSA, Urt. v. 8.12.1998 - LVG 10/97 - LVerfGE 9, 368 ff. Durch § 1 Nr. 10 Buchst, b) des Gesetzes vom 31.3.1999 (LSA-GVB1. S. 125) wurde § 12 Abs. 2 KiBeG gestrichen. Der Beschwerdeführer hat am 30.12.1997 Verfassungsbeschwerde gegen Bestimmungen des allgemeinen Finanzausgleichs erhoben; er macht geltend: In erster Linie verstoße § 7 LSA-FAG gegen Art. 87 und 88 der Landesverfassung. Insoweit sei die Verfassungsbeschwerde zulässig, weil sie gegen die geänderte Fassung rechtzeitig erhoben worden sei. Außerdem könne sie Gegenstand von Richtervorlagen in Verfahren gegen die jährlichen Bescheide über die dem Landkreis nach dem Finanzausgleichsgesetz zustehenden Leistungen werden. Hilfsweise sei Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, weil der Beschwerdeführer mangels Bestimmbarkeit der anzugreifenden Regelung die Verfassungsbeschwerde nicht rechtzeitig habe einreichen können. LVerfGE 11
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§ 7 Abs. 2 Nr. 2 LSA-FAG sei schon unverständlich und vernachlässige die Gesetze der Mathematik. Tatsächlich handele es sich um keinen „Näherungswert", sondern um eine mit Hilfe einer Gleichung mit einer Unbekannten errechenbare Größe. Außerdem werde die Verteilung der den Landkreisen zustehenden Finanzmasse nicht aufgaben- und bedarfsorientiert vorgenommen, sondern sie behandele Landkreise mit gleicher Einwohnerzahl wegen des Flächenfaktors willkürlich ungleich. Verfassungswidrig sei auch die Reduzierung des Anteils in § 3 Abs. 2 Nr. 5 LSAFAG auf 42 %, die Ausweisung der Investitionshilfen als Teilmasse in § 4 Nr. 3 LSAFAG und die neue Vorschrift über Schülerbeförderungskosten, welche eine Einbuße von 35 Mio. DM zur Folge habe. Die Regelungen griffen in die Finanzhoheit der Kommunen ein. Infolge der Kürzungen sei nicht einmal die finanzielle Mindestausstattung gesichert; freiwillige Selbstverwaltungsangelegenheiten könnten nicht mehr wahrgenommen werden. Im übrigen seien die Regelungen auch deshalb verfassungswidrig, weil die dem Landkreis übertragenen Pflichtaufgaben nicht abgegolten würden. Ferner habe das Land durch die Regelung über die Investitionshilfen die Finanzmasse für allgemeine Zuweisungen verringert. Es räume mit dieser Ausnahmeregel selbst ein, daß den Kommunen nicht genügend Finanzausstattung zur Verfugung stehe. Auch sei eine Verteilung dieser Teilmasse verfassungswidrig, weil die Landkreise nur 10% erhielten, obwohl der Gesetzgeber die Quote für die allgemeinen Finanzzuweisungen an die Landkreise im Lauf der Zeit bis auf 30 % erhöht habe. Der interkommunale Finanzausgleich werde der Verfassung nicht gerecht, er führe zu einer Ungleichbehandlung der Landkreise im Verhältnis zu den anderen Kommunen und vernachlässige, daß die Urftnanzkraft durch den Finanzausgleich nicht nivelliert werden dürfe. Verfassungswidrig sei auch § 15 LSA-FAG, den das Verfassungsgericht nach §§ 51 Abs. 2; 50; 41 S. 2 LSA-VerfGG beanstanden könne, obwohl die Jahresfrist für die Verfassungsbeschwerde abgelaufen sei. Der Beschwerdeführer beantragt, festzustellen, daß §§ 3 Abs. 2 Nr. 5; 4 Nr. 3; 7 Abs. 2 Nr. 2; IIa; 13 Abs. 1; 15 des Finanzausgleichsgesetzes vom 31.1.1995 (LSA-GVB1. S. 41), idF des ändernden Haushaltsbegleitgesetzes 1997 vom 17.12.1996 (LSA-GVB1. S. 416) mit Art. 87 Abs. 1 bis 3; 88 Abs. 1 der Landesverfassung unvereinbar und daher nichtig sind, hilfsweise Wiedereinsetzung in die Antragsfrist zu gewähren, soweit auch § 7 Abs. 2 Nr. 2 des Finanzausgleichsgesetzes angegriffen wird. Der Landtag hat sich nicht geäußert. Die Landesregierung hat wie folgt Stellung genommen: Die Verfassungsbeschwerde sei nicht zulässig, soweit § 7 Abs. 2 Nr. 2 LSA-FAG 1997 angegriffen werde. Der zulässige Teil der Verfassungsbeschwerde sei unbegründet. Die Mindestausstattung werde nicht unterschritten. Ursache der Schwierigkeiten beim Beschwerdeführer sei die zu hohe Personalausstattung. Ein Anspruch der Kom-
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munen auf Beibehaltung eines einmal erreichten Finanzausgleich-Standards bestehe nicht. Für die besonderen Investitionshilfezuweisungen bestehe ein sachlicher Grund; es solle erreicht werden, daß insbesondere kleine Kommunen ihre Eigenanteile bei Fördermaßnahmen erbringen könnten. Die Gleichwertigkeit von Landes- und Kommunalaufgaben sei beachtet worden. Die Höhe der Landeszuweisungen an die Kommunen werde durch die Finanzkraft des Landes begrenzt. Daß die Landkreise bei der Verteilung nach §§ l i a LSA-FAG nur 10% erhielten, beruhe auf sachgerechten Erwägungen. Die Zuweisungen bei der Schülerbeförderung schließlich seien wegen der finanziellen Englage des Landes sowie deshalb bewußt gekürzt worden, weil die Träger zu Rationalisierungen hätten angehalten werden sollen. Im übrigen sei niemals eine volle Kostendeckung beabsichtigt gewesen. II. Die Verfassungsbeschwerde ist nur teilweise zulässig (1.); soweit sie zulässig ist, hat sie nur teilweise Erfolg (2.). 1. Mit der statthaften kommunalen Verfassungsbeschwerde (1.1) kann der Beschwerdeführer die angegriffenen Gesetzesbestimmungen nur zum Teil einer Prüfung unterwerfen (1.2). Soweit die Frist gewahrt ist, sind auch die sonstigen Formalien eingehalten (1.3). Die Anregung, die Prüfung auf andere Bestimmungen des Gesetzes zu erstrecken, ist ohne besondere Formalitäten statthaft, indessen mangels der gesetzlichen Voraussetzungen nicht aufzugreifen (1.4). 1.1 Das Landesverfassungsgericht ist nach Art. 75 Nr. 7 der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt - LSA-Verf - vom 16.7.1992 (LSA-GVB1. S. 600) und §§ 2 Nr. 8; 51 des Gesetzes über das Landesverfassungsgericht — LSA-VerfGG — vom 23.8.1993 (LSA-GVB1. S. 441), geändert durch Gesetze vom 14.6.1994 (LSA-GVB1. S. 700) und vom 22.10.1996 (LSA-GVB1. S. 332), zur Entscheidung über die kommunale Verfassungsbeschwerde berufen. Sie wird durch das Bundesverfassungsrecht (Art 28 Abs. 2 des Grundgesetzes — G G —) weder formell (vgl. die Subsidiaritätsklausel bei Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG) noch materiell durch Art. 31 G G verdrängt (std. Rspr. seit LVerfG LSA, Urt. v. 31.5.1994 - LVG 2/93 - , LVerfGE 2, 227, 245); das gilt gerade dann, wenn die Garantien aus Art. 2 Abs. 3 und Art. 87 LSA-Verf weiter reichen als das Bundesrecht (vgl. zur rechtsähnlichen Lage bei Grundrechten auch: BVerfG, Beschl. v. 15.10.1997 - 2 BvN 1/95 - , NJW 1998,1296 ff). 1.2 Eine Verletzung durch § 7 Abs. 2 Nr. 2 des Finanzausgleichsgesetzes vom 31.1.1995 (LSA-GVB1. S. 41) - LSA-FAG 1995 - , geändert durch Art. 1 § 1 Nr. 5 des Haushaltsbegleitgesetzes 1997 vom 17.12.1996 (LSA-GVB1. S. 416) - LSA-HaushBeglG 1997 — (das Finanzausgleichsgesetz in der geänderten Fassung im folgenden
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zitiert mit Jahreszahl), kann der Beschwerdeführer wegen Fristablaufs nicht mehr geltend machen (1.2.1). Im übrigen ist er unmittelbar teilweise erst durch die von ihm angegriffenen Regelungen betroffen; diese Wirkung dauert an (1.2.2). 1.2.1 Die nach §§51 Abs. 2; 48 LSA-VerfGG zu wahrende Frist von einem Jahr seit In-Kraft-Treten der gesetzlichen Regelung war für § 7 Abs. 2 Nr. 2 LSA-FAG am 30.12.1997 bereits abgelaufen, weil es insoweit auf das Ursprungsgesetz von 1995 und nicht auf das Änderungsgesetz von 1996 ankommt. Das gilt auch dann, wenn für das Ursprungsgesetz, das sich Rückwirkung beigemessen hatte (§ 30 Abs. 1 LSA-FAG 1995), nicht das Datum des In-Kraft-Tretens (1.1.1995), sondern das spätere der Verkündung (2.2.1995: Ausgabe des Gesetzblatts Nr. 6/1995) maßgeblich wäre. Die Änderung enthielt nämlich keine neue Belastung (1.2.1.1); dem Beschwerdeführer steht keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu (1.2.1.2). 1.2.1.1 Die Frist des § 48 LSA-VerfGG (iVm § 51 Abs. 2 LSA-VerfGG) wird bereits und nur durch die „erste" Belastung in Lauf gesetzt; das ergibt sich bestätigend aus der Bestimmung des § 49 LSA-VerfGG (iVm § 51 Abs. 2 LSA-VerfGG) über die Begründungspflicht. Mit dieser Einschränkung greift der Landesgesetzgeber auf das Vorbild der bundesrechtlichen Verfassungsbeschwerde zurück (vgl. etwa: BVerfGE 79, 1, 14). Bei ihr reicht gleichfalls nicht aus, daß der Gesetzgeber eine frühere Regelung ohne eine (neue, nachteilige) Änderung nur „bestätigend" in seinen Willen aufgenommen hat (BVerfGE 80, 137, 149, mwN); denn die Fristbegrenzung bei der Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz soll den Betroffenen aus Gründen der Rechtssicherheit daran hindern, die Verfassungsrüge beliebig lange hinauszuschieben (BVerfGE 11, 255, 260; vgl. auch: BVerfGE 24, 252, 257 zu einer Organklage über Wahlkampfkosten). Die Jahresfrist gilt selbst dann, wenn eine konkrete Beschwer beim Beschwerdefuhrer erst nach Ablauf eines Jahres auftritt (BVerfGE 23,153,164). Aus der vom Beschwerdeführer hierüber hinaus zitierten Rechtsprechung folgt nichts anderes: Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerde gegen eine unverändert gebliebene Steuervorschrift wegen Fristablaufs verworfen, weil die Bestimmung durch Streichung eines Freibetrags an anderer Stelle nicht inhaltlich geändert worden sei (BVerfGE 43, 108, 116). Das entspricht der ständigen Rechtsprechung, welche unverändert gebliebene Gesetzesregelungen nur dann als inhaltlich teilweise neu behandelt, wenn sie durch Zusätze in derselben Bestimmung (BVerfGE 11, 351, 359 f ) oder durch sich auswirkende Änderungen an anderer Stelle (BVerfGE 12,10, 34) eine andere Bedeutung erlangt haben. Andererseits ist bei einer rechtzeitigen Verfassungsbeschwerde gegen eine Norm unschädlich, daß diese sich auf eine andere Norm bezieht, die unverändert geblieben ist (BVerfGE 47,1, 7). Daß nicht jede inhaltliche Änderung die Frist neu in Lauf setzt, sondern daß es sich gerade auch um eine neue Belastung handeln muß, ergibt sich aus der Funktion der LVerfGE 11
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Verfassungsbeschwerde. Wie im Bundesrecht (vgl. § 90 Abs. 1 BVerfGG) ist auch bei der landesrechtlichen Verfassungsbeschwerde begriffsnotwendig die Beschwer vorausgesetzt (§§ 47 Abs. 1; 51 Abs. 1 LSA-VerfGG). Die Frist begrenzt die Möglichkeit, eine solche Beschwer geltend zu machen. Davon geht auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ohne Abweichung aus: Inhaltliche Änderungen bei Wahlrechtsbestimmungen konnten sich als neue Verletzung der Wahlgleichheit darstellen (BVerfGE 11, 351, 358; 12, 10, 25); eine spätere Änderung der Vorschrift konnte die Verfassungswidrigkeit erstmalig begründen (BVerfGE 26,116,134). Das Bundesverfassungsgericht hat später klargestellt, Ausnahmen von der Regel, daß die Jahresfrist mit In-Kraft-Treten der jeweiligen Bestimmung beginnt, seien außer in den Fällen späterer inhaltlicher Änderung nur anzuerkennen, wenn die angegriffene Vorschrift in ihrer ursprünglichen Fassung „sich mangels eigener konkreter inhaltlicher Regelungen zunächst auf überhaupt niemanden auswirkt und ihre Konkretisierung erst durch den späteren Erlaß einer anderen Vorschrift erfahrt" (BVerfG, Beschl. v. 28.3. 1985 - 2 BvR 280/85 - , DÖV 1987, 343). Diese Voraussetzungen sind bei den hier angegriffenen Bestimmungen nicht erfüllt. Im Abgabenrecht hat das Bundesverfassungsgericht keine inhaltliche Änderung angenommen, wenn lediglich der Verwendungszweck neu beschrieben, die Abgabenpflicht aber nicht geändert, sondern nur neu in den Willen des Gesetzgebers aufgenommen worden ist (BVerfGE 80,137,149). Der Beschwerdeführer kann sich schließlich nicht auf die Entscheidung zum Kinderexistenzminimum (BVerfG, Beschl. v. 10.11.1998 - 2 BvR 1852,1853/97 - , NJW 1999, 564) stützen. Daß die durch eine Änderung gegenüber einem früheren Rechtszustand besser gestellten Beschwerdeführer gleichwohl zulässigerweise Verfassungsbeschwerde mit der Rüge erheben durften, auch der veränderte Kinderfreibetrag sei zu niedrig, rechtfertigt sich allein dadurch, daß es sich um eine allgemeine Verfassungsbeschwerde nach Erschöpfung des Rechtswegs gehandelt hat, nicht um eine sog. Rechtssatz-Verfassungsbeschwerde, wie sie nach sachsen-anhaltischem Recht allein statthaft ist und hier durchgeführt wird. Sieht man mit dem Beschwerdeführer gerade in dem Flächenfaktor die unangemessene Belastung, so kann sich dessen Reduzierung (vgl. § 7 Abs. 2 Nr. 2 LSA-FAG 1995 und 1997) nicht stärker eingreifend auswirken als die ursprüngliche Regelung, welche der Beschwerdeführer nicht innerhalb der Frist angegriffen hatte. Durch § 7 Abs. 2 Nr. 2 LSA-FAG 1997 hat der Gesetzgeber die Auswirkung des Flächenfaktors auf den Berechnungsmodus abgeschwächt und dadurch die dem einzelnen Landkreis auf nicht übergroßer Fläche zustehende Zuweisung tendenziell erhöht, weil der Anteil (von 75 % auf 85 %) heraufgesetzt worden ist, der „ungewichtet" allein auf die Einwohnerzahlen abstellt. Die nach dem Wordaut des § 7 Abs. 2 Nr. 2 LSA-FAG 1997 bloße Begünstigung der Landkreise mit einer höheren Bevölkerungsdichte (Einwohner pro Fläche) hat LVerfGE 11
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auch durch andere Änderungen des Haushaltsbegleitgesetzes keinen neuen und zugleich belastenderen Inhalt als die Ursprungsregelung bekommen. Die von der Verfassungsrechtsprechung anerkannten Voraussetzungen, daß sich Zusätze bei dem im Text unveränderten Wortlaut des Gesetzes oder Änderungen an anderer Stelle auch auf die Auslegung des bisherigen Textes auswirken können (BVerfGE 74, 69, 73; vgl. oben bereits: BVerfGE 11, 351, 359: Hinzufugen von „Art. 21 GG" zum bisherigen Begriff „politische Partei"; vgl. auch LVerfG LSA, Urt. v. 23.2.1999 - LVG 8/98 - ) , liegen bei § 7 Abs. 2 Nr. 2 LSA-FAG 1995 nicht vor. Das gilt auch, soweit durch andere Bestimmungen Kürzungen vorgenommen oder besondere Finanzmassen gebildet werden; denn diese Regelungen beeinflussen die Verteilung nach dem unverändert gebliebenen § 7 Abs. 2 Nr. 2 LSA-FAG 1995 nicht, weil sie sich lediglich auf die zu verteilende Masse, nicht aber auf den Maßstab, den Verteilungsschlüssel, auswirken. Die Kürzungen mögen rein faktisch zu Mindereinnahmen fuhren; die hier allein maßgebliche rechtliche Stellung des § 7 Abs. 2 Nr. 2 LSA-FAG im System des Finanzausgleichs hingegen hat zu keiner neuen Belastung geführt. Die Jahresfrist ist auch nicht mit der Erwägung erneut von dem Änderungsgesetz an zu berechnen, daß der Finanzausgleich einer Anpassungspflicht unterliegt. Das Landesverfassungsgericht folgt nicht der Auffassung des Verfassungsgerichtshofs Brandenburg, soweit aus der materiellen Erwägung, Kostendeckung sei kein sich mit der Ubertragung der Aufgabe erledigendes einmaliges Ereignis, sondern ein fordaufender Prozeß, wobei der Schwerpunkt in der laufenden Bewältigung der Aufgabe liege, auch Rückschlüsse auf die Berechnung der formellen Frist gezogen werden (VfGH Bbg, Urt. v. 18.12.1997 - VfG 47/96 - , DÖV 1998, 336, 337). Die Grundlagen sind nämlich in Sachsen-Anhalt nicht durch jährliche Gemeindefinanzierungsgesetze jeweils neu zu bestimmen, sondern der allgemeine Finanzausgleich nach Art. 88 LSA-Verf unterliegt keiner rein zeitlich bestimmten Anpassung, sondern einer aktuellen dann, wenn sich die Verhältnisse geändert haben. Auch die Pflicht aus Art. 87 Abs. 3 LSA-Verf, bei Übertragung einer neuen Aufgabe „gleichzeitig" die Kostendeckung für sie zu regeln, entsteht aktuell aus Anlaß dieser Übertragung. Werden die durch Art. 87 Abs. 3; 88 LSA-Verf bedingten gesetzlichen Regelungen verändert, so besteht deshalb die Möglichkeit, innerhalb einer nunmehr neu laufenden Jahresfrist eine Überprüfung zu verlangen. Der Beschwerdeführer kann schließlich gegen die Anwendung der Jahresfrist nicht mit Erfolg einwenden, auch nach deren Ablauf seien noch Vorlagen auf der Grundlage des Art. 75 Nr. 5 LSA-Verf (§ 2 Nr. 6 LSA-VerfGG) und Art. 100 Abs. 1 GG zulässig; denn Initiator einer solchen Vorlage ist nicht mehr der Beschwerdeführer, sondern das Gericht, welches von der Verfassungswidrigkeit der Regelung überzeugt sein und darlegen muß, daß seine Entscheidung allein von der Frage der Verfassungsmäßigkeit oder -Widrigkeit einer bestimmten Norm abhängt. 1.2.1.2 Dem Beschwerdeführer steht keine Wiedereinsetzung zu. LVerfGE 11
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Überwiegendes spricht dafür, daß der Landesgesetzgeber eine Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Jahresfrist bei (kommunalen und sonstigen) Verfassungsbeschwerden gegen Gesetze bewußt nicht vorgesehen hat. Weder die Verfassung von Sachsen-Anhalt selbst noch das ausfuhrende Landesverfassungsgerichtsgesetz enthält eine Regelung dazu; § § 4 8 und 51 Abs. 2 LSAVerfGG verlangen nur die Einhaltung der Jahresfrist. Daß über § 33 Abs. 2 LSAVerfGG auf die Grundsätze der Verwaltungsgerichtsordnung (dann: § 60 VwGO) zurückgegriffen werden darf, ist eher zweifelhaft; denn die von § 33 Abs. 2 LSAVerfGG vorausgesetzte Lücke („soweit dieses Gesetz keine Bestimmungen über das Verfahren enthält") dürfte nicht bestehen. Die Landesregelung über die „Rechtssatz-Verfassungsbeschwerde" gleicht nämlich derjenigen des Bundes. Dort ist (vgl. § 93 Abs. 2 BVerfGG) zwar eine Wiedereinsetzungsmöglichkeit gegen die Versäumung der Monatsfrist des § 93 Abs. 1 BVerfGG nach Verkündung der letzten Entscheidung im Instanzenzug der Fachgerichtsbarkeit vorgesehen, aber gerade nicht gegen die eigenständig geregelte Jahresfrist (§ 93 Abs. 3 BVerfGG) für die Verfassungsbeschwerde gegen Normen. Die erst durch Gesetz vom 2.8.1993 (BGBl I 1442) eingeführte Wiedereinsetzungsbestimmung war rechtspolitisch lange gefordert worden (vgl. insoweit Izehner/Zuck BVerfGG, 4. Aufl., § 93 Rn. 49); das Bundesverfassungsgericht hatte nach dem davor geltenden Recht Wiedereinsetzungsfragen nicht erwogen und die Möglichkeit einer „Unterbrechung" durch anwaltliches Ersuchen abgelehnt (BVerfGE 9,109,111/112,119). Das Gericht hat die ähnliche Fristenregelung für die Organklage als „Ausschlußfrist" verstanden und insoweit parallele Erwägungen angestellt wie für die Verfassungsbeschwerden gegen Gesetze (BVerfGE 24, 252, 257). Angesichts der Systematik des § 93 BVerfGG wird davon auszugehen sein, daß die Regelung des § 93 Abs. 2 BVerfGG nicht auf die Fälle der Rechtssatzbeschwerden übertragen werden kann (so auch Lechner/Zuck aaO, Rn. 49, wenn auch mit Kritik an dieser gesetzlichen Regelung). Dies legt nahe, daß der Landesgesetzgeber für seine Rechtssatz-Verfassungsbeschwerden eine nur dem § 93 Abs. 3 BVerfGG gleichende Regelung hat treffen wollen und deshalb bewußt von der Aufnahme einer dem § 93 Abs. 2 BVerfGG entsprechenden Bestimmung abgesehen hat. Selbst wenn § 33 Abs. 2 LSA-VerfGG den Rückgriff auf § 60 Abs. 1 VwGO zuließe, wäre keine Wiedereinsetzung zu gewähren, weil der Kläger die Jahresfrist gegen die ursprüngliche Regelung des § 7 Abs. 2 Nr. 2 LSA-FAG 1995 jedenfalls nicht unverschuldet versäumt hat. Bereits aus dem eigenen Vortrag des Beschwerdeführers ergibt sich, daß die Landkreise zunächst eine „politische Lösung" über Verhandlungen mit dem Ministerium des Innern eine gesetzliche Änderung erstrebt hatten, die zum Ziel haben sollte, den „Flächenfaktor" zu mindern oder abzuschaffen. Es ist nicht erkennbar, daß beim Beschwerdeführer besondere Umstände vorgelegen haben, die ihn hätten hindern können, gleichsam „sicherheitshalber" und zur Wahrung seiner Rechte gleichwohl rechtLVerfGE 11
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zeitig Verfassungsbeschwerde zu erheben. Die von ihm in den Vordergrund gestellte Unverständlichkeit der Bestimmung hätte ein Grund mehr sein müssen, eine Klärung durch das Verfassungsgericht zu verlangen. Der Vortrag speziell zur Wiedereinsetzung bzw. zur höheren Gewalt belegt nicht, daß Stellen des Landes die Landkreise insgesamt oder gerade den Beschwerdeführer davon abgehalten haben, eine gerichtliche Klärung zu erreichen. 1.2.2 Die Regelungen in Art. 1 § 1 Nrn. 3, 4, 7, 11 LSA-HaushBeglG 1997 enthalten gegenüber dem früheren Zustand neue Belastungen (1.2.2.1); der Beschwerdefuhrer kann hingegen nur diese und wegen Fristablaufs nicht mehr auch das Verteilungssystem der §§ 3 Abs. 2 Nr. 2; 4 Abs. 1, 3; 13 Abs. 1 LSA-FAG 1995 im Grundsatz in Frage stellen (1.2.2.2). Die kommunale Verfassungsbeschwerde ist zulässig, obgleich die Höhe der Zuweisungen durch Bescheide konkretisiert wird, die im Verwaltungsrechtsweg angefochten werden können (1.2.2.3). 1.2.2.1 Verglichen mit der ursprünglichen Regelung des § 3 Abs. 2 Nr. 5 LSAFAG 1995 kürzt Art. 1 § 1 Nr. 3 Buchst, b), bb) LSA-HaushBeglG 1997 den Anteil der kommunalen Finanzmasse an den Ergänzungszuweisungen aus dem Bund-LänderFinanzausgleich, ohne daß eine erkennbare Kompensation an anderer Stelle stattfindet. Verglichen mit § 4 Abs. 1 LSA-FAG 1995 teüt Art. 1 § 1 Nr. 4 LSA-HaushBeglG 1997 durch Neufassung des § 4 LSA-FAG 1997 die Finanzmassen weiter auf. Wie § 4 Nr. 5 LSA-FAG 1997 nunmehr deutlich macht, sollen die Sonderverteilungen auf Kosten der allgemeinen Zuweisungen gehen; vorrangig abgezogen werden damit sowohl die in der Sache unverändert gebliebenen Zuwendungen nach §§ 11,12 LSA-FAG, aber gerade auch die vom Beschwerdeführer gerügte neue besondere Finanzmasse für Investitionshilfen (Art. 1 § 1 Nr. 7 LSA-HaushBeglG 1997 = § Ha LSA-FAG 1997). Verglichen mit §13 Abs. 1 LSA-FAG 1995 schließlich kürzt Art. 1 § 1 Nr. 11 LSAHaushBeglG 1997 die Pauschale für Schülerbeförderungskosten von ehemals „mindestens 75 Millionen" auf 40 Millionen Deutsche Mark. Die für das Jahr 1997 getroffenen Regelungen wirken auch gegenwärtig fort, obgleich das Finanzausgleichsrecht erneut, und zwar durch Art. 2 des „Aufnahmegesetzes und Gesetzes zur Änderung des Finanzausgleichsgesetzes" vom 21.1.1998 (LSAGVB1. S. 10) sowie weiter durch Art. 1 des Haushaltsbegleitgesetzes vom 30.3.1999 (LSA-GVB1. S. 120) - LSA-HaushBeglG 1999 - geändert worden ist; denn die 1997 entstandenen Belastungen sind nicht zurückgenommen worden. Das gilt auch für die Tabelle in Art. 1 Nr. 2 LSA-HaushBeglG 1999 zur Änderung des § 7 Abs. 2 Nr. 2 LSAFAG. 1.2.2.2 Diese punktuellen Veränderungen werfen aber nicht die Frage der Verfassungsmäßigkeit auch der unverändert gebliebenen Regelungen auf; denn das Gesamtsystem für die Verteilung ist beibehalten worden. Es beruht auf der Annahme, ohne die vom Landesverfassungsgericht inzwischen auf der Grundlage der Art. 87 Abs. 3; 88 Abs. 1, 2 LSA-Verf verlangte Differenzierung (LVerfG LSA, Urt. v. 17.9.1998, LVerfGE 11
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LVerfGE 9, 343 ff - LVG 4/96 - „ÖPNVG"; Urt. v. 8.12.1998, LVerfGE 9, 390 ff LVG 19/97 - „KiBeG"]) den Finanzausgleich pauschal im Rahmen und weitgehend nach Maßgabe des Landeshaushalts sowie in der Sache einheitlich im wesentlichen durch allgemeine Zuweisungen und lediglich in Ausnahmefallen (Soziallasten, Straßenbau, Schülerbeförderung) durch besondere Abgeltung vornehmen zu können. Dieses „System" haben der Beschwerdeführer sowie die anderen Landkreise und kreisfreien Städte wie im übrigen auch die kreisangehörigen Städte und Gemeinden hingenommen, als es durch das Finanzausgleichsgesetz von 1995 geschaffen wurde; keine Kommune hat das System innerhalb der Jahresfrist (§§ 51 Abs. 2; 48 LSAVerfGG) angefochten. Insoweit gilt gleichfalls der bereits oben (Rüge zu § 7 Abs. 2 Nr. 2 LSA-FAG) klargestellte Grundsatz, daß die Jahresfrist um der Rechtsklarheit willen als „Ausschlußfrist" anzusehen ist und für in ihrem Regelungsgehalt unverändert gebliebene Teile des Gesetzes auch dann zu gelten hat, wenn der Gesetzgeber diese bei Änderungen erneut in seinen Willen aufgenommen hat (BVerfGE 11, 255, 260; 43,108,116; 80,137,149). Dabei kommt es nicht auf den subjektiven Willen des Gesetzgebers, sondern allein darauf an, ob sich der Inhalt der Regelung geändert hat (BVerfGE 43, 108, 116; vgl. zur Bedeutung des „subjektiven Willens" des Gesetzgebers auch: LVerfG LSA, Urt. v. 23.2.1999 - LVG 8/98 - , zur Veröffentlichung vorgesehen Abschn. 1.2.2.1.2 der Entscheidungsgründe) . Diese „strenge" Rechtsprechung ist auch in neuerer Zeit nicht revidiert worden, wie sich in den Beschlüssen der Kammern zeigt. Die 3. Kammer des 2. Senats hat die Verfassungsbeschwerde gegen Privilegierungen nach dem hessischen Parteiengesetz für verfristet gehalten, obgleich eine ModifÌ2Ìerung bei der Bekanntmachung der Wahlvorschläge vorgenommen worden war (BVerfG, Besch! v. 28.2.1994 - 2 BvR 1042/93 —, NVwZ-RR 1994, 470f). Dieselbe Kammer hat bei einer Rüge gegen ein inhaltsgleiche Regelungen ablösendes neues Gesetz verlangt, daß bereits gegen das bisherige fristgerecht Verfassungsbeschwerde erhoben worden war (BVerfG, Beschl. v. 11.5.1994 - 2 BvR 2882/93 - , LKV 1994,332 f). Die 1. Kammer des 1. Senats hat die Jahresfrist auch einzuhalten verlangt, wenn gerügt wird, der Gesetzgeber habe von Verfassungs wegen ergänzende Bestimmungen zu einer bestehenden Regelung zu erlassen (BVerfG, Beschl. v. 25.8.1998 - 1 BvR 2487/94 - JURIS). Das Landesverfassungsgericht schließt sich für die Auslegung der rechtsähnlichen Vorschriften des Landesrechts dieser Rechtsprechung an. Das „Grundsystem" der Finanzverfassung hat sich nicht geändert. Der Beschwerdeführer macht zwar geltend, entgegen Art. 87 Abs. 3 LSA-Verf sei nicht konkret, nicht berechenbar und nicht abgewogen bestimmt, welche Kostenanteile das Land und die Kommunen jeweils bei Aufgaben zu tragen hätten, die ihnen zur Pflicht gemacht worden seien; er benennt aber einzelne Fälle nicht konkret und legt auch nicht dar, daß solche Aufgaben iSd Art. 87 Abs. 3 LSA-Verf „neu" übertragen worden seien (zu diesem Merkmal: LVerfG LSA, Urt. v. 8.12.1998 - LVG 19/97 - ) LVerfGE 11
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und daß der Verstoß gegen das „Konnexitätsprinzip" seinerseits noch gerügt werden könne (vgl. auch insoweit die Jahresfrist nach §§ 51 Abs. 2; 48 LSA-VerfGG). Bei den besonders angeführten und im Finanzausgleichsgesetz erwähnten „Schülerbeförderungskosten" handelt sich um keine neue Aufgabe iSd Art. 87 Abs. 3 LSA-Verf, weil die Landkreise und kreisfreien Städte schon vor Verabschiedung der Verfassung und deshalb vor In-Kraft-Treten des Art. 87 Abs. 3 LSA-Verf Träger der Schülerbeförderung waren (vgl. bereits § 71 Abs. 1 S. 1 des „Schulreformgesetzes für das Land Sachsen-Anhalt (Vorschaltgesetz)" vom 11.7.1991 -LSA-GVB1. S. 165). Bei diesem Hintergrund kann sich der Beschwerdeführer auch nicht darauf stützen, er habe bei Verkündung des Finanzausgleichsgesetzes noch nicht mit einer Entwicklung der Verfassungsrechtsprechung rechnen können, welche das „Konnexitätsprinzip" stärker als bisher betone; denn bei den „Schülerbeförderungskosten" hat Art. 87 Abs. 3 LSA-Verf auch 1995 keine besondere Berücksichtigung verlangt. Daß dies in anderen Fällen einschlägig gewesen wäre, welche das „System" in Frage stellen, ist nicht dargelegt. Abgesehen davon wird nicht erkennbar, daß der Beschwerdeführer die Verteilungsregelungen insgesamt beseitigen will, weil es dann an einem Ausgleichssystem überhaupt fehlen müßte, ohne daß dem Landesverfassungsgericht kraft Gesetzes die Befugnis eingeräumt ist, gleichsam anstelle des Gesetzgebers ein Ersatz-Verteilungssystem vorzugeben. Vielmehr wird erkennbar, daß der Beschwerdeführer lediglich die neuen Veränderungen abwehren will, die er im wesentlichen aus Gründen des Art. 88 LSA-Verf nicht für vereinbar mit der Verfassung hält. 1.2.2.3 Für die Verfassungsbeschwerde gegen die Regelungen des Haushaltsbegleitgesetzes 1997 ist die Jahresfrist gewahrt. Sie wirken auch unmittelbar. Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerde von Kommunen gegen gesetzliche Regelungen nur dann für unstatthaft gehalten, wenn die gesetzliche Norm noch einer Konkretisierung durch eine Rechtsverordnung bedarf, es hingegen für unschädlich angesehen, wenn sie noch durch Verwaltungsakt konkretisiert werden kann (BVerfGE 76,107,113). Würde die Kommune zunächst auf den Verwaltungsrechtsweg verwiesen, dann könnte sie wegen Fristablaufs (§§ 51 Abs. 2; 48 LSA-VerfGG) später keine Kommunalverfassungsbeschwerde mehr erheben; insoweit besteht nach dem Landesrecht eine ähnliche Rechtslage wie nach dem Bundesrecht, nach dem diese Beschwerdeart nur als „Rechtssatz-Beschwerde" und nicht im Anschluß an die fachgerichtliche Prüfung erhoben werden darf (BVerfGE 76,107,113, unter Hinweis auf BVerfGE 71,25, 35 f). Dieser Rechtsprechung schließt sich das Landesverfassungsrecht an, weil das von ihm zu beurteilende Landesrecht zu einem ähnlichen Ausschluß von der fristgebundenen und ohne jedes fachgerichtliche „Vorverfahren" statthafte Verfassungsbeschwerde fuhren müßte. 1.3 Soweit die Jahresfrist gewahrt ist, sind auch die übrigen formellen Anforderungen erfüllt. LVerfGE 11
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Die gesetzlichen Bestimmungen, welche möglicherweise sein Selbstverwaltungsrecht verletzen, hat der Beschwerdeführer konkret benannt. Über den Wortlaut des § 51 Abs. 1 LSA-VerfGG hinaus, der die Regelung des § 2 Nr. 8 LSA-VerfGG und letztlich des Art. 75 Nr. 7 LSA-Verf wiederholt, beschränkt sich der Prüfungsmaßstab nicht auf Art. 87 LSA-Verf, sondern schließt die materielle Regelung des Art. 88 LSA-Verf ein; denn der Wordaut umschreibt nur das „Recht auf Selbstverwaltung" iSd Art. 2 Abs. 3; 87 LSA-Verf als Sammelbegriff und zitiert die zentralen Verfassungsstellen. Sachlich einbezogen sind aber umfassend alle finanzrechtlichen Garantien, also auch diejenigen des Art. 88 LSA-Verf, wie dies in ähnlicher Weise bei Fragen der Gebietsreform für die formelle Garantie des Art. 90 LSA-Verf gilt (vgl. dazu: LVerfG LSA, Urt. v. 31.5.1994 - LVG 2/93 - , LVerfGE 2, 227, 250/251; Urt. v. 31.5.1994 - LVG 1/94 - , LVerfGE 2, 273,291). 1.4 Zwar kann der Beschwerdeführer — wie er zutreffend eingeschränkt hat — keine Kontrolle des § 15 LSA-FAG 1997 mehr verlangen, weil die Regelung durch das Haushaltsbegleitgesetz 1997 unverändert geblieben und zuvor nicht innerhalb der Jahresfrist des § 48 LSA-VerfGG (iVm § 51 Abs. 2 LSA-VerfGG) angefochten worden ist; das schließt aber die Anregung nicht aus, das Gericht möge die Frage der Verfassungsmäßigkeit dieser Vorschrift im Rahmen der durch § 41 S. 2 LSA-VerfGG iVm §§ 51 Abs. 2; 50 LSA-VerfGG erweiterten Kompetenz in eine im übrigen zulässige Kontrolle einbeziehen. Eine solche Anregung setzt nur eine zulässige Verfassungsbeschwerde voraus und ist sonst an keine eigenen formellen Voraussetzungen gebunden. Gleiches gilt für die Hilfsanregung, auf diesem Weg auch § 7 Abs. 2 Nr. 2 LSAFAG 1997 zu prüfen. Keiner der beiden Anregungen ist indessen nachzugehen; denn in beiden Fällen wären die Grenzen des § 41 S. 2 LSA-VerfGG überschritten, weil weder § 7 Abs. 2 Nr. 2 LSA-FAG noch § 15 LSA-FAG „aus den gleichen Gründen" verfassungswidrig sein können wie andere, zulässigerweise zur Kontrolle gestellte Bestimmungen. Obgleich die Quoten des § 15 S. 1, 2 LSA-FAG 1995 denjenigen des § IIa Abs. 3 LSA-FAG 1997 (= Art. 1 § 1 Nr. 7 LSA-HaushBeglG 1997) entsprechen, handelt es sich um unterschiedliche Regelungen; denn sie verteilen Zuwendungsmassen, die in einem faktischen (Investitionsförderung), nicht aber in einem rechtlichen, ein „System" bildenden Zusammenhang zueinander stehen. Die Investitionshilfen nach § 11 a LSAFAG 1997 können — soweit dies durch sachliche Gründe für speziell diese Regelung gerechtfertigt wird — von Verfassungs wegen nach anderen Maßstäben verteilt werden, als dies für die Investitionen selbst gilt, deren Verteilungsmodus eigenständig auf seine Sachlichkeit geprüft werden muß. Die Reichweite eines „Systems" begrenzt zugleich die Reichweite der Entscheidungsbefugnis nach § 41 S. 2 LSA-VerfGG (vgl. zu einem solchen Zusammenhang: LVerfG LSA, Urt. v. 27.10.1994 - LVG 14,17,19/94 - , LVerfGE 2, 345, 373ff). Ähnliches gilt für § 7 Abs. 2 Nr. 2 LSA-FAG 1995. LVerfGE 11
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Auch wenn § I I a Abs. 3 S. 2 LSA-FAG 1997 einen „Flächenfaktor" enthält, ist dieser doch seinem Wortlaut nach schon nicht mit demjenigen des § 7 Abs. 2 Nr. 2 LSA-FAG 1995/1997 identisch. Unabhängig davon müßten sich verfassungsrechtliche Bedenken bei § IIa Abs. 3 S. 2 LSA-FAG 1997 mangels eines „Systemverbunds" beider Vorschriften auch nicht auf § 7 Abs. 2 Nr. 2 LSA-FAG 1995/1997 auswirken; denn § 7 Abs. 2 Nr. 2 LSA-FAG betrifft den Anteil der Landkreise an allgemeinen Zuweisungen, § IIa Abs. 3 S. 2 LSA-FAG hingegen regelt einen Sonderfall. §§ 7 Abs. 2 Nr. 2; 15 S. 1, 2 LSA-FAG 1995 können auch nicht deshalb nach § 41 S. 2 LSA-VerfGG in die Prüfung einbezogen werden, weil sie Teil des „Finanzausgleichssystems" sind; denn nicht dieses wird vom Beschwerdeführer angegriffen, sondern nur einzelne Teile davon. Auf dieser Grundlage kann eine Entscheidung über §§ 7,15 LSA-FAG nur in Betracht kommen, wenn ein Einzelangriff auf eine konkrete Regelung Auswirkungen auf das gesamte Finanzausgleichssystem hätte und deshalb auch §§ 7, 15 LSA-FAG beträfe. Das ist indessen nicht der Fall, wie sich unter Abschnitt 2 ergeben wird. 2. Die eingeschränkt zulässige Verfassungsbeschwerde ist nur teilweise begründet. Erfolg hat die gegen Art. 1 § 1 Nr. 4 LSA-HaushBeglG 1997 (= § 4 LSA-FAG neu) erhobene Rüge insoweit, als die Aufteilung der Finanzausgleichsmasse Art. 87 Abs. 3 LSA-Verf nicht hinreichend Rechnung trägt (2.1). Im übrigen ist sie unbegründet (2.2). 2.1 § 4 LSA-FAG 1997 enthält keine vollständige Berücksichtigung aufgabenbezogener kommunaler Kosten und bedarf jedenfalls für die Aufgaben des öffentlichen Nahverkehrs einer ergänzenden Regelung. Die Verfassung von Sachsen-Anhalt verlangt — „dualistisch" — neben dem allgemeinen Finanzausgleich (Art. 88 Abs. 2 LSA-Verf) die besondere Abgeltung von Kosten (Art. 87 Abs. 3 S. 3 LSA-Verf), die bei den Kommunen aus Anlaß der Übertragung neuer Aufgaben entstehen (2.1.1). Soweit die gebotene Kostendeckungsregelung in dem Gesetz unterblieben ist, das die Aufgabe überträgt, muß sie „zeitnah" nachgeholt werden; anderenfalls wirkt sich der Fehler auf künftige Gesetze aus, die den Finanzausgleich betreffen (2.1.2). Aus Anlaß einer Verfassungsbeschwerde gegen ein solches Gesetz müssen jedenfalls die Aufgabenübertragungen berücksichtigt werden, die fristgerecht und mit Erfolg mit einer Verfassungsbeschwerde angefochten worden sind (2.1.3). 2.1.1 Art. 87 Abs. 3 LSA-Verf einerseits und Art. 88 Abs. 1, 2 LSA-Verf andererseits regeln Teile der kommunalen Finanzausstattung jeweils normativ selbständig (2.1.1.1). Art. 87 Abs. 3 LSA-Verf verlangt nicht, daß der Gesetzgeber ein bestimmtes Verfahren einhält (2.1.1.2). Er muß lediglich im Ergebnis eine „angemessene" Lösung finden und darf das Eigeninteresse der Kommune an der Aufgabenwahrnehmung berücksichtigen (2.1.1.3). LVerfGE 11
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2.1.1.1 Das Landesverfassungsgericht hält an seiner in den Urteilen zum Gesetz über den öffentlichen Nahverkehr (LVerfG LSA, Urt. v. 17.9.1998 - LVG 4/96 - ) und zum Kinderbetreuungsgesetz (LVerfG LSA, Urt. v. 8.12.1998 - 19/97 - ) vertretenen Auffassung fest, daß Art. 87 Abs. 3 LSA-Verf eine gegenüber Art. 88 LSA-Verf eigenständige Regelung trifft, die einen „einheitlichen" kommunalen Finanzausgleich mit einer nicht sichtbaren Einrechnung von Kostenanteilen lediglich in allgemeine Zuweisungen ausschließt. Für diese Auffassung spricht außer dem Wortlaut, der bei Gelegenheit der Übertragung von Aufgaben („dabei") eine Entscheidung über die Deckung der Kosten verlangt (Art. 87 Abs. 3 S. 2 LSA-Verf), die systematische Behandlung der Kommunalfinanzen an drei unterschiedlichen Stellen: Während der eigentliche (horizontale) kommunale Finanzausgleich durch Art. 88 Abs. 2 LSA-Verf geregelt ist, legt Art. 88 Abs. 1 LSA-Verf dem Land die Verpflichtung auf, den Kommunen Finanzmittel zur Verfügung zu stellen, damit sie ihren Aufgaben gerecht werden können (vertikaler Finanzausgleich); demgegenüber enthält Art. 87 LSA-Verf, in dem sich die „Konnexitätsregelung" findet, nähere Bestimmungen über die Eigenverantwortlichkeit (Art. 87 Abs. 1 LSA-Verf), über die zunächst einmal selbstbestimmte Aufgabenwahrnehmung (Art. 87 Abs. 2 LSA-Verf) und sodann über die Ermächtigung, Aufgaben zur Pflicht zu machen (Art. 87 Abs. 3 LSA-Verf). Insoweit konkretisiert Art. 87 Abs. 1 bis 3 LSA-Verf Inhalt und Grenzen der durch Art. 2 Abs. 3 LSA-Verf garantierten kommunalen Selbstverwaltung, die der Aufsicht des Landes unterliegt (Art. 87 Abs. 4 LSA-Verf). Die „Kostenregelungspflicht" des Art. 87 Abs. 3 S. 2, 3 LSA-Verf steht dabei im unmittelbaren Zusammenhang mit der Ermächtigung des Art. 87 Abs. 3 S. 1 LSA-Verf für das Land, den Kommunen Aufgaben im eigenen Wirkungskreis zur Pflicht zu machen oder ihnen der Natur nach staatliche Aufgaben zur eigenen Wahrnehmung zu übertragen. Der Wortlaut des Art. 87 Abs. 3 LSA-Verf und die Systematik der Art. 87, 88 LSA-Verf entsprechen dem Willen des Verfassunggebers, wie aus den Motiven deutlich wird (wird ausgeführt). Eine ähnliche Regelung enthält inzwischen die Verfassung mit Art. 96 Abs. 1 LSA-Verf im Verhältnis von Landesregierung zu Landtag: Beschlüsse des Landtags, die mehr Kosten verursachen, müssen eine Deckungsregelung enthalten. Eine besondere Kostenregelung außerhalb der sonstigen Verfassungsbestimmungen über die Finanzverfassung der Kommunen zu treffen, hat ein Vorbild im BundLänder-Verhältnis (Art. 104a Abs. 2,3 GG). Sie dort, wo sie nach diesem Vorbild in den Landesverfassungen konzipiert worden ist, als eigenständige Regelung zu behandeln, entspricht dem Ergebnis der neueren wissenschaftlichen Diskussion zur kommunalen Finanzgarantie (vgl. etwa: Schoch/Wieland Finanzierungsverantwortung für gesetzgeberisch veranlaßte kommunale Aufgaben, S. 38f, 161; Henneke z.B. in: Aufgabengerechte Finanzausstattung der Landkreise als Grundlage der kommunalen Selbstverwaltung, LKV 1993, 365, 366 f; Schwang Finanzverfassung und kommunale Selbstverwaltung,
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(„Studien und Materialien zur Verfassungsgerichtsbarkeit", Bd. 67), S. 124ff, 142ff zur nieders. Landesverfassung; Miickl Finanzverfassungsrechtlicher Schutz der kommunalen Selbstverwaltung („Schriften zum deutschen und europäischen Kommunalrecht", Bd. 9), S. 80f, 201 ff, 213 - dort auch zu Sachsen-Anhalt). Daß Entscheidungen anderer Länderverfassungsgerichte den „Konnexitätsgrundsatz" und damit eine „dualistische Finanzgarantie" unterschiedlich streng handhaben, dürfte auch davon abhängig sein, wie das jeweilige Landesrecht die Aufgabenverteilung zwischen Land und Kommunen gestaltet hat. Je weniger streng zwischen „eigenem" und „übertragenem" kommunalen Wirkungskreis unterschieden wird, desto eher wird eine Finanzregelung unabhängig vom Wordaut als weniger „dualistisch" verstanden werden können und einen einheitlichen Finanzausgleich nicht hindern; das gilt besonders für die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs für das Land Nordrhein-Westfalen (VfGH NW, Urt. v. 15.2.1985 - 17/83 - , OVGE 38, 301, 304/305; Urt. v. 6.7.1993 - VerfGH 9, 22/92 - , OVGE 43, 252, 254/255; Urt. v. 9.7.1998 - VerfGH 16/96,7/97 - , NWVB1.1998,390,393/394, dort in Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des Nieders. Staatsgerichtshofs; vgl. schließlich VfGH NW, Urt. v. 1.12.1998 - VerfGH 5/97 - , sowie neuerdings - „monistische" Aufgabenstruktur - : StGH BW, Urt. v. 10.5.1999 - GR 2/97 - , UrtAbdr, S. 28). Die schon durch die Landesverfassung selbst vorgenommene Unterscheidung zwischen „selbst-" und „fremdbestimmten" Aufgaben der Kommunen (vgl. Art. 87 Abs. 2, 3 LSA-Verf) hat ihre deutliche Entsprechung in den unterschiedlichen Regelungen über die Finanzgarantien einerseits im Art. 88 LSA-Verf und andererseits im Art. 87 Abs. 3 LSA-Verf gefunden. Wie ergänzend durch das einfache Landesrecht deutlich wird (vgl. §§ 4, 5, 77 der Gemeindeordnung für das Land Sachsen-Anhalt vom 5.10.1993 (LSA-GVB1. S. 568), inzwischen zuletzt geändert durch Gesetz vom 26.4.1999 (LSA-GVB1. S. 152) - LSA-GO - und §§ 4, 5 der Landkreisordnung für das Land Sachsen-Anhalt vom 5.10.1993 (LSA-GVB1. S. 598), zuletzt geändert durch Gesetz vom 26.4.1999 (LSA-GVB1. S. 152) - LSA-LKO - : Trennung eines „eigenen" von einem „übertragenen" Wirkungskreis) steht die Verfassungslage in Niedersachsen der sachsen-anhaltischen näher als diejenige von Nordrhein-Westfalen oder BadenWürttemberg. Die von einer ähnlichen Aufgabenverteilungs-Grundlage ausgehende Rechtsprechung des Nieders. Staatsgerichtshofs (besonders deutlich bei: NdsStGH, Urt. v. 25.11.1997 - StGH 14/95 u. a. - , NdsVBl 1998,43 = DÖV 1998, 382 = DVB1 1998,185 - dort mit Anm. Kirchhof, vgl. DVB1 1998,185,186 1. Sp.) ist deshalb Anlaß für das Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalts gewesen, sich ihr anzuschließen (bestätigend für Brandenburg: VfGH Bbg, Urt. v. 18.12.1997 - VfGBbg 47/96 - , DÖV 1998, 336 ff = LKV 1998, 195; für eine „besondere" Pflicht zu einem „Mehrlastenausgleich" auch: StGH BW, Urt. v. 5.10.1998 - GR 4/97 - , DÖV 1999, 73, 75, einschränkend — nur wenn zuvor ein anderer Verwaltungsträger zuständig war: StGH BW, Urt. v. 10.5.1999 - GR 2/97 - , UrtAbdr, S. 28; vgl. i.Ü. zum Zusammenhang von Aufgaben-Verteilungsregelung und Finanzsystem: Mückl aaO, S. 80 f; Schwärζ aaO, LVerfGE 11
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S. 79 ff, 135 ff; Henneke Landesverfassungsrechtliche Finanzgarantien der Kreise und Gemeinden, Der Landkreis 1999,147,150 f). Die Unterschiede in der Reichweite des sog. „Konnexitätsprinzips" (in Niedersachsen nur Aufgaben im übertragenen Wirkungskreis (Art. 57 Abs. 4 der Nieders. Verfassung), in Sachsen-Anhalt auch Pflichtaufgaben des eigenen Wirkungskreises (Art. 87 Abs. 3 LSA-Verf) sind dabei nicht von Bedeutung; denn das Gemeinsame und deshalb auch Vergleichbare beider Verfassungen ist, daß die Verpflichtung zur Kostendekkungsregelung immer auch so weit reichen soll wie die Ermächtigung zur Aufgabenübertragung. 2.1.1.2 Art. 87 Abs. 3 S. 3 LSA-Verf gebietet lediglich im Ergebnis, daß der Ausgleich angemessen ist, legt damit aber nicht auch einzelne Verfahrensschritte fest. Art. 87 Abs. 3 LSA-Verf verlangt allerdings, daß dieses Ergebnis mittels eines formellen Gesetzes erzielt werden muß; das folgt aus dem Zusammenhang der Kostendeckungsregelung („dabei" im Art. 87 Abs. 3 S. 2 LSA-Verf) mit der Ermächtigungsform („durch Gesetz" bei Art. 87 Abs. 3 S. 1 LSA-Verf). Die Aufgabenübertragung setzt ein (formelles) Gesetz und damit die Befassung des Landtags voraus (ebenso Reich LSA-Verf, Art. 87 Rn. 3, S. 293; Mahnke LSA-Verf, Art. 87 Rn. 10; so auch für Niedersachsen: NdsStGH, DVB1 1998, 185, 186 r. Sp.; vgl. ferner für Brandenburg: VfGH Bbg, LKV 1998,195,196, mwN für andere Verfassungen). Aufgabenübertragung und Kostendeckung sind durch Art. 87 Abs. 3 S. 2 LSA-Verf wegen dieser Verknüpfung von demselben Organ zu bewältigen (anders offenbar Reich aaO, Rn. 4, der eine Kostenregelung durch Verordnung für denkbar hält, wenn diese nur zeitgleich mit dem Aufgabenübertragungsgesetz in Kraft trete). Anders kann auch der „Wamfunktion" des Art. 87 Abs. 3 LSA-Verf nicht genügt werden, bei Gelegenheit der Aufgabenübertragung die Kostenfrage zu bedenken (vgl. dazu bereits: LVerfG LSA, Urt. v. 17.9.1998 — LVG 4/98 -). Weder Art. 87 Abs. 3 LSA-Verf selbst noch andere Regelungen der Verfassung verlangen aber, daß dieses Ziel auf einem bestimmten, von Verfassungs wegen vorgeschriebenen Weg erreicht wird. Dem bisherigen Verfassungsverständnis ist es fremd, den Gesetzgeber in seinem Verfahren mehr als durch die allgemeinen Regeln zu binden. Es entspricht der Funktion des Parlaments auch bei der Gesetzgebung, sich innerhalb der ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Vorgaben autonom nur an seine Regeln zu binden und sein Verfahren selbst zu bestimmen (ebenso, ablehnend zu einer Begründungspflicht, unter ausdrücklicher Unterscheidung zwischen gesetzesausführender Ermessensverwaltung und Gesetzgebung: BVerfGE 86, 148, 212, 248: zum Bund-Länder-Finanzausgleich). Auf die gegenteilige Ansicht des Staatsgerichtshofs Baden-Württemberg (StGH BW, Urt. v. 10.5.1999 - GR 2/97 - , UrtAbdr, S. 38 ff) ist an dieser Stelle deshalb nicht einzugehen, weil das Gericht von einer „monistischen" Aufgabenstruktur ausgeht (StGH BW, aaO, S. 28) und weil sich ihm deshalb prozedurale Fragen bei der Frage der „Konnexität" nicht stellen. LVerfGE 11
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Auch das dem „Angemessetiheitsprinzip" des Art. 87 Abs. 3 Satz 3 LSA-Verf zu entnehmende Gebot, die Kosten übertragener Aufgaben „nachvollziehbar" und für die Kommune „sichtbar" zu machen (vgl. dazu für die entsprechende Regelung in Art. 57 der Nieders. Verfassung auch NdsStGH, DVB1 1998, 185, 186 r. Sp.), verlangt keine besonderen Verfahrensschritte, bei denen Fehler eigenständig eine Regelung zu Fall bringen könnten, die materiell den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt, sondern bewirkt lediglich, daß das Ergebnis der Prüfung im Gesetz festgeschrieben und dadurch den Kommunen finanzielle Planungssicherheit eingeräumt werden muß (vgl. dazu bereits: LVerfG LSA, Urt. v. 17.9.1998 - LVG 4/96 - , sowie Urt. v. 8.12.1998 LVG 19/97 ebenso für Art. 57 Nieders. Verfassung: NdsStGH, DVB1. 1998, 185, 1881. Sp.). Der Gesetzgeber ist schließlich frei in der Methode, die Kostendeckung angemessen zu regeln (so bereits: LVerfG LSA, Urt. v. 17.9.1998 - LVG 4/96 -). Notwendig ist es deshalb nicht, für jede einzelne neu übertragene Aufgabe den denkbaren Kostenaufwand präzise zu ermitteln (so auch NdsStGH, DVB1 1998, 185, 186 r. Sp.; kritisch insoweit KirchhofT5Vñ\ 1998,190 — Urteils-Anmerkung), sondern ihm ist zu gestatten, den mutmaßlichen Aufwand aufgrund verläßlicher Grunddaten prognostisch zu schätzen (ebenso im Ansatz StGH BW, DÖV 1999, 73, 75). Wird eine Ausgleichsregelung im Zusammenhang mit dem Finanzausgleich getroffen, so erscheint nicht ausgeschlossen, die Ausgleichsleistungen für mehrere Aufgaben in „Sammelbeträgen" zusammenzuführen (im Ergebnis ebenso: NdsStGH, DVB1. 1998,185,186). Durch Art. 87 Abs. 3 S. 1 LSA-Verf vorgegeben ist allerdings für die Aufgaben, welche den Kommunen zur Pflicht gemacht werden, daß sie eine „Eigenverantwortung" bei der Erfüllung behalten. Dies hat Auswirkungen auf die Methode der Kostendeckung für Art. 87 Abs. 3 S. 2, 3 LSA-Verf. Diese darf nicht dazu führen, daß die Kommunen „reine Zahl- und Abrechnungsstellen" des Landes werden. Auch bei den staatlichen Aufgaben, bei denen das Land weisungsberechtigt ist (Art. 87 Abs. 3 S. 1, Abs. 4 LSA-Verf), werden wegen dieser Abhängigkeiten in der Sachentscheidung Modalitäten der Ausgleichsgewährung den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit genügen und die Selbständigkeit der Kommunen als Gebietskörperschaften wahren müssen. 2.1.1.3 In der Sache hat der Gesetzgeber einen durch den Begriff der „Angemessenheit" (Art. 87 Abs. 3 S. 3 LSA-Verf) umschriebenen Gestaltungsspielraum, der nach den üblichen, für die Tätigkeit des Gesetzgebers geltenden Kriterien („Systemgerechtigkeit", „Willkürverbot", „Sachgerechtigkeit", „Tauglichkeit von Tatsachenmaterial"; vgl. insoweit: LVerfG LSA, Urt. v. 31.5.1994 - LVG 2/93 - , LVerfGE 2, 227, 246; Urt. v. 31.5.1994 - LVG 1/94 - , LVerfGE 2, 323, 338 ff; vgl. ferner: VfGH NW, OVGE 42, 252, 254 f; StGH, DÖV 1999, 73, 75; BayVfGH, Entschdg. v. 12.1. 1998 - Vf. 24-VII-94 - , BayVBl 1998, 204/237, 208) überprüfbar ist. Das darf nicht mit einem „freien Ermessen" gleichgesetzt werden, in welchem Umfang sich das Land LVerfGE 11
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an Kosten beteiligt (insoweit warnend: Henneke LKV 1993, 365, 367), sondern der Gesetzgeber schuldet eine sachgerechte Abwägung. Angesichts des klaren Wordauts („angemessen") ist der Auffassung Wendts {Wendt Finanzierungsgesetzgebung für gesetzgeberisch veranlaßte kommunale Aufgaben, in: Burmeister, „Verfassungsstaatlichkeit" — FS Klaus Stern zum 65. Geburtstag, S. 603, 623) nicht zu folgen, es sei gleichwohl ein „voUer" Ausgleich geschuldet, und eine Gestaltungsfreiheit habe der Gesetzgeber allein bei der Auswahl seiner Methode. Die Auslegung des Art. 87 Abs. 3 S. 3 LSA-Verf, wie sie bislang vorgenommen worden ist (LVerfG LSA, Urt. v. 17.9.1998 - LVG 4/96 - ; Urt. v. 8.12.1998 - LVG 19/97 - ) , respektiert den Wordaut und stellt ferner in Rechnung, daß jedes Land frei ist, den Umfang der Erstattungspflicht gegenüber den Kommunen zu regeln. Eine „Vorgabe" durch die Finanzierungsregelung des Grundgesetzes (Art. 28 Abs. 2 S. 3 GG: „Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung") besteht insoweit genauso wenig, wie die Regelung des Art. 104a GG übertragbar ist (vgl. dazu immerhin auch: Wendt aaO, S. 613,615; ebenso: StGH BW, Urt. v. 10.10.1993 - GR 3/93 - , ESVGH 44,1,3f). Das Landesverfassungsgericht hält deshalb an seiner bisherigen Auffassung fest. Ob eine solche für Art. 87 Abs. 3 S. 2, 3 LSA-Verf notwendige Abwägung überhaupt stattgefunden hat, vinterliegt zwar nicht als Verfahrensschritt, wohl aber in der Sache der verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Bei seiner Beurteilung, was iSd Art. 87 Abs. 3 S. 3 LSA-Verf „angemessen" ist, darf der Gesetzgeber auch berücksichtigen, mit welcher Quote das Interesse der Kommune zu bewerten ist, die Aufgabe eigenständig wahrnehmen zu können (sog. „Interessenquote"; vgl. dazu bereits: LVerfG LSA, Urt. v. 8.12.1998 - LVG 19/97 - ; ebenso: NdsStGH, DVB1. 1998,185,1881. Sp.; VfGH Bbg, DÖV 1998, 336, 337). Das Bewertungsergebnis ist als Teil des Abwägungsergebnisses zur „Angemessenheit" gesetzlich niederzulegen (vgl. bereits oben bei Nr. 2.1.1.2 dieses Urteils). Bei seiner Abwägung muß der Gesetzgeber in Rechnung stellen, daß der Ausgleich nach Art. 87 Abs. 3 S. 2, 3 LSA-Verf allein auf die Aufgabenübertragung bezogen werden darf und deshalb — „finanzkraftunabhängig" — ohne Rücksicht auf die Leistungsfähigkeit einzelner Empfängerkommunen zu gewähren ist. Das schließt es nicht aus, die allgemeine Leistungskraft aller Kommunen in die Bewertung einzubeziehen. Eine solche Betrachtung ist insbesondere deshalb angezeigt, weil sich höhere Ausgleichsleistungen nach Art. 87 Abs. 3 S. 2, 3 LSA-Verf auf die Größe der Finanzmasse auswirken können und sich auch fast immer auswirken werden, die nach Art. 88 LSA-Verf für den Kommunen für ihre eigenen Aufgaben zur Verfügung gestellt werden muß (vgl. zu dieser Problematik bereits: NdsStGH, DVB1. 1998, 186, 186 r. Sp., 188 1. Sp.; VfGH Bbg, DÖV 1998, 336, 337; Inhester Kommunaler Finanzausgleich im Rahmen der Staatsverfassung = Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft, Bd. 117, Berlin 1998, S. 157f). Dies bedingt, daß die Entscheidung über die „Angemessenheit" iSd Art. 87 Abs. 3 S. 3 LSA-Verf nicht ohne Rücksicht auf die Pflicht aus Art. 88 Abs. 1 LSA-Verf getroffen werden kann, genügend Finanzmittel an die KomLVerfGE 11
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munen weiterzugeben oder ihnen entsprechende Quellen zu erschließen, die es erlauben, die eigenen Aufgaben ebenfalls „angemessen" zu erfüllen. 2.1.2 Art. 87 Abs. 3 S. 2 LSA-Verf schreibt nicht vor, an welcher Stelle Bestimmungen über die Kostendeckung zu treffen sind; das entspricht der überwiegend vertretenen Auffassung zu ähnlichen Verfassungsbestimmungen auch anderer Länder (vgl. Henneke LKV 1993,365, 367; Schocb/ WielandaaO, S. 163; Schwär^O, S. 133; Wendt aaO, S. 623; a.A.: MiicklaaO, S. 211). Das Wort „dabei" legt nicht den Ort der Regelung fest, sondern hat eine ausschließlich zeitliche Dimension (so auch Reich aaO, Art. 87 Rn. 4); das folgt aus dem Sinnzusammenhang mit dem Begriff „gleichzeitig" in derselben Bestimmung. Auch wenn die Verfassung bei Art. 87 Abs. 3 LSA-Verf kein „Junktim" zwischen Aufgabenübertragung und Kostendeckungsregelung statuiert (a.A. Schwär^ aaO, S. 131; anders wohl auch — Regelung im selben Gesetz erforderlich: Mückl aaO, S. 211), wie es Art. 14 Abs. 3 GG für die Entschädigung bei Enteignungen festlegt, verlangt aber bereits der Wortlaut des Art. 87 Abs. 3 S. 2 LSA-Verf, daß eine anderweitige Regelung (etwa in einem Finanzausgleichsgesetz, für eine solche Möglichkeit auch Schwang aaO, S. 131) jedenfalls zum selben Zeitpunkt in Kraft tritt wie die Aufgabenübertragung (so vor allem Reich aaO, Rn. 4). Der Gesetzgeber, der eine Aufgabe überträgt und für keine Kostendeckung gesorgt hat, verletzt von dem Zeitpunkt an Art. 87 Abs. 3 S. 2 LSA-Verf, zu welchem die Aufgabenübertragung in Kraft treten soll. Mangels einer „Junktimklausel" führt dies zwar nicht schon zur Nichtigkeit der Aufgabenübertragung, hat aber zur Folge, daß das Gesetz defizitär ist, daß die unterbliebene Regelung nachgeholt werden muß und daß die Übertragung insoweit teilweise („schwebend") unwirksam ist (so bereits: LVerfG LSA, Urt. v. 17.9.1998 - LVG 4/96 -). Dem Gesetzgeber obliegt es deshalb, bei Gelegenheit der nächsten Schaffung oder Änderung einer Finanzierungsregelung — das ist regelmäßig das Finanzausgleichsgesetz oder ein dieses änderndes Begleitgesetz zum Landeshaushalt — die bislang unterlassene Kostendeckungsregelung nachzuholen, sofern er nicht das Übertragungsgesetz selbst nachbessert oder ausdrücklich eine Regelung in einem anderen Gesetz trifft (so im Ergebnis auch: NdsStGH, DVB1.1998,185,186 r. Sp.). Solange die erforderliche Ergänzung unterbleibt, wirkt sich der Verstoß gegen Art. 87 Abs. 3 LSA-Verf auf alle folgenden Finanzausgleichs- oder Änderungsgesetze aus, die keine den Ansprüchen des Art. 87 Abs. 3 LSA-Verf genügende Regelung enthalten. Das teilweise unwirksame Gesetz kann nicht vom Verfassungsgericht ergänzt werden, das sonst in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers eingreifen würde. Das „gesetzgeberische Unterlassen" verletzt zwar die Verfassung (vgl. zu ähnlichen Fällen aus der Vergangenheit etwa: BVerfGE 25, 167, 188 — zum Gleichstellungsgebot des Art. 6 Abs. 5 GG - ; vgl. ferner die Übergangsregelung des Art. 117 Abs. 1 GG zur LVerfGE 11
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Anpassung des Rechts an Art. 3 Abs. 2 GG); gerade durch konkretisierenden Richterspruch kann das Unterlassen aber nur sanktioniert werden, wenn das Verfassungsgebot so bestimmt ist, daß es vom Richter angewendet werden kann {Jülicher Die Verfassungsbeschwerde gegen Urteile bei gesetzgeberischem Unterlassen (Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 183), Berlin 1972, S. 36). 2.1.3 Maßgeblich für einen Verstoß gegen Art. 87 Abs. 3 LSA-Verf ist nicht, in welchem Umfang Kostendeckungsregelungen aus Anlaß der Übertragung jeweils neuer Aufgaben noch ausstehen, sondern es reicht aus, daß das Gesetz über den öffentlichen Nahverkehr innerhalb der Jahresfrist der §§ 51 Abs. 2; 48 LSA-VerfGG angefochten worden war und daß diese Verfassungsbeschwerde zum (wie ein Gesetz verkündeten Teil-)Erfolg geführt hatte. Eine den Anforderungen des Art. 87 Abs. 3 S. 2, 3 LSA-Verf entsprechende nachträgliche Kostendeckungsregelung enthält das Haushaltsbegleitgesetz 1997 nicht. Da die Pflicht, für eine solche Regelung zu sorgen, bereits mit In-Kraft-Treten des § 3 des Gesetzes zur Gestaltung des Öffentlichen Personennahverkehrs im Land Sachsen-Anhalt - LSA-ÖPNVG — vom 24.11.1995 (LSA-GVB1. S. 339), geändert durch Gesetz vom 12.8.1997 (LSA-GVB1. S. 750), am 1.1.1996 (vgl. § 18 LSA-ÖPNVG) jedenfalls für die Teile entstanden war, durch welche Aufgaben schon übertragen worden waren (vgl. insoweit die Ausnahmeregelung durch § 11 ÖPNVG), bestand die Ergänzungspflicht aktuell noch am 1.1.1997, als das Haushaltsbegleitgesetz 1997 in Kraft trat, weil bis zu diesem Zeitpunkt keine den Anforderungen des Art. 87 Abs. 3 S. 2, 3 LSA-Verf genügende Regelung getroffen worden war und auch später (durch das ÖPNVG-Anderungsgesetz) bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung über diese kommunale Verfassungsbeschwerde nicht getroffen worden ist. Für das Entstehen dieser Pflicht ist unerheblich, daß das Urteil über die im Jahr 1996 eingegangene Verfassungsbeschwerde erst im Jahr 1998 verkündet worden ist; denn die Pflicht entsteht „verschuldensunabhängig" und setzt nicht voraus, daß die an der Gesetzgebung mitwirkenden Stellen das Defizit kannten oder hätten kennen müssen. Ungeachtet der Varianten, die von Verfassungs wegen geschuldete Kostendeckungsregelung für den öffentlichen Nahverkehr in jenem Gesetz oder durch ein anderes Gesetz zu regeln, erweist sich jedenfalls mangels solcher Bestimmung an anderer Stelle die Aufteilung der Finanzmassen durch Art. 1 Nr. 4 LSA-HaushBeglG 1997 (= § 4 LSA-FAG 1997) als nicht vereinbar mit Art. 87 Abs. 3 S. 2, 3 LSA-Verf. Soweit keine besonderen Teilmassen gebildet worden sind, soll die Restmasse nach § 4 Nr. 5 LSA-FAG 1997 ohne weitere Binnendifferenzierung Zuweisungen dienen, die nach dem allgemeinen Verteilungsschlüssel (§§ 5 bis 9 LSA-FAG 1995/1997) auf die Kommunen verteilt werden. Offen bleibt dabei, in welchem Umfang es sich um Zuweisungen auf der Grundlage des Art. 88 LSA-Verf bzw. des Art. 87 Abs. 3 LSA-Verf handelt, und nicht LVerfGE 11
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entschieden ist ferner, wie hoch das Land die „Interessenquote" der jeweiligen Kommunen für die jeweiligen Aufgaben bemißt. Zwar kann der Gesetzgeber seiner Pflicht aus Art. 87 Abs. 3 S. 2, 3 LSA-Verf auch dadurch nachkommen, daß er eine besondere, neue Finanzmasse zum Zweck der Kostendeckungen bildet. Das Gericht kann ihn dazu aber nicht verpflichten. Auf die Frage, ob (zusätzlich) eine gleichartige Pflicht in Bezug auf das Änderungsgesetz 1996 zur Kinderbetreuung, das noch durch das Haushaltsbegleitgesetz 1997 geändert worden war, bestanden hat, kommt es nicht an, weil diese inzwischen durch das Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Förderung und Betreuung von Kindern in Tageseinrichtungen vom 31.3.1999 (LSA-GVB1. S. 125) erfüllt worden ist. 2.2 Im übrigen bleibt die Verfassungsbeschwerde erfolglos. Die Kürzungen bei der Finanzmasse verstoßen nicht gegen Art. 88 Abs. 1 LSAVerf (2.2.1); die Verfassung verlangt auch — entgegen der nach Schluß der mündlichen Verhandlung in dieser Sache bekannt gewordenen Entscheidung des Staatsgerichtshofs Baden-Württemberg — kein besonderes „Verfahrensgesetz" (2.2.2). 2.2.1 Verfassungswidrig sind die Kürzungen weder jeweils im einzelnen (2.2.1.1) noch in ihrer Gesamtheit (2.2.1.2). 2.2.1.1 Der Gesetzgeber durfte den Anteil an den Bundesergänzungszuweisungen kürzen (2.2.1.1.1), eine Teilmasse für „Investitionshilfen" bilden (2.2.1.1.2) und die Schülerbeförderungskosten neu regeln (2.2.1.1.3). 2.2.1.1.1 Art. 1 § 1 Nr. 3 Buchst, b), bb) LSA-HaushBeglG 1997, der den Anteil der Finanzmasse an den dem Land zufließenden Bundesergänzungszuweisungen von ursprünglich 45% (§ 3 Abs. 2 Nr. 5 LSA-FAG 1995) auf 42% (§ 3 Abs. 2 S. 1 Nr. 5 LSA-FAG 1997) herabgesetzt hat, verstößt nicht gegen höherrangiges Recht. Ohne Bedeutung bleibt, daß inzwischen durch Art. 1 Nr. 1 Buchst c) LSA-HaushBeglG 1999 eine weitere Reduzierung auf 39% (§ 3 Abs. 2 S. 1 Nr. 5 LSA-FAG 1999) vorgenommen worden ist; denn dieses Gesetz ist nicht Gegenstand der Verfassungsbeschwerde. Die Einbeziehung dieser Kürzung in die Prüfung durch Antragsänderung wäre nicht sachdienlich gewesen, weil sie einen im Übrigen nicht erforderlichen Erörterungsaufwand für das Haushaltsbegleitgesetz 1999 allein wegen § 3 Abs. 2 S. 1 Nr. 5 LSA-FAG 1999 erfordert hätte. Für die Rechtslage zum 1.1.1997 hat die Regelung des Art. 1 LSA-HaushBeglG 1999 keine (rückwirkende) Bedeutung. Die Kürzung auf 42 % verstößt nicht gegen Bundesrecht. Das Grundgesetz behandelt im Verhältnis von Bund zu Ländern die Kommunalfinanzen als Teil der Länderfinanzen (vgl. besonders: Art. 104a Abs. 4; 106 Abs. 3 S. 1, Abs. 5, 7, 9; 107 GG); die besondere Erwähnung von Kommunalfinanzen neben den Länderfinanzen in einzelnen Regelungen (vgl. etwa: Art. 105 Abs. 3; 106 Abs. 6, Abs. 8; 107 Abs. 2 GG) ändert daran nichts, wie sich insbesondere aus Art. 106 Abs. 9 GG ergibt (BVerfGE 39, 96, 109; 86, 148, 215; so auch: Pieroth in: Jarass/Pieroth, GG, 4. Aufl., Art. 106 Rn. 11, mit Art. 30 Rn. 6; Sachs GG, Art. 106 Rn. 18). LVerfGE 11
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Die durch § 3 Abs. 2 S. 1 Nr. 5 LSA-FAG 1997 erfaßten „Bundesergänzungszuweisungen" sind die Finanzmittel, welche der Bund auf der Grundlage des Art. 107 Abs. 2 S. 1,3 GG leistungsschwachen Ländern gewährt, ohne auch zu bestimmen, in welchem Umfang solche Mittel an die Kommunen weiterzureichen sind. Art. 107 Abs. 2 S. 1 GG (2. HS) verlangt nur, daß Finanzkraft und Finanzbedarf der Kommunen „zu berücksichtigen" sind. Damit ist weder ausgeschlossen, Ergänzungszuweisungen nur anteilig weiterzureichen, noch untersagt, sie als Teil einer (Landes-)Finanzmasse zu behandeln, die ihrerseits dazu dient, die Kommunen mit hinreichenden Finanzmitteln auszustatten (Art. 88 Abs. 1 LSA-Verf) oder einen Finanzausgleich (Art. 88 Abs. 2 LSA-Verf) zu leisten. Art. 28 Abs. 2 S. 3 GG regelt die Finanzverfassung der Kommunen nur allgemein und sagt nichts über den Inhalt und die Auslegung der Regelungen des Art. 107 GG aus. Auch einfaches Bundesrecht (§11 des Finanzausgleichsgesetzes 1995 = Art. 33 des Gesetzes zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms — FKPG — vom 23.6.1993 (BGBl I 944, 977) bindet das Land nicht, die ihm zufließenden Finanzmittel in bestimmtem Umfang an die Kommunen weiterzugeben. Die Kürzung verstößt nicht gegen Art. 88 Abs. 1 LSA-Verf. Die Verfassungsbestimmung gewährt keinen unmittelbaren Anspruch auf die Gewährung eines bestimmten Anteils der eigenen oder vom Bund zugewiesenen Landesmittel, sondern legt nur fest, daß die Kommunen insgesamt über Finanzmittel verfügen können müssen, die es ihnen ermöglichen, ihre Aufgaben angemessen zu erfüllen. Aus Art. 88 Abs. 1 LSA-Verf läßt sich deshalb insbesondere kein „Bestandsschutz" dergestalt herleiten, daß eine einmal in bestimmter Höhe gewährte Zuweisung nicht gekürzt oder entzogen werden darf. Art. 88 Abs. 1 LSA-Verf ist auch nicht dahin zu verstehen, daß die nötigen Finanzmittel solche sein müssen, die aus Einnahmen des Landes stammen und den Kommunen lediglich zugewiesen werden; der Verfassung wird auch und mit Rücksicht auf die Selbstbestimmung der Kommunen sogar eher dadurch genügt, daß das Land durch seine Gesetzgebung Grundlagen schafft, welche die Kommunen ermächtigen, Einnahmen selbst zu erzielen (vgl. Art. 87 Abs. 3 LSA-Verf). Art. 87 Abs. 3 LSA-Verf schränkt die Auslegung des Begriffs „Finanzmittel" iSd Art. 87 Abs. 1 LSA-Verf nicht ein, sondern legt einen Teil des Instrumentariums fest, mit dem das Land für hinreichende Mittel bei den Kommunen iSd Art. 87 Abs. 1 LSA-Verf „sorgen" kann. Ob Art. 88 Abs. 1 LSA-Verf durch eine singuläre Kürzung von Mitteln verletzt wird, kann nur in einer Gesamtschau beurteilt werden, bei welcher die sonstigen Einnahmequellen berücksichtigt werden (dazu unten Nr. 2.2.1.2). 2.2.1.1.2 Art. 1 § 1 Nrn. 4, 7 LSA-HaushBeglG 1997 (§§ 4 Nr. 3; IIa LSA-FAG 1997) verstoßen weder dem Grund nach (2.2.1.1.2.1) noch mit der Verteilungsregelung des § IIa Abs. 3 LSA-FAG 1997 (2.2.1.1.2.2) gegen die Landesverfassung. LVerfGE 11
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2.2.1.1.2.1 Das Land durfte mit §§ 4 Nr. 3; I I a Abs. 1 LSA-FAG 1997 eine Teilmasse von 5 % des Finanzmassenvolumens als Investitionshilfe ausweisen, obwohl die Finanzmittel fur die Zwecke des Art. 88 Abs. 1 LSA-Verf um diese Summe geschmälert werden; denn dafür bestand ein sachlicher Grund. Die Teilmasse dient dazu, finanzschwache Kommunen in die Lage zu versetzen, die der Förderung des sog. „Aufbaus Ost" dienenden Fremdmittel abzurufen. Umfang und Zweck dieser Mittel sind durch Bundesrecht festgelegt, ohne daß die Landesgesetzgebung darüber ergänzend verfügen könnte. Uber die Zweckbindung des § 3 des Investitionsförderungsgesetzes Aufbau Ost = Art. 35 FKPG (BGBl. 1993 I 944, 982) - InvFördG AO - hinaus legt § 5 Abs. 1 InvFördG AO fest, daß sich der Bund an den Finanzhilfen für die Vorhaben nur zu 90 % beteiligt und daß die Länder diesen Anteil lediglich mindern dürfen. §§ 14 Abs. 1, 3; 15 LSA-FAG 1995 stellen diese Mittel lediglich zur Verfügung und bestimmen eine quotenmäßige Zuweisung in pauschalierter Form. Durch § 14 Abs. 1 LSA-FAG 1995 („aus den Mitteln") ist klargestellt, daß es sich nicht um Landesmittel handelt, sondern um die Weitergabe von Bundesmitteln. Auf dieser Grundlage will § I I a Abs. 1 LSA-FAG 1997 erreichen, daß die Mittel der Teilmasse nach § 4 Nr. 3 LSA-FAG 1997 bevorzugt dazu verwendet werden, den Eigenanteil der Kommunen zu bilden. Daran, daß die Kommunen die Förderungsmittel abrufen können, besteht ein eigenes Landesinteresse deshalb, weil die durch § 3 InvFördG AO genannten Maßnahmen auch die Infrastruktur des Landes insgesamt verbessern. Das bringt das Bundesrecht auch durch § 1 InvFördG AO zum Ausdruck, wonach Unterschiede in der Wirtschaftskraft der Länder insgesamt durch Wachstumsförderung ausgeglichen werden sollen, wobei das Bundesrecht Vorhaben des Landes und der Kommunen als gleich geeignet ansieht, diese Ziele zu erreichen. Eher für die Vereinbarkeit mit den Grundsätzen des Art. 88 Abs. 1 LSA-Verf als dagegen streitet, daß § I I a Abs. 2 LSA-FAG 1997 eine Ausnahme von dem Ziel des § I I a Abs. 1 LSA-FAG 1997 vorsieht; denn dadurch wird erreicht, daß der Anteil an der Teilmasse des § 4 Nr. 3 LSA-FAG 1997 den Kommunen wieder zufließt, wenn sie nicht in der Lage sind, von den Investitionsmitteln des „Aufbaus Ost" Gebrauch zu machen. Damit kommt § I I a Abs. 2 LSA-FAG 1997 gleichsam die Funktion einer „Härteregelung" zu, welche die Ausgrenzung des § 4 Nr. 3 LSA-FAG 1997 relativiert. 2.2.1.1.2.2 Auch die Verteilungsregelung des § I I a Abs. 3 LSA-FAG 1997 ist nicht zu beanstanden. Sie hält sich in den Grenzen, die das Verfassungsrecht dem Gesetzgeber bei der Gestaltung einräumt. Dazu gehört auch, die erhobenen Zahlen über Bautätigkeiten als Prognosematerial zu gewichten. Der Beschwerdeführer kann dies nicht erfolgreich mit seiner Rechnung in bezug auf die Krankenhausfinanzierung widerlegen; denn das Krankenhausfinanzierungs-
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programm ist nach § 2 Abs. 2 InvFördG AO lediglich Teil der Förderung, welche durch § § 1 , 3 InvFördG AO erreicht werden soll. Als offenkundig sachwidrig erscheint der Verteilungsmaßstab des § IIa Abs. 3 LSA-FAG 1997 zudem deshalb nicht, weil er demjenigen des § 15 LSA-FAG 1995 gleicht, den die Kommunen, darunter der Beschwerdeführer, für die eigentliche Verteilung der Mittel des „Aufbaus Ost" bis zur Einführung der speziellen Investitionshilfe hingenommen hatten. Gesichtspunkte, welche diese Verteilung als von vornherein sachwidrig erscheinen lassen, sind nicht vorgetragen oder ersichtlich. Das gilt auch, soweit § 1 l a Abs. 3 LSA-FAG einen „Flächenfaktor" (gleichlautend wie bei § 15 LSA-FAG) enthält. Die vom Beschwerdeführer gegen § 7 LSA-FAG 1995/1997 vorgebrachte Rüge, es fehle an einem sachlichen Grund, greift hier nicht durch; denn es handelt sich um keine allgemeine Verteilung der Mittel, sondern um Hilfen für den besonderen Investitionsabruf. Daß ein denkbarer Mehrbedarf für insbesondere Straßen bereits durch § 11 LSA-FAG abgegolten wird, kann allenfalls für die allgemeine Verteilung nach § 7 LSA-FAG von Bedeutung sein, nicht aber für den Sonderbedarf, für den es an einer dem § 11 LSA-FAG entsprechenden Detailregelung fehlt. Daß für die Investitionshilfe ein anderer, dem Beschwerdeführer günstigerer Maßstab verfassungsrechtlich zulässig wäre, führt nicht dazu, ihn auch für geboten zu halten. 2.2.1.1.3 Die durch Art. 1 § 1 Nr. 11 Buchst, a) LSA-HaushBeglG 1997 vorgenommene Kürzung der Mittel für die Schülerbeförderung (§13 Abs. 1 LSA-FAG 1997) ist nicht an Art. 87 Abs. 3 S. 2, 3 LSA-Verf zu messen, weil es sich um keine „neue" Aufgabe iSd Verfassungsbestimmung gehandelt hat (vgl. oben Nr. 1.2.2.2). Art. 88 Abs. 1 LSA-Verf gewährt keinen „Bestandsschutz" (vgl. oben Nr. 2.2.1.1). Der Gesichtspunkt, die Kürzung habe auch bewirken sollen, daß die Träger der Schülerbeförderung angehalten würden, Kosten zu sparen, ist sachgerecht. Er ist insbesondere mit der Garantie kommunaler Selbstverwaltung vereinbar (Art. 2 Abs. 3; 87 Abs. 1 LSA-Verf), weil die Kürzung keinen unmittelbaren Einfluß auf die vom jeweiligen Träger der Schülerbeförderung zu veranlassenden Maßnahmen nimmt und weil auch nicht „landesweit" bestimmte Strategien gleichsam vorgeplant werden. 2.2.1.2 Art. 88 Abs. 1 LSA-Verf ist auch nicht verletzt, wenn man die oben erörterten Maßnahmen zusammengerechnet und als Gesamtminderung der den Landkreisen als Gruppe zustehenden Finanzmittel beurteilt. Dabei muß die Minderung bei den Schülerbeförderungskosten außer Ansatz bleiben, weil sie nicht rechnerischer Teil der Zuweisungen sind, sondern laut Uberschrift vor § 13 LSA-FAG 1997 ein Ausgleich ausschließlich für diese Aufgabe „außerhalb der Finanzausgleichsmasse" vorgenommen werden soll. Art. 88 Abs. 1 LSA-Verf verlangt nicht, einen „Kernbereich" kommunaler Aufgaben anders abzugelten als einen davon unterschiedenen „Randbereich" (2.2.1.2.1). LVerfGE 11
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Die Verpflichtung aus Art. 88 Abs. 1 LSA-Verf wird zwar durch die Leistungsfähigkeit des Landes begrenzt; Landes- und Kommunalaufgaben sind aber als gleichwertig zu behandeln (2.2.1.2.2). Die durch das Haushaltsbegleitgesetz vorgenommenen Kürzungen verstoßen nicht gegen diese Grundsätze (2.2.1.2.3). 2.2.1.2.1 Art. 88 Abs. 1 LSA-Verf verpflichtet das Land einheitlich, für eine „aufgabenbezogene" finanzielle Grundausstattung zu sorgen und differenziert nicht nach einem „Kernbereich" und Aufgaben im übrigen. Die gegenteilige, in der Literatur geäußerte Ansicht (vgl. Henneke Begrenzt die finanzielle Leistungsfähigkeit des Landes den Anspruch auf eine aufgabenangemessene Finanzausstattung?, DOV 1998, 330, 334; ders Der Landkreis 1999, 147, 163), der „Kernbereich" erfordere eine bessere Finanzausstattung als der „Randbereich", findet in der Landesverfassung keine Stütze. Ein Rückgriff für die Auslegung des Art. 88 Abs. 1 LSA-Verf auf Art. 87 Abs. 1, 2 LSA-Verf (vgl. Henneke LKV 1993, 365, 367), aus dem bereits eine Finanzierungsgarantie herzuleiten sei, scheidet aus, weil die Landesverfassung die Garantie kommunaler Selbstverwaltung an unterschiedlichen Stellen, und dabei unter systematischer Trennung der Inhalte regelt: Enthält Art. 2 Abs. 3 LSA-Verf die allgemeine Garantie, so verhält sich Art. 87 LSA-Verf zu den Aufgaben und Art. 88 LSA-Verf zur Finanzierung. Die Durchbrechung dieses Systems durch Art. 87 Abs. 3 LSA-Verf hat die Funktion, die besonderen Kosten der übertragenen und Pflicht-Aufgaben vom eigentlichen (horizontalen und vertikalen) Finanzausgleich zu trennen und selbständig zu regeln. Art. 88 Abs. 1 LSA-Verf macht die Finanzierung nicht davon abhängig, in welchem Umfang es die „Kernbereichsgarantie" (aus Art. 28 Abs. 2 GG sowie gleichbedeutend aus Art. 2 Abs. 3; 87 Abs. 1 LSA-Verf) dem Landesgesetzgeber gestattet, der Kommune Aufgaben zu entziehen oder sie ihr zu belassen, sondern enthält eine „einheitliche" Finanzgarantie für die von der Kommune jeweils zu erfüllenden Aufgaben. Dazu gehören prinzipiell alle (nicht Pflichtigen) Aufgaben des eigenen Wirkungskreises iSd Art. 87 Abs. 2 LSA-Verf, aber auch solche Pflichtaufgaben oder Aufgaben nach Weisung, die nicht „neu" nach Art. 87 Abs. 3 S. 1 LSA-Verf auf die Kommunen übertragen worden sind oder deren Übertragung nicht durch den Landes, sondern bereits durch den Bundesgesetzgeber vorgenommen worden ist (vgl. insoweit bereits: LVerfG LSA, Urt. v. 8.12.1998 - LVG 10/97 - ; Urt. v. 8.12.1998 - LVG 19/97 - ; vgl. ferner: NdsStGH, DVB11998,185,186; VfGH NW, Urt. v. 9.12.1996 38/95 - , DÖV 1997, 348; StGH BW, ESVGH 44,1, 2). Eine hiervon zu trennende und zu bejahende Frage ist, ob eine angemessene Finanzausstattung zum Kernbereich der Selbstverwaltungsgarantie (Art. 28 Abs. 2 GG; vgl. auch Art. 2 Abs. 3 LSA-Verf) rechnet (so etwa Mückl aaO, S. 75; Wendt „Verfassungsstaatlichkeit", aaO, S. 609; vgl. dazu besonders bereits Schoch/ Wieland aaO, S. 176, 177 ff). Dieser bundesstaatlichen Vorgabe des Art. 28 Abs. 2 GG genügt Art. 88 Abs. 1 LSA-Verf indessen. LVerfGE 11
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Mit dem Nieders. Staatsgerichtshof (DVB1 1998, 185, 186) und dem Bundesverwaltungsgericht (BVerwGE 106,280,286) ist zwar davon auszugehen, daß es die finanzielle Eigenverantwortlichkeit verlangt, über ausreichende Finanzmittel zu verfugen, welche es ermöglichen, die kommunalen Aufgaben zu erfüllen. Dies bedeutet aber nicht auch, daß eine „Mindestausstattung" vom Land absolut, ohne jede Rücksicht auf seine eigenen Aufgaben zu gewähren ist (vgl. insoweit bereits die Einschränkung bei NdsStGH, DVB11998,185,186/187). 2.2.1.2.2 Das Land kann Kürzungen im Ansatz damit rechtfertigen, der bisherige Standard an Zuweisungen über den Finanzausgleich könne nicht mehr gehalten werden, weil keine ausreichende Leistungsfähigkeit des Landes (mehr) bestehe. Dies gilt unabhängig davon, ob eine im übrigen verfassungsgemäße Kürzung auch Auswirkungen auf „Kernbereichsaufgaben" haben könnte. Das folgt trotz der Selbstverwaltungsgarantie für einen eigenen Wirkungskreis (Art. 28 Abs. 2 GG) aus der bundesstaatlichen Gliederung in Bund und Länder (Art. 30 GG), der auch für die bundesstaatliche Finanzverfassung nicht durchbrochen wird (Art. 106 Abs. 9 GG). Soweit Art. 28 Abs. 2 S. 3 GG eine Finanzgarantie für Selbstverwaltungskörperschaften enthält, beeinflußt diese die Regelungen über die Kommunalfinanzen nicht dahin, daß die Länder verpflichtet wären, zunächst einmal für eine umfassende Finanzausstattung der Kommunen zu sorgen und notfalls ihre eigenen Aufgaben zu vernachlässigen. Verlangt aber das Grundgesetz nicht, die Kommunen mit Vorrang zu behandeln, und sieht es sie gerade auch bei der Finanzverfassung als Teil der Länder an, dann würde eine aus Art. 28 Abs. 2 S. 3 GG hergeleitete Verpflichtung, den Kommunen eine allein an deren Aufgaben orientierte Ausstattung zu sichern, entweder den Ländern — bei Wahrung ihrer eigenen Aufgabengarantie (Art. 30 GG) — etwas Unmögliches abfordern oder doch ihnen wenigstens abverlangen, ihre Befugnisse aus Art. 30 GG zurückzunehmen. Mit Rücksicht auf die bundesstaatliche Ordnung wird denn auch überwiegend die Leistungsfähigkeit des Landes als Grenze der Finanzierungsverpflichtung angesehen (vgl. etwa: NdsStGH, Beschl. v. 15.8.1995 - StGH 2, 3, 6-10/93 - , DVB11995,1175, 1177; NdsStGH, DVB1 1998, 185, 186; VfGH NW, Urt. v. 16.12.1988 - 9/87 - , OVGE 40, 300, 303; BayVfGH, Entschdg. v. 27.2.1997 - StGH 2, 3, 6-10/93 - , BayVBl 1997, 303, 304; Entschdg. v. 12.1.1998 - Vf. 24-VII-94 - , BayVBl 1998, 207/237,237; StGH BW, Urt. v. 10.5.1999 - GR 2/97 - , UrtAbdr, S. 37; kritisch, jedenfalls gegenüber einem umfassenden Landesvorbehalt: HennekeOCN 1998, 330, 331). Soweit das Bundesverwaltungsgericht die Grundlagen aufgabenadäquater Finanzausstattung beschreibt (BVerwGE 106, 280,286), die Inhalt des Art. 28 Abs. 2 S. 3 GG sind, handelt es sich um einen Bestand, in welchen der Landesgesetzgeber nicht „eingreifen" darf (BVerwG, aaO). Daß dieser „Mindeststandard" normalerweise zu gewähren ist, schließt aber den besonderen „Vorbehalt der Landesfinanzen" nicht aus, weil die Kommunen Teil des Landes sind, dem sie angehören. LVerfGE 11
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Die Grenze eigener Leistungsfähigkeit gestattet es dem Landesgesetzgeber, wie sich selbst in den Grenzen des Art. 99 Abs. 2, 3 S. 1 LSA-Verf auch den Kommunen in den Grenzen des § 65 LSA-LKO und § 100 Abs. 2 LSA-GO eine Verschuldung zuzumuten. Andererseits zwingt sowohl die Selbstverwaltungsgarantie für Sachsen-Anhalt (Art. 2 Abs. 3 LSA-Verf) als auch vor allem die Vorgabe durch Art. 28 Abs. 2 S. 3 GG zu einer einschränkenden Auslegung des Art. 88 Abs. 1 LSA-Verf insoweit, als das Land nicht völlig frei darin sein kann, in welchem Umfang es seinen eigenen staatlichen Aufgaben Gewicht auf Kosten der Kommunen beimißt, sondern es hat von einer Gleichwertigkeit und Gleichgewichtigkeit staatlicher und kommunaler Aufgaben auszugehen. Durch diesen Grundsatz ist der Gestaltungsraum des Landesgesetzgebers begrenzt (ebenso bereits für das dortige Landesrecht: NdsStGH, DVB11998,185,187; vgl. ferner bes.: Schoch,/ Wieland aaO, S. 180; Hennehe DÖV 1998, 330, 334, 335; Mückl aaO, S. 72). Der Gesetzgeber hat zu berücksichtigen, daß die Finanzierungsgarantie des Art. 88 Abs. 1 LSA-Verf die Kommunen in den Stand setzen soll, eigenverantwortlich ihre Aufgaben zu bestimmen und zu erfüllen. Das setzt im Grundsatz voraus, daß die Kommunen in der Lage sein sollen, gerade auch freiwillige Aufgaben zu übernehmen (Wendt „Verfassungsstaatlichkeit", aaO, S. 609; MücklwiO, S. 71). Die durch Art. 2 Abs. 3 LSAVerf vorausgesetzte Gleichwertigkeit wird nicht erst mißachtet, wenn der Landesgesetzgeber die Grenze der „Erdrosselung" kommunaler Selbstverwaltung noch nicht überschritten hat (so zu Recht Wendt aaO, S. 609), sondern bereits dann, wenn Aufgaben des Landes ohne sachlichen Grund höher bewertet worden sind. Nur in diesem Rahmen hat der Landesgesetzgeber die Möglichkeit einer autonomen Bewertung. Da Art. 88 Abs. 1 LSA-Verf nicht nur durch Zuweisungen von Finanzmitteln genügt wird, sondern auch durch gesetzgeberische Regelungen, welche die Kommunen in den Stand setzen, eigene Einnahmen zu erzielen, darf der Landesgesetzgeber auch in Rechnung stellen, wie weit solche Möglichkeiten ausgeschöpft worden sind oder werden können. 2.2.1.2.3 Der Landesgesetzgeber war durch die Verfassung grundsätzlich nicht gehindert, Kürzungen vorzunehmen, die sich auch auf die Zuweisungen an die Landkreise auswirken. Obwohl die sog. „Bestandsgarantie" des Jahres 1995 (§ 29 LSA-FAG 1995) vor allem als Mittel der Planungssicherheit für die Kommunen verstanden worden war (Landkreistag, Schreiben vom 1.11.1996 an Ausschuß für Inneres, S. 1; vgl. auch Städte- und Gemeindebund Sachsen-Anhalt, Schreiben vom 22.10.1996, S. 6, 8), war sie von Verfassungs wegen nicht geboten; auch verlangten verfassungsrechtliche Grundsätze des Vertrauensschutzes nicht, sie zu erhalten. Es handelte sich vielmehr um einen politisch erzielten Kompromiß, der rechtlich zur vollen Verfugung des Landesgesetzgebers gestanden hat. LVerfGE 11
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Die Auflösung der „Bestandsgarantie" erscheint nicht als „willkürlich", weil sie in der 2. Lesung des Haushaltsbegleitgesetzes 1997 vom 12.12.1996 mit mangelnder finanzieller Leistungsfähigkeit des Landes infolge steigender Ausgaben und einer nicht erfüllten Einnahmeerwartung gerechtfertigt worden ist (wird ausgeführt). Daß die Einnahmen Ende 1996 gegenüber 1995 tatsächlich erheblich gesunken waren, wurde im parlamentarischen Verfahren und in diesem Prozeß nicht angezweifelt. Es ist auch nicht erkennbar, daß entweder überhaupt keine Abwägung stattgefunden hat oder daß dabei die verfassungsrechtliche Stellung der Kommunen im Verhältnis zum Land verkannt worden ist. Die Tätigkeit insbesondere des Ausschusses für Inneres belegt vielmehr, daß die ursprünglichen Vorstellungen der Landesregierung, deutlicher zu kürzen, aufgefangen worden sind und zu einem Kompromiß zwischen den Interessen des Landes und denen der Kommunen gefuhrt hat (vgl. Berichterstatter in der 2. Lesung, aaO, S. 3858). Auch wenn die Kommunen das Land wiederholt gemahnt haben, stärker zu sparen, und zwar insbesondere bei dessen Personalkosten (Schreiben beider Kommunalverbände, aaO), belegt dies noch keine verfassungswidrige Vernachlässigung der Kommunalbelange durch den Landesgesetzgeber; denn die Einsparmöglichkeiten sind vom Landtag deutlich in die Abwägung eingestellt worden (wird ausgeführt). Der Landesgesetzgeber durfte ferner in Rechnung stellen, in welchem Umfang einerseits das Land und andererseits die Kommunen verschuldet sind. Die Grenze seiner Gestaltungsbefugnis ist erst überschritten, wenn das Land erkennbar keinen Sparwillen zeigt. Dann würde eine darauf beruhende Verschuldung nicht mehr zur Rechtfertigung für Einschnitte bei den Kommunen taugen können; denn in einem solchen Fall müßte die Gleichgewichtigkeit der Landes- und Kommunalinteressen als gestört angesehen werden. Die Berechnungen des Beschwerdeführers mögen zwar belegen, daß seine gegenwärtigen Einnahmen (einschließlich der Zuwendungen aus dem Landeshaushalt) nicht ausreichen, um alle Pflichtausgaben abzudecken und hinreichend Möglichkeiten für freiwillige Aufgaben zu belassen; daraus läßt sich aber keine „landesweit" gleiche Situation begründen. Außerdem muß der Beschwerdeführer die ihm gesetzlich zustehenden Möglichkeiten (vgl. § 16 LSA-FAG: Kreisumlage) ausschöpfen, die Teil der Mittel des Art. 88 Abs. 1 LSA-Verf sind, um für eine hinreichende Ausstattung zu sorgen; und er muß wie das Land im übrigen eine Verschuldung in Kauf nehmen, weil die finanzielle Ausstattung unter dem Vorbehalt der Leistungsfähigkeit des Landes insgesamt steht. Die vom Staatsgerichtshof Baden-Württemberg offen gelassene Frage, ob es auf die Verhältnisse gerade des Beschwerdeführers oder aller Landkreise ankommt (StGH BW, Urt. v. 10.5.1999 - GR 2/97 - , UrtAbdr., S. 35), ist jedenfalls für Sachsen-Anhalt abstrakt-generell zu beantworten (ebenso, für Nordrhein-Westfalen: VfGH NW, Urt. v. 1.12.1998 - VerfGH 5/97 - , DÖV 1999, 300, 301): Maßgeblich ist die Lage bei der Gruppe, welcher der Beschwerdeführer angehört. Das folgt nicht nur daraus, daß der Finanzausgleich durch Gesetz, also eine über den Einzelfall hinausreichende Regelung, LVerfGE 11
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zu leisten ist, sondern ergibt sich zudem aus dem Inhalt sowohl des ursprünglichen Finanzausgleichsgesetzes 1995 als auch seiner Änderungen 1997. Die Zuweisungen aus der Finanzausgleichsmasse sind am „normalen Bedarf orientiert. Das belegt die Ausnahmeregelung des § 12 LSA-FAG 1997; sie sieht Bedarfszuweisungen aus Anlaß besonderer Belastungen oder Härten vor (Absatz 1) und hebt ausdrücklich den Sonderfall hervor, daß eine einzelne Kommune unabweisbare Ausgabeverpflichtungen nicht mehr erfüllen kann (Absatz 4). 2.2.2 Die Verfassungsmäßigkeit des (vertikalen - Art. 88 Abs. 1 LSA-Verf - und horizontalen [Art. 88 Abs. 2 LSA-Verf]) Finanzausgleichs ist nicht davon abhängig, daß das Finanzausgleichsgesetz Verfahrensregelungen enthält oder daß außerhalb des Finanzausgleichsgesetzes ein „Verfahrensgesetz" geschaffen worden ist. Die gegenteilige, vom Staatsgerichtshof Baden-Württemberg für das dortige Landesrecht vertretene Auffassung (StGH BW, Urt. v. 10.5.1999 - GR 2/97 - , UrtAbdr., S. 38 ff) läßt sich auch in Ansehung der vom Gericht in Bezug genommenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Ausstrahlung von Grundrechten auf das jeweilige Verfahren (BVerfGE 53, 30ff; 63, 131 ff; 65, Iff; 84, 34ff; insbes.: BVerfGE 90, 60ff) für Sachsen-Anhalt weder aus der Verfassung selbst noch aus allgemeinen Grundsätzen herleiten. Die Landesverfassung enthält für die Finanzgarantien des Art. 88 Abs. 1, 2 LSAVerf ebenso wenig wie bei Art. 87 Abs. 3 LSA-Verf (vgl. dazu bereits oben Nr. 2.1.1.2 der Entscheidungsgründe) einen ausdrücklichen Verfahrensvorbehalt. Allein für Gebietsänderungen legt Art. 90 LSA-Verf als materielle Grenze das „Gemeinwohl" (Satz 1) fest und setzt formell auch eine „Anhörung" voraus (Satz 2). Mit diesen beiden Vorbehalten will das Landesverfassungsrecht den Vorgaben des Art. 28 Abs. 2 GG genügen (vgl. zu „Gemeinwohl" und „Anhörung": BVerfGE 50, 50, 50 f). Die sachliche wie die formelle Voraussetzung für Gebietsänderungen hat das Bundesverfassungsgericht dem Kernbereich zugeordnet und dem historischen Bestand der kommunalen Selbstverwaltung zugerechnet (BVerfGE 50, 50, 50); es hat die Grenzen zugleich als durch das Rechtsstaatsprinzip vorgegeben angesehen (BVerfGE 50, 50, 51). Deshalb hat das Landesverfassungsgericht bereits früher erwogen, ob Art. 90 LSA-Verf eigenständige Regelungen enthält oder nicht nur klarstellt, was eigentlich bereits zum Wesen der Selbstverwaltungsgarantie nach Art. 2 Abs. 3 LSA-Verf gehört (vgl. etwa bei: LVerfGE 2, 227,246). Jedenfalls ist nicht einmal bei einem Gesetzes vorbehält wie dem des Art. 90 S. 2 LSA-Verf ein besonderes „Verfahrensgesetz" verlangt, wenn nur die Anhörung selbst durchgeführt worden ist (LVerfGE 2, 227, 251 ff). Ahnliche Vorgaben wie für die Anhörung bei Gebietsreformen (dazu BVerfGE 50, 50 f) hat das Bundesverfassungsgericht für den kommunalen Finanzausgleich nicht gemacht. Sie ließen sich auch schwerlich in gleicher Weise historisch als Bestand feststellen und deshalb dem Kernbereich der Selbstverwaltung iSd Art. 28 Abs. 2 GG oder hier des Art. 2 Abs. 3 LSA-Verf zurechnen. Eher im Gegenteil hat das BundesLVerfGE 11
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Verfassungsgericht gerade aus Anlaß eines (Bund-Länder-)Finanzausgleichs den Bundesgesetzgeber für autonom gehalten, sein Verfahren zu bestimmen und ihm insbesondere keinen Begründungszwang auferlegt (BVerfGE 86, 148, 212, 241, unter Hinweis auf BVerfGE 72, 330, 396 f), sondern lediglich das gefundene Ergebnis überprüft; dabei hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich festgestellt, aus materiellrechtlichen Bindungen des Finanzausgleichsgesetzgebers könnten keine verfahrensrechtlichen Erfordernisse abgeleitet werden, sondern es komme allein darauf an, ob die gesetzgeberische Entscheidung im Ergebnis den materiellen Anforderungen genüge (BVerfGE 86,148, 212, zum Länderfinanzausgleich II). Selbst wenn unterstellt würde, alle oder jedenfalls einzelne Grundrechte der Landesverfassung (Art. 3 Abs. 1; 4 ff LSA-Verf) hätten über ihre klassische „Abwehr-" Bedeutung hinaus einen „objektiv-rechtlichen" Gehalt, der den Staat verpflichtete, „sich schützend und fördernd vor die darin genannten Rechtsgüter zu stellen" (BVerfGE 53, 30, 57 zu Art. 2 Abs. 2 GG im Fall „Mühlheim-Kärlich"; vgl. auch Minderheitsvotum Simon/Heußner— insoweit nicht abweichend — bei BVerfGE 53, 69, 71 ff), könnte dieser Gesichtspunkt nicht ohne Weiteres auf das Verhältnis zwischen Land und Kommunen übertragen werden. Der Staatsgerichtshof Baden-Württemberg begnügt sich damit festzustellen, die vom Bundesverfassungsgericht für die Grundrechte entwickelten Grundsätze müßten auch für die institutionelle Garantie der kommunalen Selbstverwaltung gelten (StGH BW, aaO, S. 44 f). Sein weiterer Gesichtspunkt, nachträglicher verfassungsrechtlicher Schutz könne nicht gewährt werden und müsse deshalb „in den Prozeß der Entscheidungsfindung vor(.. .)verlager(t)" werden (StGH BW, aaO, S. 45), kann jedenfalls nicht mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts begründet werden; denn dieses hatte sich mit einer reinen „Ergebniskontrolle" begnügt (BVerfGE 86,148,212), obgleich es einzelne Bestimmungen der Finanzausgleichsregelung nur für unwirksam und nicht für nichtig gehalten sowie ausdrücklich bemerkt hatte, dies geschehe vor allem deshalb, weil die bereits abgeschlossenen Haushaltsperioden nicht mehr rückabgewickelt werden sollten (BVerfGE 86, 148,279). Auch die einzelnen Fälle, welche der Staatsgerichtshof Baden-Württemberg für seine Auffassung in Anspruch nimmt, hält das Landesverfassungsgericht weder für eine „Vorgabe" des Bundesverfassungsrechts, noch lassen sie seiner Auffassung nach für Sachsen-Anhalt das gleiche Ergebnis zu wie für Baden-Württemberg: Im atomrechtlichen Verfahren (BVerfGE 53, 30 ff) ging es letztlich um eine Ausweitung des Rechtsschutzes. Das Gericht hatte im Atomverfahrensrecht bereits Regelungen vorgefunden, fur die nur streitig war, ob sie mit der damals herrschenden Auffassung lediglich (objektiv) als Verfahrenssicherung verstanden werden oder ob sie auch (subjektiv) die Rechte der Beteiligten schützen sollten; allein in diesem Zusammenhang (Umfang rechtlicher Rügemöglichkeiten) finden sich die zitierten Ausführungen zum Einfluß der Grundrechte auf das Verfahren (BVerfGE 53, 30,65). Das wird besonders deutlich bei der abweichenden Meinung, die im Ansatz der SenatsLVerfGE 11
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ansieht folgt, aber schon für den vorläufigen Rechtsschutz die Effektivität der Verfahrensregeln stärker betont sehen wollte (BVerfGE 53, 69, 79, 82). Das Verfahren über eine presserechtliche Gegendarstellung (BVerfGE 63,131 ff) betraf eine Abwägungsentscheidung in der Sache. An der zitierten Stelle (BVerfGE 63, 131, 143) befaßt sich der (1.) Senat unter Bezugnahme auf die atomrechtliche Entscheidung zu „Mühlheim-Kärlich" mit vorhandenem Presse(verfahrens)recht und prüft es und seine Durchsetzbarkeit aus der Sicht des „Verletzten" sowohl am Maßstab einerseits des Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1; 1 Abs. 1 GG) als auch andererseits des als konkurrierend verstandenen Presserechts (Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG). Im Datenschutzurteil (BVerfGE 65, 1 ff) forderte der (1.) Senat an der zitierten Stelle (BVerfGE 65, 1, 44) deshalb eine (nicht vollständig vorhandene) gesetzliche Regelung, weil ein Eingriff in die zuvor definierte „informationeUe Selbstbestimmung" nur durch Gesetz möglich sei. Es handelt sich in Wahrheit um die „materielle" gesetzliche Konkretisierung dessen, was dem Individuum wegen seiner Gemeinschaftsbezogenheit zugemutet werden darf. Ahnlich wie eben beim „Volkszählungsgesetz" handelte es sich auch beim Prüfungsfall (BVerfGE 84, 34ff) eher um eine materielle Frage. Zur Beurteilung stand nämlich, wie weit es mit dem Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) vereinbar ist, Hürden aufzubauen, gegen die nicht in vollem Umfang „effektiver Rechtsschutz" gewährleistet war. An der zitierten Stelle (BVerfGE 84, 34, 45 f) beruft sich das Bundesverfassungsgericht zwar auf den Umfang des Grundrechtsschutzes und dessen Bedeutung auch für Verfahrensregelungen, macht aber deutlich, daß es den Beschwerdeführern nicht um das eigentliche Verfahren ging, sondern um die Leistungsbewertung (BVerfGE 84, 34, 46) und damit um die Frage, ob sie in ihrem Berufsweg durch eine „schlechte Bewertung" in der Sache Nachteile erleiden. In dem noch am ehesten vergleichbaren Fall des Rundfunkstaatsvertrags (BVerfGE 90, 60 ff) schließlich ging es dem (1.) Senat darum, mehrere verschiedenartige Interessenlagen auszugleichen und dabei vor allem die Einflußnahme des Staates auf den Rundfunk zu begrenzen: Er wollte vermeiden, daß der öffentlich-rechtliche Rundfunk in seiner Konkurrenzsituation, in welcher seine Werbeeinnahmen sanken und seine Ausgaben stiegen (vgl. BVerfGE 90, 60, 101), bei den Gebühreneinnahmen in eine „sachwidrige" Abhängigkeit vom Staat geriet; die Gefahr sah der Senat darin, daß der Staat, der zwar Vorgaben über die Rundfunkgesetzgebung machen darf, auch die Gebührenfestsetzung zum Anlaß nehmen könnte, „Rundfunkpolitik" zu betreiben, ohne daß man das der Gebühr später ansehen werde (vgl. BVerfGE 90, 60, 94 f). Andererseits wollte der Senat auch den Rundfunkteilnehmer vor überhöhten Gebühren schützen (vgl. BVerfGE 90, 60,102f). Um diese unterschiedlichen Interessen zum Ausgleich zu bringen, hielt es das Bundesverfassungsgericht für notwendig, ein Verfahren zu verlangen, das einerseits der Finanzbedarfsschätzung der Anstalten größere Bedeutung beimißt, den Staat auf Neutralität verpflichtet und die Kontrolle über die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit als rein fachliche Prüfung ausgestaltet.
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Die vom Staatsgerichtshof Baden-Württemberg zitierten Einzelpassagen (BVerfGE 90, 60, 95, 96, 102) müssen in diesen Gesamtzusammenhang gestellt werden. Vergleichbar ist dann allein, daß das Bundesverfassungsgericht im Rundfunkrecht ein Spannungsverhältnis von Programmfreiheit der Rundfunkanstalten und finanzieller Gewährleistungspflicht des Staates (BVerfGE 90, 60, 99) beschrieben hat, das Ähnlichkeiten mit kommunaler Autonomie und Finanzierungspflicht des Staates bei Art. 88 Abs. 1 LSA-Verf hat; unvergleichbar ist aber der Hintergrund im übrigen. Eine „Interessen-Pluralität" wie diejenige zwischen öffentlich-rechtlichem Rundfunk (Art. 5 Abs. 1 GG) und privaten Anbietern (Art. 5 Abs. 1; 12 Abs. 1; 14 Abs. 1 GG) einerseits, dem Verbraucher (Art. 2 Abs. 1; 20 Abs. 3 GG) und dem Staat andererseits liegt bei den Finanzausgleichsfragen nicht vor; hier geht es - in einem „eindimensionalen" Verhältnis — allein darum, daß die Kommunen vom Land in den Stand gesetzt werden, ihre Aufgaben iSd Art. 88 Abs. 1 GG „angemessen" erfüllen zu können. Die Unvergleichbarkeit der zitierten, vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Einzelfälle mit dem kommunalen Finanzausgleich, wie er fur Sachsen-Anhalt durch einerseits Art. 87 Abs. 3 LSA-Verf und andererseits Art. 88 Abs. 1, 2 LSA-Verf geregelt ist, läßt keinen „allgemeinen Grundsatz" zu, der gebieten könnte, es bedürfe zur Ausfüllung des materieMen Verfassungsrechts eines vom Landesgesetzgeber zu erlassenden „Verfahrensgesetzes". Dessen Fehlen müßte zudem selbst dann zur Verfassungswidrigkeit des Finanzausgleichs fuhren, wenn die Kommunen in der Sache ausreichend mit Zuwendungen versehen worden sind und die Verfassung „materiell" gar nicht verletzt ist. Das Landesverfassungsgericht teilt zudem den Ansatz nicht, jegliche Kontrollentscheidung greife unzulässigerweise in einen weiteren Gestaltungsraum des Landesgesetzgebers oder sogar in die Autonomie der Kommunen ein (StGH BW, aaO, S. 39); denn ein „Gestaltungsspielraum" kann nur bestehen, soweit die Verfassung ihn dem Gesetzgeber einräumt, nicht aber über durch die Verfassung („materiell") gezogene Grenzen hinaus. Auf die Grenzen zu achten und bei Grenzüberschreitungen einzugreifen, ist Pflicht des Verfassungsgerichts. Der Gestaltungsraum ist außer durch die allgemeinen Grundsätze (vgl. bereits oben bei Nr. 2.1.1.2 der Entscheidungsgründe) bei Art. 87 Abs. 3 LSA-Verf dadurch begrenzt, daß eine Kostendeckungsregelung gesondert durch Gesetz zu treffen und dabei die „Interessenquote" zu bestimmen ist, sowie bei Art. 88 Abs. 1 LSA-Verf vor allem dadurch, daß die Gleichwertigkeit der Landes- und der Kommunalaufgaben beachtet werden muß. Selbst wenn es ein „Verfahrensgesetz" gäbe, müßte dies — wollte es der Verfassung genügen — die Entscheidungskompetenz dem Landesgesetzgeber überlassen; außerdem könnte es die anschließende verfassungsrechtliche Kontrolle keinesfalls ersetzen. Zudem ist nicht ersichtlich, daß bei der Vorbereitung des Gesetzesbeschlusses etwa die Behörden der Kommunalaufsicht (vgl. StGH BW, aaO, S. 46), die der Regierung verantwortlich sind, größere Unabhängigkeit besitzen und deshalb walten lassen können, als die Mitglieder eines Landtagsausschusses. LVerfGE 11
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 32 Abs. 1, 3 LSA-VerfGG. Soweit der Beschwerdeführer mit der Verfassungsbeschwerde durchdringt, werden seine Kosten erstattet; diesen Anteil bewertet das Gericht mit einem Viertel.
Nr. 2 1. Gegenstand von „Beschwerdeverfahren" nach § 30 Abs. 1, 3 des Volksabstimmungsgesetzes (LSA-VAbstG) können nur „Annahme-Entscheidungen" nach §§ 7 oder 11 LSA-VAbstG sein. 2. § 52 des Landesverfassungsgerichtsgesetzes (LSA-VerfGG) erfaßt im übrigen alle nach Art. 75 Nr. 2 der Landesverfassung (LSA-Verf) statthaften Verfahren. 3. Außerhalb des § 30 LSA-VAbstG ist das Verfahren nach § 52 LSALVerfGG innerhalb von sechs Monaten einzuleiten. Die Frist beginnt mit der Bekanntgabe der Maßnahme zu laufen, welche den Beschwerdeführer erstmals beschwert. 4. Weder aus Art. 80 Abs. 1 S. 2 LSA-Verf selbst noch aus § 9 Abs. 3 LSAVAbstG folgt, daß über den Wortlaut des Art. 77 Abs. 2 LSA-Verf hinaus auch die Volksinitiative, welche einen Gesetzentwurf vorlegt, bereits dadurch ein förmliches Gesetzgebungsverfahren einleiten kann. Die „Befassung" mit dem Gesetzentwurf einer Volksinitiative kann nur dann mit einem Gesetzesbeschluß oder mit einer förmlichen Ablehnung enden, wenn der dem Landtag vorgelegte Entwurf zuvor durch einen nach Art. 77 Abs. 2 LSA-Verf Initiativberechtigten eingebracht worden war. Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt Art. 75; 77; 80; 81,82 Landesverfassungsgerichtsgesetz § 52 Volksabstimmungsgesetz des Landes §§ 7; 9; 11; 30; 32 Urteil vom 29. August 2000 - LVG 1/00 in einer Streitigkeit über die Durchführung von Volksinitiativen, Volksbegehren, Volksentscheiden nach § 52 des Landesverfassungsgerichtsgesetzes vom 23.08.1993 (LSAGVB1. S. 441).
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Entscheidungsformel: Die Beschwerde wird verworfen. Die Entscheidung ergeht gerichtskostenfrei. Das Land hat die den Beschwerdeführern entstandenen außergerichtlichen Kosten zur Hälfte zu erstatten. Gründe: I. 1. Die Beschwerdeführer sind als vier Eltern und als eine Erzieherin Vertrauenspersonen der Volksinitiative „Für die Zukunft unserer Kinder", die sich bildete, nachdem der Landtag am 18. Februar 1999 beschlossen hatte, die Bedingungen für die Kinderbetreuung durch Novellierung des entsprechenden Gesetzes mit Wirkung zum 1. August 1999 zu verändern. Die Volksinitiative sah in der Novellierung eine erhebliche Verschlechterung für die betreuenden Einrichtungen. Durch den aus drei Paragraphen bestehenden Gesetzentwurf vom 13. März 1999 sollte der Landtag angehalten werden, den bisherigen Betreuungsstand aufrecht zu erhalten. Das Gesetz zur Förderung und Betreuung von Kindern in Tageseinrichtungen in der Fassung des Gesetzes vom 17. Dezember 1996 sollte über den 31. Juli 1999 hinaus in Kraft bleiben sowie das entgegenstehende Gesetz aufgehoben werden. Die erforderliche Zahl der Unterschriften wurde erreicht. Der Beschwerdegegner zu 1 stellte deshalb die Zulässigkeit der Initiative fest und machte dieses Ergebnis sowie das Anliegen der Volksinitiative im Ministerialblatt bekannt (Bek. v. 25.5.1999 — LSAMB1886). Der Beschwerdegegner zu 1 „unterrichtete" die Mitglieder des Landtags durch die Drs. Nr. 3/1650 am 16. Mai 1999 über den Gesetzentwurf und dessen Begründung. In der (22.) Landtagssitzung vom 17. Juni 1999 fand eine so bezeichnete „Erste Beratung" zum Gegenstand Parlamentarische Behandlung der Volksinitiative „Für die Zukunft unserer Kinder" statt. Der Landtag verwies den „Gesetzentwurf' schließlich mit Mehrheit an die Ausschüsse für Gleichstellung, Kinder, Jugend und Sport (federführend) sowie für Inneres. Der federführende Ausschuß beriet in einer Sondersitzung vom 14. Juli 1999 über das weitere Verfahren. Einen Antrag, den Initiativ-Entwurf förmlich als Gesetzgebungsverfahren zu behandeln, lehnte der Ausschuß mehrheitlich ab und beschloß eine Anhörung zu allen mit der Novellierung des Kinderbetreuungsrechts zusammenhängenden Fragen durchzuführen. An der auf den 24. September 1999 festgesetzten Anhörung nahmen u.a. auch die Beschwerdeführer teil. In weiteren Sitzungen vom 15. Oktober und 5. November 1999 wurden Möglichkeiten diskutiert, mit dem Anliegen der Volksinitiative umzugehen. In LVerfGE 11
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der Plenarsitzung vom 17. Dezember 1999 beschloß der Landtag, ein förmliches Gesetzgebungsverfahren nicht durchzuführen. Das Ergebnis machte der Beschwerdegegner zu 1 bekannt (Bek. v. 22.12.1999 — LSA-MB1 Nr. 4 v. 26.1.2000 - Jhrg. 2000, S. 67) und teilte es den Beschwerdeführern am 22.12.1999 mit. Die Beschwerdeführer haben am 21. Januar 2000 einen Antrag auf Entscheidung nach § 30 LSA-VAbstG gestellt und mit Schriftsatz vom 15. Juni 2000 prozessuale Ansprüche ausdrücklich auch gegen den Landtag selbst erhoben. Sie machen geltend: Die Beschwerdegegner seien zunächst nach § 9 Abs. 3 LSAVAbstG verfahren und hätten eine Anhörung durch das Plenum und nicht durch den Petitionsausschuß vorgenommen, wie das nach § 9 Abs. 2 LSA-VAbstG für die Fälle einer Volksinitiative ohne Gesetzentwurf vorgesehen sei. Jedenfalls müsse festgestellt werden, daß der bisherige Ablauf rechtswidrig sei; daran bestehe auch ein Interesse, weil für die Volksinitiative völlig unklar sei, ob sie auf diesem Weg dem Landtag einen Gesetzentwurf unterbreiten könne. Das gelte auch für denkbare Anliegen anderer Initiativen. Das vom Landtag eingeschlagene Verfahren verstoße gegen Art. 80 Abs. 1, 3; 2 Abs. 1 der Landesverfassung. Es bestehe kein Widerspruch zu Art. 77 Abs. 2 LSA-Verf. Es sei zu vermuten, daß die Landtagsmehrheit ausschließlich aus politischen Gründen von der rechtlich geschuldeten Behandlung abgewichen sei. Wenn verfassungsrechtliche Bedenken beständen, habe der Landtag das Gesetz förmlich zu ändern und könne sich nicht von dessen Beachtung freizeichnen. Die Beschwerdeführer beantragen, festzustellen, 1. daß der Landtag die Rechte der Antragsteller aus Art. 80 Abs. 1 und 3 der Landesverfassung (LSA-Verf) in Verbindung mit § 9 Abs. 3 des Volksabstimmungsgesetzes (LSA-VAbstG) vom 09.08.1995 (LSA-GVB1., S. 232) und dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 2 Abs. 1 LSA-Verf) dadurch verletzt hat, daß er es unterlassen hat, zum Gegenstand der Volksinitiative (LT-Drs. 3/1650) zu beraten und Beschluß zu fassen, 2. daß der Präsident des Landtags die Rechte der Antragsteller aus Art. 80 Abs. 1 und 3 LSA-Verf iVm § 9 Abs. 3 LSA-VAbstG und dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 2 Abs. 1 LSA-Verf) dadurch verletzt hat, daß er es unterlassen hat, den Gegenstand der Volksinitiative zur Beratung und Abstimmung (Beschlußfassung) zu stellen und daß er mit dem an die Vertrauenspersonen gerichteten Schreiben vom 22. Dezember 1999 den Abschluß der Befassung des Landtages mit der Volksinidative festgelegt und eine abermalige Zuleitung der Vorlage der Volksinitiative an den Landtag unterlassen hat, 3. daß § 9 Abs. 3 des LSA-VAbstG mit Art. 77 Abs. 2 LSA-Verf vereinbar ist, hilfsweise, den Präsidenten des Landtages zu verpflichten, die angenommene Volksinitiative, die einen Gesetzentwurf zum Gegenstand hat, abermals dem Landtag zur Behandlung entsprechend den §§ 23 ff der Geschäftsordnung des Landtags vorzulegen, LVerfGE 11
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und ganz hilfsweise, festzustellen, daß die Behandlung durch den Landtag von Sachsen-Anhalt und seinen Präsidenten mit Art. 80 LSA-Verf iVm § 9 Abs. 3 des LSA-VAbstG sowie mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 2 Abs. 1 LSA-Verf) unvereinbar und daher rechtswidrig ist. Die Beschwerdegegner beantragen, die Anträge zu verwerfen. Der Beschwerdegegner zu 1 hat der Antragsänderung nicht zugestimmt. Die Beschwerdegegner entgegnen: Die Beschwerde sei weder mit ihrem Hauptnoch mit ihrem Hilfsantrag zulässig. Sie könne nach § 30 LSA-VAbstG nur gegen positive Entscheidungen des Landtagspräsidenten gerichtet werden und diesen zu keiner Handlung verpflichten. Abgesehen davon habe das eingeschlagene Verfahren der Landesverfassung entsprochen. Es sei auch bei verfassungskonformer Auslegung des Volksabstimmungsgesetzes mit diesem vereinbar gewesen. Das „Befassen" mit einem Gesetzentwurf verlange einen Beschluß zur Sache nur, wenn dieser beantragt werde; einen solchen Antrag könnten nur die zu einer Gesetzesinitiative Berechtigten stellen. Die Landesregierung hat sich nicht geäußert. II. Die (ursprüngliche, allein gegen den Präsidenten des Landtags gerichtete) Beschwerde ist unzulässig und deshalb zu verwerfen (1.). Die Erweiterung der Beschwerde ist als Antragsänderung nicht sachdienlich (2.). 1. Der (mit dem ursprünglichen Begehren) als „Beschwerde" zu behandelnde „Antrag auf Entscheidung" (1.1) ist nicht nach § 30 Abs. 1 des Gesetzes über das Verfahren bei Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid (Volksabstimmungsgesetz) - LSA-VAbstG - vom 9.8.1995 (LSA-GVBL, S. 232) zulässig (1.2). Er erfüllt auch nicht die Voraussetzungen des § 52 des Gesetzes über das Landesverfassungsgericht — LSA-VerfGG - vom 23.8.1993 (LSA-GVB1., S. 441), geändert durch Gesetze vom 14.6.1994 (LSA-GVB1., S. 700) und vom 22.10.1996 (LSA-GVB1., S. 332) (1.3) oder sonstiger Regelungen über statthafte Anträge (1.4). 1.1 Der ursprünglich gestellte Antrag ist als „Beschwerde" iSd § 30 Abs. 1, 3 LSAVAbstG zu verstehen; denn er ist als „Antrag auf Entscheidung" (nach dieser Bestimmung) überschrieben, knüpft verfahrensrechtlich an die Mitteilung des Beschwerdegegners zu 1 nach dem Volksabstimmungsgesetz an und begründet einen im wesentlichen aus dem Volksabstimmungsgesetz (§ 9 Abs. 3 LSA-VAbstG - mit Verweisung auf die Geschäftsordnung) hergeleiteten Anspruch, den Beschwerdegegner zu 1 zu verpflichten, ein Verhalten zu korrigieren, durch das sich die Volksinitiative
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benachteiligt sieht. Anhaltspunkte dafür, daß von vornherein umfassend ein von § 30 LSA-VAbstG unabhängiges Verfahren nach § 52 LSA-VerfGG, eine Verfassungsbeschwerde oder eine Organstreitigkeit beabsichtigt war, enthält das anfängliche Begehren formell nicht. Das hindert das Landesverfassungsgericht zwar nicht, auch den späteren Vortrag einzubeziehen und umfassend zu prüfen, ob das Begehren (§ 88 VwGO iVm § 33 Abs. 2 LSA-VerfGG) nach anderen Bestimmungen Erfolg haben kann und deshalb umgedeutet werden muß; da dies aber ausscheidet, wird formell an der Bezeichnung des ursprünglichen Gegenstands („Beschwerde") festgehalten. Das mit dem bestimmenden Schriftsatz vom 20. Januar 2000 zur Prüfung gestellte Begehren wird durch die dort mit Haupt- und Hilfsantrag bezeichneten Anträge näher bestimmt und ist durch den in der mündlichen Verhandlung gestellten Hauptantrag Nr. 2 präzisiert worden. 1.2 Das Begehren, der Beschwerdegegner zu 1 möge das Anliegen der Volksinitiative abermals dem Landtag zur richtigen Behandlung vorlegen, betrifft keine Entscheidung iSd § 30 Abs. 1, 3 LSA-VAbstG. Wie bereits der hier verwendete Gesetzesbegriff „Beschwerde" deutlich macht, kann nur eine bereits getroffene Entscheidung des Landtagspräsidenten zur Prüfung gestellt werden. Das bestätigt sich durch die Regelungen der Absätze 1 und 3 dieser Bestimmung; denn die nach Abs. 1 zu erhebende Rüge ist als „Beanstandung" zu verstehen und führt, wenn sie erfolgreich ist, dazu, daß die Entscheidung durch das Landesverfassungsgericht ersetzt wird (Abs. 3). Damit ist nicht zugleich auch eine „Untätigkeitsklage" (entsprechend § 75 VwGO) verbunden; denn § 30 Abs. 3 LSAVAbstG unterscheidet sich gerade beim gerichtlichen Ausspruch von der Verpflichtungsklage des Verwaltungsprozesses (§113 Abs. 5 VwGO — keine originäre Regelung bereits durch das Gericht, sondern nur eine Verpflichtung der Behörde zur Regelung). Nach dem Wortlaut des § 30 Abs. 1 S. 1 VAbstG kommt dem Gericht aber nicht die Befugnis zu, den Landtagspräsidenten anzuhalten, eine Entscheidung überhaupt erst zu treffen. Der Hauptantrag der Beschwerdeführer aus dem ursprünglichen Schriftsatz vom 20. Januar 2000 geht selbst nicht davon aus, daß - wie das eigentlich durch § 30 Abs. 3 LSA-VAbstG vorgegeben ist — das Landesverfassungsgericht befugt sein könnte, unmittelbar an Stelle des Beschwerdegegners zu 1 eine weitere parlamentarische Beratung zu „verfügen", sondern beschränkt sich auf eine Verpflichtung, die allerdings mit dem System des § 30 Abs. 1, 3 LSA-VAbstG nicht zu vereinbaren ist. Das Begehren, eine neue parlamentarische Beratung einzuleiten, verlangt außerdem keine Entscheidung auf Grund des Volksabstimmungsgesetzes, wie es der Wortlaut des § 30 Abs. 1 S. 1 LSA-VAbstG fordert, sondern bezieht sich allein auf die Geschäftsordnung des Landtages von Sachsen-Anhalt - LdTgGO — (idF v. 21.07.1994 — Bek. v. 18.10.1994 - LSA-MB1 2753, geändert durch Beschlüsse vom 22.7.1994, 29.4. 1995 und vom 4.5.1995 — unveröffentlicht). Die Entscheidung, eine neue Beratung LVerfGE 11
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einzuleiten, wird auch nicht deshalb zu einer Maßnahme auf Grund des Volksabstimmungsgesetzes, weil § 9 Abs. 3 LSA-VAbstG auf die Geschäftsordnung verweist; denn dem stehen die unterschiedlichen Regelungen in einerseits § 9 Abs. 3 LSA-VAbstG und andererseits § 30 Abs. 1 LSA-VAbstG entgegen: Adressat der Handlungsanweisung nach § 9 Abs. 3 S. 1 LSA-VAbstG, die Volksinitiative entsprechend den Bestimmungen zu Gesetzentwürfen zu behandeln, ist nicht der Präsident, sondern allein der Landtag; nicht dessen, sondern nur des Präsidenten Handlungen sind aber „beschwerdefähig" (§ 30 Abs. 1 S. 1 LSA-VAbstG). Wordaut und Sinn des § 30 Abs. 1, 3 LSA-VAbstG zwingen deshalb zu der Auslegung, daß nur die Annahme-„Entscheidungen" der gerichtlichen Kontrolle unterliegen sollen, die im Fall der Volksinitiative nach § 7 LSA-VAbstG der Landtagspräsident und im Fall des Volksbegehrens nach § 11 Abs. 1 LSA-VAbstG die Landesregierung trifft. Dies wird durch Art. 81 Abs. 2 LSA-Verf für das Volksbegehren bestätigt; hier gibt die Verfassung selbst vor, daß die Landesregierung über die Annahme befindet und daß diese Entscheidung vom Landesverfassungsgericht überprüft werden kann. Die Regelung des Volksabstimmungsgesetzes für die Fälle des Art. 80 LSA-Verf, die im § 30 LSA-VAbstG mit der Kontrollanordnung für Art. 81 Abs. 2 LSA-Verf in derselben Bestimmung verbunden worden ist, geht schon deshalb von derselben Systematik aus. § 30 Abs. 1 LSA-VAbstG muß nicht mit Rücksicht auf § 9 Abs. 3 S. 1 LSAVAbstG oder auf Art. 80 Abs. 1 der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt — LSAVerf - vom 16.7.1992 (LSA-GVB1., S. 600) erweiternd dahin ausgelegt werden, daß der Präsident für das Verfahren vor dem Landtag gleichsam „verantwortlich" gemacht werden kann; denn das würde seiner Stellung innerhalb des Parlaments nicht gerecht: Durch die Geschäftsordnung, auf die § 9 Abs. 3 S. 1 LSA-VAbstG verweist, erlangt der Präsident keine Rechte, die ihn ermächtigen könnten, verbindlich fur und gegen das Plenum eigenständig Entscheidungen zu treffen. Soweit ihm die Geschäftsordnung besondere Befugnisse zuweist (§ 5 LdTgGO), liegen sie in der Außenvertretung, in der Geschäftsführung, der Verhandlungsleitung, im Hausrecht und in der Verwaltung. Bezogen auf die Sitzungstätigkeit des Landtags hat dessen Präsident mit seiner Verwaltung (§§ 5 Abs. 3; 8 Abs. 1 LdTgGO) die Aufgabe, Sitzungen des Landtags lediglich vorzubereiten. Auch soweit der Präsident Sitzungen leitet (§ 5 Abs. 1 LdTgGO), bleibt die eigentliche Entscheidung eine solche des Plenums. Die Befugnisse gehen über die Einberufung (§ 55 Abs. 1 LdTgGO), die Erstellung der Tagesordnung (§ 55 Abs. 3 LdTgGO) und die rein verfahrensbezogene Leitung (§§ 58 ff LdTgGO) nicht hinaus. Selbst über Zeit, Ort und Tagesordnung bestimmt letztlich das Plenum (§ 55 Abs. 2 LdTgGO). Diese Kompetenzabgrenzungen halten sich im Rahmen der durch die Verfassung selbst vorgegebenen Zuständigkeiten des Landtagspräsidenten (vgl. für den Gegenstand der oben genannten Geschäftsordnungsregelungen: Art. 45 Abs. 1; 49 LSA-Verf). § 30 LSA-VAbstG muß auch nicht über seinen Wortlaut und Regelungsgehalt hinaus entsprechend auf Verfahrensgegenstände angewendet werden, die mit einer Volks-
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initiative zusammenhängen und eine Entscheidung des Landtags oder seines Präsidenten betreffen; denn unabhängig davon, ob die von den Beschwerdeführern gesehene „Lücke" im Rechtsschutz in Wahrheit bereits über Art. 75 Nr. 2 LSA-Verf und § 52 LSA-VerfGG „geschlossen" ist, wäre ein Verfassungsverstoß nicht zu erkennen, falls bestimmte Handlungen nicht verfassungsgerichtlich überprüft werden dürften. Art. 75 LSA-Verf geht nämlich von keinem umfassenden Rechtsschutz aus, sondern bezeichnet die Gegenstände, welche einer verfassungsrechtlichen Kontrolle unterliegen, abschließend. Soweit Art. 75 Nr. 8 LSA-Verf als „Öffnungsklausel" dem Landesgesetzgeber gestattet, den Katalog durch einfaches Gesetz zu erweitern — wie dies durch § 30 Abs. 1, 3 LSA-VAbstG für das bei der Volksinitiative iSd Art. 80 LSAVerf einzuhaltende Verfahren geschehen ist —, wird vorausgesetzt, daß die dadurch entstandene neue Gesamtregelung wiederum abschließend ist. Dies entspricht den Grundsätzen des Bundesrechts zur Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts, dessen Rechtsprechung deshalb übertragbar ist (BVerfGE 1,396,408/409: keine Befugnis des Verfassungsgerichts, sich als Hüter der Verfassung über die gesetzliche Regelung hinaus für zuständig zu halten; BVerfGE 22, 293, 298: keine außergerichtliche Zuständigkeit bei noch so dringendem rechtspolitischem Bedürfnis; ebenso: BVerfGE 38, 121,127). 1.3 Für die gegen den Landtagspräsidenten gerichtete Beschwerde kann offen bleiben, ob das Verfahren nach § 52 LSA-VerfGG denselben Umfang hat wie die Beschwerde nach § 30 LSA-VAbstG oder ob dieser Gegenstand nur ein denkbarer Fall innerhalb eines im übrigen durch Art. 75 Nr. 2 LSA-Verf weiter gespannten Rahmens ist — wovon unten bei Nr. 2.2.2.1 ausgegangen wird —; denn auch bei dieser Auslegung bleiben der Antrag, wie er am 20. Januar 2000 angekündigt und als Hilfsantrag aufrecht erhalten worden ist, und der Hauptantrag Nr. 2 unzulässig. Den Beschwerdeführern fehlt so offenkundig ein Recht, gerade vom Beschwerdegegner zu 1 die Einleitung einer nochmaligen parlamentarischen Beratung zu verlangen, daß bereits ein Rechtsschutzbedürfnis für ein gegen den Landtagspräsidenten gerichtetes Antragsverfahren nach § 52 LSA-VerfGG zu verneinen ist. Soweit Art. 75 Nr. 2 LSA-Verf auch einer konkreten Volksinitiative (bzw. einem Volksbegehren oder -entscheid) die Befugnis einräumt, zu beanstanden, daß der Volkswille rechtswidrig behindert werde, ist vorauszusetzen, daß eine Verletzung in eigenen Rechten jedenfalls möglich erscheint. Dies gilt für Verfassungsbeschwerden (vgl. Art. 75 Nrn. 6, 7 LSA-Verf und § 49 LSA-VerfGG sowie verweisend § 51 Abs. 2 LSAVerfGG) ebenso wie für die Organstreitigkeit des Art. 75 Nr. 1 LSA-Verf (vgl. dazu auch § 36 Abs. 1 LSA-VerfGG); soweit dort auf die eigenen „Zuständigkeiten" abgestellt ist, welche der Verfassungsverstoß berührt, hat das Landesverfassungsgericht dies wiederholt mit einer Verletzung in eigenen Rechten gleichgesetzt (vgl. LVerfG LSA, Urt. v. 29.5.1997 - LVG 1/96 - , LVerfGE 6,281,292, zuletzt: LVerfG LSA, Urt. v. 7.1.2000 - L V G 6/99-). LVerfGE 11
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Eine Verfassungsverletzung durch den Beschwerdegegner zu 1 liegt aber nicht vor; denn dieser hat nicht die Rechtsmacht, die bereits vom Landtag abgeschlossene Beratung aus eigenem Recht „zu beanstanden" oder „wieder aufzunehmen". „Herr des Verfahrens" ist der Landtag, der mit Mehrheit eine Rücküberweisung in die Fachausschüsse abgelehnt und in einer zweiten Beratung nur die vorbereitete Beschlußempfehlung des federführenden Ausschusses angenommen hat. Dem Beschwerdegegner zu 1 kam es dabei nach den oben zitierten Geschäftsordnungsbestimmungen nur zu, den Verfahrensgang zu leiten, nicht aber darüber hinaus, Verfahrensentscheidungen gegen die Landtagsmehrheit zu treffen. Daran ändert auch § 9 Abs. 3 LSA-VAbstG nichts; denn die Bestimmung gibt dem Landtagspräsidenten nicht mehr Rechte, als ihm nach der Geschäftsordnung zustehen, und nimmt deshalb konsequent den Landtag und nicht dessen Präsidenten in Pflicht. Aus § 72 LdTgGO folgt nichts anderes. Diese Bestimmung ermächtigt den Präsidenten nicht, dem Landtag mit Bindungswirkung für diesen Themen vorzulegen und ohne Vorgabe aus dem Landtag oder seinen Ausschüssen die Abstimmung über eine Gesetzesvorlage zu erzwingen. „Beschlußvorschlag" iSd Abs. 1 bedeutet — wie sich aus dem Klammerzusatz ergibt — nicht ausschließlich (Gesetzes-)Vorlage; Gegenstand der Abstimmung kann vielmehr sogar ein sonstiger Antrag oder Vorschlag sein. Daß die Formulierungskompetenz des die Sitzung leitenden Präsidenten dabei allein die Funktion hat, den Willen des Landtags herauszuarbeiten, macht Abs. 2 besonders deutlich. 1.4 Der als „Beschwerde" nach § 30 VAbstG zu wertende „Antrag" kann gegen den Beschwerdegegner zu 1 auch in keinen anderen Antrag umgedeutet werden, der nach dem Katalog des Art. 75 LSA-Verf statthaft sein könnte. So sind insbesondere die Regelungen über den Organstreit (Art. 75 Nr. 1 LSA-Verf) oder über die Verfassungsbeschwerde (Art. 75 Nr. 6 LSA-Verf) nicht anwendbar, weil der Gegenstand durch einerseits Art. 75 Nr. 2 LSA-Verf und § 52 LSA-VerfGG im Grundsatz sowie im Einzelnen durch Art. 75 Nr. 8 LSA-Verf iVm § 30 LSA-VAbstG besonders geregelt worden ist. Andere Verfahrensarten des Art. 75 LSA-VAbstG kommen offensichtlich nicht in Betracht. 2. Die Erweiterung der gegen den Beschwerdegegner zu 1 gerichteten Beschwerde (2.1) auf den Beschwerdegegner zu 2 ist als Antragsänderung zu behandeln und nicht sachdienlich (2.2). Einer (förmlichen) Entscheidung zur Gültigkeit des Volksabstimmungsgesetzes bedarf es nicht (2.3). 2.1 Entgegen der von den Beschwerdeführern vertretenen Auffassung richtet sich die ursprüngliche Beschwerdeschrift vom 21. Januar 2000 nur gegen den Landtagspräsidenten und nicht zusätzlich bereits gegen den Landtag. Das ergibt sich aus dem Wesen des Beschwerdeverfahrens nach § 30 Abs. 1, 3 LSA-VAbstG (vgl. dazu oben Nr. 1.1) ebenso wie aus der Bezeichnung der an dem Verfahren Beteiligten. Ein anderer Rückschluß kann auch aus dem dort angekündigten Hilfsantrag nicht gezogen LVerfGE 11
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werden; denn soweit die Beschwerdeschrift auch ein Fehlverhalten des Landtags rügt, rechnet sie es dessen Präsidenten zu. 2.2 Die Ausdehnung des Gegenstands ist als Antragsänderung entsprechend § 91 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) iVm. § 33 Abs. 2 LSA-VerfGG anzusehen, in welche der Beschwerdegegner zu 1 nicht eingewilligt hat (§91 Abs. 2 VwGO). Sie ist ungeachtet der Frage, ob mit dem insoweit bestimmenden Schriftsatz vom 15. Juni 2000 evtl. einzuhaltende Fristen noch haben gewahrt werden können — was nicht der Fall ist - , bereits deshalb nicht sachdienlich iSd § 91 Abs. 2 VwGO, weil das nunmehr insoweit durch den Hauptantrag Nr. 1 repräsentierte Begehren auch mit dem neuen Beschwerdegegner keinen Erfolg haben könnte, so daß bei Ablehnung der Antragsänderung kein neues Verfahren mit positivem Ausgang zu erwarten ist. Der Landtag kann nicht Gegner in einem Verfahren nach § 30 Abs. 1, 3 LSAVAbstG sein (2.2.1). Die Rüge der Beschwerdeführer, der Beschwerdegegner zu 2 habe gegen das bei einer „Gesetzentwurf-Volksinitiative" zu beachtende Verfahren verstoßen, würde ohne Erfolg bleiben (2.2.2). 2.2.1 Das Verfahren gegen den Beschwerdegegner zu 2 kann nicht als „Beschwerde· und Beanstandungsverfahren" nach § 30 Abs. 1, 3 LSA-VAbstG geführt werden; denn der Landtag ist nach Wortlaut und Sinn des § 30 Abs. 1, 3 LSA-VAbstG kein denkbarer Beteiligter. Wie sich bereits oben (Nr. 1.2) ergeben hat, unterwirft die Bestimmung abschließend nur die „Nicht-Annahme-Entscheidungen", die eine parlamentarischen Behandlung verhindern, der verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Eine Erweiterung auf andere Gegenstände und Beteiligte ist ausgeschlossen. 2.2.2 Auch ein gegen den Beschwerdegegner zu 2 gerichtetes Antragsverfahren nach § 52 LSA-VerfGG bliebe ohne Erfolg. § 52 LSA-VerfGG beschränkt die verfassungsrechtliche Kontrolle zwar nicht auf das „Beschwerde-"Verfahren des § 30 LSA-VAbstG (2.2.2.1); in den sonstigen Fällen muß aber die von den Beschwerdeführern versäumte Frist für Organstreitigkeiten eingehalten werden (2.2.2.2). Abgesehen davon ist kein Regelverstoß erkennbar (2.2.2.3). 2.2.2.1 Der Umfang der durch § 52 LSA-VerfGG nur ansatzweise geregelten verfassungsgerichtlichen Kontrolle bei Streitigkeiten über die Durchführung einer Volksinitiative und anderer Elemente unmittelbarer Demokratie ist allein Art. 75 Nr. 2 LSAVerf zu entnehmen. Der Verweis des § 52 S. 1 LSA-VerfGG auf die Regelungen im (einfachen) Ausführungsgesetz zu Art. 80 Abs. 3; 81 Abs. 6 LSA-Verf schließt andere Verfahren als solche nach § 30 LSA-VAbstG nicht aus; denn das Landesverfassungsgerichtsgesetz kann als einfaches Gesetz nicht hinter dem Umfang zurückbleiben, den Art. 75 Nr. 2 LSA-Verf vorbehaltlos gewährt. Eine Ermächtigung, den Standard des Art. 75 Nr. 2 LSA-Verf zu verkürzen, enthalten auch die Art. 80, 81 LSA-Verf nicht; denn dort sind der einfachen Gesetzgebung nur Regelungen über das
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einzuhaltende Verfahren, nicht aber auch über den Umfang der verfassungsgerichtlichen Verfahrenskontrolle vorbehalten, der allein durch Art. 75 Nr. 2 LSA-Verf bestimmt wird. Der Regelungsgehalt des Art. 75 Nr. 2 LSA-Verf geht über den besonderen Gegenstand des § 30 LSA-VAbstG hinaus. Die Verfassung unterwirft alle „Streitigkeiten über die Durchführung" (der Formen unmittelbarer Demokratie) einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Gegenstand dieser Prüfung können deshalb nicht nur Verstöße gegen die Verfassungsbestimmungen selbst sein, sondern die Verletzung aller Regelungen, zu denen die Verfassung den Gesetzgeber aus Anlaß von Verfahren unmittelbarer Demokratie ermächtigt hat. Soweit das tatsächliche Verfahren hinter den rechtlichen Anforderungen zurückbleibt und dadurch Rechte der Betroffenen verletzt sein können, ist die Kontrolle durch das Landesverfassungsgericht zugelassen. Damit tritt das Landesverfassungsgericht bei der durch Art. 75 Nr. 2 LSA-Verf auch eröffneten Kontrolle am Maßstab von Normen unterhalb des Verfassungsrangs nicht etwa in Konkurrenz zu den Verwaltungsgerichten (§ 40 Abs. 1 VwGO); denn die Verfahren zur Durchführung von Formen unmittelbarer Demokratie betreffen einen verfassungsrechtlichen Gegenstand, der nach § 40 Abs. 1 VwGO der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle entzogen ist. 2.2.2.2 Die Beschwerdeführer hatten indessen bereits am 20. Januar 2000 die Sechs-Monats-Frist versäumt; deshalb bleibt offen, ob statt auf die ursprüngliche Beschwerde auf den Zeitpunkt abgestellt werden müßte, zu welchem die Beschwerdeführer den Beschwerdegegner zu 2 in das Verfahren genommen haben. Auszugehen ist von § 36 Abs. 3 LSA-VerfGG. Die für Organstreitigkeiten bestimmte Frist gilt bei den nicht durch das besondere Volksabstimmungsgesetz geregelten weiteren Fällen entsprechend (2.2.2.2.1). Bereits die in der ersten Beratung am 17. Juni 1999 getroffene Entscheidung über das zu wahrende Verfahren hatte die Frist in Lauf gesetzt (2.2.2.2.2). 2.2.2.2.1 Die durch Art. 75 Nr. 2 LSA-Verf vorausgesetzten Streitigkeiten außerhalb des Volksabstimmungsgesetzes regelt § 52 LSA-VerfGG faktisch nicht. Lediglich für die Fälle des § 30 Abs. 1, 3 LSA-VAbstG sieht § 30 Abs. 2 LSA-VAbstG eine Monatsfrist vor; sie ist typisch für die gerichtliche Kontrolle auf Einzelentscheidungen hin (vgl. für die Wahlprüfung § 34 Abs. 2 LSA-VerfGG; vgl. im Bundesrecht § 70 BVerfGG — Anfechtung eines Bundesratsbeschlusses; § 93 Abs. 1 BVerfGG — allgemeine und kommunale Verfassungsbeschwerde; vgl. für den Verwaltungsprozeß §§ 70; 74 VwGO). Da das Landesverfassungsgerichtsgesetz zur Abwehr von möglichen Rechtsverletzungen auch längere (als M o n a t s f r i s t e n einräumt, kann § 30 Abs. 2 LSAVAbstG kein für alle Fälle des § 52 LSA-Verf gültiger Grundsatz entnommen werden. Die insoweit bestehende Regelungslücke ist durch einen Rückgriff auf die Vorschriften über die rechtsähnliche Organstreitigkeit zu schließen; denn die Streitigkeiten nach Art. 75 Nr. 2 LSA-Verf sind faktisch als Organstreitigkeiten des Volks mit anderen Ver-
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fassungsmstitutionen konstruiert. Das ergibt sich zunächst aus der organähnlichen Stellung des Volkes im Verhältnis zu den Verfassungsorganen; über Art. 80, 81 LSAVerf nimmt das Volk unmittelbaren Einfluß teils auf das Gesetzgebungsorgan, teils auf die Gesetzgebung selbst und tritt in diesem Umfang neben den Landtag oder an dessen Stelle. Eine deutliche Parallele besteht auch bei den Verfahrensbeteiligten; nach Art. 75 Nr. 2 LSA-Verf können außer den Betroffenen selbst auch die Landesregierung und der Landtag Antragsteller sein, ohne daß (im Vergleich zwischen Art. 75 Nrn. 1 und 2 LSA-Verf) die Unterschiede beim Parlament (bei Art. 75 Nr. 2 LSA-Verf ist eine qualifizierte Minderheit notwendig, bei Art. 75 Nr. 1 LSA-Verf sind auch mit eigenen Rechten ausgestattete Teile des Landtags beteiligungsfähig) ins Gewicht fallen. 2.2.2.2.2 Die Sechs-Monats-Frist war bereits zum Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung am 20. Januar 2000 abgelaufen, weil die von der Volksinitiative beanstandete Maßnahme schon am 17. Juni 1999 getroffen und den in dieser Sitzung anwesenden Vertrauenspersonen, den Beschwerdeführern, zu diesem Zeitpunkt auch bekannt geworden war. Die von der Mehrheit der Abgeordneten am 17. Juni 1999 getragene (Leit-)Entscheidung der ersten Plenarsitzung legte das spätere Verfahren fest. Den Mehrheitsentscheidungen in den späteren einzelnen Verfahrensschritten kommt keine eigenständige Bedeutung zu; denn sie hielten sich innerhalb dieser Leitentscheidung, und es ist nicht ersichtlich oder geltend gemacht, daß einer der Ausschuß- oder Plenarbeschlüsse hinsichtlich der beanstandeten Behandlung des Anliegens eine neue, eigenständige Beschwer enthalten hat. Das gilt sowohl fur vorbereitende Entscheidungen der befaßten Ausschüsse als auch für die Abstimmung im Landtag bei der zweiten Beratung am 17. Dezember 1999 (oder für die Bekanntgabe dieses Ergebnisses an die Beschwerdeführer). Das Landesverfassungsgericht schließt sich hierbei der zur „Organstreitigkeit" entwickelten Auffassung des Bundesverfassungsgerichts an, die es wegen der oben aufgezeigten Ähnlichkeit beider Verfahrensarten für übertragbar hält (vgl. deshalb: BVerfGE 80, 188, 210; 84, 304, 320). Wie in den dort entschiedenen Fällen gilt auch hier, daß sich die „konsequente" Durchführung eines für unrichtig gehaltenen Verfahrens nicht bei jedem Verfahrensabschnitt jeweils wieder als neue Verletzung darstellt, sondern ihre Wirkung nur durch den entsprechenden (ersten) Beschluß entfaltet, auf dem das weitere Verfahren dann lediglich beruht. 2.2.2.3 Abgesehen davon mußte der Landtag das Anliegen der Volksinitiative nicht als Gesetzentwurf behandeln. Einer Volksinitiative iSd Art. 80 Abs. 1 S. 2 LSA-Verf steht kein Initiativrecht iSd Art. 77 Abs. 2 LSA-Verf zu (2.2.2.3.1). Das Volksabstimmungsgesetz ist verfassungskonform auslegbar (2.2.2.3.2). Die „Befassungspflicht" nach Art. 80 Abs. 1 S. 1 LSAVerf führt in den Fällen des Art. 80 Abs. 1 S. 2 LSA-Verf nicht außerhalb des „Initiativrechts" nach Art. 77 Abs. 2 LSA-Verf zu einer gleichwertigen Verfahrensstellung (2.2.2.3.3). LVerfGE 11
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2.2.2.3.1 Wenn Art. 77 Abs. 2 LSA-Verf bestimmt, daß ein durch ein Volksbegehren vorgelegter Gesetzentwurf einem solchen gleichsteht, der durch die Landesregierung oder aus der Mitte des Landtags vorgelegt wird, gilt dies nicht auch für den Gesetzentwurf einer Volksinitiative im Fall des Art. 80 Abs. 1 S. 2 LSA-Verf. Die Aufzählung des Art. 77 Abs. 2 LSA-Verf ist abschließend, wie sich aus der Systematik der Regelungen über die unmittelbare Mitwirkung des Volkes ergibt. Während nach Art. 80 Abs. 1 S. 2 LSA-Verf die Volksinitiative einen mit Gründen versehenen Gesetzentwurf zum Inhalt haben kann — dieser also nur einen Unterfall der Initiative bildet - , ist beim Volksbegehren kein anderer Gegenstand möglich (Art. 81 Abs. 1 LSA-Verf). Wenn gleichwohl auch dort das Wort „kann" verwendet ist, kennzeichnet es nicht Varianten des Inhalts, sondern allein des „Autors" und bedeutet, daß Gesetzgebung auch unmittelbar vom Volk — alternativ zum Landtag — ausgehen kann. Das Volksbegehren ist dann der „erste Schritt" zum Gesetz {Mahnke LVerf, Art. 81 Rn. 1) und hat deshalb dasselbe Gewicht wie eine von der Landesregierung oder einem Teil des Landtags ausgehende Gesetzesinitiative. Die Gleichsetzung des Volksbegehrens im Art. 77 Abs. 2 LSA-Verf mit den anderen Gesetzesinitiativen ist auch deshalb zwingend, weil dem Gesetzentwurf des Volksbegehrens nach Art. 81 Abs. 1 LSA-Verf ein besonderes verfahrensrechtliches Gewicht zukommt. Der Landtag ist im Gegensatz zum Gesetzentwurf der Volksinitiative von Verfassungs wegen nicht sanktionslos frei, ob er den Entwurf beschließt, ablehnt oder ihn mit Änderungen versieht; denn er „riskiert" einen Volksentscheid, wenn er den Entwurf nicht behandelt oder nicht so annimmt, wie er „eingebracht" worden ist (Art. 81 Abs. 3 LSA-Verf), und kann seine, vom Volksbegehren abweichende politische Meinung nur durchsetzen, indem er einen eigenen Gesetzentwurf zum Volksentscheid vorlegt (§ 81 Abs. 4 LSA-Verf). Dieser „Gegenentwurf' kann nach den Regeln des Art. 77 Abs. 2 LSA-Verf nur durch die Landesregierung oder aus der Mitte des Landtags initiiert werden. Soweit Art. 81 Abs. 2 LSA-Verf bestimmt, das Volksbegehren sei bei der Landesregierung anzubringen, welche es mit ihrer Stellungnahme unverzüglich an den Landtag weiterleitet, wird die Landesregierung in das Gesetzgebungsverfahren nur zur Prüfung formaler Fragen sowie zur Abgabe einer Stellungnahme einbezogen (Art. 81 Abs. 2 LSA-Verf), ohne daß ihr damit — wie beim eigenen Initiativrecht des Art. 77 Abs. 2 LSA-Verf - die Macht eingeräumt wäre, den Entwurf auch inhaltlich zu gestalten. Demgegenüber ist die Volksinitiative, auch wenn sie einen Gesetzentwurf vorlegt, keine unmittelbare Beteiligung des Volkes an der Gesetzgebung, sondern nur ein Unterfall des Art. 80 Abs. 1 S. 1 LSA-Verf. Art. 80 Abs. 1 S. 2 LSA-Verf eröffnet dem Volk lediglich die Möglichkeit, den Landtag auch mit einem fertigen Gesetzentwurf zu befassen. Es handelt sich nur um einen besonders genannten Gegenstand, für den aber die allgemeinen Regeln des Art. 80 Abs. 1 LSA-Verf gelten. Die Bürgerschaft kann sich durch dieses Mittel zu Fragen der politischen Willensbildung, die sie bewegt, äußern {Mahnke aaO, Art. 80 Rn. 2).
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Daß die im Verfassungstext gemachten Unterschiede zwischen den Gesetzentwürfen einerseits einer Volksinitiative und andererseits eines Volksbegehrens keine den Art. 77 Abs. 2 LSA-Verf ausfiillbare Lücke begründen, die im Weg der Analogie geschlossen werden könnte, bestätigen die unterschiedlichen Quoren für das jeweilige Instrument der unmittelbaren Volksmitwirkung und zusätzlich das vom Gegenstand unabhängige einheitliche Quorum für die Volksinitiative: Während für jede, also auch für die Gesetzes-Volksinitiative 35 000 Unterschriften genügen (Art. 80 Abs. 2 LSAVerf), bedarf das (Gesetzes-)Volksbegehren der Unterstützung durch 250 000 Wahlberechtigte (Art. 81 Abs. 1 S. 4 LSA-Verf). Diese sich aus dem Wortlaut und der Systematik ergebende Auslegung der Art. 77 Abs. 2; 80 Abs. 1 LSA-Verf entsprach auch dem Willen des Verfassunggebers (wird ausgeführt). Der Katalog des Art. 77 Abs. 2 LSA-Verf ist schließlich entgegen dieser Verfassungslage nicht deshalb erweiterbar, weil Art. 80 Abs. 3 LSA-Verf es dem einfachen Gesetz überläßt, das Nähere zu bestimmen. Anders als im Fall des Art. 75 Nr. 8 LSAVerf, in welchem die Verfassung den Gesetzgeber ermächtigt, sachliche Erweiterungen des Verfahrenskatalogs vorzunehmen, darf das Landesgesetz zu Art. 80 Abs. 3 LSAVerf nur innerhalb des von der Verfassung zwingend vorgegebenen Rahmens Einzelheiten näher ausführen, ohne dabei Verfahrenspositionen einräumen zu können, welche die Verfassung nicht zuläßt. 2.2.2.3.2 Das Volksabstimmungsgesetz trägt dem Rechnung und wäre anderenfalls verfassungskonform auszulegen. Während § 19 LSA-VAbstG bei Volksbegehren die Vorlage des bei der Landesregierung eingegangenen „Gesetzentwurfs" an den Landtag vorsieht (Abs. 1 — insoweit nur die Verfassungsvorgabe wiederholend —) und regelt (Abs. 2), daß für das weitere Verfahren die Bestimmungen über die Behandlung von Gesetzentwürfen zu gelten haben, verlangt § 9 Abs. 3 S. 1 LSA-VAbstG bei den Gesetzes-Volksinitiativen nur eine Behandlung „entsprechend den Bestimmungen der Geschäftsordnung zu Gesetzentwürfen". Die damit auch in Bezug genommenen Regelungen der Geschäftsordnung über das Initiativrecht bei Gesetzen kennen aber — voll im Einklang mit Art. 77 Abs. 2 LSA-Verf — nur das Einbringungsrecht der Landesregierung, einer Fraktion, einer Gruppe von acht Abgeordneten oder durch ein Volksbegehren (nicht auch durch eine Volksinitiative). Im übrigen gibt § 9 Abs. 3 S. 2 LSA-VAbstG bloß den Vertrauensleuten der Volksinitiative ein Anhörungsrecht, während der Entwurf des Volksbegehrens nach Art. 81 Abs. 3, 4 LSA-Verf die Rechtsmacht hat, sich „durchzusetzen", falls der Landtag keinen eigenen Entwurf „einbringt" und beschließt; allein deshalb sieht § 19 Abs. 2 LSA-VAbstG die Beratung nach den allgemeinen Regeln über Gesetze vor. Daß die „Befassung" mit dem Volksinitiativ-Gesetzentwurf iSd Art. 80 Abs. 1 S. 2 LSA-Verf (anders als bei der Zustimmung des Landtags zum Volksbegehren nach LVerfGE 11
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Art. 81 Abs. 3 LSA-Verf: dann Art. 82 Abs. 1 LSA-Verf) nicht mit einem „Gesetzesbeschluß" des Landtags enden muß, ergibt sich aus § 9 Abs. 5 LSA-VAbstG. Die Gesetzes-Volksinitiative wird nicht anders behandelt als diejenige ohne Gesetzentwurf: Es wird nur im Ministerialblatt — nicht etwa im Gesetz- und Verordnungsblatt — der Beschluß bekannt gemacht, welcher das Verfahren des Landtags abschließt. Dieser Beschluß hat damit keine andere Rechtsqualität als die Bekanntmachung über die Annahme der Volksinitiative nach § 7 Abs. 2 LSA-VAbstG vor ihrer „Befassung" durch den Landtag oder über das Ergebnis einer Volksinitiative ohne Gesetzentwurf nach §§ 9 Abs. 1; 7 Abs. 2 LSA-VAbstG. Eine Auslegung des § 9 Abs. 3 LSA-VAbstG dahin, der „Gesetzentwurf habe wie beim Volksbegehren bereits als vom Volk initiiert zu gelten (Art. 77 Abs. 2 LSA-Verf), wäre mit der Verfassung nach Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte unvereinbar. Eine Untersuchung anhand der Gesetzesmaterialien zum Volksabstimmungsgesetz, ob der Gesetzgeber gleichwohl eine solche Regelung gewollt haben könnte, verbietet sich deshalb; denn im Weg der verfassungskonformen Auslegung ist bei widerstreitenden Ergebnissen diejenige zu wählen, die der Verfassung entspricht. Insoweit gilt für das Landesverfassungsrecht nichts anderes als für das Bundesverfassungsrecht (vgl. dazu: BVerfGE 64,229,242 mwN; 69,1, 55). Eine Grenze für die Auslegung bildet nur der Wordaut (BVerfGE 54,277,299/300; 69,1, 55), der hier indessen gerade für eine verfassungskonforme Auslegung streitet. Die Landtags-Debatte darüber, ob nicht der Initiativentwurf förmlich als Gesetzesvorlage zu behandeln sei, hatte die Frage zum Gegenstand, ob nicht das Volksabstimmungsgesetz im Widerspruch zur Verfassung stehe. Demgegenüber bleibt festzuhalten, daß eine verfassungskonforme Auslegung möglich ist. 2.2.2.3.3 Die „Befassungspflicht" des Art. 80 Abs. 1 LSA-Verf ergänzt Art. 77 Abs. 2 LSA-Verf nicht. Soweit sich der Landtag mit „Gesetzentwürfen" befassen soll (Art. 80 Abs. 1 S. 2 LSA-Verf), sind seine rechtlichen Möglichkeiten durch die Regeln begrenzt, die nach Art. 77 Abs. 2 LSA-Verf für die Gesetzgebung gelten. Die Geschäftsordnung des Landtags, auf die einfach-gesetzlich durch § 9 Abs. 3 LSA-VAbstG verwiesen wird, kann deshalb nur innerhalb der durch Art. 80 Abs. 1 ; 77 Abs. 2 LSAVerf gezogenen Grenzen Geltung beanspruchen. Macht sich keiner der Initiativberechtigten (Art. 77 Abs. 2 LSA-Verf und gleichlautend § 23 LdTgGO) das Begehren zu eigen, so kann der Landtag nach den für ihn geltenden Regeln nicht über den Gesetzentwurf als solchen, sondern nur über das durch ihn repräsentierte Anliegen beraten und entscheiden. Die Anwendung der Bestimmungen über die parlamentarische Beratung und Beschlußfassung von Gesetzen setzt — wie es Art. 77 Abs. 2 LSAVerf und die Geschäftsordnung verlangen — die „Übernahme" des Anliegens durch einen Initiativberechtigen voraus. Dies unterscheidet das Verfahren nach Art. 80 LSAVerf von demjenigen des Art. 81 LSA-Verf, bei dem das Volk den Landtag mit einem Gesetzesvorschlag „unter Druck setzt". LVerfGE 11
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Art. 80 Abs. 1 S. 1 LSA-Verf würde bei einem hierüber hinaus gehenden Inhalt etwas Unmögliches verlangen: Die Verfassung würde den Landtag als Gesamtkörperschaft für verpflichtet halten, eine Entscheidung zu treffen, zu der er verfahrensrechtlich nicht in der Lage ist, weil die dafür erforderliche Willensbildung von keinem seiner Teile und auch nicht von der Regierung angestoßen worden ist. Das zwingt andererseits nicht dazu, die eindeutige, abschließende Regelung des Art. 77 Abs. 2 LSA-Verf über Art. 80 Abs. 1 S. 1 LSA-Verf „nachzubessern"; denn der Verfassungsgeber ist in seiner Entscheidung darüber frei, welches Gewicht und welche Durchsetzungskraft er Instrumenten unmittelbarer Demokratie gegenüber den Organen verfaßter Demokratie verleihen will. Der „Anspruch auf Befassung" nach Art. 80 Abs. 1 LSA-Verf geht deshalb im Fall der „Gesetzesinitiative" (Art. 80 Abs. 1 S. 2 LSA-Verf) nicht weiter als in den übrigen Fällen des Art. 80 Abs. 1 S. 1 LSA-Verf. Er erschöpft sich darin, daß der Landtag das Anliegen zur Kenntnis nimmt, sich entscheidet, ob und welche Maßnahmen zu treffen sind, und das erarbeitete Ergebnis mitteilt. Die Verfahrensregelungen des Volksabstimmungsgesetzes (§§ 7, 9 LSA-VAbstG) tragen dem Rechnung. Sie sehen für die unterschiedlichen Gegenstände der Volksinitiative lediglich verschiedene Abläufe vor (Petitionsausschuß im Normalfall, Fachausschüsse bei Gesetzentwürfen), verstärken aber den Umfang der „Befassung" bei Gesetzentwürfen nicht über das hinaus, was durch die Geschäftsordnung im Rahmen von Art. 77 Abs. 2 LSA-Verf möglich ist. Das Gegenteil kann auch nicht aus der Verwendung des Worts „abschließend" (§ 9 Abs. 3 S. 1 LSA-VAbstG) hergeleitet werden; denn dieser Begriff hat — wie der Vergleich mit der Regelung über die Volksinitiative ohne Gesetzentwurf zeigt (§ 9 Abs. 1 LSAVAbstG: gleichfalls „abschließend") eine bloß verfahrensrechtliche und keine inhaltliche Bedeutung; für beide Alternativen soll gewährleistet sein, daß die Beratung innerhalb der jeweils gesetzten Frist „abgeschlossen" - iSv „beendet" — ist. Auf dieser Grundlage ist weder zu beanstanden, daß die Drucksache keinen „Gesetzentwurf bezeichnete, sondern nur mit „Unterrichtung" über einen Gesetzentwurf überschrieben war, daß das hinter dem Entwurf stehende Anliegen nur zum Anlaß genommen wurde, Untersuchungen anzustellen, welche zu einer „Materialsammlung" führen sollen, und daß dieses so vorbereitete und beschlossene Ergebnis der Volksinitiative bekannt gegeben wurde. § 9 Abs. 3 LSA-VAbstG ist genügt worden, indem die Mindestzahl von - nach Art. 77 Abs. 3 LSA-Verf und der Geschäftsordnung bei Gesetzentwürfen notwendigen — Plenarberatungen stattgefunden hat und indem die „abschließende" Behandlung in der zweiten Beratung durch Fachausschüsse und nicht durch den Petitionsausschuß vorbereitet worden ist. Daß keine der im Landtag vertretenen politischen Kräfte Anlaß gesehen hat, den eingereichten Entwurf förmlich „aufzunehmen", um eine „inhaltliche Befassung" herbeizufuhren, und der lediglich beschlossene Untersuchungsauftrag führen dazu, daß der Entwurf in seiner vorgelegten Form gegenwärtig vom Landtag nicht gebilligt worden ist. Mangels förmlicher „Initiierung" (Art. 77 Abs. 2 LSA-Verf) mußte und LVerfGE 11
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konnte dieses Ergebnis nicht mittels eines „Beschlusses über ein Gesetz" erzielt werden. 2.3 Einer (förmlichen) Entscheidung zur Gültigkeit des Volksabstimmungsgesetzes (Hauptantrag Nr. 3, Hilfsantrag in der Beschwerdeschrift vom 20. Januar 2000) bedarf es nicht. Sie kommt außer in den Fällen der Normenkontrolle (Art. 75 Nrn. 3, 5 LSA-Verf; §§ 41, 43 Abs. 1 LSA-VerfGG), deren Voraussetzungen nicht erfüllt sind, nicht in Betracht. Auf § 38 S. 3 LSA-VerfGG können sich die Beschwerdeführer nicht stützen. Zwar ist die Anwendung der für Organstreitigkeiten geltenden Bestimmung in einem diesen vergleichbaren Verfahren des § 52 LSA-VerfGG nicht auszuschließen; § 36 S. 3 LSA-VerfGG zwingt aber nicht zur Prüfung von Rechtsfragen, auf deren Klärung es nicht ankommt, weil mangels Zulässigkeit des Antrags keine Entscheidung nach § 36 S. 1 LSA-Verf getroffen werden muß. Soweit Fragen der Verfassungsmäßigkeit des Volksabstimmungsgesetzes berührt werden, ist deren Erörterung nur notwendig, um die Sachdienlichkeit einer Antragsänderung zu verneinen, nicht um die Ubereinstimmung einer Maßnahme des § 38 S. 1 LSA-VerfGG mit der Verfassung zu klären. Mangels Zulässigkeit der Antragsänderung bleibt als Prüfungsobjekt nur der durch die Rechtsbeziehungen zwischen den ursprünglich am Verfahren Beteiligten begrenzte Streitgegenstand. Die hierbei zu klärenden Zulässigkeitsfragen sind nicht von der Verfassungsmäßigkeit des Volksabstimmungsgesetzes abhängig. 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 32 Abs. 1, 3 LSA-VerfGG.
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Entscheidungen des Thüringer Verfassungsgerichtshofs
Die amtierenden Richtefinnen und Richter des Thüringer Verfassungsgerichtshofs Gunter Becker, Präsident Hans-Joachim Bauer Christian Ebeling Reinhard Lothholz Thomas Morneweg Gertrud Neuwirth Prof. Dr. Ulrich Rommelfanger Prof. Dr. Rudolf Steinberg
Stellvertreterinnen und Stellvertreter Dr. Hans-Joachim Strauch Dr. Hartmut Schwan Prof. Dr. Erhard Denninger Dipl.Ing. Christiane Kretschmer Renate Hemsteg von Fintel Rudolf Metz Dr. Dieter Lingenberg Prof. Dr. Heribert Hirte Prof. Dr. Karl-Ulrich Meyn
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Nr. 1 1. § 8 Thüringer Abgeordnetenüberprüfungsgesetz (ThürAbgÜpG) in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 15. Dezember 1998 (GVB1. S. 423) verstößt gegen die den Status des Abgeordneten begründenden und ausgestaltenden Normen der Thüringer Verfassung und widerspricht damit Art. 52 Abs. 2 und 3 sowie Art. 53 iVm. Art. 83 ThürVerf. 2. Der durch die Wahl erworbene Status eines Abgeordneten des Thüringer Landtags endet (unbeschadet bundesrechtlicher Mandatsverlustgründe) nur aus den Tatbeständen, die in der Thüringer Verfassung ausdrücklich genannt sind oder die von der Thüringer Verfassung zugelassen werden. Dies ist nicht der Fall bei einem der Wahl vorausliegenden Verhalten, das — wie eine Tätigkeit für das MfS/AfNS — möglicherweise moralisch und politisch verwerflich, nicht jedoch strafrechtlich sanktioniert ist. Ein derartiger Tatbestand schließt insbesondere die Wählbarkeit des Betroffenen nicht aus, bei deren Verlust das Mandat gemäß Art. 52 Abs. 3 ThürVerf erlischt. 3. Die Verfassung bildet die „Rahmenordnung" des Staatswesens, in die sich die einfachen Gesetze einfügen müssen. Die Verfassung als Rahmen stellt dabei die Grenze des Gesetzesrechts dar: Einfachrechtliche Regelungen dürfen die Verfassung lediglich ausgestalten, sie hingegen nicht ändern. Dazu bedarf es vielmehr einer Umgestaltung dieser „Rahmenordnung". 4. Rahmenregelungen im Bereich der Konstituierung der staatlichen Organe lassen sich als die „Spielregeln" des demokratischen Willensbildungsprozesses verstehen. Dies bedeutet eine strikte rechtsstaatliche Bindung an die in der Verfassung getroffenen Entscheidungen des Verfassungsgebers und damit verbunden keine oder jedenfalls geringe Spielräume für eine „Konkretisierung" durch den Gesetzgeber. 5. Als „Ubergangsrechtsprinzipien" im Verfassungsstaat lassen sich feststellen: In Zeiten des Verfassungsumbruchs sind für den Übergang, d.h. befristet, Einschränkungen demokratischer Rechte zulässig. Diese Einschränkung kann nur die Verfassung selber vornehmen. 6. Der Entzug des Abgeordnetenmandats unter den in § 8 ThürAbgÜpG genannten Voraussetzungen hätte eines verfassungsändernden Gesetzes bedurft. LVerfGE 11
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Thüringer Verfassungsgerichtshof
7. Die aufgrund eines Überprüfungsverfahrens gegen einen Abgeordneten wegen Zusammenarbeit mit dem MfS/AfNS zu treffenden Würdigungen obliegen den Parteien und der Thüringer Öffentlichkeit. Verfassung des Freistaats Thüringen Art. 52 Abs. 2 und 3, 53, 83 Abs. 1 Thüringer Gesetz zur Uberprüfung von Abgeordneten § 8 Urteil vom 25. Mai 2000 - VerfGH 2/99 in dem Verfahren der abstrakten Normenkontrolle auf Antrag der Fraktion der „Partei des Demokratischen Sozialismus" (PDS) im Thüringer Landtag Entscheidungsformel: 1. § 8 des Thüringer Gesetzes zur Überprüfung von Abgeordneten in der durch Art. 3 des Gesetzes zur Änderung des Thüringer Landeswahlgesetzes, des Thüringer Abgeordnetengesetzes, des Thüringer Gesetzes zur Überprüfung von Abgeordneten und des Thüringer Verfassungsgerichtshofsgesetzes vom 15. Dezember 1998 (GVB1. S. 423) geänderten Fassung widerspricht Art. 52 Abs. 2 und 3 sowie Art. 53 iVm Art. 83 Abs. 1 der Verfassung des Freistaats Thüringen und ist nichtig. 2. Der Freistaat Thüringen hat der Antragstellerin ihre notwendigen Auslagen zu erstatten. Gründe: A. Die PDS-Fraktion im Thüringer Landtag wendet sich im Wege des Normenkontrollverfahrens gegen die gesetzlichen Bestimmungen, wonach ein Landtagsabgeordneter bei sich aus einer Zusammenarbeit mit dem Staatssicherheitsdienst der ehemaligen DDR ergebender Unwürdigkeit durch Beschluß des Parlaments sein Mandat verliert. I.
Das Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Abgeordneten des Thüringer Landtags (ThürAbgG) in der Fassung vom 9. März 1995 (GVB1. S. 121), geändert durch das 3. Änderungsgesetz vom 23. Dezember 1997 (GVB1. S. 545), bestimmte in § 1: (1) Erwerb und Verlust der Mitgliedschaft im Landtag regeln sich nach den Vorschriften des Thüringer Landeswahlgesetzes. LVerfGE 11
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(2) Darüber hinaus verlieren Abgeordnete ihre Mitgliedschaft, wenn sie wissentlich als hauptamtliche oder inoffbielle Mitarbeiter mit dem Ministerium für Staatssicherheit, dem Amt für Nationale Sicherheit oder Beauftragten dieser Einrichtungen zusammengearbeitet haben. Das Thüringer Wahlgesetz fur den Landtag (ThürLWG) vom 9. November 1993 (GVB1. S. 657), geändert durch das 1. Änderungsgesetz vom 28. Juni 1994 (GVB1. S. 795), enthielt folgende, für das vorliegende Verfahren bedeutsamen Vorschriften: §16 Wählbarkeit Wählbar sind alle Deutschen im Sinne des Art. 116 Abs. 1 des Grundgesetzes, die am Wahltag 1. ... 2.
...
3. nicht nach § 17 von der Wählbarkeit ausgeschlossen sind. (...) §17 Ausschluß von der Wählbarkeit Nicht wählbar ist, wer 1. nach § 14 vom Wahlrecht ausgeschlossen ist, 2. infolge Richterspruchs die Wählbarkeit oder die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter nicht besitzt, 3. gegenüber dem Landeswahlleiter die Abgabe einer schriftlichen Erklärung zu der Frage verweigert, ob er wissentlich als hauptamtlicher oder inoffizieller Mitarbeiter mit dem Ministerium für Staatssicherheit, dem Amt für Nationale Sicherheit oder Beauftragten dieser Einrichtungen zusammengearbeitet hat. Die Regelung in Nummer 3 tritt nach Ablauf der ersten zwei Wahlperioden nach Inkrafttreten dieses Gesetzes außer Kraft. (...) §46 Verlust der Mitgliedschaft im Landtag (1) Ein Abgeordneter verliert die Mitgliedschaft im Landtag bei 1. Ungültigkeit des Erwerbs der Mitgliedschaft, 2. Neufeststellung des Wahlergebnisses, 3. Wegfall einer Voraussetzung der jederzeitigen Wählbarkeit, 4. Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Partei oder Teilorganisation einer Partei, der er angehört, durch das Bundesverfassungsgericht nach Art. 21 Abs. 2 Satz 2 GG, 5. Verzicht, 6. wahrheitswidriger Verneinung in der Erklärung nach § 17 Nr. 3. Verlustgründe nach anderen gesetzlichen Vorschriften bleiben unberührt. (...) Nachdem einige PDS-Abgeordnete des zweiten Thüringer Landtags einer freiwilligen Uberprüfung auf eine Zusammenarbeit mit dem Ministerium für StaatssicherLVerfGE 11
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heit/Amt fur Nationale Sicherheit (im folgenden: MfS/AfNS) - wie sie in der 1. Legislaturperiode durchgeführt worden war — ihre Zustimmung verweigert hatten, beschloß der Thüringer Landtag am 18. Mai 1995, alle Abgeordneten im Hinblick auf § 1 Abs. 2 ThiirAbgG (in der Fassung vom 9. März 1995) entsprechend zu überprüfen. Der dagegen von drei PDS-Abgeordneten des Thüringer Landtags erhobenen Organklage gab der Thüringer Verfassungsgerichtshof mit Urteil vom 17. Oktober 1997 (LVerfGE 7, 337—361) wegen der fehlenden verfahrensrechtlichen Ausgestaltung des Überprüfungsverfahrens statt. Daraufhin beschloß der Thüringer Landtag das Gesetz zur Uberprüfung der Abgeordneten des Thüringer Landtags auf eine hauptamtliche oder inoffizielle Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit oder dem Amt für Nationale Sicherheit (Thüringer Gesetz zur Uberprüfung von Abgeordneten vom 26. Juni 1998 - ThürAbgÜpG GVB1. S. 205). Die hier interessierenden Vorschriften dieses Gesetzes lauten wie folgt: §1 Allgemeine Bestimmungen (1) Nach diesem Gesetz werden die vor dem 1. Januar 1970 geborenen Abgeordneten des Landtags ungeachtet früherer Uberprüfungen ohne ihre Zustimmung daraufhin überprüft, ob sie wissentlich als hauptamtliche oder inoffizielle Mitarbeiter mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) oder dem Amt für Nationale Sicherheit (AfNS) zusammengearbeitet haben und deshalb unwürdig sind, dem Landtag anzugehören. In der Regel ist eine solche Unwürdigkeit insbesondere dann anzunehmen, wenn der Abgeordnete nachhaltig und zum Schaden anderer Bürger für das MfS/AfNS tätig gewesen ist. (2) Die Zusammenarbeit eines Abgeordneten mit dem MfS wird von den Gremien nach den §§ 3 und 4 nicht berücksichtigt, wenn diese vor dem 1. Januar 1970 beendet war. Dies gilt nicht, wenn die Überprüfung ergibt, daß ein Abgeordneter im Zusammenhang mit seiner Zusammenarbeit mit dem MfS ein Verbrechen begangen oder gegen Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen hat. Da die Abgeordnetenüberprüfung allein nicht für ausreichend angesehen wurde, brachten die Fraktionen der CDU und SPD mit Drucksache 2/3237 vom 5. November 1998 einen Gesetzentwurf in den Landtag ein, der den Verlust des Abgeordnetenmandats bei Unwürdigkeit aufgrund Stasi-Mitarbeit vorsah. In der Begründung des Gesetzentwurfs heißt es u. a. (LT-Drs. 2/3237, S. 5f): „Maßgeblich für die Beantwortung der Frage, ob ein Mandatsverlust in diesem Zusammenhang durch ein einfaches Gesetz — also ohne eine Änderung der Verfassung des Freistaats Thüringen - eingeführt werden kann, ist das verfassungsrechtlich garantierte allgemeine Wahlrecht nach Artikel 46 der Verfassung des Freistaats Thüringen, welches auch das passive Wahlrecht umfaßt (...). Der verfassungsrechtlich geschützte Status des Abgeordneten nach Artikel 53 der Verfassung des Freistaats Thüringen ist in diesem Zusammenhang nicht betroffen. Dieser Status schützt
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die Unabhängigkeit des Abgeordneten in seinem legitim erworbenen Mandat (...). Im Falle der Zusammenarbeit mit den genannten Einrichtungen geht es aber um die Frage, ob die Rechtsstellung eines Mandatsinhabers legitim erworben worden ist. Die Zusammenarbeit mit dem MfS/AfNS - also das vorwerfbare Verhalten - betrifft nämlich nicht etwa die Ausübung des Mandats (...). Vielmehr ist das vorwerfbare Verhalten bei einer Zusammenarbeit mit dem MfS/AfNS dem Antritt des Mandats vorgelagert. Die Frage, ob die Rechtsstellung eines Mandatsinhabers legitim erworben worden ist, betrifft also die Wählbarkeit eines Abgeordneten und damit sein passives Wahlrecht. Der Sache nach handelt es sich bei dem Mandatsverlust in diesem Zusammenhang demnach um den Tatbestand der Unwählbarkeit. Der Verlust der Fähigkeit, Rechte aus öffentlichen Wahlen zu erlangen, und ein daraus folgender Mandatsverlust ist die stärkste Form der Beeinträchtigung des passiven Wahlrechts nach Artikel 46 der Verfassung des Freistaats Thüringen (Scholz in: Rüthers/Stern (Hrsg.), Freiheit und Verantwortung im Verfassungsstaat, S. 397). Ein Eingriff in das passive Wahlrecht durch ein einfaches Gesetz ist nach der Rechtsprechung nur dann zulässig, wenn „zwingende Gründe" dies rechtfertigen (vgl. nur BVerfGE 34, 81, 98f; 36,139,141; 42, 312, 3 4 0 f ; J e h m t ^ G A 1977,162). Als Grund für den Mandatsverlust infolge der Zusammenarbeit mit dem MfS/AfNS kann generell der Umstand angesehen werden, daß sich die Zusammenarbeit mit den genannten Einrichtungen grundsätzlich nicht mit der Mitgliedschaft in einem Parlament vereinbaren läßt. Im Bundestag ist dieser Gedanke wie folgt formuliert worden: „Wer das eigene Volk bespitzelt und unterdrückt hat, wer es hintergangen, verraten und betrogen hat oder wer all dies zu verantworten hatte, gehört nicht in den Bundestag ..." (so die in BVerfGE 94, 351, 397 wiedergegebene Begründung des Abgeordneten Wiefelspütz im Hinblick auf das Uberprüfungsverfahren im Bundestag!). diesem Zusammenhang ist auch zu sehen, daß die Akzeptanz eines Parlaments mit stasibelasteten Mitgliedern in der Bevölkerung Schaden nehmen könnte (Protokoll der 50. Sitzung des Innenausschusses, 1. Legislaturperiode, S. 153 — Prof. Dr. Huber). Ob dieser Grundsatz ein „zwingender Grund" im Sinne der oben dargelegten Rechtsprechung ist, der eine einfachgesetzlich normierte Einschränkung des passiven Wahlrechts rechtfertigt, ist die zentrale Frage, die im Folgenden bei der Begründung der einzelnen Vorschriften näher untersucht und im Ergebnis positiv beantwortet wird. Die Annahme eines zwingenden Grundes für eine einfachgesetzliche Regelung zur Einschränkung des passiven Wahlrechts macht eine Änderung der Verfassung des Freistaats Thüringen entbehrlich. Eine Landesverfassung muß sich am Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG messen lassen. Danach muß in den Ländern das Volk eine Vertretung haben, „die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist." Das bedeutet, daß die Wahlrechtsgrundsätze in den Ländern dieselben sein müssen wie die des Bundes. Dazu gehören auch die in Art. 38 GG verankerten Grundsätze über das passive Wahlrecht. Das passive Wahlrecht kann nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur dann zulässigerweise eingeschränkt werden, wenn zwingende Gründe dies rechtfertigen (BVerfGE 34, 98f; 36, 141; 42, 340f). Eine Verfassungsänderung, die einen Mandatsverlust infolge Unwürdigkeit wegen der Zusammenarbeit mit dem MfS/AfNS ermöglicht, muß folglich im Hinblick auf Art. 28 Abs. 1 S. 2 iVm Art. 38 GG ebenso
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Thüringer Verfassungsgerichtshof wie eine diesbezügliche einfachgesetzliche Regelung durch einen zwingenden Grund gerechtfertigt sein. Daraus ergibt sich folgende Konsequenz: Liegt ein zwingender Grund vor, so ist eine einfachgesetzliche Regelung ausreichend; fehlt hingegen ein zwingender Grund, so wäre auch eine Einschränkung des passiven Wahlrechts in diesem Zusammenhang vor dem Hintergrund des Art. 38 G G selbst dann nicht verfassungsrechtlich haltbar, wenn man die Landesverfassung entsprechend ändern würde."
Dieser Gesetzentwurf wurde vom Justiz- und Europaausschuß des Thüringer Landtags zur Annahme empfohlen und ausweislich des Plenarprotokolls 2 / 8 7 vom Parlament in der Sitzung am 10. Dezember 1998 mehrheitlich als „Gesetz zur Änderung des Thüringer Landeswahlgesetzes, des Thüringer Abgeordnetengesetzes, des Thüringer Gesetzes zur Uberprüfung von Abgeordneten und des Thüringer Verfassungsgerichtshofsgesetzes" beschlossen. Das Gesetz hat den folgenden Wortlaut: Artikel 1 Änderung des Thüringer Landeswahlgesetzes § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 des Thüringer Landeswahlgesetzes vom 9. November 1993 (GVB1. S. 657), das durch Gesetz vom 28. Juni 1994 (GVB1. S. 795) geändert worden ist, wird aufgehoben. Artikel 2 Änderung des Thüringer Abgeordnetengesetzes § 1 Abs. 2 des Thüringer Abgeordnetengesetzes in der Fassung vom 9. März 1995 (GVB1. S. 121), das durch Gesetz vom 23. Dezember 1997 (GVB1. S. 545) geändert worden ist, erhält folgende Fassung: „(2) Darüber hinaus verlieren Abgeordnete durch Beschluß des Landtags nach Maßgabe des § 8 des Thüringer Gesetzes zur Uberprüfung von Abgeordneten ihre Mitgliedschaft." Artikel 3 Änderung des Thüringer Gesetzes zur Uberprüfung von Abgeordneten Das Thüringer Gesetz zur Uberprüfung von Abgeordneten vom 26. Juni 1998 (GVB1. S. 205) wird wie folgt geändert: 1. Nach § 7 wird folgender § 8 eingefugt: „§8 Mandatsverlust (1) Nach der Bekanntgabe der Feststellung nach § 7 Abs. 1 beschließt der Landtag, dass der Abgeordnete sein Mandat verliert, wenn aufgrund der Überprüfung zur gesicherten Uberzeugung der Mitglieder des Landtags feststeht, dass der Abgeordnete wissentlich als hauptamtlicher oder inoffizieller Mitarbeiter mit dem MfS/AfNS
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zusammengearbeitet hat und deshalb unwürdig ist, dem Landtag anzugehören. Für die Entscheidung des Landtags gilt § 1 Abs. 1 und 2 sinngemäß. (2) Über den Mandatsverlust wird in der nächsten auf die Bekanntgabe der Feststellung des Gremiums folgenden Sitzung des Landtags, frühestens jedoch vier Wochen nach der Bekanntgabe entschieden. In diesem Zeitraum können alle Abgeordneten Einsicht in die das Uberprüfungsverfahren des Abgeordneten betreffenden Unterlagen des Gremiums nehmen. Die Einsicht in die Unterlagen wird in den Räumen des Landtags gewährt. An der Entscheidung nach Absatz 1 darf der von ihr betroffene Abgeordnete nicht mitwirken. Der Landtag beschließt den Verlust des Mandats mit der Mehrheit von zwei Dritteln der anwesenden Mitglieder, mindestens jedoch mit der Hälfte seiner gesetzlichen Mitgliederzahl. (3) Zwei Monate nach der Bekanntgabe des den Mandatsverlust begründenden Beschlusses gegenüber dem betroffenen Abgeordneten scheidet dieser aus dem Landtag aus. Hat der Abgeordnete innerhalb dieser Frist die Durchführung eines Organstreitverfahrens nach Artikel 80 Abs. 1 Nr. 3 der Verfassung des Freistaats Thüringen zur Uberprüfung der Rechtmäßigkeit des Beschlusses beantragt, scheidet er mit der Verkündung einer Entscheidung des Thüringer Verfassungsgerichtshofs aus dem Landtag aus, die den Mandatsverlust bestätigt." 2. Die bisherigen §§ 8 und 9 werden die §§ 9 und 10. Artikel 4 Änderung des Thüringer Verfassungsgerichtshofsgesetzes Dem § 39 Abs. 3 des Thüringer Verfassungsgerichtshofsgesetzes vom 28. Juni 1994 (GVB1. S. 781), das durch Gesetz vom 12. April 1995 (GVB1. S. 161) geändert worden ist, wird folgender Satz angefugt: „Der Antrag gegen einen Beschluss des Landtags nach § 8 des Thüringer Gesetzes zur Uberprüfung von Abgeordneten muß binnen zwei Monaten, nachdem der Beschluss dem Abgeordneten bekannt gegeben worden ist, gestellt werden." Artikel 5 In-Kraft-Treten Dieses Gesetz tritt am Tage nach der Verkündung in Kraft. Am 15. Dezember 1998 fertigte der Präsident des Landtags das Gesetz aus und verkündete es im Gesetz- und Verordnungsblatt für den Freistaat Thüringen vom 28. Dezember 1998 (GVB1. S. 423). Durch Gesetz vom 23. Dezember 1998 (GVB1. S. 451) wurden ferner u.a. § 17 S. 1 Nr. 3 und S. 2 ThürLWG aufgehoben. II. Am 26. April 1999 hat die Antragstellerin das Verfahren der abstrakten Normenkontrolle anhängig gemacht.
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Thüringer Verfassungsgerichtshof Die Antragstellerin beantragt, das Gesetz zur Änderung des Thüringer Landeswahlgesetzes, des Thüringer Abgeordnetengesetzes, des Thüringer Abgeordnetenüberprüfungsgesetzes und des Thüringer Verfassungsgerichtshofsgesetzes vom 15. Dezember 1998 für nichtig oder mit der Verfassung unvereinbar zu erklären.
Zur Begründung fuhrt sie aus: Das zu überprüfende Gesetz sei verfassungswidrig. Bei den angegriffenen Regelungen handle es sich nicht um Beschränkungen des passiven Wahlrechts, sondern um einen direkten Eingriff in ein bestehendes Mandatsverhältnis. Das zur Uberprüfung gestellte Gesetz greife in den verfassungsrechtlich normierten und geschützten Status des betroffenen Abgeordneten ein, ohne jedoch — wie bei den vergleichbaren Regelungen in anderen Bundesländern — eine verfassungsrechtliche Grundlage zu haben. Es führe zu einer Änderung der Verfassung, ohne dem Erfordernis des Art. 83 Abs. 1 ThürVerf zu genügen. Die grundsätzliche Unentziehbarkeit des Mandats sei eine der wesentlichen Garantien für die sachliche Unabhängigkeit des Abgeordneten. Alle zulässigen Ausnahmen von diesem Grundsatz beruhten auf einem Verlust der Wählbarkeit, wobei der Verlust der Wählbarkeit Folge von Sachverhalten sei, die keiner subjektiven Bewertung des Gremiums unterlägen, das den Mandatsverlust festzustellen habe. Dies sichere sowohl die Angehörigen parlamentarischer Minderheiten vor einer politisch intendierten Bewertung von Sachverhalten als auch deren Wähler vor einer Korrektur ihrer Entscheidung. Die in den Verfassungen anderer Länder vorgesehenen Regelungen über den Entzug des Abgeordnetenmandats beträfen ausschließlich Sachverhalte, die mit der Ausübung des Mandats nicht nur zeitlich, sondern vor allem sachlich in Zusammenhang stünden. Diese Regelungen rechtfertigten sich daraus, daß die Wähler den zum Mandatsverlust führenden Sachverhalt im Zeitpunkt ihrer Entscheidung noch nicht gekannt hätten; zudem liege ein Mißbrauch der Abgeordnetenstellung vor. Dies sei jedoch hier nicht der Fall. Die Entfernung des Abgeordneten aus seinem Mandatsverhältnis ermögliche eine Disziplinierung der Parlamentarier und schwäche den Status des freien Mandats. Daran ändere sich auch durch die Einräumung einer gerichtlichen Uberprüfung nichts, da der mögliche Mißbrauch bereits in der Differenzierung angelegt sei, welcher Abgeordnete einem derartigen Verfahren überhaupt unterworfen werde. Demgegenüber entziehe sich eine parlamentarisch mehrheitsfähige, aber rechtswidrige Entscheidung, kein Verfahren gegen einen belasteten Abgeordneten durchzuführen, jeder gerichtlichen Überprüfung. Das Gesetz verstoße auch gegen das in Art. 44 Abs. 1 ThürVerf verankerte Demokratieprinzip. Durch den Entzug des Abgeordnetenmandats werde die ursprüngliche Entscheidung der Wähler nachträglich korrigiert und dem Landtag die Legitimation für seine legislative Tätigkeit entzogen. Der Abgeordnete sei zwar bei Ausübung seines Mandats Vertreter des ganzen Volkes. Das heiße aber gerade nicht, LVerfGE 11
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daß Abgeordneter nur sein könne, wer sein Mandat auf Mehrheiten im Wählervolk stützen könne. Die Legitimation des Parlaments schließe die Minderheiten ein. Die bewußte Entscheidung der Wähler für einen Abgeordneten, die in Kenntnis seiner Vergangenheit oder in bewußter Vernachlässigung solcher Sachverhalte getroffen worden sei, sei daher zu respektieren. Das angegriffene Gesetz verstoße auch gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Ausprägung des aus Art. 47 Abs. 4 ThürVerf folgenden Rechtsstaatsprinzips. Soweit die Regelungen damit begründet würden, einen möglichen Ansehensverlust des Thüringer Landtags abzuwenden, seien sie schon nicht geeignet. Denn damit würden die bewußten Wahlentscheidungen der Wähler für Kandidaten, die mit dem Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR zusammengearbeitet hätten, ignoriert. Der nachträgliche Eingriff des Landtags in die Wahlentscheidung sei sehr viel mehr geeignet, einen Ansehensverlust herbeizufuhren als die Anwesenheit eines Abgeordneten, dem eine Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit vorgeworfen werde, die zwischenzeitlich mindestens neun Jahre zurückliege. Das angegriffene Gesetz sei auch nicht erforderlich. Der Thüringer Landtag habe in den mehr als acht Jahren seiner Existenz offenbar keinen solchen Ansehensverlust als Verfassungsorgan erlitten. Die Präsidentin des Thüringer Landtags hat sich zum Verfahren geäußert. Sie ist der Auffassung, daß das angegriffene Gesetz verfassungsgemäß sei. Die Mandatsaberkennung sei zwar ein Eingriff in die Freiheit des Mandats. Es bestehe jedoch eine entsprechende verfassungsrechtliche Ermächtigung in Art. 49 Abs. 3 S. 2 ThürVerf. Der Wortlaut dieser Bestimmung erfasse nicht etwa nur die Fälle, daß ein Abgeordneter sein Mandat aus anderen Gründen verloren habe und der Landtag diesen Verlust noch zusätzlich feststellen müsse. Vielmehr erfasse er auch Fälle, bei denen der Landtag einen Mandatsverlust konstitutiv beschließe, und enthalte daher eine Ermächtigung an den Gesetzgeber, einen Mandatsverlust wegen Unwürdigkeit infolge der Zusammenarbeit mit dem MfS/AfNS zu regeln. Dafür spreche auch die historische Auslegung. Die Protokolle der Verfassungsberatungen, aus denen sich die Motive des Verfassunggebers ergäben, belegten, daß Art. 49 Abs. 3 S. 2 ThürVerf gerade auch für den Fall der Stasi-Verstrickung habe Anwendung finden sollen. Im Zusammenhang mit der ursprünglichen Regelung des § 1 Abs. 2 ThürAbgG a.F. habe der Referent der Landtagsverwaltung in der 11. Sitzung des Unterausschusses des Verfassungs- und Geschäftsordnungsausschusses am 9. April 1992 auf verfassungsrechtliche Bedenken gegen diese Vorschrift hingewiesen, die sich durch Aufnahme einer verfassungsrechtlichen Ermächtigung zum Mandatsentzug wie Art. 49 Abs. 3 S. 2 ThürVerf ausräumen ließen. Diese Überlegungen habe sich der Verfassungsgeber zu eigen gemacht. Er habe allerdings bewußt auf eine abschließende Detailregelung in der Verfassung verzichtet und den einfachen Gesetzgeber durch Art. 49 Abs. 4 ThürVerf zur gesetzlichen Ausgestaltung des Mandatsverlusts nicht nur in den tradierten Fällen, wie etwa kriminalitätsbedingter Parlamentsunwürdigkeit, sondern auch im Fall stasiLVerfGE 11
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bedingter Parlamentsunwürdigkeit ermächtigt. Darüber hinaus sei der Mandatsverlust aber auch deshalb gerechtfertigt, da die durch Rechtsgüter von Verfassungsrang einschränkbare Freiheit des Mandats mit den Rechtsgütern „Repräsentations- und Funktionsfähigkeit des Parlaments" kollidiere und letztere bei der Auflösung dieses Wertekonflikts im Rahmen der praktischen Konkordanz unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips auch ohne ausdrückliche Normierung in der Verfassung Vorrang genössen. Es liege auch keine unzulässige Kollision mit der Wählerentscheidung vor. Ferner stehe auch der Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht entgegen. Soweit in der Mandatsaberkennung auch eine Einschränkung des passiven Wahlrechts des betroffenen Abgeordneten liege, sei diese Einschränkung auch ohne ausdrückliche Normierung in der Thüringer Verfassung wegen Vorliegens eines zwingenden Grundes gerechtfertigt. Das angegriffene Gesetz werde auch den vom Thüringer Verfassungsgerichtshof in seinem Urteil vom 17. Oktober 1997 für die Abgeordnetenüberprüfung aufgestellten Forderungen, die Grundlage auch des Mandatsentzugs seien, gerecht. Es würden nur die vor dem 1. Januar 1970 geborenen Abgeordneten überprüft und eine vor 1970 beendete Zusammenarbeit mit dem MfS bleibe grundsätzlich unberücksichtigt, so daß dem vom Verfassungsgerichtshof postulierten Zeitfaktor Rechnung getragen werde. Mit der für einen Mandatsentzug erforderlichen Parlamentsunwürdigkeit werde berücksichtigt, daß sich persönliche Haltungen ebenso wie Einstellungen im Lauf der Zeit ändern könnten und daß längere beanstandungsfreie Zeiträume auf Bewährung, innere Distanz, Abkehr von früheren Einstellungen und Taten hinweisen könnten. Der Salvierungswirkung der Zeit werde auch dadurch Rechnung getragen, daß das Abgeordnetenüberprüfungsgesetz mit Ablauf der 3. Wahlperiode außer Kraft trete. Der Gesetzgeber sei auch den vom Verfassungsgerichtshof in seinem Urteil vom 17. Oktober 1997 aufgestellten Erfordernissen nach Vertraulichkeit des Überprüfungsverfahrens und einer auf Grund gesicherter Überzeugung und mit qualifizierter Mehrheit getroffenen Entscheidung gerecht geworden. Die Mitwirkungsrechte der betroffenen Abgeordneten seien hinreichend berücksichtigt. Die Thüringer Landesregierung hat sich zum Verfahren nicht geäußert. Der Verfassungsgerichtshof hat am 25. Februar 2000 über den Normenkontrollantrag der Antragstellerin mündlich verhandelt. B. Der seinem Inhalt nach allein gegen den geänderten § 8 ThürAbgÜpG gerichtete Normenkontrollantrag der PDS-Fraktion im Thüringer Landtag vom 26. April 1999 ist zulässig (Art. 80 Abs. 1 Nr. 4 ThürVerf, § 11 Nr. 4 iVm § 42 ThürVerfGHG). Durch die Beendigung der zweiten Legislaturperiode des Thüringer Landtags während des Verfahrens wird die Zulässigkeit nicht berührt.
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C. § 8 ThürAbgÜpG in der durch Art. 3 des Gesetzes zur Änderung des Thüringer Landeswahlgesetzes, des Thüringer Abgeordnetengesetzes, des Thüringer Gesetzes zur Überprüfung von Abgeordneten und des Thüringer Verfassungsgerichtshofsgesetzes vom 15. Dezember 1998 (GVB1. S. 423) geänderten Fassung widerspricht Art. 52 Abs. 2 und 3 sowie Art. 53 iVm Art. 83 ThürVerf. Die Vorschrift verstößt gegen die den Status des Abgeordneten begründenden und ausgestaltenden Normen der Thüringer Verfassung. Der durch die Wahl erworbene Status eines Abgeordneten des Thüringer Landtags endet (unbeschadet des aus Art. 21 GG folgenden Mandatsverlusts infolge Feststellung der Verfassungswidrigkeit der betreffenden Partei durch das Bundesverfassungsgericht, vgl. BVerfGE 2,1, 74) nur aus den Tatbeständen, die in der Thüringer Verfassung ausdrücklich genannt sind oder die von der Thüringer Verfassung zugelassen werden. Dies ist nicht der Fall bei einem der Wahl vorausliegenden Verhalten, das — wie eine Tätigkeit für das MfS/AfNS - möglicherweise moralisch und politisch verwerflich, nicht jedoch strafrechtlich sanktioniert ist. Ein derartiger Tatbestand schließt insbesondere die Wählbarkeit des Betroffenen nicht aus, bei deren Verlust das Mandat gem. Art. 52 Abs. 3 ThürVerf erlischt. I. 1. Art. 46 Abs. 2 ThürVerf enthält Voraussetzungen der Wählbarkeit. Danach ist zum Thüringer Landtag wählbar jeder Bürger, der das 18. Lebensjahr vollendet und seinen Wohnsitz im Freistaat Thüringen hat (vgl. einfachgesetzlich § 16 Abs. 1 Nr. 1 und 2 ThürLWG). Verliert ein Abgeordneter die Wählbarkeit, so erlischt gem. Art. 52 Abs. 3 ThürVerf die Mitgliedschaft im Landtag (vgl. einfachgesetzlich § 1 Abs. 1 ThürAbgG iVm § 46 Abs. 1 Nr. 3 ThürLWG). Darüber hinaus enthält § 17 ThürLWG (im Unterschied zu den in Art. 46 Abs. 2 ThürVerf normierten Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um die Wählbarkeit zu bejahen) bestimmte Tatbestände, die zum Ausschluß der Wählbarkeit fuhren: Danach darf der Bewerber nicht nach § 14 ThürLWG vom Wahlrecht ausgeschlossen sein, was zum einen Personen betrifft, die infolge Richterspruchs das Wahlrecht nicht besitzen (§ 14 Nr. 1 ThürLWG), zum anderen Personen, die in einem Betreuungsverhältnis stehen (§ 14 Nr. 2 ThürLWG) oder sich nach Maßgabe des § 14 Nr. 3 ThürLWG in einem psychiatrischen Krankenhaus befinden. Derartige Einschränkungen des Wahlrechts hat das Bundesverfassungsgericht als traditionelle Begrenzungen der Allgemeinheit der Wahl „von jeher aus zwingenden Gründen" für verfassungsmäßig angesehen (BVerfGE 36,139,141 f; 42, 312, 341). Neben den genannten Tatbeständen ist gemäß § 17 Nr. 2 ThürLWG nicht wählbar, wer infolge Richterspruchs die Wählbarkeit oder die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Amter nicht besitzt (ebenso für Bundestagswahlen § 15 Abs. 2 Bundeswahlgesetz). LVerfGE 11
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2. Die Thüringer Verfassung enthält keine Ermächtigung an den Gesetzgeber, diese ausdrücklich in Art. 46 Abs. 2 ThürVerf oder in den genannten Vorschriften des ThürLWG (deren Verfassungsmäßigkeit hier nicht Prüfungsgegenstand ist) geregelten Voraussetzungen der Wählbarkeit um den hier fraglichen Tatbestand zu erweitern. Auch sonstiges Verfassungsrecht bietet dafür keine Handhabe. Dabei ist bereits fraglich, ob es — wie es in der Begründung zum Gesetzentwurf (Thüringer Landtag, 2. Wahlperiode, Drucksache 2/3237, S. 5) heißt: „Der Sache nach handelt es sich bei dem Mandatsverlust in diesem Zusammenhang demnach um den Tatbestand der Unwählbarkeit" — bei der hier in Rede stehenden Regelung überhaupt um einen Unwählbarkeitstatbestand geht. Denn wer unwählbar ist, kann nicht rechtsgültig gewählt werden (vgl. Seifert Bundeswahlrecht — Kommentar, 3. Aufl. 1976, § 11 Rn. 7), auch wenn er zunächst einmal formal die Mitgliedschaft im Landtag erwirbt (ergibt sich auch aus § 46 Abs. 1 Nr. 1 ThürLWG). Die Rechtsungültigkeit der Wahl eines Abgeordneten ist jedoch nicht Anknüpfungspunkt eines Mandatsverlusts nach § 8 ThürAbgUpG wegen Unwürdigkeit der Zugehörigkeit zum Landtag. Vielmehr setzt ein derartiges Urteil eine entsprechende wertungsabhängige Entscheidung des Parlaments voraus, die im Zeitpunkt der Wahlentscheidung noch gar nicht vorlag. Gegen die Konzeption im Gesetzentwurf des zu überprüfenden Gesetzes, bei § 8 ThürAbgUpG handle es sich um einen Unwählbarkeitstatbestand, spricht ferner, daß die hier fragliche Regelung nicht in § 17 ThürLWG aufgenommen wurde, der den Ausschluß der Wählbarkeit regelt (zum abschließenden Charakter der als „Vorbild" dienenden bundesrechtlichen Parallelvorschrift des § 15 BWG: Schreiber Kommentar zum BWG, 6. Aufl. 1998, § 15 Rn. 2), und auch eine Vorschrift, wonach die Wiederwahl eines vom Landtag für iSv § 8 ThürAbgÜpG parlamentsunwürdig gehaltenen Abgeordneten ausgeschlossen ist, hat der Gesetzgeber nicht geschaffen. Aber selbst wenn es bei der hier zu überprüfenden Regelung um die Wählbarkeit gehen sollte, ermächtigt die Thüringer Verfassung nicht zu einer derartigen Regelung. Dies gilt insbesondere für die allgemeine Vorschrift des Art. 46 Abs. 3 ThürVerf. Denn im Rahmen der in Art. 46 Abs. 3 ThürVerf eröffneten Regelungskompetenz hat der Gesetzgeber nur einen eng bemessenen Spielraum (vgl. BVerfGE 48, 64, 81; Litick in: Linck/Jutzi/Hopfe, Die Verfassung des Freistaats Thüringen, 1994, Art. 46 Rn. 27), von dem vor allem für die traditionellen und damit „selbstverständlichen" Beschränkungen des passiven Wahlrechts (vgl. dazu Steinberg Aberkennung des Abgeordnetenmandats im Verfassungsstaat — Zum Umgang mit „belasteten" Mandatsträgern in Zeiten des Umbruchs —, Der Staat 39/2000, H. 4) Gebrauch gemacht werden kann. Dieser Rahmen zulässiger Regelung wird mangels ausdrücklicher entsprechender Verankerung in der Thüringer Verfassung durch die hier fragliche Vorschrift überschritten.
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II. Auch unter dem Gesichtspunkt der Freiheit des Abgeordnetenmandats (Art. 53 Abs. 1 Satz 2 ThürVerf) und deren — im Hinblick auf die Beendigung des Mandats spezieller — Ausprägung in der Sondervorschrift des Art. 52 ThürVerf widerspricht das hier zu überprüfende Gesetz der Thüringer Verfassung. 1. Art. 53 Abs. 1 S. 2 ThürVerf bestimmt, daß die Abgeordneten an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen verantwortlich sind. Damit ist der sog. Grundsatz des freien Mandats (für Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG vgl. ζ. B. Badura Bonner Kommentar - Zweitbearbeitung, Art. 38 Rn. 48; Morlok in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. II, 1998, Art. 38 Rn. 124) der Landtagsabgeordneten Bestandteil der Thüringer Verfassung. Sinn dieses Grundsatzes ist es u. a., den Abgeordneten sowohl gegen Einflußnahmen durch die eigene Partei oder Fraktion zu schützen (Linck aaO, Art. 53 Rn. 3 f ) als auch sicherzustellen, daß der Prozeß der parlamentarischen Willensbildung frei von staatlicher Beeinträchtigung ist, damit die Abgeordneten ihre gesellschaftlichen und politischen Präferenzen zum rechtlich relevanten Ausdruck bringen können (vgl. Morlok aaO, Art. 38 Rn. 127). Zu diesem Zweck ist die Position des Abgeordneten mit einer Reihe von Rechten und Gewährleistungen versehen, welche die freie Wahrnehmung des Mandats absichern. Allerdings ist die Freiheit des Mandats auch nicht schrankenlos gewährleistet, sondern kann auch durch andere Rechtsgüter von Verfassungsrang begrenzt werden (vgl. BVerfGE 99, 19, 32). Dabei sind beide Aspekte soweit wie möglich zum Ausgleich zu bringen (BVerfG aaO). Auch wenn die Rechte des Abgeordneten im einzelnen ausgestaltet und dabei auch eingeschränkt werden können, so dürfen sie ihm jedoch grundsätzlich nicht entzogen werden (vgl. BVerfGE 44, 308, 316; 80,188, 219). Die hier in Rede stehende Aberkennung des Mandats fuhrt zu einer vollständigen Verdrängung des verfassungsrechtlichen Status' des betroffenen Abgeordneten. Damit verliert der Abgeordnete alle die Rechte, deren Ausübung vom Grundsatz des freien Mandats gewährleistet werden soll. Zu den Gründen, die nach der Thüringer Verfassung zum Verlust des Mandats führen (insbesondere Art. 52 Abs. 2 und 3 ThürVerf), gehört die hier in Rede stehende „Parlamentsunwürdigkeit" nach § 8 iVm § 1 Abs. 1 ThürAbgÜpG nicht. Mangels entsprechender Verankerung in der Verfassung durfte der Landesgesetzgeber derartige Regelungen über den Entzug des Abgeordnetenmandats daher nicht treffen. 2. Insbesondere Art. 49 Abs. 3 S. 2 ThürVerf, wonach der Landtag entscheidet, ob ein Mitglied seinen Sitz im Landtag verloren hat, in Verbindung mit dem in Abs. 4 enthaltenen Verfassungsauftrag, durch formelles Gesetz den durch Art. 49 Abs. 3 ThürVerf vorgegebenen Rahmen auszufüllen und zu konkretisieren (vgl. dazu ThürVerfGH, LVerfGE 7, 337, 360), befugt nicht zu der hier zu überprüfenden Regelung. LVerfGE 11
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Dies ergibt eine Auslegung der genannten Vorschriften (zur Auslegungsmethodik vgl. ThürVerfGH, LVerfGE 4,413,415 ff): Art. 49 Abs. 3 S. 2 ThürVerf — der im übrigen in der Begründung des Entwurfs zum hier zu überprüfenden Gesetz an keiner Stelle erwähnt wird — stellt keine Ermächtigung für die Entziehung des Mandats dar (so zu Art. 41 Abs. 1 S. 2 GG Badura in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 15 Rn. 30). Denn Art. 49 Abs. 3 S. 2 ThürVerf enthält keine Mandatsverlusttatbestände, sondern setzt diese nach seinem Wortlaut („Er — der Landtag — entscheidet, ob ...") gerade voraus. Auch mit Art. 49 Abs. 4 ThürVerf wird dem Thüringer Gesetzgeber keine Befugnis verliehen, über die in der Verfassung enthaltenen oder von ihr vorausgesetzten Tatbestände hinaus Mandatsverlustgründe nach eigenem Ermessen festzulegen. Zwar ermächtigt die Vorschrift nicht nur zur Ausgestaltung des Wahlprüfungsverfahrens, sondern auch des materiellen Wahlprüfungsrechts. Die Thüringer Verfassung entspricht insoweit der Vorschrift des Art. 41 GG, für dessen Abs. 3 anerkannt ist, daß er nicht nur zu verfahrensmäßigen Regelungen der Mandatsprüfung ermächtigt, sondern auch die Befugnis zur Normierung des materiellen Mandatsprüfungsrechts einräumt. Ob Art. 41 GG darüber hinaus die Schaffung materieller Verlusttatbestände erlaubt (vgl. z.B. Verstyl m: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 2, 3. Aufl. 1995, Art. 41 Rn. 51; demgegenüber weist Rechenberg in: Bonner Kommentar — Zweitbearbeitung —, Art. 41 S. 5 Mitte, auf die Entstehungsgeschichte hin, wo von >rAusführungsbestimmungen" die Rede ist, worunter wohl nur die Konkretisierung der in der Verfassung enthaltenen Verlustgründe, nicht jedoch deren Neuschaffung durch den Gesetzgeber gemeint sein kann), kann hier dahinstehen. Art. 49 Abs. 4 ThürVerf jedenfalls besitzt keinen derartigen Inhalt. Denn im Unterschied zum Grundgesetz, in dem das Ende des Mandats nicht gesondert geregelt ist, enthält die Thüringer Verfassung mit Art. 52 Abs. 2 und 3 ThürVerf ausdrückliche Mandatsverlusttatbestände. Angesichts dessen ist Art. 49 Abs. 3 S. 2, Abs. 4 ThürVerf mangels entsprechender Formulierung auch nicht die Autorisierung des Gesetzgebers zu entnehmen, über die in der Verfassung ausdrücklich geregelten oder stillschweigend enthaltenen Tatbestände hinaus Mandatsverlustgründe zu schaffen. Dies gilt um so mehr für die Folgen einer Zusammenarbeit eines Abgeordneten mit dem MfS/AfNS, einem Aspekt, dem der Verfassungsgeber für den Bereich des Öffentlichen Dienstes eine derartig wichtige Bedeutung beigemessen hat, daß er in Art. 96 Abs. 2 ThürVerf eine besondere Regelung über die grundsätzliche Nichteignung von Personen normiert hat, die mit dem früheren MfS/AfNS zusammengearbeitet haben oder für dieses tätig waren. Diesem Ergebnis steht auch die historische Auslegung des Art. 49 Abs. 3 S. 2 ThürVerf nicht entgegen: Denn die aus den Verfassungsmaterialien gewonnenen Erkenntnisse, denen in der Regel ohnehin keine ausschlaggebende Bedeutung zukommt (vgl. BVerfGE 62,1, 45 mwN; ThürVerfGH, LVerfGE 4,413,416) lassen für die hier interessierende Fragestellung keine eindeutige Bewertung zu. Zwar wurde seinerzeit im Rahmen der Verfassungsberatungen erörtert, mit der Vorschrift auch den LVerfGE 11
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Mitgliedschaftsverlust eines Abgeordneten bei wissentlicher Zusammenarbeit mit dem MfS/AfNS gem. § 1 Abs. 2 ThürAbgG a.F. verfassungsgesetzlich abzusichern (vgl. die Beratungen in der 11. Sitzung des Unterausschusses des Verfassungs- und Geschäftsordnungsausschusses am 9. April 1992, Wortprotokoll des Thüringer Landtags, S. 52ff). Doch bestanden offensichtlich nur unklare Vorstellungen über die Tatbestände des Mandatsverlusts und diesbezügliche Regelungskompetenzen des Thüringer Gesetzgebers (vgl. nur die Bemerkung des Vorsitzenden des Verfassungs- und Geschäftsordnungsausschusses, des Abgeordneten Dr. Pietzsch, in der 11. Sitzung des Unterausschusses vom 9. April 1992, Wortprotokoll des Thüringer Landtags, S. 56). Aber selbst wenn dies — was nicht feststellbar ist — Konsens in den späteren Verfassungsberatungen gewesen sein sollte, so ergibt sich allerdings, betrachtet man die Verfassungsgenese insgesamt, ein Wertungswiderspruch zu der Diskussion um die verfassungsgesetzliche Verankerung der Abgeordnetenanklage wegen persönlicher Vorteilsnahme, auf die man letztlich verzichtete. So äußerte der Abgeordnete Dr. Pietzsch dazu in der 13. Sitzung des Unterausschusses des Verfassungs- und Geschäftsordnungsausschusses am 4. Juni 1992: „Daß es uns schwerfällt oder nicht gelingt, im Augenblick ein Mandat abzuerkennen, was wir für notwendig erachten oder nicht, ist die eine Sache, aber wenn wir das nicht einmal in der Landesverfassung verankert haben, dann ist uns die Möglichkeit erst recht genommen, über solche Dinge zu entscheiden. Wir müssen schon eine Rechtsgrundlage schaffen, wenn wir das wollen. Und wir müssen uns jetzt nur darüber einigen, wollen wir es oder wollen wir es nicht. Wenn wir es nicht hineinschreiben, ist uns die Möglichkeit einzugreifen, völlig genommen. (...)" (zitiert nach dem Wortprotokoll des Thüringer Landtags, S. 44). Ebenso äußerte sich mit ausdrücklicher Zustimmung des Abgeordneten Lippmann der Abgeordnete Lothholz in der 17. Unterausschuß-Sitzung am 1. September 1992: „Das ist zu überlegen, dies mit in die Geschäftsordnung zu bringen, aber die Rangigkeit dieser Aufgabe, einem Abgeordneten das Mandat abzuerkennen, ist so wichtig, daß man es in der Verfassung stehen lassen sollte." (zitiert nach dem Wortprotokoll des Thüringer Landtags, S. 7). Wurde in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit einer speziellen verfassungsgesetzlichen Normierung gesehen, so ist um so weniger einsichtig, warum entsprechende Erwägungen nicht auch für den Fall des Mandatsverlusts wegen Zusammenarbeit mit dem MfS/AfNS angestellt wurden. Allerdings ist die subjektive Vorstellung der am Verfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder für die Auslegung einer Vorschrift ohnehin nicht entscheidend (vgl. BVerfGE 10, 234, 244). Da es einen einheitlichen und homogenen Willen des Gesetzgebers als Gegenstand des Verstehens nicht gibt, sind die Gesetzesmaterialien „mit Vorsicht" (BVerfGE 62, 45) bzw. „besonderer Vorsicht" (so schon Bartbolomeyc^ik Kunst der Gesetzesauslegung, 1951, S. 53) und nur insofern heranziehbar, „als sie auf einen objektiven Gesetzesinhalt schließen lassen" (BVerfGE 62, 45). Hier liefert der Normtext aber keinen Anhaltspunkt für die Annahme, der Gesetzgeber werde zur Normierung anderer als in der Verfassung ausdrücklich geregelter oder LVerfGE 11
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traditionell zugelassener Verlustgründe ermächtigt. Im übrigen würde dann, wenn das Gesetzgebungsmaterial dem Normtext vorgezogen würde, unzulässigerweise „aus einem Nicht-Normtext gegen den Normtext" entschieden (F. MüllerJuristische Methodik, 6. Aufl. 1995, S. 254; vgl. auch ThürVerfGH, LVerfGE 4,423,426 - Sondervotum des Richters Rommelfanger —). 3. Auch sonst in der Verfassung besteht keine Grundlage für das hier zu überprüfende Gesetz: Insbesondere die Erwägungen zur Integrität und politischen Vertrauenswürdigkeit des Parlaments, mit denen das Bundesverfassungsgericht und der Thüringer Verfassungsgerichtshof die Abgeordnetenüberprüfung gerechtfertigt haben (vgl. BVerfGE 94, 351, 367; 99, 19, 32, 37 f, 43; LVerfGE 7, 337, 352), lassen sich auf die hier zu überprüfende Regelung des Mandatsverlusts nicht übertragen. Grundlage der Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts ist (wie das Gericht mehrfach ausdrücklich betont), daß der Gesetzgeber darauf verzichtet hat, rechtliche Konsequenzen an eine belastende Feststellung des Uberprüfungsausschusses zu knüpfen; nicht einmal eine Empfehlung an den Abgeordneten, sein Mandat niederzulegen, komme in Betracht. Die eigentliche Würdigung der Vorwürfe sei bewußt der Öffentlichkeit überlassen worden: „Der Gesetzgeber hat bei der hier zu beurteilenden Personalenquete darauf verzichtet, rechtliche Konsequenzen an eine belastende Feststellung des Überprüfungsausschusses zu knüpfen. Der Bundestag kann nicht einmal eine Empfehlung an den Abgeordneten aussprechen, sein Mandat niederzulegen. Die eigentliche Würdigung der Vorwürfe, die Bewertung ihres politischen Gewichts, wurde bewußt der Öffentlichkeit überlassen. Diese soll durch öffentliche Meinungskundgabe oder im Rahmen der nächsten Wahl die Frage beantworten, ob der belastete Abgeordnete würdig ist, das Volk im Parlament zu vertreten, wie der Ausschußvorsitzende Wiefelspütz in der Debatte zu § 44b AbgG erklärte:,... wir treffen Feststellungen. Die Würdigung haben Fraktionen und Gruppen zu treffen und die deutsche Öffentlichkeit'" (BVerfGE 99, 19, 43; 94, 351, 367). Demgemäß vermag der besondere politische und historische Anlaß als Folge des Ubergangs von der Diktatur zur Demokratie in den neuen Bundesländern zwar das Uberprüfungsverfahren, nicht jedoch den Mandatsverlust zu rechtfertigen. Im Urteil vom 17. Oktober 1997 hatte der Thüringer Verfassungsgerichtshof im übrigen deutlich auf die Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 1 Abs. 2 ThürAbgG a.F. hingewiesen (LVerfGE 7,337, 361 ; s. dazu die Anm. von JutiQ NJ 1998,30). Da auch Art. 57 Abs. 5 ThürVerf (dazu vgl. ThürVerfGH, LVerfGE 7, 337, 359) als Ermächtigungsgrundlage für das hier zu überprüfende Gesetz ebensowenig tragfähig ist wie die einfachgesetzliche Norm des § 46 Abs. 1 S. 2 ThürLWG, wonach Mandatsverlustgründe nach anderen als den in § 46 Abs. 1 S. 1 ThürLWG genannten Gründen unberührt bleiben, widerspricht das hier in Rede stehende Gesetz der Thüringer Verfassung. LVerfGE 11
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III. Der Entzug des Abgeordnetenmandats unter den in § 8 ThürAbgUpG genannten Voraussetzungen hätte deshalb eines verfassungsändernden Gesetzes bedurft. 1. Die Verfassung ist die rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens, die die Leitprinzipien bestimmt, nach denen sich politische Einheit bilden und staatliche Aufgaben wahrgenommen werden sollen: Die Verfassung kodifiziert nicht, sondern sie regelt nur das, was als wichtig und der Festlegung bedürftig erscheint; alles andere wird stillschweigend vorausgesetzt oder der Gestaltung oder Konkretisierung durch die übrige Rechtsordnung überlassen (vgl. Hesse Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 17, 21). Die Verfassung bildet die „Rahmenordnung" des Staatswesens, in die sich die einfachen Gesetze einfügen müssen; die Unterscheidbarkeit und rechtliche Umschreibung beider Ebenen gelten als das zentrale Problem (vgl. Wahl Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20/1981, S. 485, 502, 507). Die Verfassung als Rahmen stellt dabei die Grenze des Gesetzesrechts dar: Einfachrechtliche Regelungen dürfen die Verfassung lediglich ausgestalten, sie hingegen nicht ändern. Dazu bedarf es vielmehr einer Umgestaltung dieser „Rahmenordnung". Eine Regelung ohne Änderung ist nur dann zulässig, wenn sie sich in diesen Rahmen einfügt. Das ist vor allem dann der Fall, wenn die Verfassung unter dem Vorbehalt einer gesetzlichen Einschränkung Rechte gewährt (grundrechtliche Gesetzesvorbehalte), wenn sie Gesetzgebungsaufträge enthält (Art. 6 Abs. 5 GG, Art. 19 Abs. 2 ThürVerf) oder sich Direktiven der Verfassung zum Tätigwerden des Gesetzgebers nach Art der Staatszielbestimmungen (z.B. Art. 15, 31 und 36 ThürVerf) oder etwa nach der — allerdings nicht unproblematischen — Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten entnehmen lassen. Der Gesetzgeber bewegt sich aber auch immer dann im Rahmen der Verfassung, wenn er staatliche Aufgaben begründet und Art und Weise ihrer Wahrnehmung festlegt. Eine Art verfassungsrechtlichen Totalvorbehalts für die Tätigkeit des Gesetzgebers besteht insoweit nicht. Die Unterscheidung von verfassungsgebender und -ändernder Gewalt auf der einen Seite und gesetzgebender Gewalt auf der anderen Seite ist grundlegend für die Funktion der Verfassung als rechtlicher Grundordnung des Gemeinwesens. Wo dieser Unterschied aufgehoben ist, verliert die Verfassung ihre Funktion „des System(s) der obersten unverbrüchlichen Rechtsnormen für den Staat", die „Grundlage der staatlichen Rechtsordnung" (W Kägi „Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates" (1945), Neudruck 1971, S. 41 f, vgl. auch ebd. S. 182) und wird durch „den latenten Absolutismus des Mehrheitsentscheides" unterlaufen (ebd., S. 153). Besondere Bedeutung besitzt die Unterscheidung im Bereich des Staatsorganisationsrechts, das sich durch einen „starren Formalismus" auszeichnet (vgl. Isensee Vorbehalt der Verfassung, in: „Freiheit und Eigentum" - FS Walter Leisner zum 70. Geburtstag, 1999, S. 359, 392; vgl. auch Bleckmann Staatsrecht I — Staatsorganisationsrecht, 1993, S. 24ff). Dieser betrifft nicht nur das Verhältnis von Bund und Län-
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dern sowie der obersten Staatsorgane zueinander, sondern auch die Regelungen über die Konstituierung der Organe und ihre Zusammensetzung. Dazu gehört auch der Status des Abgeordneten. Denn den diesen Bereichen zugehörigen Normen kommt in besonderer Weise die Funktion der Verfassung „der Stabilisierung, Rationalisierung und Machtbegrenzimg" (Hesse Grenzen der Verfassungswandlung, in: ders. Ausgewählte Schriften, 1984, S. 38, 42 f ) zum Ausdruck. Und bei deren Änderung ist die Wahrung der jeweils richtigen Handlungsebene von elementarer Bedeutung und stellt nicht nur eine Formalie dar. Rahmenregelungen im Bereich der Konstituierung der staatlichen Organe lassen sich als die „Spielregeln" des demokratischen Willensbildungsprozesses verstehen. Diese sind in einem strikten rechtstechnischen Sinne zu verstehen. Insoweit stellt sich die Verfassung in der Tat als „System rechtstechnischer Kunstgriffe zur Gewährleistung gesetzlicher Freiheit" (E. Forsthoff Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: FS C. Schmitt, 1959) dar. Dies bedeutet eine strikte rechtsstaatliche Bindung an die in der Verfassung getroffenen Entscheidungen des Verfassungsgebers und damit verbunden keine oder jedenfalls geringe Spielräume für eine „Konkretisierung" durch den Gesetzgeber. 2. Demgemäß ist es ohne Belang, wenn das zu überprüfende Gesetz mit der für eine Verfassungsänderung gem. Art. 83 Abs. 2 ThürVerf erforderlichen 2/3-Mehrheit verabschiedet wurde. Denn nach Art. 83 Abs. 1 ThürVerf kann die Verfassung nur durch ein Gesetz geändert werden kann, das ihren Wordaut ausdrücklich ändert oder ergänzt. Damit wird in Anlehnung an Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG der Praxis von Verfassungsänderungen unter der Weimarer Reichsverfassung eine Absage erteilt, wonach Gesetze, die gegen die Verfassung verstießen, dann für zulässig gehalten wurden, wenn sie mit der für eine Verfassungsänderung erforderlichen Mehrheit angenommen wurden (vgl. Linck aaO, Art. 83 Rn. 4). Ein „verfassungsdurchbrechendes" Gesetz ist also unzulässig. 3. Ein verfassungsänderndes Gesetz ist unter dem Gesichtspunkt der Wählbarkeit auch nicht deshalb entbehrlich, weil ein „zwingender Grund" die Regelung zuließe. Zwar sind Differenzierungen im Bereich der Wahlrechtsgleichheit statthaft, wenn sie auf besonderen rechtfertigenden Gründen beruhen (vgl. BVerfGE 34, 81, 99). Daraus läßt sich aber zugunsten des zu überprüfenden Gesetzes nichts ableiten. Es bestehen schon Zweifel daran, ob hier tatsächlich ein derartiger „zwingender Grund" vorliegt. Soweit dafür in der Begründung des Gesetzentwurfs der Umstand angegeben wird, daß sich die Zusammenarbeit mit dem MfS/AfNS grundsätzlich nicht mit der Mitgliedschaft in einem Parlament vereinbaren lasse, gibt die Thüringer Verfassung dafür (wie bereits oben zu I. festgestellt wurde) nichts her. Auch der Befund, die „Akzeptanz" eines Parlaments mit stasibelasteten Mitgliedern könne in der Bevölkerung Schaden nehmen, stellt keinen zwingenden Grund dar, der den Mandatsverlust rechtfertigen könnte. Zwar mag die Wahrung des Ansehens des Landtags grundsätzlich LVerfGE 11
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ein schützenswertes Rechtsgut von Verfassungsrang darstellen (vgl. BVerfG, 2. Kammer des 2. Senats, Beschl. v. 2. Oktober 1991 - Az.: 2 BvR 880/91 - , zitiert nach Juris). Dabei kann hier dahinstehen, welchen inhaltlichen Kriterien die Anwendung dieses Topos genügen muß, um ihn nicht zur beliebigen Formel zu machen. Hier stellt die „Akzeptanz des Parlaments" jedoch deshalb keinen im obigen Sinne zwingenden Grund dar, weil in der Verfassungsberatung seinerzeit ausdrücklich davon Abstand genommen wurde, andere zu einem möglichen Ansehensverlust des Parlaments führende Tatbestände (ζ. B. persönliche Vorteilsnahme eines Abgeordneten) zur Grundlage einer derart weitgehenden Sanktion wie der Mandatsaberkennung zu machen (vgl. Wortprotokoll der 10. Sitzung des Verfassungs- und Geschäftsordnungsausschusses des Thüringer Landtags am 24. September 1992, S. 116). Ahnliche Zweifel äußerte auch Prof. Huber in der 50. Sitzung des Innenausschusses des Thüringer Landtags am 16. Juni 1993 zu § 1 Abs. 2 ThürAbgG a.F.: „Was Sie machen können? Sie müssen überlegen, was ist das Ziel der Regelung? Das Ziel der Regelung kann ja nur sein - Funktionsfahigkeit des Landtags, unter Umständen das Vertrauen der Bevölkerung in den Landtag. Und da stellt sich die Frage: Ist denn die Tätigkeit im MfS von einzelnen Abgeordneten eine Möglichkeit, die das Vertrauen in den Landtag insgesamt so gravierend beeinträchtigen könnte, daß die Akzeptanz seiner Tätigkeit in der Bevölkerung nicht gewährleistet ist? Wenn die Tätigkeit offengelegt ist, glaube ich, weiß jeder Wahlbürger, wen er wählt, und er kann dann nicht vorgeschrieben bekommen, daß er diese Abgeordneten nicht wählen möchte" (zitiert nach dem Wortprotokoll des Thüringer Landtags, S. 153). Auch soweit der Landtag zur Rechtfertigung (im übrigen erstmals) im gerichtlichen Verfahren auf die „Repräsentations- und Funktionsfähigkeit" des Landtags abstellt, rechtfertigt das die hier zu überprüfende Regelung nicht (gegen die allzu leichtfertige Verwendung derartiger Begrifflichkeiten ζ. B. auch BVerfGE 77, 240 Leitsatz 2, 255 sowie 81, 278, 293). Denn die Darlegung, auf welche Weise der Landtag in der Erledigung seiner Aufgaben der Regierungsbildung, Gesetzgebung und parlamentarischen Kontrolle wegen der Mitgliedschaft stasi-belasteter Abgeordneter in mehr als nur unerheblichem Umfang beeinträchtigt werde, ist der Landtag schon im Ansatz schuldig geblieben. Dabei hätte es bei dieser Prognoseentscheidung einer Abwägung aller in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht für die Einschätzung erforderlichen Aspekte bedurft (vgl. VerfGH NW, DVB1. 1999, 1271, 1272). Und nur dann wäre wenn überhaupt — eine Mandatsaberkennung „als letztes Mittel" „aus zwingenden Gründen" in Betracht gekommen, wenn „die Arbeitsfähigkeit des Parlaments ... evidentermaßen nicht mehr gegeben wäre" (BVerfGE 70, 324, 383, abw. Meinung Böckenfi'rde). Derartige Störungen der Funktionsfáhigkeit des Parlaments liegen auch nicht auf der Hand: Für den Deutschen Bundestag konnten die Parlamentarischen Dienste des Deutschen Bundestages nicht feststellen, daß durch die fortdauernde Mitwirkung eines Abgeordneten, bei dem eine Stasi-Mitarbeit festgestellt sein soËte, an der weiteren parlamentarischen Arbeit die Funktionsfähigkeit des Bundestages gefährdet würde (vgl. LVerfGE 11
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Vermerk vom 18.9.1991 zur „Überprüfung von Mitgliedern der Landtage der fünf neuen Bundesländer, des Abgeordnetenhauses von Berlin sowie des Deutschen Bundestages auf eine hauptamtliche oder inoffizielle Tätigkeit für den Staatssicherheitsdienst", S. 27). Warum für den Freistaat Thüringen etwas anderes gelten sollte, ist weder vom Landtag vorgetragen noch sonst ersichtlich. Selbst wenn hier jedoch „zwingende Gründe" im obigen Sinne vorliegen sollten, so vermögen diese nicht von Art. 83 Abs. 1 ThürVerf zu dispensieren. Es gibt — anders als es die Begründung des Gesetzentwurfs (LT-Drs. 2/3237, S. 6) annimmt — keinen Rechtssatz des Inhalts, wonach zwingende Regelungen in jedem Fall durch einfaches Parlamentsgesetz ergehen können. Dementsprechend bedurfte es hier aus den oben dargestellten Gründen eines verfassungsändernden Gesetzes. 4. Das hier gefundene Ergebnis der Notwendigkeit eines verfassungsändernden Gesetzes über diejenigen Fälle des Mandatsverlusts hinaus, die in der Verfassung ausdrücklich geregelt oder stillschweigend traditionell zugelassen werden, entspricht der ganz h. M. in der Literatur (vgl. Schmitt Der Verlust des Abgeordnetenmandats in den politischen Volksvertretungen der Bundesrepublik Deutschland, Dissertation Göttingen 1955, S. 303 f; Scholz^in: Rüthers/Stern (Hrsg.), Freiheit und Verantwortung im Verfassungsstaat, Festgabe zum 10jährigen Jubiläum der Gesellschaft für Rechtspolitik, 1984, S. 385, 397; Badura in: Schneider/Zeh (Hrsg.), aaO, S. 498, 513; zu § 1 Abs. 2 ThürAbgG a.F. Linck aaO, Art. 52 Rn. 7, Art. 53 Rn. 16; Huber ΆΖΟ;/jtó^'aaO; Preußin: Krömng/Pomchmidt/Preuß/Rinken, Handbuch der Bremischen Verfassung, 1991, S. 301, 315; David Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg, Kommentar, 1994, Art. 13 Rn. 24; v. Mangoldt in: Degenhart/Meissner (Hrsg.), Handbuch der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, § 2 Rn. 24; Κ Η. Seifert aaO, § 46 Rn. 2; vgl. auch Niedersächsischer Staatsgerichtshof, OVGE 43,481 ff; a.A. - für § 1 Abs. 2 ThürAbgÜpG a.F. - nur Storr Staats- und Verfassungsrecht, 1998, Rn. 507; vgl. auch Huber in: ders. (Hrsg.), Thüringer Staats- und Verwaltungsrecht, 1. Teil - Staatsrecht, 2000, Rn. 166,168). Eine Bestätigung ergibt sich aus dem aus Art. 21 Abs. 2 GG folgenden, auch für die Länderparlamente unmittelbar wirksamen (BVerfGE 2,1, 76) Verlust des Mandats bei Verbot der betreffenden politischen Partei des Abgeordneten durch das Bundesverfassungsgericht. In diesem Fall ergibt sich der Mandatsverlust derart zwingend aus der Feststellung der Verfassungswidrigkeit der betreffenden Partei, daß er als deren unmittelbare gesetzliche Folge angesehen werden muß, ohne daß es einer ausdrücklichen Ermächtigung des Gesetzgebers zu einem entsprechenden rechtsgestaltenden Ausspruch bedurfte (BVerfGE 2,1, 74; 5, 85, 92). Im Umkehrschluß daraus ist zu folgern, daß es in all den Fällen, in denen sich der Mandatsverlust nicht unmittelbar oder mittelbar aus der Verfassung ergibt — was, wie bereits oben festgestellt wurde, hier der Fall ist - einer Verfassungsänderung bedarf. Hierfür spricht auch Art. 137 GG, der eine eigenständige verfassungsrechtliche Grundlage für Einschränkungen der Wählbarkeit schafft (dazu BVerfGE 42,312, 340 f). LVerfGE 11
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IV. Die Notwendigkeit eines verfassungsändernden Gesetzes wird bekräftigt aus verfassungsgeschichtlicher und verfassungsvergleichender Sicht (vgl. zum folgenden umfassend: Steinberg aaO). In der historischen Situation des grundlegenden Verfassungsumbruchs nach 1945 wurde in Deutschland die Möglichkeit der Einschränkung politischer Rechte von Verfassungs wegen durch die „ausdrückliche Statuierung einer eng umgrenzten Ausnahme vom allgemeinen Diskriminierungsverbot'' in der „Sondervorschrift" (BVerfGE 63, 266, 305 — Sondervotum Simon —) des Art. 139 GG wie auch in einer Reihe von ähnlichen landesverfassungsrechtlichen Bestimmungen zugelassen. Diese verfassungsrechtliche Regelung wurde deshalb für notwendig gehalten, weil die zur Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus erlassenen Rechtsvorschriften Ausnahmen von den im Grundgesetz und den Landesverfassungen garantierten Freiheitsrechten und hier insbesondere auch Beschränkungen der staatsbürgerlichen Rechte wie des aktiven und passiven Wahlrechts enthielten (vgl. z. B. Jess in: Bonner Kommentar, Art. 139 Anm. II.l und 3c). Soweit in den Bundesländern die Notwendigkeit einer Abgeordnetenanklage bzw. eines Parlamentsausschlusses bei Mißbrauch der Stellung des Mandatsträgers gesehen wurde, sind die entsprechenden Regelungen ausnahmslos in der Landesverfassung verankert (Art. 42 Baden-Württembergische Verfassung; Art. 61 Bayerische Verfassung; Art. 61 Brandenburgische Verfassung; Art. 17 Niedersächsische Verfassung; Art. 85 Saarländische Verfassung; Art. 85 Bremische Verfassung; Art. 7 Abs. 2 Hamburgische Verfassung). Auch die in Sachsen vorgesehene Abgeordnetenanklage wegen aus der Stasi-Mitarbeit folgender Untragbarkeit hat mit Art. 118 Sächsische Verfassung eine ausdrückliche verfassungsgesetzliche Legitimation erfahren. Dieser für Deutschland gewonnene Befund wird abgesichert durch einen Vergleich zum Umgang mit vergleichbaren Problemen in anderen westlichen Verfassungsstaaten. Eine dem Art. 139 GG vergleichbare Bestimmung findet sich in den Übergangs- und Schlußbestimmungen der Italienischen Verfassung von 1947. In der Verfassungspraxis der USA läßt sich eine äußerste Zurückhaltung in der Aberkennung eines Abgeordnetenmandats wegen eines dem Mandat vorausliegenden Verhaltens feststellen. Eine ausdrückliche verfassungsrechtliche Regelung findet sich im 14. amendment, sec. 3 der U.S.Verfassung. In dem Fall Powell v. McCormack (395 U.S. 486, 1969) betont der U.S. Supreme Court, die Voraussetzungen der Aberkennung eines Abgeordnetenmandats müßten in der Verfassung festgelegt sein und stünden nicht zur Disposition der Legislative. Mit einem Zitat von Alexander Hamilton während des Verfassungskonvents in Philadelphia wird es als „fundamental principle of representative government" bezeichnet, „that the people should choose whom they please to govern them." Aufschlußreich ist auch die Rechtslage in den mittel- und osteuropäischen Staaten des früheren kommunistischen Herrschaftsbereichs. Der Entzug des Mandats aus poliLVerfGE 11
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tischen Gründen oder wegen vor dem Beginn der Legislaturperiode liegenden Verhaltens scheidet grundsätzlich aus. Soweit eine Tätigkeit für bestimmte Organisationen in den sog. Lustrationsverfahren festgestellt wird, bleibt es grundsätzlich bei der Veröffentlichung dieser Tatsache, ohne daß rechtliche Konsequenzen gezogen werden. Dies gilt grundsätzlich auch für Polen, wo nicht die Verstrickung in das frühere System als solche, sondern nur die falschen Angaben über eine frühere Zusammenarbeit mit Organisationen des alten Regimes, die sog. Lustrationslüge, zum Mandatsverlust führen. Die parlamentarische Versammlung des Europarats hat am 27. Juni 1996 mit der Resolution Nr. 1096 — gestützt auf die „Guidelines to Ensure that Lustration Laws and Similar Administrative Measures Comply With the Requirements of a State Based on the Rule of Law" des Rechts- und Menschenrechtsausschusses, Bericht Nr. 7568 v. 3.2.1995 — die Unanwendbarkeit der Lustrationsgesetze auf Abgeordnete ausdrücklich und unter Hinweis auf mögliche Verfahren zur Durchsetzung des in Art. 3 des Ersten Zusatzprotokolls vom 20. März 1952 zur Europäischen Menschenrechtskonvention verbürgten Rechts auf freie Wahlen betont. Aus alledem lassen sich als „Ubergangsrechtsprinzipien im Verfassungsstaat" (Haberle W D S t R L 51, 119f) feststellen: In Zeiten des Verfassungsumbruchs sind für den Ubergang, d. h. befristet, Einschränkungen demokratischer Rechte zulässig. Diese Einschränkung kann nur die Verfassung in ihren Übergangsbestimmungen vornehmen. Demgegenüber ist die Auffassung des Europarats deutlich restriktiver, der Kandidaten für Parlamente und Abgeordnete von derartigen Einschränkungen ausnehmen will; diese Position des Europarats ist in den ost- und mitteleuropäischen Staaten durchweg aufgenommen worden. V. Angesichts des Fehlens einer entsprechenden Regelung in der Thüringer Verfassung kann dahinstehen, unter welchen inhaltlichen und zeitlichen Voraussetzungen die Aberkennung des Abgeordnetenmandats wegen parlamentarischer Unwürdigkeit aufgrund einer Zusammenarbeit mit dem MfS zulässig für einen „Ubergangszeitraum" vorgesehen werden könnte. Ebensowenig bedarf es der Entscheidung darüber, ob ein derartiges verfassungsänderndes Gesetz sich im Rahmen des Homogenitätsgebotes des Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG hält und welche Bedeutung ein möglicher Verstoß gegen Art. 3 des 1. Zusatzprotokolls der Europäischen Menschenrechtskonvention oder Art. 25 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (dazu Steinberg aaO, V.) besitzt. Da der Verfassungsgerichtshof die angegriffene Norm insgesamt wegen Verstoßes gegen die Thüringer Verfassung für nichtig erklärt, braucht er sich nicht mit der Frage auseinanderzusetzen, ob die Regelung auch deshalb mit der Thüringer Verfassung unvereinbar ist, weil sie auch auf bereits gewählte Abgeordnete Anwendung findet. Eine entsprechende Entscheidung hätte nämlich nur den Ausspruch einer Teilnichtigkeit erlaubt, im übrigen jedoch die Verfassungsmäßigkeit der Norm feststellen LVerfGE 11
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müssen (BVerfGE 68, 272, 284ff; 71, 230, 272ff). Dies kam jedoch aus den oben genannten Gründen nicht in Betracht. Der Verfassungsgerichtshof verkennt nicht, daß mit dieser Entscheidung die für die Abgeordnetenüberprüfung anerkannte Prämisse, die frühere Tätigkeit eines Parlamentariers fur die Staatssicherheit könne diesem die Legitimität nehmen, Abgeordneter zu sein (vgl. BVerfGE 94, 351, 366; ThürVerfGH, LVerfGE 7, 337, 351), ohne rechtliche Sanktion bleibt. Doch damit bleiben die aufgrund des ThürAbgUpG getroffenen Feststellungen nicht notwendigerweise ohne Konsequenzen. Die hierfür zu treffenden Würdigungen haben jedoch — wie auch im Bund und anderen Ländern — „Fraktionen und Gruppen zu treffen" und die Thüringer Öffentlichkeit (vgl. BVerfGE 99,19, 43). D. Das Verfahren ist gem. § 28 Abs. 1 ThürVerfGHG kostenfrei. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung ergibt sich aus § 29 Abs. 2 ThürVerfGHG. Ziffer 1 der Entscheidungsformel dieses Urteils ist gem. § 25 Abs. 2 S. 2 ThürVerfGHG im Gesetz- und Verordnungsblatt für den Freistaat Thüringen zu veröffentlichen. E. Diese Entscheidung ist einstimmig ergangen.
Nr. 2* Das vom betroffenen Abgeordneten eingeleitete Organstreitverfahren über den vom Landtag beschlossenen Mandatsverlust erledigt sich nicht mit dem Ende der Wahlperiode. Die für die Abgeordnetenanklage (z.B. nach Art. 118 Sächsische Verfassung) geltenden Grundsätze (vgl. SächsVerfGH, B. v. 13. Januar 2000 - A z . Vf. 41-IX-99) sind auf das verfassungsgerichtliche Organstreitverfahren zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Beschlusses über den Mandatsverlust nicht übertragbar. Verfassung des Freistaats Thüringen Art. 50 Abs. 3, 53 Abs. 1 Thüringer Verfassungsgerichtshofsgesetz §§ 38, 39 Abs. 3 * Die Entscheidung ist im Volltext beim Verfassungsgerichtshof des Landes Thüringen erhältlich (Adresse s. Anhang).
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Urteil vom 25. Mai 2000 - VerfGH 4/99 in dem Organstreitverfahren der Frau Almuth Beck Entscheidungs formel: 1. Der Beschluß des Thüringer Landtags vom 29. April 1999 über den Mandatsverlust der Antragstellerin verstößt gegen Art. 53 Abs. 1 ThürVerf. 2. Der Freistaat Thüringen hat der Antragstellerin ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.
Nr. 3* 1. Steht das Handeln eines Fachausschusses des Thüringer Landtags in unmittelbarem Zusammenhang mit den in der Geschäftsordnung des Thüringer Landtags geregelten Befugnissen des Ausschusses, so ist der Ausschuß richtiger Antragsgegner eines Rechtsbehelfs gegen eine Maßnahme des Ausschusses, nicht der Landtag (Abgrenzung zu ThürVerfGH, B. v. 11. März 1999 Αζ.: VerfGH 12/98 = LVerfGE 10, 500 ff). 2. Bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 26 Abs. 1 ThürVerfGHG ist ein strenger Maßstab anzulegen (wie ThürVerfGH, LVerfGE 6,381,385). 3. Zu den Kriterien der Abwägungsentscheidung beim Ausschluß eines Mitarbeiters einer Fraktion von den nichtöffentlichen Sitzungen eines Fachausschusses des Thüringer Landtags. Verfassung des Freistaats Thüringen Art. 62 Abs. 1 Thüringer Verfassungsgerichtshofsgesetz §§11 Nr. 3, 26 Abs. 1 Urteil vom 25. Mai 2000 - VerfGH 6/00 in dem Verfahren über den Antrag der Fraktion der „Partei des Demokratischen Sozialismus" (PDS) im Thüringer Landtag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung Entscheidungsformel: Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. * Die Entscheidung ist im Volltext beim Verfassungsgerichtshof des Landes Thüringen erhältlich (Adresse s. Anhang).
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Sachregister Abgabenrecht Gesetzesänderung und Frist für die Verfassungsbeschwerde 435 Abgeordneter s. a. Parlament Ansehensverlust und Mandatsverlust 499 Fragerecht 166 ff Freiheit des Mandats 493 Grundgesetz und Mandatsverlust 494 Informationserfordernis 170 Mandatsverlust ohne gesetzliche Grundlage 492 Mandatsverlust, Organstreitverfahren und Ende der Wahlperiode 503 Manadatsverlust und Normenkontrollverfahren 406 Parlamentsunwürdigkeit 493 Parteienverbot und Mandatsverlust 500 Wahlkreisgrößen und Wahlrechtsgleichheit 335 ff Abordnung und Richterstatus 256 Abstrakte Normenkontrolle s. Normenkontrolle (abstrakte) Abstraktionsprinzip Außenvertretungsberechtigung/ innergemeindliche Willensbildung 108 Abwasserentsorgung Selbstverwaltungsaufgabe der Gemeinden 103 ff Abwehr und Verhütung von Straftaten 287 Akustische Überwachung Großer Lauschangriff 280 ff Allgemeinheit Gemeinwohlziele und private Unternehmenstätigkeit 389 ff
Grundrechtliche Betroffenheit und Belange der - 289 Amt für Nationale Sicherheit Abgeordnetenüberprüfung/Thüringen) 484 ff Mitarbeiteraufwendungen von sächsischen Abgeordneten 348 ff Amtsausscheiden Wählbarkeit zum Staatsgerichtshof, fehlende 256 Amtsgeheimnis und großer Lauschangriff 275 ff Amtspflicht Verletzung verfassungsrechtlicher 29 Änderungen Rechts- und Gesetzeskraft von Normenkontrollentscheidungen 15 ff Änderung eines Gesetzes Frist für die Verfassungsbeschwerde 434 Angehörige und großer Lauschangriff 293 Anhörung Gesetzliche nicht geregelte Form einer - 163 Kommunale Neugliederung, betroffene Gemeinden 384 ff Anspruch und Geltendmachung 226 Arbeitsmarkt Einschätzungs- und Prognosevorrang des Gesetzgebers 389 Atomrecht BVerfG-Rechtsprechung 459 Aufwandsteuer Jagdsteuer als örtliche - 250
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Sachregister
Auskunftsersuchen Parlamentarische Anfragen 166 ff Auslagenerstattung Organstreitverfahren 175 Auslandszustellung und Zustellungsnachweis 125 Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien 495 Grenzen verfassungskonformer 142 Außerordentliche Beschwerde und Frist für eine Grundrechtsklage 234 Zulässigkeit, ausnahmsweise 230 Baden-Württemberg Finanzausgleichsgesetz, Soziallastenausgleich 14 Kommunalwahlen und Sperrklauseln 330 Mitglieder von Aufsichtsorganen 23 ff Örtliche Träger der Sozialhilfe 4,14 ff Vorlage an den Staatsgerichtshof 22 Wahlrecht, Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz 20 ff Baden-Württemberg (Landesverfassung) Beteiligungs fähiger Gemeindeverband 14 Kommunale Verfassungsbeschwerde 18 Ministeranklage 30 Normenkontrollverfahren auf Einzelantrag, unbekanntes 19 ff Organstreitverfahren 28 Verfassungsänderung, erschwerte 195 Baugesetzbuch Enteignungsgrundlage 346 f Bayern Kommunalwahlen und Sperrklauseln 330 Wahlprüfung und Verfassungsbeschwerde 72 Bayern (Landesverfassung) Verfassungsänderung, erschwerte 195 Begnadigung Straferlaß und Verfassungsbeschwerde 124 ff Behördenleiter Anordnung eines großen Lauschangriffs 295
Behördliche Vorgänge und Akte öffentlicher Gewalt 75 Beichtgeheimnis und großer Lauschangriff 275 Beitrittsgebiet Förderung des Aufbaus Ost 452 Bergrecht Private Unternehmenstätigkeit 389 Berlin Abstimmungsverfahren über ein Volksbegehren 49 ff Bezirke als Teil der vollziehenden Gewalt 62 ff Einheitsgemeinde 65,67 Rechtsstellung der Bezirke 65 Verwaltungsreformgesetz 1994 66 Volksinitiative,Volksbegehren und Volksentscheid 51 Wahlprüfung und Verfassungsbeschwerde 68 ff, 72 Wahlprüfungsverfahren 39 ff Berlin (Landesverfassung) Eigentumsrecht 80 ff, 86 Grundrechte, mit dem GG übereinstimmend verbürgte 86 Organstreitverfahren und Beteiligtenfähigkeit 65 Organstreitverfahren und Rechtsstellung Berliner Bezirke 62 ff Studentenschaft als Grundrechtsträgerin 92 ff Träger der öffentlichen Gewalt 55 Volksgesetzgebung 56 Wahlprüfung und Verfassungsbeschwerde 72 Berufsfreiheit und effektiver Rechtsschutz 460 Berufsgeheimnis und großer Lauschangriff 275 ff Berufsrichterliche Tätigkeit Mitgliedschaft im Staatsgerichtshof 254 ff Beschleunigungsinteresse und Erfordernis rechtlichen Gehörs 47 Beschlußfassung und Entscheidung, Fristenlauf 151
Sachregister Beschwer Frist für die Verfassungsbeschwerde 435 Beschwerde, außerordentliche und Frist für eine Grundrechtsklage 234 Beschwerdebefugnis Gesetzesbetroffenheit, unmittelbare 273 Beschwerdemöglichkeit Ausnahmsweise Zulässigkeit einer außerordentlichen - 230 Besitz Eigentumsgarantie und Besitzeinweisungsbeschluß 345 Besitzeinweisungsbeschluß Entschädigungsgrundlage, fehlende 343 ff Bestimmtheitsgebot und Bußgeldvorschrift 160 Betroffener eines großen Lauschangriffs 298 Beweisaufnahme Willkürverbot und Absehen von einer 128 Bindungswirkung Normenkontrollentscheidung ohne Nichtigkeitserklärung 17 Biotopschutzbestimmungen und bußgeldbwehrter Bruchwald 160 Brandenburg Biotyp Bruchwald, Bußgeldrecht 160 Braunkohlentagebau 129 ff Kommunale Verfassungsbeschwerde 101 Psychisch-Kranken-Gesetz 164 Wahlprüfungsverfahren 148 ff Zweckverbandstätigkeit Wasserversorgung, Abwasserentsorgung 99 ff Brandenburg (Landesverfassung) Änderung der Verfassung 195 Bestimmtheitsgebot 160 Entscheidungsverantwortlichkeit des Verordnungsgebers 136 Faires Verfahren 161 ff Freiheitsentzug und Rechtsbeistand 161 ff
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Haftbefehl und Vertrauensperson 126 Kommunale Selbstverwaltung 105 Parlamentarische Anfrage und verfassungsgerichtliche Überprüfung 170 Pressefreiheit 127 Rechtliches Gehör 124 ff, 128 Braunkohleabbau Nichtigkeit des Heuersdorfgesetzes (Sachsen) 356 ff Tagebau Jänschwalde 129 ff Bremen Bürgerschaft als zentraler Bestandteil verfassungsmäßiger Ordnung 196 Kommunalwahlrecht für Unionsbürger 199 ff Konkordanzmodell 211 Mandate des Landtags, der Stadtbürgerschaft 210 Modell der Stadtstaatlichkeit und Wahlrechtsdifferenzierungen 209 Stadtbürgerschaft, Bürgerschaft 199 ff Wahlrecht deutscher Bürger/Wahlrecht der Unionsbürger 211 Zulassung eines Volksbegehrens 179 ff Bremen (Landesverfassung) Finanzvorbehalt 197 Fundamentalprinzipien 183 Stadtstaatliche Struktur 209 Verfassungsänderung, erschwerte 195 Bundesergänzungszuweisungen Kommunale Finanzausstattung 451 Bundes j agdgesetz Jagdrecht und Hegepflicht 251 Bundesländer s. Landesrecht Bundesrecht Auslegung, Anwendung als unmittelbarer Verfahrensgegenstand 345 Homogenitätsprinzip 183,209 und Landesgrundrechte als Prüfungsmaßstab 224 und Landesverfassungsgerichtsbarkeit 86 Verfassungsrechtsänderung, erschwerte 194
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Sachregister
Verfassungsrechtliche Zuständigkeit 468 Wahlkreisgrenzen 339 Wahlrechtsgrundsätze 155 Bundesrecht bricht Landesrecht Kontaktsperregesetz 294 Bundesstaatsprinzip und Verfassungsautonomie der Länder 190 Bundestag und Wahlpriifungs verfahren 71 Bundesverfassungsgericht Abgabenrecht, geändertes und Verfassungsbeschwerde 435 Abgeordnetenmandat, freies 493 Abgeordnetenüberprüfung 496 Atomrecht 459 Beteiligtenfägigkeit juristischer Personen des öffentlichen Rechts 68 Betroffenheit durch ein Gesetz, unmittelbare 273 Datenschutzurteil 460 Einschätzungs- und Prognosevorrang des Gesetzgebers 389 Freiheitsentzug und Hinzuziehung eines Rechtsbeistandes 162 Funktionsfähigkeit von Volksvertretungen 323 Gesetzesmaterialien, Bedeutung 495 Gesetzgeberisches Unterlassen 313 Gesetzliche Zuständigkeitsregelung 468 Grundrechtsschutz und Verfahrensregelungen 460 Homogenität Bundesverfassung/Landesverfassung 190 Informationelle Selbstbestimmung 297 Kernbereich privater Lebensgestaltung 290 Kommunale Aufgabenerfiillung 414 Kommunale Selbstverwaltung, Kernbereich 106,458 Kommunalwahlrecht für Ausländer 210 Kontaktsperreentscheidung 281 Mühlheim-Kärlich-Fall 459
Parlamentsausscheiden und Nachfolgeregelung 154 Partei und Verfassungsbeschwerde 310 Parteien in der Gründungsphase 42 Politische Parteien und Organstreitverfahren 310 Presserechtliche Gegendarstellung 460 Rückwirkungsverbot 120 Rundfunkstaatsvertrag 460 Sperrklausel-Rechtsprechung 324 Tagebuchentscheidung 290 Unverletzlichkeit der Wohnung 288 Verfassungswidrige Gesetze und unmittelbare Nichtigkeitsfolge 16 Wählbarkeitsvoraussetzungen, -einschränkungen aus zwingenden Gründen 491 Wahlkreisgrenzen 339 Wahlrecht, Schutz des subjektiven 71 ff Wahlrecht, subjektives 74 Wahlrechtsordnungen, zugelassene Differenzierungen 208 Wahlrechtsschutz und Verfassungsbeschwerde 71 Bund-Länder-Verhältnis Kostenregelungen und kommunale Finanzverfassungen 443 Bunds treue und Gesetzgebungskompetenz 251 Bund und Länder Bedeutung der Verfassung 497 f. Bürgermeister Sperrklauseln und Einführung einer Direktwahl für - 315 Datenerhebung Technische Mittel und Erhebung personenbezogener Daten 265 ff Datenschutz Gesetzeserfordernis für Eingriffe 460 Rechtsweggarantie und Vernichtungspflicht 297 und parlamentarische Anfragen 172 Datenschutzbeauftragter Unterrichtung über großen Lauschangriff 296 ff
Sachregister DDR Kommunalwahlgeset2 1990 307 f Demokratie Parlamentswahlen und Volksgesetzgebung 56 Wahlrechtsgrundsätze 79 Demokratieprinzip Eingriff in die kommunale Selbstverwaltung 134 Rechtsverordnungen 142 und kommunale Aufgabenerfullung 414 und kommunale Selbstverwaltung 106 und Mitwirkung politischer Parteien 322 und Quorenberechung 194 und Stellung der Verfassung 194 und Unterstützungsquorum für eine Verfassungsänderung 193 und Volksgesetzgebung 190 Ungültigkeit von Landtagswahlen 340 Dritter Zielperson einer Überwachung 282 Dynamische Verweisung und demokratisches Prinzip 279 und Verlagerung von Gesetzgebungskompetenzen 279 Effektiver Rechtsschutz Rechtsschutzbeschränkung durch Befristung 152 Ehe und Familie und großer Lauschangriff 293 Eheleute und Kernbereich privater Lebensgestaltung 290 Eigenbedarfskündigung und Räumungsprozeß 129 Eigentumsrecht Anforderungen an eine Mieterhöhungserklärung 80 ff Einigungsvertrag Enteignungsgrundlage 346 Einschätzungsprärogative Aufgabeentzug gegenüber Gemeinden 109 Einschätzungsvorrang des Gesetzgebers 389
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Einspruchsverfahren Volksbegehren 55 ff Einstweilige Anordnung Wahlgrundrecht 242 Einstweilige Verfügung Verbleib des Zustellungsnachweises 125 Energiepolitik Braunkohlenplanung als Fachplanung 136 Energieversorgung Gemeinwohlziel 388 Nichtigkeit des Heuersdorfgesetzes (Sachsen) 356 ff Energiewirtschaftsgesetz Enteignungsgrundlage 346 Enteignung Entschädigungsgrundlage, fehlende 343 ff Entlassung Rechtspflicht zur Entlassung von Regierungsmitgliedern 32 Entscheidung und Beschlußfassung, Fristenlauf 151 Ermächtigungsgrundlage Rechtsverordnung und verfassungswidrige - 142 Europäische Charta Kommunale Selbstverwaltung 108 Europäisches Recht Einführung des Kommunalwahlrechts für Unionsbürger 199 ff Exekutive s. Regierung Fachgerichtsbarkeit Höchstes in der Sache zuständige Gericht 227 ff Mietrechtsentscheidungen 80 ff Nichtzulassungsbeschwerde 249 Satzungskontrolle 253 und individuelle Normenkontrolle 22 und kommunale Verfassungsbeschwerde 102 und Rechtswegerschöpfung 238 Verfassungsrechtliche Einwendungen 250 Verkehrsunfallprozeß 147
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Sachregister
Faires Verfahren Freiheitsentziehung und Hinzuziehung eines Rechtsbeistandes 161 ff Feststellende Entscheidungen Verfassungsbeschwerde 77 Finanzausstattung Verpflichtungen gegenüber Kommunen 8 Finanzdienstleistungen Öffentlich-rechtliche/private Kreditinstitute 407 Finanzmittel Verteilung Länder/Kommunen 13 Finanzverfassung Bundesergänzungszuweisungen 451 Bund-Länder-Verhältnis und kommunale Finanzen 450 Finanzausgleichsgesetzgeber, materiellrechtliche Bindungen 459 Kommunale Finanzen s. dort Finanzvorbehalt und gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht 197 und Volksgesetzgebung 197 Forschung und Lehre Grundrechtsschutz für juristische Personen des öffentlichen Rechts 94 Fragerecht Abgeordnetenrecht 166 ff Fraktion Antrag im Organstreitverfahren 28 Funktion 29 Mitwirkung im innerparlamentarischen Raum 29 Prozeßstandschaft für Landtagsrechte 33 Rechtswidriger Landtagsbeschluß 33 und Regierung 33 Freiheitsentzug und Hinzuziehung eines Rechtsbeistandes 161 ff und Vertrauenspersonen 126 Frist Änderung eines Ursprungsgesetzes und Jahresfrist 434 Organstreitverfahren 31,317
Rechtliches Gehör im Wiedereinsetzungsverfahren 47 Verfassungsbeschwerde 227 ff Verfassungsbeschwerde und außerordentlicher Rechtsbehelf 234 Wahlprüfungssachen 151 Funktionsfähigkeit Sperrklauseln und Gemeindevertretungen 306 ff Gefahrenabwehr und großer Lauschangriff 276 ff Gefahrenvorsorge und großer Lauschangriff 287 Gegendarstellung Veröffentlichung einer vom Gericht geänderten 127 Gegenvorstellung und Frist zur Erhebung einer Grundrechtsklage 234 Gegenwärtige Gefahr Rechtsgüterschutz durch großen Lauschangriff 281 Geheimhaltungsinteresse und parlamentarische Anfragen 172 ff Gemeinden s. a. Kommunale Selbstverwaltung Antragebefugnis im Normenkontrollverfahren 18 Aufgabenbereich, umfassender 103 Auflösung 108 Auflösung gegen ihren Willen 383 ff Auflösung, anderweitiger Eingriff 129 ff Außenvertretungsberechtigung/innergemeindliche Willensbildung 108 Berlin als Einheitsgemeinde 65 Gebietshoheit 133 Gesetzgeberentscheidung anstelle der Gemeindevertretung 106 Neugliederung und Anhörungsrechte 384 ff Organisationshoheit 103 Planungshoheit 133 Stellung der Selbstverwaltungsorgane 107 Zweckverbandsmitgliedschaft 114 ff
Sachregister Gemeindeverband Antragsbefugnis im Normenkontrollverfahren 18 Beteiligung an kommunaler Verfassungsbeschwerde 14 Sparkassenzweckverbände 406 Gemeindevertretungen Sperrklauseln im Kommunalwahlrecht 306 ff Gemeine Gefahr und großer Lauschangriff 285 Gemeinwohlgründe Übertragung kommunaler Aufgaben 416 und Einschränkung kommunaler Selbstverwaltung 109 ff Gemeinwohlorientierung Parlamentsgesetze, Volksgesetzgebung 190 Gemeinwohlziele Energieversorgung 388 Gerechtigkeitsgedanke und Inanspruchnahme von Steuerquellen 252 Gericht Angezeigte Verspätung und Erfordernis rechtlichen Gehörs 44 ff und Wahlprüfungsgerichte, Abgrenzung 239 Gerichtliche Entscheidungen Prüfungsgegenstand bei der Grundrechtsklage 227 ff Gerichtliche Wahlprüfung Parlamentarisches Wahlprüfungsorgan 236 ff Gerichtszuständigkeit Höchstes in der Sache zuständiges Gericht 234 Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht Wahrung bei der Haushaltswirtschaft 197 Gesetz Ausschluß individueller Normenkontrolle 21 f Betroffenheit, unmittelbare 273 Eingriff in die kommunale Selbstverwaltung 134
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Nichtvereinbarkeitserklärung anstelle Nichtigkeitserklärung 19 Normenkette (Rechtsstaatlichkeit, Rechtssicherheit) 347 Normenkontrollverfahren und Nichtigerklärung 16 Parlamentsgesetz und Volksgesetzgebung, Gemeinwohlorientierung 190 Vorgriff auf künftige Verfassungsänderung 278 Gesetzesänderung Frist fur die Verfassungsbeschwerde 434 Gesetzeserlaß und Unterlassen des Gesetzgebers 314 Gesetzeskraft Normenkontrollentscheidung ohne Nichtigkeitserklärung 17 Normenkontrollentscheidungen 15 ff Gesetzesmaterialien Bedeutung für die Auslegung 495 Gesetzesverkûndung und abstrakte Normenkontrolle 406 Gesetzesvorbehalt Grundgesetzlicher 497 Gesetzgeber Einschätzungs- und Prognosevorrang 389 Gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit und unterschiedliche Inanspruchnahmen denkbarer Steuerquellen 252 Gesetzgeberisches Unterlassen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei verfassungswidrigem — 448 Streitgegenstand im Organstreitverfahren 313 Gesetzgebung durch Parlament, durch Volksgesetzgebung 56 Parlamentshandeln, autonomes 445 Totalvorbehalt, kein verfassungsrechtlicher 497 und gesetzesausfuhrende Ermessensverwaltung 445
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Sachregister
und Sperrklauseln 324 und verfassungsgebende Gewalt 497 Volksgesetzgebung, Besonderheiten 473 Gesetzgebungsbefugnis Jagdsteuer des hessischen Gesetzgebers 242 ff Gesetzgebungskompetenz Braunkohlenplanung 136 Bundestreue und mißbräuchliche Inanspruchnahme einer — 251 und dynamische Verweisungen 279 Öffentliche Sicherheit und Ordnung 276 Gesetzliche Grundlage Gerichtsentscheidung ohne - 230 Gesetzwidrigkeit Schwerwiegender Mangel greifbarer 230 Gewaltenteilung Organstreitverfahren und gesetzgeberisches Unterlassen 314 und Selbstverwaltungsorgane 107 und Wahlprüfungsgericht 239, 240 Glaubens- und Gewissensfreiheit und großer Lauschangriff 293 Gleichheitssatz und Jagdsteuer des hessischen Gesetzgebers 252 Politische Parteien und Verfassungsbeschwerde 310 Gnade Verfassungsbeschwerde und Straferlaß 124 ff Grundgesetz Durchgriffsnorm 316 Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen 251 Wohnungsschutz 278 Grundrechte Landesverfassungen, parallel verbürgte - 224 Grundrechtsbindung aller Staats funktionen 194 Haftbefehl Unterrichtung von Vertrauenspersonen 126
Hamburg (Landesverfassung) Verfassungsänderung, erschwerte 195 Hauptverhandlung Angezeigte Verspätung und Erfordernis rechtlichen Gehörs 44 ff Haushaltsrecht Leistungsfähigkeit und kommunale Finanzausstattung 13 Parlamentsvorbehalt, Budgetrecht 197 Rechtstellung Berliner Bezirke 63 ff Wahrung gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts 197 Heilung Form- und Verfahrensfehler 113 Hessen Wahlprüfung und Verfassungsbeschwerde 72 Jagdsteuer 242 ff Mitgliedschaft im Staatsgerichtshof 254 Staatsgerichtshof als Gericht 258 Wählbarkeit zum Staatsgerichtshof 256 Hessen (Landesverfassung) Gerichtsbarkeit 241 Gleichheitssatz 252 Grundrechte des GG, parallele Verbürgung 224 Rechtliches Gehör 239 Rechtsstaatsprinzip 224 Richter auf Lebenszeit, Berufung 259 Richterliche Tätigkeit 257 Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen 252 Umwelt- und Naturschutz 253 Heuersdorfgesetz Unvereinbarkeit mit der LV Sachsen 356 ff Hochschulförderung und Stellung der Studentenschaft 94 Homogenitätsgebot und landesverfassungsrechtliche Fundamentalprinzipien 183 und Verfassungsautonomie der Länder 209
jister Informationelle Selbstbestimmung und Kenntnis eines großen Lauschangriffs 297 ff Investitionsförderung Aufbau Ost 452 Jagdsteuer Gesetzgebungsbefugnis 242 ff Jänschwalde Verbindlichkeit des Braunkohlenplans 129 ff Juristische Person des öffentlichen Rechts Beteiligtenfähigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren 68 Grundrechtsträgerin 92 ff Juristische Personen Verfassungsbeschwerdeverfahren 67 Kassatorische Entscheidungen Verfassungsbeschwerde 77 Kenntnisnahme Durchführung eines großen Lauschangriffs 296 ff Kommunale Aufgaben und Landesaufgaben, Gleichwertigkeit 8 Kommunale Finanzen Angemessenheitsprinzip, Methodik zur Verwirklichung 446 Aufgabenübertragung und Kostendeckung als Gesetzesaufgabe 445, 448 Bundesergänzungszuweisungen 451 Eigenverantwortlichkeit und Mindestausstattung 455 Finanzierungsgarantie, landesverfassungsrechtliche 456 Finanzrechtliche Garantien 441 Finanzverfassung und ständige Aufgabenübertragung 439 Förderung des Aufbaus Ost 452 Freiwillige Aufgabenübernahme 456 Kernbereiche, Randbereiche und deren Abgeltung 453 f. Kommunalfinanzen als Teil der Länderfinanzen 450
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Konnexitätsgrundsatz, dualistische Finanzgarantie 444 Kostenausgleich bei Aufgabenübertragung 442 Kostendeckung bei Aufgabenübertragung 436 Krankenhausfinanzierung 453 Kürzungen durch das Land 455 Leistungsfähigkeit des Landes 455 Leistungskraft, allgemeine und Kostenausgleich 447 Mindeststandard als bundesstaatliche Vorgabe 455 Selbstbestimmte und fremdbestimmte Aufgaben 444 Sparwille, Aufforderung zum Sparen 457 und kommunale Selbstverwaltungsgarantie 13 Verfassungswidriges Unterlassen gesetzlicher Regeln 449 Verschuldung, zumutbare 456 Kommunale Neugliederung Anhörung betroffener Gemeinden 384 Kommunale Normenkontrolle Heuersdorfgesetz (Sachsen) 356 ff Individueller Rechtsschutz 35 Kommunale Selbstverwaltung Abstraktionsprinzip 108 Anhörung bei kommunaler Neugliederung 384 ff Aufgaben des örtlichen Wirkungskreises 407 Auflösung von Gemeinden 383 ff Berliner Bezirke 65 Eigenverantwortliche Aufgabenwahrnehmung 410 Eingriff durch Gesetz/Verordnung 134 Europäische Charta 108 Finanzausstattung 13 Finanzausstattung und Selbstverwaltungsgarantie 454 Freiwillige Aufgabenübernahme und Finanzierungsgarantie 456
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Sachregister
Gebietsänderungen als Kernbereich 458 Gemeindeauflösung und anderweitiger Eingriff 129 ff Gemeinwohlbegründung einer Aufgabenübertragung auf überkommunalen Träger 416 Gemeinwohlgründe für Einschränkungen 109 ff Gesetzliche Entscheidung anstelle Gemeindevertretungsentscheidung 106 Gremien der Selbstverwaltung, Abgrenzung zu Parlamenten 107 Kernbereiche, Randbereiche 453 f. Kernbereich, unantastbarer 106 Kommunale Sparkasse, Errichten und Betreiben 407 Kompetenzrechtlicher Charakter 414 Kompetenzverlagerung 103 Landes- und Kommunalaufgaben, gleichwertige 454 Organisationshoheit der Gemeinden 103 Planungshoheit 133 Rechtsnatur 102 Sparkassenzweckverbände 406 Übertragung auf höherstufige Verwaltungsträger 412 und Demokratieprinzip 106 und finanzrechtliche Garantien 441 und Parlamentsvorbehalt 107 und Zweckverbandsmitgliedschaft 99 ff und Zweckverbandstätigkeit 104 ff Verwaltungsvereinfachung, Zuständigkeitskonzentration 417 Vorbehalt gesetzlicher Ausgestaltung 105 Vorrang dezentral-kommunaler vor zentraler Tätigkeit 414 Wasserversorgung, Abwasserentsorgung 103 Wirtschaftlichkeit, Sparsamkeit 417 Kommunale Sparkassen Errichten/Betreiben als kommunale Selbstverwaltung 407 Übertragung der Trägerschaft 409 ff
Kommunale Verfassungsbeschwerde Antragbefugnis und individuelle Beschwer 18 Gemeindeverband, beteiligungsfähiger 14 Fristablauf bei geändertem Ursprungsgesetz 434 Individualrechtliche Seite 18 Nichtvereinbarkeitserklärung anstelle Nichtigkeitserklärung 19 Normkonkretisierung, noch erforderliche 440 Rechtskraft von Entscheidungen, spätere Veränderungen 15 ff Rechtsschutzbedürfnis 6 Rechtswegerschöpfung 102 und abstrakte Normenkontrolle, Vergleich 18,35 und Fachgerichtsbarkeit (Subsidiaritätsfrage) 102 Verfahrensbeendigung nach Antragrücknahme, Erledigungserklärung 34 ff Wiedereinsetzung in den vorigen Stand 437 Kommunales Wahlrecht Sperrklauseln und Direktwahlen von Bürgermeistern/Landräten 315 Kommunalverfassung Direktwahlen für Bürgermeister/Landräte 326 ff Vertretungskörperschaft und administrative Spitze 326 Kommunalvertretung Sperrklauseln und Gefährdung der Funktionsfähigkeit 306 ff Kommunen und Land Verteilung der Finanzmassen 13 Kontaktsperreentscheidung des BVerfG 281 Kontaktsperregesetz und Eingriff in das Vertrauensverhältnis 294 Körperschaft des öffentlichen Rechts Grundrechtsträgerin 92 ff Zweckverbände 121
Sachregister Kostenentscheidung Grundrechtsklage 227 ff Krankenhausfinanzierung Investitionsförderung Aufbau Ost 453 Kreditgewerbe und Sparkassentätigkeit 407 Kreditinstitute Neuorganisation öffentlich-rechtlicher (Sachsen) 393 ff Kriminalität und großer Lauschangriff 285 ff Länderfinanzen Kommunale Finanzen als deren Teil 450 Landesaufgabe und Kommunalaufgaben, Gleichwertigkeit 8 Landesrecht Autonomie im staatsorganisatorischen Bereich 208 Befugnis, fehlende zur Setzung 136 Durchgriffsnormen des GG 316 Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht bei der Haushaltswirtschaft 197 Kommunale Finanzausstattving 13 Öffentliche Sicherheit und Ordnung 276 Verfassungsänderung, erschwerte 194 Verfassungsmäßige Ordnung, Konkretisierung des Bundesstaatsprinzips 190 Wahlkreisgrenzen 339 Wahlprüfung und Verfassungsbeschwerde 72 Wahlrechtsschutz, individualrechtlicher 73 Landesverfassungsgerichtsbarkeit Wahlrecht und Verfassungsbeschwerde 74 Land-Kommunen-Verhältnis Leistungsfähigkeit des Landes/Finanz ausstattung der Kommunen 455 Landräte Sperrklauseln und Einfuhrung einer Direktwahl d e r - 315
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Landtag s. Parlament Landtagsfraktion s. Fraktion Land und Kommunen Verteilung der Finanzmassen 13 Lauschangriff Verfassungsmäßige Uberprüfung des SOGM-V 265 ff Lebensgefahr und großer Lauschangriff 285 Lebensgestaltung Unantastbarer Kernbereich privater — 290 Lebensgrundlagen Schutz der natürlichen - 251 Leib, Leben, Freiheit Rechtsgüterschutz und großer Lauschangriff 281 Mandatswahrnehmung in Leitungs- und Aufsichtsorganen 26 Mecklenburg-Vorpommern Kommunalwahlen und Sperrklauselaufrechterhaltung 306 ff Lauschangriff, Spähangriff 265 ff Sicherheits- und Ordnungsgesetz, verfassungsmäßige Überprüfung 265 ff Mecklenburg-Vorpommern (Landes Verfassung) Dynamische Verweisung 278 Organstreitverfahren, Beteiligtenbefugnis 311 Verfassungsänderung 278 Verfassungsänderung, erschwerte 195 Wohnungsschutz 277 Menschenwürde und geschütztes Wahlrecht 241 und Verfassungsänderung 278 Unverletzlichkeit der Wohnung 288 Mietrecht Mieterhöhungserverlangen, Mieterschutz und Eigentumsgarantie 80 ff Räumungsprozeß nach Eigenbedarfskündigung 129 Rechtliches Gehör 217 ff
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Sachregister
Mietwohnungen Eigentumsrecht und Mieterschutz 80 ff Minderheiten und Volksgesetzgebung 192 Ministeranklage Amtspflichtverletzung 30 Ministerium für Staatssicherheit Abgeordnetenüberprüfung (Thüringen) 484 ff. Mitarbeiteraufwendungen sächsischer Abgeordneter 349 ff Minsterialverwaltung Fragen der Personalstruktur 172 Mühlheim-Kärlich-Fall 459 Mündliche Anfrage Regierungsauskunft 173 ff Mündliche Anhörung und Hinzuziehung eines Rechtsbeistandes 163 Nachfolge Abgeordnetenmandat 154 ff Nahe Angehörige und großer Lauschangriff 293 Natürliche Lebensgrundlagen und bundesrechtliche Gesamtkonzeption 251 Naturschutz und private Jagdausübung 253 Nichtigkeit Absehen von Nichtigkeitserklärung 17 Normenkontrollverfahren und Frage sofortiger Nichtigerklärung 16 Rechtsverordnung auf verfassungswidriger Ermächtigungsgrundlage 142 Nichtvereinbarkeitserklärung anstelle einer Nichtigkeitserklärung 19 Nichtzulassungsbeschluß und Verfassungsbeschwerde 249 Niedersachsen Kommunalvertretungen und Sperrklauseln 330 Wahlkreisgrößen und Landtagswahl 335 ff Wahlprüfung und Verfassungsbeschwerde 72 Wahlystem 338
Niedersachsen (Landesverfassung) Verfassungsänderung, erschwerte 195 Nordrhein-Westfalen Braunkohlenplan 140 Normenkontrolle Ausschluß einer individuellen — 21 Normenkontrolle (abstrakte) Abgeordnetenstatus, inzwischen verlorener 406 Gesetzesverkündung 406 Mandatsverlust, gesetzlicher 481 ff. und Frage sofortiger Nichtigerklärung 16 und kommunale Verfassungsbeschwerde, Vergleich 18 Verfahrenszweck, objektiver 35 Normenkontrolle (kommunale) s. Kommunale Verfassungsbe schwerde Öffentlich-rechtliche Kreditinstitute Neuregelung der Organisation (Sachsen) 393 ff Öffentliche Gewalt Träger 55 und Schutzzweck der Verfassungsbeschwerde 68 Verfassungsbeschwerde und erforderlicher Akt der - 75 Wahlprüfungsgericht 238 Öffentliche Ordnung Polizeirechtliches Schutzgut 285 Öffentlicher Auftrag Sparkassen und kommunale Selbstverwaltung 408 Öffentlicher Zweck und private Unternehmenstätigkeit 388 Öffentliches Interesse und Fortfuhrung kommunaler Verfassungsbeschwerde 35 f Ordnungsrecht Straftatenverhütung mittels großen Lauschangriffs 276 ff Organisationsfreiheit Landesrecht und Staatsorganisation 208
Sachregister Organisationsgewalt und Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung 173 Organisationshoheit der Gemeinden 103 Organisierte Kriminalität und großer Lauschangriff 286 Organstreitverfahren Auslagenerstattung 175 Berliner Bezirke, Rechtsstellung 67 Beteiligtenfáhigkeit 64 Fraktion als Antragsteller 288 Frist 31,317 Gesetzgeberisches Unterlassen 313 Mandatsverlust, Organstreit und Ende der Wahlperiode 503 Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Parlaments 33 Parlamentarische Anfragen 166 ff Politische Partei und Sperrklauselanwendung 310 ff Verfassungsorganschaftliches Verhältnis, erforderliches 354 Volksgesetzgebung, kontrolliertes Verfahren 471 Zweck, Rechtsnatur 33 Ortliche Verbrauch- und Aufwandsteuern Jagdsteuer des hessischen Gesetzgebers 250 Parlament s. a. Abgeordneter Abgeordnetennachfolge 154 ff Akzeptanz, Ansehensverlust und Mandatsentzug 499 Beschlußfassung, rechtswidrige 33 Bestandssschutz trotz Wahlmangels 340 Funktionsfahigkeit des parlamentarischen Systems 170 Integrität, Vertrauenswürdigkeit und Abgeordnetenüberprüfung 496 Landeswahlrecht und Wahlrechtsgrundsätze 208 Meinungsverschiedenheiten innerhalb d e s - 33
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Mitwirkung im innerparlamentarischen Raum und Rechtsstellung des — 29 ff Präsidentenstellung 467 Prozeßstandschaft einer Fraktion 33 Repräsentations- und Funktionsfähigkeit 499 Sperrklauseln und Funktionsfahigkeit von Volksvertretungen 323 und Fraktionsmitwirkung 29 ff und Parlamentsunwürdigkeit 493 und Parteienbeteiligung 41 und Regierungsverantwortlichkeit 141 und Selbstverwaltungsorgane 107 und Volksgesetzgebung, Vergleich 56, 190 Verfassungsrechtliche Regeln, verbleibende Autonomie 445 Volksgesetzgebung und Beratungsverlangen 467 Wahlkreisgrößen und Wahlrechtsgleichheit 335 ff Parlamentarische Anfragen Beantwortung nach bestem Wissen und vollständig 166 ff Verfassungsgerichtliche Nachprüfung 166 ff Parlamentarische Repräsentation und Einführung der Volksgesetzgebung 191 Parlamentsvorbehalt Budgetrecht 197 und kommunale Selbstverwaltung 107 Parlamentswahlen und Volksgesetzgebung 56 Partei Befugnis zur Verfassungsbeschwerde 310 Einzelinteressen und Parteienbegriff 40 ff Funktion im Verfassungsleben 311 Gründungsphase 41 Innere Ordnung 311 Interessenpartei 42 f Mandatsverlust aufgrund Parteienverbot 500
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Sachregister
Sperrklauseln und Chancengleichheit 323 Sperrklauseln und Organstreitverfahren 306 ff Verfassungsrechtlicher Status 310 Wettbewerbschancen, gleiche 322 Pflichtverteidigung Ablehnung der Beiordnung 165 und Vertrauenspersonen bei Freiheitsentzug 126 Planungshoheit als kommunale Selbstverwaltung 133 Politische Betätigung und Parteienbegriff 41 ff Polizei Gefahrenabwehr und großer Lauschangriff 276 ff Polizeilicher Notstand Dritter als Zielperson einer Überwachung 282 Pressefreiheit Veröffentlichung einer durch das Gericht geänderten Gegendarstellung 127 Presserechtliche Gegendarstellung Durchsetzbarkeit 460 Private Lebensgestaltung Kernbereich, unantastbarer 290 Private Unternehmenstätigkeit und öffentlicher Zweck 388 Privatsphäre und Unverletzlichkeit der Wohnung 288 Prognosevorrang des Gesetzgebers 389 Prozeßstandschaft Fraktion und Landtag 33 Prozessuale Fürsorgepflicht und Ablauf üblicher Wartezeit 48 Psychisch Kranke Unterbringung und Hinzuziehung eines Rechtsbeistandes 164 Quorenberechung und Demokratieprinzip 194 Quorum Sperrklausen und Wahlrechtsbeeinträchtigung 316
Räumungsprozeß Kündigung wegen Eigenbedarfs 129 Rechtliches Gehör Abweichen von einem rechtlichen Hinweis 128 Einhaltung einer Zustellungsfrist 125 Hinwegsetzen über Beteiligtenvorbringen 124 Rechtsstaatsprinzip 225,239 und Zulässigkeit außerordentlicher Beschwerde 230 Verspätung eines Verfahrensbeteiligten 44 ff Wahlprüfungsgerichtsbarkeit 241 Rechtsanwalt Ablehnung einer Beiordnung 165 Mandantengespräch als Kernbereich privater Lebensgestaltung 290 und großer Lauschangriff 294 Rechtsbeistand Hinzuziehung bei Freiheitsentzug 161 ff Rechtschreibreform Abstimmungsverfahren über Volksbegehren 49 ff Parteibegriff und Einzelinteressen 39 ff Rechtsfähigkeit von Zweckverbänden 121 Rechtsgüterschutz Abwehrbedeutung von Grundrechten und weitergehender — 459 Rechtsgüterverteidigung und großer Lauschangriff 281 Rechtskraft Normenkontrollentscheidungen 15 ff Rechtsmittelbelehrung und Fristbeginn 152 Rechtsordnung und Stellung der Verfassung 194 und Verfassung 497 Widerspruchsfreiheit 251 Rechtspflicht zum Handeln und Gleichsetzung von Tun und Unterlassen 314 Rechtspolitik und Zuständigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit 468
^ster Rechtsprechende Gewalt s. a. Gericht und richterliche Tätigkeit 256 Rechtsschutzbedürfnis Kommunale Verfassungsbeschwerde 6 Verfassungsbeschwerde und Akt öffentlicher Gewalt 75 Rechtsschutzbeschränkung durch Befristung 152 Rechtsschutzgewährung und individuelle Normenkontrolle 22 Rechtsschutzinteresse Erledigtes staatliches Handeln 77 Rechtsstaatsprinzip Beschleunigungsinteresse und Erfordernis rechtlichen Gehörs 47 Erfordernis rechtlichen Gehörs 239 Großer Lauschangriff 290 f Landesrecht ohne Befugnis 136 Normenkette 347 Parlamentarische Regierungsverantwortlichkeit 141 Strafverfahren als faires Verfahren 162 und individuelle Normenkontroll 22 und rechtliches Gehör 225 und Rückwirkungsverbot 119 Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung 251 Rechtsverletzungen und individuelle Normenkontrolle 22 Rechtsverordnung Entscheidungsverantwortlichkeit des Verordnungsgebers 136 Verfassungswidrige Ermächtigungsgrundlage 142 Rechtswegerschöpfung Entscheidungen eines Wahlprüfungsgerichts 238 Höchstes in der Sache zuständige Gericht 234 Kommunale Verfassungsbeschwerde 102 Rechtsweggarantie und Kenntnis vom großen Lauschangriff 297 Wahlprüfungsverfahren 71
519
Regierung Fragerecht der Abgeordneten 166 ff Funktions- und Arbeitsfähigkeit 169 Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung 169 Nicht Offenbarungspflichtiger Initiativ-, Beratungs- und Handlungsbereich 169 Organisationsgewalt, Personalhoheit 173 Rechenschafts- und Einstandspflicht für eigenes Handeln 169 und parlamentarische Untersuchungsausschüsse 169 und Prozeßstandschaft einer Fraktion 33 Verbandskompetenz, Organkompetenz 169 Verweigerung parlamentarischer Anfrage 169 ff Regierungsamt und Verletzung von Amtspflichten 30 Regierungsbildung und Sperrklauseln 324 Regierungsmitglieder Wahrnehmung von Mandaten in wirtschaftlichen Unternehmen 29 ff Regierungsverantwortlichkeit Prinzip parlamentarischer 141 Regionalplanung Braunkohlenplanung 136 Rheinland-Pfalz (Landesverfassung) Verfassungsänderung, erschwerte 195 Richter auf Lebenszeit Abordnung und Regelstatus 256 Grundtyp des Richters 257 Richterliche Anordnung eines großen Lauschangriffs 295 Richterliche Tätigkeit und berufsrichterliches Staatsgerichtshof-Mitglied 254 ff und Wahlprüfungsgerichtsbarkeit 240 Rohstoff- und Energieversorgung Nichtigkeit des Heuersdorfgesetzes (Sachsen) 356 ff Rohstoffsicherungsklausel und private Unternehmenstätigkeit 389
520
Sachregister
Rückwirkende Absicherung Zwecksverbandgründungen, unwirksame 112 Rückwirkungsverbot Heilung von Zweckverbandsgründungsmängeln 119 ff Rundfunkanstalten Beteiligtenfahigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren 68 Rundfunkstaatsvertrag Interessenausgleich, begrenzte staatliche Einflußnahme 460 Sachsen Energieprogramm 358 Enteignungen zum Zwecke der Energieversorgung 343 ff Heuersdorfgesetz 356 ff Leitlinien zur künftigen Braunkohlepolitik 358 Mitarbeiteraufwendungen von Abgeordneten 348 ff Neuordnung öffentlich-rechtlicher Kreditinstitute 393 ff Sachsen (Landesverfassung) Eigentum, Enteignung 345 Kommunale Selbstverwaltungsgarantie 393 ff Verfassungsänderung, erschwerte 195 Sachsen-Anhalt Finanzausgleich, allgemeiner 436 Gemeindefinanzierungsgesetz 436 Parlamentspräsident, Stellung 467 Schülerbeförderungskosten 440 Volksabstimmungsgesetz 462 ff. Sachsen-Anhalt (Landesverfassung) Bundesergänzungszuweisungen und kommunale Finanzen 451 Finanzausgleich, Kostendeckung bei Aufgabenübertragung 436,442 Kommunale Selbstverwaltung 441 Kommunalfinanzen 443 Organähnliche Volksstellung 472 Rechtssatz-Verfassungsbeschwerde 437 Verfassungsänderung, erschwerte 195 Volksbegehren und andere Gesetzesinitiativen, Gleichsetzung 473
Satzung Kontrolldichte bei der verfassungsrechtlichen Überprüfung 353 Schadenserwartung Hochrangige Rechtsgüter und großer Lauschangriff 281 Schleswig-Holstein Kommunalwahlrecht für Ausländer 210 Sorben-Siedlungsgebiet Braunkohlenplan Jänschwalde 129 ff Sozialhilfeträger Kostenausgleich 4 Stadt- und Landkreise 4 Sozialordnung Einschätzungs- und Prognosevorrang des Gesetzgebers 389 Sparkassenzweckverbände und kommunales Selbstverwaltungsrecht 406 Sperrklauseln Direktwahl von Bürgermeistern/Landräten und weiteres Erfordernis von — 315 ff Fortwirken einmal beschlossener — 325 ff Kommunalwahlen und Funktionsfahigkeit kommunaler Vertretungen 306 ff Ländererfahrungen 330 und Chancengleichheit von Parteien/ Wählergruppen 323 und Wahlrechtseinführung für Unionsbürger 212 Staat und Gesellschaft Stellung politischer Parteien 311 Staatsfunktionen und Grundrechtsbindung 194 Staatsgewalt und Beteiligtenfähigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren 68 Staatsorganisationsrecht Gesetzgebende Gewalt, verfassungsgebende Gewalt 497 Staatswesen und Verfassung 497 Städtebauliche Entwicklung Planungshoheit der Gemeinden 133
Sachregister Stadtkreise Sozialhilfeträger 4 Stadtstaatliche Struktur des Landes Bremen 209 Steuerquellen Unterschiedliche Inanspruchnahme 252 Steuerrecht Jagdsteuer als örtliche Aufwand- und Verbrauchsteuer 250 Strafaussetzung zur Bewährung Widerruf und Willkürverbot 124 ff Straferlaß Verfassungsbeschwerde und Begnadigung 124 ff Straftaten Abwehr und Verhütung 287 Großer Lauschangriff und drohende 286 Verhütung mittels großen Lauschangriffs 276 ff Strafverfahren Recht auf ein faires Verfahren 162 und Kernbereich privater Tätigkeit 290 Strafverfolgung Datenermitdung nach großem Lauschangriff, Verwendung bei der - 304 Strafverteidigung und großer Lauschangriff 294 und Kontaktsperregesetz 294 Strafvollstreckungskammer Freiheitsentzug und Hinzuziehung eines Rechtbeistandes 161 ff Strommärkte Energieversorgung und Liberalisierung d e r - 388 Gesetzgeberprognosen, verfehlte 390 Studentenschaft als Grundrechtsträgerin 92 ff Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde Einstweilige Verfügung 175 Fachgerichtsbarkeit und verfassungsrechtliche Einwendungen 250 Verfassungsbeschwerde und außerordentliche Rechtsbehelfe 234
521
Substantiierung Verfassungsbeschwerde und erforderlicher Sachverhaltsvortrag 75,238 Tagebuchentscheidung des BVerfG 290 Technische Mittel Verfassungsbeschwerde gegen das SOGM-V 265 ff Telekommunikation Straftatenkatalog fur die Überwachung 286 Thüringen Abgeordnetenüberprüfung 482 ff. Thüringen (Landesverfassung) Abgeordnetenmandatsverlust 494 Grundsatz des freien Abgeordnetenmandats 493 Verfassungsänderung, erschwerte 195 Wählbarkeitsvoraussetzungen, -ausschluß 491 Tun und Unterlassen Gleichsetzung 314 Überhangmandate und Nachfolgeregelung 155 ff Uberraschungsentscheidung Abweichen von einem rechtlichen Hinweis 128 Umweltschutz und private Jagdausübung 253 Umweltpolitik und Braunkohlentagebau 134 Universitäten Beteiligtenfahigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren 68 Studentenschaft als Grundrechtsträgerin 92 ff Unterbringung Hinzuziehung eines Rechtsbeistandes 164 Unterlassen Gleichsetzung von Tun und - 314 Verfassungswidriges gesetzgeberisches 448 Unterlassen des Gesetzgebers als Streitgegenstand im Organverfahren 313
522
Sachregister
Unternehmenstätigkeit Energieversorgung 388 Unterrichtung Betroffene vom großen Lauschangriff 296 ff Verbrauchsteuern Jagdsteuer als örtliche — 250 Verdeckter Einsatz Technische Mittel zur Erhebung personenbezogener Daten 275 ff Verfassung Abänderbarkeit, erschwerte 194 als Rahmenordnung für Mehrheiten/ Minderheiten 194 Bestandsschutz 194 Bestandsschutz, Kontinuiätsgewähr 196 Gesetzgebende Gewalt und verfassungsgebende Gewalt 497 Stellung innerhalb der Rechtsordnung 194 und übrige Rechtsordnung 497 Verfassungsänderung durch Volksgesetzgebung 193 ff Gesetzgebung im Vorgriff auf künftige - 278 und Wesensgehaltgarantie 288 Verfassungsautonomie Begrenzungen für die Länder 190 und Homogenitätsgebot 209 Verfassungsbeschwerde als individuelle Normenkontrolle 21 Feststellende, kassatorische Entscheidungen 77 Rechtsbetroffenheit (selbst, gegenwärtig, unmittelbar) 77 und Wahlprüfungs verfahren 71 Wahlrechtsschutz, subjektivrechtlicher 74 Verfassungsbeschwerde (BadenWürttemberg) Normenkontrolle, Ausschluß einer individuellen 21 Verfassungsbeschwerde (Berlin) Berliner Gerichtsentscheidungen auf Bundesrecht beruhend 86
Beteiligtenfähigkeit von Bezirken 66 Bezeichnen der Grundrechtsverletzung 75,95 Feststellende, kassatorische Entscheidungen 77 Rechtliches Gehör 44 ff Substantiierung, mangelhafte 75 Wahlprüfung und Verfassungsbeschwerde 72 Wesen und Zweck 67 Zulässigkeit 66 Verfassungsbeschwerde (Brandenburg) Einstweilige Verfugung und Subsidiaritätsprinzip 175 Verfassungsbeschwerde (Bund) Änderung eines Ursprungsgesetzes und Fristablauf 434 Politische Partei als Antragsteller 310 s. auch Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde (Hessen) Grundrechtsklage gegen Entscheidungen des Wahlprüfungsgerichts 236 ff Prüfungsgegenstand bei gerichtlichen Entscheidungen 227 ff Wahlprüfung und Verfassungsbeschwerde 72 Verfassungsbeschwerde (MecklenburgVorpommern) Beschwerdebefugnis gegen ein Gesetz 272 ff Verfassungsbeschwerde (Niedersachsen) Wahlprüfung und Verfassungsbeschwerde 72 Verfassungsbeschwerde (Saarland) Zulässigkeit der Einlegung 74 Verfassungsbeschwerde (Sachsen) Besitzeinweisungsbeschluß trotz fehlender Entschädigungsgrundlage 343 ff Verfassungsgerichtsbarkeit Außergesetzliche Zuständigkeit, fehlende 468 Streitigkeiten über Durchführung einer Volksinitiative 470
Sachregister Verfassungskonforme Auslegung Wortlaut, erkennbarer Sinn des Gesetzgebers u n d - 142 Verfassungsmäßige Ordnung Bindung der Gesetzgebung 194 Verfassungswidrige Gesetze Frage ihrer Nichtigerklärung 16 Verhältnismäßigkeit Gemeinwohlbelange und Einschränkung kommunaler Selbstverwaltung 111 Großer Lauschangriff und Unverletzlichkeit der Wohnung 289 Verhältniswahl mit eingegliedertem Mehrheitswahlrecht 338 und Sperrklauseln 323 Verhütung und Abwehr von Straftaten 287 Verkehrsstau Angezeigte Verspätung und Erfordernis rechtlichen Gehörs 44 ff Verkehrsunfallprozeß Einholung eines Zweitgutachtens 147 Verschulden Fristveräumung und Wiedereinsetzung 235 Vertrauensschutz und Rückwirkungsverbot 120 Vertrauensverhältnisse und großer Lauschangriff 275 ff und Schutzumfang 292 Verwaltungsgerichtsbarkeit Nichtzulassungsbeschwerde und Grundrechtsklage 249 Verwaltungsgrenzen und Wahlkreisgrenzen 339 Verweisungen Gesetzgebungskompetenz und Zulässigkeit dynamischer — 279 Volksbegehren Einspruchsverfahren 55 ff Unterstützungsquorum 193 Volksgesetzgebung für einfache Gesetze 198
523
Gerichtliche Kontrolle der AnnahmeEntscheidung 467 Korrektur-, Partizipations- und Integrationsfunktion 193 Minderheiteninstrument 192 Organähnliche Stellung des Volkes 472 Parlamentarische Beratung, Verlangen 467 Praktische Anwendung 56 und Ausgestaltung des Abstimmungsverfahrens 56 ff und Demokratieprinzip 190 und erschwerte Abänderbarkeit von Verfassungen 194 und Finanzvorbehalt 197 und Korrektur von Wahlergebnissen 196 und parlamentarische Repräsentation 191 Volksinitiative - Anliegen als Gesetzentwurf 472 Volkswille, behinderter und Rechtskontrolle 468 Volksvertretungen und demokratisches Prinzip 190 Vollziehende Gewalt und Gremien der Selbstverwaltung 107 Vorbeugende Verbrechensbekämpfung Großer polizeilicher Lauschangriff 276 ff Vorlage an das Bundesverfassungsgericht Vorbeugende Normenkontrolle, ausgeschlossene 199 Wahlgericht Sicherung von Wahlgrundrechten 242 Wahlkreise Wahlgleichheit und erforderlicher Zuschnitt der - 335 ff Wahlprüfung Beschwerdeberechtigung 148 ff Gegenstand 73 Individualrechtsschutz, ausgeschlossener 73 Prüfungsgericht als parlamentarisches Wahlprüfungsorgan 236 ff
524 Schutz des objektiven Wahlrechts undParteibegriff 39 ff und Rechtsweggarantie 71
Sachregister 73
Wahlrecht
Akte öffentlicher Gewalt 75 f Blinde Wähler 68 ff Demokratieprinzip und Ungültigkeit von Landtagswahlen 340 Differenzierungen, zugelassene Gründe 208 Erfolgswert der Stimmen 323 Geheime Wahl 70 Kommunalwahlrecht s. dort 736 Landesrecht und Wahlrechtsgrundsätze 208 Mandatsverlust ohne gesetzliche Grundlage 492 Nachfolge eines ausgeschiedenen Abgeordneten 154 ff Parlamentswahlen und Volksgesetzgebung 56 Rechtfertigungsdruck für Einschränkungen 324 Sicherung der Wahlgrundrechte 242 Sperrklausel (5%) 212 Sperrklauseln und Wahlrechts- und Chancengleichheit 315 ff Stadtstaatliche Struktur und demokratisches Prinzip 211 Subjektivrechtlicher Schutz 73 Uberhangmandate und Nachfolgeregelung 155 ff und Europäisches Gemeinschaftsrecht 207 und individuelle Normenkontrolle 22 und Verfassungsbeschwerde 68 ff Unmittelbarkeit der Wahl und Nachrücken einer Ersatzperson 154 Verhältnisausgleich 156 Verhältniswahl und Erststimmenbedeutung 338 ff Volksgesetzgebung und Korrektur von Wahlergebnissen 196 Volksvertretungen und Demokratieprinzip 190
Wählbarkeitsvoraussetzungen, Wählbarkeitsausschluß 491 Wahlfreiheit und Stimmabgabedifferenzierungen 210 Wahlkreisgröße und Wahlrechtsgleichheit 335 ff Wahlordnungen und Volksgesetzgebung 58 Wahlrechtsgleichheit 211 Wahlrechtsgleichheit, Chancengleichheit 209 Wahlrechtsgrundsätze (Bundesrecht und Landesrecht) 155 Wasserversorgung
Sebstverwaltungsaufgabe der Gemeinden 103 ff Weimarer Reichsverfassung
Praxis der Verfassungsänderungen 498 Richterliche Tätigkeit 259 f Wahlprüfungsgerichtsbarkeit 240 Wesensgehaltgarantie
und Verfassungsänderung, Abgrenzung 288 Widerklage
Schädigungsabsicht als Abweisungsgrund 225 Widerspruchsfreiheit
der Rechtsordnung
251
Wiedereinset2ung in den vorigen Stand
Angezeigte Verspätung und Erfordernis rechtlichen Gehörs 44 ff Kommunale Verfassungsbeschwerde 437 Verfassungsbeschwerde und Fristversäumnis 235 Willkürverbot
Absehen von einer Beweisaufnahme 128 Einstweilige Verfügung und Zustellungsnachweis 125 Jagdsteuer des hessischen Gesetzgebers 252 Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung 124 ff
Sachregister Wirtschaftliche Unternehmen Mandatswahrnehmung von Regierungsmitgliedern 29 ff Wirtschaftsordnung Einschätzung«- und Prognosevorrang des Gesetzgebers 389 Wissenschaftsfreiheit Beteiligtenfähigkeit der Universitäten 68 Wohnsitz Unionsbürger in einem Mitgliedstaat 207 Wohnsitzverlegung und Wahlprüfungsberechtigung 150 Wohnungseingriff Großer Lauschangriff 278 ff
525
Wohnungsschutz und großer Lauschangriff 277 ff Zeugnisverweigerungsrecht und großer Lauschangriff 293 Zustellung und Fristbeginn (Wahlprüfung) 151 Zweckverband Auftreten einer Gemeinde als Mitglied 114 ff Gemeinde als Mitglied 99 ff Heilung von Form- und Verfahrensfehlern 113 Rechtsfähigkeit 121 Sparkassenzweckverbände und kommunale Selbstverwaltung 406 f
Gesetzesregister Bundesrecht Aktiengesetz vom 6. September 1965 (BGBl. IS. 1089) - A k t G -
§ 101
Nr. 3 (BW)
Baugesetzbuch idF der Bekanntmachung vom 8. Dezember 1986 (BGBl. I S. 2253) - BauGB -
§ 85 Abs. 1 §116
Nr. 1 (S) Nr. 1 (S)
Bürgerliches Gesetzbuch vom 18. August 1896 (BGBl. III 4 0 0 - 2 ) - B G B -
§ 556 a Nr. 7 (Bbg) § 564b Abs. 2 Nr. 2 Nr. 7 (Bbg) § 823 Abs. 2 Nr. 14 (Bbg)
Bundeswahlgesetz vom 7. Mai 1956 (BGBl. I S. 383) mit späteren Änderungen -BWG-
§6 § 48 Abs. 1
Nr. 10 (Bbg) Nr. 10 (Bbg)
Einfiihrungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz vom 27. Januar 1877 (RGBl. S. 77) BGBl. III/FNA 300-1
§§ 31 ff
Nr. 1 (MV)
Energiewirtschaftsgesetz vom 13. Dezember 1935 (RGBl. IS. 1451) - EnWG -
§11 Abs. 2
Nr. 1 (S)
Energiewirtschaftsgesetz vom 24. April 1998 (BGBl. I S. 730) - EnWG -
§12 Abs. 3
Nr. 1 (S)
Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung idF der Bekanntmachung vom 20. Mai 1898 (RGBl. I S. 846) - GmbHG -
§52
Nr. 3 (BW)
Gesetz über das Bundesverfassungsgericht idF der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl. I S. 1473) mit späterer Änderung - BVerfGG -
§ 90 Abs. 2
Nr. 14 (Bbg)
528
Gesetzesregister §63 §64 Abs. 3
Gesetz über Naturschutz und Landschaftspflege idF der Bekanntmachung vom 21. September 1998 (BGBl. I S. 2994) - BNatSchG Gesetz über Ordnungswidrigkeiten idF der Bekanntmachung vom 19. Februar 1987 (BGBl. IS. 602) - OWiG Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 (BGBl. I S. 1) - GG -
§35 § 2 Abs. 1 Nr. 10 § 4 Abs. 1 § 20 c Abs. 1 Nr. 3 ¡74 Abs. 2
Nr. 2 (MV) Nr. 2 (MV) Nr. 3 (S) Nr. 11 (Bbg) Nr. 11 (Bbg) Nr. 11 (Bbg) Nr. 2 (B)
Art. 19 Abs. 4 Art. 28 Abs. 1 Art. 100 Abs. 1
Nr. 2 (BW)
Art. 3 Abs. 1 Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Art. 14 Abs. 1 Ait. 28 Abs. 1 Satz 2 Art. 38 Abs. 1 Satz 1 Art. 75 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Art. 75 Abs. 3 Art. 100 Abs. 3 Art. 103 Abs. 1 Art. 103 Abs. 2
Nr. 11 (Bbg) Nr. 14 (Bbg) Nr. 5 (Bbg) Nr. 7 (Bbg) Nr. 10 (Bbg) Nr. 10 (Bbg) Nr. 11 (Bbg) Nr. 11 (Bbg) Nr. 14 (Bbg) Nr. 5,7 (Bbg) Nr. 11 (Bbg)
Art. 28 Abs. 1 Art. 109 Abs. 2
Nr. 1, 2 (HB) Nr. 1 (HB)
Art. 20 a Art. 105 Abs. 2 a
Nr. 4 (He) Nr. 4 (He)
Art. 1 Abs. 1 Art. 1 Abs. 3 Art. 2 Abs. 1 Art. 4 Abs. 1 Art. 6 Abs. 1 Art. 10 Art. 12 Abs. 1 Art. 13 Abs. 1 Art. 13 Abs. 3
Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.
1 (MV) 1 (MV) 1 (MV) 1 (MV) 1 (MV) 1 (MV) 1 (MV) 1 (MV) 1 (MV)
529
Gesetzesregister Art. 13 Abs. 3 a.F. Art. 13 Abs. 4 Art. 13 Abs. 6 Art. 13 Abs. 7 Art. 19 Abs. 2 Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Art. 21 Abs. 1 Art. 28 Abs. 1 Art. 28 Abs. 3 Art. 38 Abs. 1 Art. 70 Art. 72 Abs. 1 Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 Art. 79 Abs. 1 Satz 1 Art. 79 Abs. 2 Art. 79 Abs. 3 Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 Art. 142
Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV) Nr. 2 (MV) Nr. 1,2 (MV) Nr. 2 (MV) Nr. 2 (MV) Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV) Nr. 2 (MV) Nr. 1 (MV)
Art. 21 Art. 38 Abs. 3 Satz 2 Art. 41 Art. 139
Nr. 1 (Thür) Nr. 1 (Thür) Nr. 1 (Thür) Nr. 1 (Thür)
Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 26. März 1998 (BGBl. I S. 610)
Art. 1
Nr. 1 (MV)
Gesetz zur Regelung der Miethöhe vom 18. Dezember 1974 (BGBl. I S. 3603) - MHG -
§ 2 Abs. 1 Satz 2
Nr. 6 (B)
Parteiengesetz idF der Bekanntmachung vom 31. Januar 1994 (BGBl. IS. 149) - ParteiG -
§ 2 Abs. 1 Satz 1
Nr. 1 (B)
Strafgesetzbuch idF der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I S. 3322) - StGB -
§ 56 f Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 § 67 e §185 § 186
Nr. 2 (Bbg) Nr. 12 (Bbg) Nr. 14 (Bbg) Nr. 14 (Bbg)
§ 129 Abs. 1 § 129a § 203 § 261 §§ 324-330 a
Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV)
530
Gesetzesregister
Strafprozeßordnung idF der Bekanntmachung vom 7. April 1987 (BGBl. I S. 1074, ber. S. 1319) -StPO-
§ 33a § 35 Abs. 1 §268 a Abs. 1 § 268a Abs. 3 §454 Abs. 1 Satz 3 §463 Abs. 3
Ν Ν Ν Ν Ν Ν
2(Bbg) 2(Bbg) 2(Bbg) 2(Bbg) 12(Bbg) 12(Bbg)
§ 52 Abs. 1 §53 § 53a § 100a § 100c Abs. 1 Nr. 3 § lOOd Abs. 3 Satz 1 § lOOf Abs. 1 §101 § 104 Abs. 2 §148 §152 Abs. 2 §261
Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
Verwaltungsgerichtsordnung idF der Bekanntmachung vom 19. März 1991 (BGBl. IS. 686) - VwGO -
§ 57 Abs. 1 §58 §60
Ν Ν Ν
10 (Bbg) 10 (Bbg) 1(SA)
Zivilprozeßordnung idF vom 12. September 1950 (BGBl. S. 533) -ZPO-
§199 § 202 Abs. 1 § 202 Abs. 2 § 207 Abs. 1 §412 Abs. 1 §922 Abs. 2 § 929 Abs. 2 § 929 Abs. 3
Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν
3 3 3 3 3 3 3 3
Änderungsgesetz zum Staatshaushaltsgesetz 1998/1999 vom 15. Dezember 1998 (GBl. S. 669)
Art. 3
Nr. 1 (BW)
Gesetz über den kommunalen Finanzausgleich idF vom 26. September 1991 (GBl. S. 658,
§21 §35
Nr. 1 (BW) Nr. 4 (BW)
(MV) (MV) (MV) (MV) (MV) (MV) (MV) (MV) (MV) (MV) (MV) (MV)
(Bbg) (Bbg) (Bbg) (Bbg) (Bbg) (Bbg) (Bbg) (Bbg)
Landesrecht Baden-Württemberg
531
Gesetzesregister zuletzt geändert durch Gesetz vom 10. Mai 1999, GBl. S. 1 7 9 ) - F A G Gesetz über den Staatsgerichtshof vom 13. Dezember 1954 (GBl. S. 171) - StGHG -
§ 8 Abs. 1 Nr. 8 § 16 Abs. 1 Satz 2 § 23 § 45 Abs. 1 § 48 § 50 § 54 § 55
Nr. 1 (BW) Nr. 4 (BW) Nr. 1 (BW) Nr. 3 (BW) Nr. 4 (BW) Nr. 4 (BW) Nr. 4 (BW) Nr. 4 (BW)
Staatshaushaltsgesetz 1998/1999 (GBl. S. 57)
§ 16
Nr. 1 (BW)
Verfassung des Landes Baden-Württemberg vom 11. November 1953 (GBl. S. 1 7 3 ) - L V -
Art. 23 Art. 53 Abs. 2 Art. 67 Art. 68 Abs. 1 Nr. 2 Art. 71 Abs. 1 Art. 73 Abs. 1 Art. 76
Nr. 2 (BW) Nr. 3 (BW) Nr. 2 (BW) Nr. 1 (BW) Nr. 4 (BW) Nr. 4 (BW) Nr. 1 (BW)
§ 18 Abs. 1
Nr. 7 (B)
Berlin Berliner Hochschulgesetz idF vom 17. November 1999 (GVB1. S. 630) - BerlHG -
Gesetz über Volksinitiativen, Volksbegehren und § 21 Volksentscheid vom 11. Juni 1997 (GVB1. S. 304) § 41 - VInG Bin -
Nr. 3 (B) Nr. 3 (B)
Gesetz über den Verfassungsgerichtshof vom 18. November 1990 (GVB1. S. 2246; GBAB1. S. 510) - VerfGHG -
§ 14 Nr. 1, 6 § 14 Nr. 7 § 36 s 40 ff § 40 Abs. 2 Nr. 1 § 49 Abs. 1 § 55 Abs. 1
Nr. 4 (B) Nr. 3 (B) Nr. 4 (B) Nr. 5 (B) Nr. 1 (B) Nr. 4 (B) Nr. 3 (B)
Landeswahlgesetz vom 25. September 1987 (GVB1. S. 2370) - LWahlG -
§ 10 Abs. 1 Satz 2
Nr. 1 (B)
Verfassung von Berlin vom 23. November 1995 (GVB1. S. 779) - VvB -
Art. 2 Satz 1 Art. 15 Abs. 1 Art. 15 Abs. 4
Nr. 3 (B) Nr. 2,7 (B) Nr. 7 (B)
532
Gesetzesregister Art. 21 Art. 23 Abs. 1 Art. 39 Abs. 1 Art. 62 Art. 63 Art. 84 Abs. 2 Art. 84 Abs. 2 Nr. 5
Nr. 7 (B) Nr. 6 (B) Nr. 5 (B) Nr. 3 (B) Nr. 3 (B) Nr. 4 (B) Nr. 5 (B)
Amtsordnung für das Land Brandenburg vom 15. Oktober 1993 (GVB1.1 S. 398, 450) -AmstO-
§ 4 Abs. 3
Nr. 1 (Bbg)
Gesetz zur Einführung der Regionalplanung und der Braunkohlen- und Sanierungsplanung im Land Brandenburg vom 13. Mai 1993 (GVB1.1 S. 170) - RegBkPIG -
§ 12 § 14
Nr. 8 (Bbg) Nr. 8 (Bbg)
Gesetz zur Förderung der Braunkohle im Land Brandenburg, zur Auflösung der Gemeinde Homo und zur Eingliederung ihres Gemeindegebiets in die Gemeinde Jänschwalde sowie zur Änderung des Enteignungsgesetzes des Landes Brandenburg vom 7. Juli 1997 (GVB1.1 S. 72) - BbgBkGG -
Art. 1 § 1 Art. 1 § 2 Art. 1 § 3
Nr. 8 (Bbg) Nr. 8 (Bbg) Nr. 8 (Bbg)
Gesetz über die Prüfung der Wahlen zum Landtag des Landes Brandenburg vom 1. November 1990 (GVB1.1 90 S. 7) - WPrüfG -
§3 § 11 § 12 Abs. 2
Nr. 10 (Bbg) Nr. 10 (Bbg) Nr. 10 (Bbg)
Gesetz zur rechtlichen Stabilisierung der Zweckverbände für Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung vom 6. Juli 1998 (GVB1.1 S. 162) - ZwVerbStabG -
§ 1 Abs. 3 §2 Abs. 2 § 2 Abs. 3 §3 § 4 Abs. 2 §7
Nr. 1 Nr. 1 Nr. 1 Nr. 1 Nr. 1 Nr. 1
Gesetz über den Naturschutz und die Landschaftspflege im Land Brandenburg vom 25. Juni 1992 (GVB1.1 S. 208) - BbgNatSchG -
§ 1 Abs. 2 Nr. 2 § 32 Abs. 1 Nr. 5 §32 Abs. 3 S 73 Abs. 1 Nr. 9
Nr. 11 (Bbg) Nr. 11 (Bbg) Nr. 11 (Bbg) Nr. 11 (Bbg)
Gesetz über das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg idF der Bekanntmachung vom
§ 12 Nr. 1 § 13 Abs. 1
Nr. 13 (Bbg) Nr. 10 (Bbg)
Brandenburg
(Bbg) (Bbg) (Bbg) (Bbg) (Bbg) (Bbg)
533
Gesetzesregister 22. November 1996 (GVB1.1 S. 344) Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg - VerfGGBbg -
§ 32 Abs. 7 Satz 2 §45 Abs. 1 §45 Abs. 2 § 45 Abs. 2 Satz 1 §47 §51 § 59 Abs. 1
Nr. 13 (Bbg) Nr. 3,4, 5 (Bbg) Nr. 14 (Bbg) Nr. 2,3,4,5 (Bbg) Nr. 4 (Bbg) Nr. 1 (Bbg) Nr. 10 (Bbg)
Pressegesetz des Landes Brandenburg vom 13. Mai (GVB1.1 S. 162) - BbgPG -
§ 12
Nr. 5 (Bbg)
Verfassung des Landes Brandenburg vom 20. August 1992 (GVB1.1 S. 298) - LV -
Art. 2 Abs. 1 Art. 2 Abs. 5 Art. 3 Abs. 1 Satz 1 Art. 6 Abs. 1 Art. 6 Abs. 2 Art. 9 Art. 9 Abs. 2 Satz 2 Art. 9 Abs. 2 Satz 3 1. HS Art. 19 Abs. 1 Satz 1 Ait. 19 Abs. 2 Satz 1 Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Art. 22 Abs. 3 Art. 41 Abs. 1 Art. 47 Abs. 2 Art. 52 Abs. 3
Nr. 1 (Bbg) Nr. 1 (Bbg) Nr. 10 (Bbg) Nr. 10 (Bbg) Nr. 3, 4,12 (Bbg) Nr. 2 (Bbg) Nr. 12 (Bbg)
Nr. 4 (Bbg) Nr. 14 (Bbg) Nr. 5 (Bbg) Nr. 5 (Bbg) Nr. 10 (Bbg) Nr. 7,11 (Bbg) Nr. 7 (Bbg) Nr. 2, 3, 5, 6, 7, 9,11 (Bbg) Nr. 12 (Bbg) Art. 52 Abs. 4 Art. 52 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2, 3, 6, 7, 11 (Bbg) Nr. 11 (Bbg) Art. 53 Abs. 1 Nr. 13 (Bbg) Art. 56 Abs. 2 Nr. 13 (Bbg) Art. 56 Abs. 4 Nr. 8 (Bbg) Art. 80 Nr. 1 (Bbg) Art. 97 Art. 97 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 (Bbg) Art. 98 Abs. 2 Satz 2 Nr. 8 (Bbg) Nr. 1, 8 (Bbg) Art. 100 Nr. 13 (Bbg) Art. 113 Nr. 1 Verordnung über die Bildung des Braunkohlen ausschusses des Landes Brandenburg vom 8. April 1992 (GVB1. II S. 139) - BbgBKAusV -
Nr. 7 (Bbg)
534
Gesetzesregister
Verordnung über die Verbindlichkeit des Braunkohlenplans Tagebau Jänschwalde vom 8. September 1998 (GVB1. II S. 570) Wahlgesetz für das Land Brandenburg vom 2. März 1994 (GVB1.1S. 38) - BbgLWahlG -
Nr. 7 (Bbg)
§ 1 Abs. 2 §3 § 5 Abs. 1 § 43 Abs. 1 Satz 1
Nr. 10 (Bbg) Nr. 10 (Bbg) Nr. 10 (Bbg) Nr. 10 (Bbg)
Bremisches Volksentscheidgesetz
§ 9 Abs. 2
Nr. 1 (HB)
Bremisches Wahlgesetz
§ 1 Abs. l a § 4 Abs. 2 § 5 Abs. 3 § 37 Abs. 1
Nr. 2 Nr. 2 Nr. 2 Nr. 2
Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen vom 21. Oktober 1947 (BremGBl. S. 251)
Art. 75 Abs. 3 Art. 145 Abs. 1 Art. 148 Abs. 1
Nr. 2 (HB) Nr. 2 (HB) Nr. 2 (HB)
Art. 39 Abs. 2
Nr. 3 (BW)
Gesetz über kommunale Abgaben idF des Änderungsgesetzes vom 31. Oktober 1991 (GVB1.IS. 3 3 3 ) - K A G -
§ 8 Abs. 1
Nr. 4 (He)
Gesetz über den Staatsgerichtshof des Landes Hessen vom 30. November 1994 (GVB1.1994 S. 684) - StGHG -
§43 §44 §44 Abs. 1 § 45 Abs. 1
Nr. 1 (He) Nr. 4 (He) Nr. 2 (He) Nr. 2 (He)
Verfassung des Landes Hessen vom 1. Dezember 1946 (GVB1.1946 S. 229) - HV -
Art. 1 Art. 2 Abs. 1 Art. 3
Nr. 4 (He) Nr. 4 (He) Nr. 1, 3 (He)
Bremen
(HB) (HB) (HB) (HB)
Hamburg Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg vom 6. Juni 1952 (Bl. 1100-a) mit späterer Änderung - HV Hessen
Gesetzesregister
535
Art. 26 a Art. 78 Art. 126
Nr. 4 (He) Nr. 3 (He) Nr. 3 (He)
§15 Abs. 1
Nr. 3 (He)
Niedersächsische Verfassung idF vom 19. Mai 1993 (GVB1. S. 107)
Art. 34 Abs. 2 Art. 7 Art. 8 Abs. 1 Art. 9 Art. 12
Nr. 3 (BW) Nr. 1 (Nds) Nr. 1 (Nds) Nr. 1 (Nds) Nr. 1 (Nds)
Niedersächsisches Landeswahlgesetz idF vom 23. Juli 1997 (NdsGVBl. S. 368)
§ 14 Abs. 4 § 33
Nr. 1 (Nds) Nr. 1 (Nds)
Gesetz über die Prüfung der Wahl zum Niedersächsischen Landtag (Wahlprüfungsgesetz) idF vom 16. Juni 1981 (NdsGVBl. S. 125)
¡2 Abs. 1
Nr. 1 (Nds)
Wahlprüfungsgesetz vom 5. August 1948 (GVB1. S. 93), geändert durch Gesetz vom 4. Juli 1962 (GVB1. S. 314)
Niedersachsen
Nordrhein-Westfalen Nordrhein-Westfälische Verfassung vom 28. Juni 1950 (GSNW S. 3)
Art. 64 Abs. 3
Nr. 3 (BW)
Mecklenburg-Vorpommern Erstes Gesetz zur Änderung des Sicherheitsund Ordnungsgesetzes vom 9. Februar 1998 (GVOB1. S. 126)
Erstes Gesetz zur Änderung wahlrechtlicher Vorschriften vom 18. Dezember 1995 (GVOB1. S. 651) - 1. WRÄndG -
Ait. 1 Nr. 19 Buchst, e) Nr. 1 Art. 1 Nr. 19 Buchst, f) Nr. 1 Art. 1 Nr. 20 Buchst, c) Nr. 1
Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV)
536
Gesetzesregister
Zweites Gesetz zur Änderung wahlrechtlicher Vorschriften vom 28. Oktober 1997 (GVOBl. S. 546) - 2. WRÄndG Gesetz über das Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern vom 19. Juli 1994 (GVOBl. 1994 S. 734) idF vom 28. Oktober 1997 (GVOBl. S. 546) - LVerfGG -
§ 11 Abs. 1 Nr. 1 § 11 Abs. 1 Nr. 8 § 28 Abs. 2 Satz 3 § 32 Abs. 1 § 33 Abs. 1 § 33 Abs. 2 §35 § 36 Abs. 1 § 36 Abs. 2 § 36 Abs. 3 § 51 Abs. 1 § 52 Satz 1 §53
Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV) Nr. 1,2 (MV) Nr. 1 (MV) Nr. 2 (MV) Nr. 2 (MV) Nr. 2 (MV) Nr. 2 (MV) Nr. 2 (MV) Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV)
Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Mecklenburg-Vorpommern idF der Bekanntmachung vom 25. März 1998 (GVOBl. S. 335) - SOG M-V -
§ 7 Abs. 1 Nr. 4 § 26 Abs. 1 Satz 1 § 28 Abs. 2 Satz 4 § 33 Abs. 1 Nr. 2, 4 § 33 Abs. 2 § 33 Abs. 3 § 33 Abs. 4 § 33 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 § 33 Abs. 4 Satz 2 § 33 Abs. 6 § 34 Abs. 1 Satz 2 § 34 Abs. 2 Satz 3 §34 Abs. 3 §34 Abs. 3 Satz 4 § 34 Abs. 5 Satz 1 § 34 Abs. 5 Satz 2 § 34 Abs. 6 Satz 1 § 34 Abs. 6 Satz 2 §34 Abs. 7 §45 §49 § 71 Abs. 1
Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV)
§ 25 Abs. 6 Satz 1 §26
Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV)
Gesetz zum Schutz des Bürgers beim Umgang mit seinen Daten (Landesdatenschutzgesetz)
Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV) Nr. 1 (MV)
Gesetzesregister vom 24. Juli 1992 (GVOBl. S. 487/GS M-V Gl. Nr. 204-1), geändert durch Art. 2 Gesetz zur Regelung des Archivrechts in M-V vom 7. Juli 1997 (GVOBl. S. 282) - DSG M-V -
§28
Nr. 1 (MV)
Kommunalverfassung für das Land Mecklenburg-Vorpommern vom 18. Januar 1994 (GVOBl. S. 249) - KV 1994 -
§ 32 Abs. 4 § 38 Abs. 1 § 38 Abs. 5 § 39 Abs. 4 § 110 Abs. 4 §116 Abs. 1 §116 Abs. 5
Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.
Kommunalverfassung für das Land Mecklenburg-Vorpommern idF der Bekanntmachung vom 13. Januar 1998 (GVOBl. S. 29, ber. GVOBl. S. 890), zuletzt geändert durch das 3. ÄndG KV M-V vom 10. Juli 1998 (GVOBl. S. 6 3 4 ) - K V -
§ 30 Abs. 3 § 38 Abs. 4 Satz 1 2. HS § 108 Abs. 3 §176
Nr. 2 (MV)
Kommunalwahlgesetz MecklenburgVorpommern vom 26. November 1993 (GVOBl. 1993, S. 938) - KWG M-V -
§ 37 Abs. 2 Satz 1
Nr. 2 (MV)
Art. 1 Nr. 113 Art. 4 § 1
Nr. 2 (MV)
Art. Art. Art. Art. Art. Art. Art. Art. Art.
Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.
2 2 2 2 2 2 2
(MV) (MV) (MV) (MV) (MV) (MV) (MV)
Nr. 2 (MV) Nr. 2 (MV) Nr. 2 (MV)
Erstes Gesetz zur Änderung des Kommunalwahlgesetzes vom 3. März 1999 (GVOBl. S. 212) Gesetz zur Änderung kommunalverfassungsrechtlicher Vorschriften und zur Einfuhrung der direkten Wahl der Bürgermeister und Landräte vom 26. November 1997 (GVOBl. S. 694) Gesetz zur Einführung der Direktwahl der Bürgermeister und Landräte vom 26. November 1997 (GVOBl. 694) Verfassung des Landes MecklenburgVorpommern vom 23. Mai 1993 (GVOBl. S. 371, 372) - LV -
3 Abs. 1 4 5 Abs. 3 6 Abs. 1 6 Abs. 2 37 Abs. 2 Satz 1 40 53 Nr. 6 56
1 (MV) 1 (MV) 1 (MV) 1 (MV) 1 (MV) 1 (MV) 1 (MV) 1 (MV) 1 (MV)
538
Gesetzesregister
Verfassung des Landes MecklenburgVorpommern vom 23. Mai 1993 (GVOB1. S. 371) idF vom 4. April 2000 (GVOB1.S. 1 5 8 ) - L V -
Art. Art. Art. Art. Art. Art.
3 Abs. 2 3 Abs. 3 3 Abs. 4 5 Abs. 3 53 Nr. 1 53 Nr. 7
Nr. 2 (MV) Nr. 2 (MV) Nr. 2 (MV) Nr. 2 (MV) Nr. 2 (MV) Nr. 2 (MV)
Sachsen Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Sächsischen Landtags vom 2. Mai 1994 (GVB1.1994 S. 954) — Sächsisches Abgeordnetengesetz —
§ 6 Abs. 4
Nr. 2 (S)
Gesetz über den Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen vom 18. Februar 1993 (GVB1. S. 177, ber. in GVB1. S. 495) - SächsVerfGHG -
§ 7 Nr. 2 § 10 Abs. 1 § 21 Nr. 1 § 23 Satz 2
Nr. 4 (S) Nr. 3 (S) Nr. 4 (S) Nr. 4 (S)
Gesetz zur Neuordnung der öffentlich-rechtliehen Kreditinstitute im Freistaat Sachsen einschließlich der Sächsischen Aufbaubank GmbH (GVB1.1999 S. 190)
Art. Art. Art. Art. Art. Art. Art. Art. Art.
Nr. 4 (S) Nr. 4 (S) Nr. 4 (S) Nr. 4 (S) Nr. 4 (S) Nr. 4 (S) Nr. 4 (S) Nr. 4 (S) Nr. 4 (S)
Heuersdorfgesetz vom 8. April 1998 (GVB1.1998 S. 150)
§1 §2
Nr. 3 (S) Nr. 3 (S)
Verfassung des Freistaates Sachsen vom 27. Mai 1992 (GVB1. S. 243) - SächsVerf -
Art. 31 Abs. 1 Art. 31 Abs. 1 Art. 39 Abs. 3 Art. 42 Abs. 2 Satz 1 Art. 42 Abs. 3 Satz 1 Art. 62 Abs. 3 Art. 81 Abs. 1 Nr. 2 Art. 82 Abs. 2 Art. 84 Abs. 2 Art. 88 Abs. 1 Art. 88 Abs. 2 Satz 3 Art. 90
Nr. 1 (S) Nr. 1 (S) Nr. 2 (S) Nr. 2 (S) Nr. 2 (S) Nr. 3 (BW) Nr. 4 (S) Nr. 4 (S) Nr. 4 (S) Nr. 3 (S) Nr. 3 (S) Nr. 3 (S)
1§2 1 § 12 1 § 16 1 § 19 2§6 2§8 2§9 2 §11 2 § 19
Gesetzesregister
539
Sachsen-Anhalt Gesetz über das Landesverfassungsgericht vom 23. August 1993 (LSA-GVB1.1993 S. 441) — Landesverfassungsgerichtsgesetz —
§ 52
Haushaltbegleitgesetz 1997 v. 17. Dezember 1996 (LSA-GVB1. S. 416)
Nr. 2 (SA)
Nr. 1 (SA)
Landesfinanzausgleichsgesetz vom 31. Januar 1995 (LSA-GVB1. S. 41)
§ 3 Abs. 2 Nr. 5 § 4 Nr. 3 § 4 Nr. 7 §7 §lla § 13 Abs. 13 §15
Nr. 1 Nr. 1 Nr. 1 Nr. 1 Nr. 1 Nr. 1 Nr. 1
SA) SA) SA) SA) SA) SA) SA)
Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt vom 16. Juli 1992 (LSA-GVB1. S. 600) - LVerfG -
Art. 2 Abs. 1 Art. 2 Abs. 3 Art. 75 Art. 75 Nr. 7 Art. 77 Art. 80 Art. 81 Art. 82 Art. 87 Abs. 1 Art. 87 Abs. 3 Art. 88 Abs. 1 Art. 88 Abs. 2
Nr. 1 Nr. 1 Nr. 2 Nr. 1 Nr. 2 Nr. 2 Nr. 2 Nr. 2 Nr. 1 Nr. 1 Nr. 1 Nr. 1
SA) SA) SA) SA) SA) SA) SA) SA) SA) SA) SA) SA)
Gesetz über das Verfahren bei Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid vom 9. August 1995 (LSA-GVB1. S. 232) -LSA-VAbstG-
§7 §9 §n §30 §32
Nr. 2 Nr. 2 Nr. 2 Nr. 2 Nr. 2
SA) SA) SA) SA) SA)
Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Abgeordneten des Thüringer Landtags vom 9. März 1995 (GVB1. S. 121) - ThürAbgG -
§ 1 Abs. 2
Nr. 1 (Thür)
Gesetz über den Thüringer Verfassungsgerichtshof vom 28. Juni 1994 (GVB1. S. 781) - ThürVerfGHG -
§ 11 Nr. 3 § 26 Abs. 1 § 38 § 39 Abs. 3
Nr. 3 (Thür) Nr. 3 (Thür) Nr. 2 (Thür) Nr. 1,2 (Thür)
Thüringen
540
Gesetzesregister
Thüringer Gesetz zur Überprüfung von Abgeordneten vom 26. Juni 1998 (GVB1. S. 205) - ThürAbgÜpG -
§1 §8
Thüringer Wahlgesetz für den Landtag vom §14 9. November 1993 (GVB1. S. 657) - ThürLWG - §16 §17 § 46 Abs. 1 Verfassung des Freistaats Thüringen vom 25. Oktober 1993 (GVB1. S. 625) - ThiirVerf -
Art. 46 Abs. 2 Art. 46 Abs. 3 Art. 49 Abs. 3 Art. 49 Abs. 4 Art. 50 Abs. 3 Art. 52 Abs. 2 Art. 52 Abs. 3 Art. 53 Art. 57 Abs. 5 Art. 62 Abs. 1 Art. 80 Abs. 1 Nr. 4 Art. 83 Abs. 1 Art. 96 Abs. 2
Nr. 1 (Thür) Nr. 1 (Thür)
Nr. 1 (Thür) Nr. 1 (Thür) Nr. 1 (Thür) Nr. 1 (Thür) Nr. 1 (Thür) Nr. 1 (Thür) Nr. 1 (Thür) Nr. 1 (Thür) Nr. 2 (Thür) Nr. 1 (Thür) Nr. 1 (Thür) Nr. 1,2 (Thür) Nr. 1 (Thür) Nr. 3 (Thür) Nr. 1 (Thür) Nr. 1 (Thür) Nr. 1 (Thür)
Zwischenstaatliches Recht und Vertragsgesetze Vertrag zwischen der Bundesrepublik Anlage I Kapitel V Deutschland und der Deutschen Demokratischen Sachgebiet D Republik über die Herstellung der Einheit Abschn. III Nr. 11 Deutschlands vom 31. August 1990 (BGBl. II S. 889) - Einigungsvertrag - EV -
Nr. 1 (S)
Recht der Deutschen Demokratischen Republik Gesetz über die Wahlen zu Kreistagen, Stadtverordnungen, Stadtbezirksversammlungen und Gemeindevertretungen vom 6. März 1990 - Kommunalwahlgesetz DDR - (Ges. vom 17. Mai 1990 - GBl. 1 1990, S. 255) Kommunalverfassving DDR (Ges. vom 17. Mai 1990 - GBl. 11990, S. 255) Völker- und Europarecht EG-Vertrag
Art. 19 Abs. 1
Nr. 2 (HB)
Verzeichnis der Verfassungsgerichte der Länder (Stand: März 2002) 1. Staatsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg Postfach 10 36 53, 70031 Stuttgart Ulrichstraße 10, 70182 Stuttgart Tel.: 07 11/2 12-30 26 Fax: 07 11/2 12-30 24 2. Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin Elßholzstraße 30-33 10781 Berlin Tel.: 0 30/90 15 26 52 Fax: 0 30/90 15 26 66 Email: [email protected] www.berlin.de/Verfassungsgerichtshof 3. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg Allee nach Sanssouci 6 14471 Potsdam Tel.: 03 31/9 83 81 02 Fax: 03 31/9 67 93 18 www.verfassungsgericht.brandenburg.de 4. Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen Osterdeich 17 28203 Bremen Tel.: 04 21/36 12 191 Fax: 04 21/36 14 172 5. Hamburgisches Verfassungsgericht Postfach 30 01 21,20355 Hamburg Sievekingplatz 2, 20355 Hamburg Tel.: 0 40/42 843-1 Fax: 0 40/42 854 4171 www.hamburg.de/StadtPol/Gerichte/VerfG/welcome.htm 6. Staatsgerichtshof des Landes Hessen Mühlgasse 2, 65183 Wiesbaden Tel.: 06 11/32 27 38 Fax: 0611/32 2617 www.staatsgerichtshof/hessen.de
542
Verzeichnis der Verfassungsgerichte der Länder
7. Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern Postfach 3161,17461 Greifswald Domstraße 7,17489 Greifswald Tel.: 0 38 34/89 06 61 Fax: 0 38 34/89 05 39 8. Niedersächsischer Staatsgerichtshof Herminenstraße 31 31657 Bückeburg Tel.: 0 57 22/29 02 18 Fax: 0 57 22/29 02 17 Email: [email protected] www.staatsgerichtshof.niedersachsen.de 9. Verfassungsgerichtshof des Saarlandes Franz-Josef-Röder-Straße 15 66119 Saarbrücken Tel.: 06 81/501 52 36 und 501 53 50 Fax: 06 81/501 53 51 Email: [email protected] 10. Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen Postfach 10 09 64,04009 Leipzig Harkortstraße 9,04107 Leipzig Tel.: 03 41/21 41 236 Fax: 03 41/21 41 250 11. Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt Postfach 14 26,06813 Dessau Willy-Lohmann-Straße 33 06844 Dessau Tel.: 0340/202 14 51 Fax: 0340/202 15 60 12. Thüringer Verfassungsgerichtshof Postfach 23 62, 99404 Weimar Kaufstraße 2-4, 99423 Weimar Tel.: 0 36 43/20 60 Fax: 0 36 43/20 62 24 Email: [email protected] www.thverfgh.thueringen.de