Entscheidungen der Verfassungsgerichte der Länder (LVerfGE). Band 13 Baden-Württemberg, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen: 1.1. bis 31.12.2002 9783110907155, 9783899490893

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German Pages 469 [472] Year 2004

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Entscheidungen der Verfassungsgerichte der Länder (LVerfGE). Band 13 Baden-Württemberg, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen: 1.1. bis 31.12.2002
 9783110907155, 9783899490893

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Die Entscheidungssammlung der Verfassungsgerichte der Länder — LVerfGE — kann in ihrem das Jahr 2002 erfassenden Band 13 aus Platzgründen die zur Veröffentlichung bestimmten Entscheidungen des Verfassungsgerichts des Landes Brandenburg nicht mehr vollständig aufnehmen. Das Landesverfassungsgericht legt deshalb für das Jahr 2002 einen

Supplementband Brandenburg zu: Entscheidungen der Verfassungsgerichte der Länder - LVerfGE Suppl. Bbg. zu Bd. 13 vor. Der Band kann beim Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Allee nach Sanssouci 6, 14471 Potsdam, Telefon: 0331/983 8102, Telefax: 0331/9679318, E-Mail: [email protected], zum Preis von 30 € bezogen werden.

Entscheidungen der Verfassungsgerichte der Länder Baden-Württemberg, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen

Entscheidungen der Verfassungsgerichte der Länder Baden-Württemberg, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen

Herausgegeben von den Mitgliedern der Gerichte

w G DE

RECHT

De Gruyter Recht • Berlin

Entscheidungen der Verfassungsgerichte der Länder Baden-Württemberg, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen LVerfGE 13. Band 1.1. bis 31.12. 2002

W G DE

RECHT

D e Gruyter Recht • Berlin

Zitierweise Für die Zitierung dieser Sammlung wird die Abkürzung LVerfGE empfohlen, z. B. LVerfGE 1, 79 (= Band 1 Seite 79).

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über < http ://dnb.ddb.de > abrufbar.

ISBN 3-89949-089-4 © Copyright 2004 by De Gruyter Rechtswissenschaften Verlags-GmbH, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin

Vorwort Der im Vorwort zu dem 1996 erschienenen Band 1 geäußerte Wunsch, es möchten künftig auch die Entscheidungen anderer Landesverfassungsgerichte Eingang in die Sammlung finden, hat sich mitderweile bis auf die in einer anderen Veröffentlichungstradition stehenden Verfassungsgerichte der Länder Bayern, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz erfüllt. Die darin liegende Einschränkung schloss es für den vorliegenden Band aus, die im Vorwort zu dem 2002 erschienenen Band 11 enthaltene Ankündigung einzuhalten, das Vorwort werde jeweils von dem Präsidenten verfasst, der im Jahre des Erscheinens des Bandes Gastgeber der Jahrestagung der Präsidentin und der Präsidenten der Staats- und Verfassungsgerichtshöfe des Bundes und der Länder ist. Denn die diesjährige Jahrestagung wird vom Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs des Landes Nordrhein-Westfalen ausgerichtet, dessen Gericht an der Sammlung LVerfGE nicht teilhat. An seiner Stelle hat sich der Unterzeichner als dienstältester Präsident eines Landesverfassungsgerichts bereit erklärt, den vorliegenden Band einzuleiten. Der 13. Band, der den Zeitraum vom 1.1. bis 31.12.2002 umfasst, enthält Entscheidungen der Landesverfassungsgerichte der Länder Baden-Württemberg, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Die Landesverfassungsgerichte der Länder Hamburg und Niedersachsen konnten keine Entscheidung beitragen. Die Thematik der in diesem Band abgedruckten Entscheidungen lässt wiederum den Unterschied zwischen Landesverfassungsgerichten hervortreten, deren Zuständigkeit sich im Wesentlichen auf die herkömmlichen Aufgaben eines Staatsgerichtshofs beschränkt, und denjenigen, deren Zuständigkeit auch die individuelle Verfassungsbeschwerde bzw. die dem einzelnen Bürger eröffnete Grundrechtsklage umfasst. Während die in Band 13 enthaltenen Entscheidungen der ersteren naturgemäß nur die klassischen Materien der Verfassungsgerichtsbarkeit wie Organstreitigkeiten, Normenkontrollen und Wahlprüfungen betreffen, nehmen bei den letzteren Entscheidungen über Individualverfassungsbeschwerden und Grundrechtsklagen, mit denen einzelne Bürger die Verletzung ihrer verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechte rügen, zahlenmäßig den weitaus größeren Raum ein. Die Gegenstände dieser Entscheidungen zei-

VI

Vorwort

gen, in welchem Maß die Verfassungsgerichte mit Fragen zu Verfahren anderer Gerichte befasst sind, wie oft sie den Verfassungsrechtsweg aber auch gegen solche Verfahren abgrenzen und vor unberechtigter Inanspruchnahme bewahren müssen. Unter den Entscheidungen mit staatsorganisatorischem Gegenstand ist das Urteil des Verfassungsgerichtshofs des Freistaats Sachsen (Seite 317) hervorzuheben. Mit ihm setzt das Gericht in der lang dauernden Diskussion um Zulässigkeit und Grenzen haushaltsrelevanter Volksgesetzgebung einen neuen Akzent. Auch dieses Vorwort soll nicht ohne die Anregung enden, künftig doch möglichst die bedeutsamen Entscheidungen aller Landesverfassungsgerichte in dieser Sammlung zusammenzufassen. Prof. Dr. Manfred-Carl Schinkel Präsident des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs

Inhalt* Entscheidungen des Staatsgerichtshofs für das Land Baden-Württemberg Nr. 1 Nr. 2

des

Seite

12.8.2002 GR 4/01

Wahlprüfungsbeschwerde; Vereinbarkeit StGHG mit Verfassungsrecht

§ 52

21.10.2002 GR11/02

Einberufung einer Sondersitzung eines Untersuchungsausschusses des Landtags

3 8

Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin Nr. 1

24.1.2002 VerfGH 148/01

Rentenversorgung Verfolgter des Nationalsozialismus; Altersrente; Altersgrenze; Schwerbehinderte; Gleichbehandlungsgrundsatz; Benachteiligungsverbot; Bevorzugung von Behinderten

Nr. 2

16.5.2002 VerfGH 124/01 124 A/01

Eigenbedarfskündigung

42

Nr. 3

27.9.2002 VerfGH 63/02 63 A/02

Frisdose Kündigung (Mietrückstände); unterbliebene Zahlungen des Sozialamtes; Gehörsverstoß durch Nichtberücksichtigung von für die Treuwidrigkeit einer Kündigung geltend gemachter Umstände

53

31.10.2002 VerfGH 66/02 66 A/02

Transsexueller; Verlegung in Untersuchungshaftanstalt für Frauen; Menschenwürde; zur Pflicht der Behörden zur Beachtung und Befolgung gerichtlicher Entscheidüngen

61

6.12.2002 VerfGH 192/01

Doppelbewerbung einer Partei; „Ersetzung" eines Wahlvorschlages durch einen anderen; Verstöße gegen Parteisatzung; Einspruch gegen einen „zu Unrecht zugelassenen" Wahlvorschlag

71

Nr. 4

Nr. 5

^

Die entsprechend gekennzeichneten Entscheidungen sind entweder nur mit den Leitsätzen abgedruckt oder gekürzt wiedergegeben und im Volltext bei den jeweiligen Landesverfassungsgerichten erhältlich (Adressen s. Anhang).

Inhalt

VIII

Entscheidungen des Verfassungsgerichts des Landes Brandenburg Nr. 1

14.2.2002 VfGBbg 17/01

Art. 97 Abs. 3 Landesverfassung: „Neue Aufgabe" bei Neuordnung der Kostenerstattung mit dem Ziel einer anderen Aufgabenerledigung (hier: im Bereich der Behindertenbetreuung); Anforderungen an den „entsprechenden finanziellen Ausgleich"

97

Nr. 2*

14.2.2002 VfGBbg 65/01

Verletzung des rechtlichen Gehörs bei Entscheidung „im schriftlichen Verfahren" ohne entsprechende Ankündigung eines Termins, der dem Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung entspricht

Nr. 3

21.3.2002 VfGBbg 19/01

Vorrang der Gemeinde füir die Flächennutzungsplanung

128

Nr. 4*

18.4.2002 VfGBbg 35/01

Grundsätzlich keine Erstattung der Auslagen nach Hauptsacheerledigung durch Entscheidung in einem dieselbe Norm betreffenden „Pilotverfahren"

151

Nr. 5*

16.5.2002 VfGBbg 46/01

Kein Anspruch der amtsangehörigen Gemeinde auf eine Amtsverwaltung in bestimmter Form

152

16.5.2002 VfGBbg 46/02

Wiedereinsetzung bei Versäumung der Einspruchsfrist gegen einen Strafbefehl im Lichte des Anspruchs auf rechtliches Gehör und auf ein faires Verfahren vor Gericht

153

Keine Anfechtbarkeit von Regelungen zur Ortsteilverfassung durch eine hiervon (noch) nicht betroffene Gemeinde; Statthaftigkeit der Fesdegung einer „RegelMindestgröße" für amtsangehörige Gemeinden als (bloßer) Richtwert; Zulässigkeit einer „Kopfprämie" für freiwillige Gemeindezusammenschlüsse

159

Im Kommunalverfassungsbeschwerdeverfahren keine Berücksichtigung einer etwaigen Verkürzung von Rechten der parlamentarischen Opposition; zur Frage eines Maßstäbegesetzes vor einer Gemeindeneuordnung

176

25.9.2002 VfGBbg 67/02

Kommunalverfassungsbeschwerde; Erfordernis einer genauen Bezeichnung der Bestimmungen, durch die sich die Kommune in ihren Rechten verletzt sieht

177

25.9.2002 VfGBbg 79/02

Zur verfassungsgerichtlichen Überprüfung von Durchsuchungs-und Beschlagnahmeentscheidungen

177

25.10.2002 VfGBbg 75/02

Unschuldsvermutung und AuslagenerstattungsentScheidung bei Einstellung des Bußgeldverfahrens

188

Nr. 6

Nr. 7

Nr. 8*

Nr. 9*

Nr. 10

Nr. 11*

29.8.2002 VfGBbg 34/01

29.8.2002 VfGBbg 15/02

Inhalt

IX

25.10.2002 VfGBbg 87/02

Bußgeldverfahren; Verletzung des Rechts auf Beistand eines Verteidigers bei Verständigung mit dem Betroffenen ohne Einbeziehung des bereits beauftragten Rechtsanwalts

188

Nr. 13*

21.11.2002 VfGBbg 94/02

Wohnungsdurchsuchung wegen „Gefahr im Verzuge" und Unverletzlichkeit der Wohnung

196

Nr. 14

19.12.2002 VfGBbg 104/02

Recht auf Zuziehung eines Rechtsbeistandes vor freiheitsentziehenden Maßnahmen und Recht der Erziehungsberechtigten auf Verfahrensbeteiligung bei freiheitsentziehenden Maßnahmen gegen Jugendliche

197

Nr. 12

Entscheidungen des Staatsgerichtshofs der Freien Hansestadt Bremen Nr. 1

15.1.2002 St 1/01

Abstrakte Normenkontrolle des Gesetzes zur Übertragung von Aufgaben staatlicher Förderung auf juristische Personen des privaten Rechts; verfassungsrechtliche Voraussetzungen und Grundsätze der Beleihung bei formeller Privatisierung

Entscheidungen des Hamburgischen Verfassungsgerichts (in diesem Band keine Entscheidungsveröffentlichung) Entscheidungen des Staatsgerichtshofs des Landes Hessen Nr. 1

13.2.2002 P.St. 1633

Chancengleichheit im Wahlwettbewerb; Wahlprüfung ..

237

Nr. 2

11.4.2002 P.St. 1688

Ausschluss der Grundrechtsklage bei Erhebung der Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht sowie Ablehnung der Annahme einer Grundrechtsklage durch Beschluss ohne Begründung verfassungsgemäß ..

248

Unzulässigkeit der Grundrechtsklage infolge Erhebung der Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht unabhängig von weiterem Schicksal der Verfassungsbeschwerde

257

Nr. 4

25.9.2002 Fachgerichtlicher Eilrechtsschutz bei Zweifeln an der P.St. 1801 E A Vereinbarkeit eines Gesetzes mit höherrangigem Recht

261

Nr. 5

10.12.2002 P.St. 1609

Nr. 3

15.5.2002 P.St. 1724

Keine Subsidiarität der Grundrechtsklage, wenn die Zulässigkeit eines fachgerichtlichen Rechtsbehelfs höchst zweifelhaft ist; Gehörsrecht und rechtlicher Hinweis

266

Inhalt

X

Entscheidungen des Landesverfassungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern Nr. 1

16.9.2002 LVerfG 8/02

Verfassungsrechtsweg; Abwägung der Folgen im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung; Ausschluss aus einer Landtagsfraktion

277

Nr. 2

19.12.2002 LVerfG 5/02

Organstreit; Fragerecht von Abgeordneten; kein Recht der Landesregierung, die Zielrichtung von Fragen zu bestimmen; Umfang der Verpflichtung zur vollständigen Beantwortung; Begründungspflicht für das Ablehnen der Beantwortung; Einschränkung des Fragerechts durch Datenschutz

284

Entscheidungen des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs (in diesem Band keine Entscheidungsveröffentlichung) Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes Nr. 1*

31.10.2002 LV1/02

Umfang der Antwortpflicht der Regierung auf eine parlamentarische Anfrage

303

Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes des Freistaates Sachsen Nr. 1

11.7.2002 Vf. 9-VI-01

Verfahren über die Zulässigkeit eines Volksantrages; Haushaltsgesetz; Schranken des Volksgesetzgebungsverfahrens; Budgetrecht des Parlaments; Schulrecht

315

Entscheidungen des Landesverfassungsgerichts Sachsen-Anhalt Nr. 1

Nr. 2

15.1.2002 Authentische Gesetzesinterpretation im kommunalen LVG 3, 5/01 Abgabenrecht; Rückwirkung; Vertrauensschutz; kommunale Selbstverwaltung; Finanzhoheit der Kommunen 15.1.2002 LVG 9, 12, 13/01

Grundschule mit festen Öffnungszeiten; Zwang und Freiwilligkeit; Grenze zwischen Elternrecht und Schulaufsieht; Gestaltungs Spielraum des Gesetzgebers (mit Sondervotum der Richterin Dr. Faßhauer)

343

364

Entscheidungen des Thüringer Verfassungsgerichtshofes Nr. 1

23.10.2002 VerfGH 11 /02

Unterbringung eines Jugendlichen im Erwachsenenmaßregelvollzug; Verfassungsbeschwerde gegen Unterlassung einer vollstreckbaren Entscheidung des Jugendrichters; effektiver Rechtsschutz; rechtliches Gehör

405

Inhalt Nr. 2

12.11.2002 VerfGH 12/02

Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe in der Berufungsinstanz nach erstinstanzlichem Freispruch; Verfassungsbeschwerde nach erfolgloser Revision zum Oberlandesgericht; faires Verfahren

XI

415

Sachregister

425

Gesetzesregister

437

Verzeichnis der Verfassungsgerichte der Länder

449

Abkürzungsverzeichnis A.A. a.F. aaO Abgh-Drs. abl. Abg. Abs. AG AG-BSHG ÄltR ÄltRProt Amtl. Begr. AmtsO ÄndG AnwBl AöR AP ArbG ArbGG Art. Aufl. Az BAG BAT BauGB BayObLGZ BayVerfGH BayVerfGHE BayVGH (N.F.) BbgVerfG Bd. BeleihungsG Beschl. BFH BGB BGBl. BGH

andere Ansicht alte Fassung am angegebenen Ort Abgeordnetenhaus-Drucksache ablehnend Abgeordnete(r) Absatz Aktiengesellschaft Gesetz zur Ausfuhrung des Bundessozialhilfegesetzes (Brandenburg) Altestenrat Altes tenratsprotokoll amtliche Begründung Amts Ordnung Änderungsgesetz Anwaltsblatt Archiv des öffentlichen Rechts Nachschlagewerk des Bundesarbeitsgerichts - Arbeitsrechtliche Praxis Arbeitsgericht Arbeitsgerichtsgesetz Artikel Auflage Aktenzeichen Bundesarbeitsgericht Bundesangestellten-Tarifvertrag Baugesetzbuch Entscheidungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts in Zivilsachen Bayerischer Verfassungsgerichtshof Entscheidungen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes Entscheidungssammlung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes mit Entscheidungen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs Verfassungsgericht für das Land Brandenburg Band Gesetz zur Übertragung von Aufgaben staatlicher Förderung auf juristische Personen des privaten Rechts (Bremen) Beschluss Bundesfinanzhof Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof

XIV BGHSt BGHZ BHO BildgWissAProt. BL (d.A.) BMU BRAGO BRAO BrbFRG BremLV BremStGH BremStGHE BremStGHG BremVerf BSHG BT-Drs. Buchst. BVerfG BVerfGE BVerfGG BVerwG BVerwGE BW BWG BWVB1. BWVPr. bzw. CDU d.h. ders. dies. DJT DJZ DM DÖV Drs. DSG M-V DtZ DVB1. DVP EA ebd. EGGVG EGZPO ESVGH

Abkürzungsverzeichnis Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen Bundeshaushaltsordnung Protokolle des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft Blatt (der Akten) Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte Bundesrechtsanwaltsordnung Zweites Gesetz zur Funktionalreform im Land Brandenburg Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen Entscheidungen des Staatsgerichtshofes der Freien Hansestadt Bremen Gesetz über den Staatsgerichtshof (Bremen) Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen Bundessozialhilfegesetz Bundestagsdrucksache Buchstabe Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Gesetz über das Bundesverfassungsgericht Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Baden-Württemberg Bundeswahlgesetz Baden-Württembergisches Verwaltungsblatt Baden-Württembergische Verwaltungspraxis beziehungsweise Christlich-Demokratische Union das heisst derselbe dieselbe(n) Deutscher Juristentag Deutsche Juristenzeitung Deutsche Mark Die Öffentliche Verwaltung Drucksache Gesetz zum Schutz des Bürgers beim Umgang mit seinen Daten (Mecklenburg-Vorpommern) Deutsch-Deutsche Rechtszeitschrift Deutsches Verwaltungsblatt Deutsche Verwaltungspraxis (auch: Demokratische Volkspartei) Einstweilige Anordnung ebenda Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz Einführungsgesetz zur Zivilprozessordnung Entscheidungssammlung des Hessischen V G H und des V G H Baden-Württemberg (mit Entscheidungen der Staatsgerichtshöfe)

Abkürzungsverzeichnis EuGRZ EUR EV EzKommR f, ff FAG FDP Fn. GBl. GemO GeschOLandtag GeschOLT GFG 2001 GG ggf. GmbH GO GO LT GO-BT GO-SLT GR GVB1. (GVOB1.) GVG GWB HbgVf HdB HessVerf (HV) HGO HGrG HmbVerfG HOAI Hrsg. HS. HSOG HStrG 2000 HVerfGG iHv insbes. iSv iVm JbSächsOVG JGG JR JW JWG JZ KAG-LSA

Europäische Grundrechte-Zeitschrift Euro Einigungsvertrag Entscheidungen zum Kommunalrecht folgend, fortfolgende Finanzausgleichsgesetz Freie Demokratische Partei Deutschlands Fußnote Gesetzblatt Gemeindeordnung Geschäftsordnung des Landtags von Baden-Württemberg Geschäftsordnung des Landtags Brandenburg Gesetz zur Regelung der Zuweisungen des Landes Brandenburg an die Gemeinden und Landkreise im Haushaltsjahr 2001 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland gegebenenfalls Gesellschaft mit beschränkter Haftung Geschäftsordnung (auch: Gemeindeordnung für das Land Brandenburg) Geschäftsordnung des Landtags Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages Geschäftsordnung des Sächsischen Landtages Geschäftsregister des Staatsgerichtshofs Baden-Württemberg Gesetz- und Verordnungsblatt Gerichtsverfassungsgesetz Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg Handbuch Verfassung des Landes Hessen Hessische Gemeindeordnung Haushaltsgrundsätzegesetz Hamburgisches Verfassungsgericht Honorarordnung für Architekten und Ingenieure Herausgeber Halbsatz Hessisches Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung Gesetz zur Beseitigung des strukturellen Ungleichgewichts im Haushalt 2000 (Brandenburg) Gesetz über das Hamburgische Verfassungsgericht in Höhe von insbesondere im Sinne von in Verbindung mit Jahrbücher des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts Jugendgerichtsgesetz Juristische Rundschau Juristische Wochenschrift Jugendwohlfahrtsgesetz Juristenzeitung Kommunalabgabengesetz Sachsen-Anhalt

XV

XVI KG KKP KWahlG (KWG) LAG Lfg. LG LHO lit. LKV LS LSAGrdSchÖffzG LSA-KiBeG LSA-SG LSA-SOG LSA-VerfGG LT-Drs. LT-Prot. LT-StenBer. LtdMinRat LV LVerfG LSA LVerfG M-V LVerfGE LVerfGE Suppl. BbG. LVerfGG LVerfGG-LSA LVerf-LSA LWahlG LWahlO LWPrG MdA MdL MDR Min.Dir. Mio MR mwN n.F. NdsStGH Nds.VBl. NJ NJW NJW-RR Nord-ÖR

Abkürzungsverzeichnis Kammergericht Kernkraftwerk Philippsburg Kommunalwahlgesetz Landesarbeitsgericht Lieferung Landgericht Haushaltsordnung der Freien Hansestadt Bremen litera Landes- und Kommunalverwaltung Leitsatz Gesetz zur Einführung der Grundschule mit festen Öffnungszeiten (Sachsen-Anhalt) Gesetz zur Förderung und Betreuung von Kindern (Sachsen-Anhalt) Schulgesetz des Landes Sachsen-Anhalt Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung des Landes Sachsen-Anhalt Gesetz über das Landesverfassungsgericht (Sachsen-Anhalt) Landtagsdrucksache Landtagsprotokoll Landtag Sachsen-Anhalt Stenographische Berichte Leitender Ministerialrat Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern/ auch: Baden-Württemberg Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern Entscheidungen der Verfassungsgerichte der Länder Supplementband Brandenburg zu: Entscheidungen der Verfassungsgerichte der Länder Gesetz über das Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern Gesetz über das Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt Landeswahlgesetz (Berlin) Landeswahlordnung (Berlin) Gesetz über die Prüfung der Landtagswahlen (Baden-Württemberg) Mitglied des Abgeordnetenhauses Mitglied des Landtages Monatsschrift für Deutsches Recht Ministerialdirigent Million(en) Ministerialrat mit weiteren Nachweisen neue Fassung Niedersächsischer Staatsgerichtshof Niedersächsische Verwaltungsblätter Neue Justiz Neue Juristische Wochenschrift Neue Juristische Wochenschrift - Rechtsprechungsreport Zeitschrift für öffentliches Recht in Norddeutschland

Abkürzungsverzeichnis Nr. NRWVerf NRWVerfGH NStZ NStZ-RR NVwZ NVwZ-RR NWVB1. NZA NZM o.a. OLG OVG OVG-LSA OVGE OWiG PDS PflegeG Pkw PlenProt. Prot. PrVG RA rd. Rh-Pf Rn. ROG RS RSK s. S. s.o. SaarlVerfGH SächsABl. SachsAnhVerfGH SächsGemO SächsGVBl. SächsVBl SächsVerf SächsVerfGH SächsVerfGHG SchulG-E SGB SGG sog. SPD StAnz.

XVII

Nummer Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen Neue Zeitschrift für Strafrecht Neue Zeitschrift für Strafrecht — Rechtsprechungsreport Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht — Rechtsprechungsreport Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht Neue Zeitschrift für Miet- und Wohnungsrecht oben angegeben(e) Oberlandesgericht Oberverwaltungsgericht Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt Entscheidungen der Oberverwaltungsgerichte NordrheinWestfalen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein Gesetz über Ordnungswidrigkeiten Partei des Demokratischen Sozialismus Landespflegegesetz (Brandenburg) Personenkraftwagen Plenarprotokoll Protokoll Gesetz über die Anerkennung und Versorgung der politisch, rassisch oder religiös Verfolgten des Nationalsozialismus (Berlin) Rechtsanwalt rund Rheinland-Pfalz Randnummer Raumordnungsgesetz Reaktorsicherheit Reaktorsicherheitskommission siehe Seite siehe oben Verfassungsgericht des Saarlandes Sächsisches Amtsblatt Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt Sächsische Gemeindeordnung Sächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt Sächsische Verwaltungsblätter Verfassung des Freistaates Sachsen Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen Gesetz über den Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Schulgesetzes für den Freistaat Sachsen Sozialgesetzbuch Sozialgerichtsgesetz sogenannt Sozialdemokratische Partei Deutschlands Staatsanzeiger Baden-Württemberg

XVIII std. Rspr. StGB StGH StGH BW StGHG StPO StVollzG SVerf TDM ThürPsychKG ThürVBl. ThürVerf ThürVerfGH ThürVerfGHG TSG TÜV u.a. u.U. UA UAG unveröffend. Urt. VAGBbg Var. Verf Verf RhlPf VerfBW VerfGBbg VerfGGBbg VerfGH N W VerfGHG VerfNRW VerfSachsAnh VerwArch VG vgl. VOB1. Vorb. VvB WDStRL VwGO VwRRMO WahlPrüfG WRV WuM (WM)

Abkürzungsverzeichnis ständige Rechtsprechung Strafgesetzbuch Staatsgerichtshof des Landes Hessen Staatsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg Gesetz über den Staatsgerichtshof des Landes Hessen/ auch: Baden-Württemberg Strafprozessordnung Strafvollzugsgesetz Verfassung des Saarlandes Tausend Deutsche Mark Thüringer Gesetz zur Hilfe und Unterbringung psychisch Kranker Thüringer Verwaltungsblätter Verfassung des Freistaats Thüringen Thüringer Verfassungsgerichtshof Gesetz über den Thüringer Verfassungsgerichtshof Transsexuellengesetz Technischer Uberwachungsverein unter anderem; und andere unter Umständen Urteilsaus fertigung Gesetz über Einsetzung und Verfahren von Untersuchungsausschüssen des Landtags (Baden-Württemberg) unveröffentlicht Urteil Volksabstimmungsgesetz Brandenburg Variante Verfassung Verfassung des Landes Rheinland-Pfalz Verfassung des Landes Baden-Württemberg Verfassungsgericht des Landes Brandenburg Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen Gesetz Nr. 645 über den Verfassungsgerichtshof des Saarlandes/ auch: Gesetz über den Verfassungsgerichtshof Berlin Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt Verwaltungsarchiv Verwaltungsgericht vergleiche Verordnungsblatt Vorbemerkung Verfassung von Berlin Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Verwaltungsgerichtsordnung VerwaltungsRechtsReport Mittelost Wahlprüfungsgesetz (Berlin) Verfassung des Deutschen Reiches vom 11.8.1919 (Weimarer Reichsverfassung) Wohnungswirtschaft und Mietrecht

Abkürzungsverzeichnis z.B. ZaöRV ZAR ZG ZPO ZRP

XIX

zum Beispiel Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für Ausländerrecht Zeitschrift f. Gesetzgebung Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik

Entscheidungen des Staatsgerichtshofes für das Land Baden-Württemberg

Die amtierenden Richterinnen und Richter des Staatsgerichtshofes für das Land Baden-Württemberg Lothar Freund, Präsident (bis 31.10.2002) Eberhard Stilz, Präsident (ab 1.11.2002) Hans Georgii, ständiger Stellvertreter Hans Strauß (ab 1.11.2002) Martin Dietrich Prof. Dr. Thomas Oppermann Dr. Rudolf Schieler Sybille Stamm Ute Prechtl Prof. Dr. Wolfgang Jäger

Stellvertretende Richterinnen und Richter Dr. Siegfried Kasper Dr. Roland Hauser Michael Hund Prof. Dr. Alexander Rossnagel Dr. Manfred Oechsle Dr. Robert Maus Prof. Dr. Dr. Günter Altner Prof. Dr. Dr. Eberhard Jüngel Adelheid Kiesinger

Organstreitverfahren — Antragsfrist

3

Nr. 1 1. Die Frist des § 52 Abs. 1 Satz 1 StGHG und das Quorum in § 52 Abs. 1 Satz 2 Buchst, b StGHG für die Anfechtung des Landtagsbeschlusses nach Art. 31 der Landesverfassung sind mit Verfassungsrecht vereinbar. 2. Die Wahlprüfungsbeschwerde nach § 52 StGHG ist kein Rechtsweg iSv Art. 19 Abs. 4 GG (wie StGHG Bad.-Württ., - Beschl. v. 24.10.1980 - GR 3 / 8 0 , im Anschluss an BVerfGE 1, 430; so auch StGH Bad.-Württ., Beschl. v. 30.5.1997 - GR 1/97, im Anschluss an BVerfGE 22, 281). Die Rechtsschutzgarantie greift insofern nicht ein. Grundgesetz Art. 19 Abs. 4, 28 Abs. 1 Satz 2 Bundesverfassungsgerichtsgesetz §§ 48 Abs. 1 und 2, 93 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsordnung § 40 Abs. 1 Satz 1

B e s c h l u s s v o m 12. A u g u s t 2 0 0 2 - G R 4 / 0 1 in dem Verfahren über die Wahlprüfungsbeschwerde des Herrn Z., vertreten durch Rechtsanwalt V. beteiligt: Landtag von Baden-Württemberg, vertreten durch seinen Präsidenten, Haus des Landtags, Konrad-Adenauer-Straße 3, 70173 Stuttgart Innenministerium Baden-Württemberg, Dorotheenstr. 6, 70173 Stuttgart

Entscheidungsformel: Der Antrag auf Eröffnung des Verfahrens über die Wahlprüfungsbeschwerde wird verworfen. Gründe: I. Uber den Antrag auf Eröffnung des Verfahrens über die Wahlprüfungsbeschwerde ist noch nicht entschieden. Zwar ist am 12.7.2002 aus Versehen ein Entwurf einer Entscheidung, an dem noch nicht alle Richter beteiligt waren, in

LVerfGE 13

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Staatsgerichtshof des Landes Baden-Württemberg

der Form eines Beschlusses hinausgegangen. Dieser „Beschluss" ist ohne Wirkung. Deshalb bedarf es dieser Entscheidung. II. Der Beschwerdeführer erhob mit Schreiben vom 23. und vom 27.4.2001 Einspruch gegen die Landtagswahl vom 25.3.2001, deren Ergebnis am 17.4.2001 amtlich bekannt gemacht worden war. Er rügte, dass das Landtagswahlgesetz in mehrfacher Hinsicht verfassungswidrig sei. Am 15.11.2001 beschloss der Landtag, dass der Einspruch unbegründet und die Wahl, soweit angefochten, gültig sei. Mit Schreiben vom 27.11.2001 teilte der Präsident des Landtags dem Beschwerdeführer diesen Beschluss mit. Das Schreiben enthielt eine Rechtsmittelbelehrung und wurde am 29.11.2001 zugestellt. Am 27.12.2001 hat der Beschwerdeführer Wahlprüfungsbeschwerde zum Staatsgerichtshof erhoben. Unterstützungsunterschriften waren nicht beigefügt und wurden auch nicht nachgereicht. Der Beschwerdeführer hält seine Wahlprüfungsbeschwerde für rechtzeitig und auch ohne Unterstützungsunterschriften für zulässig; die entgegenstehenden Bestimmungen des § 52 StGHG seien mit Art. 19 Abs. 4 GG unvereinbar und nichtig. In der Sache verfolgt er die Gründe seines Einspruchs weiter. Der Landtag und für die Landesregierung das Innenministerium halten die Wahlprüfungsbeschwerde für unzulässig. III. Der Staatsgerichtshof hält die Wahlprüfungsbeschwerde einstimmig für unzulässig. Einer mündlichen Verhandlung bedarf es daher nicht (§ 17 S. 2 StGHG). l.a) Die Beschwerde wurde verspätet erhoben. Gem. § 52 Abs. 1 S. 1 StGHG kann ein Beschluss des Landtags in Wahlprüfungssachen nur innerhalb eines Monats seit der Beschlussfassung des Landtags beim Staatsgerichtshof angefochten werden. Diese Frist hat der Beschwerdeführer versäumt. Der Landtag hatte den Einspruch am 15.11.2001 zurückgewiesen. Die Frist für die Wahlprüfungsbeschwerde lief damit — weil der 15.12.2001 ein Samstag war — am 17.12.2001 ab. Die Wahlprüfungsbeschwerde ging beim Staatsgerichtshof jedoch erst am 27.12.2001 ein. Das war zu spät. Zu Unrecht meint der Beschwerdeführer, die Frist habe erst mit der Zustellung der Mitteilung über den Landtagsbeschluss an ihn zu laufen begonnen, jedenfalls aber sei der Lauf der Frist bis zu diesem Zeitpunkt gehemmt gewesen. § 52 Abs. 1 S. 1 StGHG stellt für den Fristbeginn auf die Beschlussfassung des Landtags, nicht auf die Mitteilung an den Einsprecher ab. Das ist eindeutig und lässt die vom Beschwerdeführer vertretene Auslegung nicht zu. Auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts des Landes Brandenburg (Urt. v. 12.10.2000 VfGBbg 19/00 LVerfGE 11 Suppl. S. 143, 148 f) kann er sich nicht berufen; LVerfGE 13

Organstreitverfahren — Antragsfrist

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das dortige Landesrecht ist anders gefasst. Ein Rechtsgrund für die Hemmung des Laufs der Frist ergibt sich aus der notwendig nach der Beschlussfassung erfolgenden Zustellung nicht, zumal da der Beschwerdeführer nicht gehindert ist, die - für den Fall der Zurückweisung seines Einspruchs beabsichtigte — Wahlprüfungsbeschwerde bereits vorzubereiten. O b die geltende Regelung bei anderen Fallkonstellationen zu tragbaren Ergebnissen führt, kann hier dahinstehen. b) Der Beschwerde waren ferner keine Beitrittserklärungen beigefügt. Gem. § 52 Abs. 1 S. 2 Buchst, b StGHG ist ein Wahlberechtigter, dessen Einspruch vom Landtag verworfen worden ist, nur dann anfechtungsberechtigt, wenn seiner Beschwerde mindestens hundert Wahlberechtigte beitreten. Auch hieran fehlt es. Der Beschwerdeführer kann Beitrittserklärungen auch nicht mehr nachreichen. Die Beitrittserklärungen müssen ebenfalls noch innerhalb der Anfechtungsfrist vorgelegt werden (StGH, Urt. v. 13.12.1969 - GR 1 und 2 / 6 9 - , ESVGH 20, 194; vgl. BVerfG, Beschl. v. 6.10.1981 - 2 BvC 5/81 - , BVerfGE 58,172 mwN). 2. Die erwähnten Anforderungen, die das Gesetz an die Zulässigkeit einer Wahlprüfungsbeschwerde stellt, sind mit Verfassungsrecht vereinbar. a) Die verfassungsrechtlichen Wahlrechtsgrundsätze (vgl. Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG) sind nicht verletzt. Allerdings dient das Wahlprüfungsverfahren dazu, die gesetzmäßige Zusammensetzung des Landtags und hierbei auch die Beachtung der Grundsätze der freien, allgemeinen, gleichen, unmittelbaren und geheimen Wahl bei der Durchführung einer konkreten Wahl zu sichern. Zugleich aber soll die richtige Zusammensetzung des Landtags binnen angemessener Zeit geklärt werden. Daher lässt sich nicht beanstanden, wenn das Gesetz die Wahlprüfung nicht beliebig eröffnet, sondern an formelle Voraussetzungen bindet, welche dem Ziel der möglichst raschen Klärung dienen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.12.1991 - 2 BvR 562/91 - , BVerfGE 85,148,159; Urt. v. 8.2.2001 - 2 BvF 1/00 BVerfGE 103,111,134). Die Einschränkung, dass gegen den Beschluss des Landtags, mit dem der Einspruch zurückgewiesen wird, nur dann zulässigerweise Wahlprüfungsbeschwerde zum Staatsgerichtshof erhoben werden kann, wenn dem Beschwerdeführer mindestens hundert Wahlberechtigte beitreten (§ 52 Abs. 1 S. 2 Buchst, b StGHG), sofern er nicht einem zugelassenen Wahlvorschlag angehört (§ 52 Abs. 2 StGHG), dient dem Nachweis der Ernsthaftigkeit und der hinlänglichen Erfolgsaussicht der Wahlprüfungsbeschwerde. Sie soll Beschwerden beschränken auf solche Fälle, die nach der Ansicht wenigstens einer gewissen Zahl Wahlberechtigter Grund zur Beschwerde geben. Der Staatsgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht haben diese Einschränkung in ständiger Rechtsprechung gebilligt (vgl. StGH, Beschl. v. 30.5.1997 - GR 1/97 - , ESVGH 47, 241; vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.9.1952 - 1 BvC 5/52 - , BVerfGE 1, 430, 432; Beschl. v. 6.10.1981, aaO, S. 172 f). Daran ist festzuhalten.

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Auch die Bindung sowohl des Einspruchs gegen eine Wahl als auch der Wahlprüfungsbeschwerde an knapp bemessene Fristen (§ 3 Abs. 2 LWPrG, § 52 Abs. 1 S. 1 StGHG) dient dem Ziel einer möglichst raschen Klärung der richtigen Zusammensetzung des Landtags. Diese Fristen sind nicht unvertretbar knapp. Das liegt für den Einspruch auf der Hand; dass ein Wahlberechtigter regelmäßig außerstande wäre, einen Einspruch gegen eine Wahl binnen eines Monats zu erheben und substantiiert zu begründen, ist nicht erkennbar. Nichts anderes gilt jedoch für die Wahlprüfungsbeschwerde. Die Monatsfrist genügt für die Entscheidung, ob ein Einspruch, der vom Landtag zurückgewiesen wurde, mit der Wahlprüfungsbeschwerde weiter verfolgt werden soll. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Wahlprüfungsbeschwerde auf neue Einwendungen nicht gestützt werden kann (vgl. StGH, Urt. v. 1.7.1985 - GR 1/84 - , ESVGH 35, 244, 246; BVerfG, Beschl. v. 12.12.1991, aaO, S. 158 f; Besch! v. 23.11.1993 - 2 BvC 15/91 - , BVerfGE 89, 291, 308 f, 312 f). Die Monatsfrist genügt aber auch für das Beibringen der nunmehr nötigen Beitrittserklärungen von mindestens hundert Wahlberechtigten. Sie mag den Einsprechet zwingen, bereits im Vorfeld der Beschlussfassung des Landtags in Erfahrung zu bringen, ob andere Wahlberechtigte seine Einwendungen teilen. Diese vorsorgliche Mühe mag sich als überflüssig erweisen, wenn der Einspruch Erfolg haben sollte. Sie ist gleichwohl zumutbar. Dabei ist zu bedenken, dass als Beitretende in aller Regel nur Wahlberechtigte in Betracht kommen werden, die bereits von sich aus mit Einwendungen gegen die Wahl hervorgetreten sind und damit dem späteren Beschwerdeführer entweder bereits bekannt sind oder aus dem Wahlanfechtungsverfahren vor dem Landtag bekannt werden können. Der Beitritt darf nämlich kein bloß formaler sein, sondern soll Ausfluss der selbst gehegten Einwendungen des Beitretenden sein (vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.9.1952, aaO, S. 432; Beschl. v. 6.10.1981, aaO, S. 172 f). Der Beschwerdeführer verweist allerdings darauf, dass im Wahlprüfungsrecht des Bundes die zuvor dort ebenfalls geltende Monatsfrist für die Wahlprüfungsbeschwerde im Jahre 1993 auf zwei Monate seit der Beschlussfassung des Bundestages über den Einspruch verlängert worden ist (§ 48 Abs. 1 BVerfGG idF der Bekanntmachung v. 11.8.1993, BGBl. I S. 1473). Er meint, der Bundesgesetzgeber habe damit zu erkennen gegeben, dass er die Frist von einem Monat generell für zu knapp bemessen erachte. Das trifft nicht zu. Die Verlängerung der Frist sollte dem Umstand Rechnung tragen, dass nunmehr nach § 48 Abs. 2 BVerfGG für die Zulässigkeit der Beschwerde eines Wahlberechtigten präzise formale Kriterien aufgestellt worden sind, deren Erfüllung während der Monatsfrist im Einzelfall Schwierigkeiten bereiten kann. Außerdem dachte der Bundesgesetzgeber an Erschwernisse im Zuge der Ausübung des Wahlrechts und des Wahlprüfungsrechts der im Ausland lebenden Wahlberechtigten (BT-Drs. 12/3628, S. 12; 12/4842, S. 13). Das lässt eine grundsätzliche Erwägung nicht erkennen. Es ist auch auf die Landtagswahl in Baden-Württemberg nicht übertragbar. b) Auch Art. 19 Abs. 4 GG ist nicht verletzt. LVerfGE 13

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Die Wahlprüfungsbeschwerde zum Staatsgerichtshof ist kein Rechtsweg iSv Art. 19 Abs. 4 GG. Sie dient nicht zur Durchsetzung subjektiver Rechte des Wahlberechtigten. Vielmehr ist sie Teil des zweigliedrig ausgestalteten Verfahrens der Wahlprüfung nach Art. 31 LV; ihr Gegenstand ist allein die Wahlprüfungsentscheidung des Landtags. Das Wahlprüfungsverfahren nach Art. 31 LV aber ist insgesamt ein rein objektives Verfahren. Es dient der Gewährleistung einer gesetzmäßigen Zusammensetzung des Landtags und damit dem Schutz des objektiven Wahlrechts, nicht jedoch dem Schutz subjektiver Rechte des Einzelnen auf ordnungsgemäße Durchführung der Wahl (StGH, Beschl. v. 30.5.1997, aaO; Moriak in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. II, 1998, Art. 41 Rn. 7). Zwar können auch einzelne Wahlberechtigte ihre Einwendungen gegen die Ordnungsmäßigkeit einer Wahl im Wahlprüfungsverfahren geltend machen. Indem diese Einwendungen sachlich geprüft werden, dient das Wahlprüfungsverfahren zugleich der Verwirklichung des subjektiven — aktiven wie passiven — Wahlrechts (BVerfG, Beschl. v. 12.12.1991, aaO, S. 158 f; vgl. Beschl. v. 20.7.1998 - 2 BvR 1953/95 - , BVerfGE 99, 1, 18). Dies ist jedoch nur ein Effekt des Wahlprüfungsverfahrens, nicht sein von der Verfassung und vom Wahlprüfungsrecht verfolgter Zweck. Das zeigt sich schon daran, dass individuellen Einwendungen nur dann nachgegangen wird, wenn die Verteilung der Abgeordnetensitze beeinflusst worden sein kann (§ 1 Abs. 1 LWPrG; StGH, Beschl. v. 10.7.1981 - GR 3/80 - ; BVerfG, Urt. v. 8.2.2001, aaO, S. 134), und dass derartige Einwendungen, die der Landtag zurückweist, nur dann mit der Wahlprüfungsbeschwerde weiter verfolgt werden können, wenn ihnen hundert Wahlberechtigte beitreten (vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.9.1952, aaO, S. 432 f; Beschl. v. 25.7.1967 - 2 BvC 4/62 - , BVerfGE 22, 277, 281). Es bedarf keiner Entscheidung, ob dem Beschwerdeführer außerhalb des Wahlprüfungsverfahrens genügend Rechtsschutzmöglichkeiten zur Durchsetzung seines subjektiven Wahlrechts zur Verfügung stehen. Der Beschwerdeführer hat nicht behauptet, dass sein subjektives Wahlrecht durch einzelne Behördenentscheidungen im Zuge der Durchführung der Wahl zum 13. Landtag verletzt worden sei (zur Frage, ob insofern der Verwaltungsrechtsweg nach § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO eröffnet ist, vgl. Eyermann/Bennert VwGO, 11. Aufl. 2000, §40 Rn. 28 mwN). Vielmehr wendet er sich unmittelbar gegen das geltende Landtagswahlgesetz. Rechtsschutz unmittelbar gegen Gesetze ist aber durch Art. 19 Abs. 4 GG nicht geboten. Daher ist verfassungsrechtlich unbedenklich, dass in Baden-Württemberg eine Verfassungsbeschwerde zum Staatsgerichtshof nicht besteht (vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.7.2001 - 2 BvR 2/01 - , NVwZ 2002, 73) und dass eine Verfassungsbeschwerde wegen der Beachtung der Wahlrechtsgrundrechte durch ein Landtagswahlgesetz zum Bundesverfassungsgericht nicht (mehr) erhoben werden kann (BVerfG, Beschl. v. 20.7.1998, aaO, S. 18 f), zumal eine solche Verfassungsbeschwerde auch längst verfristet gewesen wäre (§ 93 Abs. 3 BVerfGG).

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Staatsgerichtshof des Landes Baden-Württemberg IV. Das Verfahren ist kostenfrei. Auslagen werden nicht erstattet (§ 55 StGHG).

Nr. 2 1. Eine als Einsetzungsminderheit im Untersuchungsausschuss aufgetretene Fraktion iSv Art. 35 Abs. 1 S. 1 LV ist befugt, eine Verletzung des Beweisantragsrechts der qualifizierten Ausschussminderheit aus Art. 35 Abs. 2 S. 2 LV durch ein Verhalten des Ausschussvorsitzenden geltend zu machen (§ 45 StGHG). Die sog. Fraktionen im Ausschuss können die Verletzung der Minderheitsrechte aus Art. 35 LV auch neben den Landtagsfraktionen geltend machen. 2. Der Vorsitzende eines Untersuchungsausschusses ist in der Geschäftsordnung des Landtages mit eigenen Zuständigkeiten ausgestattet iind kann daher als sog. anderer Beteiligter iSv Art. 68 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 LV Antragsgegner in einem Organstreitverfahren sein. 3. Art. 35 Abs. 1 S. 1 LV verleiht der qualifizierten Minderheit im Landtag eine durchsetzungsfähige Rechtsposition und ermöglicht ihr durch Einsetzung eines Untersuchungsausschusses eine wirksame parlamentarische Kontrolle. Durch das in Art. 35 Abs. 2 S. 2 LV normierte Beweiserzwingungsrecht wird das Recht der qualifizierten Minderheit, auf den Untersuchungsverlauf Einfluss zu nehmen, auch im weiteren Fortgang des Untersuchungsausschusses sichergestellt. 4. Die Verbürgung des Minderheitenschutzes in Art. 35 Abs. 1 S. 1 LV und Art. 35 Abs. 2 S. 2 LV muss im Kontext des parlamentarischen demokratischen Systems gesehen werden, welches vom Mehrheitsprinzip bestimmt wird. Allerdings bindet das Gebot zur Loyalität der Mehrheit gegenüber der Minderheit auch die Ausübung der Mehrheits- und Vorsitzendenbefugnisse im Beweisverfahren eines Untersuchungsausschusses. 5. Art. 35 Abs. 2 S. 2 LV gewährleistet das Recht der qualifizierten Ausschussminderheit auf angemessene Beteiligung an der Beweisaufnahme und schützt die Minderheit vor einer Aushöhlung ihres Beweiserhebungsrechts. Eine Aushöhlung des verfassungsmäßigen Beweiserhebungsrechts des Art. 35 Abs. 2 S. 2 LV droht dann, wenn eine getroffene Maßnahme oder Entscheidung des Untersuchungsausschusses oder eines Organteils geeignet ist, das Beweiserhebungsrecht der qualifizierten Minderheit zu gefährden oder zu vereiteln. LVerfGE 13

Untersuchungsausschuss — Einberufung einer Sondersitzung

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6. Mit einer Verletzung der einfach-gesetzlichen Bestimmung des § 6a UAG kann ein Verfassungsverstoß verbunden sein, wenn durch die Nichteinberufung des Ausschusses zu einer Sondersitzung zugleich - materiellrechtlich - das aus Art. 35 Abs. 2 S. 2 LV folgende verfassungsmäßige Recht der Minderheit auf angemessene Beteiligung an den Beweiserhebungen des Ausschusses ausgehöhlt wird oder - formell-rechtlich - die vom Ausschussvorsitzenden gegebene Begründung für die Ablehnung als willkürlich und schlechterdings nicht nachvollziehbar angesehen werden muss. Grundgesetz Art. 44 Abs. 1 Satz 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz §§ 63, 64 Geschäftsordnung des Landtags von Baden-Württemberg §§ 18, 19, 20, 22, 33, 34 Gesetz über Einsetzung und Verfahren von Untersuchungsausschüssen des Landtags §§ 4 Abs. 2 Satz 2, 6a, 11 Gesetz über den Staatsgerichtshof §§ 44, 45, 55 Verfassung des Landes Baden-Württemberg Art. 32 Abs. 1 Satz 2, 34, 35 Abs. 1 Satz 1, 35 Abs. 2 Satz 2, 35 Abs. 4 Satz 1, 68 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Urteil vom 21. Oktober 2002 - GR 11/02 in dem Organstreitverfahren nach Art. 68 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg iVm § 8 Abs. 1 Nr. 1 StGHG auf Antrag 1. 2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

der Fraktion der SPD im 13. Landtag von Baden-Württemberg, vertreten durch ihren Vorsitzenden, D. der Abgeordneten im 13. Landtag von Baden-Württemberg und Mitglieder des Untersuchungsausschusses „Atomaufsicht in Baden-Württemberg" S., Mitglied der Fraktion der SPD Dr. C., Mitglied der Fraktion der SPD K., Mitglied der Fraktion der SPD S., Mitglied der Fraktion der SPD Dr. W., Mitglied der Fraktion Bündnis 90 / GRÜNE — Antragsteller -

Verfahrensbevollmächtigter: Rechtsanwalt B. gegen

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S., Abgeordneter im 13. Landtag von Baden-Württemberg und Vorsitzender des Untersuchungsausschusses „Atomaufsicht in Baden-Württemberg", Mitglied der Fraktion der CDU — Antragsgegner — Verfahrensbevollmächtigter: Rechtsanwälte Prof. Dr. D. auf Feststellung, dass der Antragsgegner gegen Art. 35 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg verstoßen und die Antragsteller in der Wahrnehmung ihrer sich aus dieser Vorschrift ergebenden verfassungsmäßigen Rechte dadurch verletzt hat, dass er es abgelehnt hat, auf den Antrag der Antragsteller Ziffer 2 vom 5. Juli 2002 binnen einer Woche eine Sondersitzung des Untersuchungsausschusses einzuberufen. Entscheidungsformel: Der Antrag wird zurückgewiesen. Gründe: Der Organstreit betrifft die Ablehnung des Ausschussvorsitzenden, auf den Antrag der Antragsteller Ziffer 2 vom 5.7.2002 binnen einer Woche eine Sondersitzung des Untersuchungsausschusses einzuberufen. I. Am 15.1.2002 haben die Mitglieder der Fraktion der SPD des 13. Landtags von Baden-Württemberg den Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses „Fehler der Atomaufsicht in Baden-Württemberg im Zusammenhang mit den meldepflichtigen Ereignissen und dem Fehlverhalten im Kernkraftwerk Philippsburg Werk 2 und die daraus zu ziehenden Konsequenzen" eingebracht. Der Landtag stimmte dem Antrag unverändert zu und setzte die Zahl der Ausschussmitglieder auf 12 fest. Die Antragsteller Ziffer 2 sind für die Fraktion der SPD und für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sowie der Antragsgegner zum Vorsitzenden gewählt worden. In der 3. Sitzung des Untersuchungsausschusses am 24.4.2002 wurde über die vorliegenden Beweisanträge Nr. 8 (der Antragsteller Ziffer 2) und Nr. 9 (des Antragsgegners) beraten. Zum Beweisantrag Nr. 8 der Antragsteller Ziffer 2, im Rahmen des Untersuchungsauftrags unter anderem Vertreter des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU), darunter den Bundesminister T., zu vernehmen, schlug der Antragsteller Ziffer 2.5 eine veränderte Formulierung vor. Der Abgeordnete H. (CDU) bat, die Liste der Zeugen um Staatssekretär B. zu ergänzen. Dem stimmten die Antragsteller Ziffer 2 zu. Der

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Untersuchungsausschuss - Einberufung einer Sondersitzung

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Beweisantrag Nr. 8 wurde anschließend einstimmig in folgender veränderter Fassung beschlossen: „Es wird auf der Grundlage von Teil A und C des Untersuchungsauftrags Beweis erhoben zu den Fragen: 1. wann und in welcher Form das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) über die nach dem 12. August in der Anlage KKP II aufgetretenen Vorkommnisse Kenntnis erhalten hat und wie damit verfahren wurde; 2. wie von Seiten des BMU üblicherweise mit eingehenden Meldungen der Atomaufsichtsbehörden der Länder verfahren wird, die als ,endgültige schriftliche Meldung über ein meldepflichtiges Ereignis' in der Meldekategorie N und in der Bewertungsstufe (Ines) 0 eingestuft sind; 3. zu welchem Zeitpunkt und wodurch das BMU zu der Erkenntnis gelangt ist, dass die mit Schreiben vom 10. September 2001 von der baden-württembergischen Atomaufsichtsbehörde übersandte endgültige Meldung, mit der das unter Ziff. 1 genannte Ereignis in Kategorie N und INES-Stufe 0 eingestuft wurde, der tatsächlichen sicherheitstechnischen Bedeutung des Vorkommnisses nicht gerecht wurde; 4.a) welche Maßnahmen als Folge dieser gewonnenen Erkenntnis zu welchem Zeitpunkt vom BMU veranlasst wurden; 4.b) welchen Stellenwert für das BMU in diesem Zusammenhang die am 4.10.2001 stattgefundene Sitzung des RSK-Ausschusses ,Reaktorbetrieb' hatte und welche Haltung die anwesenden Vertreter der baden-württembergischen Atomaufsichtsbehörde bzw. der ,TÜV Energie- und Systemtechnik GmbH Baden-Württemberg' im Zusammenhang mit der Bewertung des meldepflichtigen Ereignisses (ME 06/2001) bei dieser Sitzung eingenommen haben; 5. welche Gründe für das BMU ausschlaggebend waren, die baden-württembergische Atomaufsichtsbehörde für den 6.10.2001 bzw. — zusammen mit dem Betreiber — für den 7.10.2001 zu einem bundesaufsichtlichen Gespräch zu bitten und welchen Verlauf die beiden Gespräche genommen haben; 6. welche Gründe für das BMU ausschlaggebend waren, das Wiederanfahren der Anlage KKP II zum 17.12.2001 zu akzeptieren; 7. inwieweit im Zusammenhang mit der zukünftigen Gewährung einer ausreichenden Sicherheit in der Anlage KKP II Änderungen in der personellen Betriebsorganisation für notwendig erachtet werden; 8. inwieweit es im Zusammenhang mit der zukünftigen Gewährung einer ausreichenden Sicherheit in der Anlage KKP II für notwendig erachtet wird, die Zuziehung von Sachverständigen durch die Aufsichtsbehörde neu zu regeln; 9. inwieweit im Zusammenhang mit der Gewährung einer ausreichenden Sicherheit in den hiesigen kerntechnischen Anlagen Änderungen in der Aufsichtskonzeption des Landes für notwendig erachtet werden; durch Vernehmung der Zeugen: 1. 2. 3. 4.

MRM. (BMU Abt. RS) Min.Dir R. (BMU Abt. RS) Bundesminister T. Staatssekretär B." LVerfGE 13

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Der Antrag Nr. 9, der die Prüfung der Atomaufsicht durch den Rechnungshof zum Gegenstand hatte, wurde mit Ergänzungen ebenfalls einstimmig angenommen. In dieser Sitzung wurde auch darüber beraten, in welcher Reihenfolge die Beweisanträge zu erledigen sind. Der Antragsgegner sagte zu, mit Bundesminister T. und Staatssekretär B. abzuklären, ob diese am 6. Juni oder am 10. Juli zu der Sitzung des Untersuchungsausschusses kommen könnten, damit in der Sitzung des Untersuchungsausschusses am 30. April im nichtöffentlichen Teil ggf. über die Ladung dieser beiden Zeugen Beschluss gefasst werden könne. In der 4. Sitzung am 30.4.2002 beschloss der Untersuchungsausschuss die von den Abgeordneten H. u.a. (CDU) und der Abgeordneten B. (FDP/DVP) vorgelegten Beweisanträge Nr. 10, 11 und 12. Der Antragsgegner stellte fest, dass die benannten Zeugen aus dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zur Vernehmung in der Sitzung des Untersuchungsausschusses am 10.7.2002 zur Verfügung stünden. Er stellte die Frage, welche Beweisanträge in dieser Sitzung abgehandelt werden sollten. Zu der Reihenfolge der Beweiserhebung äußerte der Abgeordnete H. (CDU), der Untersuchungsausschuß solle seine bisherige Linie beibehalten und als Erstes die fachlich mit der Angelegenheit betrauten Mitarbeiter vernehmen, deshalb solle der Untersuchungsausschuss in seiner Sitzung am 10.7.2002 die mit den Beweisanträgen Nr. 10, 11 und 12 benannten Zeugen anhören. Demgegenüber beantragte der Antragsteller Ziffer 2.5, zu dieser Sitzung die Vertreter des Bundesumweltministeriums zu laden. Er begründete dies damit, dass in der letzten Sitzung des Untersuchungsausschusses an verschiedenen Punkten Kontakte zwischen dem baden-württembergischen Ministerium für Umwelt und Verkehr und dem Bundesumweltministerium zur Sprache gekommen seien, etwa entsprechende Schriftwechsel und Faxe sowie die Pressemitteilung des Bundesumweltministeriums. Deshalb sollten die Vertreter dieses Ministeriums zeitnah dazu gehört werden. Er schlug vor, zu der Sitzung am 6.6.2002 zusätzlich zu den Vertretern des Technischen Überwachungsvereins auch die Vertreter der Gesellschaft für Reaktorsicherheit und der Reaktorsicherheitskommission zu laden. Es müssten ja nicht alle benannten Zeugen aus diesen Institutionen vernommen werden. Die Vertreter des Bundesumweltministeriums könnten dann in der Sitzung am 10.7.2002 vernommen werden, so dass alle in Frage kommenden wesentlichen Gruppen vor der Sommerpause gehört würden. Mit 7 : 5 Stimmen beschloss der Untersuchungsausschuss, in der Sitzung am 10.7.2002 die mit den Beweisanträgen Nr. 10, 11 und 12 benannten Zeugen zu vernehmen. Nach der Abstimmung erklärte der Antragsgegner, es solle versucht werden, in der Sitzung am 10.7.2002 neben den mit den Beweisanträgen Nr. 10, 11 und 12 benannten Zeugen auch noch die Zeugen aus dem Rechnungshof entsprechend dem Beweisantrag Nr. 9 zu vernehmen. Dies sei wahrscheinlich möglich, weil für die Vernehmung dieser Zeugen nicht so viel Zeit benötigt werde. LVerfGE 13

Untersuchungsausschuss — Einberufung einet Sondersitzung

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Der Antragsteller Ziffer 2.5 meinte, nach der relativ knappen Entscheidung solle geprüft werden, ob sich der Untersuchungsausschuss nicht auf einen weiteren Termin für eine Sitzung vor der Sommerpause einigen könne, um in dieser Sitzung die benannten Zeugen aus dem Bundesumweltministerium zu vernehmen. Sonst vergehe zu viel Zeit bis zur Vernehmung dieser Zeugen. Mit 7 : 5 Stimmen lehnte der Ausschuss den Antrag des Antragstellers Ziffer 2.5 ab, vor der Sommerpause noch eine weitere Sitzung des Untersuchungsausschusses abzuhalten. In der 5. Sitzung am 6.6.2002 wurden entsprechend den Beweisanträgen Nr. 6, 10 und 12 fünf Zeugen vernommen. Der Ausschuss kam überein, die übernächste Sitzung für den 25.9.2002 vorzusehen und in der nächsten Ausschusssitzung zu beraten, wer am 25.9.2002 vernommen werden solle. Am 5.7.2002 beantragten die Antragsteller Ziffer 2 gem. § 6a Untersuchungsausschüssegesetz (UAG) die Einberufung einer Sitzung des Untersuchungsausschusses binnen einer Woche. Beratungsgegenstand solle die Beweiserhebung gemäß Beweisantrag Nr. 8 durch Zeugeneinvernahme sein. Als Termin für die Sitzung sei der 12.7.2002 zu wählen, da Herr Bundesminister T. an diesem Tag als Zeuge in Stuttgart gehört werden könne. In der Sitzung am 10.7.2002 wurde entsprechend dem Beschluss vom 30.4.2002 über die Beweisanträge Nr. 9, 10 und 11 Beweis erhoben. Danach gab der Antragsgegner seine Entscheidung bekannt, dem Antrag der Antragsteller vom 5.7.2002 nicht zu entsprechen. Er führte aus, § 6a UAG könne nicht so verstanden werden, dass der Ausschussvorsitzende diesen Anträgen immer nachzukommen habe. Die Mehrheit bestimme den Geschäftsgang des Ausschusses. Dieser Grundsatz könne nicht jederzeit durch einen Minderheitsantrag durchbrochen werden. Es müsse deshalb ein zusätzlicher Sachverhalt hinzukommen, damit § 6a UAG angewandt werden könne. Ein solcher Sachverhalt könne ein Verschleppungstatbestand sein. Eine Verschleppung des Beweisantrags Nr. 8 sei nicht zu erkennen. Er sei einstimmig im Ausschuss angenommen worden. Es sei ebenfalls einstimmig beschlossen worden, vom 10.7.2002 bis zum 25.9.2002 keine Sitzung des Untersuchungsausschusses durchzuführen. Weiter sei der 25.9.2002 einstimmig als nächster Sitzungstag beschlossen worden. Schließlich habe man sich geeinigt, die Tagesordnung für den 25.9.2002 in der nichtöffentlichen Sitzung am 10.7.2002 festzulegen. Es sei deshalb kein zusätzlicher Sachverhalt erkennbar, der ihn als Ausschussvorsitzenden verpflichte, dem Antrag nach § 6a UAG nachzukommen. Der Antragsteller Ziffer 2.1 stellte den förmlichen Geschäftsordnungsantrag, den Vorsitzenden aufzufordern, die Sondersitzung gemäß dem Antrag vom 5.7.2002 einzuberufen. Anschließend erläuterte LtdMinRat Dr. H. von der Landtagsverwaltung seine Auffassung zur Auslegung des § 6a UAG. Er stellte fest, dass die Minderheit grundsätzlich das Recht habe, auch Sitzungen zu erzwingen, um bisher nicht erfolgte Beweise zu erheben. § 6a UAG solle das Beweiserzwingungsrecht des § 13 UAG verstärken. Die Landtagsverwaltung sei der Meinung, dass § 6a UAG auch für öffentliche Beweiserhebungen gelte. Das SitzungsLVerfGE 13

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erzwingungsrecht sei eingeführt worden, damit die Minderheit dort, wo aufgrund bestimmter äußerer Umstände der Eindruck entstehen könnte, dass die Ausschussmehrheit absichtlich fällige Beweiserhebungen verschleppe oder verzögere und bewusst anstehende Terminierungen hinausschiebe, die Verfahrensherrschaft der Mehrheit durchbrechen und die Sitzung erzwingen könnte, wenn die Mehrheit aus Gründen der politischen Opportunität solche Dinge hinausziehe, verschleppe und verzögere. Nach weiteren gegensätzlichen Ausführungen lehnte der Ausschuss den Antrag des Antragstellers Ziffer 2.1, den Vorsitzenden aufzufordern, die Sondersitzung einzuberufen, mit 6 : 5 : 1 Stimmen ab. Der Abgeordnete H. beantragte, in der Sitzung am 25.9.2002 die im Beweisantrag Nr. 8 benannten Zeugen des BMU zu vernehmen. Diesem Antrag wurde mit 7 : 0 Stimmen bei fünf Enthaltungen zugestimmt. II.

1. Die Antragsteller haben mit dem am 30.7.2002 bei dem Staatsgerichtshof eingegangenen Schriftsatz aufgrund Art. 68 Abs. 1 Nr. 1 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg (LV) beantragt festzustellen: Der Antragsgegner verstieß gegen Art. 35 der Verfassung des Landes BadenWürttemberg und verletzte die Antragssteller in der Wahrnehmung ihrer sich aus dieser Vorschrift ergebenden verfassungsmäßigen Rechte dadurch, dass er es ablehnte, auf den Antrag der Antragsteller vom 5. Juli 2002 binnen einer Woche eine Sondersitzung des Untersuchungsausschusses einzuberufen. 2. Die Antragsteller machen geltend, es gehe nicht nur um einen Streit über die Auslegung des Untersuchungsausschüssegesetzes (UAG). Streit bestehe darüber, ob das Recht der qualifizierten Minderheit auf Einberufung einer Sondersitzung und damit auch auf angemessene Berücksichtigung ihrer Beweisanträge durch den Vorsitzenden des Untersuchungsausschusses verletzt worden sei. Die Antragstellerin Ziffer 1 sei als eine Gliederung des Landtages parteifähig. Die Antragsteller Ziffer 2 seien als qualifizierte Minderheit im Ausschuss iSd Art. 35 Abs. 2 LV iVm §§ 6a und 13 Abs. 2 UAG parteifähig, weil ihnen eigene Rechte eingeräumt seien. Der Antragsgegner sei ebenfalls parteifähig. Zwar werde der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses in der Verfassung und in der Geschäftsordnung des Landtages (GeschOLandtag) nicht ausdrücklich aufgeführt, doch seien die Vorsitzenden der Parlamentsausschüsse, zu denen auch der Untersuchungsausschuss gehöre, in § 22 GeschOLandtag mit eigener Zuständigkeit ausgestattet. Als weitere Konkretisierung der Stellung des Vorsitzenden des Untersuchungsausschusses kämen §§ 6 und 6a UAG hinzu. Die Antragsteller seien antragsbefugt. Die Antragstellerin Ziffer 1 sei in ihren eigenen Rechten verletzt durch das beanstandete Verhalten des Antragsgegners. Der einsetzungsberechtigten Antragsminderheit stehe ein Beweisdurchsetzungsrecht zu. Außerdem sei sie berechtigt, im Organstreit die Verletzung oder unmitLVerfGE 13

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telbare Gefährdung von Rechten des gesamten Parlaments geltend zu machen. Die Antragsteller Ziffer 2 dürften als qualifizierte Minderheit beziehungsweise als zwei Fraktionen im Ausschuss die Verletzung der Minderheitsrechte aus Art. 35 Abs. 2 LV auch neben der Antragstellerin Ziffer 1 geltend machen. 3. Die Antragsteller meinen, entgegen der Ansicht des Antragsgegners verlange § 6a UAG gerade keine zusätzlichen ungeschriebenen Voraussetzungen für einen wirksamen Antrag der qualifizierten Minderheit auf Einberufung einer Sondersitzung, insbesondere müsse eine Verzögerungsabsicht der Mehrheit des Ausschusses nicht festgestellt sein. Auch ohne die spezielle Ausformung des Beweiserhebungsrechts gem. § 6a UAG hätte die Ausschussmehrheit nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Vernehmung des als Zeugen benannten Bundesumweltministers T. vor der Bundestagswahl durchführen müssen. Dasselbe gelte auch bei Zugrundelegung des Untersuchungsausschüssegesetzes für den Deutschen Bundestag. Zwar liege die Verfahrensherrschaft auch in einem parlamentarischen Untersuchungsverfahren beim Ausschuss und damit faktisch bei der Ausschussmehrheit, sie werde allerdings begrenzt durch die Rechte der qualifizierten Minderheit. Aus der Entstehungsgeschichte des Sitzungserzwingungsrechtes ergebe sich, dass das Minderheitenrecht ausdrücklich erweitert und das Sitzungserzwingungsrecht vorgesehen werden sollte, ohne dass für die Ausübung dieses Rechts zusätzliche Voraussetzungen erforderlich seien. Ersichtlich sollte es bei der allgemeinen Regelung in Art. 35 Abs. 2 LV bleiben, nach der Ausschüsse die Beweise erheben, „welche ... die Antragsteller für erforderlich erachten", und dass die Beweise zu erheben sind, „wenn sie von einem Viertel der Mitglieder des Ausschusses beantragt werden". Das Verhältnis zwischen Ausschussmehrheit und qualifizierter Minderheit sei in allen Fällen der Minderheitenrechte (Einsetzungsantrag, Sitzungserzwingungsrecht, Beweiserzwingungsrecht und Recht auf Wiederaufnahme eines ausgesetzten Untersuchungsausschussverfahrens) gleich geregelt. Eine zusätzliche ungeschriebene Voraussetzung feststellbarer Verfahrensverzögerungen sei im Übrigen auch von der Landtagsverwaltung in früheren Stellungnahmen nicht erwähnt worden. Vielmehr habe sie auf den Eindruck der Ausschussminderheit, gerade nicht auf eine objektive Feststellung einer Verfahrensverzögerung oder gar auf die Meinung der Mehrheit des Ausschusses abgestellt. Es sei ausschließlich in die politische Entscheidung der qualifizierten Minderheit gestellt, ob sie von ihrem Sitzungserzwingungsrecht wie von ihren anderen Minderheitenrechten im Untersuchungsausschussverfahren Gebrauch machen wolle oder nicht. Selbstverständlich seien dabei die rechtlichen Einschränkungen des § 13 Abs. 2 UAG ebenfalls zu berücksichtigen. Das Minderheitenrecht sei deshalb nur dann gewahrt, wenn der Mehrheit gerade nicht die Kompetenz zuerkannt werde, über die Berechtigung eines solchen Verlangens zu entscheiden. Die Auffassung, Verzögerungstatbestände müssten zusätzlich als Voraussetzung in § 6a UAG hineininterpretiert werden, würde der Ausschussmehrheit bzw. dem Vorsitzenden die LVerfGE 13

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ausschließliche Herrschaft über den Verfahrensablauf zuerkennen. Ein Streit über das Vorliegen solcher Tatbestände würde dazu führen, dass letztlich jedes Mal der Staatsgerichtshof angerufen werden müsste, um das Vorliegen solcher Voraussetzungen festzustellen oder zu verneinen. Damit würde das Sitzungserzwingungsrecht als Recht der Minderheit weitgehend leer laufen. Bisher sei solchen - sehr seltenen — Anträgen nach § 6a UAG entsprochen worden; die Ausschussvorsitzenden hätten sich nicht darauf berufen, es müssten weitere Voraussetzungen als die in § 6a UAG geregelten dargelegt werden. Für diese Auslegung spreche auch, dass diese Regelung die Pflicht des Vorsitzenden vorsehe, binnen einer Woche den Ausschuss einzuberufen, nicht die Pflicht des Untersuchungsausschusses, einen entsprechenden Beschluss zu fassen. Die Auffassung des Antragsgegners führe dazu, dass ein Ausschussvorsitzender nicht nur die formalen Bedingungen eines Antrags nach § 6a UAG zu prüfen habe, sondern sich auch mit der Frage beschäftigen könne und müsse, ob die Ausschussmehrheit Verzögerungen betreibe und damit politische Bewertungen in seine Entscheidungen einfließen lassen könne. Der Antragsgegner habe durch Verstoß gegen § 6a UAG nicht nur eine einfach-gesetzliche Norm verletzt, sondern eine Regelung, mit der die sich aus Art. 35 Abs. 2 S. 2 LV ergebenden Minderheitenrechte konkretisiert worden seien. Damit habe er gegen die Verfassung des Landes Baden-Württemberg verstoßen. Die Antragsteller räumen ein, nach § 6a UAG keinen Anspruch auf Einberufung der Sitzung an einem bestimmten Tag zu haben, sondern auf Einberufung einer Sitzung innerhalb einer Woche. Da aber die Zeugen nur zu diesem Zeitpunkt erscheinen konnten, wäre eine Einberufung auf einen anderen Sitzungstermin in dieser Woche ersichtlich rechtsmissbräuchlich gewesen. Ein anderes Vorgehen der Antragsteller wäre in jeder Hinsicht ineffektiv und sinnlos gewesen. Der Antrag auf Einberufung einer Sondersitzung ohne vorherige Terminabklärung hätte keinen Erfolg gehabt, da der Ausschussvorsitzende in einem solchen Falle die Minderheit durch Anberaumung eines schnellen Termins innerhalb einer Woche hätte leer laufen lassen können. Ihrem Antrag stehe auch nicht der Hinweis des Antragsgegners entgegen, dass die offizielle Trauerfeier für die Opfer eines Flugzeugabsturzes am Freitag, den 12.7.2002, stattgefunden habe, weshalb auch eine mögliche Entscheidung des Präsidiums mit in das Kalkül einzubeziehen sei. Es könne dahingestellt bleiben, ob das Präsidium überhaupt zu beteiligen sei bei der Einberufung von Sondersitzungen nach § 6a UAG. In den bisherigen Fällen der Einberufung einer Sondersitzung sei das Präsidium nicht damit befasst worden. Unter Berücksichtigung des Minderheitenrechtes hätte das Präsidium die Anberaumung der Sondersitzung nicht ablehnen können. § 6a UAG berechtige nicht nur zur Beantragung einer Sondersitzung zum Zwecke der nichtöffentlichen Beratung, sondern auch zum Zwecke der öffentlichen Beweiserhebung. Wie die Landtagsverwaltung in ihrer eingehenden StelLVerfGE 13

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lungnahme vom 24.7.1991 überzeugend dargelegt habe, führe eine an Sinn und Zweck des § 6a S. 2 UAG orientierte Auslegung im Ergebnis dazu, dass das Sitzungserzwingungsrecht der qualifizierten Minderheit beide Sitzungsarten — öffentliche Beweisaufnahme wie nichtöffentliche Beratung — erfasse. Rein vorsorglich weisen die Antragsteller darauf hin, dass die Ausschussmehrheit den eindeutig erkennbaren Willen gehabt habe, eine Vernehmung des Bundesumweltministers T. vor der Bundestagswahl am 22.9.2002 zu verhindern. Die Ausschussmehrheit habe in bewusster Verzögerungstaktik und mit Verschleppungsabsicht die Vernehmung von Bundesminister T. hinausgeschoben. Normalerweise sei für den Ablauf eines Untersuchungsverfahrens nicht unbedingt entscheidend, ob ein Zeuge eine Sitzung früher oder eine Sitzung später gehört werde. Aber selbstverständlich hätten Regierungs- wie Oppositionsparteien ein nachhaltiges Interesse daran, vor einer anstehenden Wahl die aus ihrer Sicht wichtigen Beweiserhebungen durchfuhren zu können. Für den Ausschuss gelte das Verfassungsgebot, ein Verfahren zu wählen, das die Interessen der Mehrheit und der Minderheit zu einem angemessenen Ausgleich bringe. Hiergegen habe der Antragsgegner verstoßen. III. Der Antragsgegner hält den Antrag für unzulässig. Die Antragsteller seien zwar beteiligtenfähig und antragsbefugt, aber er sei im Organstreitverfahren nicht beteiligtenfähig. Nach Art. 68 Abs. 1 Nr. 1 LV seien im Organstreitverfahren die obersten Landesorgane und andere Beteiligte, die durch die Verfassung oder in der Geschäftsordnung des Landtags oder der Regierung mit eigener Zuständigkeit ausgestattet sind, beteiligtenfähig. Art. 68 Abs. 1 Nr. 1 LV werde durch § 44 des Gesetzes über den Staatsgerichtshof (StGHG) präzisiert. Danach könne Antragsgegner nur der Landtag und im Fall des Art. 36 LV der Ständige Ausschuss des Landtags, die Regierung und die in der Verfassung oder in der Geschäftsordnung des Landtags oder der Regierung mit eigener Zuständigkeit ausgestatteten Teile dieser Organe sein. An diesen Voraussetzungen fehle es beim Vorsitzenden eines Untersuchungsausschusses. Zwar sei der Untersuchungsausschuss ein durch die Landesverfassung mit eigenen Zuständigkeiten ausgestatteter Teil des Landtags (Art. 35 Abs. 1 LV). Dies gelte aber nicht für den Vorsitzenden eines Untersuchungsausschusses. Eine „Prozessstandschaft" des Antragsgegners für den Untersuchungsausschuss sei unzulässig. Dem Vorsitzenden des Untersuchungsausschusses würden durch die Geschäftsordnung des Landtags keine eigenen Rechte eingeräumt, auch nicht durch § 22 GeschOLandtag. Im 6. Kapitel der Geschäftsordnung des Landtags seien Untersuchungsausschüsse und Enquetekommissionen besonders geregelt (§§ 33 f GeschOLandtag). Die Regelungen der Geschäftsordnung des Landtags über Ausschüsse (5. Kapitel, §§ 18 ff GeschOLandtag) gälten nicht ergänzend zum Untersuchungsausschüssegesetz für Untersuchungsausschüsse. LVerfGE 13

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Die allgemeinen Vorschriften über Ausschüsse fänden für Untersuchungsausschüsse und Enquetekommissionen nur dann sinngemäß Anwendung, wenn dies die Geschäftsordnung des Landtags wie in § 19 Abs. 4 und 5 GeschOLandtag ausdrücklich vorsehe. Die sinngemäße Anwendung der Vorschriften über die Ausschüsse sei für Enquetekommissionen durch § 34 Abs. 4 S. 2 GeschOLandtag angeordnet; für Untersuchungsausschüsse fehle in § 33 GeschOLandtag eine vergleichbare Regelung. Der Antrag sei auch unbegründet. Der Antragsgegner habe nicht dadurch gegen Art. 35 LV verstoßen und die Antragsteller in der Wahrnehmung ihrer sich aus dieser Vorschrift ergebenden verfassungsmäßigen Rechte verletzt, dass er es abgelehnt habe, auf den Antrag der Antragsteller vom 5.7.2002 binnen einer Woche eine Sondersitzung des Untersuchungsausschusses zur Vernehmung der Zeugen gemäß Beweisantrag Nr. 8 einzuberufen. Es verstoße nicht gegen Art. 35 LV, wenn sich der Antragsgegner weigere, dem durch die Bundestagswahl am 22.9.2002 motivierten Anliegen der Minderheitsfraktionen, den Bundesumweltminister vor der Bundestagswahl als Zeugen im Untersuchungsausschuss zu hören, Rechnung zu tragen. Durch das Untersuchungsausschüssegesetz könnten zwar die verfassungsgemäßen Rechte der Minderheit aufgrund der Regelung in Art. 35 Abs. 4 S. 1 LV erweitert werden. Die Verletzung der einfachgesetzlichen Minderheitenrechte aus dem Untersuchungsausschüssegesetz führe deshalb nicht zwangsläufig zu einer Verletzung des Art. 35 Abs. 2 S. 2 LV. Die Verletzung einfachgesetzlicher Minderheitenrechte aus dem Untersuchungsausschüssegesetz verhelfe dem Antrag nicht zum Erfolg. Dieser könne nur dann erfolgreich sein, wenn Rechte und Pflichten von obersten Landesorganen oder anderer Beteiligter verletzt worden seien, die sich aus der Verfassung ergäben. Die Verankerung von Rechten und Pflichten im Untersuchungsausschüssegesetz sei mit der Erwähnung in der Verfassung oder in der Geschäftsordnung des Landtags oder der Regierung nicht vergleichbar und führe nicht zum Erfolg der Organklage. Nur soweit der verfassungsrechtliche Kern des durch einfaches Gesetz erweiterten Verfahrensrechts verletzt sei, könne ein Organstreitverfahren erfolgreich sein. Eine verfassungsrechtliche Verpflichtung des Gesetzgebers, § 6a UAG zum Schutz der Rechte der Ausschussminderheit zu schaffen, habe nicht bestanden. Im Übrigen sei der Antragsgegner entgegen der Auffassung der Antragsteller aus § 6a UAG auch nicht verpflichtet gewesen, eine Sitzung zur Durchführung einer Beweisaufnahme an einem bestimmten Tag einzuberufen. Schon der Wortlaut der Norm spreche dafür, dass sich diese Verpflichtung nur auf Sitzungen zur Durchführung einer Beratung, nicht aber zur Durchführung einer bereits beschlossenen Beweisaufnahme beziehe. Die klare Unterscheidung zwischen „Beratung" und „Beweisaufnahme" spreche dafür, § 6a UAG wörtlich zu nehmen. Der Entstehungsgeschichte lasse sich kein eindeutiger Wille des Gesetzgebers LVerfGE 13

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entnehmen, § 6a UAG auch auf Sitzungen zur Durchfuhrung der Beweisaufnahme auszudehnen. Das Plenum habe von der abweichenden Auslegung der Landtagsverwaltung in deren Stellungnahme keine Kenntnis gehabt. Der Bericht des Ständigen Ausschusses an das Plenum habe die Formulierungshilfe der Landtagsverwaltung in seiner Erläuterung zu § 6a UAG nicht mehr erwähnt. Die Formulierungshilfe beziehe sich übrigens nur auf die Durchsetzung eines noch nicht beschlossenen Beweisantrags im Untersuchungsausschuss, nicht auf die Durchführung einer bereits beschlossenen Beweisaufnahme. Uber den Beweisantrag und den Zeitpunkt seiner Durchfühlung werde nämlich in der Beratung des Untersuchungsausschusses verhandelt. Auch Sinn und Zweck des Sitzungserzwingungsrechtes spreche für eine wörtliche Auslegung von § 6a UAG. Das Regel-Ausnahmeverhältnis von Verfahrensherrschaft der Ausschussmehrheit und Rechten der qualifizierten Minderheit dürfe nicht auf den Kopf gestellt werden. Die Verfahrensherrschaft über die Reihenfolge der Beweiserhebungen und über die Zweckmäßigkeit einer Terminierung liege grundsätzlich in den Händen der jeweiligen Ausschussmehrheit. Dies dürfe durch den Minderheitenschutz nicht ausgehöhlt werden. Dem Recht der qualifizierten Minderheit werde ausreichend Rechnung getragen, wenn § 6a UAG nur zur Einberufung von Sitzungen zur Beratung verpflichte, die auch die Beratung eines Beweisantrages umfasse. Bezöge man § 6a UAG auch auf Sitzungen zur Durchführung einer bereits beschlossenen Beweisaufnahme, bliebe von der Verfahrensherrschaft der Ausschussmehrheit nichts mehr übrig. Selbst wenn § 6a UAG die Durchführung einer bereits beschlossenen Beweisaufnahme einschließe, sei der Antrag unbegründet, da die verfassungsmäßig garantierten Rechte der Minderheit durch das Verhalten des Antragsgegners nicht verletzt seien. Der Antrag der Ausschussminderheit vom 5.7.2002 gehe nur dahin, eine bereits beschlossene Beweisaufnahme zu einem früheren Zeitpunkt durchzuführen, als es die Mehrheit des Ausschusses wünschte und am 10.7.2002 beschlossen habe. Der Antrag betreffe nicht die Reihenfolge der Beweiserhebung. Er habe nur zum Ziel, die Vernehmung von Bundesumweltminister T. und der Bediensteten des BMU vom 25.9.2002 auf den 12.7.2002 vorzuziehen, um diesen noch vor der Bundestagswahl am 22.9.2002 ein politisches Forum dafür zu schaffen, die Bundestagswahl im Sinne der Antragsteller positiv zu beeinflussen. Eine Verletzung der Minderheitenrechte durch den Antragsgegner scheide damit aus. Das Beweisdurchsetzungsrecht der Minderheit sei dadurch nicht gefährdet. Die Frage, ob die Vertreter des BMU vor oder nach der Bundestagswahl vernommen werden, sei für die Rechte der Minderheit und die Arbeit des Ausschusses ohne jede Bedeutung gewesen. Der Wahltag am 22.9.2002 habe nur politische Bedeutung gehabt. Dieser Gesichtspunkt sei in jeder Hinsicht unbeachtlich. Es handele sich um einen „ausschussfremden" Gesichtspunkt, der außerhalb des Untersuchungsauftrags liege und sogar die Ablehnung eines nur aus diesem Grund gestellten Beweisantrags rechtfertigen würde. LVerfGE 13

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Staatsgerichtshof des Landes Baden-Württemberg IV.

Der Landtag und die Landesregierung haben von einer Stellungsnahme abgesehen. Entscheidungsgründe: I. Der Antrag ist zulässig. 1. Der vorliegende Organstreit betrifft die Bestimmung der Sitzungstermine des Untersuchungsausschusses „Atomaufsicht in Baden-Württemberg" des Landtages von Baden-Württemberg, und zwar die Ablehnung des Antrags auf Einberufung einer Sondersitzung am 12.7.2002 zur Vernehmung von Zeugen aus dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Zwischen den Beteiligten besteht Uneinigkeit darüber, ob der Antragsgegner unter Verletzung der Minderheitsrechte der Antragsteller die Einberufung dieser Sitzung des parlamentarischen Untersuchungsausschusses, in der eine Beweisaufnahme nach Maßgabe des vom Untersuchungsausschuss zuvor einvernehmlich gefassten Beweisbeschlusses Nr. 8 erfolgen sollte, abgelehnt und dadurch unter Verstoß gegen Art. 35 LV die Durchführung einer bereits beschlossenen Beweiserhebung behindert oder vereitelt hat. Es geht damit in dem Organstreit um die Auslegung von Art. 35 LV aus Anlass von Streitigkeiten zwischen der SPD-Fraktion sowie den von den Oppositionsfraktionen SPD und Bündnis 90 / Grüne in den Untersuchungsausschuss „Atomaufsicht in Baden-Württemberg" des 13. baden-württembergischen Landtages entsandten Abgeordneten auf der einen und dem Ausschussvorsitzenden als Antragsgegner auf der anderen Seite. Der Einschätzung, dass damit die verfassungsrechtlichen Organbeziehungen der Beteiligten, also die Rechte und Pflichten, die sich aus einem zwischen ihnen bestehenden verfassungsrechtlichen Verhältnis ergeben, im Streit sind, steht nicht entgegen, dass die Beteiligten auch unterschiedlicher Auffassung sind über die Auslegung eines einfachen Landesgesetzes (§ 6a UAG). Die Antragsteller berufen sich darauf, der Antragsgegner habe durch die Nichteinberufung des Untersuchungsausschusses zu einer Sondersitzung zugleich ihre verfassungsmäßigen Rechte, insbesondere das Recht der qualifizierten Ausschussminderheit auf Erhebung der von ihr für erforderlich erachteten Beweise (Art. 35 Abs. 2 S. 2 LV) verletzt. Machen die Antragsteller aber die Verletzung eines in der Verfassung des Landes Baden-Württemberg verbrieften parlamentarischen Minderheitsrechts geltend, so liegt im Kern eine verfassungsrechtliche Streitigkeit vor (vgl. StGH, Urt. v. 28.1.1988 - GR 1/87 - , ESVGH 38, 81, 82).

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2. Die Antragsteller sind im Organstreitverfahien beteiligtenfähig und antragsberechtigt (§§ 44, 45 StGHG). a) Nach § 44 StGHG können Teile der dort benannten Verfassungsorgane Antragsteller und Antragsgegner im Organstreitverfahren sein, wenn sie in der Verfassung oder in den Geschäftsordnungen mit eigenen Rechten ausgestattet sind. aa) Das Bundesverfassungsgericht bejaht in ständiger Rechtsprechung aufgrund der Bestimmungen der §§ 63, 64 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) die Parteifähigkeit und die Antragsberechtigung sowohl der Fraktionen als auch der konkreten Antragsminderheit iSv Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG (vgl. BVerfGE 20, 56,104; 67,100,124). Der Staatsgerichtshof hat sich dem in Ergebnis und Begründung für die inhaltsgleichen Vorschriften des Art. 35 Abs. 1 S. 1 LV und der §§ 44, 45 StGHG bereits mit Urteil vom 14.3.1985 ( - GR 1/83 ESVGH 35, 161, 162) angeschlossen und hält seitdem in ständiger Rechtsprechung hieran fest (vgl. StGH, Urt. v. 28.1.1988 - GR 1/87 - ESVGH 38, 81 f, Urt. v. 13.8.1991 - GR 1/91 - , ESVGH 42, 7, 8). Danach ist die Antragstellerin Ziffer 1 als ständig vorhandene Gliederung des Landtages im Organstreitverfahren parteifähig (vgl. BVerfGE 20, 56,104; 45,1,28). bb) In Fortfuhrung und Erweiterung dieser Rechtsprechung sind auch die Antragsteller Ziffer 2 in ihrer Funktion als Mitglieder der Oppositionsfraktionen im Untersuchungsausschuss für das vorliegende Organstreitverfahren als beteiligtenfähig iSv § 44 StGHG anzusehen. Dem steht nicht entgegen, dass die Geschäftsordnung des Landtags von Baden-Württemberg den Begriff der „Fraktion im Ausschuss" (BVerfGE 67, 100, 124) im Gegensatz zur Geschäftsordnung des Bundestags nicht explizit erwähnt (vgl. dazu Feuchte Verfassung des Landes Baden-Württemberg, Art. 35 Rn. 18). Die Vorschrift des § 4 Abs. 2 S. 2 UAG schreibt ausdrücklich die Beteiligung jeder im Parlament vertretenen Fraktion im Untersuchungsausschuss vor und stellt dadurch deren Repräsentanz in diesem mit besonderen Rechten ausgestatteten Hilfsorgan des Landtages sicher. Ob hieraus generell die Beteiligtenfähigkeit der „Fraktionen im Untersuchungsausschuss" für das landesverfassungsrechtliche Organstreitverfahren folgt, kann dahinstehen. Jedenfalls ist die Beteiligtenfähigkeit der im Ausschuss vertretenen Mitglieder der Minderheitsfraktionen zu bejahen, wenn — wie vorliegend — deren in der Verfassung verankerte Minderheitsbefugnis, bestimmte Beweiserhebungen zu verlangen (Art. 35 Abs. 2 S. 2 LV), im Streit ist (ebenso Feuchte Verfassung des Landes Baden-Württemberg, Art. 68 Rn. 27; zur Beteiligtenstellung einzelner Abgeordneter des Landtages vgl. StGH, Urt. v. 28.1.1988, aaO, S. 82). b) Die Antragsteller sind auch in Bezug auf den konkreten Streitgegenstand antragsbefugt gem. § 45 StGHG. Sie haben hinreichend geltend gemacht, dass sie LVerfGE 13

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oder das Organ, dem sie angehören, durch die beanstandete Maßnahme des Antragsgegners in der Wahrnehmung ihrer verfassungsmäßigen Rechte verletzt oder unmittelbar gefährdet seien. aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist eine konkret als Einsetzungsminderheit in Erscheinung getretene Fraktion des Deutschen Bundestags iSd Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG befugt, die Behinderung oder Vereitelung einer Beweiserhebung des Untersuchungsausschusses geltend zu machen (vgl. BVerfGE 67, 100, 126; zur Verletzung des Beweisdurchsetzungsrechts der potentiell einsetzungsberechtigten Antragsminderheit durch den Untersuchungsausschuss selbst vgl. BVerfG, Urt. v. 8.4.2002, DVB12002, 773, 774). Nach der ständigen Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs gilt Entsprechendes für die Antragsbefugnis der konkreten Einsetzungsminderheit in Bezug auf das Einsetzungsrecht aus Art. 35 Abs. 1 S. 1 LV (vgl. Urt. v. 14.3.1985, aaO, S. 162 und Urt. v. 13.8.1991, aaO, S. 8). In gleicher Weise sieht der Staatsgerichtshof die konkret als Einsetzungsminderheit in Erscheinung getretene Fraktion iSv Art. 35 Abs. 1 S. 1 LV vorliegend für befugt an, auch eine Verletzung des Beweisantragsrechts der qualifizierten Ausschussminderheit aus Art. 35 Abs. 2 S. 2 LV durch ein Verhalten des Ausschussvorsitzenden geltend zu machen. Nach Art. 35 Abs. 2 S. 2 LV hat der Landtag Beweise zu erheben, wenn sie von einem Viertel der Mitglieder eines Untersuchungsausschusses beantragt werden. Damit ist in der Verfassung des Landes Baden-Württemberg das Beweiserzwingungsrecht als subjektives Recht der qualifizierten Minderheit ausgestaltet worden (vgl. auch BVerfGE 49, 70, 86 f). In dieses Recht könnte nach dem Vorbringen der Antragsteller durch die Nichteinberufung der beantragten Sondersitzung des Untersuchungsausschusses, in welcher nach dem Willen der Vertreter der Oppositionsfraktionen eine Beweiserhebung stattfinden sollte, eingegriffen worden sein. Die Antragsberechtigung der Antragstellerin Ziffer 1 folgt aus ihrer Befugnis, im Organstreit die Verletzung oder unmittelbare Gefährdung von Rechten des gesamten Parlaments geltend zu machen (vgl. BVerfGE 45, 1, 28). Das Untersuchungsrecht bleibt auch nach der Einsetzung des Untersuchungsausschusses Sache des Parlaments als Ganzem, das sich des Ausschusses zur sachgerechten Erfüllung dieser Aufgabe bedient (vgl. BVerfGE 49, 70, 85 und Urt. v. 8.4.2002, aaO, S. 774). bb) Die Antragsteller Ziffer 2, die die Minderheitsfraktionen des Landtags im Untersuchungsausschuss repräsentieren, sind ebenfalls antragsbefugt iSv § 45 StGHG. Sie dürfen als „Fraktionen im Ausschuss" die Verletzung der Minderheitsrechte aus Art. 35 LV auch neben der Antragstellerin Ziffer 1 geltend machen (vgl. ebenso zu § 64 BVerfGG BVerfG, Urt. v. 8.4.2002, aaO, S. 774; anders noch zur Antragsbefugnis der „Fraktion im Ausschuss" BVerfGE 67,100, 126). Für die Antragsteller Ziffer 2.1-2.4 folgt dies bereits daraus, dass sie als Mitglieder der SPD-Fraktion den einsetzungsberechtigten Teil des Landtages im UntersuchungsLVerfGE 13

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ausschuss repräsentieren. Für den Antragsteller Ziffer 2.5 ergibt sich die Antragsbefugnis aus der Ausgestaltung des Beweiserzwingungsrechts nach Art. 35 Abs. 2 S. 2 LV als Minderheitsrecht. Er kann somit geltend machen, durch den Nichtvollzug des — unter anderem auf seine Initiative hin ergangenen — Beweisbeschlusses Nr. 8 in seinen verfassungsmäßigen Rechten als Vertreter einer Minderheitsfraktion im Ausschuss verletzt oder jedenfalls gefährdet zu sein. 3. Der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses ist als Antragsgegner beteiligtenfähig. Im Organstreitverfahren nach Art. 68 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 LV entscheidet der Staatsgerichtshof über die Auslegung der Landesverfassung aus Anlass von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Landesorgans oder anderer Beteiligter, die durch die Verfassung oder in der Geschäftsordnung des Landtags oder der Regierung mit eigener Zuständigkeit ausgestattet sind. Der Antragsgegner ist als Vorsitzender eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses ein anderer Beteiligter iSv Art. 68 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 LV. a) In § 22 GeschOLandtag werden die Ausschussvorsitzenden allgemein mit eigener Zuständigkeit ausgestattet. Zu den Ausschussvorsitzenden im Sinne dieser Bestimmung gehört auch der Vorsitzende eines Untersuchungsausschusses. Der Staatsgerichtshof teilt nicht die Auffassung des Antragsgegners, dass die Bestimmungen des 5. Kapitels der Geschäftsordnung des Landtags in der geltenden Fassung vom 1.6.1989 (GBl. S. 249 ff) und damit auch § 22 GeschOLandtag, der die Zuständigkeiten des Ausschussvorsitzenden anspricht, mangels entsprechender Verweisung in § 33 GeschOLandtag auf Untersuchungsausschüsse nicht anwendbar seien und die Rechtsstellung des Untersuchungsausschussvorsitzenden daher abschließend einfachgesetzlich durch das Untersuchungsausschüssegesetz des Landes geregelt werde. aa) Ein dahingehendes Verständnis der Bestimmungen des 5. und 6. Kapitels der Geschäftsordnung des Landtags verbietet sich schon mit Blick auf deren Entstehungsgeschichte. Die Geschäftsordnungsbestimmungen des Landtages finden ihre verfassungsrechtliche Grundlage in Art. 32 Abs. 1 S. 2 LV. Nach dieser Vorschrift gibt sich der Landtag eine Geschäftsordnung, die nur mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der anwesenden Abgeordneten geändert werden kann. Dieser Verfassungsbestimmung und parlamentarischer Tradition folgend wurde und wird das Verfahren für die Beratungen im Landtag in der Geschäftsordnung geregelt. Gleiches gilt für das Verfahren in den Ausschüssen des Landtags. Eine entsprechende Normierung findet sich bereits in der Geschäftsordnung des Landtages idF vom 19.4.1972 (GBl. S. 213 ff), die ihre Fortsetzung fand in der Geschäftsordnung des Landtags in der bis jetzt geltenden Bekanntmachung vom 1.6.1989 (GBl. S. 249 ff). Dort wird das Verfahren in den Ausschüssen — systematisch unverändert gegenüber den früheren Geschäftsordnungsbestimmungen — im 5. Kapitel (§§ 18 ff GeschOLandtag) geregelt. LVerfGE 13

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Ausschüsse im Sinne des 5. Kapitels der Geschäftsordnung des Landtags sind auch die Untersuchungsausschüsse. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass der Begriff der Ausschüsse im 5. Kapitel der Geschäftsordnung des Landtags inhaltlich von dem entsprechenden verfassungsrechtlichen Begriff in Art. 34 LV abweichen sollte (vgl. Braun Verfassung des Landes Baden-Württemberg, Art. 34 Rn. 18 ff). Zwar trägt das 6. Kapitel der Geschäftsordnung die Uberschrift „Untersuchungsausschüsse und Enquetekommissionen", es enthält aber für das Recht der Untersuchungsausschüsse in § 33 GeschOLandtag lediglich in Bezug auf die Einsetzung des Ausschusses eine Sonderregelung gegenüber den sonstigen Ausschüssen, nicht aber für den weiteren Ablauf des Verfahrens. Für das weitere Verfahren im Untersuchungsausschuss sind daher grundsätzlich die Bestimmungen des 5. Kapitels der Geschäftsordnung des Landtages — und damit auch die Vorschrift über die Stellung des Ausschussvorsitzenden (§ 22 GeschOLandtag) — anwendbar, ohne dass es einer ausdrücklichen Verweisung in § 33 GeschOLandtag auf die Bestimmungen des 5. Kapitels, wie sie etwa in § 34 Abs. 4 GeschOLandtag für das Recht der Enquetekommissionen (§ 34 Abs. 4 GeschOLandtag) erfolgt ist, bedurfte. Die ausdrückliche Verweisung in Art. 34 Abs. 4 GeschOLandtag war für die Enquetekommissionen notwendig, da ihnen im Gegensatz zu allen anderen Ausschüssen einschließlich der Untersuchungsausschüsse auch Personen angehören können, die nicht Mitglieder des Landtags sind und sie deshalb auch nicht „Ausschüsse" genannt werden. bb) An der grundsätzlichen Anwendbarkeit der Geschäftsordnung des Landtages auf das Verfahren in den Untersuchungsausschüssen hat auch das später erlassene Gesetz vom 3.3.1976 (GBl. S. 176), durch welches die Verfassung des Landes Baden-Württemberg novelliert und das Recht der Untersuchungsausschüsse spezialgesetzlich aufgegriffen und verfeinert wurde (vgl. hierzu Feuchte Verfassungsgeschichte von Baden-Württemberg, S. 349), nichts geändert. Zwar wurde durch das Gesetz über die Einsetzung und das Verfahren von Untersuchungsausschüssen des Landtags besonderes Verfahrensrecht geschaffen, welches - entsprechend der Subsidiaritätsregel des § 20 GeschOLandtag — seitdem im Kollisionsfall Vorrang hat vor den Bestimmungen im 5. Kapitel der Geschäftsordnung des Landtags. Ergänzend finden diese Vorschriften der Geschäftsordnung jedoch weiterhin Anwendung für das Verfahren der Untersuchungsausschüsse, wie sich auch aus einzelnen Geschäftsordnungsbestimmungen, in denen die Untersuchungsausschüsse wörtlich genannt werden (vgl. § 19 Abs. 3 und 4 GeschOLandtag), entnehmen lässt. Gleiches gilt für die Stellung des Ausschussvorsitzenden. Dessen Zuständigkeiten werden zwar weitgehend im Untersuchungsausschüssegesetz ausgestaltet, etwa was die Einberufung von Sitzungen (§ 6a UAG) oder die Ordnungsgewalt in der Sitzung anbelangt (§11 UAG). Indessen finden sich im Untersuchungsausschüssegesetz keine abschließenden, die Bestimmungen des § 22 Abs. 2 und 3 GeschOLandtag vollständig verdrängenden Sonderregelungen bezüglich der LeiLVerfGE 13

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tung und Bekanntgabe von Ausschusssitzungen. Soweit in dem Untersuchungsausschüssegesetz Regelungen über die Funktion des Vorsitzenden eines Untersuchungsausschusses mit denen in der Geschäftsordnung des Landtags übereinstimmen, handelt es sich iSv Art. 68 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 LV um Regelungen der Geschäftsordnung des Landtags. Der Vorsitzende eines Untersuchungsausschusses ist damit auch nach Inkrafttreten des Untersuchungsausschüssegesetzes des Landes in der Geschäftsordnung des Landtages mit eigener Zuständigkeit ausgestattet und kann daher statthafter Antragsgegner im Organstreitverfahren sein. cc) Ein anderes Ergebnis würde zudem dem Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers widersprechen, der mit der einfach-gesetzlichen Ausgestaltung des Rechts der Untersuchungsausschüsse keine Rechtsänderung in Bezug auf die Passivlegitimation dieser Ausschüsse bzw. ihrer Organteile in einem Verfahren nach Art. 68 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 LV beabsichtigt hat. dd) Der Beteiligung des Antragsgegners im Organstreitverfahren steht schließlich auch nicht der Wortlaut des § 45 S t G H G entgegen, der Organteile lediglich ermächtigt, Rechte des Organs selbst geltend zu machen, ihnen also insofern eine Aktivlegitimation verleiht, Organteile aber nicht zugleich für passivlegitimiert erklärt, wenn es darum geht, Rechte und Pflichten des Organs zu klären. Diese Regelung hindert nicht, einen Organteil wegen seines eigenen Verhaltens in Anspruch zu nehmen (vgl. entsprechend zur Passivlegitimation gem. § 64 BVerfGG, BVerfGE 2, 143, 166). Der Organstreit gegen den Antragsgegner ist statthaft, soweit geltend gemacht wird, dieser habe die verfassungsmäßigen Rechte der Antragsteller aus einem zu diesen bestehenden verfassungsrechtlichen Rechtsverhältnis durch eigenes Verhalten, nämlich durch die Nichteinberufung des Untersuchungsausschusses, verletzt oder gefährdet. Der Vorsitzende hat nach § 6a UAG den Untersuchungsausschuss einzuberufen. Insbesondere trifft nach § 6a S. 2 UAG ihn die Pflicht, eine Sitzung des Untersuchungsausschusses binnen einer Woche einzuberufen, wenn dies von der qualifizierten Minderheit verlangt wird. Damit ist er der richtige Antragsgegner, auch wenn in der Sitzung vom 10.7.2002 der Ausschuss es war, der mehrheitlich abgelehnt hat, den Vorsitzenden aufzufordern, die für den 12.7.2002 beantragte Sondersitzung einzuberufen. Ein solcher Beschluss kann den Vorsitzenden des Untersuchungsausschusses nicht von der Pflicht befreien, wenn die Voraussetzungen des § 6a UAG erfüllt sind, die beantragte Sitzung binnen einer Woche anzuberaumen. 4. Der Antrag ist auch im Übrigen zulässig. Die Bestimmung des Art. 35 LV, gegen welche die beanstandete Handlung des Antragsgegners verstoßen haben soll, ist genannt worden. Die Sechsmonatsfrist des § 45 Abs. 3 S t G H G ist eingehalten.

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Der Antrag ist unbegründet. Das in Art. 35 Abs. 2 S. 2 LV eingeräumte Beweiserzwingungsrecht der qualifizierten Minderheit ist durch die Entscheidung des Antragsgegners, entgegen dem Antrag der Antragsteller Ziffer 2 vom 5.7.2002 für den 12.7.2002 keine Sitzung des Untersuchungsausschusses „Atomaufsicht in Baden-Württemberg" einzuberufen, nicht verletzt worden. 1. Untersuchungsausschüsse sind Hilfsorgane des Parlaments, die dessen Untersuchungsrecht ausüben (vgl. BVerwGE 77, 1, 41). Damit nehmen sie keine eigene, sondern eine dem Parlament als solchem zustehende Kompetenz wahr. Parlamentarische Untersuchungsausschüsse erfüllen in der parlamentarischen Demokratie eine wichtige Aufgabe, indem sie es den Parlamenten ermöglichen, unabhängig von Regierung, Behörden und Gerichten mit hoheitlichen Mitteln selbständig die Sachverhalte zu prüfen, die sie in Erfüllung ihres Verfassungsauftrages als Vertretung des Volkes für aufklärungsbedürftig halten. Untersuchungsausschüsse dienen somit als wesentliches Instrument des Parlaments der Kontrolle, die im demokratischen Staat das notwendige Korrelat der im Wege demokratischer Legitimation übertragenen Verantwortung darstellt (vgl. BVerfGE 67, 100,130; 77,1,40). 2. Das Untersuchungsrecht hat sich unter den Bedingungen des parlamentarischen Regierungssystems maßgeblich zu einem Recht der Opposition auf eine Sachverhaltsaufklärung unabhängig von der Regierung und der sie tragenden Regierungsmehrheit entwickelt (vgl. BVerfG, Urt. v. 8.4.2002, aaO, S. 774). Die parlamentarische Kontrollfunktion des Untersuchungsausschusses wird daher in der politischen Praxis überwiegend von der Parlamentsminderheit wahrgenommen. 3. Nach Art. 35 Abs. 1 S. 1 LV hat der Landtag das Recht und auf Antrag von einem Viertel seiner Mitglieder die Pflicht, Untersuchungsausschüsse einzusetzen. Mit dieser Regelung ist die Kontrollfunktion des Untersuchungsausschusses in der Verfassung des Landes Baden-Württemberg auch, aber nicht nur, als Minderheitsrecht ausgestaltet worden. 4. Die Intention des Art. 35 Abs. 1 S. 1 LV, der qualifizierten Minderheit im Landtag eine durchsetzungsfähige Rechtsposition zu verleihen und ihr durch Einsetzung eines Untersuchungsausschusses eine wirksame parlamentarische Kontrolle zu ermöglichen, wird ergänzt durch das in Art. 35 Abs. 2 S. 2 LV normierte Beweiserzwingungsrecht der Minderheit. Nach dieser Vorschrift sind Beweise zu erheben, wenn sie von einem Viertel der Mitglieder des Ausschusses beantragt werden. Durch die Bestimmung des Art. 35 Abs. 2 S. 2 LV, mit der die Verfassung des Landes Baden-Württemberg über die Ausgestaltung der Minderheitsbefugnisse im Wordaut des Art. 44 G G hinausgeht, wird das Recht der qualifizierten Minderheit, auf den Untersuchungsverlauf Einfluss zu nehmen, auch im weiteren LVerfGE 13

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Fortgang des Untersuchungsausschusses sichergestellt, da ansonsten die Effektivität dieses Instruments nicht gewährleistet wäre (entsprechend zu Art. 44 GG BVerfGE 67, 100, 130; 77, 1, 48). Darüber hinaus wird der Minderheit einfachgesetzlich zur prozeduralen Absicherung ihrer verfassungsmäßigen Rechte ein Sitzungserzwingungsrecht eingeräumt (§ 6a UAG). 5. Die Verbürgung des Minderheitsschutzes in Art. 35 Abs. 1 S. 1 LV und Art. 35 Abs. 2 S. 2 LV muss im Kontext des parlamentarischen demokratischen Systems gesehen werden, welches vom Mehrheitsprinzip bestimmt wird (vgl. BVerfGE 44, 125, 142, 145). Auch bei einem im Wege der Minderheitsenquete eingesetzten Untersuchungsausschuss liegt die Verfahrensherrschaft in den Händen der jeweiligen Ausschussmehrheit (vgl. BVerfG, Urt. v. 8.4.2002, aaO, S. 774). Die Verfahrensherrschaft der Mehrheit im Untersuchungsausschuss im Allgemeinen und deren Dispositionsbefugnis über die Reihenfolge der Beweiserhebungen im Besonderen findet allerdings ihre Grenze im Schutzbedürfnis der Minderheit. Die verfassungsmäßigen Minderheitsrechte des Art. 35 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 S. 2 LV dürfen nicht zur Disposition der Ausschussmehrheit bzw. im Falle der Entscheidung über die Einberufung einer Sitzung gem. § 6a UAG zur Disposition des Ausschussvorsitzenden gestellt werden. Auch im Verhältnis von Organteilen eines Untersuchungsausschusses zueinander gilt das allgemeine Prinzip der Verfassungsorgantreue (vgl. BVerfGE 35, 257, 261 f; 94, 166, 235). Hieraus folgt für die parlamentarische Mehrheit namentlich die Pflicht, einen effektiven Minderheitenschutz hinsichtlich der durch Verfassung und Gesetz garantierten Verfahrenspositionen der Minorität zu wahren. Das Gebot zur Loyalität der Mehrheit gegenüber der Minderheit bindet auch die Ausübung der Mehrheits- und Vorsitzendenbefugnisse im Beweisverfahren eines Untersuchungsausschusses (vgl. Maun% in: Maunz/Dürig, GG, 4. Lieferung 1960, Art. 44, Rn. 50). a) Das Bundesverfassungsgericht hat im Urteil vom 8.4.2002 (aaO, S. 774) dargelegt, dass die Ausschussmehrheit über die Reihenfolge der Beweiserhebungen unter Berücksichtigung der Rechte der qualifizierten Minderheit zu entscheiden hat. Die Einsetzungsminderheit muss jedoch im Rahmen des Untersuchungsauftrags und innerhalb des Mehrheitsprinzips über die Beweiserhebung mitbestimmen können. Allerdings reicht der Umfang des Mitgestaltungsrechts der Minderheit nicht weiter als derjenige der Mehrheit, ist diesem aber grundsätzlich vom Gewicht her gleich zu erachten. b) Angesichts der Vergleichbarkeit der Verfassungslage in Bezug auf die Ausgestaltung des parlamentarischen Untersuchungsrechts im Grundgesetz einerseits und in der Verfassung des Landes Baden-Württemberg andererseits sind diese Grundsätze auch für die Bestimmung der Reichweite des Beweiserhebungsrechts in Art. 35 Abs. 2 S. 2 LV von Belang. Danach wird auch dieses parlamentarische Minderheitsrecht durch die Verfahrensherrschaft der Parlamentsmehrheit im Ausschuss begrenzt. Der Ausschuss hat zwar einmal gefasste BeweisbeLVerfGE 13

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schlüsse, auch wenn sie von der Ausschussminderheit in Ausübung ihres Rechtes aus Art. 35 Abs. 2 S. 2 LV erzwungen wurden, grundsätzlich zu vollziehen. Jedoch liegt die Entscheidung über die Reihenfolge der Beweiserhebungen und über die Zweckmäßigkeit einer Terminierung grundsätzlich in den Händen der jeweiligen Ausschussmehrheit, die über den Vollzug der Beweisbeschlüsse zu befinden und sicherzustellen hat, dass der Untersuchungsauftrag erfüllt werden kann (vgl. auch BVerfG, aaO, S. 775). c) Art. 35 Abs. 2 S. 2 LV verbrieft das Recht der qualifizierten Ausschussminderheit auf angemessene Beteiligung an der Beweisaufnahme und schützt diese dadurch vor einer Aushöhlung ihres Beweiserhebungsrechts. aa) Eine Aushöhlung des verfassungsmäßigen Beweiserhebungsrechts des Art. 35 Abs. 2 S. 2 LV droht dann, wenn eine getroffene Maßnahme oder Entscheidung des Untersuchungsausschusses oder eines Organteils geeignet ist, das Beweiserhebungsrecht der qualifizierten Minderheit zu vereiteln oder jedenfalls ernstlich zu gefährden und dadurch die Aufklärungsarbeit des Ausschusses zu unterlaufen oder einseitig im Sinne der Mehrheitsinteressen zu lenken. Eine solche Situation wäre etwa anzunehmen, wenn im Falle zeitlicher Enge, insbesondere bei bevorstehender Diskontinuität, zu befürchten ist, dass die von der Minderheit für wesentlich gehaltenen Beweise so lange blockiert oder hinausgeschoben werden, bis die Beweisaufnahme unter Zeitdruck geschlossen wird und dadurch der Vollzug eines von der qualifizierten Minderheit eingebrachten und bereits gefassten Beweisbeschlusses zu unterbleiben droht (vgl. BVerfG, Urt. 8.4.2002, aaO, S. 778; BVerfGE 49, 70, 86). bb) Eine Verletzung des Beweiserhebungsrechts der Minderheit liegt außerdem vor, wenn die Begründung der Ausschussmehrheit für die Ablehnung oder den NichtVollzug eines Beweisantrages nicht mit Verfassungsrecht vereinbar ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stehen die parlamentarische Autonomie und die besondere Natur des Untersuchungsverfahrens als Aufklärungsinstrument im Rahmen der politischen Kontroverse einer umfassenden verfassungsgerichtlichen Nachprüfung von Mehrheitsentscheidungen entgegen. Die Begründung für die Ablehnung eines Beweisantrages ist jedoch darauf überprüfbar, ob sie nachvollziehbar und der Wertungsrahmen insbesondere bei der Auslegung des Untersuchungsauftrags in vertretbarer Weise ausgefüllt worden ist (Urt. v. 8.4.2002, aaO, S. 775). Dem schließt sich der Staatsgerichtshof für die Gewährleistung des Beweiserzwingungsrechts aus Art. 35 Abs. 2 S. 2 LV an. Danach steht der qualifizierten Ausschussminderheit ein aus dem Rechtsstaatsprinzip folgender, verfassungsgerichtlich nachprüfbarer Anspruch auf willkürfreie Rechtsentscheidung des Untersuchungsausschusses zu. Dieser Anspruch ist verletzt, wenn die Begründung für die Ablehnung einer von der Ausschussminderheit gewünschten Beweiserhebung durch die Ausschussmehrheit nicht zumindest vertretbar und nachvollziehbar ist, LVerfGE 13

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sondern auf sachwidrigen Erwägungen beruht. Der gleiche Prüfungsmaßstab gilt für die Nachprüfung von rechtlich relevanten Handlungen des Ausschussvorsitzenden, soweit dieser - wie bei § 6a UAG - im Rahmen seiner verfahrensleitenden Position mit Entscheidungsbefugnissen ausgestattet ist, deren Ausübung Einfluss haben kann auf die effektive Wahrnehmung der Aufklärungs- und Kontrollfunktion des Ausschusses (zur Willkürkontrolle Nds. StGH, Urt. v. 16.1.1986, NVwZ 1986, S. 827, 828; vgl. aber BayVerfGH, Urt. v. 27.11.1985, DVB1 1986, 233, 235, wonach eine „Obliegenheit" der Mehrheit bestehe, die Ablehnungsgründe so deutlich wie möglich zu erklären). 6. Hieran gemessen vermag der Staatsgerichtshof nicht festzustellen, dass durch die Entscheidung des Antragsgegners, entgegen dem im Antrag vom 5.7.2002 artikulierten Willen der qualifizierten Ausschussminderheit keine Sitzung des Untersuchungsausschusses „Atomaufsicht in Baden-Württemberg" für den 12.7.2002 einzuberufen, das Beweiserzwingungsrecht der qualifizierten Minderheit aus Art. 35 Abs. 2 S. 2 LV in verfassungswidriger Weise verletzt worden ist. a) Die Antragsteller sind der Auffassung, die Ablehnung des Terminierungsantrages mit der ihnen am 10.7.2002 bekannt gegebenen Begründung des Antragsgegners sei mit der Bestimmung des § 6a UAG unvereinbar. Damit rügen sie der Sache nach einen Verstoß gegen Bestimmungen des einfachen Gesetzesrechts, zu denen die Regelung des sog. Sitzungserzwingungsrechts (§ 6a UAG) gehört. aa) Das Sitzungserzwingungsrecht der Ausschussminderheit wurde durch Gesetzesänderung vom 12.12.1983 (GBl. S. 834) in das baden-württembergische Untersuchungsausschüssegesetz eingefügt und durch Gesetz vom 11.10.1993 (GBl. S. 605) erweitert. Gemäß § 6a S. 1 UAG beruft der Vorsitzende den Ausschuss unter Angabe der Tagesordnung ein. Nach S. 2 in der geltenden Fassung ist der Vorsitzende zur Einberufung der Sitzung des Untersuchungsausschusses binnen einer Woche verpflichtet, wenn dies von mindestens einem Viertel der Ausschussmitglieder oder von zwei Fraktionen durch deren Sprecher im Ausschuss unter Angabe des Beratungsgegenstandes verlangt wird. bb) Das Recht der Minderheit, die Einberufung einer Aus schuss sitzung zu erzwingen, kann auch der effektiven verfahrensmäßigen Gewährleistung und Durchsetzung des Beweiserzwingungsrechts aus Art. 35 Abs. 2 S. 2 LV dienen. Dem Sitzungserzwingungsrecht kommt insoweit eine prozedurale Schutzfunktion in Bezug auf das verfassungsmäßige Recht der antragstellenden (Ausschuss-)Minderheit auf Erhebung der von ihr für erforderlich erachteten Beweise zu. Dies schließt mit ein, dass im Einzelfall von Verfassungs wegen die Einberufung einer Ausschusssitzung zur Sicherung dieses Minderheitsrechts aus Art. 35 Abs. 2 S. 2 LV geboten sein kann. cc) Damit ist das Sitzungserzwingungsrecht, wie es in § 6a UAG seine konkrete Ausgestaltung gefunden hat, aber noch nicht in den Rang eines verfasLVerfGE 13

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sungsmäßig geschützten Minderheitsrechts erhoben worden. Den einzelnen Regelungen in § 6a UAG kommt nicht allein deswegen Verfassungsrang zu, weil die Landesverfassung in Art. 35 Abs. 4 S. 1 LV hinsichtlich der Einsetzung, der Befugnisse und des Verfahrens der Untersuchungsausschüsse auf dieses Gesetz verweist. b) Der Staatsgerichtshof ist von Verfassungs wegen grundsätzlich gehindert, im Rahmen des landesverfassungsrechtlichen Organstreitverfahrens die Anwendung und Einhaltung der Vorschriften des einfachen Gesetzesrechts nachzuprüfen. Er entscheidet im Verfahren nach Art. 68 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 LV allein über die „Auslegung dieser Verfassung". Prüfungsmaßstab des Staatsgerichtshofs ist damit ausschließlich die Auslegung und Anwendung spezifischen Verfassungsrechts. Dabei ist allerdings auch die Auslegung und Anwendung einfach-gesetzlicher Normen, soweit diese Grundsätze der Verfassung wiedergeben und konkretisieren, einer verfassungsgerichtlichen Uberprüfung zugänglich. Dasselbe gilt, soweit diese Normen den Schutz verfassungsmäßig garantierter Rechte absichern. Dies zugrundegelegt, würde eine unter Verletzung der prozeduralen Schutzbestimmung des § 6a UAG erfolgte Ablehnung des Ausschussvorsitzenden, eine Sitzung einzuberufen, dann einen Verfassungsverstoß darstellen, wenn dieses Verhalten zugleich — materiell-rechtlich (siehe unten aa) — geeignet ist, das aus Art. 35 Abs. 2 S. 2 LV folgende verfassungsmäßige Recht der Ausschussminderheit auf angemessene Beteiligung an den Beweiserhebungen auszuhöhlen und dadurch den Aufklärungszweck des Ausschusses zu gefährden oder aber - formell-rechtlich (siehe unten bb) — die gegebene Begründung für die Ablehnung als willkürlich bzw. schlechterdings nicht nachvollziehbar angesehen werden muss. Beides vermag der Staatsgerichtshof indessen im vorliegenden Fall nicht zu erkennen. aa) Es ist weder hinreichend dargelegt noch sonst ersichtlich, dass die Nichteinberufung des Untersuchungsausschusses für den 12.7.2002 objektiv geeignet war, das Beweiserzwingungsrecht der qualifizierten Minderheit zu beeinträchtigen oder auszuhöhlen. Insbesondere lässt sich nicht erkennen, dass durch diese Entscheidung die Aufklärungsarbeit des Untersuchungsausschusses nachhaltig behindert oder gar einseitig im Sinne der Mehrheitsinteressen verhindert worden wäre. Den Antragstellern ist zwar einzuräumen, dass der Vollzug des Beweisantrages Nr. 8, der bereits in der 3. Sitzung des Untersuchungsausschusses am 24.4.2002 einvernehmlich beschlossen worden war, bei einem entsprechenden Mehrheitswillen im Ausschuss aufgrund der erfolgten Terminsabsprachen mit den im Beweisantrag benannten Zeugen wohl schon zu einem früheren Zeitpunkt als zum 25.9.2002 möglich gewesen wäre. Daraus folgt aber nicht die Verfassungswidrigkeit der allein streitgegenständlichen Entscheidung des Antragsgegners im Hinblick auf das Beweiserhebungsrecht der qualifizierten Minderheit.

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Für die Gewährleistung des Art. 35 Abs. 2 S. 2 LV wäre die Entscheidung des Antragsgegners nur relevant, wenn die Einberufung einer Sitzung für diesen Termin von Verfassungs wegen veranlasst gewesen wäre, weil ansonsten der Vollzug des Beweisantrages Nr. 8 auf unabsehbare Zeit oder gar dauerhaft zu unterbleiben drohte. Hiervon konnte indessen keine Rede sein und zwar nicht nur deswegen, weil der Ausschuss in derselben Sitzung die Einvernahme der im Beweisantrag Nr. 8 benannten Zeugen für den 25.9.2002 beschlossen hat. Auch im Übrigen sind keine Anhaltspunkte vorgetragen oder dafür ersichtlich, dass der Vollzug des Beweisantrages Nr. 8 nach dem Willen der Ausschussmehrheit oder des Vorsitzenden nachhaltig, eventuell bis zum Ende des Untersuchungsausschusses „Atomaufsicht in Baden-Württemberg" infolge Diskontinuität, behindert oder gar vereitelt werden sollte. Der Ausschuss hatte ausweislich der Ausschussprotokolle (vgl. etwa Protokoll der 4. Sitzung vom 30.4.2002, S. 181) zwar mehrheitlich die Linie verfolgt, entgegen der Reihenfolge der verabschiedeten Beweisanträge zunächst die fachlich mit der Angelegenheit betrauten Zeugen, wie sie auch in den Beweisanträgen Nr. 10, 11 und 12 benannt worden waren, zu vernehmen und erst anschließend die „politischen" Zeugen, wie den Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, zu hören. Dies ist verfassungsgerichtlich ebenso wenig zu beanstanden wie der Umstand, dass aufgrund der Ablehnimg der für den 12.7.2002 beantragten Sondersitzung durch den Antragsgegner die Beweiserhebung entsprechend dem Beweisantrag Nr. 8 frühestens in der ersten Sitzung nach der Sommerpause des Untersuchungsausschusses (10.7.2002 — 25.9.2002), also am 25.9.2002 erfolgen konnte. Insbesondere ist es für die Gewährleistung des Art. 35 Abs. 2 S. 2 LV unbeachtlich, dass durch diese Verzögerung der Vollzug des Beweisantrages Nr. 8 erst zu einem Zeitpunkt in Betracht kam, der nach dem Tag der Bundestagswahl (22.9.2002) lag. Der Termin zur Bundestagswahl ist für die Erfüllung der Aufklärungsaufgabe eines Landtagsuntersuchungsausschusses für sich genommen irrelevant. Etwas anderes könnte allenfalls dann gelten, wenn infolge der eintretenden Diskontinuität auf Bundesebene die Erhebung eines Beweises durch den Untersuchungsausschuss des Landtages in Frage gestellt oder gegenstandslos würde; auch hierfür ist weder etwas vorgetragen noch ersichtlich. bb) Auch die Begründung des Antragsgegners für die Nichteinberufung der Sondersitzung hält einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung stand. Der Antragsgegner hat die Ablehnung des Terminierungsantrages tragend damit begründet, § 6a UAG könne nur dann angewandt werden, wenn ein zusätzlicher Sachverhalt hinzukomme, wie er allein im bisherigen Gebaren des Untersuchungsausschusses liegen könne. Nur beim Hinzukommen eines zusätzlichen Sachverhalts, wie er etwa in Verschleppungstatbeständen zu suchen sein könne, sei er als Ausschussvorsitzender zur Einberufung einer Sondersitzung gem. § 6a UAG verpflichtet. Da vorliegend kein solcher zusätzlicher Sachverhalt verwirklicht sei, habe eine entsprechende Verpflichtung für ihn nicht bestanden. LVerfGE 13

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Diese Begründung könnte rechtlichen Bedenken unterliegen. Weder dem Wortlaut der Bestimmung noch ihrer Entstehungsgeschichte lassen sich zwingende Anhaltspunkte für das Erfordernis eines „zusätzlichen Sachverhaltes" in Form von Verschleppungstatbeständen oder Ahnlichem entnehmen. Gegen ein solches ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal könnten auch Sinn und Zweck des § 6a UAG sprechen. Die Gefahr eines Missbrauchs des Sitzungserzwingungsrechts durch die Minderheit wäre bei einem dahingehenden Normverständnis des § 6a UAG gering. Denn der Ausschussvorsitzende kann in jedem Fall nicht zur Einberufung einer Sitzung und Durchführung einer Beweisaufnahme verpflichtet sein, wenn diese außerhalb des Untersuchungsauftrags liegt oder rechtswidrig ist oder lediglich der Verzögerung dient oder aber offensichtlich missbräuchlich ist (vgl. BVerfG, Urt. v. 8.4.2002, aaO, S. 775). (b) Ob die Ablehnung des Terminierungsantrages durch den Antragsgegner unter Würdigung des § 6a UAG einfach-gesetzlich tragfähig ist, kann jedoch dahinstehen, da die Begründung jedenfalls den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt. Die Antragsteller haben nicht substantiiert dargelegt, dass die Auslegung und Anwendung der Bestimmung des § 6a UAG, auf der die Begründung des Antragsgegners im Wesentlichen fußt, willkürlich oder sonst im Lichte des Art. 35 Abs. 2 S. 2 LV verfassungsgerichtlich zu beanstanden ist. Ein Verstoß gegen das Willkürverbot liegt nur dann vor, wenn die angegriffene Entscheidung unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich anhand objektiver Kriterien der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht. Die fehlerhafte Anwendung und Auslegung eines Gesetzes allein lässt sie nicht willkürlich erscheinen. Willkür setzt voraus, dass eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder der Inhalt einer Vorschrift in krasser Weise missgedeutet wird. Daran fehlt es, wenn die Entscheidung das Ergebnis einer eingehenden Auseinandersetzung mit der Rechtslage ist und die ihr zugrunde liegende Auffassung nicht jedes sachlichen Grundes entbehrt (vgl. BVerfGE 96, 189, 203 mwN). Danach lässt sich ein willkürliches Verhalten des Antragsgegners hier nicht feststellen. Selbst wenn dieser im Rahmen seiner Begründung von einem unzutreffenden Normverständnis des § 6a UAG ausgegangen sein sollte, drängt sich nicht der Schluss auf, dass die Ablehnung des Terminierungsantrages ausschließlich auf sachfremden Erwägungen, wie solchen der politischen Opportunität oder des parteitaktischen Kalküls beruht. Die Begründung des Antragsgegners ist vor dem Hintergrund der im parlamentarischen Bereich zu diesem Zeitpunkt bestehenden Unsicherheit über eine Auslegung des § 6a UAG und den hierzu vorliegenden rechtsgutachterlichen Äußerungen auch nicht offensichtlich unhaltbar. Das in der Begründung des Antragsgegners zum Ausdruck kommende Normverständnis entspricht dem des Vertreters der Landtagsverwaltung, wie es dieser in LVerfGE 13

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der 6. Sitzung des Untersuchungsausschusses am 10.7.2002 mündlich dargelegt und im Nachgang dazu mit Stellungnahme vom 16.7.2002 schriftlich ausgeführt hat. Stellt man in Rechnung, dass die Landtagsverwaltung im parlamentarischen Bereich streng zur Unparteilichkeit verpflichtet ist und deshalb nicht als Stimme der Landtagsmehrheit oder -minderheit angesehen werden kann, so kann das in seiner Begründung zum Ausdruck kommende Normverständnis des Antragsgegners, das sich mit jenem der Landtagsverwaltung deckt, jedenfalls nicht als schlechterdings unvertretbar und damit als willkürlich angesehen werden, zumal es eine Auslegungsfrage des § 6a UAG betraf, die bis dahin weder im Parlament streitig noch fachgerichtlich oder verfassungsgerichtlich geklärt war. Der Antrag ist daher zurückzuweisen. III.

Das Verfahren vor dem Staatsgerichtshof ist kostenfrei (§ 55 Abs. 1 StGHG). Zu einer Entscheidung nach § 55 Abs. 3 StGHG besteht keine Veranlassung.

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Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin

Die amtierenden Richterinnen und Richter des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin Prof. Dr. Helge Sodan, Präsident Dr. Ulrich Storost, Vizepräsident Angelika Bellinger Dr. Klaus-Martin Groth Andreas Knuth Dr. Dietrich Mahlo Dr. Renate Möcke Prof. Dr. Albrecht Randelzhofer Martina Zünkler

Rentenversorgung f. Verfolgten des Nationalsozialismus

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Nr. 1 Dass § 12 Abs. 1 PrVG keine Regelung enthält, wonach anerkannte Verfolgte des Nationalsozialismus, die schwerbehindert sind, schon vor Erreichen der allgemeinen Altersgrenze Anspruch auf Altersrentenversorgung nach dieser Vorschrift haben, verstößt weder gegen das Grundrecht auf Gleichbehandlung noch gegen das Verbot der Benachteiligung Behinderter. Verfassung von Berlin Art. 10 Abs. 1, Art. 11 Gesetz über die Anerkennung und Versorgung der politisch, rassisch oder religiös Verfolgten des Nationalsozialismus § 12

Beschluss vom 24. Januar 2002 - VerfGH 148/01 in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Herrn Dr. S. gegen 1. 2. 3.

das Urteil des Kammergerichts vom 2. August 2001 — 19 U (Entsch) 1/01 — das Urteil des Landgerichts Berlin vom 7. Dezember 2000 - 33.0.(Entsch) 14/00 den Bescheid des Landesverwaltungsamts Berlin vom 25. September 2000 — III A 4-607637 Entscheidungsformel: Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei. Auslagen werden nicht erstattet. Gründe: I.

1. Der im August 1940 geborene Beschwerdeführer, von Beruf Vorsitzender Richter, ist gem. § 2 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes über die Anerkennung und Versorgung der politisch, rassisch oder religiös Verfolgten des Nationalsozialismus (PrVG) idF vom 21. Januar 1991 (GVB1. S. 38) als Verfolgter anerkannt. Durch LVerfGE 13

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Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin

Bescheid des Versorgungsamts Berlin vom 6.9.1996 wurde bei ihm das Vorliegen mehrerer Behinderungen mit einem Grad der Behinderung von 50 festgestellt. Im Januar 2000 teilte er dem Landesverwaltungsamt Berlin mit, er beabsichtige, von der in § 4 Abs. 3 des Berliner Richtergesetzes für Schwerbehinderte iSd § 1 des Schwerbehindertengesetzes vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch zu machen, sich mit Vollendung des 60. Lebensjahres in den Ruhestand versetzen zu lassen, und beantragte sinngemäß, ihm ab seiner Pensionierung Rentenversorgung gem. § 12 Abs. 2 PrVG zu gewähren. Nach Einholung zweier fachärztlicher Gutachten über den Gesundheitszustand des Beschwerdeführers lehnte das Landesverwaltungsamt diesen Antrag ab, weil die darin festgestellten Gesundheitsstörungen den Beschwerdeführer nicht soweit behinderten, dass er seinen Beruf als Vorsitzender Richter nicht mehr ausüben könnte. Die dagegen gerichtete Klage wurde vom Landgericht Berlin durch Urteil vom 7.12.2000 als unbegründet abgewiesen, da der Beschwerdeführer nicht erwerbsunfähig iSv § 12 Abs. 2 PrVG sei. Dass er mit einem Grad der Behinderung von 50 schwerbehindert iSv § 1 des Schwerbehindertengesetzes sei, reiche dafür nicht aus. In Anbetracht seines Gesundheitszustandes und seines konkret ausgeübten Berufs sei er in zumutbarer Weise in der Lage, die Hälfte des Einkommens einer gesunden Person zu erzielen. Die dagegen eingelegte Berufung wurde vom Kammergericht durch Urteil vom 2.8.2001 als unbegründet zurückgewiesen. Die Voraussetzungen des § 12 Abs. 2 PrVG lägen nicht schon deshalb vor, weil der Beschwerdeführer aufgrund seiner anerkannten Schwerbehinderung berechtigt sei, vor Vollendung des 65. Lebensjahres in den Ruhestand zu treten. Dem stehe der eindeutige Wortlaut der Vorschrift entgegen, der die Gewährung einer Versorgungsrente von engeren Voraussetzungen abhängig mache als das Rentenrecht oder das Beamtenversorgungsrecht. Nichts anderes ergebe sich aus dem Zweck des Verfolgtengesetzes, der durch das Bundesentschädigungsgesetz eingeschränkten Kompetenz des Landesgesetzgebers und der fehlenden Anpassung des § 12 Abs. 2 PrVG an die in den 1970er Jahren vorgenommenen Änderungen des Rentenrechts. Auch aus der Anerkennung als Schwerbehinderter mit einem Grad der Behinderung von 50 folge nicht das Vorliegen der Voraussetzungen des § 12 Abs. 2 PrVG. Gegen die Auslegung dieser Vorschrift im Sinne des Beschwerdeführers spreche schließlich, dass § 12 PrVG nicht einmal für den von Gesundheitsschäden iSd § 4 Abs. 3 PrVG betroffenen Kreis von Verfolgten eine Sonderregelung enthalte. Es komme somit entscheidend darauf an, ob unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen des Eintritts des Klägers in den Ruhestand und unabhängig vom Grad der anerkannten Behinderung die Voraussetzungen des § 12 Abs. 2 PrVG vorlägen. Das sei nicht der Fall. Aus der Berechtigung, in den Ruhestand zu treten, könne keine Unzumutbarkeit einer Erwerbstätigkeit im Sinne dieser Vorschrift gefolgert werden. Der Begriff der Unzumutbarkeit knüpfe zudem nicht an die gesundheitlichen Möglichkeiten des Betroffenen, sondern an seine Kenntnisse und FähigkeiLVerfGE 13

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ten an. Abzustellen sei darauf, ob sein gegenwärtiger Gesundheitszustand dem Beschwerdeführer erlaube, aus einer angemessenen Berufstätigkeit 50% des Einkommens einer vergleichbaren gesunden Person zu erzielen. Dies sei nach den im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten der Fall. Als weiteres Indiz komme der festgestellte Grad der Behinderung von 50 hinzu. Entscheidend komme weiter hinzu, dass der Beschwerdeführer seine Vollzeittätigkeit über den Zeitpunkt des möglichen Eintritts in den Ruhestand hinaus fortgeführt habe, obwohl er nach eigenem Vortrag auf die Versorgungsrente zu seiner Absicherung nicht angewiesen sei. 2. Mit der Verfassungsbeschwerde gegen die genannten gerichtlichen Urteile und den ablehnenden Bescheid des Landesverwaltungsamts rügt der Beschwerdeführer einen Verstoß gegen Art. 10 und 11 der Verfassung von Berlin - VvB - . § 12 PrVG sei verfassungskonform dahin auszulegen, dass anerkannten Verfolgten, die schwerbehindert sind, ab Vollendung des 60. Lebensjahres auf Antrag ohne medizinische und sonstige Prüfung auch die Zusatzversorgung nach dem PrVG zu gewähren sei. Zwar enthalte § 12 PrVG keine ausdrückliche Regelung für Behinderte. In Verbindung mit der Auslegung der Norm in den angefochtenen Entscheidungen liege darin jedoch ein Verstoß gegen die genannten Grundrechte, weil § 12 PrVG anders als alle anderen bundes- und landesrechtlichen Regelungen für Behinderte im Renten- und Beamtenversorgungsrecht die Altersversorgung auf Antrag ab dem 60. Lebensjahr nur eröffnen solle, wenn die Betroffenen nicht mehr in der Lage seien, durch eine zumutbare Tätigkeit die Hälfte eines Aktiveinkommens zu verdienen. Dadurch würden anerkannt verfolgte Behinderte über 60 anders, nämlich schlechter als über 60jährige Behinderte aufgrund der Wertungen in allen anderen Gesetzen behandelt. Dies sei eine nach Art. 11 VvB untersagte Benachteiligung. II. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, jedoch unbegründet. Der Beschwerdeführer ist durch die von ihm angegriffenen Entscheidungen nicht in den von ihm geltend gemachten, in der Verfassung von Berlin enthaltenen Rechten verletzt. 1. Der Beschwerdeführer macht der Sache nach zunächst geltend, es verstoße gegen den in Art. 10 Abs. 1 VvB enthaltenen Gleichbehandlungsgrundsatz, dass § 12 PrVG Behinderten die Altersversorgung auf Antrag ab dem 60. Lebensjahr nur unter der Voraussetzung überwiegender Erwerbsminderung eröffne, während das Renten- und Beamtenversorgungsrecht diese zusätzliche Voraussetzung nicht verlange. Dieser Einwand ist unbegründet. Der Beschwerdeführer verkennt insoweit, dass § 12 PrVG in seinen beiden Absätzen zwei unterschiedliche Arten der Rentenversorgung regelt, nämlich in Abs. 1 eine von der Erwerbsfähigkeit unabhängige Rente wegen Alters und in Abs. 2 eine vom Alter unabhängige LVerfGE 13

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Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Insoweit unterscheidet sich § 12 nicht von den entsprechenden Regelungen des Rechts der gesetzlichen Rentenversicherung (vgl. §§ 35, 43 SGB VI), so dass die gerügte Ungleichbehandlung bei der Auslegung des § 12 Abs. 2 PrVG nicht vorliegt. Was der Beschwerdeführer in Wahrheit beanstandet, ist das Fehlen einer dem § 37 SGB VI bzw. § 77 Abs. 4 Nr. 1 LBG entsprechenden Regelung, wonach schwerbehinderte Menschen schon vor Erreichen der allgemeinen Altersgrenze Anspruch auf Altersrente bzw. Ruhegehalt haben, in § 12 Abs. 1 PrVG. Darin liegt jedoch kein Verstoß gegen das Grundrecht auf Gleichbehandlung. Aus diesem Grundrecht folgt nämlich kein verfassungsrechtliches Gebot, ähnliche Sachverhalte in verschiedenen Ordnungsbereichen mit anderen systematischen und sozialgeschichtlichen Zusammenhängen gleich zu regeln (vgl. BVerfGE 40, 121, 139 f; 43, 13, 21; 75, 78, 107 zum inhaltsgleichen Art. 3 Abs. 1 GG). Die verschiedene Behandlung der Behinderten im Sozialversicherungs- und Beamtenversorgungsrecht einerseits und im Gesetz über die Anerkennung und Versorgung der politisch, rassisch oder religiös Verfolgten des Nationalsozialismus andererseits ist verfassungsrechtlich schon deshalb nicht zu beanstanden, weil dieses Gesetz wegen seiner besonderen Zweckbestimmung mit den Regelungen des Sozialversicherungs- und Beamtenversorgungsrechts nicht zu vergleichen ist. Es handelt sich um ein soziales Betreuungsgesetz mit Ehrungscharakter, das für eine relativ kleine Gruppe Verfolgter, die sich nach Art und Schwere der erlittenen Verfolgung aus dem Kreis der NS-Verfolgten heraushebt, eine besondere Anerkennung und eine zusätzliche Betreuung und Versorgung vorsieht (vgl. Beschl. v. 3.9.1998 - VerfGH 14/98 - , S. 5 mwN). Demgegenüber knüpfen die Leistungen der Sozialversicherung in erster Linie an Beitragszahlungen an, während die Versorgung des Ruhestandsbeamten eine Gegenleistung aus dem Beamtenverhältnis ist. Wenn der Gesetzgeber in diesen Ordnungsbereichen, die nahezu alle in Deutschland lebenden Menschen betreffen, behinderten Menschen aus sozialen Gesichtspunkten besondere Vergünstigungen zugesteht, folgt daraus kein verfassungsrechtliches Gebot, in einem anderen Ordnungsbereich, der nur einen eng umrissenen Personenkreis betrifft, Behinderten genau dieselben Vorteile zu gewähren. Art. 10 Abs. 1 VvB wäre auch dann nicht verletzt, wenn § 12 PrVG die Altersversorgung anders regeln sollte als vergleichbare Rechtsvorschriften in anderen Bundesländern. Der Landesgesetzgeber ist mit Rücksicht auf die föderale Struktur der Bundesrepublik Deutschland nur gehalten, den Gleichheitssatz innerhalb des Geltungsbereichs der Landesverfassung zu wahren. Die Verfassungsmäßigkeit eines Landesgesetzes kann daher unter dem Aspekt des Gleichheitssatzes nicht in Zweifel gezogen werden, weil dieses von vergleichbaren Regelungen in anderen Bundesländern abweicht (s. BVerfGE 10, 354, 371; 12, 319, 324; 17, 319, 331; 27,175,179; 51, 43, 58 f; 93, 319, 351; std. Rspr.).

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Rentenversorgung f. Verfolgten des Nationalsozialismus

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2. Nichts anderes folgt im Ergebnis aus Art. 11 VvB. Das mit Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG inhaltsgleiche Benachteiligungsverbot in Satz 1 dieser Vorschrift will den Schutz des allgemeinen Gleichheitssatzes nach Art. 10 Abs. 1 VvB für Behinderte verstärken und der staatlichen Gewalt insoweit engere Grenzen vorgeben, als die Behinderung nicht als Anknüpfungspunkt für eine - benachteiligende - Ungleichbehandlung dienen darf (vgl. Beschl. v. 18.6.1998, - VerfGH 104,104 A/97 LVerfGE 8, 62, 65 mwN). Darum geht es im vorliegenden Fall jedoch nicht. Die Verfassungsbeschwerde rügt nicht, dass Behinderte durch § 12 PrVG wegen ihrer Behinderung rechtlich schlechter gestellt werden als Nichtbehinderte. Vielmehr hält sie es für verfassungswidrig, dass § 12 PrVG für den Anspruch auf Altersrentenversorgung — anders als andere Gesetze - keine Bevorzugung von Behinderten normiert. Solche Bevorzugungen sind jedoch — mögen sie auch erlaubt und sozialpolitisch wünschenswert sein — nicht ohne weiteres auch verfassungsrechtlich geboten. Zwar wird durch die in Art. 11 Abs. 2 VvB niedergelegte Verpflichtung des Landes zur Schaffung gleichwertiger Lebensbedingungen für Menschen mit und ohne Behinderungen nicht nur die Bedeutung des Benachteiligungsverbots unterstrichen, sondern dieses gleichzeitig um einen staatlichen Förderungs- und Integrationsauftrag ergänzt. Vor diesem Hintergrund ist eine Benachteiligung iSd Art. 11 Abs. 1 VvB nicht nur bei Regelungen gegeben, die die Situation des Behinderten wegen seiner Behinderung verschlechtern, indem ihm etwa Leistungen, die grundsätzlich jedermann zustehen, verweigert werden. Vielmehr kann eine Benachteiligung auch bei einem Ausschluss von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten durch die öffentliche Gewalt gegeben sein, wenn dieser nicht durch eine auf die Behinderung bezogene Förderungsmaßnahme kompensiert wird (vgl. Beschl. v. 18.6.1998, aaO). Auch darum geht es vorliegend jedoch nicht. Der Beschwerdeführer legt nicht dar, dass Behinderte durch die Rechtslage typischerweise gezwungen sind, schon mit Vollendung des 60. Lebensjahres ihre Berufstätigkeit aufzugeben. Außerdem ist nichts dafür vorgetragen, dass die Inanspruchnahme des Rechts auf vorzeitigen Bezug von Altersrente nach § 37 SGB VI bzw. auf vorzeitigen Eintritt in den Ruhestand nach § 77 Abs. 4 Nr. 1 LBG für als politisch Verfolgte des Nationalsozialismus anerkannte Behinderte typischerweise mit solchen finanziellen Nachteilen verbunden ist, dass sie — neben dem nur für Fälle überwiegend verminderter Erwerbsfähigkeit geltenden § 12 Abs. 2 PrVG durch einen Anspruch auf von weiteren Voraussetzungen unabhängige vorzeitige Altersrentenversorgung in Ergänzung des § 12 Abs. 1 PrVG kompensiert werden müssten. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG. Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

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Nr. 2 Das Besitzrecht des Mieters an der Wohnung kann dem verfassungsrechtlichen Eigentumsschutz unterliegen, wenn dem Mieter durch die Gestaltung des Mietvertrags, insbesondere durch Vereinbarung eines besonders niedrigen Mietzinses verbunden mit einem zeitweiligen Verzicht auf das Recht der Mieterhöhung, ein besonderer Vermögensvorteil zugewendet worden ist. Verfassung von Berlin Art. 23 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch §§ 556a, 564b Beschluss vom 16. Mai 2002 - VerfGH 124/01, 124 A/01 in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung 1. 2. 3.

der Frau B. des Herrn S. der Frau H.

Verfahrensbevollmächtigter: Rechtsanwalt W. gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 10. Juli 2001 - 65 S 444/00 Beteiligte gem. § 53 Abs. 1 und 2 VerfGHG: 1. 2.

Präsident des Landgerichts Grundstücksgemeinschaft W. Entscheidungsformel:

Das Urteil des Landgerichts Berlin vom 10. Juli 2001 - 65 S 444/00 verletzt die Beschwerdeführer zu 1. und 2. in ihrem Grundrecht aus Art. 23 Abs. 1 Satz 1 der Verfassung von Berlin. Das Urteil wird insoweit aufgehoben und die Sache an das Landgericht Berlin zurückverwiesen. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen. LVerfGE 13

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Damit erledigt sich zugleich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei. Das Land Berlin hat den Beschwerdeführern zu 1. und 2. die notwendigen Auslagen zu erstatten. Gründe: I. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen ein Berufungsurteil, durch das einer auf Eigenbedarf gestützten Räumungsklage gegen die Beschwerdeführer stattgegeben wurde. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens, eine aus 17 Personen bestehende Gesellschaft bürgerlichen Rechts, ist seit 1995 Eigentümerin und Vermieterin, die Beschwerdeführer zu 1. und 2. sind seit Februar 1994 Mieter, die Beschwerdeführerin zu 3. seit September 1999 Untermieterin einer in Berlin-Schöneberg im 4. Obergeschoss eines Vorderhauses gelegenen, 142,38 qm großen Altbauwohnung. Die Beschwerdeführer zu 1. und 2. hatten die Wohnung von zwei Voreigentümerinnen der Klägerin, deren eine die Mutter des Beschwerdeführers zu 2. war, gemietet. Im Mietvertrag vom 9. Februar 1994 war eine Kaltmiete von 700,00 DM vereinbart, die, mit Ausnahme der Betriebskosten, bis zum 1. Juli 2004 nicht erhöht werden durfte. Den Beschwerdeführern zu 1. und 2. war der Einbau einer Gas-Etagenheizung, eines Bades, einer Gäste-Toilette und einer Warmwasserbereitungsanlage sowie das Kacheln und Fliesen der Küche auf eigene Kosten gestattet. Bei Auszug sollten die Beschwerdeführer ggf. berechtigt sein, sich den Zeitwert der vorgenannten Modernisierung vom Nachmieter bzw. Wohnungseigentümer erstatten zu lassen. Die Beschwerdeführer zu 1. und 2. hatten die Wohnung vor Einzug entsprechend der Vereinbarung modernisiert und darüber hinaus sämtliche elektrischen Leitungen verlegt, die Be- und Entwässerungsleitungen erneuert und die Dielen ersetzt. Insgesamt wurde von ihnen dafür ein Betrag von ca. 80.000,00 DM aufgewandt. Die vereinbarte günstige Wohnungsmiete und der Ausschluss ihrer Erhöhung bis zum Juli 2004 war Bestandteil einer „vorweggenommenen Erbfolgeregelung" in der Familie des Beschwerdeführers zu 2. und stellte einen Ausgleich dafür dar, dass dessen Bruder in diesem Zusammenhang ein Grundstück übereignet worden war. Die Beschwerdeführer zu 1. und 2. befinden sich bis Ende 2002 in L./Afrika, wo der Beschwerdeführer zu 2., ein in Berlin vom Schuldienst beurlaubter Lehrer, im Deutschen Entwicklungsdienst tätig ist. Die Klägerin verklagte die Beschwerdeführer am 19.4.2000 vor dem AG Schöneberg auf Räumung und Herausgabe der Wohnung, nachdem sie den MietLVerfGE 13

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vertrag zum 31.5.2000 wegen Eigenbedarfs ihres damaligen geschäftsführenden Gesellschafters, des Rechtsanwalts L., gekündigt hatte. Rechtsanwalt L. und seine Lebensgefährtin lebten nach ihrem Vortrag seit 1989 im Wedding in einer beengten Hinterhauswohnung in der 4. Etage, die durch Zusammenlegung einer 1- und 1 Vi-Zimmer-Wohnung entstanden sei, nur über ein kleines Bad ohne getrennte Toilette verfuge, schlecht belichtet und, direkt unter einem nicht isolierten Dachstuhl liegend, im Winter sehr kalt sei. Zudem befinde sie sich im Einzugsbereich des Flughafens Tegel mit entsprechender Lärmbelästigung. Ihre Wohnung entspreche dem Standard einer Arbeiterwohnung aus der Zeit um 1900. Zwei ihrer Räume seien mit 9 qm und 15,4 qm sehr klein, so dass weder L. als Anwalt noch seine Lebensgefährtin als Lehrerin dort über ein für ihre Zwecke ausreichendes berufliches Arbeitszimmer verfügten. L. wolle seine Wohnung unter anderem auch deswegen aufgeben, weil diese im Hause seiner Anwaltskanzlei liege und er dort von Mandanten häufig außerhalb der Sprechzeiten in der Privatwohnung kontaktiert werde. Er habe den Wunsch, im eigenen Hause zu wohnen, zumal er dort auch die Position des Verwalters bekleide. Die Beschwerdeführer traten der Klage unter anderem wie folgt entgegen: Das Haus habe ursprünglich der Mutter des Beschwerdeführers zu 2. und deren Schwester gehört. Rechtsanwalt L. sei der Steuerberater dieser früheren Eigentümerinnen gewesen. Im Zuge von Erbschaftsregelungen, bei denen er die Schwestern steuerlich beraten habe, habe er diese bewogen, das Haus an ihn und weitere 13 Gesellschafter zu veräußern. Unter Berufung auf die mit den Beschwerdeführern zu 1. und 2. vereinbarte sehr niedrige Miete habe er den Kaufpreis für das Haus, wofür die Beschwerdeführer Zeugenbeweis antraten, um 50.000,00 D M heruntergehandelt. Er habe bei den Vertragsverhandlungen versichert, dass es sich für die Käufer ausschließlich um eine Geldanlage handele und keiner von ihnen den Bezug einer Wohnung im Hause anstrebe. Rechtsanwalt L. habe bei den Eigentümerinnen damals eine besondere Vertrauensstellung eingenommen, so dass man seinen Angaben vertraut habe, ohne sich vertraglich entsprechend abzusichern. Im Hause seien nach dem Eigentümerwechsel wiederholt Wohnungen frei geworden bzw. durch Dachausbau neu entstanden, mit denen dem Wohnbedarf des Rechtsanwalts L. und seiner Lebenspartnerin hätte entsprochen werden können. So sei namentlich eine unter der streitbefangenen Wohnung gelegene, zunächst baugleiche Wohnung im April 1997 frei gewesen, aber nicht für L. genutzt, sondern durch Umbau vergrößert und im Sommer 1999 gewerblich vermietet worden. Eine weitere Wohnung sei „nach 1997" im zweiten Stock des Vorderhauses rechts frei geworden. Diese Wohnung sei für neue Nutzer in eine 7-Zimmer-Wohnung umgewandelt worden, hätte aber ebenso gut in eine für L. passende 4-Zimmer-Wohnung verwandelt werden können, zumal L. als geschäftsführender Gesellschafter maßgeblichen Einfluss auf das Geschehen im Hause gehabt

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habe. Auch habe der Mieter im Vorderhaus, 4. Etage links, seinen Auszug aus einer ebenfalls baugleichen Wohnung bis Ende 2001 bereits angekündigt. Die Vereinbarung einer sehr niedrigen Festmiete bis zum 1.7.2004 beinhalte konkludent den Verzicht auf eine ordentliche Kündigung. Die niedrige Miete wirke sich infolge der mietrechtlichen Bestimmungen, wonach Erhöhungen nur jeweils im Umfang von maximal 20% alle drei Jahre zulässig seien, noch lange nach dem 1.7.2004 für die Beschwerdeführer zu 1. und 2. günstig aus. Auch der Kaufpreisnachiass von 50.000,00 DM beinhalte konkludent den Ausschluss einer ordentlichen Kündigung. Der Abschluss des Mietvertrages sei von den ursprünglichen Parteien so gemeint gewesen, dass die Beschwerdeführer zu 1. und 2. lebenslänglich in der Wohnung wohnen bleiben sollten. Nur deswegen hätten sie damals auch die enormen Aufwendungen für die Modernisierung auf sich genommen. Die Klägerin erwiderte, bei dem Kauf des Hauses habe es sich zunächst um ein „finanzielles Projekt" gehandelt. Das Haus habe saniert und modernisiert werden und es hätten dann erhöhte Abschreibungen nach dem Fördergebietsgesetz realisiert werden sollen. Voraussetzung hierfür sei steuerrechtlich gewesen, dass kein Eigentümer in dem Objekt selbst wohne. Also habe daran zunächst auch kein Interesse bestanden. Der Kaufabschlag in Höhe von 50.000,00 DM falle angesichts eines Gesamtkaufpreises von 3.4 Mio. DM nicht ins Gewicht. Die Wohnung unter derjenigen der Beschwerdeführer sei mit 190 qm zu groß. Sie sei nur vollgewerblich und nicht zu Wohnzwecken zu nutzen. Die Umbauarbeiten hätten schon im Sommer 1996 begonnen. Damals habe L. noch keine neue Wohnung gesucht. Die Dachgeschosswohnungen passten wegen geringer Größe bzw. schlechtem Schnitt nicht zu den Wohnbedürfnissen des L. Von der Wohnung im zweiten Obergeschoss rechts sei das Berliner Zimmer auf Mieterwunsch einer anderen Wohnung zugeschlagen worden, so dass die verbleibende 3-ZimmerWohnung für L. nun zu klein sei. Außerdem habe man in beiden Fällen die Wohnung aus Gründen der Steuerersparnis damals nicht als Eigentümer beziehen können. Auf vage Auszugsankündigungen anderer Mieter könne sich die Klägerin nicht verlassen und brauche sie sich daher auch nicht verweisen zu lassen. Die Beschwerdeführer zu 1. und 2. zahlten nur eine Netto-Kaltmiete von 420,00 DM, während eine solche in Höhe von 1.700,00 DM angemessen sei. Also hätten sie jährlich eine Ersparnis von ca. 15.000,00 DM. Dadurch seien die Einbauten längst abgewohnt. Das AG wies die Klage durch Urteil vom 9.8.2000 ab. Der Umzugswunsch des L. sei vorliegend bereits schwer nachvollziehbar. Es sei verständlich, eine unzulängliche Unterkunft aufzugeben und die Freizeit fern der eigenen Anwaltskanzlei verbringen zu wollen, aber es sei nicht verständlich, dass L. gerade in ein von ihm verwaltetes Haus ziehen wolle, wo, wie dem Gericht aus einer Vielzahl von Rechtsstreitigkeiten bekannt sei, von einer größeren Mehrheit von Mitbewohnern eine eher ablehnende bis feindselige Haltung gegenüber L. eingenomLVerfGE 13

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men werde. Dies könne aber letztlich dahinstehen. Jedenfalls habe L. seinen Wohnbedarf in einer auch die Interessen der Beschwerdeführer berücksichtigenden Weise durch Einzug in die unter der Wohnung der Beschwerdeführer liegenden, derzeit gewerblich genutzten Wohnung decken können. Dazu sei er auch verpflichtet gewesen. Es müsse von L. verlangt werden, dass er in einem gewissen Umfange einen in überschaubarer Zukunft sich abzeichnenden Eigenbedarf auch vorausschauend berücksichtige. Es hätte ihm daher freigestanden, bereits im Jahre 1999 den jetzt geltend gemachten Eigenbedarf zu erkennen und durch die vorgenannte Wohnung zu befriedigen. Das zeitliche Zusammenfallen der Neuvermietung mit der Absendung des Kündigungsschreibens mache dieses unwirksam. Daher bedürfe es vorliegend auch keiner Erörterung, ob sich aus den hier ganz eigenen Umständen bei Mietverttagsabschluss in besonderer Weise eine eigentümerähnliche Stellung der Beschwerdeführer zu 1. und 2. manifestiert habe. Gegen dieses Urteil legte die Klägerin Berufung ein. Sie wiederholte den Vortrag erster Instanz. Das soziale Umfeld der bisherigen Wohnung von Rechtsanwalt L. verschlechtere sich ständig. Das AG habe ignoriert, dass die Wohnung unter der streitbefangenen mit 190 qm für L. zu groß, ihr Umbau zu gewerblichen Zwecken schon 1996 begonnen worden sei, Eigenbedarf nicht schon „vier Jahre im Voraus" gekannt werden müsse und auf Klägerseite wegen der höheren Miete gerade an einer gewerblichen Vermietung auch Interesse bestanden habe. Es sei anerkannt, dass ein Vermieter sich nicht auf eine Alternativ-Wohnung verweisen lassen müsse, die als Gewerberaum wesentlich höhere Miete erziele. Der Kaufpreisnachlass in Höhe von 50.000,00 DM werde bestritten. Die Beschwerdeführer erwiderten, die Klägerin des Ausgangsverfahrens hätte das vom AG als Ersatzwohnung angesehene Appartement zwei Jahre lang leer stehen lassen, bevor sie es im Sommer 1999 vermietet hätte. Auch sei diese Wohnung nicht wesentlich größer als die streitbefangene. Durch Urteil vom 10.7.2001 gab das LG Berlin nach Anhörung der Lebensgefährtin von Rechtsanwalt L. als Zeugin zur Frage des Eigenbedarfs der Berufung der Klägerin statt. Die Beschwerdeführer wurden als Gesamtschuldner verurteilt, die Wohnung zu räumen und an die Klägerin geräumt herauszugeben. Ihnen wurde eine Räumungsfrist bis zum 28.2.2002 gewährt, die später auf ihren Antrag bis zum 23.4.2002 verlängert wurde. Der Eigenbedarf der Klägerin sei nachvollziehbar mit den unzulänglichen Wohnverhältnissen des Gesellschafters L. begründet und bewiesen worden. Die Eigenbedarfskündigung sei auch nicht bis zum 1.7.2004 ausgeschlossen gewesen. Dem Mietvertrag könne ein Verzicht auf das Kündigungsrecht nicht entnommen werden, und zwar auch dann nicht, wenn man den Vortrag der Beschwerdeführer unterstelle, dass der Klägerin bei Erwerb des Hauses der Kaufpreis im Hinblick auf die mit den Beschwerdeführern zu 1. und 2. vereinbarte geringe Miete reduziert worden sei. Gleiches gelte für die Äußerung des geschäftsführenden Gesellschafters der Klägerin bei Vorgesprächen zum Abschluss des Kaufvertrages, die Käufer hätten sämtlich kein Eigeninteresse LVerfGE 13

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an der Wohnung. Dass im Kaufvertrag kein Kündigungsverzicht aufgenommen wurde, gehe zu Lasten der Beschwerdeführer. Die Klägerin habe im Jahre 1994 einen Wohnbedarf ihres geschäftsführenden Gesellschafters nicht voraussehen müssen. Die Beschwerdeführer könnten die Eigentümer auch nicht auf eine Suche auf dem allgemeinen Wohnungsmarkt verweisen. Denn der Wunsch des Eigentümers, in der eigenen Mietwohnung zu wohnen, stelle ein berechtigtes Interesse dar. Vorliegend sei der Ausspruch der Kündigung auch nicht deswegen rechtsmissbräuchlich, weil eine andere Wohnung zur Verfügung gestanden habe, die den Bedarf der Klägerin angemessen und zumutbar habe decken können. Die Wohnung unter der streitbefangenen sei gewerblich genutzt und als solche auch schon vor 1999 „gewidmet gewesen". Die Klägerin sei nicht verpflichtet, eine Umwidmung vorzunehmen. Sie habe unbestritten vortragen können, dass mit der unter der Wohnung der Beschwerdeführer liegenden Wohnung ein deutlich höherer Mietzins erzielt werden könne, als dies bei einer Vermietung an Privatleute der Fall sei. Das Verhalten der Klägerin sei daher vernünftig und nachvollziehbar. Hinzu käme, dass die untere Wohnung knapp 50 qm größer als die streitgegenständliche sei und Rechtsanwalt L. diesen zusätzlichen Wohnraum nach seiner Vorstellung nicht benötige. Eine Fläche von knapp 50 qm sei nicht mehr eine nur unwesentlich größere Wohnfläche. Die Wohnungen im Dachgeschoss seien unstreitig entweder kleiner oder größer als die streitgegenständliche. Es sei der Klägerin auch nicht vorzuwerfen, dass sie bei ihrer Planung eine für ihren geschäftsführenden Gesellschafter passgerechte Wohnung nicht errichtet habe; denn der Dachgeschossausbau sei 1995 erfolgt, als seitens des L. noch kein Wohnbedarf bestanden habe. Die Klägerin sei auch weder verpflichtet, die im Jahre 1997 im 2. Obergeschoss frei gewordene Wohnung jetzt wieder zu teilen, noch verpflichtet, im Erdgeschoss frei gewordene Wohnungen nach den Wünschen des L. zusammen zu legen, zumal hiermit durch Ubergangszeiten Mietausfälle verbunden wären. Hinsichtlich der Wohnung des Mieters im 4. Obergeschoss links fehle es an einer konkreten Zusage, die Wohnung tatsächlich aufzugeben. Außerdem hätte die Klägerin in diesem Falle weitere IV2 Jahre warten müssen, was ihr nicht zugemutet werden könne. Es sei auch keine soziale Härte auf Seiten der Beschwerdeführer festzustellen. Zwar seien deren Investitionen bei Einzug erheblich gewesen, doch sei im Mietvertrag vereinbart worden, dass die Beschwerdeführer sich den Zeitwert ihrer Einbauten überwiegend bei Auszug vom Nachmieter bzw. dem Wohnungseigentümer erstatten lassen könnten. Also würden die Beschwerdeführer zu 1. und 2. durch den Auszug infolge der getroffenen Investitionen keinen wesentlichen finanziellen Verlust erleiden. Mit der am 8.9.2001 eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer eine Verletzung ihrer verfassungsmäßigen Rechte auf Eigentum und Gehör vor Gericht nach Art. 23 Abs. 1 und Art. 15 Abs. 1 VvB. LVerfGE 13

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Das angegriffene Urteil verstoße gegen Art. 23 Abs. 1 VvB, da das LG vorliegend Tragweite und Bedeutung des verfassungsrechtlichen Eigentumsschutzes für das Besitzrecht der Beschwerdeführer verkannt und insoweit keine verfassungskonforme Abwägung der beiderseitigen Eigentumsinteressen vorgenommen habe. Weder sei der Selbstnutzungswunsch der Klägerin für ihren geschäftsführenden Gesellschafter nachvollziehbar, noch habe das Gericht eine angemessene Prüfung durchgeführt, ob der Wohnungsbedarf ohne die Beanspruchung der streitbefangenen Wohnung hätte gedeckt werden können, noch habe das Gericht die soziale Härte, die in dem Verlust der Wohnung für die Beschwerdeführer läge, ausreichend gewürdigt. Der Selbstnutzungswunsch des geschäftsführenden Gesellschafters sei nicht nachvollziehbar, da nicht verständlich sei, warum seine Freizeit in einem Hause mit ihm ablehnend gesinnten Mitbewohnern besser aufgehoben sein solle als in einer Wohnung in der Nähe seiner Anwaltskanzlei. Die Ernsthaftigkeit des Selbstnutzungswunsches sei vom Gericht nicht ausreichend geprüft worden. Für die Vereinbarung einer Kaufpreisreduzierung wegen der Einnahmeverluste aufgrund eines geringen Mietzinses für die streitbefangene Wohnung sei Zeugenbeweis angeboten worden. Eine solche Vereinbarung stelle sich als Vertrag zugunsten Dritter dar. Die Annahme des LG, dass einer solchen Vereinbarung ein Verzicht auf die Eigenbedarfskündigung nicht entnommen werden könne, entbehre einer Begründung. Es sei nicht ersichtlich, dass die Verkäuferinnen einen Kaufjpreisnachlass von immerhin 50.000,00 DM eingeräumt hätten, wenn sie nicht darauf hätten vertrauen dürfen, dass der Beschwerdeführer zu 2. ohne das Risiko von Eigenbedarfskündigungen nach Maßgabe des Mietvertrages die Wohnung werde nutzen können. Auch die Annahme des Gerichts, dass dem Verzicht auf eine Mieterhöhung nicht auch konkludent ein Verzicht auf Mietkündigung entnommen werden könne, lasse eine Begründung vermissen und verkenne, dass unabdingbare Voraussetzung für den Genuss einer niedrigen Miete selbstverständlich sei, dass der Mieter überhaupt in der Wohnung verbleiben könne. Das Gericht habe den Vortrag der Beschwerdeführer übergangen, dass vorliegend ein entsprechender Passus in den Kaufvertrag oder auch nachträglich in den Mietvertrag nicht aufgenommen worden sei, weil Rechtsanwalt L. eine besondere Vertrauensstellung bei den früheren Eigentümerinnen des Hauses eingenommen habe und man nur deswegen von einer zusätzlichen rechtlichen Absicherung abgesehen habe. Die verfehlte Bewertung des LG verletze das grundrechtlich geschützte Besitzrecht der Beschwerdeführer. Das LG habe sich schließlich im Widerspruch zu der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts mit einer lediglich summarischen Ablehnung der vorhandenen Alternativ-Wohnungen begnügt. So habe es nicht berücksichtigt, dass die Wohnung unter der streitbefangenen Wohnung vor deren gewerblicher Vermietung jahrelang leergestanden habe. Nach Aussage der Zeugin habe der Selbstnutzungswunsch des Rechtsanwalts L. auch zu dieser Zeit bereits bestanden. Es sei LVerfGE 13

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rechtsmissbräuchlich gewesen, diese bereitstehende Ersatzwohnung nicht für den Eigenbedarf des L. zu nutzen. Dies habe das Gericht verkannt. Es sei weiter auch nicht erkennbar, was sich in der Zeit von 1995 bis 1997 an den Lebensbedingungen des Rechtsanwalts L. und seiner Lebensgefährtin geändert habe. Daher sei nicht nachvollziehbar, warum trotz der unzweifelhaft beengten und in jeder Hinsicht unzulänglichen Unterbringung des Paares zunächst überhaupt kein Wunsch nach Änderung der Wohnverhältnisse bestanden haben solle, nach Vermietung der vorhandenen Alternativ-Wohnung aber dieser Wunsch plötzlich aufgekommen sei, außer, dass ein früherer Selbstnutzungswunsch möglicherweise dazu geführt hätte, die Eigenbedarfskündigung als rechtsmissbräuchlich zu erkennen. Die Nachvollziehbarkeit des Entstehungszeitpunktes des Selbstnutzungswunsches des geschäftsführenden Gesellschafters sei hier verfahrensentscheidend, vom Gericht aber nicht geklärt worden. Bezüglich der Wohnung im 3. Obergeschoss habe das LG übersehen, dass diese vor der Umwidmung in identischer Größe mit der streitbefangenen Wohnung bestanden habe und erst nach ihrem Freiwerden eine Umwidmung erfolgt sei. Ferner sei auch bezüglich der Dachgeschosswohnung vom Gericht die begründungslose und nicht nachvollziehbare Behauptung der Zeugin, ein Selbstnutzungswunsch sei erst nach Errichtung der Dachgeschosswohnungen entstanden und habe daher bei deren Ausgestaltung nicht mehr berücksichtigt werden können, kritiklos übernommen worden. Schließlich sei die Frage der sozialen Härte für die Beschwerdeführer vom Gericht verfehlt gewertet worden. Die Beschwerdeführer zu 1. und 2. bezögen für ihre Tätigkeit beim Deutschen Entwicklungsdienst kein Gehalt, sondern lediglich Unterhaltsgeld. Die Investition von 80.000,00 DM habe für sie daher eine enorme finanzielle Belastung dargestellt. Es sei auch nicht erklärlich, wie das Gericht begründe, dass die investierten 80.000,00 DM bereits „abgewohnt worden" seien, denn die Vereinbarung der niedrigen Miete sei ein Ausgleich für das Erbe des Bruders des Beschwerdeführers zu 2. gewesen. Der Hinweis des Gerichts darauf, dass die Beschwerdeführer zu 1. und 2. für Gasetagenheizung, Küche, Bad und Toilette im Umfang des Zeitwerts bei Auszug Entschädigung verlangen könnten, übersehe, dass es sich bei diesen Gegenständen lediglich um einen Teil der Investitionen handele und dass diese Einbauten nach sieben Jahren Nutzzeit einen im Verhältnis zum Gebrauchswert nur relativ geringen Zeitwert aufwiesen, im Falle einer Neuanschaffung jedoch zu erheblichen Kosten führen würden. Das Gericht habe sich weder mit dem plötzlichen Eigenbedarfswunsch des geschäftsführenden Gesellschafters der Klägerin auseinandergesetzt noch mit der Unredlichkeit, die darin bestanden habe, dass er zunächst im Rahmen eines vertrauten und familiären Umgangs mit der Familie des Beschwerdeführers zu 2. die Ursache dafür gesetzt habe, dass der Kündigungsausschluss in keinen der maßgeblichen Verträge Eingang gefunden habe. Insgesamt habe das Gericht das BeLVerfGE 13

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sitzrecht der Beschwerdeführer nicht ausreichend gewürdigt und damit Tragweite und Bedeutung des Eigentumsschutzes verkannt. Das angegriffene Urteil verletze durch die Oberflächlichkeit seiner Abwägung und durch Außerachtlassen des Vortrags der Beschwerdeführer auch deren Anspruch auf rechtliches Gehör. Es habe die Widersprüchlichkeit des Vortrags der Klägerin bezüglich des Selbstnutzungswunsches des L. und den Gesichtspunkt der sozialen Härte auf Seiten der Beschwerdeführer nicht mit der gebotenen Sorgfalt geprüft. Auch sei nur ungenügend auf das Vorliegen der Alternativ-Wohnungen eingegangen worden, obwohl diese zunächst baugleich vorhanden gewesen und erst nachträglich umgestaltet bzw. umgewidmet worden seien. Das LG habe übergangen, dass diese Wohnungen davor zu Wohnzwecken zur Verfügung gestanden hätten. Im Fehlen einer angemessenen Abwägung liege auch ein Gehörsverstoß. II. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, soweit diese von der Beschwerdeführerin zu 3. erhoben wird. Aus dem dargelegten Sachverhalt und den vorgetragenen Rügen ergibt sich nämlich nicht hinreichend deutlich die Möglichkeit eines Verstoßes der angegriffenen Gerichtsentscheidung gegen die verfassungsmäßigen Rechte der Beschwerdeführerin zu 3. Die Begründung der Verfassungsbeschwerde stellt in allen ihren Teilen auf die Belange der Beschwerdeführer zu 1. und 2. ab und genügt daher in Bezug auf die Beschwerdeführerin zu 3. nicht den Begründungsanforderungen des § 50 VerfGHG. Im Übrigen ist die Verfassungsbeschwerde zulässig und begründet. Das Urteil des L G Berlin verletzt die Beschwerdeführer zu 1. und 2. in ihrem verfassungsrechtlich garantierten Eigentumsrecht aus Art. 23 Abs. 1 Satz 1 VvB. Es kann zunächst dahinstehen, ob die von den Beschwerdeführern zu 1. und 2. gerügten Ausführungen des L G in allen Einzelheiten zu überzeugen vermögen. So mag es zweifelhaft sein, ob die Klägerin, die in den bestehenden Mietvertrag als neue Eigentümerin eingetreten ist, diesen Mietvertrag angesichts der besonderen Umstände, die seinem Abschluss zugrunde lagen, dem Vertragstreuen Mieter gegenüber überhaupt kündigen durfte und ob der vorgetragene Zeitpunkt der Entstehung des Wohnbedarfs von Rechtsanwalt L. und seiner Lebensgefährtin vorliegend nachvollziehbar ist. Darauf kommt es für die Verfassungsbeschwerde nicht an. Denn dies sind Fragen des einfachen Rechts. Der Verfassungsgerichtshof ist aber keine zusätzliche gerichtliche Instanz, sondern gegenüber den Entscheidungen der Fachgerichte in seinem Prüfungsmaßstab auf die Feststellung von Verfassungsverstößen beschränkt. Die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Sachverhalts, die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den Einzelfall sind Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte (Beschl. v. 30.6.1992 - VerfGH 9 / 9 2 - , LVerfGE 1, 7 ff; std. Rspr.).

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Das Räumungsurteil des LG greift indessen auch in solche Vermögenswerten Positionen der Beschwerdeführer zu 1. und 2. ein, die dem besonderen verfassungsrechtlichen Schutz unterliegen. Ob im Rahmen der gängigen Mietverträge das Besitzrecht des Mieters an der Wohnung auch als Eigentum im verfassungsrechtlichen Sinne angesehen werden muss (grundlegend BVerfGE 89, 1, 5 ff sowie BVerfG NJW 1995, 1480 f; BVerfG NJW 1997, 2377), ist vom Verfassungsgerichtshof bisher offengelassen worden (vgl. Beschl. v. 17.3.1994 - VerfGH 139/93 LVerfGE 2, 9, 12). Die Frage braucht auch in diesem Falle nicht entschieden zu werden. Denn vorliegend handelt es sich nicht um einen üblichen Mietvertrag, bei dem sich im Rahmen des Marktgemäßen Mietzins und Wohnnutzung in etwa ebenbürtig gegenüberstehen, sondern um einen außergewöhnlichen Vertrag, mit dem der frühere Vermieter dem Mieter im Wege der „vorweggenommenen Erbfolge" durch Vereinbarung einer unverhältnismäßig günstigen Miete und durch Ausschluss der Mieterhöhung für einen längeren Zeitraum einen wirtschaftlichen Vorteil zukommen lassen wollte. Ein solcher Vertrag gewährt neben dem Besitz an der Wohnung einen sich Monat für Monat realisierenden Gewinn und stellt daher auch ein vermögenswertes Recht dar, das zum Eigentum im verfassungsrechtlichen Sinne gehört. Unter den Schutz der Eigentumsgarantie fallen im Bereich des Privatrechts grundsätzlich die Vermögenswerten Rechte, die der Berechtigte nach der Rechtsordnung gemäß eigenverantwortlicher Entscheidving zu seinem privaten Nutzen ausüben darf (BVerfGE 83, 201, 209). Vorliegend sind daher bei der Auslegung und Anwendung von § 564b Abs. 1 und 2 BGB a.F. einerseits und § 556a Abs. 1 S. 1 BGB a.F. andererseits die durch die Eigentumsgarantie gezogenen Grenzen zu wahren und die im Gesetz aufgrund verfassungsmäßiger Grundlagen zum Ausdruck kommende Interessenabwägung in einer Weise nachzuvollziehen, die den beiderseitigen Eigentumsschutz beachtet und unverhältnismäßige Eigentumsbeschränkungen vermeidet. Bei der Auslegung und Anwendung der genannten mietrechtlichen Vorschriften sind danach neben den Belangen des Vermieters, seinem Erlangungsinteresse, auch die Belange des Mieters, sein Bestandsinteresse, angemessen zu berücksichtigen, die beiderseitigen Belange gegeneinander abzuwägen und in einen verhältnismäßigen Ausgleich zu bringen (BVerfG, NJW-RR 1999, 1097, 1098). Die Auslegung des einfachen Gesetzesrechts bleibt auch hier in erster Linie Sache der zuständigen Fachgerichte und ist der Überprüfung durch den Verfassungsgerichtshof nur insoweit eröffnet, als eine Verkennung oder grundsätzlich unrichtige Anwendung von Grundrechten in Rede steht. Demgemäß ist die Schwelle eines verfassungsgerichtlich zu korrigierenden Verstoßes gegen Art. 23 Abs. 1 VvB erreicht, wenn die Auslegung des einfachen Rechts Auslegungsfehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der Eigentumsgarantie, insbesondere vom Umfang ihres Schutzbereichs, beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind. Der LVerfGE 13

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Mieter kann beanspruchen, dass das Gericht seinen Einwänden in einer Weise nachgeht, die der Bedeutung und Tragweite seines Bestandsinteresses gerecht wird. Darüber hinaus darf der Mieter nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verlangen, dass das Gericht auch bei der Auslegung der Sozialklausel des § 556a BGB a.F. und namentlich des Begriffs der „Härte" Gewicht und Tragweite seines Bestandsinteresses hinreichend erfasst und berücksichtigt (BVerfGE 89,1, 9 f). Diesen Maßstäben genügt die Entscheidung des LG nicht. Der Mietvertrag vom 9.2.1994 sieht eine Bruttokaltmiete in Höhe von 700,00 DM vor und schließt in seiner Anlage die Erhöhung dieser Miete vor dem 1.7.2004 aus. Wie von der Klägerin des Ausgangsverfahrens selbst vorgetragen, enthält dieser Kaltmietenbetrag eine Nettokaltmiete von nur 420,00 DM, während als marktüblich eine Nettokaltmiete von 1.700,00 DM anzusetzen ist. Daraus folgt, dass der bestehende Mietvertrag den Beschwerdeführern zu 1. und 2. zunächst bis zum Juli 2004 monatlich einen Vermögenswerten Vorteil in Höhe von 1.280,00 DM sichert. Da nach dem geltenden Mietrecht die Miete nach dem Juli 2004 nur höchstens um 20% alle 39 Monate erhöhbar ist, setzt sich der aus dem Mietvertrag erwachsende Vermögensvorteil auch nach diesem Datum fort. Unter der Voraussetzung des gegenwärtigen Mietrechts und unter der Annahme, dass die nach dem unbestrittenen Vortrag der Klägerin angemessene Miete in Höhe von 1.700,00 DM konstant bleibt, erwächst den Beschwerdeführern zu 1. und 2. aus dem Mietvertrag seit dem 31.5.2000, dem Termin, zu dem gekündigt worden ist, allein bis 2024 ein vermögenswerter Vorteil in Höhe von 250.000,00 DM, wenn sie das Mietverhältnis selbst oder im Wege einer Untervermietung fortsetzen. Mit der Beendigung des Mietvertrages ist ihnen daher ein Vermögenswert in mindestens dieser Höhe genommen worden. Das LG hat dies entweder nicht erkannt oder bei seiner Abwägung nicht bzw. nicht zutreffend gewürdigt. Es hat vielmehr ausgeführt, die Beschwerdeführer zu 1. und 2. erlitten durch den Auszug „keinen wesentlichen finanziellen Verlust". Damit ist eine tragende Erwägung des landgerichtlichen Urteils offensichtlich unzutreffend. Das LG hat bei Prüfung des Vorliegens einer sozialen Härte nach § 556a Abs. 1 S. 1 BGB a.F. lediglich die Frage der gegenwärtigen Ortsabwesenheit der Beschwerdeführer zu 1. und 2. sowie die Frage des Ausgleichs für den Modernisierungsaufwand geprüft. Es hat bei seiner Abwägung die außerordentliche Vermögenseinbuße auf Seiten der Beschwerdeführer außer Betracht gelassen und damit deren Eigentumsrecht verletzt. Auch dann, wenn man die Frage, ob die Mutter des Beschwerdeführers zu 2. der Klägerin mit Rücksicht auf die niedrige Miete einen Kaufpreisnachlass in Höhe von 50.000,00 DM gewährte und ob die Zahlung des Zeitwerts nur für einen Teil der durchgeführten Modernisierungsarbeiten auch den tatsächlichen Gebrauchswert aller Investitionen angemessen berücksichtigt, außer Betracht lässt, erweist sich die vorgenommene Abwägung des LVerfGE 13

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Mietrecht - Fristlose Kündigung

LG als nicht verfassungskonform. Das Gericht hat die abstrakte Wertung der Verfassung auf den vorliegenden Rechtsfall einer Eigenbedarfskündigung nicht in verfassungskonformer Weise übertragen. Das angegriffene Urteil beruht danach, soweit die Beschwerdeführer zu 1. und 2. betroffen sind, auf einem Verstoß gegen das Grundrecht auf Eigentum aus Art. 23 Abs. 1 S. 1 VvB. Einer Prüfung am Maßstab des Art. 15 Abs. 1 VvB bedarf es unter diesen Umständen nicht mehr. Nach § 54 Abs. 3 VerfGHG ist das angegriffene Urteil aufzuheben und die Sache in entsprechender Anwendung des § 95 Abs. 2 HS. 2 BVerfGG an das LG zurückzuverweisen. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG. Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

Nr. 3 Ein Gehörsverstoß ist feststellbar, wenn das Gericht die vom Wohnungsmieter detailliert dargelegten besonderen Umstände des Einzelfalls im Hinblick auf eine Treuwidrigkeit der Kündigung nicht bei seiner Entscheidung erwogen hat.* Verfassung von Berlin Art. 15 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch §§ 242, 278, 554 Abs. 1 Beschluss vom 27. September 2002 - VerfGH 63/02, 63 A/02 in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung der Frau B. Verfahrensbevollmächtigte: Rechtsanwältin M. gegen das Teilurteil des Landgerichts Berlin vom 21. März 2002 - 67 S 347/01 Beteiligte gem. § 53 Abs. 1 und 2 VerfGHG: 1. 2.

Präsident des Landgerichts Berlin F. GmbH

Verfahrensbevollmächtigte: Rechtsanwälte Dr. H., P., G. H. *

Nichtamtlicher Leitsatz.

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Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin Entscheidungsformel:

Das Teilurteil des Landgerichts Berlin vom 21. März 2002 - 67 S 347/01 verletzt das Grundrecht der Beschwerdeführerin auf rechtliches Gehör (Art. 15 Abs. 1 VvB). Es wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Berlin zurückverwiesen. Damit erledigt sich zugleich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei. Das Land Berlin hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten. Gründe: I. Die Beschwerdeführerin wendet sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen ein Teilurteil des LG, durch das ihre Berufung gegen ein amtsgerichtliches Räumungsurteil zurückgewiesen wurde. Im Jahr 1983 mietete die Beschwerdeführerin von der K. als Rechtsvorgängerin der Beteiligten zu 2 eine Zwei-Zimmer-Wohnung in einem Mehrfamilienhaus. Die monatliche Nettokaltmiete betrug ab Januar 1998 310,46 DM. Der Betriebskostenvorschuss war mit Wirkung vom 1.4.1996 von 137,58 DM um 40,31 DM auf 177,89 DM erhöht worden; die Beschwerdeführerin teilte der Beteiligten zu 2 mit Schreiben vom 27.12.1997 mit, dass sie den Erhöhungsbetrag ab Januar 1998 einbehalten werde, da die vorliegenden Betriebskostenabrechnungen bis auf eine Ausnahme stets ein Guthaben ausgewiesen hätten. Ab Dezember 1998 erfolgten Instandsetzungs- und Modernisierungsarbeiten an dem Gebäude und in der Wohnung der Beschwerdeführerin. Ab Januar 1999 minderte diese die Miete — zunächst wegen der Arbeiten, ab November 1999 auch unter Geltendmachung von Mängeln nach Durchführung der Modernisierung und Instandsetzung um Beträge zwischen 20 und 50% der monatlichen Nettokaltmieten, teilweise auch des Betriebskostenvorschusses. In den Monaten April und Mai 1999 nutzte die Beschwerdeführerin, die die Miete für diesen Zeitraum um 100% minderte, ein teilmöbliertes Ausweichquartier in einem „Mieterhotel", dessen Kosten — mit Ausnahme von Warmwasser und Strom — die Beteiligte zu 2 trug. Ab November 1999 erhob diese nach Herstellung der Heizungsanlage einen monatlichen Heizkostenvorschuss von 105,80 DM. Mit Schreiben vom 28.10.1999 erklärte sie gegenüber der Beschwerdeführerin eine Erhöhung der Nettokaltmiete wegen durchgeführter Modernisierungsmaßnahmen um monatlich 136,53 DM auf 446,99 DM und forderte ab dem 1.12.1999 eine neue Gesamtmiete von 730,68 DM einschließlich Betriebs- und Heizkostenvorschuss; die Beschwerdeführerin erachtet die Mieterhöhung als unwirksam. LVerfGE 13

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Mit Schreiben vom 27.3.2000 sprach die Beteiligte zu 2 gegenüber der Beschwerdeführerin unter Angabe eines Mietrückstands von 4.286,58 DM die fristlose, hilfsweise die ordentliche Kündigung des Mietverhältnisses wegen Zahlungsverzugs aus. Nachdem das Sozialamt im Februar 2000 1.140,27 DM - u.a. zur Deckung der Miete für den Monat März — an die Beteiligte zu 2 gezahlt hatte, erfolgten in den Monaten April bis Juni Mietzahlungen weder durch das Amt noch durch die Beschwerdeführerin. Die Beschwerdeführerin teilte der Beteiligten zu 2 mit Schreiben vom 29.7.2000 u.a. mit, erst durch ein am 19.7.2000 bei ihren Rechtsanwälten eingegangenes Schreiben vom 20.6.2000 erfahren zu haben, dass das Sozialamt ab April die Mietzahlungen eingestellt und sie selbst zur Mietzahlung für diesen Zeitraum aufgefordert habe; allerdings habe das Amt nicht mitgeteilt, wie man die Miete bezahlen solle, wenn man monatlich nur 632,01 DM Sozialhilfe und weder Mietzuschuss noch Wohngeld erhalte. Die Rechtsanwälte hätten Widerspruch gegen diese Mitteilung erhoben, zudem habe man nochmals ausdrücklich eine Aufstellung bereits getätigter Zahlungen verlangt, um Uberzahlungen festzustellen; insofern könnten erst nach Klärung dieser Angelegenheit die Mieten für April bis Juni 2000 überwiesen werden. Mit der der Beschwerdeführerin am 22.8.2000 zugestellten, unter Bezugnahme auf die Kündigung vom 27.3.2000 erhobenen Räumungsklage vom 26.7.2000 kündigte die Beteiligte zu 2 mit der Begründung, die Beschwerdeführerin habe nach Ausspruch der fristlosen Kündigung keine Zahlungen geleistet, das Mietverhältnis wegen Zahlungsverzugs vorsorglich erneut fristlos, hilfsweise fristgerecht. Die Beschwerdeführerin begehrte widerklagend die Zahlung von 12.141,00 DM nebst Zinsen wegen verschiedener Aufwendungs- und Schadensersatzforderungen gegen die Beteiligte zu 2 im Zusammenhang mit dem Mietverhältnis. Das AG Mitte verurteilte die Beschwerdeführerin mit am 25.7.2001 verkündetem Urteil - 15 C 339/00 — zur Räumung der Wohnung; ferner verurteilte es auf die Widerklage der Beschwerdeführerin die Beteiligte zu 2 zur Zahlung von 1.887,91 DM nebst Zinsen an die Beschwerdeführerin und wies die Widerklage im Übrigen ab. Zur Begründung führte es u.a. aus, die Beteiligte zu 2 sei wegen des Zahlungsverzuges der Beschwerdeführerin für zwei aufeinanderfolgende Termine (April und Mai 1999) in voller Höhe gem. § 554 Abs. 1 Nr. 1 BGB (a.F.) zur Kündigung des Mietverhältnisses berechtigt gewesen. Die Beschwerdeführerin habe diese Rückstände entgegen ihrer Auffassung auch iSv § 285 BGB zumindest wegen Fahrlässigkeit zu vertreten. Grundsätzlich trage der Mieter, der die Miete unberechtigt mindere, das Risiko der frisdosen Kündigung. Zwar werde eine maßvolle Verkennung der Minderungsquote als nicht fahrlässig angesehen; bei einer höchstens begründeten Minderung von 15% der Nettokaltmiete im vorgenannten Zeitraum fehle es hier bei einer Minderung um 100% aber an einer maßvollen Uberschätzung. Die Kündigung sei auch nicht gem. § 554 Abs. 1 S. 3 BGB (a.F.) durch Aufrechnung mit Gegenforderungen der Beschwerdeführerin unwirksam geworden; die von ihr mit Schriftsatz vom 21.9.2000 angedeutete AufrechLVerfGE 13

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nungslage greife nicht, da es an einer unverzüglichen konkreten Aufrechnungserklärung fehle. Die Kündigung sei auch nicht gem. § 554 Abs. 2 Nr. 2 BGB (a.F.) geheilt worden, da bis zum 22.9.2000 nicht sämtliche fälligen Mietzins- und Nutzungsentschädigungsansprüche befriedigt worden seien. Nachdem die Beschwerdeführerin und die Beteiligte zu 2 jeweils Berufung gegen das Urteil des AG eingelegt hatten, wies das LG die Berufung der Beschwerdeführerin gegen den die Räumung betreffenden Ausspruch in diesem Urteil durch Teilurteil vom 21.3.2002 zurück, erklärte das Teilurteil für vorläufig vollstreckbar und gewährte der Beschwerdeführerin eine Räumungsfrist bis zum 31.7.2002. Zur Begründung führt es u.a. aus: Die Beteiligte zu 2 habe einen Anspruch auf Räumung der Wohnung gegen die Beschwerdeführerin, der sich sowohl aus § 556 Abs. 1 BGB a.F. als auch aus § 985 BGB ergebe. Das Mietverhältnis sei durch die mit Schriftsatz vom 26.7.2000 ausgesprochene frisdose Kündigung beendet. Die Beschwerdeführerin habe sich zum Zeitpunkt der Abgabe und des Zugangs der Kündigungserklärung mit einem die frisdose Kündigung rechtfertigenden Mietzins im Rückstand befunden. Die Beschwerdeführerin sei im verfahrensgegenständlichen Zeitraum teilweise — allerdings in einem geringeren Maße als von ihr geltend gemacht — berechtigt gewesen, den Mietzins gem. § 537 Abs. 1 S. 1 BGB a.F. zu mindern. Aufgrund der kostenlosen Versorgung mit Ersatzwohnraum unter Berücksichtigung der mit dem Umzug in ein Hotel verbundenen Unannehmlichkeiten sowie der angezeigten baulichen Mängel im Ersatzquartier dürfte eine Minderung von höchstens 50% der Nettokaltmiete berechtigt gewesen sein; ein Minderungsrecht um 100% werde auch nicht durch die von der Verfahrensbevollmächtigten der Beschwerdeführerin angeführten Gerichtsentscheidungen belegt. Zwar hätten die ausgebliebenen Zahlungen in den Monaten April und Mai 1999 nicht dazu geführt, dass der rückständige Mietzins gem. § 554 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB a.F. den Betrag der Gesamtmiete für einen Monat überstiegen hätte. Jedoch habe sich der rückständige Mietzins im Zeitraum zwischen 4.3.1999 und 26.7.2000 auf einen Gesamtbetrag von 3.445,29 DM addiert, wobei der geschuldete Modernisierungszuschlag entsprechend § 9 Abs. 2 MHG für die Frage nach dem Entstehen eines kündigungsfähigen Rückstandes nach § 554 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BGB a.F. nicht berücksichtigt werden dürfe. Indes verbleibe es auch nach Abzug des Betrags von 975,20 DM (8x121,90 DM) bei einem rückständigen Mietzins in Höhe von 2.470,09 DM, der den kündigungsfähigen Rückstand von 1.432,10 DM (zwei Monatsmieten in Höhe von 716,05 DM) deutlich übersteige. Es sei nicht ersichtlich, dass sich die Beschwerdeführerin unverschuldet über den Umfang ihrer Berechtigung zur Minderung des geschuldeten Mietzinses während der Bauphase geirrt habe. Gegen einen unverschuldeten Irrtum spreche der Umstand, dass ihr bekannt gewesen sei, dass nach Auffassung der Beteiligten zu 2 für die Dauer von Sanierungsmaßnahmen in der streitgegenständlichen Wohnung eine Minderungsquote von 50% der Nettokaltmiete und für die Dauer von SanieLVerfGE 13

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rungsmaßnahmen „am und im Haus" eine Minderungsquote von 10% der Nettokaltmiete gerechtfertigt sein könnte. Im Übrigen sei das Ubersteigen des kündigungsfähigen Rückstandes vor allem darauf zurückzuführen, dass die Zahlungen der Beschwerdeführerin in den Monaten April bis Juni 2000 zunächst völlig ausgeblieben seien. Der Umstand, dass die Beschwerdeführerin staatliche Hilfe zur Finanzierung ihres Lebensunterhalts bezogen habe, genüge für sich allein nicht, um eine unverschuldete Leistungsunfähigkeit zu begründen. — Die Revision sei nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 S. 1 ZPO nicht gegeben seien. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung „ihrer Grundrechte", insbesondere des Rechts auf rechtliches Gehör. Es liege eine Verletzung der richterlichen Hinweis- und Aufklärungspflicht vor. Nachdem das AG das Räumungsurteil im Wesentlichen damit begründet habe, dass die Mietminderung um 100% in den Monaten April und Mai 1999 nicht berechtigt gewesen sei, sei es um so überraschender, dass das LG das Ubersteigen des kündigungsfähigen Rückstandes im Wesentlichen mit dem zunächst völligen Ausbleiben von Zahlungen für die Monate April bis Juni 2000 begründe. Die Beschwerdeführerin habe in der mündlichen Berufungsverhandlung den Einwand erhoben, dass das Sozialamt in jenen Monaten die Miete nicht an den Vermieter überwiesen habe; zu weiteren tatsächlichen und rechtlichen Ausführungen sei sie nicht mehr gekommen, da das Gericht ihre Einwendungen mit der Bemerkung abgebrochen habe, man könne das dem Vermieter nicht anlasten. Die Ausführungen im Urteil des LG zur Verschuldensfrage seien willkürlich und widersprächen dem Rechtsentscheid des Kammergerichts vom 11.12.1997 - 8 RE-Miet 1354/96 - , dem zufolge ein Mieter seine Verpflichtung zur pünktlichen Mietzahlung nicht iSv § 554a BGB verletze, wenn Mietzahlungen allein aufgrund eines Verschuldens des Sozialamtes nicht fristgemäß bei dem Vermieter eingingen. Das LG sei hier von der verbreiteten Rechtsauffassung und dem Rechtsentscheid des Kammergerichts abgewichen und habe darüber hinaus anders lautende Argumente der Beschwerdeführerin nicht einmal angehört. Die Beschwerdeführerin habe bereits beim AG Beweise in Form des Schriftverkehrs mit dem Sozialamt und der von ihr beauftragten Rechtsanwältin eingereicht. Sie habe Hilfe zum Lebensunterhalt bezogen, in der auch die Miete unter Anrechnung des Wohngeldes eingeschlossen gewesen sei. Von April 1998 bis Februar 2000 sei ihr die gesamte Sozialhilfe ausgezahlt worden, von der sie die Miete stets pünktlich überwiesen habe. Ab März 2000 habe sie nur noch Hilfe zum Lebensunterhalt ohne Miete erhalten. Sie habe ab März 2000 keine Möglichkeit mehr gehabt zu überprüfen, in welcher Höhe Mietzahlungen von Seiten des Sozialamtes an den Vermieter erfolgt seien; das Sozialamt sei diesbezüglich wiederholt um Auskunft gebeten worden. Es sei nicht das Verschulden der Beschwerdeführerin gewesen, dass die Mieten nicht rechtzeitig bei der Vermieterin eingegangen seien, sondern die Nodage der Beschwerdeführerin sei durch die schleppende Arbeitsweise von Arbeits- und Sozialamt verLVerfGE 13

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ursacht worden. Möglicherweise liege auch eine Mitverantwortlichkeit des Vermieters vor, der weder auf die Widerspruchsschreiben der Beschwerdeführerin reagiert noch ihr durch Mahnschreiben von Zahlungsrückständen Kenntnis gegeben, sondern die frisdose Kündigung ausgesprochen habe. Ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör liege auch in der Behandlung der Mietminderungen, der Betriebskosten und der Mieterhöhung nach Modernisierung durch das LG. Die Beteiligten zu 1 und 2 haben gem. § 53 VerfGHG Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. II. Die Verfassungsbeschwerde hat Erfolg, soweit die Beschwerdeführerin die Verletzung des Grundrechts auf rechtliches Gehör (Art. 15 Abs. 1 VvB) rügt. Die Verfassungsbeschwerde ist insoweit zulässig. Der Rechtsweg ist erschöpft (§ 49 Abs. 2 VerfGHG). Eine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision war gem. § 26 Nr. 8 EGZPO ausgeschlossen. Entgegen der Auffassung der Beteiligten zu 2 ist eine Erschöpfung des Rechtswegs hinsichtlich der Gehörsrüge auch nicht deshalb zu verneinen, weil die Beschwerdeführerin keine Gegenvorstellung erhoben hat. Der Verfassungsgerichtshof hat die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde, mit der die Verletzung rechtlichen Gehörs gerügt wird, in seiner bisherigen Rechtsprechung nicht von der vorherigen Erhebung einer dem Rechtsweg iSv § 49 Abs. 1 VerfGHG nicht zuzuordnenden Gegenvorstellung abhängig gemacht (Beschl. v. 31.7.1998 VerfGH 39/97 LVerfGE 9, 29, 32). Hiervon abzurücken besteht auch nach der Reform der Zivilprozessordnung bisher kein Anlass, da ein Abhilfeverfahren bei einer entscheidungserheblichen Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör lediglich für nicht berufungsfähige Urteile vor dem Gericht des ersten Rechtszugs gesetzlich geregelt wurde (vgl. § 321a ZPO n.F.). Auch aus dem Grundsatz der materiellen Subsidiarität ergibt sich jedenfalls insoweit keine Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde als die Beschwerdeführerin sich auf einen Gehörsverstoß durch das die Instanz abschließende Urteil beruft; die hinsichtlich der ausgebliebenen Zahlungen des Sozialamts für maßgeblich gehaltenen Umstände, auf deren Nichtberücksichtigung die Rüge des Gehörsverstoßes gestützt wird, hatte sie - wie unten näher dargelegt - im fachgerichtlichen Verfahren hinreichend vorgetragen. Die Begründung der Verfassungsbeschwerde genügt hinsichtlich der Rüge, das LG habe durch die Behandlung der Frage der ausgebliebenen Zahlungen des Sozialamtes das Grundrecht auf rechtliches Gehör verletzt, auch noch den gesetzlichen Anforderungen. Gem. § 50 VerfGHG sind in der Begründung der Verfassungsbeschwerde das Recht, das verletzt sein soll, und die Handlung oder Unterlassung des Organs oder der Behörde, durch die der Beschwerdeführer sich verletzt fühlt, zu bezeichnen. Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs LVerfGE 13

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setzt das Begründungserfordernis des § 50 VerfGHG für die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde voraus, dass der Beschwerdeführer den Sachverhalt darstellt und eine ursächliche Verknüpfung zwischen dem beanstandeten Verhalten der öffentlichen Gewalt und der geltend gemachten Rechtsverletzung nachvollziehbar darlegt. Dazu muss der Lebenssachverhalt, aus dem die vermeintliche Verletzung eines subjektiven Rechts hergeleitet wird, aus sich heraus verständlich wiedergegeben werden. Der für die vorstehend genannte Gehörsrüge für maßgeblich gehaltene Sachverhalt einschließlich der Verknüpfung zwischen dem beanstandeten Verhalten der öffentlichen Gewalt und der geltend gemachten Rechtsverletzung lässt sich dem Vortrag der Beschwerdeführerin mit noch hinreichender Deutlichkeit entnehmen. Die Verfassungsbeschwerde ist insofern auch begründet. Der Anspruch auf rechtliches Gehör, der in Art. 15 Abs. 1 VvB in Übereinstimmung mit Art. 103 GG gewährleistet wird, verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen'und in Erwägung zu ziehen (vgl. Beschl. v. 16.11.1995 - VerfGH 48/94 - , LVerfGE 3, 113, 117 mwN, std. Rspr.). Er gewährt zwar keinen Schutz dagegen, dass das Gericht Vorbringen der Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts ganz oder teilweise unberücksichtigt lässt. Das Gericht muss sich in den Entscheidungsgründen auch nicht mit jedem Einzelvorbringen auseinandersetzen; vielmehr ist grundsätzlich davon auszugehen, dass ein Gericht das von ihm entgegengenommene Vorbringen der Beteiligten auch zur Kenntnis genommen hat. Eine Verletzung dieses Prozessgrundrechts ist jedoch dann feststellbar, wenn im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen oder Rechtsausführungen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden sind; ein solcher Umstand ist gegeben, wenn das Gericht zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, trotz entsprechenden Parteivortrags in den Entscheidungsgründen nicht Stellving nimmt (vgl. Beschl. v. 16.11.1995, aaO, S. 116 f, v. 22.5.1997 - VerfGH 34/97 - , LVerfGE 6, 80, 82 und v. 24.8.2000 - VerfGH 73/99 - , NZM 2001, 87, 88 mwN). Ein derartiger Fall ist hier gegeben. Das LG, dem zufolge das Übersteigen eines kündigungsfähigen Rückstandes vor allem auf das zunächst vollständige Ausbleiben der Zahlungen in den Monaten April bis Juni 2000 zurückzuführen ist, stellt entscheidungstragend darauf ab, dass der Umstand, dass die Beschwerdeführerin staatliche Hilfen zur Finanzierung ihres Lebensunterhalts bezogen habe, „für sich allein" nicht genüge, um eine unverschuldete Leistungsunfähigkeit zu begründen. Diese apodiktische Begründung lässt nicht erkennen, dass das Gericht die von der Beschwerdeführerin detailliert dargelegten besonderen Umstände des Einzelfalls bei der Entscheidung erwogen hat. Das LG ist auch ohne entsprechende ausdrückliche Darlegungen erkennbar von der in der fachgerichtlichen Rechtsprechung und der Literatur im Zusammenhang mit § 554 Abs. 1 BGB a.F. LVerfGE 13

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vorherrschenden Rechtsauffassung ausgegangen, dass ein Mieter sich das Verschulden des Sozialamts wie eigenes Verschulden anrechnen lassen müsse, weil das Sozialamt insofern sein Erfüllungsgehilfe (§ 278 BGB) sei (vgl. nur LG Karlsruhe, ZMR 1989, 421; LG Mönchengladbach, ZMR 1993, 571; implizit auch vorgenannten Rechtsentscheid des Kammergerichts vom 11.12.1997 - 8 RE-Miet 1354/96 - , NJW 1998, 2455, 2457). Es hat - obwohl dies nach dem Vortrag der Beschwerdeführerin nahe lag und die entscheidungstragende Argumentation betraf - aber nicht erwogen, ob besondere Umstände vorliegen, denen zufolge die Durchsetzung des auf den Mietrückstand gestützten Räumungsanspruchs gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB) verstößt (vgl. hierzu LG Karlsruhe und LG Mönchengladbach, jeweils aaO). Auf den diesbezüglichen substantiierten Sachvortrag der Beschwerdeführerin ist das Gericht weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht eingegangen. Die Verfahrensbevollmächtigte der Beschwerdeführerin hatte schon vor dem Amtsgericht mit Schriftsatz vom 7.12.2000 geltend gemacht, erst im Monat Juli 2000 vom Sozialamt erfahren zu haben, dass dieses bereits seit April 2000 keine Miete mehr an die Beteiligte zu 2 zahle und die Miete von ihr selbst zu zahlen sei. Sowohl das Sozialamt als auch die Beteiligte zu 2 seien von der Beschwerdeführerin jeden Monat über die Höhe der nach ihrer Auffassung zu zahlenden Miete informiert und gleichzeitig aufgefordert worden, den Sachverhalt zu klären; beide hätten hierauf nicht reagiert. Aus den als Anlagen 12 und 13 zur Klageerwiderung (Schriftsatz vom 21.9.2000) in Kopie vorgelegten entsprechenden Schreiben der Beschwerdeführerin für die Monate April bis Juni 2000 an die Beteiligte zu 2 lässt sich entnehmen, dass die Beschwerdeführerin von einer Fortsetzung der Mietzahlungen durch das Sozialamt für diesen Zeitraum ausgegangen ist („... sehe ich weiterhin die Mietüberweisungen durch das Bezirksamt ... unter Vorbehalt an"). Ferner hat die Beschwerdeführerin ein Schreiben vom 29.7.2000 vorgelegt, in welchem sie der Beteiligten zu 2 u.a. mitteilt, erst durch ein am 19.7.2000 eingegangenes Schreiben des Sozialamts den wahren Sachverhalt erfahren zu haben. Dieses Vorbringen hat das LG erkennbar bei seiner Entscheidung nicht erwogen und gewürdigt. Damit ist das Gericht auf die im Hinblick auf die vorgetragenen besonderen Umstände des Einzelfalls sich aufdrängenden entscheidungserheblichen Fragen nicht eingegangen, ob und ggf. welche Anforderungen aus dem Grundsatz von Treu und Glauben hinsichtlich der Rechtswirksamkeit fristloser Kündigungen gem. § 554 Abs. 1 BGB a.F. im Zusammenhang mit ausbleibenden Zahlungen eines Sozialamtes herzuleiten sind und ob sich auf der Grundlage des Vorbringens der Beschwerdeführerin hinreichende Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die mit der Begründung, nach Ausspruch der (ersten) fristlosen Kündigung seien von der Beschwerdeführerin keine Zahlungen geleistet worden, erklärte (erneute) frisdose Kündigung durch die Beteiligte zu 2 treuwidrig ist. Dass das Gericht auf der Grundlage seiner Auslegung und Anwendung einfachgesetzlicher Bestimmungen eine die Würdigung der Umstände des Einzelfalls von vornherein ausschließende Rechtsauffassung vertritt, lässt sich den EntscheiLVerfGE 13

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dungsgründen des Urteils nicht entnehmen, da dort lediglich darauf abgestellt wird, dass der Bezug von Hilfe zum Lebensunterhalt „für sich allein" nicht genüge, um eine unverschuldete Leistungsunfähigkeit zu begründen. Die angegriffene Entscheidung beruht auch auf dem festgestellten Verfassungsverstoß. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Landgericht bei einer Berücksichtigung des Vortrags der Beschwerdeführerin zu einer für diese günstigeren Entscheidung gelangt wäre. Nach § 54 Abs. 3 VerfGHG ist das angegriffene Urteil aufzuheben und die Sache in entsprechender Anwendung des § 95 Abs. 2 HS 2 BVerfGG an das L G zurückzuverweisen. Ob die Verfassungsbeschwerde auch im Hinblick auf die von der Beschwerdeführerin erhobenen weiteren Rügen zulässig und begründet ist, bedarf im Hinblick darauf keiner Entscheidung. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG. Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

Nr. 4 Die Ablehnung, einen transsexuellen Untersuchungsgefangenen, der noch nicht als Frau anerkannt ist, in eine Untersuchungshaftanstalt für Frauen zu verlegen, verletzt nicht die Menschenwürde, wenn der Vollzug der Untersuchungshaft in einer Männeranstalt auf die Transsexualität des Untersuchungsgefangenen Rücksicht nimmt.* Verfassung von Berlin Art. 6, 7, 8,15 Abs. 4

B e s c h l u s s v o m 31. O k t o b e r 2 0 0 2 - V e r f G H 6 6 / 0 2 , 66 A / 0 2 in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung des Herrn Z., Verfahrensbevollmächtigter: Rechtsanwalt Z. gegen 1. 2.

*

den Beschluss des Kammergerichts vom 19. Juli 2002 - 1 AR 652/02 - 5 Ws 308/02 die Senatsverwaltung für Justiz wegen der NichtVerlegung des Beschwerdefuhrers in die Untersuchungshaftanstalt für Frauen

Nichtamtlicher Leitsatz.

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Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin Entscheidungsformel:

Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen. Damit erledigt sich zugleich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei. Auslagen werden nicht erstattet. Gründe: I. Der Beschwerdeführer befindet sich seit dem 30.3.2001 in Untersuchungshaft. Das LG Berlin verhängte gegen ihn am 25.9.2001 wegen Totschlags eine Freiheitsstrafe von zehn Jahren. Auf die Revision des Beschwerdeführers hob der Bundesgerichtshof dieses Urteil durch Beschluss vom 14.5.2002 im Strafausspruch auf und verwies die Sache insoweit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Kammer des LG zurück. Durch das daraufhin ergehende Urteil vom 24.7.2002 wurde das Strafmaß auf fünf Jahre und sechs Monate reduziert. Auch gegen dieses Urteil legte der Beschwerdeführer Revision ein, da die Strafzumessung noch immer unrichtig sei. Die Untersuchungshaft wird in der für männliche Gefangene zuständigen Justizvollzugsanstalt Berlin-Moabit vollzogen. Mit Schreiben vom 19.10. und 28.11.2001 beantragte der Beschwerdeführer, ihn in die für weibliche Untersuchungsgefangene zuständige Justizvollzugsanstalt in Berlin zu verlegen. Der Beschwerdeführer leidet am „Klinefelter-Syndrom", einer angeborenen Chromosomenanomalie, die in fortgeschrittenem Alter körperlich und psychisch zur Hinwendung zum weiblichen Geschlecht führt. Entsprechende Veränderungen haben sich beim Beschwerdeführer bereits vollzogen. Die männlichen Geschlechtsorgane haben sich partiell zurückgebildet. Eine Zeugungsfähigkeit besteht praktisch nicht mehr. Ihm sind Brüste gewachsen. Er fühlt sich als Frau, zieht Frauenkleider an, schminkt sich und nennt sich „Kerstin". Er betreibt ein Verfahren zur Änderung seines Vornamens nach den §§ 1 ff des Transsexuellengesetzes (TSG), in dem am 17.7.2002 das erste Gutachten nach § 4 Abs. 3 TSG vorgelegt wurde. Darin kommt der Sachverständige zu dem Ergebnis, dass der Beschwerdeführer sich aufgrund seiner transsexuellen Prägung nicht mehr dem männlichen, sondern dem weiblichen Geschlecht zugehörig fühle, dass er seit mindestens drei Jahren unter dem Zwang stehe, diesen Vorstellungen entsprechend zu leben und dass nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen sei, dass sich das Zugehörigkeitsgefühl zum weiblichen Geschlecht nicht mehr ändern werde. Der Beschwerdeführer beabsichtigt ferner, sich einem die äußeren Geschlechtsmerkmale verändernden operativen Eingriff nach § 8 Abs. 1 Nr. 4 TSG LVerfGE 13

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zu unterziehen, durch den eine deutliche Annäherung an das Erscheinungsbild des anderen Geschlechts erreicht werden soll. Durch Beschluss vom 23.4.2002 gab das LG Berlin dem Antrag auf Verlegung „in den Untersuchungshaftbereich einer Vollzugsanstalt für Frauen" statt. Dem Beschwerdeführer werde in der Untersuchungshaftanstalt für Männer von den Mithäftlingen aufgrund seiner Problematik und seines Aussehens Verachtung und Feindseligkeit entgegengebracht. Am normalen Vollzug könne er nicht teilnehmen. Er sei gezwungen, sich in seine Zelle zurückzuziehen. Diese Isolation werde durch ärztliche und psychologische Betreuung nur geringfügig gemildert. Auf der Grundlage der Strafprozessordnung sei der rechtlich noch geltende geschlechtsspezifische Status des Beschwerdeführers bedeutungslos. Entscheidend sei nur die Ordnung in der Vollzugsanstalt. Diese sei angesichts der attestierten nahezu vollständigen Zeugungsunfähigkeit des Beschwerdeführers jedenfalls nicht unter dem Gesichtspunkt in Gefahr, es könnten sich störende sexuelle Partnerschaften mit unerwünschten Folgen bilden. Jedenfalls sei bei geringerer Belegungsdichte die Aussicht größer als in einer Männeranstalt, dass der Beschwerdeführer dort die Anstaltsordnung nicht stören werde. Trotz dieses Beschlusses, den der Beschwerdeführer sowohl der Vollzugsanstalt für Männer, wie der für Frauen und der Senatsverwaltung für Justiz zur Kenntnis brachte, erfolgte keine Verlegung. Die Vollzugsanstalt für Frauen teilte am 3.5.2002 dem Beschwerdeführer mit, dass sie mit Schreiben vom 25. und 29.4.2002 Gegenvorstellung beim LG erhoben habe, und dass die Staatsanwaltschaft prüfe, ob sie gegen den Beschluss des LG Beschwerde einlegen werde. In der Gegenvorstellung trug die Vollzugsanstalt für Frauen vor: Der Beschwerdeführer sei nicht nur nach Größe und Statur, sondern auch nach den Bestimmungen des Transsexuellengesetzes nach wie vor als Mann anzusehen. Im Falle seiner Verlegung in die Vollzugsanstalt für Frauen sei eine Trennung von den weiblichen Gefangenen unerlässlich, um deren Rechte zu schützen. Das ergebe sich aus § 140 Abs. 2 StVollzG, der entsprechend anzuwenden sei. Daher müsse er sich auch im Falle seiner Verlegung erheblichen Einschränkungen seiner anstaltsinternen Bewegungsfreiheit unterwerfen. Seine fehlende Zeugungsfähigkeit ändere daran nichts. Im Nachtdienst könne es vorkommen, dass nur drei weibliche Bedienstete anwesend seien, davon eine in der Alarmzentrale und zwei in den jeweiligen Stationen. Auf die in diesem Zusammenhang erhöhten Gefahren bei besonderen Vorkommnissen wie Flucht oder Geiselnahme werde angesichts der Statur des Beschwerdeführers und eventueller Gewaltbereitschaft ausdrücklich hingewiesen. Der Beschwerdeführer wies die Vollzugsanstalt für Frauen am 7.5.2002 darauf hin, dass eine Beschwerde keine aufschiebende Wirkung habe. Er forderte erneut die Verlegung. Am 8.5.2002 legte die Staatsanwaltschaft Berlin gegen den Beschluss des LG Beschwerde ein und beantragte, unter Aufhebung des Beschlusses den Antrag des Beschwerdeführers auf Verlegung abzulehnen. In der Begründung stützte sie sich LVerfGE 13

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vor allem auf die Gegenvorstellung der Vollzugsanstalt für Frauen vom 29.4.2002. Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin nahm durch Schreiben vom 23.5.2002 ergänzend Stellung und beantragte, der Beschwerde stattzugeben, sowie vorab gem. § 307 Abs. 2 StPO anzuordnen, dass die Vollziehung der angefochtenen Entscheidung ausgesetzt wird. In dieser Situation hat der Beschwerdeführer am 1.6.2002 Verfassungsbeschwerde zum Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin erhoben „wegen Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 8 Abs. 1 und 3 VvB iVm Art. 3 Abs. 1 S. 2, Art. 15 Abs. 4 S. 1 VvB durch die Senatsverwaltung für Justiz und die ihr unterstehende Untersuchungshaftanstalt für Männer und Untersuchungshaftanstalt für Frauen wegen Nichtbefolgung eines vollziehbaren richterlichen Beschlusses zur Aufnahme in die Untersuchungshaftanstalt für Frauen." Weiter hat er den Antrag gestellt, die begehrte Verlegung im Wege der einstweiligen Anordnung auszusprechen. In der Begründung heißt es: „Nach ständiger verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung darf Haft nur so lange und in dem Umfang angeordnet werden, wie dies auf gesetzlicher Grundlage kraft richterlicher Entscheidung, die ihrerseits die Grundrechte zu wahren hat, angeordnet wurde. Dabei hat der Haftrichter auch über die Haftbedingungen zu entscheiden. Untersuchungsgefangene gelten als unschuldig. Auch deshalb dürfen ihnen in Bezug auf ihre Grundrechte, insbesondere Menschenwürde, Persönlichkeitsentfaltung und persönliche Freiheit, nur solche Beschränkungen auferlegt werden, die vom Richter angeordnet worden sind. Sonst sind Art. 1, 2, 104 GG, Art. 8, 15 Abs. 4 VvB verletzt (VerfGH, StV 93, 84 - keine U-Haft bei Lebensgefahr; NJW 01, 3181 - keine U-Haft für schwangere Mutter, wenn sie nicht zusammen mit dem Neugeborenen aufgenommen werden kann; vgl. zum Untersuchungshaftvollzug auch: BVerfGE 19, 342; NJW 73, 1643; 76, 1311; 95, 1478; zum Anspruch von Transsexuellen aus Art. 1, 2 GG, auch ohne vorherige Anerkennung per Gesetz mit ihrer besonderen Problematik Berücksichtigung zu finden: BVerfG, NJW 79, 595). Die rechtsprechende Gewalt ist nach Art. 20 GG, Art. 3 VvB zur Kontrolle der Exekutive insbesondere bei Wahrung der Grundrechte auch der Untersuchungsgefangenen berufen. Gerichtliche Entscheidungen sind deshalb selbstverständlich unverzüglich und vollständig zu befolgen, solange sie nicht aufgehoben sind oder Rechtsmittel aufschiebende Wirkung haben. Sonst wird auch der Anspruch des Betroffenen auf effektiven Rechtsschutz, Art. 19 Abs. 4 GG, Art. 1 Abs. 4 VvB, verletzt." Das Kammergericht beschloss am 7.6.2002 gem. § 307 Abs. 2 StPO die Aussetzung der Vollziehung des Beschlusses des LG Berlin bis zu seiner Entscheidung über die Beschwerde der Staatsanwaltschaft, längstens für zwei Monate. Durch Beschluss vom 19.7.2002 hob das Kammergericht den Beschluss des LG Berlin vom 23.4.2002 auf und wies den Antrag des Beschwerdeführers auf Verlegung zurück. Was die Haftsituation anlangt, ging das Kammergericht von folgender Lage aus: „Der Angeklagte ist in einem Einzelhaftraum untergebracht. Täglich LVerfGE 13

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kann er an zwei Freistunden teilnehmen sowie die im Tagesablauf vorgesehenen Auf- und Umschlussregelungen nutzen. Davon macht er aber nur selten Gebrauch, weil er Anfeindungen Mitgefangener ausgesetzt war und weitere Übergriffe befürchtet. Die Furcht beruht unter anderem auf Erfahrungen, die der Angeklagte gemacht hat, als er Freistunden in betont femininer Aufmachung, nämlich geschminkt und in kurzer Frauenkleidung, wahrgenommen hat. Jedoch hat er mehrfach seit April 2001 für kürzere oder längere Zeiträume Angebote des Gruppen- und Beratungszentrums der Anstalt genutzt. Auch beteiligt er sich seit Anfang April 2002 an wöchentlich stattfindenden Veranstaltungen der Gruppe für Umgang mit Aggression und Gewalt. Außerdem fuhrt der anstaltspsychologische Dienst wöchentliche Einzelgespräche mit dem Angeklagten sowie seit dem 3.6.2002 zusätzlich Gespräche mit ihm und einem anderen Inhaftierten durch, der sich gleichfalls als transsexuell empfindet. Das Ziel der Gespräche besteht darin, den Angeklagten bei der Bewältigung der Haftprobleme zu unterstützen, die sich aus seiner transsexuellen Disposition ergeben. Eine Unterbringung des Angeklagten im Krankenbereich der Anstalt ist nach der Auffassung des Leiters dieses Bereichs und der Leitenden Anstaltsärztin derzeit medizinisch nicht indiziert. Am 19.6.2002 wurde der Angeklagte im Rahmen des von ihm betriebenen Verfahrens zur Änderung der Geschlechtszugehörigkeit nach dem Transsexuellengesetz von einem Gutachter untersucht. Vorwürfe des Angeklagten, dass männliche Bedienstete der Anstalt seine transsexuelle Ausrichtung zum Anlass für Repressalien und diskriminierende Äußerungen nähmen, haben sich nicht bestätigt." Der Antrag auf Verlegung sei zurückzuweisen, weil es an der Rechtsgrundlage für diese Maßnahme fehle. Zu Unrecht habe das LG Berlin in seinem Beschluss vom 23.4.2002 angenommen, dass der geschlechtsspezifische Status des Beschwerdeführers bedeutungslos sei und die Zuweisung in eine Anstalt für Männer oder Frauen eine individuelle Beschränkung darstelle, die gem. § 119 Abs. 3 StPO im Hinblick auf den Zweck der Untersuchungshaft oder die Ordnung in der Vollzugsanstalt einer Rechtfertigung im Einzelfall bedürfe. Vielmehr gehöre die getrennte Unterbringung von Männern und Frauen zu den institutionellen Bedingungen der Untersuchungshaft. Zwar sei die Trennung nach dem Geschlecht für die Untersuchungshaft, anders als für den Strafvollzug (s. § 140 Abs. 2 StVollzG), nicht gesetzlich geregelt, eine Rechtsgrundlage dafür ergebe sich aber ohne weiteres aus der gesetzlichen Anerkennung des Instituts der Untersuchungshaft in den §§ 112 ff StPO. Die Vollziehbarkeit der Untersuchungshaft habe die Gewährung der Ordnung innerhalb der Anstalt zur Voraussetzung. Unverzichtbar dafür sei die Trennung nach dem Geschlecht. Der Vollzug der Untersuchungshaft in einer nach dem Geschlecht bestimmten Anstalt bedeute keinen Eingriff in eine Freiheit des Beschwerdeführers, nach seinem Belieben die Zuweisung in eine Anstalt des gleichen oder des anderen Geschlechts verlangen zu können. Mit der Verhängung der Untersuchungshaft sei ohne weiteres eine rechtliche Grundlage für die Zuweisung zu einer nach dem Geschlecht bestimmten Anstalt verbunden. DemgegenLVerfGE 13

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über fehle es an einer Rechtsgrundlage für die begehrte Verlegung in eine Anstalt für Personen des anderen Geschlechts. Eine solche Rechtsgrundlage ergebe sich nicht aus dem Transsexuellengesetz, da nach § 10 Abs. 1 TSG geschlechtsabhängige Rechte sich erst dann nach dem neuen Geschlecht richteten, wenn die Zugehörigkeit zu diesem Geschlecht durch rechtskräftige gerichtliche Entscheidung nach § 8 Abs. 1 TSG festgestellt worden sei. Auch aus § 140 Abs. 3 StVollzG ergebe sich kein Anspruch des Beschwerdeführers auf die begehrte Verlegung. Die Vorschrift enthalte nur eine Ermächtigung für die Vollzugsorgane, jedoch keinen Rechtsanspruch von Individuen. Schließlich ergebe sich auch aus dem Grundrecht der Menschenwürde kein Anspruch auf Verlegung. Das käme nur in Frage, wenn die derzeitige Unterbringung des Beschwerdeführers seine Menschenwürde verletze und Abhilfe allein durch die Verlegung in eine Anstalt für Frauen geschaffen werden könnte. Zwar sei dieser besonderen Belastungen ausgesetzt, jedoch ergäben sich diese aus den objektiven Gegebenheiten und nicht daraus, dass er erniedrigenden Haftbedingungen ausgesetzt sei, die ihn zum bloßen Objekt staatlichen Zwanges machten, ohne dass sein Eigenwert als Mensch respektiert würde. Ungeachtet dessen sei es Aufgabe der Anstalt, sich um weitere Verbesserungen der Lage des Beschwerdeführers zu bemühen, insbesondere ihn vor Angriffen und Belästigungen von Mitgefangenen zu schützen. Nach diesem Beschluss des Kammergerichts hat der Beschwerdeführer durch Schreiben vom 29.7.2002 seine Verfassungsbeschwerde ergänzt und modifiziert: Er beantragt, „festzustellen, dass die Senatsverwaltung für Justiz und der Beschluss des Kammergerichts vom 19.7.02, 1 AR 652/02 - 5 Ws 308/02, die Grundrechte des Beschwerdeführers aus Art. 8 Abs. 1 und 3, 15 Abs. 4 S. 1 VvB dadurch verletzten, dass dieser die Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt Moabit verbüßen muss und nicht in die Untersuchungshaftanstalt für Frauen verlegt wird."

Gegenüber der Situation bei Erhebung der Verfassungsbeschwerde habe sich der Sachverhalt dadurch verändert, dass seit der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde durch den Beschluss des Kammergerichts vom 7.6.2002 nicht mehr geltend gemacht werden könne, dass in die Grundrechte des Beschwerdeführers dadurch eingegriffen werde, dass eine vollziehbare gerichtliche Entscheidung von der Exekutive unter Verletzung des Gewaltenteilungsprinzips nicht befolgt werde. Dieser Verfassungsverstoß werde aber nach wie vor für den Zeitraum vom 24.4.02 bis 7.6.2002 ausdrücklich gerügt. Aber auch die jetzige Situation verletze den Beschwerdeführer in seiner Menschenwürde und in seinem Grundrecht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit, da er nicht in die Frauenanstalt verlegt werde. Das Bemühen um die Abmilderung seiner Haftsituation habe letztlich keinen Erfolg gehabt, da seine weitgehende Isolation nicht überwunden sei. LVerfGE 13

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II. Die Verfassungsbeschwerde kann keinen Erfolg haben. Sie ist zum Teil unzulässig, ansonsten unbegründet. 1. Unzulässig ist sie, soweit sie darauf gestützt wird, dass der Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Art. 8 Abs. 1 und 3 iVm Art. 3 Abs. 1 S. 2 VvB verletzt sei. a) Das Merkmal „bezeichnen" in § 50 VerfGHG verlangt für die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde, dass hinreichend deutlich die Möglichkeit einer Verletzung eines dem Beschwerdeführer von der Verfassung von Berlin verbürgten Grundrechts durch die angegriffenen Maßnahmen vorgetragen wird (s. Besch! v. 11.8.1993 - VerfGH 64/93 Beschl. v. 11.1.1995 - VerfGH 81/94 - LVerfGE 3, 3, 5 f, std. Rspr.). § 50 VerfGHG verlangt, dass die in einer Verfassungsbeschwerde vorgetragene ursächliche Verknüpfung zwischen dem Verhalten des Hoheitsträgers und dem geltend gemachten Rechtsnachteil nachvollziehbar sein muss (s. Beschl. v. 7.9.1994 - VerfGH 69/94 - , LVerfGE 2, 64, 66; std. Rspr.). Diesen Zulässigkeitserfordernissen genügt die vorliegende Verfassungsbeschwerde insoweit nicht. Der Beschwerdeführer rügt zwar die Verletzung des Grundrechts auf Freiheit der Person in Art. 8 Abs. 1 VvB, doch verbleibt es insofern bei einer bloßen Behauptung. Es wird über die bloße Behauptung hinaus nichts vorgetragen, inwiefern sich die behauptete Rechtsverletzung gerade daraus ergebe, dass dem Beschwerdeführer die beantragte Verlegung in eine Anstalt für Frauen verweigert wird. Auch bei einer Vollziehung der Untersuchungshaft in einer Anstalt für Frauen wäre das Grundrecht auf Freiheit der Person eingeschränkt, was allerdings durch den Gesetzesvorbehalt in Art. 8 Abs. 1 S. 3 VvB iVm den §§ 112 ff StPO gedeckt ist. Der Beschwerdeführer trägt nichts dazu vor, warum sein Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 S. 2 VvB gerade dadurch verletzt werde, dass die Untersuchungshaft in einer Anstalt für Männer vollzogen wird. b) Unzulässig ist die Verfassungsbeschwerde auch insofern, als die Verletzung des Art. 3 Abs. 1 S. 2 VvB gerügt wird. Die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde setzt voraus, dass die Möglichkeit der Verletzung eines Grundrechts des Individuums, das die Verfassung von Berlin gewährt, gerügt werden kann. Art. 3 Abs. 1 S. 2 VvB enthält aber kein Grundrecht des Individuums, sondern den objektivrechtlichen verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gewaltenteilung. c) Unzulässig ist die Verfassungsbeschwerde auch insofern, als die Verletzung des Grundrechts auf Entfaltung der Persönlichkeit des Beschwerdeführers (Art. 7 VvB) gerügt wird. Über diese bloße Behauptung hinaus wird insofern nichts weiter vorgetragen. Damit wird insoweit der sich aus § 50 VerfGHG ergebenden Substantiierungspflicht schon für die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde nicht entsprochen. LVerfGE 13

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Nur ergänzend sei auf folgendes hingewiesen: Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass der dem Art. 7 VvB entsprechende Art. 2 Abs. 1 GG unter dem Aspekt des Schutzes der Privatsphäre dann verletzt sein kann, wenn der Briefkontakt eines Straf- oder Untersuchungsgefangenen mit einem nahen Familienangehörigen unterbrochen wird (s. BVerfGE 35, 35, 39 f, BVerfG, NJW 1995, 1477 f). Ein solcher oder vergleichbarer Fall liegt hier aber nicht vor. d) Unzulässig ist die Verfassungsbeschwerde schließlich, soweit die Verletzung der Art. 1, 2 und 104 GG gerügt wird. Die Verfassungsbeschwerde zum Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin kann nach § 49 Abs. 1 VerfGHG mit der Behauptung erhoben werden, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner in der Verfassung von Berlin (VvB) enthaltenen Rechte verletzt zu sein. Nur die Grundrechte der VvB sind möglicher Prüfungsmaßstab, nicht dagegen die Grundrechte des Grundgesetzes. 2. Im Übrigen ist die Verfassungsbeschwerde unbegründet. a) Der Beschluss des Kammergerichts und das Verhalten der Senatsverwaltung für Justiz, d.h. die Ablehnung der Verlegung des Beschwerdeführers in eine Anstalt für Frauen, verletzen ihn nicht in seiner Menschenwürde. Diese ist verletzt, wenn der Mensch durch hoheitliche Maßnahmen zum bloßen Objekt von Strafverfahren und Untersuchungshaft gemacht wird (s. Beschl. v. 12.1.1993 VerfGH 55/92 LVerfGE 1, 56, 64; Beschl. v. 12.1.1994 - VerfGH 134/93 - ; vgl. zum inhaltsgleichen Bundesrecht BVerfGE 9, 89, 95; 57, 250, 275). Dies gilt auch gegenüber einem Straftäter, der schwerwiegende Taten begangen hat (vgl. zum Bundesrecht BVerfGE 72,105, 115; 64, 261, 284). Neben dieser sogenannten Objektformel hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung den Inhalt der Menschenwürde auch dahingehend formuliert, dass die Menschenwürde dann verletzt ist, wenn eine willkürliche Missachtung der Würde des Menschen vorliegt als Ausdruck der Verachtung des Wertes, der dem Menschen kraft seines Personseins zukommt, und damit eine „verächtliche Behandlung" gegeben ist (s. BVerfGE 30,1, 26). Gemessen an diesen Maßstäben kann nicht festgestellt werden, dass die Vollziehung der Untersuchungshaft in einer Männeranstalt den Beschwerdeführer in seiner Menschenwürde verletzt. Das wäre dann der Fall, wenn auf die physische und psychische Situation des Beschwerdeführers, d.h. auf seine Transsexualität, keinerlei Rücksicht genommen würde und er dem Vollzug in genau der gleichen Weise unterworfen wäre wie jeder andere Untersuchungshäftling. Das ist aber nicht der Fall. Er kann Frauenkleider tragen und sich schminken. Er nutzt Angebote des Gruppen- und Beratungszentrums der Anstalt. Der anstaltspsychologische Dienst führt wöchentliche Einzelgespräche mit ihm sowie zusätzlich Gespräche mit ihm und einem anderen Inhaftierten, der sich gleichfalls als transsexuell empfindet. Diese Gespräche sollen den Beschwerdeführer bei der Bewältigung seiner Haftprobleme unterstützen. LVerfGE 13

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Die Anstaltsleitung bemüht sich, ihn vor Anfeindungen und dem Spott durch Mithäftlinge zu schützen. Zu direkten Übergriffen gegen ihn ist es bisher nicht gekommen. Gleichwohl ist nicht zu leugnen, dass die Haftsituation eine über das Normalmaß hinausgehende Belastung für ihn darstellt. Das aber ist nicht das Ergebnis dessen, dass er zum bloßen Objekt staatlichen Handelns geworden wäre bzw. das Ergebnis einer verächtlichen Behandlung, sondern die unvermeidbare Folge objektiver Gegebenheiten, ist das Ergebnis von Schicksal und nicht von Schikane. Dies gilt auch für die Ablehnung der Verlegung in eine Vollzugsanstalt für Frauen. Zunächst ist es sehr zweifelhaft, ob der Beschwerdeführer dort auf weniger Ablehnung und Anfeindung stoßen würde. Weiter könnte ihn dies psychisch härter treffen als die Ablehnung durch Männer, da sie von dem Geschlecht kämen, dem er sich nun zugehörig fühlt. Vor allem aber würde eine solche Verlegung ernstzunehmende Sicherheitsprobleme schaffen. Wie das jüngste medizinische Gutachten feststellt, ist der Beschwerdeführer noch immer „groß und kräftig gebaut". Weiter spricht das Gutachten von „gelegentlichen Trotz- und Aggressionshandlungen mit offenbar verminderter Impuls- und Affektkontrolle." Bezüglich der Tat, derentwegen er wegen Totschlags verurteilt ist, spricht der Beschwerdeführer selbst davon, dass ihn sein Jähzorn zur Tat hingerissen habe. Das Urteil des LG vom 24.7.2002, durch welches das ursprüngliche Strafmaß von zehn Jahren auf fünf Jahre und sechs Monate herabgesetzt wurde, spricht gleichwohl von der „erheblichen Brutalität", mit der die Tat ausgeführt wurde. Berücksichtigt man dazu, dass in der Vollzugsanstalt für Frauen Situationen eintreten, in denen für die Abteilungen nur zwei weibliche Aufsichtskräfte zur Verfügung stehen, dann erscheint die Ablehnung der Verlegung nicht als Ergebnis einer „verächtlichen Behandlung", sondern als Ergebnis nachvollziehbarer Sicherheitsbedenken. Dass der Beschwerdeführer nicht mehr zeugungsfähig ist, ist nicht dazu angetan, diese Sicherheitsbedenken zu zerstreuen. Dass der mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Beschluss des Kammergerichts die Bedeutung des Schutzes der Menschenwürde, entgegen dem Vortrag des Beschwerdeführers, nicht verkennt, zeigt sich auch darin, dass dort ausdrücklich von einer „gesteigerten Fürsorgepflicht der Anstalt" gesprochen wird. Es werde die Aufgabe der Anstalt sein, „sich um weitere Verbesserung der Lage des Beschwerdeführers zu bemühen." Aus alledem ergibt sich, dass der Beschwerdeführer nicht zum Objekt des Verfahrens gemacht wurde und wird und auch keiner „verächtlichen Behandlung" ausgesetzt ist. b) Der Beschwerdeführer ist auch nicht in seinem Grundrecht aus Art. 15 Abs. 4 S. 1 VvB (Rechtsweggarantie) verletzt. Dieses Grundrecht garantiert nicht nur das formale Recht, die Gerichte anzurufen, sondern verbürgt auch die Effektivität des Rechtsschutzes (vgl. Beschl. v. 17.6.1996 - VerfGH 40 A/96 LVerfGE 4, 76, 78). Darunter fällt grundsätzlich LVerfGE 13

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auch der Anspruch des Individuums, dass ihm günstige gerichtliche Entscheidungen von den Behörden beachtet und befolgt werden, jedenfalls dann, wenn sie rechtskräftig sind. Nicht aber ergibt sich aus diesem Grundrecht, dass jede dem Individuum günstige gerichtliche Entscheidung sogleich nach ihrem Ergehen von den Behörden tatsächlich umgesetzt werden müsste. Ein solcher Anspruch müsste nicht selten schon daran scheitern, dass die tatsächlichen Möglichkeiten einer sofortigen Umsetzung nicht gegeben sind. So liegt der Fall auch hier. Der sofortigen Verlegung des Beschwerdeführers nach der Entscheidung des LG Berlin vom 23.4.2002 stand entgegen, dass es sich bei ihm nicht um einen „normalen" weiblichen Untersuchungshäftling handelt. Es musste sorgfältig überlegt werden, welche Konsequenzen sich aus der Verlegung für ihn, für die weiblichen Mithäftlinge und die Ordnung in der Anstalt, nicht zuletzt den Sicherheitsaspekt, ergeben würden. Weiter musste geprüft werden, welche Maßnahmen zu treffen wären und in welchem Zeitraum sie sich verwirklichen ließen. Daraus ergibt sich, dass eine sofortige Verlegung oder eine innerhalb kürzester Frist nicht möglich war. Der Annahme eines sich aus Art. 15 Abs. 4 Satz 1 VvB ergebenden Anspruchs auf sofortige Verlegung steht auch entgegen, dass damit das Recht, Rechtsbehelfe gegen die Entscheidung des LG einzulegen, in seinem materiellen Gehalt beeinträchtigt wäre. Das gilt auch dann, wenn, wie hier, der einschlägige Rechtsbehelf, die Beschwerde, keine aufschiebende Wirkung hat, denn daneben bestand die Möglichkeit, einen Antrag nach § 307 Abs. 2 StPO zu stellen. Dass dies nicht sogleich mit der Einlegung der Beschwerde erfolgte, sondern etwas später, ist ohne Einfluss. Auch dafür, ob ein solcher Antrag zu stellen war, musste im vorliegenden Fall eine gewisse Zeit der Überlegung verbleiben. Hier ist nicht davon auszugehen, dass sich die Behörden in missbräuchlicher Weise mit diesem Antrag allzu lange Zeit gelassen haben. Nach alledem ist nicht festzustellen, dass im Zeitraum zwischen dem 24.4.2002 und dem 7.6.2002, dem Zeitpunkt des Ergehens der Entscheidung des Kammergerichts nach § 307 Abs. 2 StPO, eine Verletzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 15 Abs. 4 S. 1 VvB vorgelegen hat. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG. Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

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Nr. 5 1. Die Einspruchsberechtigung im Wahlprüfiingsverfahren steht jedem in einen beim Bezirkswahlausschuss eingereichten Wahlvorschlag aufgenommenen Bewerber zu, der rügt, dieser Wahlvorschlag sei zu Unrecht nicht zugelassen worden (§ 40 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3 Nr. 1 VerfGHG). Dabei ist auch das schlichte Unterlassen der Zulassung eines beim Bezirkswahlausschuss eingereichten Wahlvorschlags rügefähig und nicht nur eine ausdrückliche Ablehnung der Zulassung. 2. Die Regelung des § 40 Abs. 2 Satz 2 VerfGHG, wonach ein Einspruch nicht darauf gestützt werden kann, dass ein Wahlvorschlag zu Unrecht zugelassen worden sei, steht der Zulässigkeit eines Einspruchs nicht entgegen, mit dem ein Bewerber die rechtswidrige Nichtzulassung des ihn begünstigenden Wahlvorschlags zu Lasten eines zugelassenen Wahlvorschlags rügt. 3. Neben der Regelung des § 35 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 LWahlO, wonach der eingereichte Wahlvorschlag einer Partei nur durch schriftliche Erklärung der Vertrauensperson(en) geändert oder zurückgezogen werden kann, besteht nach dem Berliner Wahlrecht für die betreffende Partei keine Möglichkeit, einen solchen Wahlvorschlag ohne Mitwirkung der Vertrauensperson(en) durch Einreichung eines neuen Wahlvorschlags „zu ersetzen". 4. Durch Delegierte gemäß § 12 Abs. 1 Satz 2 LWahlG aufgestellte Wahlvorschläge sind nur dann ungültig iSd § 38 Abs. 1 Buchst, e) LWahlO, wenn die Parteisatzung überhaupt keine Wahlvorschläge durch Delegierte vorsieht oder bei der Wahl der Delegierten oder im weiteren Verfahren gegen wesentliche Grundsätze eines demokratischen Wahlverfahrens verstoßen wurde. Die faktische Verkürzung einer von der Parteisatzung vorgeschriebenen Ladungsffist von einer Woche zur Jahreshauptversammlung, in der die Delegierten gewählt werden sollen, auf fünf Tage erfüllt diese Voraussetzungen nicht. 5. In Berlin darf jede Partei zur Abgeordnetenhauswahl nur eine Landesliste oder jeweils eine Bezirksliste einreichen. Zwar enthält das Berliner Landesrecht kein dem § 18 Abs. 5 BWG entsprechendes ausdrückliches Verbot des Doppelauftretens. Dieses lässt sich jedoch aus einer Gesamtschau der Regelungen des § 10 LWahlG erschließen. Liegen dem Bezirkswahlausschuss gleichwohl zwei unterschiedliche, im Übrigen aber zulasLVerfGE 13

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sungsföhige Wahlvotschläge einer Partei vor, und wird dieser „Mangel" auch nicht innerhalb der Frist des § 34 Abs. 4 LWahlG beseitigt, müssen beide Wahlvorschläge zurückgewiesen werden. Wird stattdessen ein Vorschlag zugelassen und der andere unberücksichtigt gelassen, so liegt objektiv ein Wahlrechtsverstoß vor. Der Einspruch eines Bewerbers aus dem unberücksichtigten Vorschlag kann in diesem Fall gleichwohl keinen Erfolg haben, weil der ihm günstige Wahlvorschlag gerade nicht „zu Unrecht nicht zugelassen" wurde (§ 40 Abs. 2 Nr. 1 VerfGHG), sondern zu Recht unberücksichtigt blieb, und allein die Zulassung des zu Unrecht zugelassenen anderen Vorschlags gemäß § 40 Abs. 2 Satz 2 VerfGHG im Wahlprüfungsverfahren nicht mit Erfolg gerügt werden kann. Gesetz über den Verfassungsgerichtshof § 40 Abs. 2 Nr. 1, § 40 Abs. 2 Satz 2, § 40 Abs. 3 Nr. 1 Landeswahlgesetz §§ 12,13, 34 Landeswahlordnung §§ 35, 38

U r t e i l v o m 6. D e z e m b e r 2 0 0 2 - V e r f G H 1 9 2 / 0 1 in dem Wahlprüfungsverfahren über die Einsprüche 1. 2.

des Herrn M. M. des Herrn U. M.

Verfahrensbevollmächtigter: Rechtsanwalt O. J. H. gegen die Gültigkeit der Wahlen zum Abgeordnetenhaus von Berlin am 21. Oktober 2001 im Bezirk Steglitz-Zehlendorf Weitere Beteiligte: 1. 2. 3. 4. 5.

FrauP. G. Fraktion der CDU im Abgeordnetenhaus von Berlin, vertreten durch den Fraktionsvorsitzenden Dr. F. S. Fraktion der SPD im Abgeordnetenhaus von Berlin, vertreten durch den Fraktionsvorsitzenden M. M. Fraktion der PDS im Abgeordnetenhaus von Berlin, vertreten durch den Fraktionsvorsitzenden S. L. Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen im Abgeordnetenhaus von Berlin, vertreten durch die Fraktionsvorsitzenden Dr. A.-S. K. und W. W.

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Wahlvorschlagsrecht und Doppelbewerbung 6. 7. 8. 9.

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Fraktion der F D P im Abgeordnetenhaus von Berlin, vertreten durch den Fraktionsvorsitzenden Dr. M. L. Präsident des Abgeordnetenhauses von Berlin Senatsverwaltung für Inneres Landeswahlleiter

10. Bezirkswahlleiter des Bezirks Steglitz-Zehlendorf — zu 8 bis 10. vertreten durch den Landeswahlleiter 11.

M d A M . Br.

12. MdA Prof. Dr. Ch. S. 13. MdA K.-G. W. 14. MdA O. F. Verfahrensbevollmächtigte der Beteiligten zu 11. bis 14: Rechtsanwälte H. & H., R. 15.

M d A M . Bo. Entscheidungsformel: Die Einsprüche werden zurückgewiesen. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei. Auslagen werden nicht erstattet. Gründe: I.

Die Einsprechenden wenden sich gegen die Gültigkeit der Wahlen zum Abgeordnetenhaus von Berlin am 21.10.2001 im Bezirk Steglitz-Zehlendorf und begehren ihre Zulassung als Bewerber für eine Wiederholungswahl. 1. Dem Bezirkswahlleiter von Steglitz-Zehlendorf lagen im September 2001 zwei unterschiedliche Wahlvorschläge der Partei CDU, Kreisverband SteglitzZehlendorf, vor: a) Ein auf der Grundlage einer Delegiertenversammlung vom 15.7.2001 erstellter Wahlvorschlag, der beim Bezirkswahlleiter am 5.9.2001 eingegangen war, b) ein auf der Grundlage einer Delegiertenversammlung vom 12. bis 15.9.2001 erstellter Wahlvorschlag, der am 17.9.2001 bei dem Bezirkswahlleiter eingegangen war. Die Vorgeschichte dieser Wahlvorschläge stellt sich wie folgt dar:

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Der Ortsverband Dahlem der CDU hatte auf seiner Jahreshauptversammlung am 23.2.2001 die Delegierten für den Wahl-Kreisparteitag der CDU bestimmt. Die entsprechenden Beschlüsse waren wegen Nichteinhaltung der Ladungsfrist umstritten und wurden im parteigerichtlichen Verfahren angefochten. Mit Beschluss vom 17.3.2001 erklärte das Kreisparteigericht der CDU BerlinZehlendorf die Wahlen auf dieser Versammlung für unwirksam. Auf Beschwerde des Ortsverbandes hob das Landesparteigericht der CDU Berlin am 2.4.2001 diesen Beschluss auf und wies die Wahlanfechtung zurück. Uber die hiergegen gerichtete Rechtsbeschwerde war im Juli 2001 noch nicht entschieden. Am 15.7.2001 wurde auf dem Kreisparteitag der CDU der Einsprechende zu 1. als Bewerber für den Wahlkreis 7 sowie den Platz 5 der Bezirksliste aufgestellt; der Einsprechende zu 2. wurde als Bewerber für den Wahlkreis 1 und Platz 3 der Bezirksliste nominiert. Unter dem 20.8.2001 reichte die CDU, Kreisverband Steglitz-Zehlendorf, beim Bezirkswahlleiter die auf der Grundlage dieses Kreisparteitags erstellten Wahlvorschläge ein. Darin wurden die auf Platz 4 der Bezirksliste nominierte Beteiligte P. G. als Vertrauensperson und der Einsprechende zu 2. als stellvertretende Vertrauensperson benannt. Nachdem das Bundesparteigericht der CDU mit Beschluss vom 7.8.2001 den Beschluss des Landesparteigerichts geändert und die Beschwerde gegen den die Wahlen im Ortsverband Dahlem vom 23.2.2001 für unwirksam erklärenden Beschluss des Kreisparteigerichts zurückgewiesen hatte, wurden am 10.9.2001 auf einer weiteren Mitgliederversammlung des Ortsverbandes Dahlem dessen Delegierte für den Kreisparteitag neu gewählt. Vom 12. bis 15.9.2001 fand nunmehr ein weiterer Kreisparteitag der CDU Steglitz-Zehlendorf statt, auf dem die Delegierten erneut Bewerber für sämtliche Wahlkreise des Bezirks und eine neue Bezirksliste aufstellten. Die Einsprechenden wurden dabei weder als Bewerber eines Wahlkreisvorschlags noch auf der Bezirksliste nominiert. Die auf der Grundlage dieses Kreisparteitags erstellten Wahlvorschläge wurden am 17.9.2001 bei dem Bezirkswahlleiter eingereicht. Vertrauenspersonen waren darin nicht benannt. 2. Der Bezirkswahlausschuss ließ am 19.9.2001 nur die zuletzt eingereichten Wahlvorschläge der CDU Steglitz-Zehlendorf zu den Wahlen zum Abgeordnetenhaus zu. Die hiergegen eingereichte Beschwerde der Einsprechenden wies der Landeswahlausschuss am 26.9.2001 zurück. Die Wahlen zum Abgeordnetenhaus fanden am 21.10.2001 im Bezirk Steglitz-Zehlendorf auf der Grundlage der am 19.9.2001 zugelassenen Wahlvorschläge statt. 3. Mit dem am 27.12.2001 beim Verfassungsgerichtshof eingegangenen Einspruch wenden sich die Einsprechenden gegen die Gültigkeit dieser Wahlen zum Abgeordnetenhaus von Berlin im Bezirk Steglitz-Zehlendorf, weil sie als Bewerber zu Unrecht nicht zugelassen worden seien. Die Wahlvorschläge vom 20.8.2001 seien form- und fristgerecht beim Bezirkswahlleiter eingereicht und nicht gem. § 35 Abs. 3 LWahlO zurückgenommen oder geändert worden. EntspreLVerfGE 13

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chende Erklärungen hätten weder die Einsprechenden noch die Vertrauenspersonen abgegeben. Mit der Einreichung weiterer Wahlvorschläge am 17.9.2001 seien die Wahlvorschläge vom 20.8.2001 weder ersetzt noch stillschweigend zurückgenommen worden. Die Wahlvorschläge vom 20.8.2001 hätten deshalb zu den Wahlen zugelassen werden müssen. Die am 17.9.2001 eingereichten Wahlvorschläge seien hingegen nicht zuzulassen gewesen, weil bereits zulässige Wahlvorschläge vorgelegen hätten. Die Aufstellung mehrerer Kandidaten für einen Wahlkreis oder die Einreichung mehrerer Landeslisten durch eine Partei sei unzulässig. Die weiteren Wahlvorschläge seien überdies nicht satzungsgemäß zustande gekommen. Die Abberufung der nominierten Wahlkreis- oder Listenbewerber auf dem Septemberparteitag hätte einer eigenen Abstimmung bedurft und nicht mit der Neuwahl anderer Bewerber verbunden werden dürfen. Denn diese Frage könne nicht gem. § 43 Abs. 5 der Satzung des CDU-Landesverbands mit Ja oder Nein beantwortet werden. Zudem hätte dieser Beschluss in entsprechender Anwendung des § 43 Abs. 9 der Satzung eine Zweidrittelmehrheit der Delegierten erfordert, die nicht vorgelegen habe. Schließlich seien die Delegierten des Kreisparteitags vom September 2001 nicht gesetz- und satzungsgemäß gewählt worden. Die Zusammensetzung dieses Parteitages habe auf der Wahl von Delegierten des Ortsverbandes Dahlem am 10.9.2001 beruht, die unter Verstoß gegen § 12 Abs. 1 S. 1 und 2 LWahlG nicht in geheimer Abstimmung und unter Teilnahme von Personen, die der Partei oder dem Ortsverband nicht angehörten oder deren Mitgliedschaftsrechte ruhten, gewählt worden seien. Es verstoße ferner gegen § 12 Abs. 1 LWahlG, dass Personen bei der Kandidatenaufstellung mitgewirkt hätten, die im Wahlkreis oder im Bezirk nicht wahlberechtigt gewesen seien. Die Einsprechenden beantragen, 1. die Wahlen zum Abgeordnetenhaus im Bezirk Steglitz-Zehlendorf für ungültig zu erklären, 2. die Zulassung der Wahlvorschläge des Kreisverbands Steglitz-Zehlendorf der Christlich Demokratischen Union (CDU) vom 20. August 2001 unter Streichung der bisherigen Bewerber anzuordnen, hilfsweise, die Wahlen zum Abgeordnetenhaus des Landes Berlin vom 21. Oktober 2001 im Land Berlin für ungültig zu erklären. Die Senatsverwaltung für Inneres, der Landeswahlleiter und der Bezirkswahlleiter von Steglitz-Zehlendorf sowie die im Wahlkreisverband Steglitz-Zehlendorf auf Vorschlag der CDU gewählten Mitglieder des Abgeordnetenhauses M. Br., O. F., Prof. Dr. Ch. S. und K.-G. W. beantragen, den Einspruch zurückzuweisen.

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Sie und der Abgeordnete M. Bo. tragen vor: Der Einspruch sei unzulässig, weil die Einsprechenden tatsächlich geltend machten, der Bezirkswahlausschuss des Bezirks Steglitz-Zehlendorf habe den am 17.9.2001 eingereichten Wahlvorschlag des Kreisverbandes Steglitz-Zehlendorf der CDU zu Unrecht zugelassen. Diese Rüge sei jedoch nach § 40 Abs. 2 S. 2 VerfGHG im Wahlprüfungsverfahren ausgeschlossen. Diese Beschränkung betreffe auch den vorliegenden Fall. Sie stelle sicher, dass innerparteiliche und organisationsinterne Streitigkeiten weder bei der Wahlvorbereitung noch bei oder nach Durchfuhrung der Wahl zum Gegenstand einer Wahlprüfung gemacht werden könnten. Diese Zielsetzung liege auch § 13 Abs. 2 S. 2 LWahlG zugrunde, wonach die Prüfung derartiger Vorgänge durch die Wahlausschüsse ausgeschlossen sei. Der Einspruch sei ferner unbegründet. Der Bezirkswahlausschuss habe den am 17.9.2001 eingereichten Wahlvorschlag zulassen dürfen, weil dieser Wahlvorschlag denjenigen vom 20.8.2001 ersetzt habe. Der Wortlaut des § 35 LWahlO gebe über die Voraussetzungen der Ersetzung eines eingereichten Wahlvorschlags keine Auskunft. § 35 Abs. 3 LWahlO treffe zum Schutz eines eingereichten Wahlvorschlags lediglich eine Regelung darüber, dass nicht Parteiorgane oder aufgestellte Bewerber, sondern nur Vertrauenspersonen einen Wahlvorschlag zurückziehen könnten. Der Ersetzung eines Wahlvorschlags stände § 35 LWahlO nur dann entgegen, wenn diese Norm — was nicht der Fall sei — den eingereichten Wahlvorschlag auch gegenüber einer erneuten Kandidatennominierung durch die Aufstellungsversammlung abschirmen solle. § 35 Abs. 1 LWahlO erachte zur Änderung eines Wahlvorschlags eine erneute Aufstellungsversammlung für maßgeblich. Diese Norm verdeutliche, dass sich die wahlrechtliche Vertretungsbefugnis der Vertrauensperson (§ 29 Abs. 7 S. 1 LWahlO) nicht auf die Willensbildung der Aufstellungsversammlung beziehe. Daraus folge, dass auch die zur Rücknahme notwendige Erklärung der Vertrauenspersonen nach § 35 Abs. 3 LWahlO den Wahlvorschlag zwar grundsätzlich vor dem Zugriff der Parteiorgane schützen solle, eine erneute Kandidatennominierung durch die Aufstellungsversammlung aber nicht ausschließe. Mit der Einreichung des im September 2001 aufgestellten Wahlvorschlags habe sich der frühere Wahlvorschlag erledigt, ohne dass es einer Erklärung der Vertrauenspersonen des Wahlvorschlags vom 20.8.2001 bedurft habe. Die beteiligten Mitglieder des Abgeordnetenhauses fahren weiterhin aus: Der Wahlvorschlag vom 20.8.2001 sei „ex tunc" nichtig gewesen, denn die Aufstellung der Kandidaten sei unter Mitwirkung von im Ortsverband Dahlem satzungswidrig gewählten Delegierten erfolgt. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs seien Wahlakte, die von satzungswidrig gewählten Delegierten vorgenommen worden seien, von Anfang an nichtig. Bei dieser Sachlage habe eine erneute Kandidatenaufstellung vorgenommen werden müssen, die fehlerfrei erfolgt sei. Dabei seien die Einsprechenden wie auch andere auf dem Juliparteitag aufgestellte BeLVerfGE 13

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werber, die ebenfalls nicht auf ihre Nominierung verzichtet hätten, in verbundener Einzelwahl geheim mit 3/t-Mehrheit abgewählt worden. Es sei auch nicht richtig, dass es auf der Versammlung des Ortsverbandes Dahlem, auf der die Delegierten zu dem Septemberparteitag gewählt worden seien, zu Satzungsverstößen gekommen sei. Der am 17.9.2001 eingereichte Wahlvorschlag sei ordnungsgemäß von dem geschäftsfuhienden Vorsitzenden B. unterzeichnet worden. Einer Benennung von Vertrauenspersonen habe es — wie sich § 29 Abs. 7 S. 2 LWahlO entnehmen lasse - nicht bedurft. Wie die auf dem Wahlvorschlag vom Juli 2001 benannten Personen zu Vertrauenspersonen geworden seien, sei nicht geklärt. Ein formelles Benennungsverfahren habe es nicht gegeben. Für den Einspruch fehle es den Einsprechenden bereits am Rechtsschutzbedürfnis. Gegen ihre sie bindende Abwahl seien sie während des Kreisparteitags nicht vorgegangen. Dem Einsprechenden zu 2. fehle die Einspruchsbefugnis, weil er im Fall der begehrten Wahlaufhebung kein Mandat erringen würde. Er hätte weder auf der Grundlage des Erststimmenergebnisses im Wahlkreis 1 noch unter Berücksichtigung seines Platzes auf der Bezirksliste in das Abgeordnetenhaus einziehen können. Die Einsprechenden könnten ferner keine Rechte aus den vorgetragenen angeblichen Verstößen gegen die Landessatzung der CDU herleiten. Derartige Verstöße seien grundsätzlich unbeachtlich im Wahlprüfungsverfahren. Selbst wenn eine offenkundige Verletzung des Demokratieprinzips als Anfechtungsgrund genügen könnte, so nähmen sich die vorgetragenen und bestrittenen Mängel als geringe formelle Satzungsverstöße aus. Im Übrigen scheine der Einsprechende zu 1. von der Satzungskonformität der Wahl auszugehen. Anders lasse es sich nicht erklären, warum er das von ihm angestrengte Schiedsgerichtsverfahren trotz Fristsetzung nicht weiterbetrieben habe. Die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen im Abgeordnetenhaus von Berlin beantragt, den Hilfsantrag der Einsprechenden zurückzuweisen. Sie hält jedenfalls eine Neuwahl im gesamten Wahlgebiet für nicht sachgerecht. 4. Der Richter Dr. M. ist gem. § 16 Abs. 1 Nr. 3 VerfGHG von der Ausübung seines Richteramts in diesem Verfahren ausgeschlossen. Die Selbstablehnung des Präsidenten Prof. Dr. S. hat der Verfassungsgerichtshof durch Beschluss vom 16.5.2002 gem. § 17 Abs. 3 VerfGHG für begründet erklärt. II. Die auf § 40 Abs. 2 Nr. 1 VerfGHG gestützten Einsprüche sind zulässig. Den Einsprechenden steht die Einspruchsberechtigung zu. LVerfGE 13

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aa) Nach § 40 Abs. 3 Nr. 1 VerfGHG kann der Einspruch in Fällen des § 40 Abs. 2 Nrn. 1, 5 und 6 von der Vertrauensperson des betroffenen Wahlvorschlags, dem betroffenen Bewerber, Abgeordneten oder Bezirksverordneten eingelegt werden. Die Einsprechenden sind als Bewerber iSd § 40 Abs. 3 Nr. 1 VerfGHG anzusehen. Betroffene Bewerber sind neben Vertrauenspersonen in den Fällen des § 40 Abs. 2 Nr. 1 VerfGHG einspruchsberechtigt (Beschl. v. 21.2.2000 - VerfGH 123/99 - ; vgl. ferner Beschl. des Wahlprüfungsgerichts bei dem Abgeordnetenhaus vom 12.11.1975 - WPG 2.75 - und vom 28.5.1979 - WPG 7.79 - zu den mit § 40 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 und Abs. 3 Nr. 1 VerfGHG insoweit übereinstimmenden Regelungen des damals geltenden Wahlprüfungsgesetzes). Der Wortlaut des § 40 Abs. 3 Nr. 1 VerfGHG ließe zwar auch die Auslegung zu, dass sich die Einspruchsberechtigung des betroffenen Bewerbers nur auf den Fall des § 40 Abs. 2 Nr. 5 VerfGHG bezieht und im Fall des § 40 Abs. 2 Nr. 1 VerfGHG nur die Vertrauensperson einspruchsberechtigt sein soll. Entsprechend hat das Wahlprüfungsgericht bei dem Abgeordnetenhaus in einem Beschluss v. 22.6.1989 — WPG 6.89 — ohne nähere Begründung „ausschließlich" den Vertrauensmann des Wahlvorschlags für einspruchsberechtigt gehalten. Für eine restriktive Interpretation des § 40 Abs. 3 Nr. 1 VerfGHG könnte schließlich auch angeführt werden, dass sich die Einspruchsberechtigung der in dieser Norm genannten Abgeordneten und Bezirksverordneten ersichtlich nur auf den Fall des § 40 Abs. 2 Nr. 6 VerfGHG bezieht. Einer derartigen Auslegung des § 40 Abs. 3 Nr. 1 VerfGHG steht jedoch entgegen, dass sich die Einspruchsberechtigung des „betroffenen Bewerbers" nicht nur auf den Fall des § 40 Abs. 2 Nr. 5 VerfGHG, sondern daneben zumindest auch auf bestimmte Fälle des § 40 Abs. 2 Nr. 1 VerfGHG beziehen muss. Soweit die Zulassung von Einzelbewerbern im Streit steht, kann deren Nichtzulassung nur von diesen selbst gerügt werden (vgl. Beschl. des Wahlprüfungsgerichts v. 10.7.1979 - WPG 9.79 -), da die Institution der Vertrauensperson auf Wahlvorschläge von Parteien und Wählergemeinschaften beschränkt ist. Für eine Auslegung dahingehend, dass sich die Einspruchsberechtigung nach § 40 Abs. 3 Nr. 1 VerfGHG im Falle des § 40 Abs. 2 Nr. 1 VerfGHG nur auf Einzelbewerber beziehe, bietet der Wortlaut des § 40 Abs. 3 Nr. 1 VerfGHG jedoch keinen Ansatz. Ebenso wenig sprechen Sinn und Zweck dieser Norm dafür, Bewerber, die auf Wahlvorschlägen politischer Parteien oder von Wählergemeinschaften benannt werden, hinsichtlich ihrer Rechtsschutzmöglichkeiten im Falle der Nichtzulassung zur Wahl schlechter zu behandeln als Einzelbewerber. Das Einspruchsrecht der Vertrauensperson als Vertreterin des Wahlvorschlagsträgers soll lediglich den Rechtsschutz der Parteien und Wählergemeinschaften gewährleisten und dient nicht dazu, „Parteibewerber" zu mediatisieren. bb) Allerdings vertreten die beteiligten Mitglieder des Abgeordnetenhauses des Weiteren die Auffassung, die Wahlvorschläge vom 20.8.2001 seien durch die LVerfiGE 13

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Einreichung der neuen Kandidatenlisten am 17.9.2001 gegenstandslos geworden und die Einsprechenden hätten dadurch ihren formellen Status als Bewerber verloren. Selbst wenn diese Annahme zutreffen sollte, folgt daraus nicht, dass die Einsprechenden nicht einspruchsberechtigt iSd § 40 Abs. 3 Nr. 1 VerfGHG sind. Es bedarf hier keiner Entscheidung, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang der Einsprechende allgemein seine Eigenschaft als Bewerber darlegen und belegen muss, um zur Zulässigkeit des Einspruchs zu kommen. Im vorliegenden Fall steht nämlich fest, dass die Einsprechenden jedenfalls mit Einreichung der Wahlvorschläge vom 20.8.2001 am 5.9.2001 formell Bewerber geworden waren. Selbst wenn sie diesen Status noch vor der Entscheidung des Bezirkswahlausschusses verloren haben sollten, müssen sie jedoch insoweit noch als Bewerber iSd § 40 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3 Nr. 1 VerfGHG gelten, als sie das Fortbestehen dieses Status geltend machen und hieraus Rechte herleiten. Nur so kann das sie betreffende Verhalten der mit der Wahlvorbereitung betrauten Stellen gerichtlich überprüft und können die dem auf einem eingereichten Wahlvorschlag benannten Bewerber zustehenden Rechte nach §§ 13,14 LWahlG, §§ 35 ff LWahlO gewahrt werden. b) Soweit der Bezirkswahlausschuss die Wahlvorschläge vom 20.8.2001 in seiner Sitzung vom 19.9.2001 übergangen hat, ist diese Unterlassung ein tauglicher Gegenstand der Einsprüche. aa) Die beteiligten Mitglieder des Abgeordnetenhauses halten die Einsprüche für unzulässig, weil der Bezirkswahlausschuss über die Wahlvorschläge vom 20.8.2001 gar nicht entschieden habe. Dem kann nicht gefolgt werden. Nach dem Wortlaut des § 40 Abs. 2 Nr. 1 VerfGHG kommt es nicht darauf an, ob der Bezirkswahlausschuss förmlich über bestimmte Wahlvorschläge und Bewerber entschieden und eine Zulassung abgelehnt hat. Die Vorschrift knüpft vielmehr an eine Unterlassung („Nichtzulassung") des zuständigen Wahlorgans an und erklärt damit auch die schlichte Nichtberücksichtigung von Wahlvorschlägen und Bewerbern für angreifbar. Anhaltspunkte dafür, dass die Norm einem „außer Acht" gelassenen Bewerber weniger Rechtsschutz als einem förmlich abgelehnten gewährt, sind nicht ersichtlich. Es kann nicht Sache des mit der Wahlvorbereitung betrauten Bezirkswahlausschusses sein, durch sein Verhalten darüber zu bestimmen, ob ein Wahlbewerber seine Berücksichtigung gerichtlich durchsetzen kann oder nicht. bb) Die Einsprüche sind ferner nicht deshalb unzulässig, weil die Einsprechenden geltend machen, der Bezirkswahlausschuss habe den am 17.9.2001 eingereichten Wahlvorschlag zu Unrecht zugelassen. Zwar kann nach § 40 Abs. 2 S. 2 VerfGHG ein Einspruch nicht darauf gestützt werden, dass ein Wahlkreisvorschlag, eine Liste oder ein Bezirkswahlvorschlag zu Unrecht zugelassen worden sei. Nach Auffassung des Landeswahlleiters soll diese Bestimmung u.a. eingreifen, wenn der Einspruch darauf gestützt wird, ein Wahlvorschlag sei deshalb nicht zugelassen worden, weil an dessen Stelle ein anderer Wahlvorschlag zugelassen LVerfGE 13

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worden sei. Damit seien die meisten Streitigkeiten zwischen Wahlvorschlägen derselben Partei aus dem Wahlprüfungsverfahren ausgeschlossen. Diese These findet weder im Wortlaut noch in der Systematik der Norm eine Stütze. In § 40 Abs. 2 Nr. 1 VerfGHG ist die Nichtzulassung eines Wahlvorschlags oder Bewerbers ohne jeden einschränkenden Zusatz als Einspruchsgrund benannt. Nach dem Wortlaut des Satzes 2 des § 40 Abs. 2 VerfGHG bezieht sich diese Regelung zwar auf sämtliche zuvor aufgeführten acht Einspruchsgründe und nicht nur auf den „Auffangtatbestand" der Nr. 8. Sie schließt jedoch lediglich aus, dass ein Einspruchsberechtigter die Wahl allein schon deshalb anfechten kann, weil nach seiner Auffassung ein konkurrierender Wahlvorschlag zu Unrecht zugelassen wurde. Der Fall, dass der Einspruch eines betroffenen Bewerbers auch darauf gestützt wird, er selbst sei zu Unrecht nicht zugelassen worden, fällt nicht darunter. Dass diese Regelung nicht einen Wahlvorschlagsträger oder Bewerber von der Durchsetzung seines Rechtes auf Wahlteilnahme „auf Kosten" anderer Wahlvorschläge oder Bewerber ausschließen soll, zeigt außerdem die Regelung des § 42 Nr. 1 VerfGHG. Könnte mit einem Einspruch nach § 40 Abs. 2 Nr. 1 VerfGHG nicht auch jedenfalls mittelbar gegen die Zulassung eines anderen Wahlvorschlages oder Bewerbers vorgegangen werden, so wäre nicht verständlich, warum in der die Tenorierung durch den Verfassungsgerichtshof regelnden Vorschrift des § 42 Nr. 1 VerfGHG ausdrücklich die Streichung bisheriger Bewerber vorgesehen ist. Dasselbe Ergebnis wird schließlich durch die historische Auslegung der Norm belegt. Die Vorschriften über die Einspruchsberechtigung im Gesetz über den Verfassungsgerichtshof beruhen im Wesentlichen auf einer Übernahme der Regelungen des Wahlprüfungsgesetzes, welches bis zur Errichtung des Verfassungsgerichtshofs die Wahlprüfung dem Wahlprüfungsgericht bei dem Abgeordnetenhaus von Berlin zuwies. Nach § 3 Abs. 2 Buchst, a des Wahlprüfungsgesetzes vom 16.10.1958 (GVB1. S.1021) konnte ein Einspruch u.a. darauf gestützt werden, dass ein Wahlvorschlag, ein Bewerber oder ein Ersatzbewerber zu Unrecht nicht zugelassen worden sei. Eine § 40 Abs. 2 Satz 2 VerfGHG entsprechende Regelung war in der ursprünglichen Fassung des Wahlprüfungsgesetzes nicht enthalten. Erst mit Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Änderung des Wahlprüfungsgesetzes vom 7.10.1974 (GVB1. S. 2566) wurde § 3 Abs. 2 des Wahlprüfungsgesetzes folgender Satz 2 angefügt: „Der Einspruch kann nicht darauf gestützt werden, dass ein Kreiswahlvorschlag, eine Bezirksliste oder ein Bezirkswahlvorschlag zu Unrecht zugelassen worden sei." Es handelte sich nach der damaligen Gesetzesbegründung um eine „Klarstellung" dahingehend, dass ein bis dato gesetzlich nicht ausdrücklich geregelter, vom Wahlprüfungsgericht aber unter die Auffangvorschrift des § 3 Abs. 2 Buchst, h WahlPrüfG subsumierter Einspruch gegen die Zulassung eines Wahlvorschlags nicht mehr möglich sein sollte (vgl. Nr. 1 der Begründung zur Vorlage des Senats vom 29.4.1974 über die Vorlage zum Zweiten Gesetz zur Änderung des Wahlprüfungsgesetzes, Abgh-Drs. 6/1384 S. 2). Aus der Entstehungsgeschichte des § 3 Abs. 2 S. 2 WahlPrüfG erLVerfGE 13

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gibt sich mithin, dass der Ausschluss des Einspruchs gegen die Zulassung von (konkurrierenden) Wahlvorschlägen zwar — wie dies auch vom Landeswahlleiter in Bezug auf § 40 Abs. 2 S. 2 VerfGHG vorgetragen wird - aus Gründen der Entlastung der mit der Beurteilung parteiinterner Vorgänge „überforderten" Wahlorgane geregelt werden sollte. Dabei wurde dem Umstand, dass die Stimmen eines zu Unrecht zugelassenen Bewerbers bei Nichtzulassung u.U. einem konkurrierenden Bewerber zugute kommen, nicht als zwingender Grund dafür gesehen, die Zulassung eines Wahlvorschlags nachträglich zum Gegenstand eines Wahlprüfungsverfahrens zu machen. Ein (partieller) Ausschluss der in § 3 Abs. 2 Buchst, a iVm Abs. 3 Buchst, a WahlPrüfG verbrieften Einspruchsbefugnis von Wahlvorschlagsträgern und Bewerbern in Bezug auf die eigene Teilnahme an der Wahl war jedoch weder Gegenstand der Novellierung des § 3 Abs. 2 WahlPrüfG im Jahre 1974 noch späterer Änderungen des Wahlprüfungsgesetzes. c) Die Einsprechenden haben auch ein Rechtsschutzbedürfnis hinsichtlich der beantragten Entscheidungen. Soweit die beteiligten Mitglieder des Abgeordnetenhauses meinen, den Einsprechenden fehle ein solches Rechtsschutzbedürfnis, weil sie auf dem Parteitag im September 2001 als Bewerber abgewählt worden seien und hiergegen nicht vorgegangen seien, kann dem nicht gefolgt werden. Das Rechtsschutzbedürfnis wäre nur dann zu verneinen, wenn der Einspruch den Einsprechenden keinen rechtlichen Vorteil bringen könnte, es einfachere oder effektivere Möglichkeiten des Rechtsschutzes gäbe oder der Einspruch sich als rechtsmissbräuchlich darstellen würde. Mit einem erfolgreichen Einspruch und nur durch einen solchen könnten sich die Einsprechenden jedoch die Teilnahme als Kandidaten an einer Wiederholungswahl zum Abgeordnetenhaus sichern. Die Anfechtung ihrer Abwahl hätten sie allenfalls dann als einfachere Möglichkeit in Betracht ziehen müssen, wenn damit die Ungültigkeit der Abwahl bis zu der Entscheidung über die Zulassung der Wahlvorschläge hätte festgestellt werden können und wenn in Folge einer entsprechenden schiedsgerichtlichen Entscheidung zu erwarten gewesen wäre, dass die auf der Grundlage des Septemberparteitags erstellten Wahlvorschläge nicht eingereicht bzw. zurückgezogen worden wären. Mit einer solchen schiedsgerichtlichen Klärung der Rechtmäßigkeit ihrer Abwahl konnten die Einsprechenden jedoch nach Lage der Dinge nicht innerhalb der hierfür zur Verfügung stehenden Zeit zwischen ihrer Abwahl am 15.9.2001 und der Entscheidung des Bezirkswahlausschusses vom 19.9.2001 rechnen und auch nicht bis zur Beschwerdeentscheidung des Landeswahlausschusses am 26.9.2001. Der Einspruch ist auch nicht rechtsmissbräuchlich. Soweit die beteiligten Abgeordneten meinen, die Einsprechenden müssten sich auf die „Regeln der Demokratie" verweisen lassen und ihre Abwahl hinnehmen, ergibt sich hieraus noch nicht, dass die Einsprechenden auf einen Einspruch zu „verzichten" hätten. Dass die in ihrer Gültigkeit umstrittene Abwahl der Einsprechenden überhaupt LVerfGE 13

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von Bedeutung für die begehrte Zulassung der Wahlvorschläge vom 20.8.2001 ist, wird von den Einsprechenden nämlich bestritten, und die Erheblichkeit der Abwahl ist durchaus zweifelhaft im Hinblick auf den die Rücknahme oder Änderung von Wahlvorschlägen regelnden § 35 LWahlO sowie den Grundsatz des § 13 Abs. 2 S. 2 LWahlG, wonach die Prüfung partei- und organisationsinterner Vorgänge im Zulassungsverfahren ausgeschlossen ist. d) Der Einspruch des Einsprechenden zu 2. ist schließlich entgegen der Auffassung der beteiligten Abgeordneten auch nicht wegen fehlender Mandatsrelevanz unzulässig. Fehlende Mandatsrelevanz führt allenfalls zur Unbegründetheit, nicht aber zur Unzulässigkeit des Einspruchs (vgl. Beschl. v. 17.3.1997 — VerfGH 82/95 LVerfGE 6, 28, 30; vgl. ferner Wahlprüfungsgericht bei dem Abgeordnetenhaus, Urt. v. 12.11.1975 - WPG 2.75 OVGE Bin 13, 244, 247 f sowie BVerfGE 89, 243, 254 f). e) Die Monatsfrist für die Einlegung der Einsprüche nach § 40 Abs. 4 VerfGHG ist gewahrt. Die Einsprüche wurden am 27.12.2001 und mithin innerhalb eines Monats nach der Bekanntmachung des Wahlergebnisses vom 27.11.2001 im Amtsblatt für Berlin (S. 5133) eingelegt. Sie wurden innerhalb dieser Frist auch begründet. Zweifelhaft ist lediglich, ob die im Schriftsatz vom 25.7.2002 nachgeschobene weitere Begründung berücksichtigungsfähig ist, soweit darin erstmals gerügt wird, dass „bezirksfremde" Parteimitglieder an der Nominierung der Delegierten im Kreisverband Steglitz-Zehlendorf teilgenommen haben. Auf diesen Vortrag kommt es jedoch für die getroffene Entscheidung nicht an. 2. Die Einsprüche sind unbegründet. Das in § 14 Nr. 2, §§ 40 ff VerfGHG geregelte Wahlprüfungsverfahren dient dem Schutz des objektiven Wahlrechts, somit der Gewährleistung der richtigen Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses und der Bezirksverordnetenversammlungen. Der Verfassungsgerichtshof kann die Wahlen im Falle eines auf § 40 Abs. 1 Nr. 1 VerfGHG gestützten Einspruchs nur dann für ungültig erklären und unter Streichung der bisherigen Bewerber die Zulassung eines Wahlvorschlags anordnen, wenn ein Wahlvorschlag zu Unrecht nicht zugelassen worden ist. Die Nichtzulassung eines Wahlvorschlags oder eines Bewerbers ist — wie sich mittelbar aus § 40 Abs. 2 Nr. 8 VerfGHG („sonst") ergibt - an den Vorschriften des Grundgesetzes, der Verfassung von Berlin, des Landeswahlgesetzes und der Landeswahlordnung zu messen. Nach § 13 Abs. 1 LWahlG entscheidet der Bezirkswahlausschuss über die Zulassung der Wahlkreisvorschläge und Bezirkslisten sowie die in den Wahlkreisvorschlägen und Bezirkslisten aufgestellten Personen. Dabei ist die Prüfung partei- oder organisationsinterner Vorgänge ausgeschlossen (§ 13 Abs. 2 S. 2 LWahlG). a) Gem. § 13 Abs. 2 S. 3 LWahlG regelt die Landeswahlordnung die Nichtzulassungsgründe. Dementsprechend sind in § 38 LWahlO Gründe für eine LVerfGE 13

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Nichtzulassung von Wahlvorschlägen und Bewerbern aufgeführt. Eine nähere Prüfung dieser Gründe wäre vorliegend nur dann entbehrlich, wenn die Wahlvorschläge vom 20.8.2001 im Zeitpunkt der Entscheidung des Bezirkswahlausschusses zurückgenommen waren oder sich sonst erledigt hatten. Da die Landeswahlordnung für einen derartigen Fall keinen förmlichen Abschluss des Verfahrens vorsieht, hätte der Bezirkswahlausschuss die Wahlvorschläge vom 20.8.2001 bei seiner Entscheidung vom 19.9.2001 in diesem Fall ohne weiteres „außer Acht" lassen können. Nach § 35 Abs. 1 S. 1 LWahlO kann der Wahlvorschlag einer Partei bis zum Ablauf der Einreichungsfrist durch schriftliche Erklärung der Vertrauensperson geändert werden, wenn eine neue Aufstellungsversammlung stattgefunden hat. Weiterhin kann der Wahlvorschlag bis zum Zeitpunkt der Zulassungsentscheidung durch gemeinsame schriftliche Erklärung der Vertrauensperson und ihres Stellvertreters zurückgezogen werden (§ 35 Abs. 3 Alt. 1 LWahlO). In den Wahlvorschlägen vom 20.8.2001 waren die Beteiligte G. als Vertrauensperson und der Einsprechende zu 2. als ihr Stellvertreter benannt worden. Diese Personen haben gegenüber dem Bezirkswahlausschuss keine Erklärung über die Änderung oder die Rücknahme der Wahlvorschläge abgegeben. Es kann insoweit auch offen bleiben, ob diese Vertrauenspersonen des Wahlvorschlags wirksam benannt wurden. Enthalten Wahlvorschläge von Parteien oder Wählergemeinschaften entgegen § 29 Abs. 7 S. 1 LWahlO keine Angaben zu der zu ihrer Vertretung ermächtigten Vertrauensperson und ihres Stellvertreters, so gilt nach Satz 2 dieser Vorschrift die erste (den Wahlvorschlag) unterzeichnende Person als Vertrauensperson, die zweite als Stellvertreter. Als Erstund Zweitunterzeichner der Wahlvorschläge traten der Kreisvorsitzende Dr. A. und der Beisitzer K. auf. Diese Personen haben jedoch ebenfalls keine gemeinsame Rücknahmeerklärung nach § 35 Abs. 3 LWahlO gegenüber dem Bezirkswahlausschuss abgegeben. Der Beisitzer K. ist allerdings als Drittunterzeichner der Wahlvorschläge vom 17.9.2001 aufgetreten. Hierin kann jedoch keine die Änderung der Wahlvorschläge vom 20.8.2001 betreffende schriftliche Erklärung nach § 35 Abs. 1 LWahlO gesehen werden. Es ist auch nichts dafür ersichtlich, dass die hinsichtlich der Wahlvorschläge vom 20.8.2001 ursprünglich benannten Vertrauenspersonen abberufen und durch andere ersetzt worden wären und durch diese neu benannten Vertrauenspersonen Änderungs- oder Rücknahmeerklärungen abgeben wurden. Anders als § 22 Abs. 3 BWG enthält das Berliner Wahlrecht keine Vorschrift, welche die Abberufung und Ersetzung von Vertrauenspersonen regelt. Wenn man eine solche gleichwohl für zulässig hält, so fehlt es vorliegend jedenfalls an den entsprechenden Erklärungen zur Benennung neuer Vertrauenspersonen. Eine ausdrückliche Abberufung der Beteiligten G. und des Einsprechenden zu 2., die gegenüber dem Bezirkswahlausschuss hätte erklärt werden müssen, hat zu keinem Zeitpunkt stattgefunden. Allerdings hatte der stellvertretende Kreisvorsitzende der CDU, der beLVerfGE 13

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teiligte Abgeordnete Bo., dem Bezirkswahlleiter im Zusammenhang mit der Einreichung neuer Wahlvorschläge schriftlich mitgeteilt, dass die bisher eingereichten Vorschläge obsolet geworden seien und die nunmehr eingereichten Unterlagen gälten. In dieser mit der Einreichung neuer Wahlvorschläge verbundenen Erklärung mag zwar inhaltlich die Erklärung einer Abberufung der für die früheren Wahlvorschläge benannten Vertrauenspersonen und einer Rücknahme der zunächst eingereichten Wahlvorschläge gesehen werden können. Dafür fehlt es jedoch hinsichtlich der Abberufungserklärung an der Form des § 29 Abs. 8 LWahlO und hinsichtlich der Rücknahmeerklärung an der Form des § 35 Abs. 3 LWahlO. Weder in der Erklärung des beteiligten Abgeordneten Bo. noch in den neu eingereichten, von diesem Beteiligten als Erstem unterzeichneten Wahlvorschlägen lassen sich im Übrigen Hinweise dafür finden, dass — für welchen Wahlvorschlag auch immer — Vertrauenspersonen benannt werden sollten. Für die neu eingereichten Wahlvorschläge wurde auf die Benennung von Vertrauenspersonen verzichtet; das entsprechende Feld auf den Formularen blieb unausgefüllt. Dies hatte zur Folge, dass die Fiktion des § 29 Abs. 7 S. 2 LWahlO eingriff und der Erstunterzeichner B. als Vertrauensperson für diese Wahlvorschläge galt. Wurde aber in Zusammenhang mit der Einreichung der neuen Wahlvorschläge der Abgeordnete Bo. gerade nicht als Vertrauensperson für die neuen Wahlvorschläge benannt und erhielt er diese Stellung mithin lediglich im Wege der Fiktion, so kann in den betreffenden Erklärungen nicht gleichzeitig eine Benennung dieses Beteiligten zur (neuen) Vertrauensperson bezüglich der bisherigen Wahlvorschläge gesehen werden. Auch insoweit hätte eine Abberufung der bisherigen Vertrauenspersonen allenfalls dazu geführt, dass nunmehr die Erst- und Zweitunterzeichner der alten Wahlvorschläge, Dr. A. und K., entsprechend § 29 Abs. 7 S. 2 LWahlO als Vertrauenspersonen gegolten hätten und mithin für die Rücknahme der alten Wahlvorschläge zuständig gewesen wären. Wie bereits oben ausgeführt, haben diese Personen jedoch keine derartigen Erklärungen abgegeben. Der Landeswahlleiter, die Senatsverwaltung für Inneres, der Bezirkswahlleiter von Steglitz-Zehlendorf und die beteiligten Mitglieder des Abgeordnetenhauses vertreten weiterhin die Auffassung, dass mit Einreichung der von einer neuen Aufstellungsversammlung beschlossenen Wahlvorschläge die ursprünglich eingereichten Wahlvorschläge obsolet geworden und „ersetzt" worden seien. Da § 35 LWahlO den Fall der Ersetzung nicht regele, gälten auch dessen Voraussetzungen für den Fall der Ersetzung eines Wahlvorschlags nicht. Insoweit ist zunächst zu berücksichtigen, dass die landeswahlrechtlichen Normen — ebenso wie die für die Wahl zum Bundestag geltenden Vorschriften — keine (ausdrücklichen) Regelungen über die „Ersetzung" von Wahlvorschlägen enthalten. Eine stillschweigende Anerkennung eines im Wege der Auslegung oder auch der Analogie zu entwickelnden Instituts der „Ersetzung" von Wahlvorschlägen würde zunächst einmal voraussetzen, dass hierfür angesichts der differenzierenden Regelungen des § 35 LWahlO Raum ist und ein entsprechendes Bedürfnis LVerfGE 13

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besteht. Zwar dürfte es zutreffen, dass die Regelung über die Änderung oder Rücknahme von Wahlvorschlägen nicht den Zweck hat, eingereichte Wahlvorschläge gegen die Ersetzung durch — eventuell neuen Mehrheitsverhältnissen Rechnung tragende - neue Wahlvorschläge abzuschirmen. Dies ergibt sich schon daraus, dass § 35 Abs. 3 LWahlO die Änderung von Wahlvorschlägen unter der Voraussetzung zulässt, dass zuvor eine neue Aufstellungsversammlung stattgefunden hat. Auch die Regelung des § 14 Abs. 1 S. 3 LWahlG bestätigt das Recht der Parteien, vor Ablauf der Einreichungsfrist neue Wahlvorschläge einzureichen oder Wahlvorschläge zu ändern. Hieraus kann geschlossen werden, dass es Parteien im Interesse einer möglichst aktuellen demokratischen Legitimation möglich sein muss, auch gegen den Willen der ursprünglich benannten Vertrauensperson Wahlvorschläge zu ersetzen. Dies belegt aber noch nicht die Notwendigkeit einer abweichend von den Formalien des § 35 LWahlO zu beurteilenden, formungebundenen „Ersetzung" von Wahlvorschlägen. Die Partei hat weiterhin die Möglichkeit, die eingereichten Wahlvorschläge zu ändern oder ganz zurückzunehmen und so die Wahlvorschläge an die aktuellen Mehrheitsverhältnisse anzupassen. Dies setzt allerdings die Mitwirkung der Vertrauensperson(en) des zuerst eingereichten Wahlvorschlags voraus. Es ist nicht auszuschließen, dass diese Vertrauenspersonen die Abgabe der Rücknahmeerklärung verweigern, obwohl eine spätere Aufstellungsversammlung die Nominierung neuer Kandidaten beschlossen hat. Dies gilt insbesondere dann, wenn die betreffende Person aufgrund ihrer eigenen Nominierung ein Interesse an der Aufrechterhaltung des Wahlvorschlags hat. Im Falle einer solchen „Blockade" muss die Partei die Vertrauenspersonen abberufen. Zwar enthält das Berliner Wahlrecht, wie bereits erwähnt, keine ausdrückliche Regelung zur Abberufung und Ersetzung von Vertrauenspersonen. Hieraus folgt jedoch nicht, dass die Abberufung und Ersetzung von Vertrauenspersonen grundsätzlich unzulässig wäre. Einziger Sinn und Zweck der Regelung des § 29 Abs. 7 LWahlO, welche die gesetzliche Vertretung der Parteien und Wählergemeinschaften hinsichtlich der von diesen eingereichten Wahlvorschläge durch besondere Vertreter bestimmt, ist es, den Kontakt zwischen den Wahlbehörden und -organen und den Trägern der Wahlvorschläge zu erleichtern. Die Vorschrift bezweckt hingegen nicht, den Vertrauenspersonen als solchen einen bestimmenden Einfluss auf die Kandidatenaufstellung einzuräumen und sie gegenüber Einflüssen oder Weisungen ihrer Partei zu immunisieren. Wie der Begriff der Vertrauensperson andeutet, gehört das Fortbestehen einer Vertrauenslage zur Geschäftsgrundlage zwischen Wahlvorschlagsträger und dem Vertreter ihres Wahlvorschlags. Ist dieses Vertrauen nachträglich entfallen, so ist es dem nach § 12 LWahlG zur Aufstellung von Wahlvorschlägen berechtigten Wahlvorschlagsträger möglich, die Benennung der jeweiligen Vertrauensperson zu widerrufen und neue Vertrauenspersonen zu benennen. Dies ist aber - wie bereits ausgeführt — nicht erfolgt. LVerfGE 13

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Wenn die Abberufung und Ersetzung von Vertrauenspersonen nach dem Berliner Landeswahlrecht möglich ist, tatsächlich jedoch unterbleibt, so ist weder Raum noch besteht ein Bedürfnis dafür, neben den gesetzlichen Regelungen über die Einreichung, Rücknahme und Änderung von Wahlvorschlägen ein ungeschriebenes Rechtsinstitut der Ersetzung von Wahlvorschlägen anzuerkennen. b) Da die Wahlvorschläge vom 20.8.2001 somit weder geändert noch zurückgezogen wurden und sich auch nicht durch „Ersetzung" erledigt hatten, musste der Bezirkswahlausschuss nach § 37 LWahlO über die Zulassung der Wahlvorschläge und der aufgestellten Bewerber entscheiden. Eine derartige Entscheidung hat er unterlassen. Im Ergebnis ist diese Unterlassung allerdings nicht zu beanstanden, denn die Zulassung der Wahlvorschläge vom 20.8.2001 musste abgelehnt werden. aa) Zwar scheiterte die Zulassung dieser Wahlvorschläge nicht schon daran, dass sie nicht die Vorschriften über die Aufstellung von Wahlvorschlägen erfüllten (§ 38 Abs. 1 Buchst, e LWahlO). Die beteiligten Mitglieder des Abgeordnetenhauses halten die den Wahlvorschlägen zugrunde liegende Aufstellung der Bewerber für nichtig, weil sie unter Beteiligung von satzungswidrig gewählten Delegierten des Ortsverbandes Dahlem durchgeführt worden sei. Das Bundesparteigericht der CDU habe die Unwirksamkeit der auf der Jahreshauptversammlung des Ortsverbandes Dahlem durchgeführten Wahlen der Delegierten bestätigt, weil die Ladungsfrist für die Jahreshauptversammlung des Ortsverbandes Dahlem nicht eingehalten worden sei. Dieser Einwand greift nicht durch. § 12 LWahlG regelt die Aufstellung der Wahlvorschläge durch Parteien. Danach ist über die Wahlkreisvorschläge und Bezirkslisten in einer Versammlung der Parteimitglieder, die im Wahlkreisverband wahlberechtigt sind oder der dem Wahlkreisverband entsprechenden bezirklichen Gliederung der Partei angehören, geheim abzustimmen (Abs. 1 S. 1). An die Stelle der Mitgliederversammlung kann eine Delegiertenversammlung treten, die von den bezeichneten Parteimitgliedern „für die Aufstellung von Wahlvorschlägen satzungsgemäß gewählt" worden ist (Abs. 1 S. 2). Fraglich ist, wie dieser Verweis auf die jeweilige Parteisatzung vor dem Hintergrund der Forderung des § 13 Abs. 2 S. 2 LWahlG zu verstehen ist, wonach bei der Entscheidung über die Zulassung der Wahlvorschläge die Prüfung partei- und organisationsinterner Vorgänge ausgeschlossen ist. Nach dem Wortlaut des § 12 Abs. 1 S. 2 LWahlG könnte dies im Sinne einer lückenlosen Beachtung der Bestimmungen der Parteisatzung in Bezug auf die Wahl einer Delegiertenversammlung zu verstehen sein. Die Formulierung „satzungsmäßig gewählt" könnte aber auch lediglich das Erfordernis einer satzungsmäßigen Ermächtigung für die Abhaltung von Delegiertenversammlungen enthalten. Für eine Deutung im letzteren Sinne spricht, dass § 12 Abs. 1 LWahlG bei der Wahl der Kandidaten durch die Mitgliederversammlung oder die Delegiertenversammlung gerade keine satzungsgemäße Wahl verlangt. Es wäre kaum einsichLVerfGE 13

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tig, wenn an die Wahl der Delegiertenversammlung höhere Anforderungen gestellt würden als an die Aufstellung der Bewerber selbst. Für ein Verständnis des § 12 Abs. 1 S. 2 LWahlG im Sinne einer „satzungsgemäß vorgesehenen" Delegiertenversammlung spricht auch, dass sich so das mit § 13 Abs. 2 S. 2 LWahlG verfolgte Ziel, den Wahlorganen die Prüfung parteiinterner Vorgänge zu entziehen, am weitgehendsten erreichen lässt (vgl. zur Zielsetzung der Vorschrift die Begründung zur Vorlage über das Vierte Änderungsgesetz zum Landeswahlgesetz v. 28.2.1973, Abgh-Drs. 6/801 S. 3). Dass § 12 Abs. 1 S. 2 LWahlG keine Delegiertenwahl unter Beachtung der Satzungsbestimmungen verlangt, belegt schließlich die Entstehungsgeschichte der Norm. Ein Hinweis auf die Parteisatzung war in den die Aufstellung von Wahlvorschlägen durch Delegiertenversammlungen regelnden Vorschriften des Landeswahlgesetzes bis zum Jahre 1984 überhaupt nicht enthalten. Mit Art. I Nr. 8 des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen vom 17.4.1984 (GVB1. S. 600) erhielt dann § 12 Abs. 1 S. 1 LWahlG folgende Fassung: „Über die Wahlvorschläge einer Partei hat im Wahlkreisverband eine Versammlung der Mitglieder der Partei oder eine satzungsgemäß dafür bestimmte Vertreterversammlung abzustimmen." Damit sollte sichergestellt werden, dass eine Vertreterversammlung bei der Aufstellung von Wahlvorschlägen nur dann an die Stelle der Mitgliederversammlung treten darf, wenn dies in der Parteisatzung ausdrücklich vorgesehen ist (vgl. die Begründung des Senats zur Vorlage dieses Gesetzes, Abgh-Drs. 9/1590 S. 6). Durch Art. I Nr. 4 des Vierten Gesetzes zur Änderung des Landeswahlgesetzes v. 7.6.1994 (GVB1. S. 165) wurde schließlich die derzeit geltende Fassung des § 12 Abs. 1 LWahlG eingeführt. Nach der Begründung des von den Fraktionen der CDU und der SPD eingereichten Gesetzentwurfes diente diese Änderung der „Klarstellung". Hiermit dürfte die im Vergleich zur früheren Fassung präzisierte Umschreibung des Kreises der zur Aufstellung berechtigten Personen gemeint gewesen sein. Anhaltspunkte dafür, dass mit der vorgenommenen Änderving die Regelung über die satzungsgemäß bestimmte Vertreterversammlung im Sinne einer gesetzlichen Verweisung auf das Satzungsrecht der Parteien umgestaltet werden sollte, sind nicht ersichtlich. Ist mithin § 12 Abs. 1 S. 2 LWahlG schon dann genügt, wenn das Satzungsrecht der Partei die Möglichkeit einer Kandidatenaufstellung durch eine Delegiertenversammlung vorsieht, ist es unerheblich, ob bei der Wahl der Delegierten die Satzung der Partei in jeder Hinsicht beachtet wurde. Dementsprechend ist es entgegen der Auffassung der beteiligten Mitglieder des Abgeordnetenhauses wahlrechtlich auch ohne Bedeutung, ob die Wahl vereinsrechtlich wegen eines Satzungsverstoßes nichtig ist. Der geltend gemachte Satzungsverstoß wäre nur dann wahlrechtlich relevant, wenn er so schwerwiegend wäre, dass die durch den Ortsverband Dahlem bestimmten Delegierten nicht als im Rechtssinne „gewählt" bezeichnet werden LVerfGE 13

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könnten. So hat das Bundesverfassungsgericht aus der Funktion der wahlrechtlichen Regelungen in den §§ 21, 27 BWG, die personale Grundlage einer demokratischen Wahl zu schaffen, den Schluss gezogen, dass bei der Bestimmung der Delegierten ein Kernbestand an Verfahrensgrundsätzen eingehalten werden müsse. Werde von einer Partei hiergegen verstoßen, könne der hieraus hervorgegangene Kandidatenvorschlag nicht Grundlage eines demokratischen Wahlvorgangs sein (BVerfGE 89, 243, 252 f). Es hat allerdings ausgeführt, Bundeswahlgesetz und Bundeswahlordnung regelten den äußeren Ablauf von Wahlkreismitgliederversammlungen nicht und überließen alle Einzelheiten ihrer näheren Ausgestaltung der wahlrechtlich nicht überprüfbaren autonomen inneren Ordnung der Parteien. Das Gericht hielt deshalb Rügen, die gegen den äußeren Rahmen der Veranstaltung und gegen einzelne Begleitumstände ihrer Einberufung gerichtet waren, für wahlrechtlich unerheblich. Auch das Hamburgische Verfassungsgericht hat die Auffassung vertreten, dass auf Satzungsrecht einer Partei oder einer tatsächlichen Durchführung des Wahlbewerberauswahlverfahrens beruhende schwere Fehler bei der Auswahl, Aufstellung und Nominierung von Wahlbewerbern für Volksvertretungen zur Zurückweisung von Wahlvorschlägen fuhren könnten (HambVerfG, Urt. v. 4.5.1993 - HVerfG 3/92 - , HmbJVBl 1993, 56, 63). Ob und gegebenenfalls in welchem Umfang diese verfassungsgerichtliche Rechtsprechung auch auf die Rechtslage in Berlin anwendbar ist, bedarf keiner Entscheidung. Ein wahlrechtlich erheblicher Fehler bei der Wahl der Delegierten im Ortsverband Dahlem im Sinne eines Verstoßes gegen einen Kernbestand an demokratischen Verfahrensgrundsätzen liegt nämlich nicht vor. Die von den beteiligten Mitgliedern des Abgeordnetenhauses gerügte Nichteinhaltung der Ladungsfrist von einer Woche für die am 23.2.2001 abgehaltene Mitgliederversammlung des Ortsverbandes Dahlem ist wahlrechtlich unerheblich, weil nach den Feststellungen des Bundesparteigerichts der CDU im Beschluss vom 7.8.2001 die Dispositionsfrist der Parteimitglieder lediglich um zwei auf fünf Tage verkürzt wurde. Eine Ladungsfrist von einer Woche gehört nicht zu dem vom Bundesverfassungsgericht angeführten elementaren Kernbestand von Verfahrensgrundsätzen. Ihre faktische Verkürzung um bis zu zwei Tage schränkt die Parteimitglieder noch nicht unzumutbar in ihrer Dispositionsfreiheit ein und führt nicht dazu, dass der anschließenden Bestimmung der Delegierten der Charakter einer „Wahl" abgesprochen werden kann. Diese Verkürzung der Dispositionsfrist der Parteimitglieder ist dementsprechend auch nicht als ein zur Nichtzulassung des hierauf beruhenden Wahlvorschlags führender schwerer Wahlrechtsverstoß einzustufen. bb) Die Zulassung der Wahlvorschläge vom 20.8.2001 und der darin benannten Bewerber scheitert auch nicht an dem in § 38 Abs. 2 Buchst, b LWahlO genannten Nichtzulassungsgrund. Danach sind Bewerber und Bewerberinnen nicht zuzulassen, die bei einer Doppelbewerbung die nach § 33 Abs. 2 LWahlO geforderte Erklärung nicht fristgerecht abgegeben haben. Nach § 33 Abs. 1 S. 1 LVerfGE 13

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LWahlO kann jeder Bewerber oder jede Bewerberin nur jeweils auf einem Wahlkreisvorschlag, auf einer Be2irks- oder Landesliste und auf einem Bezirkswahlvorschlag aufgestellt werden. Die auf der am 5.9.2001 eingereichten Bezirksliste der CDU aufgeführten Bewerber und Bewerberinnen Prof. Dr. S., Dr. A., G., W., B., A., Dr. L., K., Dr. H., M., S., E., L. und R. sind auch als Bewerber auf der am 17.9.2001 eingereichten Liste dieser Partei aufgeführt. Damit lagen zwar nach § 33 Abs. 1 S. 1 LWahlO untersagte Doppelbewerbungen vor. Eine Nichtzulassung der betroffenen Bewerber und Bewerberinnen nach § 38 Abs. 2 Buchst, b LWahlO setzt aber weiterhin voraus, dass die nach § 33 Abs. 2 LWahlO geforderten Erklärungen für eine bestimmte Liste nicht fristgerecht abgegeben wurden. Diese Voraussetzung ist hier nicht erfüllt, weil es unterlassen wurde, den betroffenen Bewerbern entsprechende Erklärungen unter Fristsetzung abzuverlangen. Die in den Wahlvorschlägen vom 20.8.2001 benannte Vertrauensperson G. wurde zwar nach dem Vorbringen der Einsprechenden am Tag der Entscheidung über die Zulassung telefonisch um Mitteilung gebeten, ob sie die zunächst eingereichten Wahlvorschläge zurücknehme. Abgesehen davon, dass damit lediglich die Bewerberin G. und diese erkennbar auch nur in ihrer Funktion als Vertrauensperson angesprochen wurde, lag darin auch inhaltlich keine mit einer zumutbaren Frist verbundene Aufforderung, sich zwischen zwei Bewerbungen zu entscheiden. cc) Der Zulassung der Wahlvorschläge vom 20.8.2001 stand jedoch § 38 Abs. 1 Buchst, b LWahlO entgegen. Danach sind Wahlvorschläge ungültig und nicht zuzulassen, wenn deren Mängel bis zum Ablauf der Frist für die Mängelbeseitigung nicht beseitigt worden sind. Die Mängelbeseitigungsfrist war am 17.9.2001 abgelaufen. Diese Frist endet im Fall einer vorzeitigen Beendigung der Wahlperiode mit dem Ablauf der Einreichungsfrist für die Wahlvorschläge (§ 34 Abs. 4 iVm § 80a Nr. 5 LWahlO). Die Wahlvorschläge für die Wahl zum Abgeordnetenhaus am 21.10.2001 waren gem. § 28 Abs. 1 S. 1 iVm § 80a Nr. 4 LWahlO spätestens 34 Tage vor dem Wahltag einzureichen. „Mängel" iSd § 38 Abs.l Buchst, b LWahlO liegen vor, wenn die eingereichten Wahlvorschläge nicht vollständig sind oder nicht den Erfordernissen des Landeswahlgesetzes oder der Landeswahlordnung entsprechen (vgl. § 34 Abs. 1 S. 1 LWahlO). Hierzu gehören auch unzulässige Mehrfachkandidaturen und unzulässige Doppelunterschriften (vgl. § 34 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 S. 1 LWahlO). Vorliegend hat die CDU Steglitz-Zehlendorf dadurch, dass sie neben den Wahlvorschlägen vom 20.8.2001 am 17.9.2001 weitere Wahlvorschläge eingereicht hat, gegen das Verbot des Doppelauftretens von Parteien verstoßen. Für Bundestagswahlen wird ein allgemeines Verbot des Doppelauftretens in § 18 Abs. 5 BWG ausgesprochen. Danach kann eine Partei in jedem Wahlkreis nur einen Wahlkreisvorschlag und in jedem Land nur eine Landesliste einreichen. Die für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus geltenden Vorschriften enthalten keine allgemeine Regelung über das Verbot des Doppelauftretens. § 10 Abs. 3 LWahlG legt LVerfGE 13

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jedoch fest, dass jede Partei entweder eine Landesliste oder in den Wahlkreisverbänden jeweils eine Bezirksliste einreichen kann. Diese Regelung bringt mit hinreichender Klarheit zum Ausdruck, dass ein Doppelauftreten von Parteien bei der Listenwahl verboten ist. Dass jede Partei nur einen Wahlkreisvorschlag einreichen darf, legt § 10 Abs. 4 LWahlG ebenfalls nicht ausdrücklich fest. Satz 2 dieser Vorschrift bestimmt jedoch, dass Wahlkreisvorschläge einer Partei den Namen der Partei und gegebenenfalls auch die Kurzbezeichnung enthalten müssen. Diese der eindeutigen Identifizierung der verschiedenen Wahlvorschläge dienende Vorschrift liefe zum Teil leer, wenn unter derselben Bezeichnung mehrere Vorschläge eingereicht werden könnten. Nach § 10 Abs. 8 LWahlG muss jeder Wahlkreisvorschlag von mindestens 45 Wahlberechtigten unterzeichnet sein. Dabei darf nur ein Wahlkreisvorschlag unterzeichnet werden; hat jemand mehrere Wahlkreisvorschläge unterzeichnet, sind sämtliche Unterschriften ungültig (§10 Abs. 10 LWahlG). Hieraus ergibt sich, dass der Gesetzgeber jeder natürlichen Person nur das Recht auf einen Wahlkreisvorschlag zugesteht. Aus dieser — unbeschadet der Sonderregelung für die im Bundestag oder Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien (vgl. §10 Abs. 11 LWahlG) — auch für Wahlkreisvorschläge der Parteien geltenden Vorschrift ergibt sich zwar nicht zwingend, dass der Gesetzgeber auch den Parteien nur einen Wahlvorschlag pro Wahlkreis zubilligt; denn das Verbot des § 10 Abs. 10 LWahlG wäre dann nicht verletzt, wenn die Wahlvorschläge einer Partei von jeweils anderen Personen unterzeichnet worden sind. Gleichwohl spricht die in § 10 Abs. 8 LWahlG enthaltene Beschränkung des Wahlvorschlagsrechts natürlicher Personen dafür, diese Beschränkung auch den Parteien aufzuerlegen. Würde den Parteien in Bezug auf Wahlkreisvorschläge ein Mehrfachvorschlagsrecht zugebilligt, würden diese gegenüber anderen Wahlvorschlagsträgern („den einzelnen Wahlberechtigten"; vgl. § 10 Abs. 1 S. 1 LWahlG) bevorzugt, ohne dass hierfür ein sachlicher Grund ersichtlich ist. Gegen eine derartige Auslegung der Regelungen des § 10 LWahlG über das Wahlvorschlagsrecht spricht im Übrigen, dass auch für eine unterschiedliche Ausgestaltung des Vorschlagsrechts der Parteien in Bezug auf Landes- und Bezirkslisten einerseits und auf Wahlkreisvorschläge andererseits kein Grund ersichtlich ist. Nach alledem ist bei einer Gesamtschau der Regelungen des § 10 LWahlG ein Doppelauftreten von Parteien sowohl bei der Listenwahl als auch in Bezug auf Wahlkreisvorschläge verboten. Dieses Verbot ist verfassungsrechtlich unbedenklich. Es widerstreitet nicht dem Grundsatz der Freiheit der Wahl (Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG). Denn das von diesem Grundsatz umfasste freie Wahlvorschlagsrecht für alle Wahlberechtigten (vgl. BVerfGE 42, 399, 417; 47, 253, 282), das seinerseits eine freie Kandidatenaufstellung unter Beteiligung der Mitglieder der Parteien und Wählergruppen voraussetzt, verlangt nur, dass jede Partei und Wählergruppe mit einem eigenen Wahlvorschlag zur Wahl zugelassen wird, nicht hingegen, dass sich dieselbe Gruppe - sei es offen oder verdeckt — mehrfach zur Wahl stellen LVerfGE 13

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darf (BVerwG, Beschl. v. 18.12.1991 - 7 B 127/91 NVwZ 1992, 489; vgl. ferner BayVerfGH, NVwZ-RR 1993, 569 ff). Ein solcher Fall eines mehrfachen (doppelten) Wahlvorschlags war zum Zeitpunkt der Entscheidung des Bezirkswahlausschusses jedoch gegeben. Bei dieser Sachlage ist weiterhin zu prüfen, ob trotz des Zulassungshindernisses des Doppelauftretens eine Entscheidung zu Gunsten der Wahlvorschläge, die die Einsprechenden begünstigen, deshalb geboten war, weil der andere konkurrierende Vorschlag seinerseits wegen eines Wahlrechtsverstoßes nicht zugelassen werden durfte. Der Grundsatz der Freiheit der Wahl erfordert es nämlich, den Tatbestand des Verbots des Doppelauftretens bzw. die hieran geknüpfte Rechtsfolge der Nichtzulassung der betroffenen Wahlvorschläge restriktiv zu interpretieren. Dies bedeutet, dass im Falle eines Doppelauftretens einer Partei ein Wahlvorschlag dann zuzulassen ist, wenn der andere schon wegen der ihm anhaftenden sonstigen Mängel nicht zuzulassen wäre (vgl. BayVGH, VGHE NF. 3/1, 35, 49; 32/1, 153, 155 ff; Schniber Handbuch des Wahlrechts, 7. Aufl. 2002, § 18 BWG Rn. 25). In diesem Fall liegt entweder schon kein Doppelauftreten im Rechtssinne vor oder es ist zumindest zwecks Vermeidung eines unverhältnismäßigen Eingriffs in das Wahlvorschlagsrecht der betroffenen Partei die Rechtsfolge der Nichtzulassung lediglich auf den Wahlvorschlag zu erstrecken, der bereits aus anderen Gründen zurückgewiesen werden müsste. Die Einsprechenden halten die am 17.9.2001 eingereichten Wahlvorschläge für unwirksam, weil an den Delegiertenwahlen für die Kandidatenaufstellung unter Verstoß gegen § 12 Abs. 1 LWahlG eine Reihe von Mitgliedern des Kreisverbandes Steglitz-Zehlendorf mitgewirkt hätten, die mangels Wohnsitzes im Wahlkreis oder im Bezirk nicht wahlberechtigt gewesen seien. Sie wenden ferner ein, das Mitglied Dr. H. habe bei der Delegiertenwahl abgestimmt, obwohl es nicht Mitglied des Ortsverbandes Dahlem gewesen sei. Des Weiteren hätten die Parteimitglieder B. und N. ihre Stimme abgegeben, obwohl sich beim Ausfüllen der Stimmzettel ein weiteres Parteimitglied in der Wahlkabine befunden habe. § 12 Abs. 1 S. 1 LWahlG erklärt nicht nur Parteimitglieder, die im Wahlkreisverband (Bezirk) wahlberechtigt sind (1. Alt.), sondern auch — wie sich aus der Formulierung „oder" entnehmen lässt — solche Parteimitglieder für wahlberechtigt, die der dem Wahlkreisverband entsprechenden bezirklichen Gliederung der Partei angehören (2. Alt.). Damit unterscheidet sich die Rechtslage für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus von der für die Bundestagswahlen maßgeblichen (vgl. § 21 Abs. 1 S. 2 und 3, § 27 Abs. 5 BWG), wonach die über die Aufstellung von Parteibewerbern für Kreiswahlvorschläge bzw. Landeslisten abstimmenden Mitglieder bzw. Delegierten im Wahlkreis bzw. im Land wahlberechtigt sein müssen. Die Berliner Regelung über die Teilnahme bezirksfremder Parteimitglieder an der Aufstellung von Parteibewerbern für die Wahl zum Abgeordnetenhaus ist als solche verfassungsrechtlich unbedenklich. Sie ist allerdings — um mit dem LVerfGE 13

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Prinzip der Gleichheit der Wahl (Art. 39 Abs. 1 VvB) vereinbar zu sein — so auszulegen, dass Parteimitgliedern, die in einem Bezirk wohnhaft sind und in einem anderen der dortigen bezirklichen Gliederung der Partei angehören, nur dort und nicht auch ein zweites Mal in ihrem Wohnbezirk ihre Stimme abgeben dürfen. In dieser Auslegung verstößt die Regelung nicht gegen das aus dem demokratischen Prinzip abzuleitende Gebot der Identität von Herrschenden und Beherrschten (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG, Art. 2 S. 1 und 2 VvB). Auch der im Wahlkreis gewählte Abgeordnete ist Vertreter aller Berliner und nicht nur der im Wahlkreis wohnhaften (vgl. Art. 38 Abs. 4 S. 1 VvB). Mit dem Demokratieprinzip wäre nur eine Auslegung des § 12 Abs. 1 LWahlG unvereinbar, die auch die Teilnahme von nicht in Berlin wohnhaften und mithin nicht dem Volk von Berlin angehörenden Parteimitgliedern an der Aufstellung von Parteibewerbern zulässt. Dementsprechend ist es entgegen der Auffassung der Einsprechenden grundsätzlich nicht zu beanstanden, dass an der Aufstellung der am 17.9.2001 eingereichten Wahlvorschläge auch „bezirks fremde" Parteimitglieder mitgewirkt haben sollen. Es ist auch innerhalb der Frist des § 40 Abs. 4 S. 1 VerfGHG nicht vorgetragen, dass diese Mitglieder sich in einem anderen Bezirk an der Kandidatenaufstellung für die Wahl zum Abgeordnetenhaus beteiligt haben. Nach der von den Einsprechenden eingereichten Liste der „bezirksfremden" Mitglieder sollen sich allerdings zwei Mitglieder beteiligt haben, die keine Berliner Anschrift aufweisen. Sollten diese Mitglieder nicht in Berlin wahlberechtigt gewesen sein, läge insoweit ein Verstoß gegen § 12 Abs. 1 LWahlG vor. Ein weiterer Verstoß gegen §12 Abs. 1 LWahlG läge vor, wenn es zutreffen sollte, dass das in Berlin-Weißensee wohnhafte und mithin nicht nach § 12 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 LWahlG abstimmungsberechtigte Parteimitglied Dr. H. nicht Mitglied des Ortsverbandes Dahlem war. Schließlich kommt auch je nach den konkreten Umständen ein Verstoß gegen das in § 12 Abs. 1 S. 1 LWahlG festgelegte Gebot der geheimen Stimmabgabe in Betracht, wenn sich beim Ausfüllen der Stimmzettel im Fall der Parteimitglieder B. und N. ein weiteres Parteimitglied in der Wahlkabine aufgehalten hat. Diese Verstöße hätten — ihr Vorliegen unterstellt — jedoch nur dann zur Nichtzulassung der am 17.9.2001 eingereichten Wahlvorschläge führen müssen, wenn die Teilnahme dieser Parteimitglieder sich auf das Ergebnis der Wahl der Delegierten und letztlich auf den Inhalt der Wahlvorschläge hätte auswirken können. Davon kann hier nicht ausgegangen werden. Es ist von den Einsprechenden innerhalb der Frist des § 40 Abs. 4 S. 1 VerfGHG nicht dargelegt worden, dass die behauptete Teilnahme zweier nicht in Berlin wahlberechtigter Parteimitglieder und eines nicht dem Ortsverband Dahlem angehörenden Parteimitglieds sowie die angebliche offene Abstimmung zweier Parteimitglieder bei den Delegiertenwahlen sich im Ergebnis auf die Wahl auch nur eines Delegierten ausgewirkt haben. Damit ist erst recht nicht ersichtlich, dass bei einer anderen Verfahrensweise möglicherweise andere Kandidaten nominiert worden wären. Ohne einen solchen Vortrag gibt es für den VerfassungsgeLVerfGE 13

Wahlvorschlagsrecht und Doppelbewerbung

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richtshof aber keinen Anlass, der Anregung der Einsprechenden zu folgen und dem Kreisverband Steglitz-Zehlendorf der CDU aufzugeben, die Protokolle und die Anwesenheitslisten der Aufstellungsversammlungen seiner Ortsverbände vorzulegen, in denen die Delegierten des Kreisparteitags vom September 2001 aufgestellt wurden. Die Einsprechenden halten schließlich die am 17.9.2001 eingereichten Wahlvorschläge für fehlerhaft, weil das Verfahren ihrer Abwahl satzungswidrig gewesen sei. Die Abwahl habe weder auf der Tagesordnung des Septemberparteitages gestanden noch hätte sie mit der Neuwahl der Kandidaten verbunden werden dürfen. Ferner sei die notwendige Zweidrittelmehrheit nicht zustande gekommen. Die Neuwahl der Kandidaten habe ferner gegen § 6 Abs. 3 der Satzung des CDULandesverbandes verstoßen, weil an der Wahl der Delegierten des Ortsverbandes Dahlem Parteimitglieder teilgenommen hätten, deren Mitgliedschaft ruhte. Diese Satzungsverstöße sind — ihr Vorliegen unterstellt — für die Zulassung der am 17.9.2001 eingereichten Wahlvorschläge gem. § 13 Abs. 2 S. 2 LWahlG irrelevant, weil sie nicht zugleich einen Verstoß gegen gesetzliche Bestimmungen darstellen. Insbesondere setzt § 12 LWahlG nicht voraus, dass die Aufstellung neuer Wahlvorschläge durch eine Partei nur bei (satzungsgemäßer) Abwahl der von einer früheren Aufstellungsversammlung bestimmten Bewerber zulässig ist. Schließlich ist auch die Teilnahme von Parteimitgliedern, deren Mitgliedschaftsrechte ruhen, an Delegiertenwahlen mit § 12 Abs. 1 S. 1 und 2 LWahlG vereinbar, da diese Vorschrift allein auf die Mitgliedschaft als solche abstellt. Abschließend ist deshalb festzustellen, dass die am 17.9.2001 eingereichten Wahlvorschläge — abgesehen vom Verstoß gegen das Verbot des Doppelauftretens — keine Fehler aufweisen, die ihre Nichtzulassung rechtfertigten. Es lag somit für beide Vorschläge ein Verstoß gegen das Verbot des Doppelauftretens vor. Aufgrund dieses Verstoßes waren die Wahlvorschläge vom 20.8.2001 zurückzuweisen. Dass dementsprechend gleichzeitig auch die später eingereichten Wahlvorschläge nicht zuzulassen waren, macht das Begehren der Einsprechenden nicht (teilweise) begründet. Insoweit wären ihre Einsprüche allein auf die zu Unrecht erfolgte Zulassung anderer Wahlvorschläge gestützt, was im Wahlprüfungsverfahren nicht zum Erfolg führen kann (vgl. § 40 Abs. 2 S. 2 VerfGHG). Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG. Dieses Urteil ist unanfechtbar.

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Entscheidungen des Verfassungsgerichts des Landes Brandenburg

Die amtierenden Richterinnen und Richter des Verfassungsgerichts des Landes Brandenburg Dr. Peter Macke, Präsident Dr. Wolfgang Knippel, Vizepräsident Prof. Dr. Matthias Dombert Prof. Dr. Beate Harms-Ziegler Florian Havemann Dr. Sarina Jegutidse Prof. Dr. Richard Schröder Monika Weisberg-Schwarz Prof. Dr. Rosemarie Will

„Neue Aufgabe" und „entsprechender finanzieller Ausgleich"

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Nr. 1* 1. Eine Verpflichtung zur Erfüllung neuer Aufgaben im Sinne von Art. 97 Abs. 3 der Landesverfassung liegt auch dann vor, wenn eine Aufgabenübertragung auf die Kommunen unter Ergänzung um weitere Aufgaben und unter auf die Aufgabenwahrnehmung Einfluß nehmender Veränderung des Erstattungssystems erneuert wird. 2. „Entsprechender finanzieller Ausgleich" im Sinne von Art. 97 Abs. 3 Satz 3 der Landesverfassung bedeutet eine vollständige und finanzkraftunabhängige Erstattung der mit der Wahrnehmung der übertragenen Aufgabe verbundenen notwendigen Kosten. 3.a) Der Gesetzgeber ist im Rahmen der Kostenausgleichsregelung nicht daran gehindert, ein Kostenerstattungskonzept zu verfolgen, welches Anreize für eine sparsame Aufgabenwahrnehmung gibt und dadurch eine kostensenkende Wirkung entfaltet. Die Ausgleichsregelung muß jedoch jeder einzelnen betroffenen Kommune die realistische Möglichkeit eröffnen, durch zumutbare eigene Anstrengungen zu einem vollständigen Kostenausgleich zu kommen. 3.b) Voraussetzimg für eine Regelung gemäß a) ist eine fundierte und plausible gesetzgeberische Prognose zu den mit der Aufgabenwahrnehmung verbundenen Kosten einerseits und ihrer Beeinflußbarkeit durch die Kommunen andererseits unter vertiefter Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Gegebenheiten und Besonderheiten vor Ort. 4. Fallzahlobergrenzen für die Kostenerstattung, wie sie durch die Haushaltsstrukturgesetze 2000 und 2002 für die Eingliederungshilfe für Behinderte festgelegt worden sind, sind in dieser Form mit dem strikten Konnexitätsprinzip des Art. 97 Abs. 3 der Landesverfassung nicht vereinbar. 5. Die Regelung des Kostenausgleichs muß den Kommunen hinreichende Planungs- und Finanzierungssicherheit eröffnen und darf die Frage der vollständigen Kostendeckung nicht letztlich der Exekutive überlassen. Erfolgt die Aufgabenübertragung durch Gesetz, muß auch die Kostenerstattungsregelung mindestens in den Grundzügen durch Gesetz getroffen werden. *

Abdruck auch in: Mitt. StGB Bbg. 2002, 96; NJ 2002, 253 (nur LS); DÖV 2002, 522; LKV 2002, 323; NVwZ 2003, 201 (nur LS).

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Verfassungsgericht des Landes Brandenburg Verfassung des Landes Brandenburg Art. 97 Abs. 3 Gesetz zur Ausführung des Bundessozialhilfegesetzes § 4 Abs. 2 und 3 Satz 1 und 2 Haushaltsstrukturgesetz 2000 Art. 20 Nr. 1 b, c Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg § 13 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung § 91

Urteil vom 14. Februar 2002 - VfGBbg 17/01 in den Verfahren über die kommunalen Verfassungsbeschwerden 1. 2.

Landkreis Potsdam-Mittelmark, vertreten durch den Landrat Landkreis Oder-Spree, vertreten durch den Landrat

betreffend § 4 Abs. 2, Abs. 3 Satz 1 und 2 Gesetz zur Ausführung des Bundessozialhilfegesetzes (AG-BSHG) in der Fassung des Gesetzes zur Beseitigung des strukturellen Ungleichgewichts im Haushalt (Haushaltsstrukturgesetz 2000 HStrG 2000) vom 28. Juni 2000 (GVB1. I S. 90) sowie Art. 20 Nr. lb) und c) HStrG 2000 in der Fassung von Art. 6 des Gesetzes zur Beseitigung des strukturellen Ungleichgewichtes im Haushalt (Haushaltsstrukturgesetz 2002 — HStrG 2002) vom 18. Dezember 2001 (GVB1.1 S. 316). Entscheidungsformel: 1. § 4 Abs. 2 AG-BSHG ist mit Art. 97 Abs. 3 der Landesverfassung unvereinbar. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, mit Wirkung spätestens für das Haushaltsjahr 2003 eine anderweitige Regelung zu treffen. Bis dahin bleibt die Vorschrift in Geltung. 2. § 4 Abs. 3 S. 1 und 2 AG-BSHG sowie Art. 20 Nr. lb) und c) HStrG 2000 idF von Art. 6 HStrG 2002 sind mit Art. 97 Abs. 3 der Landesverfassung unvereinbar und nichtig. 3. Den Beschwerdeführern sind ihre notwendigen Auslagen zu erstatten. Gründe: A. Die kommunale Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen Bestimmungen des Gesetzes zur Ausführung des Bundessozialhilfegesetzes und der HaushaltsLVerfGE 13

„Neue Aufgabe" und „entsprechender finanzieller Ausgleich"

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strukturgesetze 2000 und 2002. Die Beschwerdeführer, zwei Landkreise, machen geltend, daß durch die angegriffenen Vorschriften Sozialhilfeaufgaben auf sie übertragen würden, ohne daß in Art. 97 Abs. 3 LV gerecht werdender Weise Bestimmungen über die Deckung der Kosten getroffen seien. I. Nach §§ 100 Abs. 1, 96 Abs. 2 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) iVm § 1 Abs. 2 des Gesetzes zur Ausführung des Bundessozialhilfegesetzes (AG-BSHG) ist das Land als überörtlicher Träger der Sozialhilfe für die in § 100 Abs. 1 BSHG genannten Aufgaben sachlich zuständig, soweit nicht nach Landesrecht der örtliche Träger sachlich zuständig ist. Ortliche Träger der Sozialhilfe sind nach § 96 Abs. 1 BSHG iVm § 1 Abs. 1 AG-BSHG die kreisfreien Städte und die Landkreise, die die Sozialhilfe als Selbstverwaltungsangelegenheiten durchfuhren. Durch Art. 1 des Zweiten Gesetzes zur Funktionalreform im Land Brandenburg (2. BrbFRG) v. 13.7.1994 (GVB1. I S. 382) wurde eine Regelzuständigkeit der örtlichen Träger der Sozialhilfe eingeführt (§ 2 Abs. 1 AG-BSHG). Die Aufgaben nach § 100 Abs. 1 Nr. 1 BSHG - Hilfe zur Pflege und Eingliederungshilfe für Behinderte in stationären und teilstationären Einrichtungen - wurden den örtlichen Trägern der Sozialhilfe als Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung übertragen (§ 2 Abs. 2 AG-BSHG idF Art. 1 Nr. 2 2. BrbFRG). Die sachliche Zuständigkeit für Hilfe nach § 72 BSHG, wenn die Hilfe dazu bestimmt ist, Nichtseßhafte seßhaft zu machen, verblieb beim überörtlichen Träger der Sozialhilfe (§ 2a Nr. 1 AG-BSHG idF Art. 1 Nr. 3 2. BrbFRG a.F.). Bezüglich der Kostenerstattung enthielt § 4 Abs. 2 AG-BSHG idF Art. 1 Nr. 6 2. BrbFRG folgende Regelung: „Zum Ausgleich der Kosten, die den örtlichen Trägern durch die Übertragung nach § 2 Abs. 2 entstehen, erstattet das Land den Landkreisen und kreisfreien Städten auf der Grundlage der Kostensatzvereinbarungen nach § 93 Abs. 2 des Bundessozialhilfegesetzes für stationäre Einrichtungen die angemessenen und notwendigen Kosten einschließlich der Personal- und Sachkosten. tt

Durch Art. 6 Nr. 1 Haushaltsstrukturgesetz 2000 (HStrG 2000) wurde § 2 Abs. 2 AG-BSHG dahin ergänzt, daß die örtlichen Träger der Sozialhilfe auch die Aufgabe nach § 100 Abs. 1 Nr. 5 BSHG - Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten nach § 72 BSHG — als Pflichtaufgabe zur Erfüllung nach Weisung wahrnehmen. Die Kostenerstattungsregelung des § 4 Abs. 2 AG-BSGH erhielt durch Art. 6 Nr. 6 HStrG 2000 nunmehr folgende Fassung: „Zum Ausgleich der Kosten, die den örtlichen Trägern durch die Übertragung der sachlichen Zuständigkeit nach § 2 entstehen, erstattet das Land nach Maßgabe der Absätze 3 und 4 insgesamt 93 vom Hundert der Nettoausgaben der örtlichen Träger der Sozialhilfe für die Eingliederungshilfe für Behinderte, die Hilfe zur Pflege LVerfGE 13

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und die Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten mit Ausnahme der Ausgaben für Leistungen, die nicht als Einzelfallhilfe gewährt werden." § 4 Abs. 3 Satz 1 und 2 AG-BSGH wurde durch Art. 6 Nr. 6 HStrG 2000 wie folgt gefaßt: „Für die Aufgaben nach § 100 Nr. 1 des Bundessozialhilfegesetzes wird die Erstattung der Kosten für die einzelnen Hilfen insgesamt begrenzt auf die Kosten, die durch die Inanspruchnahme der Anzahl der Plätze entstehen, die sich aus den Planungen nach dem Landespflegegesetz ergeben. Bei der Hilfe zur Pflege in einer Anstalt, einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung erstattet das Land die den Hilfebedürftigen gewährte Hilfe, soweit die Anzahl der von den Hilfebedürftigen in Anspruch genommenen Plätze 25 vom Hundert der sich nach Satz 1 ergebenden Planzahlen nicht übersteigt. ..." Nach Art. 20 HStrG 2000 galten für Art. 6 HStrG 2000 und damit für § 4 Abs. 3 Satz 1 AG-BSHG bestimmte Übergangsregelungen, die durch Art. 6 HStrG 2002 wie folgt gefaßt wurden: „1. Für die Fallzahlobergrenzen nach § 4 Abs. 3 S. 1 gilt Folgendes: a)... b)

c)

Die Obergrenze für die Eingliederungshilfe für Behinderte in einer Anstalt, einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung beträgt landesweit - im Jahre 2000

7 550 Fälle

- im Jahre 2001

7 200 Fälle

- im Jahre 2002

7 140 Fälle

- im Jahre 2003

7 050 Fälle

- im Jahre 2004

6 900 Fälle

- im Jahre 2005

6 650 Fälle

Die Fallzahlobergrenze für die Eingliederungshilfe für Behinderte in einer teilstationären Einrichtung beträgt landesweit - im Jahr 2000

4 400 Fälle

- im Jahr 2001

4 600 Fälle und

- ab dem Jahr 2002

4 800 Fälle."

Das am 30.6.2000 im Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Brandenburg verkündete Haushaltsstrukturgesetz 2000 ist in seinen hier interessierenden Teilen am 1.7.2000, Art. 6 Haushaltsstrukturgesetz 2002 am 22.12.2001 in Kraft getreten.

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„Neue Aufgabe" und „entsprechenderfinanziellerAusgleich"

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Zu weit über 90% fallen die Ausgaben, die durch die genannten Regelungen erstattet werden, im Bereich der Eingliederungshilfe für Behinderte (etwa für geistig Behinderte, für chronisch psychisch Kranke und für mehrfach geschädigte Abhängigkeitskranke) an. Innerhalb dieses Aufgabenkreises entstehen die Kosten überwiegend durch Behindertenheime und Werkstätten für Behinderte. Die Hilfe zur Pflege wird überwiegend aus Mitteln der Pflegeversicherung finanziert, so daß hier nur ergänzende Leistungen nach dem BSHG anfallen und verhältnismäßig geringe Kosten entstehen. Noch geringer sind die Beträge, die als Hilfe zur Uberwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten nach § 72 BSHG aufzuwenden sind. II. Die Beschwerdeführer haben am 2.7.2001, einem Montag, kommunale Verfassungsbeschwerde erhoben. Sie rügen die Verletzung ihres Selbstverwaltungsrechts aus Art. 97 LV, insbesondere in seiner Ausgestaltung durch Art. 97 Abs. 3 LV. Der Beschwerdeführer zu 1. wendet sich gegen die Änderung der Kostendeckungsregelung in § 4 Abs. 2 und 3 AG-BSHG; der Beschwerdeführer zu 2. wendet sich ausschließlich gegen § 4 Abs. 3 AG-BSHG. Im Sinne eines strikten Konnexitätsprinzips seien prinzipiell alle Kosten zu erstatten, die die Aufgabenübertragung verursache. Dabei sei auch die Kostenerstattung für die bereits seit 1995 bzw. 1996 von den Beschwerdeführern wahrgenommenen Aufgaben der Eingliederungshilfe für Behinderte und die Hilfe zur Pflege am Maßstab des Art. 97 Abs. 3 n.F. LV zu messen, obwohl dieser zunächst nur an „neue Aufgaben" anknüpfe. Es habe verhindert werden sollen, daß der Gesetzgeber die Kostentragungspflicht der Kommunen in der Weise erhöhe, daß er die Anforderungen steigen lasse, ohne einen Kostenausgleich zu schaffen. Im vorliegenden Fall komme hinzu, daß der Gesetzgeber die (um weitere Aufgaben ergänzte) Aufgabenübertragungsnorm des § 2 Abs. 2 AG-BSHG durch das Haushaltsstrukturgesetz 2000 — und somit nach Inkrafttreten der Verfassungsänderung — erneut in seinen Willen aufgenommen habe. Es sei hier von „Mehrbelastungen" iSd Art. 97 Abs. 3 LV auszugehen. Dabei sei entscheidend, ob die individuelle Kommune eine Mehrbelastung erfahre. Der Beschwerdeführer zu 1. habe im 2. Halbjahr 2000 rund 14,3 Mio. DM für alle ambulanten und stationären Eingliederungshilfen, Hilfen zur Pflege und Hilfen zur Überwindung besonderer Schwierigkeiten aufgewendet. Hiervon seien ungefähr 13,7 Mio. DM auf stationäre, annähernd 560.000,00 DM auf ambulante Hilfen entfallen. Für das Jahr 2001 gehe der Beschwerdeführer zu 1. von cirka 1,8 Mio. DM für ambulante und von cirka 31,8 Mio. DM für stationäre Maßnahmen aus. Die aufgrund der Neuregelung erfolgende anteilige Erstattung der ambulanten Aufwendungen sei deutlich geringer als der von den Beschwerdeführern erstmalig aus eigenen Mitteln zu bestreitende Anteil der stationären Kosten. § 4 Abs. 2 AG-BSHG führe deshalb „unterm Strich" zu erheblichen und nicht vermeidbaren Belastungen. Die Erstattung von 93% für „fiktive" stationäre Maßnahmen würde nur dann nicht gegen Art. 97 LVerfGE 13

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Abs. 3 LV verstoßen, wenn die höheren Gesamtkosten auf fehlende Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit des Beschwerdeführers zu 1. zurückzuführen seien. Dies sei indes nicht der Fall; die Höhe seiner Nettoausgaben für die stationären Aufgaben sei im Landesvergleich durchschnittlich. Eine weitere Senkung der Ausgaben für stationäre Hilfen auf 93% sei nicht möglich, weil es sich hierbei überwiegend um sog. Altfälle handele. Als früher zuständiger überörtlicher Sozialhilfeträger habe das Land wegen der unzureichenden ambulanten Hilfestrukturen in großem Umfang stationäre Hilfen angeordnet. Erst nach Übertragung der Zuständigkeit auf die örtlichen Sozialhilfeträger sei es zu einem Aufbau ambulanter Hilfestrukturen gekommen und die Zahl der stationär betreuten Fälle gesunken. Hinzu komme, daß der Beschwerdeführer zu 1. nach den gesetzlichen Bestimmungen und neuerer Verwaltungspraxis auch die Kosten für Hilfeempfänger in anderen Bundesländern oder Landkreisen übernehmen müsse, deren Aufenthalt vor der Erstaufnahme, also unter Umständen vor vielen Jahren, innerhalb seines Gebiets gelegen habe. Andere Landkreise, insbesondere solche mit großen, traditionell überörtlich ausgerichteten Behindertenheimen hätten hingegen die Kosten für stationäre Maßnahmen auf unter 93% der Gesamtkosten senken können, weil die Zahl der Altfälle, die sie abrechnungstechnisch hätten abgeben können, höher sei als die Zahl der Fälle, deren Kosten sie ihrerseits anderen Sozialhilfeträgern zu erstatten hätten. Die Betreuung der Behinderten habe sich dadurch aber tatsächlich gar nicht geändert; sie seien weiterhin in den bisherigen Heimen stationär untergebracht. Dies sei vom Beschwerdeführer zu 1. schon wegen der häufig großen räumlichen Entfernung zu den Behinderten auch nicht zu beeinflussen. Die Differenzen zwischen den örtlichen Sozialhilfeträgern seien nicht auf die Wirtschaftlichkeit des jeweiligen Gesetzesvollzugs, sondern auf kommunalspezifische und historische Besonderheiten zurückzuführen. Die Beschwerdeführer haben zunächst Art. 20 HStrG 2000 (Fallzahlobergrenzen) in der ursprünglichen Fassung angegriffen. Nachdem der Gesetzgeber durch Art. 6 HStrG 2002 den genannten Artikel im Dezember 2001 neu gefaßt hat, haben sie ihre Verfassungsbeschwerde im Januar 2002 auf die geänderte Fassung erstreckt. Die Fallzahldeckelung des § 4 Abs. 3 S. 1 AG-BSHG verstoße ebenso wie die für die Ubergangszeit bis zum 31.12.2005 geltende Fallzahlenregelung des Art. 20 Nr. lb) und c) HStrG 2000 idF des HStrG 2002 gegen Art. 97 Abs. 3 LV. Die fiktiven Obergrenzen seien nicht nachvollziehbar. Sie beruhten nicht auf realistischen und zuverlässigen Kostenansätzen. Entgegen der Prognose des Gesetzgebers sei davon auszugehen, daß die absolute Zahl derjenigen, die stationäre Hilfen benötigten, steigen und das Verhältnis zu ambulanten Strukturen sich nur geringfügig ändern werde. Auch die ab dem 1.1.2006 geltende Regelung des § 4 Abs. 3 S. 1 AG-BSHG werde vermutlich nicht zu einem Ausgleich iSd Art. 97 Abs. 3 LV führen. Mit der Begrenzung der Erstattung auf diejenigen Kosten, die auf die Inanspruchnahme LVerfGE 13

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der sich aus den Planungen nach dem Landespflegegesetz ergebenden Anzahl der Plätze entfallen, habe der Gesetzgeber seinen Einschätzungs- und Ermessensspielraum überschritten. Konkrete Angaben über die Höhe der nicht ausgeglichenen Mehrbelastungen ab 2006 seien allerdings derzeit nicht möglich, da ein gem. § 3 Abs. 1 Landespflegegesetz (PflegeG) aufgestellter Landespflegeplan noch nicht vorliege. Es liege im Ermessen des Landes, in welchen Zeiträumen ein Landespflegeplan aufgestellt werde. Die örtlichen Träger der Sozialhilfe hätten kein Instrument, eine ordnungsgemäße Abrechnungsgrundlage iSv § 4 Abs. 3 S. 1 AGBSHG einzufordern. Der Beschwerdeführer zu 2. bekommt für eine größere Zahl insbesondere von stationären Altfallen eine Kostenerstattung von Dritten. Er wendet sich deshalb allein gegen den Fallzahldeckel des § 4 Abs. 3 AG-BSHG und die Übergangsregelung des Art. 20 Nr. lb) und c) HStrG 2000 idF des HStrG 2002. Er macht geltend, daß er durch die Fallzahldeckelung beträchtliche Verluste erleide. Der Beschwerdeführer zu 2. wendet sich weiter auch gegen die ab dem 1.1.2006 geltende Regelung des § 4 Abs. 3 S. 2 AG-BSHG, die den Kostenerstattungsanspruch in bezug auf die Hilfe zur Pflege in einer Anstalt, einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung dahingehend begrenzt, daß die Erstattung nur gewährt wird, soweit die Anzahl der in Anspruch genommenen Plätze 25% der Platzzahlen nach dem Landespflegegesetz nicht übersteigt. Auf der Grundlage des aktuellen Landespflegeplanes führe dies nicht zum Ausgleich der Mehrbelastungen. Nachdem im Landespflegeplan A 799 Plätze für den Beschwerdeführer zu 2. vorgesehen seien, würden ihm bei Anwendung des § 4 Abs. 3 S. 2 AG-BSHG lediglich für 200 Plätze die Kosten erstattet, obwohl 218 Personen am 30.4.2001 Hilfe zur Pflege in Anspruch genommen hätten. Bei jährlichen Fallkosten in Höhe von 11.765,00 DM entstünden dadurch Mehrbelastungen in Höhe von 211.770,00 DM. Die Quote von 25% knüpfe ebenfalls an den Maßstab des Landespflegeplanes an und stelle sich als unzulässige Vereinfachung und Typisierung dar. Der Gesetzgeber sei gehalten gewesen, die Einkommens-, Alters- und Einrichtungsstrukturen in den Landkreisen sowie die Anzahl der Altfälle durch Festlegung von Kreisquoten zu berücksichtigen. Die Verordnungsermächtigung des § 4 Abs. 3 S. 3 AG-BSHG eröffne keine ausreichende Abhilfe, weil auch sie bei einer Landesquote ansetze. Die Beschwerdeführer beantragen, festzustellen, daß § 4 Abs. 2, § 4 Abs. 3 AG-BSHG idF des Art. 6 Nr. 1, Nr. 6 HStrG 2000 sowie Art. 20 Nr. 1 b) und c) HStrG 2000 idF des Art. 6 HStrG 2002 mit Art. 97 LV unvereinbar und nichtig sind.

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Verfassungsgericht des Landes Brandenburg III.

Der Landtag Brandenburg, die Landesregierung, der Städte- und Gemeindebund Brandenburg und der Landkreistag Brandenburg haben Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. 1. Nach Ansicht der Landesregierung genügt die für die Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten nach § 100 Abs. 1 Nr. 5 BSHG geltende Kostenregelung des § 4 Abs. 2 AG-BSHG den Anforderungen des Konnexitätsprinzips des Art. 97 Abs. 3 S. 2 und 3 LV, das wegen der gleichzeitigen Erweiterung der Zuständigkeit der örtlichen Träger der Sozialhilfe insoweit in der Tat gelte. Die verfassungsrechtliche Kostendeckungs- und Ausgleichsverpflichtung bestehe nach Maßgabe einer vom Gesetzgeber anzustellenden Prognose der durch die Aufgabenübertragung entstehenden notwendigen Kosten. Dieser Prognose seien nur die bei sparsamer und wirtschaftlicher Aufgabenerfullung notwendig anfallenden Kosten zugrunde zu legen. Dem Gesetzgeber sei es nicht versagt, auch Pauschalierungen vorzunehmen, mehrere übertragene Aufgaben zusammenzufassen oder Synergieeffekte zu berücksichtigen. Es sei nicht erforderlich, vollständige Kostendeckung bei jedem einzelnen Selbstverwaltungsträger anhand konkreter Einzelfallberechnungen sicherzustellen. Erwiesen sich die prognostizierten Annahmen für den Mehrbelastungssausgleich als unrichtig, treffe den Gesetzgeber bei allen ins Gewicht fallenden Änderungen des Aufgabenzuschnitts und der Kostendeckungsmöglichkeiten sowie bei neuen Erkenntnissen über die Höhe der durch die Aufgabenübertragung bewirkten Belastungen eine Anpassungspflicht. Die Begrenzung der Kostenerstattung auf 93% der gesamten Nettoausgaben, d.h. für die (teil-)stationäre und ambulante Hilfe, stelle eine verfassungsrechtlich zulässige Pauschalierung des Gesetzgebers dar. Sie beruhe auf dem sich aus der letzten vorliegenden amtlichen Sozialhilfestatistik ergebenden Verhältnis von stationären und ambulanten Hilfen und übertrage das für die neuen Länder durchschnittlich festgestellte Verhältnis von 93% zu 7% auf Brandenburg. Überdies führe die Neukonzeption der Kostenerstattung zu einem gleichfalls 93%igen Kostenausgleich für die den örtlichen Trägern originär obliegenden ambulanten Hilfen. Die Zusammenfassung ambulanter und stationärer Hilfen in der Hand desselben Trägers in Verbindung mit der Kostenerstattung lasse den Anreiz, allein aus Kostengründen ambulante durch stationäre Hilfe zu ersetzen und damit die Hilfe auf einen anderen (Kosten-)Träger zu verlagern, entfallen. Im Bereich der Hilfen nach § 72 BSHG sei eine Kompensation der durch die Aufgabenübertragung verursachten Mehrkosten durch die Neuregelung der Kostenerstattung mehr als erreicht. Für die Kostenregelungen bezüglich der Eingliederungshilfe für Behinderte und der Hilfe zur Pflege nach § 100 Abs. 1 Nr. 1 BSHG sei Prüfungsmaßstab Art. 97 Abs. 3 S. 1 LV a.F. Da diese Aufgabe den örtlichen Trägern bereits im Jahre 1994 zugewiesen worden sei, handele es sich nicht um eine neue Aufgabe LVerfGE 13

„Neue Aufgabe" und „entsprechenderfinanziellerAusgleich"

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iSv Art. 97 Abs. 3 S. 2 LV. Schon dem Wortlaut nach setze Art. 97 Abs. 3 S. 2 LV voraus, daß es sich um Aufgaben handeln müsse, die erstmals nach Inkrafttreten des verfassungsändernden Gesetzes, d.h. nach dem 13.4.1999, übertragen worden seien. Überdies habe der verfassungsändernde Gesetzgeber in Art. 3 Abs. 2 des Änderungsgesetzes ausdrücklich festgelegt, daß Art. 97 Abs. 3 S. 2 und 3 nur für Aufgaben gelte, zu deren Erfüllung die Gemeinden und Gemeindeverbände nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes verpflichtet werden. Diese Regelung knüpfe im Anschluß an entsprechende Beschlüsse des Haupt- und Innenausschusses an die Entschließung des Landtages vom 18.3.1999 an, mit der Erläuterungen als Auslegungshilfe zu Art. 97 Abs. 3 n.F. LV festgelegt worden seien. Nach Ziffer 2 dieser Entschließung würden den Gemeinden nur solche Mehrbelastungen erstattet, die aufgrund einer Aufgabenübertragung oder Standarderhöhung nach Inkrafttreten der Änderung des Art. 97 Abs. 3 LV entstünden. Neue Aufgaben lägen danach nicht vor, wenn lediglich eine neue Rechtsgrundlage geschaffen werde. Die auf „neue Aufgaben" beschränkte Geltung des Art. 97 Abs. 3 S. 2 und 3 LV werde durch den Gang des Gesetzgebungsverfahrens bestätigt. In der Neukonzeption der Kostenerstattung liege auch keine Standarderhöhung, die einer neuen Aufgabe gleichstehe. Der der verfassungsrechtlichen Prüfung unterliegenden Kostenregelung zugleich den Tatbestand der den Prüfungsmaßstab bildenden Norm zu entnehmen, laufe auf einen Zirkelschluß hinaus. Auch eine Rechtsfortbildung im Wege der Analogie verbiete sich, da sie den unmißverständlich geäußerten Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers ignorieren, ja ihm geradezu widersprechen würde. Art. 97 Abs. 3 S. 1 LV a.F. schreibe keine vollständige Kostendeckung vor, sondern lasse — auch für die sog. Zweckkosten — eine anteilige Kostendeckung genügen. Die Höhe der durch die Aufgabenwahrnehmung entstehenden Kosten sei trotz weitgehender bundesrechtlicher Vorgaben und der Zuweisung als Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung durch die verbleibenden Entscheidungsspielräume beeinflußbar. Das hierdurch eröffnete Kostenbegrenzungs- und -senkungspotential könne bei der Bemessung des Umfangs der Kostendeckung von Verfassungs wegen Berücksichtigung finden. Auf plausiblen Annahmen beruhten auch die Fallobergrenzen des Art. 20 HStrG 2000. Sie gingen von den durchschnittlichen Fallzahlen in der ersten Hälfte des Jahres 1999 aus. Der Anteil der stationären Plätze in der Eingliederungshilfe für Behinderte gemessen an der Gesamtbevölkerung liege in Brandenburg mit 0,288% sowohl über dem Bundesdurchschnitt (0,216%) als auch über dem Durchschnitt der neuen Bundesländer. Es erscheine daher sachgerecht, diesen Anteil unter gleichzeitigem Ausbau ambulanter Hilfestrukturen auf einen Anteil von 0,257% zurückzuführen. Für den Bereich der teilstationären Eingliederungshilfe für Behinderte sei ein Ausgangswert von 0,27% der Bevölkerung als bedarfsgerecht anzusehen. Nach § 4 Abs. 3 AGBSHG könne durch Rechtsverordnung ggf. von den Platzzahlen abgewichen werden. Den örtlichen Trägern sei zudem nach § 16a GemeindefinanzierungsgeLVerfGE 13

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setz ( G F G ) 2000 und 2001 zur Stärkung der sozialen Dienste ein Betrag von 20 Mio. D M , erhöht um einen Betrag von 10 Mio. D M außerhalb der Verbundmasse, zur Verfügung gestellt worden, durch den der Aufbau ambulanter Hilfestrukturen beschleunigt aktiviert werden könne. Sofern es bei einzelnen Trägern zu besonderen Mehrbelastungen komme, könne dem bei Festsetzung der Anteile der einzelnen örtlichen Träger an der Kostenerstattung gem. § 4 Abs. 4 S. 4 A G B S H G entsprochen werden. Schließlich könne dem Gesetzgeber eine Anpassungspflicht der Berechnungskriterien erwachsen, um einer ggf. verfassungsrechtlich bedenklichen Belastung des einzelnen örtlichen Trägers zu begegnen. 2. Nach Auffassung des Landkreistages Brandenburg ist Prüfungsmaßstab allein das strikte Konnexitätsprinzip nach Art. 97 Abs. 3 L V in der 1999 geänderten Fassung, da nach dem Schutzzweck der Norm eine neue Aufgabe vorliege. Würde das strikte Konnexitätsprinzip in Fällen, in denen eine ehemals für die Landkreise günstigere Regelung zu deren Nachteil verändert werde, nicht gelten, könne der Gesetzgeber das geltende Verfassungsrecht unterlaufen. Aus dem Entschließungsantrag des Hauptausschusses des Landtages vom 15.3.1999 werde deutlich, daß das Kriterium der „neuen Aufgabe" lediglich verhindern solle, daß für alle vor der Verfassungsänderung übertragenen Aufgaben automatisch der volle Kostenausgleich nach Art. 97 Abs. 3 n.F. L V Platz greife. Wenn aber nicht lediglich eine neue Rechtsgrundlage geschaffen werde, sondern die Kommunen durch das Land neu oder zusätzlich in die Pflicht genommen werden, seien die Kosten zu erstatten. Durch das A G - B S H G in der Fassung des Haushaltsstrukturgesetzes 2000 hätten die Landkreise per Saldo höhere finanzielle Belastungen, für die die erstmals auch für kommunale Ausgaben für ambulante Leistungen mit 93% der Zweckausgaben gewährte Kostenerstattung keine ausreichende Kompensation darstelle. Ausweislich der amtlichen Begründung sei der Gesetzgeber selbst davon ausgegangen, daß die Veränderung der Kostenerstattungsregelungen zu einer Belastung der Landkreise führe. Steuerungsmöglichkeiten zur Kostensenkung seien tatsächlich nicht vorhanden. So treffe der Landkreis etwa im Bereich der teilstationären Betreuung in Werkstätten für behinderte Menschen nicht die Letztentscheidung über die ambulante oder teilstationäre Betreuung, sondern sei an die Empfehlung eines aus Vertretern der Arbeitsverwaltung, der Rentenversicherung, der Werkstätten und des betroffenen Landkreises zusammengesetzten Gremiums gebunden. Für den Bereich der Pflege werde allein durch die Pflegekassen auf der Grundlage der Begutachtung durch den medizinischen Dienst der Krankenversicherungen entschieden, ob stationäre oder ambulante Betreuung zu gewähren sei. Auch dort, wo — wie bei den Angeboten der stationären Eingliederungshilfe — die Entscheidung den Landkreisen obliege, werde der Ermessensspielraum durch die Ausgestaltung des Leistungsanspruchs nach dem Bundessozialhilfegesetz, die hierzu ergangene Rechtsprechung und durch die Gutachten zu Art und Grad der Behinderung eingeschränkt. Die hohen Fallzahlen im stationären und teilstationäLVerfGE 13

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ren Bereich seien auch nicht auf fehlende ambulante Angebote zurückzuführen. Die Fallzahlen stationärer Betreuung entsprächen den vom Land selbst festgestellten Bedarfen und in Regionalkonferenzen vorgegebenen Planungen. Zum jetzigen Zeitpunkt den Anteil an stationärer Betreuung zurückzuführen, obwohl genau dieser Umfang laut Landesplanung dem Bedarf entsprochen habe und mittlerweile eine entsprechende Platzzahl vorgehalten werde, sei auch einer wirtschaftlich und sparsam arbeitenden Kommune nicht möglich. Das Land selbst plane, bewillige und fördere nach wie vor neue Einrichtungen. Das Landesjugendamt bewillige über den Weg der Betriebserlaubniserteilung nach § 45 Sozialgesetzbuch VIII regelmäßig neue Plätze der stationären Eingliederungshilfe für behinderte Kinder und Jugendliche. Einem Abbau von Fällen stationärer Betreuung stehe auch entgegen, daß das Landesamt für Soziales und Versorgung Kostensätze vereinbare, die auf der Annahme einer 98%igen Auslastung der jeweiligen Einrichtung basierten, so daß den Einrichtungsbetteibern ein Freihalten von Plätzen wirtschaftlich verwehrt sei. Zudem sei die Zahl der Fälle, die über der erstattungsfähigen Quote lägen, von den einzelnen Landkreisen nicht steuerbar. Der Ausgleich von 93% für die Ausgaben im ambulanten Bereich sei kein geeigneter Anreiz, da die Höhe der Kosten für ambulante Leistungen nicht zwingend in einem Zusammenhang mit der Fallzahl stehe. Die vom Landesgesetzgeber zugrunde gelegten Fallzahlen seien letztlich von der Annahme geprägt, daß sich ein Abbau um 350 Fälle im Zuge der Abgabe an den zuständigen Träger der Sozialhilfe im Jahr 2000 ergebe. Tatsächlich habe die Landesregierung im Rahmen ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage im Juli 2001 eingeräumt, daß bisher per Saldo nur 106 Fälle hätten abgegeben werden können. Soweit das Land im Bereich der Kostenerstattung für Aufgaben nach § 72 BSHG sogar von einer Überkompensation ausgehe, sei dies anhand der vom Land zur Verfügung gestellten Unterlagen nicht überprüfbar. Aus den für die Kostenerstattung im Haushaltsplan 2000/2001 (Band VIII, Einzelplan 07, Kapitel 07070, Titel 64370234, S. 96, 97) veranschlagten Zahlen folge, daß nach der Einschätzung des Landes eine massive Kostenverlagerung auf die Landkreise stattfinde. Ausweislich der Mitteilung der Grundlagen der Kostenerstattung für das Jahr 2000 durch das Landesamt für Soziales und Versorgung würden 136 Fälle der stationären Eingliederungshilfe und 220 Fälle der teilstationären Eingliederungshilfe nicht erstattet, d.h. bei durchschnittlichen Kosten je Fall von 40.000,00 DM bzw. 30.000,00 DM insgesamt 12.040.000,00 DM. Da die erstmalig erfolgende Erstattung für ambulante Eingliederungshilfe nur 8.902.689,00 DM betragen werde, ergebe sich bereits für das Jahr 2000 ein Fehlbetrag von 3.137.311,00 DM zulasten der Landkreise. B. Die kommunale Verfassungsbeschwerde hat Erfolg.

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I. Die kommunale Verfassungsbeschwerde ist zulässig. 1. Soweit die Beschwerdeführer ihre Beschwerde gegen Art. 20 HStrG 2000 auf dessen Neufassung durch Art. 6 HStrG 2002 erstrecken, lässt das Gericht die darin liegende Antragsänderung zu, weil sie sachgerecht und zweckmäßig ist. Die Zulässigkeit einer Antragsänderung ist im Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg (VerfGGBbg) nicht ausdrücklich geregelt. Gem. § 13 Abs. 1 VerfGGBbg sind deshalb die Bestimmungen der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) entsprechend heranzuziehen. Allerdings ist der die Zulässigkeit einer Klageänderung regelnde § 91 VwGO nicht unbesehen auf das verfassungsgerichtliche Verfahren zu übertragen. Das Verfassungsgericht kann die Änderung zulassen, wenn es sie für zweckmäßig hält und legitime Interessen anderer nicht beeinträchtigt werden (vgl. BVerfGE 13, 54, 94). So liegt es hier. Mit Zulassung der Antragsänderung können die verfassungsrechtlichen Fragen, die sich durch die Neuordnung des AG-BSHG stellen, einer umfassenden Klärung zugeführt werden. Entgegenstehende Interessen sind weder vorgetragen noch anderweitig erkennbar. 2. Die beschwerdeführenden Landkreise sind als „Gemeindeverbände" gem. § 51 Abs. 1 VerfGGBbg im kommunalen Verfassungsbeschwerdeverfahren beteiligtenfähig (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 19.5.1994 - VfGBbg 9/93 LVerfGE 2, 93 und v. 15.10.1998 - VfGBbg 38/97 LVerfGE 9,121). 3. Die Beschwerdeführer sind durch die Änderungen der Kostendeckungsregelung in § 4 Abs. 2 und 3 AG-BSHG sowie Art. 20 Nr. lb) und c) 2000 idF von Art. 6 HStrG 2002 selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen. Als örtliche Träger der Sozialhilfe gem. § 96 Abs. 1 BSHG iVm § 1 Abs. 1 AG-BSHG fallen sie in den Anwendungsbereich des § 4 Abs. 2 und 3 AG-BSHG und sind in dieser Weise selbst Adressaten der in Frage stehenden Regelungen. Die Neuregelung des § 4 Abs. 2 AG-BSHG sowie die für die Zeit bis zum 31.12.2005 geltende Übergangsregelung in Art. 20 Nr. lb) und c) HStrG 2000 idF von Art. 6 HStrG 2002 begrenzt die Kostenerstattungsansprüche der Beschwerdeführer und betrifft sie damit gegenwärtig und unmittelbar. Das hat letztlich auch für die erst ab dem 1.1.2006 anwendbare Regelung des § 4 Abs. 3 AG-BSHG idF des HStrG 2000 zu gelten. Zwar ist eine konkrete Bezifferung der Mehrbelastungen für die Zeit ab 2006 noch nicht möglich, weil ein gem. § 3 Abs. 1 Landespflegegesetz (PflegeG) aufgestellter Landespflegeplan noch nicht vorliegt und deshalb die AnknüpfungsFallzahl noch nicht feststeht. Auch in dieser Hinsicht zeitigt das Gesetz für die betroffenen Landkreise aber schon zum gegenwärtigen Zeitpunkt Wirkungen. Sie müssen sich auf die gegebenenfalls zu erwartenden finanziellen Folgen schon jetzt einstellen. Derartige Vorwirkungen begründen eine aktuelle („gegenwärtige") und eine nicht nur faktische, sondern rechtliche („unmittelbare") Betroffenheit (vgl. LVerfGE 13

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BVerfGE 77, 308, 326; 45, 104, 118; 38, 326, 335; vgl. ferner Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 20.1.2000 - VfGBbg - 53/98, 3/99 - , LVerfGE Suppl. Bbg. zu Bd. 11, 3, 21 f = DVB1 2000, 981 = LKV 2000, 195 = NJ 2000, 195). 4. Soweit nach Art. 100 LV die kommunale Verfassungsbeschwerde nur mit der Behauptung erhoben werden kann, daß ein Gesetz des Landes das Recht auf Selbstverwaltung nach der Landesverfassung verletze, ist das sich daraus ergebende Zulässigkeitserfordernis erfüllt. Das Landesverfassungsgericht hat bereits in seiner sog. Falkensee-Entscheidung (Urt. v. 18.12.1997 - VfGBbg 47/96 - , LVerfGE 7,144,155 = LKV 1998,195 = DÖV 1998, 336) ausgeführt: „Gemeindliche Selbstverwaltung bedeutet eigenverantwortliche Wahrnehmung von Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft (...). Der Gewährleistung einer eigenverantwortlichen — auch angemessene Handlungs- und Gestaltungsspielräume gewährenden — Wahrnehmung dieser Angelegenheiten dient die gemeindliche Finan2hoheit (vgl. etwa BVerfGE 71, 25, 36; 26, 228, 244). In diesem Sinne umfasst die kommunale Selbstverwaltung auch die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung (so ausdrücklich Art. 28 Abs. 2 S. 3 GG). Art. 97 Abs. 3 S. 1 LV, demzufolge das Land Fesdegungen über die Deckung der Kosten zu treffen hat, wenn es die Kommunen verpflichtet, Angelegenheiten des Landes wahrzunehmen, ist in diesem Zusammenhang zu sehen: Die Bestimmung konkretisiert die Gewährleistung der kommunalen Selbstverwaltung von der Finanzierungsseite her (vgl. BVerfGE 71, 25, 38); sie will dazu beitragen, daß der finanzielle Spielraum der Gemeinden für Selbstverwaltungsangelegenheiten durch die Verpflichtung zur Wahrnehmung von Angelegenheiten des Landes nicht verloren geht. Von daher kann eine mögliche Verletzung der landesverfassungsrechtlichen Verpflichtung zu einer gleichzeitigen Kostendeckungsregelung, wie sie Art. 97 Abs. 3 S. 1 LV vorgibt, eine Verletzung der Selbstverwaltungsgarantie bedeuten." Diese Ausführungen gelten nach der Neufassung des Art. 97 Abs. 3 LV durch Gesetz vom 7.4.1999 (GVB1.1 S. 98) unverändert. Es erscheint auch nicht von vornherein ausgeschlossen, daß eine Verletzung der in diesem Sinne verstandenen Selbstverwaltungsgarantie vorliegt. Zwar könnte in bezug auf § 4 Abs. 2 AG-BSHG fraglich sein, ob die Änderung der Kostendeckungsregelung zu einer für die Landkreise ungünstigeren Rechtslage führt, wenn man mit der amtlichen Begründung des Gesetzentwurfs zum HStrG 2000 davon ausginge, daß eine 93%ige Kostenerstattung durch das Land den örtlichen Trägern der Sozialhilfe einen Vorteil bringe, „weil sie den durch Obergrenzen gedeckelten stationären Bereich besser beeinflussen" könnten und „weil sie künftig eine Kostenerstattung für den Bereich erhalten, den sie bisher allein finanzieren mussten" (vgl. LT-Drs 3/810, S. 63). Ungeachtet dessen gibt hier jedoch den Ausschlag, daß die geänderten Kostenerstattungsregelungen, wovon letztlich auch der Gesetzgeber ausgegangen ist, jedenfalls eine Verminderung des Kostenerstattungsvolumens im Verhältnis zu der früheren Rechtslage zur Folge haben. Ausweislich der amtlichen Begründung führen die neuen KostenerstattungsvorLVerfGE 13

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Schriften zu einer Absenkung des Kostenerstattungsvolumens von den im Haushaltsplan vorgesehenen 441.913 TDM auf 435.552 TDM für das Jahr 2000 und von 435.949 TDM auf 430.852 TDM für das Jahr 2001 (vgl. LT-Drs 3/810, S. 63 f). Auch bei der Vorausschätzung innerhalb der Finanzplanung für die Jahre 2002 bis 2005 ergeben sich jeweils niedrigere Kostenerstattungsbeträge (vgl. LTDrs 3/810, S. 64). Für die verfahrensgegenständlichen Kostendeckungsregelungen in § 4 Abs. 2 und 3 AG-BSHG sowie Art. 20 Nr. lb) und c) HStrG 2000 idF von Art. 6 HStrG 2002 macht der Beschwerdeführer zu 1. auch individuell eine Verringerung der ihm zufließenden Kostenerstattung geltend; der Beschwerdeführer zu 2. wendet sich allein gegen § 4 Abs. 3 AG-BSHG und die Übergangsregelung in Art. 20 Nr. lb) und c) HStrG 2000 idF von Art. 6 HStrG 2002, und macht hierzu geltend, daß sich diesbezüglich für ihn eine Unterdeckung ergebe. 5. Das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung gilt in dieser Form nicht für die Kommunalverfassungsbeschwerde. Da Kommunen keine Möglichkeit haben, fachgerichtliche Entscheidungen mit der Behauptung anzugreifen, das zugrundeliegende Gesetz verletze ihr Recht auf Selbstverwaltung, können sie im allgemeinen nicht darauf verwiesen werden, vor Erhebung der Kommunalverfassungsbeschwerde gegen das Gesetz zunächst fachgerichtlichen Rechtsschutz gegen etwaige Einzelakte in Anspruch zu nehmen (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 20.1.2000 - VfGBbg 53/98, 3/99 aaO, S. 29). Soweit eine unmittelbar gegen gesetzliche Vorschriften gerichtete kommunale Verfassungsbeschwerde unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität unzulässig sein kann, wenn der Beschwerdeführer in zumutbarer Weise einen wirkungsvollen Rechtsschutz zunächst durch Anrufung der Fachgerichte erlangen kann (vgl. etwa BVerfGE 75, 246, 263, mwN), steht dies hier der Zulässigkeit der Kommunalverfassungsbeschwerde ebenfalls nicht entgegen. Angesichts des eindeutigen Inhalts der angefochtenen Kostenerstattungsregelungen der § 4 Abs. 2 und 3 AG-BSHG idF des HStrG 2000 und der Übergangsregelung des Art. 20 Nr. lb) und c) HStrG 2000 idF des HStrG 2002 verspräche der Weg vor die Fachgerichte mit dem Ziel der Erlangung einer höheren Kostenerstattung von vornherein keinen Erfolg. 6. Die Jahresfrist des § 51 Abs. 2 VerfGGBbg ist gewahrt. Das HStrG 2000 ist gem. Art. 22 S. 3 in seinem hier interessierenden Teil am Tage nach der Verkündung, mithin am 1.7.2000 in Kraft getreten. Die nach §222 Abs. 1 ZPO, §§ 187 Abs. 2,188 Abs. 2 BGB zu bestimmende Frist endete, da der 30.6.2001 ein Samstag war, am darauffolgenden Montag. Die am Montag, dem 2.7.2001, eingegangene kommunale Verfassungsbeschwerde ist damit fristgemäß erhoben worden (§ 13 Abs. 1 VerfGGBbg iVm § 57 Abs. 2 VwGO, § 222 Abs. 2 ZPO). Die Jahresfrist ist auch für das HStrG 2002 gewahrt. II. Die kommunale Verfassungsbeschwerde ist begründet. LVerfGE 13

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1. Maßstab der verfassungsgerichtlichen Überprüfung ist, und zwar für sämtliche angefochtenen Vorschriften, Art. 97 Abs. 3 S. 2 und 3 LV idF vom 7.4.1999 (GVB1. I, S. 98). Werden danach die Gemeinden und Gemeindeverbände in der Zeit nach dem Inkrafttreten der Verfassungsänderung vom 7.4.1999 (s. Art. 3 Abs. 2 des Gesetzes zur Änderung der Verfassung des Landes Brandenburg und des Verfassungsgerichtsgesetzes Brandenburg v. 7.4.1999) durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes zur Erfüllung neuer öffentlicher Aufgaben verpflichtet, so sind dabei Bestimmungen über die Deckung der Kosten zu treffen. Führen diese Aufgaben zu einer Mehrbelastung der Gemeinden oder Gemeindeverbände, so ist dafür ein entsprechender finanzieller Ausgleich zu schaffen. a) Bei den verfahrensgegenständlichen Aufgaben nach § 100 Abs. 1 Nr. 1 und 5 BSHG handelt es sich um neue öffentliche Aufgaben im Sinne des Art. 97 Abs. 3 S. 2 LV. aa) Hinsichtlich der durch § 2 Abs. 2 AG-BSHG in der Fassung des Haushaltstrukturgesetzes 2000 erstmals der Zuständigkeit der örtlichen Träger der Sozialhilfe für den Teilbereich der Nichtseßhaftenhilfe zugewiesenen Aufgabe nach § 100 Abs. 1 Nr. 5 BSHG, wenn die Hilfe dazu bestimmt ist, Nichtseßhafte seßhaft zu machen, steht die Anwendbarkeit des Art. 97 Abs. 3 n.F. LV auch nach Ansicht der Landesregierung außer Frage. Es handelt sich um eine Aufgabe, für die nach § 2a Abs. 2 Nr. 1 AG-BSHG idF des 2. BrbFRG bisher das Land als überörtlicher Träger der Sozialhilfe sachlich zuständig war. bb) Art. 97 Abs. 3 n.F. LV greift auch in bezug auf die Hilfen nach § 72 BSHG Platz, die nicht dazu bestimmt sind, Nichtseßhafte seßhaft zu machen und für die — was in der Stellungnahme der Landesregierung offenbar übersehen wird — bereits vor dem Erlaß des Art. 6 Nr. 1 HStrG 2000 nach dem mangels anderweitiger Regelung im Gesetz zur Ausführung des Bundessozialhilfegesetzes insoweit zur Anwendung kommenden Grundsatz des § 2 Abs. 1 AG-BSHG der örtliche Träger der Sozialhilfe sachlich zuständig war. Ist eine zuvor — wie hier gem. § 1 Abs. 1, 2. HS. AG-BSHG — als (pflichtige) Selbstverwaltungsangelegenheit wahrgenommene Aufgabe fortan als Pflichtaufgabe zur Erfüllung nach Weisung wahrzunehmen (gem. § 2 Abs. 2 AG-BSHG idF des Art. 6 Nr. 1 HStrG 2000), handelt es sich bei einer am Sinn und Zweck orientierten Auslegung um die Verpflichtung zur Erfüllung einer neuen öffentlichen Aufgabe iSd Art. 97 Abs. 3 S. 2 LV. Durch das staatliche Weisungsrecht erweitert sich die zuvor nur das „ O b " der Aufgabenerfüllung erfassende Inanspruchnahme der Kommunen auf das „Wie" der Aufgabenerfüllung und unterwirft die Verwendung der kommunalen Mittel damit einer zusätzlichen Bindung (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 17.10.1996 - VfGBbg 5/95 - , LVerfGE 5, 79). cc) Entgegen der Auffassung der Landesregierung ist Art. 97 Abs. 3 LV in der durch das Gesetz v. 7.4.1999 geänderten Fassung Prüfungsmaßstab auch für

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die Kostenregelungen bezüglich der den örtlichen Trägern der Sozialhilfe übertragenen Aufgaben nach § 100 Abs. 1 Nr. 1 BSHG (Eingliederungshilfe für Behinderte und Hilfe zur Pflege). Auch insoweit folgt aus Art. 97 Abs. 3 n.F. LV, daß „ein entsprechender finanzieller Ausgleich" zu schaffen ist. (1) Zwar haben im Land Brandenburg die örtlichen Träger der Sozialhilfe die hier in Frage stehenden Aufgaben bereits seit Inkrafttreten des 2. BrbFRG wahrgenommen. Den Beschwerdeführern und dem Landkreistag kann auch nicht darin gefolgt werden, daß Art. 97 Abs. 3 n.F. LV im Falle von bereits vor der Verfassungsänderung übertragenen Aufgaben auf auch nur die Kostenerstattung betreffende Regelungen ohne weiteres anwendbar sei. Einer dahingehenden Auslegung steht bereits der Wortlaut des Art. 97 Abs. 3 n.F. LV entgegen. Danach sind Bestimmungen über die Deckung der Kosten zu treffen, wenn die Gemeinden und Gemeindeverbände durch Gesetz zur Erfüllung neuer öffentlicher Aufgaben verpflichtet werden. Die Verfassung unterscheidet mithin sprachlich zwischen der Aufgabenübertragung, d.h. der Begründung sachlicher Zuständigkeiten, und der Regelung über die Deckung der sich aus der Wahrnehmung der neuen Zuständigkeit ergebenden Kosten. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer kann auch der Entstehungsgeschichte des Art. 97 Abs. 3 n.F. LV nicht klar genug entnommen werden, daß bei bereits früher übertragenen Aufgaben auch nur die Kostenerstattung betreffende Regelungen an der Neufassung der Verfassungsbestimmung zu messen seien. Der anläßlich der Änderung des Art. 97 Abs. 3 LV ergangene Beschluß des Landtages vom 18.3.1999 (LT-Drs 2/6179-B) gibt dafür nicht genügend her. Diesem Beschluß zufolge soll die Ausgleichzahlung nach Maßgabe des neugefaßten Art. 97 Abs. 3 LV auch dann erfolgen, wenn die Gemeinden und Gemeindeverbände bestimmte Aufgaben schon wahrnehmen, aber die Standards der Aufgabenerfüllung erhöht werden. Mit „Standarderhöhung" sollten indes offenbar Fälle einer anspruchsvolleren und dadurch Mehraufwand bedingenden gesetzgeberischen Beschreibung der nämlichen Aufgabe erfaßt werden. Wäre auch schon eine bloße Änderung der Kostenerstattungsregelung gemeint gewesen, hätte es — auch angesichts der sonstigen Ausführlichkeit der „Erläuterungen" zu Art. 97 Abs. 3 in dem Beschluß des Landtages vom 18.3.1999 nahegelegen, dies klar zum Ausdruck zu bringen. Der Landtagsbeschluß liefert hiernach keinen hinreichenden Anhalt dafür, daß Mehrbelastungen der Kommunen durch Änderung der Kostenerstattungssystematik als Fallgruppe miteinbezogen sein sollten. Auf der anderen Seite trifft aber auch die von der Landesregierung vertretene Gegenauffassung nicht zu, daß die Entstehungsgeschichte der Neufassung des Art. 97 Abs. 3 LV ergebe, daß an eine - Mehrbelastungen der Kommunen auslösende — gesetzliche Neukonzeption der Kostenregelung der geänderte verfassungsrechtliche Maßstab nicht anzulegen sei. Freilich geht die letztlich beschlossene Fassung des Art. 97 Abs. 3 LV, die für das Konnexitätsprinzip auf „neue" öffentliche Aufgaben abstellt, auf einen Änderungsvorschlag der Fraktion der LVerfGE 13

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SPD zurück, zu dessen Begründung ausgeführt wurde, daß die Regelung nur für zukünftige Aufgabenübertragungen gelten solle; um dies sicherzustellen, spreche S. 2 von „neuen öffentlichen Aufgaben", zu denen die Gemeinden verpflichtet „werden" (vgl. Anlage zum Ausschußprotokoll 2/1202 zur Sitzung des Innenausschusses v. 4.3.1999). Entgegen der weitergehenden Interpretation der Landesregierung ist diese Änderung jedoch nur als Reaktion auf die von dem Sachverständigen Prof. Dr. H. geäußerte Auffassung zu verstehen, daß nach der zunächst vorgesehenen Fassung „jede Kostentragungspflicht auf frühere Übertragungen von Aufgaben" zurückwirke, da es „nicht auf den Übertragungsakt, sondern auf den Ausführungsakt" ankomme (Ausschußprotokoll 2/1052, S. 29). Durch die Formulierung „neue öffentliche Aufgaben" in Art. 97 Abs. 3 S. 2 LV, ferner durch die „Inkrafttretensregelung" in Art. 3 Abs. 2 des verfassungsändernden Gesetzes, wonach die Neuregelung nur für Aufgaben gilt, „zu deren Erfüllung die Gemeinden und Gemeindeverbände nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes verpflichtet werden", sowie auch durch den als „Auslegungshilfe" gedachten Beschluß des Landtages v. 18.3.1999 (LT-Drs. 2/6179-B) sollte demgegenüber sichergestellt werden, daß kein Anspruch „auf Rückerstattung von Kosten für bereits übertragene Aufgaben" bestehe (so etwa die Abg. Frau Dettmann — SPD in der Sitzung des Ausschusses für Inneres vom 4.3.1999, Ausschußprotokoll 2/1202, S. 8, vgl. auch Begründung des Anderungsvorschlages der SPD-Fraktion: nur für „zukünftige Entscheidungen" des Gesetzgebers, aaO, S. 2). Die vorliegend zu entscheidende Frage, ob eine zu Mehrbelastungen der Kommunen führende Änderung von Kostenerstattungsregelungen bei bereits wahrgenommenen Aufgaben von Art. 97 Abs. 3 n.F. LV erfaßt wird, ist anderer Art und im Gesetzgebungsverfahren nicht thematisiert worden. Für diese Frage bleibt die Entstehungsgeschichte der Neufassung des Art. 97 Abs. 3 LV insgesamt unergiebig. (2) Art. 97 Abs. 3 LV kommt in der durch das Gesetz v. 7.4.1999 geänderten Fassung aber deshalb als Prüfungsmaßstab auch für die Kostenerstattungsregelungen bezüglich der den örtlichen Trägern der Sozialhilfe übertragenen Aufgabe nach § 100 Abs. 1 Nr. 1 BSHG (Eingliederungshilfe für Behinderte und Hilfe zur Pflege) zur Anwendung, weil durch das Haushaltsstrukturgesetz 2000 selbst eine neuerliche Übertragung bereits früher von den Landkreisen und kreisfreien Städten wahrgenommenen Aufgaben erfolgt ist. Der Gesetzgeber hat die (um eine weitere Aufgabe ergänzte) Aufgabenübertragungsnorm des § 2 Abs. 2 AG-BSHG durch das Haushaltsstrukturgesetz 2000 - und somit nach Inkrafttreten der Verfassungsänderung — insgesamt erneut in seinen Willen aufgenommen. Das erkennende Gericht hat bereits in seinem Urteil v. 18.12.1997 (VfGBbg 47/96, aaO) ausgeführt, daß eine erneute, die bisherige Aufgabenübertragung ablösende Aufgabenübertragung auch dann anzunehmen sei, wenn eine neue Rechtsgrundlage für eine schon vorher — im damaligen Fall: vor Inkrafttreten der Verfassung — wahrgenommene Aufgabe geschaffen wird (LVerfGE 7, 144, 158). Dem Inkrafttreten der Verfassung ist eine Änderung der maßgeblichen VerfassungsbestimLVerfGE 13

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mung gleichzustellen. Ein wesentlicher Unterschied zu der dem erwähnten Urteil zugrundeliegenden Konstellation ist auch nicht darin zu sehen, daß hier § 2 Abs. 2 AG-BSHG als Rechtsgrundlage für die Aufgabenübertragung nicht vollständig ersetzt, sondern lediglich in bezug auf eine einzelne Aufgabe (nach § 100 Abs. 1 Nr. 5 BSHG) ergänzt worden ist. Der konkrete Bestätigungswille des Gesetzgebers ergibt sich sowohl aus dem engen sachlichen Zusammenhang zwischen den bereits übertragenen Aufgaben nach § 100 Abs. 1 Nr. 1 BSHG und der hinzugekommenen Aufgabe nach § 100 Abs. 1 Nr. 5 BSHG als auch aus der durchgreifenden, auf das Verhalten bei der Wahrnehmung der Aufgabe Einfluß nehmenden Änderung der gesamten Kostenerstattungssystematik bezüglich der Aufgaben nach § 100 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 5 BSHG. Die in Frage stehenden Regelungen bedeuten nicht allein eine neue Art und Weise der Kostenerstattung, sondern betreffen die Aufgabenerfüllung selbst, die anders und kostensparender abgewickelt werden soll. Die Landesregierung räumt ihrerseits ein, durch die Änderung des AG-BSHG sei die Stärkung des Grundsatzes „ambulant vor stationär" „beabsichtigt" (vgl. Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage des Abgeordneten Thomas Domres, LT-Drs. 3/3053). Die hier vorgenommene Einordnung als neuerliche Aufgabenübertragung entspricht auch dem Normzweck des Art. 97 Abs. 3 n.F. LV. Insoweit hat das Verfassungsgericht bereits in der Falkensee-Entscheidung zu Art. 97 Abs. 3 a.F. LV ausgeführt (vgl. Urt. v. 18.12.1997 - VfGBbg 47/96 - , LVerfGE 7,144,158 f): „Kostendeckung ist kein sich mit der Übertragung der Aufgabe erledigendes einmaliges Ereignis, sondern ein fortlaufender Prozeß. Nach dem Sinn und Zweck des Art. 97 Abs. 3 S. 1 LV greift es zu kurz, die Pflicht zu Fesdegungen über die Kostendeckung ausschließlich an den Ubertragungsakt zu knüpfen. Dabei bliebe außer acht, daß die übertragene Aufgabe sich mit dem Ubertragungsakt keineswegs erledigt, sondern fordaufende Kosten nach sich zu ziehen pflegt. Der Schwerpunkt der Kostenbelastung liegt in der fortlaufenden Bewältigung der Aufgabe (...). Dem Schutzzweck des Art. 97 Abs. 3 S. 1 entsprechend müssen für diese fortlaufend anfallenden Kosten Fesdegungen über die Deckung bestehen".

Mit dieser funktionalen Betrachtungsweise wäre es nicht zu vereinbaren, wenn der Gesetzgeber eine bestehende — den Anforderungen des strikten Konnexitätsprinzips genügende — Kostenerstattungsregelung unter Ausnutzung der zum Zeitpunkt der erstmaligen Übertragung der Aufgabe bestehenden Verfassungsrechtslage (hier: relatives Konnexitätsprinzip) zu Lasten der Kommunen verändern dürfte. Dem strikten Konnexitätsprinzip des Art. 97 Abs. 3 n.F. LV ist nach seinem Sinn und Zweck auch ein Verschlechterungsverbot im Vergleich zum status quo und bezogen auf die einzelne Aufgabe zu entnehmen. Da Art. 97 Abs. 3 n.F. LV für das (strikte) Konnexitätsprinzip (nur) auf „neue" öffentliche Aufgaben abstellt, braucht der Gesetzgeber zwar nicht von Verfassungs wegen tätig zu werden, um die Kostenerstattungsregelungen für bereits früher übertragene Aufgaben dem strikten Konnexitätsprinzip anzupassen. Entschließt er sich jedoch zu einer Änderung der Kostenregelung — um so mehr, wenn er LVerfGE 13

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dabei auf eine veränderte Aufgabenwahrnehmung abzielt —, darf er nicht hinter das bereits erreichte Niveau der Kostenerstattung zurückfallen. 2. a) Nach Art. 97 Abs. 3 S. 3 LV ist ein „entsprechender finanzieller Ausgleich" zu schaffen, wenn die wahrzunehmenden neuen öffentlichen Aufgaben zu einer Mehrbelastung der Gemeinden und Gemeindeverbände führen. Die Verfassungsbestimmung gebietet damit grundsätzlich eine vollständige und finanzkraftunabhängige Erstattung der den Kommunen durch die Aufgabenübertragung entstehenden Mehrbelastungen durch das Land. Soweit das erkennende Gericht in dem Urteil v. 18.12.1997 - VfGBbg 47/96 - ausgeführt hat, daß Art. 97 Abs. 3 S. 1 LV „keine vollständige Erstattung der bei den Kommunen für die Durchführung übertragener Aufgaben anfallenden Kosten durch das Land" vorschreibe (LVerfGE 7, 144, Leitsatz 5), galt dies für die frühere Fassung der Verfassungsbestimmung („Das Land kann die Gemeinden und Gemeindeverbände durch Gesetz verpflichten, Angelegenheiten des Landes wahrzunehmen, wenn gleichzeitig Festlegungen über die Deckung der Kosten getroffen werden."). Mit der Neufassung des Art. 97 Abs. 3 S. 3 LV hat sich der Verfassunggeber hingegen — wie die Verfassungen der Länder Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern, Saarland, Sachsen und Schleswig-Holstein — für das sog. strikte Konnexitätsprinzip entschieden. In der Formulierung, daß ein „entsprechender" finanzieller Ausgleich zu schaffen ist, kommt zum Ausdruck, daß ein bloß „angemessener" Ausgleich im Sinne eines sog. relativen Konnexitätsprinzips nicht ausreicht (vgl. BadWürttStGH, LVerfGE 9, 3, 15, zu Art. 71 Abs. 3 S. 3 BadWürttVerf.; HubertStorr Der kommunale Finanzausgleich als Verfassungsproblem, 1999, S. 70). Das gilt nach ihrem Sinn und Zweck auch für die Neufassung des Art. 97 Abs. 3 S. 3 LV. Die Regelung trägt als Ausdruck des Verursacherprinzips dem Gedanken Rechnung, daß das Land für einen Ausgleich derjenigen Mehrlasten Sorge zu tragen hat, die den Gemeinden und Gemeindeverbänden in der Folge einer Aufgabenübertragung erwachsen (BadWürttStGH, aaO, S. 13). Es soll verhindert werden, daß infolge der Übertragung von Pflichtaufgaben der Spielraum für freiwillige Selbstverwaltungsaufgaben unangemessen verengt und damit die Eigenverantwortlichkeit von der finanziellen Seite her ausgehöhlt wird. Eine finanzielle Belastung durch die Wahrnehmung von übertragenen Aufgaben soll vermieden werden (vgl. SächsVerfGH, LKV 2001, 223, zu Art. 85 Abs. 1 S. 3 und Abs. 2 SächsVerf.). b) Hinsichtlich der Ausgestaltung der durch das strikte Konnexitätsprinzip geforderten Kostenerstattung im Einzelnen hat sich das erkennende Gericht bisher nicht festgelegt. In dem Urteil v. 20.9.2001 (VfGBbg 57/00) hat es lediglich obiter ausgeführt, daß der Ausgleich, etwa bei — typisierend betrachtet — kommunalpolitischem Interesse der Kommunen an der Übernahme der Aufgabe unter dem Gesichtspunkt der Bürgerbetreuung „vor Ort" — möglicherweise nicht notwendig bei 100% zu liegen braucht und bis zu einem gewissen Grade auch die gleichzeitige Rückführung anderweitiger Aufgaben oder Standards oder die ErLVerfGE 13

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Öffnung neuer Einnahmen (Gebühren) zu einem „entsprechenden finanziellen Ausgleich" iSv Art. 97 Abs. 3 S. 3 LV beitragen können mag. In der Tat besagt der Grundsatz, daß das strikte Konnexitätsprinzip des Art. 97 Abs. 3 LV die Schaffung eines vollständigen und finanzkraftunabhängigen Mehrbelastungsausgleichs verlangt, noch nichts darüber, auf welche Weise die erforderliche Ausgleichsregelung herbeizuführen sei (vgl. SächsVerfGH, aaO, zu Art. 85 Abs. 1 S. 3 und Abs. 2 SachsVerf.). Wie auch in der — sich von der „Erstattung" abgrenzenden — Wortwahl „Ausgleich" in Art. 97 Abs. 3 LV zum Ausdruck kommt, ist der Gesetzgeber deshalb nicht daran gehindert, statt einer auf den Pfennig genauen Abrechnung eine Kostenerstattungsregelung in typisierender und pauschalierender Form zu treffen, indem etwa statt einer zeitraubenden und unsicheren Ermittlung der konkreten Ausgabensituation ein Rückgriff auf generelle Erfahrungswerte erfolgt. Innerhalb seines Gestaltungsspielraums darf der Gesetzgeber auch ein Erstattungskonzept verfolgen, das über besondere Anreize für wirtschaftlichen und sparsamen Gesetzesvollzug eine kostensenkende Wirkung entfaltet. Ein derartiges Erstattungssystem darf sich allerdings nicht in der bloßen Festschreibung einer Eigenbeteiligung oder absoluter Obergrenzen erschöpfen. Auch soweit das erkennende Gericht in dem Urteil v. 18.12.1997 (LVerfGE 7, 144, 162) davon ausgegangen ist, daß eine Heranziehung der Kommunen zu den Verwaltungskosten nicht verwehrt sei, weil sich die Kommunen auch bei der Wahrnehmung von Aufgaben des übertragenen Wirkungskreises im Rahmen ihrer Organisationshoheit bewegten und die Höhe der Verwaltungskosten von etwaigen Fehlentscheidungen einerseits und dem verwaltungsorganisatorischen Geschick und der Tüchtigkeit der jeweiligen kommunalen Verantwortungsträger andererseits mit beeinflußt würden, können diese auf Art. 97 Abs. 3 a.F. bezogenen Erwägungen auf das strikte Konnexitätsprinzip des Art. 97 Abs. 3 n.F. LV nicht ohne weiteres übertragen werden. Eine pauschalierende und Kostensenkungspotentiale bei der Wahrnehmung der Aufgaben berücksichtigende Regelung ist vielmehr nach der nunmehr geltenden Verfassungsrechtslage nur insoweit zulässig, als jede einzelne betroffene Kommune die realistische und nicht nur theoretische Möglichkeit hat, durch zumutbare eigene Anstrengungen zu einem vollständigen Mehrbelastungsausgleich zu kommen. Jedenfalls muß aber einer Pauschalierung eine vom Gesetzgeber vorzunehmende fundierte Prognose über die durch die Aufgabenübertragung bei den Kommunen verursachten notwendigen Kosten und ggf. ihre Beeinflußbarkeit durch die Kommunen zugrunde liegen (vgl. SächsVerfGH, aaO). Art. 97 Abs. 3 n.F. LV verlangt vom Gesetzgeber, im Gesetzgebungsverfahren eine eigene Prognoseentscheidung zu treffen bzw. — bei Rückgriff auf anderweitige Erkenntnisse — eine eigenständige Überprüfung ihrer Ubertragbarkeit unter Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse vorzunehmen und verpflichtet ihn diesbezüglich zu prozeduraler Sorgfalt. Diese Prognoseentscheidung unterliegt der verfassungsgerichtlichen Kontrolle, welche ihrerseits von der Art und ggf. den BeLVerfGE 13

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Sonderheiten der in Betracht zu ziehenden Umstände, den Möglichkeiten und Schwierigkeiten ihrer Prognostizierung und der Bedeutung der betroffenen Rechtsgüter abhängt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.9.1996, NJW 1997, 247; zusammenfassend Urt. v. 1.3.1979, BVerfGE 50, 290, 332 f = NJW 1979, 699 = DVB1. 1979, 399 = DÖV 1979, 251). Daß sich eine fehlerfrei erstellte Prognose später nicht bewahrheitet, führt für sich genommen und unbeschadet der Frage der gesetzgeberischen Reaktionen für diesen Fall (vgl. dazu Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 18.6.1998 - VfGBbg 27/97 - , LVerfGE 8, 97, 174) noch nicht zur Verfassungswidrigkeit einer gesetzlichen Kostendeckungsregelung. Erforderlich ist aber eine gründliche gesetzgeberische Befassung mit den tatsächlichen Grundlagen der Prognoseentscheidung unter Ausschöpfung der zugänglichen Erkenntnisquellen bei Berücksichtigung der Verhältnisse vor Ort. Dies setzt voraus, daß der Gesetzgeber die ihm zugänglichen Erkenntnisquellen situationsgerecht ausgeschöpft und die voraussichtlichen Auswirkungen der Regelung so zuverlässig wie angesichts der Komplexität des jeweils zu regelnden Sachverhalts nur möglich abgeschätzt hat. Hierbei muß er realistisch einschätzen, ob und inwieweit die Gemeinden und Gemeindeverbände rechtlich und wirtschaftlich imstande sind, die bei der Wahrnehmung der übertragenen Aufgaben entstehenden Kosten durch eigenverantwortliches Handeln zu beeinflussen (vgl. BadWürttStGH, aaO, S. 15; zur Rolle des Parlaments im Prozeß der Gesetzesfolgenabschätzung vgl. GrimmIBrocker ZG 1999, 58 mwN). Gestaltungsspielräume und Kostensenkungspotentiale bei den kommunalen Selbstverwaltungsträgern dürfen nicht abstrakt und gleichsam „ins Blaue hinein" vorausgesetzt werden, sondern müssen im Einklang mit den tatsächlichen Gegebenheiten stehen. Besonderheiten ist angemessen Rechung zu tragen. 3. Ausgehend von diesen Maßstäben ist die angegriffene Kostenerstattungsregelung des § 4 Abs. 2 AG-BSHG mit dem strikten Konnexitätsprinzip des Art. 97 Abs. 3 n.F. LV nicht vereinbar. Dabei kann offen bleiben, ob sich das Verfassungsgericht bei der Überprüfung der Prognose des Gesetzgebers im Bereich des Art. 97 Abs. 3 LV auf eine Vertretbarkeits- oder Evidenzkontrolle beschränkt oder eine intensivierte inhaltliche Kontrolle stattfindet. Die Prognoseentscheidung hält schon einer bloßen Vertretbarkeitskontrolle nicht stand. a) Nach § 4 Abs. 2 AG-BSGH idF des Art. 6 Nr. 6 HStrG 2000 hat das Land den örtlichen Trägern zum Ausgleich der Kosten, die durch die Übertragung der sachlichen Zuständigkeit nach § 2 entstehen, insgesamt 93 vom Hundert der Nettoausgaben der örtlichen Träger der Sozialhilfe für die Eingliederungshilfe für Behinderte, die Hilfe zur Pflege und die Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten mit Ausnahme der Ausgaben für Leistungen, die nicht als Einzelfallhilfe gewährt werden, zu erstatten. Ausweislich der Begründung des Gesetzentwurfs der Landesregierung (LT-Drs. 3/810, S. 63) zielt die Neuregelung darauf ab, die Selbstverwaltung der Kommunen und die Einflußnahme auf die LVerfGE 13

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Finanzen innerhalb der Sozialhilfe zu stärken. Durch die Steuerung des Zuganges zu stationären Hilfen in Verbindung mit dem Aufbau ambulanter Strukturen sei es den örtlichen Trägern der Sozialhilfe möglich, wirksam zur Kostenbegrenzung beizutragen. Während die Einführung neuer (ambulanter) Strukturen bisher eine Änderung der Kostenzuständigkeit (zulasten der örtlichen Träger) mit sich gebracht habe, bleibe es nach der neuen Regelung bei einer 93%igen Kostenerstattung durch das Land. Dadurch sei der Wechsel von stationär nach ambulant künftig mit finanziellen Vorteilen statt mit Nachteilen verbunden. b) Diese Erwägungen des Gesetzgebers sind im Ansatz nicht zu beanstanden. Bei der Bemessung der Kostenerstattung nach einem bestimmten Prozentsatz der gesamten Nettoausgaben für die (teil-)stationäre und ambulante Hilfe kann es sich, sofern ein den tatsächlichen Gegebenheiten und Möglichkeiten gerecht werdender Prozentsatz gewählt ist, um eine auch mit dem strikten Konnexitätsprinzip des Art. 97 Abs. 3 n.F. LV vereinbare Pauschalierung handeln. Ein solches Erstattungskonzept ist ggf. — unter der genannten Voraussetzung — geeignet, auf einen wirtschaftlichen und sparsamen Gesetzesvollzug hinzuwirken und durch Stärkung der Eigenverantwortlichkeit der Kommunen eine kostensenkende Wirkung zu entfalten. Durch die Zusammenfassung ambulanter und stationärer Hilfen in der Hand desselben Trägers in Verbindung mit der einheitlichen Kostenerstattung entfällt der Anreiz, allein aus Kostengründen ambulante durch stationäre Hilfe zu ersetzen, um auf diese Weise die Hilfe auf einen anderen Kostenträger zu verlagern. Diesem Anreiz entgegenzuwirken ist um so mehr gerechtfertigt, als der Sozialhilfeträger zu der — sehr kostenintensiven — stationären Unterbringung nur verpflichtet ist, wenn die Heimbetreuung erforderlich ist. Hierbei sind nicht nur die Hilfeempfänger und die Art ihrer Hilfebedürftigkeit in den Blick zu nehmen, sondern auch die konkreten örtlichen Verhältnisse. Die tatsächliche Möglichkeit einer ausreichenden ambulanten Versorgung oder von häuslicher Pflege hat damit unmittelbar Auswirkungen auf die Frage eines subjektiv-öffentlichen Rechtes auf stationäre Eingliederungshilfe und läßt diesen Anspruch ggf. entfallen. Hinzu kommt, daß den Kommunen durch die 93%-Regelung ein von mittelbaren finanziellen Vorgaben freier und flexibel einsetzbarer Betrag an die Hand gegeben wird, was ihrer Organisationshoheit letztlich förderlich sein kann (vgl. hierzu bereits Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 18.12.1997 - VfGBbg 47/96 LVerfGE 7, 144, 161) und ggf. der kommunalen Selbstverwaltung zugute kommt. Je genauer die Zweckbestimmung der zugewiesenen Mittel ist und je näher die Zuweisung am Erstattungsprinzip liegt, desto mehr werden die Möglichkeiten der Kommunen beschränkt, in dem durch Gesetz und Weisungen gezogenen Rahmen Art und Weise der Aufgabenwahrnehmung eigenverantwortlich zu bestimmen (vgl. NdsStGH, DÖV 1995, 994, 996; DVB1. 1998, 185, 187 sowie NVwZ-RR 2001, 553, 554; BayVerfGH, NVwZ-RR 1998, 601,606).

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Auch daß das vom Gesetzgeber gewählte Konzept die Kostenerstattung für die übertragenen Aufgaben im Bereich der stationären Maßnahmen mit der Kostenerstattung für ambulante Maßnahmen und damit für eigene Aufgaben der Kommunen verbindet, ist im Ansatz verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Nach den Ausführungen des erkennenden Gerichts in der Falkensee-Entscheidung ist zwar bei der Mittelzuweisung ein „gesonderter Ansatz für die übertragenen Aufgaben" erforderlich, damit ausreichend kontrollierbar ist, wie weit die Gemeinden im Rahmen der Kostendeckung herangezogen werden (vgl. LVerfGE 7, 144, 158 f). Da § 4 Abs. 2 AG-BSGH eine selbständige Regelung für den Ausgleich der Kosten, die den örtlichen Trägern der Sozialhilfe durch die Übertragung der sachlichen Zuständigkeit nach § 2 AG-BSHG entstehen, enthält, ist hier aber jedenfalls insoweit dem Gebot der Transparenz (vgl. hierzu: NdsStGH, NVwZ-RR 2001, 553, 554) Genüge getan. Fraglich ist allein, ob der Gesetzgeber für die Kosten, die den Kommunen bei der Wahrnehmung übertragener Aufgaben entstehen, einen ausreichenden, den Anforderungen des strikten Konnexitätsprinzips genügenden „entsprechenden finanziellen Ausgleich" geschaffen hat. Hierzu gilt: Daß nach der Planung des Geset2gebers — wie sich aus den für die Kostenerstattung im Haushaltsplan 2000/2001 (Band VIII, Einzelplan 07, Kapitel 07070, Titel 64370234, S. 96, 97) veranschlagten Zahlen ergibt — per Saldo eine Kostenverlagerung auf die Landkreise erfolgt und § 4 Abs. 2 AG-BSHG die dem einzelnen Träger tatsächlich entstehenden Kosten u.U. nicht vollständig ausgleicht, stellt für sich genommen insofern noch keinen Verstoß gegen das strikte Konnexitätsprinzip dar, als die höheren Kosten auf fehlende Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit bei der Aufgabenwahrnehmung zurückzuführen sind und der Gesetzgeber die Kosteneinsparungspotentiale der Kommunen an sich zutreffend oder doch hinreichend plausibel eingeschätzt hat. Von daher ist das Vorbringen des Beschwerdeführers zu 1., er müsse aufgrund der Neuregelung im Jahr 2000 etwa 500.000,00 DM selbst tragen, für sich allein nicht entscheidend, weil eine solche Mehrbelastung ihren Grund auch in mangelnder Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit bei der Art der Aufgabenwahrnehmung finden kann. Der als solcher verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende Anreiz zur Kostensenkung wird auch nicht — wie der Landkreistag meint — dadurch entscheidend in Frage gestellt, daß die Höhe der ebenfalls zu 93% ausgeglichenen Kosten für ambulante Leistungen nicht zwingend in einem Zusammenhang mit der jeweiligen Fallzahl steht. § 4 Abs. 2 AG-BSHG stellt - anders als § 4 Abs. 3 AG-BSHG — nicht auf Fallzahlen, sondern auf die Nettoausgaben ab. Gewisse Unschärfen liegen im Wesen pauschalierender Regelungen und sind hinzunehmen. c) Unbeschadet dessen hat nach Lage des Falles § 4 Abs. 2 AG-BSHG vor der Landesverfassung keinen Bestand. Es fehlt an einer den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden situationsgerechten Prognose zu den Auswirkungen der Regelung auf die Haushalte der Landkreise und kreisfreien Städte. Außer Betracht zu bleiben hat hierbei, daß der Gesetzgeber — wie sich aus der LVerfGE 13

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amtlichen Begründung für das Haushaltsstrukturgesetz 2002 ergibt (vgl. LT-Drs. 3/3230, S. 13 ff) — inzwischen offenbar selbst davon ausgeht, daß die dem Haushaltsstrukturgesetz 2000 zugrundeliegenden Annahmen zur Fallzahlen- und Kostenentwicklung teilweise unzutreffend gewesen sind. Denn daß sich eine zunächst fehlerfrei erstellte Prognose später nicht bewahrheitet, führt — wie dargelegt — für sich allein noch nicht zur Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Kostendeckungsregelung. Maßgeblich für die verfassungsrechtliche Überprüfung ist grundsätzlich die - auf den Zeitpunkt der Aufgabenübertragung abstellende — Prognose zum Zeitpunkt des Gesetzgebungsakts (vgl. SachsVerfGH, Urt. v. 23.11.2000, LKV 2001, 223, 225; ablehnend: Meyer LKV 2001, 297, 298). Vorliegend aber war die Aufgaben- und Kostenanalyse bereits zum Zeitpunkt der Prognose des Gesetzgebers unvollständig. In der Begründung des Gesetzentwurfs der Landesregierung (LT-Drs. 3/810, S. 68) wird zu der Festlegung einer 93%igen Kostenerstattung in § 4 Abs. 2 AG-BSHG lediglich ausgeführt, daß der Erstattungssatz auf das Verhältnis der Nettoausgaben der genannten Hilfearten im ambulanten Bereich einerseits und im stationären Bereich andererseits zurückgreife. Nach der Sozialhilfestatistik von 1998 (letzte vorliegende amtliche Statistik) betrage das Verhältnis zwischen den o.a. Hilfen innerhalb und außerhalb (teil-)stationärer Einrichtungen bundesweit und in den alten Bundesländern durchschnittlich 92% zu 8%. In den neuen Bundesländern betrage es durchschnittlich 93% zu 7% und in Brandenburg 95% zu 5%. Es werde unter diesen Umständen beim Erstattungssatz auf den Durchschnitt aller neuen Bundesländer abgehoben, weil davon auszugehen sei, daß die örtlichen Träger in Brandenburg in der Lage seien, künftig den Anteil der Hilfen außerhalb (teil-)stationärer Einrichtungen zu verstärken. Diese Begründung läßt eine vertiefte Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Verhältnissen im Land Brandenburg vermissen. Es fehlt bereits an einer näheren Auseinandersetzung mit den Gründen dafür, daß der Anteil der stationären Hilfeleistung im Land Brandenburg höher ist als anderswo und mit der sich daran anschließenden Frage, ob und inwieweit sich dieser Zustand verantwortlicherweise beeinflussen läßt und ggf. ob und in welchen Zeiträumen dies möglich ist. Eine Analyse der Auswirkungen der demographischen Entwicklung im allgemeinen und im Land Brandenburg im besonderen auf den zu erwartenden Bedarf an stationären Hilfen nach dem BSHG ist den Gesetzesmaterialien nicht zu entnehmen, obwohl die sich abzeichnenden Veränderungen der Altersstruktur der Bevölkerung mit ihren tiefgreifenden Folgen auch im Bereich des Gesundheitssystems auf der Hand liegen. Sie hätten den Gesetzgeber zu einer über die aktuellen Durchschnittswerte hinausreichenden sorgfältigen Ermitdung und Abwägung veranlassen müssen. Sachverständigengutachten zum tatsächlichen Bedarf an stationären Hilfen und zu den - vor allem im Hinblick auf die Altersstruktur, aber auch auf Wanderungsbewegungen — in den nächsten Jahren zu erwartenden Veränderungen sind im Gesetzgebungsverfahren ausweislich der Materialien nicht eingeholt worden. LVerfGE 13

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Der Gesetzgeber ist im übrigen selbst davon ausgegangen, daß die Gründe für die Zunahme der Fallzahlen bei der Eingliederungshilfe für Behinderte „zu einem erheblichen Teil in dem noch nicht vollzogenen Aufbau von ambulanten und teilstationären Strukturen im Land" liegen (vgl. LT-Drs. 3/810, S. 55). Vor diesem Hintergrund ist die Annahme, daß das durch die Neufassung der Kostenregelung angestrebte veränderte prozentuale Verhältnis zwischen den Nettoausgaben im ambulanten und stationären Bereich trotz der anstehenden strukturellen Veränderungen ohne längere Anpassungszeit — gewissermaßen „von jetzt auf gleich" — erreicht werden könne, nicht plausibel. Soweit der Gesetzgeber das sich aus der letzten amtlichen Sozialhilfestatistik für die neuen Länder durchschnittlich ergebende Verhältnis von 93% (stationäre Hilfen) zu 7% (ambulante Hilfen) auf das Land Brandenburg übertragen hat, wo bisher ein Verhältnis von 95% zu 5% besteht, fehlt es an Überlegungen, ob aufgrund der demographischen Entwicklungen nicht auch in den anderen Bundesländern ein wachsender Bedarf für stationäre Hilfeleistungen zu erwarten steht. Weiter ist nicht ersichtlich, daß möglichen — teilweise sich durchaus aufdrängenden — Besonderheiten im Land Brandenburg nachgegangen und Rechnung getragen worden ist. In der Begründung des Gesetzentwurfs der Landesregierung (vgl. LT-Drs. 3/810, S. 59 f) wird darauf hingewiesen, daß sich auf dem Gebiet des jetzigen Landes Brandenburg überproportional viele Einrichtungen der Behindertenhilfe befinden, in denen Hilfeempfänger aus anderen neuen Bundesländern — und wohl auch aus Berlin — Aufnahme gefunden haben. Zwar heißt es in der Gesetzesbegründung weiter, daß dieser aufgrund der Entwicklung in der DDR (Lokalisierung von Großeinrichtungen) erhöhte Anteil von behinderten Menschen aus anderen Teilen der DDR „mittel- bis langfristig" zurückgehen werde. Auch werde aufgrund eines Urteils des Bundesverwaltungsgerichts „kurzfristig" ein Rückgang der Zahl der Fälle „erwartet", bei denen die örtlichen Träger des Landes Brandenburg für die Gewährung der Eingliederungshilfe für Behinderte zuständig seien. In den Ist-Fallzahlen der Jahre 1997 bis 1999 und in der Ausgangslage für das Jahr 2000 seien mindestens 350 Fälle enthalten, für die nach Anwendung des o.a. Urteils ein örtlicher Träger außerhalb Brandenburgs zuständig wäre. Auch insoweit wird jedoch nicht berücksichtigt, daß entsprechende Anpassungen von den Kommunen nicht ohne Übergangsphase umgesetzt werden können. Weiter ist im Gesetzgebungsverfahren namentlich von Seiten der kommunalen Spitzenverbände darauf hingewiesen worden, daß der mit 95% sehr hohe Anteil stationärer Plätze in Brandenburg nicht zuletzt in der eigenen Verantwortung des Landes entstanden und vom Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen im Jahr 1999 als bedarfsgerecht anerkannt worden sei (vgl. die Stellungnahme von Frau Dr. Vorbol.\ für den Landkreistag Brandenburg in der öffentlichen Anhörung zu Art. 6 HStrG 2000 vor dem Ausschuß für Haushalt und Finanzen am 5.6.2000, Ausschußprotokoll 3/128, S. 4). Zwar stand die zuvor erfolgte Schaffung stationärer Plätze einem Umsteuern des Gesetzgebers in die LVerfGE 13

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jetzt eingeschlagene Richtung nicht entgegen; das Land kann seinen politischen Gestaltungsspielraum nicht gleichsam verwirken. Es liegt jedoch auf der Hand, daß sich ein Abbau einmal belegter Plätze nicht von „jetzt auf gleich" vollziehen läßt und erst allmählich über eine geänderte Aufnahmepraxis erreichbar ist. Auch dies ist, soweit aus den Gesetzesmaterialien ersichtlich, nicht hinreichend bedacht worden. Ob und in welchem Umfang die jetzigen Bewohner der stationären Einrichtungen auf Dauer dort leben müssen oder wie viele von ihnen in ambulanter Weise betreut werden können, ist im Gesetzgebungsverfahren unerörtert geblieben. Daß sich der Gesetzgeber mit den im Gesetzgebungsverfahren geäußerten Einwänden gegen eine kurzfristige Realisierbarkeit der angesteuerten Verlagerung in den ambulanten Bereich (vgl. die Stellungnahmen bei der Anhörung zu Art. 6 HStrG 2000 am 5.6.2000, Ausschußprotokoll 3/128) auseinandergesetzt und sie ggf. zum Anlaß einer erneuten Überprüfung seiner Prognose genommen hätte, ist nicht ersichtlich. Vielmehr scheint er davon ausgegangen zu sein, daß eine „Aufrüstung" im ambulanten Bereich gewissermaßen von selbst zu einem entsprechenden Fallzahlenrückgang im stationären Bereich führe. Auch von den rechtlichen Rahmenbedingungen her ist eine Absenkung des Anteils stationärer Hilfen von derzeit 95% auf 93% nur schrittweise und nicht „ab sofort" möglich. Ein Ermessensspielraum der örtlichen Träger der Sozialhilfe besteht nur in engen Grenzen. Bei den Leistungsansprüchen nach dem Bundessozialhilfegesetz handelt es sich überwiegend um Rechtsansprüche (vgl. allgemein § 4 Abs. 1 S. 1 BSHG sowie im vorliegenden Zusammenhang § 39 Abs. 1 S. 1 für die Eingliederungshilfe, § 68 Abs. 1 BSHG für die Hilfe zur Pflege und § 72 Abs. 1 S. 1 BSHG für die Hilfe zur Uberwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten), die vor den Verwaltungsgerichten durchgesetzt werden können. Inhaltlich werden die Entscheidungen der Träger der Sozialhilfe maßgeblich durch — dem Einfluß der örtlichen Träger der Sozialhilfe naturgemäß entzogene — ärztliche Gutachten zu Art und Grad der Behinderung determiniert. Der Entscheidung im Rahmen der Hilfe zur Pflege ist nach § 68a BSHG die Entscheidung der Pflegekasse über das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch zugrunde zu legen, soweit sie auf Tatsachen beruht, die bei beiden Entscheidungen zu berücksichtigen sind. Die vom Gesetzgeber letztlich allein mit dem prozentualen Verhältnis zwischen den Kosten für stationäre und ambulante Hilfen in anderen Bundesländern begründete pauschalierende Kostenermitdung verzichtet mithin auf eine fundierte und situationsbezogene Bedarfsanalyse und berücksichtigt deshalb nicht ausreichend die tatsächlichen Auswirkungen, welche sich aus der Aufgabenerfüllung für die Haushalte der Landkreise und kreisfreien Städte ergeben. Damit erweisen sich die von dem Gesetzgeber angestellten Erwägungen als unvollständig und hat der Gesetzgeber den ihm ansonsten zustehenden Gestaltungsspielraum überschritten. § 4 Abs. 2 AG-BSHG hält infolgedessen der Überprüfung am Maßstab des Art. 97 Abs. 3 LV nicht stand. LVerfGE 13

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4. Mit Art. 97 Abs. 3 n.F. LV unvereinbar sind auch die Ubergangsregelungen nach Art. 20 Nr. lb) und c) HStrG 2000 idF von Art. 6 HStrG 2002, wonach für die Platzzahlen nach § 4 Abs. 3 S. 1 AG-BSHG ab dem Jahr 2000 bis zum Jahr 2005 bestimmte Fallobergrenzen für die Eingliederungshilfe für Behinderte gelten. Auch insoweit fehlt es an einer fehlerfreien, auf gesicherter Basis erstellten Prognose über die Auswirkungen auf die Haushalte der Landkreise und kreisfreien Städte und die Beeinflußbarkeit der entsprechenden Kosten durch diese Träger vor dem Hintergrund des Konnexitätsprinzips (s.o. zu 3c). Dies gilt ebenso wie für die im Haushaltsstrukturgesetz 2000 ausgeworfenen auch für die durch das Haushaltsstrukturgesetz 2002 geänderten Zahlen. Zum einen hat sich der Gesetzgeber mit der tatsächlichen Entwicklung seither nicht vertieft auseinandergesetzt. Offensichtlich hat das verstärkte Angebot im ambulanten Bereich bisher nicht zu einer Verminderung der stationären Fallzahlen geführt. Zum anderen ist die Annahme des Gesetzgebers des HStrG 2002, bis zum Jahre 2005 sei gegenüber der zunächst geschaffenen Regelung ein noch verstärkter Abbau der stationären Plätze möglich, im Gesetzgebungsverfahren kaum begründet worden. Vielmehr heißt es in der amtlichen Begründung lediglich kursorisch, daß davon ausgegangen werde, daß durch ein verstärktes Angebot im ambulanten Bereich, insbesondere bei der Eingliederungshilfe für Behinderte, ein Abbau von stationären Fallzahlen „möglich sein" „müßte" (LT-Drs. 3/3230, S. 12). Die auf im Ganzen nicht nachvollziehbaren Angaben beruhende und deshalb verfassungsgerichtlich nicht überprüfbare Fallzahldeckelung ist mit der — nicht nur theoretischen — Gefahr verbunden, daß sie für die betreffenden Träger nicht genügend Raum läßt, um durch zumutbare eigene Anstrengungen einen vollständigen Mehrbelastungsausgleich zu erwirtschaften. Schon hiernach kommt es deshalb nicht darauf an, ob und wieweit die zunächst vorgelegten Schätzungen der Beschwerdeführer zugetroffen haben, wonach sich die aufgrund des Fallzahldeckels des Art. 20 Nr. lb) HStrG 2000 a.F. bei der stationären Eingliederungshilfe für die Zeit vom 1.1.2001 bis zum 31.12.2005 entstehenden nicht ausgeglichenen Belastungen bei dem Beschwerdeführer zu 1. auf rund 15,5 Mio. und bei dem Beschwerdeführer zu 2. auf rund 18,5 Mio. DM belaufen hätten, und wie sich die Änderung der Fallzahlobergrenzen durch das HStrG 2002 auf diese Berechnungen auswirkt. Auch unabhängig davon ist die Festlegung von Fallzahlobergrenzen für die Kostenerstattung — anders als eine pauschalierende Regelung, wie sie § 4 Abs. 2 AG-BSHG zugrunde liegt — am Maßstab des strikten Konnexitätsprinzips schon im Grundsatz problematisch. Danach ist für übertragene Aufgaben nicht nur ein angemessener, sondern ein entsprechender Ausgleich vorzusehen. Die Verfassung verlangt damit eine Regelung, die auf einen vollständigen und nicht auf einen möglicherweise vollständigen Ausgleich abzielt (s.o. zu 2a); vgl. auch Schumacher LKV 2000, 98, 102 und SächsVerfG, aaO, zum insoweit gleichlautenden Art. 85 Abs. 2 SächsVerf). Hiervon ausgehend ist — gemessen am strikten Konnexitätsprinzip des Art. 97 Abs. 3 LV - eine Regelung mit festen Oberzahlen jedenLVerfGE 13

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falls in der hier vorgenommenen Ausgestaltung verfehlt. Sie ist mit der Gefahr verbunden, daß die betroffenen Träger wegen einer übersteigenden Zahl von Hilfesuchenden mit Rechtsanspruch auf Hilfeleistung selbst bei kostenbewußter Handhabung Kosten teilweise nicht erstattet bekommen, sondern aus eigenen Mitteln bestreiten müssen. Ein bloßer Fallzahldeckel ist keine Pauschalierung. Weder vereinfacht eine solche Regelung den Verfahrensablauf noch stellt sie sich als die Eigenverantwortung der örtlichen Träger der Sozialhilfe bei der Kostenbegrenzung stärkender Anreiz dar. Eine sparsame und wirtschaftliche Aufgabenwahrnehmung kann bei dem in Art. 20 Nr. lb) HStrG 2000 idF von Art. 6 des HStrG 2002 geregelten Fallzahldeckel nicht dazu fuhren, daß den örtlichen Trägern ggf. höhere Beträge erstattet werden als sie tatsächlich haben, so daß ihnen für diesen Fall nicht etwa ein von mittelbaren finanziellen Vorgaben freier und flexibel einsetzbarer Betrag verbleibt. Soweit die tatsächlichen Aufwendungen hinter den Fallzahlobergrenzen zurückbleiben, ergibt sich hieraus für den örtlichen Träger kein Vorteil. Bei über die Fallobergrenzen hinausgehenden Fällen hingegen fällt ein finanzieller Ausgleich vollständig aus. Eine solche einseitige Benachteiligung der kommunalen Selbstverwaltungsträger kann vor dem strikten Konnexitätsprinzip des Art. 97 Abs. 3 LV keinen Bestand haben. Bezeichnenderweise spricht im übrigen ausweislich der Gesetzesbegründung zum HStrG 2002 auch die Landesregierung von der „Gefahr", daß bei einem Überschreiten der Fallzahlobergrenzen die „Angemessenheit" der Kostenerstattung nicht mehr gewahrt sei und für diesen Fall dem Konnexitätsprinzip nicht mehr entspreche (vgl. Drs. 3/3230 S. 13). An der hier vorgenommenen Beurteilung vermag auch die Möglichkeit einer Neubestimmung der Fallzahlobergrenzen gem. Art. 20 Nr. 3 HStrG 2000 idF des HStrG 2002 schon deshalb nichts zu ändern, weil diese Möglichkeit nur bei einem „erheblichen" Abweichen der tatsächlichen Fallzahlen von Fallzahlobergrenzen besteht. O b etwas anderes für den Fall zu gelten hätte, daß die Fallobergrenzen so hoch angesetzt werden, daß eine Überschreitung nach menschlichem Ermessen („mit Sicherheit") ausscheidet, kann offenbleiben, weil ein solcher Fall offensichtlich nicht in Frage steht. Nach der Regelung in Art. 20 Nr. 3 HStrG 2000 idF des HStrG 2002 geht der Gesetzgeber selbst davon aus, daß eine Überschreitung der Fallobergrenzen durchaus denkbar ist. Eine andere Beurteilung einer mit landesweiten Fallobergrenzen arbeitenden Regelung könnte allerdings — vorausgesetzt, die Fallobergrenzen beruhen auf einer realistischen und überprüfbaren Prognose - Platz greifen, wenn der Gesetzgeber für den Fall, daß der örtliche Träger eine Überschreitung der aus der landesweiten Obergrenze auf ihn entfallenden Fallzahl auch bei kostenbewußter Wahrnehmung der Aufgaben nicht vermeiden kann, z.B. eine Härte- oder Ausgleichsregelung trifft, die dem betreffenden Träger bei Darlegung dessen unter zumutbaren Bedingungen zu einer vollen Kostenerstattung verhilft. Eine solche Regelung wäre,

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„Neue Aufgabe" und „entsprechender finanzieller Ausgleich"

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wenn die landesweite Obergrenze realitätsgerecht ist, aus dem an anderer Stelle erreichbaren Unterschreiten der Falkahl finanzierbar. Ohne eine Regelung dieser Art — die das Verfassungsgericht aber nicht von sich aus treffen kann und deren nähere Ausgestaltung Sache des Gesetzgebers wäre — erweist sich die Ubergangsregelung in Art. 20 Nr. lb) und c) HStrG 2000 idF von Art. 6 HStrG 2002 als mit Art. 97 Abs. 3 LV unvereinbar und nichtig. Die Möglichkeit der Anhebung oder Absenkung der auf die einzelnen örtlichen Träger entfallenden Anteile an der landesweiten Obergrenze nach § 4 Abs. 4 S. 4 bis 6 AG-BSHG stellt keine ausreichende Härte- oder Ausgleichsregelung in dem hier erörterten Sinne dar. Sie reicht schon deshalb nicht aus, weil es sich um eine Ermessensentscheidung letztlich der Exekutive handelt und der einzelne örtliche Träger eine solche Entscheidung nicht erzwingen kann. Darüber hinaus eröffnet eine Veränderung der Anteile nach dieser Regelung keine Abhilfemöglichkeit für den Fall, daß sich die landesweite Fallobergrenze als solche als nicht erreichbar erweist und deshalb auch bei einer Veränderung der Anteile der örtlichen Träger untereinander ein — gemeinsam zu tragendes — Defizit verbleibt. 5. a) Die ab 2006 anzuwendende Regelung des § 4 Abs. 3 S. 1 AG-BSGH, wonach für die Aufgaben nach § 100 Abs. 1 Nr. 1 des Bundessozialhilfegesetzes die Erstattung der Kosten für die einzelnen Hilfen insgesamt auf die Kosten begrenzt wird, die durch die Inanspruchnahme der Anzahl der Plätze entstehen, die sich aus den Planungen nach dem Landespflegegesetz ergeben, ist ebenfalls mit dem strikten Konnexitätsprinzip des Art. 97 Abs. 3 n.F. LV nicht vereinbar. Die Regelung des Kostenausgleichs muß gewährleisten, daß für die Kommunen Berechnungssicherheit besteht, die eine hinreichende Planungs- und Finanzierungssicherheit eröffnet (vgl. SachsAnhVerfG, NVwZ-RR 1999, 96, 98). Dabei darf der die Aufgabenübertragung regelnde Gesetzgeber entsprechend der Schutzfunktion des Art. 97 Abs. 3 LV die Frage der Kostendeckung nicht letztlich der Exekutive überlassen (vgl. NWVerfGH, NVwZ 1997, 793, 796). Dies gilt für das Land Brandenburg unbeschadet dessen, daß zufolge Art. 97 Abs. 3 S. 2 LV eine Aufgabenübertragung auch (nur) aufgrund eines Gesetzes möglich ist. Trifft der Gesetzgeber selbst eine Regelung, die dem Anwendungsbereich des Art. 97 Abs. 3 LV unterfällt, so sind auf gleicher Stufe, d.h. durch Gesetz, Bestimmungen über die Deckung der Kosten zu treffen. Eine Begrenzung der Kostenerstattung durch Fesdegung von Platzzahlobergrenzen in einem — vom Sozialministerium im Einvernehmen mit den Landkreisen und kreisfreien Städten aufgestellten, inhaltlich in § 3 PflegeG nicht näher determinierten - Landespflegeplan ist deshalb schon aus formalen Gründen nicht zulässig. Letztlich überläßt der die Aufgabenübertragung regelnde Landesgesetzgeber damit die Frage der Kostendeckung der Exekutive. Dies wird der Schutzfunktion des Art. 97 Abs. 3 LV nicht gerecht. Da § 4 Abs. 3 S. 1 AG-BSGH selbst keine inhaltlichen Vorgaben für die Anzahl der sich aus den Planungen nach dem Landespflegegesetz ergebenden Plätze enthält, besteht für

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die Kommunen keine hinreichende Berechnungs-, Planungs- und Finanzierungssicherheit (vgl. SachsAnhVerfG, NVwZ-RR 1999, 96, 98). b) Gleiches gilt für die ebenfalls ab 2006 geltende Regelung des § 4 Abs. 3 S. 2 AG-BSGH, wonach das Land bei der Hilfe zur Pflege in einer Anstalt, einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung die den Hilfebedürftigen gewährte Hilfe erstattet, soweit die Anzahl der von den Hilfebedürftigen in Anspruch genommenen Plätze 25 vom Hundert der sich nach S. 1 ergebenden Planzahlen nicht übersteigt. Auch diesbezüglich ist eine Begrenzung der Kostenerstattung durch Festlegungen in einem von der Exekutive im Einvernehmen mit den kommunalen Selbstverwaltungsträgern aufgestellten und inhaltlich gesetzlich nicht determinierten Landespflegeplan mit der Schutzfunktion des Art. 97 Abs. 3 LV nicht zu vereinbaren. Darüber hinaus stellt sich die Quote von 25% als zu undifferenziert und damit als unzulässige Vereinfachung dar. Ausweislich des Gesetzentwurfs der Landesregierung (vgl. LT-Drs. 3/810, S. 68) wird diese Begrenzung mit der Inanspruchnahme von Sozialhilfe durch Bewohner von Altenpflegeheimen begründet, deren Anteil sich im ersten Halbjahr 1999 auf 20,8% der Gesamtbelegung dieser Heime belaufen habe. Es ist nicht erkennbar, welche realistischen Kostensteuerungsimpulse von der Festsetzung einer derartigen — letztlich von der allgemeinen Entwicklung bei der Belegung von Heimplätzen abhängigen und daher von den örtlichen Trägern der Sozialhilfe allenfalls am Rande zu beeinflussenden - Quote ausgehen sollen. Die in § 4 Abs. 3 S. 3, Abs. 5 vorgesehene Möglichkeit der Anpassung des Vom-Hundert-Satzes durch Rechtsverordnung, wenn sich das tatsächliche Verhältnis der Anzahl der in einer Anstalt, einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung lebenden Sozialhilfeempfanger des Landes zur Gesamtanzahl der in einer Anstalt, einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung lebenden Pflegebedürftigen im Land ändert, reicht als gesetzgeberische Vorkehrung nicht aus, da es sich um eine Kann-Vorschrift handelt und die Entscheidung über die Anpassung letztlich in die Hand der Exekutive gelegt wird. III. Abweichend von § 29 Abs. 2 S. 3 HS. 1 VerfGGBbg bestimmt das Gericht auf der Grundlage von § 29 Abs. 2 S. 3 HS. 2 VerfGGBbg, daß § 4 Abs. 2 AGBSHG — unbeschadet der auch insoweit festgestellten Unvereinbarkeit mit der Landesverfassung - für die Haushaltsjahre 2000, 2001 und 2002 in Geltung bleibt. Gesichtspunkte der Rechtssicherheit und der verläßlichen Haushaltswirtschaft stehen auch vorliegendenfalls einem Eingriff in das Haushaltsgefüge und Haushaltsrecht für die bereits abgelaufenen Haushaltsjahre entgegen (Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 18.12.1997 - VfGBbg 47/96 - , LVerfGE 7,144,163). Außerdem wird auf diese Weise vermieden, daß mit der Regelung des § 4 Abs. 2 AG-BSHG - anders als bei den Bestimmungen der Art. 20 Nr. lb) und c) HStrG 2000 idF des HStrG 2002 sowie § 4 Abs. 3 S. 1 und 2 AG-BSHG, die LVerfGE 13

Rechtliches Gehör und Entscheidung „im schriftlichen Verfahren"

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lediglich anspruchsbegrenzende Wirkung haben — zugleich die Rechtsgrundlage für den Ausgleich derjenigen Kosten wegfiele, die den örtlichen Trägern durch die Übertragung der sachlichen Zuständigkeit nach § 2 AG-BSHG entstehen. Der Gesetzgeber ist jedoch von Verfassungs wegen gehalten, spätestens für das Haushaltsjahr 2003 eine anderweitige Regelung der Kostenerstattung zu schaffen, die u.U. auch zu § 4 Abs. 2 AG-BSHG durch eine Auffangregelung für den Fall, daß sich für einzelne Leistungsträger ein Ausgleichsdefizit ergibt — den Anforderungen des Art. 97 Abs. 3 n.F. LV gerecht wird. IV. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 32 Abs. 7 S. 2 VerfGGBbg.

Nr. 2* Zur Verletzung des rechtlichen Gehörs bei einer Entscheidung „im schriftlichen Verfahren" ohne Mitteilung dieser Verfahrensart und eines Termins, der dem Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung entspricht.** Verfassung des Landes Brandenburg Art. 52 Abs. 3 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg §§ 32 Abs. 7 Satz 2; 45 Abs. 2 Satz 1 Zivilprozeßordnung §§ 128; 495a; 513 Abs. 2 Beschluß vom 14. Februar 2002 - VfGBbg 65/01 in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren des Herrn E. gegen die Urteile des Amtsgerichtes Oranienburg vom 29. Oktober 2001 und vom 12. November 2001. Entscheidungsformel: 1. Das Urteil des Amtsgerichtes Oranienburg vom 29. Oktober 2001 verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht auf rechtliches Gehör aus Art. 52 Abs. 3

Die Entscheidung ist im Volltext abgedruckt im Supplementband Brandenburg zu LVerfGE 13 (Suppl. Bbg. zu Bd. 13), S. 51 ff, hrsg. vom Verfassungsgericht des Landes Brandenburg (Adresse s. Anhang) und dort gegen Gebühr erhältlich. ** Nichtamtlicher Leitsatz.

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der Verfassung des Landes Brandenburg. Es wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht Oranienburg zurückverwiesen. 2. Das Verfassungsbeschwerdeverfahren im übrigen wird eingestellt. 3. Das Land Brandenburg hat dem Beschwerdeführer die Hälfte der in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.

Nr. 3* 1. Die Ämter im Land Brandenburg sind iSv § 203 Abs. 2 BauGB „vergleichbare gesetzliche Zusammenschlüsse von Gemeinden, denen nach Landesrecht örtliche Selbstverwaltungsaufgaben obliegen". 2. Art. 97 Abs. 2 der Landesverfassung räumt der Gemeinde für Aufgaben der örtlichen Gemeinschaft einen Vorrang ein, den der Gesetzgeber bei der Zuordnung von Aufgaben auch im Verhältnis der Gemeinden zu den Ämtern zu berücksichtigen hat. Die Flächennutzungsplanung darf als Aufgabe mit relevantem örtlichen Charakter den Gemeinden nur aus Gründen des Gemeininteresses, also im wesentlichen nur dann entzogen werden, wenn anders die ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung nicht sichergestellt wäre. Dabei vermögen nur Gründe, die in dem vom Aufgabenentzug betroffenen Sachgebiet selbst wurzeln, das verfassungsrechtlich vorgegebene Aufgabenverteilungsprinzip zurückzudrängen. Verfassung des Landes Brandenburg Art. 2 Abs. 5; 97 Abs. 1 und 2; 97 Abs. 4 Baugesetzbuch § 203 Abs. 2 Amtsordnung für das Land Brandenburg § 5 Abs.4

Urteil vom 21. März 2002 - VfGBbg 19/01 in dem kommunalen Verfassungsbeschwerdeverfahren der Stadt Teupitz, vertreten durch den Bürgermeister, gegen Art. 2 Nr. 4 des Gesetzes zur Reform der Gemeindestruktur und zur Stärkung der Verwaltungskraft der Gemeinden im Lande Brandenburg vom 13. März 2001 (GVB1.1 S. 30).

*

Abdruck auch in: Mitt. StGB Bbg. 2002, 200; DVB1. 2002, 789 (nur LS); LKV 2002, 516.

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Vorrang der Gemeinde für Flächennutzungsplan

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Entscheidungsformel: 1. Art. 2 Nr. 4 des Gesetzes zur Reform der Gemeindestruktur und zur Stärkung der Verwaltungskraft der Gemeinden im Land Brandenburg vom 13. März 2001 (GVB1. I S. 30) verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Recht auf kommunale Selbstverwaltung aus Art. 97 Abs. 1 Verfassung des Landes Brandenburg und ist nichtig. 2. Das Land Brandenburg hat der Beschwerdeführerin die in dem kommunalen Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten. Gründe: A. Die kommunale Verfassungsbeschwerde wendet sich gegen die Verlagerung der Zuständigkeit für die Flächennutzungsplanung von den Gemeinden auf die Ämter. I. Art. 2 Nr. 4 des Gesetzes zur Reform der Gemeindestruktur und zur Stärkung der Verwaltungskraft der Gemeinden im Land Brandenburg führt in § 5 der Amtsordnung folgenden Absatz 4 ein: „Die Amter nehmen gemäß § 203 Abs. 2 des Baugesetzbuches die Flächennutzungsplanung für das Gesamtgebiet der amtsangehörigen Gemeinden wahr. Für im Verfahren befindliche Flächennutzungspläne amtsangehöriger Gemeinden treten die Regelungen nach Satz 1 mit Wirksamwerden des letzten noch fehlenden Flächennutzungsplanes einer amtsangehörigen Gemeinde in Kraft, spätestens jedoch am Tag nach den nächsten landesweiten Kommunalwahlen. Vor der Beschlußfassung über den Flächennutzungsplan sind die amtsangehörigen Gemeinden anzuhören. Die Anregungen der Gemeinden sind zu berücksichtigen."

II. Die Beschwerdeführerin gehört dem Amt Schenkenländchen an. Für das Gemeindegebiet der Beschwerdeführerin gibt es keinen genehmigten Flächennutzungsplan. Mit der Planaufstellung ist noch nicht begonnen worden. Für zwei zum Amt Schenkenländchen gehörende Gemeinden liegt ein rechtskräftiger Flächennutzungsplan vor. In den übrigen sieben Gemeinden des Amtes befindet sich das Planverfahren in unterschiedlichen Stadien. 1. Die Beschwerdeführerin ist der Ansicht, daß die Befugnis, einen Flächennutzungsplan für das Gemeindegebiet aufzustellen bzw. zu ändern, zu dem durch Art. 97 Abs. 1 und 2 Verfassung des Landes Brandenburg (Landesverfassung LVerfGE 13

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LV) absolut geschützten Kernbereich der kommunalen Selbstverwaltung gehöre. § 5 Abs. 4 Amtsordnung (AmtsO), der ihr — und allen anderen amtsangehörigen Gemeinden — diese Befugnis entziehe, verletze deshalb das Recht auf kommunale Selbstverwaltung. 2. Auch wenn man die Planungshoheit nicht dem Kembereich der kommunalen Selbstverwaltung zuordne, verletze die angegriffene Norm das Recht der Gemeinden auf Selbstverwaltung. Eine Aufgabe mit relevantem örtlichem Charakter dürfe der Gesetzgeber nur aus Gründen des Gemeinwohls, vor allem dann entziehen, wenn anders die ordnungsgemäße Aufgabenerfullung nicht sicherzustellen sei. Gründe, die eine Verlagerung der Befugnis zur Aufstellung eines Flächennutzungsplans auf das Amt rechtfertigen könnten, seien nicht ersichtlich. Ökonomische Gründe in der Qualität eines „unverhältnismäßigen Kostenanstiegs" gebe es nicht, um so weniger als die verwaltungstechnische Ausführung des Planungsbeschlusses ohnehin dem Amt obliege. Die Übertragung der Befugnis zur Planung auf das Amt biete keine höhere Gewähr dafür, daß die Aufgabe ordnungsgemäßer erfüllt werde. Im Gegenteil sei zu befürchten, daß das Amt als Folge von Orts ferne, ungenügender Ortskenntnis und geringerem Einblick in die spezifisch örtlichen Angelegenheiten eine weniger treffende Planung beschließe. 3. § 5 Abs. 4 AmtsO sei auch aus kompetenzrechtlichen Gründen verfassungswidrig. Das Amt im Land Brandenburg könne nicht Ubertragungsempfänger iSv § 203 Abs. 2 BauGB sein. Zum einen verstoße § 203 Abs. 2 BauGB seinerseits gegen Art. 28 Abs. 2 GG und Art. 97 Abs. 1 und 2 LV, zum anderen ermächtige die Vorschrift den Landesgesetzgeber — unabhängig von den Auswirkungen auf die kommunale Selbstverwaltung - nicht zu der hier getroffenen Regelung, weil die Ämter im Land Brandenburg die Tatbestandsvoraussetzungen des § 203 Abs. 2 BauGB nicht erfüllten. Bei der Auslegung der Vorschrift unter Beachtung des verfassungsrechtlichen Schutzes der kommunalen Selbstverwaltung und unter Einbeziehung der Entstehungsgeschichte der Regelung falle das Amt iSd brandenburgischen Amtsordnung nicht unter die Begriffe „Verbandsgemeinde", „Verwaltungsgemeinschaft" und „vergleichbare gesetzliche Zusammenschlüsse von Gemeinden". 4. Im übrigen habe die Landesregierung vor der Einbringung der Regierungsvorlage zum Gesetz zur Reform der Gemeindestruktur und zur Stärkung der Verwaltungskraft der Gemeinden im Land Brandenburg keine Daten über die Kosten der Flächennutzungsplanung erhoben. Auch jetzt sei sie nicht um eine Feststellung der tatsächlichen Kosten einer Planung durch die Gemeinden einerseits und durch das Amt andererseits bemüht, sondern setze die Ämter unter Druck, Daten zu liefern, die die Auffassung der Regierung belegten. 5. Die angegriffene Regelung sei auch wegen der Verletzung des Art. 97 Abs. 4 LV verfassungswidrig und damit aufzuheben. Gegen die dort normierte LVerfGE 13

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Pflicht, die Gemeinden und Gemeindeverbände in Gestalt ihrer kommunalen Spitzenverbände rechtzeitig zu hören, sei im Gesetzgebungsverfahren verstoßen worden. Ob der Städte- und Gemeindebund Brandenburg in ordnungsgemäßer Form gehört worden sei, könne dahinstehen. Jedenfalls sei der Gemeindetag Brandenburg nicht angehört worden. Der Gemeindetag Brandenburg sei ein kommunaler Spitzenverband iSd Art. 97 Abs. 4 LV. Seine Interessenvertretung unterscheide sich von der des Städte- und Gemeindebundes und des Landkreistages. Die Beschwerdeführerin beantragt zu erkennen: Art. 2 Nr. 4 des Gesetzes zur Reform der Gemeindestruktur und zur Stärkung der Verwaltungskraft der Gemeinden im Land Brandenburg vom 13. März 2001 (GVB1. I S. 30) verletzt das Recht der Beschwerdeführerin auf Selbstverwaltung nach der Verfassung und ist nichtig. III. Der Landtag hat von einer Stellungnahme abgesehen. IV. Die Landesregierung hat zu dem Verfahren Stellung genommen. Sie hält die kommunale Verfassungsbeschwerde jedenfalls für unbegründet. 1. § 5 Abs. 4 AmtsO sei mit dem Bundesrecht vereinbar. Das Amt brandenburgischer Prägung sei ein mit den rheinland-pfälzischen Verbandsgemeinden und den baden-württembergischen Verwaltungsgemeinschaften vergleichbarer gesetzlicher Zusammenschluß von Gemeinden, dem auch in dem erforderlichen Umfang iSv § 203 Abs. 2 BauGB örtliche Selbstverwaltungsaufgaben oblägen. Dies ergebe sich zunächst aus einem Vergleich mit den Verbandsgemeinden des Landes Rheinland-Pfalz und den Verwaltungsgemeinschaften des Landes BadenWürttemberg. Insbesondere die baden-württembergische Verwaltungsgemeinschaft sei — wie das Amt in Brandenburg — als Gemeindeverwaltungsverband keine Gebietskörperschaft, sondern eine mitgliedschaftlich organisierte Körperschaft des öffentlichen Rechts. Die Ämter nähmen auch nur örtliche und keine überörtlichen Aufgaben war. Sie unterschieden sich in dieser Hinsicht von dem Stadtverband Saarbrücken, der nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht die Voraussetzungen des § 147 Abs. 2 BBauG (= § 203 Abs. 2 BauGB) erfülle. § 203 Abs. 2 S. 1 BauGB verlange - abgesehen von dem restriktiv zu interpretierenden Kreis der Übertragungsempfänger — keinen qualitativ oder quantitativ bestimmten Umfang an Selbstverwaltungsaufgaben, die dem Gemeindezusammenschluß zustehen müßten. Das Bundesverfassungsgericht habe § 147 Abs. 2 BBauG dahingehend ausgelegt, daß der Landesgesetzgeber die Möglichkeit habe, die im Rahmen einer Gebietsreform als mildere Lösung gegenüber der BilLVerfGE 13

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dung von Einheits-Großgemeinden geschaffenen Organisations formen einer zweiten Gemeindeebene zwangsweise auch mit den Aufgaben nach dem Baugesetzbuch zu betrauen. Die Ämter im Lande Brandenburg seien „Verwaltungshilfeeinrichtungen" im Sinne einer solchen zweiten gemeindlichen Ebene. Die amtsangehörigen Gemeinden in Brandenburg hätten infolge ihrer Finanz- und Verwaltungsschwäche in großem Umfang freiwillige und pflichtige Selbstverwaltungsaufgaben auf die Amter übertragen. Diese auf gesetzlicher Grundlage erfolgende Ausstattung der Ämter mit örtlichen Selbstverwaltungsaufgaben, die auch der Rechtslage in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg entspreche, unterstreiche, daß gerade die brandenburgischen Ämter Gemeindezusammenschlüsse darstellten, denen vergleichsweise viele Selbstverwaltungsaufgaben zur Erfüllung für ihre Gemeinden zustünden. 2. Der Schutzbereich der Selbstverwaltungsgarantie sei zwar tangiert, der Eingriff sei jedoch im Ergebnis gerechtfertigt. Zu den von Art. 97 LV umfaßten Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft zähle auch die Aufgabe der Flächennutzungsplanung als vorbereitender Teil der Bauleitplanung; sie falle als sog. Pflichtige Selbstverwaltungsaufgabe grundsätzlich in die Zuständigkeit der Gemeinden. Ein Belassen der Aufgabe der Flächennutzungsplanung bei den Gemeinden führe jedoch zu einem unverhältnismäßigen Kostenanstieg bei den Gemeinden bzw. habe bereits dazu geführt. Die Flächennutzungsplanung stelle insbesondere für kleinere Gemeinden eine erhebliche Belastung ihres Haushalts dar. Generell könne die Aufstellung von Flächennutzungsplänen auf Amtsebene erheblich kostengünstiger erfolgen. Die Höhe der Planungskosten liege zwischen 2.400,00 DM und 600.000,00 DM. Erfahrungswerte ergäben, daß ein Amts-Flächennutzungsplan um 20-30% kostengünstiger als entsprechende Einzel-Flächennutzungspläne der Gemeinden sei. Eine Modellrechnung für einen Flächennutzungsplan nach § 37 HOAI zeige, daß bei einem aus vier Gemeinden in der Größe der Gemeinde Fahrland bestehenden Amt ein gemeinsamer Amtsflächennutzungsplan nur etwa die Hälfte dessen koste, was für vier eigenständige Flächennutzungspläne zu veranschlagen sei. Das Verfahren bis zur Genehmigung des Flächennutzungsplanes sei äußerst kompliziert und zeitaufwendig. Der Entwurf eines Flächennutzungsplans bedürfe immer wieder der Anpassung. Die daraus folgende wiederholte öffentliche Auslegung des Entwurfs und öffentliche Bekanntmachung von Auslegung und Änderungsbeschluß sowie die wiederholte Beteiligung der — bis zu 70 — Träger öffentlicher Belange sei kostenintensiv, fehleranfällig und verwaltungsaufwendig. Das im vorliegenden Verfahren vorgelegte Zahlenmaterial ergebe sich größtenteils aus einer Umfrage, die vom Ministerium für Stadtentwicklung, Wohnen und Verkehr an die Landräte und Amtsdirektoren gerichtet worden sei und dazu diene, im Rahmen des Verfassungsbeschwerdeverfahrens bereits vorhandene Erkenntnisse zu verdichten und aktuelle Beispiele zu liefern. Die Landesregierung verfüge derzeit über keine weiteren Berechnungen zu den Kosten der FlächennutLVerfGE 13

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zungsplanung und ihrer Zuordnung zum Amt bzw. den amtsangehörigen Gemeinden. Zahlenmaterial zu den im Verfahren befindlichen Flächennutzungsplänen könne nachgereicht werden. Der Gesetzgeber habe sich zu der Regelung in § 5 Abs. 4 S. 1 AmtsO entschließen müssen, weil anders die ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung der Flächennutzungsplanung nicht sicherzustellen sei. So sei es in zahlreichen Ämtern im Land Brandenburg zu ineffizienten und unkoordinierten Planungen gekommen. Infolge zu geringer Verwaltungsressourcen müßten die überwiegend kleinen amtsangehörigen Gemeinden die Durchführung der Planung an private Planungsbüros abgeben. Eine Konzentration auf Amtsebene bringe viele Vorteile mit sich, ohne die Rechte der Gemeinden in nennenswerter Weise zu schmälern. Zur Zeit verfügten nach Auskunft des Ministeriums für Stadtentwicklung, Wohnen und Verkehr nur 395 (27%) von 1.479 Gemeinden des Landes über einen genehmigten Flächennutzungsplan (inklusive Teilflächennutzugsplänen). Davon hätten nur 169 Gemeinden mit weniger als 500 Einwohnern einen genehmigten Flächennutzungsplan. Hiernach bestehe offensichtlich kein ausgeprägtes Bedürfnis für einen Flächennutzungsplan. Weiter sei es bei den Einzelplanungen der Gemeinden zu Problemen im Hinblick auf das interkommunale Abstimmungsgebot des § 2 Abs. 2 BauGB gekommen. Die kleinräumige Planung habe in der Vergangenheit nachweisbar dazu geführt, daß in bestimmten Bereichen des Landes Gewerbeund Industriegebiete teilweise in direkter Konkurrenz zueinander und entgegen dem tatsächlichen Bedarf ausgewiesen worden seien. Gleiches gelte für großflächige Einzelhandelszentren. Eine weitere Fehlentwicklung — auch im Bereich von Windkraftanlagen — könne in Zukunft durch die Übertragung der Flächennutzungsplanung auf die Ämter vermieden werden. Die Flächennutzungsplanung auf Amtsebene könne eine Schutzfunktion gegenüber den Nachbargemeinden und der überörtlichen Regional- und Landesplanung entfalten. Die Regional- und Landesplanung könne im Sinne des Gegenstromprinzips in dem Umfang grobmaschiger werden, in dem bereits auf Amtsebene eine koordinierte und zusammenhängende Planung erfolgt sei. Die Übertragung der Flächennutzungsplanung auf die Ämter sei insgesamt nicht nur sachgerecht, sondern auch geboten und gemessen an dem abgeschwächten verfassungsrechtlichen Aufgabenverteilungsprinzip verfassungslegitim. Flächennutzungsplanung auf Amtsebene sei in besonderer Weise geeignet, den in § 3 Abs. 2 AmtsO normierten Strukturanforderungen zu genügen. Damit verfolge der Landesgesetzgeber zugleich das verfassungsrechtlich legitime Ziel einer Strukturstärkung gerade des ländlichen Raumes und einer Verbesserung der regionalplanerischen Abstimmung mit benachbarten Gemeinden und Städten. Es sei das gemeinsame zentrale Anliegen von Landtag und Landesregierung, durch die Gemeindestruktur- und -gebietsreform die Verwaltungskraft der Gemeinden zu stärken und die Lebensverhältnisse im gesamten Land möglichst gleichwertig zu gestalten. Dies könne nur geschehen, wenn amtsfreie Gemeinden

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und Ämter als gleichwertige Organisationsformen ausgestaltet seien. Die Übertragung der Bauleitplanung auf die Ämter sei Teil der notwendigen materiellen Weiterentwicklung des Amtes entsprechend den Leitlinien der Landesregierung vom 11.7.2000. 3. Die Übertragung der Bauleitplanung auf die Ämter entspreche den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Den Gründen, die die Verlagerung der Trägerschaft für die Flächennutzungsplanung auf die Ämter rechtfertigten, sei ein höheres Gewicht beizumessen, als — in planerischer Hinsicht — dem Selbstverwaltungsrecht der einzelnen amtsangehörigen Gemeinde. In die Abwägung sei einzustellen, daß den Gemeinden die Zuständigkeit zur Aufstellung der Bebauungspläne verbleibe. Auch bei vorgegebenem Flächennutzungsplan behalte die Gemeinde ein gewisses Maß an gestalterischer Freiheit. Die Flächennutzungsplanung sei — im Verhältnis zur Bebauungsplanung — nicht der wesentliche Bestandteil der Bauleitplanung. Daneben hätten die amtsangehörigen Gemeinden bei der Gestaltung des Flächennutzungsplans in ausreichendem Maße Mitwirkungsrechte. Sie seien vor der Beschlußfassung über den Flächennutzungsplan im Amtsausschuß anzuhören. Ihre Anregungen seien zu berücksichtigen. „Berücksichtigen" iSv § 5 Abs. 4 S. 3 AmtsO bedeute zwar nicht „maßgeblich berücksichtigen". Der Begriff sei indes verfassungskonform auszulegen. Dies bedeute, daß örtliche Planvorstellungen für den planaufstellenden Amtsausschuß bindend seien, wenn und soweit gerechtfertigte und überwiegende überörtliche Abstimmungsinteressen nicht entgegenstünden. Die eigenständige Aufgabenwahrnehmung werde im übrigen durch die Partizipation an der Entscheidung des Amtes ersetzt. Die Beschlußpraxis im Amtsausschuß lasse sich verfassungskonform ausgestalten. Das Amt habe nur eine dienende Funktion. Es nehme mit der Flächennutzungsplanung eine Tätigkeit wahr, die Ausfluß der Planungshoheit der amtsangehörigen Gemeinde sei. Auch nach ihrer gesetzlichen Übertragung auf das Amt bleibe diese Aufgabe weiterhin in der Gemeinde verankert. 4. Der Gemeindetag Brandenburg erfülle nicht die Voraussetzungen eines kommunalen Spitzenverbandes. Unabhängig davon sei er während des Gesetzgebungsverfahrens vom Innenausschuß des Landtages Brandenburg angehört worden. V. Der Städte- und Gemeindebund Brandenburg vertritt die Auffassung, daß § 5 Abs. 4 AmtsO zwar in das Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden eingreife. Dieser Eingriff sei indes vor dem Hintergrund der anstehenden Gemeindestrukturreform als ein Element der notwendigen Fortentwicklung der Ämter zu sehen. Die Aufgabenverlagerung auf das Amt bilde eine zentrale Säule der Gemeindestrukturreform. Der Flächennutzungsplan habe — durch Änderungen des BaugeLVerfGE 13

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setzbuches und des Bundesnaturschutzgesetzes — in den letzten Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen. Die kleinen und Kleinstgemeinden im Land Brandenburg seien nicht in der Lage, diese komplizierte Planung durchzuführen. Dies zeige sich in der geringen Anzahl (378) bislang genehmigter Flächennutzungspläne. VI. Der Gemeindetag Brandenburg hat in der mündlichen Verhandlung die Argumente der Beschwerdeführerin aufgegriffen und vertieft. B. Die kommunale Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet. I. Die kommunale Verfassungsbeschwerde ist zulässig. 1. Die Beschwerdeführerin ist beschwerdebefugt. Der Entzug der Flächennutzungsplanung als gemeindliche Aufgabe begründet ihre Beschwerdebefugnis. Das Selbstverwaltungsrecht der Gemeinde schließt ein, geltend machen zu können, ihr werde die Zuständigkeit für eine bestimmte Aufgabe entzogen (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 17.10.1996 — VfGBbg 5/95 —, LVerfGE 5, 79, 84 für den Entzug einer pflichtigen Selbstverwaltungsaufgabe zur Erfüllung nach Weisung). 2. Die Beschwerdeführerin ist auch unmittelbar betroffen. Die durch Art. 2 Nr. 4 Gemeindestrukturreformgesetz eingeführte Regelung des § 5 Abs. 4 AmtsO bedarf keines behördlichen Umsetzungsaktes. Mit Inkrafttreten dieser Vorschrift am 16.3.2001 ist das Amt Träger der Flächennutzungsplanung geworden. Die Übergangsregelung des § 5 Abs. 4 S. 2 AmtsO, wonach die Regelung des Satzes 1 der Vorschrift zu einem späteren Zeitpunkt (mit Wirksamwerden des letzten noch fehlenden Flächennutzungsplanes einer amtsangehörigen Gemeinde, spätestens am Tag nach den nächsten landesweiten Kommunalwahlen) in Kraft tritt, gilt nach ihrem Sinn und Zweck nur für im Verfahren befindliche Flächennutzungsplane und damit nur für Gemeinden, die das Planverfahren bereits eingeleitet haben. Hierzu zählt die Beschwerdeführerin nicht; sie hat mit der Aufstellung eines Flächennutzungsplans noch nicht begonnen. II. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. § 5 Abs. 4 AmtsO ist nicht mit Art. 97 LV vereinbar. Zwar handelt es sich bei den brandenburgischen Amtern um „vergleichbare gesetzliche Zusammenschlüsse von Gemeinden" iSd § 203 LVerfGE 13

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Abs. 2 BauGB. § 5 Abs. 4 AmtsO wird jedoch den Anforderungen nicht gerecht, die Art. 97 LV an die Hochzonung einer Selbstverwaltungsaufgabe stellt. Im einzelnen: 1. Das gemeindliche Selbstverwaltungsrecht iSv Art. 97 LV umfaßt die eigenverantwortliche Wahrnehmung von Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft. Hierzu gehört das Recht der Gemeinde, die städtebauliche Entwicklung ihres Gebietes sowie seine bauliche und sonstige Nutzung zu ordnen. Teil dieser Planungshoheit ist die örtliche Bauleitplanung. Sie zählt zu den Aufgaben des örtlichen Wirkungskreises, die von der Selbstverwaltungsgarantie umfaßt sind (so Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 15.6.2000 - VfGBbg 32/99 —, LVerfGE Suppl. Bbg. zu Bd. 11, 99, 118 unter Hinweis auf BVerfGE 76, 107, 117; Löwer in: von Münch/Kunig, GG, Bd. 2, 5. Aufl. 2001, Art. 28 Rn. 74). Die durch § 5 Abs. 4 AmtsO bewirkte Übertragung der Zuständigkeit für die Flächennutzungsplanung auf das Amt entzieht den amtsangehörigen Gemeinden die Kompetenz zu vorbereitender Bauleitplanung. Das stellt sich offenkundig als Eingriff in die Planungshoheit der Beschwerdeführerin dar. 2. Offenbleiben kann, ob die Planungshoheit - und speziell die Kompetenz, einen Flächennutzungsplan aufzustellen — in den Kernbereich der kommunalen Selbstverwaltung fällt. Denn einer vollständigen Unentziehbarkeit der Bauleitplanung stehen jedenfalls Regelungen des Bundesrechts entgegen (vgl. dazu Löiver in: von Münch/Kunig, GG, Bd. 2, 5. Aufl. 2001, Art. 28 Rn. 76, der in der gesetzlichen Bestimmung einer Ausübung der Planungshoheit nur im Verbund mit anderen Gemeinden keine Verletzung des Kernbereichs sieht): Nach § 203 Abs. 2 BauGB kann der Landesgesetzgeber unter den dort genannten Voraussetzungen den Gemeinden die Befugnis zur Bauleitplanung entziehen. Diese bundesrechtliche Bestimmung ginge einem weitergehenden landesverfassungsrechtlichen Schutz der kommunalen Selbstverwaltung vor. § 203 Abs. 2 BauGB verstößt auch nicht seinerseits gegen das Grundgesetz und das dort geregelte Recht auf kommunale Selbstverwaltung. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung über den Stadtverband Saarbrücken (BVerfGE 77, 288 ff) § 147 Abs. 2 BBauG, als wortgleiche Vorgängernorm zu § 203 Abs. 2 BauGB, als verfassungsrechtlich unbedenklich angesehen (vgl. BVerfGE 77, 288, 306 f). § 203 Abs. 2 BauGB läßt damit als vorrangiges Bundesrecht unter den dort bestimmten Voraussetzungen einem Eingriff in die kommunale Selbstverwaltung nach Maßgabe der hierfür geltenden allgemeinen Vorgaben grundsätzlich zu (in diesem Sinne auch Staatsgerichtshof Baden-Württemberg, Urt. v. 8.5.1976 - GR 2, 8/75 DÖV 1976, 595, 597). 3. § 5 Abs. 4 AmtsO unterfällt der durch § 203 Abs. 2 BauGB eröffneten landesgesetzlichen Regelungsbefugnis.

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a. Gesetzgebungskompetenz des Landes ist gegeben. Das erkennende Gericht prüft in ständiger Rechtsprechung, ob sich der brandenburgische Gesetzgeber im Rahmen seiner landesgesetzlichen Kompetenz hält. Es handelt sich insoweit nicht um eine bundesrechtliche Vorfrage, so daß das Gericht nicht etwa gehalten wäre, gegebenenfalls das Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 G G anzurufen. Das Landesverfassungsgericht hat vielmehr eigenständig und abschließend zu prüfen, ob ein Verstoß gegen bundesrechtliche Kompetenzvorschriften einen Verstoß gegen die brandenburgische Landesverfassung darstellt. Der landesverfassungsrechtliche Anknüpfungspunkt liegt dabei im Rechtsstaatsgebot des Art. 2 LV, das es dem Landesgesetzgeber untersagt, Landesrecht zu setzen, ohne dazu befugt zu sein (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 21.3.1996 - VfGBbg 18/95 LVerfGE 4, 114,129; Urt. v. 18.6.1998 - V f G B b g 2 7 / 9 7 - , L V e r f G E 8, 97, 118 ff; s.a. Urt. v. 15.6.2000 - V f G B b g 32/99 L V e r f G E Suppl. Bbg. zu Bd. 11, 99, 121). Das Gericht hält an dieser Rechtsprechung fest. Der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts v o m 7.5.2001, in dem es sich als Verfassungsgericht des Landes Schleswig-Holstein gegen ein Hineinwirken bundesrechtlicher Kompetenzabgrenzungsregelungen in die Landesverfassung ausspricht (vgl. BVerfG, DVB1. 2001, 1415 ff), gibt keinen Anlaß, davon abzugehen. Die Verfassungslage im Land Brandenburg unterscheidet sich von derjenigen in Schleswig-Holstein. Art. 2 Abs. 5 LV bestimmt ausdrücklich, daß die Bestimmungen des Grundgesetzes denen der Landesverfassung vorgehen und die Gesetzgebung an Bundesrecht und die Landesverfassung gebunden ist. Damit öffnet sich die Landesverfassung für die im Grundgesetz getroffene K o m petenzabgrenzung zwischen Bund und Ländern. b. D e r Bund hat von seiner ihm durch Art. 72 Abs. 1 Nr. 18 G G zugewiesenen Gesetzgebungskompetenz mit dem Baugesetzbuch abschließend Gebrauch gemacht (vgl. B V e r f G E 77, 288, 301). Gem. § 2 Abs. 1 BauGB fällt die Flächennutzungsplanung danach in die Zuständigkeit der Gemeinden. Der Landesgesetzgeber ist zu einer hiervon abweichenden Regelung nur befugt, soweit § 203 Abs. 2 BauGB dies zuläßt. c. Die brandenburgischen Ämter sind gesetzliche Zusammenschlüsse iSv § 203 Abs. 2 BauGB. aa. „Gesetzliche" Zusammenschlüsse sind auch solche, die durch freiwilligen Zusammenschluß benachbarter Gemeinden entstanden sind, sofern die Möglichkeit hierzu landesweit gegeben ist und das Zustandekommen des Zusammenschlusses sowie seine Aufgaben und Arbeitsweise durch Landesgesetz geregelt sind (vgl. zu den freiwilligen Zusammenschlüssen: Kalb in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB, § 203 Rn. 34). Nach § 203 Abs. 2 BauGB können Aufgaben der Gemeinden nach dem Baugesetzbuch auf „Verbandsgemeinden", „Verwaltungsgemeinschaften" oder „vergleichbare gesetzliche Zusammenschlüsse von Gemeinden" übertragen werden. Mit den im Gesetz benannten Gemeindeverbänden sind LVerfGE 13

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die (rheinland-pfälzische) Verbandsgemeinde und die (baden-württembergische) Verwaltungsgemeinschaft gemeint. Andere „gesetzliche Zusammenschlüsse von Gemeinden", auf die an sich den Gemeinden zustehende Aufgaben durch Landesgesetz übertragen werden können, müssen einem dieser beiden Modelle vergleichbar sein. Insoweit sind lediglich weitgehende strukturelle Übereinstimmungen, nicht jedoch eine vollständige Identität in Struktur und Kompetenzen erforderlich. bb. Gegen die Bewertung des brandenburgischen Amtes als vergleichbarer gesetzlicher Zusammenschluß iSv § 203 Abs. 2 BauGB spricht nicht, daß es sich bei den Ämtern um Gemeindeverbände, also nicht um Gebietskörperschaften handelt. Einer dahingehenden Auslegung des § 203 Abs. 2 BauGB steht die Aufnahme der (baden-württembergischen) Verwaltungsgemeinschaften entgegen, mit denen die brandenburgischen Ämter durchaus „vergleichbar" sind. Auf die Struktur der niedersächsischen Samtgemeinde kommt es für die Auslegung des § 203 Abs. 2 BauGB schon deshalb nicht an, weil die Samtgemeinden nicht mit genannt sind. Die in § 203 Abs. 2 BauGB genannte (rheinland-pfälzische) Verbandsgemeinde ist freilich eine Gebietskörperschaft mit einem direkt gewählten Verbandsgemeinderat; die Auflösung und Neubildung einer Verbandsgemeinde ist dem Gesetzgeber vorbehalten (vgl. § 64 Abs. 1, § 65 Abs. 2 GemO Rh-Pf). Mit diesen Strukturen ist das brandenburgische Amt in der Tat nicht vergleichbar. Dagegen sind die baden-württembergische Verwaltungsgemeinschaft und das brandenburgische Amt ohne weiteres vergleichbar. In Baden-Württemberg können benachbarte Gemeinden desselben Landkreises eine Verwaltungsgemeinschaft bilden bzw. vereinbaren, daß eine Gemeinde die Aufgaben eines Gemeindeverwaltungsverbandes erfüllt (§ 59 Abs. 1 GemO BW). Ähnlich gibt in Brandenburg § 1 Abs. 1 S. 1 AmtsO vor, daß Ämter Körperschaften des öffentlichen Rechts sind, die aus aneinander grenzenden Gemeinden desselben Landkreises bestehen. Dem Amtsausschuß nach § 6 Abs. 1 AmtsO vergleichbar besteht die Verbandsversammlung des Gemeindeverwaltungsverbandes in Baden-Württemberg aus dem Bürgermeister und mindestens einem weiteren Vertreter jeder Mitgliedsgemeinde, der von der Gemeindeversammlung aus ihrer Mitte gewählt wird (§ 60 Abs. 3 GemO BW). Insgesamt läßt sich der Anführung der baden-württembergischen Verwaltungsgemeinschaften als Beispielsfall für „vergleichbare gesetzliche Zusammenschlüsse" in § 203 Abs. 2 BauGB entnehmen, daß als „vergleichbare gesetzliche Zusammenschlüsse" auch solche freiwilligen Zusammenschlüsse von Gemeinden anzusehen sind, für die, wie es bei den brandenburgischen Ämtern der Fall ist, eine allgemeine, landesweit geltende gesetzliche Regelung gilt, welche Bildung, Ausgestaltung und Aufgaben des Zusammenschlusses regelt und die in diesem Sinne in einer den in § 203 Abs. 2 BauGB genannten Beispielsfällen vergleichbaren Weise gesetzlich durchstrukturiert sind (vgl. hierzu SchmidtEichstaedt NVwZ 1997, 846, 849; zur Vergleichbarkeit mit den baden-württember-

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gischen Verwaltungsgemeinschaften auch Kalb in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB, § 203 Rn. 34). Die Gesetzesgeschichte zu § 203 Abs. 2 BauGB stützt diese Auslegung. Die wortgleiche Vorgängernorm zu § 203 Abs. 2 BauGB, § 147 Abs. 2 BBauG, wurde 1976 auf Vorschlag des Bundesrates in das Bundesbaugesetz eingefügt. Aus dem Gesetzgebungsverfahren zu § 147 Abs. 2 BBauG ergibt sich kein greifbarer Anhaltspunkt dafür, daß „gesetzlicher Zusammenschluß" im Sinne von durch Gesetz vollzogener Zusammenschluß (so aber Kalb in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB, § 203 Rn. 29 und 33; Fiskale in: Berliner Kommentar zum BauGB, 2. Aufl. 1995, § 203 Rn. 17) zu verstehen sei. Der von der Bundesregierung erarbeitete „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundesbaugesetzes" sah die Einführung einer dem heutigen § 203 Abs. 2 BauGB entsprechenden Vorschrift noch nicht vor. Diese Regelung gelangte erst über die Stellungnahme des Bundesrates in das Gesetzgebungsverfahren. Der Bundesrat begründete seinen Antrag wie folgt: „Im Kommunalverfassungsrecht der Länder sind neue Formen kommunaler Körperschaften in der Gemeindeebene geschaffen worden, z.B. die Samtgemeinden im Lande Niedersachsen, die Verbandsgemeinden im Lande Rheinland-Pfalz und der Stadtverband Saarbrücken im Saarland. Es kann zweckmäßig sein, diesen neuen kommunalen Körperschaften städtebauliche Aufgaben zu übertragen. Dies soll durch die neue Vorschrift ermöglicht werden." (BT-Drs. 7/2496 v. 22.8.1974). Im Bericht und Antrag des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (15. Ausschuß) heißt es: „Die von der Ausschußmehrheit empfohlene Ergänzung des § 147 Abs. la sieht dagegen entsprechend dem Bundesratsvorschlag vor, daß durch Landesgesetz sämtliche städtebaulichen Aufgaben auf im Zusammenhang mit der Verwaltungsreform neu geschaffene gesetzliche Gemeindezusammenschlüsse übertragen werden können. Die Ausschußminderheit sprach sich auch hier dafür aus, die Aufgabenübertragung auf die Flächennutzungsplanung zu beschränken. Der Ausschuß hat im übrigen ausdrücklich klargestellt, daß die Gemeinde in jedem Fall der Aufstellung der Bauleitplanung durch andere Planungsträger zu beteiligen ist. ... Bei einer Aufgabenübertragung nach § 147 Abs. la ist gleichzeitig zu regeln, wie die Gemeinden an der Aufgabenerfullung mitwirken." (BT-Drs. 7/4793, S. 9). Die zunächst — neben den rheinland-pfälzischen Verbandsgemeinden — im Entwurf genannten niedersächsischen Samtgemeinden wurden sodann im Vermittlungsverfahren gestrichen. In seinem Beschluß, den Vermittlungsausschuß anzurufen, hat der Bundesrat die Änderung wie folgt begründet: „In Absatz la ist in Satz la) das Wort,Samtgemeinden' zu streichen und b) nach dem Wort ,Verbandsgemeinden' das Wort .Verwaltungsgemeinschaften' einzufügen. Begründung zu Buchstabe a: Im Unterschied zu den rheinland-pfälzischen Verbandsgemeinden sind die niedersächsischen Samtgemeinden freiwillige Zusammenschlüsse und damit Planungsverbände im Sinne des § 4 Abs. 1 des BundesLVerfGE 13

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baugesetzes. Das ist in der Begründung zum niedersächsischen Zweiten Gesetz zur Verwaltungs- und Gebietsreform vom 9. Juli 1971 (Einfuhrung der heutigen Form der Samtgemeinde) und bei seiner parlamentarischen Beratung ausdrücklich hervorgehoben worden. Eine Übertragung von Aufgaben durch Landesgesetz iSv § 147 Abs. la liegt somit nicht vor und kann auch in Zukunft nicht in Betracht kommen. § 147 Abs. la ist daher auf die niedersächsischen Samtgemeinden, die schon heute für die Aufstellung der Flächennutzungspläne zuständig sind, nicht anwendbar. Die Bildung von weiteren Samtgemeinden ist in Niedersachsen nicht vorgesehen. Die Neubildung ist bereits im Jahr 1974 abgeschlossen worden. Die vom Bundestag beschlossene Formulierung geht daher für die Samtgemeinden ins Leere. Allenfalls kann sie dazu führen, daß Mißverständnisse auftreten, und daß dadurch die Rechtmäßigkeit von Planungen der heute bereits bestehenden Samtgemeinden in Zweifel gezogen wird. zu Buchstabe b: Nach der vom Bundestag beschlossenen Fassung des Absatzes la können Aufgaben nur auf den Samtgemeinden vergleichbare gesetzliche Zusammenschlüsse von Gemeinden' übertragen werden. Bei dieser Formulierung ist nicht gewährleistet, daß eine Aufgabenübertragung auch auf Verwaltungsgemeinschaften, wie sie insbesondere in Baden-Württemberg gebildet wurden, erfolgen kann. Verwaltungsgemeinschaften können nicht als .vergleichbare Zusammenschlüsse' angesehen werden, weil einmal mit Rücksicht auf den Verbandscharakter der Verwaltungsgemeinschaften das Merkmal der Vergleichbarkeit mit den Samtund Verbandsgemeinden nicht gegeben ist, zum anderen, weil es auch freiwillig gebildete Verwaltungsgemeinschaften gibt." (BT-Drs. 7/5059, S. 10). Der Vermittlungsausschuß übernahm diesen Antrag (vgl. BT-Drs. 7/5204, S. 5). Die Änderung wurde Gesetz. Hiemach ergeben die Bundestagsdrucksachen insgesamt, daß über die Aufnahme von „Verwaltungsgemeinschaften", „wie sie insbesondere in Baden-Württemberg gebildet wurden", gerade auch Zusammenschlüsse von Gemeinden mit Verbandscharakter und auf freiwilliger Basis mit erfaßt werden sollten. Die von der Beschwerdeführerin vertretene Auslegung des § 203 Abs. 2 BauGB dahin, daß die Kompetenz zur Flächennutzungsplanung nur auf Gebietskörperschaften oder andere Körperschaften mit direkt gewählter Vertretung übertragen werden dürfe, ist verfassungsrechtlich nicht geboten. Richtig ist, daß die brandenburgischen Ämter — ebenso wie die baden-württembergischen Verwaltungsgemeinschaften — nicht über eine für diesen Zweck unmittelbar gewählte demokratische Volksvertretung verfügen. Der Amtsausschuß setzt sich aus den Bürgermeistern der amtsangehörigen Gemeinden und weiteren aus der Mitte der Gemeindevertretung gewählten Vertretern zusammen. Seine Mitglieder werden somit nicht unmittelbar durch das Volk gewählt. Sie sind jedoch - über die Wahl der Bürgermeister und aus der Mitte der Gemeindevertretungen - mittelbar demokratisch legitimiert. Die Erstellung eines Flächennutzungsplans durch eine Körperschaft, deren Entscheidungsträger nur mittelbar demokratisch legitimiert sind, ist nicht von vornherein unzulässig und bleibt mit dem System des Baugesetzbuches in Einklang (vgl. z.B. § 205 BauGB). Der Flächennutzungsplan ist keine Satzung und hat keinen Rechtsnormcharakter. Er entfaltet dem Bürger geLVerfGE 13

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genüber keine unmittelbare Rechtswirkung. In dem hier in Rede stehenden Zusammenhang interessiert im übrigen vor allem die Wirkung, die die Übertragung der Bauleitplanung auf eine andere Körperschaft als Eingriff in das Recht auf kommunale Selbstverwaltung entfaltet. Diese Wirkung auf die Gemeinde ist die nämliche unabhängig davon, ob der Übertragungsempfänger unmittelbar oder nur mittelbar demokratisch legitimiert ist. cc. Allerdings läßt sich die zwangsweise Übertragung der Bauleitplanung auf eine andere Körperschaft überhaupt nur dann rechtfertigen, wenn die Flächennutzungsplanung auf der kommunalen Ebene verbleibt. Voraussetzung hierfür ist deshalb, daß es sich bei dem Übertragungsempfänger um eine „zweite Gemeindeebene" (vgl. BVerfGE 77, 288, 307) handelt, d.h. um eine Körperschaft, der durch Landesrecht Selbstverwaltungsaufgaben übertragen sind. Das Bundesverfassungsgericht hat im Hinblick auf § 147 Abs. 2 BBauG darauf abgestellt, daß Verbandsgemeinden, Verwaltungsgemeinschaften und vergleichbaren gesetzlichen Zusammenschlüssen von Gemeinden gemeinsam sei, daß ihnen nach Landesrecht örtliche Selbstverwaltungsaufgaben obliegen. Erst eine solche Betrauung mit örtlichen Selbstverwaltungsaufgaben mache die „Zusammenschlüsse" mit den Verbandsgemeinden und Verwaltungsgemeinschaften „vergleichbar". Allein dies entspreche dem Zweck der Vorschrift und ihrem systematischen Verhältnis zu § 147 Abs. 1 BBauG (jetzt: § 203 Abs. 1 BauGB). Während Absatz 1 die Kompetenzübertragung auch „auf eine andere Gebietskörperschaft" im Einvernehmen mit der Gemeinde gestatte, fasse Absatz 2 den Kreis der möglichen Übertragungsempfänger wesentlich enger und gestatte dem Landesgesetzgeber (nur), die im Rahmen der Gebietsreform als mildere Lösung gegenüber der Bildung von Einheits-Großgemeinden geschaffenen Organisationsformen einer „zweiten Gemeindeebene" mit Aufgaben nach dem Baugesetzbuch zu betrauen, wenn Ortsgemeinden mit zu geringer Verwaltungskraft sich nicht zu einer freiwilligen Lösung nach Absatz 1 zusammen gefunden hätten (BVerfGE 77, 288, 306 £). ISd §147 Abs. 2 BBauG seien „nach Landesrecht obliegende" örtliche Selbstverwaltungsaufgaben nur solche, die unmittelbar und konkret durch Landesgesetz übertragen worden seien. Eben und gerade dadurch werde die Zugehörigkeit zur zweiten örtlichen Ebene bestimmt und abgesichert (BVerfGE 77, 288, 307; dem folgend: Schmidt-Eichstaedt NVwZ 1997, 846, 849 f und Baiiis in: ders./Krautzberger/Löhr, BauGB, 8. Aufl. 2002, § 203 Rn. 7). In Abgrenzung zur überörtlichen Landkreisebene wird damit der Schwerpunkt auf die „zweite Gemeindeebene" gelegt. Besondere Anforderungen an die gesetzlich übertragenen Selbstverwaltungsaufgaben stellt das Bundesverfassungsgericht hingegen nicht. Hierfür ergibt sich auch keine Veranlassung. Sinn und Zweck der Gemeindeverbände ist es, die Selbstverwaltungskraft der verbandsangehörigen Gemeinden zu stärken und eine Alternative zur Einheitsgemeinde zu bieten bzw. deren Bildung zu verhindern. Vor diesem Hintergrund ist es folgerichtig, wenn sich der Gesetzgeber mit der zwingenden Verlagerung von Selbstverwaltungsaufgaben auf die Verbandsebene LVerfGE 13

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zurückhält und den verbandsangehörigen Gemeinden diese Aufgaben weitgehend beläßt bzw. die Übertragung auf den Gemeindeverband in die Entscheidungskompetenz der Gemeinden stellt. Auch den — als Regelbeispiel in § 203 Abs. 2 BauGB genannten — baden-württembergischen Verbandsgemeinden nach §§ 59 ff GemO BW obliegen in erster Linie dienende Aufgaben zugunsten der verbandsangehörigen Gemeinden. Nach § 61 GemO BW haben die Verwaltungsgemeinschaften die Gemeinden zu beraten und ihnen Personal zur Verfügung zu stellen. Im Namen der Mitgliedsgemeinden und nach deren Beschlüssen und Anordnungen erledigt der Verwaltungsverband die technischen Angelegenheiten bei der verbindlichen Bauleitplanung und der Durchführung von Bodenordnungsmaßnahmen und Maßnahmen nach dem Städtebauförderungsgesetz, ferner die Planung, Bauleitung und örtliche Bauaufsicht bei den Vorhaben des Hoch- und Tiefbaus, die Unterhaltung und den Ausbau der Gewässer zweiter Ordnung sowie die Abgaben-, Kassen- und Rechnungsgeschäfte (sog. Erledigungsaufgaben). Zur Erfüllung in (originär) eigener Zuständigkeit und an Stelle der Mitgliedsgemeinden werden den Verwaltungsgemeinschaften nach § 61 Abs. 4 S. 1 GemO BW (nur) die vorbereitende Bauleitplanung und die Aufgaben des Trägers der Straßenbaulast für die Gemeindeverbindungsstraßen übertragen. Auch in dieser Hinsicht ist das brandenburgische Amt der baden-württembergischen Verwaltungsgemeinschaft im Sinne einer „zweiten Gemeindeebene" vergleichbar. Das Amt dient nach § 1 Abs. 2 AmtsO der Stärkung der Selbstverwaltung der amtsangehörigen Gemeinden und verwaltet deren Gebiete zum Besten ihrer Einwohner. Die Ämter treten als Träger von Aufgaben der öffentlichen Selbstverwaltung an die Stelle der amtsangehörigen Gemeinden, soweit die Gesetze es bestimmen oder zulassen. Aufgabe des Amtes ist die Unterstützung der Gemeinden und ihre Beratung bei der Wahrnehmung ihrer gesetzlichen Aufgaben (vgl. § 5 Abs. 3 S. 1 AmtsO). Gem. § 4 Abs. 1 AmtsO bereitet das Amt durch den Amtsdirektor im Benehmen mit dem jeweiligen Bürgermeister bei Selbstverwaltungsaufgaben die Beschlüsse der Gemeindevertretung vor und führt sie nach Beschlußfassung durch. Dem Amt obliegt aber nicht etwa — was über eine zweite „Gemeinde"ebene hinausführen würde — die Kommunalaufsicht; die Rechte der Aufsichtsbehörden bleiben unberührt (vgl. § 5 Abs. 3 S. 2 AmtsO). Zwar können nach § 5 Abs. 1 S. 2 AmtsO zur Gewährleistung einer bürgernahen Aufgabenerledigung Amtern, die über die erforderliche Verwaltungskraft verfügen, Verwaltungsaufgaben übertragen werden, die ansonsten die Landkreise wahrnehmen, sofern die Leistungskraft des jeweiligen Landkreises erhalten bleibt. Auch dies begründet jedoch keine Kommunalaufsicht über die amtsangehörigen Gemeinden, sondern geht gegebenenfalls „zu Lasten" des Kreises. Ansonsten ist das Amt aber nach § 5 Abs. 1 S. 1 AmtsO Träger der ihm durch Gesetz oder Verordnung übertragenen Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung. Sie stellen sich im Land Brandenburg als Aufgabentypus dar, der von einem — dualistisch gesprochen — staatlichen Weisungsrecht „überlagert" wird, jedoch Elemente gemeindliLVerfGE 13

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eher Selbstverwaltung enthält und deshalb zumindest teilweise - nämlich auf den weisungsfreien Raum bezogen — dem Selbstverwaltungsbereich angehört (Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 17.10.1996 - VfGBbg 5/95 LVerfGE 5, 79, 88 f). 4. Nach Art. 97 Abs. 4 LV sind die Gemeinden und die Gemeindeverbände in Gestalt ihrer kommunalen Spitzenverbände rechtzeitig zu hören, bevor durch Gesetz oder Rechtsverordnung allgemeine Fragen geregelt werden, die sie unmittelbar berühren. Diesem Anhörungserfordernis ist hier ausreichend Genüge getan. Das Gericht hat für den Fall der Auflösung eines Gemeindeverbandes entschieden, daß für die von Verfassungs wegen geforderte Anhörung (Art. 98 Abs. 3 S. 3 LV) kein bestimmtes förmliches Verfahren vorgeschrieben ist (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 15.9.1994 - VfGBbg 3 / 9 3 - , LVerfGE 2, 143, 156). Entsprechendes hat für die (allgemeine) Anhörung nach Art. 97 Abs. 4 LV zu gelten (Urt. v. 17.10.1996 - VfGBbg 5/95 LVerfGE 5, 79, 90). Von daher kann hier dahinstehen, ob der Gemeindetag Brandenburg neben dem Landkreistag Brandenburg und dem Städte- und Gemeindebund Brandenburg die Voraussetzungen eines kommunalen Spitzenverbandes iSd Art. 97 Abs. 4 LV erfüllt. Denn jedenfalls ist er in einer Weise angehört worden, die den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen würde. In der 21. Sitzung des Ausschusses für Inneres des Landtages Brandenburg am 15.2.2001 wurden — neben einzelnen Gemeinden und Ämtern sowie dem Kommunalwissenschaftlichen Institut der Universität Potsdam, dem Kommunalpolitischen Forum Land Brandenburg und anderen Institutionen — die Vertreter des Landkreistages Brandenburg und des Städte- und Gemeindebundes Brandenburg sowie des Gemeindetages Brandenburg gehört. Gegenstand dieser öffentlichen Anhörung waren der Gesetzentwurf der Landesregierung für das „Gesetz zur Reform der Gemeindestruktur und zur Stärkung der Verwaltungskraft der Gemeinden im Land Brandenburg" (LT-Drs. 3/2233) und der Entwurf der Fraktion der PDS für ein „Gesetz über die Grundsätze der Gemeindegebietsreform im Land Brandenburg" (LT-Drs. 3/2250). Diese Entwürfe wurden zusammen mit einem Fragenkatalog auch dem Gemeindetag Brandenburg zur Vorbereitung der Anhörung zugeleitet. Alle drei Verbände haben sodann schriftliche Stellungnahmen abgegeben und vor dem Ausschuß für Inneres mündlich ihre Auffassungen dargelegt. 5. § 5 Abs. 4 AmtsO wird aber nicht den Anforderungen gerecht, die Art. 97 LV an die Übertragung einer Selbstverwaltungsaufgabe von den Gemeinden auf die Ämter stellt. Ebenso wie Art. 28 Abs. 2 S. 1 G G (vgl. hierzu BVerfGE 79,127, 152) räumt auch Art. 97 Abs. 2 LV Gemeinden in den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft einen Vorrang ein, den der Gesetzgeber bei der Zuordnung von Aufgaben grundsätzlich auch im Verhältnis der Gemeinden zu den Ämtern zu berücksichtigen hat (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 17.10.1996 - VfGBbg 5/95 LVerfGE 5, 79, 89 f). Nur wenn die Aufgabe

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keinen oder keinen relevanten örtlichen Charakter besitzt, ist der Gesetzgeber in der Aufgabenzuordnung frei (vgl. BVerfGE 79, 127, 152). Hat die Aufgabe indes örtliche Relevanz, muß der Gesetzgeber berücksichtigen, daß sie insoweit grundsätzlich der Gemeindeebene zuzuordnen ist (BVerfGE, ebd.). Will er die Aufgabe den Gemeinden gleichwohl entziehen, kann er dies nur, wenn die den Aufgabenentzug tragenden Gründe gegenüber dem verfassungsrechtlichen Aufgabenverteilungsprinzip des Art. 97 LV überwiegen (vgl. dazu BVerfGE 79,127,152). a. Bei der Bestimmung der Voraussetzungen, unter denen eine Aufgabe den Gemeinden entzogen werden darf, greift das erkennende Gericht auf die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelten Grundsätze zurück (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 17.10.1996 — VfGBbg 5/95 - , LVerfGE 5, 79, 91; vgl. BVerfGE 79, 127, 153). Danach darf eine Aufgabe mit relevantem örtlichen Charakter den Gemeinden nur aus Gründen des Gemeininteresses, also im wesentlichen nur dann entzogen werden, wenn anders die ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung nicht sicherzustellen wäre (in diesem Sinne bereits Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 19.5.1994 — VfGBbg 9 / 9 3 LVerfGE 2, 93, 104 und Urt. v. 17.7.1997 - VfGBbg 1/97 - , LVerfGE 7, 74, 92 und 98). Allerdings ist zu berücksichtigen, daß die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundsätze nicht in gleicher Stringenz für das Verhältnis der amtsangehörigen Gemeinden zu den Ämtern gelten. Vielmehr sind, weil den amtsangehörigen Gemeinden noch gewisse Einwirkungsmöglichkeiten auf die Entscheidung der Ämter verbleiben, insoweit weniger strenge Anforderungen zu stellen. Der Charakter der den Gemeinden entzogenen Aufgaben muß allerdings Berücksichtigung finden (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 17.10.1996 - VfGBbg 5/95 - , LVerfGE 5, 79, 91). Hiernach gilt folgendes: aa. Soweit es um die Kompetenz zur Aufstellung eines Flächennutzungsplanes geht, ist der besondere Stellenwert der vorbereitenden Bauleitplanung als Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft zu beachten (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 17.10.1996 - VfGBbg 5/95 - , LVerfGE 5, 79, 91 f mwN). Das BauGB weist den Gemeinden die Aufgabe der Bauleitplanung als Pflichtige Selbstverwaltungsaufgabe zu (§§ 2 Abs. 1 iVm § 1 Abs. 2 und 3 BauGB). Sie umfaßt den Flächennutzungsplan als vorbereitenden und den Bebauungsplan als verbindlichen Bauleitplan (§ 1 Abs. 2 BauGB). Im Flächennutzungsplan ist für das gesamte Gemeindegebiet die sich aus der beabsichtigten städtebaulichen Entwicklung ergebende Art der Bodennutzung nach den voraussichtlichen Bedürfnissen der Gemeinde in den Grundzüge darzustellen (§ 5 Abs. 1 S. 1 BauGB). Die Bebauungspläne sind nach § 8 Abs. 2 S. 1 BauGB aus dem Flächennutzungsplan zu entwickeln. Der Regelungszusammenhang macht deutlich, daß der Flächennutzungsplan das städtebauliche Gesamtkonzept für das gesamte Gemeindegebiet wiedergibt und damit - wie § 8 Abs. 2 S. 1 BauGB belegt - nicht

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nur eine bloße Vorstufe des Bebauungsplanes darstellt (so Schrvdter in: ders., BauGB, 6. Aufl. 1998, § 1 Rn. 12), sondern vielmehr die maßgebliche Vorgabe für die rechtsverbindlichen Bebauungspläne ist (Bielenberg/Söfker in: Ernst/Zinkahn/ Bielenberg/Krautzberger, BauGB, § 5 Rn. 8). Indem der Flächennutzungsplan die Gemeinde und — wie § 7 BauGB zeigt - andere Planungsträger bindet, schafft er gleichzeitig „eine notwendige Voraussetzung für die richtige Erfüllung der der Ortsstufe gestellten Verwaltungsaufgabe ..., die Bebauung planvoll zu leiten" (BVerfGE 3, 407, 424). Mit ihm werden im Hinblick auf das jeder Bauleitplanung immanente Abwägungsgebot (§ 1 Abs. 5 und 6 BauGB) sowohl bauleitplanerische Abwägungsaufgaben wahrgenommen (Bielenberg/Söfker in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB, § 5 Rn. 8) als auch für den Fall, daß ein Bebauungsplan fehlt, unmittelbare städtebauliche Rechtswirkungen herbeigeführt. Schon der Flächennutzungsplan kann im Gemeindegebiet nach § 35 Abs. 1 und Abs. 2 BauGB die bodenrechtliche Zulässigkeit eines Vorhabens begründen; die im Flächennutzungsplan darzustellenden Grundzüge der städtebaulichen Entwicklung in der Gemeinde sind zur Konkretisierung des Begriffs der geordneten städtebaulichen Entwicklung in den §§ 22 Abs. 2, 25 Abs. 1 und § 34 Abs. 4 BauGB heranzuziehen (vgl. nur Gaent^sch in: Berliner Kommentar zum Baugesetzbuch, 2. Aufl. 1995, § 5, Rn. 2). Art. 2 Nr. 4 Gemeindestrukturreformgesetz greift in das so beschaffene städtebauliche Handlungsinstrumentarium der Gemeinde erheblich ein. Mag auch die Zuständigkeit der Gemeinde für die Aufstellung des Bebauungsplanes unberührt bleiben, zeigt sich doch, daß der Gemeinde mit der Flächennutzungsplanung eine Verwaltungsaufgabe genommen wird, die für die städtebauliche Entwicklung grundlegende Bedeutung hat. Indem Art. 2 Nr. 4 S. 1 Gemeindestrukturreformgesetz mit der Flächennutzungsplanung der Gemeinde die kommunale Steuerungsfunktion nimmt, unterwirft er sie zugleich einer „planungsrechtlichen Fremdbestimmung" durch das Amt. bb. Das erkennende Gericht übersieht nicht, daß nach § 7 Abs. 1 S. 1 AmtsO die Entscheidung über einen Amtsflächennutzungsplan dem Amtsausschuß zugewiesen ist, in dem die amtsangehörigen Gemeinden durch ihren Bürgermeister und — je nach Größe — durch einen oder mehrere weitere Mitglieder der Gemeindevertretung vertreten sind (vgl. § 6 Abs. 1 und 2 AmtsO), daß nach § 5 Abs. 4 S. 3 AmtsO die amtsangehörigen Gemeinden vor der Beschlußfassung über den Flächennutzungsplan anzuhören und daß nach S. 4 ihre Anregungen zu berücksichtigen sind. Der Kompetenzverlust der Gemeinde, der durch Art. 2 Nr. 4 Gemeindestrukturreformgesetz bewirkt wird, wird hierdurch nicht hinreichend aufgefangen: Der Amtsausschuß entscheidet mit einfacher Mehrheit. Damit können die Vertreter einer einzelnen Gemeinde überstimmt werden. Zwar sieht § 7 Abs. 5 S. 1 AmtsO vor, daß die Gemeindevertretung einer amtsangehörigen Gemeinde einem Beschluß des Amtsausschusses widersprechen kann, wenn der Beschluß das Wohl der Gemeinde gefährdet. Der Amtsausschuß seinerseits kann einen solLVerfGE 13

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chen Widerspruch aber binnen eines Monats mit einer Mehrheit von zwei Drittel der gesetzlichen Zahl der Mitglieder wieder zurückweisen (vgl. § 7 Abs. 5 S. 3 AmtsO). Auch § 5 Abs. 4 S. 3 und 4 AmtsO schafft keine hinreichende Kompensation für den bewirkten Aufgabenentzug. Soweit die amtsangehörigen Gemeinden hiernach vor der Beschlußfassung über den Flächennutzungsplan anzuhören und ihre Anregungen zu berücksichtigen sind, verpflichtet dies das Amt allgemeinen planungsrechtlichen Grundsätzen folgend lediglich dazu, die städtebaulichen Vorstellungen der amtsangehörigen Gemeinde in die zu treffende Abwägungsentscheidung einzustellen (zu den planungsrechtlichen Berücksichtigungsgeboten s. statt vieler Kopp/Ramsauer Verwaltungsverfahrensgesetz, 7. Aufl. 2000, § 74 Rn. 52 ff). Auch eine Auslegung des § 5 Abs. 4 AmtsO dahin, daß die Kompetenz zur Flächennutzungsplanung nur dann gegen den Willen einer einzelnen Gemeinde ausgeübt werden dürfe, wenn dies durch Belange einer überörtlichen Abstimmung und eine Entwicklung des gesamten Verwaltungsraumes oder durch raumordnerische oder landesplanerische Ziele gerechtfertigt sei, wie sie die Landesregierung in ihrer Stellungnahme zum vorliegenden Verfahren in Anlehnung an das Urteil des Staatsgerichtshofes des Landes Baden-Württemberg v. 8.5.1976 (- GR 2, 8/75 - , DÖV 1976, 595, 597) zur Diskussion stellt, würde den Kompetenzverlust der Gemeinde nicht hinreichend ausgleichen. Eine solche Auslegung würde nichts daran ändern, daß es sich um eine Aufgabenverlagerung von der Gemeinde auf das Amt handelt, die der Gemeinde insoweit die Eigenverantwortlichkeit für ihr eigenes Gebiet entzieht. Das Amt wird nach der Neuregelung eben nicht nur in dienender Funktion tätig, sondern nimmt die Flächennutzungsplanung als eigene Aufgabe wahr, während der Gemeinde die sachliche Alleinverantwortlichkeit entzogen wird (vgl. StGH BW, DÖV 1976, 595, 597). An die Stelle der eigenen Aufgabenwahrnehmung tritt eine durch § 5 Abs. 4 S. 4 vermittelte Partizipation (vgl. fiir die Rechtslage in Sachsen SächsVerfGH, Urt. v. 18.11.1999 - Vf. 174-XIII-98, JbSächsOVG 7, 51, 58), die nichts daran ändert, daß die bei Aufstellung des Amtsflächennutzungsplanes zu beachtenden Gemeindebelange keinerlei planungsrechtlichen Vorrang genießen und sich im Rahmen der Abwägungsentscheidung nach § 1 Abs. 6 BauGB nur als einer von vielen planungsrechtlich zu beachtenden - gegebenenfalls zurücktretenden — Belangen darstellen. Bezeichnenderweise sind im Gesetzgebungsverfahren denn auch Bedenken an der Vereinbarkeit des § 5 Abs. 4 S. 4 AmtsO mit § 1 Abs. 6 BauGB geäußert worden. In dem dort beschriebenen Abwägungssystem sei für eine gesonderte Vorgabe, nach der die Anregungen der amtsangehörigen Gemeinden zu berücksichtigen seien, kein Raum (vgl. Stellungnahme des Landkreistages Brandenburg, Anlage zum Ausschußprotokoll 3/285). b. Das von der Landesregierung ausweislich der Leitlinien und der amtlichen Begründung zum Gemeindestrukturreformgesetz angestrebte Gesamt-Umstrukturierungskonzept führt nicht dazu, daß ein weniger strenger Maßstab an die UberLVerfGE 13

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tragung der Flächennutzungsplanung zu stellen wäre. Mit Zuweisung der Bauleitplanung an die Gemeinden als eigene Angelegenheit wollte das Baurecht des Bundes die Sachnähe der örtlichen Ebene stärken und zugleich gewährleisten, daß neben der Initiative auch die Verantwortung für die Bauleitpläne eindeutig im örtlichen Bereich, nämlich bei der Gemeinde liegt (vgl. BVerfGE 77, 288, 307). Ein — diese Aufgabenzuweisung teilweise korrigierender — Eingriff in diese Aufgabenzuweisung darf nur dann erfolgen, wenn anders die ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung in diesem Bereich der städtebaulichen Entwicklungsplanung nicht sicherzustellen wäre. Demgemäß vermögen nur Gründe, die in dem vom Aufgabenentzug betroffenen Sachgebiet selbst wurzeln, das zugunsten der Gemeinde verfassungsrechtlich vorgegebene Aufgabenverteilungsprinzip zurückzudrängen. „Demgegenüber scheidet" — mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts — „das bloße Ziel der Verwaltungsvereinfachung oder Zuständigkeitskonzentration — etwa im Interesse der Übersichtlichkeit der öffentlichen Verwaltung — als Rechtfertigung eines Aufgabenentzugs aus; denn dies zielte ausschließlich auf die Beseitigung eines Umstandes, der gerade durch die vom Grundgesetz gewollte dezentrale Aufgabenansiedlung bedingt wird. Auch Gründe der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit der öffentlichen Verwaltung insgesamt rechtfertigen eine ,Hochzonung' nicht schon aus sich heraus, sondern erst dann, wenn ein Belassen der Aufgabe bei den Gemeinden zu einem unverhältnismäßigen Kostenanstieg führen würde" (BVerfGE 79,127,153). c. Auch vmter Berücksichtigung der Einwirkungsmöglichkeiten, die den Gemeinden auf die Entscheidung der Ämter verbleiben, ist für das erkennende Gericht nicht ersichtlich, daß hinreichend gewichtige Gründe für die Verlagerung der Flächennutzungsplanung auf das Amt sprechen würden. aa. Es ist nicht erkennbar, daß das Sachnäheprinzip, welches der bundesgesetzlichen Zuweisung der Bauleitplanung an die Gemeinden zugrunde liegt (vgl. BVerfGE 77, 288, 307), in Brandenburg zu städtebaulichen Mängeln gefuhrt hätte. Weder den Gesetzesmaterialien noch den Stellungnahmen der Landesregierung in dem vorliegenden Verfahren läßt sich entnehmen, daß eine ordnungsgemäße Flächennutzungsplanung bei Wahrnehmung dieser Aufgabe durch die Gemeinden nicht sichergestellt wäre. Insbesondere läßt sich den Gesetzesmaterialien nicht entnehmen, daß Erkenntnisse über eine unzureichende Flächennutzungsplanung auf Gemeindeebene vorliegen. Dem Gesetzgeber lagen hierzu jedenfalls im Zeitpunkt des Gesetzesbeschlusses keine verwertbaren Erhebungen vor. Aus den Stellungnahmen der Landesregierung im vorliegenden Verfahren ergibt sich vielmehr, daß Umfragen hierzu erst während des verfassungsgerichtlichen Verfahrens stattgefunden haben. Konkrete Fälle, daß amtsangehörige Gemeinden nicht in der Lage gewesen wären, ordnungsgemäße Flächennutzungspläne zu erstellen, sind dem Gericht weder benannt worden noch sonstwie ersichtlich. Eine überprüfbare Begründung für den durch § 5 Abs. 4 AmtsO vorgenommenen Eingriff LVerfGE 13

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in die kommunale Planungshoheit (§ 2 Abs. 1 BauGB) wäre aber erforderlich. Denn in tatsächlicher Hinsicht liegt die verwaltungstechnische Abwicklung ohnehin in der Verantwortung des Amtes. Nach § 4 Abs. 1 AmtsO bereitet das Amt bei Selbstverwaltungsaufgaben die Beschlüsse der Gemeindevertretung vor. Die Vorbereitung der zur Aufstellung eines Flächennutzungsplanes erforderlichen Verfahrensschritte (§§ 3 Abs. 1 und 2, 4 Abs. 1 BauGB) ist daher Sache des Amtes. Verfahrensfehler sind demgemäß ggf. auf das Amt, nicht auf die Gemeinde zurückzuführen, so daß schon von daher nicht ersichtlich ist, warum die Verlagerung der Aufgaben im Rechtssinne unter gleichzeitiger Beibehaltung der Aufgabenerfullung in verwaltungstechnischer Hinsicht zu einer effektiveren Aufgabenerledigung führen soll. Auch hiervon abgesehen ist davon auszugehen, daß die Gemeinden von den vielfaltigen Möglichkeiten des Baugesetzbuches Gebrauch machen, Dritte in die Erarbeitung der Bauleitpläne sowie die Vorbereitung der notwendigen Verfahrensschritte (vgl. §§ 3 Abs. 2, 4 Abs. 1 BauGB) einzubeziehen. Sowohl aus § 11 Abs. 1 Nr. 2 wie aus § 4b BauGB wird deutlich, daß der Gesetzgeber die „Privatisierung" des Bauleitplanverfahrens gerade auch deswegen eröffnet hat, damit sich Gemeinden externen Sachverstand zunutze machen können. Es macht im Ergebnis keinen Unterschied, ob sich das Amt oder die Gemeinde etwa eines sachkundigen Planungsbüros bedient, um möglicherweise auf der Verwaltungsebene vorhandene Defizite auszugleichen. bb. Ausschlaggebend geht es bei der Übertragung der Flächennutzungsplanung auch nicht um die Beseitigung planerischer Mißstände, sondern unabhängig davon um einen ersten Schritt zur Stärkung und Umstrukturierung der Amter durch Zuweisung weiterer Selbstverwaltungsaufgaben. In den Leitlinien der Landesregierung (s. http://www.starke-gemeinden.de/grundlagen/leitlinien) heißt es dazu: „Zur Erhöhung der Leistungsfähigkeit der Amter und zur Verbesserung der Bürgemähe ist neben der Reduzierung der Zahl der amtsangehörigen Gemeinden eine gesetzliche Übertragung von Aufgaben auf die Ämter vorgesehen. Das betrifft zunächst die Flächennutzungsplanung; vorstellbar ist auch, die Trägerschaft für Schulen und ggf. für Kindertagesstätten zu übertragen (wobei amtsangehörige Gemeinden eine Rückübertragung verlangen können, wenn sie ausreichend leistungsfähig sind)." In der Begründung zu den Leitlinien (a.a.O.) heißt es: „Das Amt bedarf daher auch, soll es ein gleichwertiges Modell zur amtsfreien Gemeinde sein, im Interesse der amtsangehörigen Gemeinden und ihrer Bürger erweiterter Befugnisse. Hierzu zählt die Flächennutzungsplanung. Die gemeinschaftliche Flächennutzungsplanung im Amt ist ein geeignetes Instrument zur optimalen Entwicklung aller einem Amt angehörenden Gemeinden. § 203 Abs. 2 Baugesetzbuch eröffnet die Möglichkeit der gemeinsamen Planung auf Amtsebene. Ortliche Zusammenhänge, insbesondere Wege-, Verkehrs-, Schul- und Wirtschaftsverhältnisse (§ 3 Abs. 2 AmtsO) können so besser berücksichtigt werLVerfGE 13

Vorrang der Gemeinde für Flächennutzungsplan

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den. Darüber hinaus sichert sie eine ausgewogene, den örtlichen Besonderheiten und übergemeindlichen Erfordernissen Rechnung tragende Ausweisung der unterschiedlichen Flächennutzungen zur Siedlungs-, Gewerbe- und Freiraumentwicklung. Damit kann zugleich ein hohes Maß an Ubereinstimmung zwischen kommunaler Bauleitplanung und den Zielen der Raumordnung sowie der Landesund Regionalplanung erreicht werden. Darüber hinaus ist vorstellbar, u.a. die Trägerschaft für die Schulen und Kindertagesstätten auf das Amt zu übertragen. Dies entspricht den in den Stellungnahmen von amtsangehörigen Gemeinden und Amtern vielfach geäußerten Vorstellungen. Diese Aufgabenübertragungen sind — in Abhängigkeit von der Größe und Leistungskraft der künftigen Gemeinden — zu prüfen." Auch im Gesetzgebungsverfahren selbst wurde die Frage, ob die Flächennutzungsplanung in der Hand der (amtsangehörigen) Gemeinden nicht ordnungsgemäß erfüllbar sei, nicht vertieft diskutiert. Statt dessen stand das neue Amtsmodell im Vordergrund. In der ersten Lesung des Gesetzes vom 24. Januar 2001 fühlte der Abgeordnete Petke etwa aus (Plenarprotokoll 3/29, S. 1735): „Der Entwurf untersetzt somit die Bestimmung der Leitlinien zur Amtsordnung. Wir werden in Zukunft in Brandenburg ein einheitliches Ämtermodell haben. Wir werden drei bis sechs amtsangehörige Gemeinden haben und werden — das ist besonders wichtig - auch zukünftig dem Amt Mehraufgaben übertragen. Ein erster Schritt in diese Richtung ist mit der Übertragung der Flächennutzungsplanung auf die Amter gegangen worden." In der öffentlichen Anhörung des Ausschusses des Inneren vom 15.2.2001 begrüßten der Städte- und Gemeindebund Brandenburg sowie der Landkreistag Brandenburg die Übertragung der Flächennutzungsplanung auf die Ämter. Der Städte- und Gemeindebund bedauerte das Absehen von der Übertragung weiterer Aufgaben (s. Anlagen zum Ausschußprotokoll 3/285). In den Beratungen des Innenausschusses und in den Lesungen im Plenum wurde sodann auf die Übertragung der Flächennutzungsplanung nicht mehr weiter eingegangen; Änderungsvorschläge gab es nicht. Auch daß etwa das Belassen der Flächennutzungsplanung bei den Gemeinden zu einem unverhältnismäßigen Kostenanstieg fuhren würde (BVerfGE 79, 127, 153) und unter diesem Gesichtspunkt die Aufgabenübertragung auf das Amt gerechtfertigt wäre, ist nicht dargetan. Es ist nicht belegt, daß die Flächennutzungsplanung in der Hand der amtsangehörigen Gemeinden zu unverhältnismäßig hohen Kosten führt. Die Landesregierung beschränkt sich insoweit auf allgemeine Behauptungen. Sie be2ieht sich auf „Erfahrungswerte" und „fiktive Berechnungen", aus denen sich ergeben soll, daß die einzelgemeindliche Flächennutzungsplanung zu einem unverhältnismäßigen Kostenanstieg führen würde, und spricht für den Fall einer Übertragung der Flächennutzungsplanung auf das Amt von Ersparnissen zwischen 20 bis 30% und 49%. Es wird jedoch lediglich eine fiktive Rechnung für ein Amt mit vier Gemeinden vorgelegt. Im übrigen beschränkt sich die Landesregierung auf die Beschreibung der Kompliziertheit und ZeitaufwenLVerfGE 13

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digkeit des Planungsverfahrens und den Hinweis, daß es „in 2ahlreichen Fällen" zu ineffizienten und unkoordinierten Planungen gekommen sei. Konkrete Beispiele von Fehlplanungen werden jedoch nicht genannt und sind für das Gericht auch sonst nicht ersichtlich. Die beiden Großprojekte (Cargo-Lifter und der Flughafen BBI), die dafür angeführt werden, daß großräumige Projekte nicht an der Gemeindegrenze haltmachen, vermögen die Notwendigkeit einer Hochzonung der Flächennutzungsplanung auf die Amter nicht zu begründen; derartige Großprojekte können auch Amtsgrenzen überschreiten. Auch daß erst 395 Gemeinden über einen genehmigten Flächennutzungsplan verfugen, läßt für sich allein bestimmte Rückschlüsse nicht zu. In sehr kleinen Gemeinden kann zur geordneten städtebaulichen Entwicklung ein Bebauungsplan durchaus ausreichend sein (§ 8 Abs. 2 S. 2 BauGB). Zudem ist offen, in wie vielen Gemeinden Planverfahren im Gange sind. cc. Zu berücksichtigen ist im übrigen, daß sich etwaigen Unzulänglichkeiten auch mit den Möglichkeiten des geltenden Bauplanungsrechtes entgegenwirken läßt. So kann etwa in Fällen, in denen ein Flächennutzungsplan für eine geordnete städtebauliche Entwicklung unabdingbar ist, die Aufstellungsverpflichtung des § 1 Abs. 3 BauGB mit Mitteln der Rechtsaufsicht erzwungen werden (Söfker in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg, aaO, § 1 Rn. 42). Weiter zeigt § 204 Abs. 2 BauGB, daß durchaus auch gegen den Willen einer einzelnen Gemeinde Koordinierungsinteressen des Amtes Rechnung getragen werden kann. Wenn dies zum Wohl der Allgemeinheit dringend geboten ist, kann durch eine zusammengefaßte Bauleitplanung im Einzelfall auch auf der Grundlage der bisherigen Aufgabenverteilung zwischen Amt und Gemeinden ein Amtsflächennutzungsplan durchgesetzt werden. Zuzugeben ist freilich, daß eine amtsweite Flächennutzungsplanung die Möglichkeit bietet, einen Ausgleich der Interessen aller amtsangehörigen Gemeinden herbeizuführen, Gewerbe- und Wohngebiete ausgewogen anzuordnen und die Entwicklung strukturschwacher Ämter zu fördern. Sie kann mit höherer Gewähr dazu beitragen, daß, wie geboten (vgl. § 4 Abs. 1 ROG 1998, § 1 Abs. 4 BauGB) auch übergemeindlich Belange berücksichtigt und Vorgaben der Regional- und Landesplanung beachtet werden (vgl. insoweit auch StGH BW, DÖV 1976, 595, 597). Indes ist überörtlichen Belangen auch schon nach bisheriger Rechtslage Rechnung zu tragen. Nach § 2 Abs. 2 BauGB sind die Bauleitpläne benachbarter Gemeinden aufeinander abzustimmen. Darüber hinaus eröffnet § 203 Abs. 1 BauGB die Möglichkeit, die Bauleitplanung mit Zustimmung der Gemeinde durch Rechtsverordnung auf eine andere Gebietskörperschaft oder auf einen Verband, an dessen Willensbildung sie mitwirkt, also auch auf das brandenburgische Amt, zu übertragen. Nach § 204 Abs. 1 S. 1 BauGB sollen benachbarte Gemeinden einen gemeinsamen Flächennutzungsplan aufstellen, wenn ihre städtebauliche Entwicklung wesentlich durch gemeinsame Voraussetzungen und Bedürfnisse bestimmt wird oder ein gemeinsamer Flächennutzungsplan einen gerechten Ausgleich der verschiedenen Belange ermöglicht (vgl. hierzu Schmidt-Eichstaedt LVerfGE 13

Auslagenerstattung nach Hauptsacheerledigung durch „Pilotverfahren"

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NVwZ 1997, 846, 851 ff). § 205 BauGB regelt die Bildung von Planungsverbänden zum Ausgleich der verschiedenen Belange und läßt es auch zu, daß die Amter als Planungsverband in diesem Sinne tätig werden (vgl. dazu Schmidt-Eichstaedt NVwZ 1997, 846, 850 f). Nicht zuletzt können die Gemeinden nach § 5 Abs. 5 AmtsO die Flächennutzungsplanung freiwillig auf das Amt übertragen. Ohnehin bereitete der Amtsdirektor — wie bereits dargelegt — schon nach bisheriger Rechtslage den Beschluß der Gemeindevertretung über den Flächennutzungsplan vor und führte ihn anschließend aus. Auch auf diesem Wege werden unkoordinierte Planungen innerhalb desselben Amtes in der Praxis im allgemeinen vermieden werden können. Darüber hinaus bietet der Amtsausschuß Gelegenheit, planerische Belange der einzelnen Gemeinden mit ihren Auswirkungen auf das Amt zu erörtern und sich hierüber abzustimmen. Auch unter Mitberücksichtigung dieser rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten ist insgesamt nicht zu erkennen, daß es im Bereich der Flächennutzungsplanung in der Hand amtsangehöriger Gemeinden zu Mißständen gekommen und es deshalb geboten wäre, den amtsangehörigen Gemeinden diese Selbstverwaltungsaufgabe zu entziehen. Damit erweist sich die Übertragung der Flächennutzungsplanung auf die Ämter als mit dem Recht der kommunalen Selbstverwaltung iSv Art. 97 Abs. 1 und 2 LV unvereinbar. III. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 32 Abs. 7 S. 2 VerfGGBbg.

Nt. 4* Ist zum Zeitpunkt der Einlegung einer (Kommunal-)Verfassungsbeschwerde bekannt oder erkennbar, daß gegen eine gesetzliche Regelung bereits anderweitig Verfassungsbeschwerde eingelegt worden ist, ist nach Erledigung der Hauptsache durch eine stattgebende „Pilotentscheidung" grundsätzlich auch dann nicht die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers anzuordnen, wenn die „Pilotentscheidung" ergibt, daß auch die erledigte Verfassungsbeschwerde Erfolg gehabt hätte.** Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg § 32 Abs. 7 Satz 2

*

Die Entscheidung ist im Volltext abgedruckt im Supplementband Brandenburg zu LVerfGE 13 (Supp. Bbg. zu Bd. 13), S. 96 ff, hrsg. vom Verfassungsgericht des Landes Brandenburg (Adresse s. Anhang) und dort gegen Gebühr erhältlich. Nichtamtlicher Leitsatz.

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Beschluß vom 18. April 2002 - V f G B b g 35/01 in dem kommunalen Verfassungsbeschwerdeverfahren der Gemeinde Wilhelmshorst, vertreten durch den Bürgermeister, gegen Art. 2 Nr. 4 des Gesetzes zur Reform der Gemeindestruktur und zur Stärkung der Verwaltungskraft der Gemeinden im Lande Brandenburg vom 13. März 2001 (GVB1.1 S. 30). Entscheidungsformel: 1. Das Verfahren wird eingestellt. 2. Auslagen werden nicht erstattet.

Nr. 5* Eine amtsangehörige Gemeinde kann lediglich beanspruchen, daß ihr eine Amtsverwaltung zur Verfügung steht, nicht aber, daß sie in bestimmter Form ausgestaltet ist.** Verfassung des Landes Brandenburg Art. 97 Abs. 1 und 2; 98 Abs. 1 und 2 Amtsordnung für das Land Brandenburg § 2 Abs. 1 Beschluß vom 16. Mai 2002 - V f G B b g 40/01 in dem Verfahren über die kommunale Verfassungsbeschwerde der Gemeinde Lühsdorf, vertreten durch das Amt Treuenbrietzen, dieses vertreten durch den Amtsdirektor, betreffend § 2 der Amtsordnung für das Land Brandenburg in der Fassung von Art. 2 Nr. 2 des Gesetzes zur Reform der Gemeindestruktur und zur Stärkung der Verwaltungskraft der Gemeinden im Land Brandenburg vom 13. März 2001 (GVB1.1 S. 30). Entscheidungsformel: Die kommunale Verfassungsbeschwerde wird verworfen.

Die Entscheidung ist im Volltext abgedruckt im Supplementband Brandenburg zu LVerfGE 13 (Suppl. Bbg. zu Bd. 13), S. 99 ff, hrsg. vom Verfassungsgericht des Landes Brandenburg (Adresse s. Anhang) und dort gegen Gebühr erhältlich. ** Nichtamtlicher Leitsatz.

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Nr. 6* Wiedereinsetzung bei Versäumung der Einspruchsfrist gegen einen Strafbefehl im Lichte des Anspruchs auf rechtliches Gehör und auf ein faires Verfahren vor Gericht.** Verfassung des Landes Brandenburg Art. 52 Abs. 3 und 4 Satz 1 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg § 45 Abs. 2 Satz 1 Strafprozeßordnung §§ 33a; 44 Beschluß vom 16. Mai 2002 - VfGBbg 46/02 in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren des Herrn K. gegen den Beschluß des Landgerichts Potsdam vom 18. Dezember 2001. Entscheidungsformel: 1. Der Beschluß des Landgerichts Potsdam vom 18. Dezember 2001 verletzt den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 52 Abs. 3 der Verfassung des Landes Brandenburg) und auf ein faires Verfahren vor Gericht (Art. 52 Abs. 4 S. 1 der Verfassung des Landes Brandenburg) und wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen. 2. Das Land Brandenburg hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten. Gründe: A. I. Der Beschwerdeführer nahm am Abend des 2.6.2000 an einem Grillabend teil. Am frühen Morgen des 3.6.2000 schlug er nach den Bekundungen des Geschädigten an dessen PKW die Heckscheibe ein. Den hinzueilenden Geschädigten griff er an und verletzte ihn. Die hinzugerufene Polizei fand bei ihm einen Zünd* Abdruck auch in: NJ 2002, 365 (nur LS); NStZ-RR 2002, 239; JR 2002, 368. ** Nichtamtlicher Leitsatz.

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schlüssel zu einem zuvor in einem Wassergraben gefundenen PKW. Die dem Beschwerdeführer am 3.6.2000 um 7.03 Uhr entnommene Blutprobe ergab einen Blutalkoholgehalt von l,9%o. Die Staatsanwaltschaft leitete unter dem Aktenzeichen ... gegen den Beschwerdeführer wegen des Verdachts der Körperverletzung und des versuchten schweren Diebstahls ein Ermitdungsverfahren ein, in dem sich unter dem 23.10.2000 mit einer auf den 12.10.2000 datierten Vollmacht der Verfahrensbevollmächtigte des Beschwerdeführers als Verteidiger meldete und unter dem 27.11.2000 zu den Vorwürfen gegen den Beschwerdeführer Stellung nahm. In dieser Strafsache ist Anklage zum A G erhoben worden und steht die Hauptverhandlung bevor. Parallel ermittelte die Polizei wegen des Verdachts der Trunkenheit am Steuer. Die Staatsanwaltschaft leitete hierzu ein Ermittlungsverfahren unter dem Aktenzeichen ein. In diesem Verfahren erging unter dem 22.2.2001 ein Strafbefehl des AG, der dem Beschwerdeführer am 28.2.2001 durch Niederlegung bei der Post zugestellt wurde. Unter dem 6.3.2001 meldete sich in dieser Strafsache der Verfahrensbevollmächtigte unter Überreichung einer auf den 2.10.2000 datierten Vollmacht und bat um Ubersendung des niedergelegten Schriftstücks, da sich der Beschwerdeführer im Urlaub befinde — nach den Angaben in der Begründung der Verfassungsbeschwerde befand er sich vom 22.2.2001 bis zum 18.3.2001 in der Ukraine — und niemand bevollmächtigt sei, das niedergelegte Schriftstück abzuholen. Aufgrund richterlicher Verfügung vom 9.3.2001 wurde eine Abschrift des Strafbefehls am 16.3.2001 übersandt. Am 19.3.2001 legte der Verfahrensbevollmächtigte gegen den Strafbefehl Einspruch ein und beantragte zugleich die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Einspruchsfrist. Durch Beschluß des A G vom 29.6.2001 wurde der Wiedereinsetzungsantrag als unbegründet zurückgewiesen, weil der Beschwerdeführer dafür Sorge zu tragen gehabt habe, „daß ihn seine Post auch während seines Auslandsaufenthalts erreicht", und der Einspruch gegen den Strafbefehl wegen Versäumung der Einspruchsfrist als unzulässig verworfen. Die gegen diese Entscheidung eingelegte sofortige Beschwerde wurde durch Beschluß des L G vom 18.12.2001, dem Beschwerdeführer nach seinen Angaben zugestellt am 21.12.2001, zurückgewiesen, weil der Beschwerdeführer „weder konkret vorgetragen" habe, in welchem Zeitraum er im Ausland geweilt habe, noch „derartige Tatsachen glaubhaft gemacht" habe. Außerdem habe der Verfahrensbevollmächtigte aufgrund der ihm erteilten Vollmacht die niedergelegte Sendung abholen können. Eine gegen diese Entscheidung am 3.1.2002 erhobene Gegenvorstellung blieb ohne Erfolg. II. Mit der am 21.2.2002 eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 52 LVerfGE 13

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Abs. 3 der Verfassving des Landes Brandenburg (LV)), mittelbar auch des Anspruchs auf ein faires Verfahren vor Gericht (Art. 52 Abs. 4 S. 1 LV), indem er geltend macht: Er habe für die Zeit seiner urlaubsbedingten Abwesenheit durch die seinem Verfahrensbevollmächtigten in dem Ermittlungsverfahren erteilte Vollmacht, die jedoch keine Postvollmacht sei, dafür Sorge getragen, daß ihm in diesem Verfahren keine Nachteile entstehen konnten. Von einem anderen Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft sei ihm nichts bekannt gewesen, so daß er nicht mit dem Zugang eines gerichtlichen Schriftstückes in anderer Sache habe rechnen müssen. Das Fristversäumnis habe seinen Grund letztlich darin, daß ohne seine und seines Verfahrensbevollmächtigten Kenntnis der Vorwurf der Trunkenheitsfahrt unter Herauslösung aus einem einheitlichen Lebenssachverhalt zum Gegenstand eines eigenen Ermittlungsverfahrens unter anderem Aktenzeichen gemacht worden sei. III. Das LG hat Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. Die Gerichtsakten zu Aktenzeichen LG und AG sind beigezogen worden. B. Die Verfassungsbeschwerde hat Erfolg. I. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. 1. Insbesondere ist der Rechtsweg ausgeschöpft (§45 Abs. 2 S. 1 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg (VerfGGBbg). Gegen den die sofortige Beschwerde gegen den den Beschluß des AG zurückweisenden Beschluß des LG v. 18.12.2001 stand ein weiteres Rechtsmittel nicht zur Verfügung (vgl. etwa Kleinknecht/Meyer-Goßner Strafjprozeßordnung, 45. Aufl. 2001, Rn. 1 zu § 311). Auch von dem Rechtsbehelf nach § 33a Strafprozeßordnung (StPO) — sog. Gehörsrüge —, der nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Gerichts zur Ausschöpfung des Rechtsweges gehört, hat der Beschwerdeführer der Sache nach Gebrauch gemacht (in diesem Sinne — in einem vergleichbaren Zusammenhang — auch Verfassungsgerichtshof Berlin, Besch! v. 15.6.1993 - VerfGH 18/92 - , LVerfGE 1, 81, 84). Das LG hätte die gegen den Beschluß v. 18.12.2001 erhobene Gegenvorstellung, mit der der Beschwerdeführer daran festhielt, daß er von dem gegen ihn ergangenen Strafbefehl ohne Verschulden nicht rechtzeitig Kenntnis erlangt und ihm deshalb Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Einspruchsfrist zu gewähren sei, als Antrag nach § 33a StPO behandeln müssen, weil hier allenfalls auf dem Weg über § 33a StPO, grundsätzlich nicht aber über eine bloße Gegenvorstellung (vgl. insoweit Verfassungsgericht LVerfGE 13

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des Landes Brandenburg, Beschl. v. 17.12.1998 - VfGBbg 40/98 LVerfGE 9, 145, 148), eine Abänderung der das Wiedereinsetzungsgesuch betreffenden Entscheidung in Betracht kam und deshalb nach dem Auslegungsgrundsatz der größtmöglichen Erfolgsaussicht zu verfahren gewesen wäre. Tatsächlich hat sich denn auch das LG ausweislich des darüber aufgenommenen Aktenvermerks nochmals mit der Wiedereinsetzungsfrage beschäftigt. Den Beschwerdeführer unter diesen Umständen darauf zu verweisen, daß er sich ein weiteres Mal mit einem (nunmehr) ausdrücklich auf § 33a StPO Bezug nehmenden Antrag an das LG hätte wenden müssen, wäre Förmelei. Soweit das LG, sei es auch ohne hinreichende „Verarbeitung" der hier zugrundeliegenden Situation, nicht abgeholfen hat, ist dies — und wäre dies auch in dem Verfahren nach § 33a StPO (s. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschl. v. 17.2.2000 - VfGBbg 39/99 - , LVerfGE Suppl. Bbg. zu Bd. 11, 45, 48 f) — nicht seinerseits nochmals anfechtbar, weil dies auf eine nach dem Gesetz gerade nicht eröffnete weitere Beschwerde hinauslaufen würde. 2. Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht auch nicht entgegen, daß die Verletzung von Landesgrundrechten im Rahmen eines bundesrechtlich — hier: durch die Strafprozeßordnung — geordneten Verfahrens gerügt wird. Die insoweit erforderlichen Voraussetzungen (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg in std. Rspr. seit Beschl. v. 16.4.1998 - VfGBbg 1/98 - , LVerfGE 8, 82, 84 f unter Bezugnahme auf BVerfGE 96, 345, 371 ff; letztmalig Beschl. v. 14.2.2002 — VfGBbg 65/01 - ) sind hier gegeben: Ein Bundesgericht war nicht befaßt. Eine Rechtsschutzalternative zu der Verfassungsbeschwerde steht, wie ausgeführt, nicht mehr zur Verfügung. Die als verletzt in Betracht kommenden landesverfassungsrechtlich verbürgten Rechte auf rechtliches Gehör und auf ein faires Verfahren vor Gericht sind inhaltsgleich mit den entsprechenden grundrechtsgleichen Rechten des Grundgesetzes (Art. 103 Abs. 1 GG, Art. 20 Abs. 3 GG). II. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Der Beschluß des LG vom 18.12.2001 verletzt den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 52 Abs. 3 LV) einerseits und auf ein faires Verfahren vor Gericht (Art. 52 Abs. 4 S. 1 LV) andererseits. 1. a) Bei der Anwendung und Auslegung der Wiedereinsetzungsvorschriften - hier: § 44 StPO — dürfen unter dem Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs gerade auch in einem Fall, in dem — wie vorliegend — die Einspruchsfrist gegen einen Strafbefehl versäumt worden ist, die Anforderungen an die Wiedereinsetzungsvoraussetzungen nicht überspannt werden, weil es sich bei dem Einspruch gegen einen Strafbefehl um den „ersten Zugang zum Gericht" in dem Sinne handelt, daß erst auf diesem Wege die Möglichkeit besteht, sich überhaupt vor dem Richter Gehör zu verschaffen (std. Rspr. seit BVerfGE 25, 158, 166; letztmalig LVerfGE 13

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BVerfGE 67, 208, 212 f; insbes. BVerfG NJW 1991, 351; NJW 1994, 1856). Von daher wird die Entscheidung des LG vom 18.12.2001 dem Inhalt und der Tragweite des Anspruchs auf rechtliches Gehör nicht hinreichend gerecht: aa) Ein die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nahelegender Grund ergibt sich gegebenenfalls allein schon daraus, daß sich der Beschwerdeführer zur Zeit der Zustellung des Strafbefehls im Ausland befand. Davon ist jedenfalls das AG ausgegangen, indem es sich auf den Standpunkt gestellt hat, daß der Beschwerdeführer dafür hätte Sorge tragen müssen, „daß ihn seine Post auch während seines Auslandsaufenthalts erreicht". Auch das LG hat dies jedenfalls nicht ausgeschlossen, indem es dem Beschwerdeführer entgegengehalten hat, er habe „weder konkret vorgetragen, in welchem Zeitpunkt er im Ausland geweilt" habe, noch „derartige Tatsachen glaubhaft gemacht". Das Bundesverfassungsgericht geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, daß urlaubsbedingte Abwesenheit — jedenfalls für eine Dauer von bis zu sechs Wochen — im allgemeinen keine Vorkehrungen erfordert, durch Niederlegung bei der Post zugestellte Schriftsätze abzuholen (vgl. BVerfGE 40, 88, 91 f; 41, 332, 335 ff). Selbst nach einer polizeilichen Vernehmung kann der Bürger damit rechnen, daß er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erhält, sofern ihm während seiner Urlaubsabwesenheit ein Strafbefehl durch Niederlegung bei der Post zugestellt wird und er deshalb die Einspruchsfrist versäumt (vgl. - für einen Bußgeldbescheid - BVerfGE 34,154,156 f). Soweit das LG das Vorbringen des Beschwerdeführers, zum Zeitpunkt der Niederlegung des Strafbefehls in Urlaub gewesen zu sein, für zu unsubstantiiert erachtet und eine Glaubhaftmachung „derartiger Tatsachen" vermißt hat, wäre es, bevor es die sofortige Beschwerde mit dieser Begründung zurückwies, mit Blick auf Tragweite und Stellenwert des Anspruchs auf rechtliches Gehör von Verfassungs wegen gehalten gewesen, dem Beschwerdeführer einen entsprechenden Hinweis und damit Gelegenheit zu geben, seine Angaben — in (zulässiger) Ergänzung seines Wiedereinsetzungsvorbringens - zu konkretisieren und glaubhaft zu machen. Dies gilt um so mehr, als das AG von der Urlaubsabwesenheit zum Zeitpunkt der Zustellung des Strafbefehls, wohl aufgrund der dahingehenden Mitteilung des Verfahrensbevollmächtigten, ausgegangen war und der Beschwerdeführer deshalb nicht damit zu rechnen brauchte, daß das LG ohne entsprechenden Hinweis in diesem Punkte strenger sein würde. bb) Auch die weitere Begründung des LG, der Verteidiger hätte die niedergelegte Sendung abholen können, wird der Bedeutung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nicht gerecht. Dabei kann offenbleiben, ob die Vollmacht des Verfahrensbevollmächtigten die Abholung der Post erlaubt hätte. Denn jedenfalls ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, der sich das erkennende Gericht anschließt, dem Beschuldigten in Wiedereinsetzungsfällen ein Versäumnis seines Verteidigers nicht zuzurechnen (vgl. BVerfGE 60, 253, 299 f; BVerfG NJW 1991, 351; 1994,1856). LVerfGE 13

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cc) Ergänzend verdient Berücksichtigung, daß der Verfahrensbevollmächtigte sich bereits mit Schriftsatz v. 6.3.2001 und damit noch innerhalb der am 14.3.2001 ablaufenden Einspruchsfrist unter Vorlage einer auf den 2.10.2001 datierten Vollmacht an das AG gewandt und um Übermittlung des niedergelegten Schriftstücks gebeten hatte, woraufhin die Richterin noch am 9.3.2001 die Übersendung einer Abschrift des Strafbefehls verfügt hat, welche allerdings erst unter dem 15.3.2001 bzw. 16.3.2001 bewirkt worden ist. Von daher war auch der Gerichtsbetrieb daran beteiligt, daß der Strafbefehl den Verfahrensbevollmächtigten nicht noch vor Ablauf der Einspruchsfrist erreicht hat. dd) Nicht zuletzt war durch die Aufspaltung in zwei Ermittlungs- und (infolgedessen) Strafverfahren aus der Sicht des Beschuldigten eine unübersichtliche Situation entstanden. Die getrennte Verfolgung von Körperverletzung und versuchtem schweren Diebstahl einerseits und unmittelbar vorangegangener Trunkenheitsfahrt andererseits war aus der Sicht des Beschuldigten verwirrend. Er hat in der Strafsache ..., die ihm offenbar — möglicherweise wegen der dabei entstandenen Fremdschädigung (Körperverletzung, Diebstahlsversuch, Sachbeschädigung) im Vordergrund zu stehen schien, durch Bestellung und Bevollmächtigung eines Rechtsanwalts dafür Sorge getragen, daß ihm auch bei Ortsabwesenheit kein Rechtsnachteil entstehen konnte (vgl. auch § 145a Abs. 3 StPO), und er mag die Vorstellung gehabt haben, daß von Seiten der Justiz entweder die Trunkenheitsfahrt „unter den Tisch gefallen" oder daß auf Seiten der Justiz der Zusammenhang mit dem Verfahren wegen Körperverletzung pp. gegenwärtig sei und man sich deshalb gegebenenfalls an seinen Verteidiger wenden werde. Jedenfalls stellt sich die durch die — für einen juristischen Laien künstliche — Aufspaltung in zwei Ermittlungs- und Strafverfahren entstandene unübersichtliche Verfahrenssituation unter dem Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs als weiterer Umstand dar, der dem Beschwerdeführer bei der Frage zugute zu halten ist, ob er — im Sinne des Wiedereinsetzungsrechts (§ 44 StPO) - „ohne Verschulden verhindert" war, die Einspruchsfrist einzuhalten. b) Die Entscheidung des LG v. 18.12.2001 beruht auf der Nichtberücksichtigung der vorstehend dargelegten, jeweils unter dem Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs für die Wiedereinsetzungsentscheidung von Verfassungs wegen Beachtung verdienender Gesichtspunkte. Es liegt nahe und ist jedenfalls nicht auszuschließen, daß das LG bei Einbeziehung dieser Gesichtspunkte zu einer die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährenden Entscheidung gelangt wäre. 2. Aus den zu 1. ausgeführten Gründen ist auch der Anspruch des Beschwerdeführers auf ein faires Verfahren vor Gericht (Art. 52 Abs. 4 S. 1 LV) verletzt. Es erscheint unfair, eine durch die Arbeitsweise der Strafverfolgungsbehörden und Gerichte entstandene, unklare Verfahrenssituation in der Weise zu Lasten des Beschuldigten gehen zu lassen, daß gegen eine damit zusammenhängende Versäumung einer Einspruchsfrist keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt LVerfGE 13

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wird. Mindestens ist dieser Gesichtspunkt bei der Wiedereinsetzungsentscheidung miteinzubeziehen. Da dies hier unterblieben ist, kann die Entscheidung des LG v. 18.12.2001 auch unter diesem Gesichtspunkt keinen Bestand haben. III. Gem. § 50 Abs. 3 VerfGGBbg ist der angegriffene Beschluß des LG aufzuheben und das Verfahren an das LG zurückzuverweisen. C. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers beruht auf § 32 Abs. 7 S. 1 VerfGGBbg.

Nr. 7* 1. Zur Frage der Anfechtbarkeit einer den Status von Ortsteilen betreffenden gesetzlichen Regelung durch eine hiervon bisher nicht betroffene Gemeinde. 2. Eine Veränderung der Amtszuordnung als solche berührt nicht das Recht einer amtsangehörigen Gemeinde auf kommunale Selbstverwaltung nach Art. 97 LV. 3. Die gesetzliche Regelung, nach der amtsangehörige Gemeinden „regelmäßig" nicht weniger als 500 Einwohner haben „sollen", ist mit der Landesverfassung vereinbar. Eine Gemeinde darf jedoch nicht in bloß quantifizierender Betrachtungsweise und ohne Berücksichtigung von Besonderheiten allein wegen des Unterschreitens dieser Einwohnerzahl aufgelöst werden. Bei Abwägen aller Kriterien müssen ggf. die Einwohnerzahlen zurückstehen, wenn die Würdigung des Einzelfalles eine vertretbare Lösung mit geringerer Einwohnerzahl zuläßt. Läßt sich eine kleine Gemeinde zwanglos in ein weiterbestehendes Amt einfügen, muß dies mit besonderem Gewicht in die Abwägungsentscheidung einfließen. 4. Die Förderung freiwilliger kommunaler Zusammenschlüsse durch einmalige Sonderzuweisung bestimmter Beträge je Einwohner verstößt nicht gegen das interkommunale Gleichbehandlungsgebot.

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Abdruck auch in: L K V 2002, 573; NJ 2002, 642.

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Verfassungsgericht des Landes Brandenburg Verfassung des Landes Brandenburg Art. 97 Abs. 1; 98 Abs. 1 und 2 Gemeindeordnung für das Land Brandenburg § 54 d Amtsordnung für das Land Brandenburg § 3 Abs. 1 Gemeindefinanzierungsgesetz 2001 § 26

Urteil vom 29. August 2002 - V f G B b g 34/01 in dem kommunalen Verfassungsbeschwerdeverfahren der Gemeinde Kreuzbruch, vertreten durch den Bürgermeister und durch das Amt Liebenwalde, dieses vertreten durch den Amtsdirektor, betreffend Artikel 1 Nr. 10, Artikel 2 Nr. 1 lit. d, Nr. 3 lit. a und Nr. 4 des Gesetzes zur Reform der Gemeindestruktur und zur Stärkung der Verwaltungskraft der Gemeinden im Land Brandenburg vom 13.3.2001 (GVB1. I S. 30) sowie § 26 des Gesetzes zur Regelung der Zuweisungen des Landes Brandenburg an die Gemeinden und Landkreise im Haushaltsjahr 2001 vom 19. Dezember 2000 (GVB1.1 S. 166). Entscheidungsformel: 1. Soweit die Beschwerdeführerin die kommunale Verfassungsbeschwerde für in der Hauptsache erledigt erklärt hat, wird das Verfahren eingestellt. 2. Im übrigen wird die kommunale Verfassungsbeschwerde teils als unzulässig verworfen, teils als unbegründet — hierbei zu § 3 Abs. 1 S. 2 AmtsO nach Maßgabe der Entscheidungsgründe — zurückgewiesen. Gründe: A. I. Die kommunale Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen Bestimmungen des Gesetzes zur Reform der Gemeindestruktur und zur Stärkung der Verwaltungskraft der Gemeinden im Land Brandenburg vom 13.3.2001 (GVB1. I S. 30; im folgenden: Gemeindestrukturgesetz) sowie gegen eine Vorschrift des Gesetzes zur Regelung der Zuweisungen des Landes Brandenburg an die Gemeinden und Landkreise im Haushaltsjahr 2001 vom 19.12.2000 (Gemeindefinanzierungsgesetz 2001 - GFG 2001 GVB1 I S. 166). Im einzelnen regeln diese Vorschriften die Aufhebung oder Änderung von Ortsteilen, die Möglichkeit, bestehende Ämter wieder zu ändern, die Beschränkung von Ämtern auf grundsätzlich höchstens sechs Gemeinden, eine Regel-Mindesteinwohnerzahl von 500 Einwohnern für

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amtsangehörige Gemeinden sowie die finanzielle Förderung freiwilliger Gemeindezusammenschlüsse im Land Brandenburg. 1. Durch das Gemeindestrukturgesetz sind die Voraussetzungen für die Aufhebung oder Änderung von Ortsteilen vereinheitlicht und ergänzt worden, indem durch Art. 1 Nr. 10 des Gesetzes ein neuer § 54d in die Gemeindeordnung eingefugt wurde. Die Vorschrift lautet: §54d Aufhebung oder Änderung der Ortsteile; Änderung sonstiger ortsteilbezogener Bestimmungen Ortsteile können durch Änderung der Hauptsatzung aufgehoben oder in ihrem Gebiet geändert werden. Die Aufhebung des Ortsteils bedarf der Mehrheit von zwei Dritteln der gesetzlichen Anzahl der Mitglieder der Gemeindevertretung sowie der Zustimmung des Ortsbeirates des aufzuhebenden Ortsteils. Die Hauptsatzung kann bestimmen, daß an Stelle der Zustimmung des Ortsbeirates ein Bürgerentscheid in dem Ortsteil durchzuführen ist. Die Änderung des Ortsteils und die Änderung sonstiger ortsteilbezogener Bestimmungen in der Hauptsatzung bedürfen der Mehrheit von zwei Dritteln der gesetzlichen Anzahl der Mitglieder der Gemeindevertretung sowie der Anhörung des Ortsbeirates.

Damit wurden die erhöhten Anforderungen, die bisher nur für Ortsteile galten, die durch Gebietsänderungsvertrag oder durch Bestimmung der Kommunalaufsichtsbehörde aus Anlaß einer Gebietsänderung eingeführt worden waren, auf alle Ortsteile erstreckt. 2. Weiter enthält das Gemeindestrukturgesetz Regelungen, nach denen Ämter leichter geändert werden können und fortan nicht mehr als sechs Gemeinden umfassen sollen. a) § 1 Abs. 6 der Amtsordnung Land Brandenburg (AmtsO) ist durch Artikel 2 Nr. 1 Buchstabe d) Gemeindestrukturgesetz neu gefaßt und durch S. 2 — nur insoweit wird die Neuregelung angegriffen - ergänzt worden: „(6) Kommen bei der Bildung, Änderung oder Auflösung von Ämtern gemeinwohlverträgliche Lösungen nach den Maßstäben dieses Gesetzes nicht zustande, kann das Ministerium des Innern die Bildung, Änderung oder Auflösung von Ämtern anordnen und dabei auch Gemeinden anderen Ämtern zuordnen. Das Ministerium des Innern kann auch eine Änderung oder Auflösung der nach Satz 1 zustande gekommenen Ämter anordnen, wenn die beabsichtigte Neuregelung aus Gründen des Gemeinwohls erforderlich ist. Vor der Entscheidung des Ministeriums des Innern sind die Gemeinden, das Amt und der Landkreis zu hören."

b) Während nach § 3 Abs. 1 AmtsO a.F. keine gesetzliche Regelung über die Mindest- oder Höchstzahl von Gemeinden eines Amtes bestand und die Vorschrift lediglich eine Regel-Mindestgröße von 5000 Einwohnern pro Amt vorsah,

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wurde durch Art. 2 Nr. 3a Gemeindestrukturgesetz § 3 Abs. 1 S. 1 AmtsO wie folgt ergänzt: §3 Abgrenzung der Ämter (1) Jedes Amt soll nicht weniger als 5000 Einwohner haben und nicht weniger als drei und nicht mehr als sechs Gemeinden umfassen. ... 3. Durch das Gemeindestrukturgesetz ist erstmalig eine Regel-Mindestgröße für amtsangehörige Gemeinden bestimmt worden, indem Art. 2 Nr. 3a des Gemeindestrukturgesetzes § 3 Abs. 1 AmtsO um einen zweiten Satz wie folgt ergänzt: §3 Abgrenzung der Ämter (1) ... Amtsangehörige Gemeinden sollen regelmäßig nicht weniger als 500 Einwohner haben. 4. Mit Art. 2 Nr. 4 des Gemeindestrukturgesetzes wurde durch die Einfügung von § 5 Abs. 4 AmtsO die Zuständigkeit für die Flächennutzungsplanung amtsangehöriger Gemeinden auf die Ämter übertragen. Diese Regelung ist inzwischen durch das erkennende Gericht durch Urteil v. 21.3.2002 - VfGBbg 19/01 für nichtig erklärt worden (GVB1.1, 30). 5. Das GFG 2001 stellt gem. § 26 GFG 2001 für Gemeindezusammenschlüsse Zuweisungen zur Verfügung wie folgt: §26 Zuweisungen bei Gebietsänderungen (1) Zur Verbesserung der gemeindlichen Verwaltungs- und Leistungskraft sowie zum Ausgleich für die mit der Neugliederung verbundenen Aufwendungen wird für die im Jahre 2001 durchgeführten Zusammenschlüsse nach § 9 Abs. 3 der Gemeindeordnung eine einmalige Zuweisung aus Mitteln der Verbundmasse nach Maßgabe der Absätze 2 bis 5 gewährt. Die Zuweisung wird nach Ablauf des Jahres gewährt, in dem der Zusammenschluß in Kraft tritt. (2) Schließen sich alle Gemeinden eines Amtes zu einer amts freien Gemeinde zusammen, beträgt die Zuweisung 300 Deutsche Mark je Einwohner. (3) Bei Eingliederungen in eine amts freie Gemeinde oder Stadt beträgt die Zuweisung 200 Deutsche Mark für jeden Einwohner der aufnehmenden Gemeinde oder Stadt. Die Zuweisung an die aufnehmende Gemeinde wird nur für eine Eingliederung gewährt.

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(4) Schließen sich innerhalb eines Amtes Gemeinden zu einer Gemeinde mit mindestens 500 Einwohnern zusammen, erhält die Gemeinde eine Zuweisung von 200 Deutschen Mark je Einwohner der beteiligten Gemeinden; sofern beteiligte Gemeinden bereits mehr als 500 Einwohner in den Zusammenschluß einbringen, werden diese bis zu einer Höhe von 1500 Einwohnern je Gemeinde angerechnet. (5) Der Höchstbetrag im Einzelfall beträgt 5 000 000 Deutsche Mark. Die maßgebliche Einwohnerzahl gem. den Absätzen 2 bis 4 wird um die Zahl der Einwohner gemindert, für die bereits nach den Gemeindefinanzierungsgesetzen 1997 bis 2000 eine Zuweisung für Gebietsänderungen gewährt wurde. Das GFG 2001 ist am 1.1.2001, das Gemeindestrukturgesetz gem. Art. 6 am Tage nach der Verkündung, d.h. am 16.3.2001, in Kraft getreten. II. Die Beschwerdeführerin ist amtsangehörige Gemeinde mit knapp unter 200 Einwohnern und gehört dem Amt Liebenwalde (Landkreis Oberhavel) an. Die anderen amtsangehörigen Gemeinden des Amtes Liebenwalde haben eine Gemeindeneugliederung durch Zusammenschluß vereinbart, die bereits durch das Ministerium des Inneren genehmigt ist (Amtsblatt für Brandenburg 2002, 227). Ein seit Anfang Mai vorliegender Neugliederungsvorschlag des Ministerium des Inneren sieht vor, daß die Beschwerdeführerin und die dem Nachbaramt OranienburgLand angehörende Gemeinde Freienhagen in die dann amtsfreie Stadt Liebenwalde eingegliedert werden. Die Beschwerdeführerin hat am 1.10.2001 durch den ehrenamtlichen Bürgermeister kommunale Verfassungsbeschwerde erhoben. Der Amtsdirektor des Amtes Liebenwalde hat unter dem 18.6.2002 vorsorglich für den Fall, daß im Hinblick auf einzelne Verfahrensgegenstände eine Vertretungsberechtigung des ehrenamtlichen Bürgermeisters nicht bestehen sollte, unter Eintritt in das Verfahren insoweit die Verfahrenshandlungen der Beschwerdeführerin genehmigt. Die Beschwerdeführerin sieht sich in ihrem Selbstverwaltungsrecht nach Art. 97 Verfassung des Landes Brandenburg (LV), in der Bestandsgarantie nach Art. 98 LV sowie in Art. 99 S. 2 und 3 LV verletzt. Sie fühlt sich durch die angegriffenen Vorschriften insgesamt beschwert. Zwar entfalte § 3 Abs. 1 AmtsO n.F. erst bei einem gesetzlichen Zusammenschluß der Beschwerdeführerin mit anderen Gemeinden unmittelbar Rechtswirkung. Die Regelung betreffe aber bereits jetzt das Selbstverwaltungsrecht, weil sie sich als Richtschnur für das spätere Vorgehen des Landtages darstelle. Ebenso sei sie durch § 54d GO n.F. unmittelbar betroffen. Es sei ihr nicht zuzumuten mit rechtlichen Schritten zu warten, bis sie zu einem bloßen Ortsteil herabgestuft werde. Auch § 1 Abs. 6 S. 2 AmtsO n.F. sei mit der Selbstverwaltungsgarantie nicht zu vereinbaren. Die Verfassung gewährleiste mit dem Selbstverwaltungsrecht auch die Organisationshoheit, zu der auch die grundsätzliche Entscheidungsautonomie LVerfGE 13

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über das „ob" und „wie" einer Amtszugehörigkeit gehöre. Die Zuordnung einer Gemeinde zu einem Amt berühre deren Eigenständigkeit. Die Neuregelung verstoße gegen das speziell für kommunale Neugliederungen geltende Gebot der Leitbild- bzw. Systemgerechtigkeit. Wegen der Schutzwürdigkeit des Vertrauens der Bürger in die vorhandenen kommunalen Strukturen müsse der Gesetzgeber sicherstellen, daß die Entscheidung über die Neugliederung von Ämtern nach überprüfbaren sachlichen Gesichtspunkten erfolge. Die Möglichkeit nahezu voraussetzungs- und vorbehaltloser Rück-Neugliederungen setze die Gemeinden in verfassungsrechtlich nicht hinnehmbarer Weise der Gefahr eines „Hin und Her" (im Hinblick auf ihre Amtszugehörigkeit) aus. Durch § 3 Abs. 1 S. 1 AmtsO mit seinen „Richtgrößen" für Ämter habe der Gesetzgeber die Grenzen seines Gestaltungsspielraumes überschritten. Zwar verfüge der Gesetzgeber insoweit über Gestaltungsspielraum. Es sei aber widersprüchlich, wenn er an dem Amtsmodell festhalte, gleichzeitig aber die Zahl der Mitgliedsgemeinden im Amt auf sechs beschränke und Regelmindestgrößen für amtsangehörige Gemeinden vorgebe. Die Ämterverfassung ermögliche gerade das administrative Zusammenwirken vieler kleiner Gemeinden. Dies werde konterkariert, wenn es Soll-Obergrenzen der Gemeinden pro Amt und für die einzelnen amtsangehörigen Gemeinden eine Mindesteinwohnerzahl gebe. Die Vorgabe einer Soll-Obergrenze und einer Mindesteinwohnerzahl pro Gemeinde sei nur zu rechtfertigen, wenn ein aus vielen kleineren Gemeinden bestehendes Amt nicht funktionsfähig sei. Dies sei jedoch nicht allgemein der Fall. Aus der Sicht der Amtsverwaltung mache es keinen Unterschied, wie groß die einzelne Gemeinde sei. Mit Mindesteinwohnerzahlen und der Vorgabe von Höchstzahlen der Gemeinden pro Amt werde den kleinen Gemeinden eine bisherige Alternative selbstbestimmter Verwaltung genommen, ohne daß der Gesetzgeber mit der neuen Verfassung der Ortsteile, die nur unzureichend vor völliger Eliminierung geschützt seien, ein hinreichendes Äquivalent geschaffen habe. § 26 GFG 2001 kollidiere mit dem kommunalen Finanzausstattungsanspruch des Art. 99 S. 2 und 3 LV, welches — iVm dem rechtsstaatlichen Willkürverbot — ein interkommunales Gleichbehandlungsgebot einschließe. Für die finanzielle Benachteiligung der Beschwerdeführerin gegenüber neugliederungsbereiten Gemeinden gebe es keinen sachlichen Grund. Bei der Zuweisung von bestimmten Beträgen „pro Kopf' der neustrukturierten Gemeinden handele es sich nicht um eine aufgabenorientierte Förderung. Zugleich werde die Verbundmasse zu Lasten der kleinen Gemeinden, die ihre Eigenständigkeit zu bewahren gedächten, reduziert. Die Beschwerdeführerin beantragt festzustellen, daß Art. 1 Nr. 10 und Art. 2 Nr. 1 lit. d, Nr. 3 lit. a und Nr. 4 des Gesetzes zur Reform der Gemeindestruktur und zur Stärkung der Verwaltungskraft der Gemeinden im Land Brandenburg vom 13.3.2000 (GVB1.1 S. 30) sowie

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§ 26 des Gesetzes zur Regelung der Zuweisungen des Landes Brandenburg an die Gemeinden und Landkreise im Haushaltsjahr 2001 vom 19. Dezember 2000 (GVB1.1 S. 166) mit der Verfassung des Landes Brandenburg unvereinbar und nichtig sind. III. Dem Landtag Brandenburg, der Landesregierung, dem Städte- und Gemeindebund Brandenburg und dem Gemeindetag Brandenburg ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden. Nach Ansicht der Landesregierung ist die kommunale Verfassungsbeschwerde bereits unzulässig. Die Beschwerdeführerin sei nur im Hinblick auf § 5 Abs. 4 AmtsO beschwerdebefugt. Dieser Verfahrensgegenstand sei jedoch zwischenzeitlich durch die § 5 Abs. 4 AmtsO für nichtig erklärende Entscheidving des erkennenden Gerichtes v. 21.3.2002 - VfGBbg 19/01 - entfallen. Zu § 54d GO fehle es an der Beschwerdebefugnis, weil diese Regelung voraussetze, daß aus einer ehedem selbständigen Gemeinde überhaupt ein Ortsteil gebildet worden sei. Ob die Beschwerdeführerin je Ortsteil werde, sei jedoch offen. Allgemein sei die Beschwerdeführerin auch deshalb nicht unmittelbar betroffen, weil es erst noch eines Vollzugsgesetzes bedürfe, das seinerseits Gegenstand einer kommunalen Verfassungsbeschwerde sein könne. Da es gegen den Willen der Beschwerdeführerin zu einer Eingemeindung nur durch Gesetz kommen könne, müsse die Beschwerdeführerin gegebenenfalls hiergegen kommunale Verfassungsbeschwerde erheben. Im Zuge der verfassungsgerichtlichen Überprüfung des Neugliederungsgesetzes könnten auch die einem solchen Gesetz zugrundeliegenden Leitlinien einer inzidenten verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterzogen werden. Auch soweit die Beschwerdeführerin § 3 Abs. 1 S. 1 AmtsO angreife, sei sie nicht gegenwärtig betroffen. Es sei völlig offen, ob sie jemals vom Regelungsgehalt dieser Norm erfaßt werde. Durch die Bildung der neuen Stadt Liebenwalde unter Einschluß der anderen Gemeinden des Amtes mit Wirkung vom Tag der nächsten regelmäßigen landesweiten Kommunalwahl entstehe ein Amt mit zwei Gemeinden, so daß die Soll-Obergrenze die Beschwerdeführerin nicht betreffen werde. Auch im Hinblick auf § 26 GFG 2001 sei die Beschwerde mangels Beschwerdebefugnis unzulässig. Es fehle an einem hinreichend substantiierten Vortrag der Beschwerdeführerin dahingehend, daß sie infolge der angefochtenen Regelung ihre Selbstverwaltungsaufgaben schlechterdings nicht mehr erfüllen könne. Im übrigen sei die Verfassungsbeschwerde jedenfalls unbegründet. Die in § 3 Abs. 1 S. 2 AmtsO festgelegte Regelmindestgröße amtsangehöriger Gemeinden sei mit Art. 97 Abs. 1 und Art. 98 Abs. 1 LV vereinbar. Die für den Regelfall geltende Mindesteinwohnerzahl amtsangehöriger Gemeinden sei weder unverhältnismäßig noch willkürlich. Kommunale Selbstverwaltung erfordere ein Mindestmaß an Leistungsfähigkeit der jeweiligen Körperschaft. Leistungsschwache GeLVerfGE 13

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meinden entsprächen nicht dem verfassungsrechtlichen Leitbild der kommunalen Selbstverwaltung, weil die Gemeinde dann kein ernstzunehmendes Gegengewicht zur staatlichen Verwaltung mehr bilde. Die Bewertung des Gesetzgebers, daß Gemeinden mit weniger als 500 Einwohnern in der Regel nicht in dem erforderlichen Maße zu einer hinreichend kraftvollen Betätigung der gemeindlichen Selbstverwaltung in der Lage seien, ergebe sich aus der Finanzsituation solcher Gemeinden, die ihnen nur beschränkte Möglichkeiten der Aufgabenwahrnehmung und nur enge Entscheidungsspielräume belasse. In der Regel sei die Finanzsituation kleiner Gemeinden in der hier angesprochenen Größenordnung (weniger als 500 Einwohner) durch schwache eigene Steuerertragskraft, hohe Belastung mit Umlageverpflichtungen und geringe Investitionsmöglichkeiten gekennzeichnet. Aus der Schwäche eigener Steuereinnahmen erwachse ein höherer Bedarf an Schlüsselzuweisungen, der zu Lasten der anderen Gemeinden des Landes gehe. In Gemeinden mit weniger als 500 Einwohnern sei der Anteil der Mittel, die durch Umlageverpflichtungen (Amts- und Kreisumlage) gebunden seien, überproportional hoch. Gemeinden in dieser Größenordnung verbleibe kaum Finanzvolumen für Investitionsleistungen. Typische gemeindliche Investitionen wie etwa der Neubau einer Kindertagesstätte oder der Ausbau einer Gemeindestraße seien für solche Gemeinden nahezu nicht finanzierbar. Mit der Einführung einer Mindesteinwohnerzahl stärke der Gesetzgeber die gemeindliche Selbstverwaltung, indem er im äußeren Entwicklungsraum des Landes die zwangsweise Schaffung großflächiger Einheitsgemeinden vermeide und die Beibehaltung der Amtsverfassung im dünnbesiedelten Raum ermögliche. Durch die Regelung werde das bürgerschaftliche Engagement nicht unangemessen beeinträchtigt. Bei Gemeinden bis zu 500 Einwohnern mangele es ohnehin vielfach an Bewerbern für die Gemeindevertretung oder das Bürgermeisteramt. Mit der Befugnis zur Auflösung oder Änderung der Ämter greife der Gesetzgeber zwar in die gemeindliche Organisationshoheit ein. Hier gelte aber der Vorbehalt gesetzlicher Ausgestaltung. Deren Grenzen seien nicht überschritten. Die Möglichkeit, den Zuschnitt eines Amtes zu ändern oder ein Amt aufzulösen, betreffe nur einen Teil- und Randbereich der gemeindlichen Kooperationshoheit. B. I. Nachdem die Beschwerdeführerin die Verfassungsbeschwerde zu Art. 2 Nr. 4 Gemeindestrukturgesetz in der Hauptsache für erledigt erklärt hat, ist das Verfahren insoweit entsprechend § 13 Abs. 1 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg (VerfGGBbg), § 92 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsordnung einzustellen. II. Die kommunale Verfassungsbeschwerde ist nur teilweise zulässig. LVerfGE 13

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1. Die Beschwerdeführerin ist ordnungsgemäß vertreten. Dies gilt hier unbeschadet dessen, daß die Kommunalverfassungsbeschwerde zunächst von dem ehrenamtlichen Bürgermeister eingelegt worden ist, amtsangehörige Gemeinden aber zufolge § 4 Abs. 3 HS. 1 iVm § 9 Abs. 4 S. 1 AmtsO grundsätzlich durch das Amt bzw. den Amtsdirektor und nur im Falle eines Interessenwiderstreites zwischen Gemeinde und Amt nach dem Rechtsgedanken des § 4 Abs. 3 HS. 2 AmtsO durch ihren Bürgermeister vertreten werden (LVerfGE 2, 214, 218 f; 7, 74, 83 f). Insoweit bedarf es hier keiner differenzierenden Prüfung, nachdem der Amtsdirektor vorsorglich die Einlegung der kommunalen Verfassungsbeschwerde genehmigt hat und in das Verfahren eingetreten ist, wodurch ein etwaiger Mangel in der Vertretung jedenfalls geheilt wäre (vgl. zur Heilung bei Klageerhebung durch vollmachtlosen Vertreter: Lindacher in: MünchKomm ZPO, § 51 Rn. 39). Die Genehmigung bzw. Übernahme des Verfahrens wirkt dabei auf den Zeitpunkt der Klageerhebung zurück (Bier in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO § 62 Rn. 22). 2. Die am 1. Oktober 2001 eingegangene kommunale Verfassungsbeschwerde wahrt die einjährige Beschwerdefrist (s. § 51 Abs. 2 VerfGGBbg). Das GFG 2001 ist am 1.1.2001, das Gemeindestrukturgesetz gem. Art. 6 am Tage nach der Verkündung, d.h. am 16.3.2001, in Kraft getreten. 3. Die Beschwerdeführerin ist indes nicht durch alle angegriffenen Regelungen bereits selbst oder unmittelbar betroffen, so daß die kommunale Verfassungsbeschwerde unter diesem Gesichtspunkt teilweise unzulässig ist. a) Gem. Art. 100 LV, § 51 VerfGGBbg können Gemeinden Verfassungsbeschwerde mit der Behauptung erheben, daß ein Gesetz des Landes ihr Recht auf Selbstverwaltung nach der Verfassung verletzt. Dies bedeutet, daß die beschwerdeführende Gemeinde von den Rechtswirkungen der angefochtenen Regelung selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen sein muß. b) Eine eigene und unmittelbare Betroffenheit der Beschwerdeführerin ist bei der Mehrzahl der von ihr angegriffenen Regelungen nicht zu erkennen. aa) Ungeachtet der Frage, ob und inwieweit die angegriffene Regelung des § 54d GO gegenüber der früheren Rechtslage überhaupt eine Schlechterstellung von Ortsteilen bewirkt, betrifft die Ortsteilregelung in § 54d GO die Beschwerdeführerin jedenfalls nicht unmittelbar. Ob die Beschwerdeführerin zu einem Ortsteil wird, ist noch nicht geregelt. Die Beschwerdeführerin selbst macht lediglich geltend, daß für die Verhältnismäßigkeit einer Eingemeindung ihr „Weiterleben" als Ortsteil von Bedeutung sei. Insoweit bleibt jedoch die gesetzgeberische Auflösungsentscheidung abzuwarten, wie sie gem. Art. 98 Abs. 2 S. 3 LV erforderlich ist und den Voraussetzungen des Art. 98 Abs. 1 LV genügen, d.h. durch Gründe des öffentlichen Wohls gerechtfertigt sein muß. Erst wenn es zu einem Eingemeindungsgesetz kommt, das einen LVerfGE 13

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Ortsteil „Kreuzbruch" vorsieht, ist Raum für eine Überprüfung unter Einbeziehung der Regelung des § 54d GO: Ein derartiges Eingemeindungsgesetz würde ggf. der verfassungsgerichtlichen Uberprüfung unterfallen. Im Rahmen dieser Uberprüfung wäre vor dem Hintergrund der Regelung des § 54d GO auch der Frage nach Status und Wertigkeit des Ortsteils nachzugehen. bb) Bezogen auf § 1 Abs. 6 S. 2 AmtsO ist die Beschwerdeführerin nicht beschwerdebefugt. Durch die erleichterte Möglichkeit einer nachträglichen Änderung von Amtern durch das Innenministerium ist die Beschwerdeführerin nicht in eigenen Rechten betroffen. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Gerichtes gehört bei einer amtsangehörigen Gemeinde zur gemeindlichen Organisationshoheit grundsätzlich auch die Erledigung der Verwaltungsaufgaben durch das Amt (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschl. v. 16.5.2002 - VfGBbg 40/01 - , „Lühsd o r f , S. 6 des Entscheidungsausdruckes). Dies schließt die Befugnis der Gemeinde ein, in Ausübung der Organisationshoheit eigenverantwortlich zu entscheiden, ob eine bestimmte Aufgabe selbst oder im Verbund mit anderen Gemeinden wahrgenommen wird (Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 20.1.2000 - VfGBbg 53/98 und 3/99 LVerfGE Suppl. Bbg. zu Bd. 11, 3, 20). Bei einer amtsangehörigen Gemeinde steht jedoch mit der erstmaligen Bildung des Amtes fest, daß die Verwaltung nicht selbst, sondern durch das Amt wahrzunehmen ist. Das Amt selbst kommt dabei nicht durch Vereinbarung der beteiligten Gemeinden zustande, sondern konstitutiv durch staatlichen Hoheitsakt gem. § 6 der Verordnung über das Verfahren bei der erstmaligen Bildung sowie bei der Änderung und bei der Auflösung von Ämtern im Land Brandenburg v. 13.1.1992 (GVB1. S.22) mit der Veröffentlichung der Zustimmung des Ministers des Inneren oder die Anordnung des Ministers über die Amtsbildung im Amtsblatt für Brandenburg (vgl. VG Cottbus, Beschl. v. 7.4.2000 - 4 L 158/00 -). Gleichzeitig ist das Amt — unabhängig von seinem Zuschnitt — an die Beschlüsse der Gemeinden gebunden und führt sie für diese aus (vgl. Buchheister LKV 2000, 325, 326). Von daher berührt eine Veränderung der Amtszuordnung das Recht einer amtsangehörigen Gemeinde auf kommunale Selbstverwaltung nach Art. 97 LV nicht. Wie das erkennende Gericht bereits in anderem Zusammenhang ausgeführt hat, kann eine amtsangehörende Gemeinde lediglich beanspruchen, daß ihr überhaupt eine Amtsverwaltung, nicht aber, daß sie in der bisherigen Form zur Verfügung steht (s. Beschl. v. 16.5.2002 - VfGBbg 40/01 - , aaO). Ebenso wie die Selbstverwaltungsgarantie nicht die Zuordnung einer Gemeinde zu einem bestimmten Kreis (ThürVerfGH, LVerfGE 5, 331; VerfGH NW, NJW 1976, 2211; vgl. auch Löwer in: v.Münch/Kunig, GGK II, 5. Aufl., Rn. 66 zu Art. 28) oder zu einem bestimmten Regierungspräsidium (VerfGH NW, NJW 1976, 2211) verbürgt, ist deshalb grundsätzlich auch die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Amt nicht von Art. 97 LV umfaßt. LVerfGE 13

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Ob die gemeindliche Organisationshoheit durch die vom Gesetzgeber überdies geschaffene Möglichkeit, Ämter auch völlig aufzulösen, berührt ist — eine fortbestehende Gemeinde ist in diesem Falle gezwungen, eine Gemeindeverwaltung aufzubauen - , kann hier letztlich dahinstehen. Denn gegenwärtig steht derartiges in Bezug auf die Beschwerdeführerin nicht im Raum. cc) Ferner ist nicht ersichtlich, daß die Beschwerdeführerin durch die SollObergrenze von maximal sechs amtsangehörigen Gemeinden pro Amt (§ 3 Abs. 1 S. 1 a.E. AmtsO), auch in Verbindung mit der Regel-Mindestgröße von 5000 Einwohnern pro Amt, unmittelbar betroffen ist. Nach den örtlichen Gegebenheiten ist es ausgeschlossen, daß die Regelung in absehbarer Zukunft Rechtswirkungen zu Lasten der Beschwerdeführerin entfaltet. Bereits gegenwärtig besteht das Amt Liebenwalde nur aus fünf Gemeinden (Liebenwalde, Neuholland, Hammer, Liebenthal und der Beschwerdeführerin). Das Amt Liebenwalde würde angesichts des inzwischen genehmigten Zusammenschlusses der anderen Gemeinden des Amtes — wenn die Beschwerdeführerin fortbesteht — künftig aus zwei Gemeinden bestehen. Die Möglichkeit eines Zusammengehens mit Gemeinden anderer Ämter ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Die Beschwerdeführerin wird eher durch die Soll-Untergrenze („nicht weniger als drei Gemeinden") betroffen. Diese Regelung greift sie aber nicht an. Im übrigen würde auch hier gelten, daß die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Amt nicht von der Selbstverwaltungsgarantie umfaßt wird und der Anspruch der Beschwerdeführerin, als amtsangehörige Gemeinde auf eine Amtsverwaltung zurückgreifen zu können, unberührt bleibt. dd) Soweit die Beschwerdeführerin die für amtsangehörende Gemeinden in § 3 Abs. 1 S. 2 AmtsO bestimmte Regel-Mindestgröße („regelmäßig nicht weniger als 500 Einwohner") angreift, ist sie dagegen selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen. Zweifellos entfaltet diese Regelmindestgröße bereits unmittelbare rechtliche Wirkung im Hinblick auf die Genehmigung von Gebietsänderungsverträgen (s. § 9 Abs. 3 GO). Einen solchen Vertrag aber möchte die Beschwerdeführerin nicht abschließen. Zugleich wirkt die Regelung jedoch unmittelbar als ein gesetzgeberisches Kriterium für die Gemeindegebietsreform, welches auf die Beschwerdeführerin — die nur knapp 200 Einwohner zählt — zutrifft und damit ein Argument gegen ihre Fortexistenz als selbständige amtsangehörende Gemeinde begründet. Insoweit entspricht es der ständigen Rechtsprechung der Verfassungsgerichte, daß der Gesetzgeber bei der Umsetzung einer Gemeindegebietsreform das bisherige System — das im Land Brandenburg bisher Regel-Mindestgrößen für amtsangehörige Gemeinden nicht kennt — nicht ohne hinreichende Begründung verlassen darf (vgl. etwa BVerfG, Beschl. v. 27.11.1978 - 2 BvR 165/75 - , BVerfGE 50, 50, 51 „Raum Hannover"; SächsVerfGH, LKV 1995, 115, 116 ff; Thüringer VerfGH, Urt. v. 18.12.1996, LVerfGE 5, 391, 422; Bayrischer VerfGH, BayVBl. 1978, 497, 503; LVerfGE 13

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hinsichtlich Kreisgebietsreform bereits das erkennende Gericht, Urt. v. 14.7.1994 - VfGBbg 4/93 - LVerfGE 2, 125, 142 = LKV 1995, 37; vgl. auch Dreier in: ders., Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 1998, Art. 28 Rn. 122; Tettinger in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG II., -Art. 28 Rn. 233). Regelungen, die das System verändern, begründen für die hiervon betroffenen Kommunen die Beschwerdebefugnis. Anders als im Falle der Entscheidung des erkennenden Gerichtes zur gesetzlichen Abschaffung des sogenannten Amtsmodells 2 (Durchführung der Amtsaufgaben durch die Verwaltung einer über 5000 Einwohner großen, dem Amt angehörenden Gemeinde), welche die Fortexistenz der jeweiligen amtsangehörigen Gemeinden unberührt läßt (s. Beschl. v. 16.5.2002 - VfGBbg 40/01 aaO), hat sich der Gesetzgeber mit § 3 Abs. 1 S. 2 AmtsO — im Sinne eines Kriteriums der Gemeindestrukturreform — bereits dahingehend gebunden, daß amtsangehörige Gemeinden zukünftig „regelmäßig" nicht weniger als 500 Einwohner haben „sollen". Bei den Beratungen des Gemeindestrukturgesetzes ist deutlich geworden, daß diese Regelmindestgröße bei der weiteren Gemeindegebietsreform eine wichtige Rolle spielen werde. Der Abgeordnete Schippel führte etwa in der ersten Lesung des Gesetzentwurfes aus, daß die Änderung der Amtsordnung auch das Ziel verfolge, daß sich Gemeinden unter 500 Einwohnern zu Gemeinden über 500 Einwohnern zusammenschließen „sollen" (Plenarprotokoll 3/29 des Landtages Brandenburg, S. 1733). In der abschließenden Lesung des Gesetzes bekräftigte Innenminister Schönbohm, das Gemeindestrukturgesetz sei „Konzept" und „Kodifizierung" der geplanten Strukturreform, das Gesetz diene zugleich der Schaffung von Klarheit über die Ziele der Gemeindegebietsreform (Plenarprotokoll 3/31 vom 28. Februar 2001, S. 1903). Der Abgeordnete Schulze führte aus, daß mit dem Gesetz eine Regelung geschaffen werde, „nach der sich Gemeinden, die unter 500 Einwohner haben, zusammenschließen müssen. Wenn sie es nicht freiwillig tun, dann wird dies in wenigen Monaten und Jahren nachgeholt" (Plenarprotokoll 3/31 des Landtages Brandenburg v. 28.2.2001, S. 1906). Dementsprechend heißt es auch in den von der Landesregierung am 11.7.2000 beschlossenen und vom Landtag mit Entschließungen vom 20.9.2000 (LT-Drs. 3/1732-B) und v. 24.10.2001 (vgl. LT-Drs. 3-3457/B) gebilligten Leitlinien der Landesregierung, daß entsprechende Gemeinden keine Zukunft haben werden (vgl. LT-Drs. 31482: „Bei Gemeindezusammenschlüssen ist darauf hinzuwirken, daß amtsangehörige Gemeinden zukünftig nicht weniger als 500 Einwohner haben"). Der Beschwerdebefugnis in dieser Hinsicht steht auch nicht entgegen, daß es zur Auflösung der Beschwerdeführerin gem. Art. 98 Abs. 2 S. 3 LV noch eines gesonderten Gesetzes bedarf. Bereits zum jetzigen Zeitpunkt wird die Beschwerdeführerin durch die Regelung faktisch bedrängt, sich mit anderen Gemeinden zusammenzuschließen, damit die Mindesteinwohnergrenze überschritten wird. Gleichzeitig bewirkt die Regelung, daß andere Gemeinden einen Zusammenschluß nur mit solchen Gemeinden — und womöglich gerade nicht mit der Beschwerdeführerin — anstreben, mit denen zusammen die Regelmindestgröße LVerfGE 13

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erreicht wird. Weiter muß die Beschwerdeführerin damit rechnen, daß ihr in einem späteren Stadium der Gemeindegebietsreform ihre (deutlich) unter der Regelmindestgröße des § 3 Abs. 1 S. 2 AmtsO liegende Einwohnerzahl als Argument für ihre Auflösung vorgehalten wird. Angesichts alles dessen wirkt sich die Regelung bereits gegenwärtig und unmittelbar auf den kommunalpolitischen Bewegungsspielraum der Beschwerdeführerin und ihre Rechtsposition bei der anstehenden Gemeindeneugliederung aus. ee) Ebenso ist die Beschwerdeführerin beschwerdebefugt, soweit sie Art. 99 S. 2 und 3 LV durch § 26 GFG 2001 verletzt sieht. Verfassungsrechtlich verbürgt ist nicht nur das Recht auf eine angemessene Finanzausstattung. Vielmehr ergeben sich aus der Verfassung Anforderungen auch an das „Verteilungssystem" (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschl. v. 16.9.1999 — VfGBbg 28/98 - , LVerfGE 10, 237, 246). Aus Art. 99 S. 1 und 2 LV folgt in Verbindung mit dem Gleichheitssatz, der als Teil des Rechtsstaatsgebotes auch im Verhältnis der Gemeinden untereinander gilt (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschl. v. 16.9.1999 - VfGBbg 28/98 - , aaO sowie Urt. v. 20.1.2000 VfGBbg 53/98 und 3/99 LVerfGE Suppl. Bbg. zu Bd. 11, 3, 20 s. weiter BVerfGE 83, 363, 393; VerfGH NW, DVB1 1999, 391; DVB1. 1993, 1205; BayVerfGH, NVwZ-RR 1998, 604), das Verbot, bestimmte Gemeinden oder Gemeindeverbände sachwidrig zu benachteiligen oder zu bevorzugen. Es ist nicht von vornherein ausgeschlossen, daß die angegriffene Regelung unter diesem Gesichtspunkt mit der Landesverfassung nicht vereinbar ist. III. Soweit die Kommunalverfassungsbeschwerde zulässig ist, ist sie jedoch unbegründet. 1. Die Fesdegung einer Regelmindestgröße für amtsangehörige Gemeinden in § 3 Abs. 1 S. 2 AmtsO — als einem Richtwert für die Gemeindegebietsreform ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. a) Zwar ist anerkanntermaßen die Auflösung von Gemeinden und die Änderung ihres Gebietes durch den Staat nicht von vornherein ausgeschlossen. Art. 98 LV zieht jedoch hierfür Grenzen. In das Gebiet einer Gemeinde und ihre körperschaftliche Existenz kann zufolge Art. 98 Abs. 1 LV nur aus Gründen des öffentlichen Wohls eingegriffen werden. Das öffentliche Wohl ist dabei ein unbestimmter Rechtsbegriff, der zwar der Unterlegung mit einer Vielfalt von Zwecken und Sachverhalten zugänglich ist, jedoch die Verwirklichung von Zwecken und Sachverhalten ausschließt, die dem Staat und seinen Gebietskörperschaften im ganzen mehr schaden als nützen (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 18.6.1998 - VfGBbg 27/97 - , LVerfGE 8, 97,169 = DVB11999, 34 = LKV 1998, 395 = NJ 1998, 588; VerfGH NW, Urt. v. 4.8.1972 - VerfGH 9/71 -). Bei der Uberprüfung von Leitlinien, auf die der Gesetzgeber bei einer GebietsLVerfGE 13

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reform zurückgreift, kontrolliert das Verfassungsgericht aber nur, ob die zugrundeliegenden Annahmen hinreichend ermittelt, ob die Leitlinien nicht offensichtlich ungeeignet und ob sie der Verwirklichung des gesetzgeberischen Reformzieles dienlich sind. Die Konkretisierung der einzelnen Ziele einer allgemeinen Gemeindegebietsreform ist zunächst der politischen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers vorbehalten, der die verschiedenen Gemeinwohlgründe gewichten und ordnen kann. In diesem Sinne bleibt die verfassungsgerichtliche Kontrolle auf dieser Stufe der Gemeindegebietsreform eingeschränkt (vgl. etwa Thüringer Verfassungsgerichtshof, LVerfGE 5, 391, 423 mwN). b) Nach diesen Maßstäben ist die Regel-Mindestgröße einer amtsangehörigen Gemeinde von 500 Einwohnern (§ 3 Abs. 1 S. 2 AmtsO) verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Ziel der Gemeindestrukturreform und des Gemeindestrukturgesetzes ist es ausweislich der von der Landesregierung beschlossenen und vom Landtag gebilligten Leitlinien der Landesregierung und der Gesetzesbegründung zum Gemeindestrukturgesetz (LT-Drs. 3/2233), die Verwaltungs- und Leistungskraft der Städte, Gemeinden und Ämter zu stärken. Die Landesverfassung steht der Einschätzung, daß sich aus einer geringen Einwohnerzahl der Gemeinde typisierend Rückschlüsse auf die (verminderte) Leistungsfähigkeit der Gemeinde ergeben, nicht entgegen. Der Rückgriff auf die Einwohnerzahl als Indiz für die Leistungsfähigkeit der Gemeinde ist auch bei amtsangehörigen Gemeinden unbeschadet dessen statthaft, daß eine amtsangehörige Gemeinde — jedenfalls im Land Brandenburg — nicht selbst Träger der „eigentlichen" Verwaltung ist. Die Gemeindevertretung auch der amtsangehörigen Gemeinde bleibt ungeachtet der administrativen Umsetzung durch das Amt für alle Angelegenheiten der Gemeinde zuständig. Nicht das Amt, sondern die einzelne Gemeinde ist Träger der gemeindlichen Einrichtungen und für den Unterhalt dieser Einrichtungen zuständig. Solche Einrichtungen können im Regelfall sinnvoll nur von bestimmten gemeindlichen Mindestgrößen an betrieben werden (vgl. OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 16.3.1993 - 4 K 1/92 - , UA S. 35; Wilhelm LKV 2001, 11 f; Pfeil LKV 2000, 132; Wagner Neubau der Verwaltung, S. 328 ff). Dementsprechend sind auch in anderen Bundesländern bei Gemeindegebietsreformen je nach Bevölkerungsdichte und Siedlungsstruktur Gemeinde-Mindestgrößen zugrunde gelegt worden. So wurde z.B. in Nordrhein-Westfalen für ländliche Orte eine Größe von 8000, in Niedersachsen von 5000, in Rheinland-Pfalz von 7500 und in Schleswig-Holstein von 5000 Einwohnern angestrebt (vgl. von Unruh/Thieme/Scheuner Die Grundlagen der kommunalen Gebietsreform, 1981, S. 110). In Sachsen sehen die Leitbilder eine Größe von 1000 Einwohnern für Mitgliedsgemeinden von Verwaltungsgemeinschaften und Verwaltungsverbänden vor. In Bayern ist seinerzeit bei der Gemeindegebietsreform nicht nur der Richtwert von 5000 Einwohnern pro Verwaltungseinheit (Einheitsgemeinde oder Verwaltungsgemeinschaft), sondern auch ein Richtwert von 1000 Einwohnern für die einzelne Mitgliedsgemeinde einer LVerfGE 13

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Verwaltungsgemeinschaft zugrunde gelegt worden. Derartige Vorgaben sind, soweit ersichtlich, verfassungsgerichtlich jeweils unbeanstandet geblieben (s. etwa VerfGH Sachsen, Urt. v. 18.11.1999 - Vf. 174-VIII-98 StGH Bad.-Württ., Urt. v. 14.2.1975, DVB1. 1975, 385, 391; vgl. auch BayVGH, Beschl. v. 3.3.1977 Nr. 65 V 76 - , BayVBl 1979, 146, 148). Im Schrifttum wird als Alternative zur Einheitsgemeinde gerade auch der Zusammenschluß von kleineren Gemeinden, ggf. ihrerseits mit entsprechend niedrigeren Regel-Mindesteinwohnerzahlen, unter Beibehaltung einer Amtsverfassung angesehen (vgl. etwa Oehler LKV 1992, 72, 75, der einen Richtwert von 800 Einwohnern nennt; Hoppe/ Stüer DVB1. 1992, 641, 652: Bildung von Verwaltungsgemeinschaften/Ämterverwaltungen mit „numerischen Vorgaben insbesondere für akzeptable Mindestzahlen von Einwohnern"). Eine unzureichende Regelgröße kann sogar verhindern, daß Aufgaben auf Gemeinden verlagert werden (vgl. etwa BVerfG, Beschl. v. 24.6.1969 — 2 BvR 446/64 - , BVerfGE 26, 228, 239: Scheitern der Schulträgerschaft an zu geringer Gemeindegröße). Von daher erweist sich eine Regel-Mindesteinwohnerzahl als geeigneter Maßstab dafür, ob eine bestimmte Aufgabe von der Gemeinde sinnvoll und wirtschaftlich erfüllt werden kann. Auch die kommunale Finanzverfassung stellt bei den allgemeinen Zuweisungen, den Schlüsselzuweisungen, zur Ermittlung des Finanzbedarfes verbreitet auf die Zahl der Einwohner als zentrales Kriterium ab. Über eine Regel-Mindesteinwohnerzahl wird darauf hingewirkt, daß jede Gemeinde über einen Mindestbetrag an Finanzmitteln verfügt. Zu verlangen ist allerdings, daß die Unterschreitung einer bestimmten Mindesteinwohnerzahl nicht rechtlich oder faktisch zwingend zur Auflösung bzw. Eingliederung einer Gemeinde führt. Die kommunale Selbstverwaltung hat nicht nur die Daseinsvorsorge der Bürger im Blick, sondern dient auch dazu, die Bürger zu integrieren, den Menschen ein Zugehörigkeitsgefühl („Heimat") zu vermitteln und damit die Grundlagen der Demokratie zu starken. Von daher können zum Beispiel auch geographische Gegebenheiten (wie etwa die isolierte Lage einer Kommune, Entfernungen zu anderen Orten) eine Rolle spielen. Ferner können geschichtliche Zusammenhänge (etwa eine selbstbewußte Rolle der Kommune in der Geschichte) sowie sozio-kulturelle Gesichtspunkte (etwa die sorbische Prägung einer Gemeinde oder religiöse Besonderheiten) Berücksichtigung verdienen. Die Vielgestaltigkeit der verschiedenen Gesichtspunkte, die der Gesetzgeber in seine Abwägung einzustellen hat, verbieten es, einem Kriterium zwingend Vorrang einzuräumen oder die Abwägung rein schematisch vorzunehmen und von den konkreten örtlichen Besonderheiten abzusehen. Die Selbstverwaltung ist nicht ausschließlich an Rationalisierung und Verbesserung der Effizienz der Verwaltungsorganisation zu messen. Eine Gemeinde darf deshalb nicht bloß in quantifizierender Betrachtungsweise und ohne Berücksichtigung von Besonderheiten allein wegen des Unterschreitens einer bestimmten Einwohnergrenze aufgelöst werden. Andernfalls kann der Eingriff in die Existenz einer Gemeinde und die dadurch bewirkte Beeinträchtigung der örtlichen Verbundenheit außer Verhältnis LVerfGE 13

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zu dem erreichten Vorteil geraten. Bei Abwägen aller Kriterien müssen ggf. die Einwohnerzahlen zurückstehen, wenn die Würdigung des Einzelfalles eine vertretbare Lösung mit geringerer Einwohnerzahl zuläßt. Nicht zuletzt kann die geringere Einwohnerzahl z.B. durch höhere Wirtschaftskraft (etwa durch lukrative Firmenansiedlungen oder als Folge erhöhten touristischen Interesses) ausgeglichen werden. Je stärker allerdings die Einwohnerzahl hinter der Richtzahl zurückbleibt, desto schwerer müssen die Gesichtspunkte wiegen, die für den Fortbestand der Gemeinde sprechen. Zugleich ist zu berücksichtigen, daß bei einer allgemeinen Gebietsreform größere Räume neu zu gliedern sind, so daß nicht allein örtliche Gegebenheiten der einzelnen Gemeinde zu bedenken sind, sondern auch der größere Rahmen und damit auch die Frage einzubeziehen ist, ob die Voraussetzungen für die Bildung eines Amtes vorliegen (vgl. auch BayVerfGH, Beschl. v. 29.4.1981 - Vf. l-VII-78 - , BayVBl 1981, 399, 400). Läßt sich eine kleine Gemeinde zwanglos in ein weiterbestehendes Amt — und als solches kommt auch ein unmittelbar an die Gemeinde grenzendes Nachbaramt in Betracht — einfügen, muß dies mit besonderem Gewicht in die Abwägungsentscheidung einfließen. Der Wortlaut des § 3 Abs. 1 S. 2 AmtsO läßt für die angemessene Berücksichtigung der genannten und ggf. weiterer Gesichtspunkte neben der RegelMindesteinwohnerzahl hinreichend Raum. Die doppelte Relativierung, wonach amtsangehörige Gemeinden „regelmäßig" nicht weniger als 500 Einwohner haben „sollen", läßt je nach Gewicht der für den Fortbestand der betreffenden Gemeinde sprechenden Gesichtspunkte auch amtsangehörige Gemeinden mit weniger als 500 Einwohnern zu. Die Regelung gerät deshalb nicht in Widerspruch zur Landesverfassung. 2. § 26 GFG 2001 verstößt nicht gegen das interkommunale Gleichbehandlungsgebot; die kommunale Verfassungsbeschwerde ist auch in dieser Hinsicht unbegründet. Das interkommunale Gleichbehandlungsgebot verbietet, bei der Ausgestaltung des kommunalen Finanzausgleiches bestimmte Gemeinden oder Gemeindeverbände sachwidrig zu benachteiligen oder zu bevorzugen. Es verbietet willkürliche, sachlich nicht vertretbare Differenzierungen und ist verletzt, wenn für die Regelung ein sachlicher Grund fehlt. Das Verfassungsgericht hat dabei nicht zu prüfen, ob der Gesetzgeber die bestmögliche und gerechteste Lösung gewählt hat (Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 1.12.1998, DVB1. 1999, 391). In Respektierung der politischen Handlungs- und Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ist auch nicht zu prüfen, ob die Regelung notwendig oder gar unabweisbar ist. Der Gesetzgeber darf innerhalb gewisser Grenzen im Rahmen der Gemeindefinanzierung auch ihm zweckmäßig Erscheinendes verfolgen. Ihm kommt insoweit ein Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zu, der gewahrt ist, wenn sich der Gesetzgeber auf eine nachvollziehbare und vertretbare Einschätzung stützt (vgl. Urt. des erkennenden Gerichtes v. 18.6.1998 - VfGBbg 27/97 - , LVerfGE 8, 97,139 - „Horno 2"). LVerfGE 13

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Vorliegend sind dem Gesetzgeber für finanzielle Anreize zu freiwilligen Gemeindezusammenschlüssen bzw. Eingliederungen nachvollziehbare und vertretbare Gründe zuzugestehen. Die § 26 GFG 2001 zugrundeliegende allgemeine Einschätzung, daß größere kommunale Einheiten anzustreben seien und die freiwillige Bildung solcher Einheiten Förderung verdiene, ist verfassungsgerichtlich nicht zu beanstanden. Dies gilt auch für die Differenzierung der Förderbeträge (300,00 DM je Einwohner bei Zusammenschluß aller Gemeinden eines Amtes zu einer amtsfreien Gemeinde, 200,00 DM je Einwohner bei der Eingliederung in eine amtsfreie Gemeinde, 200,00 DM je Einwohner bei Bildung von Gemeinden innerhalb eines Amtes). Ein im März 1999 für die Enquetekommission des Landtags zur Gemeindegebietsreform erstelltes Gutachten von Prof. Dr. Reichard kommt zu dem Ergebnis, daß amtsfreie Gemeinden weniger Verwaltungsausgaben pro Einwohner als größengleiche Amter und ihre Gemeinden ausweisen (vgl. Anlage zur LT-Drs. 2/6260, Anlage 1, S. 56). Freilich beeinflußt auch die Anzahl der Gemeinden je Amt die Verwaltungskosten. Die Personalkosten der Ämter werden allerdings durch die Anzahl der Gemeinden je Amt nur relativ gering beeinflußt (aaO, S. 30). Jedoch steigen mit der Anzahl der Gemeinden je Amt die Kosten für die Entscheidungsvorbereitung und Entscheidungsfindung in den Gemeindevertretungen sowie die Koordinationskosten, die durch den Abstimmungsbedarf zwischen der größeren Zahl der Akteure verursacht werden. Aufwendungen für ehrenamtliche Tätigkeit sind in den amtsfreien Gemeinden wesentlich niedriger als in Amtern vergleichbarer Größenklasse (aaO, S. 36). Angesichts dieses Befundes und der perspektivischen Kostenauswirkungen ist es vertretbar, Zusammenschlüsse und Eingliederungen mit unterschiedlichen Förderbeiträgen bei der Bildung amtsfreier und amtsangehöriger Gemeinden auch unabhängig von den aktuell entstehenden Kosten zu fördern. Es erscheint auch sachgerecht, wenn ausschließlich der freiwillige Zusammenschluß gefördert wird. Die Neubildung einer Gemeinde dürfte um so eher auf Akzeptanz der Bevölkerung stoßen als sie den Charakter der Freiwilligkeit hat. Insoweit ist die Einschätzung des Gesetzgebers, vor direkten Eingriffen in den Bestand der Gemeinden eine Freiwilligkeitsphase unter finanzieller Förderung von freiwilligen Gemeindezusammenschlüssen „vorzuschalten", nicht unvertretbar. IV. Auch soweit sich die kommunale Verfassungsbeschwerde, nämlich zu Art. 2 Nr. 4 Gemeindestrukturgesetz, in der Hauptsache erledigt hat, sind Auslagen nicht zu erstatten. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Gerichtes findet eine Kostenerstattung nach Hauptsachenerledigung infolge einer „Pilotentscheidung" des Verfassungsgerichtes zu derselben Frage jedenfalls dann nicht statt, wenn - wie hier - im Kreise der betroffenen Gemeinden bekannt oder erkennbar war, daß gegen die gesetzliche Regelung bereits anderweitig Verfassungsbeschwerde eingelegt war. LVerfGE 13

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Nr. 8* 1. Im Kommunalverfassungsbeschwerdeverfahren ist eine etwaige Verletzung von Fraktions- oder Oppositionsrechten im Gesetzgebungsverfahren nicht zu berücksichtigen. 2. Zu der Frage, ob der Gesetzgeber im Zuge einer kommunalen Neugliederung zu (vorherigen) Grundsatz- und Leitbildentscheidungen gehalten ist.** Verfassung des Landes Brandenburg Art. 55 Abs. 2; 67 Abs. 1; 97 Abs. 1 und 4; 98 Abs. 1 und 2; 100 Amtsordnung für das Land Brandenburg § 3 Abs. 1 Satz 2 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg § 51 Abs. 1 Urteil vom 29. August 2002 - VfGBbg 15/02 in dem kommunalen Verfassungsbeschwerdeverfahren der Gemeinde Quappendorf, vertreten durch das Amt Neuhardenberg, dieses vertreten durch den Amtsdirektor, betreffend Artikel 2 Nr. 3 lit. a des Gesetzes zur Reform der Gemeindestruktur und zur Stärkung der Verwaltungskraft der Gemeinden im Land Brandenburg vom 13.3.2001 (GVB1.1 S. 30). Entscheidungsformel: Die kommunale Verfassungsbeschwerde wird nach Maßgabe der Entscheidungsgründe zurückgewiesen.

Die Entscheidung ist im Volltext abgedruckt im Supplementband Brandenburg zu LVerfGE 13 (Suppl. Bbg. zu Bd. 13), S. 143 ff, hrsg. vom Verfassungsgericht des Landes Brandenburg (Adresse s. Anhang) und dort gegen Gebühr erhältlich. Abdruck auch in: LKV 2002, 576; NJ 2002, 645. ** Nichtamtliche Leitsätze.

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Anforderungen an Kommunalverfassungsbeschwerde

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Nr. 9* In der kommunalen Verfassungsbeschwerde müssen die Bestimmungen, durch die die Kommune ihre Rechte verletzt sieht, im einzelnen bezeichnet sein.** Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg §§ 20 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1; 51 Abs. 1 Satz 2 Beschluß vom 25. September 2002 - VfGBbg 67/02 in dem kommunalen Verfassungsbeschwerdeverfahren der Gemeinde Mellen, vertreten durch den ehrenamtlichen Bürgermeister, betreffend Artikel 2 Nr. 2 lit. a des Gesetzes zur Reform der Gemeindestruktur und zur Stärkung der Verwaltungskraft der Gemeinden im Land Brandenburg vom 13.3.2001 (GVB1. I S. 30). Entscheidungsformel: Die kommunale Verfassungsbeschwerde wird verworfen.

Nr. 10*** 1. Art. 11 Abs. 1 LV schützt, soweit nicht Ausnahmen nach Art. 11 Abs. 2 LV greifen, vor jeglicher Inanspruchnahme persönlicher Daten (auch) durch staatliche Stellen. 2. Zur Grundrechtsbetroffenheit und zu den verfassungsrechtlichen Voraussetzungen im Falle von Gerichtsentscheidungen zur Durchsuchung von Wohn- und Diensträumen einerseits und zur Beschlagnahme von (hierbei aufgefundenen) Unterlagen andererseits.

*

Die Entscheidung ist im Volltext abgedruckt im Supplementband Brandenburg zu LVerfGE 13 (Suppl. Bbg. zu Bd. 13), S. 163 ff, hrsg. vom Verfassungsgericht des Landes Brandenburg (Adresse s. Anhang) und dort gegen Gebühr erhältlich. ** Nichtamtlicher Leitsatz. *** Abdruck auch in: JR 2003, 15.

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Grundgesetz Art. 2 Abs. 1 sowie iVm Art. 1 Abs. 1 (Recht auf informationelle Selbstbestimmung); 13 Abs. 1 und 2; 14 Abs. 1 Verfassung des Landes Brandenburg Art. 5 Abs. 2 Satz 1; 10; 11 Abs. 1 und 2; 15 Abs. 1 und 2; 41 Abs. 1 Strafprozeßordnung §§ 94 Abs. 1; 93 Abs. 1; 102; 105 Beschluß vom 25. September 2002 - V f G B b g 79/02 in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren des Herrn T. gegen die Beschlüsse des Amtsgerichts Neuruppin vom 9. November 2001 und vom 5. Februar 2002 und gegen den Beschluß des Landgerichts Neuruppin vom 28. März 2002. Entscheidungsformel: Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen. Gründe: A. Der Beschwerdeführer wendet sich gegen einen Durchsuchungs- und einen Beschlagnahmebeschluß des AG Neuruppin und die hierzu ergangene Beschwerdeentscheidung des LG Neuruppin.

I. Der Beschwerdeführer ist Beamter auf Lebenszeit im Polizeidienst und war dem Polizeipräsidium zugeteilt. Für die Aufarbeitung liegengebliebener Vorgänge in den Jahren 1998 bis 2000 rechnete er 290 Stunden Mehrarbeit mit einem Betrag iHv 8222,45 DM brutto ab, der zur Auszahlung kam. Nach Bekanntwerden anderweitiger auffälliger Überstundenabrechnungen im Polizeipräsidium wurden mit Verfügung vom 28.2.2001 disziplinarische Vorermittlungen angeordnet. Ferner kam es zur Einleitung eines staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens zunächst wegen Untreue, Bestechlichkeit und Bestechung, später wegen Betruges, gegen die Polizeipräsidentin, den Abteilungsleiter K., den Beschwerdeführer und weitere Bedienstete, das zunächst von der Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) bearbeitet und durch Verfügung vom 21.6.2001 an die für Korruptionsdelikte schwerpunktmäßig zuständige Staatsanwaltschaft Neuruppin abgegeben wurde. Die Ubernahmenachricht an den Beschwerdeführer erging unter dem 16.7.2001. Im Rahmen der Ermittlungen wurden dann Zeugen vernommen und verfügbare LVerfGE 13

Durchsuchung und Beschlagnahme

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Unterlagen (Personalakte, Zeiterfassungsbögen, Abrechnungsunterlagen der Bezügestelle) angefordert und ausgewertet. Die Zwischenergebnisse wurden durch Aktenvermerk vom 20. September 2001 zusammengefaßt. Am 11.10.2001 wurde der Beschuldigte K. vernommen, der dabei seinen Kalender für das Jahr 2001 der Staatsanwaltschaft übergab und die Kalender für die Jahre 1998 bis 2000 nachreichte. Mit Aktenvermerk vom 30.10.2001 wertete der ermittelnde Staatsanwalt den Verfahrensstand wegen eines möglichen Zusammenwirkens des Beschwerdeführers mit dem Beschuldigten K. aus. Mit Blick auf ermitdungsrelevante Unterlagen des Beschwerdeführers bemerkte er: „Eine Aufforderung zur freiwilligen Herausgabe — wie bei K. — erscheint zwar grundsätzlich möglich. Ob allerdings sämtliche beweis erheblichen Unterlagen dabei zu Tage gefördert werden, ist anzuzweifeln. Nachdem durch die Aufforderung an den Beschuldigten K. deutlich wurde, mit welcher Zielrichtung die Staatsanwaltschaft in den Ermittlungen arbeitet, ist — ausgehend von einem Zusammenwirken der beiden Beschuldigten — damit zu rechnen, daß hier bei einer Aufforderung nur noch „ausgesuchte" Unterlagen präsentiert werden. Befürchtungen dieser Art ergeben sich auch aus anderer Quelle: So hatte die Zeugin R. anläßlich der Vernehmung am 16. August 2001 mitgeteilt, daß der Beschuldigte T. bei seinem Anhörungstermin im Disziplinarverfahren handschriftliche Aufzeichnungen über die von ihm und seinen Mitarbeitern geleisteten „Mehrarbeitsstunden" vorlegte, die er gefertigt haben wollte. Auf eine spätere Aufforderung an ihn, diese zu den Akten zu reichen, seien dann schreibmaschinengeschriebene Unterlagen überreicht worden ..., was beim Ministerium offenbar die Befürchtung von Manipulationen aufkommen ließ. Sofern es zu einem Zusammenwirken gekommen ist, könnte die Durchsuchung außerdem Aufschluss über die Art und Weise der Kontakte der Beschuldigten geben". Der Verfahrensbevollmächtigte des Beschwerdeführers hat im Laufe des Ermittlungsverfahrens gegenüber der Staatsanwaltschaft mehrfach die Bereitschaft zur Zusammenarbeit und zur Herausgabe relevanter Unterlagen erklärt. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft von demselben Tag erließ das AG unter dem 9.11.2001 einen Durchsuchungsbeschluß für die Wohn- und Diensträume des Beschwerdeführers „wegen Betrug u.a." und ordnete zugleich die Beschlagnahme von „Aufzeichnungen und Unterlagen (z.B. Kalender) in Bezug auf die Beziehungen zu dem Beschuldigten K. sowie der von ihm und dem Beschuldigten K. geleisteten Arbeitsstunden im Rahmen ihrer Tätigkeit beim Polizeipräsidium" an. Auf die hiergegen eingelegte Beschwerde entschied das LG durch — mit der Verfassungsbeschwerde nicht angegriffenen - Beschluß vom 7.1.2002, daß „eine Entscheidung der Beschwerdekammer ... nicht veranlaßt" sei, da die zu beschlagnahmenden Gegenstände nicht näher bezeichnet gewesen seien. Die Staatsanwaltschaft bezeichnete darauf die von ihr zu Beweiszwecken in Anspruch genommenen Gegenstände und gab die anderen an den Beschwerdeführer zurück. Das AG bestätigte unter dem 5.2.2002 die Beschlagnahme. Die hiergegen erhobene Beschwerde wurde durch Beschluß des LG vom 28.3.2002 unter gleichzeitiger Zurückweisung der Beschwerde gegen den Durchsuchungsbeschluß vom 9.11.2001 LVerfGE 13

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als unbegründet zurückgewiesen. Gegen den Beschwerdeführer bestehe der Verdacht, Straftaten gemäß §§ 266 Abs. 1 Alt. 1, 26, 53 StGB begangen zu haben. Die Voraussetzungen für eine Mehrarbeitsvergütung hätten überwiegend nicht vorgelegen. Die Durchsuchungsanordnung sei auch nicht unverhältnismäßig. Das Angebot des Beschwerdeführers zur Zusammenarbeit und Herausgabe von Unterlagen mache eine Durchsuchung nicht entbehrlich. Hinsichtlich der Beschlagnahmeanordnung habe die Beschwerdekammer die beschlagnahmten Gegenstände gesichtet und für die Ermittlungen von Interesse befunden. II. Mit der am 11.5.2002 eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer hinsichtlich der Durchsuchungsanordnung die Verletzung der Grundrechte auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 15 Abs. 1 der Verfassung des Landes Brandenburg - LV -), Eigentum (Art. 41 Abs. 1 LV) und Datenschutz (Art. 11 LV), hinsichtlich der Beschlagnahmeentscheidung die Verletzung der Grundrechte auf Datenschutz (Art. 11 LV), Eigentum (Art. 41 Abs. 1 LV) und freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 10 LV). Ferner sieht er den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 Abs. 2 LV) und den Anspruch auf ein faires und zügiges Verfahren (Art. 52 Abs. 4 LV) verletzt. Er ist der Auffassung, daß bereits kein Anfangsverdacht für das Ermittlungsverfahren bestanden habe, da er sich in vertretbarer Auslegung der einschlägigen Rechtsvorschriften zur Abrechenbarkeit von Mehrarbeit verhalten habe. Im übrigen sei die Durchsuchung jedenfalls unverhältnismäßig, da ein derart einschneidendes Vorgehen nur bei Eile oder Erschöpfung anderer Beweismittel zulässig sei. Die Staatsanwaltschaft habe jedoch sein Angebot auf Zusammenarbeit ignoriert. Die beschlagnahmten Dokumente seien für die Ermitdungen ohne Wert. Daß er Mehrarbeit geleistet habe, stehe fest. Für die Frage einer möglichen Strafbarkeit komme es allein auf die Auslegung der Mehrarbeitsvorschriften an. Ferner dauere die Beschlagnahme mit inzwischen mehr als 7 Monaten unverhältnismäßig lange an. Die Ablehnung seines Angebots zur Zusammenarbeit habe das Ermitdungsverfahren unnötig in die Länge gezogen und laufe auf Verweigerung des rechtlichen Gehörs hinaus. III. Das LG, das AG und die Staatsanwaltschaft haben Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. Das Landesverfassungsgericht hat die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft angefordert. Sie liegen als Zweitakten vor. B. Die zulässige Verfassungsbeschwerde hat in der Sache selbst keinen Erfolg.

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I. Die Verfassungsbeschwerde ist zulassig. 1. Die Beschwerdebefugnis ist gegeben. a) Soweit es um die Durchsuchung seiner Privaträume geht, ist der Beschwerdeführer unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Verletzung des Art. 15 Abs. 1 LV (Unverletzlichkeit der Wohnung) beschwerdebefugt. Soweit es um die Durchsuchung der Diensträume geht, ist allerdings — anders als bei nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gegebenenfalls in den Schutzbereich des korrespondierenden Art. 13 Abs. 1 Grundgesetz (GG) fallenden Laden- und Geschäftsräumen (BVerfGE 32, 54, 68 ff; 44, 353, 371; 76, 83, 88; 96, 44, 51) - nicht Art. 15 LV betroffen. Gegen die Durchsuchung seines Dienstzimmers nach — wie die gleichzeitige (erste) Beschlagnahmeanordnung (vom 9.11.2001) ergibt — eher der privaten Lebenssphäre zuzurechnenden „Aufzeichnungen und Unterlagen (z.B. Kalender)" ist der Beschwerdeführer jedoch unter dem Gesichtspunkt einer — der Sache nach mit gerügten — möglichen Verletzung des Grundrechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 10 LV) als Auffanggrundrecht (vgl. zu Art. 2 Abs. 1 GG: BVerfGE 6, 32, 37; 80, 137, 152 ff) beschwerdebefugt. Eine Verletzung der Grundrechte auf Datenschutz (Art. 11 Abs. 1 LV) und Eigentum (Art. 41 Abs. 1 LV), wie sie der Beschwerdeführer darüber hinaus geltend macht, scheidet hingegen, was die Durchsuchung angeht, von vornherein aus. Diese Rechte werden nicht schon durch eine bloße Durchsuchung, sondern gegebenenfalls erst durch eine anschließende Beschlagnahme betroffen. b) Soweit es um die Beschlagnahme geht, ergibt sich die Beschwerdebefugnis aus einer möglichen Verletzung sowohl des Grundrechts auf Datenschutz (Art. 11 Abs. 1 LV) als auch des Eigentumsrechts (Art. 41 Abs. 1 LV). aa) Die zwangsweise Inanspruchnahme von persönlichen Daten durch Beschlagnahme von Aufzeichnungen, Schriftstücken, Kalendern und anderen Unterlagen solcher Art, wie sie hier in Frage steht, ist für die Rechtslage im Land Brandenburg an dem speziellen landesverfassungsrechtlichen Grundrecht auf Datenschutz (vgl. ähnlich die Landesverfassungen von Berlin — Art. 33, Mecklenburg-Vorpommern - Art. 6 Abs. 1, Nordrhein-Westfalen - Art. 4 Abs. 2, Rheinland-Pfalz - Art. 4a, Saarland - Art. 2 S. 2, Sachsen - Art. 33, Sachsen-Anhalt Art. 6 Abs. 1 und Thüringen — Art. 6 Abs. 2; zur Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz mit Blick auf Art. 142 GG: Iwers Entstehung, Bindungen und Ziele der materiellen Bestimmungen der Landesverfassung Brandenburg, S. 341 f) zu messen. Das im Anschluß an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum sog. Recht auf informationelle Selbstbestimmung (BVerfGE 65, 1, 41 ff) in die Landesverfassung eingestellte (vgl. Breidenbach/Kneifel-Haverkamp in: Simon/Franke/ Sachs, Handbuch der Verfassung des Landes Brandenburg, § 21 Rn. 2) Recht auf Datenschutz schützt nicht nur im Rahmen der elektronischen Datenverarbeitung LVerfGE 13

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vor Erhebung, Speicherung, Verarbeitung und Weiterleitung von persönlichen Daten, sondern vor jeglichem Zugriff auf persönliche Daten. Dies folgt bereits aus dem Wortlaut des Art. 11 Abs. 1 LV, demzufolge jeder das Recht hat, über die „Preisgabe" und „Verwendung" seiner persönlichen Daten zu bestimmen (Satz 1), und personenbezogene Daten — vorbehaltlich Art. 11 Abs. 2 LV — nur mit Zustimmung des Betroffenen „erhoben, ... weitergegeben oder sonst verwendet" werden dürfen (Satz 2). Art. 11 Abs. 1 LV schützt damit, soweit nicht Ausnahmen nach Art. 11 Abs. 2 LV greifen, vor jeglicher Inanspruchnahme persönlicher Daten (auch) durch staatliche Stellen (vgl. auch Höfelmann Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung anhand der Ausgestaltung des Datenschutzrechts und der Grundrechtsnormen der Landesverfassungen, S. 64 f, 175 f). Es gilt auch — und gerade auch — für Art. 11 Abs. 1 LV, was das Bundesverfassungsgericht zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung ausgeführt hat (BVerfGE 78, 77, 84): "In dieses Recht wird nicht nur dann eingegriffen, wenn der Staat vom Einzelnen die Bekanntgabe persönlicher Daten verlangt oder diese der automatisierten Datenverarbeitung zufuhrt. Die Möglichkeiten und Gefahren der automatischen Datenverarbeitung haben zwar die Notwendigkeit eines Schutzes persönlicher Daten deutlicher hervortreten lassen, sind aber nicht Grund und Ursache ihrer Schutzbedürftigkeit. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung schützt vielmehr wegen seiner persönlichkeitsrechtlichen Grundlage generell vor staatlicher Erhebung und Verarbeitung personenbezogener Daten und ist nicht auf den jeweiligen Anwendungsbereich der Datenschutzgesetze des Bundes und der Länder oder datenschutzrelevanter gesetzlicher Sonderregelungen beschränkt."

bb) Die Beschwerdebefugnis gegenüber der Beschlagnahme ergibt sich weiter aus einer möglichen Verletzung des Rechts auf Eigentum (Art. 41 Abs. 1 LV) angesichts der mit der Beschlagnahme naturgemäß verbundenen eingeschränkten Nutzbarkeit und Verwendbarkeit der beschlagnahmten Gegenstände (vgl. zu Art. 14 Abs. 1 GG: BVerfGE 52, 1, 30 mwN; 88, 366, 377). cc) Keine Beschwerdebefugnis besteht, was die Beschlagnahme angeht, unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Verletzung des Art. 10 LV. Die Vorschrift gilt nur subsidiär und tritt hinter speziellen Grundrechten - hier: Art. 11 Abs. 1 und Art. 41 Abs. 1 LV - zurück (vgl. zu Art. 2 Abs. 1 GG im Verhältnis zu anderen Freiheitsgrundrechten: BVerfGE 6, 32, 37; 67,157,171; 83,182,194; 89,1,13). c) Soweit der Beschwerdeführer allgemein den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 Abs. 2 S. 1 LV) und den Anspruch auf ein faires und zügiges Verfahren (Art. 52 Abs. 4 LV) sowie das rechtliche Gehör verletzt sieht, geht dies ins Leere. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist ein allgemeines verfassungsrechtliches Prinzip und kein selbständig rügbares Grundrecht. Auch eine Verletzung der genannten Verfahrensgrundrechte scheidet bezogen auf den dem Verfassungsgericht unterbreiteten Verfahrensgegenstand von vornherein aus. Der Beschwerdeführer hat das Verfassungsbeschwerdeverfahren durch seine dahingeLVerfGE 13

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hende Bezeichnung des Beschwerdegegenstandes auf die Entscheidungen des AG (Durchsuchungsanordnung vom 9.11.2001 und Bestätigung der Beschlagnahme durch Beschl. v. 5.2.2002) und des LG (Beschwerdeentscheidung) beschränkt, so daß lediglich das zu diesen Gerichtsentscheidungen fuhrende Verfahren mit erfaßt ist. Insoweit aber hatte der Beschwerdeführer ersichtlich rechtliches Gehör und ist eine verzögerte oder verfahrensrechtlich unfaire Handhabung der befaßt gewesenen Gerichte nicht zu erkennen. Für diese Gerichtsentscheidungen wirft auch der Beschwerdeführer allein die Frage der materiellen Vereinbarkeit mit der Landesverfassung auf. Soweit er in seinen Schriftsätzen auch das staatsanwaltschaftliche Ermitdungsverfahren - wegen dessen Dauer, des Nicht-Eingehens auf seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit, des Unterbleibens einer Beschuldigtenvernehmung usw. — beanstandet, greift dies über die angefochtenen Gerichtsentscheidungen hinaus und hat mit ihnen nichts zu tun. Außerdem gelten die in Rede stehenden Verfahrensgrundrechte (rechtliches Gehör, faires und zügiges Verfahren) nach dem klaren Wortlaut des Art. 52 Abs. 3 und 4 LV nur „vor Gericht" und — jedenfalls als landesverfassungsrechtlich verbürgt — nicht auch für behördliche Verfahren, zu denen unbeschadet seiner Besonderheiten auch das staatsanwaltschaftliche Ermitdungsverfahren gehört. Für diese unterschiedliche Behandlung läßt sich anführen, daß in behördlichen Verfahren — anders als in gerichtlichen Verfahren — dienstaufsichtliche Einwirkungsmöglichkeiten bestehen, u.U. auch eine Untätigkeitsklage in Betracht kommt. 2. Der Rechtsweg ist ausgeschöpft (§ 45 Abs. 2 S. 1 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg — VerfGGBbg —). Gegen den die Beschwerde gegen die Entscheidungen des AG zurückweisenden Beschluß des LG steht ein weiteres Rechtsmittel gem. § 310 Abs. 2 Strafprozeßordnung (StPO) nicht zur Verfügung. 3. Die zweimonatige Frist zur Einlegung der Verfassungsbeschwerde (§ 47 Abs. 1 VerfGGBbg) ist gewahrt. Die den Rechtsweg abschließende Entscheidung des LG ist ausweislich eines handschriftlichen Eingangsvermerks des Verteidigers am 30.3.2002 zugegangen. Die am 11.5.2002 eingegangene Verfassungsbeschwerde ist damit rechtzeitig erhoben. 4. Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht nicht entgegen, daß die Verletzung von Landesgrundrechten im Rahmen eines bundesrechtlich — hier: durch die Strafprozeßordnung - geordneten Verfahrens gerügt wird. Die insoweit erforderlichen Voraussetzungen (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg in std. Rspr. seit Beschl. v. 16.4.1998 - VfGBbg 1/98 - , LVerfGE 8, 82, 84 f unter Bezugnahme auf BVerfGE 96, 345, 371 ff; zuletzt Beschl. v. 16.5.2002 VfGBbg 46/02 - ) sind gegeben: Ein Bundesgericht war nicht befaßt. Eine Rechtsschutzalternative zu der Verfassungsbeschwerde steht, wie ausgeführt, nicht zur Verfügung. Die als verletzt in Betracht kommenden landesverfassungsrechtlich verbürgten Rechte auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 15 Abs. 1 LV), freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 10 LV), Datenschutz (Art. 11 Abs. 1 LV) und LVerfGE 13

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Eigentum (Art. 41 Abs. 1 LV) sind inhaltsgleich mit den entsprechenden Rechten des Grundgesetzes (Art. 13 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG sowie iVm Art. 1 Abs. 1 GG — Recht auf informationelle Selbstbestimmung, BVerfGE 65, 1, 41 ff; Art. 14 Abs. 1 GG). II.

Die Verfassungsbeschwerde bleibt in der Sache selbst ohne Erfolg. 1. Die gerichtliche Anordnung zur Durchsuchung der Wohn- und Diensträume des Beschuldigten bleibt im Rahmen des nach der Landesverfassung Statthaften. a) Soweit es um die Wohnung geht, darf eine Durchsuchung gem. Art. 15 Abs. 2 LV nur durch den Richter oder aufgrund richterlicher Entscheidung angeordnet und nur in den vorgeschriebenen Formen durchgeführt werden. Selbstverständliche Voraussetzung dabei ist, daß sich die Durchsuchungsanordnung ihrerseits auf eine gesetzliche Grundlage stützen kann und hiervon in einer dem Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung gerecht werdenden Weise Gebrauch gemacht wird. Die Durchsuchung der Wohnung stellt ihrer Natur nach einen schwerwiegenden Eingriff in die grundrechtlich geschützte Lebenssphäre des Betroffenen dar (BVerfGE 20, 162, 186 f; 42, 212, 219 f). Sie steht daher wie alle Zwangsmaßnahmen unter dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (vgl. BVerfGE, aaO). Dementsprechend muß die Maßnahme zur Erreichung des angestrebten Zwecks geeignet und erforderlich sein und darf der mit ihr verbundene Eingriff nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und zur Schwere des Tatverdachts stehen (vgl. BVerfG, NJW 1992, 551, 552). Darüber hinaus muß der Richter durch eine geeignete Konkretisierung des Durchsuchungsbeschlusses dafür Sorge tragen, daß der Grundrechtseingriff kontrollierbar bleibt (vgl. BVerfG, NJW 1992, 551, 552; NJW 1994, 3281, 3282). Gleiches gilt, soweit die Durchsuchung der Diensträume des Beschwerdeführers nach — wie die gleichzeitige (erste) Beschlagnahmeanordnung (v. 9.11.2001) ergibt — „Aufzeichnungen und Unterlagen (z.B. Kalender)" in Frage steht. Auch das damit berührte Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (s. oben zu B. I. 1. a)) findet gem. Art. 10 LV seine Grenzen in den der Verfassung entsprechenden Gesetzen, wobei auch hier im Sinne des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit jeweils dem besonderen Stellenwert des Grundrechts Rechnung zu tragen ist. b) Den hiernach geltenden Anforderungen wird die verfahrensgegenständliche gerichtliche Durchsuchungsentscheidung gerecht: Eine richterliche Anordnung, wie sie nach Art. 15 Abs. 2 LV für die Durchsuchung der Wohnung sowie nach § 105 Abs. 1 StPO auch für die Durchsuchung anderer Räume erforderlich ist, liegt zugrunde. Sie kann sich auf § 102 StPO stützen. Danach kann bei dem Verdächtigten einer strafbaren Handlung eine DurchLVerfGE 13

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suchung der Wohnung und anderer Räume vorgenommen werden, wenn zu vermuten ist, daß die Durchsuchung zur Auffindung von Beweismitteln fuhren werde. Daß hier AG und LG diese Voraussetzungen bejaht, insbesondere den Beschwerdeführer einer Straftat („Betrug u.a.") verdächtig befunden haben, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Soweit der Beschwerdeführer einen Tatverdacht von sich weist, ist die gegenteilige Einschätzung der Staatsanwaltschaft und, dieser folgend, des AG und des LG nach Lage des Falles — angesichts der auffälligen Mehrarbeitsabrechnungen auch des Beschwerdeführers — jedenfalls nicht unvertretbar. Das Landesverfassungsgericht kann sich in dieser Hinsicht ohne besonderen Grund, der hier nicht ersichtlich ist, nicht nach Art einer übergeordneten Fachinstanz an die Stelle der Staatsanwaltschaft bzw. des Ermittlungsrichters setzen (zum verfassungsgerichtlichen Prüfungsmaßstab vgl. BVerfGE 18, 85, 96 f; 59, 95, 97; BVerfG, NJW 1991, 690, 691; NJW 2002,1410,1411). Die Durchsuchungsanordnung stellt sich hier auch nicht als unverhältnismäßig dar. Die Durchsuchung war geeignet, beweiserhebliches Material, auch vor dem Hintergrund des Betrugsvorwurfs, zutage zu fördern. Das AG brauchte die Durchsuchung auch nicht wegen des Angebots des Beschwerdeführers zur Zusammenarbeit und zur Herausgabe relevanter Unterlagen für entbehrlich halten. Ob und wie auf ein Angebot des Beschuldigten zur Zusammenarbeit zu reagieren ist, unterliegt dem Einschätzungsermessen der Strafverfolgungsbehörden und gegebenenfalls des Ermittlungsrichters vor Ort (vgl. BVerfG, NJW 1994, 2079, 2080 f und NJW 1995, 385). Die Handhabung hier hält sich im Rahmen dieses Einschätzungsspielraums. Welche Aufzeichnungen und andere Unterlagen als Beweismittel von Wert sind, läßt sich erst beurteilen, wenn man sie zu sehen bekommt. Eine freiwillige Herausgabe „benötigter" Unterlagen überläßt aber die Entscheidung, was als Beweismittel verfügbar wird, weitgehend der eigenen Einschätzung des Betroffenen. Von daher brauchten sich vorliegend Staatsanwaltschaft und Ermittlungsrichter auf eine freiwillige Herausgabe verfahrensrelevanter Unterlagen nicht einzulassen. Es mag Fallgestaltungen geben, in denen es sich unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit aufdrängt, vor einer Durchsuchungsanordnung die Ergiebigkeit des Angebots des Verdächtigten zur Zusammenarbeit auszuloten. Vorliegend stand jedoch die Durchsuchung auch angesichts des Angebots des Beschwerdeführers zur Zusammenarbeit nach Lage des Falles nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung der Sache und der Schwere des gegen den Beschwerdeführer bestehenden Verdachts. Das ihm zur Last gelegte Verhalten — unrechtmäßige Mehrarbeitsabrechnung in einer Polizeibehörde in einer beträchtlichen Größenordnung (im Falle des Beschwerdeführers nach eigenen Angaben 290 Stunden mit einem Auszahlungsbetrag von mehr als 8.200,00 DM) ist nicht derart, daß sich eine Durchsuchungsanordnung von vornherein verbot. Die Durchsuchungsanordnung ist auch, dem Vorgehen bei der Durchsuchung Grenzen setzend und Richtung gebend, konkret genug gefaßt. Die zu durchsuchenden Räumlichkeiten sind unzweideutig bezeichnet. Der Tatvorwurf LVerfGE 13

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„Betrug u.a." gibt die Richtung des Ermittlungsverfahrens der Sache nach hinreichend wieder und läßt jedenfalls in Verbindung mit der Vorgabe „in Bezug auf die Beziehungen zu dem Beschuldigten K. sowie der von ihm (= dem Beschwerdeführer) und dem Beschuldigten K. geleisteten Arbeitsstunden ... beim Polizeipräsidium" (in der gleichzeitigen — ersten — Beschlagnahmeanordnung v. 9.11.2001) hinreichend erkennen, in welchem Rahmen sich die Durchsuchung zu halten hatte. Die Beweismittel, die Gegenstand der Durchsuchung sein sollten, sind zudem mit „Aufzeichnungen und Unterlagen (z.B. Kalender)" (wiederum in der gleichzeitigen — ersten — Beschlagnahmeanordnung) der Art nach genau genug eingegrenzt. 2. Die gerichtliche Bestätigung der Beschlagnahme von Unterlagen des Beschwerdeführers durch den Beschluß des AG vom 5.2.2002 in Gestalt der Beschwerdeentscheidung des LG v. 28.3.2002 hält der verfassungsrechtlichen Uberprüfung ebenfalls stand. Weder in das Grundrecht des Beschwerdeführers auf Datenschutz (Art. 11 Abs. 1 LV) noch in sein Eigentum (Art. 41 Abs. 1 LV) an den Unterlagen wird in verfassungswidriger Weise eingegriffen. a) aa) Nach Art. 11 Abs. 2 Satz 1 LV sind Einschränkungen in das Recht auf Datenschutz im überwiegenden Allgemeininteresse durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes im Rahmen der darin festgelegten Zwecke zulässig. Die Beschlagnahme von Unterlagen mit persönlichen Daten zum Zwecke der Strafverfolgung auf der Grundlage der Bestimmungen der Strafprozeßordnung stellt sich in diesem Sinne als Einschränkung des Datenschutzes durch Gesetz bzw. aufgrund eines Gesetzes im Rahmen der darin festgelegten Zwecke dar. Allerdings gilt auch hier, daß die gerichtliche Beschlagnahmeentscheidung, wenn personenbezogene Daten betroffen sind, ihrerseits dem Grundrecht auf Datenschutz Rechnung tragen muß. Das erkennende Gericht hat bereits bei anderer Gelegenheit klargestellt (Beschl. v. 15.11.2001 - VfGBbg 25/01 - , LVerfGE 12, 155 (LS); LVerfGE Suppl. Bbg. zu Bd. 12,124 (Volltext)): „Ebenso wie eine Durchsuchungsanordnung stellt eine Beschlagnahme einen Eingriff in den grundrechtlich geschützten Bereich des Betroffenen dar. Die Anordnung steht daher (wie alle Zwangsmaßnahmen im Strafverfahren) unter dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Dementsprechend muß die Maßnahme zur Erreichung des angestrebten Ziels geeignet und erforderlich sein und darf der mit ihr verbundene Eingriff nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und zur Stärke des bestehenden Tatverdachts stehen (BVerfG, NJW 1992, 551, 552 = NStZ 1992, 91 f). § 98 StPO, der die Anordnung der Beschlagnahme grundsätzlich dem Richter zuweist und auch dann, wenn bei Gefahr im Verzug ausnahmsweise die Staatsanwaltschaft oder ihre Hilfsbeamten zur Anordnung der Beschlagnahme befugt sind, grundsätzlich eine richterliche Bestätigung vorschreibt, hat dies sicherzustellen."

bb) Hieran gemessen ist die Beschlagnahmeentscheidung des AG vom 5.2.2002 in Gestalt des Beschlusses des LG vom 28.3.2002 verfassungsrechtlich LVerfGE 13

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nicht zu beanstanden. Sie kann sich, nachdem der Beschwerdeführer ungeachtet seines Angebots zur Zusammenarbeit zu einer freiwilligen Uberlassving der hier in Frage stehenden Unterlagen offensichtlich nicht bereit ist, auf §§ 94 Abs. 2, 98 Abs. 2 StPO stützen. Danach ist aufgrund richterlicher Anordnung bzw. mit gerichtlicher Bestätigung die Beschlagnahme von Gegenständen zulässig, die im Rahmen der Strafverfolgung als Beweismittel von Bedeutung sein können. In dieser Weise ist hier in dem Grundrecht auf Datenschutz Rechnung tragender Weise verfahren worden. Von den bei der Durchsuchung in Verwahrung genommenen Unterlagen sind, wie sich aus den Ermittlungsakten ergibt, die für die weiteren Ermittlungen nicht mehr benötigten an den Beschwerdeführer zurückgegeben worden. Die verbleibenden Unterlagen sind von der Staatsanwaltschaft näher bezeichnet worden. Anschließend hat das AG die Beschlagnahme der im einzelnen bezeichneten Gegenstände (s. insoweit Verfassungsgericht Brandenburg, aaO, unter Hinweis auf BVerfG, NJW 1992, 551, 552) bestätigt. Das LG hat sodann ausweislich der Begründung der Beschwerdeentscheidung die beschlagnahmten Unterlagen gesichtet und mit Blick auf Tatvorwurf und Bedeutung für das Ermittlungsverfahren überprüft. Es genügt im übrigen, daß das beschlagnahmte Material potentiell als Beweismittel von Bedeutung ist (vgl. BVerfG, NJW 1995, 2839, 2840 mwN). Daß hier in dieser Hinsicht eine Fehleinschätzung unterlaufen wäre und etwa die beschlagnahmten Unterlagen als Beweismittel für ein eventuelles strafbares Verhalten des Beschwerdeführers von vornherein nicht von Interesse wären, ist nicht zu erkennen. Das gilt auch für die beschlagnahmten Kalender und Aufzeichnungen; aus ihnen können sich etwa Überschneidungen von als Überstunden abgerechneten Zeiten mit privaten Aktivitäten ergeben. Insgesamt hält sich nach alledem die Beschlagnahmeentscheidung des AG vom 5.2.2002 in Verbindung mit der sie bestätigenden Beschwerdeentscheidung des LG vom 28.3.2002 innerhalb des für Einschränkungen in das Recht auf Datenschutz durch Art. 11 Abs. 2 LV gezogenen Rahmens. b) Die gerichtliche Bestätigung der Beschlagnahme der Unterlagen verstößt auch nicht gegen die verfassungsrechtliche Eigentumsgarantie. Art. 41 Abs. 1 S. 2 LV gewährleistet das Eigentum nur nach Maßgabe der gesetzlichen Inhalts- und Schrankenbestimmungen. Hierzu zählen auch die Vorschriften der Strafprozeßordnung über die Beschlagnahme von Gegenständen für Zwecke der Strafverfolgung (ebenso für die selbständige Einziehung von Gegenständen, die durch eine strafbare Handlung erlangt sind: Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschl. v. 17.10.1996 - VfGBbg 19/95 - , LVerfGE 5, 74, 78), deren Anwendung durch die hier tätig gewordenen Gerichte, wie ausgeführt, verfassungsgerichtlich nicht zu beanstanden ist. c) Soweit der Beschwerdeführer auch hinsichtlich der Beschlagnahme auf seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit verweist, gelten die diesen Punkt betreffenden Ausführungen zu der Durchsuchungsanordnung (s. oben zu B. II. 1. b)) LVerfGE 13

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entsprechend. Soweit der Beschwerdeführer ergän2end beanstandet, daß die Beschlagnahme nun schon mehrere Monate andauere, betrifft dies nicht die verfahrensgegenständliche gerichtliche Beschlagnahmeentscheidung vom 5.2.2002 (AG)/ 28.3.2002 (LG). Hierzu wird auf die Ausfuhrungen zu B. 1.1. c) Bezug genommen.

Nr. 11* Bei Einstellung eines Bußgeldverfahrens steht die Unschuldsvermutung nicht zwingend einer Entscheidung entgegen, welche die Auslagen des Betroffenen bei diesem beläßt und nicht der Staatskasse auferlegt.** Verfassung des Landes Brandenburg Art. 53 Abs. 2 Strafprozeßordnung § 467 Abs. 4 Beschluß vom 25. Oktober 2002 - VfGBbg 75/02 in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren des Herrn B. gegen den Beschluß des Amtsgerichts Eisenhüttenstadt vom 1. Februar 2002. Entscheidungsformel: Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Nr. 12 Verletzung des Rechts auf Beistand eines Verteidigers in einem Falle, in dem es im Anschluß an eine Durchsuchung zu einer Verständigung mit dem Betroffenen zu Bußgeldhöhe und Rechtsmittelverzicht ohne Einbeziehung des bereits beauftragten Rechtsanwalts gekommen war.***

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Die Entscheidung ist im Volltext abgedruckt im Supplementband Brandenburg zu LVerfGE 13 (Suppl. Bbg. zu Bd. 13), S. 185 ff, hrsg. vom Verfassungsgericht des Landes Brandenburg (Adresse s. Anhang) und dort gegen Gebühr erhältlich. ** Nichtamtlicher Leitsatz. *** Nichtamtlicher Leitsatz.

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Recht auf anwaltlichen Beistand im Bußgeldverfahren

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Verfassung des Landes Brandenburg Art. 6 Abs. 1; 53 Abs. 4 Gesetz über Ordnungswidrigkeiten § 46 Abs. 1 und 2 Strafprozeßordnung §§ 163a Abs. 3 S. 2; 168c Abs. 1 und 5 S. 1; 302

Beschluß vom 25. Oktober 2002 - VfGBbg 87/02 in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren des Herrn H. gegen den Beschluß des Amtsgerichts Cottbus vom 22. Mai 2002. Entscheidungsformel: Der Beschluß des Amtsgerichts Cottbus vom 22. Mai 2002 verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 53 Abs. 4 iVm Art. 6 Abs. 1 der Verfassung des Landes Brandenburg. Er wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht Cottbus zurückverwiesen. Das Land Brandenburg hat dem Beschwerdeführer die in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten. Gründe: A. Der Beschwerdeführer und seine Ehefrau sind Geschäftsführer der H.-GmbH. Gegen beide wurde durch den Oberbürgermeister der Stadt Cottbus nach einer Baustellenkontrolle Anfang Mai 2001 ein Bußgeldverfahren eingeleitet, weil der Verdacht entstanden war, daß sie ohne entsprechende Eintragung in die Handwerksrolle Fliesen verlegen ließen (vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Gesetz zur Bekämpfung der Schwarzarbeit). Seit Ende Juni 2001 bemühte sich der Verfahrensbevollmächtigte des Beschwerdeführers, der eine Vollmacht überreicht hatte, ergebnislos um Akteneinsicht in die Verfahrensakte. Auf Antrag des Oberbürgermeisters erließ das AG am 2.8.2001 drei Beschlüsse, mit denen es die Durchsuchung der Geschäftsräume der Gesellschaft, der Wohnräume des Beschwerdeführers und seiner Frau und die Durchsuchung der Geschäftsräume eines Steuerbüros anordnete. Der Oberbürgermeister teilte daraufhin mit Fax vom 27.8.2001 dem Bevollmächtigten des Beschwerdeführers mit, die Akteneinsicht könne erfolgen, als Termin zur Abholung der Akte sei der Zeitraum vom 5. bis 7.9.2001 vorgemerkt. Am 30.8.2001 wurde die Durchsuchung der Geschäftsräume des Beschwerdeführers vollzogen. Gegen 14.20 Uhr erschienen Mitarbeiter des Ordnungsamtes und der Handwerkskammer in den Geschäftsräumen und händigten dem Beschwerdeführer den Durchsuchungsbeschluß aus. Ausweislich eines Vermerkes des Ordnungsamtes verhinderte der Beschwerdeführer zunächst „durch körperLVerfGE 13

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liehe Zurückweisung" das Betreten der Räume. Daraufhin wurde ihm, wie es im Vermerk weiter heißt, „ein telefonisches Gespräch mit seinem ihn vertretenden Rechtsanwalt ... gestattet". Im weiteren Verlauf des Telefonates sprach auch eine Mitarbeiterin des Ordnungsamtes mit dem Verteidiger, erläuterte die Vorwürfe wie auch den Durchsuchungsbeschluß und wies auf die Möglichkeit von „Vollzugshilfe" hin. Im Anschluß an das Telefonat wurden die Geschäftsräume von 14.45 Uhr bis 15.50 Uhr durchsucht und zwei Ordner mit Arbeitsverträgen und Rechnungen sichergestellt. Unmittelbar im Anschluß an die Durchsuchung wurde der Beschwerdeführer in den Räumen des Ordnungsamtes vernommen. In einer Aktennotiz heißt es, der Beschwerdeführer sei nach Abschluß der Durchsuchung „mit seinem Einverständnis in die Diensträume des Ordnungsamtes zwecks Anhörung nach § 55 OWiG" gebeten worden. Der Verteidiger wurde von der Vernehmung nicht informiert. In der Betroffenenvernehmung, die ausweislich des Protokolls von 16.55 Uhr bis 18.05 Uhr stattfand, wurde der Beschwerdeführer zunächst darauf hingewiesen, daß das Gesetz Bußgelder bis 200.000,00 DM ermögliche. Im weiteren Verlauf der Vernehmung kam es zu einer Absprache, die vorsah, daß der Beschwerdeführer sich zum Tatvorwurf einlassen und daß das Bußgeld 30.000,00 DM betragen solle. Auch ein Rechtsmittelverzicht stand im Raum. Im Verlauf der weiteren Befragung erläuterte der Beschwerdeführer dann zunächst, daß seine Ehefrau zwar ebenfalls Geschäftsführerin der Gesellschaft sei, mit den konkreten Vorgängen aber nichts zu tun habe. In der Folge machte er Angaben zum Tatvorwurf, die ihn belasteten. Am Ende dieses Gespräches erließ der Oberbürgermeister einen Bußgeldbescheid, in dem gegen den Beschwerdeführer eine Geldbuße von 30.000,00 DM verhängt wurde. Gleichzeitig wurde eine Gebühr von 1.500,00 DM festgesetzt. Der Bescheid enthielt eine Zahlungsaufforderung, in der dem Beschwerdeführer eine Zahlung des Gesamtbetrages in 27 Raten zugebilligt wurde. Der Beschwerdeführer unterzeichnete um 18.35 Uhr einen Rechtsmittelverzicht und beantragte, die Geldbuße in 27 Raten zahlen zu dürfen. In dem Antrag nahm er auf den „rechtskräftigen" Bußgeldbescheid Bezug. Am 7.9.2001 legte der Beschwerdeführer durch seinen Verteidiger Einspruch gegen den Bußgeldbescheid ein, der am 20.9.2001 durch den Oberbürgermeister gem. § 69 Abs. 1 S. 1 OWiG wegen des erklärten Rechtsmittelverzichtes als unzulässig verworfen wurde. Dagegen beantragte der Beschwerdeführer unter dem 26.9.2001 gerichtliche Entscheidung. Der Rechtsmittelverzicht sei unwirksam, weil er Teil einer verfahrensbeendenden Absprache gewesen sei und weil ein Fall notwendiger Verteidigung vorgelegen habe. Zudem sei eine erhebliche Drucksituation gegen ihn aufgebaut worden. Hinzu komme, daß seinem Rechtsanwalt mehrfach Akteneinsicht verweigert worden sei. Das gesamte Geschehen verletze seinen Anspruch auf ein faires Verfahren und auf rechtliches Gehör. Mit Beschluß vom 22.5.2002 verwarf das AG den Antrag als unbegründet. Aufgrund des wirksam erklärten Rechtsmittelverzichtes sei ein VerfahrenshinderLVerfGE 13

Recht auf anwaltlichen Beistand im Bußgeldverfahren

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nis entstanden. Der Beschwerdeführer, der die Möglichkeit gehabt habe, sich mit seinem Anwalt zu besprechen, habe ausdrücklich erklärt, er wolle das Verfahren ohne anwaltliche Vertretung abschließen. Ein Fall von notwendiger Verteidigung habe nicht vorgelegen. Der Beschwerdeführer habe auch nicht nähere Angaben zum Zustandekommen des Rechtsmittelverzichtes gemacht. Am 17.7.2002 hat der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde erhoben. Er rügt die Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 52 Abs. 3 (rechtliches Gehör) und Art. 53 Abs. 4 (Recht auf Beistand eines Verteidigers) der Verfassung des Landes Brandenburg (LV). Es stehe aufgrund der vorliegenden Schriftstücke zum Bußgeldbescheid fest, daß der Verzicht schon vor Erlaß des Bescheides erklärt worden sei. Jedenfalls sei der Rechtsmittelverzicht Teil einer verfahrensbeendenden Absprache gewesen sei. Nach einhelliger obergerichtlicher Rechtsprechung führten derartige Absprachen zur Nichtigkeit des Rechtsmittelverzichtes. Im übrigen wiederholt und vertieft der Beschwerdeführer sein Vorbringen aus dem Einspruchsschreiben. B. Die Verfassungsbeschwerde hat Erfolg. I. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. 1. Soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung rechtlichen Gehörs rügt, bezieht er sich bei sachgerechter Interpretation seines Rechtschutzzieles auf das Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit dem allgemeinen Freiheitsrecht des Art. 10 LV. Dieses schützt das Recht des Betroffenen auf ein rechtsstaatliches, faires Verfahren und erfaßt auch die einem gerichtlichen Verfahren vorgelagerten Verfahren, mithin auch Verfahren bei der Verwaltungsbehörde nach dem OWiG (vgl. zur entsprechenden Rechtslage nach dem GG: BVerfG, Beschl. v. 19.3.1992 - 2 BvR 1/91 - , NJW 1992, 2472; Schufy-Fietit^ in: Dreier, GG, Art. 20 - Rechtsstaat Rn. 202 ff; Jarass/Pienth GG, Art. 20 Rn. 101). Art. 52 Abs. 3 LV ist demgegenüber nicht anwendbar. Die Vorschrift sichert die Stellung des Einzelnen vor dem Richter. Für das Verwaltungsverfahren ist diese Gewährleitung von vornherein nicht anwendbar (vgl. zu Art. 103 Abs. 1 GG: BVerfG, Beschl. v. 18.1.2000 1 BvR 321/96 BVerfGE 101, 397, 404; Schul^e-Fielit^ in: Dreier, GG, Art. 103 Abs. 1 Rn. 17; Jarass/Pienth GG, 6. Aufl., Art. 103 Rn. 5). 2. Der Rechtsweg ist ausgeschöpft (§ 45 Abs. 2 S. 1 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg - VerfGGBbg -). Die amtsrichterliche Entscheidung ist gem. § 69 Abs. 1 S. 2 OWiG iVm § 62 Abs. 2 S. 2 OWiG weder mit der Rechtsbeschwerde noch mit dem Antrag auf deren Zulassung anfechtbar.

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3. Der Verfassungsbeschwerde steht nicht entgegen, daß der Beschwerdeführer Rechtsmittelverzicht erklärt hat. Der Beschwerdeführer macht nämlich gerade die Art und Weise des Zustandekommens des Rechtsmittelverzichtes zum Gegenstand seiner Verfassungsbeschwerde. Ebenso steht der Grundsatz der materiellen Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde nicht entgegen, denn der Beschwerdeführer hat die verfassungsrechtlichen Einwände im Kern bereits im Verfahren vor dem AG vorgetragen. 4. Der Beschwerdeführer ist auch beschwerdebefugt. Insbesondere erscheint eine Verletzung des vom Beschwerdeführer als verletzt gerügten Rechtes aus Art. 53 Abs. 4 LV, sich des Beistandes eines Verteidigers zu bedienen, nicht von vornherein ausgeschlossen. Nach Art. 53 Abs. 4 LV kann ein Beschuldigter sich in jeder Lage des Verfahrens des Beistandes eines Verteidigers bedienen. Nach Sinn und Zweck ist die Bestimmung weit auszulegen. Die Bestimmung schützt den Betroffenen deshalb nicht nur im eigentlichen Straf-, sondern auch im Bußgeldverfahren. Das „Verfahren" in diesem Sinne umfaßt auch das vorbereitende Verfahren, das Vollstreckungsverfahren (vgl. BVerfG StV 1994, 572; NStZ 1993, 409) und das Bußgeldverfahren. In diesem Sinne ist „Beschuldigter" auch der Angeschuldigte, Angeklagte, Verurteilte und der Betroffene im Bußgeldverfahren. 5. Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht weiter nicht entgegen, daß mit ihr u.a. die Verletzung von Landesgrundrechten bei der Durchführung eines bundesrechtlich — durch das OWiG und die StPO — geordneten Verfahrens gerügt wird. Die Voraussetzungen für ein Eingreifen des Landesverfassungsgerichts — keine Rechtsschutzalternativen zur Verfassungsbeschwerde, keine vorangegangene Befassung eines Bundesgerichts, Inhaltsgleichheit der Landes- und Bundesgrundrechte (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschl. v. 16.4.1998 - VfGBbg 1/98 LVerfGE 8, 82, 84 f) - liegen vor. Die als verletzt gerügten Grundrechte stimmen mit Grundrechten überein, die vom Grundgesetz verbürgt werden. Das Recht, sich in jeder Lage des Verfahrens des Beistandes eines Verteidigers bedienen zu können (Art. 53 Abs. 4 LV) wird im Grundgesetz ebenso gewährleistet (vgl. BVerfGE 65, 171; NStZ 1984, 176). Das vom Beschwerdeführer als verletzt gerügte Recht des Betroffenen auf ein rechtsstaatliches, faires (Verwaltungs-)Verfahren ist in der Landesverfassung inhaltsgleich zum Grundgesetz gewährleistet. II. Die Verfassungsbeschwerde hat in der Sache Erfolg. Die angegriffene Gerichtsentscheidung verletzt den Beschwerdeführer in dem Grundrecht auf Beistand seines Verteidigers nach Art. 53 Abs. 4 LV iVm der Rechtsschutzgarantie nach Art. 6 Abs. 1 LV. Abgesehen von Verstößen gegen das Willkürverbot kann die Auslegung und Anwendung einfachen Rechtes, so auch von § 46 Abs. 1 OWiG iVm § 302 StPO, LVerfGE 13

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vom Verfassungsgericht nur darauf überprüft werden, ob die Entscheidung Auslegungsfehler enthält, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des betroffenen Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschl. v. 16.3.2000 - VfGBbg 2/00 - , LVerfGE Suppl. Bbg. zu Bd. 11, 85; BVerfGE 18, 85, 92 f; 75, 201, 221; 87, 287, 325). Das ist der Fall, wenn die von den Fachgerichten vorgenommene Auslegung der Normen die Tragweite des Grundrechts nicht hinreichend berücksichtigt oder im Ergebnis zu einer unverhältnismäßigen Beschränkung der grundrechtlichen Freiheit führt (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschl. v. 16.3.2000 - VfGBbg 2/00 - , aaO). So liegen die Dinge hier. 1. Im Bußgeldverfahren, bei dem gewissermaßen Anklage und Urteil in einer Hand sind, darf die Möglichkeit, die Überprüfung durch eine neutrale, unabhängige Instanz zu erwirken, durch die konkrete Verfahrensgestaltung nicht praktisch ausgeschlossen werden. Nach Art. 53 Abs. 4 LV kann ein Beschuldigter sich in jeder Lage des Verfahrens des Beistandes eines Verteidigers bedienen. Als Element der Rechtsstaatlichkeit des Straf- und Bußgeldverfahrens schließt es das der „Waffengleichheit" dienende Recht auf ein faires Verfahren ein, prozessuale Rechte und Möglichkeiten sachkundig — das heißt auch: mit sachkundiger Hilfe eines Rechtsanwalts — wahrnehmen und Ubergriffe der rechtsstaatlich begrenzten Rechtsausübung staatlicher Stellen oder anderer Verfahrensbeteiligter angemessen abwehren zu können (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschl. v. 12.10.2000 — VfGBbg 37/00 LVerfGE Suppl. Bbg. zu Bd. 11, 174, 179; BVerfGE 34, 293, 302; 38, 105, 111; 66, 313, 319; 68, 237, 255 f). Neben dem öffentlichen Interesse an einer wirksamen richterlichen Kontrolle der anderen Gewalten hat auch der Rechtsschutzsuchende einen Anspruch auf tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle (Art. 6 Abs. 1 LV). Daraus ergeben sich Vorwirkungen für das Verwaltungsverfahren, das der gerichtlichen Kontrolle vorhergeht (vgl. Krebs in: v. Münch/ Kunig, GG-Kommentar, 5. Aufl., Art. 19 Rn. 66; Schul^e-Fielit% in: Dreier, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 67). Ein Verzicht auf Rechtsschutz schon im Verwaltungsverfahren ist nur wirksam, wenn der Berechtigte die Konsequenzen seiner Erklärung kannte (vgl. Schmidt-Aßmann in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Art. 19 Abs. 4 Rn. 247). Gerichtlicher Rechtsschutz darf durch die konkrete Ausgestaltung des behördlichen Verfahrens nicht unzumutbar erschwert werden (BVerfGE 61, 82, 110). Die Behörde ist deshalb gehalten, den Bürger nicht über seine gerichtlichen Rechtschutzmöglichkeiten irrezuleiten oder von vornherein spätere Nachprüfungsmöglichkeiten des Gerichtes auszuschalten (BVerfG, aaO). 2. a) Von Verfassungs wegen gibt es gegen die amtsrichterliche Entscheidung nichts zu erinnern, soweit das AG sinngemäß ausgeführt hat, aus einer Absprache allein könne nicht auf die Unwirksamkeit des erklärten Rechtsmittelverzichtes LVerfGE 13

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geschlossen werden könne. Das AG kann sich auf obergerichtliche Rechtsprechung stützen, welche zwar einhellig die Vereinbarung eines Rechtsmittelverzichtes für unzulässig hält, die rechtlichen Folgen einer (unzulässigen) Vereinbarung aber — anders als der Beschwerdeführer meint — uneinheitlich beurteilt. Der vom Beschwerdeführer zitierte vierte Strafsenat des Bundesgerichtshofs hält nicht nur die Vereinbarung eines Rechtsmittelverzichtes für unzulässig, sondern auch den absprachegemäß erklärten Rechtsmittelverzicht für unwirksam (vgl. BGH, Urt. v. 8.8.1997 - 4 StR 240/97 - , BGHSt 43, 195 = NJW 1998, 86 = NStZ 1998, 31 und Besch! v. 19.10.1999 - 4 StR 86/99 - , BGHSt 45, 227 = NJW 2000, 526 = NStZ 2000, 96 = StV 2000, 4 = DAR 2000, 204). Andere Strafsenate des BGH folgen dem jedoch nicht und halten einen absprachegemäß erklärten Rechtsmittelverzicht nur dann für unwirksam, wenn die Absprache zu einer unzulässigen Willensbeeinflussung bei der Abgabe der Verzichterklärung geführt hat (vgl. BGH, Beschl. v. 8.3.2000 - 1 StR 607/99 - , StV 2000, 237 = NStZ 2000, 386 und v. 11.6.2001 - 2 StR 223/01 - , StV 2001, 557 = NStZ-RR 2001, 334). Auch in der Literatur ist das Meinungsbild uneinheitlich (vgl. einerseits Rieß in: Löwe/Rosenberg, StPO, 25. Aufl., Einleitung G Rn. 86, andererseits Rautenberg in: HK-StPO, 3. Aufl., § 302 Rn. 10). Ohnehin ist durchaus offen, ob das Verbot, einen Rechtsmittelverzicht zum Gegenstand verfahrensbeendender Absprachen zu machen (vgl. BGH, Urt. v. 28.8.1997 - 4 StR 240/97 aaO), angesichts der Geltung des Opportunitätsgrundsatzes (s. § 47 OWiG) im Bußgeldverfahren Anwendung findet. b) Das AG hat jedoch verkannt, daß es in der besonderen Situation auch von Verfassungs wegen geboten gewesen war, zwischen Durchsuchung und Vernehmung den Verteidiger zu benachrichtigen. Der Rechtsmittelverzicht ist deshalb unwirksam. Der Beschwerdeführer hatte keine zureichende Gelegenheit, sich während der Absprachen und vor dem Rechtsmittelverzicht des Beistandes seines Verteidigers zu bedienen. Bestehen gegen eine Verständigung über die Ergebnisse eines (Straf-)Verfahrens grundsätzlich keine verfassungsrechtlichen Einwände (so BVerfG, Beschl. v. 27.1.1987 - 2 BvR 1133/86 - , NJW 1987, 2662), so stellt der verfassungsrechtliche Anspruch auf ein faires Verfahren doch bestimmte Mindestanforderungen an die Absprache und an den nach einer verfahrensbeendenden Absprache erklärten Rechtsmittelverzicht. Das Verfassungsgebot rechtsstaatlicher, fairer Verfahrensgestaltung ist dabei Leitlinie für die Ordnungsbehörde bei der Durchführung des Bußgeldverfahrens im Rahmen der gesetzlichen Regeln (vgl. zum Strafverfahren zuletzt BVerfG, Beschl. v. 12.8.2002 - 2 BvR 932/02 zuvor etwa BVerfGE 64, 135, 146). Der Betroffene muß zur Wahrung seiner Rechte wirksam auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluß nehmen können (BVerfGE 57, 250, 274 f; 64, 135,145). Dabei muß einerseits berücksichtigt werden, daß der Betroffene die Möglichkeit haben muß, aus freier Entscheidung rasch das Verfahren zu beenden, andererseits aber auch die Möglichkeit reiflicher Überlegung haben muß. Je erheblicher die Auswirkungen sind, aber auch, je überraschender über einen in Rede stehenden Rechtsmittelverzicht zu LVerfGE 13

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entscheiden ist, um so wichtiger ist die Möglichkeit einer „Denk- und Beratungspause". Das Gesetz sieht nach § 46 Abs. 1, 2 OWiG iVm § 168c Abs. 1, 5 S. 1, § 163a Abs. 3 S. 2 StPO vor, daß vor einer förmlichen Vernehmung des Betroffenen (§55 OWiG) die Verwaltungsbehörde den Verteidiger von dem Termin benachrichtigen muß. Nicht der Beschwerdeführer, sondern die jeweilige Behörde ist nach dem Gesetz zwingend zur Benachrichtigung verpflichtet (näher Krehl in: HK-StPO, 3. Aufl., § 168c Rn. 6; Wache in: KK-StPO, 4. Aufl., § 168c Rn. 22; Wieser Handbuch des Bußgeldverfahrens, 3. Aufl., 1999, S. 231), und zwar unabhängig davon, ob es sich um einen Fall notwendiger Verteidigung handelt. Die Benachrichtigungspflicht soll sicherstellen, daß der Verteidiger sein Anwesenheitsrecht wahrnehmen kann, soll aber auch die Beratung des Betroffenen und seine effektive Verteidigung ermöglichen. Ob der Betroffene auf die obligatorische Benachrichtigung seines Verteidigers verzichten kann (vgl. abl. OLG Saarbrücken, StV 1988, 425; KK-StPO-Tolksdorf, § 218 Rn. 7), mag dahinstehen, weil der Beschwerdeführer hier zu keinem Zeitpunkt erklärt hat, die Verwaltungsbehörde solle seinen Verteidiger nicht verständigen. Aus der Tatsache, daß er selbst keinen Kontakt mit dem Verteidiger suchte und sich zur Sache einließ, kann jedenfalls ein solcher Verzicht nicht gefolgert werden. Die Verwaltungsbehörde und der Beschwerdeführer haben in zeitlichem Zusammenhang mit einer förmlichen mündlichen Vernehmung Absprachen getroffen und einerseits den Bußgeldbescheid erlassen, andererseits auf Rechtsmittel verzichtet. Ob schon allein die fehlende Benachrichtigung des Verteidigers zu einem unwirksamen Verzicht führt, braucht hier nicht entscheiden zu werden (vgl. zum Verwertungsverbot einer unter Verstoß gegen § 168c Abs. 5 S. 1 StPO getroffenen Aussage eines Beschuldigten: BGH StV 1989, 3 = NStZ 1989, 282 = NStE Nr. 3 zu § 168c StPO), weü weitere besondere Umstände hinzutreten. Die Absprachen und der Rechtsmittelverzicht sind in unmittelbarem Anschluß an die plötzliche, überraschende Durchsuchung der Betriebsräume erfolgt. Eine solche Durchsuchung stellt eine besonders einschneidende Maßnahme dar (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschl. v. 25.9.2002 - VfGBbg 79/02 mwN). Die Verwaltungsbehörde hat auch erkannt, daß sich der Beschwerdeführer in einer besonderen psychischen Ausnahmesituation befindet, denn vor der Durchsuchung hatte es eine Rangelei mit ihm gegeben und die Behörde hatte die Möglichkeit von „Vollzugshilfe" angedroht. Zu Beginn der Durchsuchung telefonierte eine Mitarbeiterin der Verwaltungsbehörde mit dem Anwalt, offensichtlich, um die Durchsuchung zu erleichtern. Eine Wiederholung des Anrufes wäre unproblematisch möglich gewesen. Zudem war der Behörde durch das Telefonat zweifelsfrei bekannt, daß das Mandat mit dem Verteidiger andauerte. Diesem war erst für einen späteren Zeitpunkt Akteneinsicht zugesagt worden. In einer solchen Situation fällt der Verstoß gegen die Benachrichtigungspflicht besonders ins Gewicht.

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3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers beruht auf § 32 Abs. 7 S. 1 VerfGGBbg. III. Gem. § 50 Abs. 3 VerfGGBbg ist der angegriffene Beschluß aufzuheben und das Verfahren an das AG zurückzuverweisen.

Nr. 13* Wohnungsdurchsuchung wegen „Gefahr im Verzuge" und Unverletzlichkeit der Wohnung.** Verfassung des Landes Brandenburg Art. 15 Abs. 1 und 2 Strafprozeßordnung § 105

Beschluß vom 21. November 2002 - V f G B b g 94/02 in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren des Herrn T. gegen die Durchsuchungsanordnung der Staatsanwaltschaft Cottbus vom 20. Dezember 2000, den Beschluß des Amtsgerichts Cottbus vom 9. Januar 2002 und Beschluß des Landgerichtes Cottbus vom 21. Juni 2002. Entscheidungsformel: Die Durchsuchungsanordnung der Staatsanwaltschaft Cottbus vom 20. Dezember 2000 sowie die Beschlüsse des Amtsgerichts Cottbus vom 9. Januar 2002 und des Landgerichtes Cottbus vom 21. Juni 2002 verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 15 Abs. 1 der Verfassung des Landes Brandenburg. Das Land Brandenburg hat dem Beschwerdeführer die in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.

Die Entscheidung ist im Volltext abgedruckt im Supplementband Brandenburg zu LVerfGE 13 (Suppl. Bbg. zu Bd. 13), S. 208 ff, hrsg. vom Verfassungsgericht des Landes Brandenburg (Adresse s. Anhang) und dort gegen Gebühr erhältlich. ** Nichtamtlicher Leitsatz. LVerfGE 13

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Nr. 14 1. Das Recht auf Gelegenheit zur Zuziehung eines Rechtsbeistandes vor freiheitsentziehenden Maßnahmen (Art. 9 Abs. 2 Satz 2 Verfassung des Landes Brandenburg) kann es gebieten, mit der vorangehenden Anhörung des Betroffenen bis zum Eintreffen seines Verteidigers zu warten. 2. Zum Recht der Erziehungsberechtigten auf Verfahrensbeteiligung bei freiheitsentziehenden Maßnahmen gegen Jugendliche. 3. Die an Stelle von Untersuchungshaft tretende Anordnung der einstweiligen Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung ist an den für eine Freiheitsentziehung geltenden Garantien zu messen. 4. Die Vorenthaltung eines Verfahrensgrundrechts in der Vorinstanz erfaßt auch die Entscheidung der (jeweils) nächsten Instanz, wenn der Verfassungsverstoß im Rechtsmittelverfahren nicht korrigiert wird.* Verfassung des Landes Brandenburg Art. 9 Abs. 1 Satz 2 und 3; Art. 52 Abs. 4 Satz 1 Strafprozeßordnung §§115 Abs. 3; 118 Abs. 2; 128 Abs. 1 Satz 2; 168c Abs. 5 Jugendgerichtsgesetz §§ 67 Abs. 1; 71 Abs. 2; 72 Abs. 4 Beschluß vom 19. Dezember 2002 - VfGBbg 104/02 in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren 1.

des Herrn B., vertreten durch die Eltern M.B. und E.B.

2.

der Frau M.B.

3.

des Herrn E.B.

gegen den Haftbefehl des Amtsgerichts Zossen vom 8. August 2002, den Beschluß des Landgerichts Potsdam vom 26. August 2002 und den Beschluß des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 26. September 2002 und Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe und Beiordnung des Rechtsanwaltes G.

*

Nichtamtliche Leitsätze.

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Verfassungsgericht des Landes Brandenburg Entscheidungsformel:

Der Haftbefehl des Amtsgerichtes Zossen vom 8. August 2002 sowie die Beschlüsse des Landgerichtes Potsdam vom 26. August 2002 und des Brandenburgischen Oberlandesgerichtes vom 26. September 2002 sind unter Verletzung des Beschwerdeführers zu 1 in seinem Recht aus Art. 9 Abs. 2 Satz 2 und der Beschwerdeführer zu 2 und 3 in ihrem Recht aus Art 9 Abs. 2 Satz 3 der Verfassung des Landes Brandenburg ergangen. Im übrigen wird die Verfassungsbeschwerde teils verworfen, teils zurückgewiesen. Das Land Brandenburg hat den Beschwerdeführern die in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten. Damit erübrigt sich die Entscheidung über den Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe. Gründe: A. 1. Der 16 Jahre alte Beschwerdeführer zu 1 ist das jüngste von vier Geschwistern und Schüler einer Förderschule. Er lebt bei seinen Eltern, den Beschwerdeführern zu 2 und zu 3. Der Beschwerdeführer zu 1 befand sich vom 8.8.2002 bis zum 25.9.2002 in Untersuchungshaft. Seit dem 26.9.2002 ist er einstweilen in einer Jugendhilfeeinrichtung in der Uckermark untergebracht. Gegen ihn sowie einen 22 Jahre alten Arbeitslosen und gegen weitere drei 15 und 16 Jahre alte Jugendliche ist Anklage wegen versuchten Mordes und vollendeter schwerer Körperverletzung erhoben worden. Das LG hat inzwischen das Hauptverfahren eröffnet und die Fortdauer der einstweiligen Unterbringung des Beschwerdeführers zu 1 in der Jugendhilfeeinrichtung beschlossen. Gegenstand der Anklage ist die Mißhandlung eines aus Mosambik stammenden Mannes in der Nacht vom 2. zum 3.8.2002 zwischen 2.30 Uhr und 5.00 Uhr. Im Zuge der Ermittlungen ist am 6.8.2002 zunächst einer der Angeklagten, am 7.8.2002 sind weitere drei Angeklagte vorläufig festgenommen worden. Noch an demselben Tage machten sie alle — allerdings widersprüchliche — Angaben zum Geschehen. Einige der Angeklagten sagten aus, der Beschwerdeführer zu 1 habe sich, wenn auch weniger massiv, an den Mißhandlungen beteiligt. Am 8.8.2002 wurde daraufhin der Beschwerdeführer zu 1 gegen Mittag vorläufig festgenommen und auf der Polizeiwache Ludwigsfelde vernommen. Gegen 17.45 Uhr gab die Ermittlungsrichterin der Kanzlei seines Verteidigers telefonisch durch, sie wolle in einer halben Stunde den Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer zu 1 verkünden. Der Verteidiger rief die Richterin gegen 18.00 Uhr zurück und bat sie, eine dreiviertel Stunde zu warten, er sei bereits auf dem Weg. Dies lehnte die Richterin ab. Die Beschwerdeführerin zu 2, die zur richterlichen Vernehmung LVerfGE 13

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gegen 18.15 Uhr zum Amtsgericht gekommen war, stand dort vor verschlossener Tür. Als der Verteidiger gegen 18.30 Uhr am AG eintraf, war der Haftbefehl bereits verkündet und der Beschwerdeführer zu 1 auf dem Weg in die Justizvollzugsanstalt. Der Beschwerdeführer zu 1 legte gegen den Haftbefehl Beschwerde ein und beantragte gleichzeitig, über die Beschwerde in mündlicher Verhandlung zu entscheiden. Mit Beschluß vom 26.8.2002 wies das LG die Beschwerde zurück und faßte den Haftbefehl neu. In dem Beschluß heißt es, die Kammer gehe vom Haftgrund der Fluchtgefahr aus; die Straferwartung biete einen hohen Fluchtanreiz. Gegen den Beschluß des LG legte der Beschwerdeführer zu 1 weitere Beschwerde ein und beantragte mit dieser erneut, den Haftbefehl gegen geeignete Auflagen außer Vollzug zu setzen und über die weitere Beschwerde in mündlicher Verhandlung zu entscheiden. Mit Beschluß vom 26.9.2002 hob das Brandenburgische OLG den Haftbefehl auf. Gleichzeitig ordnete es die einstweilige Unterbringung des Beschwerdeführers zu 1 in einer Jugendhilfeeinrichtung an. Zu Unrecht habe das LG angenommen, der Beschwerdeführer zu 1 habe nicht in einem Heim der Jugendhilfe untergebracht werden können. Da jedoch die übrigen Voraussetzungen der Untersuchungshaft und damit zugleich die Voraussetzungen für eine einstweilige Unterbringung nach § 72 Abs. 4 Jugendgerichtsgesetz QGG) gegeben seien, sei eine derartige Unterbringung anzuordnen. Zwar sei der Beschwerdeführer zu 1 bisher strafrechtlich nicht aufgefallen, lebe bei seinen Eltern und sei noch recht jung. Auf der anderen Seite müsse er jedoch mit einer erheblichen Sanktion rechnen, die erfahrungsgemäß gerade Jugendliche dazu bewegen könne, sich dem Verfahren zu entziehen. Es sei auch nicht ausgeschlossen, daß einem Jugendlichen „die nachträgliche Bestürzung über die eigene Tat" dahin treibe, sein gewohntes Lebensumfeld zu verlassen und zumindest für einige Zeit unterzutauchen. Ob die Ermittlungsrichterin mit der Verkündung des Haftbefehls bis zur Ankunft des Verteidigers hätte warten müssen, könne auf sich beruhen, weil der Beschwerdeführer zu 1 in der richterlichen Vernehmung von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht habe. 2. Die Beschwerdeführer haben am 28.10.2002 Verfassungsbeschwerde erhoben. Sie rügen eine Reihe von Verfassungsverstößen. Ein Verstoß gegen Art. 9 Abs. 2 S. 2 Verfassung des Landes Brandenburg (LV) sei darin zu sehen, daß die Ermittlungsrichterin vor Erlaß des Haftbefehles nicht auf den Verteidiger des Beschwerdeführers zu 1 gewartet habe. Diese fehlgeschlagene Vernehmung sei die einzige mündlichen Anhörung geblieben. Dies könne auch durch die Möglichkeit einer schriftlichen Stellungnahme nicht ausgeglichen werden. Weiter liege ein Verstoß gegen das aus Art. 52 Abs. 4 S. 1 LV abzuleitende Gebot der bestmöglichen Sachaufklärung vor. Eine Entscheidung allein nach Aktenlage sei hier verfassungswidrig. Eine Anhörung aller Beschwerdeführer sowie die Einholung einer Stellungnahme der Jugendgerichtshilfe sei geboten gewesen.

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Die Anordnung der einstweiligen Unterbringung des Beschwerdeführers zu 1 in einer Einrichtung der Jugendhilfe verstoße gegen das Recht auf persönliche Freiheit aus Art. 6 Abs. 1, Art. 9 Abs. 1 S. 2, Art. 10, Art. 52 Abs. 4 LV. Die Freiheit der Person dürfe nur aus besonders gewichtigen Gründen eingeschränkt werden. Das Brandenburgische OLG habe verkannt, daß eine solche Maßnahme nur ultima ratio sein könne. Sowohl das AG als auch das LG ließen in ihren Entscheidungen die durch einschlägige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes vorgegebene verfassungskonforme Auslegung des § 112 Abs. 3 Strafprozeßordnung (StPO) vermissen. Die Schwere des Tatvorwurfes genüge für sich genommen nicht, einen Haftbefehl zu rechtfertigen. Die Haftbeschwerde und die weitere Beschwerde seien nicht in der durch Art. 52 Abs. 4 S. 1 LV gebotenen Schnelligkeit bearbeitet worden. Die Beschwerdeführer zu 2 und zu 3 rügen, daß sie als Eltern nicht am Verfahren zur Anordnung und Fortdauer der Freiheitsentziehung beteiligt worden seien. Sie seien weder vor dem Amts-, noch vor dem Land- oder dem Oberlandesgericht angehört worden. Die Beschwerdeführerin zu 2 sei nicht in das AG gelangt, obwohl sie zur Teilnahme an der richterlichen Vernehmung und der Verkündung des Haftbefehles angereist sei. 3. Das Verfassungsgericht hat die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft beigezogen. Der Präsident des Brandenburgischen OLG, des LG, der Direktor des AG und die Staatsanwaltschaft hatten Gelegenheit zur Äußerung. B. I. Die Verfassungsbeschwerde ist im wesentlichen zulässig. 1. Der Rechtsweg ist ausgeschöpft (§ 45 Abs. 2 S. 1 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg - VerfGGBbg -). Gegen den Beschluß des OLG ist ein Rechtsmittel nicht gegeben, § 304 Abs. 4 S. 2 StPO. Der Rechtsbehelf nach § 33a StPO steht nicht zur Verfügung. Er setzt voraus, daß das Gericht Tatsachen oder Beweisergebnisse verwertet hat, zu denen der Beteiligte kein rechtliches Gehör gehabt hat. Der Beschwerdeführer zu 1 rügt hier aber nicht die Verwertung von Tatsachen, zu denen er nicht gehört worden wäre, sondern er beanstandet, daß gerichtliche Entscheidungen auf lückenhafter Tatsachengrundlage, nämlich ohne seine ordnungsgemäße persönliche Anhörung und den damit verbundenen unmittelbaren Eindruck von ihm, ergangen seien. Auch der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde greift nicht ein. Danach muß ein Beschwerdeführer über die Erschöpfung des Rechtsweges im engeren Sinne hinaus alle zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreifen, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzungen zu erwirken. Einen Haftprüfungsantrag nach § 117 Abs. 1 StPO vor ErLVerfGE 13

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hebung der Verfassungsbeschwerde brauchte der Beschwerdeführer zu 1 indes nach Lage des Falles nicht zu stellen. Er hat sowohl in der Beschwerde als auch in der weiteren Beschwerde auf Überprüfung unter seiner persönlichen Anhörung im Beistand seines Verteidigers gedrängt. Ein Haftprüfungsantrag kann ihm unter diesen Umständen billigerweise nicht abverlangt werden. 2. Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht nicht entgegen, daß die Verletzung von Landesgrundrechten in einem bundesrechtlich — hier durch die Strafprozeßordnung und das Jugendgerichtsgesetz — geregelten Verfahren gerügt wird. Ein Bundesgericht war nicht befaßt. Die gerügten Grundrechte sind inhaltsgleich: Die Freiheit der Person (Art. 9 Abs. 1 LV, Art. 2 Abs. 2 S. 2 Grundgesetz — GG —) ist durch entsprechende Verfahrensgrundrechte gesichert (Art. 2 Abs. 2 S. 3, Art. 104 GG, Art. 9 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 bis 4 LV); auch das Grundgesetz gewährleistet die Beiziehung eines Rechtsbeistandes (BVerfGE 70, 297, 322 f) und eine das Ergebnis der Anhörung des Betroffenen berücksichtigende richterliche Sachaufklärung im Bereich freiheitsbeschränkender Maßnahmen (vgl. BVerfG NJW 2000, 502; 1995, 3047; BVerfGE 70, 297, 308, 319 f). Das Recht der Erziehungsberechtigten auf Verfahrensbeteiligung (Art. 9 Abs. 2 S. 3 LV) ergibt sich im Grundgesetz aus Art. 6 Abs. 2, demzufolge den Eltern ein eigenes Recht auf treuhänderische Wahrnehmung der Belange ihrer Kinder zusteht (BVerfGE 84, 168, 180). Das als verletzt gerügte Recht auf ein zügiges Verfahren wird auf Bundesebene durch Art. 19 Abs. 4 GG geschützt (vgl. BVerfGE 93,1,13). 3. Die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde setzt weiter voraus, daß zum Zeitpunkt der Entscheidung des Verfassungsgerichtes (vgl. BVerfGE 81, 138, 140) ein Rechtsschutzbedürfnis für die Aufhebung der Entscheidung bzw. für die Feststellung eines Verfassungsverstoßes besteht. So liegt es hier ungeachtet dessen, daß der ursprüngliche Haftbefehl aufgehoben worden ist und auch der Beschluß des Brandenburgischen OLG über die einstweilige Unterbringung des Beschwerdeführers zu 1 in einer Jugendhilfeeinrichtung durch die Entscheidung des LG zur Fortdauer dieser Unterbringung (s. § 207 Abs. 4 StPO) überholt ist. Bei gewichtigen Grundrechtseingriffen kann zur Vermeidung einer Lücke im Grundrechtsschutz das Interesse an einer verfassungsgerichtlichen Klärung fortbestehen (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Besch! v. 21.11.2002 - VfGBbg 94/02 - und v. 17.2.2000 - VfGBbG 45/99 - , NStZ-RR 2000, 185; BVerfG NJW 2002, 3691). 4. Soweit die Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Art. 10 LV rügen, sind sie hingegen nicht beschwerdebefugt. Eine mögliche Verletzung von Art. 6 Abs. 1 LV haben die Beschwerdeführer nicht dargelegt. Die Vorschrift kommt grundsätzlich nur zum Tragen, wenn es — anders als hier — um den Zugang zu den Gerichten geht. Die von den Beschwerdeführern im übrigen als verletzt gerügten Grundrechte gehen als spezielle Vorschriften Art. 10 LV vor. Das von den Beschwerdeführern als verletzt angeführte VerhältnismäßigkeitsLVerfGE 13

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prinzip ist kein eigenständiges Grundrecht (vgl. dazu näher Besch! v. 25.9.2002 VfGBbg 79/02 -). II. 1. Die Verfassungsbeschwerde hat in der Sache im wesentlichen Erfolg. Die angegriffenen Gerichtsentscheidungen sind unter Verletzung des Rechtes des Beschwerdeführers zu 1 auf Beiziehung eines Rechtsbeistands seiner Wahl nach Art. 9 Abs. 2 S. 2 LV und des Rechtes der Beschwerdeführer zu 2 und 3 auf Verfahrensbeteiligung aus Art. 9 Abs. 2 S. 3 der Verfassung des Landes Brandenburg ergangen. a) Die Freiheit der Person kann gem. Art. 9 Abs. 1 S. 2 LV nur aufgrund eines Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen eingeschränkt werden. An Freiheitsentziehungen sind dem hohen Rang des Freiheitsgrundrechts entsprechend zufolge Art. 9 Abs. 2 und Abs. 3 LV besondere Anforderungen zu stellen. Ebenso wie die Anordnung von Untersuchungshaft ist auch die Anordnung der einstweiligen Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung an den für eine Freiheitsentziehung geltenden Garantien zu messen; auch hierbei handelt es sich um eine „Freiheitsentziehung" iSv Art. 9 Abs. 2 LV, ist doch auch eine solche Unterbringung faktisch mit der Aufhebung der Bewegungsfreiheit verbunden. Sie ersetzt Untersuchungshaft. Der Betroffene pflegt aus Furcht vor (erneuter) Untersuchungshaft die Einrichtung nicht zu verlassen. So hält es ersichtlich auch der Beschwerdeführer zu 1. b) Nach Art. 9 Abs. 2 S. 2 LV ist dem Betroffenen vor jeder richterlichen Entscheidung über Anordnung oder Fortdauer eines Freiheitsentzugs Gelegenheit zu geben, einen Rechtsbeistand seiner Wahl beizuziehen. Das erkennende Gericht hat bereits klargestellt, daß dies das Recht des Betroffenen einschließt, sich während einer mündlichen Anhörung des Beistands eines Rechtsanwalts seiner Wahl zu bedienen (vgl. Beschl. v. 12.10.2000 - VfGBbg 37/00 LVerfGE Suppl. Bbg. zu Bd. 11, 173). Er muß die realistische Möglichkeit haben, sich bei einer anstehenden Anhörung oder Einvernahme der Hilfe und des Rats eines Verteidigers zu versichern. Begrenzt wird dieses sein Recht auf Beiziehung eines Rechtsanwalts seiner Wahl allerdings durch das öffentliche Interesse an der Effizienz des Verfahrens. Die Gerichte haben im Einzelfall eine Abwägung zwischen den Belangen der Strafrechtspflege und denen des Einzelnen vorzunehmen. Steht nur eine unwesentliche Verzögerung des Ablaufes zu erwarten, ist von Verfassungs wegen die Anwesenheit des Verteidigers zu ermöglichen und gegebenenfalls auf das Eintreffen des Verteidigers zu warten (vgl. Boujong in: Karlsruher Kommentar-Strafjprozeßordnung, 4. Aufl., § 115 Rn. 11 und Paeffgen in: Systematischer Kommentar zur StPO, § 115 Rn. 9, die jeweils von mehrstündigen Wartepflichten ausgehen).

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c) Nach Lage der Dinge ist der Beschwerdeführer zu 1 in seinem Recht auf Beiziehung eines Rechtsbeistandes nach Art. 9 Abs. 2 S. 2 LV verletzt worden. Die richterliche Vernehmung des Beschuldigten nach § 128 Abs. 1 S. 2 iVm § 115 Abs. 3 StPO erfolgt im Zusammenhang mit einer möglichen Anordnung eines Freiheitsentzuges iSv Art. 9 Abs. 2 S. 2 LV. Der Ermitdungsrichter hat darüber zu befinden, ob der Festgenommene auf freien Fuß gesetzt wird oder Haftbefehl ergeht und unter welchen Auflagen gegebenenfalls der Vollzug des Haftbefehles ausgesetzt wird (§116 StPO). Vorliegendenfalls hat die Ermitdungsrichterin dem Beschwerdeführer zu 1 keine ausreichende Gelegenheit iSv Art. 9 Abs. 2 S. 2 LV gegeben, seinen Verteidiger als den Rechtsbeistand seiner Wahl zu der Anhörung im Vorfeld der Entscheidung über einen Haftbefehl hinzuzuziehen. Sie hätte nach Lage des Falles mit der richterlichen Vernehmung bis zum Eintreffen des Verteidigers warten können und müssen. Dieser hatte sowohl gegenüber dem ermittelnden Staatsanwalt als auch gegenüber der Richterin zu erkennen gegeben, daß er auf jeden Fall bei der anstehenden richterlichen Vernehmung des Beschwerdeführers zu 1 anwesend zu sein wünsche. Schon gegen Mittag, kurz nach der vorläufigen Festnahme des Beschwerdeführers zu 1, war er zusammen mit der Beschwerdeführerin zu 2 in dem ermittelnden Kommissariat der Kriminalpolizei erschienen und hatte geltend gemacht, daß Haftgründe nicht erkennbar seien. Am Nachmittag desselben Tages hatte er sodann zunächst mit dem ermittelnden Staatsanwalt gesprochen und sich wegen eines auswärtigen Termines bei der zuständigen Ermittlungsrichterin gewissermaßen „abgemeldet", jedoch gleichzeitig mitgeteilt, er werde nach einer Benachrichtigung in jedem Fall in weniger als einer Stunde im AG zur Stelle sein; es bleibe dabei, daß er zugegen sein wolle. Zu diesem Zeitpunkt zeichnete sich bereits ab, daß es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer richterlichen Vernehmung kommen werde, so daß eine vorsorgliche terminliche Absprache ohne weiteres möglich gewesen wäre. Schon von daher muß auf Unverständnis stoßen, daß die Ermitdungsrichterin den Verteidiger erst gegen 17.45 Uhr von der unmittelbar bevorstehenden Vernehmung unterrichtete und dann nicht einmal eine dreiviertel Stunde zu warten bereit war. Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß der Beschwerdeführer zu 1 gerade erst 16 Jahre alt ist und zudem der Umstand, daß es sich um einen Förderschüler - also einen auf schulische Förderung angewiesenen jungen Menschen - handelt, auf ein erhöhtes Fürsorgebedürfnis hindeutet. Es sind auch keine ins Gewicht fallenden Gründe ersichtlich, die einer kurzen Verschiebung des Anhörungstermins entgegengestanden hätten. Nachdem der Verteidiger sein Kommen in weniger als einer Stunde zugesagt hatte, hätte sich nur eine unwesentliche Verzögerung ergeben. Unter diesen Umständen hätte die Anhörung nicht beginnen dürfen, bevor der Verteidiger eingetroffen war. Obendrein hat der Beschwerdeführer zu 1 erklärt, er wolle sich vor einer Aussage zunächst mit seinem Anwalt beraten. Es verwundert, daß die Richterin unter diesen Umständen die Anhörung nicht noch bis zum EintrefLVerfGE 13

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fen des Verteidigers verschoben hat, nachdem sie wußte, daß er bereits unterwegs war, und auf eine Einvernahme nun gänzlich verzichtete. Der Verstoß gegen Art. 9 Abs. 2 S. 2 LV wird auch nicht etwa dadurch gleichsam geheilt, daß der Beschwerdeführer zu 1 keine Angaben gemacht hat. Der Verstoß gegen Art. 9 Abs. 2 S. 2 LV liegt bereits darin, daß er keine Gelegenheit hatte, sich mit seinem Verteidiger über sein Verhalten in dem Anhörungstermin zu beraten. d) Der Verfahrensmangel, der darin liegt, daß dem Beschwerdeführer zu 1 unter Verstoß gegen Art. 9 Abs. 2 S. 2 LV vorenthalten worden ist, sich bei der Anhörung vor Erlaß des Haftbefehls des Beistandes seines Verteidigers zu bedienen, wirkt auch auf die Beschlüsse des LG und des Brandenburgischen OLG herüber. Die Vorenthaltung eines Verfahrensgrundrechts in der Vorinstanz erfaßt auch die Entscheidung der (jeweils) nächsten Instanz, wenn der Verfassungsverstoß im Rechtsmittelverfahren nicht korrigiert wird (vgl. BVerfG, NStZ 2002, 157 = StV 2001, 691). Ist der Haftbefehl unter verfassungswidriger Verkürzung des Rechts auf Zuziehung eines Rechtsbeistandes bei der Anhörung vor Erlaß des Haftbefehls ergangen, ist deshalb die Anhörung unter Zuziehung des Rechtsbeistandes entweder, wie es § 118 Abs. 2 StPO ermöglicht, im Beschwerdeverfahren oder ggf. nach Zurückverweisung des Verfahrens durch das Beschwerdegericht in der Ausgangsinstanz nachzuholen. Der Betroffene kann in diesem Sinne verlangen, daß er sich jedenfalls einmal in Beistand seines Verteidigers gegenüber dem für die Haftfrage zuständigen Richter äußern kann. Da hier eine Anhörung im Beistand des Verteidigers auch vor dem LG und dem OLG nicht erfolgt ist, sind daher auch die dort getroffenen Entscheidungen unter Verletzung von Art. 9 Abs. 2 S. 2 LV ergangen. Eine Uberprüfung in inhaltlicher Hinsicht erübrigt sich unter diesen Umständen. e) Die Beschwerdeführer zu 2 und zu 3 sind in ihrem Recht aus Art. 9 Abs. 2 S. 3 LV verletzt worden. Nach dieser Verfassungsbestimmung haben die Erziehungsberechtigten bei richterlichen Entscheidungen über Anordnung und Fortdauer eines Freiheitsentzuges das Recht auf Verfahrensbeteiligung. Die Ermittlungsrichterin hatte deshalb sicherzustellen, daß sie als Eltern Gelegenheit hatten, an der Anhörung des Beschwerdeführers zu 1 teilzunehmen. Es geht nicht an, daß sich die Beschwerdeführerin zu 2, als sie gegen 18.15 Uhr zu der richterlichen Anhörung des Beschwerdeführers zu 1 zum AG kam, sich dort vor verschlossenen Türen fand. Ein Anwesenheitsrecht des Erziehungsberechtigten ergibt sich auch einfachrechtlich aus § 67 Abs. 1 JGG. Soweit der Beschuldigte ein Recht darauf hat, gehört zu werden und Fragen und Anträge zu stellen, steht dieses Recht auch dem Erziehungsberechtigten und dem gesetzlichen Vertreter zu; dies gilt auch bei Vernehmungen im Vorverfahren (Schoreit in: Diemer/Schoreit/Sonnen, Jugendgerichtsgesetz, 4. Aufl., § 67 Rn. 13 f). § 168c Abs. 5 StPO ergänzt das Anwesenheitsrecht dahin, daß die „zur Anwesenheit Berechtigten" von dem Termin vorher zu benachrichtigen sind. LVerfGE 13

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2. Soweit mit der Verfassungsbeschwerde ferner gerügt wird, daß die Beschwerde gegen den Haftbefehl und die weitere Beschwerde unter Verstoß gegen Art. 52 Abs. 4 S. 1 LV nicht zügig genug bearbeitet worden seien, bleibt die Verfassungsbeschwerde ohne Erfolg. Sowohl das LG als auch das OLG waren, wie die sodann ergangenen Entscheidungen ausweisen, in der Sache selbst der Auffassung, daß der Beschwerdeführer zu 1 wegen Fluchtgefahr nicht auf freiem Fuß belassen werden dürfe. Dies mag aus ihrer Sicht den Entscheidungsdruck eine wenig verringert haben. Unbeschadet dessen war allerdings — wie stets, und zwar unabhängig vom Ergebnis, wenn die Freiheit eines Menschen betroffen ist - im Interesse einer baldigen Klärung der Situation des Betroffenen in angemessen kurzer Zeit eine Entscheidung zu treffen. Die hier in Frage stehenden Bearbeitungszeiten — das LG hat binnen 2 Vi Wochen, das OLG binnen eines Monats entschieden — bewegen sich zwar in einem kritischen Bereich, erscheinen aber nach Lage des Falles noch unterhalb der Grenze des Verfassungswidrigen. III. 1. Nachdem die angegriffenen Beschlüsse durch die im Zusammenhang mit der Eröffnung des Hauptverfahrens — mit der Verfassungsbeschwerde nicht angefochtene — Entscheidung des LG über die Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers in einer Jugendhilfeeinrichtung überholt sind, war für eine Aufhebung der verfahrensgegenständlichen Gerichtsentscheidungen und eine Zurückverweisung kein Raum. 2. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen der Beschwerdeführer beruht auf § 32 Abs. 7 VerfGGBbg. Da die Beschwerdeführer im wesentlichen Erfolg hatten, erscheint eine volle Auslagenerstattung angezeigt. Damit erübrigt sich eine Entscheidung über den Antrag auf Gewährung von Prozeßkostenhilfe.

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Entscheidungen des Staatsgerichtshofs der Freien Hansestadt Bremen

Die amtierenden Richterinnen und Richter des Staatsgerichtshofs der Freien Hansestadt Bremen* Prof. Günter Pottschmidt, Präsident (Brigitte Dreger) (Dr. Hein Bölling) Prof. Dr. Alfred Rinken, Vizepräsident (Hans Alexy) (Günter Bandisch) Dr. Jörg Bewersdorf (Annegret Derleder) (Dr. Axel Boetticher) Dr. Manfred Ernst (Wolfgang Grotheer) (Dr. Guido Tögel) Prof. Dr. Eckart Klein (Prof. Dr. Dr. h.c. Josef Isensee) (Prof Dr. Erich Röper) Prof. Dr. Ulrich K. Preuß (Sabine Heinke) (Horst Frehe) Konrad Wesser (Peter Friedrich) (Dr. Herbert Müffelmann)

In Klammern die Stellvertreterinnen und Stellvertreter.

Normenkontrolle - Beleihung bei formeller Privatisierung

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Nt. 1 1. Die Übertragung der Zuständigkeit auf natürliche oder juristische Personen des Privatrechts, bestimmte einzelne hoheitliche Kompetenzen im eigenen Namen in den Handlungsformen des öffentlichen Rechts wahrzunehmen (Beleihung), bedarf einer formell-gesetzlichen Grundlage. Die Landesverfassung verlangt nicht ein förmliches Gesetz für jeden einzelnen Beleihungsvorgang. 2. Das in den Artikeln 65, 66, 67 Abs. 2,118,120 und 127 LV niedergelegte demokratische Prinzip und dessen Anwendung auf die vollziehende Gewalt gebieten, daß im Falle der Übertragung von Staatsaufgaben auf Private im Wege der Beleihung die Aufgabenverantwortung und die daraus folgende Garantenstellung für die Aufgabenerfüllung weiterhin beim Senat verbleiben. Die parlamentarische Verantwortimg der Mitglieder des Senats und des Senats insgesamt verlangt eine umfassende Rechts- und Fachaufsicht über die Beliehenen. 3. Die Grundsätze demokratischer Legitimation, Verantwortlichkeit und Kontrolle der Regierung verlangen, daß die im Gesetz vorgesehenen Instrumente der Fachaufsicht und der Weisungsbefugnis gegenüber den Beliehenen auch effektiv genutzt werden. Mindesterfordernis für die Erfüllung dieser Pflicht ist die Bereitstellung einer ausreichenden Zahl von Personalstellen in der öffentlichen Verwaltung und deren Besetzung mit Amtswaltern, die die Aufsichts- und Weisungsrechte des verantwortlichen Mitglieds des Senats sachgemäß und kontinuierlich ausüben können. 4. Die Verfassungsgebote effektiver exekutivischer Steuerung und Kontrolle der Beliehenen sowie der parlamentarischen Kontrolle der Regierung verpflichten die durch das Beleihungsgesetz ermächtigten Mitglieder des Senats, durch eine entsprechende Gestaltung der Rechtsbeziehungen zu den Beliehenen zu gewährleisten, daß ihre Einwirkungen auf die beliehenen Unternehmen nicht durch entgegenstehende private Rechte der Gesellschaft oder der Gesellschafter beschränkt werden. 5. Die Verlagerung der Erfüllungsverantwortung für Staatsaufgaben auf Beliehene darf nicht zu einer Minderung der Kontrollbefugnisse der Bürgerschaft, ihrer Ausschüsse und deren Mitglieder führen.

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Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen Grundgesetz Art. 33 Abs. 4 Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen Art. 65, 66, 67 Abs. 2,101 Abs. 1,105 Abs. 4,118,120,127 Bremische Landeshaushaltsordnung § 44 Abs. 3 Gesetz zur Übertragung von Aufgaben staatlicher Förderung auf juristische Personen des privaten Rechts §§ 1, 2, 6 Urteil vom 15. Januar 2002 - St 1/01 -

betreffend die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes zur Übertragung von Aufgaben staatlicher Förderung auf juristische Personen des privaten Rechts, Entscheidungsformel: Das Gesetz zur Übertragung von Aufgaben staatlicher Förderung auf juristische Personen des privaten Rechts vom 26. Mai 1998 (Brem.GBl. S. 134, berichtigt Brem.GBl. 1998 S. 171) idF des Gesetzes vom 17. Oktober 2000 (Brem.GBl. S. 399) ist in der sich aus den Gründen ergebenden Auslegung mit der Landesverfassung vereinbar. Gründe: A. Gegenstand des Verfahrens ist die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes zur Übertragung von Aufgaben staatlicher Förderung auf juristische Personen des privaten Rechts vom 26. Mai 1998 (Brem.GBl. S. 134, berichtigt Brem.GBl. S. 171) idF des Gesetzes vom 17. Oktober 2000 (Brem.GBl. S. 399) - Beleihungsgesetz I. Die Freie Hansestadt Bremen bemüht sich seit Jahren um eine Behebung der vom Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 27.5.1992 festgestellten „extremen Haushaltsnotlage" (BVerfGE 86, 148, 263). Zum Zwecke der Haushaltssanierung erhält das Land gem. § 11 Abs. 6 des Finanzausgleichsgesetzes (FAG) idF v. 17.6.1999 (BGBl. I S. 1382) bis 2004 Sonder-Bundesergänzungszuweisungen mit der Maßgabe, eine restriktive Haushaltspolitik einzuhalten. In dem „Gesetz zur Sicherstellung der Sanierung des Landes Bremen" v. 21.12.1999 (Brem.GBl. S. 303) bekunden Senat und Bürgerschaft den „festen Willen, im Jahr 2005 die Sanierung der bremischen Haushalte abzuschließen und die mit der abschließenden Zahlung von Sonder-Bundesergänzungszuweisungen verbundenen LVerfGE 13

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Auflagen zu erfüllen ... Im Jahre 2005 muß Bremen in der Lage sein, einen verfassungskonformen Haushalt aufzustellen" (Präambel). Zu den zur Erreichung dieses Zieles festgelegten Maßnahmen gehört u.a. „als ein wichtiges parlamentarisches Steuerungsmittel gegenüber der Verwaltung" die Einfuhrung eines Produktgruppen-Haushaltes, durch den Finanz-, Personal- und Leistungsziele zusammengeführt werden sollen. „Leistungen im konsumtiven Bereich des Kern-Haushaltes und im Zuwendungsbereich sind mit Mengengerüsten zu unterlegen und über Kontrakte abzusichern" (Art. 1 Nr. 8). Im Zusammenhang mit den bereits in den vorangegangenen Legislaturperioden eingeleiteten Haushaltssanierungsmaßnahmen hat der Senat der Freien Hansestadt Bremen u.a. Initiativen zu einer Modernisierung der Verwaltung unternommen, die auf eine Neuordnung der öffentlichen Aufgabenwahrnehmung gerichtet sind. Das am Leitbild des „New Public Management" orientierte Ziel ist die effizientere, flexiblere, bürgernähere und bürgeraktivierende Erfüllung öffentlicher Aufgaben. Diesem Ziel soll eine für alle Bereiche der Verwaltung vorzunehmende Differenzierung zwischen der strategischen Steuerungsfunktion und der operativen Leistungserfüllung dienen. Zentrale Instrumente eines solchen Verwaltungskonzeptes sind Diensdeistungs- und Rahmenverträge, durch die die steuernde Verwaltung die von ihr zu gewährleistenden Merkmale öffentlicher Diensdeistungen, insbesondere deren Rechtmäßigkeit und Qualität, sicherstellen soll (vgl. hierzu Mitteilung des Senats v. 24.10.2000 an die Bremische Bürgerschaft [Landtag] „Neuordnung der Aufgabenwahrnehmung in der Freien Hansestadt Bremen — Erster Zwischenbericht -"). Für Teilbereiche der Verwaltung hat der bremische Gesetzgeber mit dem Beleihungsgesetz eine rechtliche Regelung getroffen. Danach wird der zuständige Senator ermächtigt, in den Bereichen gewerbliche Wirtschaft, Infrastruktur und Verkehr, Häfen und Außenwirtschaft, Wohnungs- und Städtebau, Land- und Forstwirtschaft, Fischerei, Umweltschutz sowie Arbeitsmarkt durch Verwaltungsakt oder öffentlich-rechtlichen Vertrag Förderaufgaben auf dem Gebiet der Zuwendung auf juristische Personen des privaten Rechts zu übertragen. Die Geschäftsführung der mit der Erfüllung von Förderaufgaben beauftragten juristischen Personen des privaten Rechts ist berechtigt, zur Durchführung von Fördermaßnahmen in ihrem Geschäftsbereich Verwaltungsakte zu erlassen und öffentlichrechtliche Verträge zu schließen. Die mit der Erfüllung von Förderaufgaben beauftragten juristischen Personen des privaten Rechts unterliegen der Aufsicht des zuständigen Senators; sie erfüllen ihre Aufgaben nach dessen Richtlinien und Wiesungen. Die Regelungen des Gesetzes lauten wie folgt:

s1

Übertragung von Förderaufgaben Soweit die Freie Hansestadt Bremen Maßnahmen in den Bereichen 1. gewerbliche Wirtschaft, Infrastruktur und Verkehr, 2. Häfen und Außenwirtschaft, LVerfGE 13

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Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen 3. Wohnungs- und Städtebau, 4. Land-, Forstwirtschaft, Fischerei, 5. Umweltschut2 und 6. Arbeitsmarkt durch Zuwendungen fördert, kann der zuständige Senator juristischen Personen des privaten Rechts die Befugnis verleihen, Förderaufgaben auf dem Gebiet der Zuwendung in eigenem Namen und in den Handlungsformen des öffentlichen Rechts wahrzunehmen. , . §

2

Gegenstand und Form der Übertragung von Förderaufgaben (1) Der zuständige Senator überträgt die Erfüllung von Förderaufgaben nach § 1 durch Verwaltungsakt oder öffentlich-rechtlichen Vertrag nach Maßgabe der Anlagen 1 bis 5 und bestimmt das Nähere zur Durchfuhrung der übertragenen Aufgaben. (2) Die Geschäftsführung der mit der Erfüllung von Förderaufgaben beauftragten juristischen Personen des privaten Rechts ist berechtigt, zur Durchführung von Fördermaßnahmen in ihrem Geschäftsbereich Verwaltungsakte zu erlassen und öffentlich-rechtliche Verträge zu schließen. Die für das Verwaltungsverfahren geltenden Vorschriften sind anzuwenden. Abweichend von Artikel 9 Abs. 1 des Gesetzes zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung gilt für den Erlaß des Widerspruchsbescheides zu Verwaltungsakten nach Satz 1 § 73 Abs. 1 Nr. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung. (3) Die Aufsicht über die mit Förderaufgaben beauftragte juristische Person des privaten Rechts führt der zuständige Senator. §3 Durchführung von Fördermaßnahmen (1) Für die Durchführung der Fördermaßnahmen im Rahmen der übertragenen Förderaufgaben sind die für die Fördermaßnahmen erlassenen Richtlinien und sonstigen Vorschriften des Bundes, des Landes und der Europäischen Union in der jeweils geltenden Fassung anzuwenden. (2) Die nach Maßgabe der Anlagen 1 bis 5 beauftragte juristische Person des privaten Rechts bewilligt, gewährt und verwaltet Zuwendungen, Darlehen und sonstige Fördermaßnahmen. (3) Die mit Förderaufgaben beauftragte juristische Person des privaten Rechts kann für Handlungen im Zusammenhang mit der Durchführung der Fördermaßnahmen den Ersatz von Aufwendungen nach einer Entgeltordnung erheben. Die Entgeltordnung wird durch den zuständigen Senator erlassen. §4 Berichte Der Senat legt der Bürgerschaft (Landtag) einmal jährlich einen Bericht über die Tätigkeit der mit Förderaufgaben beauftragten juristischen Personen des privaten Rechts vor.

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§5 Rechte des Rechnungshofes Die mit Förderaufgaben beauftragten juristischen Personen des privaten Rechts unterliegen im Rahmen der Beleihung der Prüfung durch den Rechnungshof.

§6

Änderung der Landeshaushaltsordnung Dem § 44 der Landeshaushaltsordnung vom 25. Mai 1971 (Brem.GBl. S. 143 63-c-l), die zuletzt durch Artikel 2 des Gesetzes vom 16. Dezember 1997 (Brem.GBl. 1998 S. 1) geändert worden ist, wird folgender Absatz 3 angefügt: „(3) Juristischen Personen des privaten Rechts kann mit ihrem Einverständnis die Befugnis verliehen werden, Verwaltungsaufgaben auf dem Gebiet der Zuwendungen im eigenen Namen und in den Handlungsformen des öffentlichen Rechts wahrzunehmen, wenn sie die Gewähr für eine sachgerechte Erfüllung der ihnen übertragenen Aufgaben bieten und die Beleihung im öffentlichen Interesse liegt. Die Verleihung und die Entziehung der Befugnis obliegen dem zuständigen Senator; die Verleihung bedarf der Einwilligung des Senators für Finanzen. Der Beliehene unterliegt der Aufsicht des zuständigen Senators." Anlage 1 (zu § 2 Abs. 1) Auf die Bremer Investitionsgesellschaft mbH (BIG) werden Aufgaben wie folgt übertragen: 1. Die Gesellschaft hat im Rahmen der staatlichen Wirtschaftspolitik Vorhaben, die geeignet sind, die Investitionsbereitschaft zu erhöhen, die technologische Entwicklung und Innovationskraft zu steigern und die Bereitschaft zur Gründung selbständiger Existenzen zu stärken, finanziell zu fördern. Sie fuhrt diese Aufgaben nach den Richtlinien und Weisungen des zuständigen Senators aus. Für die Durchfuhrung gelten insbesondere — der Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur — das Landesinvestitionsförderprogramm — die Mittelstandsförderungsprogramme — die Technologieförderungsprogramme 2. Die Gesellschaft führt die Programme der Wohnungsbau- und Städtebauförderung nach den Richtlinien und Weisungen des zuständigen Senators aus. 3. Die Förderungen erfolgen durch die Gewährung von Zuwendungen, Darlehen und sonstigen Finanzierungshilfen. 4. Die Gesellschaft kann ihr zugeordnete Tochtergesellschaften mit der Erledigung ihr nach diesem Gesetz übertragener Aufgaben beauftragen. Der Auftrag bedarf der Genehmigung des zuständigen Senators. Die Aufsicht des zuständigen Senators erstreckt sich insoweit auch unmittelbar auf diese Tochtergesellschaften. Anlage 2 (zu § 2 Abs. 1) Auf die Bremerhavener Gesellschaft für Investitionsförderung und Stadtentwicklung mbH (BIS) werden Aufgaben wie folgt übertragen: 1. Die Gesellschaft hat im Rahmen der staatlichen Wirtschaftspolitik Vorhaben, die geeignet sind, die Investitionsbereitschaft zu erhöhen, die technologische LVerfGE 13

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Entwicklung und Innovationskraft zu steigern und die Bereitschaft zur Gründung selbständiger Existenzen zu stärken, in Bremerhaven finanziell zu fördern. Sie fuhrt diese Aufgaben nach den Richtlinien und Weisungen des zuständigen Senators aus. Für die Durchfuhrung gelten insbesondere — der Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur — der Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes in Verbindung mit der fischwirtschaftlichen Förderung des EU-Finanzinstruments zur Ausrichtung der Fischerei (FIAF) — das Landesinvestitionsförderprogramm — die Mittelstandsförderungsprogramme — die Technologieförderungsprogramme 2. Die Förderung erfolgt durch die Gewährung von Zuwendungen, Darlehen und sonstigen Finanzierungshilfen. Anlage 3 (zu § 2 Abs. 1) Auf Bremen Business International GmbH (BBI) werden Aufgaben wie folgt übertragen: 1. Die Gesellschaft hat im Rahmen der staatlichen Wirtschaftspolitik Vorhaben zu fördern, die geeignet sind, zur Entwicklung der Außenwirtschaft der Freien Hansestadt Bremen beizutragen. Sie fuhrt diese Aufgaben nach den Richtlinien und Weisungen des zuständigen Senators aus. Für die Durchführung gelten insbesondere — das Außenwirtschaftskonzept — die Außenwirtschaftsförderprogramme 2. Die Förderungen erfolgen durch die Gewährung von Zuwendungen, Darlehen und sonstigen Finanzierungshilfen. Anlage 4 (zu § 2 Abs. 1) Auf die „Bremer Arbeit G m b H " werden Aufgaben wie folgt übertragen: 1. Die Gesellschaft hat im Rahmen der staatlichen und kommunalen Arbeitsmarktpolitik in der Stadt Bremen Vorhaben finanziell zu fördern, die geeignet sind, Arbeitslose und insbesondere arbeitsmarktpolitische Zielgruppen zu fördern, ihre (Re-)Integrationsfähigkeit in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zu verbessern, den Strukturwandel zu begleiten und zu unterstützen und dadurch Arbeitslosigkeit zu verhindern bzw. abzubauen. Sie fuhrt diese Aufgaben nach den Richtlinien und Weisungen des zuständigen Senators aus. Für die Durchführung gelten die arbeitsmarktpolitischen Förderprogramme — der Kommune und des Landes Bremen, — der Bundesanstalt für Arbeit, — des Bundes sowie — der Europäischen Union. Die Gesellschaft wirkt darüber hinaus an der Weiterentwicklung der Programme mit. 2. Die Förderung erfolgt durch die Gewährung von Zuwendungen bzw. Darlehen. Anlage 5 (zu § 2 Abs. 1) LVerfGE 13

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Auf die „Bremerhavener Arbeit GmbH" werden Aufgaben wie folgt übertragen: 1. Die Gesellschaft hat im Rahmen der staatlichen und kommunalen Arbeitsmarktpolitik in der Stadt Bremerhaven Vorhaben finanziell zu fördern, die geeignet sind, Arbeitslose und insbesondere arbeitsmarktpolitische Zielgruppen zu fördern, ihre (Re-)Integrationsfahigkeit in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zu verbessern, den Strukturwandel zu begleiten und zu unterstützen und dadurch Arbeitslosigkeit zu verhindern bzw. abzubauen. Sie führt diese Aufgaben nach den Richtlinien und Weisungen des zuständigen Senators aus. Für die Durchfuhrung gelten die arbeitsmarktpolitischen Förderprogramme — des Landes Bremen, — der Bundesanstalt für Arbeit, — des Bundes sowie — der Europäischen Union. Die Gesellschaft wirkt darüber hinaus an der Weiterentwicklung der Programme mit. 2. Die Förderung erfolgt durch die Gewährung von Zuwendungen bzw. Darlehen.

Auf der Grundlage des Beleihungsgesetzes sind am 8.12.1998, am 6.1.1999 und am 27.6.2001 öffentlich-rechtliche Verträge zwischen einzelnen senatorischen Ressorts und der Bremer Investitions-Gesellschaft mbH (BIG), der Bremerhavener Gesellschaft für Investitionsförderung und Stadtentwicklung mbH (BIS), der Bremer Arbeit GmbH und der Bremerhavener Arbeit GmbH geschlossen worden, durch die den Gesellschaften die Befugnis verliehen wird, im eigenen Namen und in den Handlungsformen des öffentlichen Rechts die in gesonderten Anlagen enumerierten — bisher von der senatorischen Behörde wahrgenommen — Aufgaben wahrzunehmen. II. 1. Die Antragsteller sind der Auffassung, daß das Beleihungsgesetz mit der Landesverfassung unvereinbar ist. Zur Begründung tragen sie vor: a) Die Regelungen des § 1 BeleihungsG und des durch § 6 BeleihungsG geschaffenen § 44 Abs. 3 LHO verletzten Art. 101 Abs. 1 BremLV. Im Gegensatz zu einer in der Literatur geäußerten Auffassung enthalte Art. 101 Abs. 1 BremLV keine abschließende Aufzählung der der Bürgerschaft zur Beschlußfassung zugewiesenen Gegenstände. Die Ausgliederung öffentlicher Aufgaben aus dem staatlichen Organisationsbereich in Verbindung mit der Übertragung hoheitlicher Befugnisse auf Private sei eine Entscheidung von wesentlicher Bedeutung im Sinne der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Lehre zum Parlamentsvorbehalt. Das Beleihungsgesetz werde dem Parlamentsvorbehalt nicht gerecht. Dieser verlange zwingend eine parlamentarische Entscheidung für jede einzelne Aufgabenübertragung auf private Rechtsträger. Eine pauschale Delegation dieser Entscheidung auf die zuständigen Senatoren sei weder generell für alle Aufgaben im ZuLVerfGE 13

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wendungsbereich, wie in § 6 BeleihungsG/§ 44 Abs. 3 L H O vorgesehen, noch auch, wie für § 1 BeleihungsG festgelegt, generell für bestimmte Sachbereiche zulässig. b) Das Beleihungsgesetz genüge nicht den in Art. 65, 66, 120 und 127 BremLV niedergelegten Anforderungen demokratischer Legitimation hoheitlichen Handelns. Die organisatorisch-personelle Legitimationskette vom Volk zu den beliehenen Gesellschaften sei zwar aufgrund der Beleihungsakte des zuständigen Senators gegeben. Das Gesetz sichere aber keine ausreichende sachlich-inhaltliche Legitimation, da eine hinlängliche Steuerung der öffentlichen Aufgabenerfullung durch materielles Gesetz, durch Haushaltsgesetz und durch das Instrument der staatlichen Aufsicht nicht stattfinde. c) Das Beleihungsgesetz sei auch wegen Verstoßes gegen Art. 66, 105 Abs. 4 und 118 Abs. 1 BremLV verfassungswidrig, weil es durch die Ausgliederung von Teilen der Verwaltung die aus dem Prinzip der Volkssouveränität folgenden Kontrollrechte des Parlaments verletze. Die Kontrollrechte der Parlamentsausschüsse gem. Art. 105 Abs. 4 BremLV bezögen sich auf den institutionellen Bereich der Ministerialverwaltung (Art. 120, 127 BremLV), zu dem die beauftragten privatrechtlichen Gesellschaften nicht gehörten. Die parlamentarische Kontrolle folge nicht den ausgelagerten öffentlichen Aufgaben, so daß dem Parlament durch die Privatisierung von Verwaltungsaufgaben wesentliche Bereiche seiner Kontrollkompetenz entzogen würden. Selbst wenn man die Auffassung vertrete, daß beliehene juristische Personen des privaten Rechts zu den Verwaltungsbehörden zu rechnen seien, auf die sich die Kontrollrechte des Art. 105 Abs. 4 BremLV erstreckten, ergäben sich Schranken parlamentarischer Kontrolle daraus, daß sich die beliehenen privatrechtlichen Unternehmen gem. Art. 105 Abs. 4 S. 4 BremLV auf überwiegende schutzwürdige Belange berufen könnten, da die Gesellschaften als selbständige privatrechtliche Subjekte Betroffene im Sinne jener Vorschrift sein könnten. Auch wenn dies nicht für ihre Tätigkeit im Rahmen der Fördertätigkeit gelte, so tätigten die Gesellschaften doch häufig auch Geschäfte außerhalb der Beleihung. Auch könnten, wie in der Vergangenheit bereits geschehen, Auskünfte über die finanziellen Aufwendungen für die leitenden Mitarbeiter der beliehenen Unternehmen unter Berufung auf deren Datenschutzrechte verweigert werden. Die den privatrechtlichen Gesellschaften nach dem Gesetz und den vorliegenden Verträgen auferlegten Informationspflichten gegenüber dem zuständigen Senator änderten nichts an der Unvereinbarkeit des Beleihungsgesetzes mit Art. 105 Abs. 4 BremLV; denn daraus ergäben sich für die parlamentarischen Ausschüsse lediglich mittelbare und daher abgeschwächte Kontrollrechte. Die Abgeordneten könnten nur die zuständigen Senatoren befragen, nicht aber bei dem Unternehmen selbst die erforderlichen Auskünfte einholen oder Überprüfungen vornehmen. LVerfGE 13

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Eine parlamentarische Kontrolle der Tätigkeit der mit der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben betrauten Unternehmen werde auch dadurch unmöglich, daß angesichts der VieLzahl der privatrechtlichen Unternehmen, an denen die Freie Hansestadt Bremen beteiligt sei, und des Fehlens eines effektiven Beteiligungsmanagements die Exekutive nicht in der Lage sei, die zunächst ihr obliegende Kontrolle auszuüben. Wenn selbst die Exekutive kaum einen Uberblick über die zahllosen Beteiligungsgesellschaften habe, könne auch die parlamentarische Kontrolle nicht greifen. d) Schließlich verletze das Beleihungsgesetz auch den Funktionsvorbehalt des Art. 33 Abs. 4 GG. Diese Vorschrift gelte nicht nur für den Bund, sondern auch für die Länder. Es handele sich um ein Bauprinzip für die öffentliche Verwaltung, welches mithelfe, Transparenz, demokratisch-parlamentarische Steuerung, Objektivität und Verantwortlichkeit der öffentlichen Verwaltung zu sichern. Art. 33 Abs. 4 GG schließe Beleihungen zwar in Einzelfällen nicht aus, doch werde durch das Beleihungsgesetz, das ganze Verwaltungsbereiche auf private Unternehmen übertrage, die Ausnahme entgegen der Verfassung zur Regel. Die Antragsteller beantragen festzustellen, daß das Gesetz zur Übertragung von Aufgaben staatlicher Förderung auf juristische Personen des privaten Rechts vom 26. Mai 1998 (Brem.GBl. S. 134, berichtigt Brem.GBl. 1998 S. 171) idF des Gesetzes vom 17. Oktober 2000 (BremGBl. S. 399) verfassungswidrig und nichtig ist. 2. Der Senat der Freien Hansestadt Bremen trägt vor, die Vorschriften des Beleihungsgesetzes seien ein Element der Einführung des Neuen Steuerungsmodells in der bremischen Verwaltung. Dieses Neue Steuerungsmodell gehöre zu dem Programm der „Neuordnung der Aufgabenwahrnehmung", das unter Wahrung der Gewährleistungspflicht des Staates für die Erfüllung seiner Aufgaben die Leistungserbringung durch ausgelagerte Einheiten oder Private vorsehe. Durch Art. 1 Nr. 8 des Gesetzes vom 21.12.1999 habe die Bürgerschaft die wesentlichen Elemente des Neuen Steuerungsmodells normativ verankert. Nach diesem Konzept werde die öffentliche Verwaltung abweichend vom traditionellen hierarchischen Verwaltungsmodell als Erbringer der vom Parlament „bestellten" „Verwaltungsprodukte" angesehen. Die demokratische Verantwortlichkeit der Exekutive gegenüber der Legislative bestehe nach dem Beleihungsgesetz fort, aber sie nehme eine dem Neuen Steuerungsmodell gemäße, vom traditionellen Verwaltungsmodell abweichende Form an. a) Das Beleihungsgesetz verstoße, auch unter Berücksichtigung der Wesentlichkeitslehre, nicht gegen Art. 101 BremLV. Diese Norm verlange nicht, daß jeder einzelne Fall einer Beleihung einer gesetzlichen Grundlage bedürfe; erforderlich sei lediglich eine allgemeine Ermächtigungsgrundlage durch Parlamentsgesetz, die im Beleihungsgesetz gegeben sei. LVerfGE 13

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b) Das Beleihungsgesetz verletze nicht die in Art. 65, 66, 120 und 127 BremLV enthaltenen Anforderungen an die demokratische Legitimation der von den Beliehenen durchgeführten Verwaltungsaufgaben. Die organisatorisch-personelle und die sachlich-inhaltliche Legitimation ergänzten sich, könnten aber einander in einem gewissen Umfange auch substituieren. In bezug auf die organisatorisch-personelle Legitimation sei eine ununterbrochene Kette vom Volk zu den beliehenen Gesellschaften gegeben. Die sachlich-inhaltliche Legitimation ergebe sich durch die Einbindung der beliehenen Gesellschaften in ein dichtes Regelungsgeflecht von Förderrichtlinien des Bundes, des Landes und der Europäischen Union, von Weisungen des zuständigen Senators, des Rahmenplanes zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur und verschiedener anderer, von demokratisch legitimierten Staatsorganen erlassener Entwicklungs- und Förderprogramme sowie der Vorschriften des allgemeinen Verwaltungs- und Verwaltungsverfahrensrechts. Diese Legitimation sei so intensiv, daß sie selbst für die eingreifende Verwaltung ausreichen würde. Zudem eröffneten das Berichtswesen und das Controlling des Neuen Steuerungsmodells zusätzliche, über die überkommene Haushaltswirtschaft hinausgehende Steuerungsmöglichkeiten der Bürgerschaft. Schließlich vermittle der seinerseits demokratisch legitimierte zuständige Senator kraft seines Aufsichtsrechts gem. § 2 Abs. 3 BeleihungsG und § 44 Abs. 3 LHO eine zusätzliche sachlich-inhaltliche Legitimation; bei diesem Aufsichtsrecht handele es sich nicht lediglich um eine Rechtsaufsicht, sondern auch um eine Fachaufsicht. c) Die Kontrollmöglichkeiten der Bürgerschaft gegenüber den beliehenen Gesellschaften unterschieden sich von denen gegenüber der Verwaltung nur dadurch, daß die Kontrolle der Gesellschaften mittelbar durch Informationsansprüche gegenüber dem Senat erfolge, dem gegenüber die Gesellschaften jedoch jederzeit kurzfristig alle erforderlichen Auskünfte aus dem Bereich der ihnen übertragenen Aufgaben zur Verfugung stellen müßten. Da die beliehenen Gesellschaften ihre Förderaufgaben im Rahmen der ihnen zur Verfügung gestellten Haushaltsmittel erfüllten, übe die Bürgerschaft ihre Kontrolle über das Budgetrecht aus, während sie bezüglich der vom zuständigen Senator aufgestellten und überwachten Förderkonditionen diesem gegenüber ihr Kontrollrecht gem. Art. 105 Abs. 4 BremLV und § 16 DeputationsG ausüben könne. d) Der Funktionsvorbehalt des Art. 33 Abs. 4 GG sei nicht verletzt, da er wegen der Verfassungsautonomie der Länder für diese und damit auch für das Land Bremen nicht gelte. Selbst wenn man seine Geltung für die Länder annehme, sei eine restriktive Auslegung geboten, kraft deren eine Abweichung von der Regel des Art. 33 Abs. 4 GG aus rechtfertigenden Gründen zulässig sei. Derartige rechtfertigende Gründe ergäben sich hier aus den wirtschaftsnahen Strukturen der Förderungsaufgabe, welche privatrechtliche Organisationsformen auf Seiten der Fördernden geradezu nahelegten. LVerfGE 13

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3. Der Senator für Justiz und Verfassung trägt vor, das Beleihungsgesetz erfülle die in der Wissenschaft geklärten Voraussetzungen einer Beleihung Privater mit der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben. Durch § 6 BeleihungsG passe das bremische Recht seine Landeshaushaltsordnung an die bundesrechtliche Parallelnorm des § 44 Abs. 3 BHO an. In den anderen Vorschriften habe der Gesetzgeber wesentliche Teile konkreter Beleihungen selbst getroffen. An keiner Stelle entstehe durch das Beleihungsgesetz ein Raum der Freiheit des Regierungshandelns von parlamentarischer Kontrolle. Auch im Fall des § 6 könne der Senat Beleihungen nur in den Grenzen der gesetzlichen Ermächtigung vornehmen. Die dort vorgesehenen Zuwendungen würden wiederum durch den Haushaltsgesetzgeber festgelegt. Die Kontrollrechte des Parlaments bestünden unabhängig von der Rechtsform des beliehenen Unternehmens. B. Der zulässige Antrag ist nicht begründet. Das Beleihungsgesetz ist in der sich aus den Gründen ergebenden Auslegung mit der Landesverfassung vereinbar. I. Die Zulässigkeit des Antrags folgt aus Art. 140 Abs. 1 S. 1 BremLV iVm § 24 BremStGHG. Die Antragsteller bilden ein Fünftel der gesetzlichen Mitgliederzahl der Bürgerschaft und gehören damit zu den nach Art. 140 BremLV Antragsberechtigten. Die Zweifel, die die Antragsteller darlegen, beziehen sich auf die Auslegung der Art. 65 Abs. 1, 66, 101 Abs. 1, 105 Abs. 4, 118 Abs. 1, 120 und 127 BremLV. Bei der von ihnen vertretenen Auslegung der genannten Verfassungsnormen verstoßen die Regelungen des Beleihungsgesetzes gegen die Landesverfassung und sind nichtig; ob dies der Fall ist, hängt von der richtigen Auslegung der Landesverfassung ab, so daß insoweit eine Zweifelsfrage über die Auslegung der Verfassung und damit die Zuständigkeit des Staatsgerichtshofs gem. Art. 140 Abs. 1 S. 1 1. Alt. BremLV gegeben ist. Die Zuständigkeit des StaatsGH besteht auch bezüglich der Prüfung der Vereinbarkeit der Vorschriften des Beleihungsgesetzes mit Art. 33 Abs. 4 GG. Zwar ist er nur zur Entscheidung über die Auslegung der Landesverfassung und über andere landesstaatsrechtliche Fragen berufen. Im vorliegenden Verfahren geht es aber um die — von den Antragstellern behauptete - Einwirkung der bundesrechtlichen Norm des Art. 33 Abs. 4 GG auf das Landesverfassungsrecht. Soweit die Bindungswirkung dieser bundesrechtlichen Norm für das bremische Verfassungsleben und seine Organe in Frage steht, ist es Teil des materiellen Landesverfassungsrechts und damit zulässiger Gegenstand einer Entscheidung des Staatsgerichtshofs. Er hat das Landesverfassungsrecht so auszulegen, wie es aufgrund der Eingliederung des Landes in den Bund geltendes Recht ist, nicht so, „wie sie ohne Bestehen des Bundes geltendes Recht wäre" (vgl. BremStGHE 1, LVerfGE 13

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73, 77; vgl. auch 1, 145, 150 f; 6, 11, 18 mwN; Neumann Verfassung der Freien Hansestadt Bremen, Kommentar, 1996, Rn. 3 zu Art. 140). II. 1. Die in den §§ 1, 2 und 6 BeleihungsG enthaltenen Ermächtigungen an die zuständigen Senatoren, juristischen Personen des privaten Rechts die Befugnis zu verleihen, Verwaltungsaufgaben im Bereich der Zuwendungen im eigenen Namen und in den Handlungsformen des öffentlichen Rechts wahrzunehmen, werden den Anforderungen des Art. 101 BremLV gerecht. Insbesondere gebietet die Landesverfassung keine höhere Regelungsdichte für das Beleihungsgesetz. Ein Regelungsdefizit in bezug auf die gesetzgeberischen Zwecke liegt nicht vor. a) Art. 101 Abs. 1 BremLV legt fest, unter welchen Voraussetzungen die Bürgerschaft eine in ihren Kompetenzbereich fallende Angelegenheit selbst regeln muß. Nach Ziffer 1 ist dies die Funktion der Gesetzgebung; in den Ziffern 2 bis 7 wird der parlamentarische Vorbehaltsbereich durch die Aufzählung der sachlichen Gegenstandsbereiche definiert, über die die Bürgerschaft unter Ausschluß anderer Staatsorgane „beschließt". Das vorliegende Verfahren gibt dem Gericht keinen Anlaß, erneut zu der Frage Stellung zu nehmen, ob aus dieser Zweiteilung der Kompetenzbeschreibung zu schließen ist, daß für Beschlüsse über die Materien der Nrn. 2 bis 7 die Gesetzesform nicht vorgeschrieben ist, sondern einfache Parlamentsbeschlüsse ausreichen (so BremStGHE 1, 46, 50 — zu Art. 101 Abs. 1 Nr. 5; 1, 52, 56; zust. Preuß in: Handbuch der Bremischen Verfassung, 1991, S. 301 ff, 318; a.A., zumindest für Nr. 2, Quantmeyer in: Handbuch der Bremischen Verfassung, 1991, S. 449 ff, 459; Neumann aaO, Rn. 7 zu Art. 101). Denn die Beleihung privater Unternehmen mit staatlichen Aufgaben läßt sich unter keinen der in Art. 101 Abs. 1 Nrn. 2 bis 7 aufgezählten Tatbestände subsumieren. Das ist in bezug auf die Ziffern 2 sowie 4 bis 7 offenkundig. Aber auch Ziffer 3 betrifft nicht den im Beleihungsgesetz geregelten Fall der Übertragung öffentlicher Aufgaben auf Private. Während es bei der Beleihung um die Entlastung der staatlichen Verwaltung und damit um die Ausgliederung von Verwaltungsfunktionen aus der direkten staatlichen Zuständigkeit geht, verlangt Art. 101 Abs. 1 Nr. 3 BremLV einen Beschluß der Bürgerschaft für den entgegengesetzten Vorgang einer Erweiterung staatlicher Aufgaben und damit eines Zuwachses staatlicher Verantwortlichkeit. Es handelt sich dabei um einen staatsrechtlich wie staatspolitisch mit ganz anderen Problemen behafteten Vorgang, so daß auch eine analoge Anwendung des Art. 101 Abs. 1 Nr. 3 BremLV auf das Beleihungsgesetz nicht in Betracht kommt. b) Dagegen fallen die Regelungen des Beleihungsgesetzes in den Anwendungsbereich des Art. 101 Abs. 1 Nr. 1 BremLV. Diese Vorschrift weist die Funktion der Gesetzgebung der Bürgerschaft zu, ohne allerdings Auskunft darLVerfGE 13

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über zu geben, welche Sachentscheidungen dem Gesetzesvorbehalt unterliegen und wie intensiv sie geregelt sein müssen. Diese Frage stellt sich indessen nicht nur für die bremische Landesverfassung, sondern ebenso für das Grundgesetz wie auch überall dort, wo Verfassungen ebenfalls keinen oder keinen abschließenden Sachkatalog der parlamentarischen Gesetzgebungszuständigkeiten enthalten. Staatsrechtslehre und Verfassungsrechtsprechung haben zur Beantwortung dieser Frage verschiedene Typen von Gesetzesvorbehalten entwickelt, die den traditionellen rechtsstaatlichen Gesetzesvorbehalt für alle hoheitlichen Eingriffe in die Rechte der Bürger um weitere Vorbehaltsbereiche und -konstellationen erweitern (vgl. Ossenbühl Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 2. Aufl. 1996, § 62 Rn. 26 ff). Hierzu gehört auch der sog. institutionelle Gesetzesvorbehalt, demzufolge im Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive dem Gesetzgeber die Entscheidungen über die Ausgestaltung verfassungsrechtlich gewährleisteter Institutionen wie der kommunalen Selbstverwaltung oder des Berufsbeamtentums sowie über die grundlegenden Strukturelemente der Organisation der öffentlichen Verwaltung vorbehalten sind, soweit sich ein solcher Vorbehalt nicht bereits explizit aus den geschriebenen Verfassungsrechtsnormen ergibt (grundlegend Röttgen Die Organisationsgewalt, in: W D S t R L 16, 1958, S. 154 ff, 161 ff; E.-W. Böckenförde Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, 1964, S. 89 ff; vgl. auch Krebs Verwaltungsorganisation, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 2. Aufl. 1996, § 69 Rn. 58 f). Letzteres ist im Lande Bremen jedenfalls in bezug auf die Beleihung nicht der Fall. Dagegen ist der in Art. 101 Abs. 1 Nr. 1 BremLV verankerte sachlich offene Gesetzesvorbehalt dahingehend auszulegen, daß in ihm der institutionelle Gesetzesvorbehalt enthalten ist. Die Beleihung stellt eine bedeutsame Abweichung von dem verfassungsrechtlichen Prinzip der Einheit der Staatsorganisation dar und unterfällt daher dem institutionellen Gesetzesvorbehalt. Beleihungen können daher nur entweder unmittelbar durch Gesetz oder auf gesetzlicher Grundlage durch Verwaltungsakt oder öffentlich-rechtlichen Vertrag vorgenommen werden. Das Beleihungsgesetz enthält die gesetzliche Grundlage für die Beleihungsermächtigungen an den zuständigen Senator. Damit hat die Bürgerschaft allerdings darauf verzichtet, über jeden einzelnen Beleihungsvorgang durch förmliches Gesetz selbst zu beschließen. Indessen gebietet der institutionelle Gesetzesvorbehalt des Art. 101 Abs. 1 Nr. 1 BremLV nicht einen Gesetzesbeschluß für jeden einzelnen Beleihungsakt. Der institutionelle Gesetzesvorbehalt hat die Funktion, dem Parlament die Verantwortung für die Struktur der öffentlichen Verwaltung zuzuweisen, da diese im Alltag des Gesetzesvollzugs und der gesetzesfreien Verwaltung einen bedeutsamen Einfluß auf die Qualität der konkreten Rechtsstellung der Bürger gegenüber dem Staat hat. Dieser Verantwortung wird der Gesetzgeber durch die § § 1 , 2 und 6 BeleihungsG gerecht. Eine weitergehende Inpflichtnahme des Gesetzgebers dahingehend, daß er seine allgemein getroffene gesetzgeberische LVerfGE 13

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Entscheidung in jedem einzelnen Falle durch erneuten Gesetzesbeschluß zu vollziehen oder an Stelle eines allgemeinen Gesetzesbeschlusses eine Kette von Einzelbeleihungsgesetzen zu beschließen habe, würde die Grenzen zum Eigenbereich der vollziehenden Gewalt auflösen und den Sinn des institutionellen Gesetzesvorbehalts überdehnen. Die Tatsache, daß die Bürgerschaft die von ihr zugelassenen Einzelbeleihungen nicht durch das Beleihungsgesetz selbst unmittelbar vornimmt, ist als solche daher kein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Nr. 1 BremLV. c) Art. 101 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BremLV umschließt nicht nur den rechtsstaatlichen und den institutionellen, sondern auch den demokratischen Gesetzesvorbehalt. Dieser verlangt, „losgelöst vom Merkmal des .Eingriffs'" die Gesetzesform für alle Regelungen der im Kompetenzbereich des Staates liegenden Angelegenheiten, die von grundsätzlicher Bedeutung für die Allgemeinheit sind. Er verpflichtet den Gesetzgeber, „in grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung, soweit diese staatlicher Regelung zugänglich ist, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen" (BVerfGE 49, 89, 126; 61, 260, 275; 88, 103, 116; vgl. Ossenbühl Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 2. Aufl. 1996, § 62 Rn. 35 ff; Schulde-Fieliti^ in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 1998, Art. 20 - Rechtsstaat - Rn. 104). Er soll den Gesetzgeber daran hindern, durch offene oder „versteckte Delegationen in Form von Generalklauseln oder unbestimmten Rechtsbegriffen" seiner Gesetzgebungsaufgabe und der damit verbundenen Offentlichkeits- und Repräsentationsfunktion auszuweichen (Ossenbiihl aaO., Rn. 42). Der demokratische Gesetzesvorbehalt verlangt daher nicht nur gesetzgeberisches Selbstentscheiden in grundlegenden Angelegenheiten des Gemeinwesens, sondern darüberhinaus auch eine hinlängliche Regelungsdichte des Gesetzes, um zu vermeiden, daß der Exekutive beim Vollzug des Gesetzes so große Entscheidungsspielräume bleiben, daß in Wirklichkeit sie die dem Gesetzgeber vorbehaltene politische Gestaltungsaufgabe wahrnimmt. In der vom Gericht vorgenommenen Auslegung genügt das Beleihungsgesetz auch den durch die Wesentlichkeitstheorie konkretisierten Anforderungen des demokratischen Gesetzesvorbehaltes des Art. 101 Abs. 1 Nr. 1 BremLV. Das in ihm enthaltene Verbot der Delegation wesentlicher Entscheidungen auf die Exekutive wird durch die §§ 1,2 und 6 BeleihungsG nicht verletzt. aa) Zwar beschränkt sich die Regelung des § 1 auf die Aufzählung von sechs Verwaltungsbereichen, in denen Förderaufgaben auf Beliehene übertragen werden können. Sie bestimmt weder die möglichen Beliehenen noch nennt sie die Maßstäbe, nach denen die Beliehenen die Förderaufgaben zu erfüllen haben. Angesichts der weitgehenden Gesetzesfreiheit der Verwaltung in den genannten sechs Bereichen würde der Gesetzgeber mit der weitmaschigen Norm des § 1 bedeutsame Entscheidungen auf die Exekutive delegieren. Es zeigt sich indessen, daß die Ermächtigung des § 1 durch § 2 Abs. 1 iVm den Anlagen 1 bis 5 rechtlich konLVerfGE 13

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kretisiert und erst durch diese Vorschriften vollziehbar wird. Außerhalb der Ermächtigung des § 2 Abs. 1 kann der Senator keine der in § 1 genannten Aufgaben übertragen, so daß § 1 lediglich ein in einen selbständigen Paragraphen gegossenes Tatbestandsmerkmal des § 2 Abs. 1 ist. Damit unterfallen also die in § 1 genannten Gegenstandsbereiche der dichten Regelung des § 2 Abs. 1. bb) Diese Vorschrift läßt keine mit Art. 101 Abs. 1 Nr. 1 BremLV unvereinbare Regelungslücke erkennen. In ihr ist in Verbindimg mit den Anlagen 1 bis 5 eine derart detaillierte Regelung enthalten, daß dem 2ur Beleihung ermächtigten Senator nur noch ein geringer eigener Handlungsspielraum verbleibt: Die Bürgerschaft benennt sowohl die beliehenen Unternehmen wie auch — durch Verweis auf die Verbindlichkeit verschiedener Förderprogramme des Bundes, des Landes und der Europäischen Union in § 3 Abs. 1 — die Ziele und Maßstäbe der Förderung. Gem. § 2 Abs. 2 S. 2 haben die beliehenen Unternehmen die Normen des Verwaltungsverfahrensgeset2es anzuwenden. Damit hat die Bürgerschaft die in ihrer ausschließlichen Verantwortung liegenden wesentlichen Entscheidungen selbst getroffen. cc) Die Vorschrift des § 6, durch die § 44 LHO um einen Absatz 3 ergänzt wird, normiert einen gegenüber § 2 Abs. 1 BeleihungsG selbständigen Beleihungstatbestand. Im Gegensatz zu jenem wird die durch § 6 BeleihungsG/§ 44 Abs. 3 LHO ermöglichte Beleihung nicht durch Angaben über die Beliehenen und über die für sie geltenden Förderprogramme konkretisiert, wie sie sich in den Anlagen zu § 2 Abs. 1 finden. Dieses sehr offene Normprogramm räumte der Exekutive einen unzulässig weiten Handlungsspielraum ein, der mit den Anforderungen des demokratischen Gesetzesvorbehalts kollidierte, wenn nicht andere Normen eine Begrenzung bewirkten. Derartige Begrenzungen ergeben sich aus den §§ 23 und 44 Abs. 1 LHO. Der durch § 6 geschaffene § 44 Abs. 3 LHO kann seine Wirkung nur im Rahmen der Vorgaben der LHO entfalten. Die Beleihung nach § 44 Abs. 3 LHO ist eine Erscheinungsform der Vergabe staatlicher Zuwendungen an Dritte. Die Zuwendungen sind in den §§ 23 und 44 Abs. 1 LHO einer näheren gesetzlichen Regelung unterworfen. Sie dürfen gem. § 44 Abs. 1 LHO nur unter den Voraussetzungen des § 23 LHO gewährt werden, also dann, „wenn die Freie Hansestadt Bremen an der Erfüllung durch solche Stellen ein erhebliches Interesse hat, das ohne die Zuwendungen nicht oder nicht in notwendigem Umfang befriedigt werden kann". Hier behält daher der Gesetzgeber über sein Budgetrecht die inhaltliche Kontrolle über die Zuwendung von Haushaltsmitteln an Dritte. Wenn in diesem Rahmen der Gesetzgeber in § 44 Abs. 3 LHO statt der direkten Zuwendung an Dritte zur Beleihung eines Privaten mit der betreffenden Verwaltungsaufgabe ermächtigt, so ist diese Ermächtigung in die restriktiven Regelungen über die Gewährung von Zuwendungen an Dritte eingebettet und erhält damit die Bedeutung einer eng auszulegenden Ausnahmevorschrift. Sie ist ein Sondertatbestand im Rahmen des von der Bürgerschaft ausgeübten Budgetrechts LVerfGE 13

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gem. Art. 131 BremLV und der Bindung der Verwaltung an das Haushaltsgesetz gem. Art. 132 BremLV. Diese Auslegung wird durch die systematische Stellung des § 6 im Beleihungsgesetz bestätigt. Während der von vornherein begrenzte Umfang der Beleihungen nach den §§ 1 und 2 durch die erwähnten Spezifizierungen und Inhaltsbestimmungen in den Anlagen zu § 2 Abs. 1 und die Bindung an das Verwaltungsverfahren noch zusätzlich einem dichten Regelwerk unterworfen ist, enthält § 6 lediglich eine generalklauselartige Umschreibung der übertragungs fähigen Verwaltungsangelegenheiten. § 6 steht jedoch in engem Zusammenhang mit den §§ 23 und 44 Abs. 1 LHO und weist in diesem Normengefuge eine hinlängliche gesetzliche Regelungsdichte auf. Die Vorschrift des § 6 BeleihungsG ist daher in dem Sinne zu verstehen, daß Beleihungen nach dieser Vorschrift nur unter den Voraussetzungen der §§ 44 Abs. 1 und 23 LHO zulässig sind. 2. Das Beleihungsgesetz verletzt nicht das in den Art. 65, 66, 67 Abs. 2, 118, 120 und 127 BremLV niedergelegte Prinzip einer demokratisch legitimierten und parlamentarisch verantwortlichen Exekutive. Die durch das Beleihungsgesetz ermöglichte Übertragung umfangreicher Bereiche der Förderverwaltung auf Beliehene ist mit der Landesverfassung vereinbar, soweit die demokratische Legitimation des Verwaltungshandelns der Beliehenen, die inhaltliche Steuerung und Kontrolle durch die Exekutive sowie die effektive parlamentarische Kontrolle der Exekutive durch die Bürgerschaft gewährleistet ist. Diese Voraussetzungen erfüllt das Beleihungsgesetz — nur — in der ihm vom Staatsgerichtshof gegebenen Auslegung. a) Die Beleihung nach dem Beleihungsgesetz verletzt nicht das Gebot der demokratischen Legitimation der bremischen Hoheitsgewalt. Die Übertragung der Erfüllung öffentlicher Aufgaben auf juristische Personen des privaten Rechts durch das Beleihungsgesetz bedeutet keine materielle Privatisierung von Staatsaufgaben in dem Sinne, daß sich das Land der in dem Gesetz umschriebenen Aufgaben und der Verantwortung für ihre Erfüllung endedigt. Die ermächtigten juristischen Personen des Privatrechts sollen die materiell öffentlichen Aufgaben als Beliehene in den Formen des öffentlichen Rechts erfüllen und somit den für die öffentliche Verwaltung geltenden Bindungen unterliegen. Das Beleihungsgesetz bewirkt lediglich eine Aufspaltung zwischen fortbestehender staatlicher Aufgabenzuständigkeit und Aufgabenverantwortung einerseits und Aufgabenerfüllung durch Private andererseits. Eine derartige funktionelle Privatisierung (zu diesem Begriff Schock DVB1. 1994, 962 f, 963; Schuppen Verwaltungswissenschaft, 2000, S. 371 f) in Gestalt einer Aufspaltung zwischen der Bereitstellung und der Herstellung öffentlicher Güter, in der sich die öffentliche Verwaltung beim Vollzug der ihr obliegenden Aufgaben der Kompetenz und der Ressourcen Privater als Verwaltungshelfer bedient, begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. Schach DVB1. 1994, 962 ff, 969 f; P. Kirchhof e . Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HandLVerfGE 13

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buch des Staatsrechts, Bd. III, 2. Aufl. 1996, § 59 Rn. 92 ff). Zwar hat der Bürger einen Anspruch auf eine dem geltenden Recht entsprechende Erfüllung seiner staatsgerichteten Ansprüche, doch folgt daraus kein „Anspruch darauf, daß der Staat oder die Verwaltung eine bestimmte Organisation aufweist" (Ossenbähl W D S t R L 29, 1971, S. 137 ff, 164). Auch die bremische Landesverfassung stellt insoweit keine erhöhten Anforderungen. Das in ihren Art. 65, 66, 67 Abs. 2, 118, 120 und 127 niedergelegte demokratische Prinzip und dessen Anwendung auf die vollziehende Gewalt gebieten, daß die Aufgabenverantwortung und die daraus folgende Garantenstellung für die Aufgabenerfüllung weiterhin bei der Regierung verbleiben und daß auch die von den Beliehenen ausgeübten hoheitlichen Befugnisse das für die Staatsverwaltung geforderte demokratische Legitimationsniveau nicht unterschreiten. Das demokratische Prinzip der Landesverfassung verlangt, daß die Befugnis zur Ausübung öffentlicher Gewalt unmittelbar oder mittelbar auf die Wahl durch das Volk zurückgeht und daß, zusätzlich zu dieser personellen Legitimation, die sachlich-inhaltliche Legitimation in Gestalt der Bindung der hoheitlich handelnden Amtsträger an den Willen und die Weisungen einer parlamentarisch verantwortlichen Regierung stattfindet (BVerfGE 83, 60, 73; 93, 37, 66 ff; BVerwGE 106, 64, 74; BerlVerfGH NVwZ 2000, 794). Das Beleihungsgesetz genügt sowohl in den spezifizierten Beleihungsermächtigungen der §§ 1 bis 5 (dazu unter b) als auch in der generalklauselartigen Beleihungsermächtigung des § 6 (dazu unter c) diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen. b) Gem. § 2 Abs. 2 BeleihungsG ist die Geschäftsführung der mit der Erfüllung von Förderaufgaben beauftragten juristischen Personen des privaten Rechts berechtigt, zur Durchführung von Fördermaßnahmen in ihrem Geschäftsbereich Verwaltungsakte zu erlassen und öffentlich-rechtliche Verträge zu schließen. Damit übt die gem. §§ 1 und 2 Abs. 1 BeleihungsG beliehene juristische Person des Privatrechts — wie § 2 Abs. 2 S. 2 BeleihungsG durch die Anordnung der Geltung des Verwaltungsverfahrensgesetzes deutlich macht — öffentliche Gewalt aus, die demokratischer Legitimation sowohl in personeller als auch in sachlich-inhaltlicher Hinsicht bedarf. aa) Die personelle Legitimation der durch die beliehenen privatrechtlichen Unternehmen ausgeübten öffentlichen Gewalt ist durch die Regelungen des Beleihungsgesetzes hinreichend gewährleistet. Die „Legitimationskette" (BVerfGE 83, 60, 73) fuhrt von der demokratisch unmittelbar gewählten Bürgerschaft über die gesetzliche Beleihungsermächtigung (§ 1 BeleihungsG) zu dem zuständigen Senator und über die von diesem durch Verwaltungsakt oder öffentlich-rechtlichen Vertrag vorgenommene Beleihung (§ 2 Abs. 1 BeleihungsG) zu der beliehenen juristischen Person des privaten Rechts. Es ist die gesetzliche Pflicht des zuständigen Senators, durch den Beleihungsakt und eine begleitende Aufsicht (§ 2 Abs. 3 LVerfGE 13

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BeleihungsG) sicherzustellen, daß die Bestellung der verantwortlichen Funktionsträger den Anforderungen genügt, die an eine unverminderte Vermittlung personeller demokratischer Legitimation zu stellen sind (vgl. dazu BVerfGE 93, 37, 67 f). Wird der beliehenen Gesellschaft die Befugnis eingeräumt, ihr zugeordnete Tochtergesellschaften mit der Erledigung der ihr übertragenen hoheitlichen Aufgaben zu beauftragen, so hat der zuständige Senator die Pflicht, im Rahmen des Genehmigungsverfahrens und der begleitenden Fachaufsicht auch insoweit die personelle demokratische Legitimation der subdelegierten Funktionsträger sicherzustellen (vgl. Anlage 1 zu § 2 Abs. 1 BeleihungsG, Ziff. 4). bb) Die sachlich-inhaltliche demokratische Legitimation folgt zunächst aus dem Institut und dem Vorgang der Beleihung. Die beliehenen Unternehmen werden aufgrund des Beleihungsgesetzes Träger öffentlicher Verwaltung; sie sind damit Verwaltungsbehörde im funktionalen Sinne und iSd § 1 Abs. 4 VerwVerfG (Wolff/Bachofl Stober Verwaltungsrecht II, 5. Aufl. 1987, § 104 Rn. 10 mwN). Sie sind der Verwaltung zwar nicht eingegliedert, ihr jedoch angegliedert (Krebs in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 2. Aufl. 1996, § 69 Rn. 39; H. Dreier Hierarchische Verwaltung im demokratischen Staat, 1991, S. 248; Reinhardt AöR Bd. 118, 1993, 617 ff, 625 f). Sie unterliegen damit grundsätzlich denselben Bindungen, die der unmittelbaren Staatsverwaltung auferlegt sind. Ihre Befugnisse üben sie daher nach Maßgabe der Landesverfassung und der Gesetze aus (Art. 66 Abs. 2 BremLV). Da die Beliehenen staatliche Hoheitsgewalt ausüben, gebieten die in den Artikeln 66 Abs. 2b), 118, 120 und 127 BremLV niedergelegten Grundsätze demokratischer Legitimation, Verantwortlichkeit und Kontrolle, daß ihre Ausübung der Aufsicht eines — parlamentarisch verantwortlichen — Mitgliedes des Senats unterliegt. Ein Mitglied des Senats oder der Senat insgesamt können von der Bürgerschaft nur für ein Handeln oder Unterlassen zur Verantwortung gezogen werden, auf das sie sachlich Einfluß nehmen können. Aus diesem Grunde ist die Aufsichtsbefugnis des § 2 Abs. 3 BeleihungsG als Fachaufsicht zu verstehen (so für das Institut der Beleihung WolfflBachof/Stober Verwaltungsrecht II, 5. Aufl. 1987, § 104 Rn. 7; Krebs aaO, Rn. 43; H. Dreier aaO, S. 134 ff, 249; Battis FS Raisch, 1995, S. 355 ff, 362 f). Weil die Wahrnehmung von Förderaufgaben in nur geringem Maße inhaltlich gesetzlich gesteuert wird, ist eine effektive Fachaufsicht ein notwendiges Element der sachlich-inhaltlichen demokratischen Legitimation des Verwaltungshandelns der Beliehenen. Diesem Erfordernis trägt das Beleihungsgesetz auch in § 2 Abs. 1 sowie in den Regelungen der Anlage 1 in Nr. 2 und der Anlagen 2, 3, 4 und 5 jeweils in Nr. 1 S. 2 Rechnung, denen zufolge die beliehenen Unternehmen ihre Aufgaben nach den Richtlinien und Weisungen des zuständigen Senators ausfuhren. Dagegen ergibt sich aus der Landesverfassung keine Pflicht zur gesetzlichen Spezifizierung der Aufsichtsmittel gegenüber den Beliehenen. Da der Beliehene der öffentlichen Verwaltung angegliedert ist, unterliegt er in bezug auf die verliehenen öffentlichen Aufgaben und Befugnisse der hierarchischen Weisungsgewalt LVerfGE 13

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wie eine nachgeordnete Behörde. Auch ohne ausdrückliche gesetzliche Normierung besitzt das zuständige Mitglied des Senats alle Informations- und Weisungsrechte, die in dem Institut der Fachaufsicht enthalten sind. cc) Da die Freie Hansestadt Bremen durch die vorgesehenen umfangreichen Beleihungen die verliehenen öffentlichen Aufgaben nicht mehr selbst durch ihre eigene Verwaltung erfüllt, besteht die Gefahr, daß sie trotz formal bestehender Aufsichts- und Weisungsrechte nicht mehr über das erforderliche Personal mit der einschlägigen Sachkunde und über die sonst erforderlichen Verwaltungsmittel verfügt, um von diesen Instrumenten einen den verfassungsrechtlichen Anforderungen gemäßen Gebrauch zu machen. Die Grundsätze demokratischer Legitimation, Verantwortlichkeit und Kontrolle verlangen, daß die im Gesetz vorgesehenen Instrumente der Fachaufsicht und der Weisungsbefugnis auch effektiv genutzt werden. Das zuständige Mitglied des Senats ist daher verpflichtet, von seinen Aufsichts- und Weisungsrechten Gebrauch zu machen. Die funktionelle Privatisierung von Verwaltungsaufgaben darf nicht zur Entstehung kontrollfreier Räume öffentlicher Verwaltung führen (Spannowsky DVB1. 1992, 1073 ff, 1073, 1075; Schoch aaO, 974 f; Schuppet! DÖV 1998, 831 ff, 833; Pitschas DÖV 1998, 907 ff, 910 ff). Es muß daher durch institutionelle Vorkehrungen sichergestellt werden, daß die mit der funktionellen Privatisierung angestrebte Arbeitsteilung und Kooperation zwischen dem Land und den beliehenen Unternehmen nicht zu einer Minderung der rechtsstaatlich-demokratischen Qualität der erbrachten öffentlichen Leistungen führt. Mindesterfordernis für die Erfüllung dieser Pflicht ist die Bereitstellung einer ausreichenden Zahl von Personalstellen und deren Besetzung mit Amtswaltern, die die Aufsichts- und Weisungsrechte des verantwortlichen Mitglieds des Senats sachgemäß ausüben können. Zwar hätte es nahegelegen, im Interesse einer effektiven Umsetzung der Aufsichtspflicht über die Beliehenen entsprechend § 9 Abs. 1 BremAGVwGO die zuständige senatorische Behörde und nicht, wie in § 2 Abs. 2 S. 3 BeleihungsG geschehen, den Beliehenen selbst mit dem Erlaß des Widerspruchsbescheides gegen die von ihm erlassenen Verwaltungsakte zu betrauen. Im Widerspruchsverfahren gewinnt die Aufsichtsbehörde nämlich Einblick gerade in die potentiell problematischen Verwaltungsvorgänge; auch bleibt sie dadurch zur Wahrnehmung ihrer Aufsichtsverantwortung gezwungen. Darüber, wie die verfassungsgebotene Steuerung und Kontrolle der beliehenen Unternehmen durch das zuständige Ressort im einzelnen gestaltet wird, enthält die Landesverfassung zwar keine ins Detail gehenden Fesdegungen. Nimmt aber der Staat die mit der Zuständigkeit für Widerspruchsentscheidungen verbundene Kontrollmöglichkeit nicht wahr, wird er das daraus folgende Kontrolldefizit auf andere Weise auszugleichen haben. dd) Die durch das Beleihungsgesetz geschaffenen Aufsichts- und Weisungsrechte des zuständigen Senatsmitgliedes gegenüber den Beliehenen können nur effektiv sein, wenn ihnen nicht Hindernisse aus der Rechtssphäre der in der Regel LVerfGE 13

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in den Formen des Gesellschaftsrechts verfaßten beliehenen Unternehmen entgegenstehen. Diese Möglichkeit entsteht insbesondere, wenn Gesellschaften zugleich Unternehmensziele außerhalb des Bereichs der Beleihung verfolgen, sie kann sich auch aus den Regelungen über die Bestellung und Abberufung der Geschäftsführung ergeben, und sie wird verstärkt wirksam, wenn sich Private an der Gesellschaft beteiligen. Die Interessen der Gesellschaft können mit der staatlichen Gemeinwohlorientierung der Beleihung in Widerspruch geraten. Wenn Informationsbegehren oder Weisungen der Behörde unter Hinweis auf das gesellschaftsrechtlich geschützte Interesse an der Geheimhaltung bestimmter Vorgänge oder auf entgegenstehende Gesellschaftsinteressen oder Abstimmungsergebnisse verwiegert werden können, hängt die Erfüllung öffentlicher Aufgaben nicht von den Entscheidungen staatlicher Amtswalter, sondern von der Willensbildung in den Organen der Gesellschaft ab. Dies wäre mit dem Gebot demokratischer Legitimation der Erfüllung öffentlicher Aufgaben nicht vereinbar. Darüber hinaus entsteht bei beliehenen Unternehmen, insbesondere solchen mit gemeinschaftlicher öffentlicher und privater Beteiligung, die neben der Erfüllung von Verwaltungsaufgaben auch erwerbswirtschaftliche Ziele verfolgen, die Gefahr einer Vermischung privater und öffentlicher Handlungsziele, -maßstäbe und -motive. Der damit drohende Mangel an Transparenz des Unternehmenshandelns erschwert dessen Steuerung und Kontrolle durch die Verwaltung und in der Folge auch die parlamentarische Kontrolle der Exekutive. Die Verfassungsgebote effektiver exekutivischer Steuerung und Kontrolle sowie der parlamentarischen Kontrolle der Regierung verpflichten die durch das Beleihungsgesetz ermächtigten Mitglieder des Senats zu gewährleisten, daß ihre Einwirkungen auf die beliehenen Unternehmen nicht durch — gegebenenfalls auch grundrechtlich geschützte — Abwehrrechte der Gesellschaft oder der Gesellschafter beschränkt werden. Insbesondere ist sicherzustellen, daß sich die Informationsrechte der Exekutive auch auf die Felder einer etwaigen erwerbswirtschaftlichen Betätigung des Unternehmens beziehen, soweit diese Einfluß auf die Erfüllung der Verwaltungsaufgaben haben kann. Es ist Aufgabe des zuständigen Mitgliedes des Senats, eine diesen Anforderungen genügende Ausgestaltung der rechtlichen Beziehungen zwischen dem Staat und dem mit der Aufgabenerfüllung Beauftragten vorzunehmen. Wie dies im einzelnen geschieht, ist eine Frage der praktischen Verwaltungspolitik. In keinem Fall darf die Aufgabenverantwortung des Staates und seine daraus folgende Garantenstellung für die Aufgabenerfüllung beeinträchtigt werden. Inwieweit die konkreten Beleihungen diesen Anforderungen entsprechen, ist nicht Gegenstand der verfassungsrechtlichen Überprüfung in diesem Verfahren, das der Klärung der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes dient. Da der Staatsgerichtshof die Geltung des Gesetzes nur in dessen verfassungskonformer Auslegung bejaht, besteht Anlaß, die vorgenommenen Beleihungen einer sorgfältigen Prüfung zu unterziehen und danach gegebenenfalls erforderliche Nachbesserungen vorzunehmen. LVerfGE 13

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Von Verfassungs wegen besteht keine Pflicht des Landes, an den mit der Erfüllung öffentlicher Aufgaben beauftragten Unternehmen stets mit mindestens satzungsändernder Mehrheit beteiligt zu sein (zu diesem Erfordernis vgl. Spatinowsky DVB1. 1992, 1073 ff, 1074; Bull Allgemeines Verwaltungsrecht, 6. Aufl. 2000, Rn. 330 ff; weitere Nachweise bei L. Osterloh in: WDStRL 54,1995, S. 204 ff, 234 Fn. 119). Minderheitenbeteiligungen an beliehenen Unternehmen oder die Beleihung von Unternehmen in ausschließlich privater Hand sind zulässig, soweit die Exekutive mittels anderer Instrumente eine effektive Steuerung und Kontrolle des Handelns des beliehenen Unternehmens gewährleistet und dadurch die mit der Delegation der Aufgabenerfüllung vorgenommene Verantwortungsteilung zwischen Staat und Gesellschaft mit der fortbestehenden Garantenstellung und rechtsstaatlich-demokratischen Aufgabenverantwortung des Staates in Einklang bringt. Neben verschiedenen Varianten der Aufsicht gegenüber den beauftragten Privaten (hierzu Schuppert DÖV 1998, 831 f, 832 ff; Pitschas DÖV 1998, 907 ff, 910 ff) kommen als weitere rechtliche Instrumente der Wahrung der Gemeinwohlbindung teilweise oder vollständig privater Unternehmen beispielsweise das Erfordernis doppelter Mehrheiten für bedeutsame, insbesondere die Aufgabenverantwortung des Staates berührende Entscheidungen in den Organen von Gesellschaften mit gemischter öffentlich-privater Beteiligung, Stimmrechtsbindungsverträge, aufgabenspezifische Kooperationsverträge zwischen dem Staat und dem beliehenen Unternehmen oder die Schaffung von Kooperationsorganen in Betracht (vgl. die Beispiele in BerlVerfGH NVwZ 2000, 794; Hein^JSchol^ Public Private Partnership im Städtebau: Erfahrungen aus der kommunalen Praxis, 1996; Wahl Privatorganisationsrecht als Steuerungsinstrument bei der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsressource, 1997, S. 301 ff; Mehde VerwArch. Bd. 91, 2000, 540 ff). Keine dieser Möglichkeiten wird durch das Beleihungsgesetz ausgeschlossen. Für die Beleihungen nach § 2 Abs. 1 sehen die Anlagen 1 bis 5 ausdrücklich vor, daß die beliehenen Gesellschaften die ihnen übertragenen Aufgaben nach den Richtlinien und Weisungen des zuständigen Senators zu erfüllen haben. Daraus geht die Absicht des Gesetzgebers eindeutig hervor, die Aufgabenverantwortung für die übertragbaren Aufgaben bei der parlamentarisch verantwortlichen Exekutive zu belassen. Aus den weiter oben formulierten Anforderungen ergibt sich, daß das Weisungsrecht so zu verstehen und auszugestalten ist, daß die Weisung die mit den im Wege der Beleihung übertragenen Verwaltungsaufgaben konkret befaßten Personen erreicht und für diese verbindlich ist. Weitergehende Regelungen über die nähere Ausgestaltung der Beziehungen der Exekutive zu den beliehenen Erfüllungsverantwortlichen, insbesondere über die Gewährleistung der Gemeinwohlbindung der beliehenen Gesellschaften, braucht das Gesetz nicht zu enthalten. Der Gesetzgeber konnte dies der Exekutive überlassen.

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c) Auch die Beleihungsermächtigungen nach § 6 BeleihungsG/§ 44 Abs. 3 LHO genügen den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die demokratische Legitimation, Steuerung und Kontrolle der Beliehenen. Was die personelle Legitimation betrifft, so gilt das unter 2.b) aa) Gesagte in vollem Umfang entsprechend. Obwohl in § 6 eine den Anlagen zu § 2 Abs. 1 entsprechende Spezifizierung der Gegenstandsbereiche und sachlichen Maßstäbe fehlt, ist bei einer verfassungskonformen Handhabung dieser — wie oben dargelegt — als enge Ausnahmevorschrift zu verstehenden und deshalb auf die Beleihung in Einzelfällen beschränkten Bestimmung auch die sachlich-inhaltliche Legitimation zu bejahen. Es ist vor allem die Aufgabe des dem zuständigen Senator durch § 6 Abs. 3 S. 2 übertragenen Beleihungsakts und der ihm gem. § 6 Abs. 3 S. 3 obliegenden umfassenden Fachaufsicht sicherzustellen, daß durch die Verlagerung der Aufgabenerfüllung auf Private die Aufgabenverantwortung des Staates und seine daraus folgende Garantenstellung nicht beeinträchtigt wird. Wie oben ausgeführt, stellt die Beleihung nach § 6 BeleihungsG/§ 44 Abs. 3 LHO eine spezifische Form der Zuwendung nach § 23 LHO dar und unterliegt deren Voraussetzungen. Bereits die gegenüber der Beleihung minder intensive Form der Inanspruchnahme Privater für die Erfüllung öffentlicher Zwecke in § 44 Abs. 1 LHO sieht ausgiebige Prüfungen der Verwendung der zugewendeten Mittel sowie Prüfungsrechte der zuständigen Behörden beim Subventionsempfänger vor. Im Falle der Beleihung nach § 44 Abs. 3 LHO verstärkt sich die in Absatz 1 festgelegte nachträgliche Kontrolle zu einem begleitenden Aufsichtsrecht, das zugleich als Aufsichtspflicht zu verstehen ist; der zuständige Senator kann jederzeit impulsgebend und korrigierend in die Tätigkeit der Aufgabenerfüllung durch die beliehene Gesellschaft eingreifen. Im Hinblick auf den engen Anwendungsbereich des durch § 6 BeleihungsG geschaffenen § 44 Absatz 3 LHO reicht diese Einwirkungsmöglichkeit der Exekutive aus, um dem in den Artikeln 66 Absatz 2 b, 67 Abs. 2, 118 Abs. 1 S. 1, 120 S. 1 und 127 BremLV bestimmten Verfassungsgebot demokratischer Steuerung, Kontrolle und Verantwortung der Exekutive zu genügen. Im übrigen kann die Bürgerschaft kraft ihres parlamentarischen Kontrollrechts etwaige Fehlentwicklungen feststellen und auf deren Korrektur drängen. Darüber hinaus kann sie als Haushaltsgesetzgeber weitreichende Auflagen und Bedingungen sowie gegebenenfalls Haushaltssperren beschließen. 3. Das Beleihungsgesetz verletzt nicht die in Art. 105 Abs. 4 BremLV niedergelegten Kontrollrechte der Bürgerschaft, ihrer Ausschüsse oder der Ausschußmitglieder. Von den in dieser Vorschrift genannten Rechten werden das Recht auf die notwendigen Informationen über die Einrichtungen des Ressorts, für das der Ausschuß zuständig ist (Art. 105 Abs. 4 S. 2), das Zitierrecht gegenüber dem zuständigen Senator und das Recht auf Auskunft (Art. 105 Abs. 4 S. 6) durch die Verlagerung der Aufgabenerfüllung auf Beliehene nicht berührt, da sie sich an den aufgabenverantwortlichen Senator richten.

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Dieser ist nach den oben dargelegten Maßstäben auch rechtlich in der Lage und verpflichtet, die für die Erfüllung der Informationsrechte des Ausschusses und seiner Mitglieder erforderlichen Informationen von den beliehenen Unternehmen zu beschaffen. Nach Art. 105 Abs. 4 S. 4 BremLV darf die Erteilung von Auskünften oder die Vorlage von Akten nur abgelehnt werden, wenn überwiegende schutzwürdige Belange des Betroffenen entgegenstehen oder öffentliche Belange eine Geheimhaltung zwingend erfordern. Bürgerschaft und Senat haben zur Sicherung eines möglichst umfassenden parlamentarischen Kontrollrechts (vgl. dazu BVerfGE 67, 100, 129 ff; BremStGHE 5, 15, 23, 25 ff) Vorkehrungen zu treffen, um einerseits auch besonders schutzwürdige Informationen den Parlamentsausschüssen zugänglich zu machen und andererseits Vertraulichkeit und Geheimhaltung solcher Informationen auch auf Seiten des Parlaments sicherzustellen. Auch die Kontrollrechte gem. Art. 105 Abs. 4 S. 1 und 3 BremLV werden durch das Beleihungsgesetz nicht verkürzt. Die Befugnisse der Ausschußmitglieder zur Besichtigung der zum Ressort gehörenden Einrichtungen, zur Einholung von Auskünften (Art. 105 Abs. 4 S. 1) sowie zur Akteneinsicht (Art. 105 Abs. 4 S. 3) bei „der Verwaltung des Aufgabenbereichs" bleiben vom Beleihungsgesetz unberührt, weil auch Beliehene im Bereich der ihnen übertragenen staatlichen Aufgaben unbeschadet ihrer privatrechtlichen Verfaßtheit Teil der öffentlichen Verwaltung und damit „Zuordnungssubjekte öffentlich-rechtlicher Rechtssätze" sind (Krebs aaO, Rn. 39; ebenso Hermes in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 2000, Art. 86 Rn. 35, jeweils mwN). Insoweit haben die Parlamentarier gegenüber den Beliehenen dieselben Befugnisse wie gegenüber jeder nachgeordneten Verwaltungsstelle. 4. Schließlich verstößt das Beleihungsgesetz auch nicht gegen die bundesrechtliche Garantie des Art. 33 Abs. 4 GG. Allerdings trifft die vom Senat vertretene Auffassung nicht zu, daß diese Vorschrift überhaupt nur für den Bund gelte und daher den bremischen Landesgesetzgeber nicht binde. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes gem. Art. 75 Abs. 1 Nr. 1 GG liefe weitgehend leer, wenn Art. 33 Abs. 4 GG nicht auch für die Länder gälte. Angesichts der Tatsache, daß der Schwerpunkt der Verwaltungstätigkeit nach dem Grundgesetz bei den Ländern liegt, wäre es auch sinnwidrig, ein zentrales Merkmal der öffentlichen Verwaltung wie den Funktionsvorbehalt des Art. 33 Abs. 4 GG für den gewichtigsten Träger hoheitlicher Gewalt, die Länder, nicht gelten zu lassen. Auch das Bundesverfassungsgericht ging in der Entscheidung zum Bremischen Personalvertretungsgesetz ohne nähere Begründung ganz selbstverständlich davon aus, daß Art. 33 Abs. 4 GG auch für das Land Bremen gelte (BVerfGE 9, 268, 284). Dieser Auffassung schließt sich der Staatsgerichtshof an. Der Auffassung, daß der Funktionsvorbehalt des Art. 33 Abs. 4 GG nur für die Eingriffsverwaltung, jedenfalls nur für die „notwendig staatlichen Aufgaben" gelte, d.h. für jene, für die der Staat ein „Wahrnehmungsmonopol" hat (so mit LVerfGE 13

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weiteren Nachw. Schuppert AK-GG, 2. Aufl. 1989, Rn. 34 ff zu Art. 33 Abs. 4, 5; vgl. auch die Nachw. bei Isensee Öffentlicher Dienst, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, § 32 Rn. 56; Lübbe-Wolff in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 1998, Art. 33 Rn. 57; Lecheler Der öffentliche Dienst, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts Bd. III, 2. Aufl. 1996, § 72 Rn. 26 ff), vermag das Gericht gleichfalls nicht zu folgen. Der Sinn des Funktionsvorbehalts besteht in der Garantie sachlicher, neutraler und rechtsgebundener Verwaltungsentscheidungen in Bereichen, in denen der Bürger mit der Hoheitsgewalt des Staates konfrontiert ist. Aus diesem Grunde gilt er jedenfalls für jene Verwaltungsbereiche der Leistungsverwaltung, in denen der Staat einseitig hoheitlich regelnd grundrechtsrelevante Entscheidungen trifft (zutreffend Lübbe-WolffaaO, Rn. 59). Ob diese Voraussetzung auf die nach dem Beleihungsgesetz übertragbaren öffentlichen Aufgaben zutrifft, braucht das Gericht indessen nicht zu entscheiden. Denn eine Verletzung des Funktionsvorbehalts läßt sich auch für den Fall einer bejahenden Antwort nicht feststellen. Zum einen enthält Art. 33 Abs. 4 GG entgegen der Auffassung der Antragsteller keine institutionelle Garantie eines Bestandes hoheitsrechtlicher Befugnisse, sondern setzt diese voraus. Soweit der Staat seine Aufgaben mittels Hoheitsgewalt erfüllt, sollen in der Regel Beamte mit der Ausführung betraut werden. Die Vorschrift enthält mithin eine institutionelle Garantie des Beamtentums; sie setzt voraus, daß bestimmte Aufgaben vorab als hoheitsrechtlich zu erledigende Staatsaufgabe definiert worden sind, ohne selbst diese Frage zu entscheiden (Ossenbühl W D S t R L 29, 1971, S. 137 ff, 161; LübbeWolff aaO, Rn. 53, 55 f; Bauer W D S t R L 54, 1995, S. 243 ff, 264 mit Fn. 108; Kämmerer Privatisierung. Typologie — Determinanten — Rechtspraxis — Folgen, 2001, S. 215 mwN). Art. 33 Abs. 4 GG setzt einer Flucht aus dem Beamtenrecht eine Schranke, nicht einer Entstaatlichung von Handlungsfeldern. Einer auch großflächigen Ausgliederung staatlicher Aufgabenbereiche aus der staatlichen Verwaltungsorganisation steht diese Vorschrift daher nicht im Wege. Da die Beleihung jedoch mit einer Übertragung hoheitlicher Befugnisse auf die Beliehenen verbunden ist, ist Art. 33 Abs. 4 GG im vorliegenden Fall allerdings mittelbar insoweit einschlägig, als die Beliehenen als privatrechtliche Unternehmen keine Beamten beschäftigen und infolgedessen hoheitsrechtliche Befugnisse in dem durch das Beleihungsgesetz festgelegten Umfang durch Nicht-Beamte ausgeübt werden. Jedoch müssen hoheitsrechtliche Befugnisse nur „in der Regel" von Beamten wahrgenommen werden. Die Garantie ist nicht auf eine lückenlose Verbeamtung aller hoheitlichen Befugnisse gerichtet. Sie stellt lediglich „eine Art Wesensgehaltsgarantie für den Aufgabenbereich der Beamten" dar (Mauntj in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Rn. 42 zu Art. 33 - Stand 1966). Eine Verletzung des Art. 33 Abs. 4 GG läge erst vor, wenn „die ständige Ausübung hoheitlicher Befugnisse in größerem Umfang auf Nichtbeamte übertragen (würde)" (BVerfGE 9, 268, 284). Ausnahmen sind danach nicht nur für einzelne Fälle, sonLVerfGE 13

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dern auch für bereichsspezifische Gruppen zulässig, sofern dafür ein sachlicher Grund besteht (Lübbe-WolffzzO, Rn. 62). Einen solchen sachlichen Grund sah der Gesetzgeber in dem Charakter der auf die Beliehenen übertragenen Aufgaben als Förderaufgaben, bei denen die Verhaltensbeeinflussung der Adressaten durch die flexible und wettbewerbsorientierte Schaffung von situationsgerechten positiven und negativen wirtschaftlichen und sozialen Anreizen im Vordergrund steht; hoheitliche Regulierung tritt dagegen in den vom Gesetz erfaßten Aufgaben der Förderung in den Hintergrund. Diese Bewertung des Gesetzgebers ist vertretbar und stellt daher einen sachlichen Grund für die Abweichung von der Regel des Art. 33 Abs. 4 GG dar. C. Diese Entscheidung ist einstimmig ergangen.

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Entscheidungen des Staatsgerichtshofes des Landes Hessen

Die amtierenden Richterinnen und Richter des Staatsgerichtshofes des Landes Hessen Prof. Dr. Klaus Lange, Präsident Dr. Wolfgang Teufel, Vizepräsident Ekkehard Bombe Elisabeth Buchberger Helmut Enders (ab 11.10.2002) Felizitas Fertig Dr. Karl-Heinz Gasser (bis 10.10.2002) Ferdinand Georgen Paul Leo Giani Dr. Wilhelm Nassauer Dr. Günter Paul Rudolf Rainer

Stellvertretende Richterinnen und Richter Thomas Aumüller (ab 15.5.2002) Prof. Dr. Johannes Baltzer Helmut Enders (bis 10.10.2002) Georg D. Falk Gerhard Fuckner Ralph Gatzka Michaela Kilian-Bock Dr. Harald Klein Ursula Kraemer Dr. Hans-Henning Lohmann Doris Müller-Scheu Dr. Rainer Mössinger (ab 27.2.2002) Dr. Helmuth Müller (ab 11.10.2002) Joachim Poppe Johann Nikolaus Scheuer (bis 30.4.2002) Petra Schott-Pfeifer Martin Stremplat Adolf Tausch

Chancengleichheit im Wahlwettbewerb

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Nr. 1 1. Das Recht der Parteien auf Chancengleichheit im Wahlwettbewerb stellt — zumindest auch — einen grundrechtlich verankerten speziellen Gleichheitssatz dar, dessen Verletzung mit der Grundrechtsklage geltend gemacht werden kann. 2. Für die Verfassungsstreitigkeit nach § 42 StGHG sind politische Parteien nicht antragsberechtigt. 3. Die Wahlgrundrechte enthalten für die Verfahrensgestaltung des Wahlprüfungsgerichts keine verfassungsrechtlichen Vorgaben. 4. Der Wahlfehler einer gegen die guten Sitten verstoßenden Handlung im Sinne des Art. 78 Abs. 2, 3. Var. HV ist im Hinblick auf die bei einer Wahlprüfung in Widerstreit stehenden Verfassungsgüter der Legitimation und der Funktionsfähigkeit des gewählten Parlaments restriktiv auszulegen. 5. Nicht jede Verwendung von im Rechenschaftsbericht einer politischen Partei nicht ausgewiesenen Mitteln stellt einen Wahlfehler im Sinne des Art. 78 Abs. 2,3. Var. HV dar. 6. Ein Wahlfehler im Sinne des Art. 78 Abs. 2, 3. Var. HV hegt in der Vorlage des unrichtigen Rechenschaftsberichts des CDU-Landesverbandes Hessen für das Jahr 1997 nicht, weil dieses Verhalten, mit dem jedenfalls kein unmittelbarer Angriff auf den Ablauf des demokratischen Wahlaktes beabsichtigt war, nach Art und Gewicht nicht vergleichbar schwer wiegt wie strafbewehrte Einwirkungen auf die Wählerwillensbildung, etwa durch Wählernötigung oder -bestechung. Grundgesetz Art. 21 Hessische Verfassung Art. 1, 73, 78 Gesetz über den Staatsgerichtshof §§ 19, 42, 43

Urteil v o m 13. F e b r u a r 2002 - P.St. 1633 in dem Verfahren wegen Verletzung von Grundrechten

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Staatsgerichtshof des Landes Hessen

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2.a) 2.b) 2.c) 2.d) 2.e) 3.

des hessischen Landesverbandes der Partei BÜNDNIS 9 0 / D I E G R Ü N E N , vertreten durch den Landesvorstand, Kaiser-Friedrich-Ring 65, 65185 Wiesbaden der Frau D. des Herrn D. des Herrn E. des Herrn K. der Frau S. des Herrn N. Entscheidungsformel:

Die Anträge werden zurückgewiesen. Gerichtskosten werden nicht erhoben, außergerichtliche Kosten nicht erstattet. Gründe: A I. Die Antragsteller wenden sich mit der Grundrechtsklage gegen die Feststellung der Gültigkeit der Wahl zum Hessischen Landtag durch das Wahlprüfungsgericht beim Hessischen Landtag. Der Antragsteller zu 1 hat sich an der Wahl für die 15. Wahlperiode des Hessischen Landtags durch die Einreichung einer Landesliste und Einreichung von Kreiswahlvorschlägen beteiligt. Die Antragsteller zu 2 sind nicht in den Landtag gewählte Bewerber auf der Landesliste des Antragstellers zu 1. Die Antragstellerin zu 2e ist nach dem Ausscheiden eines Abgeordneten in den Landtag nachgerückt. Der Antragsteller zu 3 hat sich als Wähler an der Wahl beteiligt. Am 7.2.1999 wurden die Abgeordneten für die 15. Wahlperiode des Hessischen Landtags gewählt. Von den insgesamt 110 Sitzen des Hessischen Landtags entfielen auf die CDU 50 Sitze, auf die SPD 46 Sitze, auf die Partei B Ü N D N I S 9 0 / D I E G R Ü N E N 8 Sitze und auf die F D P 6 Sitze. Nachdem mehrere Wahlberechtigte gegen die Gültigkeit der Landtagswahl Einspruch eingelegt hatten, entschied das Wahlprüfungsgericht beim Hessischen Landtag durch Urteil vom 1.7.1999, dass die Wahl vom 7.2.1999 gültig sei. Am 3.3.2000 beschloss das Wahlprüfungsgericht, das Wahlprüfungsverfahren wieder aufzunehmen. Nach einer Presseerklärung des Vorsitzenden des Wahlprüfungsgerichts waren wesentliche Tatsachen bekannt geworden, die der früheren Verhandlung nicht hatten zugrunde gelegt werden können. Es ging dabei um die Mitfinanzierung des Landtagswahlkampfes des CDU-Landesverbandes

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Chancengleichheit im Wahlwettbewerb

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Hessen aus Mitteln, die ihm aus einem in Liechtenstein unterhaltenen Stiftungsvermögen zugeflossen waren. Dieses Auslandsvermögen war in den jährlichen Rechenschaftsberichten der CDU, u.a. in dem Rechenschaftsbericht 1997, entgegen den Publizitätsvorschriften des Parteiengesetzes nicht deklariert worden. Das Wahlprüfungsgericht hielt den Einsatz dieses Vermögens zur Mitfinanzierung des Wahlkampfes für sittenwidrig und sah deshalb Anlass, den Wahlanfechtungstatbestand des Art. 78 Abs. 2, 3. Var. der Verfassung des Landes Hessen (kurz: Hessische Verfassung — HV —) zu prüfen. Art. 78 Abs. 2, 3.Var. HV besagt, dass gegen die guten Sitten verstoßende Handlungen, die das Wahlergebnis beeinflussen, die Wahl im Falle der Erheblichkeit für deren Ausgang ungültig machen. Die Hessische Landesregierung hielt diese Vorschrift der Hessischen Verfassung für mit dem Grundgesetz unvereinbar. Das von der Landesregierung angerufene Bundesverfassungsgericht entschied mit Urteil v. 8.2.2001 - 2 BvF 1/00 (BVerfGE 103,111 ff), dass Art. 78 Abs. 2 HV mit dem Grundgesetz vereinbar sei. In den Gründen seiner Entscheidung nahm das Bundesverfassungsgericht dabei eine einschränkende Auslegung dieser Norm der hessischen Landesverfassung vor. Das Bundesverfassungsgericht führte aus, eine sittenwidrige, das Wahlergebnis beeinflussende Handlung iSv Art. 78 Abs. 2 HV liege dann vor, wenn staatliche Stellen im Vorfeld einer Wahl in mehr als nur unerheblichem Maße parteiergreifend auf die Bildung des Wählerwillens eingewirkt hätten, wenn private Dritte, einschließlich Parteien und einzelner Kandidaten, mit Mitteln des Zwangs oder Drucks die Wahlentscheidung beeinflusst hätten oder wenn in ähnlich schwerwiegender Art und Weise auf die Wählerwillensbildung eingewirkt worden sei, ohne dass eine hinreichende Möglichkeit der Abwehr, z.B. mit Hilfe der Gerichte oder der Polizei, oder des Ausgleichs, etwa mit Mitteln des Wahlwettbewerbs, bestanden hätte. Außerhalb dieses Bereichs erheblicher Verletzungen der Freiheit oder der Gleichheit der Wahl stelle ein Einwirken von Parteien, einzelnen Wahlbewerbern, gesellschaftlichen Gruppen oder sonstigen Dritten auf die Bildung des Wählerwillens kein Verhalten dar, das diesen Wahlfehlertatbestand erfüllen würde, selbst wenn es als unlauter zu werten sei und gegen gesetzliche Bestimmungen verstoßen sollte. Ein Gesetzesverstoß sei für die Annahme einer sittenwidrigen Wahlbeeinflussung iSv Art. 78 Abs. 2 HV weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung. Dass der Begriff der sittenwidrigen Handlung in dieser Weise einschränkend auszulegen sei, werde durch den Regelungszusammenhang der zur Prüfung gestellten Vorschrift bestätigt. Art. 78 Abs. 2 HV stelle unlautere, die Wahl beeinflussende Verhaltensweisen den Unregelmäßigkeiten im Wahlverfahren, also Verletzungen von Wahlvorschriften, die die Wahlvorbereitung, den Wahlakt und die Feststellung des Wahlergebnisses beträfen, und strafbaren Handlungen, die das Wahlergebnis beeinflussen, also Verstößen gegen §§ 107 ff des Strafgesetzbuches — StGB —, gleich. Daraus sei zu schließen, dass eine sittenwidrige WahlbeeinflusLVerfGE 13

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sung nach Art und Gewicht zumindest ebenso bedeutsam sein müsse wie die von Art. 78 Abs. 2 HV im Übrigen erfassten Handlungen, namentlich diejenigen strafrechtlicher Natur. Hinzu komme, dass Art. 78 Abs. 2 HV die Ungültigerklärung einer Wahl wegen sittenwidriger Handlungen nur unter der Voraussetzung zulasse, dass diese Handlungen das Wahlergebnis beeinflussen. Er stelle damit erhöhte Anforderungen an die Annahme eines Ursachenzusammenhangs zwischen einer unlauteren Einflussnahme auf die Willensbildung des Wählers und dessen Stimmabgabe. Nur eine einschränkende Auslegung des Begriffs der sittenwidrigen Handlung werde auch dem Sinn und Zweck von Art. 78 Abs. 2 HV gerecht. Art. 78 Abs. 2 HV wolle die richtige, mit dem Wählerwillen in Einklang stehende Zusammensetzung des Parlaments gewährleisten und damit der Wahrung der Wahlrechtsgrundsätze, insbesondere der Wahlfreiheit und Wahlgleichheit als konstituierenden Elementen einer demokratischen Wahl dienen. Das Parlament solle indessen durch die Wahlprüfung in der Wahrnehmung seiner Aufgaben, insbesondere der Gesetzgebung und der Kontrolle der Regierung möglichst nicht beeinträchtigt werden. Dieser Rechtsgedanke komme in Art. 78 Abs. 2 HV darin zum Ausdruck, dass die Ungültigerklärung einer Wahl nur insoweit zugelassen werde, als das in Rede stehende Verhalten das Wahlergebnis beeinflusst habe und diese Beeinflussung für den Ausgang der Wahl erheblich gewesen sei. Die Ungültigerklärung einer gesamten Wahl setze einen erheblichen Wahlfehler von solchem Gewicht voraus, dass ein Fortbestand der in dieser Weise gewählten Volksvertretung unerträglich erschiene. Nach diesem Urteil des Bundesverfassungsgerichts stellte das Wahlprüfungsgericht mit Beschluss v. 23.2.2001 das wieder aufgenommene Verfahren zur Prüfung der Gültigkeit der Wahl zum Hessischen Landtag ein. Im Hinblick auf die für das Wahlprüfungsgericht verbindliche Auslegung des Tatbestandsmerkmals „gegen die guten Sitten verstoßende Handlungen, die das Wahlergebnis beeinflussen" in Art. 78 Abs. 2 HV durch das Bundesverfassungsgericht könne das Vorliegen eines mandatsrelevanten Wahlfehlers nicht festgestellt werden. Weder die Durchführung der Unterschriftenaktion zur doppelten Staatsbürgerschaft noch die Mitfinanzierung des Landtagswahlkampfs 1999 der CDU in Hessen und speziell der Unterschriftenaktion zur doppelten Staatsbürgerschaft aus verschleiertem Auslandsvermögen der Partei könne aufgrund der vom Bundesverfassungsgericht vorgenommenen verbindlichen Auslegung des Art. 78 Abs. 2 HV als gegen die guten Sitten verstoßende Handlung im Sinne dieser Vorschrift angesehen werden. Eine rechtswidrige oder unlautere Art der Finanzierung der von ihrem Inhalt her weder rechts- noch sittenwidrigen Unterschriftenaktion zur doppelten Staatsbürgerschaft könne nicht als sittenwidrige Handlung angesehen werden, weil sie den Wählerinnen und Wählern bei der Stimmabgabe unbekannt gewesen sei, es aber nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts für die Frage der Verletzung des Grundsatzes der Wahlgleichheit allein auf die Vorstellung der WählerinLVerfGE 13

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nen und Wähler ankomme und insoweit das Wahlergebnis nicht verfälscht sein könne. Am 23.3.2001 haben die Antragsteller Grundrechtsklage erhoben. Sie rügen als grundrechtsverletzendes Verhalten hessischer Staatsgewalt, dass das Wahlprüfungsgericht mit Beschluss v. 23.2.2001, der das Urteil v. 1.7.1999 aufrechterhalte, die Wahl zum Hessischen Landtag für gültig erklärt habe. Zudem beanstanden die Antragsteller, dass das Wahlprüfungsgericht es unterlassen habe, den Verstoß der CDU gegen das Transparenzgebot sowie die Verwendung im Rechenschaftsbericht nicht ausgewiesenen Vermögens im Wahlkampf als im Rahmen des Art. 78 Abs. 2 HV möglichen Wahlfehler anzusehen, insofern weitere Aufklärung zu betreiben und eine mündliche Verhandlung durchzuführen. Der Antragsteller zu 1 und die Antragsteller zu 2 sehen sich durch die angegriffene Entscheidung und das Verfahren des Wahlprüfungsgerichts in ihrem Grundrecht auf Chancengleichheit im Wahlwettbewerb in Verbindung mit den Grundsätzen der Freiheit und Gleichheit der Wahl verletzt. Die Antragsteller zu 2 rügen zudem eine Verletzung ihres grundrechtlich geschützten passiven Wahlrechts. Der Antragsteller zu 3 beanstandet eine Verletzung seines grundrechtlich geschützten aktiven Wahlrechts in Verbindung mit den Grundsätzen der Freiheit und Gleichheit der Wahl. Die Antragsteller beantragen, I.

festzustellen, dass der Beschluss des Wahlprüfungsgerichts beim Hessischen Landtag vom 23. Februar 2001 - Az.: 104/2-1999 - den Antragsteller zu 1 in seinem Grundrecht auf Chancengleichheit im Wahlwettbewerb (Art. 75 Abs. 2 und 73 Abs. 2 iVm Art. 1 HV), die Antragsteller zu 2 in ihrem grundrechtlich geschützten passiven Wahlrecht und in ihrem Grundrecht auf Chancengleichheit im Wahlwettbewerb (Art. 75 Abs. 2 und 73 Abs. 2 iVm Art. 1 HV) und den Antragsteller zu 3 in seinem grundrechtlich geschützten aktiven Wahlrecht (Art. 73 Abs. 2 und 3 iVm Art. 1 HV), jeweils in Verbindung mit den Grundsätzen der Freiheit und der Gleichheit der Wahl, dadurch verletzt hat, 1. dass er die Wahl zum Hessischen Landtag vom 7. Februar 1999 — durch die Aufrechterhaltung des Urteils des Wahlprüfungsgerichts vom 1. Juli 1999 — für gültig erklärt hat, obwohl Handlungen das Wahlergebnis beeinflusst haben, die im Sinne des Art. 78 Abs. 2 HV gegen die guten Sitten verstoßen haben und die für den Ausgang der Wahl erheblich waren; 2. — hilfsweise —, dass das Wahlprüfungsgericht aufgrund einer Fehlinterpretation des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Februar 2001 — 2 BvF 1/00 - Art. 78 Abs. 2 HV dahin ausgelegt hat, dass der Verstoß einer Partei gegen ihre Transparenzpflicht aus Art. 21 Abs. 1 S. 4 GG, §§ 23 Abs. 1, 24 ParteiG und die Verwendung im Rechenschaftsbericht nicht ausgewiesenen Vermögens zur Finanzierung wahlentscheidender Aktionen unter keinen Umständen als relevanter Wahlfehler im Sinne dieser Norm angesehen werden kann, und es deshalb unterlassen hat, aufgrund einer mündlichen Verhandlung in eine nähere Prüfung der Frage einzutreten, ob im vorliegenden Fall die Voraussetzungen für einen mandatsrelevanten Fehler vorlagen;

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den Beschluss des Wahlprüfungsgerichts beim Hessischen Landtag vom 23. Februar 2001 - Az.: 104/2-1999 - aufzuheben;

III. 1. das Urteil des Wahlprüfungsgerichts beim Hessischen Landtag vom 1. Juli 1999 - Az.: 104/2-1999 - aufzuheben und die Wahl zum Hessischen Landtag vom 7. Februar 1999 für ungültig zu erklären; 2. - hilfsweise das Wahlprüfungsgericht beim Hessischen Landtag zu verpflichten, sein Urteil vom 1. Juli 1999 - Az.: 104/2-1999 - aufzuheben und die Wahl zum Hessischen Landtag vom 7. Februar 1999 für ungültig zu erklären; 3. - höchst hilfsweise —, das Wahlprüfungsgericht beim Hessischen Landtag zu verpflichten, über die Aufhebung des Urteils vom 1. Juli 1999 - Az.: 104/2-1999 - und über die Gültigkeit der Wahl zum Hessischen Landtag vom 7. Februar 1999 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Staatsgerichtshofs zu entscheiden. II. Die Landesregierung und der Landesanwalt halten die Grundrechtsklage bereits für unzulässig, da eine Verletzung von Grundrechten der Antragsteller durch den im Wiederaufnahmeverfahren ergangenen Beschluss des Wahlprüfungsgerichts nicht möglich sei. Dieses Verfahren finde nur von Amts wegen statt und sei ausschließlich zur Legitimationskontrolle des Parlaments eingerichtet, ohne auch nur als Nebenzweck den Schutz individueller wahlrechtlicher Grundrechtspositionen zu verfolgen. Zumindest sei die Grundrechtsklage unbegründet, da der Verstoß gegen die Rechenschaftspflicht und die Mitfinanzierung des Landtagswahlkampfs 1999 des CDU-Landesverbandes Hessen aus nicht ordnungsgemäß deklariertem Vermögen nicht als mandatsrelevante Wahlfehler iSd Art. 78 Abs. 2 HV angesehen werden könnten. III. Die Abgeordneten sämtlicher Fraktionen des Hessischen Landtags haben von der ihnen eröffneten Möglichkeit, sich zur Grundrechtsklage zu äußern, Gebrauch gemacht. B I. Die Grundrechtsklage der Antragsteller ist mit sämtlichen Anträgen unzulässig, soweit Grundrechtsverletzungen durch das Verfahren des Wahlprüfungsgerichts oder dessen dem Einstellungsbeschluss zu Grunde liegende Rechtsauffassung, der Einsatz nicht im Rechenschaftsbericht deklarierten Vermögens zu Wahlkampfzwecken stelle keinen Wahlanfechtungsgrund dar, gerügt werden. Soweit die Entscheidung des Wahlprüfungsgerichts als grundrechtsverletzend beanstandet wird, weil darin die Vorlage eines unrichtigen Rechenschaftsberichts für LVerfGE 13

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das Jahr 1997 nicht als Wahlanfechtungsgrund erkannt worden sei, ist die Grundrechtsklage jedenfalls unbegründet. Die Grundrechtsklage ist allerdings der für die von den Antragstellern verfolgten Begehren statthafte verfassungsprozessuale Rechtsbehelf. Dies gilt auch für den Antragsteller zu 1, der sich als politische Partei auf sein Recht auf Chancengleichheit im Wahlwettbewerb beruft. Nach § 43 Abs. 1 S. 1 des Gesetzes über den Staatsgerichtshof — StGHG - kann den Staatsgerichtshof anrufen, wer geltend macht, durch die öffentliche Gewalt in einem durch die Verfassung des Landes Hessen gewährten Grundrecht verletzt worden zu sein. Das Recht der Parteien auf Chancengleichheit stellt — zumindest auch — einen grundrechtlichen, in Art. 1 HV und den Wahlrechtsgrundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl (Art. 73 Abs. 2 S. 1 HV) verankerten speziellen Gleichheitssatz dar (vgl. StGH, Beschl. v. 30.10.1980 - P.St. 908 - , ESVGH 31,161 = StAnz. 1981, S. 1655; Beschl. v. 11.1.1991 - P.St. 1114 - , ESVGH 41, 1 = NVwZ 1992, 465; Beschl. v. 29.1.1993 - P.St. 1158 e.V. StAnz. 1993, S. 654 = NVwZ-RR 1993, 654). Die zusätzliche Verankerung der Chancengleichheit der Parteien in ihrem durch Art. 21 Abs. 1 des Grundgesetzes - GG — verbürgten Status berührt die Statthaftigkeit der Grundrechtsklage nicht. Zwar ist Art. 21 Abs. 1 GG nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zugleich und unmittelbar Bestandteil des förmlichen Verfassungsrechts eines jeden Landes (vgl. BVerfGE 1, 208, 227; 4, 375, 378; 6, 367, 375; 60, 53, 61). Die vom Bundesverfassungsgericht aus dieser statusrechtlichen Verbürgung für die Bundesebene gezogene prozessuale Konsequenz, dass Parteien zur Geltendmachung ihrer Chancengleichheit gegenüber anderen Verfassungsorganen ausschließlich auf das gegenüber der Verfassungsbeschwerde speziellere Organstreitverfahren verwiesen seien (vgl. BVerfGE 60, 53, 61 f; 84, 290, 299), ist auf die Rechtslage in Hessen nicht übertragbar (vgl. BVerfGE 75, 34, 39). Die Verfassungsstreitigkeit nach § 42 StGHG als landesrechtliches Pendant des Organstreitverfahrens steht Parteien nicht zur Verfügung. Denn die für die Verfassungsstreitigkeit Antragsberechtigten führt § 42 Abs. 2 StGHG nach Wordaut und - wie § 19 Abs. 2 StGHG zeigt - auch nach der Systematik des Gesetzes über den Staatsgerichtshof abschließend auf. Politische Parteien sind in beiden Vorschriften des Gesetzes über den Staatsgerichtshof nicht genannt. Sämtliche Antragsteller sind auch iSd § 19 Abs. 2 Nr. 9 StGHG antragsberechtigt. Die Beteiligtenfähigkeit nach dieser Vorschrift knüpft an die Grundrechtsfähigkeit an (vgl. StGH, Beschl. v. 17.1.2001 - P.St. 1484 - , StAnz. 2001, S. 1011 = DVB1. 2001, 802). Im Hinblick auf das geltend gemachte Recht auf Chancengleichheit ist auch der Antragsteller zu 1, der keine natürliche Person ist, grundrechts- und damit beteiligtenfähig. Denn Träger des Grundrechts auf Chancengleichheit im Wahlwettbewerb sind alle Wahlbewerber einschließlich der Parteien (vgl. StGH, Beschl. v. 29.1.1993 - P.St. 1158 e.V. aaO).

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Den Antragstellern fehlt jedoch die Antragsbefugnis, soweit sie als Grundrechtsverletzung rügen, das Wahlprüfungsgericht habe ohne mündliche Verhandlung und ohne ihnen Gelegenheit zur Äußerung zu geben im wieder aufgenommenen Verfahren der Wahlprüfung entschieden. Die in § 43 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 StGHG geregelte Zulässigkeitsvoraussetzung der Antragsbefugnis verlangt bei der gegen einen Hoheitsakt gerichteten Grundrechtsklage, dass in der Antragsschrift substantiiert ein Sachverhalt geschildert wird, aus dem sich — seine Richtigkeit unterstellt — plausibel die Möglichkeit einer Verletzung der benannten Grundrechte der Hessischen Verfassung durch den angegriffenen Hoheitsakt ergibt (std. Rspr. des StGH, vgl. etwa Beschl. v. 10.10.2001 - P.St. 1415 - , StAnz. 2001, S. 4123). Die Möglichkeit einer Verletzung von Grundrechten der Antragsteller durch das Verfahren des Wahlprüfungsgerichts —namentlich dessen Entscheidung ohne mündliche Verhandlung und ohne Anhörung - besteht nicht. Für die Verfahrensgestaltung des Wahlprüfungsgerichts als parlamentarisches Wahlprüfungsorgan enthalten die von den Antragstellern benannten Wahlgrundrechte keine verfassungsrechtlichen Vorgaben. Insbesondere folgt aus diesen Rechtspositionen weder eine verfassungsrechtliche Pflicht des Wahlprüfungsgerichts, im Wiederaufnahmeverfahren eine mündliche Verhandlung durchzuführen und durch Urteil zu entscheiden, noch ein grundrechtlicher Anspruch der Rechtsinhaber (aktiv und passiv Wahlberechtigte, Parteien), im Wiederaufnahmeverfahren des Wahlprüfungsgerichts gehört zu werden (vgl. zu letzterem bereits StGH, Beschl. v. 9.8.2000 - P.St. 1547 ESVGH 51,17 = NJW 2000, 2891). Den Antragstellern fehlt darüber hinaus die Antragsbefugnis, soweit sie sich deshalb durch den Einstellungsbeschluss des Wahlprüfungsgerichts in Grundrechten verletzt sehen, weil dort die Verwendung von nicht deklariertem Vermögen zu Wahlkampfzwecken nicht als Wahlfehler gewertet wurde. Eine hierdurch bewirkte Grundrechtsverletzung der Antragsteller ist von vornherein ausgeschlossen. Denn insofern hat das Wahlprüfungsgericht das Vorliegen eines mandatsrelevanten Wahlfehlers iSd Art. 78 Abs. 2, 3. Variante HV im Ergebnis eindeutig zu Recht verneint. Der Verfassunggeber bezweckt mit den Wahlanfechtungstatbeständen des Art. 78 Abs. 2 HV den Ausgleich zweier verfassungsrechtlicher Postulate, die im Grundsatz der parlamentarischen Demokratie wurzeln und bei der Wahlprüfung nach Art. 78 HV in einem Spannungsverhältnis stehen: Einerseits ist die demokratische Legitimation des Parlaments, die von der Wahrung der Wahlgrundsätze und -grundrechte abhängt, zu gewährleisten, andererseits der Bestandsschutz der gewählten Volksvertretung als zentrale Funktionsvoraussetzung einer jeden repräsentativen Demokratie zu beachten. Vor dem Hintergrund dieser Konfliktlage ist der Sinngehalt des Wahlanfechtungsgrundes des Art. 78 Abs. 2, 3. Var. HV zu erschließen, nach dessen Wortlaut — im Falle ihrer Erheblichkeit für den Ausgang der Wahl — gegen die guten Sitten verstoßende Handlungen, die das Wahlergebnis beeinflussen, eine Wahl ungültig machen. Bei der im Hinblick auf die konfligierenden Verfassungsgüter der Legitimation und der Funktionsfähigkeit LVerfGE 13

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des gewählten Parlaments gebotenen restriktiven Auslegung kann der Wahlfehler der sittenwidrigen Handlung durch drei Gruppen von Verhaltensweisen verwirklicht werden, nämlich durch parteiergreifendes Einwirken staatlicher Stellen auf die Bildung des Wählerwillens im Vorfeld einer Wahl in mehr als nur unerheblichem Maße, durch Beeinflussung der Wahlentscheidung durch private Dritte, einschließlich Parteien und einzelner Kandidaten, mit Mitteln des Zwangs oder Drucks, schließlich durch Einwirkung auf die Wählerwillensbildung in ähnlich schwerwiegender Art und Weise. Auch derartige Verhaltensweisen stellen eine sittenwidrige Handlung iSd Art. 78 Abs. 2, 3. Var. HV nur dar, wenn keine Möglichkeit ihrer Abwehr, z.B. mit Hilfe der Gerichte oder der Polizei, oder ihres Ausgleichs, etwa mit Mitteln des Wahlwettbewerbs, bestanden hat. Das Einwirken nichtstaatlicher Stellen auf die Bildung des Wählerwillens kommt als Wahlfehler der sittenwidrigen Handlung zudem nur bei erheblichen Verletzungen der Freiheit oder der Gleichheit der Wahl in Betracht. Ferner muss eine sittenwidrige Wahlbeeinflussung iSd Art. 78 Abs. 2, 3. Var. HV mindestens ebenso bedeutsam sein wie die übrigen Wahlnichtigkeitsgründe des Art. 78 Abs. 2 HV, namentlich wie der der strafbaren Handlung. Ein Wahlfehler, der zur Ungültigerklärung einer gesamten Wahl führt, muss schließlich ein solches Gewicht haben, dass ein Fortbestand der gewählten Volksvertretung unerträglich erscheint (vgl. zu diesen Voraussetzungen BVerfGE 103,111,132 ff). Allein in der angegriffenen Verwendung von nicht deklariertem Vermögen zu Wahlkampfzwecken, insbesondere im Zusammenhang mit der Kampagne zur doppelten Staatsangehörigkeit, ist eine sittenwidrige Handlung im Sinne dieser Begriffsbestimmung von vornherein nicht zu erkennen. Der Umstand, dass im Wahlkampf im Rechenschaftsbericht nicht ausgewiesenes Vermögen verwendet wurde, wirkte für sich genommen nicht auf die Wählerwillensbildung ein. Erst die Wahlkampfaktionen, die aus nicht deklariertem Vermögen mitfinanziert waren, namentlich die Kampagne zur doppelten Staatsangehörigkeit, zielten auf die Beeinflussung der Wählerwillensbildung ab. Ihre Einstufung als Wahlfehler scheitert indes von vornherein daran, dass diese Wahlkampfaktionen offen geführt wurden und ein Ausgleich mit Mitteln des Wahlwettbewerbs möglich war, der im Übrigen von den Konkurrenten im Landtagswahlkampf auch gesucht wurde. Soweit die Antragsteller Grundrechtsverletzungen durch den Beschluss des Wahlprüfungsgerichts mit dem Argument rügen, das Wahlprüfungsgericht habe Vorlage und Publikation eines unrichtigen Rechenschaftsberichts für das Jahr 1997 durch Funktionsträger des CDU-Landesverbandes Hessen nicht als Wahlfehler iSd Art. 78 Abs. 2, 3. Var. HV erkannt, ist die Grundrechtsklage jedenfalls unbegründet. Art. 78 Abs. 2, 3. Var. HV bestimmt, dass gegen die guten Sitten verstoßende Handlungen, die das Wahlergebnis beeinflussen, im Falle der Erheblichkeit für den Ausgang der Wahl eine Wahl ungültig machen. Strukturell setzt die Ungültigkeit einer Wahl mithin einen Wahlfehler und einen Ursachenzusam-

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menhang zwischen Wahlfehler und Wahlergebnis (sogenannte Mandatsrelevanz) voraus. Ein nicht von staatlichen Stellen ausgehendes Verhalten, das den Wahlfehler der sittenwidrigen Handlung nach Art. 78 Abs. 2, 3. Var. HV erfüllt, liegt vor, wenn private Dritte, zu denen in diesem Zusammenhang auch Parteien zählen, die Wahlentscheidung mit Mitteln des Zwangs oder Drucks beeinflusst oder in ähnlich schwerwiegender Art und Weise auf die Wählerwillensbildung eingewirkt haben. Eine Beeinflussung der Wahlentscheidung mit Mitteln des Zwangs oder Drucks liegt in der Vorlage des unrichtigen Rechenschaftsberichts für das Jahr 1997 nicht. Die Vorlage des unrichtigen Rechenschaftsberichts für das Jahr 1997 ist aber auch keine Einwirkung auf die Wählerwillensbildung in ähnlich schwerwiegender Art und Weise. Dieser Wahlanfechtungstatbestand bezeichnet ein Verhalten, das eine Einwirkung auf die Wählerwillensbildung gewesen sein muss, die im Wahlkampf nicht abwehrbar und nicht auszugleichen war, zudem die Freiheit und Gleichheit der Wahl verletzt hat, darüber hinaus von seinem Gewicht her den strafbewehrten Wahlrechtsverstößen gleichkommt und, wenn es — wie hier — um die Ungültigerklärung einer gesamten Landtagswahl geht, den Fortbestand der gewählten Volksvertretung unerträglich erscheinen lässt. Die als ein derartiger Wahlfehler gerügte Vorlage eines unrichtigen Rechenschaftsberichts für das Jahr 1997 durch Funktionsträger des CDU-Landesverbandes Hessen ist ein Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Transparenzgebot des Art. 21 Abs. 1 S. 4 GG und die dieses Gebot einfachgesetzlich konkretisierenden Vorschriften des Parteiengesetzes. Gem. Art. 21 Abs. 1 S. 4 GG müssen die Parteien über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben. Dieses Publizitätsgebot in Finanzfragen sichert die Integrität des demokratischen Willensbildungsprozesses, indem dem Wähler offenbart wird, welche Gruppen, Verbände oder Personen im Sinne ihrer Interessen durch Geldzuwendungen auf die Parteien politisch einzuwirken suchen. Das Transparenzgebot hat damit — unabhängig von seiner tatsächlichen Bedeutung für die jeweilige Wählerentscheidung — von Verfassungs wegen eine normative Relevanz für die Wählerentscheidung und soll nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zugleich zur Chancengleichheit der Parteien im politischen Wettbewerb beitragen (vgl. BVerfGE 20, 56,106; 85,264, 319 f). Die verfassungsrechtliche Bedeutung des Transparenzgebots für den demokratischen Willensbildungsprozess und die Chancengleichheit der Parteien besagt indes nicht, dass ein Verstoß einer Partei gegen das Transparenzgebot automatisch den in Art. 78 Abs. 2, 3. Var. HV normierten Wahlanfechtungsgrund der Einwirkung auf die Wählerwillensbildung in ähnlich schwerwiegender Art und Weise verwirklicht. Vielmehr ist jeweils der konkrete Verstoß gegen das Transparenzgebot an den für den Wahlfehler nach Art. 78 Abs. 2, 3. Var. HV geltenden Kriterien zu messen.

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Hiernach stellt die von den Antragstellern gerügte Vorlage eines unrichtigen Rechenschaftsberichts für 1997 keinen Wahlanfechtungsgrund dar. Denn dieses gegen das Transparenzgebot verstoßende Verhalten kommt von seinem Gewicht her den strafbewehrten Wahlrechtsverstößen nicht gleich. Das Wahlstrafrecht nach den §§ 107 ff StGB bezweckt den Schutz des Wahlvorgangs und der Ausübung des Wahlrechts vor zielgerichteten Eingriffen. Abgesehen vom Vergehen der Verletzung des Wahlgeheimnisses (§ 107c StGB) bewirken und bezwecken die unter Strafe gestellten Verhaltensweisen die Verfälschung von Wahlen. Einwirkungen auf die Wählerwillensbildung, die in §§ 107 ff StGB unter Strafe gestellt sind, sind dadurch gekennzeichnet, dass direkt und für den Wähler spürbar die Einflussnahme auf seine Willensbildung erfolgt. So wird bei der Wählernötigung nach § 108 StGB auf die freie Willensbildung des Wählers durch Zwang, bei der Wählerbestechung nach § 108b StGB durch das Anbieten bzw. Gewähren von Vorteilen unmittelbar eingewirkt. Täuschungen des Wählers sind demgegenüber gem. § 108a StGB strafrechtlich nur von Bedeutung, soweit sie die Verwirklichung des bereits gebildeten Wählerwillens betreffen. Der durch Täuschung ausgelöste Motivirrtum des Wählers bei seiner Willensbildung ist hingegen nach §§ 107 ff StGB irrelevant. Ein diesen Straftatbeständen vergleichbar schwerwiegendes Verhalten stellt der Verstoß gegen das Transparenzgebot durch Vorlage eines unrichtigen Rechenschaftsberichts für das Jahr 1997 für sich genommen nicht dar. Eine solche Einflussnahme auf die Wählerwillensbildung durch Fehlinformationen oder das Vorenthalten von Informationen über die für die Wahlentscheidung der Wähler potentiell relevante Finanzierung einer Partei ist — auch wenn dieses Verhalten gegen das Transparenzgebot der Verfassung verstößt — nach Art und Gewicht grundsätzlich nicht vergleichbar mit einer strafbewehrten Einwirkung auf die Wählerwillensbildung, etwa durch Wählernötigung oder -bestechung, oder deren Aktualisierung im Wahlakt. Im Hinblick auf die konkret in Rede stehende Vorlage eines unrichtigen Rechenschaftsberichts für das Jahr 1997 steht der Vergleichbarkeit mit den Wahlstraftatbeständen der §§ 107 ff StGB zudem entgegen, dass damit jedenfalls kein unmittelbarer Angriff auf den Ablauf des demokratischen Wahlaktes beabsichtigt war, wie ihn die genannten Strafvorschriften ihrem Schutzzweck nach voraussetzen. Gesichtspunkte, deren Hinzutreten einem Verstoß gegen das Transparenzgebot ausnahmsweise die Qualität eines Verhaltens verleihen könnten, das seiner Schwere nach den Tatbeständen des Wahlstrafrechts gleich zu achten ist, haben weder die Antragsteller aufgezeigt noch sind sie für den Staatsgerichtshof hier ersichtlich. II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 28 StGHG.

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Nr. 2 1. Die Neuregelung der §§ 43 und 43a des Gesetzes über den Staatsgerichtshof — StGHG — durch Art. 1 Nrn. 21 und 22 des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Staatsgerichtshof und anderer Gesetze vom 22. Dezember 2000 (GVB1. I S. 585) ist mit der Verfassung des Landes Hessen - HV - vereinbar. 2. Art. 131 Abs. 1 HV verbärgt kein Grundrecht. 3. Der Gesetzgeber besitzt nach Art. 131 Abs. 3 HV einen weiten Spielraum, den Zugang zum Staatsgerichtshof auszugestalten. 4. Nach § 43 Abs. 1 Satz 2 StGHG ist die Grundrechtsklage unzulässig, wenn in derselben Sache Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erhoben wird. Damit hat der Landesgesetzgeber die Möglichkeit, eine Grundrechtsklage zu erheben, nicht beseitigt. Der Rechtsuchende wird lediglich zur Wahl des von ihm bevorzugten Gerichts gezwungen. Verfassungsrecht gebietet dualen Rechtsschutz nicht. 5. Der Staatsgerichtshof kann nach § 43a Satz 1 Nr. 1 StGHG die Annahme einer Grundrechtsklage einstimmig ablehnen, wenn sie offensichtlich unzulässig oder offensichtlich unbegründet ist. Danach wird nur das Verfahren, in dem über die Grundrechtsklage entschieden wird, vereinfacht. Der Staatsgerichtshof entscheidet unverändert in der Besetzung mit elf Richtern. 6. Der Staatsgerichtshof kann außerdem nach § 43a Satz 1 Nr. 2 StGHG die Annahme einer Grundrechtsklage einstimmig ablehnen, wenn ihre Annahme aus anderen Gründen, insbesondere wegen fehlender verfassungsrechtlicher Bedeutung oder deshalb offensichtlich nicht angezeigt ist, weil durch die Ablehnung kein schwerwiegender Nachteil entsteht. Auch diese Regelung hält sich in dem durch Art. 131 Abs. 3 HV vorgegebenen Rahmen. Den weiten Spielraum, den Art. 131 Abs. 3 HV dem Gesetzgeber einräumt, zeigt nicht nur der Wortlaut dieser Norm, sondern auch deren Entstehungsgeschichte. 7. Der Beschluss über die Nichtannahme einer Grundrechtsklage bedarf nach § 43a Satz 2 StGHG keiner Begründung. Art. 130 Abs. 4 HV sieht vor, dass das Gesetz das Verfahren vor dem Staatsgerichtshof bestimmt. Aus der Hessischen Verfassung ergibt sich keine Pflicht zur Begründung L V e r f G E 13

Ausschluss der Grundrechtsklage — Beschluss ohne Begründung

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einet Entscheidung über den außerordentlichen Rechtsbehelf einer Grundrechtsklage. Hessische Verfassung Art. 63,130 Abs. 4,131 Abs. 1,131 Abs. 3 Gesetz über den Staatsgerichtshof §§ 43 Abs. 1 Satz 2, 43 Abs. 1 Satz 3, 43a Satz 1 Nr. 1, 43a Satz 1 Nr. 2, 43a Satz 2

B e s c h l u s s vom 11. A p r i l 2002 - P.St. 1688 auf den Antrag des Rechtsanwalts B. wegen Verletzung von Grundrechten Entscheidungsformel: Der Antrag wird zurückgewiesen. Gerichtskosten werden nicht erhoben, außergerichtliche Kosten nicht erstattet. Gründe: A I. Der Antragsteller wendet sich mit der am 30. Mai 2001 erhobenen Grundrechtsklage gegen die Neuregelung der §§ 43 und 43a des Gesetzes über den Staatsgerichtshof - StGHG — durch Art. 1 Nrn. 21 und 22 des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Staatsgerichtshof und anderer Gesetze vom 22. Dezember 2000 (GVB1.1 S. 585). Mit Beschluss vom 11.9.2001 - P.St. 1628 - lehnte der Staatsgerichtshof die Annahme einer gegen den Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 22.1.2001 - 3 TZ 3861/00 - gerichteten Grundrechtsklage des Antragstellers nach § 43a S. 1 Nr. 1 StGHG einstimmig ab. Der Antragsteller hatte in derselben Sache Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht erhoben, die mit Kammerbeschluss vom 15.3.2001 — 1 BvR 314/01 — nicht zur Entscheidung angenommen worden war. Nach der Entscheidung des Staatsgerichtshofs stellte der Antragsteller mit am 30.5.2001 eingegangenem Schriftsatz klar, dass sich die Grundrechtsklage auch gegen §§ 43 Abs. 1 S. 2 und 43a StGHG richte. § 43 Abs. 1 StGHG hat folgenden Wordaut: „Den Staatsgerichtshof kann anrufen, wer geltend macht, durch die öffentliche Gewalt in einem durch die Verfassung des Landes Hessen gewährten Grundrecht verletzt worden zu sein (Grundrechtsklage nach Art. 131 Abs. 1 der Verfassung des Landes Hessen). Die Grundrechtsklage ist unzulässig, wenn in derselben Sache Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erhoben ist oder wird. LVerfGE 13

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Staatsgerichtshof des Landes Hessen Dies gilt nicht, wenn die Verfassung des Landes Hessen weiterreichende Grundrechte als das Grundgesetz gewährleistet, und für die Grundrechtsklage nach § 46." Der neu eingeführte § 43a StGHG regelt: „Der Staatsgerichtshof kann die Annahme einer Grundrechtsklage einstimmig ablehnen, 1. wenn sie offensichtlich unzulässig oder offensichtlich unbegründet ist oder 2. wenn ihre Annahme aus anderen Gründen, insbesondere wegen fehlender verfassungsrechtlicher Bedeutung oder deshalb offensichtlich nicht angezeigt ist, weil durch die Ablehnung kein schwerwiegender Nachteil entsteht. Der Beschluss bedarf keiner Begründung."

Der Antragsteller ist der Ansicht, diese Regelungen verstießen gegen Art. 131 Abs. 1 und 3 der Verfassung des Landes Hessen (kurz: Hessische Verfassung — HV - ) . Danach habe jedermann das Recht, den Staatsgerichtshof anzurufen, wenn er sich in seinen Grundrechten verletzt sehe. Der durch Art. 63 HV garantierte Wesensgehalt dieses Grundrechts werde verletzt, wenn der Verfassungsverstoß für den Fall, dass das Bundesverfassungsgericht angerufen wird oder wurde, nicht überprüft werden könne. Das Bundesverfassungsgericht habe ausdrücklich das Recht auf eine eigenständige Landesverfassungsgerichtsbarkeit betont. Die Möglichkeit, den Staatsgerichtshof bei einer Verletzung von mit Bundesgrundrechten inhaltsgleichen Landesgrundrechten anzurufen, sei durch § 43 Abs. 1 S. 2 StGHG faktisch beseitigt. Auch § 43a S. 1 Nr. 2 StGHG verletze ihn in seinem Grundrecht. Soweit es möglich sei, die Annahme zur Entscheidung ohne Begründung wegen fehlender verfassungsrechtlicher Bedeutung abzulehnen, werde die Uberprüfung individueller Grundrechtsverletzungen generell ausgeschlossen. Dies gelte auch deswegen, weil die Auslegung von Grundrechten des Grundgesetzes, die mit den durch die Hessische Verfassung gewährten Grundrechten inhaltsgleich seien, in aller Regel durch das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt sei. Die Aushöhlung der Rechte des Bürgers betreffe dessen Würde und die des Staates. II. Die Landesregierung hält die Grundrechtsklage für unzulässig. Der Antragsteller habe die Verletzung von Grundrechten nicht substantiiert dargelegt. Die Zulässigkeit einer unmittelbar gegen eine Rechtsvorschrift gerichteten Grundrechtsklage erfordere, dass der Antragsteller durch die angegriffene Rechtsnorm selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen sei. Daran fehle es. Von § 43a StGHG sei der Antragsteller nicht unmittelbar und konkret betroffen. Es bedürfe nämlich noch eines Vollzugsaktes, einer konkreten Entscheidung des Einzelfalls, deren Folge den Antragsteller dann rechtlich treffen könne. Allein die Möglichkeit, der Staatsgerichtshof könne die Annahme einer eventuellen künftigen Grundrechtsklage ablehnen, genüge nicht. Anders verhalte es sich mit § 43 Abs. 1 LVerfGE 13

Ausschluss der Grundrechtsklage - Beschluss ohne Begründung

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S. 2 StGHG. Zwar werde er rechtlich betroffen erst, wenn er nebeneinander Grundrechtsklage und Verfassungsbeschwerde einlege. Erst insoweit würden die Rechtsfolgen des § 43 Abs. 1 S. 2 StGHG ausgelöst. Angesichts der Gefahr, mit der Erhebung der Verfassungsbeschwerde die Zulässigkeit der Grundrechtsklage zu verspielen, und der Unmöglichkeit, die erforderliche Klärung bis zum Fall einer tatsächlich zu erhebenden Grundrechtsklage zurückzustellen, sei eine gegenwärtige und unmittelbare Selbstbetroffenheit des Antragstellers hier ausnahmsweise anzunehmen. Der Antragsteller könne jedoch keine Grundrechtsverletzung für sich reklamieren. Art. 131 Abs. 1 HV enthalte eine institutionelle Garantie der Grundrechtsklage, mit der sich keine subjektive Gewährleistung, also kein Grundrecht verbinde. Art. 63 HV enthalte kein eigenständiges Grundrecht, sondern eine für alle Grundrechte der Hessischen Verfassung gemeinsame Garantie, die sich ihrem Wortlaut nach aber nur auf die in den vorausgehenden Abschnitten des Ersten Hauptteils der Hessischen Verfassung normierten Grundrechte beziehe. III. Der Landesanwalt hat sich in vollem Umfang der Stellungnahme der Landesregierung angeschlossen. Der Landtag hat nicht Stellung genommen. B I. Die Grundrechtsklage ist unzulässig. Die Grundrechtsklage ist gem. § 43 Abs. 1 S. 1 StGHG gegen eine Rechtsvorschrift des Landes Hessen statthaft und fristgerecht innerhalb eines Jahres seit deren In-Kraft-Treten erhoben (§ 45 Abs. 2 StGHG). Der Antragsteller ist aber nicht antragsbefugt. Er hat kein Grundrecht bezeichnet, dessen Verletzung möglich erscheint, wie nach § 43 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 StGHG erforderlich. 1. Zu den Grundrechten der Hessischen Verfassung zählen die vom Antragsteller benannten Art. 63 und Art. 131 Abs. 1, 3 HV nicht. Art. 63 HV stellt selbst kein Grundrecht dar, sondern gewährleistet die Unantastbarkeit der Grundrechte, setzt sie mithin voraus. Art. 131 Abs. 1 HV verbürgt die Zuständigkeit des Staatsgerichtshofs, über die Verletzung der Grundrechte zu entscheiden, statuiert aber kein Grundrecht. Außerdem ist Art. 131 Abs. 1 und Abs. 3 HV durch die von dem Antragsteller angegriffenen Normen eindeutig nicht verletzt. Art. 131 Abs. 1 und Abs. 3 HV verbürgt zwar, dass jedermann wegen der Verletzung seiner Grundrechte den Staatsgerichtshof anrufen kann. Dem Gesetzgeber bleibt jedoch nach Art. 131 Abs. 3 HV ein weiter Spielraum, diesen Zugang

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auszugestalten (vgl. Barmnski in: Zinn/Stein, Hessische Verfassung, Stand Juni 1999, Art. 131-133 A r n IV 1). a) § 43 Abs. 1 S. 2 StGHG hält sich in den so vorgegebenen Grenzen. Nach dieser Vorschrift ist die Grundrechtsklage unzulässig, wenn in derselben Sache Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erhoben ist oder wird. Dies gilt nach § 43 Abs. 1 S. 3 StGHG nicht, wenn die Verfassung des Landes Hessen weiterreichende Grundrechte als das Grundgesetz gewährleistet. Damit hat der Landesgesetzgeber die Möglichkeit, eine Grundrechtsklage zu erheben, nicht beseitigt. Diese zugangsbeschränkende verfahrensrechtliche Regelung kommt ihrem Wesen nach auch nicht einem generellen Ausschluss einer Grundrechtsklage gleich. Vielmehr beseitigt § 43 Abs. 1 S. 2 StGHG lediglich eine verfassungsrechtlich weder verankerte noch gebotene Dualität des Rechtsschutzes. Ausgangspunkt und Leitlinie für die zulässigen Zugangsregelungen, die zu schaffen Art. 131 Abs. 3 HV ermächtigt, muss der Grundrechtsschutz des Individuums sein. Deshalb verbieten sich alle Regelungen, die den Grundrechtsschutz leerlaufen lassen. Davon kann aber hier nicht die Rede sein. Der Verfassunggeber hat zwar diesen Schutz trotz einer ausdifferenzierten Rechtspflege für erforderlich gehalten. Im Jahre 1946, als die Hessische Verfassung entstand, war auch noch nicht zu erkennen, dass in einer „künftigen Deutschen Republik" (Präambel der Hessischen Verfassung) ein dem Schutz der Bundesverfassung verpflichtetes Verfassungsgericht Grundrechtsschutz gewähren und dieser sich mit dem des Landes weithin decken könnte. In das Grundgesetz wurde die Verfassungsbeschwerde dann auch erst mit Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a im Jahre 1969 aufgenommen (19. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 29.1.1969, BGBl. I S. 97). Zu dem Verhältnis des landes- zum bundesrechtlichen Grundrechtsschutz ist der Landesverfassung daher nichts zu entnehmen. Schon aus diesem Grunde zwingt der Gedanke des Individualrechtsschutzes nicht zu der Annahme, gegen dieselben (behaupteten) Grundrechtsverletzungen müsse von Verfassungs wegen doppelter Rechtsschutz gewährleistet werden. Nur diese mehrfache Absicherung wird beseitigt. Den Rechtsschutz vor dem hessischen Verfassungsgericht zu erhalten, bleibt nach § 43 Abs. 1 S. 2 StGHG in der Hand des Rechtsuchenden. Er kann wählen, sich wegen der Verletzung eines sowohl im Grundgesetz als auch in der Verfassung des Landes Hessen inhaltsgleich geschützten Grundrechts durch die öffentliche Gewalt des Landes Hessen nach Maßgabe des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, §§ 90 ff BVerfGG an das Bundesverfassungsgericht oder gemäß den §§ 43 ff StGHG an den Staatsgerichtshof zu wenden. § 43 Abs. 1 S. 2 StGHG verwehrt nicht die Grundrechtsklage, sondern zwingt den Betroffenen lediglich zur Wahl des von ihm bevorzugten Gerichtes. Wählt er das Bundesverfassungsgericht, verliert er allerdings die Möglichkeit, eine Entscheidung des Staatsgerichtshofes zu erlangen. Der Individualrechtsschutz bleibt damit gleichwohl erhalten. Das Gesetz geht nämlich davon aus, dass der Grundrechtsschutz, den das BundesverfasLVerfGE 13

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sungsgericht sicherstellt, dem entspricht, den auch der Staatsgerichtshof gewährt. Soweit Grundrechte von Landes- und Bundesverfassung inhaltsgleich sind, versteht sich das von selbst. Gehen Grundrechte des Grundgesetzes weiter, erhält der Betroffene mehr Schutz, als der Staatsgerichtshof auf Grund der hessischen Landesgrundrechte geben könnte. Soweit diese einen weitergehenden Schutz als Bundesgrundrechte gewährleisten, bleibt nach § 43 Abs. 1 S. 3 StGHG der Zugang zum Staatsgerichtshof offen. Deshalb hält sich § 43 Abs. 1 S. 2 StGHG in den von Art. 131 Abs. 1 und Abs. 3 HV vorgegebenen Grenzen. Bundesverfassungsrecht gebietet nicht, dass die Länder die Möglichkeit subjektiven verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes schaffen müssen (BVerfGE 99, 1, 18 f; BVerfG - 4. Kammer des Zweiten Senats - , NVwZ 2002, 73, 74). Unter diesem Gesichtspunkt bestehen keine Bedenken dagegen, dass dem Betroffenen die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten zugemutet wird. Die Verfassungsgerichtsgesetze einiger anderer Bundesländer schließen einen doppelten verfassungsgerichtlichen Schutz ebenfalls aus. In Brandenburg ist wie in Hessen eine Verfassungsbeschwerde zum Landesverfassungsgericht unzulässig, soweit in derselben Sache Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erhoben ist oder wird (§ 45 Abs. 1 des Gesetzes über das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg). In Berlin schließt schon Art. 84 Abs. 2 Nr. 5 der Verfassung von Berlin parallelen Grundrechtsschutz aus. Der Verfassungsgerichtshof entscheidet nur, soweit nicht Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erhoben ist oder wird (§§ 14 Nr. 6, 49 Abs. 1 des Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof). Ein noch weitergehender Ausschluss ist in MecklenburgVorpommern vorgesehen. Dort ist eine Verfassungsbeschwerde zum Verfassungsgerichtshof bereits unzulässig, wenn wegen der gleichen behaupteten Verletzung von Grundrechten eine Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erhoben werden könnte (Art. 53 Nr. 7 der Verfassung des Landes MecklenburgVorpommern, § 57 Abs. 3 des Gesetzes über das Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern) . b) Auch § 43a StGHG ist mit der Hessischen Verfassung vereinbar. Nach § 43a S. 1 Nr. 1 StGHG kann der Staatsgerichtshof die Annahme einer Grundrechtsklage einstimmig ablehnen, wenn sie offensichtlich unzulässig oder offensichtlich unbegründet ist. Die Möglichkeit, eine Grundrechtsklage zu erheben, bleibt davon unberührt. Nur das Verfahren, in dem über sie entschieden wird, ist vereinfacht: Über die Nichtannahme der Grundrechtsklage entscheidet der Staatsgerichtshof einstimmig, und zwar unverändert in der nach Art. 130 Abs. 1 HV, § 2 Abs. 1 und 2 StGHG vorgeschriebenen Besetzung mit elf Richtern. Auch einer gesonderten Annahmeentscheidung bedarf es, anders als eine Annahme der Verfassungsbeschwerde nach § 93a BVerfGG, nicht (zum Annahmeverfahren nach § 93a BVerfGG vgl. Roth Die Überprüfung fachgerichtlicher Urteile durch das Bundesverfassungsgericht und die Entscheidung über die Annahme einer Verfassungsbeschwerde, AöR 121, 1996, 544, 556). Die GrundLVerfGE 13

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rechtsklage wird vollständig auf ihre Zulässigkeit und Begründetheit überprüft. Nur wenn sich die Grundrechtsklage bei dieser Uberprüfung als offensichtlich unzulässig oder offensichtlich unbegründet erweist, darf der Staatsgerichtshof ihre Annahme ablehnen. Damit erhält der Grundrechtskläger nach § 43a S. 1 Nr. 1 StGHG in der Sache — von der dem Staatsgerichtshof erlassenen Begründung abgesehen — nicht weniger als ohne dieses Verfahren. Art. 131 Abs. 3 HV steht dem nicht entgegen. § 43a S. 1 Nr. 2 StGHG ermächtigt den Staatsgerichtshof, die Annahme einer Grundrechtsklage einstimmig abzulehnen, wenn ihre Annahme aus anderen Gründen, insbesondere wegen fehlender verfassungsrechtlicher Bedeutung oder deshalb offensichtlich nicht angezeigt ist, weil durch die Ablehnung kein schwerwiegender Nachteil entsteht. Diese Nichtannahmevoraussetzungen halten sich ebenfalls in dem von Art. 131 Abs. 3 HV vorgegebenen Rahmen. Danach bestimmt das Gesetz, in welchen Fällen und unter welchen Voraussetzungen „jedermann" das Recht hat, den Staatsgerichtshof anzurufen. Den weiten Spielraum, den die Hessische Verfassung hierbei dem Gesetzgeber eingeräumt hat, zeigt nicht nur der Wortlaut des Art. 131 Abs. 3 HV, sondern auch dessen Entstehungsgeschichte. Im Zuge der Vorbereitung des Entwurfs einer Hessischen Verfassung regte die Juristische Fakultät der Ludwigs-Universität Gießen in ihrer auf ein Rundschreiben des Ministerpräsidenten des Staates Groß-Hessen verfassten Denkschrift vom 27.4.1946 zwar die Zulassung einer Verfassungsbeschwerde nach dem Vorbild der Bayerischen Verfassung vom 14.8.1919 an (vgl. Denkschrift der Juristischen Fakultät der Ludwigs-Universität Gießen, in: Berding (Hrsg.), Die Entstehung der Hessischen Verfassung von 1946: Eine Dokumentation, 1996, S. 48, 56). Dennoch sahen die Entwürfe für eine Hessische Verfassung keine dem Individualrechtsschutz dienende Grundrechtsklage vor. Antragsbefugt in Verfahren vor dem Staatsgerichtshof sollten, mit hier zu vernachlässigenden Änderungen, vielmehr allein diejenigen sein, die nunmehr nach Art. 131 Abs. 2 HV einen Antrag stellen können (vgl. undatierter Verfassungsentwurf von JelUnek in: Berding, aaO, S. 153, 171, Art. 121; Verfassungsentwurf des Vorbereitenden Verfassungsausschusses v. 18.6.1946, ebd., S. 173, 192, Art. 130). Der Staatsgerichtshof sollte dem Schutze und der Einhaltung der Verfassung dienen (undatierter Verfassungsentwurf Zinn/Arndt, Juli 1946, in: Berding, aaO, S. 260, 269 ff, insbes. Art. 64 ff; vgl. auch Königsteiner Entwurf, ebd., S. 290, 295, 305, Art. 35; Verfassungsentwurf von Kanka ebd., S. 310, 316, Art. 26). Am 13.8.1946 fand ein Gespräch des Verbindungsoffiziers der amerikanischen Militärregierung Dayton mit Vertretern der Verfassungberatenden Landesversammlung und der Landesregierung zum Entwurf einer Hessischen Verfassung statt. Dayton legte besonderen Wert darauf, dass der Einzelne eine Möglichkeit haben müsste, seine Grundrechte geltend zu machen. Auf Fragen, wie eine eventuell zu erwartende größere Anzahl von Verfahren durch den StaatsgerichtsLVerfGE 13

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hof bewältigt werden könnte, wies Dayton u.a. auf das amerikanische „system of certiorari" hin (Bericht des amerikanischen Verbindungsoffiziers vom 17.8.1946, in: Berding, aaO, S. 573, 581). Das „certiorari-Verfahren" kommt einem Annahmeverfahren nach Ermessen gleich (näher Benda in: ders./Klein, Verfassungsprozessrecht, 2. Aufl. 2001, Rn. 386 ff). Der Verfassungsausschuss beriet am 25.9.1946 darüber, wer für ein Verfahren vor dem Staatsgerichtshof antragsbefugt sein solle. Unter Hinweis auf die Wünsche der Militärregierung schlug der Abgeordnete Bauer (KPD) vor, dem Entwurf des Art. 130 Abs. 2 - heute Art. 131 Abs. 2 HV folgenden Absatz anzufügen: „Das Gesetz bestimmt, in welchen Fällen und unter welchen Voraussetzungen jedermann das Recht hat, den Staatsgerichtshof anzurufen." Diesen Vorschlag unterstützte der Abgeordnete Dr. von Brentano (CDU) und ergänzte: „... Es muss jedermann die Möglichkeit gegeben sein, bei einer Verletzung von Grundrechten den Staatsgerichtshof anzurufen. Es ist gut und richtig, wenn die Regelung im einzelnen dem Gesetz vorbehalten bleibt, weil man andererseits auch an die Praxis denken muss. Es gibt unendlich viel Querulanten, gerade in der heutigen Zeit mit ihren vielen Eingriffen in die persönliche Freiheit. Wenn jeder einzelne Fall an den Staatsgerichtshof gebracht würde, dann könnte dieser seine Arbeit überhaupt nicht bewältigen." Daraufhin wurde der neue Absatz 3 angenommen (Sitzung des Verfassungsausschusses der Verfassungberatenden Landesversammlung vom 25.9.1946, in: Berding, aaO, S. 761, 782 f). Nach § 43a StGHG obliegt es dem Staatsgerichtshof im Einzelfall, der Grundrechtsklage als Mittel des Individualrechtsschutzes im Sinne des Art. 131 Abs. 1 HV zur Geltung zu verhelfen und ihre Funktion bei der Auslegung der Voraussetzungen der Nichtannahme (vgl. zu den Annahmevoraussetzungen nach § 93a BVerfGG BVerfGE 90, 22, 24 f; 96, 245, 248) und deren Anwendung zu berücksichtigen (zu einer Bestandsaufnahme der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts s. Uerpmann Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung, in: Badura/Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2001, Bd. I, S. 673, 677 ff). Da der Grundrechtsklage nicht nur die Funktion zukommt, Individualrechtsschutz zu gewähren, sondern auch objektivrechtlich die Einhaltung der Grundrechte zu sichern, ist es verfassungsrechtlich unbedenklich, Rechtsschutzbegehren von geringem sachlichem Gehalt auszuscheiden und die Arbeit des Gerichts auf die Fälle zu konzentrieren, die einer Entscheidung durch das Verfassungsgericht bedürfen (zur Verfassungsbeschwerde vgl. BVerfGE 9, 120, 121; Renda in: ders./Klein, aaO, Rn. 375; vgl. auch Uerpmann aaO, S. 691; kritisch Roth aaO, S. 552 ff). § 43a S. 2 StGHG, wonach ein Beschluss über die Nichtannahme keiner Begründung bedarf, ist mit der Hessischen Verfassung ebenfalls vereinbar. Nach Art. 130 Abs. 4 HV bestimmt das Gesetz das Verfahren vor dem Staatsgerichtshof. Zu den Regelungen über das Verfahren gehören auch Bestimmungen über eine Begründung der Entscheidung. Eine Begründung ist ausdrücklich in § 23 Abs. 2 StGHG vorgesehen. Bei Einstimmigkeit bedarf ein Beschluss nach § 24 LVerfGE 13

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Abs. 2 StGHG keiner Begründung, wenn zuvor auf Bedenken gegen die Zulässigkeit oder Begründetheit hingewiesen worden ist. Darüber hinaus kann in den Fällen des § 43a S. 1 StGHG eine Begründung entfallen. Grundsätzlich bedürfen mit ordentlichen Rechtsmitteln nicht mehr anfechtbare letztinstanzliche gerichtliche Entscheidungen von Verfassungs wegen keiner Begründung. Eine Begründungspflicht ist indessen mit Rücksicht auf das Willkürverbot und die Bindung des Richters an Gesetz und Recht ausnahmsweise dann anzunehmen, wenn von dem eindeutigen Wordaut einer Vorschrift abgewichen werden soll und der Grund hierfür sich nicht schon eindeutig aus den den Betroffenen bekannten oder für sie ohne weiteres erkennbaren Besonderheiten des Falles ergibt (BVerfG - 1. Kammer des Ersten Senats NJW 1998, 3484 m. Nachw. der Senatsrechtsprechung). Für den außerordentlichen Rechtsbehelf einer Grundrechtsklage (StGH, Beschl. v. 22.4.1998 - P.St. 1298 - , StAnz. 1998, S. 1555) ergibt sich eine Begründungspflicht weder aus der Hessischen Verfassung noch aus dem Grundgesetz (vgl. zur Begründungspflicht BVerfGE 94, 166, 210; BVerfG - 1. Kammer des Ersten Senats NJW 2001, 2161, 2162). Das Rechtsstaatsprinzip fordert grundsätzlich keine Begründung einer Entscheidung des Verfassungsgerichts (Graßhof in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, BVerfGG, Bearbeitung Juni 2001, § 93d Rn. 8; vgl. auch Clemens in: Umbach/Clemens, BVerfGG, 1992, § 93d Rn. 50; Hans H. Klein Gedanken zur Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Burmeister/ Nierhaus/Püttner u.a. (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit, FS für K. Stern zum 65. Geburtstag, 1997, S. 1135, 1147: „Die Begründung von Nichtannahmeentscheidungen ... sollte vom Gesetzgeber verboten werden"; Stern Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2,1994, S. 1303; offen BVerfG - 1. Kammer des Ersten Senats - , NJW 1998, 3484; BVerfG - 2. Kammer des Zweiten Senats NJW 1997, 2229; a.A. Zuck in: Lechner/Zuck, BVerfGG, 4. Aufl. 1996, § 93d Rn. 7; Zuck Vom Winde verweht: § 93d BVerfGG und menschliche Schicksale, NJW 1997, 29 f; kritisch auch Uckart Klein, Konzentration durch Endastung?, NJW 1993, 2073, 2075; Knirsch Wegfall der Begründungspflicht - Wandel der Staatsform der Bundesrepublik, NJW 1994, 1032, 1034 f). Auch das Bundesverfassungsgericht begründet in geeigneten Fällen Nichtannahmeentscheidungen nach § 93d Abs. 1 S. 3 BVerfGG nicht. Es mag für den Rechtsuchenden unbefriedigend sein, wenn er die Gründe für einen Mißerfolg nicht erfährt QJerpmann aaO, S. 696; Zuck NJW 1997, 29). Verfassungsrechtlich hat er hierauf jedoch keinen Anspruch. Damit fällt lediglich sein verständliches Informationsinteresse ins Gewicht. Auf der anderen Seite sind jedoch die notwendig begrenzten Ressourcen des Staatsgerichtshofs in Rechnung zu stellen (zum BVerfG vgl. Graßhof aaO, Rn. 8). Schließlich bedeutet der nach Ermessen mögliche Verzicht auf eine Begründung eine erhebliche Arbeitserleichterung für den Staatsgerichtshof und damit einen Gewinn für solche Verfahren, die wegen ihrer Bedeutung für den

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Unzulässigkeit der Grundrechtsklage

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Betroffenen oder für die Rechtsordnving verfassungsrechtlich vertieft behandelt werden müssen. 2. Art. 3 HV, wonach die Würde des Menschen unantastbar ist, ist offensichtlich nicht bettoffen. Unabhängig davon, ob Art. 3 HV überhaupt die verfassungsgerichtliche Einklagbarkeit von Grundrechten gewährleistet, liegt der vom Antragsteller behauptete „Entzug der Verteidigungsmöglichkeit" nach dem oben Gesagten erkennbar nicht vor. II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 28 StGHG.

Nr. 3 1. § 43 Abs. 1 Satz 2 StGHG räumt dem Rechtsuchenden die Möglichkeit ein, eine Wahl zu treffen, ob er sich wegen der Verletzung eines sowohl im Grundgesetz als auch in der Verfassung des Landes Hessen inhaltsgleich geschützten Grundrechts durch die öffentliche Gewalt des Landes Hessen nach Maßgabe des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, §§ 90 ff BVerfGG an das Bundesverfassungsgericht oder gemäß den §§ 43 ff StGHG an den Staatsgerichtshof wendet 2. Wählt der Betroffene - bevor oder nachdem er den Staatsgerichtshof anruft - die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts, so verliert er die Möglichkeit, eine Entscheidung des Staatsgerichtshofs zu erlangen (Staatsgerichtshof, Beschluss vom 11.04.2002, - P.St. 1688 -), denn sein Wahlrecht ist verbraucht und der Zugang zum Staatsgerichtshof von diesem Zeitpunkt an endgültig versperrt, ohne dass das weitere Schicksal der Verfassungsbeschwerde darauf noch Einfluss haben könnte. 3. Die Rücknahme einer beim Bundesverfassungsgericht erhobenen Verfassungsbeschwerde beseitigt die durch deren Erhebung eingetretene Unzulässigkeit der Grundrechtsklage zum Staatsgerichtshof demgemäß nicht. In welchem Maße sich das Bundesverfassungsgericht mit der Verfassungsbeschwerde befasst hat, bevor diese zurückgenommen wird, ist sowohl nach dem Wortlaut des § 43 Abs. 1 Satz 2 StGHG als auch im Hinblick auf die andernfalls entstehende Rechtsunsicherheit unerheblich. Gesetz über den Staatsgerichtshof § 43 Abs. 1 Satz 2

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Staatsgerichtshof des Landes Hessen Beschluss vom 15. Mai 2002 - P.St. 1724 -

auf die Anträge der Frau S. wegen Verletzung von Grundrechten Entscheidungsformel: Die Anträge werden zurückgewiesen. Gerichtskosten werden nicht erhoben, außergerichtliche Kosten nicht erstattet. Gründe: A I. Die Antragstellerin wendet sich gegen ein Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main in einer mietrechtlichen Streitigkeit. Sie hat gegen das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main v. 11.12.2001 - 2 - 1 1 S 455/00 - am 21.1.2002 Grundrechtsklage erhoben. Am gleichen Tag erhob sie auch eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht gegen dieses Urteil, die sie zwischenzeitlich wieder zurückgenommen hat. Sie weist darauf hin, dass sie zunächst Grundrechtsklage und sodann Verfassungsbeschwerde jeweils per Telefax im Abstand von 25 Minuten erhoben und letztere vor Ablauf der Grundrechtsklagefrist wieder zurückgenommen habe. § 43 Abs. 1 S. 2 des Gesetzes über den Staatsgerichtshof - StGHG - führe nicht dazu, dass eine zulässig erhobene Grundrechtsklage „unheilbar" dadurch unzulässig werde, dass nach Erhebung der Grundrechtsklage auch eine Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht eingereicht und wenig später wieder zurückgenommen werde. Die Antragstellerin ist der Auffassung, § 43 Abs. 1 S. 2 StGHG trage keinen Strafcharakter und wolle den Antragsteller nicht für die gleichzeitig oder nachträglich erhobene, dann aber wieder zurückgenommene Verfassungsbeschwerde bestrafen. Die Norm wolle lediglich der Prozessökonomie dadurch zur Geltung verhelfen, dass sie es dem Staatsgerichtshof nicht zumuten wolle, über eine Grundrechtsklage zu beraten und zu entscheiden, wenn gleichzeitig derselbe Streitgegenstand noch Gegenstand einer parallelen Verfassungsbeschwerde sei. § 43 Abs. 1 S. 2 StGHG regele ein spezielles Rechtsschutzbedürfnis und es sei ausreichend, wenn dieses Rechtsschutzbedürfnis im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung oder zu dem Zeitpunkt vorliege, zu welchem berücksichtigungsfähige Schriftsätze eingereicht werden könnten. Der Bevollmächtigte der Antragstellerin habe nicht damit rechnen müssen, dass gerade im Grundrechtsklageverfahren, in dem kein Anwaltszwang bestehe, die Anforderungen an das Rechtsschutzbedürfnis strenger seien als in sonstigen Gerichtsverfahren. LVerfGE 13

Unzulässigkeit der Grundrechtsklage

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Die Antragstellerin beantragt, 1.

2.

festzustellen, dass das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 11. Dezember 2001 - 2-11 S 455/00 - folgende Grundrechte der Antragstellerin verletzt: das Gleichheitsgrundrecht aus Art. 1 HV in dessen Ausprägung als Willkürverbot sowie das Justizgrundrecht des gesetzlichen Richters sowie das Grundrecht auf Menschenwürde iVm dem Rechtsstaatsgebot in deren Ausprägung als Grundrecht auf Gewährung rechtlichen Gehörs und das Eigentumsrecht, dieses Urteil für kraftlos zu erklären und den Rechtsstreit an eine andere Kammer des Landgerichts Frankfurt am Main zurückzuverweisen. II.

Die Landesregierung hält die Grundrechtsklage für unzulässig, nachdem die Antragstellerin auch Verfassungsbeschwerde erhoben habe. Dies ergebe sich aus § 43 Abs. 1 S. 2 StGHG und gelte auch, wenn die Verfassungsbeschwerde später wieder zurückgenommen werde. Mit der Erhebung der Verfassungsbeschwerde werde die Grundrechtsklage unzulässig und bleibe dies auch bei einer Rücknahme der Verfassungsbeschwerde. Die Regelung des § 43 Abs. 1 S. 2 StGHG gestatte dem Antragsteller, zwischen Grundrechtsklage und Verfassungsbeschwerde zu wählen. Habe er jedoch einmal die Verfassungsbeschwerde gewählt, sei dann nur noch diese zulässig. Auch mache die Antragstellerin keine Verletzung von Grundrechten der Hessischen Verfassung geltend, die über diejenigen des Grundgesetzes hinausgingen. III. Auch der Landesanwalt hält die Grundrechtsklage für unzulässig und schließt sich im Wesentlichen den Ausführungen der Staatskanzlei an. Die Subsidiarität der Landesverfassungsbeschwerde gegenüber der Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht werde auch in der Literatur bejaht. IV. Der äußerungsberechtigte Beklagte des Ausgangsverfahrens verteidigt die angegriffene Entscheidimg als der Sache nach richtig und ist zudem der Auffassung, die Grundrechtsklage sei offensichtlich unzulässig. Der Wordaut des § 43 Abs. 1 S. 2 StGHG sei insofern eindeutig. B I. Die Grundrechtsklage ist unzulässig, weil die Antragstellerin in der gleichen Sache auch Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt hat.

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Staatsgerichtshof des Landes Hessen

Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Regelung des § 43 Abs. 1 S. 2 StGHG, wonach die Grundrechtsklage unzulässig ist, wenn in derselben Sache Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erhoben ist oder wird. Das bedeutet, dass mit der Erhebung der Verfassungsbeschwerde, sei es vor oder nach der Erhebung der Grundrechtsklage, letztere unzulässig wird. Entgegen der Auffassung der Antragstellerin ist diese einmal eingetretene Unzulässigkeit durch die Rücknahme der Verfassungsbeschwerde — zu welchem Zeitpunkt auch immer — nicht wieder beseitigt worden. Das folgt auch aus dem Sinn und Zweck der Regelung des § 43 Abs. 1 S. 2 StGHG. Dieser räumt dem Rechtsuchenden die Möglichkeit ein, eine Wahl zu treffen, ob er sich wegen der Verletzung eines sowohl im Grundgesetz als auch in der Verfassung des Landes Hessen inhaltsgleich geschützten Grundrechts durch die öffentliche Gewalt des Landes Hessen nach Maßgabe des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a G G , §§ 90 ff BVerfGG an das Bundesverfassungsgericht oder gem. den §§ 43 ff StGHG an den Staatsgerichtshof wendet. Wählt der Betroffene das Bundesverfassungsgericht, so verliert er die Möglichkeit, eine Entscheidung des Staatsgerichtshofs zu erlangen (StGH, Beschl. v. 11.4.2002 — P.St. 1688 —), denn sein Wahlrecht ist verbraucht und der Zugang zum Staatsgerichtshof von diesem Zeitpunkt an endgültig versperrt, ohne dass das weitere Schicksal der Verfassungsbeschwerde darauf noch Einfluss haben könnte (ebenso für die gleichlautende Norm des § 49 Abs. 1 des Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof Berlin: Verfassungsgerichtshof Berlin, Beschl. v. 13.10.1993 — VerfGH 90/93 - , LVerfGE 1, 152; Beschl. v. 12.1.1994 - VerfGH 6 / 9 3 - , LVerfGE 2, 3; zu § 45 Abs. 1 des Gesetzes über das Verfassungsgericht Brandenburg: Verfassungsgericht Brandenburg, Beschl. v. 16.12.1999 - VfGBbg 33/99 - , LVerfGE 10, 258). Es würde dem Sinn des Gesetzes, eine doppelte Befassung mit dem Begehren des Betroffenen zu vermeiden, widersprechen, wenn dieser im Grundrechtsklageverfahren, sei es, nachdem das Bundesverfassungsgericht seine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen oder zurückgewiesen hat, sei es, nachdem er seine Verfassungsbeschwerde zurückgenommen hat, noch unter Hinweis auf den Abschluss des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht eine Befassung des Staatsgerichtshofs mit der Sache erreichen könnte. Dementsprechend stellt § 43 Abs. 1 S. 2 S t G H G auf die Tatsache der Erhebung der Verfassungsbeschwerde ab und nicht auf den Ausgang dieses Verfahrens. Es kommt daher nicht darauf an, ob der Schriftsatz an das Bundesverfassungsgericht vor dem Schriftsatz an den Staatsgerichtshof versandt wurde oder danach. In welchem Maße sich das Bundesverfassungsgericht mit einer neben der Grundrechtsklage zum Staatsgerichtshof bei ihm erhobenen Verfassungsbeschwerde befasst hat, bevor die Verfassungsbeschwerde zurückgenommen wird, ist sowohl nach dem Wordaut des § 43 Abs. 1 S. 2 StGHG als auch im Hinblick auf die andernfalls entstehende Rechtsunsicherheit ebenfalls unerheblich. Die Antragstellerin macht mit ihrer Grundrechtsklage auch keine Verletzung von Grundrechten der Hessischen Verfassung geltend, die weiterreichende Ge-

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Fachgerichtlicher Eilschutz

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währleistungen enthalten als die entsprechenden Grundrechte des Grundgesetzes (§ 43 Abs. 1 S. 3 StGHG). II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 28 StGHG.

Nr. 4 1. Ein Antragsteller kann nicht mit Erfolg um vorläufigen Rechtsschutz beim Staatsgerichtshof nachsuchen, wenn ihm fachgerichtlicher Eilrechtsschutz zur Verhinderung etwaiger drohender Grundrechtsverletzungen zur Verfügung steht und er hiervon in zumutbarer Weise Gebrauch machen kann. 2. Hegt ein Fachgericht erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit eines Gesetzes mit höherrangigem Recht, die auch im Wege verfassungskonformer Auslegung nicht ausgeräumt werden können, und drohen irreversible Nachteile für den Antragsteller, so kann es - ohne Vorlage an den Staatsgerichtshof - eine vorläufige Regelung zum Schutz der Grundrechte des Antragstellers treffen. Gesetz über den Staatsgerichtshof § 26 Beschluss vom 25. September 2002 - P.St. 1801 e.A. in dem Verfahren des Herrn A. wegen Verletzung von Grundrechten, hier: Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung Entscheidungsformel: Der Antrag wird als unzulässig zurückgewiesen. Gerichtskosten werden nicht erhoben, außergerichtliche Kosten nicht erstattet.

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Staatsgerichtshof des Landes Hessen Gründe: A I.

D e r Antragsteller begehrt eine einstweilige A n o r d n u n g des Staatsgerichtshofs, die d e m Hessischen Landeskriminalamt vorläufig untersagt, den Antragsteller betreffende Maßnahmen des Datenabgleichs durchzuführen. D e r am ... geborene Antragsteller ist sudanesischer Staatsangehöriger und Studierender an der Universität Gießen. Das Hessische Landeskriminalamt beantragte nach den Terroranschlägen v o m 11.9.2001 am 24.9.2001 beim A G Wiesbaden auf der Grundlage des bis zum 11.9.2002 geltenden § 26 des Hessischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit u n d O r d n u n g — H S O G a.F. — anzuordnen, dass die Meldebehörden des Landes Hessen, die hessischen Universitäten u n d Hochschulen sowie das Luftfahrtbundesamt verpflichtet seien, ihm v o n näher bestimmten Personengruppen automatisiert gespeicherte personenbezogene Daten, nämlich N a m e n , Vornamen, Geburtsdatum, Geburtsort und Anschrift zum Zwecke des Abgleichs mit anderen Datenbeständen zu übermitteln. Auf Beschwerde des v o n dieser Rasterfahndung betroffenen Antragstellers hin entschied letztinstanzlich das O L G Frankfurt am Main mit Beschluss v. 21.2.2002 - 20 W 5 5 / 0 2 - , dass hinreichende Anhaltspunkte für die A n n a h m e einer gegenwärtigen Gefahr, die nach § 26 Abs. 1 H S O G a.F. Voraussetzung einer Rasterfahndung war, nicht gegeben seien. A m 12.9.2002 trat das F ü n f t e Gesetz zur Änderung des Hessischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit u n d O r d n u n g v o m 6.9.2002 (GVB1.1 S. 546) in Kraft, das § 26 H S O G a.F. in Absatz 1 S. 1, Absatz 4 und Absatz 5 änderte. § 26 H S O G n.F. hat folgenden Wordaut: (1)

Die Polizeibehörden können von öffentlichen Stellen oder Stellen außerhalb des öffentlichen Bereichs zur Verhütung von Straftaten erheblicher Bedeutung 1. gegen den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder 2. bei denen Schäden für Leben, Gesundheit oder Freiheit oder gleichgewichtige Schäden für die Umwelt zu erwarten sind, die Übermittlung von personenbezogenen Daten bestimmter Personengruppen zum Zwecke des automatisierten Abgleichs mit anderen Datenbeständen verlangen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass dies zur Verhütung dieser Straftaten erforderlich und dies auf andere Weise nicht möglich ist. Rechtsvorschriften über ein Berufs- oder besonderes Amtsgeheimnis bleiben unberührt. (2) Das Ubermitdungsersuchen ist auf Namen, Anschriften, Tag und Ort der Geburt sowie auf im einzelnen Falle festzulegende Merkmale zu beschränken. Werden wegen technischer Schwierigkeiten, die mit angemessenem Zeit- oder Kostenaufwand nicht beseitigt werden können, weitere Daten übermittelt, dürfen diese nicht verwertet werden. LVerfGE 13

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(3) Ist der Zweck der Maßnahme erreicht oder zeigt sich, dass er nicht erreicht werden kann, sind die übermittelten und im Zusammenhang mit der Maßnahme zusätzlich angefallenen Daten auf dem Datenträger zu löschen und die Unterlagen, soweit sie nicht für ein mit dem Sachverhalt zusammenhängendes Verfahren erforderlich sind, unverzüglich zu vernichten. Uber die getroffenen Maßnahmen ist eine Niederschrift anzufertigen. Diese Niederschrift ist gesondert aufzubewahren, durch technische und organisatorische Maßnahmen zu sichern und am Ende des Kalenderjahres, das dem Jahr der Vernichtung der Unterlagen nach S. 1 folgt, zu vernichten. (4) Die Maßnahme nach Abs. 1 bedarf der schriftlich begründeten Anordnung durch die Behördenleitung und der Zustimmung des Landespolizeipräsidiums. Von der Maßnahme ist die oder der Hessische Datenschutzbeauftragte unverzüglich zu unterrichten. (5) Personen, gegen die nach Abschluss einer Maßnahme nach Abs. 1 weitere Maßnahmen durchgeführt werden, sind hierüber durch die Polizei zu unterrichten, sobald dies ohne Gefährdung des Zweckes der weiteren Datennutzung erfolgen kann. § 15 Abs. 7 HSOG gilt entsprechend. Mit Bescheid vom 12.9.2002 forderte das Hessische Landeskriminalamt unter Anordnung der sofortigen Vollziehung die Justus-Liebig-Universität Gießen zur Herausgabe und Ubersendung von Daten eines bestimmten Personenkreises auf, zu dem auch der Antragsteller zählt. Am 16.9.2002 hat der Antragsteller beim Staatsgerichtshof Grundrechtsklage gegen die Novellierung des § 26 HSOG erhoben und um vorläufigen Rechtsschutz durch den Staatsgerichtshof nachgesucht. Der Antragsteller hält die Neufassung des § 26 HSOG wegen Verstoßes gegen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, das er durch Art. 2 Abs. 1 und 2 iVm Art. 3 der Verfassung des Landes Hessen (kurz: Hessische Verfassung — HV —) gewährleistet sieht, sowie wegen der Verletzung der Rechtsweggarantie des Art. 2 Abs. 3 HV für mit der Hessischen Verfassung unvereinbar. Die durch § 26 HSOG n.F. ermöglichte Rasterfahndung stelle einen schwerwiegenden Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar, da sie notwendig mit dem Zugriff auf Daten einer Vielzahl von Personen verbunden sei und die Betroffenen erst nach Abschluss der Maßnahmen über diese unterrichtet würden. Wolle der Gesetzgeber Behörden zu derartigen Grundrechtseingriffen ermächtigen, so müsse er selbst die Eingriffsvoraussetzungen bestimmt regeln. Die Neufassung des § 26 HSOG weise diese von Verfassungs wegen erforderliche Regelungsdichte nicht auf, sondern operiere mit Rechtsbegriffen, die weitgehende Spielräume für die Polizeibehörden eröffneten. Die Rechtsweggarantie des Art. 2 Abs. 3 HV sei verletzt, weil die Rasterfahndung — abweichend vom bisherigen Recht, das sie grundsätzlich von einer vorherigen richterlichen Anordnung abhängig gemacht und damit einer präventiven gerichtlichen Kontrolle unterworfen habe - nunmehr lediglich einer behördlichen Anordnung bedürfe. Da Rasterfahndungen heimlich durchgeführt und die

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Betroffenen über sie erst im Nachhinein informiert würden, sei effektiver Rechtsschutz zur Abwehr des Datenabgleichs nicht mehr möglich. Eine einstweilige Anordnung des Staatsgerichtshofs sei erforderlich, da der Antragsteller den Rechtsweg zu den Fachgerichten gegen Maßnahmen, von denen er keine Kenntnis habe, nicht beschreiten könne. Zudem habe die Sache eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung. Bei der im Verfahren der einstweiligen Anordnung gebotenen Interessenabwägung sei zu berücksichtigen, dass bei Durchführung der Rasterfahndung im Falle der Nichtigkeit des Fünften Gesetzes zur Änderung des Hessischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung erhebliche Nachteile für ihn und darüber hinaus für alle Studierenden an hessischen Hochschulen, soweit diese aus islamischen Ländern stammten, drohten. Demgegenüber entstünden dem Land Hessen keine wesentlichen Nachteile, wenn die einstweilige Anordnung ergehe, sich das Fünfte Gesetz zur Änderung des Hessischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung jedoch als wirksam erweise. Nach den Feststellungen des OLG Frankfurt am Main sei eine gegenwärtige Gefahr terroristischer Anschläge nicht gegeben. Auch habe sich die Rasterfahndung in allen anderen Bundesländern als Fehlschlag erwiesen. Der Antragsteller beantragt, dem Hessischen Landeskriminalamt im Wege der einstweiligen Anordnung bis zur Entscheidung über die Grundrechtsklage zu untersagen, nach § 26 Abs. 1 S. 1 HSOG n.F. personenbezogene Daten des Antragstellers zum Zwecke des automatisierten Datenabgleichs mit anderen Datenbeständen bei anderen Stellen zu erheben oder derartige Daten zu verarbeiten. II. Dem Landtag, der Landesregierung und der Landesanwaltschaft ist Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden. B I. Der Antrag auf Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung ist unzulässig, da der Antragsteller zuvor nicht von den ihm zu Gebote stehenden fachgerichtlichen Rechtsschutzmöglichkeiten Gebrauch gemacht hat. Eine einstweilige Anordnung nach § 26 des Gesetzes über den Staatsgerichtshof — StGHG — kommt zwar bei allen vor dem Staatsgerichtshof zulässigen Verfahrensarten und daher auch zur Sicherung solcher Rechtsansprüche in Betracht, die im Wege der Grundrechtsklage zu verfolgen sind. Der vorläufige Rechtsschutz durch den Staatsgerichtshof als Verfassungsgericht des Landes Hessen ist aber gegenüber dem von den Fachgerichten zu gewährenden Rechtsschutz grundsätzlich subsidiär (std. Rspr. des Staatsgerichtshofs, vgl. Besch! v. 2.11.1998 LVerfGE 13

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- P.St. 1343 e.A. NJW 1999, 1539, 1540), d.h. ein Antragsteller kann nicht mit Erfolg um vorläufigen Rechtsschutz beim Staatsgerichtshof nachsuchen, wenn ihm fachgetichtlicher Eilrechtsschutz zur Verhinderung etwaiger drohender Grundrechtsverletzungen zur Verfügung steht und er hiervon in zumutbarer Weise Gebrauch machen kann. Dies folgt daraus, dass nach der verfassungsmäßigen Zuständigkeitsverteilung und Aufgabenzuweisung primär die Fachgerichte den Rechtsschutz und damit auch den Schutz der Grundrechte im Eilfall zu gewähren haben (vgl. StGH, Beschl. v. 2.11.1998 - P.St. 1343 e.A. aaO). Soweit der Antragsteller die gegenüber der Justus-Liebig-Universität Gießen vom Hessischen Landeskriminalamt getroffene konkrete Maßnahme des Datenabgleichs abzuwehren sucht, weil er sich durch sie in seinen Rechten verletzt sieht, scheidet eine einstweilige Anordnung des Staatsgerichtshofs als Verfassungsgericht aus, da dem Antragsteller verwaltungsgerichtlicher Eilrechtsschutz zur Verfugung steht. Auch das weiter gehende Begehren des Antragstellers, dem Hessischen Landeskriminalamt durch den Staatsgerichtshof im Wege vorbeugenden vorläufigen Rechtsschutzes allgemein zu untersagen, in Bezug auf Daten seiner Person Maßnahmen nach § 26 Abs. 1 HSOG n.F. durchzuführen, scheitert an der Subsidiarität des verfassungsgerichtlichen gegenüber dem fachgerichtlichen Eilrechtsschutz. Der Antragsteller, der zu einer Personengruppe zählt, die von Maßnahmen der Rasterfahndung sowohl nach § 26 HSOG a.F. als auch nach § 26 HSOG n.F. betroffen war und ist und der hierum weiß, kann einen etwaigen öffentlich-rechtlichen Unterlassungsanspruch gegen das Hessische Landeskriminalamt in zumutbarer Weise im verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren verfolgen. Für den Fall, dass das angerufene Verwaltungsgericht erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit der novellierten Regelungen des § 26 HSOG mit höherrangigem Recht hegt, die auch im Wege verfassungskonformer Auslegung nicht ausgeräumt werden können, und irreversible Nachteile für den Antragsteller drohen, kann es — ohne Vorlage an den Staatsgerichtshof — eine vorläufige Regelung zum Schutz der Grundrechte des Antragstellers treffen. II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 28 StGHG. III. Dieser Beschluss ist mit der qualifizierten Mehrheit des § 26 Abs. 3 S. 2 StGHG ergangen. Widerspruch gegen ihn kann deshalb nicht erhoben werden.

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Nr. 5 1. Det Grundsatz der Subsidiarität der Grundrechtsklage verlangt, dass ein Antragsteller alle ihm zur Verfügung stehenden zumutbaren Möglichkeiten ergreift, um eine Grundrechtsverletzung abzuwenden. 2. Der Grundsatz der Subsidiarität erfordert auch, Rechtsbehelfe vor den Fachgerichten zu ergreifen, deren Zulässigkeit nicht eindeutig geklärt ist; unzumutbar ist dies allerdings, wenn die Zulässigkeit des Rechtsbehelfs höchst zweifelhaft ist. 3. Durch die Garantie rechtlichen Gehörs ist ein rechtlicher Hinweis des Gerichts lediglich in dem Ausnahmefall geboten, in dem das Gericht bei seiner Entscheidung auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abzustellen beabsichtigt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem Prozessverlauf nicht zu rechnen braucht. Hessische Verfassung Art. 3

Beschluss vom 10. Dezember 2002 - P.St. 1609 auf die Anträge des Rechtsanwalts D. wegen Verletzung von Grundrechten En tscheidungs formel: Das Urteil des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 28. November 2000 — 32 C 883/00 - 72 — verletzt den Antragsteller in seinem durch Art. 3 der Verfassung des Landes Hessen in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verbürgten Grundrecht auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Das Urteil des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 28. November 2000 — 32 C 883/00 - 72 — wird für krafdos erklärt und die Sache an das Amtsgericht Frankfurt am Main zurückverwiesen. Gerichtskosten werden nicht erhoben. Das Land Hessen hat dem Antragsteller die notwendigen Auslagen zu erstatten.

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Gründe: A I. Der Antragsteller wendet sich mit der Grundrechtsklage gegen ein amtsgerichtliches Urteil, das seine Honorarklage gegen einen Mandanten abwies. Der Antragsteller vertrat einen Mandanten - den Beklagten des amtsgerichtlichen Verfahrens, im Folgenden: Beklagter - im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren sowie vor dem VG Frankfurt am Main. Mit Kostennote vom 28.1.1997 stellte der Antragsteller dem Beklagten für die Vertretung im Verwaltungs- und Vorverfahren DM 485,30, für die Vertretung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren DM 253,06 in Rechnung. Mit Kostennote vom 5.9.1997, deren Kenntnis der Beklagte im amtsgerichtlichen Verfahren bestritt, begehrte der Antragsteller vom Beklagten weitere DM 113,85. Nachdem Zahlungen ausblieben, forderte der Antragsteller den Beklagten mit Telefax vom 20.12.1999 auf, bis zum 31.12.1999 die Tilgung von DM 485,30 und DM 253,06, zusammen DM 738,36, nebst 8% Zinsen ab 6.2.1997 sowie von DM 113,85 nebst 8% Zinsen ab 16.9.1997 zu bewirken oder den Verzicht auf die Einrede der Verjährung zu erklären. Am 30.12.1999 ging beim AG Hünfeld ein Antrag des Antragstellers auf Erlass eines Mahnbescheides ein, mit dem er einen Anspruch gegen den Beklagten in Höhe von DM 738,36 zuzüglich 12% Zinsen ab 6.2.1997 sowie in Höhe von DM 113,85 zuzüglich 12% Zinsen ab 16.9.1997 geltend machte. Der Beklagte teilte dem Antragsteller mit Telefax vom 31.12.1999 mit, dass er die mit den Kostennoten geltend gemachten Beträge ohne Zinsen überwiesen habe, um die Streitigkeiten beizulegen. Am 3.1.2000 Wiarden auf dem Konto des Klägers Beträge von DM 485,30 sowie von DM 113,85 gutgeschrieben. Das AG Hünfeld forderte den Antragsteller mit Zwischenverfügung vom 3.1.2000 auf, zu erklären, dass eine Festsetzung nach § 19 der Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte - BRAGO - nicht möglich sei. Mit am 24.1.2000 beim AG Hünfeld eingegangenem Schreiben vom 11.1.2000 erklärte der Antragsteller, er nehme den Antrag auf Erlass eines Mahnbescheides „aufgrund von Zahlungen per 3.1.2000 in Höhe von DM 113,85 (Zinsen ab 16.9.1997) sowie DM 485,30 (Zinsen ab 6.2.1997) zurück, so daß als Hauptforderung nur noch DM253,06 zzgl. 12% Zinsen ab 6.2.1997 und als weitere Zinsen 12% aus DM113,85 seit 16.9.1997 und 12% aus DM485,30 seit 6.2.1997 verbleiben". Ferner erklärte er, dass eine Kostenfestsetzung nach § 19 BRAGO nicht möglich sei, da es sich um eine außergerichtliche Angelegenheit handele. Das AG Hünfeld wies mit Schreiben vom 24.1.2000 darauf hin, dass der Antragsteller nunmehr Zinsen aus einem höheren Bettag als dem der geltend gemachten Hauptforderung beanspruche und dies wegen des in § 688 der Zivilprozessordnung — ZPO — festgelegten Bestimmtheitsgrundsatzes unzulässig sei. Er werde gebeten, den Antrag LVerfGE 13

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auf Erlass des Mahnbescheides insoweit zurückzunehmen oder aber einen Endzeitpunkt hinsichtlich dieser Zinsen zu bestimmen. Im letzteren Falle müsse der dann errechnete Zinsbetrag der Hauptforderung bei der Wertberechnung für die Kosten hinzugerechnet werden. Im Hinblick auf die erforderlichen Änderungen und die daraus resultierende Unleserlichkeit des Bescheides regte das AG Hünfeld an, zugleich einen berichtigten Vordrucksatz einzureichen. Mit Schriftsatz vom 2.2.2000 teilte der Antragsteller mit, er sei nicht der Auffassung, dass ein unbestimmter Antrag vorliege. Zur Vermeidung weiterer Korrespondenz füge er wunschgemäß einen neuen Antrag auf Erlass eines Mahnbescheides bei. Als Hauptforderung wurden DM 253,06 aus der Kostennote vom 28.1.1997 sowie Zinsrückstände für den Zeitraum vom 6.2.1997 bis zum 30.1.2000 geltend gemacht. Das AG Hünfeld erließ daraufhin den Mahnbescheid vom 7.2.2000 über eine Gesamtforderung von DM679,31. Der Mahnbescheid wurde dem Beklagten am 9.2.2000 zugestellt. In dem nach Widerspruch des Beklagten durchgeführten streitigen Verfahren vor dem AG Frankfurt am Main trug der Beklagte vor, ihm sei lediglich die Kostennote vom 28.1.1997 bekannt. Den Kostenanspruch des Antragstellers hielt der Beklagte nur in Höhe von DM 437,00 und DM 224,83, zusammen DM 661,83, für nachvollziehbar abgerechnet. Die geltend gemachten Zinsen bestritt der Beklagte dem Grunde und der Höhe nach. Er führte ferner aus, er habe auf die Rechnung vom 28.1.1997 DM 485,30 und 113,85 gezahlt, um vom Antragsteller in Ruhe gelassen zu werden. Der Antragsteller habe dagegen eine Verrechnung vorgenommen. Auch danach ergebe sich indes lediglich eine Restforderung in Höhe von DM 62,15. Schließlich heißt es im letzten Absatz der Klageerwiderung des Beklagten vom 17.7.2000: „7.

In dem mit Rechnung vom 28.01.97 — auch — abgerechneten Verwaltungsverfahren ist am 22.1.96 Widerspruchsbescheid ergangen. Die in erster Position mit D M 485,30 abgerechneten, und mit D M 437,00 auch schlüssigen Honorare des Klägers waren damit fällig, mögen diese zeitnah abgerechnet worden sein oder nicht, § 16 Satz 1 BRAGO. Man möchte deshalb hier eher davon ausgehen, dass der insoweit streitgegenständliche Honoraranspruch zum 31.12.98 verjährt ist und sich hierauf zur Befriedung dieser Sache auch ausdrücklich berufen."

Das AG Frankfurt am Main wies mit dem Antragsteller am 21.12.2000 zugestelltem Urteil v. 28.11.2000 - 32 C 883/00 - 72 - dessen Klage als unbegründet ab. Es könne dahinstehen, in welcher Höhe genau dem Antragsteller gegen den Beklagten ein restlicher Honoraranspruch auf Grund der Vertretung der Interessen des Beklagten in dem Verwaltungsgerichtsverfahren zustehe, da der Anspruch verjährt sei. Gem. § 196 Abs. 1 Ziff. 15 BGB verjährten die Ansprüche von Rechtsanwälten wegen ihrer Gebühren und Auslagen in zwei Jahren. Die RechLVerfGE 13

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nung des Beklagten, deren restliche Bezahlung der Antragsteller mit der vorliegenden Klage begehre, datiere vom 28.1.1997. Die Verjährung der Forderung sei mit Ablauf des 31.12.1999 eingetreten. Der Beklagte habe die Einrede der Verjährung ausdrücklich erhoben. Die Verjährung sei nicht durch den Antrag auf Erlass eines Mahnbescheides vom 28.12.1999, der am 30.12.1999 bei dem AG Hünfeld eingegangen sei, unterbrochen worden, da der Mahnbescheid nicht gem. § 693 Abs. 2 ZPO „demnächst" dem Beklagten zugestellt worden sei, denn die Zustellung des Mahnbescheids an den Beklagten sei erst am 9.2.2000 erfolgt. Diese Verzögerung der Zustellung habe der Antragsteller zu vertreten, denn die Verzögerung habe sich nicht schlicht daraus ergeben, dass bei dem Antragsteller am 3.1.2000 eine Zahlung des Beklagten hinsichtlich von Rechnungen einging, die mit dem Mahnverfahren geltend gemacht werden sollten. Zu der Verzögerung sei es vielmehr deshalb gekommen, weil der Antragsteller zunächst nicht mitgeteilt habe, dass eine Festsetzung des geltend gemachten Honorars nicht gem. § 19 BRAGO möglich gewesen sei. Im Übrigen habe sich die Verzögerung daraus ergeben, dass der Antragsteller sodann isolierte Zinsen mit dem Mahnbescheid habe geltend machen wollen. Eine derartige Antragstellung sei unzulässig. Zinsen könnten nur dann unbeziffert bleiben, wenn sie abhängig von der Hauptforderung seien. Zinsen, die nicht von der Hauptforderung abhängig seien, müssten beziffert werden. Derartige Zinsen könnten nur dann geltend gemacht werden, wenn es sich um einen Verzugsschaden handele, in diesem Falle seien sie jedoch als Hauptforderung geltend zu machen und wären dementsprechend mit der restlichen Honorarforderung, die geltend gemacht worden sei, zu addieren gewesen. Hätte der Antragsteller dies von vornherein berücksichtigt, dann hätte sich die Zustellung des Mahnbescheides nicht verzögert, sie hätte vielmehr „demnächst" iSd § 693 Abs. 2 erfolgen können. Wenngleich in der mündlichen Verhandlung die Frage der Verjährung nicht angeschnitten worden sei, so sei die Einrede der Verjährung dennoch zu berücksichtigen gewesen. Am 22.1.2001 — einem Montag — hat der Antragsteller Grundrechtsklage erhoben. Er rügt Verletzungen des Willkürverbots und des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Ohne die Frage der Verjährung der Honorarforderung in der mündlichen Verhandlung anzusprechen und völlig überraschend habe das AG die Klage mit der Begründung abgewiesen, die Forderungen seien verjährt. Nach Auffassung des AG habe der Mahnbescheid die Verjährung nicht unterbrochen, da er nicht rechtzeitig zugestellt worden sei und der Antragsteller diese Verspätung zu vertreten habe. Diese Begründung sei willkürlich und missachte das Recht des Antragstellers auf rechtliches Gehör. Das AG habe zunächst verkannt, dass der Beklagte die Forderungen des Antragstellers anerkannt habe, was deren Verjährung ausschließe.

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Grundrechtsverletzend sei ferner, dass das AG dem Antragsteller die späte Zustellung des Mahnbescheides angelastet habe. Die verspätete Zustellung des Mahnbescheides beruhe nicht auf einem Verschulden des Antragstellers. Bereits die Auffassung des AG, der Antragsteller habe infolge seines Schreibens vom 11.1.2000 die Zinsen nicht mehr hinreichend bestimmt angegeben, sei unzutreffend. Selbst auf der Grundlage der Rechtsauffassung des AG könne die verspätete Zustellung nicht dem Antragsteller vorgeworfen werden. Denn wie der letzte Satz der Verfügung des AG Hünfeld vom 24.1.2000 zeige, hätte der Antragsteller in jedem Fall einen neuen Mahnbescheidsantrag einreichen müssen. Gehörsverletzend und willkürlich sei ferner, dass das AG die vom Beklagten lediglich gegenüber der Honorarforderung von DM 485,30 erhobene Einrede der Verjährung auf sämtliche Forderungen erstreckt habe. Die tatsächlichen und rechtlichen Würdigungen des AG, die dem angegriffenen Urteil zu Grunde lägen, seien schließlich so überraschend, dass das Gericht dem Antragsteller unter dem Blickwinkel rechtlichen Gehörs und des Willkürverbots einen gerichtlichen Hinweis hätte erteilen müssen. Der Antragsteller beantragt sinngemäß, 1. 2.

festzustellen, dass das Urteil des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 28. November 2000 - 32 C 883/00 - 72 - seinen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs und das Willkürverbot verletzt, dieses Urteil für kraftlos zu erklären und den Rechtsstreit an das Amtsgericht Frankfurt am Main zurückzuverweisen. II.

Die Landesregierung hält die Grundrechtsklage für unzulässig. Der Antragsteller habe die Möglichkeit einer Verletzung der von ihm als beeinträchtigt bezeichneten Grundrechte nicht plausibel dargetan. Eine Gehörsverletzung des Antragstellers durch die Abweisung der Klage wegen Verjährung der Klageforderung scheide aus, da der Antragsteller die Verjährung als relevanten rechtlichen Gesichtspunkt habe erkennen müssen. Der Beklagte habe die Einrede der Verjährung ausdrücklich erhoben. Mit der Frage der Verjährungsunterbrechung nach § 693 Abs. 2 ZPO habe sich das AG in den Entscheidungsgründen des Urteils auseinandergesetzt. Die vom AG dabei vorgenommene Interpretation des § 693 Abs. 2 ZPO sei einfachgesetzlich Bedenken ausgesetzt, aber nicht willkürlich. Gegen das Willkürverbot verstoße schließlich auch nicht, dass das AG die Verjährungseinrede des Beklagten als auf die Klageforderung bezogen gewertet habe. Der Landesanwalt hat erklärt, sich am Verfahren über die Grundrechtsklage nicht zu beteiligen. Dem Beklagten als durch das angegriffene Urteil begünstigtem Dritten ist Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden. Die Verfahrensakte des AG ist vom Staatsgerichtshof beigezogen worden.

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III. Der Antragsteller und die Landesregierung haben das Einverständnis mit einer Entscheidving ohne mündliche Verhandlung erklärt. B I. Die Grundrechtsklage, über die der Staatsgerichtshof gem. § 23 Abs. 1 S. 2 des Gesetzes über den Staatsgerichtshof - StGHG - ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist zulässig und begründet, soweit der Antragsteller als Gehörsverletzung rügt, dass ein gerichtlicher Hinweis auf die vom AG angenommene Reichweite der vom Beklagten erhobenen Verjährungseinrede unterblieben ist. 1. Die Grundrechtsklage wahrt die Antragsfrist des § 45 Abs. 1 StGHG. Der Antragsteller ist auch gem. § 43 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 StGHG antragsbefugt. Er hat substantiiert einen Sachverhalt geschildert, aus dem sich — seine Richtigkeit unterstellt — plausibel die Möglichkeit der genannten Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör im amtsgerichtlichen Verfahren, das zum Erlass des angegriffenen Urteils geführt hat, ergibt. Auch der Grundsatz der Subsidiarität steht der Zulässigkeit der Grundrechtsklage des Antragstellers nicht entgegen. Dieser Grundsatz verlangt über das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung nach § 44 Abs. 1 S. 1 StGHG hinausgehend, dass ein Antragsteller alle ihm — namentlich bei den Fachgerichten — zur Verfügung stehenden zumutbaren Möglichkeiten ergreift, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern (std. Rspr. des StGH, vgl. etwa Urt. v. 20.10.1999 — P.St. 1356 - , NZM 1999, 1088, 1090; Beschl. v. 15.5.2002 - P.St. 1748 - und v. 19.6.2002 — P.St. 1764 —). Dies erfordert von einem Antragsteller auch, Rechtsbehelfe vor den Fachgerichten zu ergreifen, deren Zulässigkeit in der fachgerichtlichen Rechtsprechung nicht eindeutig geklärt ist (vgl. StGH, Beschl. v. 20.6.2002 P.St. 1365 —; std. Rspr. des Bundesverfassungsgerichts, vgl. etwa BVerfGE 70, 180, 185 f). Unzumutbar ist die Einlegung eines Rechtsbehelfs allerdings, wenn dessen Zulässigkeit höchst zweifelhaft ist (vgl. BVerfG, NJW 1997, 649; BayVerfGH, BayVBl. 1998, 350). Hiernach war dem Antragsteller die Einlegung einer Berufung gegen das im amtsgerichtlichen Verfahren nach § 495a ZPO in der bis zum 31.12.2001 geltenden Fassung — ZPO a.F. - auf Grund mündlicher Verhandlung ergangene Urteil des AG v. 28.11.2000 nicht zumutbar. Nach § 511a Abs. 1 ZPO a.F. war die Berufung unzulässig, da der Wert des Beschwerdegegenstandes DM 1.500,00 nicht überstieg. Der Antragsteller war auch nicht gehalten, den Versuch einer außerordentlichen Berufung zu unternehmen. Denn während zu der bis zum 31.12.2001 geltenden ZPO von der vorherrschenden Meinung die Auffassung vertreten LVerfGE 13

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wurde, dass bei ohne mündliche Verhandlung im Verfahren nach § 495a ZPO a.F. ergangenen Urteilen eine Berufung ohne Rücksicht auf die Berufungssumme in entsprechender Anwendung von § 513 Abs. 2 ZPO a.F. zur Geltendmachung einer Gehörsrüge zulässig war, lehnten die Rechtsprechung, namentlich der Bundesgerichtshof (vgl. NJW 1990, 838; FamRZ 1999, 649), und die überwiegende Literatur die Zulässigkeit einer außerordentlichen Berufung gegen ein auf mündliche Verhandlung ergangenes Urteil bei Geltendmachung einer Gehörsrüge ab (vgl. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann ZPO, 59. Aufl. 2001, § 511a Rn. 7 ff, 28 ff mwN). 2. Die Grundrechtsklage ist begründet, weil die auf Verjährung der Klageforderung gestützte Abweisung der Klage auf einer Verletzung des Gehörsrechts des Antragstellers beruht. Das durch Art. 3 der Verfassung des Landes Hessen (kurz: Hessische Verfassung — HV —) iVm dem der Hessischen Verfassung innewohnenden Rechtsstaatsprinzip in gleicher Weise wie durch Alt. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes — GG — verbürgte Grundrecht auf rechtliches Gehör ist eine Folgerung aus dem Rechtsstaatsgedanken für das gerichtliche Verfahren. Der Einzelne soll nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein, sondern er soll vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können. Da dies nicht nur durch tatsächliches Vorbringen, sondern auch durch Rechtsausführungen geschehen kann, garantiert die Gewährleistung rechtlichen Gehörs den Verfahrensbeteiligten das Recht, sich nicht nur zu dem der Entscheidung zu Grunde liegenden Sachverhalt, sondern auch zur Rechtslage zu äußern (std. Rspr. des StGH, vgl. Urt. v. 5.4.2000 - P.St. 1302 - , WuM 2000, 233). Die von der Garantie rechtlichen Gehörs umfasste Befugnis eines Verfahrensbeteiligten, sich zur Rechtslage zu äußern, begründet dabei allerdings für das Gericht im Grundsatz keine Pflicht, auf seine Rechtsauffassung hinzuweisen oder ein Rechtsgespräch zu führen (std. Rspr. des StGH, vgl. ebd.). Denn grundsätzlich muss ein Verfahrensbeteiligter — auch wenn die Rechtslage umstritten oder problematisch ist — alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag darauf einstellen. Lediglich in dem Ausnahmefall, in dem das Gericht bei seiner Entscheidung auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abzustellen beabsichtigt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte, ist verfassungsrechtlich durch die Garantie rechtlichen Gehörs ein rechtlicher Hinweis des Gerichts geboten (std. Rspr. des StGH, vgl. ebd.; std. Rspr. des Bundesverfassungsgerichts, vgl. BVerfGE 86, 133, 144). Eine dem verfassungsrechtlichen Anspruch genügende Gewährung rechtlichen Gehörs setzt nämlich voraus, dass der Verfahrensbeteiligte bei Anwendung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt zu erkennen vermag, auf welche rechtlichen Gesichtspunkte es für die Entscheidung ankommt. LVerfGE 13

Gehörsrecht und rechtlicher Hinweis

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Nach diesem Maßstab beruht die Abweisving der Klage aus dem rechtlichen Gesichtspunkt der Verjährung der Klageforderung auf einer Verletzung des Gehörsrechts des Antragstellers. Das AG ist nach den Entscheidungsgründen des angegriffenen Urteils davon ausgegangen, dass der Antragsteller mit seiner Klage die Bezahlung eines Resthonorars wegen der Vertretung des Beklagten im Verwaltungsgerichtsverfahren aus der Rechnung vom 28.1.1997 begehrt hat. Einen etwaigen Restanspruch des Antragstellers aus der Kostennote vom 28.1.1997 hat das AG mit Ablauf des 31.12.1999 insgesamt als verjährt angesehen. Die Abweisung der Honorarklage des Antragstellers aus dem Gesichtspunkt der Verjährung hätte von Verfassungs wegen nicht ohne einen entsprechenden vorherigen rechtlichen Hinweis des AG erfolgen dürfen. Denn mit einer fehlenden Durchsetzbarkeit seiner Klageforderung infolge eingetretener Verjährung konnte und musste der Antragsteller nicht rechnen. Für den Antragsteller war es nach der gegebenen Sachlage und dem bisherigen Prozessverlauf nicht vorhersehbar, dass das AG die vom Beklagten in der Klageerwiderung vom 17.7.2000 erhobene Einrede der Verjährung auf die im amtsgerichtlichen Verfahren streitgegenständliche Forderung beziehen würde. Streitgegenstand im amtsgerichtlichen Verfahren waren nämlich eine Restforderung in Höhe von DM253,06 aus der Kostennote vom 28.1.1997 sowie Zinsrückstände für den Zeitraum vom 6.2.1997 bis zum 30.1.2000. Bezüglich der in der Kostennote vom 28.1.1997 enthaltenen Honorarforderung für das Verwaltungsverfahren und Vorverfahren in Höhe von DM 485,30 hatte der Antragsteller mit Schreiben vom 11.1.2000 den Antrag auf Erlass eines Mahnbescheides zurückgenommen. In der Klageerwiderung vom 17.7.2000 machte der Beklagte unter Ziffer 7 geltend, dass in dem mit Rechnung vom 28.1.1997 - auch — abgerechneten Verwaltungsverfahren am 22.1.1996 Widerspruchsbescheid ergangen, die in erster Position der Rechnung mit DM 485,30 abgerechneten Honorare des Antragstellers damit nach § 16 S. 1 BRAGO fällig gewesen seien und der insofern streitgegenständliche Honoraranspruch zum 31.12.1998 verjährt sei. Nach ihrem gem. § 133 BGB maßgeblichen objektiven Erklärungsgehalt bezog sich die Verjährungseinrede des Beklagten allein auf den Honoraranspruch für das Verwaltungsverfahren, den der Antragsteller in der Kostennote vom 28.1.1997 mit DM 485,30 beziffert hatte. Dies folgt bereits aus dem Wortlaut der Erklärung des Beklagten. Zudem ist der Beklagte von einer Fälligkeit des seiner Ansicht nach verjährten Honoraranspruchs gem. § 16 S. 1 BRAGO in Folge des am 22.1.1996 ergangenen Widerspruchsbescheids ausgegangen. Nach § 16 S. 1 BRAGO wird die Vergütung des Rechtsanwalts fällig, wenn der Auftrag erledigt oder die Angelegenheit beendet ist. Mit Erlass des Widerspruchsbescheids am 22.1.1996 aber konnten allein Verwaltungsverfahren und Vorverfahren als Angelegenheit im Sinne des Kostenrechts beendigt sein, vgl. § 119 Abs. 1 BRAGO. Für LVerfGE 13

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Staatsgerichtshof des Landes Hessen

die in der Rechnung vom 28.1.1997 geltend gemachten Kosten des Verwaltungsgerichtsverfahrens, um die es — wie die Entscheidungsgründe des Urteils belegen — auch aus Sicht des AG ging, war das Ergehen des Widerspruchsbescheids demgegenüber ohne Bedeutung. Die vom Beklagten erhobene Einrede der Verjährung bezog sich folglich auf einen Honoraranspruch in Höhe von DM 485,30, der im amtsgerichtlichen Verfahren nicht rechtshängig war. Da der Antragsteller auch aus dem konkreten Prozessverlauf nicht erkennen konnte, dass das AG die Einrede der Verjährung auf die streitgegenständliche Forderung beziehen könnte, stellt das angegriffene Urteil eine das Gehörsrecht des Antragstellers verletzende Uberraschungsentscheidung dar. Die angegriffene Entscheidung beruht auch auf der aufgezeigten Verletzung rechtlichen Gehörs. Es ist nicht auszuschließen, dass das AG bei Gewährung rechtlichen Gehörs durch Erteilung eines entsprechenden rechtlichen Hinweises und einem sich daran anschließenden Rechtsgespräch anders entschieden hätte. Da die Grundrechtsklage aus diesem Grund zur Kraftloserklärung der angegriffenen Entscheidung in vollem Umfang führt, bedarf es hinsichtlich der weiterhin vom Antragsteller erhobenen Rügen der Verletzung seines Gehörsrechts und des Willkürverbots keiner Entscheidung des Staatsgerichtshofs mehr (vgl. StGH, Urt. v. 20.10.1999 - P.St. 1356 - , NZM 1999,1088,1091). II.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 28 Abs. 1 und 6 StGHG.

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Ents cheidungen des Landesverfassungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern

Die amtierenden Richterinnen und Richter des Landesverfassungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern Dr. Gerhard Hückstädt, Präsident Helmut Wolf, Vizepräsident Peter Häfner Brunhild Steding Joachim von der Wense Prof. Dr. Maximilian Wallerath Peter Söhnchen (ab 14.3.2002)

Stellvertretende Richterinnen und Richter Dr. Siegfried Wiesner Klaus-Dieter Essen Matthias Lipsky Karin Schiffer (bis 27.9.2002) Günter Reitz (ab 12.12. 2002) Rolf Christiansen Gudrun Köhn Dr. Christa Unger

Einstweilige Anordnung — Ausschluss aus einer Landtagsfraktion

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Nt.l 1. Die für den Rechtsweg sowie die Zuständigkeit des Landesverfassungsgerichts erhebliche Frage nach der Rechtsnatur der Streitigkeit bestimmt sich - ohne Rücksicht auf die Vorstellungen der Beteiligten - nach dem Charakter des Rechtsverhältnisses, in dem die geltend gemachten Ansprüche wurzeln. 2. Wegen der meist weitreichenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren auslöst, ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 des Landesverfassungsgerichtsgesetzes ein strenger Maßstab anzulegen. 3. Bei der Beurteilung der Frage, ob dem Antragsteller ein schwerer Nachteil (§ 29 Abs. 1 des Landesverfassungsgerichtsgesetzes) droht, ist eine Abwägung der Folgen vorzunehmen, die sich ergäben, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, das Verfahren in der Hauptsache aber Erfolg hätte, gegen diejenigen Nachteile, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung erlassen würde, der Antrag in der Hauptsache aber ohne Erfolg bliebe. Landesverfassung Mecklenburg-Vorpommern Art. 22, 22 Abs. 1, 22 Abs. 2, 25 Abs. 2, 53 Abs. 1 Nr. 1 Landesverfassungsgerichtsgesetz Mecklenburg-Vorpommern § § 1 1 Abs. 1 Nr. 1, 29 Abs. 1, 32 Abs. 1, 33 Abs. 2, 35 ff, 36 Abs. 1, 36 Abs. 2

Beschluß v o m 1 6 . S e p t e m b e r 2 0 0 2 - L V e r f G 8 / 0 2 in dem Verfahren auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung des Mitglieds des Landtages Mecklenburg-Vorpommern — Antragsteller — Prozeßbevollmächtigte: Rechtsanwälte Loeper, Maitzahn, Wallmeier, Windbergsweg 1 2 , 1 7 0 3 3 Neubrandenburg gegen

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Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern

die Fraktion der SPD im Landtag Mecklenburg-Vorpommern, vertreten durch den Parlamentarischen Geschäftsführer Reinhard Dankert, Lennestraße 1, 19053 Schwerin - Antragsgegnerin Entscheidungsformel: Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung wird zurückgewiesen. Das Verfahren ist kostenfrei. Auslagen werden nicht erstattet. Gründe: Der Antragsteller streitet mit der Antragsgegnerin um seine Zugehörigkeit zur SPD-Fraktion des Landtages. Der Antragsteller kandidiert zur Landtagswahl am 22.9.2002 als Einzelbewerber. Einer unter Hinweis auf § 20 der Schiedsordnung der SPD geäußerten Aufforderung des Kreisverbandes ... der SPD vom 15.7.2002, die Kandidatur aufzugeben, da eine Aufrechterhaltung der Kandidatur als Austritt aus der SPD gelte, kam der Antragsteller nicht nach. Mit Schreiben vom 24.7.2002 setzte er den Kreisverband darüber in Kenntnis, für einen Austritt aus der Partei keine Veranlassung zu sehen. Daraufhin teilte ihm der Kreisverband unter dem 9.8.2002 mit, er nehme zur Kenntnis, daß der Antragsteller wegen seiner Kandidatur gegen die von der Parteibasis demokratisch zustande gekommene Nominierung nach den Bestimmungen des Organisationsstatuts der SPD (§ 6 Abs. 1) aus der Partei ausgetreten sei. Die Antragsgegnerin setzte den Antragsteller mit Schreiben vom 13.8.2002 darüber in Kenntnis, daß er nach Mitteilung über den Verlust seiner Parteimitgliedschaft durch den Kreisverband nach den Bestimmungen der Geschäftsordnung der SPD-Landtagsfraktion auch nicht mehr Mitglied der SPDFraktion im Landtag Mecklenburg-Vorpommern sein könne; ihm stünden keinerlei Dienstleistungen oder sonstige Fraktionsmittel mehr zur Verfügung, er habe den von der Fraktion bereitgestellten Büroraum binnen einer Frist von 10 Tagen zu räumen sowie die Schlüssel zu den Fraktionsräumen unverzüglich an die Geschäftsstelle der SPD-Landtagsfraktion auszuhändigen. Der Antragsteller hat bei dem V G Schwerin in einem Eilrechtsschutzverfahren begehrt festzustellen, daß er weiterhin Mitglied der Antragsgegnerin sei, sowie die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihm Zugang zu den Fraktionsräumen zu gewähren und ihm ein Büro und die nötigen Schlüssel zur Verfügung zu stellen. Das Verwaltungsgericht hat die Anträge im wesentlichen mit der Begründung abgelehnt, für einen Erfolg im einstweiligen Rechtsschutzverfahren erforderliche unzumutbare und irreparable Nachteile für die parlamentarischen Rechte des Antragstellers nicht feststellen zu können. Zuvor hatte die Antragsgegnerin unter anderem erklärt, dem Antragsteller Zugang zu seinem angestammten Abgeordneten-

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Einstweilige Anordnung — Ausschluss aus einer Landtagsfraktion

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büro und den Fraktionssitzungen bis zum Ende der 3. Wahlperiode und ihm unter Beachtung der üblichen Verfahren Fraktionsdienstleistungen zu gewähren. Der Antragsteller hat nunmehr bei dem Landesverfassungsgericht den Erlaß einer einstweiligen Anordnung beantragt. Er vertritt die Auffassung, der Fraktionsausschluß sei Verfahrens fehlerhaft zustande gekommen und beruhe auf der irrtümlichen, mit dem Ziel der Umgehung eines förmlichen Parteiausschlußverfahrens gebildeten Annahme, er habe die Mitgliedschaft in der Partei bereits aufgrund seiner Kandidatur zur Landtagswahl als Einzelbewerber eingebüßt. Dadurch sei er in der Ausübung seines freien Mandats gem. Art. 22 Abs. 2 der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern (LV) verletzt. Er sei nämlich gehindert, an der gesamten Fraktionsarbeit, die zu den Grundlagen parlamentarischer Arbeit gehöre, teilnehmen zu können. Die Teilnahme an Fraktionssitzungen betreffe nur einen Teil der Statusrechte eines Fraktionszugehörigen. Er sei von der Ausschußarbeit ausgeschlossen und erleide Einbußen im Hinblick auf Große Anfragen und namentliche Abstimmungen, die lediglich von Fraktionen oder 15 Abgeordneten initiiert werden könnten. Gleiches gelte für das Gesetzesinitiativrecht nach der Geschäftsordnung des Landtages. Dem einzelnen Abgeordneten stünden wesentlich weniger Ressourcen, wie zum Beispiel Geldmittel, Büroausstattung u.a. zur Verfügung. Da er mit dem Verlust seiner Fraktionszugehörigkeit nicht mehr Ausschußmitglied sei, werde er über die Ausschußtermine nicht mehr in Kenntnis gesetzt. Er sei zugleich vom Kommunikations- und Informationssystem der Fraktion ausgeschlossen, könne keine Aktenvorlage veranlassen, keine Regierungsund Ministerienvertreter anhören und keine Anfragen an das Parlament stellen. Ihm sei es verwehrt, sämtliche Räumlichkeiten der Fraktion zu betreten, und er habe nur eingeschränkten Zugang zu den Faxgeräten der Fraktion. Ihm stehe keine Sekretärin sowie kein Referent mehr zur Verfügung, er erhalte keine Werbemittel, könne die Pressestelle nicht nutzen und keine Pressemitteilungen absetzen. Mit dem am 6.9.2002 beim Landesverfassungsgericht eingegangenen Antrag begehrt der Antragsteller, der Antragsgegnerin aufzugeben, ihn bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache mit allen Rechten und Pflichten eines Fraktionsmitgliedes zur Fraktionsarbeit in der Fraktion der SPD im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern zuzulassen. Die Antragsgegnerin beantragt, den Antrag zurückzuweisen. Sie hält die Zuständigkeit des Landesverfassungsgerichts nicht für gegeben. Die Frage der Fraktionszugehörigkeit sei keine verfassungsrechtliche Frage, sondern durch innerorganschaftliches Recht der Fraktion geprägt, für das die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte gegeben sei. Insoweit habe der Antragsteller den vorgesehenen Rechtsweg nicht ausgeschöpft. Die beantragte einstweilige Anordnung sei auch deshalb unzulässig, weil die begehrte Feststellung die Hauptsache LVerfGE 13

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vorwegnähme. Außerdem setze der Erlaß einer einstweiligen Anordnung voraus, daß ein Hauptsacheverfahren überhaupt noch anhängig gemacht und durch Entscheidung beendet werden könne. Daran fehle es hier angesichts der Kürze der bis zum Ende des Legislaturperiode verbleibenden Zeit. Der Antragsteller versuche zudem unzulässigerweise, die Frage seiner Parteizugehörigkeit über ein Umwegverfahren über die Fraktion klären zu lassen. Der Antrag sei außerdem deshalb unzulässig, weil er auf eine Feststellung gerichtet sei, die über die spätestens am 22.10.2002 endende Legislaturperiode hinausgehe. Der Antrag sei auch unbegründet, da der nach § 29 Abs. 1 des Landesverfassungsgerichtsgesetzes Mecklenburg-Vorpommern (Landesverfassungsgerichtsgesetz — LVerfGG) vorausgesetzte schwere Nachteil nicht zu erkennen sei. Dem Antragsteller seien bereits im Laufe des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens bis zum Ende der 3. Legislaturperiode alle Rechte eingeräumt worden, die Fraktionsmitgliedern zustünden. Er könne, soweit überhaupt noch eine Landtagssitzung stattfinde, im Rahmen einer Fraktionssitzung Anträge auf namentliche Abstimmung stellen und dort auch auf die Einbringung von Gesetzentwürfen gerichtete Anträge stellen. Eine Einbuße an Geldmitteln, die für Abgeordnete sowie Fraktionen in den Vorschriften des Abgeordnetengesetzes geregelt seien, erleide er nicht. Der Zugang zu seinem Abgeordnetenbüro innerhalb der SPD-Fraktion sei bis zum Ende der Wahlperiode gewährleistet. Weitere Fraktionsräume könne er nutzen. Der Antragsteller erhalte als Mitglied des Petitionsausschusses, an dessen Sitzungen er teilnehme, von weiteren Ausschußterminen über den Ausschußvorsitzenden Kenntnis, der die Einladungen versende. Das Recht zur Einsicht in Akten des Landtages bestehe für jeden Abgeordneten unabhängig von seiner Fraktionszugehörigkeit. Das Recht, Regierungs- sowie Ministerienvertreter anzuhören, stehe nicht dem einzelnen Abgeordneten, sondern dem Ausschuß selbst zu und werde über Mehrheitsentscheidungen im Ausschuß ausgeübt. Auch das Recht, Kleine und Große Anfragen zu stellen, sei dem Antragsteller nicht verwehrt. Er könne jederzeit in die Gremien der SPDFraktion einen Antrag für eine Große Anfrage einbringen. Telefax sowie weitere elektronische Kommunikations- und Informationsmittel stünden ihm weiterhin zur Verfügung. Durch den Verlust der Fraktionszugehörigkeit bedingte Einschränkungen der Akteneinsichtsmöglichkeiten bestünden nicht. Schließlich stünden Abgeordneten der Fraktion mit Ausnahme des Fraktionsvorsitzenden keine persönliche Sekretärin und kein Referent zur Verfügung. Dem Landtag Mecklenburg-Vorpommern und der Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern ist Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden. B. Der Antrag ist zulässig (I.), aber nicht begründet (II.).

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I. 1. Die Zuständigkeit des Landesverfassungsgerichts zur Entscheidung über den vorliegenden Antrag ist gegeben. Das Gericht entscheidet über Anträge auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung nach § 29 Abs. 1 LVerfGG, wenn für das geltend gemachte Begehren in einem bereits anhängigen oder noch anhängig zu machenden Hauptsacheverfahren, dem der Erlaß der einstweiligen Anordnung dient, die Zuständigkeit des Landesverfassungsgerichts nach § 11 LVerfGG begründet wäre. Die Rechtsnatur des Begehrens einer in diesem Sinne akzessorischen einstweiligen Anordnung ist notwendig dieselbe wie die Rechtsnatur des Begehrens in der Hauptsache (vgl. BVerfGE 42, 103, 119). Der Antragsteller könnte seinen auf (uneingeschränkte) Zulassung zur Fraktionsarbeit der SPDFraktion gerichteten Antrag im Wege des Organstreitverfahrens gem. Art. 53 Abs. 1 Nr. 1 LV, § 11 Abs. 1 Nr. 1, § 35 ff LVerfGG geltend machen. Danach entscheidet das Landesverfassungsgericht über die Auslegung der Verfassung aus Anlaß einer Streitigkeit über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Landesorgans oder anderer Beteiligter, die durch die Verfassung oder in der Geschäftsordnung des Landtages mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Der Antragsteller macht dementsprechend geltend, durch den von der Antragsgegnerin angenommenen Verlust seiner Fraktionsmitgliedschaft in seiner Rechtsstellung als Landtagsabgeordneter nach Art. 22 LV beeinträchtigt zu sein. Er hat sich gem. § 36 Abs. 2 LVerfGG ausdrücklich darauf berufen, durch die Maßnahmen der Antragsgegnerin in der Ausübung seines freien Mandats nach Art 22 Abs. 2 LV verletzt zu sein. Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin ist für das streitige Begehren nicht der Verwaltungsrechtsweg eröffnet. Die für den Rechtsweg sowie die Zuständigkeit des Landesverfassungsgerichts erhebliche Frage nach der Rechtsnatur der Streitigkeit bestimmt sich — ohne Rücksicht auf die Vorstellungen der Beteiligten — nach dem Charakter des Rechtsverhältnisses, in dem die geltend gemachten Ansprüche wurzeln. Dieses ist hier verfassungsrechtlicher Natur. Die hinter dem Begehren des Antragstellers stehende Frage nach seiner weiteren Fraktionszugehörigkeit beurteilt sich nach den einschlägigen Vorschriften der Geschäftsordnungen des Landtages sowie der Fraktion der SPD im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern. Die Fraktionen sind nach Art. 25 Abs. 2 LV selbständige und unabhängige Gliederungen des Landtages. Sie wirken mit eigenen Rechten und Pflichten bei der parlamentarischen Willensbildung mit. Sie sind notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens (vgl. BVerfGE 70, 324, 350). Die Binnenrechtsregelungen dieser Einrichtungen, namentlich die Geschäftsordnungen der Fraktionen, sind demzufolge — materielles — Verfassungsrecht (vgl. Stern Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, 1026; ]ekewit% in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 37, Rn. 55; s. dazu auch Achterberg Parlamentsrecht, 14, 15). LVerfGE 13

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2. Antragsgegner und Antragsteller sind im Rahmen eines Organstreitverfahrens beteiligtenfähig nach § 11 Abs. 1 Nr. 1, § 35 LVerfGG. Beide sind Beteiligte, die durch die Landesverfassung mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Das folgt für den Antragsteller als Abgeordneter des Landtages aus Art. 22 Abs. 1 und 2 LV, für die Landtagsfraktionen aus Art. 25 Abs. 2 LV (vgl. da2u LVerfG M-V, Urt. v. 11.7.1996 - LVerfG 1/96 LVerfGE 5, 203, 216). 3. Der Antragsteller ist schließlich antragsbefugt nach § 36 Abs. 1 LVerfGG. Voraussetzung ist danach, daß er geltend machen kann, durch eine Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners in seinen ihm durch die Landesverfassung übertragenen Rechten verletzt oder unmittelbar gefährdet zu sein. Die Verletzung oder Gefährdung durch die Maßnahme muß zumindest möglich erscheinen (LVerfG M-V, aaO, 217). Davon ist hier auszugehen. Eine Beeinträchtigung des Antragstellers in seiner Stellung als Landtagsabgeordneter durch den seitens der Antragsgegnerin angenommenen Verlust seiner Fraktionszugehörigkeit ist nicht auszuschließen. Es ist nicht zu übersehen, daß die Wirkungsmöglichkeiten des Abgeordneten durch den Verlust seiner Fraktionszugehörigkeit eine Einbuße erfahren. Das Parlament ist fraktionell gegliedert (Art. 25 Abs. 2 LV) und wird in seiner Tätigkeit maßgeblich durch die Fraktionen bestimmt. In den Parlamentsfraktionen vollzieht sich ein erheblicher Teil der Meinungs- und Willensbildung der Abgeordneten und dadurch des Parlaments im Ganzen (BVerfGE 43, 142, 149). Insbesondere die Arbeit der Parlamentsausschüsse und damit einhergehend die in der Beratung von Gesetzentwürfen, Erarbeitung von Änderungsvorschlägen oder der Ausübung der Regierungskontrolle bestehende materielle Arbeit des Parlaments wird entscheidend durch die Fraktionen bestimmt. Dem in die Fraktion eingebundenen Abgeordneten fließen zahlreiche, auch schon politisch aufgearbeitete Informationen zu, die er für seine eigene politische Arbeit zu nutzen vermag und sich ohne diese Hilfestellung nur mühsam verschaffen könnte (BVerfGE 80, 188, 232; vgl. zur Antragsbefugnis bei Verlust der Fraktionszugehörigkeit auch LVerfG Brandenburg, LVerfGE 4, 190, 195; im übrigen zum Vorstehenden: Grimm in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 6, Rn. 24 ff.; die Eröffnung des Organstreitverfahrens bei Fraktionsausschluß bejahend ders. aaO, Rn. 28). II. Der Antrag ist nicht begründet. Nach § 29 Abs. 1 LVerfGG kann das Landesverfassungsgericht einen Zustand durch einstweilige Anordnung regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Die Voraussetzungen für ein verfassungsgerichtliches Einschreiten sind nicht erfüllt.

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Bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 LVerfGG ist wegen der meist weitreichenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren auslöst, ein strenger Maßstab anzulegen. Dabei sind bei der Beurteilung der Frage, ob von einem schweren Nachteil auszugehen ist, die Erfolgsaussichten des Streites in der Hauptsache grundsätzlich nicht zu prüfen, es sei denn, das Begehren erwiese sich bereits ohne vertiefte Prüfung als offensichtlich unbegründet. Ist das — wie hier — nicht anzunehmen, ist eine Abwägung der Folgen vorzunehmen, die sich ergäben, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, das Verfahren in der Hauptsache aber Erfolg hätte, gegen diejenigen Nachteile, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung erlassen würde, der Antrag in der Hauptsache aber ohne Erfolg bliebe. Die nachteiligen Folgen, die ohne die einstweilige Anordnung für den Fall des Obsiegens in der Hauptsache zu vergegenwärtigen sind, müssen die für den Fall des Erlasses der Anordnung bei Erfolglosigkeit in der Hauptsache eintretenden Folgen deutlich überwiegen. Die nach diesem Maßstab vorzunehmende Prüfung führt nicht zu einem schweren Nachteil auf Seiten des Antragstellers, zu dessen Abwendung die begehrte einstweilige Anordnung dringend geboten wäre. Abgesehen davon, daß der Antragsteller mit einem erst noch einzuleitenden Hauptsacheverfahren bis zur Beendigung der 3. Wahlperiode aller Voraussicht nach in der Sache keinen Erfolg (mehr) haben könnte, sind die sich für ihn als Abgeordneten durch den von der Antragsgegnerin angenommenen Verlust seiner Fraktionszugehörigkeit einstellenden Einbußen iSd § 29 Abs. 1 LVerfGG nicht als ausreichend schwerwiegend zu bewerten. Dies ergibt sich bereits maßgeblich daraus, daß die von dem Antragsteller geltend gemachten Nachteile im Hinblick auf seine Abgeordnetentätigkeit wegen der bevorstehenden Beendigung der Wahlperiode lediglich noch für den Zeitraum weniger Wochen eintreten könnten. Entscheidend hinzu tritt der Umstand, daß die Antragsgegnerin dem Antragsteller im Laufe des vorangegangenen verwaltungsgerichtlichen sowie des verfassungsgerichtlichen Verfahrens Arbeitsund Beteiligungsmöglichkeiten eingeräumt hat, die die mit dem von der Antragsgegnerin angenommenen Verlust der Fraktionszugehörigkeit einhergehenden Einbußen weitgehend kompensieren. Die Antragsgegnerin hat im Verfahren vor dem VG Schwerin erklärt und im vorliegenden Verfahren bekräftigt, daß sie dem Antragsteller bis zum Ende der 3. Wahlperiode vorbehaltlich einer Entscheidung in der Hauptsache alle Rechte einräumt, die Fraktionsmitgliedern zustehen. Er kann daher an Fraktionssitzungen sowie der dortigen Sacharbeit weiterhin teilnehmen und an den der Fraktion zur Verfügung stehenden Ressourcen weiterhin partizipieren. Er behält sein angestammtes Abgeordnetenbüro innerhalb der SPD-Fraktion und hat — unter Einhaltung des üblichen Verfahrens — Zugang zu weiteren Fraktionsräumen. Er bleibt weiter Mitglied des Petitionsausschusses und hat auch an der 76. Sitzung des Petitionsausschusses am 9.9.2002 teilgenommen; Informationsmöglichkeiten hinLVerfGE 13

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sichtlich der Arbeit und Zusammenkunft weiterer Ausschüsse gehen ihm nicht verloren. Damit stehen ihm in wesentlichen Teilen auch weiterhin die dem fraktionsangehörigen Abgeordneten zur Verfugung stehenden Möglichkeiten wirkungsvoller Teilnahme an der Parlamentsarbeit offen, soweit diese in der verbleibenden Zeit der 3. Wahlperiode (etwa im Hinblick auf Ausschußsitzungen) überhaupt noch stattfindet. Daß ihm zumindest wieder sein Büro zur Verfügung gestellt worden ist und ihm die Teilnahme an Fraktionssitzungen gewährt wurde, hat der Antragsteller bereits in seinem Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung bestätigt. Die von dem Antragsteller geäußerten Bedenken fußen demgegenüber, soweit sie nach den Zusagen der Antragsgegnerin überhaupt noch berechtigt sind, nicht auf konkreten Umständen, sondern sind allein abstrakter Art. Wenn der Antragsteller etwa darauf verweist, nunmehr Große Anfragen, namentliche Abstimmungen oder Gesetzesinitiativen nur noch in eingeschränktem Umfang initiieren oder keine Befragungen von Regierungsvertretern vornehmen zu können, so bleibt durchweg offen, ob es sich dabei um tatsächlich in Aussicht genommene Vorhaben handelt, deren Durchführung durch den von der Antragsgegnerin angenommenen Verlust der Fraktionszugehörigkeit vereitelt werden könnte. Für die dem Gericht obliegende Folgenabwägung kann es jedoch, insbesondere angesichts der nur noch kurz währenden 3. Wahlperiode, nicht ohne Auswirkungen bleiben, wenn nur abstrakt mögliche Beschränkungen in Rede stehen, konkrete Nachteile demgegenüber derzeit nicht vorgetragen und nicht ersichtlich sind. Kann nach alledem bereits kein schwerer Nachteil auf Seiten des Antragstellers festgestellt werden, so fehlt es auch an der weiteren Voraussetzung des § 29 Abs. 1 LVerfGG für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung, ihrem dringenden Gebotensein zum gemeinen Wohl. III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 32 Abs. 1 LVerfGG. Es besteht kein Grund, gem. § 33 Abs. 2 LVerfGG Erstattung von Auslagen anzuordnen.

Nr. 2 1. Art. 40 Abs. 1 der Landesverfassung, der die Landesregierung verpflichtet, Fragen einzelner Abgeordneter nach bestem Wissen unverzüglich und vollständig zu beantworten, steht in einem unlösbaren Zusammenhang mit dem Demokratieprinzip und der Gewaltenteilung.

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Fragerecht von Abgeordneten

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2. Verweigert die Landesregierung die Beantwortung von Fragen einzelner Abgeordneter, muß sie die Verweigerung begründen und die von ihr für maßgeblich erachteten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte darlegen. 3. Der Landesregierung steht es nicht zu, die Zielrichtung der Fragen von Abgeordneten zu beurteilen; vielmehr müssen Abgeordnete selbst darüber befinden können, welcher Informationen sie für eine verantwortliche Erfüllung ihrer Aufgaben bedürfen. 4. Das Fragerecht der Abgeordneten und die ihm entsprechende Antwortpflicht der Landesregierung stehen zu den Voraussetzungen, unter denen die Beantwortung abgelehnt werden kann, in einem Regel-Ausnahme-Verhältnis . 5. Mit jeder gewollten Unvollständigkeit einer Antwort auf Fragen der Abgeordneten drängt die Landesregierung das für das Wesen des Parlaments zentrale Kontrollrecht zurück. Für diesen Ausnahmefall bedarf es ausnahmslos einer besonderen Rechtfertigung. 6. Die Kontrollfunktion des Parlaments ist als grundlegendes Prinzip des parlamentarischen Regierungssystems und der Gewaltenteilung angesichts des regelmäßig bestehenden Interessengegensatzes zwischen regierungstragender Mehrheit und oppositioneller Minderheit wesentlich von den Mitwirkungsmöglichkeiten der Minderheit abhängig. Landesverfassung Mecklenburg-Vorpommern Art. 2, 3 Abs. 1 Satz 2, 5 Abs. 3, 6 Abs. 1, 6 Abs. 1 Satz 1, 6 Abs. 2, 6 Abs. 4, 20 Abs. 1, 22, 40, 40 Abs. 1, 40 Abs. 1 Satz 1, 40 Abs. 3, 40 Abs. 4, 53 Abs. 1 Nr. 1 Landesverfassungsgerichtsgesetz Mecklenburg-Vorpommern §§11 Abs. 1 Nr. 1, 29 Abs. 1, 32 Abs. 1, 33 Abs. 2, 35 ff, 36 Abs. 1, 36 Abs. 2, 36 Abs. 3

U r t e i l v o m 19. D e z e m b e r 2 0 0 2 - L V e r f G 5 / 0 2 in dem Organstreitverfahren des Mitglieds des Landtages Mecklenburg-Vorpommern Dr. Ulrich Born, Lennestraße 1,19053 Schwerin — Antragsteller — Verfahrensbevollmächtigte: Rechtsanwälte Born, Pollehn, Wilkens, Lindenstraße 7, 19055 Schwerin gegen die Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern, vertreten durch den Ministerpräsidenten, Schloßstr. 2-4, 19053 Schwerin LVerfGE 13

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— Antragsgegnerin — Entscheidungsformel: Es wird festgestellt, daß die Antwort der Antragsgegnerin vom 19. März 2002 (Landtagsdrucksache 3/2784 vom 20. März 2002) auf die Fragen 1 und 2 der Kleinen Anfrage des Antragstellers vom 28. Februar 2002 (Landtagsdrucksache 3/2740) gegen Artikel 40 Abs. 1 Satz 1 der Verfassung des Landes MecklenburgVorpommern verstößt. Die Entscheidung ergeht kostenfrei. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller seine notwendigen Auslagen zu erstatten. Gründe: A. Gegenstand des Organstreitverfahrens ist die Frage, ob die Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage des Antragstellers vom 28.2.2002 dessen Recht aus Art. 40 Abs. 1 der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern (LV) auf deren ordnungsgemäße Beantwortung verletzt hat. I. Mit der Kleinen Anfrage vom 28.2.2002 (LT-Drs. 3/2740) fragte der Antragsteller die Antragsgegnerin: „1. In wie vielen und in welchen Fällen hat die Landesregierung seit dem Regierungswechsel 1998 Rechtsanwaltskanzleien mandatiert, die ihren Kanzleisitz nicht in Mecklenburg-Votpommern haben? 2. Welche Kanzleien (aufgeschlüsselt nach Fällen) sind tätig geworden? 3. Wie hoch waren die jeweiligen Gegenstandswerte und wie hoch war das jeweilige Honorar (aufgeschlüsselt nach Kanzleien)?" Nach Einholung einer Stellungnahme des Landesbeauftragten für den Datenschutz beantwortete der Justizminister namens der Landesregierung die Kleine Anfrage wie folgt (LT-Drs. 3/2784 v. 20.3.2002): „Die Fragen 1 bis 3 werden zusammenhängend beantwortet. In 18 Fällen mandatierte die Landesregierung seit dem Regierungswechsel 1998 Rechtsanwaltskanzleien ohne Sitz in Mecklenburg-Vorpommern. Die Angabe der mandatierten Rechtsanwaltskanzleien erfolgt in der nachfolgenden Aufstellung in anonymisierter Form. Jede Schlüsselnummer steht für eine bestimmte Kanzlei. Die Benennung personenbezogener Daten kann unter Datenschutzgesichtspunkten angesichts der öffentlichen Zugänglichkeit der Antwort auf die Kleine Anfrage nicht erfolgen."

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Sodann folgt eine tabellarische Aufstellung von 18 Mandaten, von Gegenstandswerten und Honoraren ohne namentliche Zuordnung zu insgesamt 12 beauftragten Rechtsanwaltskanzleien. Der Gegenstand des Mandats wird mit Begriffen wie z.B. Verwaltungsrechtsstreitigkeit, presserechtliche Angelegenheit oder Zahlungsforderung beschrieben. Unter dem 28.3.2002 richtete der Antragsteller eine ergänzende Kleine Anfrage (LT-Drs. 3/2806) an die Antragsgegnerin. Darin bat er um Beantwortung folgender Fragen: „1. Auf welcher Rechtsgrundlage (bitte genaue Rechtsquellen angeben sowie gegebenenfalls Quellenangabe aus Literatur und Rechtsprechung) beruht die Verweigerung der Landesregierung, die mandatierten Kanzleien zu benennen? 2. Inwieweit handelt es sich bei der Benennung der Kanzleien im Zusammenhang mit dem Gegenstand des Mandats, dem Gegenstandswert und dem Honorar, um personenbezogene Daten? 3. Wo liegt der Unterschied hinsichtlich der datenschutzrechtlichen Bewertung zwischen der Rechtsvertretung der Landesregierung und den Verträgen über konzeptionelle Zusammenarbeit (LT-Drs. 3/2700), den Verträgen für bestimmte Fachbereiche (LT-Drs. 3/2699) und den Beraterverträgen (LT-Drs. 3/2701), bei denen die Vertragspartner namentlich genannt wurden?" Am 17.4.2002 beantwortete der Justizminister diese Fragen namens der Landesregierung wie folgt (LT-Drs. 3/2843 v. 18.4.2002): „(Zu Frage 1) Die Ablehnung, die mandatierten Kanzleien zu benennen, beruht auf Art. 40 Abs. 3 iVm Art. 6 Abs. 1 Verf M-V sowie §§ 10 Abs. 1 und 3 Abs. 1 DSG M-V. (Zu Frage 2) Die Benennung der Kanzleien darf nicht erfolgen, weil dadurch gleichzeitig die Benennung einer bestimmten oder bestimmbaren natürlichen Person und damit die Ubermitdung personenbezogener Daten erfolgen würde. Ohne Anonymisierung der Kanzleien könnten außerdem Rückschlüsse auf bestimmte oder bestimmbare natürliche Personen und deren Verhältnisse möglich sein. Durch den Zusammenhang mit dem Gegenstand des Mandats, dem Gegenstandswert und dem Honorar könnte schließlich gegen die Pflicht zur Wahrung von Berufs- und Geschäftsgeheimnissen verstoßen werden. Die Zielrichtung der Kleinen Anfrage, zu klären, ob und in welchen Fällen Rechtsanwaltskanzleien mit Sitz außerhalb von Mecklenburg-Vorpommern mandatiert worden sind, macht die Benennung der Kanzleien nicht erforderlich. (Zu Frage 3) Die datenschutzrechtliche Bewertung der vorliegenden Problematik ist einer vertieften Würdigung unterzogen worden, weil deutlich geworden ist, daß die Antworten auf derartige Kleine Anfragen auch im Internet zur Verfügung stehen. Sie sind damit auch der Allgemeinheit und nicht nur den Mitgliedern der Landesregierung und dem Verteilerkreis der Landtagsdrucksachen zugänglich. Diese vertiefte Prüfung hat zu dem Ergebnis geführt, daß bei der Beantwortung von Anfragen LVerfGE 13

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Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern iSv Art. 40 Abs. 3 Verf M-V auch die Gesichtspunkte des Datenschutzes, wie er namentlich in Art. 6 Abs. 1 Verf M-V garantiert ist, zu beachten sind. Die gebotene Abwägung fuhrt dazu, daß im vorliegenden Fall von der Benennung der Vertragspartner abzusehen ist, weil diese Angaben für die Erreichung der aus der Kleinen Anfrage deutlich werdenden Zielrichtung nicht erforderlich ist." II.

Am 2.7.2002 hat der Antragsteller das vorliegende Organstreitverfahren anhängig gemacht. Er beantragt, gem. Art. 53 Nr. 1 der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern iVm §§11 Abs. 1 Nr. 1, 35 ff LVerfGG festzustellen, daß die Antragsgegnerin mit der Beantwortung der Fragen 1 und 2 vom 19. März 2002 (LT-Drs. v. 20. März 2002 - 3/2784) der Kleinen Anfrage des Antragstellers vom 28. Februar 2002 (LT-Drs. 3/2740) gegen Art. 40 Abs. 1 S. 1 der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern verstoßen und damit die Rechte des Antragstellers verletzt hat. Der Antragsteller meint, der Antrag sei zulässig. Es bestehe insbesondere das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis. Er habe aus der Ausübung seines Abgeordnetenmandats ein berechtigtes Interesse an der erschöpfenden und vollständigen Beantwortung seiner oben angeführten Kleinen Anfrage. Dieses Interesse bestehe auch nach der unzureichend erteilten Antwort fort. Das Rechtsschutzbedürfnis sei nicht entfallen. Er, der Antragsteller, hätte die gerügte Verletzung seiner Rechte durch eigenes Handeln nicht vermeiden können. Soweit ihm angeboten worden sei, die begehrten Auskünfte im Rechtsausschuß vertraulich zu erhalten, sei ihm ein Eingehen darauf nicht zuzumuten gewesen. Abgesehen davon sei dieses „Angebot" erst nach der pflichtwidrigen Beantwortung der Kleinen Anfrage erfolgt. Zum Wesen einer Kleinen Anfrage gehöre es, daß sie öffentlich beantwortet werde. Die lediglich vertrauliche Beantwortung einer Kleinen Anfrage führe zu einer erheblichen Minderung der mit ihr beabsichtigten Kontrollwirkung und entspreche deshalb nicht deren Funktion als Teil der parlamentarischen Kontrolle. Zur Begründetheit führt der Antragsteller aus, die Antragsgegnerin habe mit der Beantwortung der Kleinen Anfrage vom 28.2.2002 gegen ihre Pflichten aus Art. 40 Abs. 1 S. 1 LV, Fragen einzelner Abgeordneter nach bestem Wissen unverzüglich und vollständig zu beantworten, verstoßen. Damit habe sie seine Rechte verletzt. Die lediglich anonymisierte Mitteilung der Fälle, in denen die Kanzleien mandatiert worden seien, sei nicht vollständig und auch nicht nach bestem Wissen erfolgt, weil der Antragsgegnerin die einzelnen Fälle und die einzelnen mandatierten Kanzleien detailliert bekannt gewesen seien und weil sie nach dem Wortlaut der Fragen auch ohne weiteres habe davon ausgehen müssen, daß er, der Antragsteller, an einer weitergehenden Konkretisierung der Mandate sowie besonders an einer namentlichen Nennung der Kanzleien interessiert gewesen sei. LVerfGE 13

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Nach dem Wortlaut der einzelnen Fragen liege es auf der Hand, daß vollständig nur eine Antwort habe sein können, die die entsprechenden Mandate soweit wie irgend möglich konkretisiert (Frage 1) und die einzelnen Rechtsanwaltskanzleien oder Rechtsanwälte namentlich genannt hätte (Frage 2). Die Pflicht zur weitmöglichsten Konkretisierung entspreche dem Zweck des Fragerechts. Der Abgeordnete solle mit den so erlangten Informationen seine verfassungsrechtliche Aufgabe, die Regierung zu kontrollieren, erfüllen und dabei an deren Mitteln für eine umfassende Sammlung, Sichtung und Aufbereitung der erforderlichen Informationen teilhaben können. Ihm dürften grundsätzlich diejenigen Informationen zum erfragten Sachverhalt nicht vorenthalten werden, die ihm eine entsprechende sachverständige Beurteilung ermöglichten. Dabei müsse er selbst darüber befinden können, welche Informationen er für eine verantwortungsvolle Erfüllung seiner Aufgaben benötige. Der Antragsteller meint, die Antragsgegnerin könne sich nicht auf die in Art. 40 Abs. 3 LV gezogenen Grenzen der Beantwortungspflicht berufen. Eine umfassende Antwort hätte keine schutzwürdigen Persönlichkeitsrechte der betroffenen Anwälte verletzt. Es berühre schlechthin nicht das Persönlichkeitsrecht von Anwälten, wenn deren Auftraggeber anderen oder der Öffentlichkeit mitteile, daß er von einem bestimmten Anwalt vertreten werde. Der Gesichtspunkt des Schutzes von Persönlichkeitsrechten der Anwälte könne hier zumindest nicht in den von der Antragsgegnerin anonymisiert aufgeführten Fällen, in denen es zu Gerichtsverfahren gekommen sei, zum Tragen kommen. Insoweit handele es sich nämlich um Verfahren, die ohnehin öffentlich stattfänden, bei denen die Anwälte sozusagen öffentlich aufträten. Deshalb sei es vorliegend nicht erheblich, ob es etwa in den übrigen Fällen tatsächlich einzelne Gesichtspunkte des Datenschutzes oder des Schutzes von Persönlichkeitsrechten gegeben haben könnte. Da dies nicht auf alle erfragten „Fälle" zutreffen könne, sei es von der Antragsgegnerin in jedem Fall pflichtwidrig, sämtliche Fälle ohne jede Differenzierung zu anonymisieren. Die Antwort sei bereits aus diesem Grunde unvollständig. Datenschutzgesichtspunkte könnten im Hinblick auf die Frage 1 der Kleinen Anfrage nicht eingreifen. Diese Frage verlange lediglich eine ausreichende Konkretisierung der Mandatsgegenstände, nicht jedoch eine Nennung der Verfahrensbeteiligten. Selbst wenn in einzelnen Fällen der in der Antwort der Antragsgegnerin enthaltenen Aufstellung möglicherweise Gesichtspunkte des Schutzes von Persönlichkeitsrechten oder andere Gesichtspunkte in Betracht zu ziehen gewesen wären, sei die Antragsgegnerin gem. Art. 40 Abs. 3 LV gehalten gewesen, sachgerecht zwischen der Bedeutung der Pflicht zur Beantwortung parlamentarischer Anfragen und möglicherweise vorhandenen datenschutzrechtlichen Individualinteressen abzuwägen. Eine solche Abwägung, die zu einem Zurücktreten etwaiger datenschutzrechtlicher Belange hätte fuhren müssen, habe die Antragsgegnerin überhaupt nicht vorgenommen. Das ergebe sich auch aus der mit der Antwort zu LVerfGE 13

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der Kleinen Anfrage vom 28.3.2002 nachgeschobenen Begründung. Wenn die Antragsgegnerin darin zu erkennen gegeben habe, daß für die Zielrichtung der Kleinen Anfrage eine Nennung der Anwälte nicht erforderlich gewesen sei, interpretiere sie in unzulässiger Weise in die Kleine Anfrage eine Zielrichtung, die nicht die seine sei. Bei der Abwägung sei zu berücksichtigen, daß es ihm, dem Antragsteller, bei seinem Wunsch, die Namen der Anwälte zu erfahren, unmittelbar darum gegangen sei, parlamentarische Kontrolle auch dahin auszuüben, ob und inwieweit hier Gesichtspunkte der Lauterkeit und Unbestechlichkeit der Exekutive berührt seien. Ihm stellten sich weiterhin Fragen dahin, warum es mit bestimmten Kanzleien in Abweichung vom gesetzlichen Gebührenrecht zu Honorarvereinbarungen gekommen sei und ob nach § 97 GWB Ausschreibungen geboten gewesen wären bzw. umgangen worden seien. Ebenso gehe es darum zu überprüfen, ob und warum die Antragsgegnerin Kanzleien außerhalb des Landes Mecklenburg-Vorpommern beauftragt habe. Dieses Ziel parlamentarischer Kontrolle mache die Nennimg der Namen der Anwälte unverzichtbar. Demgegenüber müsse der Anspruch der betroffenen Anwälte auf Schutz ihres Rechts auf informationelle Selbstbestimmung zurücktreten. Der mit der Nennung der Namen verbundene Eingriff sei denkbar milde. Den Anwälten sei bewußt gewesen, daß ihre Beauftragung Gegenstand rechtmäßiger öffentlicher parlamentarischer Kontrolle habe sein können. Dies gelte in gleicher Weise für die Haushaltskontrolle durch den Landesrechnungshof. Im übrigen müsse der Eingriff auch deshalb in einem milderen Licht betrachtet werden, weil Rechtsanwälte in Gerichtsverfahren ohnehin regelmäßig öffentlich aufträten und an der Gerichtstafel auch öffentlich erkennbar seien. III. Die Antragsgegnerin hält die Zulässigkeit des Antrags im Hinblick auf das Rechtsschutzbedürfnis des Antragstellers für zweifelhaft. Es fehle, wenn der Antragsteller das gerügte Verhalten hätte selbst verhindern können. Ihm sei es zumutbar gewesen, auf politischem Wege die Auskünfte zu erhalten, die er begehrt habe. Diese hätten im Rahmen der Sitzung des Rechtsausschusses am 11.4.2002 erteilt werden können. Der Antragsteller habe aber erklärt, eine solche Auskunft würde ihn nicht zufriedenstellen; er habe diese Angaben in der Öffentlichkeit verwenden wollen. Der Antrag sei jedenfalls unbegründet. Sie — die Antragsgegnerin - habe nicht gegen Art. 40 Abs. 1 LV verstoßen. Vielmehr habe sie die sich aus Art. 40 Abs. 3 LV ergebenden Grundsätze bei der Beantwortung der Kleinen Anfrage gewahrt. Im Rahmen des Art. 40 Abs. 3 LV sei eine Abwägungsentscheidung vorzunehmen, die die Belange des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung und die Belange des Landtages bzw. des einzelnen Landtagsabgeordneten berücksichtige. In die Abwägung sei einzustellen, LVerfGE 13

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daß durch die Mitteilung der Antragsgegnerin, sie habe bestimmte namentlich genannte Rechtsanwälte mandatiert, Grundrechte Dritter berührt würden. Im vorliegenden Fall ergebe sich die Sensibilität der Angabe des Namens der mandatierten Kanzlei vor allem aus der Verbindung des Namens mit den übrigen Angaben, die der Antragsteller in der Kleinen Anfrage erfragt habe. Auch juristische Personen und Personenmehrheiten, also hier Anwaltssozietäten, könnten sich unter bestimmten Voraussetzungen auf das Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung berufen. Der Annahme, daß es im vorliegenden Fall um schutzwürdige Daten gehe, stehe nicht entgegen, daß Anwälte im Rahmen einer öffentlichen mündlichen Verhandlung vor Gericht tätig würden. Dies folge zum einen daraus, daß nicht alle Mandate Prozeßvertretungen beträfen. Hinzu komme, daß nicht notwendig jede gerichtliche Entscheidung auf der Grundlage einer mündlichen Verhandlung getroffen werde. Schließlich stelle eine mündliche Verhandlung ohnehin nicht den Datenschutz sensibler personenbezogener Daten in Frage oder löse ihn auf. Im Rahmen der Abwägung habe das Recht der betroffenen Rechtsanwälte aus Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 6 Abs. 1 LV nicht zurückstehen müssen. Es sei zu fragen gewesen, ob die Mitteilung der Namen im Rahmen einer Abwägung nach den Grundsätzen der praktischen Konkordanz für den verfolgten Zweck verhältnismäßig sei. Dazu sei zu klären, welcher Zweck mit der Kleinen Anfrage verfolgt werde. Aus dem Wortlaut der Anfrage werde nicht deutlich, daß eine Zielrichtung verfolgt werde, für welche die Kenntnis des Namens der mandatierten Kanzleien wichtig sei. Ausweislich des Wordauts der Anfrage gehe es vielmehr darum, zu erfahren, in welchen Fällen überhaupt die Landesregierung Kanzleien mit Sitz außerhalb von Mecklenburg-Vorpommern beauftragt habe und welchen wirtschaftlichen Wert diese Mandate gehabt hätten. Für eine solche Zweckrichtung sei nicht erkennbar, daß es auf die gewünschten personenbezogenen Daten ankomme. Entgegen der Ansicht des Antragstellers könne es nicht allein auf die Vorgabe des fragenden Abgeordneten in dem Sinne ankommen, daß allein die Fragestellung den Zweck indiziere mit der Folge, daß die Frage allein auch den Anspruch auf Beantwortung mit der Möglichkeit der Veröffentlichung begründe. Ein solcher Ansatz würde die Beschränkung des Art. 40 Abs. 3 LV leer laufen lassen. Selbst wenn es auf die Kenntnis der gewünschten personenbezogenen Daten zur Erreichung des Zwecks der Kleinen Anfrage ankäme, wäre eine Abwägung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung und der Bedeutung der parlamentarischen Kontrolle vorzunehmen. Auch wenn es im Rahmen der Abwägung eine Rolle spielen möge, daß die Anwälte geschäftliche Kontakte mit der öffentlichen Hand eingegangen seien und daher dem Gesichtspunkt des Datenschutzes nicht ein solches Gewicht beikomme wie bei Daten aus der unantastbaren Sphäre privater Lebensgestaltung, so scheide die Übermitdung solcher Daten aus, solange ihre Preisgabe nicht erforderlich sei, um die Kontrollbefugnis des Abgeordneten zu gewährleisten. LVerfGE 13

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Schließlich sei die Landesregierung auch für die Einhaltung der Belange des Datenschutzes und des Schutzes des Persönlichkeitsrechts verantwortlich, weil die Antwort auf eine Kleine Anfrage als Parlamentsdrucksache der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werde. Dies gelte umso mehr, als bereits der Landtag selbst die Drucksachen in das Internet stelle. IV. Dem Landtag ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden. B. Der Antrag ist zulässig. I. Der Antragsteller ist als Mitglied des Landtages Mecklenburg-Vorpommern beteiligtenfähig nach § 35 Landesverfassungsgerichtsgesetz (LVerfGG). Er ist als Abgeordneter in Art. 22 und 40 LV sowie in der Geschäftsordnung des Landtages (GO LT) mit eigenen Rechten ausgestattet und damit ein „anderer Beteiligter" iSv Art. 53 Nr. 1 LV und § 11 Abs. 1 Nr. 1 LVerfGG. Die Antragsgegnerin ist als oberstes Landesorgan beteiligtenfähig. Der Antragsteller ist auch antragsbefugt iSd § 36 Abs. 1 LVerfGG. Danach ist der Antrag nur zulässig, wenn der Antragsteller geltend macht, daß er durch eine Maßnahme oder Unterlassung der Antragsgegnerin in seinen ihm durch die Landesverfassung übertragenen Rechten und Pflichten verletzt oder unmittelbar gefährdet ist. Hierzu trägt der Antragsteller vor, auf Grund der Antwort der Landesregierung auf seine Kleine Anfrage in seinem Recht auf vollständige Beantwortung gem. Art. 40 Abs. 1 LV verletzt zu sein. Danach erscheint eine Rechtsverletzung des Antragstellers durch die Beantwortung der Kleinen Anfrage vom 28.3.2002 jedenfalls möglich. Auch die weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen nach § 36 Abs. 2 und 3 LVerfGG sind erfüllt. Der Antrag enthält die erforderliche Bezeichnung der Vorschrift der Verfassung, nämlich Art. 40 Abs. 1 LV, gegen die nach Auffassung des Antragstellers durch die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung der Antragsgegnerin verstoßen worden ist. Die Antragsfrist des § 36 Abs. 3 LVerfGG ist eingehalten. Der Antrag ist binnen 6 Monaten, nachdem die beanstandete Maßnahme dem Antragsteller bekannt geworden ist, gestellt worden. II. Für den Antrag besteht auch das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis. Ob das Rechtsschutzbedürfnis fehlt, wenn ein Abgeordneter, wie die Antragsgegnerin unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BundesverfassungsgeLVerfGE 13

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richts (BVerfGE 68, 1, 77) ausführt, das gerügte Verhalten hätte selbst verhindern können, kann offenbleiben. Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin hat der Antragsteller nicht ohne triftigen Grund parlamentarisches Handeln durch verfassungsgerichtliche Schritte ersetzt. Zwar hat der Justiz minister in der Sitzung des Rechtsausschusses des Landtages vom 11.4.2002 den Hinweis gegeben, eine Lösung des Konflikts zwischen Datenschutz und Informationsrecht könne darin bestehen, daß die Landesregierung sich bereit erkläre, in nicht öffentlicher Sitzung die verschlüsselten Daten zu entschlüsseln. Dem Antragsteller geht es aber erklärtermaßen darum, daß seine Kleine Anfrage öffentlich beantwortet wird und er die Auskünfte auch öffentlich verwerten darf. In diesem Organstreitverfahren möchte der Antragsteller gerade auch eine Klärung der Frage herbeiführen, ob er sich mit einer teilweise vertraulichen Beantwortung seiner Kleinen Anfrage hätte zufrieden geben müssen oder ob er von Verfassungs wegen ein Recht auf eine öffentliche Beantwortung hat. C. Der Antrag ist begründet. Die Antragsgegnerin hat dadurch, daß sie Frage 1 der Kleinen Anfrage des Antragstellers vom 28.2.2002 nicht vollständig (hierzu nachfolgend I.) und Frage 2 inhaltlich nicht (hierzu nachfolgend II.) beantwortet hat, den Antragsteller in seinem verfassungsmäßig garantierten Recht aus Art. 40 Abs. 1 S. 1 LV auf umfassende Sachinformation durch die Antragsgegnerin verletzt. I. Nach Art. 40 Abs. 1 S. 1 LV haben die Landesregierung oder ihre Mitglieder Fragen einzelner Abgeordneter nach bestem Wissen unverzüglich und vollständig zu beantworten. Von diesen die Antwortpflicht beschreibenden Begriffen ist hier allein das Merkmal „vollständig" entscheidungserheblich. Vollständig ist die Antwort, wenn alle Informationen, über die eine Landesregierung verfügt oder mit zumutbarem Aufwand verfügen könnte, lückenlos mitgeteilt werden, das heißt nichts, was bekannt ist oder mit zumutbarem Aufwand hätte in Erfahrung gebracht werden können, verschwiegen wird (SächsVerfGH, Urt. v. 16.4.1998, LKV 1998, 315; NdsStGH, Beschl. v. 25.11.1997 - StGH 1/97 VfG Bbg, Beschl. v. 16.11.2000, DÖV 2001, 164). Nicht vollständig ist auch eine ausweichende Antwort. Es müssen alle Tatsachen und Umstände mitgeteilt werden, die für das Verständnis und für den Inhalt der Antwort von wesentlicher Bedeutung sind (SachsAnhVerfG, Urt. v. 17.1.2000 NVwZ 2000, 671, 673). Nach bestem Wissen bedeutet, daß die Antwort der Landesregierung im Einklang mit ihren Erkenntnissen steht. Gemessen an diesen Anforderungen ist die Beantwortung der Frage 1 des Antragstellers unvollständig. LVerfGE 13

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Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin geht es dem Antragsteller nicht allein um die Feststellung, daß es unzulässig gewesen sei, die Namen der mandatierten Kanzleien nur anonymisiert wiederzugeben (Frage 2). Vielmehr hat der Antragsteller im Antrag und in der Antragsbegründung auch die Antwort auf die Frage 1 zur verfassungsgerichtlichen Uberprüfung gestellt unter dem Aspekt, daß die Gegenstände der Mandate ungenau bezeichnet seien. Der Antragsteller hat gefragt, in welchen Fällen die Landesregierung Rechtsanwaltskanzleien mandatiert hat, die ihren Kanzleisitz nicht in Mecklenburg-Vorpommern haben. Dieser Fragestellung entsprach die Landesregierung mit ihrer Beschreibung des Mandats zur Schlüsselnummer 10 („Herausgabe eines Grundschuldbriefes"). Soweit sich die Landesregierung darauf beschränkt hat, die Verfahren nach der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gerichtsbarkeit („Arbeitsrechtsstreitigkeit", „Verwaltungsrechtsstreitigkeit") oder allgemein und abstrakt nach dem Verfahrensgegenstand („Zahlungsforderung", „äußerungsrechtliche Streitigkeit") zu beschreiben, entsprach dies schon nicht dem klaren Wortlaut der Fragestellung. Dieser und die daraus folgende für die Antragsgegnerin erkennbare Zielrichtung der Fragestellung hätten sie zur Erfüllung ihrer Antwortpflicht veranlassen müssen, die einzelnen Fälle nicht nur schlagwortartig zu nennen, sondern in einer kurzen gegenständlichen Beschreibung zu konkretisieren. Denn dem Antragsteller ging es erkennbar auch um die Klärung der Gründe, welche die Antragsgegnerin veranlaßt haben, Mandate an Rechtsanwaltskanzleien außerhalb des Landes Mecklenburg-Vorpommern zu vergeben. Eine plausible Erklärung hierfür kann sich aus diesen von der Antragsgegnerin gemachten Angaben nicht ergeben. Soweit die Landesregierung die Begriffe „Amtshaftungsangelegenheit", „presserechtliche Angelegenheit", „Liquidation einer Stiftung" und „Grundstücksverkehrsangelegenheit" verwendet, erscheint eine Konkretisierung möglich und geboten; ein Absehen davon bedürfte einer Begründung. Gründe, die einer solchen nach der Formulierung der Frage unter Berücksichtigung ihres Sinns und Zwecks gebotenen gegenständlichen Beschreibung der Fälle entgegenstehen könnten, hat die Antragsgegnerin nicht beigebracht. Daß der gebotenen Konkretisierung datenschutzrechtliche Gesichtspunkte gem. Art. 40 Abs. 3 LV entgegenstehen könnten, ist nicht ersichtlich. Die Mandate lassen sich gegenständlich so beschreiben, daß keine Rückschlüsse auf die Identität von Verfahrensbeteiligten gezogen werden können. II. Die Frage 2 der Kleinen Anfrage vom 28.2.2002 ist schon deshalb inhaltlich nicht beantwortet, weil nach den Namen der betroffenen Rechtsanwaltskanzleien gefragt worden ist, die Landesregierung sich indessen darauf beschränkt hat, die Namen der Kanzleien nur verschlüsselt — mithin anonym — wiederzugeben. Es wäre der Antragsgegnerin in tatsächlicher Hinsicht ohne weiteres möglich gewesen und davon geht sie auch aus, die Namen der außerhalb des Landes MecklenLVerfGE 13

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buig-Vorpommern beauftragten Rechtsanwaltskanzleien zu nennen. Die Weigerung der uneingeschränkten Beantwortung der Frage 2 findet indes entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin keine verfassungsrechtliche Rechtfertigung in Art. 40 Abs. 3 LV. Nach dieser Bestimmung kann die Landesregierung die Beantwortung von Fragen — soweit die Regelung hier einschlägig ist — ablehnen, wenn dem Bekanntgeben des Inhalts schutzwürdige Interessen Einzelner, insbesondere des Datenschutzes, entgegenstehen. Damit hat der Verfassungsgesetzgeber eine verfassungsunmittelbare Einschränkung des in Art. 6 Abs. 1 LV gewährten Rechts auf Datenschutz in die Regelung des Fragerechts aufgenommen. In welchem Verhältnis diese Schranke zu dem in Art. 6 Abs. 2 und 4 LV vorgesehenen Gesetzesvorbehalt steht, wonach das Recht auf Schutz personenbezogener Daten seine Grenzen in den Rechten Dritter und in den überwiegenden Interessen der Allgemeinheit findet, bedarf hier keiner Entscheidung. Daß die Landesregierung die Beantwortung der Frage unter den in Art. 40 Abs. 3 LV beschriebenen Voraussetzungen ablehnen „kann", eröffnet ihr bei der Beurteilung der Frage, ob schutzwürdige Interessen Dritter, insbesondere Datenschutzrechte, entgegenstehen, keinen Entscheidungsspielraum. Wird der Landesregierung durch Art. 40 Abs. 3 LV zugestanden, daß sie abweichend von Abs. 1 eine Antwort ablehnt oder einschränkt, so darf sie dies nur, wenn die in der Norm genannten tatbestandlichen Voraussetzungen für die Weigerung vorliegen. Ob dies der Fall ist, unterliegt der vollen Uberprüfung durch das Landesverfassungsgericht. Auf der Tatbestandsseite gibt es kein Ermessen; liegt der Tatbestand nicht vor, ist die Auskunft zu erteilen (vgl. SächsVerfGH, LVerfGE 8, 282, 287; VerfGH NW, DÖV 1994, 210, 214). 1. Verweigert eine Landesregierung die Beantwortung von Fragen einzelner Abgeordneter, muß sie die Verweigerung begründen und die von ihr für maßgeblich erachteten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte darlegen (SächsVerfGH, Urt. v. 16.4.1998, LKV 1998, 316; Schwor^ Die Beantwortung parlamentarischer Anfragen, LKV 1998, 262, 264). Die Gründe für die Ablehnung müssen nachvollziehbar sein, damit es dem anfragenden Abgeordneten möglich ist, gegebenenfalls in eine politische Auseinandersetzung über die Ablehnung einzutreten (BayVerfGH, Entsch. v. 17.7.2001 - Vf. 56-IVa-00 unter VI.A.2.a mwN). Gemessen an diesen Maßstäben hat die Antragsgegnerin die Ablehnung der Beantwortung nicht ordnungsgemäß begründet. Der schlichte Hinweis auf Datenschutzgesichtspunkte in der ersten Antwort der Antragsgegnerin vom 20.3.2002 genügt diesen Anforderungen nicht. 2. Auch in der zweiten Antwort der Antragsgegnerin vom 18.4.2002 werden die maßgeblichen Gesichtspunkte, welche die Entscheidung über die Ablehnung der Mitteilung der Namen der Anwaltskanzleien tragen, nicht hinreichend nachvollziehbar dargelegt. Zunächst weist die Antragsgegnerin auf den datenschutzLVerfGE 13

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rechtlichen Aspekt der zweiten Frage der Kleinen Anfrage vom 28.2.2002 hin. Die Benennung der Kanzleien dürfe nicht erfolgen, weil damit die Übermittlung personenbezogener Daten verbunden sei. Dabei sei diese datenschutzrechtliche Bewertung einer vertieften Prüfung unterzogen worden. Unter Hinweis auf Art. 40 Abs. 3 LV wird dann auf die „gebotene Abwägung" Bezug genommen, die dazu geführt habe, daß im vorliegenden Fall von der Benennung der Vertragspartner abzusehen sei. Begründet wird dieses durch Abwägung gefundene Ergebnis damit, daß diese Angaben für die Erreichung der aus der Kleinen Anfrage deutlich werdenden Zielrichtung nicht erforderlich seien. Mit dieser Antwort hat die Antragsgegnerin die Begründung der Ablehnung auf eine andere Ebene geschoben. In Wirklichkeit werden eine datenschutzrechtliche Bewertung und die gebotene Abwägung nicht durchgeführt, weil die Antragsgegnerin ersichtlich von vornherein der Auffassung war, daß die Zielrichtung der Kleinen Anfrage die Benennung der Kanzleien nicht erforderlich mache. Daß letztlich nicht eine im Rahmen des Art. 40 Abs. 3 LV anzustellende Abwägung zwischen dem Informationsrecht des Abgeordneten und dem gegebenenfalls zu berücksichtigenden Geheimhaltungsinteresse der betroffenen Rechtsanwaltskanzleien der Entscheidung der Landesregierung zugrundelag, macht auch die Beantwortung der Frage 2 der Kleinen Anfrage vom 28.3.2002 deutlich. Denn dort stellt die Landesregierung bereits auf die Zielsetzung der Fragestellung ab und stellt kategorisch fest, daß diese die Benennung der Kanzleien nicht erforderlich mache. Sie weicht der eigentlichen datenschutzrechtlichen Problematik aus, indem sie letztlich lediglich feststellt, daß der Antragsteller diese Angaben nicht benötige. Damit, daß die Antragsgegnerin die Kleine Anfrage des Antragstellers entgegen ihrem eindeutigen Wortlaut einschränkend interpretierte und auf dieser Grundlage ihre Antwort gab, hat sie die Reichweite des Fragerechts und der korrespondierenden Pflicht zur Beantwortung verkannt. Der Antragsgegnerin steht es nicht zu, die Zielrichtung der Fragen von Abgeordneten zu beurteilen. Vielmehr muß der Abgeordnete selbst darüber befinden können, welcher Informationen er für eine verantwortliche Erfüllung seiner Aufgaben bedarf (VerfGH NW, D Ö V 1994, 210, 212; Saarl.VfGH, Urt. v. 31.10.2002 — Lv 1/02 - unter II.B.2.b). Lediglich Fragen, die einen Mißbrauch des Fragerechts darstellen, müssen nicht beantwortet werden. Das folgt aus Art. 40 Abs. 1 LV unter Heranziehung der ihn tragenden Verfassungsprinzipien. Schon für sich genommen gibt die Vorschrift keinen Anhalt dafür, daß die Landesregierung eine aus dem Landtag an sie gestellte, nach ihrem Wortlaut eindeutige Frage uminterpretieren dürfte. Überdies steht diese Verfassungsnorm in einem unlösbaren Zusammenhang mit Art. 20 Abs. 1 LV, der seinerseits Ausdruck des Demokratieprinzips (Art. 2 LV) und der Gewaltenteilung (Art. 3 Abs. 1 S. 2 LV) ist. Dem Antragsteller ging es, wie in seiner Replik bestätigt, von vornherein um die Ausübung parlamentarischer Kontrolle dahingehend, in welchem Umfang und aus welchen Gründen die Antragsgegnerin Kanzleien außerhalb des Landes

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Mecklenburg-Vorpommern beauftragt hat. Es mögen sich Fragen stellen, warum es mit bestimmten Kanzleien in Abweichung vom gesetzlichen Gebührenrecht zu Honorarvereinbarungen gekommen sei, ob nach § 97 GWB Ausschreibungen geboten gewesen wären bzw. umgangen worden seien. Letztlich hat der Antragsteller ins Feld geführt, daß Gesichtspunkte der Lauterkeit und Unbestechlichkeit der Exekutive berührt sein könnten. Diese Zielrichtung lag auch ohne ausdrückliche Erklärung auf der Hand, weshalb die Antragsgegnerin keine Veranlassung hatte, die Zielrichtung der Fragen des Antragstellers zu interpretieren. Ob die Beantwortung der Kleinen Anfrage wegen der unzureichenden Begründung bereits dazu führt, daß sie unvollständig iSd Art. 40 Abs. 1 S. 1 LV ist, kann letztlich dahingestellt bleiben. Die unzureichende Begründung widerspricht jedenfalls der grundlegenden Bedeutung des Fragerechts für die effektive Kontrolle der Regierung durch das Parlament. Art. 40 Abs. 1 LV verpflichtet die Landesregierung zu vollständiger Antwort. Mit jeder gewollten Unvollständigkeit drängt die Landesregierung das für das Wesen des Parlaments zentrale Kontrollrecht zurück. Für diesen Ausnahmefall bedarf es ausnahmslos einer besonderen Rechtfertigung. Die konkreten Gründe für die nur unter engen verfassungsrechtlichen Voraussetzungen erlaubte Einschränkung eines grundlegenden parlamentarischen Rechts müssen dem Parlament mitgeteilt werden, damit der Landtag als das die Regierung kontrollierende Verfassungsorgan beurteilen kann, ob seine Kontrolle zu Recht zurückgedrängt wird. 3. Die Antwort der Antragsgegnerin vom 19.3.2002 verletzt den Antragsteller darüber hinaus deshalb in seinem Informationsrecht aus Art. 40 Abs. 1 LV, weil unterschiedslos sämtliche Anwaltskanzleien lediglich in verschlüsselter Form angegeben worden sind. Schutzwürdige Interessen Einzelner kann die Antragsgegnerin dem Auskunftsbegehren des Antragstellers nicht in pauschaler Form entgegen halten. Die schutzwürdigen Interessen der Rechtsanwälte finden eine unterschiedliche rechtliche Ausformung. Während Einzelpersonen durch Art. 6 Abs. 1 LV geschützt werden, wird der Schutz von Gesellschaften durch Art. 5 Abs. 3 LV iVm Art. 2 Abs. 1 GG vermittelt. Schon deshalb greift die pauschale Berufung der Antragsgegnerin auf Datenschutzgesichtspunkte zu kurz. 4. Selbst wenn in Rechnung zu stellen wäre, daß es sich bei den von der Antragsgegnerin beauftragten Anwaltskanzleien ausschließlich um Einzelanwälte handelt, durfte die Antragsgegnerin die verlangte Offenlegung der Identität der Anwälte durch Mitteilung ihrer Namen auf der Grundlage von Art. 40 Abs. 3 LV nicht ablehnen. a) Die Namensangabe berührt das Recht der betroffenen Rechtsanwälte auf Schutz ihrer personenbezogenen Daten nach Art. 6 Abs. 1 S. 1 LV. Nach § 3 DSG M-V sind personenbezogene Daten Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse einer bestimmten oder bestimmbaren natürlichen Person. Dazu gehört auch schon der Name einer Person (Tinnefeid/Ehmann Einführung in LVerfGE 13

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das Datenschutzrecht, II. Teil, 3.1.1.; VfG Bbg, LVerfGE 4, 179, 187). Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Verwendung des Namens einer Person im konkreten Einzelfall eine besondere Bedeutung zukommt. Denn es gibt keine belanglosen personenbezogenen Daten mehr (BVerfGE 65,1, 45; VfG Bbg aaO). b) Der Umstand, daß die Antragsgegnerin bei der Beantwortung der Frage 2 personenbezogene Daten hätte mitteilen müssen, führt nicht notwendig dazu, daß die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 40 Abs. 3 LV erfüllt sind. Der Verfassungsgesetzgeber hat das Fragerecht der Abgeordneten und die ihm entsprechende Antwortpflicht der Landesregierung in Art. 40 Abs. 1 LV auf der einen Seite und auf der anderen Seite die in Art. 40 Abs. 3 bestimmten Voraussetzungen, unter denen die Beantwortung abgelehnt werden kann, in ein Regel-Ausnahme-Verhältnis gestellt (vgl. VerfGH NW, DÖV 1994, 210, 214). Das ergibt sich aus der systematischen Zuordnung des Art. 40 Abs. 3 LV zu Abs. 1 und dem Wortlaut des Abs. 3, nach dem die Landesregierung die Beantwortung von Fragen unter bestimmten Voraussetzungen ablehnen „kann". Schon danach besteht nur ein enger Entscheidungsspielraum darüber, ob eine Antwort abgelehnt werden darf; die Verweigerung der Ablehnung muß die Ausnahme bleiben (Saarl.VfGH, Urt. v. 31.10.2002 - Lv 1/02, unter II.B.l.b). Hinzukommt, daß nach dem Wortlaut des Art. 40 Abs. 3 die hier einschlägigen Voraussetzungen, unter denen die Beantwortung der Fragen abgelehnt werden kann, nicht bereits erfüllt sind, wenn schutzwürdige Interessen Einzelner betroffen oder beeinträchtigt sind. Vielmehr müssen Datenschutzgründe „entgegenstehen". Ob ein Gesetz nach Art. 40 Abs. 4 LV dies regeln könnte, läßt das Landesverfassungsgericht offen. Jedenfalls ist ein solches Gesetz bislang nicht ergangen. Solche schutzwürdigen Interessen, die dem Auskunftsrecht des Abgeordneten entgegenstünden, liegen nicht vor. Den Belangen des Antragstellers — seinem Fragerecht aus Art. 40 Abs. 1 LV - ist Vorrang vor dem in Art. 6 Abs. 1 LV geschützten Recht auf informationelle Selbstbestimmung der betroffenen Anwälte einzuräumen. c) Um festzustellen, ob schutzwürdige Interessen dem Auskunftsrecht entgegenstehen, sind das Informationsinteresse des Abgeordneten und das Geheimhaltungsinteresse der betroffenen Anwälte unter Berücksichtigung der Bedeutung der Pflicht zur erschöpfenden Beantwortung parlamentarischer Anfragen für die Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Systems gegeneinander abzuwägen (BVerfGE 57, 1, 5; VfG Bbg, DÖV 2001, 164, 165). Nach Art. 20 Abs. 1 LV kommt dem Parlament — neben der Wahl des Ministerpräsidenten und der Gesetzgebung - die Kontrolle der Tätigkeit der Exekutive zu. Diese Kontrollfunktion des Parlaments ist nicht nur die Aufgabe des gesamten Landtages oder der Opposition, sondern auch der einzelnen Abgeordneten. Das Bundesverfassungsgericht hat hervorgehoben, der Grundsatz der Gewaltenteilung gebiete im Hinblick auf die starke Stellung der Regierung eine Auslegung des Grundgesetzes LVerfGE 13

Fragerecht von Abgeordneten

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dahin, daß parlamentarische Kontrolle wirksam sein kann (BVerfGE 67, 100, 130). Namentlich ist die Kontrollfunktion des Parlaments als grundlegendes Prinzip des parlamentarischen Regierungssystems und der Gewaltenteilung angesichts des regelmäßig bestehenden Interessengegensatzes zwischen regierungstragender Mehrheit und oppositioneller Minderheit wesentlich von den Wirkungsmöglichkeiten der Minderheit abhängig (BVerfGE 70, 324, 363; VerfGH NW, NVwZ 1994, 678, 679; BayVerfGH, Entsch. v. 17.7.2001 - Vf. 56-IVa-00 unter VI.A.2.a). Die einzelnen Abgeordneten sind aufgrund ihres Mandats berufen, eigenverantwortlich an den Aufgaben mitzuwirken, die dem Parlament insgesamt obliegen. Das setzt aber voraus, daß sie über die hierfür erforderlichen Informationen verfugen. Zu den Mitteln der Informationsverschaffung gehört insbesondere das parlamentarische Fragerecht des Art. 40 Abs. 1 LV. Damit kommt dem Fragerecht ein hoher verfassungsrechtlicher Rang für die in Art. 3 Abs. 1 S. 2 LV festgelegte Gewaltenteilung zu. Im Hinblick auf diese Bedeutung des Fragerechts ist es nur konsequent, daß der Verfassungsgesetzgeber Art. 40 Abs. 1 und 3 LV systematisch — wie oben ausgeführt — in ein Regel-Ausnahme-Verhältnis gestellt hat. Die Kleine Anfrage hielt sich im Rahmen des dem Antragsteller zustehenden Kontrollrechts. Es leuchtet ein, daß zur Klärung der Frage, ob es sachliche Gründe für die Beauftragung von Rechtsanwälten außerhalb des Landes Mecklenburg-Vorpommern durch die Antragsgegnerin gab, die Kenntnis des Namens dieser Rechtsanwälte erforderlich ist. Nur auf diese Weise läßt sich klären, ob die beauftragten Rechtsanwälte über besondere fachliche Kompetenzen verfügten, die bei den Anwälten im eigenen Land nicht vorhanden sind oder besondere Zulassungsvoraussetzungen (zum Beispiel für den Bundesgerichtshof) die Beauftragung erforderlich machten. Schließlich bedarf die Beauftragung von Rechtsanwälten mit Sitz in den alten Bundesländern auch deswegen einer Rechtfertigung, weil für diese nach dem noch immer zweigeteilten Gebührenrecht in Deutschland höhere Kosten aufgewendet werden müssen als bei der Beauftragung von Rechtsanwälten im Land Mecklenburg-Vorpommern. d) Die hier durch die Antragsgegnerin mandatierten Rechtsanwälte werden durch die Mitteilung ihrer Namen bei der Beantwortung der Kleinen Anfrage nicht unzumutbar und unverhältnismäßig in ihrem Recht auf informationelle Selbstbestimmung betroffen. Dabei fällt maßgeblich ins Gewicht, daß die Anwälte keine Privatpersonen sind, die nur beiläufig, ohne selbst dazu Anlaß gegeben zu haben, das Augenmerk des Antragstellers gefunden haben. Betroffen ist hier lediglich ihre berufliche Sphäre. Denn sie sind in ihrem Status als unabhängige Organe der Rechtspflege (§ 1 BRAO) in vertragliche Beziehungen zur Antragsgegnerin getreten. In einer solchen Situation müssen sie damit rechnen, die Aufmerksamkeit des die Landesregierung kontrollierenden Parlaments zu finden (VfG Bbg, LVerfGE 4, 179, 188). Das gilt erst recht in einer Zeit, in der es ein Anliegen der Institutionen des repräsentativ demokratischen Systems sein muß, nicht nur die Fachlichkeit und Lauterkeit ihrer Arbeit unter Beweis stellen zu können (vgl. LVerfGE 13

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hierzu Saarl.VGH, Urt. v. 31.10.2002 - Lv 2/02 - unter II.B.II.4.), sondern auch staatliches Handeln transparent zu machen. Soweit es im Rahmen der Mandate zu Gerichtsverhandlungen und gerichtlichen Entscheidungen kommt, wird das Mandatsverhältnis — nicht nur in einer mündlichen Verhandlung - ohnehin öffentlich bekannt. Das Bundesverfassungsgericht teilt bei Veröffentlichung seiner Entscheidungen, auf die ebenso wie auf die Landtagsdrucksachen über das Internet zugegriffen werden kann, und in seiner Amtlichen Sammlung (BVerfGE) die Namen und Anschriften der Verfahrensbevollmächtigten mit. e) Der hier vorliegende Eingriff in die Grundrechtsposition der Anwälte wiegt unter Berücksichtigung der dargestellten Umstände nicht schwer. Daran ändert auch nichts der Einwand der Antragsgegnerin, die Mitteilung einer Mandatierung durch die Landesregierung könne von Mandanten als problematisch angesehen werden, wenn der Rechtsanwalt überhaupt für die Gegenseite tätig geworden ist. Unter wirtschaftlichen Aspekten ist es bei der gebotenen typisierenden Betrachtung eher vorteilhaft, mit einem Mandat von einer Landesregierung betraut worden zu sein. f) An dem Ergebnis, daß Rechte der Anwälte der Nennung der Namen nicht entgegenstehen, ändert auch der Umstand nichts, daß mit der Bekanntgabe der Namen der beauftragten Rechtsanwälte Vergütungen und Honorare, soweit sie mitgeteilt worden sind, bestimmten Kanzleien zugeordnet werden. Die Angabe des einzelnen Honorars für das jeweilige Mandat erlaubt keine Rückschlüsse auf sensible personenbezogene Daten, wie z.B. den Umsatz einer Kanzlei oder das Einkommen des Anwalts. Im übrigen ist auch insoweit zu berücksichtigen, daß die betroffenen Rechtsanwälte mit einem öffentlichen Auftraggeber Verträge abgeschlossen haben und deshalb damit rechnen mußten, daß die Landesregierung wegen der Höhe des Honorars einer Kontrolle unterzogen werden konnte. Insofern gilt hier nichts anderes als für die Haushaltskontrolle durch den Landesrechnungshof und eine damit verbundene Veröffentlichung im jeweiligen Bericht des Landesrechnungshofes. Nach allem muß das Recht der betroffenen Anwälte aus Art. 5 Abs. 3 LV iVm Art. 2 Abs. 1 GG sowie aus Art. 6 Abs. 1 LV hinter dem Informationsrecht des Antragstellers aus Art. 40 Abs. 1 LV zurückstehen. 5. Das Landesverfassungsgericht läßt offen, ob es der Antragsgegnerin im Rahmen eines schonenden Umgangs zwischen Verfassungsorganen oblag, die betroffenen 12 Anwaltskanzleien um Zustimmung zur Nennung ihrer Namen zu bitten. D. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 32 Abs. 1, 33 Abs. 2 LVerfGG. LVerfGE 13

Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes des Saarlandes

Die amtierenden und stellvertretenden Richterinnen und Richter des Verfassungsgerichtshofes des Saarlandes Prof. Dr. Roland Rixecker, Präsident (Prof. Dr. Heike Jung) Prof. Dr. Elmar Wadle, Vizepräsident (Heinz Haupenthal) Otto Dietz (Barbara Beckmann-Roh) Prof. Dr. Günter Ellscheid (Dieter Knicker) Monika Hermanns (Ulrich Sperber) Günther Schwarz (Rainer Hoffmann) Hans-Georg Warken (Heidrun Quack) Prof. Dr. Rudolf Wendt (Gerhard Krämer)

Parlamentarische Anfrage - Umfang der Auskunftspflicht

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Nr. 1* Die verfassungsrechtliche Pflicht der Regierung, Fragen eines Abgeordneten zu beantworten, umfasst die Pflicht, den Fragenden auf einen seiner Frage zugrunde liegenden Irrtum aufmerksam zu machen.** Verfassung des Saarlandes Art. 97 Nr. 1, 66 Abs. 2 Satz 1 Gesetz über den Verfassungsgerichtshof des Saarlandes §§ 9 Nr. 5, 39, 40 Urteil vom 31. Oktober 2002 - Lv 1/02 in dem Organstreitverfahren 1. 2. 3.

des Mitgliedes des Landtages des Saarlandes Isolde Ries des Mitgliedes des Landtages des Saarlandes Reiner Braun der SPD-Fraktion im Landtag des Saarlandes, vertreten durch ihren Vorsitzenden Heiko Maas, Franz-Josef-Röder-Straße 7, 66119 Saarbrücken - Antragsteller -

Verfahrensbevollmächtigte: RAe. JR Dr. Lechner, Dr. Walter, Dr. Zimmerling, Wendelin Drescher und Eric Schulien gegen die Regierung des Saarlandes, vertreten durch den Minister für Bildung, Kultur und Wissenschaft, Hohenzollernstraße 60, 66117 Saarbrücken — Antragsgegnerin — Entscheidungsformel: 1. Die Antwort der Antragsgegnerin vom 20. 12. 2001 (LT-Drs. 12/552) auf die Anfrage der Antragsteller zu 1 und 2 vom 3. 12. 2001 (LT-Drs. 12/531) verletzt deren Rechte aus Art. 66 Abs. 2 Satz 1 SVerf. 2. Der Antrag der Antragstellerin zu 3 wird verworfen. *

Die Entscheidung ist im Volltext beim Verfassungsgerichtshof des Saarlandes erhältlich (Adresse s. Anhang). ** Nichtamtlicher Leitsatz.

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3. Die Antragsgegnerin hat den Antragstellern zu 1 und 2 die notwendigen Auslagen zu erstatten. Gründe: I. Gegenstand des Organstreitverfahrens ist die Frage, ob die Antwort der Regierung des Saarlandes vom 20.12.2001 (LT-Drs. 12/552) zu der Anfrage der Antragsteller zu 1 und 2 vom 3.12.2001 (LT-Drs. 12/531) betreffend die Zuverlässigkeit der Empfehlungen der Grundschulen beim Ubergang zum Gymnasium die verfassungsmäßigen Rechte der Antragsteller aus Art. 66 Abs. 2 S. 1 der Verfassung des Saarlandes verletzt. Die Antragsteller zu 1 und 2 sind Mitglieder des Landtages des Saarlandes und gehören der Antragstellerin zu 3 (SPD-Fraktion) an. Sie richteten unter dem 3.12.2001 gem. § 58 der Geschäftsordnung des Landtages die nachfolgende schriftliche Anfrage betreffend die Zuverlässigkeit der Empfehlungen der Grundschulen beim Ubergang zum Gymnasium an die Regierung des Saarlandes: „1. Wie viele Schülerinnen und Schüler wurden zu den Schuljahren 1990/ 1991 und 1991/1992 in insgesamt vier von der Landesregierung auszuwählenden saarländischen Gymnasien aus verschiedenen Landkreisen/Stadtverband a) mit Empfehlung aufgenommen b) ohne Empfehlung aufgenommen? 2. Wie viele dieser Schülerinnen und Schüler haben die allgemeine Hochschulreife erworben — differenziert nach Schülerinnen und Schülern mit und ohne Empfehlung zum Besuch eines Gymnasiums bei der Aufnahme ins Gymnasium? 3. Wie viele dieser Schülerinnen und Schüler haben das Gymnasium vorzeitig wieder verlassen müssen — differenziert nach Schülerinnen und Schülern mit und ohne Empfehlung zum Besuch eines Gymnasiums bei der Aufnahme ins Gymnasium? (-)"

Die Antwort der Landesregierung vom 20.12.2001 (LT-Drs. 12/552) auf die Anfrage vom 3.12.2001 (LT.-Drs. 12/531) lautet: „Vorbemerkung der Landesregierung: Aus der Sicht der Landesregierung unterscheidet sich die Anfrage gegenüber den Drucksachen 12/215 und 12/316 nur durch die Anzahl der Schulen, an denen eine Erhebung durchgeführt werden soll. Für die ausgewählten Schulen stünde nach wie vor der mit dieser Erhebung verbundene Arbeitsaufwand in keinem Verhältnis zu den möglicherweise zu erwartenden Erkenntnissen. Die Auswahl von 4 aus 33 Gymnasien wäre willkürlich und würde nicht zu repräsentativen Ergebnissen fuhren. Zu den Fragen 1 bis 3: Die Landesregierung hält an ihren früheren Antworten (Drucksache 12/259 und 12/332) fest." LVerfGE 13

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(...)

Die Anträge der Antragsteller zu 1 und 2 hält die Regierung des Saarlandes für unbegründet. Der Anspruch auf Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage sei durch den Zweck begrenzt, die Ausübung des Abgeordnetenmandates zu unterstützen. Die in Rede stehende Anfrage sei aber untauglich, den Fragestellern Aufschluß über den sie interessierenden Sachverhalt zu geben. Damit eigne sie sich weder zu einer Kontrolle der Regierungstätigkeit noch zur Erleichterung sonstiger parlamentarischer Aufgaben. Den Antragstellern gehe es ausweislich der von ihnen gestellten Anfrage um die Aussagekraft von Empfehlungen der Grundschulen für den Ubergang von Schülerinnen und Schülern zum Gymnasium. Für die in Rede stehenden Aufnahmejahrgänge des Gymnasiums seien aber Empfehlungen der Grundschulen noch nicht vorgesehen gewesen und daher auch nicht ausgesprochen worden. Daher verfehle die Anfrage der Antragsteller zu 1 und 2 ihren Sinn, und das Ausbleiben einer materiellen Antwort der Landesregierung habe schon deshalb keinen Auskunftsanspruch der Fragesteller verletzen können. (...)

II. A. Die Anträge der Antragsteller zu 1 und 2 sind zulässig, der Antrag der Antragstellerin zu 3 ist unzulässig. 1. Die Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofs folgt aus Art. 97 Nr. 1 SVerf, § 9 Nr. 5 VerfGHG. Sämtliche Antragsteller und die Antragsgegnerin sind gem. § 39 VerfGHG beteiligtenfähig. Die Landesregierung, Abgeordnete und Fraktionen sind in der Verfassung und in der Geschäftsordnung des Landtags mit eigenen Zuständigkeiten ausgestattet. Die Anträge enthalten die nach § 40 Abs. 2 VerfGHG erforderliche Bezeichnung der Vorschrift der Verfassung, gegen die nach Auffassung der Antragsteller durch die beanstandete Maßnahme bzw. Unterlassung der Antragsgegnerin verstoßen worden ist, indem sie Art. 66 Abs. 2 SVerf als verletzt rügen. Die Antragsfrist des § 40 Abs. 3 VerfGHG ist eingehalten, weil die Anträge am 15.3.2002 und damit vor Ablauf von drei Monaten eingegangen sind, nachdem die Antwort der Antragsgegnerin vom 20.12.2001 (Drs. 12/552) auf die Anfrage vom 3.12.2001 (Drs. 12/531) ausgegeben und den Antragstellern bekannt geworden ist. 2. Gem. § 40 Abs. 1 VerfGHG ist in einem Organstreitverfahren der Antrag nur zulässig, wenn der Antragsteller geltend macht, daß er oder das Organ, dem er angehört, durch eine Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners in seinen ihm durch die Verfassung übertragenen Rechten und Pflichten verletzt oder unLVerfGE 13

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mittelbar gefährdet sei. Diese Voraussetzung erfüllen die Antragsteller zu 1 und 2, nicht dagegen die Antragstellerin zu 3. a) Der Antrag eines einzelnen Abgeordneten im Organstreit ist nach § 40 Abs. 1 VerfGHG, der § 64 Abs. 1 BVerfGG entspricht, zulässig, wenn es nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, daß der Antragsgegner aus dem verfassungsrechtlichen Rechtsverhältnis zwischen den Beteiligten erwachsende Rechte des Antragstellers durch die beanstandete rechtserhebliche Maßnahme verletzt oder unmittelbar gefährdet hat. Der einzelne Abgeordnete kann im Organstreit insbesondere die behauptete Verletzung oder Gefährdung jedes Rechts geltend machen, das verfassungsrechtlich mit seinem Status verbunden ist (BVerfG, Urt. v. 17.12.2001 - 2 BvE 2/00, NJW 2002,1111,1112 unter B II 2). Die Verfassung des Saarlandes enthält keine ausdrückliche Regelung über parlamentarische Anfragen. § 58 GO-LT, in dem der Anspruch jedes Abgeordneten, von der Regierung mit Anfragen über bestimmt bezeichnete Tatsachen Auskunft verlangen zu können, geregelt ist, begründet für sich genommen die Zulässigkeit eines Organstreitverfahrens nach § 40 VerfGHG nicht, weil die Norm nicht verfassungsrechtlicher Natur ist. § 58 GO-LT ist jedoch Ausfluß eines verfassungsunmittelbaren Informationsanspruchs eines jeden Abgeordneten, der sich aus Art. 66 Abs. 2 S. 1 SVerf ergibt. Dem Abgeordneten kommt von Verfassungs wegen die Aufgabe zu, als Teil des Parlaments an der Gesetzgebung mitzuwirken und die Kontrolle über die Exekutive auszuüben. Dabei ist er nach Art. 66 Abs. 2 S. 1 SVerf Vertreter des ganzen Volkes, nur seinem Gewissen unterworfen und an Aufträge und Weisungen nicht gebunden. Zur Wahrnehmung der Aufgaben, mit denen er vom Wähler beauftragt ist, ist der Abgeordnete auf eine sachangemessene Information angewiesen. Diese Information besitzt er häufig nicht aufgrund eigener Kenntnis. Auch ist er wegen der zunehmenden Komplexität der in der parlamentarischen Arbeit zu beurteilenden Gegenstände und der von ihm mitzugestaltenden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Zusammenhänge oft außerstande, sich die erforderliche Sachkunde selbst zu verschaffen. Der durch Art. 66 Abs. 2 S. 1 SVerf - ebenso wie durch Art. 38 Abs. 1 GG und vergleichbare Bestimmungen anderer Landesverfassungen — begründete Status des Abgeordneten umfaßt deshalb das Recht darauf, c^aß ihm von der Seite der Exekutive diejenigen Informationen nicht vorenthalten werden, derer er für die Erfüllung seiner Aufgaben als Vertreter des Volks im Parlament bedarf (BVerfGE 70, 324, 355). Mit dem verfassungsrechtlich begründeten Status des Abgeordneten ist daher das Recht verbunden, der Regierung Fragen zu stellen, sowie ein damit korrespondierender Anspruch auf eine inhaltliche Beantwortung der gestellten Fragen (VerfGH NRW, Urt. v. 4.10.1993 - VerfGH 15/92, NVwZ 1994, 678 unter B I 3; BayVerfGH, Entsch. v. 17.7.2001 - Vf. 56-IVa-00, NVwZ 2002, 715, 716 unter VI A 1). Eine Verletzung dieses Rechts der Antragsteller zu 1 und 2 durch die

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Antwort der Antragsgegnerin vom 20.12.2001 auf ihre Anfrage vom 3.12.2001 erscheint jedenfalls möglich. b) Auch die Antragstellerin zu 3 hat eine Verletzung von ihr selbst durch die Verfassung übertragenen Rechten aus Art. 66 Abs. 2 S. 1 SVerf gerügt. Daß die Antwort der Antragsgegnerin vom 20.12.2001 die Antragstellerin zu 3 in eigenen Fraktionsrechten verletzt, kann jedoch von vornherein ausgeschlossen werden. Zwar ist die Rechtsstellung einer Fraktion wie der Status des einzelnen Abgeordneten aus Art. 66 Abs. 2 S. 1 SVerf abzuleiten, weil die Fraktion ein Zusammenschluß von Abgeordneten ist (BVerfGE 70, 324, 363; 80, 188, 219 f; 84, 304, 322). Deshalb steht auch einer Fraktion das Recht zur parlamentarischen Anfrage und ein damit korrespondierender Anspruch auf eine inhaltliche Beantwortung der Anfrage zu (BVerfGE 91, 246, 251; BayVerfGH, Entsch. v. 17.7.2001 - Vf. 56-IVa-00, NVwZ 2002, 715, 716 unter V). Dieses Recht kann hier aber durch die Antwort der Antragsgegnerin vom 20.12.2001 nicht verletzt sein, weil die Antragstellerin zu 3 bei der zugrundeliegenden Anfrage vom 3.12.2000 nicht als (Mit-)Fragestellerin aufgetreten ist. Art. 66 Abs. 2 S. 1 SVerf mag darüber hinaus das Recht jedes Abgeordneten und jeder Fraktion umfassen, von den Antworten der Landesregierung auf parlamentarische Anfragen anderer Abgeordneter oder Fraktionen in Kenntnis gesetzt zu werden, damit eine gleichmäßige Information aller Abgeordneten durch die Regierung und damit eine gleichberechtigte Mitwirkung aller Abgeordneten an den parlamentarischen Aufgaben gewährleistet ist (vgl. hierzu BVerfGE 70, 324, 355 ff; Gusy JuS 1995, 878, 879). Das aus dem Status des Abgeordneten bzw. der Fraktion abgeleitete Informationsbedürfnis und Informationsrecht gegenüber der Exekutive rechtfertigt aber nicht die Annahme, diesen stehe darüber hinaus ein eigener Anspruch gegenüber der Regierung auf inhaltliche Beantwortung der von anderen Abgeordneten oder Fraktionen eingebrachten Anfragen zu. Eines originären Informationsrechtes mit diesem Inhalt bedürfen der Abgeordnete und die Fraktion zur Wahrnehmung der ihnen obliegenden parlamentarischen Aufgaben nicht, auch wenn die Antworten der Landesregierung auf parlamentarische Anfragen anderer für alle Abgeordneten und Fraktionen eine faktische Informationsquelle darstellen. Denn sie können sich die für eine verantwortliche Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlichen Informationen jederzeit durch eigene Fragen an die Regierung verschaffen. Das Informationsrecht des Abgeordneten bzw. der Fraktion aus Art. 66 Abs. 2 S. 1 SVerf verpflichtet die Regierung - jedenfalls außerhalb von Regierungsvorlagen an das Parlament - nicht, dem einzelnen Abgeordneten oder der Fraktion ungefragt Informationen zu erteilen, die möglicherweise für deren Arbeit von Bedeutung sein können. Die Verletzung des Informationsrechts eines einzelnen Abgeordneten oder einer Fraktion setzt vielmehr voraus, daß dieser oder diese zuvor ein Informationsbedürfnis gegenüber der Landesregierung geltend gemacht und inhaltlich konkretisiert hat. Da dies von Seiten der Antrag-

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stellerin zu 3 nicht geschehen ist, kommt eine Verletzung ihres eigenen Informationsrechts aus Art. 66 Abs. 2 S. 1 SVerf von vornherein nicht in Betracht. Die Geltendmachung von Rechten der der Antragstellerin zu 3 als Fraktion angehörenden Antragsteller zu 1 und 2 schließt § 40 Abs. 1 VerfGHG aus. Eine Prozeßstandschaft eines Organs für seine Teile oder eines Organs für ein anderes ist in § 40 Abs. 1 VerfGHG ebenso wie in § 64 Abs. 1 BVerfGG nicht vorgesehen (vgl. Pestabsga Verfassungsprozeßrecht, 3. Aufl. 1991, § 7 II Rn. 32). Die Antragstellerin zu 3 könnte gem. § 40 Abs. 1 VerfGHG nur als Prozeßstandschafterin für den Landtag — das Organ, dem sie angehört — auftreten (vgl. BVerfG, Urt. v. 22.11.2001 - 2 BvE 6/99, NJW 2002,1559 unter B I 1 und 2). Eine Verletzung von Rechten, die dem Landtag gegenüber der Landesregierung zustehen, macht die Antragstellerin zu 3 jedoch nicht geltend. B. Die Anträge der Antragstellerin zu 1 und des Antragstellers zu 2 sind begründet. Die Antwort der Landesregierung vom 20.12.2001 (LT-Drs. 12/552) auf die Anfrage der Antragsteller zu 1 und 2 vom 3.12.2001 (LT-Drs. 12/531) verletzt deren Rechte aus Art. 66 Abs. 2 S. 1 SVerf. 1. a) Das aus Art. 66 Abs. 2 S. 1 SVerf abgeleitete Fragerecht des Abgeordneten ist ohne einen korrespondierenden Anspruch auf Beantwortung der Frage nicht denkbar. Das Fragerecht des Abgeordneten dient seiner Sachinformation und zugleich der Kontrolle der Exekutive durch das Parlament. Die Kontrollfunktion des Parlaments als grundlegendes Prinzip des parlamentarischen Regierungssystems und der Gewaltenteilung ist angesichts des regelmäßig bestehenden Interessengegensatzes zwischen regierungstragender Mehrheit und oppositioneller Minderheit wesentlich von den Wirkungsmöglichkeiten der Minderheit abhängig. Die Antwort der Regierung auf die Frage eines Abgeordneten muß daher grundsätzlich erschöpfend, d.h. vollständig und zutreffend sein (VerfGH NRW, Urt. v. 4.10.1993 - VerfGH 15/92, NVwZ 1994, 678 unter B I 3). b) Die Pflicht zur Beantwortung parlamentarischer Anfragen besteht allerdings nicht uneingeschränkt. Sie unterliegt vielmehr Grenzen, die ihrerseits aus der Verfassung folgen. Die Grenzen der Antwortpflicht können nicht für alle in Betracht kommenden Fälle abstrakt bestimmt werden. Zu ihrer Bestimmung ist im Einzelfall nach dem „Ob" und dem „Wie" einer Antwort zu differenzieren. Hinsichtlich der Frage, ob eine Antwortpflicht besteht, kann mit Blick auf die verfassungsrechtliche Verankerung des parlamentarischen Fragerechts der Regierung lediglich ein enger Entscheidungsspielraum zugestanden werden. Die Ablehnung, eine Frage überhaupt zu beantworten, muß danach die Ausnahme bleiben. Eine Pflicht zu einer Antwort in der Sache besteht nicht, wenn die Regierung für den Bereich, auf den sich die Frage bezieht, weder unmittelbar noch mittelbar zuständig ist — es sei denn, die Frage betrifft gerade ein unzuständiges Handeln LVerfGE 13

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der Regierung —, wenn die Beantwortung der Fragen berechtigte Geheimhaltungsinteressen oder Grundrechte anderer verletzen würde (BayVerfGH, Entsch. v. 17.7.2001 - Vf. 56-IVa-00, NVwZ 2002, 715 unter VI A 2 a; VfG Brandenburg, Beschl. v. 16.11.2000 - VfgBbg 31/00, DÖV 2001, 164,165 unter 1 a) oder wenn der — enge - Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung betroffen ist (BVerfGE 67, 100,139, NJW 1984, 2271, 2275; VerfGH NRW, Urt. v. 4.10.1993 - VerfGH 15/92, NVwZ 1994, 678 unter B II 1; SachsAnhVerfG, Urt. v. 17.1.2000 - LVG 6/99, NVwZ 2000, 671, 672 unter 8.1.1.; VfG Brandenburg, aaO; BayVerfGH, aaO). Ebenso müssen Fragen, die einen Mißbrauch des Fragerechts darstellen, nicht beantwortet werden (vgl. BayVerfGH, Entsch. v. 17.7.2001 - Vf. 56-IVa-00, NVwZ 2002, 715 unter VI A 2 a). Des weiteren ist in Rechnung zu stellen, daß die Verfassungsorgane und ihre Gliederungen zur gegenseitigen Rücksichtnahme verpflichtet sind. Daraus resultiert die Pflicht, bei der Ausübung eigener Befugnisse den Funktionsbereich zu respektieren, den die davon mitbetroffenen Staatsorgane ihrerseits in eigener Verantwortung wahrzunehmen haben. Nur unter dieser Voraussetzung ist ein sinnund planvolles Zusammenwirken mehrerer prinzipiell gleichgeordneter Verfassungsorgane im Interesse bestmöglicher Verwirklichung des Gemeinwohls zu erreichen. Das Fragerecht des Abgeordneten und sein Anspruch auf erschöpfende Beantwortung dürfen deshalb die Funktions- und Arbeitsfähigkeit der Landesregierung nicht gefährden (BayVerfGH, Entsch. v. 17.7.2001 - Vf. 56-IVa-00, NVwZ 2002, 715 unter VI A 2 b; VerfGH NRW, Urt. v. 4.10.1993 - VerfGH 15/92, NVwZ 1994, 678 unter B II 1; die Frage einer Begrenzung der Antwortpflicht durch die Arbeits- und Funktionsfähigkeit der Landesregierung lassen — bei anderer Verfassungsrechtslage — offen VfG Brandenburg, Beschl. v. 16.11.2000 — VfgBbg 31/00, DÖV 2001, 164, 165 unter 1 a und SächsVGH, Urt. v. 16.4.1998 Vf. 14-1-97, SächsVBl. 1998, 210 unter C III). c) Im Rahmen dieser Grenzen muß die Antwort der Regierung darauf ausgerichtet sein, das Informationsverlangen des Abgeordneten in seinem Kern zu befriedigen. Dabei ist die Exekutive befugt und gehalten, sich nicht ausschließlich am Wortlaut der Frage zu orientieren, sondern deren wesentlichen Inhalt aufzugreifen und Art und Umfang der Beantwortung danach zu bestimmen (BayVerfGH, Entsch. v. 17.7.2001 - Vf. 56-IVa-00, NVwZ 2002, 715 unter VI A 2 b). Daraus folgt, daß eine Antwortpflicht in der Sache auch vollständig entfallen kann, wenn eine sinnvolle Beantwortung der Frage nicht möglich ist, weil die Frage erkennbar auf einem Irrtum des Fragestellers über die sachlichen Grundlagen beruht. In einem solchen Fall muß allerdings die Regierung den Fragesteller mit ihrer Antwort auf dessen Irrtum hinweisen. Das aus dem Statusrecht abgeleitete Informationsrecht des Abgeordneten garantiert diesem ein Recht auf Unterstützung, weil er zur eigenverantwortlichen Mitwirkung an den Aufgaben des Parlaments auf den Sachverstand angewiesen ist, der der Regierung durch die MinisterialverLVerfGE 13

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waltung zur Verfugung steht (vgl. VerfGH NRW, Urt. v. 4.10.1993 - VerfGH 15/92, NVwZ 1994, 678 unter B I 3). Das Informationsbedürfnis des Abgeordneten tritt besonders deutlich hervor, wenn schon seine Fragestellung von einem Irrtum beeinflußt ist. Sein Recht auf Information durch die Exekutive umfaßt deshalb in einem solchen Fall auch einen Anspruch auf Aufklärung über den Irrtum. Allein auf diese Weise wird dem Informationsbedürfnis des Fragenden hinreichend Rechnung getragen. Die Annahme einer über die Verpflichtung zu einer inhaltlichen Antwort hinausgehenden Aufklärungspflicht in Fällen der genannten Art entspricht dem Grundsatz eines fairen Verfahrens (vgl. zur Zwischenorganschaftlichen Verpflichtung der Regierung, das Parlament über neben dem Parlament angesiedelte Entscheidungsvorgänge aufzuklären, Matthias Ruffert Entformalisierung und Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen, DVB1. 2002, 1145, 1153). Sie ist ihrerseits Ausdruck der Pflicht, den Funktionsbereich anderer Verfassungsorgane und deren Gliederungen zu respektieren und ein sinnvolles Zusammenwirken mehrerer prinzipiell gleichgeordneter Verfassungsorgane zu ermöglichen (s.o. unter b). 2. a) Die Antragsteller zu 1 und 2 stellen in ihrer Anfrage vom 3.12.2001 auf die beiden Einschulungsjähre der saarländischen Gymnasien 1990/1991 und 1991/1992 ab. Für die Schülerinnen und Schüler, die in den von den Antragstellern genannten Schuljahren 1990/1991 und 1991/1992 in die Eingangsklasse des Gymnasiums aufgenommen wurden, sind keine Schullaufbahnempfehlungen von Seiten der Grundschulen ausgesprochen worden. Denn für diese Schülerinnen und Schüler war die Verordnung — Schulordnung — über den Ubergang von der Grundschule in die Klassenstufe 5 der Hauptschule, der Realschule, des Gymnasiums oder der Gesamtschule vom 14.12.1988 (Amtsbl. S. 1325) maßgeblich. Deren § 2 Abs. 2 sah am Ende des ersten Schulhalbjahres der Klassenstufe 4 einen Entwicklungsbericht nach dem Muster der Anlage der Verordnung vor, der „den Erziehungsberechtigten eine Orientierungshilfe für ihre Entscheidung über den weiteren Bildungsweg ihres Kindes geben" sollte. Eine Schullaufbahnempfehlung war weder im Verordnungstext noch im anhängenden Muster des Entwicklungsberichts vorgesehen. Dieser enthielt am Ende lediglich eine „zusammenfassende Beurteilung". Erst die Änderungsverordnung vom 11.1.1993 (Amtsbl. S. 50) ordnete an, den Entwicklungsbericht mit einer Schullaufbahnempfehlung zu versehen und ersetzte im Muster des Entwicklungsberichts die Worte „zusammenfassende Beurteilung" durch das Wort „Schullaufbahnempfehlung". b) Es kann offen bleiben, ob die Ablehnung einer inhaltlichen Antwort auch dann gerechtfertigt gewesen wäre, wenn für die erfragten Aufnahmejahrgänge der Gymnasien Empfehlungen von den Grundschulen ausgesprochen worden wären. Die Antragsgegnerin weist zwar mit Recht darauf hin, daß die Beantwortung der Anfragen der Antragsteller zu 1 und 2 die Auswertung zahlreicher Akten notwendig werden ließe. Auch ist der Antragsgegnerin zuzugeben, daß die AussagefahigLVerfGE 13

Parlamentarische Anfrage - Umfang der Auskunftspflicht

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keit der Aktenauswertung durch den Wechsel von Schülerinnen und Schülern zwischen verschiedenen Schulen relativiert werden kann. Die Ableitung des Fragerechts des Abgeordneten aus seinem durch Art. 66 Abs. 2 S. 1 SVerf begründeten Status, der ihn verpflichtet, sein Mandat nach seiner freien, nur durch die Rücksicht auf das Volkswohl bestimmten Uberzeugung auszuüben, impliziert allerdings, daß grundsätzlich nur der Abgeordnete selbst darüber befindet, welcher Informationen er für eine verantwortliche Erfüllung seiner Aufgabe bedarf (VerfGH Nordrhein Westfalen Urt. v. 4.10.1993 NVwZ 1994, 678 Bl. 3). Welchen Grenzen dieses Fragerecht unter dem Gesichtspunkt der Funktionsfähigkeit der Regierung begegnet und ob es einer Abwägung zwischen der Bedeutung der Frage und der Belastung der Arbeit der Regierung zugänglich ist, kann dahinstehen. c) Bei dem vorliegend zu beurteilenden Auskunftsbegehren handelt es sich um eines, das für die Landesregierung leicht erkennbar durch einen Irrtum der Antragsteller zu 1 und 2 über die sachlichen Hintergründe verursacht war mit der Folge, daß die Anfrage nicht sinnvoll beantwortet werden konnte. Die Landesregierung durfte deshalb zwar eine inhaltliche Antwort auf die Fragen — über die in der Bezugnahme auf ihre frühere Antwort vom 9.11.2000 (LT-Drs. 12/259) enthaltenen Angabe der 1990/1991 an den saarländischen Gymnasien insgesamt aufgenommenen Schülerinnen und Schüler hinaus — ablehnen. Sie hätte jedoch aus den oben (unter 1 c) dargelegten Gründen zugleich mit ihrer Ablehnung die Antragsteller zu 1 und 2 über deren Irrtum aufklären müssen. Die von den Antragstellern zu 1 und 2 gestellten Fragen zielten insgesamt zentral auf die Ermittlung der Aussagekraft von Empfehlungen der Grundschulen für den Ubergang von Schülerinnen und Schülern zum Gymnasium für den späteren schulischen Erfolg. Da für die Einschulungsjahrgänge 1990/1991 und 1991/ 1992 Schullaufbahnenempfehlungen rechtlich noch nicht vorgesehen und daher auch nicht ausgesprochen wurden und damit dem alleinigen Fragenziel einer vergleichenden Betrachtung der Schullaufbahnen von mit und ohne Empfehlung in ein Gymnasium aufgenommenen Schülerinnen und Schülern der Boden entzogen war, erweist sich, daß die gestellten Fragen nicht sinnvoll zu beantworten waren. Insofern ist das Ausbleiben einer Antwort auf den eigentlichen Frageninhalt nicht zu beanstanden. Da für die in der Anfrage genannten Aufnahmejahrgänge 1990/1991 und 1991/1992 der Gymnasien Schullaufbahnempfehlungen der Grundschulen rechtlich nicht vorgesehen waren und deshalb tatsächlich auch nicht ausgesprochen worden sind, verletzt die Antwort der Landesregierung vom 20.12.2001 die Antragsteller zu 1 und 2 in ihrem Informationsrecht aus Art. 66 Abs. 2 S. 1 SVerf, weil sie nicht darauf hinweist. Die Landesregierung hat ihre Ablehnung einer inhaltlichen Antwort damit begründet, der mit den erforderlichen Erhebungen bei den Gymnasien verbundene Arbeitsaufwand stünde in keinem Verhältnis zu den möglicherweise zu erwartenden Erkenntnissen und die Auswahl von 4 aus 33 Gymnasien werde nicht zu repräsentativen Ergebnissen führen. Dadurch wird der LVerfGE 13

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bei den Antragstellern zu 1 und 2 bestehende Irrtum, die Aufnahmejahrgänge 1990/1991 und 1991/1992 seien für eine vergleichende Analyse des Schulerfolgs der mit bzw. ohne Empfehlung aufgenommenen Schülerinnen und Schüler grundsätzlich geeignet, eher unterstützt als beseitigt. Denn auch mit einem hohen Erhebungsaufwand bei allen Gymnasien waren die Erkenntnisse, die die Antragsteller zu 1 und 2 mit ihrer Anfrage gewinnen wollten, nicht zu erreichen. Die Landesregierung hätte aber erkennen können, daß die Antragsteller zu 1 und 2 einem Irrtum über die Existenz von Schullaufbahnempfehlungen zu den Schuljahren 1990/1991 und 1991/1992 unterlagen und daß dieser für ihre Fragestellung ursächlich war. Sie hätte deshalb — um ihrer aus dem Status des Abgeordneten abgeleiteten Informationspflicht gegenüber den Antragstellern zu 1 und 2 zu genügen — diese mit ihrer Antwort über den bestehenden Irrtum aufklären müssen. Dass sie dies unterlassen hat, ist mit den Rechten der Antragsteller zu 1 und 2 aus Art. 66 Abs. 2 S. 1 SVerf nicht vereinbar.

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Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes des Freistaates Sachsen

Die amtierenden Richterinnen und Richter des Verfassungsgerichtshofes des Freistaates Sachsen Dr. Thomas Pfeiffer, Präsident Klaus Budewig, Vizepräsident Ulrich Hagenloch Alfred Graf von Keyserlingk Siegfried Reich Hans Dietrich Knoth Prof. Dr. Hans v. Mangoldt Prof. Dr. Hans-Peter Schneider Prof. Dr. Hans-Heinrich Trute Stellvertretende Richterinnen und Richter Heinrich Rehak Martin Burkert (bis 31.7.2002) Jürgen Niemeyer Dr. Andreas Spilger Susanne Schlichting Hannelore Leuthold Prof. Dr. Martin Oldiges Heide Boysen-Tilly Prof. Dr. Christoph Degenhart

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Nr. 1 Leitsätze - amtlich oder nichtamtlich - wurden nicht beschlossen. Verfassung des Freistaates Sachsen Art. 3 Abs. 1, Abs. 2, 70 Abs. 1, 71 Abs. 2 Satz 3, 72 Abs. 1, 73 Abs. 1,93, 94, 95,103 Abs. 1 Urteil vom 11. Juli 2002 - Vf. 91-VI-01 in dem Verfahren über die Zulässigkeit eines Volksantrages auf Antrag des Präsidenten des Sächsischen Landtages Entscheidungsformel: 1. Der Volksantrag „Zukunft braucht Schule" ist zulässig. 2. Der Freistaat hat den Antragstellern, vertreten durch die Vertrauenspersonen des Volksantrages, ihre notwendigen Auslagen zu erstatten. Gründe: I. Der Präsident des Sächsischen Landtages hat am 13.12.2001 beim Sächsischen Verfassungsgerichtshof beantragt, über die Zulässigkeit des Volksantrages betreffend den „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Schulgesetzes für den Freistaat Sachsen" vom 29.8.2001 gem. Art. 71 Abs. 2 S. 3 der Verfassung des Freistaates Sachsen zu entscheiden. 1. Der Volksantrag „Zukunft braucht Schule" hat folgenden Gesetzentwurf zum Gegenstand: Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Schulgesetzes für den Freistaat Sachsen Artikel 1 Änderung des Schulgesetzes für den Freistaat Sachsen

Das Schulgesetz für den Freistaat Sachsen (SchulG) vom 3. Juli 1991 (SächsGVBl. S. 213), zuletzt geändert durch Artikel 6 des Gesetzes vom 14. Dezember 2000 (SächsGVBl. S. 513), wird wie folgt geändert: LVerfGE 13

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1. § 5 (Grundschule) wird wie folgt geändert: Absatz 2 wird wie folgt neu gefasst: „(2) Die Grundschule umfasst die Klassen 1 bis 4. Der Unterricht wird in der Regel nach Klassenstufen erteilt. Auf Beschluss der Schulkonferenz kann auch jahrgangsübergreifend unterrichtet werden." 2. § 6 (Mittelschule) wird wie folgt geändert: Nach Absatz 3 wird folgender Absatz 4 angefugt: „(4) Die Schulträger können bestimmen, dass Mittelschulen einzügig gefuhrt werden." 3. § 7 (Gymnasien) wird wie folgt geändert: a) Nach Absatz 3 wird folgender Absatz 4 eingefügt: „(4) Die Schulträger können bestimmen, dass Gymnasien zweizügig gefuhrt werden." b) Die bisherigen Absätze 4 und 5 werden die Absätze 5 und 6. c) Im nunmehrigen Absatz 6 wird die Formulierung ,.Absatz 4" durch die Formulierung „Absatz 5" ersetzt. 4. § 22 (Schulträger) wird wie folgt geändert: Absatz 3 wird wie folgt neu gefasst: „(3) Die Schulträger können gemeinsam Schulen betreiben (Schulverbünde). Die Vorschriften über die kommunale Zusammenarbeit bleiben unberührt." 5. § 23a (Schulnetzplanung) wird wie folgt geändert: Absatz 4 wird wie folgt neu gefasst: „(4) Die Schulnetzpläne bedürfen der Genehmigung der obersten Schulaufsichtsbehörde. Die Genehmigung darf nur versagt werden, wenn die Schulnetzplanung gegen Bestimmungen dieses Gesetzes oder der Verfassung des Freistaates Sachsen, insbesondere gegen Artikel 7, 29, 101 bis 104 und 106 der Verfassung des Freistaates Sachsen, verstößt." 6. Nach § 35 (Lehrpläne, Stundentafeln, Richtlinien) wird folgender § 35a eingefugt: „§ 35a Klassenbildung, Klassengröße (1) Für die Bildung einer Klasse in der jeweiligen Klassenstufe sind in der Regel an einer Grundschule wenigstens 10, an einer weiterführenden Schule in der Regel 15 Schülerinnen und Schüler erforderlich. (2) Die maximale Größe einer Klasse liegt bei 25 Schülerinnen und Schülern." Artikel 2 Inkrafttreten Dieses Gesetz tritt am Tage nach seiner Verkündung in Kraft. Begründung: Mit der Gesetzesänderung verfolgen die Antragsteller das Ziel, ein möglichst flächendeckendes Schulnetz im Freistaat Sachsen zu erhalten. Schulen sind nicht allein Einrichtungen, an denen Unterricht stattfindet; sie sind zugleich auch sozialLVerfGE 13

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kulturelle Einrichtungen, Orte der Kultur, der Bildung und der Freizeitgestaltung. Schulen prägen das öffentliche Leben in einer Kommune und die Identität der Bürgerinnen und Bürger. Im Falle der Schließung einer Schule sind folglich das öffentliche Leben einer Stadt oder Gemeinde und die Identität ihrer Bewohner beeinträchtigt. Um ein möglichst flächendeckendes schulisches Angebot im Freistaat Sachsen und damit den gleichen Zugang zu Bildung für alle garantieren zu können, ist das Sächsische Schulgesetz, wie oben vorgesehen, zu ändern. Der jahrgangsübergreifende Unterricht an Grundschulen, § 5, fördert das soziale Miteinander an der Schule und die Zusammenarbeit aller Beteiligten. Mittels einer differenzierten Lemorganisation ist ein lerngerechter und schülerorientierter Zeitrhythmus möglich. Mit der Änderung der § § 6, 7 wird erstmalig eine gesetzliche Regelung der Mindestzügigkeit der Schularten erreicht. Dadurch wird eine bislang nicht vorhandene Rechtssicherheit hergestellt. Sie steht der Forderung nach Differenzierung und Profilangebot, wie sie dieselben Paragraphen vorsehen, nicht entgegen. Bisherige starre Normative zur Klassenbildung und Zügigkeit der Schularten seitens des Kultusministeriums haben im Gegenteil zu zahlreichen Klagen gegen diese Vorgaben geführt und ein deutliches Gefälle zwischen Stadt und Land im schulischen Angebot verursacht. Mit der gesetzlichen Regelung der Mindestzügigkeit kann in allen Regionen ein gleichmäßiges Bildungs- und Abschlussangebot gesichert werden. Dem gleichen Ziel dienen auch die Regelungen zur Klassenbildung und Klassengröße, § 35a. Sie bieten zudem eine bessere Gewähr für die Erfüllung des schulischen Bildungs- und Erziehungsauftrages. Kleine, überschaubare Klassen tragen zur Verbesserung der Schulkultur bei, sie fördern insbesondere die Lehr- und Lernmotivation und erlauben ein differenziertes Eingehen auf die Individualität der Schülerinnen und Schüler. Kleine Klassen bieten die Chance, traditionelle Unterrichtsmethoden, wie z.B. den Frontalunterricht, zu überwinden. Beide Regelungen — die Mindestzügigkeit und die Klassenbildung bzw. -große — entsprechen dem Prinzip der wohnortnahen Schule, das vor allem bei Grundschulen praktiziert werden sollte. Das Prinzip der wohnortnahen Schule ermöglicht den Schülerinnen und Schülern eine individuelle Zeiteinteilung, die lange Fahrzeiten zur Schule und zurück vermeidet. Die eingesparte Zeit kann nutzbringender angewendet werden, zum Lernen z. B. oder zur sinnvollen Freizeitgestaltung. Der § 22 erlaubt die Einrichtung sog. Schulverbünde, die den Schulträgern den gemeinsamen Betrieb einer Schule ermöglichen. Die derzeitige Regelung der Schulnetzplanung in § 23a macht deren Umsetzen in erster Linie von der Zustimmung des Kultusministeriums abhängig. Die angestrebte Neuregelung stärkt die eigentlichen Entscheidungsträger, die kommunale Selbstverwaltung, diejenigen also, die die Schulnetzpläne erarbeiten und beschließen. Das sog. „Zustimmungserfordernis" wird insoweit neu geregelt, als die Zustimmung des Kultusministeriums zur Einrichtung, Änderung oder Aufhebung einer Schule auf der Grundlage einer von den Landkreisen und Kreisfreien Städten beschlossenen Schulnetzplanung erfolgt und die Schließung einer Schule aus Gründen, die mit Bildung und Erziehung nichts zu tun haben, weitgehend ausschließt. Zudem wird die Entscheidungsfindung über den Erhalt oder die Schließung einer Schule demokratisiert.

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2. Der Präsident des Sächsischen Landtages hält den Volksantrag zwar für formell mit der Verfassung vereinbar, ist jedoch der Auffassung, dieser Volksantrag verstoße gegen Art. 73 Abs. 1 SachsVerf. Es handele sich bei diesem Volksantrag um ein Abgaben-, Besoldungs- und Haushaltsgesetz, über das Volksantrag, Volksbegehren und Volksentscheid nicht stattfinde. Maßgeblicher Prüfungsgegenstand sei dabei die in Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes vorgesehene Einfügung eines § 35a in das Schulgesetz. Durch diese Vorschrift werde in verfassungswidriger Weise in die Entscheidungsfreiheit des Sächsischen Landtages als Haushaltsgesetzgeber eingegriffen, denn ausgehend von der Prognose zur Schülerzahlenentwicklung und zum Lehrerbedarf der Staatsregierung vom 23.11.2001 werde berücksichtige man die Entwicklung ab dem Schuljahr 2002/2003 — sich ein erheblicher Lehrerstellenmehrbedarf ergeben. Berechne man den Personalkostenmehrbedarf einerseits für das Schuljahr mit dem höchsten prognostizierten Lehrerstellenmehrbedarf (Schuljahr 2002/2003), andererseits für das Schuljahr mit dem geringsten prognostizierten Lehrerstellenmehrbedarf (Schuljahr 2008/2009), ergebe sich für das Schuljahr 2002/2003 ein zusätzlicher Stellenmehrbedarf von 4.821 Stellen, was einem Bruttokostenmehrbedarf von 459.388,1 TDM oder einem Nettokostenmehrbedarf von 398.727,69 TDM entspreche. Für das Schuljahr 2008/ 2009 ergebe sich ein zusätzlicher Stellenmehrbedarf von 3.659 Stellen. Dies entspreche einem Bruttokostenmehrbedarf von 322.209,83 TDM und einem Nettokostenmehrbedarf von 281.967,63 TDM. Bei Zugrundelegung dieser gegenüber den Berechnungen der sächsischen Staatsregierung günstigeren Zahlen sei der Nettokostenmehrbedarf im Verhältnis zum Gesamthaushalt des Haushaltsgesetzes 2001 in Höhe von 31.451.793 TDM etwa 1,26 v.H. und zur „freien Spitze" an allgemeinen Deckungsmitteln in Höhe von 4.100.000 TDM von 9,72 v.H. Dies stelle einen erheblichen Eingriff in die Kompetenz des Haushaltsgesetzgebers dar. Nach der insoweit übereinstimmenden Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichte sei damit ungeachtet des hohen Stellenwertes der Schul- und Bildungspolitik innerhalb der politischen Aufgaben und Ziele des Freistaates Sachsen eine so intensive Inanspruchnahme des Staatshaushaltes gegeben, dass dies zur Verfassungswidrigkeit des Volksantrages führen müsse. Auf die im Übrigen von der Staatsregierung in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 23.11.2001 geltend gemachten verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Regelungen des Art. 1 Nr. 1 3 des Gesetzesentwurfes im Hinblick auf Art. 103 SächsVerf komme es deshalb nicht mehr an. Die geltend gemachte Verfassungswidrigkeit betreffe im Übrigen das Kernanliegen des Volksantrages und mache diesen daher insgesamt unzulässig. 3. Die Vertrauenspersonen beantragen demgegenüber, die Zulässigkeit des Volksantrages festzustellen. Sie machen geltend, dass der Wortlaut des Art. 73 Abs. 1 SächsVerf nichts dafür hergebe, dass von dieser Bestimmung über formelle Haushaltsgesetzentwürfe hinaus auch haushaltswirksame Volksinitiativen erfasst würden. Im Vergleich zu anderen Länderverfassungen werde vielmehr mit der Formulierung „Haushaltsgesetze" die engst mögliche Begrifflichkeit gewählt. LVerfGE 13

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Während in anderen Verfassungen der Begriff des „Landeshaushalts" oder „Haushaltsplans" oder „Finanzfragen" bzw. „finanzwirksame Gesetze" verwendet werde, liege hier eine enge Begriffsfassung vor. Diese entspreche im Übrigen der in Art. 93 Abs. 2 sowie Art. 98 SachsVerf verwendeten Begrifflichkeit. Eine Erstreckung des Haushaltsvorbehalts auch auf solche Gesetze, die den Landeshaushalt nur mittelbar beeinflussen, wäre im Übrigen auch begrifflich leicht möglich gewesen, indem man die Normtexte anderer Verfassungen übernommen hätte. Auch die Entstehungsgeschichte spreche jedenfalls nicht für eine über den Wordaut hinausgehende Auslegung. Die Protokolle des Verfassungsausschusses zeigten vielmehr allein, dass dieser sich um Klarstellung bemühte, über Diäten und Ministergehälter dürfe nicht vom Volk abgestimmt werden. Eine Erörterung der Reichweite der Volksgesetzgebung im Hinblick auf den Haushaltsvorbehalt des Art. 74 der Entwurfsverfassung habe nicht stattgefunden. Entgegen der Auffassung der Staatsregierung könne auch nicht auf eine auf Art. 73 Abs. 4 Weimarer Verfassung (WRV) zurückgehende vermeintliche Verfassungstradition zurückgegriffen werden. Zwar möge es richtig sein, dass der Begriff des Haushaltsplans iSv Art. 73 Abs. 4 WRV in der Staatspraxis der Weimarer Republik weit ausgelegt und dahin verstanden worden sei, dass er auch Gesetzesvorhaben erfasst habe, die den Staatshaushalt wesentlich beeinflussten. Von einer solchen bruchlosen Fortsetzung der Auffassung von einem weiten Haushaltsvorbehalt in der seit 1946 geschaffenen Länderverfassung könne jedoch nicht ohne weiteres ausgegangen werden. Auch die systematische Auslegung des Art. 73 Abs. 1 SächsVerf spreche nicht für eine weite Auslegung des Haushaltsvorbehaltes. Der Umstand, dass neben Haushaltsgesetzen auch Abgaben- und Besoldungsgesetze aufgeführt würden, lasse vielmehr auf eine enge und formale Auslegung des Begriffs „Haushaltsgesetze" schließen. Die Anführung von Abgaben- und Besoldungsgesetzen wäre sinnendeert, wenn als Haushaltsgesetz jedes Gesetz mit mittelbarer finanzieller Auswirkung auf den Haushalt verstanden würde, denn jedes Abgaben- und Besoldungsgesetz habe Auswirkungen auf den Haushalt. Eine solche enge Auslegung befinde sich auch nicht im Widerspruch zu sonstigen verfassungsrechtlichen Bestimmungen. Anders als etwa Art. 50 der Verfassung des Landes SchleswigHolstein enthalte die Sächsische Verfassung keine Vorschrift, wonach zwingend eine Volksgesetzgebung zur Aufstellung und Feststellung des Landeshaushalts unzulässig sei. Ohne den Vorbehalt in Art. 73 Abs. 1 SächsVerf wäre daher jedenfalls eine Volksgesetzgebung über Haushaltsansätze möglich. So wäre ohne den Haushaltsvorbehalt des Art. 73 Abs. 1 SächsVerf jedenfalls denkbar, dass eine Volksinitiative einzelne Haushaltsansätze im laufenden Haushaltsverfahren, beispielsweise durch Einbringung einer Ergänzungsvorlage zum vorgelegten Haushalt, zum Gegenstand habe. Schließlich sei aus systematischen Gründen darauf hinzuweisen, dass der Landesverfassunggeber parlamentarische und Volksgesetzgebung als prinzipiell gleichberechtigte Gesetzgeber in Art. 3 Abs. 2 SächsVerf LVerfGE 13

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anerkannt habe. Das bedeute, dass Erschwerungen und Lästigkeiten, die ein erfolgreicher Volksentscheid mit sich bringe, bei der Haushaltsgesetzgebung hinzunehmen und auszutarieren seien. Finanzielle Auswirkungen von vom Volk beschlossenen Gesetzen auf die Haushaltsfeststellung seien ebenso zu beachten wie haushaltswirksame Vorfestlegungen von Exekutive und Judikative. Auch eine teleologische Auslegung komme zu keinem anderen Ergebnis. Sinn und Zweck der Regelung des Art. 73 Abs. 1 SächsVerf sei die Sicherung der Budgethoheit des Landtages über den Kernbereich des Budgetrechts, die formelle Haushaltsgesetzgebung. Das Budgetrecht des Parlaments beinhalte nur, dass alle Einnahmen und Ausgaben des Staates in den vor Beginn des Rechnungsjahres durch formelles Gesetz festgestellten Haushaltsplan eingestellt werden müssten. Zutreffend möge es im Übrigen sein, dass das Budgetrecht einen Funktionswandel von einem Recht des Parlaments auf Machtbegrenzung und Kontrolle der Regierung hin zu einer umfassenden Steuerungsfunktion erfahren habe, wodurch die Regierung und die sie tragende parlamentarische Mehrheit ihr wirtschafts- und sozialpolitisches Profil erlangten. Hieraus sei — entgegen der Auffassung des Verfassungsgerichts des Landes Brandenburg — jedoch nicht abzuleiten, dass der Schutzgegenstand des Budgetrechts auch das Recht der parlamentarischen Mehrheit und der von ihr getragenen Regierung sei, ihr politisches Programm, das mit der Wahl eine demokratische Legitimation erhalten habe, in Gestalt des Haushaltsplanes zu verwirklichen. Das Budgetrecht möge zwar Steuerungsinstrument eines sich gegebenenfalls wandelnden politischen Programms sein, das heiße jedoch nicht zugleich, dass sich politische Programme unter der Schutzglocke des Budgetrechts des Parlaments befänden. Hätte der Verfassungsgeber politische Programme schützen wollen, hätte er keine Volksinitiativen zulassen dürfen, da jede Volksinitiative politischen Programmen der Regierungsmehrheit zuwiderlaufen könne. Vielmehr verbiete die verfassungsrechtliche Gleichstellung von Volksgesetzgebung und parlamentarischem Gesetzgeber eine weite Auslegung des Haushaltsvorbehalts in Art. 73 Abs. 1 SächsVerf. Im Übrigen erfahre das Budgetrecht des Parlaments nicht nur bei über- und außerplanmäßigen Ausgaben eine maßgebliche Beschränkung. Vielmehr zeige auch Art. 97 SächsVerf eine solche Begrenzung, die offensichtlich darauf hinauslaufe, dass der parlamentarische Gesetzgeber eher vor sich selbst geschützt werden müsse. Denn während das parlamentarische Budgetrecht ursprünglich gegenüber der monarchischen Exekutive erkämpft worden sei und dazu gedient habe, deren Ausgabenfreudigkeit zu begrenzen, sei mittlerweile erkennbar, dass der parlamentarische Gesetzgeber selbst durchaus zur Erhöhung der Staatsausgaben Neigung habe. In den zu den Haushaltsvorbehalten der jeweiligen Länder ergangenen Entscheidungen der Verfassungsgerichte spiegele sich eine elitäre Besorgnis fehlender Sachkenntnis und mangelnder Gemeinwohlfindung des Volksgesetzgebers wider. Dieses Verständnis von einem weitreichenden Finanztabu stelle indes eine deutsche Besonderheit dar. Vielmehr hätten sich in anderen Ländern gerade LVerfGE 13

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Volksbegehren und Volksentscheide über Steuergesetze und andere Gesetze, die mit erheblichen finanziellen Auswirkungen verbunden gewesen seien, als wirksame Eindämmung stetig zunehmender Staatsausgaben erwiesen. Auch die verschiedentlich geäußerte Befürchtung, Minderheiten könnten sich durch Volksinitiativen Sondervorteile verschaffen und insoweit das Instrument der Volksgesetzgebung missbrauchen, sei nicht stichhaltig. Schon das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg habe zu Recht darauf hingewiesen, dass spätestens im Stadium des Volksentscheides den Stimmberechtigten das Bewusstsein dafür vermittelt werde, dass Wohltaten für einzelne Gruppen durch Einnahmeerhöhung oder -abstriche in anderen Bereichen finanziert werden müssten. Aus teleologischer Sicht sei Art. 73 SächsVerf vielmehr dahingehend auszulegen, dass der Entscheidung der Sächsischen Verfassung in Art. 3 Abs. 2 für die direkte Demokratie zur Wirksamkeit zu verhelfen sei. Schließlich seien nur wenige Gegenstände der Landespolitik vorstellbar, die nicht in der einen oder anderen Weise finanzwirksam seien. Insbesondere im Bereich des Schulwesens stellten Gesetzesvorhaben, die nicht in irgendeiner Form haushaltswirksam seien, die Ausnahme dar. Durch eine faktische Beschränkung der Volksgesetzgebung auf Fragen der Kommunalverfassung oder staatlicher Eingriffsbefugnisse in Sicherheitsrechte müsse das Interesse an direkter Demokratie erlahmen. Schließlich sei die Ausdehnung des Haushaltsvorbehalts über den Kernbereich der formellen Haushaltsgesetzgebung hinaus auch nicht deshalb geboten, um den parlamentarischen Gesetzgeber zu schützen. Dieser könne vielmehr jederzeit ein derogierendes Gesetz erlassen. Das könne praktisch einengend und politisch schwierig sein. Die Budgethoheit werde jedoch nicht angetastet. Auch müsse das Verfahren der Volksgesetzgebung berücksichtigt werden. Schließlich werde dem parlamentarischen Gesetzgeber durch einen Volksantrag lediglich ein Gesetzentwurf zur eigenen Befassung zugeleitet. Dem Landtag stehe es frei, den Volksantrag dadurch zu erledigen, dass er ihm ohne Änderung zustimme oder die Voraussetzung für die Einleitung eines Volksbegehrens durch Ablehnung des Volksantrages auslöse. Ebenso bleibe es dem Landtag unbenommen, sich die ihm zugeleitete Gesetzesvorlage in Teilen zu eigen zu machen oder abzuändern und wie einem eigenen Gesetzentwurf zuzustimmen. Die Erfolgsaussichten eines daran anschließenden Volksbegehrens seien umso geringer, je weiter der Landtag der Volksinitiative entgegenkomme. Aber auch wenn man im Ergebnis der weiten Interpretation des Art. 73 Abs. 1 SächsVerf folgen wolle, ergebe sich letztlich nichts anderes. Nach der vom Verfassungsgericht des Landes Brandenburg gefundenen Definition wäre eine Volksgesetzgebung dann als unzulässig zu behandeln, wenn sie zu gewichtigen staatlichen Ausgaben führe und sich unter Berücksichtigung der Auswirkung auf das Gesamtgefüge des Haushalts und weiterer Umstände des Falles als eine wesentliche Beeinträchtigung des Budgetrechtes des Landtages darstelle. Kaum eine Aussagekraft besitze allerdings in diesem Zusammenhang die alleinige prozentuale Ermitdung der Mehrbelastung im Vergleich zum Gesamtetat. Diese LVerfGE 13

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Zahlen sagten nichts darüber aus, ob die Mehrbelastung durch zur Verfügung stehende freie Deckungsmittel aufgefangen werde. Für die Gesamtbetrachtung relevanter sei der Umfang der Inanspruchnahme der „freien Manövriermasse" innerhalb des Gesamthaushalts. So habe das Landesverfassungsgericht in Brandenburg selbst bei einer Bindung der „freien Spitze" durch die dortige Kita-Volksinitiative von zunächst 12,3% und später 17,4% sich nicht veranlasst gesehen, schon aus diesem Grunde die Volksinitiative unter den Haushaltsvorbehalt zu stellen. Insoweit sei darauf hinzuweisen, dass die von der Sächsischen Staatsregierung berechnete Belastung der „freien Spitze" an allgemeinen Deckungsmitteln von 4,1 Mrd. DM durch den vorgelegten Gesetzentwurf der Volksinitiative in Höhe von 9,72% noch unter der prozentualen Belastung der im Land Brandenburg vorhandenen „freien Spitze" zurückbleibe. Insoweit ständen dem Haushaltsgesetzgeber weiterhin 90,28% aus freien Mitteln zur Verfügung. Es erscheine geradezu paradox, von einer Beeinträchtigung der Freiheit des demokratisch gewählten Parlaments in Bezug auf eine Beanspruchung der geradezu für unvorhersehbare Ausgaben vorgesehenen „freien Spitze" zu sprechen. Insofern habe der parlamentarische Gesetzgeber durch die Festschreibung freier Deckungsmittel gerade seinen Willen bekundet, diese Mittel für nicht vorhergesehene Eventualitäten zur Verfügung zu stellen. Im Übrigen sei die Berechnung der vom Antragsteller als Anlage zum Schriftsatz vom 12.12.2001 vorgelegten Berechnung unzulänglich. Sowohl der Antragsteller als auch die Staatsregierung würden den Begriff der weiterführenden Schulen nach § 35a SchulG-E missverstehen, indem sie meinten, auch Berufsund Förderschulen fielen hierunter. Nach dem Willen der Initiatoren des Volksantrages solle sich diese Norm allein auf die im Anschluss an den Besuch von Grundschulen und weiterführenden „allgemeinbildenden" Schulen erstrecken. Im Unterschied dazu seien Berufsschulen „berufsbildende" Schulen. Förderschulen schlössen sich auch nicht an Grundschulen an. Auf einen solchen Bestimmungsgehalt deute mittelbar auch die Begründung zum vorliegenden Gesetzentwurf hin, der zufolge die Initiatoren mit dem Gesetzentwurf auch auf die Erhaltung eines möglichen flächendeckenden Schulnetzes in Sachsen abstellten. Im Übrigen werde von der Staatsregierung und im Anschluss hieran auch von dem Antragsteller pauschal behauptet, an Grundschulen bestünde ein Lehrermehrbedarf in Höhe von 35%, an Mittelschulen und Gymnasien in Höhe von je 25%. Die von der Staatsregierung angefertigte Erläuterung vom 23.11.2001 verliere sich gerade zu diesem Punkt in reinen Vermutungen. In den Raum gestellt werde ein Absinken der Klassenfrequenz im Grundschulbereich von derzeit 20 Schülern auf 15 Schüler, im Mittelschulbereich und Gymnasialbereich von derzeit 25 auf 20 Schüler. Ohne dies im Einzelnen verifizieren zu können, werde behauptet, das Absinken der Klassenfrequenz beruhe auf „Erfahrungen, die auf der Grundlage der bisher geltenden Bandbreite für die Schülerzahlen der Klasse gewonnen werden könnten". Darüber hinaus habe sich gezeigt, dass die bisher maßgeblichen LVerfGE 13

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Untergrenzen von den Schulträgern häufig ausgeschöpft würden. Es möge zutreffend sein, dass es derzeit einen Trend gebe, Klassen unterhalb der Mindestschülerzahl oder des Klassenrichtwertes zu bilden. Dies habe natürlich etwas mit der jetzigen Höhe der Richtwerte zu tun, und es könne nicht unterstellt werden, dass dieser Trend auch bei niedrigeren Richtwerten anhalte. Selbstverständlich käme es bei der Umsetzung des Gesetzentwurfes zu einem eher leichten Absinken der Klassenfrequenz. Dies wäre jedoch auf die Bildung neuer Klassen zurückzuführen, nicht aber auf eine darüber hinaus unterstellte Tendenz zu weiterer Verkleinerung der Klassen. Auch sei die Auffassung der Staatsregierung in der ergänzenden Stellungnahme vom 23.11.2001 zur Frage, ob der sog. Schulkompromiss, der die Rückführung der Lehrerstellen bis höchstens 70% des Niveaus des Schuljahres 2000/2001 bei zu erwartendem Schülerrückgang auf bis zu 50% kompensatorischen Einfluss auf einen errechneten Stellenmehrbedarf habe, durchaus zweifelhaft. Es sei sehr wahrscheinlich, dass die an sich „freien" Lehrer bei erfolgreichem Volksentscheid für die Unterrichtung der zusätzlich entstandenen Klassen eingesetzt würden, was rechnerisch eine Reduzierung oder gar Aufzehrung des durch den Volksantrag herbeigeführten Lehrermehrbedarfs bewirken würde. Ferner fehle den Berechnungen der Staatsregierung und des Antragstellers eine Berücksichtigung ersparter Aufwendungen für Altersteilzeitregelungen und Abfindungen für das nach dem Schulkompromiss vorgesehene Ausscheiden von Lehrkräften. Im Übrigen sei die Annahme, der vorgelegte Gesetzentwurf könne nicht kostenneutral umgesetzt werden, unzutreffend. 4. Der Sächsische Staatsminister der Justiz hält den Volksantrag „Zukunft braucht Schule" für verfassungswidrig. Er verweist auf ein dazu erstattetes Gutachten und führt ergänzend aus, der nach Art. 73 Abs. 1 SächsVerf geltende Haushaltsvorbehalt diene dem Schutz der Budgethoheit des Parlaments, eines wesentlichen Elements der rechtsstaatlichen Demokratie. Nach Art. 93 Abs. 1 SächsVerf seien alle Einnahmen und Ausgaben des Freistaates in den Haushaltsplan einzustellen, der in Einnahmen und Ausgaben auszugleichen sei. Die Feststellung des Haushaltsplanes im Haushaltsgesetz sei gem. Art. 93 Abs. 2 SächsVerf dem parlamentarischen Gesetzgeber zugewiesen. Dieses Budgetrecht des Parlaments, das mit der unteilbaren Verantwortung für das Gleichgewicht des Haushaltes und die aufgabengerechte Zuweisung der verfügbaren Mittel verbunden sei, werde in unzulässiger Weise geschmälert, wenn es zulässig sei, im Wege der Volksgesetzgebung ohne Mitwirkung des Parlaments das Gesamtbild des Haushaltes und des Volumens der aufzubringenden Staatsausgaben wesentlich zu verändern. In einem demokratischen Staatswesen mit einer pluralistischen Gesellschaft müsse ein Ausgleich zwischen den Interessen einzelner Gruppen und dem Gemeininteresse gefunden werden. Diese Aufgabe sei nach der Verfassung des Freistaates Sachsen dem Parlament als der unmittelbar demokratisch legitimierten Institution zugewiesen. Der Haushaltsvorbehalt des Art. 73 Abs. 1 SächsVerf sei außerdem dadurch gerechtfertigt, dass haushaltswirksame Entscheidungen komLVerfGE 13

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plexer Natur seien, die ein plebiszitäres „Ja" oder „Nein" weitgehend ausschlössen. Haushaltswirksame Einnahmen und Ausgaben seien in ein sachgerechtes Verhältnis zu setzen, dafür sei die Volksgesetzgebung letztlich wenig geeignet. Dies entspreche im Übrigen einer auf Art. 73 Abs. 4 WRV zurückgehenden deutschen Verfassungstradition, vom Haushaltsplanvorbehalt nicht nur den Haushaltsplan oder das Haushaltsgesetz im formellen Sinne umfasst zu sehen, sondern auch sonstige Regelungen, die das Gesamtbild des Haushalts und das Volumen der aufzubringenden Staatsaufgaben wesentlich veränderten. Hiervon gehe — bei im Wortlaut durchaus differierenden Regelungen in den einzelnen Landesverfassungen — übereinstimmend die Rechtsprechung sowohl des Bundesverfassungsgerichtes als auch der Landesverfassungsgerichte aus. Selbst wenn der Wordaut von Art. 73 Abs. 1 SächsVerf auch die Auslegung zulassen sollte, der Begriff „Haushaltsgesetze" sei eng im formellen Sinne zu verstehen, fänden sich keine Anhaltspunkte in den Protokollen zur Entstehungsgeschichte der Sächsischen Verfassung, dass mit dieser Formulierung die Absicht verbunden gewesen sei, von der dargestellten Verfassungstradition abzuweichen. Nach diesen Maßstäben verletze der dem Volksantrag zugrunde liegende Gesetzentwurf Art. 73 Abs. 1 SächsVerf. Er löse erhebliche staatliche Mehrausgaben aus. Er beeinflusse die Haushaltsplanung wesentlich, beeinträchtige das Gleichgewicht des gesamten Haushalts und zwinge zu einer Neuordnung des Gesamtgefüges. Die entstehenden Mehrkosten seien nicht nur eine mittelbare Nebenwirkung dieses Gesetzentwurfes. Vielmehr sei der Volksantrag gerade darauf ausgerichtet, unmittelbar auf die Zahl der Lehrerstellen und damit die Haushaltsplanung des Freistaates Sachsen Einfluss zu nehmen. Diese Mehrkosten würden durch die in Art. 1 Nr. 6 des Gesetzesentwurfs vorgesehenen Regelungen zur Mindest- und Maximalschülerzahl verursacht. Diese würden im Falle ihrer Wirksamkeit dazu führen, dass in erheblichem Umfang neue Klassen zu bilden seien. Bislang liege nach den insbesondere administrativen Vorschriften der Klassenteiler bei 33 Schülern, in Ausnahmefällen auch darunter. Nach den Vorgaben des Volksantrages käme dagegen der Klassenteiler 26 Schüler zur Anwendung. Neben der angestrebten Verringerung des Klassenteilers führe aber vor allem die nach dem Gesetzentwurf des Volksantrages vorgesehene Senkung der Mindestschülerzahl zu einer erheblichen Zahl von neu zu bildenden Klassen. Es habe sich in der bisherigen Praxis gezeigt, dass die Untergrenzen, die bislang in der maßgeblichen Verwaltungsvorschrift über Bedarf und Schuljahresablauf näher geregelt seien, von den Schulträgern häufig ausgeschöpft worden seien. Der Schulaufsicht würde bei einer nunmehr gesetzlich festgeschriebenen Mindestschülerzahl die Möglichkeit genommen, die Einrichtung oder Weiterführung von Schulen, die diese Mindestschülerzahl erreichten, zu untersagen. Vielmehr wäre der Freistaat verpflichtet, das notwendige Lehrpersonal zur Absicherung des Unterrichts bereitzustellen. Darüber hinaus ergäben sich Auswirkungen auf die Klassenfrequenzen. In den Grundschulen werde bei der bisher geltenden LVerfGE 13

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Bandbreite von 15 bis 32 Schülern je Klasse eine durchschnittliche Klassenfrequenz von 19,1 erreicht. Die Klassenfrequenz befinde sich damit im untersten Viertel der Bandbreite. Würde diese Bandbreite nach unten verschoben — wie im Volksantrag vorgesehen — und insbesondere im oberen Teil stark herabgesetzt, wäre lediglich noch eine durchschnittliche Klassenfrequenz von 14 zu erwarten. Die gleichen Erwägungen hätten für Mittelschulen zu gelten, wobei bei der bisher geltenden Bandbreite von 16 bis 32 Schülern je Klasse eine Klassenfrequenz von 24 erreicht worden sei. Derselbe Effekt wäre für Gymnasien zu erwarten, bei denen derzeit eine Klassenfrequenz von 25 zu verzeichnen gewesen sei. In beiden Schularten wäre mit einer durchschnittlichen Klassenfrequenz dann von 20 Schülern zu rechnen. Darüber hinaus seien die künftigen Schülerzahlen und ihre Entwicklung sowie die Verteilung auf die einzelnen Schularten von Bedeutung. Die hierzu angestellten Prognosen des Staatsministeriums für Kultus beruhten auf einem Modell, das die Schülerströme in sächsischen Schulsystemen mit seinen verschiedenen Schularten, Verzweigungen, Übergangs- und Abschlussmöglichkeiten widerspiegele. Die Berechnung erfolge in Abbildung der Schülerströme. Dabei würden die Schülerzahlen getrennt nach Schularten und Jahrgangsstufen unter Benutzung differenzierter Eintritts-, Wiederholer-, Übergangs- und Abgangsquoten Jahr für Jahr fortgerechnet. Aus der Anzahl zusätzlich zu bildender Klassen, die aufgrund der Senkung der Klassenfrequenz und der Entwicklung der Schülerzahlen zu erwarten wäre, lasse sich dann der zusätzliche Lehrerbedarf ermitteln. Dies würde im Schuljahr 2002/2003 dazu fuhren, dass rd. 4.800 Lehrer neu eingestellt werden müssten. Für die Folgejahre bis zum Jahr 2011 ergebe sich ein Bedarf von jährlich zwischen rd. 3.600 und 4.400 zusätzlichen Lehrerstellen. Die zusätzlichen Personalkosten betrügen danach allein im Schuljahr 2002/2003 insgesamt über 256 Mio. EUR. In den Folgejahren würden jährliche Mehrkosten in Höhe von 96 bis 224 Mio. EUR hervorgerufen. Die entstehenden Mehrkosten berührten die Budgethoheit des Parlaments, unabhängig davon, ob man sie ins Verhältnis zum Haushalt des Freistaates Sachsen, dem Haushalt des Staatsministeriums für Kultus oder der „freien Spitze" von im Gesamthaushalt zur Verfügung stehenden Mitteln setze. Sie lösten damit den Haushaltsvorbehalt des Art. 73 Abs. 1 SächsVerf aus. Für das Schuljahr 2002/2003 ergebe sich ein Anteil von rd. 1,6% und für die weiteren Schuljahre Anteile zwischen 0,6 und 1,4% am Haushalt. Setze man die Beträge zum Haushalt des Staatsministeriums für Kultus im Jahre 2002 in der Größenordnung von 2,2 Mrd. EUR ins Verhältnis, gelange man zu einem Anteil im Schuljahr 2002/ 2003 von knapp 15% und in den Folgejahren zwischen 4,2 und 11%. Ähnlich sei das Verhältnis zur sog. „freien Spitze", also der nicht bereits gesetzlich oder anderweitig gebundenen Mittel im Jahre 2002. Die „freie Spitze" belaufe sich im Jahre 2002 auf rd. 2,1 Mrd. EUR. Im Schuljahr 2002 betrüge das Verhältnis der durch den Gesetzentwurf entstehenden Mehrbelastung zur „freien Spitze" rd. 12%, in den Folgejahren ergebe sich dann eine Inanspruchnahme zwischen 4 und 10%. LVerfGE 13

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Daran werde deutlich, dass das Budgetrecht des Parlaments wesentlich beeinträchtigt werde. Der haushaltspolitische Spielraum des Landtages werde dadurch wesentlich eingeengt. Die dargestellten Mehrkosten würden nicht dadurch kompensiert, dass in Art. 1 Nr. 1 und Nr. 4 des Gesetzentwurfs, der dem Volksantrag zugrunde liege, die Möglichkeit jahrgangsübergreifenden Unterrichts und der Einrichtung von Schulverbünden vorgesehen werde. Eine kompensatorische Wirkung könne nicht angenommen und schon gar nicht beziffert werden. Weder enthalte der Gesetzentwurf hinreichend genaue Angaben zur Organisation des jahrgangsübergreifenden Unterrichts, noch sei vorhersehbar, ob und in welchem Umfang von dieser Möglichkeit tatsächlich Gebrauch gemacht werde. Ebenso wenig ergebe sich ein solcher Effekt über die vorgesehene Möglichkeit der Einrichtung von Schulverbünden. Auch wenn es in nennenswertem Umfang zur Bildung von Verbünden käme, wäre deren Einrichtung nicht mit einer Minderung des Personalbedarfs, sondern mit einem Stellenmehrbedarf verbunden. Hierdurch entstehe nämlich ein zusätzlicher Zeitaufwand für das Lehrpersonal durch ständiges Pendeln. Auch das Vorhalten von bestimmten Unterrichtsangeboten an beiden Standorten des Schulverbundes sei mit einem Personalmehrbedarf verbunden. Dies entspreche auch der Rechtsprechung des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts. Die aus der Einstellung zusätzlicher Lehrer resultierenden Mehreinnahmen aus direkten oder indirekten Steuern hätten keine nennenswerten kompensatorischen Wirkungen gegenüber den verursachten Personalmehrkosten. Zwar würden die zusätzlichen Einstellungen von 4.822 Lehrern im Schuljahr 2002/2003 zu Mehreinnahmen bei der Einkommensteuer in der Größenordnung von 31 Mio. EUR führen. Diese Mehreinnahmen würden jedoch durch Mindereinnahmen des Freistaates im Rahmen des Länderfinanzausgleichs nahezu vollständig kompensiert. Ein ausgabeninduziertes überproportionales Wachstum der Steuereinnahmen in einem Bundesland werde durch den Länderfinanzausgleich weitgehend abgeschöpft. Insoweit ergebe sich letztlich nur ein Betrag von 2,17 Mio. EUR als Mehreinnahmen für den Landeshaushalt. Lediglich 0,9% des Bruttokostenmehrbedarfs könnten somit durch die prognostizierten zusätzlichen Mehreinnahmen gedeckt werden. Im Übrigen setze sich der eingereichte Volksantrag bewusst in Widerspruch zu bereits getroffenen haushaltspolitischen Grundsatzentscheidungen des Parlaments. Der parlamentarische Gesetzgeber habe sich in den Haushaltsplänen für die Jahre 1999 und 2000 sowie für die Jahre 2001 und 2002 entschlossen, zur Sicherung und Qualitätsverbesserung des Unterrichts Haushaltsmittel über den eigentlichen Bedarf hinaus bereitzustellen. Er folge damit der mittelfristigen Finanzplanung des Freistaates 2000 bis 2004, in die der sog. „Schulkompromiss" Eingang gefunden habe. Nach dem Schulkompromiss sollten auf der Grundlage der Prognosen aus dem Jahre 1999 für die Jahre 2001/2002 bis 2010/2011 jährlich etwa zwischen 1.100 und 3.500 Stellen zusätzlich zu der Stellenzahl, die sich nach gegenwärtiger Rechtslage ergebe, bereitgestellt werden. Trotz des zu erwartenden SchüLVerfGE 13

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lerrückgangs auf bis zu 50% sollte die Zahl der Lehrerstellen auf höchstens 70% des Niveaus des Schuljahres 2000/2001 zurückgeführt werden. Die damit zusätzlich zur Verfügung stehenden Stellen sollten für die Senkung des Unterrichtsausfalls im Grundschulbereich, für die möglichst weitgehende Ausreichung des Ergänzungsbereichs und für die Einführung von sog. Kontaktstunden ergänzt werden. Ihr Zweck liege nicht in dem Erhalt kleinster Schulstandorte mit sehr kleinen Klassen. Mit der Übernahme dieses Schulkompromisses in zwei Doppelhaushalte habe der Landesgesetzgeber eine bewusste längerfristige haushaltspolitische Entscheidung getroffen. Dabei habe er einerseits die Verbesserung der Unterrichtsqualität, andererseits aber auch die Fortführung der Haushaltskonsolidierung im Blick gehabt. Dieser gefundene Ausgleich werde durch die Initiative aus dem Gleichgewicht gebracht. Außerdem spreche viel dafür, dass die Art. 1 Nr. 1 und 4 des Gesetzentwurfes mit Art. 103 Abs. 1 SächsVerf nicht vereinbar seien. Mit § 6 und § 7 SchulG-E solle die Entscheidung darüber, ob Mittelschulen einzügig oder Gymnasien zweizügig durchgeführt werden, auf die Schulträger übertragen werden. Damit würden wesentliche Entscheidungen über die Gestaltung der Schule auf den Schulträger übertragen. Nach § 5 Abs. 2 SchulG-E solle in der Grundschule auf Beschluss der Schulkonferenz jahrgangsübergreifender Unterricht möglich sein. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gehörten jedoch die organisatorische Gliederung der Schule und die strukturellen Fesdegungen des Ausbildungssystems, das inhaltliche und didaktische Programm der Lernvorgänge und das Setzen der Lernziele sowie die Entscheidung darüber, ob und inwieweit diese Ziele vom Schüler erreicht worden seien, zum staatlichen Verantwortungsbereich. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof habe in seiner Entscheidung vom 17.11.1994 zu der mit Art. 103 SächsVerf vergleichbaren Regelung in Art. 130 BayVerf den Staat in der grundsätzlichen Pflicht gesehen, die Kompetenz, die durch die Zuerkennung einer staatlichen Schulaufsicht eingeräumt sei, auch wahrzunehmen. Die Verantwortlichkeit des für das Schulwesen zuständigen Ministers gegenüber dem Landesparlament dürfe durch die Selbstverwaltung der Schule nicht ausgehöhlt werden. Zu der organisatorischen Gliederung der Schule sei aber auch die Frage zu rechnen, ob der Unterricht jahrgangsweise oder jahrgangsübergreifend durchgeführt werde. Gleiches gelte für die Fesdegung der Eckwerte für die Klassenstärke sowie die Bestimmung der zur Erreichung der Lernziele erforderlichen Züge der Schule. II. Der Volksantrag „Zukunft braucht Schule" ist zulässig. Das Rechtsschutzbedürfnis für den Antrag auf Prüfung der Verfassungsmäßigkeit ist nicht schon deswegen entfallen, weil das Volksgesetzgebungsverfahren gem. Art. 72 Abs. 1 SächsVerf mit der Ablehnung des Volksantrags durch den Landtag bereits die zweite Stufe erreicht hat (dazu SächsVerfGH JbSächsOVG 6, LVerfGE 13

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69, 71 f). Diese Entscheidung des Sächsischen Verfassungsgerichtshofs bezieht sich allein auf Fälle fehlender formeller Zulässigkeit des Antrages. Der Volksantrag verstößt auch nicht gegen die Verfassung des Freistaates Sachsen, insbesondere betrifft er kein Haushaltsgesetz i.S.v. Art. 73 Abs. 1 SächsVerf. 1. Der Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen ist nach Art. 71 Abs. 2 S. 3 SachsVerf auf Antrag des Landtagspräsidenten berufen, über die Verfassungswidrigkeit eines Volksantrages zu entscheiden. Maßstab der Entscheidung sind dabei allein die Vorschriften der Sächsischen Verfassung. a) Alle Staatsgewalt geht im Freistaat Sachsen gem. Art. 3 Abs. 1 SächsVerf vom Volk aus. Es übt sie in Wahlen und Abstimmungen sowie durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung aus. Die Gesetzgebung steht dabei dem Landtag oder unmittelbar dem Volk zu (Art. 3 Abs. 2 SächsVerf). Mit der Aufnahme der Volksgesetzgebung hat der Verfassungsgeber sich dafür entschieden, dem Landtag den Volksgesetzgeber unmittelbar und gleichberechtigt an die Seite zu stellen (SächsVerfGH JbSächsOVG 6, 1998, 40, 42; für die Bayerische Verfassung ähnlich BayVerfGH NVwZ-RR 2000, 401, 402; BayVerfGHE 29, 244, 265). Es liegt in der Konsequenz dieser Entscheidung, dass der Verfassunggeber nicht nur in Art. 3 Abs. 2 SächsVerf beide Formen der Gesetzgebung ausdrücklich und ohne Vorrangentscheidung, sondern auch in Art. 70 Abs. 1 SächsVerf bei dem Gesetzesinitiativrecht ausdrücklich den vom Volk eingebrachten Volksantrag nennt. Damit hat der Verfassunggeber zugleich das repräsentative parlamentarische Regierungssystem, wie es etwa die grundgesetzliche Ordnung kennzeichnet, plebiszitär modifiziert. Ein Legitimationsvorrang des Parlaments, wie er für die grundgesetzliche Ordnung verbreitet angenommen wird (Böckenförde HStR Bd. I § 22 Rn. 16) besteht damit für den Bereich der Gesetzgebung in Sachsen nicht. Der Verfassunggeber hat bewusst ein Spannungsverhältnis zwischen parlamentarischer und Volksgesetzgebung institutionalisiert, das nicht durch einen Vorrang des einen oder anderen — soweit nicht durch die Verfassung vorgegeben — interpretatorisch beseitigt werden kann (BayVerfGH NVwZ-RR 2000, 401, 402), ohne die Entscheidung für ein Volksgesetzgebungsverfahren um ihre Bedeutung zu bringen. Mag auch die Volksgesetzgebung schon aufgrund ihres Verfahrens faktisch die Ausnahme darstellen (zur Zahl der Volksgesetzgebungsverfahren und ihrer Analyse vgl. B.M. Weixner Direkte Demokratie in den Bundesländern, 2002, S. 207 ff), eine normative Nachrangigkeit ergibt sich daraus nicht (vgl. aber BayVerfGH BayVBl 2000, 397, 401, NVwZ-RR 2000, 401, 402). Ebenso wenig begründet das verfassungspolitische Motiv, Defizite der parlamentarischen Gesetzgebung, wenn es sie denn gibt, zu kompensieren, eine bloße Ergänzungsfunktion (a.A. BayVerfGH, NVwZ-RR 2000, 401, 402). Das Volksgesetzgebungsverfahren ist auch kein Instrument, das vor allem der Durchsetzung politischer Anliegen LVerfGE 13

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mehr oder weniger randständiger Minderheiten dient, die sich im parlamentarischen Prozess nicht ausreichend repräsentiert fühlen (vgl. dazu BremStGH, NVwZ-RR 2001, 1, 2). Es eröffnet dem Volk in seiner mehrstufigen Anlage vielmehr die Möglichkeit, auf den parlamentarischen Gesetzgeber mit Sachanliegen Einfluss zu nehmen und — für den Fall als unzureichend angesehener Reaktion eine eigene Entscheidung in einer Sachfrage herbeizuführen. aa) Beide Formen der Gesetzgebung sind nicht ohne Einfluss aufeinander. Hat einerseits der parlamentarische Gesetzgeber schon durch das Verfahren die Möglichkeit, sich die aus der Mitte des Volkes entstehenden Anliegen zu eigen zu machen, so können sich beide in der Sache aber auch wechselseitig korrigieren. Der Volksgesetzgeber kann außerhalb der Wahlen eigene Prioritäten setzen, aber auch Veränderungen oder gar Aufhebungen der Entscheidungen des parlamentarischen Gesetzgebers herbeiführen (zu der Kontrollfunktion bereits Carl Schmitt Volksentscheid und Volksbegehren, 1927, S. 9). Ebenso kann aber der Volksgesetzgeber durch den parlamentarischen Gesetzgeber korrigiert werden (vgl. auch BayVerfGH, NVwZ 2000, 401, 402). Gesetze der Volksgesetzgebung haben keinen anderen Rang als die des parlamentarischen Gesetzgebers. bb) Etwaige Reibungsverluste, die sich aus diesem Spannungsverhältnis ergeben mögen, sind von der Verfassung gewollt und damit auch hinzunehmen. Sie können nicht Anlass sein, das Volksgesetzgebungsverfahren interpretatorisch zurückzuschneiden im Interesse der ungestörten Funktion des parlamentarischen Regierungssystems. Dieses ist durch das Volksgesetzgebungsverfahren mit dem Ziel seiner Beeinflussung gerade modifiziert worden. Insofern kann das parlamentarische Regierungssystem für den Bereich der Gesetzgebung nicht den unveränderten Gravitationspunkt der Verfassungsinterpretation bilden, auf den hin das Institut des Volksgesetzgebungsverfahrens gleichsam abzustimmen ist. Das hindert eine sachgerechte Zuordnung beider Verfahren nicht, wo sie um der Effektivität beider Instrumente und ihrer Einpassung in die Verfassungsordnung willen geboten ist. cc) Es liegt in der Konsequenz dieser Modifikation des parlamentarischen Systems, dass die parlamentarische Mehrheit ihr politisches Programm, wie es etwa in dem Haushaltsplan seinen budgetären Ausdruck finden mag, nicht mehr notwendig ungebrochen durchführen kann. Der Sinn des Volksgesetzgebungsrechts würde verkannt, wollte man unter Berufung auf einen Legitimationsvorrang des parlamentarischen Gesetzgebers diesem und der von ihm getragenen Regierung eine im Wesentlichen vom Volksgesetzgeber ungestörte Durchsetzung seiner politischen Programme — etwa in Gestalt einer bewussten haushaltspolitischen Entscheidung des Parlaments — zuerkennen zu wollen (a.A. Verfassungsgericht Brandenburg, LKV 2002, 77, 83; in der Tendenz auch im Hinblick auf die bloße Ergänzungsfunktion des Volksgesetzgebungsverfahrens BayVerfGH, NVwZ-RR 2000, 401, 403). LVerfGE 13

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dd) Dies betrifft auch - im Rahmen noch zu erörternder verfassungsrechtlicher Grenzen (unten 2.) — das Budgetrecht in seinen inhaltlichen Prioritätssetzungen. Es ist das verfassungsrechtlich verbürgte Recht ebenso wie der Sinn der Volksgesetzgebung, andere Prioritäten in der Sache zu setzen als der parlamentarische Gesetzgeber, die dann selbstverständlich auch haushaltsmäßige Konsequenzen haben. Dagegen kann das parlamentarische Budgetrecht als solches nicht in Anschlag gebracht werden. Es liegt in der Logik der auf Sachfragen bezogenen Volksgesetzgebung, dass sie materielle Vorgaben für den Haushaltsgesetzgeber schafft; anders ist Volksgesetzgebung angesichts der finanziellen Folgewirkungen nahezu aller Gesetze ernsthaft nicht denkbar (so im Ansatz auch BayVerfGHE 29,244,269; BremStGH, NVwZ 1998, 388,390). b) Das Recht des Volksgesetzgebers besteht verfassungsrechtlich allerdings nicht unbeschränkt, es wird vielmehr durch Art. 73 Abs. 1 SächsVerf begrenzt. Danach finden über Abgaben-, Besoldungs- und Haushaltsgesetze Volksantrag, Volksbegehren und Volksentscheid nicht statt. Damit lehnt sich die Sächsische Verfassung an die Formulierung in Art. 73 Abs. 4 WRV an, verwendet allerdings insofern einen engeren Begriff, als nicht vom Haushaltsplan, sondern, ähnlich wie in Art. 60 Abs. 6 Verf BW, auf den Begriff der Haushaltsgesetze abgestellt wird. Im Grundsatz nimmt die Verfassung damit einen in der Entwicklung des Instituts der Volksgesetzgebung in deutschen Verfassungen weitgehend unstrittigen Vorbehalt auf: Den Ausschluss der Volksgesetzgebung aus dem Verfahren der Haushaltsplanerstellung und der Haushaltsgesetzgebung. Offen ist allerdings, ob und in welchem Umfang darüber hinaus dieser Vorbehalt auch auf finanzwirksame Gesetze zu erstrecken ist, ob also die Auswirkungen der Sachgesetze in finanzieller Hinsicht als Vorgaben für den Haushaltsgesetzgeber einer verfassungsrechtlichen Begrenzung unterliegen. Im Zentrum steht dabei für Art. 73 Abs. 1 SächsVerf der Begriff der Haushaltsgesetze. aa) Von seinem Wortlaut her verwendet die Verfassung einen Terminus technicus, indem sie nicht — wie andere Landesverfassungen — auf finanzwirksame Gesetze, Finanzgesetze, Initiativen über den Landeshaushalt oder Haushaltsplan abstellt, sondern auf Gesetze, deren Gegenstand der Haushalt des Landes ist. In diesem Sinne verwendet die Sächsische Verfassung den Begriff auch in Art. 93 Abs. 2, 3 SächsVerf und - vergleichbar - in Art. 98 Abs. 1 SächsVerf. Dies weist auf einen engen Anwendungsbereich der Vorschriften hin, begrenzt auf Gesetze, deren Gegenstand der Haushalt ist. Soweit die Verfassving den Begriff der Haushaltsgesetze im Plural verwendet, ergibt sich daraus nichts anderes. Selbst wenn dies nicht nur der sprachlichen Konsequenz der Aufzählung geschuldet sein sollte, fallen darunter zwanglos mehrere Haushaltsgesetze. Die Entstehungsgeschichte der Vorschrift kann nicht erweiternd dafür in Anspruch genommen werden, der Verfassunggeber habe sich in eine Verfassungstradition stellen wollen, die - beginnend mit Art. 73 Abs. 4 WRV - Finanz-

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klausein mehr oder weniger extensiv im Sinne finanzwirksamer Gesetze interpretierte. Weder besteht eine solche unumstrittene Tradition, noch gibt es einen Anhaltspunkt dafür, dass der Verfassunggeber diese wirkliche oder vermeintliche Tradition sich habe zu eigen machen wollen. Art. 73 Abs. 4 WRV schloss das Verfahren der Volksgesetzgebung nicht aus, sondern überließ es dem Reichspräsidenten, über die genannten Fragen eine Abstimmung herbeizuführen. Die Bindung an die Kompetenz des Reichspräsidenten hatte dabei zwar eine Begrenzung des Rechts der Volksgesetzgebung zum Ziel, sollte aber zugleich sicherstellen, dass das Volk von der Gesetzgebung in diesem für wichtig erachteten Bereich nicht vollständig von der Volksgesetzgebung ausgeschlossen wird (vgl. dazu Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 336, Anlage zu den Stenographischen Berichten Nr. 391, Bericht des Verfassungsausschusses, Berlin 1920, S. 310 ff). Es waren danach selbstverständlich Abstimmungen über den Haushaltsplan möglich. Die Vorschrift steht daher in einem anderen verfassungsrechtlichen Kontext und vermag die grundsätzlichen Bedenken gegen eine Volksgesetzgebung zu diesem Thema nicht zu stützen. Dies entspricht der Genese dieser Vorschrift wie auch der Vorgängervorschrift des § 23 Abs. 2 des Gesetzes die Badische Verfassung betreffend vom 21.3.1919 (dazu im Einzelnen auch Waldhof Finanzwirtschaftliche Entscheidungen in der Demokratie, in: M. Bertschi u.a. (Hrsg.), Demokratie und Freiheit, 1999, S. 180, 191 ff). Vor allem ist gegenüber der zeitweilig zur Nivellierung der unterschiedlichen Tatbestände für den Ausschluss neigenden Staatspraxis und ihrer heutigen Rezeption darauf hinzuweisen, dass die Aufnahme der Trias von Ausschlusstatbeständen — Abgaben-, Besoldungsgesetze und Haushaltsplan — einer differenzierenden Diskussion folgte, die im Kontrast zur Behauptung einer einheitlichen Inanspruchnahme des Haushaltsplanes für finanzwirksame Gesetze steht (dazu etwa F. GlumyW 1929,1099). bb) Soweit die Verfassungspraxis von Weimar in Rede steht, ist diese weder einheitlich noch auch nur konsistent für eine weite oder enge Befassung des Verständnisses von Art. 73 Abs. 4 WRV in Anspruch zu nehmen. Die Zulassung des Volksbegehrens „Panzerkreuzerverbot" (1928) sowie des Volksbegehrens gegen den Young-Plan („Freiheitsgesetz") hatten ohne Zweifel erhebliche finanzielle Auswirkungen, oder dienten gar — wie in der Literatur geltend gemacht wurde der Haushaltsdurchbrechung (dazu etwa E.K Huber Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VII, 1984, S. 644 f; Jung Der Staat 38, 1999, 41, 60 ff). Selbst die Auffassung der Reichsregierung anlässlich des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes über den Volksentscheid (sog. „Abdrosselungsgesetz"), der Begriff des Haushaltsplans sei in einem weiteren Sinne zu verstehen und umfasse auch Gesetze, die einen unmittelbaren Einfluss auf den Gesamtbestand des Haushalts in der Weise ausübten, dass dieser tatsächlich umgestoßen würde, blieb schon seinerzeit nicht ohne erheblichen Widerspruch (Triepel DJZ 1926, 845; Glum aaO). Im Übrigen fielen selbst nach der damaligen Auffassung nicht schon Gesetze darLVerfGE 13

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unter, die inhaltlich den Haushalt beeinflussen konnten. Die Auffassung von Carl Schmitt, wonach im Wesentlichen alle Gesetze mit geldlichem Charakter den Haushaltsplan unmittelbar betreffen, hat sich — wie der Bayerische Verfassungsgerichtshof in seiner frühen Judikatur betonte — nicht durchsetzen können (BayVerfGHE 29, 244, 266). Es kann auch nicht übersehen werden, dass die materielle Aufladung des Begriffs Haushaltsplan in der Weimarer Verfassung durch Teile der Staatspraxis von politischen Gründen durchaus nicht frei war und damit die Gefahr eines eher selektiven Zugriffs auf missliebige Volksinitiativen deutlich zeigte (Bugiel Volkswille und repräsentative Entscheidung, 1991, S. 202). Im Übrigen hat es neben der Rechtslage nach Art. 73 Abs. 4 WRV als Bezugspunkt der Diskussion immer auch Art. 6 Abs. 3 der Preußischen Verfassung vom 30.11.1920 gegeben, der auf Finanzfragen abstellte und in diesem Sinne einen auch in der Literatur und Staatspraxis deutlich weiteren Anwendungsbereich im Sinne finanzwirksamer Gesetze begründete (dazu Jung Der Staat 1999, 41, 44, 68; Jach DVP 1999, 179, 181). An diese hat denn auch und folgerichtig für den insoweit gleichen Text der Verfassung der Nordrhein-Westfälische Verfassungsgerichtshof angeknüpft (VerfGHNRW, NVwZ 1982,188,189). Ohnehin wird man nicht annehmen können, dieses Verständnis und diese durchaus nicht einheitliche Staatspraxis habe sich ohne weiteres in der Bundesrepublik fortgesetzt (so auch VerfGBbg, LKV 2002, 77, 78). Vielmehr hat es immer beide historische Vorbilder und im Übrigen entsprechende Vorgängerverfassungen in den jeweiligen Ländern gegeben (dazu die Nachweise bei Waldhoff aaO, S. 196 f m. Fn. 94) und entsprechend unterschiedliche Normtexte der Landesverfassungen, die entweder stärker an die preußische Lösung anknüpften, wie etwa Art. 99 Abs. 1 S. 3 Verf Saarland, Art. 68 Abs. 1 S. 4 VerfNRW, Art. 109 Abs. 3 S. 3 Verf RhlPf, oder stärker an der Weimarer Formulierung orientiert waren, wie die Bayerische Verfassung in Art. 73 BayVerf, Art. 70 S. 2 BremVerf, Art. 124 S. 3 HessVerf. Darüber hinaus hat es vom Wortlaut her deutlich engere Fassungen gegeben, wie etwa Art. 60 Abs. 6 VerfBW. So hat denn auch der Bayerische Verfassungsgerichtshof in seiner früheren Judikatur hervorgehoben, die Entstehungsgeschichte des Art. 73 BayVerf ergebe deutliche Anhaltspunkte für eine enge Interpretation (BayVerfGHE 29, 244, 265 f = BayVBl 1977, 143, 149; dazu Prjgode Die deutsche Rechtsprechung zur unmittelbaren Demokratie: Ein Beitrag zur Praxis der Sachentscheide in Deutschland, 1995, S. 402 ff). Die Entstehungsgeschichte der bayerischen Norm enthält nicht zuletzt unter Bezugnahme auf die Schweizer Erfahrungen Anhaltspunkte für ein enges Verständnis zur Zeit der Entstehung der Verfassung ( W a l d h o f f Finanzwirtschaftliche Entscheidungen in der Demokratie, in: M. Bertschi u.a. (Hrsg.), Demokratie und Freiheit, 1999, S. 181, 201 ff; Pngigode aaO). In der bayerischen Norm ist im Übrigen die gängige Trias bewusst nicht aufgenommen worden, um auf dem wichtigen Feld der Steuern und Abgaben — durchaus im Einklang mit dem Weimarer Vorbild — Volksgesetzgebungsverfahren eben nicht auszuschließen (vgl. dazu die Stellungnahme des späteLVerfGE 13

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ren Bayerischen Ministerpräsidenten H. Erhard, in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Verfassungsausschusses der Bayerischen Verfassunggebenden Landesversammlung, Bd. II, 13.-24. Sitzung, 7. Aug. - 28. August 1946, S. 412). Wenn gleichwohl die Landesverfassungsgerichte überwiegend einem eher weiten, durchaus unterschiedlichen Verständnis der Finanzklauseln zuneigen, ergibt sich dies aus jeweils unterschiedlichen Normtexten sowie dem Zusammenhang der zugrunde liegenden Verfassung. Mag in ihnen auch eine bestimmte Zuordnung des Verhältnisses von parlamentarischem und Volksgesetzgebungsverfahren zum Ausdruck kommen, so können gerade die Heterogenität der normativen Lage und die dafür gelieferten Begründungen keine Verfassungstradition in dem genannten Sinne begründen. In diesem Sinne hat etwa der Bayerische Verfassungsgerichtshof stets die Notwendigkeit einer Interpretation im Kontext der jeweiligen Verfassung betont (BayVerfGE 29, 244, 264). So hat der Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen den - im Vergleich der Länderverfassungen weiten Begriff der Finanzfragen in Art. 68 Abs. 1 S. 4 Verf NRW eher einengend dahingehend ausgelegt, dass darunter in der Regel nicht schon ein Gesetz falle, das finanzielle Auswirkungen mit sich bringe, etwa durch die Einführung neuer Schulen oder Ausbildungsstätten, sondern jedes Gesetz, dessen Schwerpunkt in der Anordnung von Einnahmen und Ausgaben des Landes liege, die den Staatshaushalt wesentlich beeinflussen (VerfGHNRW, NVwZ 1982, 188, 189; nur unvollständig wiedergegeben in BVerfGE 102, 176,189). Das Bundesverfassungsgericht hat für die Schleswig-Holsteinische Verfassung, die in Art. 41 Abs. 2 auf „Initiativen über den Haushalt des Landes" abstellt, in Rekonstruktion von Entstehungsgeschichte, Systematik und Sinn und Zweck der dortigen Regelung auf eine materielle und damit eher weite Interpretation abgestellt (BVerfGE 102, 176, 184 ff). In dieser Konsequenz liegt es, die Volksgesetzgebung in Schleswig-Holstein letztlich nur noch für Materien für zulässig zu erachten, die weder mittelbar noch unmittelbar wesentliche haushaltswirksame Ausgaben nach sich ziehen. Dieser Interpretation hat sich - freilich nicht ohne wesentliche Argumente der Begründung des Bundesverfassungsgerichts implizit oder explizit zurückzuweisen — wiederum im Ergebnis das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg angeschlossen, nicht zuletzt, weil die Brandenburgische Verfassung sich an der Schleswig-Holsteinischen Verfassung orientiert hat (VerfGBbg, LKV 2002, 77, 79) und weil Sinn und Zweck und Gesamtzusammenhang der Verfassung in Brandenburg dafür sprechen, solche finanzwirksamen Regelungen unter Initiativen über den Landeshaushalt zu subsumieren, die zu gewichtigen staatlichen Ausgaben (oder Minderausgaben) führen und sich unter Berücksichtigung der Auswirkungen auf das Gesamtgefüge des Haushalts und der weiteren Umstände des Falles als wesentliche Beeinträchtigung des Budgetrechts des Parlaments darstellen (VerfGBbg, LKV 2002, 77, 79).

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Für die Sächsische Verfassung aber kommt hinzu, dass die Wurzeln des Art. 73 Nr. 1 SachsVerf auf den Art. 60 Abs. 6 VerfBW verweisen, der eine im Wesentlichen vergleichbare Vorschrift enthält, die abweichend insoweit nur vom Staatshaushaltsgesetz spricht. Diese Klausel wird in der Literatur verbreitet in einem engen Sinne verstanden, der auf das Haushaltsgesetz im formellen Sinne abstellt, jedenfalls aber nicht allgemein finanzwirksame Gesetze mit erheblichen Auswirkungen ausschließt (vgl. Pnggode aaO, S. 394 f; Braun VerfBW Art. 59 Rn. 40; Jürgens Direkte Demokratie in den Bundesländern, 1993, S. 134). Angesichts der Tatsache, dass die Baden-Württembergische Verfassung in vielerlei Hinsicht das Vorbild für die Sächsische Verfassung abgegeben hat, liegt es nahe, dass auch Art. 73 Nr. 1 SachsVerf hier seinen Ursprung hat. Die historische Interpretation weist ebenfalls auf ein eher enges Begriffsverständnis hin (vgl. auch Baumann-Hasske Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 2. Aufl., Art. 73 Rn. 1). cc) Dies wird durch die systematische Interpretation bestätigt. Verfassungsnormen sind so auszulegen, dass im systematischen Zusammenhang einzelne Begriffe nicht ohne Not um ihre Eigenständigkeit gebracht werden. Da Art. 73 Nr. 1 SächsVerf neben den Haushaltsgesetzen auch Abgaben- und Besoldungsgesetze nennt, liegt es nahe anzunehmen, dass eine weite Interpretation des Haushaltsgesetzes — etwa im Sinne der Finanzwirksamkeit des Gesetzes — für die Sächsische Verfassung schon deshalb nicht in Betracht kommt, weil damit die Eigenständigkeit der Abgaben- und Besoldungsgesetze als Begrenzung des Volksgesetzgebungsrechts ohne Bedeutung wäre. Schon für die Weimarer Verfassunggebung mit einer ähnlichen Trias von Gegenständen lässt sich — wie oben dargelegt — die durchaus differenzierte Diskussion der einzelnen Ausschlusstatbestände nachweisen, denen jeweils ein eigenständiger Gehalt zugewiesen wurde. Es kann — zumal angesichts dieser Zusammenhänge — keinerlei Hinweis in der Entwicklung dieser Tatbestände gefunden werden, die Grund zur Annahme geben, der Verfassunggeber habe mit dem Begriff der Abgabengesetze auf den auch bei weiter Interpretation verbleibenden Anwendungsbereich der Kommunalabgabengesetze verweisen wollen (so aber für Thüringen ThürVerfGH, LKV 2002, 83, 92). Abgesehen davon, dass diese Auslegung für die Besoldungsgesetze keine ernstzunehmende Bedeutung hätte und im Übrigen auch insoweit — zumal über den kommunalen Finanzausgleich — Rückwirkungen auf den Landeshaushalt haben könnte, werden damit die entstehungsgeschichtlichen Zusammenhänge dieser und vergleichbarer Vorschriften in das Gegenteil verkehrt. Dies verbietet es anzunehmen, dass der Verfassunggeber damit nur eine beispielhafte Aufzählung möglicher Gegenstände des Finanztabus habe geben wollen (so aber für Brandenburg VerfGBbg, LKV 2002, 77, 78). Angesichts der dem Verfassunggeber bekannten kontroversen Auslegung der Finanzklauseln kann ihm nicht unterstellt werden, er habe eine Fassung gewählt, die in wesentlichen Teilen überflüssig wäre. Ohne Schwierigkeiten hätte sich der Verfassunggeber auf eine Begrifflichkeit stützen können, die - wie etwa die Saarländische, Nordrhein-Westfälische oder Hessische LVerfGE 13

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Verfassung - einen weiten Anwendungsbereich in Anknüpfung an Art. 6 Abs. 3 der Preußischen Verfassung durch die Wahl des Begriffs finanzwirksamer Gesetzes zum Ausdruck bringen kann. Es kann nicht angenommen werden, dem Verfassunggeber seien diese durch einen Blick in andere Landesverfassungen leicht entschlüsselbaren Zusammenhänge unbekannt geblieben. Ebenso wenig kann schon aus systematischen Gründen hergeleitet werden, der Begriff der Haushaltsgesetze verlöre bei engem Verständnis seinerseits jede eigenständige Bedeutung, da im System der Haushaltsgesetzgebung der Volksgesetzgeber normativ nicht vorgesehen sei (vgl. zu dieser Argumentation etwa ThürVerfGH, LKV 2002, 83, 92; dagegen auch VerfGBbg, LKV 2002, 77, 79). Das System der Haushaltsgesetzgebung und die in ihm zum Ausdruck kommende Systematik der Verteilung der Budgetkompetenzen zwischen Parlament und Regierung würde vielmehr ohne den Art. 73 Nr. 1 SachsVerf in der Tat dem Volksgesetzgeber offen stehen, ungeachtet der Frage, ob dies sinnvoll sein mag. Auch lässt sich der Teil der Finanzverfassung nicht in dem Sinne zu einem geschlossenen System aufwerten, dass durch diese Verteilung der Kompetenzen zwischen Regierung und parlamentarischem Gesetzgeber schon jeder Einfluss des Volksgesetzgebers von vornherein ausgeschlossen wäre (vgl. ThürVerfGH, LKV 2002, 83, 92). Wäre dies zutreffend, könnte der Begriff der Haushaltsgesetze sich schlechthin ohnehin nur auf mittelbar finanzwirksame Gesetze unter Ausschluss der Haushaltsgesetze im förmlichen Sinne beziehen. Eine solche Interpretation trifft weder die Entwicklungsgeschichte der Klauseln noch den Wortsinn und unterstellt dem Verfassunggeber, einen irreführenden Begriff verwendet zu haben, der — wie gesehen — angesichts der bekannten Kontroversen über Formulierung und Reichweite des sogenannten Finanztabus mühelos durch den bekannten Begriff der finanzwirksamen Gesetze hätte ersetzt werden können. Auch insoweit spricht die Systematik der Sächsischen Verfassung für eine enge Auslegung. dd) Auch Sinn und Zweck der Vorschrift sprechen nicht für eine Erweiterung des engen Verständnisses des Begriffs der Haushaltsgesetze. Sinn der finanzbezogenen Ausschlussklauseln ist es seit jeher gewesen, den spezifischen Bedingungen des Volksgesetzgebungsverfahrens Rechnung zu tragen, das von seiner technischen Eigenart her inneren Schranken unterworfen ist: Es ist - anders als das parlamentarische Verfahren — auf Ja/Nein-Abstimmungen über Sachfragen beschränkt und daher im Wesentlichen ungeeignet, komplexe Materien im Wege des Interessenausgleichs, wie er nun einmal das Haushaltsgesetz kennzeichnet, zu bewältigen, insbesondere ermöglicht das Verfahren keinen angemessenen Kompromiss unterschiedlicher Interessen und ist von seinem Verfahren her schon ungeeignet, innerhalb für eine Budgetfeststellung angemessener Zeit zu einem Ende zu kommen (zu diesem Problem bereits Max Weber Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, 1918, in: ders., Gesammelte politische Schriften, S. 306, 398 ff; C. Schmitt Volksentscheid und Volksbegehren, 1927, S. 21 f). Für Abgabengesetze stand die Befürchtung im Vordergrund, eine VolksabLVerfGE 13

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Stimmung könnte das Zustandekommen von Steuergesetzen fast unmöglich machen, da es oftmals von den unmittelbar Betroffenen abgelehnt würde (vgl. Abgeordneter Gröber, Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 336, Anlagen zu den Stenographischen Berichten, Nr. 391, Bericht des Verfassungsausschusses, Berlin 1920, S. 310) und zudem der innere Zusammenhang der Steuergesetze untereinander durch Einzeleingriffe gestört werden könnte. Ähnliches gilt für den Begriff der Besoldungsgesetze, der ebenfalls als so eng mit dem System der Staatsfinanzen zusammenhängend erachtet wurde, dass Einzeleingriffe hier für untunlich erachtet wurden. (1) Für ein weitergehendes Verständnis des Begriffs im Sinne finanzwirksamer Gesetze wird angeführt, dass die Volksgesetzgebung für den Missbrauch zu Gunsten bestimmter Gruppen anfällig sei, indem Interessengruppen den von ihnen vertretenen Bürgern Sondervorteile zu Lasten der Allgemeinheit verschafften (ThürVerfGH, LKV 2002, 83, 92; dagegen auch VerfGBbg, LKV 2002, 77, 80). Es ist hier nicht zu entscheiden, ob diese Annahme angesichts der hohen prozeduralen Hürden ebenso wie der öffentlichen Beobachtung jedes Volksgesetzgebungsverfahrens realitätsnah ist. Abgesehen davon, dass es Anhaltspunkte dafür gibt, dass in Staaten mit finanzbezogenen Volksentscheidungen die Haushaltsdisziplin höher und die Staatsverschuldung geringer ist (dazu Waldhoff aaO; angesichts potentiellen Missbrauchsgefahr anders ThürVerfGH, LKV 2002, 83, 92; dagegen wiederum VerfGBbg, LKV 2002, 77, 80), ist die Bedienung von Sonderinteressen zu Lasten des Allgemeinwohls in der parlamentarischen Demokratie nicht schon aufgrund der Repräsentatiwerfassung des politischen Prozesses ausgeschlossen. Nicht zuletzt werden Elemente plebiszitärer Demokratie wegen der möglichen Defizite als ergänzendes Korrektiv des politisch-parlamentarischen Systems für sinnvoll erachtet. Die Auffassung, Volksgesetzgebung sei eine „Prämie für Demagogen", lässt sich heute mit dem Stand der Forschung über Voraussetzungen und Wirkungen direkter Demokratie nicht belegen (vgl. dazu Schmidt Demokratietheorien, 2. Aufl. 1997, S. 256 ff). Normativ ist ein Generalverdacht partikularer Interessenverfolgung gegenüber der Volksgesetzgebung durchaus nicht mit der prinzipiellen Gleichwertigkeit beider Verfahren vereinbar (a.A. ThürVerfGH, LKV 2002, 83, 92), wie sie die Sächsische Verfassung kennzeichnet. (2) Ebenso wenig nötigt das System der Haushaltsgesetzgebung zur Erweiterung des Begriffs der Haushaltsgesetze in dem Sinne, dass dieser Begriff sich auf die Gesamtheit der Einnahmen und Ausgaben bezöge. Dabei kann als selbstverständlich unterstellt werden, dass der Volksgesetzgeber in diesem System der Haushaltsgesetzgebung nicht berücksichtigt wird (ThürVerfGH, LKV 2002, 83, 92); dies ist schon systematische Konsequenz des Art. 73 Abs. 1 SächsVerf, rechtfertigt aber gerade deshalb keine weitergehenden Schlüsse. Zwar ist es Aufgabe und Recht des Parlaments, durch den Haushaltsplan und das ihn feststellende Haushaltsgesetz sein politisches Programm gleichsam in Geld zum Ausdruck zu LVerfGE 13

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bringen und damit die Zwecke und Mittel zu gestalten, die der Programmumsetzung dienen (zur Programmfunktion des Haushalts vgl. etwa Puhl Budgetflucht und Haushaltsverfassung, Tübingen 1996, S. 5 ff). Ebenso ist naturgemäß ein nicht unerheblicher Teil der Mittel bereits gesetzlich oder gar verfassungsrechtlich festgelegt. Daraus ergeben sich aber nicht ohne weiteres Grenzen des Volksgesetzgebungsrechts. Dies erhellt schon daraus, dass dieses Recht des parlamentarischen Gesetzgebers nicht angetastet wird. Er hat einzig materielle Entscheidungen des Volksgesetzgebers im Hinblick auf ihre finanziellen Konsequenzen zu berücksichtigen; es erfolgen also durch den Volksgesetzgeber in der Sache keine anderen Festlegungen als durch das Parlament als Sachgesetzgeber oder durch das Verfassungsgericht als Interpret der Verfassung (vgl. etwa BVerfGE 99, 216 ff, 246 ff, 268 ff, 273 ff). Solange also der parlamentarische Gesetzgeber in der Lage ist, einen den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden Haushalt vorzulegen, wird das Budgetrecht des Parlaments nicht gestört. Allerdings wird die Möglichkeit der Setzung politischer Prioritäten durch das Parlament und die mehrheitlich von ihm getragene Regierung verringert. Nimmt man die verfassungsrechtlich vorgegebene Gleichwertigkeit des parlamentarischen und des Volksgesetzgebers ernst, ist indes genau dies der Sinn der Volksgesetzgebung, die nicht nachträglich durch eine Ausdehnung des parlamentarischen Budgetrechts korrigiert und in der Sache marginalisiert werden darf. Ein weiteres kommt hinzu: Die Auffassung, der Begriff der Haushaltsgesetze umfasse alle finanzwirksamen Gesetze, wenn sie gewichtige staatliche Ausgaben auslösten und den Landeshaushalt wesentlich beeinflussten, ist verfassungsrechtlich nicht bestimmbar und setzt das Volksgesetzgebungsrecht einer verfassungsrechtlichen und tatsächlichen Ungewissheit aus, die dieses zu entwerten geeignet ist. Beurteilt man die Wesentlichkeit des Einflusses auf den Gesamtbestand des Haushalts als maßgebliches Kriterium für die Überschreitung des dem Volksgesetzgeber zustehenden Spielraums nach Maßgabe des Einzelfalles im Rahmen einer differenziert bewertenden Gesamtbetrachtung, in deren Rahmen Art, Höhe, Dauer und Disponibilität der finanziellen Belastung als Folge des Gesamtvorhaben einzustellen sind (so ThürVerfGH, LKV 2002, 83, 93), wird deutlich, dass es für Initiativen zum Volksgesetzgebungsverfahren — sieht man einmal von dem Fall finanzneutraler Gesetzesvorhaben ab - praktisch nicht vorhersehbar ist, ob und ab wann ein solches Vorhaben die Grenze des Zulässigen überschreitet. Dies entwertet etwaige Initiativen von vornherein, da über diesen stets die im Übrigen nicht absehbare Entscheidung steht, die Verfassungswidrigkeit der Initiative geltend zu machen. Darüber hinaus macht dies die verfassungsrechtliche Zulässigkeit letztlich von der Gestaltung der Rahmenbedingungen durch den Haushaltsgesetzgeber abhängig, der es in der Hand hat, etwa den Umfang der freien Spitze politisch nach Maßgabe der Opportunität zu gestalten und damit auch ein missliebiges Volksgesetzgebungsverfahren zu verhindern. Nicht zuletzt aber verlagert es in weitem Umfang die Fragen der Zulässigkeit auf den Verfassungsgerichtshof, der

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damit in die Lage gebracht wird, wesentliche Ermittlungen über die Gestaltung des Haushalts und seiner künftigen Entwicklung einer detaillierten Analyse daraufhin zu unterziehen, ob sich ein wesentlicher Einfluss auf den Haushalt ergibt. Es kann nicht sinnvoll sein, diese politischen Fragen letztlich als verfassungsrechtliche umzuformulieren und dem Verfassungsgericht zur Entscheidung zuzuweisen. Zur Vermeidung dieser weithin anerkannten und in ihren Folgen für das Volksgesetzgebungsrecht nicht zu unterschätzenden Wirkung auf feste Quoten abzustellen, ist letztlich nicht praktikabel. Abgesehen davon, dass die eigentlichen Unsicherheiten der Berechnung und die politischen Wertungen der Modellrechnungen damit ebenso wenig vermieden werden, wie die Verhinderungsmöglichkeiten des parlamentarischen Gesetzgebers damit schon unterbunden sind, lässt sich eine abstrakte Quote verfassungsrechtlich in der Sache kaum rechtfertigen. 2. Der Volksantrag greift auch nicht in verfassungswidriger Weise in Rechte des sächsischen Landtages ein. a) Allerdings ist das Volksgesetzgebungsverfahrens auch außerhalb des Art. 73 Abs. 1 SächsVerf nicht ohne Schranken gewährleistet, sondern durch das parlamentarische Budgetrecht und die Anforderungen an einen verfassungsgemäßen Haushalt sowie durch etwaige bundesrechtliche oder europarechtliche Vorgaben begrenzt. Dies besagt aber nicht, dass es dem Volksgesetzgeber zur Wahrung der Rechte des parlamentarischen Gesetzgebers von vornherein verschlossen wäre, ein auf haushaltswirksame Maßnahmen gerichtetes Volksgesetzgebungsverfahren durchzuführen. In Kompetenzen des Parlaments wird vielmehr erst dann eingegriffen, wenn es diesem selbst durch ein mit aller Beschleunigung betriebenes Gesetzgebungsverfahren aus Rechtsgründen nicht mehr möglich wäre, die vom Volksgesetzgeber geschaffenen haushaltswirksamen Positionen zu beseitigen. Ein Verstoß gegen die verfassungsrechtlichen Haushaltsgrundsätze ist erst gegeben, wenn der Haushalt in Folge des Volksgesetzes mit Art. 93 bis Art 95 SächsVerf unvereinbar würde, ohne dass der parlamentarische Gesetzgeber eine rechtliche Möglichkeit hätte, dies zu verhindern. b) Hiervon ausgehend ist für eine Begrenzung der Kompetenz des Volksgesetzgebers nichts zu erkennen, da es dem parlamentarischen Gesetzgeber sehr wohl möglich ist, es ausgabenneutral aufzuheben, da es unentziehbare Rechte — auch unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes - nicht begründet. Das Volksbegehren - würde es Gesetz — mag den Spielraum des parlamentarischen Gesetzgebers verringern und auch seine bisherige Politik korrigieren wollen. Aber es führt nicht dazu, dass es dem Gesetzgeber unmöglich gemacht wird, einen den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden Haushalt vorzulegen. 3. Auch ansonsten greifen verfassungsrechtliche Bedenken — wie sie die Sächsische Staatsregierung gegen den Antrag erhebt — nicht durch. Soweit § 5

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Abs. 2 S. 3 SchulG-E vorsieht, dass auf Beschluss der Schulkonferenz auch jahrgangsübergreifend unterrichtet werden kann, unterliegt der Entwurf jedenfalls unter dem Gesichtspunkt staatlicher Schulaufsicht, wie er sich aus Art. 103 Abs. 1 SachsVerf ergibt, keinerlei Bedenken. Es handelt sich bei der Frage, ob jahrgangsübergreifender Unterricht möglich sein soll, um eine Frage pädagogisch sinnvoller Gestaltung der Lernorganisation. Der Gesetzgeber ist aber gerade insoweit nicht gehindert, auch der Schulkonferenz im Interesse einer professionellen Gestaltung der Schule Entscheidungskompetenzen zuzuweisen. Dies gilt um so mehr, als die Regelung nicht die der Fachaufsicht zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ausschließt. Ebenso wenig verstoßen die Regelungen der § 6 Abs. 4, § 7 Abs. 4 SchulG-E gegen Art. 103 Abs. 1 Sachs Verf. Insofern hat der Volksgesetzgeber als gesetzgebendes Organ des Freistaates gehandelt. III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 16 Abs. 4 SachsVerfGHG.

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Entscheidungen des Landesverfassungsgerichts Sachsen-Anhalt

Die amtierenden Richterinnen und Richter des Landesverfassungsgerichts für das Land Sachsen-Anhalt Dr. Gerd-Heinrich Kemper, Präsident Erhard Köhler, Vizepräsident Anneliese Bergmann Dr. Edeltraud Faßhauer Margrit Gärtner Dr. Günter Zettel Prof. Dr. Wilfried Kluth

Stellvertretende Richterinnen und Richter

Detlef Schröder Dietmar Fromhage Veronika Pumpat Dr. Peter Willms Carola Beuermann Klaus-Günther Pods Prof. Dr. Heiner Lück

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Normenkontrollverfahren - Kommunalabgabengesetz

Nr. 1 1. Die Verfassungsgarantie der kommunalen Selbstverwaltung verlangt, dass den Kommunen ausreichende und effektive Gestaltungsinstrumente zur Wahrnehmung ihres Selbstverwaltungsrechts zur Verfügung gestellt werden. Hat sich der Landesgesetzgeber dafür entschieden, den Kommunen für die vollständige oder teilweise Finanzierung bestimmter Aufgaben ein Abgaben- bzw. Beitragserhebungsrecht einzuräumen, so wird auch die Ausübung dieses Rechts von der Selbstverwaltungsgarantie erfasst (Art. 87 Abs. 1,88 Abs. 3 LVerf-LSA). 2. Dem Gesetzgeber ist es von Verfassungs wegen nicht verwehrt, in Ausübung der gesetzgebenden Gewalt eine von den Gerichten begründete verbindliche Norminterpretation durch eine neue oder — aus seiner Sicht — klarstellende Regelung zu korrigieren. Soweit sie in geschützte Rechtspositionen eingreift, ist sie nur im Rahmen einer entsprechenden Eingriffsermächtigung zulässig. 3. Dieser im Rahmen des Gesetzesvorbehaltes von Art. 87 Abs. 1 LVerf-LSA grundsätzlich auch im Wege der „authentischen Interpretation" mögliche Eingriff des Gesetzgebers beinhaltet im konkreten Fall eine rückwirkende Gesetzesänderung, deren verfassungsrechtliche Voraussetzungen aber nicht gegeben sind. Er ist weder durch überwiegende Belange des Gemeinwohls noch durch kollidierende Rechtspositionen der Beitragspflichtigen, namentlich deren Vertrauensschutz, legitimiert. Vielmehr überwiegt im Rahmen der Abwägung das verfassungsrechtlich verankerte Finanzierungsinteresse der Kommunen. Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt Art. 2 Abs. 1, 75, 87 Abs. 1, 88 Abs. 3 Kommunalabgabengesetz Sachsen-Anhalt § 6 Abs. 6a Gesetz über das Landesverfassungsgericht §§ 2 Nr. 6, 42, 43

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U r t e i l v o m 15. J a n u a r 2002 - L V G 3, 5/01 in den zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Normenkontrollverfahren LVG 3/01 u. 5/01 zur verfassungsrechtlichen Prüfung, ob § 6 Absatz 6a S. 1 und S. 3 Kommunalabgabengesetz Sachsen-Anhalt idF vom 15. August 2000 (LSA-GVB1., S. 526) mit der Landesverfassung von Sachsen-Anhalt vereinbar ist - Aussetzungs- und Vorlagebeschlüsse des Verwaltungsgerichts Dessau vom 15. März 2001 - 2 A 443/99 - und vom 14. Mai 2001 - 2 A 225/00 Entscheidungsformel: § 6 Abs. 6a Kommunalabgabengesetz Sachsen-Anhalt verstößt gegen Art. 87 Abs. 1 LVerf-LSA und ist nichtig. Die Entscheidung ergeht gerichtskostenfrei. Gründe: 1. Die Kosten für die erstmalige Schaffung von Erschließungsanlagen, zu denen auch öffentliche Straßen, Wege und Plätze gehören, können von den Gemeinden gem. §§ 127 ff BauGB unter Abzug eines durch die Allgemeinheit zu finanzierenden Anteils im Wege der Beitragserhebung auf die Anlieger abgewälzt werden. Gleiches gilt nach den näheren Maßgaben des Landesrechts bundesweit für Ausbau- und Erhaltungsmaßnahmen. 2. Für das Land Sachsen-Anhalt wurde eine gesetzliche Regelung, die die Kommunen zum Erlass von Beitragssatzungen und damit zur Erhebung von Erschließungs- und Ausbaubeiträgen ermächtigt, durch den Erlass des Kommunalabgabengesetzes - KAG-LSA vom 15. Juni 1991 (LSA-GVBl., S. 105) - geschaffen. Dessen § 2 umschreibt in bis heute unveränderter Fassung die allgemeinen Anforderungen an die Erhebung von kommunalen Abgaben insbesondere unter dem Gesichtspunkt des Zeitpunktes des Satzungserlasses wie folgt: „(1) Kommunale Abgaben dürfen nur auf Grund einer Satzung erhoben werden. Die Satzung muss den Kreis der Abgabeschuldner, den die Abgabe begründenden Tatbestand, den Maßstab und den Satz der Abgabe sowie die Entstehung und den Zeitpunkt der Fälligkeit der Schuld bestimmen. (2) Satzungen können nur innerhalb der verfassungsrechtlichen Grenzen rückwirkend erlassen werden. Eine Satzung kann insbesondere rückwirkend erlassen werden, wenn sie ausdrücklich eine Satzung ohne Rücksicht auf deren Wirksamkeit ersetzt, die eine gleiche oder gleichartige Abgabe regelte. Die Rückwirkung kann bis zu dem Zeitpunkt ausgedehnt werden, zu dem die zu ersetzende Satzung in Kraft getreten war oder in Kraft treten sollte. Durch die rückwirkend erlassene LVerfGE 13

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Satzung darf die Gesamtheit der Abgabepflichtigen nicht ungünstiger gestellt werden als nach der ersetzten Satzung." Ergänzend zu diesen allgemeinen Anforderungen wurden die Voraussetzungen für die Erhebung von Beiträgen hinsichtlich Reichweite und Entstehungsvoraussetzungen der Beitragspflicht in § 6 in der ursprünglichen Fassung im Wesentlichen folgendermaßen geregelt: „(1) Landkreise und Gemeinden können zur Deckung ihres Aufwandes für die Herstellung, Anschaffung, Erweiterung, Verbesserung und Erneuerung ihrer öffentlichen Einrichtungen Beiträge von Grundstuckseigentümern erheben, denen die Möglichkeit der Inanspruchnahme dieser öffentlichen Einrichtungen besondere wirtschaftliche Vorteile bietet. Zum Aufwand rechnen auch die Kosten, die einem Dritten, dessen sich die Gemeinde oder der Landkreis bedient, entstehen, soweit sie dem Dritten von der Gemeinde oder dem Landkreis geschuldet werden. (2) Beiträge können auch für den Grunderwerb, die Freilegung und für nutzbare Teile einer Einrichtung erhoben werden (Aufwandsspaltung). (4) Der Aufwand kann auch für Abschnitte einer Einrichtung, wenn diese selbständig in Anspruch genommen werden können, ermittelt werden. (6) Die Beitragspflicht entsteht mit der Beendigung der beitragsfähigen Maßnahme, in den Fällen des Absatzes 2 mit der Beendigung der Teilmaßnahme und in den Fällen des Absatzes 4 mit der Beendigung des Abschnitts." Durch Änderungsgesetz vom 6. Oktober 1997 (LSA-GVB1., S. 878) wurden in § 6 Abs. 6 folgende Sätze 2 bis 4 angefugt: „Wird ein Anschlussbeitrag erhoben, entsteht die Beitragspflicht, sobald das Grundstück an die Einrichtung angeschlossen werden kann, frühestens jedoch mit dem Inkrafttreten der Satzung. Investitionen, die vor Inkrafttreten dieses Gesetzes abgeschlossen wurden, fallen nicht unter diese Regelung. Die Satzung kann einen späteren Zeitpunkt bestimmen." Nach der Intention des Gesetzgebers sollte durch diese Änderung den Besonderheiten im Bereich der leitungsgebundenen Anlagen Rechnung getragen werden, da viele Abwasserverbände nicht wirksam gegründet wurden und deshalb auch vor Fertigstellung der beitragspflichtigen Anlagen keine wirksamen Beitragssatzungen erlassen konnten. Die vor der Anfügung der Sätze 2 bis 4 bestehende Regelung legte das OVG des Landes Sachsen-Anhalt (OVG-LSA) in dem Sinne aus, dass eine Beitragspflicht auch dann begründet werden kann, wenn eine Beitragssatzung weder zu Beginn der Baumaßnahme noch zum Zeitpunkt ihrer Beendigung erlassen wurde. Eine Beitragspflicht könne auch dann wirksam begründet werden, wenn nach diesem Zeitpunkt eine entsprechende Satzung erstmalig in Kraft trete (OVGLSA, Besch! v. 19.2.1998 - B 2 141/97 - , VwRR MO 1998, 131; bestätigt durch Beschl. v. 4.11.1999 - B 2 S 433/99 - , VwRR MO 2000, 26 und Urt. v. 16.12.1999 - A 2 S 335/98 - , VwRR MO 2000, 103). Dies wurde im Wesentlichen damit beLVerfGE 13

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gründet, dass ein Beitragschuldverhältnis erst dann entstehen könne, wenn es voll ausgebildet, insbesondere der Höhe nach genau bestimmt bzw. bestimmbar sei. Da die Höhe der Beitragsschuld von den Verteilungskriterien abhänge, die die Beitragssatzung enthalte, sei ihr Erlass unverzichtbare Bedingung der Entstehung der Beitragspflicht (ebenso grundlegend: BVerwG, Urt. v. 14.3.1975 — BVerwG IV C 34.73 - , NJW 1975,1426). Weiter führte das OVG-LSA in seinem Beschluss aus, dass dieses Auslegungsergebnis mit der Anfügung der Sätze 2 bis 4 durch das Änderungsgesetz vom 6.10.1997 nicht in Frage gestellt werde. Aus dem Umstand, dass der Landesgesetzgeber in § 6 Abs. 6 S. 2 KAG-LSA mit Wirkung vom 8.10.1997 das Entstehen der Beitragspflicht im leitungsgebundenen Abgabenrecht ausdrücklich festgelegt habe, könne nicht geschlossen werden, dass dies für den Straßenbaubeitrag nicht gelte. Ein Gesetz könne auch rein deklaratorische Wirkung haben, um das klarzustellen, was sich aus anderen Regelungen, wenn auch nicht ausdrücklich, bereits ergebe. So verhalte es sich mit § 6 Abs. 6 S. 2 KAG-LSA. Der Landtag von Sachsen-Anhalt sah sich daraufhin in seiner gesetzgeberischen Intention sowohl hinsichtlich der ursprünglichen Regelung von 1991 als auch der Änderung bzw. Ergänzung von 1997 missverstanden. Durch Änderungsgesetz vom 16.4.1999 (LSA-GVB1., S. 150) erhielt § 6 Abs. 6 S. 1 und 2 KAG-LSA folgende Fassung: „Für Verkehrsanlagen (Absatz 1 S. 1) entsteht die Beitragspflicht mit der Beendigung der beitragsauslösenden Maßnahme, in den Fällen des Absatzes 2 mit der Beendigung der Teilmaßnahme und in den Fällen des Absatzes 4 mit der Beendigung des Abschnitts, sofern vor der Entscheidung über die beitragsauslösende Maßnahme eine Satzung vorliegt. Wird ein Beitrag für leitungsgebundene Einrichtungen erhoben, entsteht die Beitragspflicht, sobald das Grundstuck an die Einrichtung angeschlossen werden kann, frühestens jedoch mit dem Inkrafttreten der Satzung." Diese auf einen Gesetzesentwurf der Fraktion der PDS (LT-Drs. 3/919) zurückgehende Änderung wurde damit begründet, dass die Interpretation des § 6 Abs. 6 KAG-LSA durch das OVG-LSA in seinem Beschluss vom 19.2.1998 „heilend korrigiert und die Rechtssicherheit wieder hergestellt" werden müsse. Die Rechtslage sei eindeutig gewesen. Eine Beitragspflicht habe erst dann entstehen können, wenn spätestens bei Beendigung der beitragsfähigen Maßnahme eine gültige Satzung vorhanden gewesen sei. Im Falle einer mit Mängeln behafteten Satzung sei durch § 2 KAG-LSA der rückwirkende Erlass einer fehlerfreien Satzung möglich gewesen. Das Änderungsgesetz vom 6.10.1997 habe die Rechtslage nur für Anschlussbeiträge geändert, um den Problemen, die sich aus der nicht wirksamen Gründung von Abwasserverbänden ergeben hätten, Rechnung zu tragen. Dabei sei der Gesetzgeber davon ausgegangen, dass für die übrigen Einrichtungen und Anlagen die bisherige Rechtslage unverändert blieb, also die Beitragssatzung vor Beendigung der Maßnahme vorliegen müsse. Der Beschluss des OVGLSA sei deshalb nicht nachvollziehbar, verkenne den Willen des Gesetzgebers. LVerfGE 13

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Diese (zweite) Neufassung des § 6 Abs. 6 KAG-LSA hat das OVG-LSA in einer Entscheidung vom 4.11.1999 dahingehend interpretiert, dass sie nur auf Fallgestaltungen nach In-Kraft-Treten des Änderungsgesetzes, also nach dem 16.4.1999, anwendbar sei. Davon sei deshalb auszugehen, weil die Neuregelung keine Rückwirkung entfalte, wie sich im Wege der Auslegung der Vorschrift ermitteln lasse (OVG-LSA, Beschl. v. 4.11.1999 - B 2 S 433/99 - , VwRR-MO 2000, 26 ff; Urt. v. 16.12.1999 - A 2 S 235/98 - , UA S. 10 ff). Für eine Korrektur der früheren Rechtsprechung zum bisherigen Recht bestehe insbesondere nicht deshalb Anlass, weil der Landtag von Sachsen-Anhalt auch für die Vergangenheit von einem anderen Ansatz ausgegangen sei. Verwaltung und Gerichte seien an die Gesetzgebung gebunden, nicht an Meinungen oder Auffassungen, die bei Gelegenheit eines Änderungsgesetzes geäußert oder niedergelegt würden. Der Landesgesetzgeber sah auch durch diese Rechtsprechung die von ihm erlassene Neufassung des § 6 Abs. 6 KAG-LSA falsch interpretiert. Da er auf Grund der richterlichen Unabhängigkeit keine Möglichkeit sah, die nach seiner Ansicht unrichtige Auslegung durch das OVG-LSA direkt zu korrigieren, entschloss er sich, durch die Einfügung eines neuen Absatzes 6a eine entsprechende Korrektur herbeizuführen. Die Initiative dazu ging von der Fraktion der SPD aus, die zu dem von der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Kommunalabgabengesetzes (LT-Drs. 3/1386) einen diesbezüglichen Änderungsantrag einbrachte (Anlage 2 zur Niederschrift des Ausschusses für Inneres des Landtags von Sachsen-Anhalt über die 30. Sitzung am 10.5.2000). Der durch Änderungsgesetz vom 15.8.2000 (LSA-GVB1., S. 526) neu eingefugte Absatz 6a hat folgenden Wortlaut: „Im Wege der authentischen Gesetzesinterpretation stellt der Gesetzgeber klar, dass bereits seit In-Kraft-Treten des Kommunalabgabengesetzes am 15. Juni 1991 eine Beitragspflicht immer nur dann entstand, wenn spätestens zum Zeitpunkt der Beendigung der beitragsauslösenden Maßnahme eine Beitragssatzung in Kraft getreten war. Seit dem 22. April 1999 muss für Verkehrsanlagen schon vor der Entscheidung über die beitragsauslösende Maßnahme eine Satzung vorliegen. In bewusster Begrenzung auf leitungsgebundene Einrichtungen traf der Gesetzgeber mit der Novellierung des Gesetzes über kommunale Gemeinschaftsarbeit sowie des Kommunalabgabengesetzes vom 6. Oktober 1997 eine nicht als allgemeiner Grundsatz zu verstehende Ausnahmeregelung, die nur im leitungsgebundenen Bereich die sachliche Beitragspflicht frühestens mit dem In-Kraft-Treten der Beitragssatzung entstehen ließ." Zur Begründung dieser Ergänzung wurde u.a. angeführt, dass die Rechtsprechung des OVG-LSA in der Bevölkerung landesweit große Bestürzung und Unruhe ausgelöst habe. Dies gelte auch für die Verwaltungen, die darüber verunsichert seien, „welche Auslegung des § 6 Abs. 6 KAG-LSA die zutreffende ist". Es bedürfe deshalb einer nochmalige(n) klarstellende(n) Bestätigung der alten Gesetzeslage im Wege der authentischen Interpretation. Die Rechtsprechung des OVGLSA sei nicht nachvollziehbar. Ihrer Verfestigung müsse entgegengewirkt werden. LVerfGE 13

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Entgegen der Ansicht des OVG-LSA ergebe sich der Wille des Gesetzgebers eindeutig sowohl aus dem Wortlaut als auch den Gesetzesmaterialien. Ferner sei die Auslegung von Rechtsnormen auch Sache des Parlaments. Ihm stehe insbesondere die anerkannte Möglichkeit der authentischen Interpretation offen. Als formelles Gesetz entfalte sie Bindungswirkung sowohl für die Exekutive als auch die Judikative, ohne dass sie normverändernd wirke. Es liege deshalb auch keine Rückwirkung vor. 3. Vor dem Hintergrund dieser Rechtslage hatte das vorlegende Gericht darüber zu entscheiden, ob eine Beitragssatzung, die vor dem 22.4.1999 erlassen worden war, gem. § 6 Abs. 6a KAG-LSA am insoweit strengeren Maßstab der Neufassung zu messen ist mit der Folge, dass eine Beitragspflicht möglicherweise nicht wirksam begründet wurde. 3.1. In dem Ausgangsverfahren, das dem Vorlagebeschluss in der Sache LVG3/01 zugrunde liegt, wandte sich die Klägerin mit der Anfechtungsklage gegen einen Beitragsbescheid der Gemeinde Zscherndorf. Der Beitragsbescheid war in seiner ursprünglichen Gestalt am 19.12.1997 erlassen und durch Widerspruchsbescheid vom 8.4.1998 erstmalig geändert worden. Insoweit war er auf eine Beitragssatzung vom Mai 1994 gestützt. Diese Satzung, die nicht ordnungsgemäß bekannt gemacht wurde und daher nichtig ist (VG Dessau, Urt. v. 22.9.1999 - 2 A 412/99), wurde durch eine neue Satzung vom 14.10.1999 ersetzt, die durch Bekanntmachung im Amtsblatt der Verwaltungsgemeinschaft Sandersdorf vom 5.11.1999 mit Rückwirkung zum 20.12.1997 in Kraft gesetzt worden war. Auf der Basis dieser neuen Beitragssatzung wurde der Beitrag durch einen weiteren Änderungsbescheid vom 15.11.1999 neu auf 3.763,94 DM festgesetzt. Dagegen hat die Klägerin des Ausgangsverfahrens Anfechtungsklage erhoben, die sie u.a. damit begründet, auch die neue Beitragssatzung sei unwirksam, da sie den Flächenansatz im Widerspruch zum Vorteilsprinzip begrenze. Weiter macht sie geltend, der Anspruch sei verjährt und § 6 Abs. 6a KAG-LSA stehe der Beitragserhebung entgegen. Das vorlegende Gericht ist zu dem Ergebnis gelangt, dass die Beitragssatzung weder aus formellen noch aus materiellen Gründen nichtig sei. Soweit sie rechtsfehlerhaft sein könne, führten diese Fehler jedenfalls nicht zur vollständigen Unwirksamkeit der Satzung. Deshalb sei es entscheidungserheblich, ob § 6 Abs. 6a KAG-LSA zur Anwendung komme. In diesem Fall könne ein Beitrag von der Klägerin nicht erhoben werden, da dann zum maßgeblichen Zeitpunkt eine wirksame Beitragssatzung nicht bestanden habe. Die Frage, ob § 6 Abs. 6a KAG-LSA mit dem Verfassungsrecht vereinbar und damit wirksam oder wegen eines Verstoßes gegen das Verfassungsrecht nichtig ist, sei deshalb entscheidungserheblich. § 6 Abs. 6a KAG-LSA stelle keine rein deklaratorische Klarstellung einer schon immer bestehenden Rechtslage dar, sondern bewirke eine rückwirkende Änderung der Rechtslage. Dies ergebe ein Vergleich der objektiven Rechtslage vor LVerfGE 13

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und nach In-Kraft-Treten der Norm. Die Auslegung des § 6 Abs. 6a KAG-LSA durch das OVG-LSA habe die für die Behörden maßgebliche Rechtslage bis zum Erlass des § 6 Abs. 6a KAG-LSA bestimmt. Es sei erkennbar die Absicht des Gesetzgebers gewesen, durch die Einfuhrung dieser Regelung die Rechtsprechung des OVG-LSA zu korrigieren, ohne das geltende Recht materiell-rechtlich zu ändern. Da der Landtag sich nicht damit begnügt habe, sein Verständnis der Norm in einem schlichten Parlamentsbeschluss zum Ausdruck zu bringen, sondern vielmehr ein formelles Gesetz verabschiedet habe, um so auch die Verwaltungsgerichte zu binden, habe er eine verbindliche Regelung getroffen, die nach ihrem eigenen Anspruch auch in die Vergangenheit zurückwirke. Diese Vorgehensweise sei mit dem Rechtsstaatsprinzip jedoch nicht zu vereinbaren. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dürfe ein Gesetzgeber ein Gesetz nicht rückwirkend ändern, um die Rechtsprechung zu korrigieren. Grundsätzlich seien die Gerichte berufen, den verbindlichen Regelungsgehalt einer Norm festzustellen. Die Beantwortung der Frage, ob im Straßenbaubeitragsrecht sachliche Beitragspflichten erst mit In-Kraft-Treten einer wirksamen Beitragssatzung entstehen können, sei dem Gericht zugewiesen, das das Landesrecht verbindlich auszulegen habe. Halte der Gesetzgeber die Auslegung durch die Gerichte für verfehlt, so stehe er vor der Wahl, eine Korrektur durch eine Rechtsänderung vorzunehmen oder seiner Auffassung durch eine Ergänzung des Gesetzestextes Ausdruck zu verleihen. Im letzteren Falle liege eine authentische Interpretation vor. Eine solche sei jedoch ebenfalls an die aus der Verfassung folgenden Bindungen des Gesetzgebers, insbesondere das aus Art. 2 Abs. 1 und 4 LVerf-LSA folgende Rückwirkungsverbot, gebunden. § 6 Abs. 6a KAG-LSA schließe eine Beitragserhebung für in der Vergangenheit abgeschlossene Maßnahmen nach § 6 Abs. 1 KAG-LSA endgültig aus, wenn zum Zeitpunkt der Beendigung noch keine Beitragssatzung vorgelegen habe. Damit handele es sich um eine rückwirkend in die kommunale Finanzhoheit eingreifende Regelung. Die für eine solche Maßnahme nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erforderlichen Rechtfertigungsgründe seien nicht gegeben. Die Regelung sei nicht erforderlich, um eine unklare oder verworrene Rechtslage zu beseitigen, da die Rechtsprechung des OVG-LSA etwaige Zweifel über die Auslegung des § 6 Abs. 6 KAG-LSA beseitigt habe. Es seien auch keine zwingenden Gründe des gemeinen Wohls erkennbar, die eine Rückwirkungsanordnung rechtfertigen könnten. Da die Frage der Vereinbarkeit des § 6 Abs. 6a KAG-LSA mit der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt im zugrunde liegenden Fall auch entscheidungserheblich sei, müsse die Entscheidung des Landesverfassungsgerichts hierüber eingeholt werden. 3.2. In dem Ausgangsverfahren, das dem Vorlagebeschluss in der Sache LVG5/01 zugrunde liegt, wandten sich die Kläger, die Miteigentümer eines Grundstücks in Bernburg sind, gegen die Heranziehung zu Straßenbaubeiträgen, die auf der Grundlage der „Straßenausbaubeitragssatzung über die Erhebung einmaliger Beiträge für die öffentlichen Verkehrsanlagen der Stadt Bernburg" vom LVerfGE 13

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12.2.1998 erhoben wurden. Die letzte Unternehmerrechung für das abgerechnete Bauvorhaben war am 22.3.1993, die Schlussrechnung am 13.11.1995 bei der Stadt Bernburg eingegangen. Die angefochtenen Bescheide wurden am 7.1.2000 erlassen. Das vorlegende Gericht hat auch in diesem Verfahren keine Anhaltspunkte gefunden, die eine Aufhebung der Beitragssatzung rechtfertigen bzw. erforderlich machen würden. Es ist den einzelnen, von den Klägern angeführten Rügen von formellen und materiellen Mängeln, mit denen die Nichtigkeit der Satzung begründet werden sollte, nicht gefolgt. Aus diesem Grunde hängt nach seiner Auffassung die Entscheidung in der Sache auch in diesem Verfahren davon ab, ob § 6 Abs. 6a KAG-LSA verfassungsgemäß und damit anwendbar ist. 4. Der Landtag von Sachsen-Anhalt und die Landesregierung haben keine schriftlichen Stellungnahmen abgegeben. Das Innenministerium hat durch Schreiben vom 11.10.2001 ein mehrere Fragen umfassenden Auskunftsersuchen des Landesverfassungsgerichts vom 10.9.2001 beantwortet. Entscheidungsgründe: Die Vorlagen sind zulässig. 1. Das Landesverfassungsgericht ist gem. Art. 75 Nr. 5 der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt (LVerf-LSA), §§ 2 Nr. 6, 42 f des Gesetzes über das Landesverfassungsgericht (LVerfGG-LSA) zur Entscheidung berufen, wenn ein Gericht ein Landesgesetz, auf dessen Gültigkeit es für seine Entscheidung ankommt, für unvereinbar mit der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt hält und das Verfahren gem. Art. 100 Abs. 1 Grundgesetz (GG) aussetzt. 1.1. Es handelt sich bei § 6 Abs. 6a KAG-LSA um ein „Landesgesetz" iSd § 42 Abs. 1 LVerfGG-LSA und nicht lediglich um eine Meinungs- oder Willensbekundung des Landtages ohne normativen Gehalt. Mit dem Begriff Landesgesetz konkretisiert § 42 Abs. 1 LVerfGG-LSA den Typ der vorlagefähigen Rechtsnormen dahingehend, dass nur förmliche, d.h. im Gesetzgebungsverfahren der Art. 77 ff LVerf-LSA erlassene Landesgesetze dem Landesverfassungsgericht zur Prüfung vorgelegt werden können. Rechtsverordnungen und Satzungen sowie Verwaltungsvorschriften sind demnach nicht vorlagefähig. Fraglich ist indes, ob darüber hinaus auch eine Beschränkung auf Gesetze im materiellen Sinn vorzunehmen ist mit der Folge, dass lediglich formelle Parlamentsgesetze, die eines materiellen Regelungsgehaltes entbehren, ebenfalls nicht vorlagefähig sind. Diesem Aspekt kommt vorliegend insoweit Bedeutung zu, als in § 6 Abs. 6a KAG LSA eine „authentische Interpretation" anderer Regelungen des Paragrafen vorgenommen wird und mit Hinweis darauf in der Literatur die Ansicht geäußert worden ist, es handele sich nur um ein Gesetz im formellen Sinne, näherhin um eine rechtlich unverbindliche Entschließung des Landtags in Gesetzesform (so etwa Driehaus in: ders. (Hrsg.), Kommunalabgabenrecht, KomLVerfGE 13

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mentar, Loseblatt, Stand: September 2001, § 8 Rn. 239h, der sich aber letztlich nicht festlegt, sondern nur die verschiedenen Deutungsmöglichkeiten aufweist). Vor dem Hintergrund der im heutigen Verfassungsrecht vorherrschenden Terminologie und Abgrenzung ist die Frage, ob es sich bei § 6 Abs. 6a KAG-LSA (auch) um ein materielles Gesetz handelt, dann zu bejahen, wenn von dieser Vorschrift eine Regelungswirkung im Außenverhältnis ausgeht. Das ist dann der Fall, wenn mit eigener Rechtsfähigkeit ausgestattete Subjekte des privaten oder öffentlichen Rechts durch die erlassene Norm rechtlich gebunden, d.h. bestimmten Verhaltensanforderungen verbindlich unterworfen werden. Ausweislich des Wortlauts hat der Gesetzgeber sich bei § 6 Abs. 6a KAGLSA des Instruments der authentischen Interpretation bedient. Darunter versteht man die gegenüber allen Normanwendern verbindliche Auslegung einer Norm durch den Normgeber selbst (s. dazu näher Droste-Lehnen Die authentische Interpretation, 1990, S. 13 ff). Voraussetzung ist insoweit, dass eine Norm unterschiedlichen Auslegungen zugänglich ist oder dass Normanwender von der Intention des Normgebers abweichende Interpretationen gewählt haben. Es spielt dabei keine Rolle, ob diese Auslegungen rechtlich zulässig bzw. vertretbar waren. Auch bleibt zunächst dahingestellt, ob eine solche authentische Interpretation zu Rechtssätzen des Verfassungsrechts in Widerspruch steht. Bei der Beurteilung des Regelungsgehalts des § 6 Abs. 6a KAG-LSA ist zwischen der Auslegung selbst und ihrer Verbindlichkeit für alle Normanwender, insbesondere Verwaltungsbehörden und Verwaltungsgerichte, zu unterscheiden. Die Auslegung selbst stellt eine Willenserklärung dar, durch die der Gesetzgeber sein — authentisches - Verständnis der Norm zum Ausdruck bringt. Hätte er dies nur in der Form eines schlichten Parlamentsbeschlusses getan, so würde es sich um eine nachträgliche Erklärung zu einer bereits erlassenen Norm handeln, die zukünftig bei der Auslegung und Anwendung der Norm neben Wortlaut, Systematik sowie Sinn und Zweck zu berücksichtigen wäre. Indem aber diese Erklärung in der Form eines Parlamentsgesetzes abgegeben und zudem in die auszulegende Norm integriert wurde, hat der Landesgesetzgeber zum Ausdruck gebracht, dass er seiner Erklärung die mit dem Parlamentsgesetz verbundene Bindungswirkung verleihen wollte. Diese Intention lässt sich insbesondere aus der Begründung des Änderungsantrags der Fraktion der SPD sowie den Umständen der Gesetzgebung im Wechselspiel der mehrfachen Änderung des § 6 KAG-LSA und der dazu ergangenen Rechtsprechung insbesondere des OVG-LSA ableiten. Auch der Wordaut des § 6 Abs. 6a KAG-LSA spricht dafür, eine derartige Bindungswirkung anzunehmen. Wenn es heißt, dass bereits seit dem In-KraftTreten des Kommunalabgabengesetzes am 15.6.1991 eine Beitragspflicht immer nur dann entstand, wenn spätestens zum Zeitpunkt der Beendigung der beitragsauslösenden Maßnahme eine Beitragssatzung in Kraft getreten war, so wird damit ein verbindlicher Beurteilungsmaßstab für die Rechtmäßigkeit entsprechender Beitragserhebungen vermittelt, der nur dann einen Sinn ergibt, wenn ihm auch LVerfGE 13

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rechtliche Bindungswirkung beikommen soll. Anderenfalls hätte die Einbe2iehung in den § 6 KAG-LSA unterbleiben können. Da zu unterstellen ist, dass der Landesgesetzgeber diesen Weg bewusst gewählt hat, um seiner Interpretation der Norm die mit einem Parlamentsgesetz verbundene Bindungswirkung beizulegen, spricht bereits der Wortlaut für die Annahme einer materiellen Regelung. Im Ergebnis liegt ein materielles Landesgesetz und folglich ein zulässiger Prüfungsgegenstand im Rahmen eines konkreten Normenkontrollverfahrens gem. §§ 2 Nr. 6, 42 Abs. 1 LVerfGG-LSA vor. 1.2. Die Verfassungsmäßigkeit bzw. Gültigkeit des § 6 Abs. 6a KAG-LSA ist für den Rechtsstreit auch entscheidungserheblich. Das ist immer dann der Fall, wenn die im gerichtlichen Ausgangsverfahren zu treffende Entscheidung von der Gültigkeit der Norm abhängt, also die Entscheidung je nach Beantwortung dieser Frage zu einem anderen Ergebnis führt (BVerfGE 80, 59, 65; 72, 51, 60 f; Klein in: Umbach/Clemens, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Kommentar, 1992, § 80 Rn. 33 mwN). Bei der Beurteilung dieser Frage ist bezüglich der Tatsachenwürdigung und der Beurteilung von einfachrechtlichen Fragestellungen die Auffassung des vorlegenden Gerichts zugrunde zu legen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die rechtliche oder tatsächliche Würdigung des vorlegenden Gerichts offensichtlich unhaltbar ist (BVerfGE 81, 40, 49 unter Hinweis auf BVerfGE 31, 47, 52 und 65,132,137). Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht in beiden Fällen dargelegt, dass nach dem Ergebnis seiner rechtlichen und tatsächlichen Würdigung ohne Anwendung des § 6 Abs. 6a KAG-LSA aus anderen Gründen eine Beitragspflicht nicht vollständig entfallen würde. Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass diese Würdigungen in rechtlicher oder tatsächlicher Hinsicht unhaltbar sind. Deshalb wirkt sich die Frage nach der Gültigkeit des § 6 Abs. 6a KAG-LSA auf die Entscheidung beider Rechtsstreite aus. 1.3. Das Gericht ist auch von der Verfassungswidrigkeit der zur Prüfung gestellten Norm überzeugt und hat dies im Einzelnen dargelegt. Die Vorlagen sind damit zulässig. 2. § 6 Abs. 6a KAG-LSA ist mit der Landesverfassung unvereinbar. § 6 Abs. 6 a KAG-LSA ist nichtig, da er die durch Art. 2 Abs. 3, 87 Abs. 1, 88 Abs. 3 LVerf-LSA garantierte kommunale Rechtsetzungs- und Finanzhoheit verletzt, indem er rückwirkend die Möglichkeiten der Gemeinden zur Erhebung von Straßenausbaubeiträgen einschränkt, obwohl die verfassungsrechtlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen für den Erlass eines rückwirkenden Gesetzes fehlen. 2.1. Den Gemeinden steht gem. Art. 87 Abs. 1 LVerf-LSA das Recht zu, ihre Angelegenheiten im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu verwalten. Eine inhaltsgleiche Regelung trifft auf Bundesebene Art. 28 Abs. 2 GG. Dieses Selbstverwaltungsrecht bezieht sich auf das Ob und Wie der AufgabenwahrnehLVerfGE 13

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mung und schließt die rechtliche Ausgestaltung der Finanzierung der kommunalen Aufgaben mit ein. Da eine eigenverantwortliche Aufgabenwahrnehmung ohne entsprechende Finanzmittel jedenfalls im Bereich der Einrichtungen der kommunalen Infrastruktur bereitstellenden Leistungsverwaltung nicht möglich ist, hat der Landesverfassunggeber neben der in Art. 88 Abs. 1 LVerf-LSA begründeten Pflicht des Landes, die Kommunen mit einer ausreichenden Finanzausstattung zu versehen, ihnen in Art. 88 Abs. 3 LVerf-LSA das Recht zugewiesen, „nach Maßgabe der Gesetze ... eigene Steuern und Abgaben zu erheben." Diese verfassungsrechtliche Vorgabe hat der Landesgesetzgeber insbesondere durch den Erlass des Kommunalabgabengesetzes umgesetzt. Die den Kommunen durch einzelne Vorschriften des Kommunalabgabengesetzes, insbesondere des § 6 KAG-LSA eröffneten Möglichkeiten, Steuern, Gebühren und Beiträge zur Finanzierung der kommunalen Aufgaben auf der Grundlage entsprechender Satzungen zu erheben, sind zwar in ihrer konkreten Ausgestaltung und Reichweite nicht von der Verfassungsgarantie der Art. 87 Abs. 1, 88 Abs. 3 LVerf-LSA gefordert. Gleichwohl wird der - rechtsfehlerfreie Gebrauch der einzelnen Abgabenerhebungsermächtigungen, soweit sie wirksam begründet wurden, von der Verfassungsgarantie in ihren Teilaspekten der Finanzund Rechtsetzungshoheit im Kern erfasst und entsprechend geschützt. Die Finanzhoheit ist einerseits als an das Land gerichteter Anspruch auf angemessene Finanzausstattung ausgestaltet und insoweit durch Art. 87 Abs. 1 LVerf-LSA und Art. 28 Abs. 2 S. 3 GG gewährleistet (vgl. auch Art. 88 Abs. 1 LVerf-LSA). Soweit die Finanzierung kommunaler Aufgaben durch die Erhebung eigener Abgaben erfolgt, erstreckt sich die Finanzhoheit auch auf den Erlass und die nähere Ausgestaltung von Abgabensatzungen. Dieses Recht wird den Kommunen in Art. 88 Abs. 3 LVerf-LSA explizit gewährleistet und damit ihre Finanzhoheit durch die Rechtsetzungshoheit ergänzt. Letztere ist ein unverzichtbares Instrument einer effektiven eigenverantwortlichen Aufgabenerfüllung und wird insbesondere durch den Erlass von Satzungen ausgeübt. Rechtsetzungs- und Finanzhoheit stehen insoweit in enger Wechselwirkung. Die Finanzhoheit garantiert den Kommunen weiterhin das Recht zu einer eigenverantwortlichen Einnahmen- und Ausgabenwirtschaft, die ihrerseits in einer engen Beziehung zur Aufgabenplanung steht. Da Aufgaben der Leistungsverwaltung, wie z.B. Herstellung und Ausbau von Straßen und leitungsgebundenen Einrichtungen und Anlagen, regelmäßig nur bei vorheriger Sicherung ihrer Finanzierung wahrgenommen werden können, wirkt die Finanzhoheit auch auf die Gestaltungsfreiheit bei der Aufgabenwahrnehmung im Bereich der Daseinsvorsorge zurück. Beschneidungen der Finanzhoheit wirken sich insoweit mittelbar auf die eigenverantwortliche Aufgabenerfüllung in den betroffenen Bereichen aus. Das gilt umso mehr, wenn es sich um nachträgliche, rückwirkende Beschneidungen handelt.

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Die Verfassungsgarantie der kommunalen Selbstverwaltung verlangt, dass den Kommunen ausreichende und effektive Gestaltungsinstrumente zur Wahrnehmung ihres Selbstverwaltungsrechts zur Verfügung gestellt werden. Vor allem bei Aufgaben des eigenen Wirkungskreises steht den Kommunen gegenüber dem Land zwar kein Anspruch auf eine bestimmte Art der Aufgabenfinanzierung zu. Es steht — im Rahmen bundesrechtlicher Vorgaben — deshalb auch im Ermessen des Landesgesetzgebers, welche Art der Finanzierung er für einzelne Aufgabenfelder vorsieht bzw. eröffnet. Hat sich der Landesgesetzgeber jedoch dafür entschieden, den Kommunen für die vollständige oder teilweise Finanzierung bestimmter Aufgaben ein Abgabenbzw. Beitragserhebungsrecht einzuräumen, so wird auch die Ausübung dieses Rechts von der Selbstverwaltungsgarantie erfasst. Man kann insoweit von einem Ausübungsschutz sprechen. Die letztverbindliche Feststellung, ob eine konkrete Ausübung des Beitragserhebungsrechts rechtmäßig und damit von der Selbstverwaltungsgarantie geschützt war, ist Aufgabe der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Ist letztinstanzlich und rechtskräftig festgestellt, dass eine bestimmte Gesetzesanwendung rechtmäßig ist, so unterfällt sie dem Ausübungsschutz und damit der Selbstverwaltungsgarantie. Dementsprechend durften die Kommunen auf Grund des Beschlusses des OVGLSA vom 4.11.1999 (Az. B 2 S 433/99, VwRR MO 2000, S. 26) jedenfalls bis zum In-Kraft-Treten des Änderungsgesetzes vom 16.4.1999 am 22.4.1999 Beitragssatzungen für Straßenbaumaßnahmen auch nach Beendigung der Maßnahme erlassen. 2.2. In diese durch Art. 87 Abs. 1, 88 Abs. 3 LVerf-LSA geschützte Ausübung der Finanz- und Rechtsetzungshoheit wird durch § 6 Abs. 6a KAG-LSA eingegriffen, indem die nach § 6 Abs. 6 KAG-LSA nach Beendigung der Maßnahme erlassenen Beitragssatzungen infolge der rückwirkenden Rechtsänderung nichtig werden mit der Folge, dass Beiträge für die betroffenen Maßnahmen nicht mehr erhoben werden können. Demnach entfällt für diese Maßnahmen endgültig die Möglichkeit der Beitragsfinanzierung, so dass die Kommunen zur Kostendeckung auf andere Haushaltsmittel zurückgreifen müssen. Die durch die Maßnahme begünstigten Grundstückseigentümer erlangen ihrerseits ohne individuelle Gegenleistung einen wirtschaftlichen Vorteil. 2.3. Dieser im Rahmen des Gesetzesvorbehalts von Art. 87 Abs. 1 LVerfLSA grundsätzlich auch im Wege der „authentischen Interpretation" mögliche, aber rechtfertigungsbedürftige Eingriff des Gesetzgebers beinhaltet im konkreten Fall eine rückwirkende Gesetzesänderung, deren verfassungsrechtliche Voraussetzungen aber nicht gegeben sind. Er ist weder durch überwiegende Belange des Gemeinwohls, wie die Korrektur einer unrichtigen Rechtsprechung, noch durch kollidierende Rechtspositionen der Beitragspflichtigen, namentlich deren Vertrauensschutz, legitimiert. Vielmehr überwiegt im Rahmen der Abwägung das verfassungsrechtlich verankerte Finanzierungsinteresse der Kommunen. LVerfGE 13

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2.3.1. Die verfassungsrechtliche Gewährleistung der kommunalen Selbstverwaltung ist in Art. 87 Abs. 1 LVerf-LSA ebenso wie in Art. 28 Abs. 2 GG nur im Rahmen der Gesetze gewährleistet. Im Rahmen dieses Gesetzesvorbehalts sind auch Beschränkungen von Ausübungsrechten grundsätzlich möglich. Das gilt auch für rückwirkende Beschränkungen. Allerdings unterliegt die gesetzliche Beschränkung des Selbstverwaltungsrechts ihrerseits gewissen Schranken und spezifischen inhaltlichen Anforderungen. Danach muss der Kernbereich des Selbstverwaltungsrechts in jedem Fall unangetastet bleiben (BVerfGE 79, 127, 146 std. Rspr.). Im Übrigen muss eine Beschränkung des Selbstverwaltungsrechts durch überwiegende Belange des gemeinen Wohls oder Belange Privater getragen sein, die nicht außer Verhältnis zu den Nachteilen für die betroffenen Kommunen stehen, in deren Rechte eingegriffen wird. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob diese Anforderungen aus dem im Rechtsstaatsprinzip verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (BVerfGE 26, 228, 239; 56, 298, 313; 76, 107, 119; abl. jedoch seit: BVerfGE 79, 127, 154 bei gleichzeitiger Einführung des Aufgabenverteilungsprinzips; dazu Schoch Zur Situation der kommunalen Selbstverwaltung nach der Rastede-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, VerwArch 81, 1990, 18, 31 f; Freti^ Gemeindliche Selbstverwaltungsgarantie und Verhältnismäßigkeit, in: Die Verwaltung 1995, 33 ff) oder einem gemeindebegünstigenden Vorrangprinzip (Dreier in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. 2, 1998, Art. 28 Rn. 120; Schmidt-Aßmann Kommunale Selbstverwaltung nach Rastede, in: FS Sendler, 1991, S. 121, 136) abzuleiten sind. In jedem Fall muss der Eingriff sachlich gerechtfertigt und ausgewogen sein (zur weitgehenden Gleichwertigkeit beider Ansätze Dreier aaO). Zu den im Rechtsstaatsprinzip verankerten Grundsätzen, die bei Einschränkungen des Selbstverwaltungsrechts zu beachten sind, gehört auch das Rückwirkungsverbot. 2.3.2. Im vorliegenden Fall ist der Eingriff nicht schon deshalb verfassungsrechtlich bedenklich, weil er im Wege einer sogenannten „authentischen Interpretation" vorgenommen wird. Es handelt sich dabei nicht um eine generell unzulässige gesetzgeberische Handlungsform, die mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung unvereinbar ist. Es liegt auch keine Beeinträchtigung der Rechtsprechungsfünktion der Verwaltungsgerichte vor. Das Gesetz als abstrakt-generelle Regelung erfüllt im demokratischen Verfassungsstaat eine zentrale Funktion bei der Steuerung der Verwaltung und der Verhaltensfreiheit der Bürger durch den Gesetzgeber. Während das Gesetz der Verwaltung — jedenfalls im Falle des ermächtigenden Gesetzes — Handlungs- und Gestaltungsspielräume eröffnet und für den Bürger in vielen Fällen Verhaltenspflichten begründet, steht die Rechtsprechung dem Gesetz mit einer gewissen Distanz gegenüber. Ihre Aufgabe ist es, das aus der Willensbildung des Gesetzgebers hervorgehende Steuerungs- und Handlungsinstrument in seiner Anwendung durch die Verwaltung gegenüber dem Bürger „neutral" vor dem Hintergrund der Gesetzesbindung der Verwaltung gem. Art. 2 Abs. 4 LVerf-LSA zu beurteilen. LVerfGE 13

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Die der rechtsprechenden Gewalt im Allgemeinen und den Verwaltungsgerichten im Besonderen zufallende Aufgabe, das Verwaltungshandeln auf seine Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen und damit in den meisten Fällen zugleich Individualrechtsschutz gem. Art. 21 Abs. 1 LVerf-LSA zu gewähren, setzt neben der Anwendung des Rechts auf den Einzelfall als genuine Aufgabe der Rechtsprechung immer auch die Auslegung des Norminhalts voraus. Das bedeutet indes nicht, dass die Auslegung als Teil der Rechtsanwendung nur Aufgabe der rechtsprechenden Gewalt ist. Es bedarf insoweit einer zwischen verschiedenen Situationen und Stationen der Norminterpretation differenzierenden Betrachtung. Im Prozess des Normerlasses hat der Gesetzgeber zunächst selbst die Möglichkeit, durch die Gestaltung des Wordauts, die Beifügung von Legaldefinitionen und die Art der Gesetzesbegründung auf die Rahmenbedingungen der späteren Auslegung der Norm Einfluss zu nehmen. Die Verwaltung ist bei der Anwendung der Gesetze zur Auslegung bereits deshalb gezwungen, weil sie bei der Anwendung auf den Einzelfall notwendigerweise von einem bestimmten Norminhalt ausgehen muss. Die Verbindlichkeit der Interpretation durch die Verwaltung gegenüber dem Bürger ist jedoch insoweit beschränkt, als dieser eine verwaltungsgerichtliche Kontrolle herbeiführen kann. Erst den Gerichten steht die Befugnis zur letztverbindlichen Interpretation zu. Ihre Auslegung kann durch den Gesetzgeber nicht unmittelbar in Frage gestellt werden. Akte der Rechtsprechung sind vielmehr von keiner anderen Staatsgewalt überprüfbar als der richterlichen. Sie treten deshalb mit dem Anspruch potenzieller Letztverbindlichkeit auf (vgl. Stern Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 43 I 4 d). Der Gefahr eines nicht endenden Wettstreits um die richtige Interpretation einer Norm ist damit wirksam Einhalt geboten. 2.3.3. Dies bedeutet indes nicht, dass es dem Gesetzgeber verwehrt ist, in Ausübung der gesetzgebenden Gewalt eine von den Gerichten begründete verbindliche Norminterpretation durch eine neue oder - aus seiner Sicht — klarstellende Regelung zu korrigieren. Ohne weiteres möglich ist eine solche Korrektur mit Wirkung für die Zukunft, soweit kein verfassungsrechtlich verankerter Vertrauensschutz entgegensteht (Droste-Lehnen aaO, S. 301 ff). Strengeren Anforderungen unterliegt demgegenüber eine auch in die Vergangenheit zurückwirkende Regelung. Soweit sie in geschützte Rechtspositionen eingreift, ist sie nur im Rahmen einer entsprechenden Eingriffsrechtfertigung zulässig. Die Aufgabe der Rechtsprechung, Gesetze auszulegen und auf den Einzelfall anzuwenden, wird dadurch nicht in Frage gestellt. Die durch einen Interpretationskonflikt zwischen Gesetzgeber und Rechtsprechung ausgelöste Normsetzung ist nicht anders zu beurteilen als eine durch sonstige Gründe veranlasste rückwirkende Gesetzesänderung. 2.3.4. § 6 Abs. 6a KAG-LSA verstößt gegen das im Rechtsstaatsprinzip des Art. 2 Abs. 1 LVerf-LSA verankerte Rückwirkungsverbot. LVerfGE 13

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Die verfassungsrechtlichen Maßstäbe, die an eine rückwirkende Gesetzesänderung zu stellen sind, werden in Rechtsprechung und wissenschaftlichen Schrifttum vor allem für grundrechtsrelevante Maßnahmen diskutiert (Maurer Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 1988, § 60). Dabei steht wiederum der Schutz von privaten Investitionen und Vermögensinteressen im Vordergrund. Wegen der begrenzten Schutzwirkung des Eigentumsgrundrechts im Hinblick auf das Vermögen als solches ergeben sich hier besondere Probleme, die im vorliegenden Zusammenhang bei Kommunen in der Regel nicht auftreten. Aus diesem Grunde ist auch eine Orientierung an den zu dieser Problematik entwickelten Lösungsmodellen nicht hilfreich. Vielmehr ist eigenständig zu klären, ob und nach welchen Maßstäben rückwirkende Eingriffe in durch das Selbstverwaltungsrecht geschützte Rechtspositionen der Kommunen zulässig sind und welchen Rechtfertigungsanforderungen sie unterliegen. Wie das Gericht bereits in seinem Urteil vom 12.12.1997 ausgeführt hat, entfaltet das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot seine Schutzwirkung auch zugunsten der kommunalen Gebietskörperschaften (LVerfG-LSA, Urt. v. 12.12.1997 - LVG 12/97 LVerfGE 7, 304, 324). Es findet seine Grundlage im Rechtsstaatsprinzip des Art. 2 Abs. 1 LVerf-LSA, das auch zwischen Gesetzgeber und kommunalen Gebietskörperschaften Geltung beansprucht (allgemein Küttig Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 312 ff; speziell zum Rückwirkungsverbot Maurer aaO, Rn. 26). Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, dass die Ausübung von Rechtsetzungsbefugnissen sich von privaten Investitionen und vergleichbaren Vermögenswerten Dispositionen insoweit unterscheidet, als die Schutzwürdigkeit der Ausübung jener Befugnisse durch die Kommunen nicht von einem besonderen Vertrauensschutztatbestand abhängt. Vielmehr ist aufgrund der Aufgabenverteilung zwischen Gesetzgeber, Verwaltung und Rechtsprechung jede rechtmäßige Ausübung von Rechtsetzungsbefugnissen geschützt. Auch in Fällen, in denen die Auslegung von Normen umstritten ist, spielt die im Staat-Bürger-Verhältnis entwickelte Kategorie des Vertrauensschutzes keine konstitutive Rolle. Im gewaltenteilenden System des Grundgesetzes und der Landesverfassung von SachsenAnhalt ist die gewissenhafte Auslegung von zur Rechtsetzung ermächtigenden Normen — wie anderer Normen auch — eine den Verwaltungsbehörden anvertraute Aufgabe, die generell unter dem Vorbehalt der gerichtlichen Nachprüfung steht. Unzutreffend ist die Annahme, dass durch erstinstanzliche Urteile zu Lasten der Kommunen die Schutzwürdigkeit einer bestimmten Auslegung des § 6 Abs. 6 KAG-LSA entfallen sein könnte. Solche Urteile können mit Rechtsmitteln angegriffen und im Rahmen des Berufungsverfahrens durch das Oberverwaltungsgericht aufgehoben werden. Maßgebliches Kriterium für die Rechtsausübung ist nach dem System der VwGO allein die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit eines Verwaltungshandelns. Von den Verwaltungsgerichten letztverbindlich als rechtmäßig eingestuftes Verwaltungshandeln ist damit ohne jede weitere AnfordeLVerfGE 13

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rung schutzwürdig, genauso wie ein rechtswidriges Verwaltungshandeln, unabhängig davon, welche Gründe und Umstände die Entscheidung der Verwaltung geleitet haben, der Schutzwürdigkeit entbehrt. Im Vergleich zu den in der Rechtsprechung zum Rückwirkungsverbot dominierenden Fällen der Schutzwürdigkeit privaten Grundrechtsgebrauchs kommt darin die unterschiedliche Funktion des Gesetzes zum Ausdruck, das für den investierenden Privaten nur Rahmenbedingung der Grundrechtsausübung ist, während es für die Verwaltungsbehörde unmittelbar als Ermächtigungs- und Handlungsnorm fungiert und von der Selbstverwaltungsgarantie erfasst wird. Auch wenn demnach der Vertrauensschutz für die Kommunen nicht die gleiche Bedeutung besitzt wie für den Bürger, entspricht § 6 Abs. 6a KAG-LSA nicht den Anforderungen, die allgemein an die Zulässigkeit einer sogenannten echten Rückwirkung gestellt werden. Danach ist eine rückwirkende Regelung ausnahmsweise dann zulässig, wenn eine Norm nichtig ist und durch eine gültige ersetzt wird, das geltende Recht unklar und verworren bzw. lückenhaft ist oder in dem Maße sittenwidrig und unbillig, dass ernsthafte Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit bestehen. Weitere Fälle der Zulässigkeit rückwirkender Regelungen sind, dass zwingende Gründe des allgemeinen Wohls, die dem Gebot der Rechtssicherheit übergeordnet sind, eine Rückwirkungsanordnung rechtfertigen oder dass die Betroffenen nach der rechtlichen Situation im Zeitpunkt, auf den der Eintritt der Rechtsfolgen zurückbezogen wird, nicht mit dem Fortbestand der Regelung rechnen durften, so dass sie sich nicht auf Vertrauensschutz berufen können. 2.3.4.1. Die Vorschrift des § 6 Abs. 6 KAG-LSA war weder in ihrer ursprünglichen Fassung noch in derjenigen des Änderungsgesetzes vom 16.4.1999 (LSA-GVB1., S. 15) nichtig. 2.3.4.2. Die durch § 6 Abs. 6 KAG-LSA geregelte Rechtslage war auch weder unklar noch verworren oder lückenhaft. Sie war vielmehr durch das hierfür zuständige O V G des Landes Sachsen-Anhalt letztinstanzlich geklärt. Die Tatsache, dass ein Obergericht die Rechtsprechung erstinstanzlicher Gerichte korrigiert, ist ein normaler und im System der Rechtsgewährung vorgesehener Vorgang. 2.3.4.3. Es sind auch keine zwingenden Gründe des allgemeinen Wohls, die dem Gebot der Rechtssicherheit übergeordnet sind und eine Rückwirkungsanordnung rechtfertigen könnten, ersichtlich. Die vom Gesetzgeber beabsichtigte Durchsetzung der „richtigen" Gesetzesinterpretation vermag den Eingriff in die kommunale Finanz- und Rechtsetzungshoheit, soweit sie bereits gestaltend ausgeübt wurde, nicht zu rechtfertigen. Dem Landesgesetzgeber ging es bei der Einfügung des § 6 Abs. 6a KAGLSA ausweislich der Gesetzesmaterialien darum, die nach seiner Ansicht irrige, die Intention des (historischen) Gesetzgebers verkennende Auslegung des § 6 Abs. 6 KAG-LSA zu korrigieren und damit seinen ursprünglichen Normsetzungswillen LVerfGE 13

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(wieder) Geltung zu verschaffen. Da die Auslegung von Gesetzen angesichts der Offenheit und Mehrdeutigkeit von Sprache im Allgemeinen und Gesetzessprache im Besonderen nur in den seltensten Fällen zwingend zu nur einem richtigen Ergebnis fuhrt und die deutsche Verfassungsordnung die letztverbindliche Gesetzesauslegung der rechtsprechenden Gewalt zuweist, muss der Gesetzgeber eine von seinen ursprünglichen Absichten abweichende Auslegung von Normen grundsätzlich hinnehmen, solange dabei nicht willkürlich gehandelt wird. Dies bestätigt auch die Aussage des Bundesverfassungsgerichts, nach der „die Auslegung des einfachen Gesetzesrechts einschließlich der Wahl der hierbei anzuwendenden Methode ... Sache der Fachgerichte und vom Bundesverfassungsgericht grundsätzlich nicht auf ihre Richtigkeit hin zu untersuchen (ist). Bedient sich das Fachgericht dabei der herkömmlichen Auslegungsmethoden, bestehen dagegen keine verfassungsrechtlichen Bedenken" (BVerfGE 82, 6, 11). Die Grenze der Willkür wird durch die in Frage stehenden Entscheidungen des OVG-LSA nicht überschritten. Nach der in der deutschen Rechtsordnung allgemein anerkannten, auf Savigny zurückgehenden Methode der Gesetzesinterpretation erfolgt die Auslegung unter Berücksichtigung von Wortlaut, systematischer Stellung, Sinn und Zweck sowie Entstehungsgeschichte der betreffenden Vorschrift (Laren£ Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 320 ff). Reichen diese Kriterien nicht aus, so ist auf objektiv-teleologische Kriterien zurückzugreifen, auch wenn diese dem Gesetzgeber nicht voll bewusst gewesen sein sollten. Dabei ist auf die Sachstrukturen des Normbereichs und auf die Vermeidung von Wertungswidersprüchen zu achten (Laren% aaO, S. 344). Das Verhältnis dieser einzelnen Auslegungskriterien wird ganz überwiegend dahingehend verstanden, dass der Wordaut den Ausgangspunkt und die Grenze der Auslegung markiert und der Bedeutungszusammenhang der Einpassung einer Regelung in ihren normativen Kontext dient (Laretis; aaO, S. 343 f). An die Zwecke des Gesetzes und die ihnen zugrunde liegenden Wertentscheidungen des Gesetzgebers ist der Richter bei der Auslegung des Gesetzes grundsätzlich gebunden. Dies gilt indessen nicht für die Vorstellungen der an der Vorbereitung und Abfassung des Gesetzes beteiligten Personen. Äußerungen in Sitzungsberichten und Parlamentsdebatten stellen zwar eine wertvolle Hilfe für das Verständnis des Norminhalts dar. Sie sind aber nicht ohne weiteres dem Willen des eigentlichen Gesetzgebers gleich zu setzen und daher auch nicht verbindlich (Larena^ aaO, S. 344). Insgesamt besteht kein festes Rangverhältnis der einzelnen Auslegungskriterien zueinander. Deshalb kann auch nicht mit letzter Genauigkeit gesagt werden, wann ein aus der Entstehungsgeschichte der Norm gewonnenes Argument hinter die objektiv-teleologischen Kriterien zurückzutreten hat, etwa um mögliche Wertungswidersprüche oder Ungleichbehandlungen zu vermeiden. Der (verwaltungsgerichtlichen) Rechtsprechung stehen deshalb gewisse Spielräume auch bei der Gewichtung der einzelnen Auslegungskriterien zu.

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Legt man diese Maßstäbe an die Rechtsprechung des OVG-LSA an, die durch die Einfügung des Abs. 6a in § 6 KAG-LSA korrigiert werden sollte, so hat sich das OVG-LSA innerhalb der vorstehend entwickelten Grenzen gehalten. In seinem Beschluss vom 19.2.1998, der sich auf die Rechtslage vor In-KraftTreten des Änderungsgesetzes vom 16.4.1999 bezog, stand die Frage im Vordergrund, wie sich die Einfügung des neuen Satzes 2 auf die Interpretation des Satzes 1 in § 6 Abs. 6 KAG-LSA auswirkt. Da das OVG-LSA sich zur Auslegung des Satzes 1 vor Einfügung des Satzes 2 nicht geäußert hatte, musste es gleichzeitig dessen Auslegung vor und nach Einfügung des Satzes 2 vornehmen. Dabei hat es sich im Wesentlichen auf das Argument gestützt, dass ein Gesetz auch rein deklaratorische Wirkung haben kann, um das klarzustellen, was sich aus anderen Regelungen, wenn auch nicht ausdrücklich, bereits ergibt. Das Gericht interpretierte § 6 Abs. 6 KAG-LSA vor der Einfügung von Satz 2 in dem Sinne, dass die Beitragssatzung auch nach Beendigung der Maßnahme erlassen werden konnte. Der Wortlaut von § 6 Abs. 6 KAG-LSA war für eine solche Auslegung offen. Die systematische Stellung der Norm sprach vor dem Hintergrund der in § 6 Abs. 1 KAG-LSA angeordneten Pflicht zur Beitragserhebung jedenfalls nicht gegen eine solche Interpretation. Auch den Gesetzgebungsmaterialien sind keine Hinweise auf eine entgegenstehende Absicht zu entnehmen. Die entsprechende Passage der Begründung des Gesetzentwurfs der Landesregierung vom 21.3.1991 (LT-Drs. 1/304, S. 46) hat folgenden Wordaut: „Die Beitragspflicht entsteht nicht schon mit dem tatsächlichen Abschluss der Bauarbeiten, sondern erst dann, wenn der entstandene Aufwand feststellbar ist; das ist regelmäßig erst mit Eingang der letzten Unternehmerrechnung der Fall. Bei leitungsgebundenen Einrichtungen entsteht die Beitragspflicht, wenn das öffentliche Leitungsnetz vor dem jeweiligen Grundstück betriebsfertig hergestellt ist. Wenn die öffentliche Einrichtung entsprechend der jeweiligen Ortssatzung auch die Grundstücksanschlüsse umfaßt, so sind die Anlagen erst dann als betriebsfertig anzusehen, wenn auch diese Anschlüsse hergestellt sind." Eine über den Wordaut des § 6 Abs. 6 KAG-LSA (1991) hinausgehende Position des Landesgesetzgebers zu der Frage, bis zu welchem Zeitpunkt die Beitragssatzung spätestens erlassen sein muss, lässt sich daraus nicht ableiten. Insbesondere folgt daraus kein eindeutiger Hinweis, dass dies spätestens bei Beendigung der Maßnahme der Fall sein muss. Die spätere Einfügung von Satz 2 hat den fortbestehenden, durch das OVGLSA willkürfrei ermittelten Regelungsgehalt des Satzes 1 nicht verändert. Es ist insoweit davon auszugehen, dass mit der Anfügung des Satzes 2 durch das Änderungsgesetz der Regelungsgehalt des unverändert fortbestehenden Satzes 1 nicht modifiziert wurde. Auch der Umstand, dass sich das OVG-LSA zur Interpretation von Satz 1 erst geäußert hat, als Satz 2 bereits angefugt war, bedeutet nicht, dass diese Auslegung im Lichte dieser Änderung zu erfolgen hat. Zwar mag die systematische Auslegung von Satz 1 nach der Änderung dafür sprechen, im Wege des Umkehrschlusses für Straßenausbaubeiträge zu verlangen, dass die BeitragssatLVerfGE 13

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zung jedenfalls vor Beendigung der Maßnahme vorliegen muss. Die Ermittlung des Regelungsgehalts von Satz 1 kann jedoch ohne Bezugnahme auf den späteren Rechtszustand erfolgen, so dass die Auslegung des OVG-LSA im Ergebnis vertretbar, jedenfalls nicht verfassungsrechtlich bedenklich oder willkürlich ist. In einem weiteren Beschluss vom 4.11.1999 hatte sich das OVG-LSA mit der Frage auseinanderzusetzen, ob durch die Neufassung des § 6 Abs. 6 KAGLSA durch das Änderungsgesetz vom 16.4.1999 eine rückwirkende Änderung der Rechtslage bewirkt wurde. Dies hat es vor allem mit dem Argument verneint, dass eine Rückwirkung weder ausdrücklich vorgesehen noch im Wege der Auslegung aus der Norm abzuleiten ist. Auch diese Auslegung begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, da sie in Anwendung der herkömmlichen Auslegungskriterien willkürfrei gewonnen wurde. Der Wortlaut der Neuregelung enthält keinerlei Anhaltspunkte für eine rückwirkende Geltung. Die in der Gesetzesbegründung geäußerte Annahme, es handele sich lediglich um eine Klarstellung, war angesichts der zuvor durch das OVG-LSA getroffenen verbindlichen Auslegung nicht zutreffend, so dass auch die Gesetzesbegründung selbst im Ergebnis gegen die Annahme einer rückwirkenden Geltung spricht. Um die den kommunalen Gebietskörperschaften aufgrund der Rechtsprechung des OVG-LSA im Rahmen ihres Selbstverwaltungsrechts eröffnete Möglichkeit zu entziehen, Beitragssatzungen für Straßenausbaumaßnahmen auch nach Beendigung der Maßnahme zu erlassen, hätte es aber einer ausdrücklichen rückwirkenden Regelung und nicht nur einer Äußerung in den Gesetzesmaterialien bedurft. 2.3.4.4. Die Betroffenen mussten bzw. durften nicht mit einer rückwirkenden Gesetzesänderung rechnen, und zwar mussten sich weder die Kommunen darauf einstellen noch durften betroffene Bürger darauf vertrauen. Die Kommunen, in deren kommunale Finanzhoheit mit § 6 Abs. 6 a KAGLSA rückwirkend eingegriffen wurde, mussten aufgrund der letztinstanzlich geklärten Rechtslage nicht mit einer rückwirkenden Neuregelung rechnen. Der Eingriff in ihre kommunale Finanzhoheit ist auch nicht durch das Ziel der Sicherung des Vertrauensschutzes der Beitragspflichtigen gerechtfertigt. Der sachliche Kern der Auseinandersetzung um die Auslegung des § 6 Abs. 6 KAG-LSA ist in der Frage zu erblicken, ob zugunsten der Bürger in SachsenAnhalt von einem besonderen Vertrauen ausgegangen werden kann, im Falle von Investitionen der öffentlichen Hand in die Infrastruktur von Kostenpflichten frei zu bleiben und dass aus diesem Grunde die Beitragssatzungen jedenfalls vor Beendigung der Maßnahme erlassen sein müssen (vgl. Begründung zum Änderungsantrag des Fraktion der SPD zum Gesetzentwurf der Fraktion der PDS - Drs. 3/3186, Anlage 2 zum Protokoll des Ausschuss für Inneres, 30. Sitzung am 10.5.2000, S. 3). Dieses Argument wird in der zitierten Begründung des Änderungsantrags durch folgende Erwägungen ergänzt: „Beim Vertrauensschutz ist auf die besondere Situation der ehemaligen DDRBürger in der Nachwendezeit abzuheben. Kostenbeteiligungen wie nach dem KAGLVerfGE 13

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Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt LSA gab es früher nicht. Das bundesdeutsche Rechtssystem war völlig neu und in seinem Umfang und in seiner Komplexität unüberschaubar. Selbst Bürgermeistern war damals zum Teil nicht bekannt, dass es ein Gesetz- und Verordnungsblatt des Landes Sachsen-Anhalt gab, in dem Landesrecht abgedruckt wurde. Daher musste zur Beseitigung des Vertrauens mehr geschehen als die Verabschiedung eines Gesetzes im Landtag, nämlich die Beratung und der Erlass der jeweiligen Abgabensatzung im Wohnort der Bürger."

Mag der Befund als solcher im Großen und Ganzen zutreffend sein, so wird dabei doch verkannt, dass die mangelnde Kenntnisnahme des Bürgers von gesetzlichen Regelungen kein besonderes Phänomen der neuen Bundesländer in der Nachwendezeit ist. Legte man die hier formulierten Anforderungen allgemein beim Erlass von den Bürger finanziell belastenden Vorschriften zugrunde, so wäre in letzter Konsequenz der Erlass von direkt anwendbaren Gesetzen weitgehend ausgeschlossen. So dürfte die größte Zahl der steuerrechtlichen Vorschriften nur den wenigsten Bundesbürgern bekannt sein. Es gehört zu den elementaren Prinzipien des demokratischen Verfassungsstaates, dass er die Rechtsbeziehungen zu den Bürgern im Bereich von Eingriffen in Freiheit und Eigentum durch Parlamentsgesetz regelt. Der aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip abgeleitete Parlamentsvorbehalt verlangt sogar eine Regelung durch den Gesetzgeber und verbietet eine Delegation auf die Exekutive. Mit der Übernahme dieses Verfassungstypus in die Landesverfassung gilt dies auch für die Bürger in Sachsen-Anhalt. Der damit zugunsten der Bürger erreichte rechtsstaatliche Standard kann durch den Hinweis auf eine im DDR-System nicht übliche Kostenbelastung nicht ausgehöhlt werden. Vielmehr gehört die Übernahme von Lasten, wie Art. 18 Abs. 2 LVerf-LSA deutlich macht, als untrennbare Kehrseite zur Gewährleistung des Privateigentums an Grundstücken. Kommt demnach dem Parlamentsgesetz bei der Begründung von finanziellen Belastungen des Bürgers eine besondere Rolle zu, so muss für die Beurteilung der Frage, ob und in welchem Umfang der Bürger auf die kostenfreie Erstellung von Investitionen der öffentlichen Hand in die Infrastruktur vertrauen durfte, am Maßstab der betreffenden gesetzlichen Regelung bemessen werden. § 6 Abs. 1 KAG-LSA ging in seiner ursprünglichen Fassung aus dem Jahr 1991 davon aus, dass Landkreise und Gemeinden Beiträge erheben „können". Bereits diese Regelung war so zu verstehen, dass eine Erhebungspflicht besteht, soweit keine Kostendeckung durch Gebühren erfolgt (OVG-LSA, Beschl. v. 3.9.1998 - B 2 S 337/98 - , LKV 1999, 233). Die Neubekanntmachung vom 13.12.1996 hat dann durch die Änderung des Wordauts („Landkreise und Gemeinden erheben ...") die Beitragserhebungspflicht für den Normadressaten noch einmal verdeutlicht. Damit war klar, dass der Bürger mit einer Kostenbelastung rechnen musste. Von einem besonderen Vertrauen des Bürgers kann demnach bereits seit 1991 und in noch verstärktem Maße nach dem 13.12.1996 nicht die Rede sein.

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Wenn der Gesetzgeber - was ihm nicht verwehrt ist - dennoch das Ziel verfolgt, dem Bürger einen weiterreichenden Vertrauensschutz zu gewährleisten, so kann er dies im Wege der Normsetzung auch tun, wie die Neufassung des § 6 Abs. 6 KAG-LSA durch das Änderungsgesetz vom 16.4.1999 gezeigt hat. Die Absicht des Landesgesetzgebers, die Kommunen zu einem frühzeitigen Erlass der Beitragssatzung vor Beendigung der Maßnahme zu verpflichten, führt zwar dazu, dass die bevorstehende Kostenbelastung besser vorherzusehen ist und der Bürger entsprechend disponieren kann. Im Falle ihrer rückwirkenden Einführung hat diese Zielsetzung aber kein Übergewicht gegenüber den Nachteilen, die den Kommunen durch die damit verbundene Beschränkung ihrer Finanzhoheit entstehen. Die Erhöhung der Transparenz und Voraussehbarkeit einer Belastung mit Beiträgen dient dazu, dass Gesetze im materiellen Sinne, zu denen auch die kommunalen Satzungen gehören, möglichst bestimmt und klar formuliert sind und der Bürger auch möglichst frühzeitig erkennen kann, welche Verhaltenspflichten ihn treffen. Im Falle der Belastung mit Beiträgen von nicht geringem Umfang ist eine solche Voraussehbarkeit vor allem für die zu treffenden Dispositionen im vermögensrechtlichen Bereich wichtig. Die rückwirkende Verpflichtung der Kommunen, Beitragssatzungen vor Beendigung einer Maßnahme zu erlassen, vermag diese Zielsetzung wenn überhaupt, so nur sehr wenig zu fördern. Das hängt damit zusammen, dass im Falle eines Erlasses der Beitragssatzung „vor Beendigimg der Maßnahme", wie sie von § 6 Abs 6a S. 1 KAG-LSA für den allein relevanten Zeitraum vor dem 22.4.1999 vorgesehen ist, die betreffende Maßnahme bereits in Gang gesetzt sein darf, so dass die Zeit für entsprechende Dispositionen denkbar kurz ist. Allenfalls die für den Zeitraum ab dem 22.4.1999 geltende Regelung in Satz 2, nach der die Beitragssatzung vor der Entscheidung über die beitragsauslösende Maßnahme erlassen sein muss, stellt eine spürbare Verbesserung der Vorhersehbarkeit der anstehenden Kostenbelastung dar. Da der Bürger aber, wie ausgeführt wurde, schon aufgrund des Gesetzeswortlauts mit einer Belastung als solcher rechnen muss, wird durch die rückwirkende Anordnung des § 6 Abs. 6a S. 1 KAG-LSA kein spürbarer rechtsstaatlicher Vorteil erzeugt. Das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel ist insoweit aus rechtlichen und praktischen Gründen als nicht besonders gewichtig zu veranschlagen. Dem stehen erhebliche Einbußen bei den Kommunen gegenüber. Ihnen wird durch die in § 6 Abs. 6a KAG-LSA getroffene Regelung endgültig die Möglichkeit der Beitragsfinanzierung für diejenigen Straßenausbaumaßnahmen genommen, bei denen die Beitrags Satzung erst nach Beendigung der Maßnahme erlassen wurde. So hat der Städte- und Gemeindebund in seiner Stellungnahme zur 31. Sitzung des Innenausschusses vom 31.5.2000 eine Zahl von mindestens 16 betroffenen Gemeinden und ein Beitragsvolumen von ca. 6 Mio. DM genannt. Angesichts der angespannten Haushaltslage in den Kommunen von Sachsen-Anhalt wäre damit eine Vergrößerung der ohnehin vorhandenen Defizite verbunden, LVerfGE 13

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die zu weiteren Leistungseinschränkungen in anderen Bereichen fuhren würde. Unter diesen Umständen kann hier dahinstehen, inwieweit auch bereits abgeschlossene Verfahren der Beitragserhebung aufgrund der durch § 6 Abs. 6a K A G geänderten Rechtslage wieder aufgenommen und erhobene Beiträge zurückerstattet werden müssen. 3. Das Verfahren vor dem Landesverfassungsgericht ist kostenfrei (§ 32 Abs. 1 LVerfGG-LSA). Das Gericht hat keinen Anlass, eine Erstattung der notwendigen Auslagen zugunsten der an dem Verfahren des vorlegenden Gerichts Beteiligten anzuordnen (§ 32 Abs. 3 LVerfGG-LSA).

Nr. 2 1. Das Gesetz über die Einführung der Grundschule mit festen Öffnungszeiten regelt das Spannungsfeld zwischen den Erziehungsrechten der Eltern und des Staates bereits unmittelbar, soweit es eine tägliche Anwesenheit von fünfeinhalb Stunden verlangt und bestimmt, der Unterricht werde durch pädagogische Mitarbeiter(innen) ergänzt und unterstützt. Dass eine Verordnung den Zeitrahmen näher bestimmen und dass die örtliche Schule innerhalb dieses Rahmens Konkretisierungen vornehmen darf, lässt die bereits durch das Gesetz selbst erzeugte „Restbelastung" unberührt. 2. Das Elternrecht, die Inhalte der Kindererziehung zu bestimmen, und die aus der Schulaufsicht folgende staatliche Erziehungsaufgabe sind einander gleichwertig. Die Festlegung des zeitlichen Rahmens für den Schulbesuch in der Grundschule steht den Eltern nicht vorrangig zu. Der Staat darf Regelungen über Inhalte der Grundschulbildung und über die Schulpflicht auch dann treffen, wenn bei einzelnen Eltern keine Versäumnisse in der Bildungserziehung feststellbar sind. Dem Landesgesetzgeber kommt ein Gestaltungsspielraum zu, den er durch demokratische Mehrheitsentscheidung ausfüllt. Er ist nicht nur befugt, den organisatorischen Rahmen zu setzen, sondern darf auch die Lernziele, die Lernvorgänge oder das didaktische Programm bestimmen. 3. Der staatliche Erziehungsauftrag umfasst nicht nur die Wissensvermittlung, sondern erstreckt sich auch auf Bildung und Erziehung. Die Grenze zwischen Elternrecht und Schulaufsicht lässt sich nicht nach Erziehungsinhalten ziehen. Die Verfassung fordert keine Trennung in einen schulischen Bereich des Unterrichts und einen elterlichen der Betreuung, LVerfGE 13

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wenn wie hier im Fall der Grundschule mit festen Öffnungszeiten beide Bereiche zu einem einheitlichen, „integrativen" Konzept" verbunden worden sind. Es muss für die konkrete gesetzliche Ausgestaltung entschieden werden, ob diese noch innerhalb des verfassungsrechtlichen Spannungsverhältnisses zwischen elterlichen und staatlichen Erziehungs aufgaben bleibt und verhältnismäßig ist. 4. Die geringe Erweiterung der Schulpflicht, die durch das „integrative Konzept" Sachsen-Anhalts verursacht wird, greift nicht übermäßig in Elternrechte ein und fordert Kinder nicht unzumutbar. 5. Im Schulbereich muss der Gesetzgeber nur das Spannungsverhältnis zwischen Elternrecht und Schulaufsicht selbst regeln, nicht aber jede Einzelheit des pädagogischen Konzepts. Eine abschließende Regelung durch den Gesetzgeber selbst ist insbesondere nicht schon deshalb verfassungsrechtlich geboten, weil die Frage im Prozess der demokratischen Willensbildung politisch umstritten war und ist. 6. Dem Landesverfassungsgericht obliegt es nicht, zu prüfen, wie geeignet ein pädagogisches Konzept ist; es kann lediglich dessen offenkundige Unbrauchbarkeit feststellen. Ein Schulkonzept ist nicht erst dann verfassungsgemäß, wenn es sich auf in der Wissenschaft „allgemein anerkannte" Grundsätze stützt oder wenn zunächst ein „Schulversuch" stattgefunden hat. 7. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt nicht, die Betreuung lediglich als Angebot zu führen. Das mit dem „integrativen" Konzept verfolgte Ziel wird nicht mehr erreicht, wenn einzelne seiner Teile nur freiwillig zur Verfügimg und nicht insgesamt unter die Schulpflicht gestellt werden. Grundgesetz Art. 31; 142 Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt Art. 11 Abs. 1; 29 Abs. 1; 75 Nr. 6 Gesetz über das Landesverfassungsgericht §§ 2 Nr. 7; 21 Abs. 2; 31 Abs. 1; 32 Abs. 2; 47 Schulgesetz des Landes Sachsen-Anhalt §§ 4; 36 Urteil vom 15. J a n u a r 2002 - LVG 9, 12, 13/01 in den Verfassungsbeschwerdeverfahren mehrerer Beschwerdeführer

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wegen des Gesetzes zur Einführung der Grundschule mit festen Öffnungszeiten vom 24. November 2000 (LSA-GVB1., S. 656). Entscheidungsformel: Die Verfassungsbeschwerden werden zurückgewiesen. Gerichtskosten werden nicht erhoben, außergerichtliche Kosten nicht erstattet. Gründe 1. Vor der hier streitigen Gesetzesänderung enthielt das Schulgesetz des Landes Sachsen-Anhalt (idF d. Bek. v. 27.8.1996 - LSA-GVB1., S. 281 zuletzt geändert durch Gesetze vom 13.1.2000 - LSA-GVB1., S. 108 - und vom 18.1.2000 - LSA-GVB1., S. 112 = LSA-SG ) u.a. folgende Regelungen: „§ 4: Grundschule (1) In der Grundschule werden Schülerinnen und Schüler des 1. bis 4. Schuljahrganges unterrichtet. (2) Die Grundschule vermittelt ihren Schülerinnen und Schülern im Unterricht Grundkenntnisse und Grundfertigkeiten und entwickelt die verschiedenen Fähigkeiten in einem für alle Schülerinnen und Schüler gemeinsamen Bildungsgang. Bei der Unterrichtsgestaltung sind die individuellen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler mit ihren unterschiedlichen kognitiven, sozialen, emotionalen und motorischen Entwicklungen zu beachten. (3) aufgehoben (4), (5)... (6) Auf Antrag der Gesamtkonferenz und in Abstimmung mit dem Schulträger können Grundschulen als Schulen mit einem zusätzlichen sozialpädagogischen Angebot gefuhrt werden, in denen Schülerinnen und Schüler in einer für alle Schultage einheitlichen Zeit unterrichtet und betreut werden (Grundschule mit festen Öffnungszeiten), soweit die personellen und sächlichen Voraussetzungen gegeben sind. Die Errichtung bedarf der Genehmigung der Schulbehörde. § 36: (Schulpflicht,) Allgemeines (1) Der Besuch einer Schule ist für alle im Lande Sachsen-Anhalt wohnenden Kinder und Jugendlichen verpflichtend (Schulpflicht). (2) Diese Pflicht wird grundsätzlich durch den Besuch einer öffentlichen Schule oder einer genehmigten Schule in freier Trägerschaft erfüllt. Die Schulbehörde kann Ausnahmen zulassen. § 42: Weitere Regelungen zur Schulpflicht Die oberste Schulbehörde wird ermächtigt, die näheren Bestimmungen zur Erfüllung der Schulpflicht einschließlich der Zurückstellungen nach § 37 Abs. 3 sowie LVerfGE 13

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zu Inhalt, Umfang und Voraussetzungen für die Erteilung des Unterrichts nach § 39 Abs. 3 durch Verordnung zu regeln." Das Gesetz (ursprünglich: „zur Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen" vom 26.6.1991 - LSA-GVB1., S. 126 seit der Änderung durch das Gesetz vom 18.7.1996 - LSA-GVB1., S. 224 - in der Bezeichnung geändert in:) zur Förderung und Betreuung von Kindern — LSA-KiBeG —, zuletzt geändert durch Gesetz vom 31.3.1999 (LSA-GVB1., S. 125,127), sieht für Kinder bis zur Versetzung in die 7. Jahrgangsstufe einen Rechtsanspruch auf einen Platz in einer Kindertagesstätte vor (§ 2 LSA-KiBeG), die „einen eigenständigen pädagogischen Auftrag" zur Ergänzung und Unterstützung der Erziehung des Kindes in der Familie hat (§ 4 Abs. 1 S. 1, 2 LSA-KiBeG). Die Geltung des Hortgesetzes (vom 31.8.1993 LSA-GVB1., S. 523 - , zuletzt geändert durch Gesetz vom 17.11.1998 - LSA-GVB1., S. 464) - LSA-HortG - , das ursprünglich (Art. 2 des Gesetzes vom 18.7.1996) zum 1.8.2000 hatte auslaufen sollen, war durch § 2 des Gesetzes vom 31.3.1999 (LSA-GVB1., S. 120,121) bis zum 1.8.2003 verlängert worden. Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Einführung der Grundschule mit festen Öffnungszeiten vom 24.11.2000 (LSA-GVB1., S. 656) - LSA-GrdSchÖffzG - hebt den bisherigen § 4 Abs. 6 LSA-SG auf (Buchstabe b) und gibt § 4 Abs. 1 LSA-SG folgende, den bisherigen einzigen Satz ergänzende Fassung (Buchstabe a): „§ 4: Grundschule (1) In der Grundschule werden Schülerinnen und Schüler des 1. bis 4. Schuljahrganges unterrichtet. Der Unterricht wird durch die Tätigkeit von pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ergänzt und unterstützt. Die Grundschule wird mit festen Öffnungszeiten gefuhrt. Die Dauer der Öffnung beträgt schultäglich in der Regel fünf und eine halbe Zeitstunde. Beginn und Ende der Öffnungszeiten legt die Schulleiterin oder der Schulleiter im Benehmen mit der Gesamtkonferenz unter Berücksichtigung der Belange der Schülerbeförderung und der öffentlichen Jugendhilfe fest. Das Verfahren und den Zeitrahmen der Öffnungszeiten regelt die oberste Schulbehörde durch Verordnung." Zugleich wird § 36 LSA-SG durch Art. 1 Nr. 2 LSA-GrdSchÖffzG um einen dritten Absatz mit folgendem Wortlaut erweitert: „§ 36: Schulpflicht (3) Die Schulpflicht erstreckt sich auch auf die Zeit der Ergänzung und Unterstützung des Unterrichts durch die Tätigkeit von pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an den Grundschulen." Die „Verordnving zu den festen Öffnungszeiten der Grundschulen" (vom 16.5.2001 - LSA-GVB1., S. 183) - LSA-GrdSchÖffzVO - verbietet einen früher als 7:00 Uhr liegenden Beginn und verlangt für den Regelfall eine Dauer von fünfeinhalb Stunden (§ 1 Abs. 1), sieht eine breite Erörterung mit der Gesamtkonferenz vor (§ 1 Abs. 2) und geht vom abschließenden Entscheidungsrecht der Schulleitung aus (§ 1 Abs. 3). § 2 LSA-GrdSchÖffzVO lässt in Abstimmung mit der LVerfGE 13

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Elternschaft eine Reduzierung der Anwesenheitszeit für Schüler(innen) der ersten und zweiten Jahrgangsstufe bis zu wöchentlich zweieinhalb Stunden zu, die auf die Eingangs- und Schlussphase verteilt werden können. Art. 2 LSA-GrdSchÖffzG, der bereits zum 1.12.2000 in Kraft getreten war (vgl. Art. 5 S. 2 LSA-GrdSchÖffzG), beendet die Geltung des Hortgesetzes bereits im Jahr 2001. 2. Die Rechtsänderung beruht auf einer Initiative der Landesregierung. Deren Gesetzentwurf (LT-Drs. 3/3254 v. 8.6.2000) sah bereits - bis auf redaktionelle Unterschiede bei § 4 Abs. 1 LSA-SG und ohne die Regelung des § 36 Abs. 3 LSASG — die Gesetz gewordenen Fassungen der Art. 1 Nr. 1, Art. 2 LSA-GrdSchOffzG vor. Zur Begründung war im Wesentlichen ausgeführt: Das „ganzheitliche" Konzept solle den gestiegenen Bildungserwartungen der Eltern, den veränderten Lernvoraussetzungen, den physiologischen und psychologischen Bedingungen eines Grundschulkindes, den Integrationsaufgaben und der Sicherung von Lemfortschritten Rechnung tragen; bei einem täglich gleich bleibenden Zeitrahmen sollten An- und Entspannungsphasen verknüpft und die Kinder individuell durch einen geregelten Wechsel von Lehr- und Lernprozessen gefördert werden (Begründung, Allgemeines — Nr. 1). In einem sog. „verbundenen" Konzept sollten Lehrkräfte der Grundschule mit pädagogischen Mitarbeiter (innen) zusammen arbeiten; je „Zug" sei ein(e) zum Kollegium der Grundschule gehörende(r) pädagogische(r) Mitarbeiterin) vorgesehen (Begründung, Nr. 2.1., Abs. 2). Diese sollten den Unterricht ergänzen und unterstützen (aaO, Abs. 3). Die Ergänzung des § 36 LSA-SG und die redaktionellen Änderungen für den neuen § 4 Abs. 1 LSA-SG gehen auf die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft für die Zweite Beratung des Landtags zurück. Der Landtag hatte in der Ersten Beratung (LT-StenBer. 3/41 v. 23.6.2000 41. Sitzung, Tagesordnungspunkt 6) den Ausschuss für Bildung und Wissenschaft zum Feder führenden Ausschuss und die Ausschüsse für Inneres, für Finanzen und für Gleichstellung, Kinder, Jugend und Sport zu mitberatenden Ausschüssen bestimmt (aaO, S. 2879 - r. Sp.). Der Feder führende Ausschuss hörte die Sachverständigen Prof. Dr. Wenzel (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg), Frau Prof. Dr. Griehl, den Landeselternrat Sachsen-Anhalt e.V., die Landesschülervertretung, den Grundschulverband, den Verband Bildung und Erziehung, den Ganztagsschulverband GGT e.V., den Landesfrauenrat Sachsen-Anhalt e.V., den Verband allein erziehender Mütter und Väter, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft, die kommunalen Spitzenverbände Sachsen-Anhalts, die Liga der Freien Wohlfahrtspflege im Land Sachsen-Anhalt e.V., das Katholische Büro Sachsen-Anhalt und den Beauftragten der evangelischen Kirchen bei Landtag und Landesregierung an. Wegen der Einzelheiten wird insoweit auf die Niederschrift über die 42. Sitzung des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft

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vom 30.8.2000 (zu Tagesordnungspunkt 1) sowie auf die dem Ausschuss vorgelegten schriftlichen Stellungnahmen Bezug genommen. Die Anhörungen hatten unterschiedliche Ergebnisse: Während die beabsichtigte feste Öffnungszeit von gewerkschaftlicher Seite als zu kurz angesehen wurde, plädierten die beiden Kirchen für eine Lösung auf der Basis von Freiwilligkeit und verwiesen dabei vor allem auf den Verfassungsrang des Elternrechts und die Bedeutung der Familie für die Gesellschaft. Andere betonten, die Einfuhrung erfordere eine längere Zeitspanne. Der Ausschuss für Bildung und Wissenschaft erarbeitete auf der Grundlage einer allgemeinen Aussprache (43. Sitzung v. 13.9.2000 - TOP 3) mit Mehrheit eine vorläufige Stellungnahme (44. Sitzung v. 20.9.2000 — TOP 2) sowie nach Beteiligung der anderen Ausschüsse die endgültige (46. Sitzung v. 4.10.2000 — TOP 2]) als Beschlussempfehlung (v. 5.10.2000 - LT-Drs. 3/3690). Wegen der Einzelheiten der Beratungen wird auf die Niederschriften über diese Sitzungen sowie über die 34. Sitzung des Ausschusses für Inneres (v. 27.9.2000 - TOP 2), die 59. Sitzung des Ausschusses für Finanzen (v. 4.10.2000 TOP 1) und die 30. Sitzung des Ausschusses für Gleichstellung, Kinder, Jugend und Sport (v. 22.9.2000 - TOP 1) Bezug genommen. Der Landtag verabschiedete den Gesetzentwurf am 12.10.2000 nach Beschlüssen über einzelne Regelungen in namentlicher Abstimmung mit Mehrheit (63 Ja-, 41 Nein-Stimmen, eine Enthaltung - LT-StenBer. 3/44 v. 12.10.2000, TOP 5, S. 3173 f). Das Gesetz wurde im Gesetzblatt Nr. 44/2000 vom 30.11.2000 verkündet. Art. 1 LSA-GrdSchÖffzG trat am 1.8.2001 in Kraft (Art. 5 S. 1 LSAGrdSchÖffzG), nachdem es das Landesverfassungsgericht in drei Fällen (LVerfG, Beschl. v. 24.7.2001 - LVG 7/01, 8/01, 10/01 - ) und das Bundesverfassungsgericht in einem Fall (BVerfG, Beschl. v. 31.7.2001 - 1 BvQ 32/01 - ) abgelehnt hatten, die Anwendbarkeit im Weg einstweiliger Anordnung bis zur Entscheidung in der Hauptsache zu suspendieren. 3. Mit ihren am 8.7.2001/8.10.2001/8.11.2001 (LVG 9/01), 27.8.2001 (LVG 12/01) bzw. 29.10.2001 (LVG 13/01) eingegangenen Verfassungsbeschwerden rügen die Eltern die Verletzung ihrer Erziehungsrechte sowie einen Eingriff in die verfassungsrechtlich geschützte Institution „Familie" durch die Regelungen des Gesetzes über die Pflichtanwesenheit in der Grundschule; der Beschwerdeführer zu 1.3. sieht durch die Neuregelung sein allgemeines Persönlichkeitsrecht als „Schülerrecht" verletzt. 3.1. Der Beschwerdeführer zu 1.3. besucht die dritte Jahrgangsstufe einer Grundschule in Halle. Seine Mutter, die Beschwerdeführerin zu 1.1., ist nicht berufstätig, um sich der Kindererziehung widmen zu können. Die Beschwerdeführer zu 1.1. und zu 1.2. tragen vor: Die verfassungsrechtlich verankerte Schulpflicht dürfe nicht um Betreuungszeiten erweitert werden, die dem Jugendhilfebereich zuzuordnen seien. Die VerLVerfGE 13

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pflichtung, in der Schule zu bleiben, ohne dass Unterricht durch Lehrer erteilt werde, verstoße gegen das elterliche Erziehungsrecht. Sie, die Eltern, wollten ihre Kinder eigenverantwortlich erziehen. Ihren Gesamtplan habe die Schule zu achten. Die Erweiterung der Anwesenheitspflicht sei einem Schüler der dritten Jahrgangsstufe angesichts einer Stundentafel von wöchentlich 25 Schulstunden nicht zuzumuten und verstoße gegen das Kindeswohl; im Vergleich zur bisherigen Regelung werde die Schulzeit um 375 Minuten je Woche oder sechs Stunden und fünfzehn Minuten erhöht. Dies beruhe nicht auf einer Ausweitung der Unterrichtszeit, sondern sei allein durch das neue Konzept der zusätzlichen Betreuung bedingt. Der Eingriff sei durch die „Wächterfunktion" des Staates nicht gedeckt und auch nicht verhältnismäßig. Der Landesgesetzgeber habe sich von sachfremden Motiven leiten lassen, nämlich von der Beschäftigungslage für die ehemaligen Hortner(innen). Die Schulpflicht erstrecke sich auch auf Kinder wie den Beschwerdeführer zu 1.3., welcher einer Betreuung nicht bedürfe und durch das vorausgesetzte Niveau eher ausgebremst als gefördert werde. Sie, die Eltern, hingegen nähmen ihre Erziehungsaufgabe sehr ernst und wollten ihr Kind angemessen fördern. Die zwangsweise Betreuung sei jedenfalls nicht ausnahmslos für alle Grundschüler erforderlich; das mildere Mittel sei der freiwillige Zugang. Obwohl das elterliche Erziehungsrecht dem staatlichen Erziehungsanspruch im Ansatz gleichwertig sei, berücksichtige der Gesetzgeber nicht, dass jedenfalls in den Fällen, in welchen Eltern die soziale Kompetenz hätten, ihre Kinder besser zu erziehen, die staatliche Aufgabe subsidiär bleiben müsse. Der Gesetzgeber unterstelle unter Verstoß gegen die Verfassung, die Eltern kümmerten sich nicht um die Arbeitsergebnisse ihrer Kinder, hätten nicht die notwendige Erfahrung und könnten keine ausreichende Betreuung gewährleisten. Nirgends werde aber ein Kind besser betreut als durch seine Eltern. Die Kinder würden durch die gesteigerte Schulpflicht überfordert, weil sie sich nicht mehr erholen könnten, um ihre weiteren schulischen (wie z.B. Schulchor) und insbesondere außerschulischen Interessen wahrnehmen zu können. Klavierunterricht oder die Teilnahme an kirchlich orientierter Jugendarbeit müssten in den späten Nachmittag verschoben werden; Spiel- und Erholungszeiten würden erheblich verkürzt. Dies erweise sich als unverhältnismäßiger Eingriff in die Rechte der Beschwerdeführer. Das Land habe sich über die „Freiwilligkeit" als milderes Mittel überhaupt keine Gedanken gemacht. Auf ähnliche Regelungen in anderen Bundesländern könne sich Sachsen-Anhalt nicht berufen, weil der Besuch von „verlässlichen" Schulen dort freiwillig sei. Die Betreuung werde zudem durch pädagogische Mitarbeiterinnen) geleistet, die ohne die Neuregelung hätten entlassen werden müssen; sie würden erst auf ihre neue Aufgabe vorbereitet. Der Beschwerdeführer zu 1.3. macht ergänzend geltend: Er sei es gewohnt, das Mittagessen im Kreis der Familie einzunehmen, werde jetzt aber gezwungen, LVerfGE 13

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sich am Gemeinschaftsessen der Schule zu beteiligen, das — wie die Berichte über Großküchen zeigten — Gefahren berge. Auch müsse er bei Unterrichtsausfallen in der Schule bleiben, um betreut zu werden, statt wie bislang nach Hause gehen zu können. Schließlich sei nicht einzusehen, weshalb er nicht bei höheren Temperaturen wie bislang mit seiner Mutter ein Freibad aufsuchen könne, sondern in schulischer Betreuung bleiben müsse. Die Ausweitung der Schulpflicht wirke sich auf seine sonstigen Engagements aus, wie z.B. den Besuch des Konservatoriums Halle (musikalische Grundausbildung und Klavierunterricht), Mitwirkung im Schulchor sowie in der sportlichen und kirchlichen Jugendarbeit. Wegen der Bewertung der in der mündlichen Verhandlung angesprochenen Fragen wird auf den Schriftsatz vom 12.12.2001 und seine Anlagen (Elterninformation Dezember 2000; Theodor Hellbrügge — Kinderpoliklinik der Universität München - , Arbeit, Pausen, Freizeit und Schlaf im Schulalter; Johannes Pechstein, Ganztagsschulen und Horte — Verarmung an Erziehung) Bezug genommen; die Beschwerdeführer heben hervor, sie wendeten sich in erster Linie gegen die Änderungen des § 36 des Schulgesetzes. Die Beschwerdeführer zu 1 beantragen, festzustellen, dass Art. 1 Nrn. 1 und 2 des Gesetzes zur Einfuhrung der Grundschule mit festen Öffnungszeiten vom 24. November 2000 (LSA-GVBl., S. 656) mit Art. 5 Abs. 1 der Landesverfassung, soweit es den Beschwerdeführer zu 1.3. angeht, und mit Art. 11 der Landesverfassung, soweit es die Beschwerdeführer zu 1.1. und zu 1.2. angeht, unvereinbar und deshalb nichtig sind. 3.2 Die Beschwerdeführer im Verfahren LVG 12/01 rügen ausschließlich die Verletzung ihrer „Elternrechte". Der Sohn L. der Beschwerdeführer zu 2.1. und zu 2.2. besucht in der ersten Jahrgangsstufe die Grundschule in Bergwitz, die er um 7:30 Uhr erreicht haben muss. Sein Schulbus fährt um 7:00 Uhi ab und kann ihn frühestens gegen 14:00 Uhr wieder nach Hause bringen. Er ist zweimal in der Woche, jeweils um 15:00 Uhr, außerhalb seines Wohnorts in der Musikschule bzw. zum Englisch-Unterricht angemeldet. Täglich 30 bis 45 Minuten übt er am Klavier. Die Töchter der Beschwerdeführer zu 2.3. und zu 2.4. besuchen die 2. (M.) bzw. die 3. Klasse (A.) der Diesterweg-Schule in Wittenberg, deren Unterricht um 7:30 Uhr beginnt und um 13:00 Uhr endet. Die außerschulischen Aktivitäten beider Kinder (zweimal wöchentlich Sportgemeinschaft, einmal Christenlehre) beginnen jeweils um 15:00 Uhr. Das gemeinsame Mittagessen wird bislang als zentraler Bestandteil des Familienlebens angesehen. Der Sohn A. der Beschwerdeführer zu 2.5. und zu 2.6. besucht die Grundschule „Friedrich Engels" in Wittenberg, deren Öffnungszeiten gleichfalls zwischen 7:30 Uhr und 13.00 Uhr liegen. Das gemeinsame Mittagessen, das die Eltern mit ihren drei Kindern und den Großeltern bislang seit sieben Jahren gemeinsam LVerfGE 13

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gegen 12:00 Uhr eingenommen haben, empfinden sie als wesentlichen sozialen Bezugspunkt. Der Sohn M. der Beschwerdeführer zu 2.7. und zu 2.8. besucht die Diesterweg-Schule in der ersten Jahrgangsstufe. Gleiches gilt für den Sohn L. der Beschwerdeführer zu 2.9. und zu 2.10. Sein Fußballtraining beginnt einmal wöchentlich bereits um 14:00 Uhr, die Christenlehre einmal wöchentlich um 15:00 Uhr. Außerdem verlangt sein Klavierunterricht tägliche Übungen von einer halben bis zu einer Stunde. Die Beschwerdeführerin zu 2.9. übt ihren Beruf als Floristin nicht aus, um sich ihren drei Kindern widmen zu können. Der Sohn M. der Beschwerdeführer zu 2.11. und 2.12. besucht die zweite Klasse der Grundschule „Am Trajuhnschen Bach", die um 7:30 Uhr öffnet. Die außerschulischen Aktivitäten am Montag und Donnerstag (Musikschule, Fußballtraining) beginnen zwischen 14:00 Uhr und 14:30 Uhr. Außerdem verlangt der Klavierunterricht tägliche Ubungszeiten von einer halben Stunde. Die Beschwerdeführerin zu 2.11. übt ihre Berufstätigkeit in einer Apotheke nicht aus, um sich ihren zwei Kindern widmen zu können. Die Eltern machen im Wesentlichen geltend: Art. 1 Nrn. 1 und 2 LSA-GrdSchÖffzG verletzten Art. 11 Abs. 1 S. 1 der Landesverfassung. Das Elternrecht werde als Institutsgarantie gewährt. Es enthalte die Pflege und Erziehung und damit eine umfassende Verantwortung für die Lebens- und Entwicklungsbedingungen des Kindes, die so genannte „Entwurfskompetenz". Die Erziehungsziele des Art. 27 Abs. 1 der Landesverfassung richteten sich nur an den Staat und seien für die Eltern völlig unverbindlich. Diese hätten vielmehr die eigenständige Verantwortung für den „Gesamtplan der Erziehung". Gerade die Beschwerdeführer, die sämtlich in dem „DDR-Erziehungssystem" groß geworden seien, hätten das starke Bedürfnis, ihre eigenen Wertvorstellungen und Ansichten über die Kindererziehung umzusetzen und diese nicht vom Staat bestimmen zu lassen. Die Familie sei die individualgerechteste Bildungsstätte und der geeignete Lebensraum für Kinder, um Sozialverhalten zu lernen und zu üben, dort „Nestwärme" zu erfahren und Nächstenliebe sowie Rücksichtnahme zu erleben und zugleich zu gewähren. Die Kinder müssten jetzt in der Grundschule anwesend sein, auch soweit dort kein Unterricht erteilt werde. Vor, während und nach den (der) eigentlichen Unterrichtsblöcke(n) könnten sie, die Eltern, ihr Aufenthaltsbestimmungsrecht nicht ausüben. Dieser Eingriff sei nicht gerechtfertigt. Er sei weder durch das „Wächteramt" des Staates - weil es an Anhaltspunkten für eine Verletzung der Elternpflichten fehle - noch durch die Regelungen über die Schulaufsicht gedeckt; letztere konkurriere lediglich mit dem Erziehungsrecht, habe aber keinen Vorrang. Es sei verfassungswidrig, eine Schulpflicht auch für den Zeitraum festzulegen, in LVerfGE 13

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welchem kein Unterricht erteilt werde. In der Grundschule werde innerhalb der neuen Betreuungsphasen kein Wissen vermittelt. Die frühere Schulpflicht habe nur Anwesenheitszeiten erfasst, in denen ausschließlich Wissen vermittelt worden sei. Die Ausdehnung der Anwesenheitszeit sei nicht durch das eigentliche Lernprogramm bedingt, sondern nur durch die neuen Betreuungszeiten. Die staatlichen Erziehungsziele dürften aber nicht in den Bereich eingreifen, der die Gesamterziehung und damit ausschließlich das Elternrecht betreffe. Nach der „DreiBereiche-Lehre" komme im außerschulischen Bereich der Vorrang des elterlichen Erziehungsrechts zum Tragen. Durch die angegriffene Regelung würden die Kinder lediglich in der Schule festgehalten, ohne dass differenzierter Unterricht stattfinde. Durch die Betreuungsphasen werde die Betreuungsgemeinschaft zwischen Eltern und Kindern innerhalb der Familie übermäßig zurückgedrängt. Darunter litten auch die außerschulischen Aktivitäten der Kinder; Förderungsmöglichkeiten auf musischem, künstlerischem oder sportlichem Gebiet und in Einrichtungen wertorientierter Einrichtungen würden eingeschränkt. Nicht hinzunehmen sei auch, dass die Kinder gezwungen würden, ihr Mittagessen in der Schule einzunehmen. Die Eltern hätten dadurch keinen Einfluss darauf, dass auf „Tischsitten" geachtet werde. Das staatliche Schulsystem werde in seiner Funktionsfähigkeit nicht in Frage gestellt, wenn die Hortner(innen) nicht in die neue Grundschule mit festen Öffnungszeiten übernommen werden könnten; deren Interesse, ihre Beschäftigung zu erhalten, wiege jedenfalls geringer als das elterliche Erziehungsrecht. Die Beschäftigung der bisherigen Hortner(innen) sei der eigentlich tragende Grund für die Einführung der Grundschule mit festen Öffnungszeiten gewesen. Das zeige sich auch daran, dass es der Gesetzgeber unterlassen habe, die Inhalte der neuen pädagogischen Form zu bestimmen, so dass ein undifferenzierter Unterricht ermöglicht werde. Ein Bezug zum staatlichen Erziehungsauftrag bestehe nicht. Das hätten auch der Sachverständige Prof. Dr. Wenzel sowie die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft kritisiert. Auf Schulorganisationsmodelle in anderen Bundesländern könne nicht verwiesen werden, weil diese auf Freiwilligkeit beruhten. Die Beschwerdeführer beantragen, festzustellen, dass Art. 1 Nrn. 1 und 2 des Gesetzes zur Einfuhrung der Grundschule mit festen Öffnungszeiten vom 24. November 2000 (LSA-GVB1., S. 656) mit Art. 11 Abs. 1 Satz 1 der Landesverfassung unvereinbar und deshalb nichtig sind. 3.3. Die Beschwerdeführer zu 3. rügen gleichfalls lediglich die Verletzung ihres „Elternrechts". Die Beschwerdeführer haben drei Kinder, von denen zwei schulpflichtig sind. Die Tochter T. der Beschwerdeführer besucht die erste Klasse der Grundschule in Möhlau, in der sie nach deren Planung zwischen 6:55 Uhr und 7:05 Uhr zu erscheinen hat. Die außerschulischen Aktivitäten beginnen am Montag (ChrisLVerfGE 13

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tenlehre) um 14:30 Uhr, am Mittwoch (Sport) um 16:00 Uhr und am Donnerstag (Sport) um 14:00 Uhr. Außerdem verlangt der Klavierunterricht tägliche Übungszeiten von einer halben Stunde. Die Beschwerdeführer führen aus, sie könnten nach dieser Planung das Mittagessen nicht mehr gemeinsam einnehmen und keine Spaziergänge mehr mit ihrer Tochter unternehmen. Im Übrigen machen sie dieselben Gründe geltend wie die Beschwerdeführer zu 2. Die Beschwerdeführer beantragen, festzustellen, dass Art. 1 Nrn. 1 und 2 des Gesetzes zur Einführung der Grundschule mit festen Öffnungszeiten vom 24. November 2000 (LSA-GVB1., S. 656) mit Art. 11 Abs. 1 Satz 1 der Landesverfassung unvereinbar und deshalb nichtig sind.

4.1. Die Landesregierung trägt vor: Die gesetzlichen Regelungen hielten sich im Rahmen der Verfassung. Die unterschiedlichen Interessen seien sorgfaltig abgewogen worden. Die Neuregelung habe bei den ersten beiden Klassenstufen nur eine tägliche Erhöhung der Schulzeit von eineinviertel Stunden zur Folge, mit deren Hilfe das integrative Modell umgesetzt werden könne. In den Jahrgangsstufen 3 und 4 sei die erforderliche Zeitspanne geringer; dort werde das Konzept aus Gründen der Verhältnismäßigkeit und der Finanzpolitik nicht vollständig umgesetzt. An dem Stundenplan, der Kurzlernstunden von jeweils 45 Minuten vorsehe, sei festgehalten worden. Das Land habe das „integrative Modell" verbindlich eingeführt, weil es auch Aufgabe der Grundschule sei, Begabungen zu fördern; Lernerfolge zeigten sich insbesondere in gruppendynamischen Prozessen, welche die Teilnahme aller Schüler(innen) voraussetzten. Ein Schulversuch sei vor In-Kraft-Treten des Gesetzes nicht notwendig gewesen, weil Erfahrungen mit dem freiwilligen Modell (auf der Grundlage des aufgehobenen § 4 Abs. 6 LSA-SG) im eigenen Land vorgelegen hätten, man sich an den Modellen anderer Bundesländer (insbesondere der Freien und Hansestadt Hamburg) habe orientieren und weil fachwissenschaftliche Erkenntnisse hätten verwertet werden können; dabei seien besonders zwei Fachgutachten (Prof. Dr. Wenzel, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, und Prof. Dr. H. G. Holtappels, Vechta — Studie für den Hamburger Senat —) ausgewertet worden. In der Grundschulpädagogik werde allgemein anerkannt, dass Kinder am Anfang ihrer Schullaufbahn mehr Zeit zum Lernen benötigten. Die Grundschule mit festen Öffnungszeiten habe deshalb den Stundenumfang insbesondere in den Jahrgängen 1 und 2 in den Bereichen Deutsch und Mathematik erhöht und mache ergänzende schulische Angebote bis zu vier Stunden pro Zug. Phasen der An- und Entspannung würden zudem sinnvoll verknüpft. Lehrkräfte und pädagogische Mitarbeiterinnen) arbeiteten in der Lerngruppe gemeinsam; es finde keine reine Betreuung statt. Der Unterricht sei kindgerechter gestaltet und qualitativ verbessert worden. Die Öffnungszeit von fünfeinhalb Anwesenheits(zeit)stunden verLVerfGE 13

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teile sich bei fünf Unterrichts(kurz)stunden auf 225 Minuten Unterricht (68%), 50 Minuten Pause (15%) und 55 Minuten für offenen Eingang, Ausklang sowie Angebote (17%); bei sechs Unterrichts(kurz)stunden entfalle der zuletzt genannte Zeitanteil zu Gunsten einer weiteren Unterrichtsstunde und der erforderlichen Pause. Für den ersten und zweiten Schuljahrgang sehe die Stundentafel nur 21 bis 23 Stunden vor. Deshalb könnten Eltern, die das wünschten, ihre Kinder vor Ende der Öffnungszeit von der Schule abholen oder nach Hause kommen lassen, wie das durch die Verordnung vorgesehen sei. Das Land habe einen Fortbildungsplan aufgestellt, der bereits in dem Zeitraum zwischen der Verkündung des Gesetzes und dem Schuljahrsbeginn ein 100-StundenProgramm vorgesehen habe und der bis zum Ende des laufenden Schuljahrs durchgeführt worden sein solle. Danach werde die Fortbildung auf drei Blöcke konzentriert: Pädagogik und Psychologie (= Block A mit 30 Stunden), Deutsch (= Block B mit 40 Stunden) und Mathematik (= Block C mit 30 Stunden). Für den Planinhalt habe man davon ausgehen können, dass die pädagogischen Mitarbeiterinnen) grundsätzlich über einen DDR-Fachschulabschluss verfügten und einige sogar über einen Grundschullehrerabschluss; es gehe deshalb allein darum, Erlerntes zu aktualisieren und Kenntnisse aufzufrischen. Die pädagogischen Kräfte müssten sich jeweils mindestens 35 Stunden im Schuljahr fortbilden lassen. 4.2. Der Landtag hat sich nicht geäußert. Gründe: Der Schriftsatz der Beschwerdeführer zu 3.1. vom 12.12.2001 gibt dem Landesverfassungsgericht keinen Anlass, erneut in die mündliche Verhandlung einzutreten, weil keine für die Verfassungsmäßigkeit erheblichen neuen Tatsachen vorgetragen worden sind, sondern die Beschwerdeführer ihren Standpunkt lediglich vertieft haben. Die Verfassungsbeschwerden sind zulässig (1.), aber unbegründet (2.). 1. Die statthafte Individual-Verfassungsbeschwerde (1.1.) richtet sich gegen ein Landesgesetz, das die Beschwerdeführer in Grundrechten (1.2.) gegenwärtig (1.3.) und unmittelbar (1.4.) betrifft. Die übrigen formellen Voraussetzungen (1.5.) sind erfüllt. 1.1. Das Landesverfassungsgericht ist nach Art. 75 Nr. 6 der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt - LVerf-LSA - v. 16.7.1992 (LSA-GVBL, S. 600) und §§ 2 Nr. 7; 47 des Gesetzes über das Landesverfassungsgericht — LVerfGG-LSA — v. 23.8.1993 (LSA-GVBL, S. 441), geändert durch Gesetze vom 14.6.1994 (LSAGVBl., S. 700) und v. 22.10.1996 (LSA-GVBL, S. 332), zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde berufen. Diese Kompetenz wird durch das Bundesverfassungsrecht weder formell (vgl. etwa die Subsidiaritätsklausel bei Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b. GG, die für § 93 Abs. 1 Nr. 4a. GG nicht festgelegt ist) noch materiell LVerfGE 13

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durch Art. 31 GG verdrängt (std. Rspr. seit LVerfG-LSA, Urt. v. 27.10.1994 LVG 14, 17, 19/94 - , LVerfGE 2, 345, 357 f; vgl. zuletzt: LVerfG-LSA, Beschl. v. 24.7. 2001 - LVG 7/01, LVG 8/01, LVG 10/01 - ; vgl. zu „inhaltsgleichen" Grundrechten sowie zu Art. 142 GG auch: BVerfG, Beschl. v. 15.10.1997 - 2 BvN 1/95 - , NJW 1998,1296 ff). 1.2. Es erscheint jedenfalls möglich (vgl. zu dieser Mindestvoraussetzung für die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde: LVerfG-LSA, Urt. v. 17.9.1998 LVG 13/97 - , LVerfGE 9, 361, 365; Urt. v. 27.3.2001 - LVG 1/01 - zur Veröffentlichung vorgesehen), dass die angegriffene gesetzliche Regelung die Beschwerdeführer in deren Rechten verletzt; ob eine Verfassungsverletzung tatsächlich vorliegt, ist eine Frage der Begründetheit der Verfassungsbeschwerde (LVerfGE 9, 361,365). 1.2.1. Beim Beschwerdeführer zu 1.3. erscheint nicht ausgeschlossen, dass er als betroffener Schüler durch die Verlängerung der Schulpflicht in seinem allgemeinen Freiheitsrecht aus Art. 5 Abs. 1 LVerf-LSA nachteilig betroffen wird. Das Landesverfassungsgericht folgt insoweit der Rechtsprechung der Bundesgerichte, welche die Schüler(innen) selbst betreffende Schulmaßnahmen als vom Schutzbereich des allgemeinen Freiheitsrechts des Grundgesetzes erfasst sieht (vgl. etwa: BVerfG, Beschl. v. 22.6.1977 - 1 BvR 799/76 - , NJW 1977, 1723, 1724; Beschl. v. 24.10.1980 - 1 BvR 471/80 - , NJW 1984, 89, 89; Beschl. v. 31.5.1983 1 BvL 11/80 BVerfGE 64, 180, 187; Urt. v. 14.7.1998 - 1 BvR 1640/97 - , BVerfGE 98, 218, 256; BVerwG, Beschl. v. 29.5.1981 - BVerwG 7 B 170.80 - , NJW 1982, 250,1. Sp.; Urt. v. 17.6.1998 - BVerwG 6 C 11.97 - , BVerwGE 107, 75, 80), weil Art. 5 Abs. 1 der Landesverfassung Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes im Wortlaut gleicht. 1.2.2. Die übrigen Beschwerdeführer können sich als Eltern von schulpflichtigen Kindern, die von der Neuregelung betroffen sind, auf ihr Eltern- und Erziehungsrecht aus Art. 11 Abs. 1 S. 1 LVerf-LSA berufen. Die angegriffene Neuregelung wird von Art. 11 Abs. 1 S. 1 der Landesverfassung erfasst; für die Auflegung dieser Bestimmung, die im Wesentlichen den gleichen Wortlaut hat wie Art. 6 Abs. 2 S. 1 des Grundgesetzes, greift das Landesverfassungsgericht auf die zur Bundesverfassung vorliegende Rechtsprechung zurück (vgl. insoweit insbes.: BVerfG, Beschl. v. 24.6.1969 - 2 BvR 446/64 - , BVerfGE 26, 228, 240; Urt. v. 6.12.1972 - 1 BvR 230/70, 95/71 BVerfGE 34, 165, 182; BVerfG, NJW 1977, 1723,1723; BVerfG, Beschl. v. 21.12.1977 - 1 BvL 1/75,1 BvR 147/75 - , BVerfGE 47, 46, 56; Beschl. v. 26.2.1980 - 1 BvR 684/78 - , BVerfGE 53, 185, 195; BVerfG, NJW 1984, 89; BVerwG, NJW 1982, 250, 250 l.Sp.). Nach allgemeiner Auffassung ist es jedenfalls das natürliche Recht der Eltern, einen „Gesamterziehungsplan" festzulegen, den auch der Staat bei seiner Schulaufsicht zu achten hat (vgl. etwa: BVerfGE 34, 165, 184). LVerfGE 13

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Die von den Beschwerdeführern weiterhin geltend gemachte Verletzung von anderen Artikeln der Landesverfassung führt nicht zur Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde, weil diese objektiven Verfassungsnormen nicht zugleich auch subjektive Rechte begründen. Ob und inwieweit sie Grundrechte der Eltern verstärken können, ist eine Frage der Begründetheit. 1.3. Die Beschwerdeführer sind sämtlich gegenwärtig durch die Neuregelung berührt: Der Beschwerdeführer zu 1.3. und die Kinder der Beschwerdeführer zu 2. und zu 3. besuchen eine Grundschule in Sachsen-Anhalt. 1.4. Die angegriffene Regelung berührt sie ferner als Schüler bzw. als Eltern unmittelbar iSd Art. 75 Nr. 6 LVerf-LSA und §§ 2 Nr. 7; 47 LVerfGG-LSA. Davon ist das Landesverfassungsgericht bereits in den Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz ausgegangen (LVerfG-LSA, Beschl. v. 24.7.2001 - L V G 7/01, 8/01, 10/01 —); es hat den Erlass der dort begehrten Anordnung nicht schon deshalb abgelehnt, weil das Landesgesetz noch Raum für Entscheidungen des Verordnungsgebers oder der Schulverwaltung lässt. Auch das Bundesverfassungsgericht hat seine Ablehnung des bei ihm eingereichten Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz nicht damit begründet, die Beschwerdeführer könnten sich gegen solche das Gesetz erst vollziehenden Einzelakte an die Fachgerichtsbarkeit wenden (BVerfG, Beschl. v. 31.7.2001 - 1 BvQ 32/01 http://www.bverfg.de). Die Unmittelbarkeit wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass das Gesetz noch Raum für eine Verordnung und für konkrete Entscheidungen der Schulen lässt (1.4.1.); es enthält auch keine Ermächtigung, außerhalb des durch Rechtssatz gezogenen Rahmens im Einzelfall von dem Besuch der Schule zu befreien, soweit kein „Unterricht", sondern lediglich eine „Betreuung" stattfindet (1.4.2.). Die unmittelbare Belastung betrifft sowohl die neue Schulform als auch die erweiterte Schulpflicht (1.4.3.). 1.4.1. Weder die Ermächtigung an den Verordnungsgeber noch Gestaltungsräume für die Schulleitung und für Konferenzen widerlegen die denkbare unmittelbare Betroffenheit durch die bereits im Gesetz selbst getroffene Kernaussage — gleichsam als „Restbelastung" - , dass der Zeitraum, welcher von der Schulpflicht umfasst wird, fünfeinhalb Stunden beträgt. Hierfür bedarf es keiner Konkretisierung durch andere Stellen mehr. Soweit § 1 Abs. 1 LSA-GrdSchÖffzVO regelmäßig fünfeinhalb Stunden Anwesenheit verlangt, handelt es sich nur um die Wiederholung der bereits im Gesetz getroffenen Regelung (Art. 1 Nr. 1 Buchst, a LSA-GrdSchÖffzG = § 4 Abs. 1 S. 4 LSA-SG - neu). Auch soweit die Verordnung die tägliche Regelstundenzeit verteilt (vgl. etwa: §§ 1 Abs. 1; 2 LSA-GrdSchÖffzVO), lässt dies die grundsätzliche Festlegung des Gesetzes selbst (Art. 1 Nr. 1 LSA-GrdSchÖffzG) auf „feste" Öffnungszeiten (§ 4 Abs. 1 S. 3 LSA-SG - neu) von „fünf und eine halbe(n) Stunde" Dauer (§ 4 Abs. 1 S. 4 LSA-SG) unberührt sowie die weitere Regelung, dass der „Unterricht ... durch die Tätigkeit von pädagogischen MitarLVerfGE 13

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beiterinnen und Mitarbeitern ergänzt und unterstützt" wird (§ 4 Abs. 1 S. 2 LSASG — neu). Die Ermächtigung an die Schulleitung, im Benehmen mit der Gesamtkonferenz und unter Berücksichtigung bestimmter anderer Interessen die Einzelheiten des Beginns und des Endes der „festen Öffnungszeit" festzulegen (Art. 1 Nr. 1 LSA-GrdSchÖffzG = § 4 Abs. 1 S. 5 LSA-SG - neu), vermag an diesem Ergebnis nichts zu ändern; denn die Vorgabe des Gesetzes (§ 4 Abs. 1 S. 2-4 LSA-SG neu) wird dadurch nicht in Frage gestellt. Ein Argument gegen die Unmittelbarkeit der gesetzlichen Regelung ist auch § 2 Abs. 1 LSA-GrdSchÖffzVO nicht zu entnehmen; denn auf der Grundlage des § 4 Abs. 1 S. 6 LSA-SG (neu) wird lediglich eine begrenzte Ausnahme getroffen, ohne dass dadurch der nach § 4 Abs. 1 S. 4 LSA-SG (neu) maßgebliche RegelZeitraum aufgegeben oder erst ausgefüllt wird. Das Landesverfassungsgericht gibt damit seine in Anlehnung an das Bundesverfassungsgericht entwickelte Rechtsprechung nicht auf; danach greifen solche Gesetze in der Regel nicht schon in die Sphäre der Bürgerschaft ein, die eines Vollzugs bedürfen, so dass sich die Frage der Verfassungsverletzung erst für den ausführenden Verwaltungsakt oder die sonstige vollziehende Maßnahme stellt (vgl. etwa: LVerfGE 2, 345, 359; LVerfG-LSA, Urt. v. 27.10.1994 - LVG 18/94 - , LVerfGE 2, 378, 389; Beschl. v. 7.12.1999 - LVG 7/99 - ; Urt. v. 27.3.2001 LVG 1/01 im Anschluss an z.B.: BVerfG, Beschl. v. 19.12.1951 - 1 BvR 220/51 BVerfGE 1, 97, 101; BVerfGE 34, 165, 179; BVerfG, Beschl. v. 17.12.1975 - 1 BvR 63/68 - , BVerfGE 41, 29, 42; Beschl. v. 17.12.1975 - 1 BvR 548/68 - , BVerfGE 41, 88, 104; BVerfG, NJW 1984, 89, 89; Urt. v. 9.2.1984 - 1 BvR 845/79 - , BVerfGE 59, 360, 375; Beschl. v. 24.6.1992 - 1 BvR 1028/91 - , BVerfGE 86, 382, 386; Beschl. v. 9.3.1994 - 1 BvR 1369/90 - , BVerfGE 90, 128, 135). Diesen Grundsatz hat das Gericht zuletzt in dem Verfahren LVG 11/01 (Beschl. v. 13.11.2001) erneut betont, in welchem es die Verfassungsbeschwerde gegen (den duich das Änderungsgesetz 2000 eingefugten) § 14 Abs. 3 des Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung des Landes Sachsen-Anhalt mangels Unmittelbarkeit dieser Regelung als unzulässig verworfen hat. Andererseits schließt die bloße Möglichkeit eines „Vollzugsakts" nicht etwa generell eine denkbare unmittelbare Betroffenheit bereits durch das Gesetz selbst aus, wie das Landesverfassungsgericht insbesondere in seinen Wahlrechtsentscheidungen anerkannt hat (LVerfGE 2, 345, 359; 2, 378, 389; LVerfG-LSA, Urt. v. 27.3.2001 - LVG 1/01 -). Mit dem Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 90, 128, 136) ist auch für das Landesverfassungsrecht davon auszugehen, dass das Merkmal der „Unmittelbarkeit" ein Begriff des Verfassungsprozessrechts ist, der sicher stellen soll, dass die Verfassungsbeschwerde jeweils erst gegen den die Beschwer auslösenden Staatsakt erhoben werden darf, sei dies eine ausführende Verordnung oder ein „Vollzugsakt", zu denen das Gesetz lediglich ermächtigt. In diesen Fällen wird die Rechtssphäre des Einzelnen regelmäßig erst durch die LVerfGE 13

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Maßnahme auf Grund des Gesetzes berührt (BVerfG, aaO). Dessen ungeachtet ist die Notwendigkeit eines Vollzugsakts lediglich ein Anzeichen für das Fehlen unmittelbarer Grundrechtsbetroffenheit durch die Norm selbst (BVerfG, aaO), schließt aber nicht schon immer aus, dass bereits das Gesetz selbst unmittelbar belastet. Das gilt gerade auch bei schulorganisatorischen Regelungen (vgl.: BVerfGE 34, 165, 179: Hessische Förderstufe, sowie BVerfGE 41, 29, 42: christliche Simultanschule — Unmittelbarkeit jeweils bejaht; vgl. ferner: BVerfGE 41, 88, 104: Gemeinschaftsschule Nordrhein-Westfalen; BVerfGE 53, 185, 195 — offen gelassen: gymnasiale Oberstufe in Hessen; BVerfGE 59, 360, 375: Schulrecht Bremen — Unmittelbarkeit bejaht, sofern nicht persönliche Ausnahmen bei einzelnen Beschwerdeführern vorlagen). Die Frage, welche Maßnahme unmittelbar ursächlich die Verfassung verletzen kann, ist auch in Sachsen-Anhalt zu stellen, das nur die Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze kennt; denn der Landesgesetzgeber hat den Gegenstand der Verfassungsbeschwerde bewusst beschränkt und bei seiner Regelung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze angeknüpft. Nach diesen Grundsätzen ist einerseits davon auszugehen, dass die „Restbelastung" durch die gesetzliche Regelung, die keines Vollzugs mehr bedarf, als unmittelbar beeinträchtigend direkt angegriffen werden darf; andererseits beschränkt der Grundsatz der Unmittelbarkeit den Prüfungsgegenstand aber auch auf die Anordnungen, die das Gesetz selbst bereits abschließend getroffen hat. Ob die das Gesetz ausführende Verordnung oder gar ob die bei einer konkreten Schule herrschende Praxis mit Verfassungsrecht vereinbar ist, kann durch das Verfassungsgericht nicht geprüft werden, sondern ist im Streitfall vom Oberverwaltungsgericht in Normenkontrollverfahren (§ 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO) bzw. von den Verwaltungsgerichten im Rahmen des allgemeinen Rechtsschutzes gegen Vollzugsmaßnahmen der Verwaltung zu beurteilen. 1.4.2. Das Gesetz sieht keine (teilweise) Befreiung von der Schulpflicht durch Einzelentscheidung der Schule vor (1.4.2.1.); auch nicht geänderte Bestimmungen des Schulgesetzes lassen dies nicht zu (1.4.2.2.). 1.4.2.1. Art. 1 Nr. 1 LSA-GrdSchÖffzG legt eine Schule mit festen Öffnungszeiten (§ 4 Abs. 1 S. 3 LSA-SG - neu) in einer Dauer von „schultäglich in der Regel fünf und eine(r) halbe(n)" Stunde fest (§ 4 Abs. 1 S. 4 LSA-SG - neu) und erstreckt die Schulpflicht auf die volle Zeit (Art. 1 Nr. 2 LSA-GrdSchÖffzG = § 36 Abs. 3 LSA-SG - neu). Die Einschränkung „in der Regel" ermächtigt die Schulleitung bei der Fesdegung der Eckzeiten (§ 4 Abs. 1 S. 5 LSA-SG - neu) nicht, die Rahmenzeit von fünfeinhalb Stunden nach eigenem Ermessen und damit eigenen Maßstäben zu verkürzen; dies kann allenfalls nach näherer Bestimmung einer Verordnung des Kultusministeriums geschehen, soweit die durch § 4 Abs. S. 6 LSA-SG (neu) erLVerfGE 13

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teilte Ermächtigung reicht, den „Zeitrahmen" festzulegen. Die Systematik innerhalb des Absatzes 1 bestätigt dieses Ergebnis; allerdings ist der Wortlaut gerade des Satzes 4 nicht eindeutig: Die Worte „in der Regel" können sowohl auf „schultäglich" mit der Folge bezogen werden, dass zwar an einem einzelnen Schultag Abweichungen durch konkretisierende Entscheidungen möglich wären, wenn nur das Zeitkontingent im Durchschnitt erreicht wird; ebenso möglich ist aber eine an „fünf und eine halbe Stunde" anknüpfende Auslegung, so dass pro einzelnem Schultag nur „in der Regel" diese Dauer verlangt würde, nicht aber täglich, und dies auch dann nicht, wenn die an sich geforderte Gesamtstundenzahl aus dem Produkt der Schultage und dem Faktor 5,5 innerhalb eines bestimmten Zeitraums nicht zustande kommt. Die Systematik innerhalb des Absatzes ergibt hingegen, dass nur der Verordnungsgeber bei Festlegung des „Zeitrahmens" durch Rechtssatz, also nach abstrakten Gesichtspunkten, von der Regel-Vorgabe abweichen darf. Damit steht zugleich fest, dass die Schulleitung bei der ihr überlassenen Konkretisierung an den durch Gesetz und Verordnung festgelegten „Zeitrahmen" gebunden ist und dass sie sich für die konkrete Ausgestaltung von Beginn und Ende der täglichen Schulzeit nur innerhalb dieses Rahmens bewegen darf. Dass die Einschränkung durch die Worte „in der Regel" nicht schon Ausnahmen zulassen sollte, die ihre Ursache und Rechtfertigung in der individuellen Familien-Tages-Planung von Schüler(innen) oder Eltern haben oder gar durch sonstige, nur für die einzelne Familie geltende Besonderheiten bedingt sind, ergeben neben der Systematik die Materialien, die bestätigend herangezogen werden können. Die von diesem Ergebnis evd. noch abweichende — falls sie so verstanden werden muss — Auffassving während der Ersten Beratung des Gesetzes (vgl. Abg. Kauerauf - SPD, LT-StenBer. 3/41 - 41. Sitzung v. 23.6.2000, TOP 6, S. 2879, 1. Sp.: „konkrete" Entscheidung durch die Schule) hat sich jedenfalls in den Ausschuss-Beratungen nicht durchgesetzt: Danach sollten die Schulen lediglich in den Stand gesetzt werden, mit Rücksicht auf den Schülertransport oder die Gestaltung des Freitags oder von Tagen vor Ferienbeginn flexibel reagieren zu können (vgl. Dr. Harms, Kultusminister = künftig: KM, Niederschrift des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft = künftig: BildgWissAProt v. 13.9.2000, S. 35; ders., BildgWissAProt. v. 20.9.2000, S. 32), wobei Einzelheiten durch Verordnung geregelt werden sollten (Dr. Harms, BildgWissAProt v. 20.9.2000, S. 32); außerdem sollte es möglich sein, bestimmte Volks- oder Dorffeste mit in den Zeitrahmen einzubeziehen (vgl. Dr. Harms, KM, BildgWissAProt. v. 20.9.2000, S. 33; Abg. Kuntze - CDU, aaO, S. 33). Vor allem wurde die Auffassung nicht übernommen, die Einschränkung gebe auch die Möglichkeit, in besonderen Fällen zur allgemeinen, bisherigen Schulzeit zurück zu kehren (vgl. Abg. Kuntze - CDU, BildgWissAProt v. 20.9.2000, S. 31, 32 — Anfrage in diesem Sinn). Erwägungen, Ausnahmen konkret LVerfGE 13

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auch für den Einzelfall zu ermöglichen oder lediglich eine Gesamtwochenstundenzahl festzulegen, sind im Feder führenden Ausschuss zwar erwogen worden, haben aber keinen Eingang in dessen Beschlussvorlage gefunden (vgl. Behrens, Gesetzgebungs- und Beratungsdienst - künftig: GBD, BildWissAProt v. 20.9.2000, S. 32 f; Vogt, GBD, aaO, S. 34; vgl. dazu: Dr. Harms, KM, aaO, S. 33; Abg. Kuntze - CDU, aaO, S. 32, 33; Abg. Reck - SPD, aaO, S. 32, 33; Abg. Dr. Hein - PDS, aaO, S. 33). Auch die Begründung zum Gesetzentwurf (LT-Drs. 3/3254 v. 8.6.2000, S. 6 Einzelbegründung zu Art. 1) räumt der Schulleitung nur innerhalb des abstrakt vorgegebenen Rahmens die Befugnis ein, nähere Konkretisierungen vorzunehmen. Diese Regelungsabsicht ist in den Ausschussberatungen nicht geändert worden (vgl. bes.: Dr. Harms, KM, BildgWissAProt v. 13.9.2000, S. 35; ders., BildgWissAProt. v. 20.9.2000, S. 32; Abg. Dr. Hein - PDS, aaO, S. 32; Reich, GBD, aaO, S. 34; Vogt, GBD, aaO, S. 34). 1.4.2.2. Andere Vorschriften des Änderungsgesetzes oder des unveränderten Teils des Schulgesetzes, auf welche das ändernde Gesetz ausstrahlen könnte, rechtfertigen gleichfalls keine Einzelfall-Ausnahmen. Das gilt zunächst für die Ausnahme-Ermächtigung des § 36 Abs. 2 S. 2 LSASG. Sie bezieht sich nach dem Sinnzusammenhang innerhalb des Absatzes ausschließlich auf die zuvor getroffene Regelung des Satzes 1, wonach die Schulpflicht „grundsätzlich" nur in einer öffentlichen oder in einer genehmigten Schule in freier Trägerschaft erfüllt werden kann. Zeitliche Begrenzungen der Schulpflicht für eine öffentliche Schule sind hier kein Regelungsgegenstand. Es kann offen bleiben, ob § 42 LSA-SG in seiner ersten Variante „nähere Bestimmungen" auch zeitlichen Inhalts umfassen könnte; denn nach seiner Rechtsfolge ermächtigt das Gesetz nur zum Erlass einer entsprechenden Verordnung, nicht zu Einzelfall-Entscheidungen der Schulleitung. 1.4.3. „Unmittelbar" betroffen werden die Beschwerdeführer nicht nur durch die Regelungen über die Schulkernzeit und über die Einbeziehung der pädagogischen Hilfskräfte, sondern auch, soweit der neue § 36 Abs. 3 LSA-SG (= Art. 1 Nr. 2 LSA-GrdSchÖffzG) die Schulpflicht rein zeitlich auf die vollen fünfeinhalb Stunden unabhängig davon erstreckt, ob „Unterricht" im klassischen Sinn erteilt wird oder ob nach den neuen Regeln des § 4 Abs. 1 LSA-SG (= Art. 1 Nr. 1 Buchst, a LSA-GrdSchÖffzG) Unterricht lediglich „ergänzt" oder „unterstützt" wird. 1.5. Den sonstigen Zulässigkeitsanforderungen ist genügt. Insbesondere haben alle Beschwerdeführer die Jahresfrist des § 48 LVerfGGLSA eingehalten; denn sie hat nicht mit der Verkündung des ursprünglichen Schulgesetzes zu laufen begonnen, sondern erst mit dem In-Kraft-Treten des angegriffenen Änderungsgesetzes. Die Beschwerdeführer wahren die Frist dabei sowohl für die verfassungsrechtliche Überprüfung derjenigen Bestimmungen des LVerfGE 13

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Änderungsgesetzes, welche den Wortlaut des bislang geltenden Rechts förmlich modifiziert haben, als auch der anderen Gruppe von formell nicht ausdrücklich geänderten Regelungen des Schulgesetzes, auf welche sich die Bestimmungen des Änderungsgesetzes materiell auswirken; die Frist ist hingegen abgelaufen für die Kontrolle aller sonstigen Regelungen, welche der Landesgesetzgeber, ohne sie anzutasten oder zu modifizieren, lediglich „bestätigend" in seinen Willen aufgenommen hat (LVerfG-LSA, Urt. v. 13.7.1999 - LVG 20/97 - insoweit nicht abgedruckt in NVwZ-RR 2000, 1, unter Hinweis u.a. auf: BVerfG, Beschl. v. 5.7.1960 - 1 BvR 232/58 - , BVerfGE 11, 255, 260; Beschl. v. 6.6.1989 - 1 BvR 921/85 - , BVerfGE 80,137,149, mwN). Auch die Anforderungen, die § 49 LVerfGG-LSA an die Begründung der Verfassungsbeschwerde stellt, haben die Beschwerdeführer erfüllt. (Die Entscheidung über die Zulässigkeit - Abschnitt 1 - ist einstimmig ergangen.) 2. Die Verfassungsbeschwerden sind imbegründet; denn durch den Regelungsgehalt, der die „Restbelastung" unmittelbar durch das Gesetz darstellt, werden Verfassungsrechte der Beschwerdeführer nicht verletzt. Die Einführung der „Grundschule mit festen Öffnungszeiten" als Maßnahme der „Schulaufsicht" ist nicht schon als solche mit verfassungsrechtlich geschützten „Eltern-" (2.1.) und „Schülerrechten" (2.2.) unvereinbar. Sie verstößt in ihrer konkreten Regelung weder gegen rechtsstaatliche Grundsätze (2.3.) noch gegen das „Willkürverbot" (2.4.). 2.1. Die durch die Neuregelung über den Unterricht und über die Schulpflicht getroffenen gesetzlichen Regelungen sind nicht bereits deshalb mit dem „Elternrecht" des Art. 11 Abs. 1 S. 1 LVerf-LSA unvereinbar, weil die Bestimmung über den vermittelten Inhalt und/oder über den Schulbesuch nach der Verfassungsordnung in erster Linie oder mit Vorrang den Eltern zugeordnet wäre (2.1.1.). Die Schulaufsicht ist insbesondere nicht auf die Ausübung des staatlichen „Wächteramts" beschränkt (2.1.2.); der Staat hat vielmehr auch nach der Landesverfassung eigenständige und den elterlichen gleichwertige Erziehungsaufgaben (2.1.3.), die er innerhalb des ihm in Konkurrenz zum elterlichen Erziehungsrecht zugestandenen Rahmens durch demokratische Mehrheitsentscheidung bestimmen und auch gegen Vorstellungen einzelner Eltern fesdegen darf (2.1.4.). Andere Normen der Landesverfassung verstärken das „Elternrecht" nicht (2.1.5.). 2.1.1. Es liegt nicht ausschließlich in der Macht der und damit auch nicht einzelner Eltern, die tägliche Aufenthaltszeit ihrer Kinder in der Schule gegen anders lautende gesetzliche Regelungen zu bestimmen. Art. 25 Abs. 2 LVerf-LSA, der die allgemeine Schulpflicht statuiert und deren Ausgestaltung dem einfachen Gesetzgeber überlässt (Art. 25 Abs. 3 LVerf-LSA), begrenzt das „Elternrecht" aus Art. 11 Abs. 1 S. 1 LVerf-LSA. Ohne Bedeutung ist dabei, dass das („Eltern-") Grundrecht innerhalb einer Einrichtungsgarantie eingeschränkt wird; denn auch LVerfGE 13

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für die Landesverfassung gilt wie für das Grundgesetz, dass die Verfassung als Einheit anzusehen ist (vgl. insoweit zur Bundesverfassung: BVerfG, Besohl, v. 16.7.1998 - 2 BvR 1953/95 - , NJW 1999, 43, 45; Beschl. v. 16.10.1979 - 1 BvR 647/70, 7/74 - , NJW 1980, 575, 578; Beschl. v. 19.10.1971 - 1 BvR 387/65 - , BVerfGE 32, 98, 107 ff; BVerfGE 41, 29, 50 f; BVerfG, Beschl. v. 16.10.1979 - 1 BvR 647/70, 7/74 - , BVerfGE 52, 223, 246). Die Begriffsdefinitionen des Art. 3 LVerf-LSA stehen einer solchen Auslegung nicht entgegen. Durch sie wird nur die jeweilige Reichweite der Bindung von Grundrechten, Einrichtungsgarantien und Staatszielen festgelegt, ohne dass daraus geschlossen werden könnte, Grundrechte dürften nur durch andere Grundrechte, also Verfassungsnormen mit gleichem Rang, eingeschränkt werden. Die hier vorgenommene Auslegung der Art. 11 Abs. 1 S. 1 ; 25 Abs. 2 LVerfLSA, die elterlichen Erziehungsrechte beständen nicht absolut, sondern seien in Beziehung zu den Rechten des Staates zu setzen, innerhalb einer ihm überlassenen „Schulaufsicht" (vgl. dazu Art. 29 Abs. 1 LVerf-LSA) auch Regelungen über die Schulpflicht zu treffen, hält sich in dem durch Art. 6 Abs. 2 und Art. 7 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) vorgezeichneten Rahmen. Auch soweit Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG das „natürliche Recht" der Eltern anerkennt, ihre Kinder zu erziehen, und soweit sie ihnen damit vor allem gestattet, einen sog. „Gesamtplan" der Erziehung zu entwerfen (BVerfGE 34, 165, 183; 47, 46, 75; 59, 360, 380; 98, 218, 245; vgl. auch BVerwG, Urt. v. 3.5.1988 - BVerwG 7 C 96.86 - , BVerwGE 79, 298, 301), verdrängt dieses „Elternrecht" die „staatliche Schulaufsicht" (Art. 7 Abs. 1 GG) nicht; der Staat ist lediglich gehalten, den elterlichen Gesamtplan bei Ausgestaltung seiner Maßnahmen zu achten und dabei vor allem im Schulangebot offen zu sein (BVerfG, aaO). Zu den staatlichen Aufgaben der Schulaufsicht (Art. 7 Abs. 1 GG) gehört gerade in erster Linie die Organisation des Schulbetriebs (vgl. bes.: BVerfGE 26, 228, 237; 34, 165, 182; 41, 88, 111; 47, 46, 71, 80; 52, 223, 236; BVerfG, Beschl. v. 26.2.1980 - 1 BvR 684/78 - , BVerfGE 52, 185, 196; BVerfGE 59, 360, 377; vgl. auch BVerwGE 79, 298, 300; BVerwG, Urt. v. 18.12.1996 - BVerwG 6 C 6.95 - , BVerwGE 104, 1, 9). Dabei steht dem Landesgesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum zu (BVerfGE 34, 165, 181; 41, 29, 44; 47, 46, 55; 53, 185, 196; 59, 360, 377); innerhalb dieses Rahmens bestimmt die Mehrheit im Parlament, welche organisatorischen Maßnahmen getroffen werden sollen (so bei Schulformen: BVerfG, NJW 1977, 1723, 1723 Einführung der „gymnasialen Oberstufe" in Hessen; BVerfGE 41, 88, 107 - Einführung der „Gemeinschaftsschule" in Nordrhein-Westfalen). Über die reine Organisationsbefugnis hinaus gehören zum Gestaltungsbereich der staatlichen Schulaufsicht aber auch die strukturellen Festlegungen des Ausbildungssystems, das inhaltliche und didaktische Programm der Lernvorgänge, das Setzen von Lernzielen sowie die Entscheidung darüber, ob und wie weit diese Ziele erreicht worden sind (BVerfGE 34, 165, 182; BVerfG, NJW 1977, 1723, 1723). Auch hier

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besteht kein Vorrang des Elternrechts, sondern ein elterlicher Gesamterziehungsplan muss lediglich beachtet werden. Der Landesgesetzgeber ist befugt, eine allgemeine Schulpflicht einzuführen und näher auszugestalten (Art. 25 Abs. 2 LVerf-LSA). Sie umfasst dann das jeweils gestaltete pädagogische Konzept, hier die „Grundschule mit festen Öffnungszeiten". Jedenfalls für die ersten vier Jahrgangsstufen begegnet die Schulpflicht keinen Bedenken aus der Bundesverfassung (vgl. im Grundsatz: BVerfGE 34, 165, 186 f; BVerwG, Urt. v. 25.8.1993 - BVerwG 6 C 8.91 - , BVerwGE 94, 82, 84; BVerwG, NVwZ 1992, 370, 370); sie können allenfalls erhoben werden, falls die Grundschulzeit über die vierte Jahrgangsstufe hinaus ausgedehnt wird, soweit der Staat dadurch Schüler(innen) zu lange undifferenziertem Unterricht aussetzt (BVerfGE 34, 165, 187). Die Einschränkung für „undifferenzierten" Unterricht kann allerdings bei diesem Hintergrund nur auf Schuljahrgänge bezogen werden und enthält keine Aussage über den Tagesablauf innerhalb der ersten vier Schuljahre. Gegen das „Elternrecht" verstößt femer nicht, dass sich die Schulpflicht nach § 36 Abs. 3 LSA-SG (neu) nicht auf die Zeiten des bisherigen, durch Lehrkräfte erteilten Unterrichts - die, wie einige Beschwerdeführer betonen, bloße „Wissensvermittlung" — beschränkt, sondern auch die Zeitspannen erfasst, in welchen die Schüler(innen) durch pädagogische Hilfskräfte - wie die Beschwerdeführer es bezeichnen: - „lediglich betreut" werden. Selbst wenn hier der rein organisatorische Bereich verlassen wäre, hielte sich die Regelung doch im Rahmen der inhaltlichen Befugnisse der „Schulaufsicht" iS sowohl des Art. 7 Abs. 1 GG als auch der Art. 25 Abs. 2; 29 Abs. 1 LVerf-LSA (vgl. zu wesentlichen Beispielen: Oppermann in: Isensee/ Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland - HdbStR, Bd. IV, § 135 „Schule und berufliche Ausbildung", Rn. 13; vgl. auch BVerwGE 94, 82, 86; 107, 75, 78: „umfassender" Bildungs- und Erziehungsauftrag des Staates). Der Staat hat nach diesen Verfassungsregeln einen dem elterlichen gleichwertigen Erziehungsanspruch (BVerfGE 26, 228, 240; 34, 165, 182, 183; 41, 29, 44; 47, 46, 74, 84; 52, 223, 235, 236; 53, 185, 196; 59, 360, 379, 384/385; 98, 218, 244; BVerfG, NJW 1984, 89, 89; BVerwGE 79, 298, 300), der nicht auf eine reine Wissensvermittlung beschränkt ist (BVerfGE 41, 29, 42; 47, 46, 84) und der es dem Staat gerade auch frei stellt, Stoff, Methode und Unterrichtsmittel zu bestimmen (BVerwGE 79, 298, 300). Auch die Bestimmung darüber, mit welchen staatlichen Kräften die Schüler(innen) gebildet und erzogen werden, unterfällt damit der staatlichen Schulaufsicht. So weit die gleichrangigen Befugnisse der staatlichen Schulaufsicht reichen, wird das Elternrecht eingeschränkt. Die Trennlinien zwischen dem sich im Einzelfall durchsetzenden „Elternrecht" und der staatlich zulässigen „Schulaufsicht" sind nicht formal nach Erziehungsinhalten zu ziehen, sondern es kommt im Einzelfall auf eine Abwägung zwischen beiden Positionen an. Diese Einzelfallbetrachtung kann nicht durch eine LVerfGE 13

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schematische Zuweisung der konkreten Frage zu einem von drei Bereichen ersetzt werden, nämlich einem ersten, in welchem ein das Elternrecht von vornherein Vorrang hat, einem zweiten mit dem Primat der staatlichen Schulaufsicht und einem dritten, sog. „Ausgleichs"-Bereich („Drei-Bereiche-Lehre"; vgl. dazu: Ossenbühl Schule im Rechtsstaat, DÖV 1977, 801, 807, r. Sp., mwN; Oppermann aaO, § 135 Rn. 79). Diese schematische Betrachtung erweist sich bereits deshalb nicht als geeignet, weil die Bereiche nicht scharf genug gegen einander abgegrenzt werden können (vgl. Oppermann aaO, Rn. 79, der die Frage der Sexualerziehung dem „außerschulischen Erziehungsbereich" zuordnet; vgl. andererseits Ossenbübl aaO, der den Bereich des ausschließlichen Elternrechts mit dem Begriff der „häuslichen Erziehung" umschreibt); zum anderen ersetzt sie die notwendige Abwägung im Einzelfall nicht (so Oppermann aaO), sofern ihre Vertreter nicht zu der von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abweichenden These gelangen, das Elternrecht habe generell Vorrang - wie Ossenbühl (aaO) —, der dies ganz ausdrücklich auch für den dritten, den Ausgleichs- oder Kooperationsbereich fordert und sich im Übrigen deutlich gegen die vom Bundesverfassungsgericht ständig vertretene These der Gleichrangigkeit von „Elternrecht" und „Schulaufsicht" wendet (Ossenbübl aaO, S. 808, 1. Sp.; kritisch auch: Gröschner in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 7 Rn. 55 ff). 2.1.2. Die Beschwerde führenden Eltern können sich nicht darauf berufen, sie selbst leisteten jedenfalls den „Betreuungsanteil" der Beschulung viel besser als die Schule; die Schulpflicht sei insoweit fast schon eine staatliche Kritik an ihren Elternpflichten. Die Gleichrangigkeit der staatlichen Schulaufsicht (Art. 25 Abs. 2; 29 Abs. 1 LVerfGG-LSA) wird vielmehr nicht durch die systematische Stellung des Art. 11 Abs. 1 S. 2 LVerf-LSA generell zu Gunsten des Elternrechts verschoben. Wegen der Inhaltsgleichheit dieser Regelung mit Art. 6 Abs. 2 GG gilt für die Landesverfassung ebenso, dass der Staat im Bereich der schulischen Erziehung nicht auf das sog. „Wächteramt" beschränkt ist (so ausdrücklich — für Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG: BVerfGE 34, 165, 183; 59, 360, 379; vgl. zum „Wächteramt": BVerfG, Urt. v. 29.7.1959 - 1 BvR 205, 332, 333, 367/58, - 1 BvL 27,100/58 - , BVerfGE 10, 59, 84; BVerfG, Beschl. v. 17.2.1982 - 1 BvR 188/80 - , BVerfGE 60, 79, 88; Beschl. v. 18.6.1986 - 1 BvR 857/85 - , BVerfGE 72, 122, 140). Erst recht ist die Grenze staatlicher Befugnisse in der Schule nicht erst dort zu ziehen, wo iSd Art. 11 Abs. 2 LVerf-LSA (gleichlautend: Art. 6 Abs. 3 GG) eine Trennung von den Eltern deshalb erforderlich wird, weil diese ihre am Kindeswohl zu orientierenden Pflichten verletzt haben. Ähnlich wie Art. 7 Abs. 1 GG für die Bundesverfassung enthalten Art. 25 Abs. 2; 29 Abs. 1 LVerf-LSA auch im Land Sachsen-Anhalt für den Bereich der Schule Sonderregelungen, welche das Recht der Eltern eigenständig begrenzen, soweit sie reichen, und die ihrerseits wegen der Gleichrangigkeit des „Elternrechts" Einschränkungen durch dieses ausgesetzt sind.

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2.1.3. Da das Elternrecht der staatlichen „Schulaufsicht" (Art. 29 Abs. 1 LVerf-LSA) gleichwertig ist, fordert die Verfassung keine Unterscheidung zwischen einem durch Lehrer(innen) vermittelten Unterricht und einer durch pädagogische Hilfskräfte geleisteten — unscharf so bezeichneten: — „Betreuung"; denn diese ist lediglich eine „ergänzende und unterstützende Tätigkeit". Deshalb kann auch nicht - auf dieser Unschärfe aufbauend - „Freiwilligkeit" jedenfalls für einen so gedachten „reinen Betreuungsteil" gefordert werden. Das hier zur Beurteilung stehende Konzept geht von keiner solchen Trennbarkeit aus, sondern integriert „Unterricht" und „ergänzende Tätigkeit". Auch die Zeitphasen, welche den Unterricht nach dem Gesetzeswordaut „ergänzen" und „unterstützen", nach den Motiven vor allem auch eine Uberforderung der Schüler(innen) vermeiden sowie den Unterricht auflockern sollen, sind Teil dieses in der Sache so bezeichneten „ganzheitlichen Konzepts" (Gesetzentwurf, LT-Drs. 3/3254 v. 8.6.2000, allgemeine Begründung — S. 5, Einzelbegründung zu Art. 1 — S. 5; Prof. Dr. Wenzel, Anhörung, BildgWissAProt v. 30.8. 2000, S. 8; ders., schriftliche Stellungnahme vom 30.8.2000, S. 1; Dr. Harms, KM, BildgWissAProt v. 13.9.2000, S. 29; Abg. Ernst — Berichterstatter des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft, LT-StenBer. 3/44 v. 12.10.2000, S. 3164 1. Sp.), das - insoweit mit Bezug auf die handelnden Personen als „verbundenes Konzept" bezeichnet - mit einem einheitlichen Kollegium aus Lehrkräften und Hilfskräften in der Verantwortung der Schule gestaltet wird (Prof. Dr. Wenzel, Anhörung, BildgWissAProt v. 30.8. 2000, S. 9 f; ders., schriftliche Stellungnahme, S. 1,3). Ein Hauptanliegen der mit dem „integrativen" Konzept verfolgten Erneuerung ist dabei eine „kindgerechte Pädagogik", die in der heutigen Gesellschaft mehr Zeit und differenziertere Arbeitsformen verlangt (Prof. Dr. Wenzel, schriftliche Stellungnahme, S. 2; ders., Anhörung, BildgWissAProt v. 30.8.2000, S. 8). Auch soweit im „offenen Anfang", also vor den eigentlichen „Schulstunden", kein klassischer Unterricht stattfindet, sollen die von den Kindern selbst gewählten Aktivitäten in den Unterricht einmünden und Teil des Unterrichts werden (Prof. Dr. Wenzel, aaO, S. 2 f). Begleitende Untersuchungen für bereits eingerichtete „Primarschulen mit erweitertem Zeitrahmen" hatten ergeben, dass der für beachtlich gehaltene Entwicklungsstand gerade auf die neue Zeitorganisation zurückzuführen sei, die für eine kind- und lerngerechte Rhythmisierung des Schulvormittags, dabei für einen offenen und „binnendifferenzierten" Unterricht und für eine Ausdifferenzierung der Lern- und Sozialformen, sowie für Klassen übergreifende Angebote oder für schülerorientierte Themen genutzt werden könne (Prof. Dr. Holtappeis, Projekt Verläßliche Halbtagsschule, Nr. 1. S. 1, Nr. 2.1. S. 3, Nr. 4. S. 15; vgl. zur Rhythmisierung des Unterrichts sowie zum „Lernort Schule" auch: Prof. Dr. Wenzel, schriftliche Stellungnahme, S. 2). 2.1.4. Die „Grundschule mit festen Öffnungszeiten" verstößt nicht schon deshalb gegen die Verfassung, weil einzelne Eltern geltend machen, ihre Erziehungsziele seien beeinträchtigt. Die Gleichwertigkeit des „Elternrechts" mit dem LVerfGE 13

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staatlichen Erziehungsanspruch verpflichtet den Landesgesetzgeber nur, die Auswirkungen seines Erziehungskonzepts auf das Interesse der betroffenen Eltern in ihrer Gesamtheit (der Elternschaft) zu bedenken; er muss nicht alle Vorstellungen einzelner Eltern berücksichtigen, sondern entscheidet im Bereich der ihm zustehenden Befugnisse nach dem demokratischen Mehrheitsprinzip (vgl. insoweit zur Bundesverfassung: BVerfGE 41, 88, 107; BVerfG, NJW 1977, 1723, 1723); allenfalls durch Grundrechte außerhalb des Elternrechts können ihm besondere Grenzen gezogen sein (vgl. etwa zur Weltanschauungsfreiheit: BVerfGE 41, 29, 48; 41, 65, 78; 41, 88,96). Im Regelfall gilt aber, dass ein mit allen Eltern einer Klasse auf die Persönlichkeit eines jeden Kindes in der Klasse abgestimmtes Zusammenwirken in grundsätzlichen Positionen praktisch kaum vorstellbar ist, sobald der Bereich der schlichten Wissensvermittlung überschritten wird; die Eltern können sich daher in diesem Bereich nicht uneingeschränkt auf ihr eigenes „Elternrecht" berufen, sondern werden in der Ausübung ihres Grundrechts insoweit durch die kollidierenden Grundrechte anders denkender Eltern begrenzt (BVerfGE 47, 46, 76, unter Hinweis auf BVerfGE 41, 29, 50, zu Art. 6 Abs. 2 GG). Diesen Grundsätzen schließt sich das Landesverfassungsgericht für die Auslegung des Art. 11 Abs. 1 S. 1 LVerf-LSA einerseits und der Art. 25 Abs. 2; 29 Abs. 1 LVerf-LSA andererseits an, weil sich Elternrecht und staatliche Schulaufsicht in gleicher Weise balancieren wie im Bundesrecht. Der Landesgesetzgeber musste zudem wegen kollidierender Eltern(eigen)interessen (Eltern, welche ihre Kinder selbst betreuen wollen, im Vergleich zu Eltern, welche eine „verlässliche" Schule anstreben), die insoweit eher Inhalt von Elternfreiheits- als von Elternerziehungsrechten sind, einerseits diese Positionen abwägen, und er durfte andererseits eine für pädagogisch richtig gehaltene Schulorganisation aufbauen, welche wiederum auch seine Leistungsfähigkeit nicht überschreitet: Je mehr Eltern sich für eine „verlässliche Schule" nach „integrativem Modell" einsetzen, desto eher wird sich eine Schulform anbieten, die um der Durchführbarkeit des Modells ganzheitlicher Beschulung willen die Schulpflicht auf die volle Schulzeit in der Kombination von Wissensvermittlung, Erziehung und Betreuung erstreckt. Dass sich dann eine Elternminderheit der Mehrheit unterordnen muss, hat das Bundesverfassungsgericht sogar im Fall der Debatte um die Einführung von Gemeinschaftsschulen gebilligt, in welchem der (nordrhein-westfälische) Landesgesetzgeber die Einrichtung von Bekenntnisschulen von einem Quorum abhängig gemacht hatte (BVerfGE 41, 88, 106 ff). Maßgeblich war insoweit wie bei der badischen Simultanschule (BVerfGE 41, 29, 44 ff), dass der Landesgesetzgeber bei der Schulform für die öffentliche Volksschule im Grundsatz eine anerkannte Form oder auch mögliche Zwischenformen frei wählen kann; selbst im religiös-weltanschaulichen Bereich haben Eltern weder aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG noch aus anderen Vorschriften - insbesondere Art. 4 Abs. 1 — des Grundgesetzes ein positives Recht, vom Staat die Einrichtung von LVerfGE 13

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Schulen bestimmter Prägung zu verlangen, sondern das Grundgesetz verweist die Eltern insoweit auf Privatschulen (BVerfGE 41, 29, 46). Das gilt wegen der Ähnlichkeiten zwischen Bundes- und Landesverfassungsrecht auch für die Gleichwertigkeit von Art. 11 Abs. 1 LVerf-LSA und Art. 25 Abs. 2; 29 Abs. 1 LVerf-LSA. Diese Ausgangslage zwingt den Landesgesetzgeber von Verfassungs wegen nicht, bereits wegen individueller Bildungsplanungen der Beschwerdeführer oder wegen des bisherigen Tagesablaufs der Familien von seiner Vorstellung über eine Grundschulversorgung abzusehen. Weltanschauliche Positionen, welche den besonderen Schutz des Art. 9 LVerf-LSA (wie Art. 4 GG) genießen, werden nicht bereits dadurch verletzt, dass sich die Schulzeit um den „Betreuungsanteil" verlängert und deshalb der Besuch der von den Eltern gewollten Christenlehre innerhalb des Tagesablaufs verschoben werden muss. 2.1.5. Die Position der Beschwerdeführer wird durch einzelne Aussagen innerhalb der Einrichtungsgarantien nicht derart verstärkt, dass ihr gegenüber die „Schulaufsicht" zurückträte; dagegen spricht im Ansatz schon, dass auf Verfassungsbestimmungen dieser Art unmittelbar keine Verfassungsbeschwerde gegründet werden kann (vgl. den Wortlaut des Art. 75 Nr. 6 LVerf-LSA und des § 2 Nr. 7 LVerfGG-LSA: Grundrechte, grundrechtsgleiche Rechte, staatsbürgerliche Rechte). Das schließt allerdings — was in diesem Verfahren indessen nicht abschließend entschieden werden muss — nicht aus, dass einzelne Garantien iSd Art. 3 Abs. 2 LVerf-LSA den Inhalt von Grundrechten (verstärkend) beeinflussen und über diese mittelbar auch Prüfungsmaßstab für das Verfassungsgericht werden können; denn sie entfalten jedenfalls als Auslegungsregelungen der Verfassung auch eine Bindung der Gerichte (so zutreffend: Mahnke Die Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt, Art. 3 Rn. 11). Eine damit evd. verbundene Inhaltserweiterung gegenüber den Grundrechten der Bundesverfassung verstieße nicht gegen Art. 31, 142 GG; denn das Grundgesetz enthält lediglich einen Mindestbestand ohne abschließende Regelung (Piervth in: Jarass/Pieroth, GG, 5. Aufl., Art. 142 Rn. 1; Maun^ in: Maunz/Dürig, GG, 39. Lieferung, März 2001, Art. 142 Rn. 14; von Münch in: ders., GG, 2. Aufl., Art. 142 Rn. 7; vgl. auch BVerfG, Urt. v. 30.4.1952 - 1 BvR 14, 25, 167/52 - , BVerfGE 1, 264, 281; kritisch jedoch: Dnier in: ders., GG, Art. 142 Rn. 49 ff). 2.1.5.1. Keine Verstärkung erfährt die Position des Art. 11 Abs. 1 LVerf-LSA jedenfalls im Ergebnis durch die Einrichtungsgarantie des Art. 24 Abs. 1 LVerfLSA („besonderer Schutz der Familie"). Dabei bleibt offen, ob diese Norm auch Elemente eines Abwehrrechts gegen staatliche Eingriffe aufweist (so Mahnke aaO, Art. 24 Rn. 7 - „auch Grundrecht"; a.A.: Reich Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt, Art. 24 Rn. 1 - S. 138: „kein Grundrecht").

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Allerdings können die Einrichtungsgarantien trotz Art. 3 Abs. 2 LVerf-LSA nach den Materialien zur Landesverfassung durchaus vom Ausschuss so bezeichnete „Grundrechtssplitter" enthalten (vgl. Berater des Verfassungsausschusses Prof. Dr. Schneider, VerfMat II 899 - Sitzung v. 23.2.1992, gerade zur Ambivalenz des Schutzes von Ehe und Familie; vgl. ferner: Vorsitzender, Abg. Dr. Höppner - SPD, VerfMat II, S. 956 - Sitzung v. 24.4.1992), zumal auch nach Auffassung des Verfassungsausschusses keine klare Abgrenzung zwischen Grundrechten und Einrichtungsgarantien möglich ist (Berichterstatter des Verfassungsausschusses, Abg. Dr. Höppner, in der Ersten Beratung v. 9.4.1992 - LT-StenBer. 1/31, S. 2620, r. Sp.). Dem steht nicht entgegen, dass sich der Verfassunggeber bei den Regelungen über die Familie bewusst für eine Trennving in das „Eltern(grund)recht" und die Einrichtungsgarantie „Familie" entschieden hat (vgl. insoweit: Ausschuss-Berater Prof. Dr. Starck, VerfMat I, S. 526 - Sitzung v. 17.6.1991; Ausschuss-Berater Prof. Dr. Schneider, VerfMat II 901 f - Sitzung v. 23.2.1992; ders., VerfMat II, S. 977 - Sitzung v. 24.4.1992; Nitsche, CDU-Fraktionsmitarbeiter, VerfMat II 899 - Sitzung v. 23.2.1992; Dr. Franke, PDS-Fraktionsmitarbeiter, aaO; Berlit, SPD-Fraktionsmitarbeiter, VerfMat II 900 - Sitzung v. 23.2.1992; vgl. aber auch die Tendenz, „Ehe und Familie" als Grundrecht zu definieren, bei: Dr. von Bose — Landesregierung, VerfMat II 855 — Sitzung v. 24.9.1991; ders., VerfMat II 898 - Sitzung v. 23.2.1992; Abg. Geisthardt - CDU, VerfMat II 901 Sitzung v. 23.2.1992; vgl. auch zur Doppelnatur: Ausschuss-Berater Prof. Dr. Schneider, VerfMat II 898 f - Sitzung v. 23.2.1992). Selbst wenn aber der Schutz der Familie durch Art. 24 Abs. 1 LVerf-LSA das gleiche Gewicht hätte wie die Grundrechtsbestimmung des Art. 6 Abs. 1 GG, wäre hierdurch für die Frage der Gleichrangigkeit des „Elternrechts" mit dem „Schulaufsichtsrecht" nichts zu gewinnen; denn gegenüber dem Schutz der Familie als Gemeinschaft zwischen Eltern und Kindern (BVerfGE 10, 59, 66; BVerfG, Beschl. v. 18.4.1989 - 2 BvR 1169/84 - , BVerfGE 80, 81, 90), sind das (elterliche) Recht auf und die Pflicht zur Erziehung (Art. 11 Abs. 1 S. 1 LVerf-LSA, gleichlautend Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) ein speziell geregelter Ausschnitt der Rechtsbeziehungen innerhalb dieser „Lebens- und Erziehungsgemeinschaft" (BVerfGE 80, 81, 90). Nur hinsichtlich der Erziehungsrechte einerseits der Eltern und andererseits des Staates besteht aber die von der Verfassung vorgesehene Konkurrenz, die zum Ausgleich gebracht werden muss; die übrigen „Familien-"Beziehungen bleiben unberührt. Auch das Bundesverfassungsgericht hat keinen Anlass gesehen, den Maßstab für die notwendige Abwägung zwischen beiden Position zusätzlich wegen Art. 6 Abs. 1 G G zu Gunsten des „Elternrechts" zu verlagern (vgl. insoweit: BVerfGE 34, 165, 195; vgl. zur Spezialität des Art. 6 Abs. 2 G G im Verhältnis zu Art. 6 Abs. 1 G G auch: BVerfG, Beschl. v. 29.7.1968 - 1 BvL 20/63, 31/66, 5/67 - , BVerfGE 24, 119, 135; Beschl. v. 15.6.1971 - 1 BvR 192/70 BVerfGE 31,194, 203).

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2.1.5.2. Unabhängig davon, ob auch Art. 26 Abs. 3 LVerf-LSA wie Art. 24 Abs. 1 LVerf-LSA „Grundrechtssplitter" enthalten könnte, verstärkt das Gebot, Elternrechte in der Schule zu berücksichtigen, die Grundrechtsposition aus Art. 11 Abs. 1 LVerf-LSA nicht; denn die Einrichtungsgarantie setzt das Recht der Eltern, ihre Kinder zu erziehen, bereits im Wordaut voraus und zieht aus dem „Elternrecht" lediglich Folgerungen für das „Schulwesen". Mehr ergibt sich gerade auch aus Art. 3 Abs. 2 LVerf-LSA nicht; denn danach ist es das Wesen der Einrichtungsgarantien, dass ihr Inhalt zu „berücksichtigen" ist. Dieser Hintergrund hindert die Annahme, Art. 26 Abs. 3 LVerf-LSA gehe von einem „Vorrang" der „Elternrechte" aus (missverständlich insoweit: Reich aaO, Art. 26 Rn. 3 — S. 143; wie hier einschränkend: Mahnke aaO, Art. 26 Rn. 4). 2.1.5.3. Auch Art. 27 Abs. 1 LVerf-LSA bleibt ohne Einfluss auf das Gewicht der in die jeweils konkrete Abwägung zwischen „Elternrecht" und „Schulaufsicht" einzustellenden Inhalte. Soweit dort Erziehungsziele festgelegt sind, die zur Entwicklung einer freien Persönlichkeit beitragen sollen, handelt es sich nur um eine Konkretisierung des sog. „staatlichen Erziehungsrechts" (vgl. die „Schulaufsicht" des Art. 29 Abs. 1 LVerf-LSA). Die normierte Erwartung richtet sich allein an den (leistenden) Staat und verlangt von diesem Unterstützung, beeinflusst aber die Rechtspositionen gegen Maßnahmen der „Schulaufsicht" nicht. 2.1.5.4. Schließlich verstärkt Art. 29 Abs. 2 LVerf-LSA das „Elternrecht" nicht. Festgeschrieben wird durch diese Regelung nur eine Garantie der Mitbestimmung durch gewählte Elternvertreter in Schulangelegenheiten. Damit geht die Landesverfassung zwar über die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hinaus, die nur ein Informationsrecht der Eltern zu bestimmten Fragen fordert (BVerfGE 47, 46, 54; 59, 360, 380 ff; vgl. auch: BVerwG, NJW 1982, 250 f Nr. 23), ohne ihnen von Bundesverfassungs wegen bereits „kollektive Mitwirkungsrechte" zuzugestehen (BVerfGE 59, 360, 380); diese Interessenvertretungsrechte sind aber gerade deshalb auch vom „Eltern(grund)recht" zu trennen und setzen es voraus, ohne dessen Inhalt im Verhältnis zur Schulaufsicht zu erweitern. Das schließt nicht aus, dass sich die Eltern mit eigenen Vorschlägen einbringen können; die bisherigen wissenschaftlichen Untersuchungen gehen sogar davon aus, dass die Erneuerung des Grundschulmodells desto wirkungsvoller durchgeführt werden kann, je besser die konkrete Ausgestaltung von den Eltern akzeptiert ist (Prof. Dr. Holtappels, aaO, Nr. 3.2. - S. 7/8). Ein Anspruch auf Verwirklichung individueller Vorstellungen über den Schulablauf gegen gesetzliche Fesdegungen folgt daraus jedoch nicht. 2.2. Die aus dem allgemeinen Freiheitsrecht des Art. 5 Abs. 1 LVerf-LSA herzuleitende Rechtsposition des Beschwerdeführers zu 1.3. (vgl. insoweit bereits oben Nr. 1.2.1., mwN) verändert dieses Ergebnis nicht. Dies gilt auch, soweit man die Freiheitsposition als durch Art. 4 Abs. 1 LVerf-LSA verstärkt ansieht, der es verbietet, Schüler(innen) zu Objekten staatlicher Gestaltung herab zu werten (vgl. LVerfGE 13

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zum Bundesrecht: Oppermann aaO, Rn. 13 - am Ende; vgl. auch BVerfGE 98, 218, 257: Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG). Dieses „Schülerrecht" steht aber - ähnlich wie die „Elternrechte" aus Art. 11 Abs. 1 LVerf-LSA — gleichfalls in Konkurrenz zur staatlichen „Schulaufsicht" der Art. 25 Abs. 2; 29 Abs. 1 LVerf-LSA. Es wird auch durch die Einrichtungsgarantien über das Schulwesen nicht derart verstärkt, dass sich die eigene Lebensplanung gegen die durch die Schulaufsicht gesetzten Bedingungen absolut durchsetzen könnte; Art. 25 Abs. 1; 27 Abs. 1 LVerf-LSA binden lediglich den Staat bei der Gestaltung seiner Schulaufsicht. Diesen Verfassungsbestimmungen, wie ergänzend Art. 24 LVerf-LSA, lässt sich mit Blick auf Art. 11 Abs. 1 LVerf-LSA nur entnehmen, dass das Wohl des Schülers im Vordergrund steht und dass seine Persönlichkeits-Entwicklung nicht nur nicht behindert, sondern gefördert werden soll. Wie diese Förderung gestaltet wird, liegt indessen in der Entscheidung der „Schulaufsicht", welche dann auch Adressat der „Erwartung" des Art. 27 Abs. 1 LVerf-LSA ist. Die jüngeren Schüler(innen) werden in ihren eigenen, aus Art. 4 Abs. 1; 5 Abs. 1 LVerf-LSA herzuleitenden „Schülerrechten" zudem nicht nur durch die Schulaufsicht begrenzt, sondern auch durch das Elternrecht des Art. 11 Abs. 1 LVerf-LSA. Soweit sie noch der elterlichen Erziehungsaufsicht voll unterliegen, bleibt als Inhalt ihres eigenständigen, gegen Maßnahmen der Schulaufsicht gerichteten Rechts die Abwehr von Unzumutbarkeiten, der Schutz vor Überforderung sowie positiv der Anspruch auf Achtung ihrer Persönlichkeit. Dieser Inhalt steht nicht bereits jeder Verlängerung von bislang bestehenden Schulpflichtzeiten oder einer Veränderung der Lerninhalte bzw. der Unterrichtsmethodik entgegen. Es ist vielmehr ausschließlich für die jeweils zur Prüfung stehende gesetzliche Regelung zu entscheiden, ob Grundsätze der Zumutbarkeit verlassen oder der Verhältnismäßigkeit bereits überschritten sind. 2.3. Das Schulgesetz verstößt in der Fassung des Änderungsgesetzes nicht gegen das Rechtsstaatsprinzip, das teils den Grundrechten, teils Art. 20 Abs. 3 GG entnommen wird bzw. als allgemeiner Rechtsgrundsatz gilt (vgl. insoweit: BVerfG, Beschl. v. 24.7.1957 - 1 BvL 23/52 - , BVerfGE 7, 89, 92 f; Urt. v. 21.6.1977 - 1 BvL 14/76 - , BVerfGE 45, 187, 246; Beschl. v. 25.7.1979 2 BvR 878/74 - , BVerfGE 52, 131, 144 f); es wird in der Landesverfassung durch Art. 2 Abs. 1; 20 Abs. 2 LVerf-LSA besonders hervorgehoben. Da das Grundgesetz die Länder über Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG an die Grundsätze des Art. 20 GG bindet, kann der Rechtsstaatsbegriff der Landesverfassung, soweit er auf Art. 20 Abs. 3 GG zurück zu fuhren ist, keinen anderen Inhalt haben als der des Grundgesetzes (so bereits: LVerfGE 2, 227, 249; LVerf-LSA, Urt. v. 31.5.1994 - LVG 4/94 - , LVerfGE 2, 323, 337). Das Änderungsgesetz bildet eine hinreichende gesetzliche Grundlage, wie es der Vorbehalt des Gesetzes fordert (2.3.1.); der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist nicht verletzt (2.3.2.). LVerfGE 13

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2.3.1. Gegen den Gesetzesvorbehalt verstößt nicht bereits, dass das Änderungsgesetz nicht im Einzelnen geregelt hat, wie die Unterstützung und Ergänzung des Unterrichts gestaltet werden soll, sondern insoweit die konkrete Ausgestaltung der jeweiligen Schule überlässt. Art. 1 Nrn. 1, 2 LSA-GrdSchÖffzG beachtet noch hinreichend den sog. „Wesentlichkeits-Grundsatz", wonach schon der Gesetzgeber selbst die wesentlichen Grundentscheidungen treffen muss und diese nicht erst dem Gesetzesvollzug überlassen darf (vgl. insoweit zum Bundesrecht, insbes. zum Schulrecht: BVerfG, Beschl. v. 27.1.1976 - 1 BvR 2325/73 - , BVerfGE 41, 251, 260; BVerfG, NJW 1977, 1723, 1724; BVerfGE 98, 218, 251; BVerfGE 34, 165, 192, 198; 47, 46, 55, 78; BVerfG, Beschl. v. 11.12.2000 - 1 BvL 15/00 - , http://www. bverfg.de, AbsNr. 29). Das bedeutet aber nicht auch, dass der Gesetzgeber alles selbst entscheiden müsste, was politisch umstritten ist (BVerfGE 98, 218, 251). Es reicht vielmehr, dass er sein neues Programm in den notwendigen Grundzügen gesetzlich fixiert, damit den Inhalt der „Schulaufsicht" bestimmt und diese in Abwägung mit den elterlichen Erziehungsrechten sowie dem „Schülerrecht" von diesen Positionen hinreichend abgegrenzt hat. Ob und in welchem Umfang eine Maßnahme wesentlich ist und damit dem Parlament selbst vorbehalten bleiben muss oder zumindest nur auf Grund einer inhaltlich bestimmten parlamentarischen Ermächtigung ergehen darf, richtet sich allgemein nach der Verfassung; im grundrechtsrelevanten Bereich bedeutet „wesentlich" in der Regel „wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte" (BVerfGE 47, 46, 79; 98, 218, 251). Das gilt besonders für das Schulverhältnis und vor allem, soweit Grenzen zwischen dem staatlichen Erziehungsauftrag und dem Elternrecht sowie dem Persönlichkeitsrecht des Kindes gezogen werden müssen, die oft flüssig und nur schwer auszumachen sind (BVerfGE 47, 46, 80). Nur insoweit ist eine gesetzliche Regelung geboten. Das bedeutet aber nicht, dass der Gesetzgeber jede Einzelheit selbst regeln muss. Vielmehr unterliegt dem Vorbehalt des Gesetzes nur, was für die Ausübung der Grundrechte in dem unvermeidlichen Spannungsverhältnis „wesentlich" ist; dazu gehören in erster Linie die Festlegung der Erziehungsziele in den Grundzügen („Groblernziele") (BVerfGE 47, 46, 56, 83; vgl. weitere Beispiele bei: Oppermann aaO, Rn. 15 - S. 337) sowie je nach Auswirkung auf die Grundrechte auch die Festlegung des formalen Rahmens (etwa: Schulpflicht, Klassenverband, Schulart, Zeitrahmen). Art. 1 Nr. 1 Buchst, a LSA-GrdSchÖffzG genügt diesen Anforderungen auch, soweit mindestens zu fordern ist, dass sich der Gesetzgeber bei einer ihm zur Verfugung stehenden Auswahl für ein bestimmtes Programm entscheidet; denn die neuen Bestimmungen des Änderungsgesetzes sind in den Zusammenhang mit der bereits bestehenden Regelung des im Wortlaut unveränderten § 4 Abs. 2 LSASG zu setzen. Dass eine solche systematische Auslegung notwendig wird, verletzt nicht den ebenfalls aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden Grundsatz der Normenklarheit (BVerfG, NJW 1977,1723,1724, mwN). LVerfGE 13

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§ 4 Abs. 2 S. 1 LSA-SG enthält wie bisher die Entscheidung über die Lernziele, indem als Aufgabe der Grundschule festgelegt wird, sie solle Grundkenntnisse und -fertigkeiten vermitteln; die Vorschrift verlangt darüber hinaus unverändert, dass die Schüler(innen) ungeachtet ihrer unterschiedlichen Fähigkeiten die Grundschule gemeinsam besuchen sollen. Das mutet das Gesetz auch den Schülerinnen) zu, die Kenntnisse und Fähigkeiten im häuslichen Milieu besser erwerben und entwickeln könnten, dies allerdings mit der Auflage an die Schule (§ 4 Abs. 2 S. 2 LSA-SG), dass sie die unterschiedlichen Entwicklungsstände beachtet, um je nach Begabungen fördern zu können, damit gemeinsam der durch Satz 1 als Ziel beschriebenen Bildungsstand erreicht wird. Der neue § 4 Abs. 1 LSA-SG erweitert lediglich den Rahmen, wie dieser Unterricht gestaltet werden soll; er bezieht pädagogische Hilfskräfte in die Unterrichtsaufgabe ein, indem er ihnen die Aufgabe zuweist, den wie bislang durch Lehrkräfte erteilten Unterricht zu ergänzen und zu unterstützen. Mit dieser Aussage sowie dadurch, dass abweichend von der bisherigen Praxis eine tägliche Anwesenheit von regelmäßig fünfeinhalb Stunden verlangt wird, hat sich der Landesgesetzgeber noch hinreichend deutlich für das in den Ausschussberatungen diskutierte sowie bereits in der Regierungsvorlage vorgezeichnete „integrative Modell" entschieden. Es unterscheidet sich von der „additiven" Variante dadurch, dass „Betreuungszeiten" nicht vor oder nach der Schulzeit getrennt angeboten werden. Vielmehr wird herkömmlicher Unterricht „rhythmisiert" (vgl. Prof. Dr. Holtappeis, aaO, Nrn. 1., 2.1., 4. - S. 1, 3,15; Prof. Dr. Wenzel, schriftliche Stellungnahme, S. 2); dadurch sollen neben der Erleichterung des eigentlichen Unterrichts auch Angebote gemacht und Hilfen gegeben werden können, welche dem Ausbildungsziel der Grundschule, wie es durch § 4 Abs. 2 S. 1 LSA-SG beschrieben wird, dienlich sind. Damit hat der Landesgesetzgeber in Abwägung der unterschiedlichen Positionen eine verbindliche Abgrenzung des schulischen Bereichs vorgenommen. Die Schule hat keine Wahl, ob sie statt des vorgesehenen „integrativen" doch ein „additives" Modell durchführt; die von den Beschwerdeführern so bezeichneten „Betreuungselemente" haben keine selbständige, vom eigentlichen Unterricht abtrennbare Bedeutung. Unschädlich ist, dass der Landesgesetzgeber seine Regelung nicht unter Verwendung der Worte „integratives Modell" umschreibt; denn die Gesetzesmaterialien tragen das oben entwickelte Auslegungsergebnis, welches an die im Gesetz verwendeten Begriffe anknüpft, so dass die insoweit eindeutigen Materialien zur Unterstützung herangezogen werden können: Bereits die Begründung zum Gesetzentwurf geht deutlich vom „integrativen Modell" aus (vgl. insoweit LT-Drs. 3/3254, S. 5 — allgemeine Begründung); die Anhörungen, die dem Feder führenden Ausschuss vorgelegten schriftlichen Stellungnahmen und die Beratungen in diesem Ausschuss bestätigen dieses Ergebnis (vgl. Prof. Dr. Wenzel, S. 1; Prof. Dr. Griehl, S. 1, 2; Verband Bildung und ErzieLVerfGE 13

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hung; Grundschulverband, S. 1, 2; vgl. auch die mündliche Anhörung von Prof. Dr. Wenzel, BildgWissAProt v. 30.8.2000, S. 7). Den weiteren Anforderungen (vgl. dazu: Oppermann aaO, S. 337), nämlich die Schulpflicht festzulegen (s. § 36 Abs. 3 LSA-SG — neu) oder den zeitlichen Tagesrahmen zu bestimmen (s. § 4 Abs. 1 S. 4 LSA-SG - neu), hat der Landesgesetzgeber genügt. Andere Abgrenzungen zu den Grundrechten der Beschwerdeführer sind nicht erforderlich; denn es werden keine neuen, sich auf den Bildungsweg auswirkenden Einheiten geschaffen, wie das etwa bei einer Förderstufe oder bei einer Gesamtschule der Fall ist. Es handelt sich vielmehr nur um Veränderungen in der Methodik, die auf neueren Erkenntnissen beruhen und die die unveränderten Erziehungsziele des § 4 Abs. 2 S. 1 LSA-SG besser verwirklichen sollen. Unerheblich ist, dass insbesondere Prof. Dr. Wenzel (vgl. BildWissAProt. v. 30.8. 2000, S. 8, 11; vgl. auch — in gleicher Tendenz —: Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, BildgWissAProt., aaO, S. 12/13) präzisere Beschreibungen für wünschenswert gehalten hat; denn verfassungsrechtlich erheblich ist lediglich die Frage, was „wesentlich" ist, um die Sphären der Grundrechte und der „Schulaufsicht" verbindlich genug gegeneinander abzugrenzen. 2.3.2. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt bei der Frage der „Eignung" nur eine Überprüfung der äußersten Grenzen (2.3.2.1.) sowie die Klärung, ob gegen das Angemessenheitsgebot (2.3.2.2.) verstoßen worden ist. Die Erstreckung der Schulpflicht auf die volle Anwesenheitszeit ist erforderlich (2.3.2.3.). 2.3.2.1. Die durch das Änderungsgesetz vorgesehene Lösung ist generell geeignet. Mit dem ganzheitlichen („integrativen") Modell kann gerade auf die „kognitiven, sozialen, emotionalen und motorischen" Unterschiede eingegangen und damit auf individuellen Voraussetzungen aufgebaut werden, wie dies § 4 Abs. 2 LSA-SG verlangt. Die organisatorische Einbeziehung von Entspannungsphasen ist darüber hinaus geeignet, Schüler(innen) vor Uberforderungen zu bewahren. Dieses Ergebnis belegen insbesondere die gutachtlichen Äußerungen des Erziehungswissenschafders Prof. Dr. Wenzel (vgl. BildgWissAProt v. 30.8.2000, S. 7; schriftliche Stellungnahme vom 30.8.2000, S. 1). Das Modell hält sich zudem im Rahmen der Empfehlungen der Kultusminister-Konferenz. Ob die wissenschaftlichen und pädagogischen Ziele allgemeinen Standard haben, insbesondere ob eine bildungspolitisch „richtige" Entscheidung getroffen worden ist, obliegt nicht der verfassungsgerichtlichen Prüfung (vgl. insoweit zum Bundesverfassungsrecht: BVerfG, NJW 1977,1723,1723; BVerfGE 53,185, 202). Der Landesgesetzgeber hat — was äußerstenfalls vom Verfassungsgericht gerügt werden könnte — keinen Weg eingeschlagen, der völlig ungeeignet ist. Dieses Ergebnis ist nicht davon abhängig, ob in anderen Bundesländern für die „verlässlichen Grundschulen" ganz oder nur teilweise eine Schulpflicht fest-

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gelegt worden ist; denn die Eignungsfrage betrifft nur die Tauglichkeit dieser besonderen, neuen Grundschulart. Es liegen auch keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür vor, dass das eingesetzte Hilfspersonal offensichtlich die ihm gestellten Aufgaben nicht erfüllen kann. Die pädagogischen Mitarbeiterinnen) sind besonders ausgesucht; wegen ihrer Vorbildung erscheinen sie befähigt, auf der Grundlage der von ihnen verlangten Schulungen den durch Lehrkräfte erteilten Unterricht zu ergänzen und zu unterstützen. Die Kultusverwaltung hat, die mit dem Gesetz verfasste Entschließung des Landtags vom 12.10.2000 - 3/44/3690B - befolgend, die notwendigen Vorbereitungen bereits vor Beginn des Schuljahrs getroffen. Die Eignung wird schließlich nicht dadurch in verfassungsrechtlich beachtlicher Weise in Frage gestellt, dass in der wissenschaftlichen Diskussion für das Gelingen bestimmte „Bedingungen" gestellt oder besondere „Anregungen" gegeben werden (Prof. Dr. Holtappels, aaO, Nr. 3.5. - S. 13 ff], Nr. 4. - S. 15 f) sowie auf notwendige Veränderungen innerhalb der Schule hingewiesen und das Prozesshafte der neuen Schulstruktur herausgehoben wird (Prof. Dr. Wenzel, schriftliche Stellungnahme, S. 2, 3; ders., Anhörung, BildgWissAProt., aaO, S. 9 f) oder eine Evaluation empfohlen worden ist (Prof. Dr. Wenzel, BildgWissAProt. v. 30.8.2000, S. 10); Gleiches gilt für die auch aus Sicht von Eltern (vgl. insoweit Prof. Dr. Griehl, schriftliche Stellungnahme v. 25.8.2000, S. 2) geäußerte Befürchtung, bei einer überstürzten Einführung des neuen Modells könne es zu Schwierigkeiten kommen. Diese Stimmen halten eine behutsamere Einführung für lediglich zweckmäßiger; sie belegen hingegen nicht die Untauglichkeit des Vorhabens. Gerade angesichts seines Schulungs- und Betreuungsprogramms für die Schulen überschreitet der Landesgesetzgeber nicht die Grenzen des ihm eingeräumten Gestaltungsspielraums. Besteht diese generelle Eignung, so kommt es nicht darauf an, ob an einzelnen Schulen rein tatsächlich gleichwohl lediglich eine „Betreuung alter Art" stattfindet; denn damit wird allenfalls ein Defizit des Gesetzesvollzugs belegt, nicht aber schon die Untauglichkeit der gesetzlichen Regelung selbst, was allein zum Erfolg der Verfassungsbeschwerden führen könnte. Obgleich wegen der bislang vergangenen kurzen Zeitspanne verlässliche, umfassende Erhebungen über den Zustand an den Schulen noch nicht vorliegen können, drängt sich jedenfalls die Annahme nicht auf, dass etwa im ganzen Land Vollzugsdefizite der beschriebenen Art bestehen. Da der Landesgesetzgeber die Grenzen seines Gestaltungsspielraums nicht überschritten hat, bedurfte es auch keines Nachweises durch einen Schulversuch. Das Parlament durfte sich auf die eigenen Erfahrungen in Sachsen-Anhalt — mit den bislang bereits auf der Grundlage des durch Art. 1 Nr. 1 Buchst, b LSAGrdSchÖffzG aufgehobenen § 4 Abs. 6 LSA-SG (a.F.) vorhandenen „Grund-

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schulen mit festen Öffnungszeiten" - sowie auf die von ihm verwerteten fachwissenschaftlichen Erkenntnisse stützen. Eine zusätzliche Versuchsphase ist auch nicht verfahrensrechtlich geboten; denn das Verfassungsrecht, das dem Landesgesetzgeber einen Gestaltungsspielraum einräumt, enthält weder für das Schulrecht speziell noch im Grundsatz eine allgemeine Regel, dass nichts endgültig ins Werk gesetzt werden dürfte, was nicht zuvor erprobt worden ist. 2.3.2.2. Weder das neue Modell noch die dadurch verursachte Verlängerung der täglichen Anwesenheitszeiten belasten Eltern und Schüler(innen) unzumutbar. 2.3.2.2.1. Mit der Festlegung auf das „integrative Modell", das den Unterricht ergänzende und unterstützende Maßnahmen vorsieht, wird nicht — am Maßstab der Verfassung: — übermäßig in die konkurrierenden Erziehungsrechte der Eltern eingegriffen. Die Gesetzesmaterialien ergeben, dass der Gesetzgeber sein Anliegen mit dem Recht der Eltern, den „Gesamterziehungsplan" zu bestimmen, abgewogen hat; die Gesetz gewordene Regelung hat deutlichen Kompromisscharakter: Weder die Interessenvertreter der Schule oder der Berufsverbände noch die Vorstellungen der eine „verlässliche Grundschule" befürwortenden Eltern haben sich in vollem Umfang durchgesetzt (vgl. zur Diskussion: Dr. Harms, KM, BildgWissAProt v. 13.9.2000, S. 29; 30, 35; Dr. Reich, GBD, aaO, S. 35; Abg. Kuntze - CDU, aaO, S. 35; ders., BildgWissAProt v. 20.9.2000, S. 31; Vogt, GBD, aaO, S. 34). Die bloß den Unterricht ergänzenden Maßnahmen beeinträchtigten den „Gesamterziehungsplan" nur unwesentlich und nicht substanziell, zumal sie das Bildungsziel für die Grundschule nicht verändern. 2.3.2.2.2. Nichts anderes gilt für den „Zeitrahmen", der sich nur geringfügig erhöht. Die Anhebung der wöchentlichen Anwesenheitspflicht um insgesamt wöchentlich sechs Zeitstunden und fünfzehn Minuten (in den ersten beiden Schuljahrgängen) bedeutet nicht schon, dass außerschulische Aktivitäten bereits völlig ausgeschlossen wären und die Eltern deshalb auf ihre eigenen Bildungsabsichten weitgehend verzichten müssten. Auch bei einer so verlangten Schuldauer — bis längstens 13.30 Uhr (§ 1 Abs. 1 LSA-GrdSchÖffzVO in Ausführung des § 4 Abs. 1 S. 6 LSA-SG — neu) - steht der Nachmittag noch anderweitigen Aktivitäten zur Verfügung, deren Beginn lediglich dem Schulbesuch angepasst werden muss. 2.3.2.2.3. Da die Neuregelung ein „integratives" Modell enthält, ist es verhältnismäßig, die Schulpflicht auf das volle Programm zu erstrecken und nicht zwischen „pflichtmäßigem Unterricht" und „freiwilliger Betreuung" zu unterscheiden. Gerade weil die neue Form der Erziehung die Ziele des § 4 Abs. 2 S. 1 LSA-SG angemessener verwirklichen soll, kann nicht verlangt werden, dass Schülerinnen) jeweils von der Schulpflicht „befreit" werden müssen, soweit sie darlegen oder nachweisen, dass sie bestimmte Einzelergebnisse außerhalb der Schule besser erreichen können. Das widerspricht dem schon bislang geltenden GrundLVerfGE 13

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satz des § 4 Abs. 2 LSA-SG, wonach die Lernerfolge in einer gerade gemeinsamen Ausbildung erzielt werden. Dies ist Grundlage nicht nur für reine Unterrichtsangebote wie die Vermittlung des notwendigen Grundlagenwissens, sondern für die Grundschulerziehung insgesamt. Es entspricht dem überkommenen Verständnis von einer Grundschule (vgl. zur historischen Entwicklung besonders: BVerfG, Beschl. v. 16.12.1992 - 1 BvR 167/87 BVerfGE 88, 40, 47 ff, bes. 49 f), dass sie auf die Gemeinschaftserfahrung unterschiedlicher Persönlichkeiten, unabhängig von deren bisherigen Prägungen und unabhängig von ihrem familiären Umfeld angelegt ist und dadurch vor allem die Toleranz (zu diesem staatlichen Erziehungsanspruch bes.: BVerfGE 41, 29, 51 f; 41, 65, 78; 41, 88,108; 47, 46, 77; 52, 223, 232, 247; BVerwGE 79, 298, 300, 307) untereinander fördern soll. 2.3.2.2.4. Anhaltspunkte für eine Überforderung der Schüler(innen) sind nicht ersichtlich; die zeitlich erweiterte Schulzeit soll gerade inhaltlich so gestaltet werden können, dass Anspannungsphasen erträglicher werden, weil die Schulzeit „rhythmisiert" wird. Für die jüngeren Schüler(innen) gilt im Ergebnis nichts Abweichendes, weil das Gesetz für sie Ausnahmen vom starren Fünfeinhalb-Stunden-Zeitrahmen zulässt (§ 4 Abs. 1 S. 4, 6 LSA-SG — neu); von dieser Ermächtigung ist Gebrauch gemacht worden. Nach der Verordnung können die Eltern bei der Schulleitung eine Verkürzung bis zu zweieinhalb Zeitstunden wöchentlich erreichen (§ 2 Abs. 1 LSA-GrdSchÖffzVO). 2.3.2.3. Wegen der Einheitlichkeit des gewählten „integraüven Modells" ist die Schulpflicht auch insgesamt erforderlich iSd Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes; die „Freiwilligkeit" ist kein milderes Mittel. Da der Gesetzgeber jedenfalls für die ersten Grundschuljahre die Schulpflicht festlegen kann, soweit er die Inhalte bestimmen darf, ist es von dem verfolgten Bildungsziel und den zu seiner Erreichung eingesetzten Mitteln abhängig, ob diese auch erreicht werden, wenn ganz oder zum Teil auf die Schulpflicht verzichtet wird. Diese Prognose trifft der Gesetzgeber. Hält er - wie bei der Einführung der Grundschule mit festen Öffnungszeiten — die Anwesenheit aller Schüler(innen) für notwendig, dann kommt eine „Freiwilligkeit" für dann nicht mehr abspaltbare „Betreuungs-"Teile des Schulprogramms überhaupt nicht in Betracht und scheidet deshalb notwendig auch als „milderes Mittel" aus, weil der verfolgte Zweck mit „diesem Mittel" gerade nicht erreicht würde. 2.4. Der Landesgesetzgeber hat sich schließlich nicht von erkennbar sachfremden Erwägungen leiten lassen, die ihm die Verfassung durch das dem allgemeinen Gleichheitssatz (vgl. hierzu: BVerfGE 26, 228, 246; 41, 88, 111; 53, 185, 197, soweit Grundrechtsträger betroffen sind; vgl. dazu auch: LVerfGE 2, 227, 259) zuzuordnende Willkürverbot untersagt.

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Es ist nicht belegbar, dass die Einführung des neuen Grundschulmodells allein oder doch überwiegend von der Absicht getragen gewesen ist, die Hortnerinnen) weiter 2u beschäftigen. Der Wordaut des Änderungsgesetzes (vgl. insbes. Art. 2 LSA-GrdSchÖffzG) zeigt lediglich einen Zusammenhang zwischen der Einführung der neuen Schule mit festen Öffnungszeiten und der Regelung über den künftigen Status der ehemaligen Hortner(innen) auf. Die Protokolle des Feder führenden Ausschusses lassen aber das pädagogische Motiv die Einführung des Schule mit festen Öffnungszeiten im Vordergrund erscheinen; das ergibt sich nicht zuletzt durch die Anhörungen und die Aufnahme der gesetzgeberischen Absicht durch die Sachverständigen. Die Beratungen dieses Ausschusses, der übrigen beteiligten Ausschüsse und auch die parlamentarische Debatte liefern keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Nebenzweck, auch die Arbeitsverhältnisse der früheren Hortner(innen) zu regeln, in den Vordergrund gerückt und Hauptzweck des Änderungsgesetzes geworden wäre. Das Gegenteil kann auch der Bemerkung des Kultusministers anlässlich der Ersten Beratung des Gesetzes nicht zwingend entnommen werden, der bei seiner Einbringungsrede mit Befriedigung festgestellt hatte, eine Lösung des Hortner (innen)-Problems vorlegen zu können (Dr. Harms, KM, LT-StenBer 3/41 v. 23.6.2000, S. 2873 r. Sp.); denn seine Arbeit im Feder führenden Ausschuss lässt deutlich das pädagogische Anliegen als tragendes Motiv erkennen. (Die Begründung im Abschnitt 2 ist mit sechs Stimmen gegen eine Stimme ergangen.) 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 32 Abs. 1 bis 3 LVerfGG-LSA. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei (Absatz 1). Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet, weil die Beschwerdeführer mit ihrer Verfassungsbeschwerde unterliegt (Absatz 2); es besteht kein besonderer Grund, ausnahmsweise die Erstattung ihrer Kosten anzuordnen (Absatz 3).

Sondervotum der Richteriii Dr. Faßhauer Ich halte die einstimmig für zulässig erachteten Verfassungsbeschwerden im Gegensatz zur Mehrheit des Gerichts für begründet. Das Schulgesetz verstößt in der Fassung des Änderungsgesetzes gegen das Rechtsstaatsprinzip (Art. 2 Abs. 1; 20 Abs. 2 LVerf-LSA), da es keine hinreichende gesetzliche Grundlage bildet, wie es der Vorbehalt des Gesetzes erfordert. Nach Art. 11 Abs. 1 LVerf-LSA sind die Pflege und Erziehung der Kinder unter Achtung ihrer Persönlichkeit und ihrer wachsenden Einsichtsfahigkeit das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. LVerfGE 13

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Auf der Basis der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seit dem Urteil v. 6.12.1972 (- 1 BvR 230/70 und 95/71 BVerfGE 34, 165 ff; Urt. v. 9.2.1982 - 1 BvR 845/79 BVerfGE 59, 360, 379) teüe ich die Auffassung der Mehrheit des Gerichts, dass die gemeinsame Erziehungsaufgabe von Eltern und Schule, welche die Bildung der einen Persönlichkeit des Kindes zum Ziel hat, ein sinnvolles Zusammenwirken der beiden Erziehungsträger verlangt. Das Bundesverfassungsgericht löst den Konflikt zwischen Elternrecht und dem staatlichen Schulauftrag seitdem mit einem Kooperationsmodell. Gegenüber der Vorstellung einer grundsätzlich unbeschränkten staatlichen Schulhoheit, wie sie die Weimarer Reichsverfassung beherrschte, hat das Grundgesetz innerhalb des Gesamtbereichs „Erziehung" das individualrechtliche Moment verstärkt und den Eltern, auch soweit sich die Erziehung in der Schule vollzieht, größeren Einfluss eingeräumt, der sich im Elternrecht zu einer grundrechtlich gesicherten Position verdichtet hat (BVerfG, Urt. v. 6.12.1972, aaO, 183). Die Grundschule mit festen Öffnungszeiten verändert den Grundschulunterricht, erlaubt pädagogischen Mitarbeiter (innen), Betreuungsarbeit zu leisten, und verlängert den festen Zeitrahmen. Sie eröffnet damit einen Grenzbereich zwischen schulischer und außerschulischer Erziehung, in dem dem Elternrecht eine gewichtige Funktion zukommt und die funktionelle Separation der beiden Verfassungsinstitute durch eine unfreiwillige Schulpflichtverlängerung in einen virulenten Konflikt tritt. Das Änderungsgesetz bildet, soweit es die Betreuungszeiten in die Schulpflicht einbezieht, keine hinreichende gesetzliche Grundlage. Dem Vorbehalt des Gesetzes unterliegt, was für die Ausübung der Grundrechte in dem unvermeidlichen Spannungsverhältnis „wesentlich" ist (BVerfG, Beschl. v. 27.1.1976 - 1 BvR 2325/73 - , BVerfGE 41, 251, 260). Der Gesetzesvorbehalt verlangt, dass staatliches Handeln in bestimmten grundlegenden Bereichen durch förmliches Gesetz legitimiert wird. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen, und darf sie nicht anderen Normgebern überlassen. Wann es danach einer Regelung durch den parlamentarischen Gesetzgeber bedarf, lässt sich nur im Blick auf den jeweiligen Sachbereich und auf die Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstandes beurteilen. Die verfassungsrechtlichen Wertungskriterien sind dabei den tragenden Prinzipien des Grundgesetzes, insbesondere den darin verbürgten Grundrechten, zu entnehmen. Danach bedeutet wesentlich im grundrechtsrelevanten Bereich in der Regel „wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte" zu berücksichtigen ist, dass die in Art. 20 Abs. 2 GG als Grundsatz normierte organisatorische und funktionelle Unterscheidung und Trennung der Gewalten auch darauf zielt, dass staatliche Entscheidungen möglichst richtig, das heißt von den Organen getroffen werden, die dafür nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise über die besten Voraussetzungen verfügen. Der Vorbehalt des Gesetzes ist - mit diesen Maßgaben - auch auf dem Gebiet des Schulwesens LVerfGE 13

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zu beachten. Ob und inwieweit diese Regelungen des parlamentarischen Gesetzgebers erfordert, richtet sich allgemein nach der Intensität, mit der die Grundrechte des Regelungsadressaten durch die jeweilige Maßnahme betroffen sind. Speziell in Bezug auf Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG ist von Bedeutung, ob die Grenzen im Spannungsfeld zwischen dem in Art. 7 Abs. 1 GG vorausgesetzten Bildungs- und Erziehungsauftrag des Staates und dem elterlichen Erziehungsrecht in substanzieller Hinsicht zu Lasten des Elternrechts verschoben werden (BVerfG, Urt. v. 14.7.1998 - 1 BvR 1640/97 - BVerfGE 98, 219, 251). Die neue, beabsichtigte Grundschulkonzeption (das sog. integrative Modell) stellt eine strukturelle Veränderung des Grundschulsystems sowie des didaktischen Lernprogramms dar, wobei auch noch Wissensvermittlungs- mit reinen Betreuungsphasen zeitlich vermischt werden. Auch das Bundesverfassungsgericht hat die Gesetzesänderung im einstweiligen Anordnungsverfahren (1 BvQ 32/01) als „die Grundschule qualitative Verbesserung" und als „neues Konzept des Grundschulunterrichts" bezeichnet. Gerade in dem skizzierten Spannungsverhältnis zwischen Elternrecht und staatlichem Bildungsauftrag bedarf eine solche Veränderung der Grundschulbildung einer ausreichenden gesetzlichen Regelung. Ich teile die Auffassung der Mehrheit des Gerichts, dass die Lernziele für die Grundschule (§ 4 Abs. 2 LSA-SG) in Sachsen-Anhalt unverändert auch für die Grundschule mit festen Öffnungszeiten gelten. Der Wortlaut des neu gefassten § 4 Abs. 1 S. 2 LSA-SG, „der Unterricht wird durch die Tätigkeit von pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ergänzt und unterstützt", bietet für eine strukturelle Veränderung der Grundschulausbildung und des didaktischen Lehrprogramms aber keinen Anhaltspunkt. § 4 Abs. 1 S. 2 SG-LSA schafft hinsichtlich der Struktur der Grundschulbildung und der didaktischen Lernprogramme keinerlei Veränderung der Rechtslage gegenüber der alten Fassung des Schulgesetzes. Er erweitert lediglich den zeitlichen Rahmen des Unterrichts und erlaubt personell, dass pädagogische Mitarbeiterinnen) den Unterricht der Lehrkräfte ergänzen und unterstützen. Das neue Grundschulkonzept verändert hingegen sachlich die Lehrtätigkeit gerade der Lehrkräfte, ohne dass der Gesetzeswortlaut dafür den geringsten Anknüpfungspunkt bietet. Auch der neugefasste § 4 Abs. 1 S. 5 LSASG ermächtigt die oberste Schulbehörde nur, das Verfahren und den Zeitrahmen der Öffnungszeiten durch Verordnung zu regeln. Allenfalls aus den Gesetzesmaterialien hingegen ergibt sich der neue pädagogische Ansatz (LT-Drs. 3/3254, S. 5; LT-StenBer. 3/41, S. 2873 1. Sp., 2874 r. Sp.; LT-StenBer. 3/44, S. 3165 r. Sp.; 3169 1. Sp.). Gerade in dem sensiblen Spannungsbereich der funktionellen Separation zwischen Elternrecht und dem staatlichen Erziehungsanspruch fehlt es somit für eine sachliche Neukonzeption des Grundschulunterrichts an einer gesetzlichen Regelung. Zumindest verstößt die Neufassung gegen das rechtsstaatliche Gebot der Normenklarheit. Die Festlegung auf ein Bildungskonzept durch den Gesetzgeber ist deshalb im Gesetzgebungsverfahren auch vom Sachverständigen Prof. LVerfGE 13

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Dr. Wenzel und der Lehrergewerkschaft angemahnt worden. Ein Mindestmaß an gesetzlicher Regelung würde das neue Grundschulkonzept im Übrigen auch für alle Beteiligten transparenter und für die grundrechtsbetroffenen Eltern und Schulkinder berechenbarer und verlässlicher machen. Das Schulgesetz in der Fassung des Änderungsgesetzes verstößt auch gegen den aus dem Rechtsstaatsprinzip hergeleiteten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Das Gebot der Angemessenheit bzw. der Verhältnismäßigkeit, das auch für den Gesetzgeber als Übermaßverbot gilt (BVerfG, Beschl. v. 20.6.1984 - 1 BvR 1494/98 - BVerfGE 67, 157, 178; Beschl. v. 9.3.1994 - 2 BvR 43/51, 63, 64, 70, 80/92 - BVerfG 90, 145, 173), verlangt, dass der gesetzgeberische Eingriff „in einem angemessenen Verhältnis zu dem Gewicht und der Bedeutung des betroffenen Grundrechts steht (BVerfG, Beschl. v. 20.6.1984, aaO, 173). Der Eingriff darf seiner Intensität nach nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und den vom Bürger hinzunehmenden Einbußen stehen (BVerfG, Urt. v. 15.12.1983 - 1 BvR 209, 269, 362, 420, 440, 484/83 - BVerfGE 65, 1, 54). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass die gesetzliche Regelung geeignet und erforderlich erscheint, um den gesetzgeberischen Zweck zu erreichen. Ferner darf sie nicht gegen das Übermaßverbot verstoßen. Ich teile nicht die Auffassung der Mehrheit des Gerichts, dass die vom Gesetzgeber getroffene Regelung der Grundschule mit festen Öffnungszeiten, so wie sie ausgestaltet ist, erforderlich ist, um die damit verfolgten gesetzgeberischen Ziele zu erreichen. Das eine oder andere Grundschulkind bedarf einer weitergehenden schulischen Betreuung deshalb nicht, weil ein Elternteil, das bewusst auf eine berufliche Tätigkeit verzichtet hat, um sich ganz der Betreuung seiner Kinder zu widmen und dazu möglicherweise auch noch eine spezielle pädagogische Ausbildung durchlaufen hat, diese Betreuung außerhalb der Schule mindestens genauso gut leistet, wie die Schule selbst. Das Fehlen einer unbedeutenden Minderheit von Kindern in der staatlichen Betreuungszeit würde die Situation für die Betreuung anderer, bedürftigerer Schulkinder nicht verschlechtern, sondern sogar verbessern. Es muss darauf hingewiesen werden, dass in zahlreichen Bundesländern ähnliche Schulmodelle ausschließlich auf freiwilliger Basis, aber mit Kostenbeteiligung der Eltern, umgesetzt worden sind. Die Träger solcher Modelle mussten in der Regel aber Konzepte vorlegen, um in Einzelfallprüfungen ihre Anerkennung zu erlangen. Mit der freiwilligen Betreuung hätte der Gesetzgeber ein anderes, gleich wirksames, das Elterngrundrecht aber weniger fühlbar einschränkendes Mittel als den obligatorischen, ausnahmslosen Zwang, für die Verwirklichung seiner gesetzgeberischen Ziele wählen können. Auch der Nebenzweck des Gesetzes, die Arbeitsverhältnisse der früheren Hortner(innen) sinnvoll zu regeln, wäre bei einer freiwilligen Teilnahme an der Betreuung nicht gefährdet. Nur eine kleine Gruppe von Eltern ist willens und in

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der Lage, ihre Kinder genauso gut zu betreuen wie eine staatliche Schuleinrichtung. Diese zahlenmäßig kleine Gruppe würde die Tätigkeit der pädagogischen Mitarbeiter(innen) nicht gefährden, sondern ihre schwierige Aufgabe eher erleichtern. Soweit die Mehrheit des Gerichts dem entgegen darauf abstellt, § 4 Abs. 2 LSA-SG verlange, dass die Lernerfolge in einer gemeinsamen Ausbildung erzielt würden, dies entspräche auch dem überkommenen Verständnis von einer Grundschule als Gemeinschaftserfahrung unterschiedlicher Persönlichkeiten von unterschiedlicher Herkunft, vermag dies meines Erachtens die Erforderlichkeit der vom Gesetzgeber speziell gewählten Regelung nicht zwingend zu belegen. Das Ziel, Kinder, die nach Auffassung des Gesetzgebers offenbar zu Hause nicht mehr hinreichend erzogen werden können, im staatlichen Bereich gemeinsam mit anderen weniger bedürftigen Kindern zu betreuen, verlangt möglicherweise, alle Grundschulkinder verlängert in der Schule zu halten, verlangt aber nicht zwingend, eine befähigte und engagierte Elternschaft von der Grundschule fernzuhalten. Eine Grundschule mit festen, verbindlichen Öffnungszeiten auch während reiner Betreuungsphasen im grundrechtsrelevanten Spannungsbereich, die nicht gleichzeitig elterliche Mitwirkungsrechte eröffnet, wenigstens an der Betreuung interessiert teilzunehmen und daran praktisch-tätig mitzuwirken, ist für das gesetzgeberische Ziel nicht erforderlich und verstößt gegen das Übermaßverbot. Eine für alle Grundschulkinder verpflichtende Ausdehnung der Schulzeit über die Wissensvermittlung in die Betreuung hinein gebietet wegen des im Betreuungsbereich verstärkten Elternrechts neben klaren gesetzlichen Vorgaben die Schaffung elterlicher Mitwirkungsrechte. Erweiterte elterliche Mitwirkungsrechte würden auch dem sinnvollen Zusammenwirken beider Erziehungsträger nach dem Kooperationsmodell des Bundesverfassungsgerichts entsprechen.

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Entscheidungen des Thüringer Verfassungsgerichtshofs

Die amtierenden Richterinnen und Richter des Thüringer Verfassungsgerichtshofs Dr. h.c. Hans-Joachim Bauer, Präsident Prof. Dr. Walter Bayer Gunter Becker Christian Ebeling Harald Graef Prof. Dr. Johanna Hübscher Dr. Dieter Lingenberg Dr. Iris Martin-Gehl Thomas Morneweg Stellvertretende Richterinnen und Richter Dr. Hartmut Schwan Peter Germann Elmar Schuler Prof. Dr. Udo Ebert Dr. Wolfgang Habel Peter Goetze Reinhard Lothholz Günter Gabriel Dr. Renate Hemsteg von Fintel

Unterbringung eines Jugendlichen im Erwachsenenmaßregelvollzug

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Nr. 1 1. Die Verfassungsbeschwerde ist ausreichend begründet, wenn der Beschwerdeführer erkennbar macht, in welchem seiner Verfahrensgrundrechte er sich verletzt sieht. Es ist nicht erforderlich, diese Gewährleistungen bzw. die sie ergebenden Verfassungsnormen ausdrücklich zu benennen. 2. Die Verfassungsbeschwerde ist vor Erschöpfung des Rechtswegs zulässig, wenn die konkrete Ausgestaltung des im Einzelfall in Frage kommenden Instanzenzugs - hier gegen das Unterlassen einer beantragten vollstreckungsleitenden Anordnung des Jugendrichters nach § 82 Abs. 1 Satz 1 JGG im Maßregelvollzug — anhand der fachgerichtlichen Literatur und Rechtsprechung nicht zweifelsfrei zu klären ist. 3. Der Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 88 Abs. 1 ThürVerf ist verletzt, wenn der als Vollstreckungsleiter zuständige Jugendrichter das Begehren des jugendlichen Beschwerdeführer unbeachtet lässt, im Rahmen eines Maßregelvollzugs nicht auf der geschlossenen Erwachsenenstation eines psychiatrischen Krankenhauses, sondern in einer geeigneten jugendpsychiatrischen Anstalt untergebracht zu werden. Verfassung des Freistaats Thüringen Art. 42 Abs. 5 Satz 1 und 88 Abs. 1 Satz 1 Gesetz über den Thüringer Verfassungsgerichtshof §§ 32; 33 Abs. 3 Beschluß vom 23. Oktober 2002 - VerfGH 11/02 in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren des Herrn K. L. Entscheidungsformel: 1. Der Beschwerdeführer ist in seinen Grundrechten aus Art. 42 Abs. 5 Satz 1 und 88 Abs. 1 Satz 1 ThürVerf dadurch verletzt, daß das Amtsgericht Mühlhausen — Jugendrichter als Vollstreckungsleiter — es unterlassen hat, über den Antrag des Beschwerdeführers zu entscheiden, seine Verlegung in eine zum weiteren Vollzug der gegen ihn verhängten Maßregel geeignete jugendpsychiatrische Einrichtung anzuordnen. Insoweit wird die Sache an das Amtsgericht Mühlhausen zur ergänzenden Entscheidung zurückverwiesen. LVerfGE 13

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2. Der Freistaat Thüringen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten. Gründe: A. Der 18 Jahre alte Beschwerdeführer wendet sich gegen die Art seiner Unterbringung auf der Erwachsenenstation eines psychiatrischen Krankenhauses im Rahmen des Maßregelvollzugs. I. Am 15.9.2000 ordnete der Ermittlungsrichter beim AG Chemnitz gem. § 126a StPO die einstweilige Unterbringung des damals 16 Jahre alten Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Aufgrund der Anordnung wurde der Beschwerdeführer auf der geschlossenen kinder- und jugendpsychiatrischen Station des Sächsischen Krankenhauses für Psychiatrie und Neurologie Rodewisch aufgenommen. Im November 2000 wurde er auf die geschlossene Erwachsenenstation des Landesfachkrankenhauses Hildburghausen verlegt. Mit Urteil vom 30.5.2001, rechtskräftig seit 7.6.2001, ordnete das AG Suhl — Jugendschöffengericht — an, den Beschwerdeführer gem. § 63 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus „auf der Kinder- und Jugendpsychiatrie" unterzubringen (510 Js 10095/00 1 Ls jug.). Grundlage dieser Entscheidung waren unter anderem Gutachten des Chefarztes der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Landesfachkrankenhauses Hildburghausen vom Januar und August 2000 und vom März 2001 zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit und zur Schuldfähigkeit des Beschwerdeführers. Dabei war in dem Gutachten vom August 2000 ausgeführt, daß der Beschwerdeführer bei langfristiger Unterbringung in einem geschlossenen Heim wegen der Art seiner seelischen Störung kinder- und jugendpsychiatrisch betreut werden müsse. Am 18.6.2001 ordnete der Jugendrichter beim AG Suhl die sofortige Vollstreckung des Urteils an und verfügte, die Akten dem Rechtspfleger zur Einleitung der Vollstreckung vorzulegen. Am 22.6.2001 teilte das Landesfachkrankenhaus Hildburghausen dem AG Suhl mit, daß es über keine geschlossene Abteilung für Jugendliche verfüge. Der Beschwerdeführer werde daher auf der geschlossenen Abteilung für Erwachsene behandelt. Gleichwohl ersuchte der Rechtspfleger beim AG Suhl am 26.6.2001 das Landesfachkrankenhaus Hildburghausen um Aufnahme des Beschwerdeführers zum Vollzug der angeordneten Maßregel. Nach Ubersendung der Akten an die als Vollstreckungsleiterin zuständige Jugendrichterin beim AG Hildburghausen teilte das Landesfachkrankenhaus Hildburghausen mit Schreiben vom 20.7.2001 mit, daß der Beschwerdeführer am 23.7.2001 in den Maßregelvollzug des Landesfachkrankenhauses Mühlhausen verlegt werde. LVerfGE 13

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Im gesamten Freistaat Thüringen gebe es nämlich keine forensische Abteilung einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik. Eine solche Einrichtung existiere, soweit bekannt, nur im sächsischen Krankenhaus Rodewisch. Dort bestünde aber nach telefonischer Auskunft des Chefarztes derzeit keine Aufnahmemöglichkeit. Daraufhin leitete die Jugendrichterin beim AG Hildburghausen die Akten an den Jugendrichter beim AG Suhl zurück. Dieser leitete die Akten an die nunmehr als Vollstreckungsleiterin zuständige Jugendrichterin beim AG Mühlhausen weiter. II. Im Rahmen der binnen Jahresfrist von Amts wegen vorzunehmenden Prüfung der weiteren Vollstreckung der Maßregel nach § 67e StGB hat der Verfahrensbevollmächtigte des Beschwerdeführers mit Schriftsatz vom 19.4.2002 bei der Jugendrichterin des AG Mühlhausen beantragt, insbesondere die Art der Unterbringung des Beschwerdeführers zu überprüfen. Dieser sei entgegen der ausdrücklichen Anordnung im Urteil vom 30.5.2001 nicht in der Kinder- und Jugend-, sondern in der Erwachsenenpsychiatrie untergebracht. Wegen seines Alters wünsche der Beschwerdeführer aber eine jugendpsychiatrische Behandlung und gegebenenfalls eine begleitende Ausbildung. Mit Beschluß vom 6.6.2002 hat das AG Mühlhausen - Jugendrichterin als Vollstreckungsleiterin - nach Anhörung die weitere Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers angeordnet (VRJs 85/01), ohne dabei auf die Art der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Erwachsenenpsychiatrie einzugehen. Im übrigen hat die Vollstreckungsleiterin zur Art der Unterbringung des Beschwerdeführers nur ausgeführt, daß dieser aufgrund seiner Aggressivität und Gefährlichkeit nach Ansicht des Sachverständigen derzeit nicht auf die Ostseite des Hochsicherheitstraktes verlegt werden könne. Gegen diesen Beschluß hat der Beschwerdeführer mit Schriftsatz seines Verfahrensbevollmächtigten vom 20.6.2002 ohne Begründung sofortige Beschwerde erhoben. Mit Beschluß vom 27.6.2002 hat die „3. große Strafkammer" des LG Mühlhausen die sofortige Beschwerde aus den Gründen des angefochtenen Beschlusses verworfen (3 Qs 190/02), da die Prüfung der Sach- und Rechtslage aufgrund der nicht weiter ausgeführten Beschwerde derzeit keine Umstände ergebe, die eine andere Entscheidung rechtfertigten. Die Beschwerdeentscheidung ist am 11.7.2002 formlos an den Verfahrensbevollmächtigten des Beschwerdeführers versandt worden. III. Mit der am 2.8.2002 eingegangenen Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer mit der Rüge der Verletzung der Art. 3 Abs. 2, 4 Abs. 1 und 6 Abs. 1 ThürVerf gegen die Beschlüsse des AG und des LG Mühlhausen. 1. Der Beschwerdeführer führt aus, die angegriffenen Beschlüsse verletzten sein Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. Es sei seiner PersönlichLVerfGE 13

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keitsentwicklung abträglich und widerspreche dem Urteil des AG Suhl, daß er ausschließlich mit Erwachsenen untergebracht sei, die sich teilweise wegen Kapitaldelikten im Maßregelvollzug befänden. Zudem sei die Station mit 11 bis 12 Erwachsenen bei 5 Plätzen erheblich überbelegt. Aufgrund der Überbelegung leide er an Eßstörungen und habe bereits etwa 25 kg abgenommen. Einem Jugendlichen oder Heranwachsenden müsse auch unter den besonderen Bedingungen des Maßregelvollzugs ermöglicht werden, seine Persönlichkeit zu entwickeln, sachgerecht behandelt zu werden und Kontakt zu Gleichaltrigen zu pflegen. Die angegriffenen Entscheidungen setzten sich in keiner Weise mit der Art seiner Unterbringung in der Erwachsenenpsychiatrie auseinander. Auf seine Grundrechte sei ersichtlich keine Rücksicht genommen worden. 2. Die Thüringer Landesregierung hatte Gelegenheit zur Stellungnahme. B. Die Verfassungsbeschwerde ist erfolgreich. I. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. 1. Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde nach § 31 Abs. 1 ThürVerfGHG steht nicht entgegen, daß sich der Beschwerdeführer im Kern gegen das Unterlassen einer richterlichen Entscheidung wendet. a) Aus der Begründung der Verfassungsbeschwerde ergibt sich, daß der Beschwerdeführer nicht das „Ob", sondern ausschließlich das „Wie" seiner Unterbringung angreift. Denn der Beschwerdeführer beanstandet die Entscheidung der Vollstreckungsleiterin nach § 67e StGB, die angeordnete Maßregel weiter zu vollstrecken, als solche nicht. Er behauptet auch nicht, daß die Beschwerdeentscheidung des LG deshalb fehlerhaft sei, weil sie die Entscheidung des AG zur Fortdauer der Unterbringung bestätigt. Der Beschwerdeführer rügt vielmehr, daß die Vollstreckungsleiterin und die Beschwerdekammer es verabsäumt haben, im Rahmen des Prüfungsverfahrens nach § 67e StGB auch darüber zu befinden, wie die weitere Vollstreckung der Maßregel stattfinden solle, insbesondere ob die Maßregel wie bisher im Erwachsenenvollzug zu vollstrecken sei. Tatsächlich ist das im Prüfüngsverfahren vorgebrachte Anliegen des Beschwerdeführers, ihn statt im Erwachsenmaßregelvollzug in einer jugendpsychiatrischen Einrichtung unterzubringen, in den angegriffenen Beschlüssen des AG und des LG Mühlhausen nicht — auch nicht abschlägig — beschieden, sondern überhaupt nicht erwähnt worden. b) Das Unterlassen einer richterlichen Entscheidung ist als Akt öffentlicher Gewalt iSd § 31 Abs. 1 ThürVerfGHG mit der Verfassungsbeschwerde anfechtLVerfGE 13

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bar. Die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung durch Unterlassen ist für die Exekutive und die Legislative anerkannt (vgl. BVerfGE 2, 287, 290; 6, 257, 263). Für die Rechtsprechung gilt nichts anderes (vgl. BVerfGE 10, 302, 306). Der Thüringer Verfassungsgerichtshof schließt sich dieser Rechtsprechung an. 2. Die Begründung der Verfassungsbeschwerde genügt den Anforderungen des § 32 ThürVerfGHG. a) Danach ist in der Begründung der Verfassungsbeschwerde das Recht, das verletzt sein soll und die Handlung oder Unterlassung des Organs oder der Behörde, durch die der Beschwerdeführer sich verletzt fühlt, zu bezeichnen. Dabei muß der Beschwerdeführer insgesamt einen Lebenssachverhalt nachvollziehbar darstellen, bei dessen Zugrundelegung die Verletzung des als verletzt gerügten Grundrechts, grundrechtsgleichen oder staatsbürgerlichen Rechts möglich erscheint (vgl. ThürVerfGH, Beschl. v. 12.10.2001, VerfGH 10/01; Beschl. v. 20.12.2001, VerfGH 22-25/00; Beschl. v. 15.1.2002, VerfGH 4/00). Zur Substantiierung der Verfassungsbeschwerde ist nicht erforderlich, daß der Beschwerdeführer das möglicherweise betroffene Recht ausdrücklich, etwa durch Angabe des jeweiligen Artikels der Thüringer Verfassung, bezeichnet. Es reicht aus, wenn der Beschwerdeführer den angefochtenen Akt öffentlicher Gewalt ersichtlich nur am Maßstab der Thüringer Verfassung überprüft wissen will und aufgrund seiner Ausführungen erkennbar ist, welches in der Landesverfassung verankerte Recht konkret verletzt sein kann (vgl. ThürVerfGH, Beschl. v. 15.3.2001, VerfGH 1/00; Beschl. v. 3.5.2001, VerfGH 6/98; Beschl. v. 21.8.2001, VerfGH 5/01). Weisen die vom Beschwerdeführer erhobenen Rügen ihrem Inhalt nach auf die Verletzung einer bestimmten Verfassungsvorschrift hin, kann der Thüringer Verfassungsgerichtshof diese Norm auch dann als Prüfungsmaßstab heranziehen, wenn der Beschwerdeführer sie nicht ausdrücklich als verletzt benennt oder die Verletzung einer anderen Verfassungsbestimmung geltend macht (vgl. ThürVerfGH, Beschl. v. 15.3.2001, VerfGH 1/00). b) Indem der Beschwerdeführer einerseits ausführt, sein in der Thüringer Verfassung verankertes Persönlichkeitsrecht gebiete die Vollstreckung der gegen ihn verhängten Maßregel in einer jugendpsychiatrischen Einrichtung und andererseits rügt, daß über seinen Antrag, ihn in eine solche Einrichtung zu verlegen, im Ausgangsverfahren nicht entschieden worden ist, verweist er nicht nur darauf, daß die Fachgerichte einem sein Persönlichkeitsrecht verletzenden Zustand nicht abgeholfen hätten. Er legt darüber hinaus — ohne diese Gewährleistungen ausdrücklich zu benennen — auch die mögliche Missachtung seiner Verfahrensgrundrechte auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 42 Abs. 5 S. 1 ThürVerf und auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 88 Abs. 1 S. 1 ThürVerf plausibel dar. Die verfassungsgerichtliche Prüfung erstreckt sich daher auch auf das seinem Inhalt nach in diesem Sinne zu verstehende Vorbringen des Beschwerdeführers.

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3. Die Verfassungsbeschwerde ist nicht mangels vorheriger Erschöpfung des fachgerichtlichen Rechtsweges nach § 31 Abs. 1 S. 1 und 2 ThürVerfGHG unzulässig. a) Indem der seit Juli 2001 im Landesfachkrankenhaus Hildburghausen untergebrachte Beschwerdeführer mit Schriftsatz seines Verfahrensbevollmächtigen vom 19.4.2002 bei der Jugendrichterin des AG Mühlhausen sinngemäß beantragt hat, seine Verlegung in eine jugendpsychiatrische Einrichtung anzuordnen, hat er sich an die für diese Entscheidung zuständige Richterin gewandt. Zwar ist im Rahmen des Verfahrens nach § 67e StGB nur über das „Ob" und nicht über das „Wie" der weiteren Vollstreckung der Maßregel zu befinden. Denn die Prüfung nach § 67e StGB bezieht sich allein darauf, ob die weitere Vollstreckung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zur Bewährung auszusetzen ist. Daraus folgt jedoch nicht, daß der Beschwerdeführer sein Anliegen an anderer Stelle - etwa bei dem Jugendschöffengericht Suhl als erkennendem Gericht oder dem Leiter des Landesfachkrankenhauses Mühlhausen — hätte vorbringen müssen. Die Vollstreckung einer vom Jugendschöffengericht rechtskräftig angeordneten Unterbringung eines Jugendlichen oder Heranwachsenden in einem psychiatrischen Krankenhaus ist Sache des Jugendrichters. Dieser ist gem. § 82 Abs. 1 JGG in seiner Funktion als Vollstreckungsleiter für die Durchführung aller angeordneten jugendstrafrechtlichen Folgen einschließlich der Maßregeln der Besserung und Sicherung sachlich zuständig (vgl. Ostendorf Jugendgerichtsgesetz, 5. Aufl. 2000, § 82 Rn. 2). Dabei ,nimmt er nach § 82 Abs. 1 S. 2 JGG die Aufgaben der Strafvollstreckungskammer wahr, indem er die in § 83 Abs. 1 JGG bezeichneten richterlichen Entscheidungen trifft, darunter die über die weitere Vollstreckung der Unterbringung nach §§ 67e StGB iVm 463 Abs. 1, 454, 462a Abs. 1 S. 1 StPO (vgl. BGHSt 26, 162, 163 f). Zugleich ist er nach § 82 Abs. 1 S. 1 JGG auch Strafvollstreckungsbehörde und wählt als solche die Anstalt aus, in der die Unterbringung nach § 63 StGB vollzogen werden soll (vgl. Schönke/Schröder/Stree Strafgesetzbuch, 26. Aufl. 2001, § 63 Rn. 26 mwN). Daraus folgt, daß der nach §§ 84 Abs. 1, 85 Abs. 1 S. 1 und Abs. 4 JGG örtlich zuständige Vollstreckungsleiter jedenfalls auf den Antrag des Beschwerdeführers hätte prüfen müssen, ob dieser unter den bisherigen Bedingungen untergebracht bleiben soll. b) Es kann dahinstehen, ob der Beschwerdeführer den gegen das Unterlassen der beantragten vollstreckungsleitenden Entscheidung durch die Jugendrichterin eröffneten Rechtsbehelf ergriffen hat, indem er gegen den Beschluß vom 6.6.2002 - ohne sie zu begründen - die sofortige Beschwerde erhoben hat. Nach § 83 Abs. 3 S. 1 JGG ist die sofortige Beschwerde zur Jugendkammer gegeben, wenn der Jugendrichter als Vollstreckungsleiter anstelle der Strafvollstreckungskammer eine richterliche Entscheidung iSd §§ 82 Abs. 1 S. 2, 83 Abs. 1 JGG getroffen hat. Im Bereich des Maßregelvollzugs kann daher die Entscheidung nach § 67e StGB als solche mit der sofortigen Beschwerde angefochten werden. Dagegen sollen die LVerfGE 13

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Maßnahmen des Jugendrichters als Strafvollstreckungsbehörde iSd § 82 Abs. 1 S. 1 JGG grundsätzlich als Justizverwaltungsakte anfechtbar sein (vgl. OLG Karlsruhe, NStZ 1993, 104). Dabei wird in der fachgerichtlichen Literatur und Rechtsprechung teilweise - jedenfalls für den Maßregelvollzug - der Rechtsweg nach §§ 138 Abs. 2, 109, 110 StVollzG und teilweise - jedenfalls für den Vollzug der Jugendstrafe - der subsidiäre Rechtsweg nach §§ 23 ff EGGVG als zulässig angesehen (vgl. Ostendorf aaO, §§91 - 92, Rn. 27; OLG Hamm, MDR 1989, 1022; OLG Karlsruhe, NStZ 1997, 511; KG, NJW 1978, 284) und damit im Ergebnis aus der Doppelfunktion des Vollstreckungsleiters nach § 82 Abs. 1 S. 1 und 2 JGG eine Spaltung des Rechtsweges abgeleitet. Folgte man dieser Ansicht, hätte der Beschwerdeführer gegen das Unterlassen der beantragten jugendrichterlichen Entscheidung über seine Verlegung in eine jugendpsychiatrische Einrichtung mit einem anderen Rechtsbehelf als dem der sofortigen Beschwerde vorgehen müssen, und zwar möglicherweise mit einem Antrag auf gerichtliche Entscheidung zur Strafvollstreckungskammer gem. §§ 109 Abs. 1 S. 2, 113, 115 Abs. 4 StVollzG. Ob der als „sofortige Beschwerde" bezeichnete, aber nicht begründete Rechtsbehelf des Beschwerdeführers mit Rücksicht auf seinen von der Jugendrichterin nicht beschiedenen Verlegungsantrag schon im Ausgangsverfahren als Antrag nach §§ 109 ff StVollzG auszulegen und zu behandeln gewesen wäre, ist zweifelhaft. In diesem Falle wäre die Sache der zuständigen Strafvollstreckungskammer des LG Mühlhausen vorzulegen gewesen, die nach § 115 Abs. 4 StVollzG die Vollstreckungsleiterin gegebenenfalls hätte verpflichten können, die beantragte Verlegung anzuordnen oder den Beschwerdeführer unter Beachtung der Rechtsauffassung der Kammer zu bescheiden. Die Frage kann jedoch offen bleiben, da im Ausgangsverfahren erkennbar nicht in dieser Weise verfahren worden ist. Zwar ist weder der beigezogenen Akte des Ausgangsverfahrens noch dem Beschluß des LG Mühlhausen zu entnehmen, in welcher funktionalen Zuständigkeit die „3. große Strafkammer" überhaupt entschieden hat. Jedoch ergibt sich aus dem Registerzeichen des Beschlusses, daß das Landgericht das Rechtsbehelfsverfahren als Beschwerdeverfahren und nicht als Verfahren vor der Strafvollstreckungskammer behandelt hat. c) Es kann dahinstehen, ob dem Beschwerdeführer ein weitergehender Rechtsbehelf - etwa die Rechtsbeschwerde zum OLG nach § 116 StVollzG - zur Verfügung gestanden hätte, um eine Uberprüfung der Art seiner Unterbringung im Erwachsenenmaßregelvollzug zu erzwingen. Denn im Hinblick auf die vorstehenden Ausführungen liegen jedenfalls die Voraussetzungen für eine Vorabentscheidung über die Verfassungsbeschwerde nach § 31 Abs. 3 S. 2 ThürVerfGHG vor. Danach kann der Thüringer Verfassungsgerichtshof über eine vor Erschöpfung des Rechtsweges erhobene Verfassungsbeschwerde sofort entscheiden, wenn sie von allgemeiner Bedeutung ist oder dem Beschwerdeführer ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entstünde, falls er zunächst auf den Rechtsweg verwiesen würde. Ein solcher Nachteil entstünde dem Beschwerdeführer, wenn er zunächst LVerfGE 13

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einen fachgerichtlichen Rechtsweg beschreiten und erschöpfen müßte, dessen konkrete Ausgestaltung in der fachgerichtlichen Literatur und Rechtsprechung bislang nicht zweifelsfrei geklärt erscheint. Dem jetzt 18 Jahre alten Beschwerdeführer, der bereits seit etwa 2 Jahren im Erwachsenenmaßregelvollzug untergebracht ist und der sich mit fortschreitendem Alter naturgemäß immer weniger zur Unterbringung in einer jugendpsychiatrischen Einrichtung eignet, ist nicht zuzumuten, „in einem zweiten Anlauf" einen Rechtsweg beschreiten zu müssen, der unter Umständen nach längerer Verfahrensdauer durch das letztinstanzlich entscheidende Fachgericht für unzulässig erklärt wird. In diesem Zusammenhang kann dem damals minderjährigen, psychisch gestörten Beschwerdeführer auch nicht entgegengehalten werden, daß er seine Unterbringung in der Erwachsenenpsychiatrie erst nach Ablauf von etwa 1 Vi Jahren mit Hilfe des ihm im Verfahren nach § 67e StGB beigeordneten Pflichtverteidigers beanstandet hat. II. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. 1. Indem die Jugendrichterin beim AG Mühlhausen über den Antrag des Beschwerdeführers, ihn vom Erwachsenenmaßregelvollzug in eine geschlossene jugendpsychiatrische Einrichtung zu verlegen, nicht entschieden hat, hat sie seine verfassungsmäßigen Rechte auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 42 Abs. 5 S. 1 ThürVerf und rechtlichen Gehörs aus Art. 88 Abs. 1 S. 1 ThürVerf mißachtet. Die Verfassungsbeschwerde, mit der sich der Beschwerdeführer gegen das Unterlassen dieser Entscheidung im Ausgangsverfahren wendet, führt zur Feststellung dieses Verfassungsverstoßes und zur Zurückverweisung der Sache an das AG Mühlhausen zur ergänzenden Entscheidung. a) Der Thüringer Verfassungsgerichtshof kann die Verletzung der inhaltsgleich zum Grundgesetz in der Landesverfassung verbürgten Verfahrensgrundrechte der Art. 42 Abs. 5 S. 1 und 88 Abs. 1 S. 1 ThürVerf auch dann prüfen, wenn im Ausgangsverfahren Verfahrensrecht des Bundes zur Anwendung gekommen ist (vgl. BVerfGE 96, 345, 363; ThürVerfGH, Beschl. v. 10.12.1998, VerfGH 10/98; Beschl. v. 12.10.2001, VerfGH 10/01, Beschl. v. 15.3.2001, VerfGH 1/00). b) Nach Art. 42 Abs. 5 S. 1 ThürVerf steht jedermann, der durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird, der Rechtsweg offen. Damit wird nicht nur ein Recht auf Zugang zu den Gerichten begründet. Vielmehr wird auch die Effektivität des gerichtlichen Rechtsschutzes gewährleistet, indem dem Bürger ein substantieller Anspruch auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle in allen ihm von der Prozessordnung zur Verfügung gestellten Instanzen und damit auf eine umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Streitgegenstandes und dessen verbindliche Entscheidung durch den Richter garantiert wird (vgl. ThürVerfGH, Beschl. v. 15.3.2001, VerfGH 1/00; BVerfGE 40, 272, 275; 54, 277, LVerfGE 13

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291). Der inhaltsgleich zu Art. 103 Abs. 1 GG verbürgte Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 88 Abs. 1 S. 1 ThürVerf soll als Prozeßgrundrecht sichern, daß die Verfahrensbeteiligten nicht bloßes Objekt richterlicher Entscheidungen sind. Daher muß das Gericht den Beteiligten Gelegenheit zur Äußerung geben, ihr Vorbringen zur Kenntnis nehmen und dessen wesentlichen Inhalt in seinen Entscheidungen verarbeiten (vgl. ThürVerfGH, Beschl. v. 17.10.2002, VerfGH 13/01; BVerfGE 47, 182, 189). Dabei hat das Gericht das Vorbringen der Beteiligten nur dann zur Kenntnis genommen, wenn es dessen offenkundigen Sinn erfaßt und sich diesem Sinn nicht aus nicht nachvollziehbaren oder sachfremden Gründen verschlossen hat (vgl. ThürVerfGH, aaO). Nach diesen Maßstäben sind die Rechte des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz und rechtliches Gehör im Ausgangsverfahren verletzt worden. Aus dem im Rahmen des Prüfungsverfahrens nach § 67e StGB eingereichten Schriftsatz seines Verfahrensbevollmächtigten vom 19.4.2002 ergab sich eindeutig, daß der Beschwerdeführer die Vollstreckungsleiterin dazu bewegen wollte, die Art seiner Unterbringung im Erwachsenenmaßregelvollzug zu überprüfen und über seine Verlegung in eine geschlossene jugendpsychiatrische Einrichtung zu entscheiden. Auf dieses Anliegen ist die Jugendrichterin in keiner Weise eingegangen. Es ist auch im nachfolgenden Rechtsbehelfsverfahren nicht beachtet worden. c) Eine Entscheidung über den Verlegungsantrag des Beschwerdeführers war nicht deshalb entbehrlich, weil in Thüringen keine für den Jugendmaßregelvollzug geeignete geschlossene jugendpsychiatrische Einrichtung existiert. Die Ausgestaltung der Unterbringung sowohl von Erwachsenen als auch von Jugendlichen und Heranwachsenden in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 SGB ist bundesrechtlich kaum ausgestaltet. Sie richtet sich gem. § 138 Abs. 1 StVollzG im wesentlichen nach Landesrecht (vgl. OStendorf aaO, § 7 Rn. 9). Der Freistaat Thüringen hat den Vollzug freiheitsentziehender Maßregeln im Thüringer Gesetz zur Hilfe und Unterbringung psychisch Kranker (ThürPsychKG) geregelt. Dessen § 11 Abs. 4, der nach § 1 Abs. 3 ThürPsychKG ausdrücklich auch für die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt nach den Vorschriften der §§ 7 JGG, 63 und 64 StGB gilt, sieht vor, daß Kinder und Jugendliche gesondert und entsprechend ihrem Entwicklungsstand und dem Ausmaß ihrer Störung unterzubringen und zu betreuen sind. Dabei sind ihnen im Rahmen ihrer Fähigkeiten insbesondere die Erlangung eines Schulabschlusses, berufsfördernde Maßnahmen, eine Berufsausbildung, Umschulung oder Berufsausübung zu ermöglichen. Von diesem Grundsatz macht § 31 Abs. 3 ThürPsychKG für den Bereich des Maßregelvollzugs eine Ausnahme: Danach kann der Untergebrachte in eine Einrichtung, die für Personen seines Alters nicht vorgesehen ist, (nur) verlegt werden, wenn dies zu seiner Behandlung notwendig ist. Nach § 31 Abs. 1 S. 2 ThürPsychKG können die Maßregeln der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt aufgrund besonderer Vereinbarungen auch in Einrichtungen außerhalb des Landes ThürinLVerfGE 13

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gen vollzogen werden, wenn zwingende therapeutische Gründe dies erfordern. Zwar bestehen keine Vereinbarungen zwischen dem Freistaat Thüringen und anderen Bundesländern über den Vollzug der Unterbringung von Thüringer Jugendlichen in geeigneten Einrichtungen anderer Länder. Jedoch ist deshalb die Unterbringung eines Thüringer Jugendlichen in einer geeigneten psychiatrischen Klinik eines anderen Bundeslandes nicht von vornherein unmöglich. Nach Auskunft des zuständigen Sozialministeriums kann nämlich nach Absprache im Einzelfall ein Jugendlicher aus Thüringen in einer entsprechenden Einrichtung eines anderen Bundeslandes aufgenommen werden, sofern dort Aufnahmekapazität besteht und sich der Freistaat Thüringen zur Übernahme der Kosten verpflichtet. Die Jugendrichterin hätte danach zunächst prüfen können und müssen, ob der damals jugendliche Beschwerdeführer, der nach § 11 Abs. 4 ThürPsychKG grundsätzlich in einer vom Erwachsenenmaßregelvollzug gesonderten Einrichtung unterzubringen gewesen wäre, nach § 31 Abs. 3 ThürPsychKG ausnahmsweise aus therapeutischen Gründen im Erwachsenenmaßregelvollzug hätte verbleiben müssen. Anderenfalls hätte sie — über das zuständige Ministerium — die Möglichkeit seiner Verlegung in eine geeignete Einrichtung eines anderen Bundeslandes prüfen und die Verlegung anordnen müssen. d) Das Verlangen des Beschwerdeführers nach richterlicher Uberprüfung seiner Unterbringung im Erwachsenenmaßregelvollzug ist nicht gegenstandslos geworden, weil der Beschwerdeführer mittlerweile 18 Jahre alt und damit nicht mehr Jugendlicher, sondern Heranwachsender iSd § 1 Abs. 2 JGG ist. Die für den Maßregelvollzug geltenden Vorschriften schließen die Unterbringung Heranwachsender im Alter von 18 bis 21 Jahren in besonderen jugendpsychiatrischen Einrichtungen jedenfalls nicht von vornherein aus. Allerdings obliegt es der zuständigen Jugendrichterin zu klären, ob der für die Unterbringung sowohl nach dem PsychKG als auch nach §§ 7 JGG, 63 StGB maßgebliche § 11 Abs. 4 ThürPsychKG, der sich seinem Wortlaut nach nur auf „Kinder und Jugendliche" bezieht, im Bereich des Maßregelvollzugs auch für Heranwachsende iSd § 1 Abs. 2 JGG gilt und ob bei der Anwendung dieser Vorschrift zu berücksichtigen ist, daß die zu Jugendstrafe Verurteilten nach § 92 Abs. 2 JGG grundsätzlich bis zur Vollendung des vierundzwanzigsten Lebensjahres in der Jugendstrafanstalt verbleiben. Denn die — verfassungskonforme — Anwendung und Auslegung des einfachen Gesetzesrechts ist Aufgabe der Fachgerichte, deren Anschauungen über die Auslegung des einfachen Rechts erst die Grundlage für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der angewendeten Vorschriften und ihrer Auslegung durch die Verfassungsgerichte büden (vgl. ThürVerfGH, Urt. v. 6.6.2002, VerfGH 14/98). 2. Im Rahmen der vorliegenden Verfassungsbeschwerde ist nicht darüber zu entscheiden, ob die im Freistaat Thüringen bestehende Praxis der Umsetzung der landesgesetzlichen Vorschriften des PsychKG im Bereich des Maßregelvollzugs bei Jugendlichen und Heranwachsenden den Anforderungen der LandesverfasLVerfGE 13

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sung entspricht. Bedenken ergeben sich insbesondere daraus, daß der Freistaat Thüringen sich einerseits im PsychKG zu einem zweifelsfrei verfassungskonformen Umgang mit nicht strafbaren Rechtsbrechern bekannt hat, andererseits über 8 Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes weder über geeignete Therapieplätze zur Unterbringung jugendlicher und heranwachsender Straftäter in landeseigenen Einrichtungen verfugt noch durch entsprechende Vereinbarungen sichergestellt hat, solche Therapieplätze in Einrichtungen anderer Bundesländer jederzeit in ausreichender Zahl belegen zu können. Über die Vereinbarkeit der bestehenden Verwaltungspraxis mit landesverfassungsrechtlichen Gewährleistungen, insbesondere mit dem Grundrecht des Beschwerdeführers auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, wäre jedoch erst dann zu befinden, wenn bereits feststünde, daß seine von der zuständigen Jugendrichterin für erforderlich gehaltene Verlegung nur deshalb scheiterte, weil der Beschwerdeführer aus Kapazitätsgründen nicht in einem anderen Bundesland untergebracht werden könnte. III. Das Verfahren ist kostenfrei, § 28 Abs. 1 ThürVerfGHG. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers folgt aus § 29 Abs. 1 ThürVerfGHG.

Nr. 2 1. § 31 Abs. 3 ThürVerfGHG erfordert, daß die mit der Verfassungsbeschwerde erhobene Rüge bereits im fachgerichtlichen Rechtszug geltend gemacht worden ist. 2. Art. 44 Abs. 1 Satz 2, 3 Abs. 2 ThürVerf gewährleisten deckungsgleich mit Art. 2 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG als Inhalt des Rechtsstaatsprinzips das Recht des Beschuldigten auf ein faires Strafverfahren. 3. Das Gebot fairer Verfahrensführung und die sich daraus ergebende prozessuale Fürsorgepflicht ist verletzt, wenn das Gericht sich im Rahmen des Strafverfahrens in Widerspruch zu eigenen, früheren Erklärungen setzt, auf die der Beschuldigte vertrauen darf und auf die er sein weiteres Verteidigungsverhalten eingerichtet hat. Verfassung des Freistaats Thüringen Art. 44 Abs. 1 Satz 2 iVm 3 Abs. 2 Gesetz über den Thüringer Verfassungsgerichtshof § 31 Abs. 3

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in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren des Herrn T. S. Entscheidungsformel: Das Urteil des Landgerichts Gera vom 14. Januar 2002 (560 Js 9155/01 - 7 Ns) und der Beschluß des Thüringer Oberlandesgerichts vom 5. Juli 2002 (1 Ss 136/02) werden aufgehoben, da sie den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf ein faires Verfahren aus Art. 44 Abs. 1 Satz 2 iVm 3 Abs. 2 ThürVerf verletzen. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Landgericht Gera zurückverwiesen. Der Freistaat Thüringen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten. Gründe: A. Der Beschwerdeführer wendet sich mit der Verfassungsbeschwerde gegen seine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe. I. Der Beschwerdeführer ist durch Strafbefehl des AG Jena vom 10.4.2001 wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Geldstrafe von 35 Tagessätzen ä 40,00 DM verurteilt worden. In der auf seinen Einspruch anberaumten Hauptverhandlung vor dem AG Jena hat der Beschwerdeführer sich dahingehend eingelassen, der auf ihn zugelassene Pkw sei am Tattag, dem 3.10.2000, nicht von ihm, sondern von der Zeugin Ne. geführt worden. Er selbst sei wegen einer Verletzung am Sprunggelenk des linken Fußes überhaupt nicht in Lage gewesen, ein Kraftfahrzeug zu bedienen. Mit Urteil vom 10.8.2001 hat das AG Jena den Beschwerdeführer von dem ihm zur Last gelegten Tatvorwurf aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Dabei hat das AG seine Einlassung, er sei nur Beifahrer gewesen, nach der Vernehmung des ihn belastenden Zeugen Na. und der ihn endastenden Zeugen Ne. und Kl. als nicht widerlegbar angesehen. Auf die Berufung der Staatsanwaltschaft hat das LG Gera in der Berufungshauptverhandlung am 14.1.2001 die in erster Instanz vernommenen Zeugen Na., Ne. und Kl. erneut gehört und den Beschwerdeführer — nach Anhörung der medizinischen Sachverständigen Dr. F. — schließlich wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist (560 Js 9155/01 - 7 Ns). Zur Begründung hat das LG ausgeführt, die Einlassung des Beschwerdeführers sei durch die Aussage des Zeugen Na. widerlegt. Obwohl der Kammer vorderLVerfGE 13

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gründig zunächst alle gehörten Zeugen gleichermaßen glaubwürdig erschienen seien, hätten doch bei detaillierter Bettachtung die Aussagen der Entlastungszeugen Ne. und Kl. sich nicht nur untereinander, sondern auch der Einlassung des Beschwerdeführers erheblich widersprochen (Seite 12, zweiter Absatz des Urteils). Daraus folge, daß diese beiden Zeugen sowohl in erster als auch in zweiter Instanz zu Gunsten des Beschwerdeführers falsch ausgesagt hätten. Der Beschwerdeführer habe dies nicht bloß geduldet, sondern die Falschaussagen der Zeugen erst ermöglicht, indem er sie im Einspruchsverfahren selbst als Endastungszeugen benannt habe. Dabei habe er damit rechnen müssen, daß die mit ihm befreundeten Zeugen Ne. und Kl. vor Gericht falsche Angaben machen könnten, um ihm gefällig zu sein. Der Beschwerdeführer habe insoweit seiner „Rechtsfeindlichkeit" Ausdruck verliehen, die nicht davor zurückschrecke, weiteres Unrecht nachzusetzen. Dieses „Nachtatverhalten" sei strafschärfend zu berücksichtigen. Nach den Ausfuhrungen der Sachverständigen Dr. F. sei der Beschwerdeführer aus medizinischer Sicht im übrigen nicht gehindert gewesen, ein Kraftfahrzeug mit Handschaltung zu führen, da er weder knöcherne Verletzungen noch einen Bänderriß erlitten und der behandelnde Arzt als Therapie lediglich Kühlen, Ruhigstellen und Hochlagern des Fußes empfohlen habe. Da der Beschwerdeführer die Tat in laufender Bewährung begangen habe, habe die von der Kammer als tat- und schuldangemessen angesehene Freiheitsstrafe nicht zur Bewährung ausgesetzt werden können. Seine gegen das Berufungsurteil eingelegte Revision hat der Beschwerdeführer mit der Verletzung sachlichen Rechts sowie unter anderem damit begründet, das LG habe den Grundsatz des fairen Verfahrens verletzt und dadurch seine Verteidigung in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt durch Gerichtsbeschluß unzulässig beschränkt. Insoweit liege der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 8 StPO vor. Hierzu hat der Beschwerdeführer in seiner Revisionsbegründung zusammengefaßt folgendes vorgetragen: In der Berufungshauptverhandlung habe die Vorsitzende Richterin gegen Ende der Beweisaufnahme erklärt, sie halte nunmehr nach Vernehmung der anderen beiden Zeugen auch diese für glaubwürdig. Die Sache sehe jetzt nicht mehr so aus, wie man sie nach der Aussage des Zeugen Na. kenne. Sie rege die Rücknahme des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft an. Mit dieser Erklärung der Vorsitzenden habe das Gericht zum Ausdruck gebracht, daß die Berufung der Staatsanwaltschaft erfolglos sein werde. Erkennbarer Widerspruch der Schöffen sei nicht zu verzeichnen gewesen. Diese hätten vielmehr durch ihre Mimik den Anschein erweckt, als ob sie der Vorsitzenden zustimmen würden. Nachdem die Vertreterin der Staatsanwaltschaft erklärt habe, daß sie die Berufung nicht zurücknehmen werde, habe die Vorsitzende nach weiteren Beweisanträgen gefragt. Im Hinblick auf die vom Gericht deutlich gemachte Einschätzung der Sach- und Rechtslage hätten er, der Beschwerdeführer, und sein Verteidiger keine Veranlassung zu weiteren Beweiserhebungen gesehen. Hätte das Gericht seine LVerfGE 13

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Auffassung nicht so deutlich erklärt, hätte sein Verteidiger noch weitere Beweisanträge gestellt. Unter anderem hätte er die Vernehmung des sachverständigen Zeugen Dr. M. beantragt, der ihn, den Beschwerdeführer, am 29.9.2000 wegen seiner Verletzung behandelt habe. Der Zeuge Dr. M. hätte bekundet, daß er weder rein physisch noch aufgrund seiner Schmerzen imstande gewesen sei, ein Kraftfahrzeug zu führen. Indem das Gericht den Verfahrensbeteiligten gegenüber ausdrücklich erklärt habe, daß es das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft für erfolglos halte, habe es seinen Verteidiger veranlaßt, keine weiteren Beweisanträge, darunter den vorgenannten, zu stellen. Zwar könne das Gericht seine sachlichen und rechtlichen Wertungen — insbesondere bei der Urteilsberatung — ändern. In diesem Falle hätte es jedoch nach dem Grundsatz des fairen Verfahrens darauf hinweisen müssen, daß es nach nochmaliger Würdigung der Zeugenaussagen nun nicht mehr davon ausgehe, daß auch die Zeugen Ne. und Kl. glaubwürdig seien. Einen solchen Hinweis habe das Gericht nicht erteilt. Nachdem das Gericht der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft geraten habe, das Rechtsmittel zurückzunehmen und diese sich geweigert habe, sei die Beweisaufnahme geschlossen, die Hauptverhandlung für eine Stunde unterbrochen und anschließend mit den Schlußvorträgen fortgesetzt worden. Ohne jede weitere Verfahrenshandlung des Gerichts sei später das Urteil verkündet worden. Zu diesem Revisionsvorbringen hat die Staatsanwaltschaft Gera die Vorsitzende der Berufungskammer und die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft um dienstliche Stellungnahmen ersucht. Darauf hat die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft am 15.4.2002 folgende dienstliche Erklärung abgegeben: „Nach Abschluß der Zeugenvernehmung und Erläuterung der Sach- und Rechtslage befragte die Vorsitzende die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft, ob sie die Berufung zurücknehmen würde. Diese erklärte ihrerseits, daß eine Rücknahme der Berufung nicht in Erwägung gezogen werde". Die Vorsitzende der Berufungskammer hat am 19.4.2002 erklärt, sie halte die Abgabe einer Stellungnahme nicht für erforderlich. Der Gang und das Ergebnis der Berufungshauptverhandlung ergäben sich aus dem Hauptverhandlungsprotokoll und den Gründen des Urteils vom 14.1.2002. Insoweit weise sie lediglich auf die Ausfuhrungen auf Seite 12, zweiter Absatz des Urteils sowie auf Seite 4 des Hauptverhandlungsprotokolls hin. Danach sei die Hauptverhandlung nach Abschluß der Zeugenvernehmungen und nach Erläuterung der Sach- und Rechtslage durch sie, die Vorsitzende, zunächst unterbrochen und anschließend in der Sache weiterverhandelt worden. Die Beweisaufnahme sei letztlich erst nach der Vernehmung des Beschwerdeführers zu seinen persönlichen Verhältnissen und nach der Verlesung des Bundeszentralregisterauszugs geschlossen worden. Die Urteilsberatung habe etwa V/t Stunden gedauert. In ihrer Gegenerklärung zur Revision des Beschwerdeführers vom 13.6.2002 hat die Thüringer Generalstaatsanwaltschaft ausgeführt, die vom Beschwerdeführer erhobene Verfahrensrüge sei unzulässig. Nach der Revisionsbegründung beLVerfGE 13

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ruhe die angebliche Beschränkung der Verteidigung entgegen § 338 Nr. 8 StPO nicht auf einem Gerichtsbeschluß, sondern lediglich auf einer Erklärung der Vorsitzenden Richterin. Mit Beschluß vom 5.7.2002 hat der 1. Strafsenat des Thüringer O L G die Revision des Beschwerdeführers als offensichtlich unbegründet verworfen (1 Ss 136/02). Der Beschluß ist am 9.7.2002 formlos an den Beschwerdeführer versandt worden und diesem nach eigenen Angaben am 10.7.2002 zugegangen. II. Mit der am 12.8.2002, einem Montag, eingegangenen Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen den Beschluß des Thüringer O L G und das Berufungsurteil des LG Gera und rügt die Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Art. 88 Abs. 1 ThürVerf, seines Rechts auf ein faires Verfahren nach Art. 44 Abs. 1 S. 2 iVm 3 Abs. 2 und 1 Abs. 1 ThürVerf und des Willkürverbots nach Art. 2 Abs. 1 ThürVerf. 1. Der Beschwerdeführer führt aus — entsprechend seinem Vorbringen in der Revision - die Vorsitzende Richterin habe nach der Vernehmung der Zeugen in der Berufungshauptverhandlung mit Billigung der Schöffen geäußert, daß sämtliche Zeugen glaubwürdig seien und die Staatsanwaltschaft die von ihr eingelegte Berufung zurücknehmen solle. Da sich die Vertreterin der Staatsanwaltschaft geweigert habe, die Berufung zurückzunehmen, sei die Beweisaufnahme mit der Verlesung des Bundeszentralregisterauszuges und der Vernehmung des Beschwerdeführers zu seinen persönlichen Verhältnissen beendet worden. Nach den Schlußvorträgen und anschließender Beratungspause sei das Urteil verkündet worden, ohne daß das Gericht zuvor zu erkennen gegeben habe, daß es die Glaubwürdigkeit der Zeugen nunmehr anders beurteile. Indem die Kammer den Verfahrensbeteiligten zu verstehen gegeben habe, daß die Berufung der Staatsanwaltschaft keine Aussicht auf Erfolg habe, habe sie ihn, den Beschwerdeführer, und seinen Verteidiger in der Sicherheit gewogen, daß er wiederum freigesprochen werden würde. Aus diesem Grunde habe er darauf verzichtet, die in der Revisionsbegründung dargestellten weiteren Beweiserhebungen anzuregen oder zu beantragen. Das Gericht habe damit seine verfassungsmäßigen Rechte auf ein faires Verfahren und auf rechtliches Gehör mißachtet. Sein Grundrecht auf rechtliches Gehör sei auch dadurch verletzt, daß er sich zu dem im Rahmen der Strafzumessung zu seinen Lasten verwerteten Vorwurf, die angeblichen Falschaussagen der Zeugen gebilligt zu haben, nicht habe äußern können. Insoweit habe das Gericht sogar willkürlich gehandelt. 2. Der Thüringer Verfassungsgerichtshof hat eine ergänzende dienstliche Stellungnahme der in der Berufungshauptverhandlung vor dem L G Gera anwesenden Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft eingeholt. Daraus ergibt sich zum einen, daß für die Verfahrensbeteiligten nicht erkennbar gewesen ist, ob die LVerfGE 13

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Vorsitzende mit der Aufforderung zur Rücknahme der Berufung nur ihre persönliche Meinung oder die Einschätzung der Kammer zu den Erfolgsaussichten des Rechtsmittels zum Ausdruck bringen wollte und zum anderen, daß die Vorsitzende im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung nicht darauf hingewiesen hat, daß sich diese Einschätzung nunmehr geändert habe. 3. Die Thüringer Landesregierung hatte Gelegenheit zur Stellungnahme. B. Die Verfassungsbeschwerde ist erfolgreich. I. Gegen die Zulässigkeit der fristgerecht erhobenen Verfassungsbeschwerde bestehen keine Bedenken. 1. Der Thüringer Verfassungsgerichtshof kann grundsätzlich prüfen, ob das LG Gera und das Thüringer OLG bei der Anwendung des bundesgesetzlich geregelten Strafverfahrensrechts zum Grundgesetz inhaltsgleiche landesverfassungsrechtliche Gewährleistungen beachtet haben (vgl. BVerfGE 96, 345, 363). Zu diesen inhaltsgleichen Gewährleistungen gehören der vom Beschwerdeführer als verletzt gerügte Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 88 Abs. 1 S. 1 ThürVerf, das im Rechtsstaatsprinzip des Art. 44 Abs. 1 S. 2 ThürVerf verankerte und in Verbindung mit dem allgemeinen Freiheitsrecht des Art. 3 Abs. 2 ThürVerf gewährleistete Recht auf ein faires Verfahren und das Willkürverbot des Art. 2 Abs. 1 ThürVerf (vgl. ThürVerfGH, Beschl. v. 10.12.1998, VerfGH 10/98; Beschl. v. 24.6.1999, VerfGH 11/98; Beschl. v. 3.5.2001, VerfGH 6/98; Beschl. v. 20.12.2001, VerfGH 22 - 25/00; Beschl. v. 7.3.2002, VerfGH 5/00). 2. Der Beschwerdeführer hat nach § 31 Abs. 3 S. 1 ThürVerfGHG vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde den fachgerichtlichen Rechtsweg erschöpft. a) Wendet sich der Beschwerdeführer mit der Verfassungsbeschwerde gegen einen mit einem Rechtsmittel angreifbaren Verfahrensmangel des Ausgangsverfahrens, muß er diesen Mangel, auch wenn es sich dabei um einen Verfassungsverstoß handelt, zunächst nach den für das jeweilige Rechtsmittelverfahren maßgeblichen Vorschriften geltend machen. Der im Zulässigkeitserfordernis der Erschöpfung des Rechtsweges zum Ausdruck kommende weitergehende Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde verlangt, daß die behaupteten Verfassungsverstöße bereits im fachgerichtlichen Instanzenzug umfassend vorgeprüft und gegebenenfalls korrigiert werden können (vgl. ThürVerfGH, Urt. v. 6.6.2002, VerfGH 14/98). Dem Erfordernis der Erschöpfung des Rechtsweges ist daher nicht genügt, wenn ein Verfahrensmangel im Instanzenzug deshalb nicht hat nachgeprüft werden können, weil er nicht oder nicht in ordentlicher Form gerügt LVerfGE 13

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worden ist (vgl. BVerfGE 16, 124, 127). Danach kann eine vom Beschwerdeführer beanstandete und mit der Revision angreifbare Verletzung seiner Verfahrensgrundrechte im Strafprozeß verfassungsgerichtlich nur überprüft werden, wenn der Beschwerdeführer diesen Verfahrensverstoß schon im Revisionsverfahren in zulässiger Weise gerügt hat. b) Die Zulässigkeitsanforderungen an eine Verfahrensrüge im Revisionsverfahren ergeben sich aus § 344 Abs. 2 S. 2 StPO. Danach müssen die Tatsachen, aus denen sich die Verletzung von Verfahrensvorschriften ergibt, so genau und vollständig angegeben werden, daß das Revisionsgericht allein aufgrund der Revisionsbegründung ohne Rückgriff auf das Hauptverhandlungsprotokoll prüfen kann, ob — die Richtigkeit der behaupteten Tatsachen unterstellt — ein Verfahrensverstoß vorliegt oder nicht (vgl. BGH, NStZ 1987, 36; BayObLG, NStZ 1990, 508). Dabei ist es unschädlich, wenn die verletzte Gesetzesvorschrift gar nicht oder unrichtig bezeichnet wird, da das Revisionsgericht selbst feststellt, welche Bestimmung als verletzt anzusehen ist. Der Revisionsbegründung muß allerdings zu entnehmen sein, gegen welches verfahrensrechtliche Gebot oder Verbot der Tatrichter verstoßen haben soll, d.h. es muß der rechtliche Aspekt bestimmt werden, unter dem der gerügte Prozeßvorgang zu würdigen ist (vgl. Dahs/ Dahs Die Revision im Strafprozeß, 6. Aufl. 2001, Rn. 467 mwN). Die Revisionsbegründung ist aufgrund ihres eigenen Inhalts auslegungsfähig, wobei sie im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes grundsätzlich so auszulegen ist, daß der mit dem Rechtsmittel angestrebte Erfolg eintreten kann. Im Rahmen dieser Auslegung kann der Sachvortrag aus anderem Rügevorbringen der Revision ergänzt werden (vgl. Dahs/Dahs aaO, Rn. 483 mwN). Dabei kann eine Verfahrensrüge - bei zulässig erhobener Sachrüge - ausnahmsweise auch aus den Gründen des angefochtenen Urteils ergänzt werden (vgl. BGH, NStZ 1993, 142, 143). Letztlich wird das Revisionsgericht die Anforderungen an die Formalitäten einer verfahrensbezogenen Revisionsrüge auch mit Blick auf den zur Darlegung eines Verfassungsverstoßes in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren gebotenen Begründungsaufwand bestimmen müssen. c) Nach diesen Maßstäben hat der Beschwerdeführer im Revisionsverfahren die Verletzung des verfassungsrechtlichen Gebots fairer Verfahrensgestaltung in zulässiger Weise beanstandet. Zwar mag eine Verletzving der vom Beschwerdeführer als verletzt gerügten Vorschrift des § 338 Nr. 8 StPO ausgeschlossen sein, da seinem Revisionsvorbringen nicht zu entnehmen ist, daß in der Berufungshauptverhandlung ein seine Verteidigung beschränkender Gerichtsbeschluß ergangen wäre. Jedenfalls ergibt sich aus den in seiner Revisionsbegründung insgesamt vorgetragenen und aus den Gründen des angefochtenen Urteils ergänzten Tatsachen schlüssig ein die Verletzung des § 337 Abs. 2 StPO begründender Verstoß gegen sein verfassungsrechtlich verbürgtes Recht auf ein rechtsstaatliches

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und faires Verfahren, wobei der Beschwerdeführer auch dargelegt hat, daß das Urteil gem. § 337 Abs. 1 StPO auf diesem Verfahrensverstoß beruhen kann. II. 1. Die in diesem Umfang zur Sachprüfung durch den Thüringer Verfassungsgerichtshof stehende Verfassungsbeschwerde ist begründet. Die angefochtenen Entscheidungen des LG Gera und des Thüringer OLG verletzen den Beschwerdeführer in seinem verfassungsmäßigen Recht auf ein faires Verfahren. a) Das inhaltlich mit seiner grundgesetzlichen Gewährleistung deckungsgleiche Rechtsstaatsprinzip des Art. 44 Abs. 1 S. 2 ThürVerf garantiert in Verbindung mit dem allgemeinen Freiheitsrecht des inhaltsgleich zu Art. 2 Abs. 1 GG ausgestalteten Art. 3 Abs. 2 ThürVerf das Recht des Beschuldigten auf ein rechtsstaatliches und faires Strafverfahren (vgl. ThürVerfGH, Beschl. v. 24.6.1998, VerfGH 11/98; BVerfG, Beschl. v. 12.8.2002, 2 BvR 932/02). Dieses Verfassungsgebot ist nicht nur Regelungsauftrag an den Gesetzgeber. Es ist auch Leitlinie für den das Strafverfahren im Rahmen der von der Strafjprozeßordnung vorgegebenen Regeln gestaltenden Richter, der den Strafprozeß mit seinen möglichen weit reichenden Folgen für den Beschuldigten nicht auf eine Weise führen darf, daß dieser zum bloßen Objekt des Verfahrens wird. Dem ist nur genügt, wenn der Beschuldigte nicht nur theoretisch, sondern auch tatsächlich die Möglichkeit erhält, zur Wahrung seiner Rechte aktiv auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluß zu nehmen (vgl. BVerfG, aaO). Im Hinblick darauf verstößt es insbesondere gegen das Gebot der fairen Verfahrensführung und die sich daraus ergebende prozessuale Fürsorgepflicht des Gerichts, wenn dieses sich im Rahmen des Strafverfahrens in Widerspruch zu eigenen, früheren Erklärungen setzt, auf die der Beschuldigte vertraut und auf die er sein weiteres Verteidigungsverhalten eingerichtet hat. Insoweit verbietet der geschaffene Vertrauenstatbestand dem Gericht, von seinen früheren Erklärungen abzuweichen, ohne zuvor in der Hauptverhandlung auf diese Möglichkeit hingewiesen zu haben (vgl. BGH, NJW 1989, 2270, 2271; NJW 1998, 86, 89). b) Diesen Anforderungen wird das Verfahren vor der Berufungskammer des LG Gera nicht gerecht. Ausweislich der in der beigezogenen Akte befindlichen dienstlichen Stellungnahmen hat die Vorsitzende in der Berufungshauptverhandlung nach Abschluß der Zeugenvernehmungen unter Hinweis auf die Glaubwürdigkeit der Endastungszeugen Ne. und Kl. die Rücknahme des von der Staatsanwaltschaft eingelegten Rechtsmittels angeregt. Dadurch hat sie — objektiv betrachtet - bei den Beteiligten des Strafverfahrens den Eindruck erweckt, die Kammer halte die Berufung gegen das den Beschwerdeführer freisprechende erstinstanzliche Urteil für unbegründet und werde das Rechtsmittel dementsprechend verwerfen. Auf dieser Erwartung fußend hat der Beschwerdeführer sein VerteidigungsLVerfGE 13

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verhalten eingerichtet und keine weiteren Beweiserhebungen beantragt. Die auf die Erfolgsaussichten der Berufung bezogene Erklärung der Vorsitzenden ist auch nicht deshalb als Vertrauensgrundlage für das weitere Prozeßverhalten des Beschwerdeführers ungeeignet gewesen, weil sie sich erkennbar bloß als persönliche Einschätzung der Vorsitzenden und nicht als Hinweis auf das künftige Entscheidungsverhalten der Kammer dargestellt hätte (vgl. BGH, NJW 1989, 2270, 2271). Nach der vom Verfassungsgerichtshof eingeholten ergänzenden dienstlichen Stellungnahme der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft ist für die Verfahrensbeteiligten gerade nicht ersichtlich gewesen, daß die Vorsitzende insoweit nur ihre persönliche Meinung zum Ausdruck bringen wollte. Insbesondere hat sie ihre Erklärung nicht unter Vorbehalt der noch ausstehenden Beratung abgegeben. Aus den im Berufungsurteil enthaltenen Ausführungen ergibt sich schließlich, daß die Kammer ihre in der Verhandlung geäußerte Ansicht über die Glaubwürdigkeit der Entlastungszeugen Ne. und Kl. erst im Rahmen der Urteilsberatung geändert hat. Bei dieser Sachlage wäre der Vorsitzenden die verfahrensrechtliche Pflicht erwachsen, den Beschwerdeführer und seinen Verteidiger — notfalls unter Wiedereröffnung der Beweisaufnahme — darauf hinzuweisen, daß das Gericht die Erfolgsaussichten der Berufung der Staatsanwaltschaft nach Beratung nunmehr anders beurteile. Ein solcher Hinweis wäre geboten gewesen, um dem Beschwerdeführer und seinem Verteidiger Gelegenheit zu geben, sich auf die veränderte Sachlage einzustellen und alle sich unter diesem Gesichtspunkt bietenden Verteidigungsmöglichkeiten zu nutzen. Dieser Pflicht ist das LG nach der dem Verfassungsgerichtshof vorgelegten dienstlichen Stellungnahme nicht nachgekommen. 2. Die Begründetheit der Verfassungsbeschwerde hat die Aufhebung sämtlicher angegriffener Entscheidungen und die Zurückverweisung der Sache an das LG Gera zur Folge. Das Berufungsurteil des LG Gera beruht auf dem festgestellten Verstoß gegen das Verfahrensgrundrecht aus Art. 44 Abs. 1 S. 2 und 3 Abs. 2 ThürVerf und ist deshalb aufzuheben. Die Aufhebung erstreckt sich auf den diese verfassungswidrige Entscheidung bestätigenden Beschluß des Thüringer OLG (vgl. BVerfGE 4, 412, 424). Es kann dahinstehen, ob sich der Thüringer Verfassungsgerichtshof in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darauf beschränken könnte, nur die letztinstanzliche Entscheidung des Thüringer OLG aufzuheben. Eine solche Beschränkung wäre nur veranlaßt, wenn sie den Interessen des Beschwerdeführers besser dienen würde als die Aufhebung sämtlicher angefochtener Entscheidungen (vgl. BVerfGE 84,1,5). Das ist nicht ersichtlich, da auch das Thüringer OLG auf die zulässig erhobene Verfahrensrüge der Verletzung des fairen Verfahrens die Sache nach § 354 Abs. 2 S. 1 StPO nur an das LG zurückverweisen kann.

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Thüringer Verfassungsgerichtshof III.

Das Verfahren ist kostenfrei, § 28 Abs. 1 ThürVerfGHG. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers folgt aus § 29 Abs. 1 ThürVerfGHG.

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Sachregister Abgeordneter s. a. Parlament Fragerecht 284 ff, 306 ff Fraktionsausschluss 278 ff Freiheit des Mandats 279, 281 f, 311 Organstreitverfahren, Antragsbefugnis 305 f Abstrakte Normenkontrolle s. Normenkontrolle (abstrakte) Amt s. Gemeindeverbände Anhörung Kommunale Spitzenverbände 131, 134,143 im Wahlprüfungsverfahren 244 Auslagenerstattung und Unschuldsvermutung 188 Auslegung Authentische Gesetzesinterpretation durch Gesetzgeber 348, 351 f, 356 Korrektur gerichtlicher Auslegung durch Gesetzgeber 343, 347 ff, 354 ff, 358 ff Baden-Württemberg Wahlprüfungsbeschwerde, Antragsfrist 3 ff Wahlrecht, Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz 4 Baden-Württemberg (Landesverfassung) Ausschluss der Verfassungsbeschwerde 7 Normenkontrolle, abstrakte und Rechtsschutzgarantie 7 Organstreitverfahren 8 ff Untersuchungsausschuss 8 ff Wahlprüfungsverfahren 3, 7 Bauleitplanung Vorrang der Gemeinden für Flächennutzungsplan 128,143 ff

Beamtentum Funktionsvorbehalt als institutionelle Garantie des — 232 Behinderte Benachteiligungsverbot 37, 39 ff Eingliederungshilfe 97, 99 ff, 104 ff, 113, 121 ff Beleihung Beliehene als Verwaltungsbehörde im funktionalen Sinn 216, 226 und Budgetrecht des Parlaments 223, 230 Fachaufsicht und Weisungsbefugnis, notwendige 209, 226 ff und Funktionsvorbehalt 217, 231 ff und Gesetzesvorbehalt 209, 220 ff Gewährleistung der Gemeinwohlbindung 229 und Parlamentarische Kontrolle 216 f, 219, 224 ff, 230 f Parlamentsvorbehalt 215, 217 Verfassungsrechtliche Anforderungen 209 ff Benach teiligungsverbot Behinderte 37, 39 ff Berlin Rentenversorgung für Verfolgten des Nationalsozialismus 37 ff Transsexueller Untersuchungsgefangener 61 ff Verfassungsbeschwerde s. dort Wahlprüfungsverfahren 71 ff Berlin (Landesverfassung) Benachteiligungsverbot Behinderter 37, 39 ff Freiheitsgrundrecht 67 Gewaltenteilungsgrundsatz 67 Gleichheitsgrundsatz 39 ff Persönlichkeitsrecht 67 f Rechtliches Gehör 53 ff

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Sachregister

Beschlagnahme Grundrechtliche Anforderungen 177, 186 ff Bindungswirkung Authentische Gesetzesinterpretation 348, 351 f, 356 Brandenburg Amt s. dort Aufgabenübertragung und finanzielle Ausgleichspflicht 105,109,114 Flächennutzungsplan, Vorrang der Gemeinde 128 ff Konnexitätsprinzip, striktes und relatives 97,101,106,112,114 ff, 119,123 ff Verfassungsbeschwerde s. dort Brandenburg (Landesverfassung) Datenschutz 177,180 ff, 186 Eigentum 180 ff, 186 Freiheitsentziehung, grundrechtliche Anforderungen 197, 202 ff Freiheitsgrundrecht 191, 197 ff Grundrechte des Grundgesetzes, inhaltsgleiche 156, 184, 192, 201 Interkommunales Gleichbehandlungsgebot 159,164,171,174 f Neugliederung und Kommunale Selbstverwaltung 159 ff, 168, 176 Persönlichkeitsrecht 180 ff, 200 f Recht auf anwaltlichen Beistand 188, 190 ff Unverletzlichkeit der Wohnung 180 f, 183 f, 190 Verfahrensgrundrechte 153 ff, 180, 182 f, 190 ff, 201 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 180, 182 ff, 201 f Bremen Übertragung von Staatsaufgaben an Private 209 ff Bremen (Landesverfassung) Demokratieprinzip 216 ff, 224 ff Gesetzesvorbehalt, institutioneller/ rechtsstaatlicher und demokratischer 209, 220 ff Parlamentarische Kontrollrechte und Beleihung 216 f, 219, 224 ff, 230 f Parlamentsvorbehalt 220, 223 Budgetrecht und Beleihung 223,230

und Volksgesetzgebung 318 ff Bundesrecht und landesverfassungsgerichtliche Prüfungsbefugnis 156, 183 f, 192, 201, 412, 420 und Landesverfassungsrecht, weitergehendes 136 Bundesverfassungsgericht Chancengleichheit der Parteien, statthafter Rechtsbehelf 243 Elternrecht und staatlicher Erziehungsauftrag 383 ff, 389, 399 Informationelle Selbstbestimmung 181 f Körperschaft mit Selbstverwaltungsaufgaben 141 Kommunale Selbstverwaltung 136, 144, 147 Landesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und - 248, 252 f Menschenwürde 68 Rücknahme der Verfassungsbeschwerde und Ausschluss der Grundrechtsklage 257 f, 260 Subsidiarität der Landesverfassungsbeschwerde 259 Verfahrensgrundsätze bei Delegiertenbestimmung 88 Wahlfehlertatbestand der Hessischen Verfassung 239 ff Wahlrecht zwischen — und Landesverfassungsgerichtsbarkeit 248, 252 f, 257 f, 260 Wesentlichkeitstheorie 215,217,222 Wiedereinsetzungsverfahren, Anforderungen 157 Bußgeldverfahren Kostenentscheidung nach Einstellung des - 188 Recht auf anwaltlichen Beistand 188, 192 ff Verfahrensgrundrechte im — 190 f Chancengleichheit der Parteien im Wahlwettbewerb 237 ff Datenschutz s. a. Informationelle Selbstbestimmung und Beschlagnahme/Durchsuchung 177, 180 ff, 186

Sachregister und Fragerecht des Abgeordneten 286 f, 289 ff, 295 ff Demokratieprinzip s. a. Legitimation und Aufstellung von Wahlvorschlägen 92 und Beleihung 216 ff, 224 ff und Fragerecht des Abgeordneten 284, 296 Durchsuchung Grundrechtliche Anforderungen 177, 184 ff Recht auf anwaltlichen Beistand 188 ff Eigentumsrecht Beschlagnahme/Durchsuchung 180 ff, 186 f Vermögenswerte Positionen des Mieters 42, 51 ff Einstweilige Anordnung Akzessorietät, Rechtsnatur des Hauptsachebegehrens 281 Folgenabwägung 277, 282 ff Vorrang fachgerichtlichen Eilschutzes 261, 264 f Elternrecht und Erziehungsauftrag, staatlicher 364 f, 372 ff, 382 ff, 398 ff auf Verfahrensbeteiligung bei Freiheitsentziehung gegen Jugendlichen 197, 200, 202, 204 Erziehungsauftrag staatlicher — und Elternrecht 364 f, 372 ff, 382 ff, 398 ff staatlicher — und Schülerrecht 391 Exekutive s. Regierung Fachgerichtsbarkeit s. a. Rechtswegerschöpfung Geltendmachung von Verfahrensverstößen im fachgerichtlichen Instanzenzug 415, 420 ff und Kommunalverfassungsbeschwerde 110 Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde 58,266,271 Verfassungsgerichtliche Überprüfung, Maßstab 50 f, 193 Vorläufige Regelung zum Schutz der Grundrechte 261

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Vorrang fachgerichtlichen Eilschutzes 261, 264 f Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde bei unklarem Rechtsweg 405, 411 f Faires Verfahren Beschlagnahme/Durchsuchung 180, 182 f im Bußgeldverfahren 190 f Hinweispflicht des Gerichts 266, 270 ff, 418,423 Recht auf anwaltlichen Beistand 190 ff im Strafbefehlsverfahren 153,155, 158 f im Strafverfahren 415 ff Wiedereinsetzung nach Fristversäumnis 153 ff Zwischenorganschaftliche Verpflichtung 310 Familie Institutionelle Garantie 388 Finanzausgleich Kommunaler — s. dort Finanzhoheit als Gewährleistung kommunaler Selbstverwaltung 109 Rückwirkende Einschränkung kommunaler - 343, 352 ff Fraktion s. a. Parlament Ausschluss 278 ff Bedeutung im Verfassungsleben 281 f Eröffnung des Organstreitverfahrens bei Fraktionsausschluss 281 f Fragerecht 307 Fraktionszugehörigkeit als Frage des materiellen Verfassungsrechts 281 Organstreitverfahren, Antragsbefugnis 307 f 8,15, 21 f Organstreitverfahren, Beteiligtenfähigkeit 21 im Untersuchungsausschuss 8,15, 21 ff Freiheitsentzug Hinzuziehung eines Rechtsbeistands 197 ff Recht der Erziehungsberechtigten auf Verfahrensbeteiligung 197, 200, 202, 204 Freiheitsrecht s. a. Freiheitsentzug und Verfahrensgrundrechte 191

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Sachregister

Frist Wahlprüfungsverfahren 3 ff Wiedereinsetzung nach Versäumnis 153 ff Funktionsvorbehalt Beamtentum, institutionelle Garantie 232 und Beleihung 217 f, 231 ff Geltung für die Länder 217 f, 231 Landesverfassungsgerichtliche Prüfungsbefugnis 219 Gebietskörperschaften Flächennutzungsplan, Kompetenzübertragung 140 Gemeindeverbände und — 138 Gemeinde Amtsangehörige —, kein Anspruch auf Ausgestaltung der Amtsverwaltung 152, 168 Aufhebung von Ortsteilen 159, 161 Bestandsgarantie 163,171 ff Finanzhoheit 109, 342, 352 ff Mindestgröße amtsangehöriger — 159, 164 ff, 169,171 ff Organisationshoheit 116, 118, 163 f, 166,168 f Vorrang der — für Flächennutzungsplan 128,143 ff Gemeindeverbände Amt, Aufgaben im Bereich kommunaler Selbstverwaltung 142 f Amt, Ausgestaltung 152,168 Amt, demokratische Legitimation 140 f Amt, Gemeindeverband, keine Gebietskörperschaft 138 Amt, gesetzlicher Zusammenschluss iSd BauGB 128,130 f, 137 ff Amt, Neugliederung und Kommunale Selbstverwaltung 159 ff, 168 Amt, Pflichtaufgabe zur Erfüllung nach Weisung 142 f Gebietskörperschaften und — 138 Kommunale Verfassungsbeschwerde, Beteiligtenfähigkeit 108 Mindestgröße amtsangehöriger Gemeinden 159,164 ff, 169,171 ff Vorrang der Gemeinden für Flächennutzungsplan 128, 143 ff

Gemeinwohl und Beleihung 228 f und kommunale Aufgabenentziehung 130 und kommunale Neugliederung 161, 172 und rückwirkende Gesetzesänderung 343, 354, 358 f Gericht Hinweispflicht und Verfahrensgrundrechte 266, 270 ff, 418, 423 Geschäftsordnung Ausstattung mit eigener Zuständigkeit 8,14,17 f, 21, 23, 281, 292, 305 der Fraktion als Verfassungsrecht 281 Gesetz Haushaltsgesetz, Begriff 318 ff, 323 ff, 330 ff Landesgesetz, Begriff 350 ff Normenkontrolle s. dort Regelungsdichte, erforderliche 220, 222, 224, 263 Gesetzesvorbehalt s. a. Wesentlichkeitstheorie und Authentische Gesetzesinterpretation 354 und Beleihung 209, 220 ff Institutioneller, rechtsstaatlicher und demokratischer - 209, 220 ff im Schulrecht 365, 392 f, 398 ff Gesetzgebung s. a. Parlament s. a. Volksgesetzgebung Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum 103, 122, 164, 174 f, 195, 248, 252, 254, 364, 383, 395 f Volks- und parlamentarische Gesetzgebung 319 f, 323 f, 328 ff Gesetzgebungskompetenz Prüfungsbefugnis, landesverfassungsgerichtliche 136 f Gewalt, öffentliche Ausübung durch Beliehene 225 ff Gewaltenteilung und authentische Interpretation durch Gesetzgeber 355 f und Fragerecht des Abgeordneten 284 f, 296, 298 f, 308 kein Individualgrundrecht 67

Sachregister und parlamentarische Kontrolle 285, 298 f, 308 Gleichheitsgrundsatz Chancengleichheit der Parteien als spezielle Ausprägung des - 237, 243 Interkommunales Gleichbehandlungsgebot 159,164,171,174 f Rentenversorgung für Behinderte 27, 39 ff Ungleichbehandlung von Sachverhalten, von Personengruppen 39 ff Unterschiede zwischen den Ländern 40 Grundgesetz Funktionsvorbehalt und Beleihung 217 f, 231 ff und landesverfassungsgerichtliche Prüfungsbefugnis 219 Grundrechte Dualer Rechtsschutz 156, 248, 252 f und Einrichtungsgarantien 388 ff Elternrecht 364 f, 372 ff, 382 ff, 398 ff Freiheitsgrundrecht 67 Informationelle Selbstbestimmung s. a. Datenschutz 181 f, 184, 263, 290 f, 298 f Inhaltsgleichheit landes- und bundesverfassungsrechtlicher - 156,184, 192,201,250, 252, 257, 260, 376, 385, 412 f, 420, 422 Persönlichkeitsrecht 67 f, 180,182, 200 f, 407 f Schülerrecht 369, 382, 391 f Treuhänderische Wahrnehmung durch Erziehungsberechtigte 201 Unverletzlichkeit der Wohnung 180 f, 183 f, 190 Verfahrensgrundrechte, Verletzung in Vorinstanz und Folgewirkungen 204 Vorläufige Regelung zum Schutz der durch Fachgerichte 261, 265 Grundrechtsklage s. Verfassungsbeschwerde (Hessen) Grundrechtsverletzung durch Unterlassen 408 f Hauptsachenerledigung Kostenentscheidung nach - durch Pilotentscheidung 151 f, 175 Haushalt s. a. Budgetrecht

429

Rechtssicherheit, verläßliche Haushaltswirtschaft 126 f Hessen Rasterfahndung, vorläufiger Rechtsschutz 261 ff Hessen (Landesverfassung) Grundrechte des Grundgesetzes, inhaltsgleiche 250, 252, 257, 260 Grundrechte, über das Grundgesetz hinausgehende 253 Grundrechtsklage, institutionelle Garantie 251 ff Grundrechtsklage, Nichtannahmebeschluss ohne Begründung 248, 253 ff Grundrechtsklage, Unzulässigkeit 257 ff Rechtliches Gehör 266 Wahlanfechtungstatbestand, restriktive Auslegung 237, 239 ff, 244 ff Informationelle Selbstbestimmung 181 f, 184, 263, 290 f, 298 f Juristische Person des privaten Rechts Beliehene 209 ff Kommunale Selbstverwaltung s. a. Gemeinden s. a. Landkreise Amtszuordnung, Veränderung 159 ff, 168 f Aufgabenübertragung und finanzielle Ausgleichspflicht 97 ff Beitragserhebungsrecht, Ausübungsschutz 343 ff, 352 ff Finanzhoheit 109, 343, 352 ff Flächennutzungsplan als Kernbereich 128 ff, 136 Gemeindebegünstigendes Vorrangprinzip 355 Hochzonung, zulässige 136,147,150 Konnexitätsprinzip 97, 101 ff, 109, 111 ff Pflichtaufgabe zur Erfüllung nach Weisung 99, 111, 142 ff Planungs-/Finanzierungssicherheit 97, 125 f Planungshoheit 128 ff, 136 f Kommunale Spitzenverbände Anhörungserfordernis 131,134, 143

430

Sachregister

Kommunale Verfassungsbeschwerde Amtsverwaltung, keine Vorgaben zur Ausgestaltung 152 Amtszuordnung, Veränderung 159 ff Antragsänderung, Zulässigkeit 108 Aufgabe, neue 97,101,105 f, 111 ff Auslagenerstattung nach Erledigung der Hauptsache 151 f, 175 Beschwerdebefugnis 108 f, 135, 167 ff Finanzausgleich 97 ff Flächennutzungsplan, Vorrang der Gemeinde 128 ff Fraktions- und Oppositionsrechte im Gesetzgebungsverfahren 176 Kostendeckungsregelung, Anforderungen 117 Landkreise, Beteiligtenfähigkeit 108 Neugliederung und Kommunale Selbstverwaltung 159 ff, 176 Ordnungsgemäße Vertretung amtsangehöriger Gemeinde 167 Pilotentscheidung in gleicher Sache 151 f, 175 Rechtswegerschöpfung 110 Subjektive Rechtsverletzung 108 f Subsidiarität 110 Substantiierungsanforderungen 177 Kommunaler Finanzausgleich Aufgabe, neue 97,101,105 f, 111 ff Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers 174 f Interkommunales Gleichbehandlungsgebot 159,164,171,174 f Kostendeckung 105,109, 114 Kostenprognose des Gesetzgebers 97, 104 f, 116 ff Mehrbelastung bei Aufgabenübertragung 101 ff, 112,115 f, 119 Notwendigkeit gesetzlicher Regelung 125 Obergrenzen für Kostenerstattung, unzulässige 97, 100, 102 f, 123 ff Pauschalierung, zulässige 104,116, 118 f, 122, 124 Planungs-/Finanzierungssicherheit der Kommunen 97, 125 f Transparenzgebot 119 Verschlechterungsverbot 114 f Kommune s. Gemeinde

Konkrete Normenkontrolle s. Normenkontrolle (konkrete) Kostendeckung Aufgabenübertragung und Umfang der - 105,109,114 Kreise s. Landkreis s. Stadtkreis Landesregierung s. Regierung Landesverfassungsgerichtsbarkeit Bundesverfassungs gerichtlicher Grundrechtsschutz und — 248, 252 f Gesetzgebungskompetenz, zu prüfende 136 f Prüfungsbefugnis bezüglich des Bundesrechts im Ausgangsverfahren 156,183 f, 192, 201,412,420 Subsidiarität der Landesverfassungsbeschwerde 259 Subsidiarität gegenüber fachgerichtlichem Rechtsschutz 261, 264 f Vorlage eines anderen Gerichts 348 ff Wahlrecht zwischen — und Verfassungsbeschwerde zum BVerfG 248, 252 f, 257 f, 260 Zuständigkeit für Prüfung von Volksgesetzgebung 328 Landkreis s. a. Kommunale Selbstverwaltung Kommunale Verfassungsbeschwerde, Beteiligtenfähigkeit 108 Örtlicher Sozialhilfeträger 99 Landtag s. Parlament Landtagsfraktion s. Fraktion Legitimation s. a. Demokratieprinzip Amt (Brandenburg) 140 f Beleihung und demokratische — 209, 216 ff, 224 ff Mandat s. Abgeordneter Maßregelvollzug Unterbringung eines Jugendlichen im Erwachsenen— 405 ff

Sachregister Mecklenburg-Vorpommern (Landesverfassung) Fragerecht des Abgeordneten 284 ff Fraktionszugehörigkeit eines Abgeordneten 211 ff Menschenwürde Ausschluss der Grundrechtsklage und - 250,257 Transsexueller Untersuchungsgefangener 61, 64, 66, 68 ff Mietrecht Eigenbedarfskündigung 42 ff Treuwidrige Kündigung 53, 60 Vermögenswerte Positionen des Mieters 42, 51 ff Minderheitenschutz Kontrollfunktion des Parlaments und 285, 308 Rechte im Untersuchungsausschuss 8 f, 13 ff, 23 ff, 26 ff Nichtigkeitserklärung Absehen von — 126 Normenkontrolle (abstrakte) Bürgerschaftsmitglieder, Antragsberechtigung 219 Übertragung von Staatsaufgaben an Private 209 ff Nonnenkontrolle (kommunale) s. Kommunale Verfassungsbeschwerde Normenkontrolle (konkrete) Entscheidungserheblichkeit der Norm 348 f, 352 Kommunalabgabengesetz SachsenAnhalt 343 ff Opposition s. a. Minderheitenschutz und Kontrollfunktion des Parlaments 285, 308 Organstreitverfahren Antragsgegner 8, 14, 17, 23 ff Fragerecht des Abgeordneten 284 ff, 303 ff Fraktion, Beteiligtenfähigkeit 8, 21 Minderheit im Untersuchungsausschuss, Antragsbefugnis 14 f, 21 f Parteien als Antragsteller 243 Untersuchungsausschussvorsitzender, Beteiligtenfähigkeit 8,14, 17, 21, 23 ff

431

und Verfassungsbeschwerde 243 Parlament s. a. Fraktion s. a. Untersuchungsausschuss Authentische Gesetzesinterpretation 343, 347 ff, 354 ff Budgetrecht und Beleihung 223, 230 Budgetrecht und Volksgesetzgebung 318 ff Kontrollfunktion und Fragerecht des Abgeordneten 285, 288, 296 ff, 306 ff Kontrollrechte bei Beleihung 216 f, 219, 224 ff, 230 f und Volksgesetzgebung 319 f, 323 f, 328 ff Parlamentsvorbehalt und Beleihung 215,217 Verfassungsprinzip, elementares 362 Partei Chancengleichheit im Wahlwettbewerb 237, 241 Doppelbewerbung, Verbot 71 f, 88 ff Satzungsverstoß und Nichtzulassung von Wahlvorschlägen 87 f, 92 f Transparenzgebot 241, 246 f Wahlvorschlagsrecht 91 Persönlichkeitsrecht Beschlagnahme/Durchsuchung und — 180, 182 Freiheitsentziehende Maßnahme 200 f Transsexueller Untersuchungsgefangener 67 f Unterbringung eines Jugendlichen im Erwachsenen- 407 f Planungshoheit Kommunale Selbstverwaltung und 128 ff, 136 f Privatisierung Funktionelle — staatlicher Aufgaben 224 f, 227 Prozessstandschaft eines Organs für seine Teile 308 des Vorsitzenden für den Untersuchungsausschuss 17 Rechtliches Gehör Ablehnung der Zusammenarbeit im Ermittlungsverfahren 180 Bußgeldverfahren, Recht auf anwaltlichen Beistand 190 f

432

Sachregister

Entscheidung im schriftlichen Verfahren 127 Fehlende angemessene Abwägung 50 Hinweispflicht des Gerichts 266, 270 ff, 418, 423 Nichtberücksichtigung besonderer Umstände 53, 57 ff Nichtentscheidung über Verlegung in jugendpsychiatrische Einrichtung 405 Wiedereinsetzungsantrag nach Fristversäumnis 153 ff Rechtsetzungshoheit Rückwirkende Einschränkung kommunaler — 343, 352 ff Rechtsmittelverzicht im Bußgeldverfahren, Unwirksamkeit 191, 193 ff Rechtsprechung Korrektur durch Gesetzgeber 343, 347 ff, 354 ff, 358 ff Rechtsschutz s. a. Rechtsschutzgarantie Dualer - bei Grundrechten 248, 252 f Gewährung effektiven — 64, 70 Rechtsschutzbedürfhis und Möglichkeit parlamentarischen Handelns 288, 290, 292 f Volksgesetzgebung 327 f Wahlprüfungsverfahren 81 f Rechtsschutzgarantie Recht auf anwaltlichen Beistand 192 f Unterlassen der Verlegung in jugendpsychiatrische Einrichtung 412 Rechtsstaatsprinzip s. a. Faires Verfahren s. a. Gesetzesvorbehalt s. a. Rückwirkungsverbot s. a. Verhältnismäßigkeitsprinzip s. a. Willkürverbot Anspruch auf willkürfreie Entscheidung im Untersuchungsausschuss 28 Aufgabenverantwortung des Staates 229 Begründung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen 256 und Budgetrecht des Parlaments 323 und Gesetzgebungskompetenz des Landes 137

länderverfassungsrechtliches - und Grundgesetz 391 Normenklarheitsgebot 392,400 Rückwirkungsverbot als Ausfluss des 357 und Verfahrensgrundrechte 191, 266, 272 Rechtswegerschöpfung Auslegungsgrundsatz der größtmöglichen Erfolgsaussicht 155 f Gegenvorstellung, unterlassene 58 Geltendmachung von Verfahrensverstößen im fachgerichtlichen Instanzenzug 415, 420 ff Kommunale Verfassungsbeschwerde 110 Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde 415, 420 ff Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde vor - 405, 410 ff Rechtsweggarantie bei Rasterfahndung 263 f Vollzug gerichtlicher Entscheidungen, sofortiger 69 f Wahlprüfungsverfahren 3, 6 ff Regierung Pflicht zur Beantwortung von Anfragen 285, 288, 293 ff, 303, 306 ff Rückwirkungsverbot und Authentische Interpretation durch Gesetzgeber 343, 349, 354 ff Saarland (Landesverfassung) Informationsanspruch des Abgeordneten 306 f Sachsen Volksantrag zum Schulrecht 315 ff Sachsen (Landesverfassung) Budgetrecht des Parlaments 318 ff Volksgesetzgebung 328 ff Sachsen-Anhalt Grundschule mit festen Öffnungszeiten 364 ff Kommunalabgabengesetz 343 ff Sachsen-Anhalt (Landesverfassung) Elternrecht 364 ff, 376 ff, 398 ff Finanz- und Rechtsetzungshoheit, kommunale 343, 352 ff Freiheitsgrundrecht, Schulmaßnahmen 376

Sachregister Grundrechte, inhaltsgleiche des Grundgesetzes 376, 385 Kommunales Selbstverwaltungsrecht 343 ff Rechtsstaatsprinzip 391 ff Rückwirkungsverbot 343, 349, 352 ff Schülerrecht und staatliche Schulaufsicht 369, 382, 391 f Schulrecht Drei-Bereiche-Lehre 373, 385 Elternrecht und staatlicher Erziehungsauftrag 364 f, 372 ff, 382 ff, 398 ff Grundschule mit festen Öffnungszeiten 364 ff Volksantrag zur Schulgesetzänderung 315 ff, 339 Wächteramt des Staates 372, 382, 385 f Selbstverwaltung s. Kommunale Selbstverwaltung Sozialhilfe Aufgabenübertragung 99,104 f Eingliederungshilfe für Behinderte 97, 99 ff, 104 ff, 113,121 ff Kostenerstattung 99 f Nichtseßhaftenhilfe 99, 111 Örtliche Träger 99 Sozialhilfe träger Stadt- und Landkreise 99 Stadtkreis s. a. Kommunale Selbstverwaltung Örtlicher Sozialhilfeträger 99 Strafbefehlsverfahren Recht auf ein faires Verfahren 153, 155, 158 f Rechtliches Gehör 153 ff Wiedereinsetzung, Bedingungen 153 ff Strafverfahren Recht auf ein faires — 415 ff Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde 58,110, 192, 200 f, 259, 261, 264 ff, 271, 415, 420 ff Substantiierung Kommunale Verfassungsbeschwerde 177 Verfassungsbeschwerde 58 f, 67 f, 409

433

Thüringen Unterbringung eines Jugendlichen im Erwachsenenmaßregelvollzug 405 ff Thüringen (Landesverfassung) Grundrechte, inhaltsgleiche des Grundgesetzes 412 f, 420, 422 Persönlichkeitsrecht 407 ff Recht auf ein faires Verfahren 415 ff Rechtliches Gehör 405, 409, 412 f, 419 Rechtsschutzgarantie 409, 412 f Rechtsstaatsprinzip 415 Willkürverbot 419 f Unmittelbarkeitserfordernis Betroffenheit durch ein Gesetz 377 ff bei Kommunalverfassungsbeschwerde 108,135,163,165,167 ff Umsetzungakt, nicht erforderlicher behördlicher 135 Unzumutbarkeit des Abwartens 163 Vollzugsakt, erforderlicher 250 f, 377 ff Vollzugsgesetz, erforderliches 165, 167 f, 170 Unterbringung Grundrechtliche Anforderungen 197, 202 ff Hinzuziehung eines Rechtsbeistands 197 ff Unterlassen Grundrechtsverletzung durch — 408 f Untersuchungsaus schuss Aufgabe 26 Beweiserzwingungsrecht 14 f, 18 ff, 22 f, 26 ff Geschäftsordnung, Anwendbarkeit 17 f, 23 ff Minderheitenschutz 8 f, 13 ff, 20 ff, 26 ff Sitzungserzwingungsrecht 13 ff, 19, 27, 29 ff Sondersitzung, Nichteinberufung 9, 13 ff, 20 ff, 25 ff, 29 ff Vorsitzender, Beteiligtenfähigkeit 8, 17 f, 23 ff Untersuchungshaft Freiheitsentziehende Maßnahmen gegen Jugendlichen 197 ff Grundrechtliche Anforderungen 202 Transsexueller Gefangener 61 ff

434

Sachregister

Verfassungsbeschwerde kommunale — s. dort Verfassungsbeschwerde (Berlin) Gleichheitsgrundsatz/Benachteiligungsverbot Behinderter 37 ff Prüfungsmaßstab 68 Rechtliches Gehör 53 ff Subsidiarität 58 Substantiierungsanforderungen 58 f, 67 f Transsexueller Untersuchungsgefangener 61 ff Verfassungsbeschwerde (Brandenburg) Beschwerdebefugnis 181 ff Durchsuchung und anwaltlicher Beistand 188 ff Freiheitsentziehende Maßnahme gegen Jugendlichen 197 ff Kostenentscheidung nach Einstellung eines Bußgeldverfahrens 188 Recht auf anwaltlichen Beistand im Bußgeldverfahren 188 ff Recht auf faires Verfahren 153 ff, 180, 182 f, 190 Recht auf zügiges Verfahren 201, 205 Rechtliches Gehör 127 f, 153 ff, 180, 182 f, 190 und Rechtsmittelverzicht 192 Subsidiarität 192, 200 f Verfahrensgrundrechte 153 ff Wiedereinsetzungsverfahren 153 ff Wohnungsdurchsuchung und Unverletztlichkeit der Wohnung 196 Verfassungsbeschwerde (Bund) s. Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde (Hessen) Antragsbefugnis 243 f Ausschluss der Grundrechtsklage 248 ff, 257 Chancengleichheit der Parteien im Wahlwettbewerb 237 ff Subsidiarität der Grundrechtsklage 266, 271 Unzulässigkeit der Grundrechtsklage 257 ff Verfassungsbeschwerde beim BVerfG, gleichzeitige 257 ff

Verfassungsbeschwerde (SachsenAnhalt) Beschwerdebefugnis 377 ff Erziehungsrecht der Eltern 364 ff Verfassungsbeschwerde (Thüringen) Recht auf faires Strafverfahren 415 ff Substantiierungsanforderungen 409 Unterbringung eines Jugendlichen im Erwachsenenmaßregelvollzug 405 ff Verfassungsgerichtsbarkeit s. Bundesverfassungsgericht s. Landesverfassungsgerichtsbarkeit Verfassungsorgantteue 27 Verfassungs recht Binnenrechtsregelungen der Fraktionen als Verfassungsrecht 281 Verfassungsstreitigkeit s. Organstreitverfahren Verfolgte des Nationalsozialismus Rentenversorgung 37 ff Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Beschlagnahme/Durchsuchung 180, 182 ff und Beschränkung der kommunalen Selbstverwaltung 355 kein Individualgrundrecht 201 f Schulpflicht für Grundschule mit festen Öffnungszeiten 365, 370, 394 ff, 401 f Vertrauensschutz und Gesetzesänderung, rückwirkende 343, 354, 356, 358, 361 ff Rechtsetzungsbefugnis der Kommunen 357 f Verwaltungsgerichtsbarkeit Beitragserhebungsrecht, kommunales und Ausübungsschutz 354 Bindungswirkung authentischer Gesetzesinterpretation 348 ff, 356 Vorrang verwaltungsgerichtlichen Eilschutzes 261, 264 f Zuständigkeit für innerorganschaftliches Recht der Fraktionen 279 Volks an trag s. Volksgesetzgebung Volksgesetzgebung und Budgetrecht des Parlaments 318 ff

Sachregister und parlamentarischer Gesetzgeber 319 f, 323 f, 328 ff Schranken 330 ff, 338 f Volksantrag zum Schulrecht 315 ff Volkssouveränität Kontrollrechte des Parlaments 216 Volksgesetzgebung 328 Vorbehalt des Gesetzes s. Gesetzesvorbehalt Vorlage an ein Landesverfassungsgericht s. Normenkontrolle (konkrete) Wahlprüfungsverfahren Anhörung 244 Aufgabe 82 Doppelbewerbung, Verbot 71 f, 88 ff Einspruchsberechtigung 71, 78 ff Mandatsrelevanz des Wahlfehlers 82, 240 ff, 244, 246 Nichtzulassung eines Wahlvorschlags 71, 82 ff als objektive Rechtskontrolle 7 und Rechtsweggarantie 3, 6 ff Satzungsverstoß und Nichtzulassung von Wahlvorschlägen 87 f, 92 f Wahlanfechtungstatbestand, restriktive Auslegung 237, 239 ff, 244 ff und Wahlgrundrechte 7, 237, 241 f, 244 Wahlrecht Aktives Wahlrecht 241 Ersetzung von Wahlvorschlägen 71, 84 ff Passives Wahlrecht 241

435

Satzungsverstoß und Nichtzulassung von Wahlvorschlägen 87 f, 92 f Subjektive Rechte und Wahlprüfungsverfahren 7 Wahlfreiheit 90 f, 241 Wahlgleichheit 91 f, 241 Wahlvorschlagsrecht 90 Weimarer Reichsverfassung Haushaltsvorbehalt und Volksgesetzgebung 319, 324, 330 ff Wesentlichkeitstheorie s. a. Gesetzesvorbehalt und Beleihung 215,217,222 Einfuhrung eines neuen Grundschulmodells 365, 392 f Wiedereinsetzung in den vorigen Stand Strafbefehlsverfahren und Bedingungen für eine — 153 ff und Verfahrensgrundrechte 153 ff Willkürverbot Begründungspflicht gerichtlicher Entscheidungen 256 Einfuhrung eines neuen Grundschulmodells 397 f und Hinweispflicht des Gerichts 269 f, 419 f Interkommunales Gleichbehandlungsgebot 164 164,171 Vertretbarkeit der angegriffenen Entscheidung 32 f Wohnung Durchsuchung und Unverletzlichkeit d e r - 180 f, 183 f, 190

Gesetzesregister Bundesrecht Baugesetzbuch idF der Bekanntmachung vom 27. August 1997 (BGBl. I S. 2141) BauGB -

§ 203 Abs. 2

Nr. 3 (Bbg)

Bürgerliches Gesetzbuch vom 18. August 1896 (BGBl. III 400-2) -BGB -

§242 §278 § 554 Abs. 1 § 556 a § 564 b

Nr. 3 Nr. 3 Nr. 3 Nr. 2 Nr. 2

Bundesrechtsanwaltsordnung vom 1. August 1959 (BGBl. I S. 565) - BRAO -

§1

Nr. 2 (MV)

Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz vom 27. Januar 1877 (RGBl. S. 77) -EGGVG-

§ 11 Abs. 6

Nr. 1 (HB)

Finanzausgleichsgesetz idF vom 17. Juni 1999 (BGBl. I S. 1382) - FAG -

§ 11 Abs. 6

Nr. 1 (HB)

Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen idF der Bekanntmachung vom 26. August 1998 (BGBl. I S. 2546) - GWB -

§ 97

Nr. 2 (MV)

Gesetz über das Bundesverfassungsgericht idF der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl. I S. 1473) mit späterer Änderung - BVerfGG -

§ 48 Abs. 1 § 48 Abs. 2 § 93 Abs. 3 § 63 §64 § 48 Abs. 1 § 48 Abs. 2 § 93 Abs. 3

Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.

§ 93a

Nr. 2 (He)

§ 46 Abs. 1 § 46 Abs. 2

Nr. 12 (Bbg) Nr. 12 (Bbg)

Gesetz über Ordnungswidrigkeiten idF der Bekanntmachung vom 19. Februar 1987 (BGBl. I S. 602) - OWiG -

(B) (B) (B) (B) (B)

1 (BW) 1 (BW) 1 (BW) 2 (BW) 2 (BW) 2 (BW) 2 (BW) 2 (BW)

438

Gesetzesregister

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 (BGBl. I S. 1) - G G -

Art. 19 Abs. 4 ^ 2 8 Abs. 1 Satz 2 Art. 44 Abs. 1 Satz 1

Nr. 1 (BW) Nr. 1 (BW) Nr. 2 (BW)

Art. Art. Art. Art. Art. Art.

Nr. 10 (Bbg) Nr. 10 (Bbg)

2 Abs. 1 2 Abs. 1 iVm 1 Abs. 1 13 Abs. 1 13 Abs. 2 14 Abs. 1

Art. 33 Abs. 4

Nr. 1 (HB)

Art. 21

Nr. 1 (He) Nr. 2 (He)

Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a

Jugendgerichtsgesetz idF der Bekanntmachung vom 11. Dezember 1974 (BGBl. I S. 3427) — J G G -

Strafprozessordnung idF der Bekanntmachung vom 7. April 1987 (BGBl. I S. 1074, ber. S. 1319) -StPO-

Nr. 2 (MV)

Art. 2 Abs. 1 Art. 31 Art. 142

Nr. 2 (SA) Nr. 2 (SA)

§ 67 Abs. 1 r yj ^ s 2 § 72 Absi 4

Nr. 14 (Bbg) Nr. 14 (Bbg) Nr. 14 (Bbg)

§7 § 82 Abs. § 82 Abs. § 83 Abs. § 83 Abs. § 84 Abs. § 85 Abs. § 85 Abs. § 92 Abs. Strafgesetzbuch idF der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I S. 3322) -StGB-

Nr. 10 (Bbg) Nr. 10 (Bbg) Nr. 10 (Bbg)

1 Satz 1 Satz 1 3 Satz 1 1 Satz 4 2

1 2 1 1

Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.

1 1 1 1 1 1 1 1 1

(Thür) (Thür) (Thür) (Thür) (Thür) (Thür) (Thür) (Thür) (Thür)

§§ 107 - 108b

Nr. 1 (He)

§63 §64 §67e

Nr. 1 (Thür) Nr. 1 (Thür) Nr. 1 (Thür)

§ 33a § 44 § 93 Abs. 1 § 94 Abs. 1 § 102 § 105

Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.

§115 Abs. 3 § 118 Abs. 2

(Bbg) Nr. 14 (Bbg) Nr. 14 (Bbg)

6 (Bbg) 6 (Bbg) 10 (Bbg) 10 (Bbg) 10 (Bbg) 10,13

439

Gesetzesregister

Strafvollzugsgesetz vom 16. März 1976 (BGBl. S. 581) - StVollzG -

§ 128 Abs. 1 Satz 2 § 163a Abs. 3 Satz 2 § 168c Abs. 1 § 168c Abs. 5 Satz 1 § 302 §467 Abs. 4

Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.

14 (Bbg) 12 (Bbg) 12 (Bbg) 14 (Bbg) 12 (Bbg) 11 (Bbg)

§ § § § § § § §

Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.

2 (Thür) 2 (Thür) 2 (Thür) 2 (Thür) 2 (Thür) 1 (Thür) 1 (Thür) 1 (Thür)

337 Abs. 1 337 Abs. 2 338 Nr. 8 344 Abs. 2 Satz 2 354 Abs. 2 Satz 1 454 462a Abs. 1 Satz 1 463 Abs. 1

§ 109 Abs. 1 Satz 2 § no

Nr. 1 (Thür) Nr. 1 (Thür)

§ 113 §115 Abs. 4 § 116 §138 Abs. 1 § 138 Abs. 2

Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.

Verwaltungsgerichtsordnung idF der Bekanntmachune vom 19. März 1991 (BGBl. I S. 686) - VwGO -

§ 40 Abs. 1 Satz 1 _„ §91

VT

Zivilprozessordnung idF vom 12. September 1950 (BGBl. S. 5 3 3 ) - Z P O -

§ 495a

§128

1 (Thür) 1 (Thür) 1 (Thür) 1 (Thür) 1 (Thür)

Nr. 1 (BW) . . Nr. 1 (Bbg)

Nr 2 (Bbg) Nr. 2 (Bbg)

§ 513 Abs. 2

Nr. 2 (Bbg)

§ 495a § 513 Abs. 2

Nr. 5 (He) Nr. 5 (He)

§ 1 Abs. 1 § 3 Abs. 2

Nr. 1 (BW) Nr. 1 (BW)

Landesrecht Baden-Württembetg Gesetz über die Prüfung der Landtagswahlen (Landtagswahlprüfungsgesetz) vom 7. November 1955 (GBl. S. 161) - LWPrG -

440

Gesetzesregister

Geschäftsordnung des Landtags von Baden-Württemberg idF vom 19. April 1972 (GBl. S. 213), geändert durch Gesetz vom 26. April 1989 (GBl. S. 249) - GeschOLandtag —

§18 §19 §20 §22 §33 §34

Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.

2 2 2 2 2 2

Gesetz über den Staatsgerichtshof vom 13. Dezember 1954 (GBl. S. 171) - StGHG -

§ 17 Abs. 2 §44 §45 § 5 2 Abs. 1 §55

Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.

1 (BW) 2 (BW) 2 (BW) 1 (BW) 1, 2 (BW)

Gesetz über Einsetzung und Verfahren von Untersuchungsausschüssen des Landtags idF der Bekanntmachung vom 3. März 1976 (GBl. S. 194), geändert durch Gesetz vom 12. Dezember 1983 (GBl. S. 834) und durch Gesetz vom 11. November 1993 (GBl. S. 605) - UAG -

§ 4 Abs. 2 Satz 2 § 6a §11

Nr. 2 (BW) Nr. 2 (BW) Nr. 2 (BW)

Verfassung des Landes BadenWürttemberg vom 11. November 1953 (GBl. S. 173) — LV -

Art. 31 Art. 32 Abs. 1 Satz 2 Art. 34 Art. 35 Abs. 1 Art. 35 Abs. 1 Satz 1 Art. 35 Abs. 2 Satz 2 Art. 35 Abs. 4 Satz 1 Art. 68 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1

Nr. 1 (BW) Nr. 2 (BW) Nr. 2 (BW) Nr. 2 (BW) Nr. 2 (BW) Nr. 2 (BW) Nr. 2 (BW) Nr. 2 (BW)

§ 12

Nr. 1 (B)

(BW) (BW) (BW) (BW) (BW) (BW)

Berlin Gesetz über die Anerkennung und Versorgung der politisch, rassisch oder religiös Verfolgten des Nationalsozialismus idF vom 21. Januar 1991 (GVB1. S. 38) PrVG — Gesetz über den Verfassungsgerichtshof vom 18. November 1990 (GVB1. S. 2246; GBAB1. S. 510) - VerfGHG -

40 Abs. 2 Nr. 1 40 Abs. 2 Satz 2 40 Abs. 3 Nr. 1

Nr. 5 (B) Nr. 5 (B) Nr. 5 (B)

441

Gesetzesregister Landeswahlgesetz vom 25. September 1987 (GVB1. S. 2370) - LWahlG -

5 12 513

Nr. 5 (B) Nr. 5 (B)

§ 34

Nr. 5 (B)

Landeswahlordnung vom 8. Februar 1988 (GVB1. S. 373) - LWahlO -

§35 § 38

Nr. 5 (B) Nr. 5 (B)

Verfassung von Berlin vom 23. November 1995 (GVB1. S. 779) - VvB -

Art 6 Art. 7

Nr. 4 (B) Nr. 4 (B)

Art. Art. Art. Art. Art. Art.

Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.

8 10 Abs. 1 11 15 Abs. 1 15 Abs. 4 23 Abs. 1

4 (B) 1 (B) 1 (B) 3 (B) 4 (B) 2 (B)

Brandenburg Amtsordnung für das Land Brandenburg idF der Bekanntmachung vom 10. Oktober 2001 (GVB1.1 S. 188) - AmtsO -

§ 2 Abs. 1 K 3 Abs 1 \3^ 1 ^

2

Nr. 5 (Bbg) Nr 7 (Bbg) ^ g

§ 5 Abs. 4

Nr. 3 (Bbg)

Gemeindeordnung für das Land Brandenbürg idF der Bekanntmachung vom 10. Oktober 2001 (GVB1.1 S. 154) mit späteren Änderungen - GO —

§ 54d

Nr. 7 (Bbg)

Gesetz zur Ausführung des Bundessozialhilfegesetzes idF der Bekanntmachung vom 26. Juli 2000 (GVB1.1 S. 126) - AGBSHG —

§ 4 Abs. 2 * 4 A b s 3 Sat2 x |4 A b s 3 S a t 2 2

Gesetz zur Beseitigung des strukturellen Ungleichgewichts im Haushalt 2000 vom 28. Juni 2000 (GVB1.1 S. 90) - Haushaltsstrukturgesetz - HStrG 2000 -

Art. 20 Nr. l b Art. 20 Nr. l c

Nr. 1 (Bbg) Nr. 1 (Bbg)

Gesetz zur Regelung der Zuweisungen des Landes Brandenburg an die Gemeinden und Landkreise im Haushaltsjahr 2001 vom 19. Dezember 2000 (GVB1.1 S. 166) — Gemeindefinanzierungsgesetz 2001 — GFG 2001 -

§ 26

Nr. 7 (Bbg)

Nr. 1 (Bbg) x (ßbe) ^ Nr j Nr

442

Gesetzesregister

Gesetz über das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg idF der Bekanntmachung vom 22. November 1996 (GVB1.1 S. 344) mit späteren Änderungen — Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg - VerfGGBbg -

§ 13 Abs. 1 r 20 Abs 1 Satz 2 32 Ah$

? Sat2 2

§ 45 Abs. 2 Satz 1 § 51 Abs. 1 § 51 Abs. 1 Satz 2

Verfassung des Landes Brandenburg vom 20. August 1992 (GVB1.1 S. 298) mit späteren Änderungen - LV -

Art 2 Abs 5 A r t 5 Abs; 2 Sat2 1

^

6 Abs.

j

Art. Art. Art. Art. Art. Art.

9 Abs. 1 Satz 2 9 Abs. 1 Satz 3 10 11 Abs. 1 11 Abs. 2 15 Abs. 1

Nr. 1 (Bbg) Nr. 9 (Bbg) Nr. 2, 4 (Bbg) Nr. 2, 6 (Bbg) Nr. 8 (Bbg) Nr. 9 (Bbg) Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.

3 (Bbg) 10 (Bbg) 12 (Bbg) 14 (Bbg) 14 (Bbg) 10 (Bbg) 10 (Bbg) 10 (Bbg) 10, 13

Art. 97 Abs. 2

(Bbg) Nr. 10, 13 (Bbg) Nr. 10 (Bbg) Nr. 2, 6 (Bbg) Nr. 6,14 (Bbg) Nr. 11 (Bbg) Nr. 12 (Bbg) Nr. 8 (Bbg) Nr. 8 (Bbg) Nr. 3, 5, 7, 8 (Bbg) Nr. 3, 5

Art. 97 Abs. 3 Art. 98 Abs. 1

(Bbg) Nr. 1 (Bbg) Nr. 3, 8

Art. 15 Abs. 2 Art. 41 Abs. 1 Art. 52 Abs. 3 Art. 52 Abs. 4 Satz 1 Art. Art. Art. Art. Art.

53 Abs. 2 53 Abs. 4 55 Abs. 2 67 Abs. 1 97 Abs. 1

Art. 98 Abs. 2 Art. 100

(Bbg) Nr. 5, 7, 8 (Bbg) Nr. 8 (Bbg)

Gesetzesregister

443

Bremen Gesetz über den Staatsgerichtshof vom 18. Juni 1996 (Brem.GBl. S. 179; Sa BremR 1102-a-l) - BremStGHG -

§ 24

Nr. 1 (HB)

Gesetz zur Sicherung der Sanierung des Landes Bremen vom 21. Dezember 1999 (Brem.GBl. S. 303; SaBremR 63-k-l)

Art. 1 Nr. 8

Nr. 1 (HB)

Gesetz zur Übertragung von Aufgaben staatlicher Förderung auf juristische Personen des privaten Rechts vom 26. Mai 1998 (Brem.GBl. S. 134; SaBremR 63-i-l) BeleihungsG —

§1 g2 y

Nr. 1 (HB) Nr. 1 (HB) Nr 1 (HBI

Haushaltsordnung der Freien Hansestadt Bremen vom 25. Mai 1971 (Brem.GBl. S. 143; SaBremR 63-c-l) - LandeshaushaltsOrdnung — LHO —

§ 23 §44 Abs 1 § 4 4 Abs 3

Nr. 1 (HB) Nr 1 (HB) Nr 1 (HB)

Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen vom 21. Oktober 1947 (Brem.GBl. 1947, S. 251; SaBremR 100-a1) - BremLV '

Art. 65 gg ^ 6? Abg

Nr. 1 (HB) 1 (HB) N r t (HB) ' Nr. 1 (HB) Nr. 1 (HB) Nr. 1 (HB) Nr. 1 (HB) Nr. 1 (HB) Nr. 1 (HB) Nr. 1 (HB) Nr. 1 (HB)

Art. Art. Art. Art. Art. Art. Art. Art.

2

101 Abs. 1 105 Abs. 4 118 120 127 131 132 140

Hessen Gesetz über den Staatsgerichtshof des Landes Hessen vom 19. Januar 2001 (GVbl. I S. 28) - StGHG K '

§ 19 26 r

§ 42 § 43 Abs. 1 Satz 1 § 43 Abs. 1 Satz 2 § 43 Abs. 2 § 43a

Nr. 1 (He) Nr 4 (He) XT ' . , „ { Nr. 1 (He) Nr. 1, 2, 5 (He) Nr. 2, 3 (He) Nr. 1, 2, 5 (He) Nr. 2 (He)

444

Gesetzesregister

Hessisches Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung idF vom 31. März 1992 (GVB1.1 S. 174, 284), zuletzt geändert durch Gesetz vom 6. September 2002 (GVB1.1, S. 546) - HSOG Verfassung des Landes Hessen vom 1Dezember 1946 (GVB1. 1946 S. 229) - HV

§ 26

Nr. 4 (He)

Art. 1 3

Nr

Art. Art. Art. Art. Art.

Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.

Art

63 73 78 131 Abs. 1 131 Abs. 3

Nr. 1 (He) 5 (He) 2 (He) 1 (He) 1 (He) 2 (He) 2 (He)

Mecklenburg-Vorpommern Gesetz über das Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern vom 19. Juli 1994 (GVOB1. 1994 S. 734) idF vom 28. Oktober 1997 (GVOB1. S. 546) - LVerfGG -

Gesetz zum Schutz des Bürgers beim Umgang mit seinen Daten vom 24. Juli 1992 (GVOB1. S. 487) - DSG M-V Verfassung des Landes MecklenburgVorpommern vom 23. Mai 1993 (GVOB1. S. 371) idF vom 4. April 2000 (GVOB1. S. 1 5 8 ) - L V -

§ 11 K 11 Abs 1 Nr 1 » ' ' ^ §32 Abs. 1 § 33 Abs. 2 § 35 ff § 36 Abs. 1 § 36 Abs. 2 § 36 Abs. 3 §3

Nr. 1,2 (MV) Nr. 1,2 (MV) Nr. 1,2 (MV) Nr. 1,2 (MV) Nr. 1, 2 (MV) Nr. 2 (MV) Nr. 2 (MV)

Art. Art. Art. Art. Art. Art. Art. Art. Art. Art. Art. Art. Art.

Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.

2 3 Abs. 1 Satz 2 5 Abs. 3 6 Abs. 1 6 Abs. 1 Satz 1 6 Abs. 2 6 Abs. 4 20 Abs. 1 22 22 Abs. 1 22 Abs. 2 25 Abs. 2 40

Nr. 1 (MV) Nr 1 2 (MV) ' ' ' l

j

2 (MV) 2 (MV) 2 (MV) 2 (MV) 2 (MV) 2 (MV) 2 (MV) 2 (MV) 1,2 (MV) 1 (MV) 1 (MV) 1 (MV) 2 (MV)

Gesetzesregister Art. Art. Art. Art. Art.

40 Abs. 40 Abs. 40 Abs. 40 Abs. 53 Abs.

445 1 1 Satz 1 3 4 1 Nr. 1

Nr. 2 (MV) Nr. 2 (MV) Nr. 2 (MV) Nr. 2 (MV) Nr. 1,2 (MV)

Saarland Gesetz Nr. 645 über den Verfassungsgerichtshof des Saarlandes idF der Bekanntmachung vom 6. Februar 2001 (Amtsbl. S. 582) - VerfGHG -

§ 9 Nr. 5 § 39 § 40

Nr. 1 (SL) Nr. 1 (SL) Nr. 1 (SL)

Verfassung des Saarlandes vom 15. Dezember 1947 (Amtsbl. S. 1077), zuletzt geändert durch Gesetz Nr. 1478 vom 5. September 2001 (Amtsbl. S. 1630) SVerf-

Art. 97 Nr. 1 Art. 66 Abs. 2 Satz 1

Nr. 1 (SL)

Art. 3 Abs. 1 Art. 3 Abs. 2 Art. 70 Abs. 1 Art. 71 Abs. 2 Satz 3 Art. 72 Abs. 1 Art. 73 Abs. 1 Art. 93 Art. 94 Art. 95 Art. 103 Abs. 1

Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.

§ 2 Nr. 6 § 2 Nr. 7 § 21 Abs. 2

Nr. 1 (SA) Nr. 2 (SA) Nr. 2 (SA)

Sachsen Verfassung des Freistaates Sachsen vom 27. Mai 1992 (GVB1. S. 243) - SachsVerf -

1 (S) 1 (S) 1 (S) 1 (S) 1 (S) 1 (S) 1 (S) 1 (S) 1 (S) 1 (S)

Sachsen-Anhalt Gesetz über das Landesverfassungsgericht vom 23. August 1993 (LSA-GVB1. 1993 S. 441) - LSA-VerfGG -

446

Gesetzesregister § 31 Abs. 1 § 32 Abs. 2 § 42 § 43 § 47

Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.

Gesetz zur Einführung der Grundschule mit festen Öffnungszeiten vom 24.11.2000 (LSA-GVB1., S. 656) - LSA-GrdSchÖffzG -

2 (SA) 2 (SA) 1 (SA) 1 (SA) 2 (SA)

Nr. 2 (SA)

Kommunalabgabengesetz Sachsen-Anhalt idF vom 15. August 2000 (LSA-GVB1. 2000 S. 526) - KAG-LSA -

§ 6 Abs. 6a

Nr. 1 (SA)

Schulgesetz des Landes Sachsen-Anhalt (idF d. Bek. vom 27. August 1996 (LSAGVB1. S. 281), zuletzt geändert durch Gesetz vom 13. Januar 2000 (LSA-GVB1. S. 108) und vom 18. Januar 2000 (LSAGVB1. S. 112) -LSA-SG -

§4 § 36

Nr. 2 (SA) Nr. 2 (SA)

Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt vom 16. Juli 1992 (LSA-GVB1. S. 600) LVerfG -

Art. 2 Abs. 1 n Abs. !

Nr. 1, 2 (SA) N r . 2 '(SA)

Art

Art. Art. Art. Art.

29 Abs. 1 75 87 Abs. 1 88 Abs. 3

Nr. Nr. Nr. Nr.

2 (SA) 1, 2 (SA) 1 (SA) 1 (SA)

Thüringen

Gesetz über den Thüringer Verfassungsgerichtshof vom 28. Juni 1994 (GVB1. S. 781) - ThürVerfGHG -

§ 28 Abs. 1 § 2 9 Abs. 1 § 31 A b s

Sat2

j

§ 31 Abs. 1 Satz 2 § 31 Abs. 3 Satz 1 § 31 Abs. 3 Satz 2 Thüringer Gesetz zur Hilfe und Unterbringung psychisch Kranker vom 2. Februar 1994 (GVB1. S. 81) - ThürPsychKG -

§ 1 Abs. 3 s- j j 4 § M Ah&

t Sat2 2

§ 31 Abs. 3

Nr. 1 (Thür) Nr. 1 (Thür) ^ ^ Nr 1 Nr. 1 (Thür) Nr. 1, 2 (Thür) Nr. 1 (Thür) Nr. 1 (Thür) ]\j r j (Thür) ! ^ Nr. 1 (Thür)

Gesetzesregister

447

Verfassung des Freistaats Thüringen vom 25. Oktober 1993 (GVB1.S. 6 2 5 ) - T h ü r -

Art. 1 Abs. 1 Art. 2 Abs. 1

Nr. 2 (Thür) Nr. 2 (Thür)

V e r f _

Art. Art. Art. Art. Art. Art.

Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.

3 Abs. 2 4 Abs. 1 6 Abs. 1 42 Abs. 5 Satz 1 44 Abs. 1 Satz 2 88 Abs. 1 Satz 1

2 (Thür) 1 (Thür) 1 (Thür) 1 (Thür) 2 (Thür) 1, 2 (Thür)

Verzeichnis der Verfassungsgerichte der Länder (Stand: März 2004) 1. Staatsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg Postfach 10 36 53, 70031 Stuttgart Ulrichstraße 10, 70182 Stuttgart Tel.: 0711 / 212-30 26 Fax: 0711 / 212-30 24 2. Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin Elßholzstraße 30-33 10781 Berlin Tel.: 030 / 90 15 26 52 Fax: 030 / 90 15 26 66 E-mail: [email protected] www.berlin.de/Verfassungsgericht 3. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg Allee nach Sanssouci 6 14471 Potsdam Tel.: 0331 / 9 83 81 02 Fax: 0331 / 9 67 93 18 www. verfas sungsgericht. brandenburg.de 4. Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen Osterdeich 17 28203 Bremen Tel.: 0421 / 36 12 190 Fax: 0421 / 36 14 172 5. Hamburgisches Verfassungsgericht Sievekingplatz 2 20355 Hamburg Tel.: 040 / 42 843 0 Fax: 040 / 42 843 40 97 www.hamburg.de/StadtPol/Gerichte/VerfG/welcome.htm 6. Staatsgerichtshof des Landes Hessen Mühlgasse 2, 65183 Wiesbaden Tel.: 0611 / 32 27 38 Fax: 0611 / 32 26 17 www.staatsgerichtshof/hessen.de

450

Verzeichnis der Verfassungsgerichte der Länder

7. Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern Domstraße 7 17489 Greifswald Tel.: 03834 / 89 06 61 Fax: 03834 / 89 06 62 8. Niedersächsischer Staatsgerichtshof Herminenstraße 31 31657 Bückeburg Tel.: 05722 / 29 02 18 Fax: 05722 / 29 02 17 Email: [email protected] www.staatsgerichtshof.niedersachsen.de 9. Verfassungsgerichtshof des Saarlandes Franz-Josef-Röder-Straße 15 66119 Saarbrücken Tel.: 0681 / 501 52 36 und 501 53 50 Fax: 0681 / 501 53 51 Email: [email protected] 10. Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen Postfach 10 09 64, 04009 Leipzig Harkortstraße 9, 04107 Leipzig Tel.: 0341 / 21 41 0 Fax: 0341 / 21 41 250 11. Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt Postfach 14 26, 06813 Dessau Willy-Lohmann-Straße 29, 06844 Dessau Tel.: 0340 / 202 14 51 Fax: 0340 / 202 15 60 12. Thüringer Verfassungsgerichtshof Postfach 23 62, 99404 Weimar Kaufstraße 2-4, 99423 Weimar Tel.: 03643 / 206 0 Fax: 03643 / 206 224 Email: [email protected] www.thvergh.thueringen.de