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German Pages 176 [177] Year 1993
SLAWISTIK oc Band 37-1992
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Akademie Verlag ISSN 0044-3506
Z. Slaw., Berlin 37 (1992) 3, 317^188
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Herausgeber
ZEITSCHRIFT FUR
SLAWISTIK 1992
BAND 37
Institut für Slawistik der Humboldt-Universität zu Berlin Abteilung Slavistik des Osteuropa-Instituts der Freien Universität Berlin HERAUSGEBER K. Gutschmidt, W. Kosny, U. Lehmann, K. D. Seemann
AKADEMIE VERLAG
HEFT 3
Die 1956 als Fachorgan für deutsche und internationale slawistische Forschung gegründete Zeitschrift veröffentlicht Untersuchungen zu Sprachen und Literaturen, zur Volkspoesie und Kulturgeschichte der slawischen Völker in Vergangenheit und Gegenwart. Besondere Aufmerksamkeit gilt den deutsch-slawischen sprachlichen, literarischen und kulturellen Wechselbeziehungen in europäischen Zusammenhängen, der Namenforschung, Baltistik, Sorabistik und Geschichte der Slawistik. Tagungsberichte informieren über wichtige wissenschaftliche Konferenzen. Rezensionen vermitteln einen Einblick in aktuelle Tendenzen und Entwicklungen der internationalen slawistischen Forschung. Rezensionsangebote an Prof. Dr. U. Lehmann, Institut für Slawistik, Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, PF-Nr. 1297, D-0-1086 Berlin, Fernruf 20 9322.
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Z. Slaw. 37 (1992) 3, 319-320
Milan K o p e c k y
Zum Jubiläum Nicodemus Frischlins aus tschechischer Sicht 1990 war des 400. Todestages des hoch gebildeten und literarisch fruchtbaren deutschen Humanisten Nicodemus Frischlin (1547—1590) zu gedenken. In seiner Biographie spielt die bekannte Tatsache eine Rolle, daß er gegen Ende des Jahres 1586 in Prag weilte, aber es wäre schade, wenn bei seiner Einschätzung eine neue Feststellung nicht beachtet werden würde, die unsere bisherigen Kenntnisse der tschechisch-deutschen literarischen Gegenseitigkeit erweitert. Einer der tschechischen Übersetzer oder eher schöpferischen Bearbeiter deutscher Stoffe war Tobias Moufenin aus Litomysl (geboren um 1555, gestorben nach 1625), dem ich in der Zeitschrift für Slawistik in den Studien Zu den deutschen Einflüssen auf die tschechische dramatische Literatur der Renaissance (25-1980,357—362) und Zur tschechischen Adaptation zweier deutscher Sujets (28—1983, 880-888) Aufmerksamkeit gewidmet habe. Dieser Schriftsteller verfaßte unter anderem das Werk „Zivot a putovani: O velikém sv. Krystoforu, kterak se jemu od mladosti az do skonäni svéta vedlo, s upfimnym napomenutim kratochvilné sepsano a z cizich v ceské rytmy uvedeno" (Das Leben und Wandern: Vom Großen hl. Christoffels ...), das 1601 in der Prager Druckerei Daniel Sedlcanskys gedruckt wurde, woher auch einige weitere Schriften Moufenins stammen. In der Zeit, als meine Vorbereitungsarbeiten zu der kritischen Edition von Moufenins Werken sich ihrem Ende zuneigten, machte mich Petr Voit aus der Staatsbibliothek der CSFR in Prag auf die erwähnte Schrift sowie auf ihre Vorlage aufmerksam. Auf eine deutsche Vorlage wiesen nicht nur die Titelformulierung sowie die Schaffensmethode Moufenins hin, sondern auch manche lexikalische Germanismen. In Betracht kam eine Reihe von Schriften über den Heiligen, der in Deutschland einerseits als Schutzpatron gegen den jähen Tod in der Zeit der Pest, andererseits als Schutzpatron der Fährleute und Schiffer, der Pilger und Wandersieute, sowie der Träger von schweren Lasten verehrt wurde. Aufgrund von Moufenins Titel bot sich als wahrscheinliche Vorlage die Schrift Sant Christoffs Gepurt und Leben mit viel Figuren gar lustig zu lesen in Reym Weyhs (Landshut 1520) an, es zeigte sich jedoch, daß das Unikatsexemplar der Staatsbibliothek in München in ihren Fonds heutzutage unauffindbar ist und daß es wahrscheinlich abhanden gekommen war. Die tatsächliche Vorlage ist die Schrift von Nicodemus Frischlin Vom Leben, Raisen, Wanderschaften und Zuständ des Grossen S. Christoffels (1591, 2. Ausgabe 1596). Mourenin ersetzte Frischlins achtsilbigen Vers durch elfsilbigen, ebenso wie in seiner Bearbeitung der Sage über den Hörnernen Siegfried (1615), und übersetzte ähnlich wie in dieser verhältnismäßig lose, wenn er auch die Handlungsfolge und die Komposition seiner Vorlage respektierte. Im tschechischen Text gibt es nur eine einzige Abweichung, u. zw. das Kapitel über Christoffels Dienst beim Mälzer. Ansonsten folgt Moufenin seiner Vorlage in Teilthemen, die sich nicht auf die traditionelle Legende stützen, die ihre klassische Form schon im 13. Jahrhundert im Komplex der Legenda aurea erreicht hat. Der Grundgedanke von Christoffels Suche nach einem Herrn, den er tatsächlich verehren könnte, wird um verschiedenes Milieu erweitert; so kommt Christoffel ins Kloster, zu Buchdruckern, er dient bei einem „Dorff Schultheiß, Gremp, Handwerksmann, Wirt, Kriegsmann, Waldförster, Apotecker, Keller", bei einem Rechtsanwalt, in einer Kanzlei, arbeitet als Krämergesell, bei einem wucherischen Bürger, bei einem Meßpfaffen. Zwischen die Kapitel über den Dienst bei einem Handwerker und bei einem Wirte fügte Moufenin das (der Reihenfolge nach sechste) Kapitel über den Dienst beim Mälzer ein, das er wahrscheinlich aus einer bisher nicht festgestellten Version übernommen haben dürfte, denn dieses Kapitel unterscheidet sich von den übrigen in keiner Weise und scheint auch nicht den Eindruck einer selbständigen Bearbeitung zu machen. 21'
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Vom Standpunkt der älteren tschechischen Literatur aus ist Mourenins Schrift sowohl in kulturhistorischer als auch in ideologisch-künstlerischer Hinsicht von Bedeutung. Wir lernen hier verschiedene, meist weltliche Stände und Professionen kennen, zu denen Christoffel mit dem Vertrauen herantritt, hier einen gerechten Herrn sowie eine sinnvolle Arbeit zu finden; er wird aber jedesmal von seinem Herrn oder von dessen Untergeordneten enttäuscht. Auf unsittliche Praktiken reagiert er so, daß er in der Regel seinen Herrn und dessen Mitarbeiter kritisiert und sich in ein anderes Milieu begibt, wo ihn dann die gleiche Enttäuschung erwartet. Dadurch ist Christoffel manchen Pilgern und personifizierten Abstrakten der älteren Literatur ähnlich, die in verschiedenen Wanderungen, Spekula und Labyrinthen auftreten. Dem Pilger der späteren Schrift von Komenskys Labyrinth der Welt, der verschiedene Stände der Welt durchwandert und Ruhe im Paradies des eigenen Herzens findet, nähert sich Christoffel am meisten; allerdings ist er realistischer, seine Wanderung ist nicht allegorisch. Vom Standpunkt der Kritik gesellschaftlicher Mißstände aus hat Mourenins Schrift bestimmte Analogien in den vorhussitischen Satiren über Handwerker und Ratsherren, wenn auch der kritische Charakter hier nicht Ziel ist, sondern ein Mittel, den Helden in die Nähe des wahren Sinnes des Lebens zu rücken. Mourenins Schrift ist wertvoll als Beleg der Verweltlichung eines ursprünglich legendarischen Stoffes. Obwohl die tschechische Literatur bis zu der Zeit der Schlacht am Weißen Berge nicht über die deutsche Heterogenität des Christofferschen Stoffes verfügt, so kann doch Mourenins Schrift, die genremäßig ein hybrides biographisch-legendäres Gebilde darstellt, für seine spätere Entwicklungsphase gehalten werden. Die Hauptgestalt hat ausgeprägte volkstümliche Züge, ebenso wie die Züge der Apostel in den Osterstücken von Simon Lomnicky aus Budec und der Heiligen in den späteren halbvolkstümlichen und volkstümlichen Stücken aus der Zeit nach der Schlacht am Weißen Berge und aus der Epoche der nationalen Wiedergeburt. Ebenso wie Lomnicky den biblischen Stoff nach Südböhmen lokalisiert, so bohemisiert Mourenin den legendären Stoff durch eine Reihe tschechischer Personennamen und einige einheimische Volkssprüche. Es muß jedoch betont werden, daß im Unterschied zu der volkstümlichen Gestalt Christoffers der Einsiedler (der im letzten Teil der Schrift auftritt) vollkommen traditionsmäßig als Asket und Moralisator aufgefaßt ist. Die Verweltlichung des religiösen Stoffes ist also nicht vollständig. Aus der Durchdringung von Weltlichkeit und Religiosität sowie von Biographie und Legende sowie Pilgertum tritt Mourenin eher als manieristischer denn als Schriftsteller der Renaissance hervor. Die kritische Ausgabe von Mourenins Adaptation der Schrift Frischlins bringt mein Sammelband des dichterischen Schaffens von Tobias Mourenin im Verlag Academia, Prag 1993. Anschrift des Verfassers: Prof. Dr. Milan Kopecky, Philosophische Fakultät der Masaryk-Universität, A. Novaka 1, 602 00 Brno CSFR
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Friedhilde K r a u s e
Zur Prägung des Bulgarienbildes während des Russisch-türkischen Krieges durch die Leipziger „Illustrierte Zeitung". Johann Jakob Weber und Felix Philipp Kanitz Am 25. Februar 1988 fand anläßlich des 110. Jahrestages der Befreiung Bulgariens von der türkischen Fremdherrschaft im Bulgarischen Kulturinstitut in Berlin die Eröffnung einer originellen Ausstellung zum Thema „Russisch-türkischer Krieg 1877/78" statt. Die Autorin dieses Beitrages hatte aus der Leipziger „Illustrierten Zeitung" eine größere Anzahl von Zeichnungen über die russisch-türkischen Kriegsereignisse der Jahre 1877/78 auf bulgarischem Boden ausgewählt und ihr Sohn, der Bildjournalist Manfred Krause, von diesen Vorlagen vergrößerte Reproduktionen für die Ausstellung hergestellt. Erstmalig wurden hier in dieser Form einmalige Zeitdokumente über historische Vorkommnisse dieses Befreiungskrieges gezeigt und auf das freundschaftliche Zusammenwirken des Verlegers Johann Jakob Weber und des Balkanexperten Felix Philipp Kanitz zur Verbreitung von Kenntnissen über das bulgarische Volk aufmerksam gemacht.1 Dem Leipziger Buchhändler und Verleger Johann Jakob Weber (1803-1880) gebührt das Verdienst, mit der „Illustrierten Zeitung" die erste illustrierte Wochenzeitschrift in Deutschland ins Leben gerufen zu haben.2 Als Sohn eines Leinewebers in Basel geboren, dort auch seit 1818 als Buchhändler ausgebildet, gelangte Johann Jakob Weber nach mehreren Zwischenstationen seiner Tätigkeit in Buchhandlungen und Verlagen verschiedener Städte nach Leipzig. 3 Hier übernahm er 1830 die Leitung der vom Pariser Verleger Père Bossange errichteten Filiale. Weber begeisterte die Idee von Charles Knight, der damals in London ein „Penny-Magazin" herausgab. Der junge Buchhändler überredete seinen französischen Chef zur Herausgabe einer ähnlichen illustrierten Wochenschrift, und so erschien am 4. Mai 1833 im Verlag von Bossange „Das Pfennig-Magazin". Im Geleitwort für die erste Nummer schrieb Weber: „Die Verbreitung nützlicher Kenntnisse ist das schönste Geschenk, das man seinem Jahrhundert machen kann." 4 Er versprach seinen Lesern, daß er ebensoviel Sorgfalt auf die äußere Gestalt, wie auch den Inhalt seines Magazins legen würde und daß es ihm vor allem darauf ankäme, sauber gearbeitete Abbildungen dem Leserpublikum vorzuführen. Bossanges Magazin fand bei den Lesern einen solchen Anklang, daß es bereits im Dezember 1833 in einer Auflage von 30000 Exemplaren erschien.5 Das „Pfennig-Magazin" war aber nicht mit der späteren „Illustrierten Zeitung" zu vergleichen. Ihm fehlte jeder leitende Gedanke; auch waren die Bilder planlos zusammengestellte Motive aus England, da die Klischees aus England stammten. Das Blatt war dadurch vorwiegend englisch ausgerichtet; ihm fehlte der nationale Charakter. Seit 1847 war der Brockhaus-Verlag dann Alleinbesitzer des „Pfennig-Magazins". Trotz dieser geschilderten Mängel spielt das „Pfennig-Magazin" eine große Rolle im Leben von J. J. Weber, ist es doch der Vorläufer seiner berühmten „Illustrierten Zeitung" geworden, die von 1843 bis 1942 erschienen ist. 1834 erwarb Weber das Bürgerrecht von Leipzig. Obwohl er es zu großem Ansehen in der
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Zlateva, Minka: Kolumb na Balkanite. Berlin. Specialno za „ABV". - In: A B V 10 (1988) 27. - S. 8. Salomon, Ludwig: Geschichte des deutschen Zeitungswesens von den ersten Anfingen bis zur Wiederaufrichtung des Deutschen Reiches. Bd. 1-3. - Oldenburg; Leipzig, 1900-1906. - Bd 3. - 1906. S. 530-532. Weber, Wolfgang: Johann Jakob Weber. Ein Beitrag zur Familiengeschichte. - Leipzig, 1928. - 199 S. Ebenda. - S. 12. Ebenda. - S. 10.
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Messestadt gebracht hat und in der Leipziger Kommunalgarde bis zum Leutnant avanciert ist, blieb er doch zeitlebens ein begeisterter Vertreter seiner schweizerischen Heimat. 1867 wurde er zum Konsul der Schweizerischen Eidgenossenschaft für das Königreich Sachsen und die Thüringischen Herzog- und Fürstentümer ernannt. Mit dem erworbenen Bürgerrecht von Leipzig konnte sich J. J . Weber 1834 selbständig machen. Er gründete in der Nicolaistraße in Leipzig unter seinem Namen eine Verlagsbuchhandlung, ließ bei Brockhaus drucken, bis er 1860 eine Druckerei für die eigenen Verlags werke errichtete. Nach Webers Tod am 16. März 1880 führten seine Söhne die Firma fort. Sein Enkel, Dr. Wolfgang Weber, hat uns in der Biographie von J. J. Weber die meisten Titel genannt, die von seinem Großvater in den Jahren 1835 bis 1880 verlegt worden sind.6 Für uns ist es wichtig, festzustellen, daß Weber schon früh illustrierte Werke herausbrachte. Im Februar 1840 verlegte er die erste Lieferung der als Subskriptionswerk vertriebenen „Geschichte Friedrich des Großen" von Franz Kugler, die insgesamt mit 400 Originalzeichnungen des damals noch jungen Adolf Menzel (geb. 1815) ausgestattet wurde. Menzel zeichnete in Bleistift mit härtester Gradnummer auf die mit dünnem Weiß grundierte Buchsbaumplatte. Die Holzschneider hatten dann diese Zeichnungen möglichst originalgetreu als Holzschnitt zu fertigen. Die gleiche Verfahrensweise wurde später auch bei den Illustrationen für die „Illustrierte Zeitung" angewendet. Menzel protestierte gegen eine fabrikmäßige Anfertigung der Holzschnitte in Paris, und so gewann Weber deutsche Holzschneider in Berlin und Leipzig, die des Künstlers Zeichnungen aufs getreueste im Holzschnitt wiedergaben. Weber überwachte selbst mit großer Sorgfalt die Herausgabe jeder Lieferung, bis das gesamte Werk Ende 1840 gedruckt vorlag. Das Buch erlebte eine große Reihe von Auflagen 7 und bis in jüngste Zeit Reprints. In England, Holland und Rußland erschienen Übersetzungen. Weber wurde die preußische Medaille für Kunst und Wissenschaft verliehen. Noch heute gilt der „Kugler-Menzel" als eines der herrlichsten Holzschnittwerke des 19. Jahrhunderts. Mag auch sein Inhalt durch neuere Forschungen in vielem überholt sein, der Bildteil bleibt unübertroffen. Der Erfolg des „Kugler" gab der Verlagstätigkeit Webers einen gewaltigen Auftrieb. Unter den zahlreichen Titeln, die er in den Jahren 1840 bis 1850 verlegte, soll das vierbändige monumentale Werk des Leipziger Professors Eduard Pöppig „Illustrierte Naturgeschichte des Tierreichs", erschienen 1847 bis 1848, erwähnt werden, das er mit über 4000 Abbildungen in vorzüglichen Holzschnitten ausstattete. Für die ungeheure Arbeit, die in diesem Werk von Pöppig verlegerischerseits steckt, wurde Weber durch den Kaiser Franz Josef von Österreich mit der Medaille für Kunst und Wissenschaft ausgezeichnet. Die größte Tat Johann Jakob Webers war jedoch die „Illustrierte Zeitung", deren erste Nummer er an einem Sonnabend, dem 1. Juni 1843, herausbrachte. Seine illustrierte Wochenschrift erschien seitdem jeden Sonnabend. Fast zur gleichen Zeit waren auch in England und in Frankreich groß angelegte illustrierte Zeitschriften erschienen, so in England seit 1842 die „Illustrated London News", in Frankreich die 1843 gegründete „Illustration". Weber hat jedoch persönlich für sein Vorhaben bedeutend mehr Unternehmergeist und Risikofreude aufbringen müssen, um den vielen unterschiedlichen Pressegesetzen, Zensur- und Zollbestimmungen der Dutzenden von Staaten und Ländchen in Deutschland zu begegnen und bei der verhältnismäßig geringen Kaufkraft des deutschen Lesepublikums seine Zeitschrift abzusetzen, als es seine Verlegerkollegen in London
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Ebenda. - S. 15-20; 32-40; 83-87; 107-109; 112; 118-119. 1920 erschien eine Neuauflage der ersten Ausgabe des „Kugler-Menzel" bei E. A. Seemann; gedruckt wurde von den Originalholzstöcken. 1986 erschien in München als „Exklusiv-Ausgabe" in der Reihe „Edition deutsche Bibliothek" bei Hilliast die letzte und bekannte Ausgabe.
F. KRAUSE, Zur Prägung des Bulgarienbildes durch die Leipziger „Illustrierte Zeitung"
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und Paris bei dem Absatz ihrer Illustrierten in wirtschaftlich und politisch geeinten Staaten, mit einheitlichen Grenzen, einheitlicher Gesetzgebung und Währung aufwenden mußten. Für den Bilderteil der „Illustrierten Zeitung" mußten zunächst Klischees vor allem aus dem Ausland beschafft werden. Daneben druckte Weber schon von der ersten Nummer an in Deutschland angefertigte Holzschnitte. Diese stellten zunächst einige in Leipzig tätige Engländer her. Da sich diese aber ihre Arbeit sehr teuer bezahlen ließen, veranlaßte J. J. Weber den ihm befreundeten Holzschneider Eduard Kretzschmar — dieser hatte bereits nach Zeichnungen Menzels für den „Kugler" Holzschnitte angefertigt - , seine xylographische Anstalt in Leipzig zu erweitern, so daß diese schließlich 40 bis 50 Holzschneider, hauptsächlich für die „Illustrierte Zeitung" beschäftigte. 1858, nach dem Tode von Kretzschmar, übernahm Weber die xylographische Anstalt. 1849 gründete Weber ein „artistisches Institut", d. h. ein Zeicheninstitut, bei seinem Verlag, das unter Leitung von Robert Kretzschmar, die Zeichner zusammenfaßte und betreute. Sechs Monate nach Erscheinen der 1. Nummer, also Ende 1843, hatte die „Illustrierte Zeitung" bereits eine Auflage von „ 7 5 0 0 Exemplaren".8 Im Laufe der Jahre gelangte diese illustrierte Wochenschrift zu immer größerer Vollkommenheit und Verbreitung. Anläßlich des Erscheinens des 50. Bandes der „Illustrierten Zeitung" wurde Weber durch den Kaiser von Österreich in Anerkennung seiner Verdienste als Herausgeber der Zeitschrift, „als eines nationalen Werkes von hoher Bedeutung", mit dem Ritterkreuz des Franz-Joseph-Ordens ausgezeichnet.9 Etwa seit 1855 beschäftigte Weber für die verschiedensten Gebiete Spezialzeichner. So lieferten Illustrationen aus der Schweiz: C. Käsli-Schultheß, A. d'Aujourdhui, Heinrich Jenni, Gustav Roux; Illustrationen aus Rußland, besonders Petersburg und Moskau: G. Broling; aus Wien: V. Katzler; aus Berlin: H. Lüders, C. E. Doepler, Scheurenberg, Ludwig Buger; internationale Motive — Berlin, Paris, Stockholm, Kopenhagen, Brüssel, Mailand — : Knut Ekwall; aus Paris: Gustav Roux. Besonders zu nennen ist der Zeichner Leo von Elliot, der seit 1856 über drei Jahrzehnte lang Mitarbeiter der „Illustrierten Zeitung" war und vor allem aktuelle Illustrationen aus Belgien schuf. Von ihm stammen insgesamt etwa 250 Zeichnungen.10 Während des preußischdänischen Krieges 1864, des preußisch-österreichischen Krieges 1866 und des deutsch-französischen Krieges 1870 lieferten verschiedene Kriegszeichner von den unmittelbaren Kriegsschauplätzen Illustrationen für Webers „Illustrierte Zeitung". Der bekannteste und waghalsigste unter ihnen war ein Landsmann und Freund Webers, August Beck ( 1 8 2 3 - 1 8 7 2 ) . Als Spezialzeichner und Berichterstatter für Serbien, Bulgarien und Montenegro war seit 1848 Felix Philipp Kanitz ( 1 8 2 9 - 1 9 0 4 ) für die „Illustrierte Zeitung" tätig.11 Sohn eines jüdischen Budapester Fabrikanten, zeigte er als Kind eine große Begabung für Musik. Daneben zeichnete er sehr gut. Durch den Tod seines Vaters mußte er mit 14 Jahren als Lehrling in eine lithographische Werkstatt eintreten. 1847 siedelte die Familie nach Wien über. Ein Jahr später trat er mit Johann Jakob Weber in Verbindung, um vierzig Jahre hindurch dann eifriger und geschätzter Mitarbeiter der „Illustrierten Zeitung" zu bleiben, „ein Mann, der die Feder ebenso trefflich zu fuhren wußte wie den Griffel", was wir später bei Webers Enkel, Dr. Wolfgang Weber, lesen können.12 Zum ersten Mal erwähnt die „Illustrierte Zeitung" den Namen Kanitz in der Nummer vom 1. November 1848, in einer kurzen Notiz, in der berichtet wird, daß sein Beitrag angenommen wurde. Dieser Beitrag erschien in der Nummer vom 30. November 1848 unter dem Titel „Der Brand der Au-
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Weber, Wolfgang: Johann Jakob Weber ... - A. a. O. - S. 40. Ebenda. - S. 77. Ebenda. - S. 90. Ebenda. - S. 77-83. Ebenda. - S. 89.
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gustinerkirche in Wien". Im Auftrage der „Illustrierten Zeitung" unternahm Kanitz größere Reisen in einzelne europäische Länder, und wir finden dann in den folgenden Jahren ständig seine Zeichnungen und Berichte in der Wochenzeitschrift. 1858, als die Kämpfe zwischen Montenegrinern und Türken in einen regelrechten Krieg ausarteten, wurde Kanitz als Berichterstatter der „Illustrierten Zeitung" nach Montenegro geschickt. Die Zeichnungen, die Kanitz von dieser Reise 1858 veröffentlichte, waren weder den kriegerischen Ereignissen noch den politischen Verhältnissen im Lande gewidmet. Sie galten hauptsächlich den Sitten und Gebräuchen der Montenegriner und stellten mit den dazugehörigen Berichten interessante und wichtige Dokumente über dieses kaum bekannte Volk des Balkans dar.13 1859 besuchte Kanitz zum ersten Mal Serbien. Volle 17 Jahre (1859 bis 1876) bereiste er dann ständig Serbien, lernte die Sprache fließend sprechen, besuchte alle Gegenden und sämtliche Persönlichkeiten des serbischen politischen sowie geistigen Lebens, erforschte seine Geschichte, Geographie, Ethnographie und Archäologie und zeichnete viele Tatsachen als erster auf. Seine beiden großen zusammenhängenden Reisebeschreibungen über Serbien erschienen in Buchform 1864 und 1868: die eine über die noch ausschließlich unter türkischer Hoheit stehenden Gebiete von Serbien und Nordbulgarien14, die andere über die Gegenden des eigentlichen Fürstentums Serbien.15 Zoran Konstantinovic bezeichnet die Reisebeschreibung von Kanitz für die „ganze zweite Hälfte des Jahrhunderts" als „die wichtigste Informationsquelle über Serbien".16 Seit 1860 bereiste Felix Philipp Kanitz Bulgarien. Er war der erste, der auf das erwachende Nationalbewußtsein des bulgarischen Volkes hinwies und der überzeugt war, daß die Bulgaren wegen ihrer zahlenmäßigen Stärke und ihrer kulturellen Befähigung berufen seien, eine bedeutende Rolle in der Zukunft auf dem Balkan zu spielen. So schreibt er 1875, also noch vor dem Russischtürkischen Krieg: „Wer immer den Gang der Ereignisse auf türkischem Boden aufmerksam verfolgt, beginnt bereits die bedeutungsvolle Rolle in Erwägung zu ziehen, welche den zwischen Türken, Griechen, Albanesen, Serben und Rumänen eingekeilten, an Zahl aber jede dieser Nationalitäten überragenden Bulgaren zufallen dürfte."17 Und schon während des Russisch-türkischen Krieges verteidigt er in einer Rezension des Buches von Georg Rosen „Die Balkan-Heiduken" (Leipzig, 1877) in der Berliner „National-Zeitung" vom 22. Dezember 1877 die Friedfertigkeit, Intelligenz und Bildungsfähigkeit der Bulgaren und schreibt: „Ein Volk, das so große Freude an der Arbeit findet, welches die besten Maler, Baumeister, Zimmerleute, Brückenkonstrukteure, Gärtner und Ackerbauern der europäischen Türkei liefert, kann von Natur kein räuberisches ... sein." 18 1875 bis 1879 veröffentlichte Kanitz in Leipzig sein dreibändiges Werk „Donau-Bulgarien und der Balkan. Historisch -geographisch-ethnographische Reisestudien aus den Jahren 1860 bis 1879",19 ausgestattet mit 30 Illustrationen im Text, 10 Tafeln und einer ersten präzisen Karte Bulgariens, angefertigt von dem Autor selbst. Dieses Monumentalwerk war eine Pioniertat im 13
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Der erste Bericht von Kanitz „Montenegro und die Herzegovina" erschien ohne seine Unterschrift in der Nr. 773 vom 24. April 1858 der „Illustrierten Zeitung". Weitere Beiträge veröffentlichte er in den Nummern 775, 780, 783, 784, 786, 788, 789, 790, 791 und 796. Der letzte Bericht erschien am 2. Oktober 1858. Reise in Südserbien und Nordbulgarien im Jahre 1864. - In: Denkschrift der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Klasse. Bd. 17 - Wien, 1868. Serbien, historisch-ethnographische Reisestudien aus den Jahren 1859-1868. - Leipzig, 1868. - XXIV, 744 S. Konstantinovic, Zoran: Deutsche Reisebeschreibungen über Serbien und Montenegro. - München, 1960. S. 98 (Südosteuropäische Arbeiten; 56). Vorwort zum 1. Bande der 1. Auflage. - In Kanitz, F.: Donau-Bulgarien und der Balkan. 2. neubearb. Aufl. - Bd 1. - Leipzig, 1882. - S. V. Zitiert nach Kanitz, F.: Donau-Bulgarien ... - Bd 3. - Leipzig, 1882. - S. 179. Vorwort zum 1. Band der 1. Auflage ... A. a. O. - S. VIII.
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wahrsten Sinne des Wortes. Er konnte sich auf keine vorhandenen fremden Vorarbeiten stützen, sondern mußte auf einem „durchaus neuen ... Terrain selbst mühsam erworbene Materialien" verarbeiten. Auf die besonderen Verdienste von Kanitz für die Erschließung Bulgariens dem Leser und Interessenten hat Geza Feher 1935 in einer Studie aufmerksam gemacht.20 Kanitz weckte eine große Sympathie für das „wackere Volk" der Bulgaren, das bis dahin kaum dem Namen nach bekannt gewesen ist. Sein Werk wurde besonders durch die Ereignisse des Russisch-türkischen Krieges und die Gründung des selbständigen Fürstentums Bulgarien zur richtungsgebenden Informationsquelle für Politiker, Presse und öffentliche Meinung. Seine Karte Bulgariens diente den russischen Heerführern während des Krieges als Operationskarte. Der Berliner Kongreß zog 1878 Zeichnungen von Felix Philipp Kanitz zur Feststellung der bulgarisch-serbischen Grenze heran. Das Werk erlebte mehrere Übersetzungen in andere Sprachen. Bereits 1882 erfuhr es trotz seines Umfangs und seiner Kostspieligkeit eine zweite neubearbeitete Auflage, bei der Kanitz die bulgarischen Ereignisse der inhaltsreichen Jahre 1877 bis 1879 detaillierter berücksichtigte. Als freischaffender Mitarbeiter hat Kanitz von 1862 bis 1875 mehrere Zeichnungen und Berichte über Bulgarien und das schwere Leben seines Volkes unter dem türkischen Joch in der „Illustrierten Zeitung" veröffentlicht.21 Johann Jakob Weber war mit Felix Philipp Kanitz seit vielen Jahren befreundet. Als Schweizer sympathisierte Weber mit den Freiheitsbestrebungen der Völker. Die langjährige Zusammenarbeit in der Redaktion der „Illustrierten Zeitung" und das gemeinsame Bestreben, „nützliche Kenntnisse" über Völker und Länder zu verbreiten22, hatten beide Männer nähergebracht. 1875 übersandte Weber dem treuen Mitarbeiter Kanitz zum 25jährigen Jubiläum für seine Verdienste „Pro artibus et litteris" ein silbernes Schreibzeug, in dessen Mitte unter einer mit einer Eule geschmückten Glocke ein Bild des Verlagshauses eingraviert war.23 Noch viele Jahre zeichnete und schrieb Kanitz als freier Mitarbeiter und Forscher für die „Illustrierte Zeitung". Er hat Johann Jakob Weber und seinem Verlag bis zu seinem Tode am 5. Januar 1904 in Wien Treue und Freundschaft gehalten. Am 24. April 1877 erklärte Rußland der Türkei den Krieg. Die „Illustrierte Zeitung" verfolgte von nun an in jeder ihrer Nummern unter der Rubrik „Der orientalische Krieg" mit Zeichnungen und Berichten sehr präzise alle Kriegshandlungen und -ereignisse, auch auf bulgarischem Territorium. Als der „Große Krieg an der Donau" in vollem Gange ist und der Ort Sistow mit den umliegenden Höhen von den Russen erobert wird, erfahrt der Leser in der Nummer 1775 vom 7. Juli 1877 von der Mission der Russen in diesem Krieg. Kaiser Alexander hat aus seinem Hauptquartier in Simnitza eine Proklamation an die Bulgaren gerichtet. Wir lesen: „Eine Proklamation des Kaisers kündigt den Bulgaren an, daß er gekommen sei, um sie von der Türkenherrschaft freizumachen. In Zukunft würden die russischen Waffen jeden Christen gegen jede Gewalttat schützen und einen Zustand herstellen, innerhalb dessen nach und nach die Ordnung und das 20
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Feher, Geza: Feliks F. Kanic, Zivot putovanija i naucno delo. - Sofija, 1936. - 168 S. (Bälgarska biblioteka; 19). Albanesisches Baschibozuk-Piket im Balkan in Bulgarien. - In: Nr. 1 0 1 4 vom 6. Dezember 1862; Hinterhalt aufständischer Bulgaren in einem Balkanpasse. - In: Nr. 1 0 1 4 vom 6. Dezember 1862; Reise-Skizzen aus Bulgarien. (6 Illustrationen) - In: Nr. 1549 vom 8. März 1873; Archäologische Fragmente aus Bulgarien. (7 Illustrationen) - In: Nr. 1628 vom 12. September 1874; Donau-Bulgarien und der Balkan. (6 Illustrationen) - In: Nr. 1671 vom 10. Juli 1875; Bulgarische Balkanindustrie. (7 Illustrationen) - In: Nr. 1692 vom 4. Dezember 1875. Vgl. die Erklärung von J. J. Weber im Geleitwort für die erste Nummer des „Pfennig-Magazins" vom 4. Mai 1833: „Die Verbreitung nützlicher Kenntnisse ist das schönste Geschenk, das man seinem Jahrhundert machen kann." Vgl. Weber, Wolfgang: Johann Jakob Weber ... - A. a. O. - S. 88/89.
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Recht an die Stelle der Unordnung und Willkür treten könnten. An die bulgarischen Muselmanen ergeht die Mahnung, sich den neueinzusetzenden Behörden zu unterwerfen und als friedliche Bürger zu leben. Ihre Religion, ihr Vermögen, das Leben und die Ehre ihrer Familien würden unangetastet bleiben. Die an den wehrlosen Christen verübten Verbrechen sollen nur an den Urhebern geahndet werden, welche bisher der Strafe entgingen, obwohl ihre Namen der Regierung bekannt waren. Zur Aufrechterhaltung der Sicherheit seien die neuen bulgarischen Legionen bestimmt, wie denn überhaupt die Einheimischen bald berufen werden würden, unter der Leitung besonderer Behörden an der Verwaltung des Landes teilzunehmen. Indem so der Kaiser die gründliche Besserung des Loses der Christen in der Türkei als Hauptaufgabe bezeichnet, verbleibt er bei den Grundsätzen, welche von den Mächten bei den Verhandlungen über die Orientfrage festgehalten wurden". Bereits vor dieser Proklamation, nur wenige Tage nach Beginn des Russischtürkischen Krieges, läßt Johann Jakob Weber in Nummer 1766 der „Illustrierten Zeitung" vom 5. Mai 1877 folgenden Aufruf veröffentlichen: „An unsere Leser. Abermals stehen wir am Vorabend großer kriegerischer Ereignisse, auf welche die Augen der ganzen Welt gerichtet sind. Wie bei früheren Anlässen, so wird auch diesmal die „Illustrierte Zeitung" alles aufbieten, um ihren Lesern die Hauptereignisse auf den verschiedenen Kriegsschauplätzen durch naturgetreue, an Ort und Stelle aufgenommene Illustrationen und zuverlässige Berichte zu veranschaulichen. Unsere Zeichner und Berichterstatter sind bereits nach den Hauptquartieren der beiderseitigen Armeen abgegangen. Es ist uns überdies gelungen, die Mappen des Orientreisenden Kanitz zu erwerben, welche einen reichen und seltenen Schatz der zunächst in Betracht kommenden Punkte, Festungen und Gegenden der Türkei in naturgetreuen Aufnahmen und interessanten Panoramen enthalten. Kanitz, der bekannte Autor der Quellenwerke über Serbien, Donau-Bulgarien und den Balkan, ist wohl der einzige in Europa, welcher auf langjährigen Reisen in den Balkanländern mit wissenschaftlicher Gründlichkeit und künstlerischem Blick ein solches, für den jetzigen Krieg hochwertiges Material an Ort und Stelle aufgenommen hat. Die Panoramen der Städte des türkischen Festungsvierecks, Silistria, Rustschuk, Schumla, Warna, eine Reihe von Ansichten anderer in Frage kommender Städte, Aufnahmen von Engpässen und Defileen des Balkangebirges, Terrainskizzen und Karten sind in unserem Besitz. Wir glauben, unseren Lesern mit diesen, auch malerisch interessanten Illustrationen aus einem noch wenig bekannten, gegenwärtig aber die gespannteste Aufmerksamkeit in Anspruch nehmenden Land eine Reihe wertvoller und einzig dastehender Illustrationen zu bieten, denen sich die Aktionsbilder unserer Spezialzeichner vom Kriegsschauplatz anschließen werden. Die Redaktion der Illustrierten Zeitung." Eine Woche später, am 12. Mai 1877, macht die Redaktion in Nummer 1767 erneut auf den verdienstvollen Orientreisenden Kanitz aufmerksam. Im Artikel „Die türkischen Donaufestungen Nikopolis und Rustschuk" heißt es: „Über Lage und Bedeutung dieser Festungen ist bereits... näher gesprochen worden. Heute möchten wir zwei derselben, Nikopolis und Rustschuk, eingehender ins Auge fassen. Wir folgen hierbei zum Teil den von F. Kanitz im 2. Band seines Werkes Donau-Bulgarien gegebenen Aufschlüssen und machen bei dieser Gelegenheit nochmals auf dieses Buch des verdienstvollen Orientreisenden aufmerksam, welches eine wahrhaft erschöpfende Darstellung des gegenwärtigen Kriegsschauplatzes enthält." Dank der reichen Sammlung von Zeichnungen aus Bulgarien, die Kanitz auf seinen Reisen zwischen 1860 und 1878 angefertigt hat, fällt der hohe Anteil der Illustrationen besonders auf, die in der „Illustrierten Zeitung" von bulgarischen Orten und Landschaften gebracht werden und dem Griffel von Kanitz entstammen. Weitere Spezialzeichner wie C. Szatmari, Karl Heym, Mathes
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Koenen, Th. v. Eckenbrecher, J. Schönberg sowie unbekannte Offiziere liefern Illustrationen aus den unmittelbaren Kampfgebieten. So erfahren die Leser durch Zeichnungen und Berichte vom Einzug der Russen in Tirnowo, der alten bulgarischen Königstadt, in Nr. 1776, vom 14. Juli 1877; von den wechselvollen Kämpfen an Donauübergängen bei Rustschuk, Simnitza und Sistow: Nr. 1777 vom 21. Juli 1877 und Nr. 1778 vom 28. Juli 1878; von den harten und langen Kämpfen um Plewna: Nr. 1780, vom 11. August 1877, Nr. 1783 vom 1. September 1877, Nr. 1785 vom 15. September 1877 und Nr. 1803, vom 19. Januar 1878: von der heldenhaften Verteidigung des Schipkapasses durch die Russen: Nr. 1785, vom 15. September 1877. Die Nummer 1809 vom 2. März 1878 bringt schließlich die Nachricht vom Präliminarfrieden der Türkei mit Rußland am 24. Februar in San Stefano, und die Nummer 1812 vom 23. März 1878 informiert, daß der Friedensvertrag am 17. März in St. Petersburg ratifiziert worden ist. Es wird die Karte der Balkanhalbinsel nach dem Frieden von San Stefano als Vorstellung der Russen für die Beratung auf dem Berliner Kongreß abgebildet. Der Artikel schließt mit dem Satz: „Auf alle Fälle ist die Europäische Türkei heute nichts als eine geschichtliche Reminiszens von ehemals" (S. 230). Zu den einzelnen Zeichnungen gibt es in der Regel Texte, die über die Kriegshandlungen berichten, die aber auch sehr oft Wissenswertes über Bulgarien und die Bulgaren bringen. Diese Texte erscheinen anonym, sie lehnen sich aber stark an die Darstellungen von Kanitz an, z. B. die Beschreibung des Rosentales in Nummer 1777 vom 21. Juli 1877. Leider können wir nur auf einige Texte eingehen. In Nummer 1778 vom 28. Juli 1877 erscheint ein Beitrag „Die altbulgarische Czarenstadt Tirnowo." Wir bringen einen Auszug daraus, um zu zeigen, mit welcher Sympathie hier das Bulgarienbild geprägt wurde: „Moltke, dessen Augen die Reize Konstantinopels und Kleinasiens gekostet, behauptet, nie eine romantischere Stadt gesehen zu haben als Tirnowo. Kanitz schwelgte noch nach Jahren in der Erinnerung an die unvergeßliche Stunde beschaulichen Genusses, welche er beim Anblick der von leuchtendem Sonnenglanz verklärten Czarenstadt mit ihren Mauern, Türmen, Moscheen, Minarets, Kirchen, Kuppeln, Brücken, Inseln, Gärten, Feisund Flußbändern durchlebte. Ein Künstler, ein wahrer Weltfahrer, ruft er begeistert aus:,Nur ein Tirnowo gibt es, und herrlicheres haben meine Augen nie gesehen. Wer doch solche Momente lebendig festzuhalten vermöchte! Man traut sich kaum zum Skizzenbuch zu greifen und wenigstens andeutungsweise das wunderbare Bild auf das Papier zu werfen.' Unsere Ansicht von Tirnowo (S. 72, 73), die wir dem Griffel von F. Kanitz danken, bietet den Lesern ein Urteil über die vielgepriesene Schönheit des einstigen bulgarischen Czarensitzes zu bilden, wenigstens was die romantischen und pittoresken Formen und Linien des wunderbaren Stadtbildes betrifft, den die Zauberwirkung der Farbe seinen herrlichen Reiz verleiht... In den Augen der gebildeten Bulgaren hat Tirnowo, dank der an seine Mauern sich knüpfenden historischen Erinnerungen, nie aufgehört, als Hauptstadt Bulgariens zu gelten. Es muß deshalb als eine glückliche, den nationalen Wünschen Rechnung tragende Wahl bezeichnet werden, daß die alte Czarenstadt zum Sitz der neuen russisch-bulgarischen Regierungsbehörde ... ausersehen wurde. Sie verdient diese Auszeichnung auch wegen des patriotischen Geistes ihrer Bewohner, unter welchen der nationale Gedanke stets lebendig und wach sich erhalten hat. Wie das fast bis auf den Namen verschollen gewesene Bulgarenvolk jetzt aufs neue seine Individualität geltend macht, so tritt auch Tirnowo aus seiner Niedrigkeit mit einem Schlag wieder zu seinem angestammten Rang einer nationalen Hauptstadt." Nummer 1779 vom 4. August 1877 bringt auf der Titelseite als eine große Zeichnung die Begrüßung russischer Offiziere durch Bulgaren auf einem Bauerngehöft. Der beigeordnete Text berichtet von der schönen Sitte der Slawen, den Gast an der Schwelle des Hauses „mit Brot und Salz und dem zum Kusse dargereichten Kreuz" zu begrüßen. Wir lesen: „Auch die Bulgaren, die ein Glied der slawischen Völkerfamilie sind, huldigen dieser Sitte, der sich eine sinnige Symbolik nicht absprechen läßt. Die Darreichung von Brot und Salz bedeutet die Aufnahme in die
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Hausgemeinschaft, und durch den Kuß des Kreuzes erhält das Verhältnis zwischen den Gastfreunden gewissermaßen eine religiöse Weihe. Den einrückenden Russen gegenüber hat die Zeremonie eine mehr als konventionelle Bedeutung, denn die Bulgaren begrüßen in den stamm- und reügions verwandten Kriegern des Czaren die Befreier vom verhaßten Türkenjoch und die Rächer fünfhundertjähriger Unterdrückung." Nummer 1780 vom 11. August 1877 enthält eine Zeichnung von C. Szatmari „Eine Straße in Giurgowo während des Bombardements", die dem Leser die schrecklich zerstörte, von Einwohnern verlassene Stadt an der Donau gegenüber Rustschuk (Ruse) zeigt. Ein einziges Mal äußert sich in dem beigefügten Text (S. 111) der Kriegszeichner zu seiner Abbildung. Wir lesen „Unser Zeichner schreibt uns: ,Ich komme eben aus Giurgowo. Der peinliche Eindruck, den die furchtbare Zerstörung der verlassenen Stadt auf mich gemacht, ist unbeschreiblich. Die hübsche Stadt, mit den reinlichen, hier und da in modernstem Stil gebauten Häusern liegt fast ganz in Trümmern. Die Häuser sind siebartig durchlöchert: in den öden Gassen ist nirgends eine menschliche Gestalt zu erblicken; überall bietet sich den Augen der traurige Anblick. Zwischen den Trümmern stehen Oleander, Rosen und viele andere Pflanzen in schönster Blüte, in den Gärten prangen herrliche Aprikosen, in den Höfen suchen Hühner, Gänse, Tauben nach den letzten Körnchen Futter; zurückgebliebene Hunde liegen mit traurigen Mienen vor den verlassenen Häusern und erwecken das Erbarmen des einsamen Wanderers'." In der Nummer 1781 vom 16. August 1877 ist der Artikel „Die südbalkanische Paschalik-Stadt Sliwno - über die Stadt" mit den Initialen „F.K." unterzeichnet, stammt also offensichtlich aus der Feder von Felix Kanitz. Der Beitrag schließt mit den Worten: „Ob der Russe aus dem hohen Norden seine durstige Kehle mit ,Slivensko Vino' netzen wird, das dürfte die traurige Blutarbeit der nächsten Zeit im bulgarischen Norden entscheiden". Dem Text ist eine zweiseitige (S. 132/133) Illustration „Die türkische Stadt Sliwno. Nach einer Originalskizze des Orientreisenden Kanitz auf Holz gezeichnet von Karl Heyn" beigegeben. Nummer 1783 vom 1. September 1877 bringt eine „Situationsskizze der Schlacht bei Plewna" vom 30. Juli mit dem Vermerk „Nach F. Kanitz' Karte von Donaubulgarien und dem Balkan". Im Artikel „Die Plünderung von Kariowa und Sopot durch Baschibozuks" in Nummer 1784 vom 8. September 1877 lesen wir: „Auch in die herrlichen Rosentäler am südlichen Abfall des Zentralbalkans hat der Krieg seine Verheerung und Greuel getragen. Moltke und Kanitz haben die landschaftlichen Reize dieser paradiesischen Gefilde in leuchtenden Farben geschildert: der letztere hat sie außerdem kartographisch fixiert und ethnographisch erforscht. Bulgaren und Türken wetteifern hier in der allerdings jede Arbeit reichlich lohnenden Ausnutzung des gesegneten Bodens". Nummer 1786 vom 22. September 1877 enthält eine zweiseitige (S. 228/229) Illustration „Übergang eines tscherkessischen Freikorps über den Tetewenbalkan-Paß. Nach einer Skizze des Orientreisenden F. Kanitz gezeichnet von K. Heyn." Kanitz hat seinerzeit diesen Paß an Ort und Stelle gezeichnet. In dem beigeordneten Text „Tetewen" wird Kanitz zitiert: „Rasch griff ich nach Portefeuille, Stift und Kompaß. Mit eiliger Hand entstand ein riesiges Profil des übereinander sich türmenden Amphitheaters." In diese Zeichnung wurden von K. Heyn die auf Pferden reitenden Tscherkessen hinein gesetzt. Die Nummer 1803 vom 18. Januar 1878 bringt einen Artikel mit der Überschrift „Verkündigung der Übergabe Plewnas vor der Kathedrale von Selwi". Wir lesen: „Die von unserem Zeichner nach der Natur skizzierte Szene spielt sich ... vor der Kathedrale der Stadt Selwi an der oberen Rusitza, dem bedeutenden Nebenfluß der Jantra ab. Kanitz gibt von dieser im Jahre 1870 eingeweihten Kirche, die er als eine im hohen Grad originelle Schöpfung bezeichnet, eine Schilderung, welche die hohe Begabung der Bulgaren für Bauwesen und Kunsthandwerk erkennen läßt. Als wahrhaft bewundernswert unter den Details der Ausschmückung bezeichnet er die Holzschnitzwerke an der Ikonostasis und an der Krönungstür. Bestechend gemalt erscheinen dem kunstverständigen Forscher die in byzantinischem Charakter stilisierten Bilder der Ikonostasis". Die zum Text
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gehörige Illustration wurde nach der Skizze eines Offiziers im Holzschnitt hergestellt und gedruckt. Als letzte Abbildung, erschienen bereits nach dem Friedensschluß von San Stefano in der Nummer 1811 vom 16. März 1878, soll hier die Zeichnung von Felix Kanitz „Die türkische Stadt Missivri am Schwarzen Meer" genannt werden. Das heutige Nessebar wird, wahrscheinlich auch von Kanitz, in dem beigeordneten Artikel „Missivri am Schwarzen Meer" beschrieben. Dieser Beitrag schließt wie folgt: „Mit dem Eintreten einer geordneten Verwaltung und der Erschließung der natürlichen Hilfsquellen des reich gesegneten Bulgarenlandes, das von einer emsigen und betriebsamen Bevölkerung bewohnt ist, wird sich auch die Produktion und mit ihr die Ausfuhr steigern. Vielleicht ist die Zeit nicht fern, da Missivri und mit ihm die übrigen Küstenplätze am Westufer des Pontus eine späte Nachblüte ihrer einstigen, bis in die Nacht der Geschichte zurückreichenden, kommerziellen Bedeutung erleben." Kanitz sollte in seinem tiefen Glauben an eine bessere Zukunft des bulgarischen Volkes Recht behalten. Dieser Beitrag dokumentiert, daß die Leipziger „Illustrierte Zeitung", namentlich während des Russisch-türkischen Krieges, durch Illustrationen und Texte die Prägung eines von Sympathie getragenen Bulgarienbildes im deutschsprachigen Raum beeinflußt hat. Dabei kommt dem freundschaftlichen Zusammenwirken des Verlegers Johann Jakob Weber und des Bulgarienexperten Felix Philipp Kanitz eine große Bedeutung zu. Anschrift der Verfasserin: Prof. Dr. Friedhilde Krause, Rummelsburger Str. 67, O - 1136 Berlin
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Michael W a c h t e l
Die Korrespondenz zwischen Vjaceslav Ivanov und Karl Krumbacher Die hier erstmalig veröffentlichten Briefe stammen aus den Jahren 1892-1894, die Ivanov als Student der klassischen Altertumswissenschaft und römischen Geschichte in Italien verbrachte. Während dieser Forschungsreise sollte er seine Dissertation bearbeiten und vollenden, um sein Studium an der Universität Berlin abzuschließen. Ivanovs Studienjahre gehören zu dem am wenigsten bekannten Abschnitt seiner Biographie. Die bisher einzige Informationsquelle darüber ist der sogenannte „autobiographische B r i e f , den Ivanov 1917 auf Wunsch des Professors S. A. Vengerov schrieb. Jedoch behandelte der inzwischen berühmt gewordene Dichter in diesem Text seine Studentenzeit eher flüchtig. Den zweijährigen Aufenthalt in Italien faßte er in wenigen Sätzen so zusammen: „Ich besuchte das Deutsche Archäologische Institut, nahm zusammen mit seinen Zöglingen (,ragazzi Capitolini') an den Rundgängen der Altertümer teil, dachte nur an Philologie und Archäologie und überarbeitete langsam aufs neue, vertiefte und erweiterte die Dissertation In dem darauffolgenden Satz taucht auch zum einzigen Mal der Name Krumbacher auf, als Ivanov eine Reihe führender Gelehrten aufzählt, die er in Rom kennenlernte. Zur Zeit seines Kontakts mit Ivanov war Karl Krumbacher (1856-1909) bereits durch vielseitige wissenschaftliche Tätigkeit berkannt. Er war Autor des Standardwerkes über die byzantinische Literatur2, außerordentlicher Professor an der Universität München, außerordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften sowie Gründer und Herausgeber der „Byzantinischen Zeitschrift". Da vor Krumbacher das Studium der Byzantinistik als solches überhaupt nicht existierte, müssen seine Leistungen um so mehr imponieren. Er gilt als „Begründer der modernen Byzantinistik, im vollsten Sinne des Wortes der Schöpfer einer philologischen Disziplin, die es vor seinem Auftreten nicht gab ..." 3 Da Krumbacher sich mit der Byzantinistik im breitesten Sinne befaßte, interessierte er sich auch für die russische Sprache und Kultur, was im damaligen Deutschland sehr ungewöhnlich war. Die wenigen russischen Ausdrücke in Ivanovs Briefen sowie Krumbachers eigene Bemerkungen in der Postkarte vom 6. 1. 1895 deuten daraufhin, daß er zu dieser Zeit bereits über passive Kenntnisse des Russischen verfügte. Außerdem sollte nicht unerwähnt bleiben, daß Krumbacher, allerdings nach der Periode seiner Freundschaft mit Ivanov, den Studiengang der Slavistik in Bayern einführte. Er vertiefte sich in der russischen Sprache und reiste mehrmals nach Rußland. Im Jahre 1900 begann er, sie an der Universität München zu lehren, auf sein Beharren hin wurde später die erste Professur für Slavische Philologie in München eingerichtet.4 Dem vorliegenden Briefwechsel kommt eine mehrfache Bedeutung zu: In Bezug auf Ivanovs Biographie lernt der Leser hier die ersten veröffentlichten Dokumente aus dieser Zeit - und somit der ganzen Frühperiode des Dichters überhaupt - kennen.5 Aus linguistischer Sicht bezeugen sie, 1 2 3
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V. I v a n o v , Sobr. soc. Bd. 2, Brüssel, 1974, S. 19. K. K r u m b a c h e r , Geschichte der byzantinischen Literatur. München, 1891. E. K u h n , Öffentliche Sitzung am 9. März, in: Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften; Philosophische, philologische und historische Klasse, 1910, S. 19. Vgl. H. S c h a l l e r , Die Geschichte der Slavistik in Bayern. München 1981, S. 81-133. Es ist beabsichtigt, Ivanovs Korrespondenz mit seinem Doktorvater Otto Hirschfeld (auch aus dieser Zeit) demnächst zu veröffentlichen.
M. WACHTEL, Die Korrespondenz zwischen V. Ivanov und K. Krumbacher
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daß Ivanov sowohl die deutsche als auch die lateinische Schriftsprache beherrschte. Da Ivanov sich in den folgenden Jahren immer wieder mit der deutschen Kultur beschäftigte, ist es wichtig festzustellen, daß er des Deutschen schon 1892 fehlerfrei mächtig war. Aber die Korrespondenz verdient vor allem ihres Inhalts wegen Aufmerksamkeit. Sie erlaubt uns, anhand konkreter Beispiele zu beweisen, was bisher nur vermutet werden konnte, nämlich, daß gerade das Studium der klassischen Philologie viel zu der Weltanschauung des künftigen Dichters beitrug. Obwohl der Ausbildung nach kein Byzantinist, war Ivanov dennoch imstande, sich mit Krumbachers Schriften auseinanderzusetzen. In diesen Briefen finden wir ausführliche Bemerkungen zu zwei Aufsätzen Krumbachers. Ivanov schätzte Krumbachers Auffassungen hoch, zögerte aber dennoch nicht, sie in Frage zu stellen. Besonders wertvoll ist der vierte Brief der vorliegenden Veröffentlichung, in dem Ivanov eine klare und ausführliche Darstellung des engen Verhältnisses zwischen den russischen und byzantinischen Kulturtraditionen entwickelt.6 In demselben Brief befinden sich allgemeinere Äußerungen, wo Ivanov (im Gegensatz zu Krumbacher) fremde Einflüsse auf eine Sprache als Anzeichen einer Verfallsperiode deutet. Hier läßt sich die Kontinuität des Ivanov'schen Denkens leicht feststellen. Man erblickt im Keim einen der Gründe für die Vorliebe für Archaismen, die später die Sprache des Dichters kennzeichnen. In den Bemerkungen zu Krumbachers Aufsatz über byzantinische Sprichwörter (in dem „P.S." zu dem siebten Brief) kommt u. a. Ivanovs reges Interesse für die Metrik zum Ausdruck. Um diese Textstelle würdigen zu können, muß man sich vor Augen halten, daß Ivanov das ihm von seinem Studium her eigentlich fremde Byzantinisch-Griechische sowohl versteht als auch skandiert. Der Nichtspezialist, dem hier nicht jede einzelne Bemerkung wohl zugänglich sein mag, sollte beachten, daß Krumbacher selbst von Ivanovs Ausführungen dermaßen überzeugt war, daß er ihm riet, sie als Rezension zu veröffentlichen.7 Zur Textgestaltung der vorliegenden Veröffentlichung soll folgendes bemerkt werden: In einigen Fällen sind Rechtschreibung und Interpunktion des Briefwechsels den heutigen Sprachkonventionen angeglichen worden. Langformen von Abkürzungen und Zweifelsfälle sind in Klammern vermerkt. Ansonsten wurde vom Herausgeber nichts verändert. Die Übersetzungen der fremdsprachigen Zitate befinden sich in den entsprechenden Anmerkungen. Der Briefwechsel zwischen Ivanov und Krumbacher ist nicht vollständig erhalten. Von Krumbacher sind nur drei Postkarten bekannt, die im Ivanov-Nachlaß der Moskauer Lenin-Bibliothek (Signatur: GBL, f. 109, k. 28, ed. xr 12) zu finden sind. Ivanovs Briefe an Krumbacher befinden sich im Krumbacher-Nachlaß der Bayerischen Staatsbibliothek, München (Signatur: Krumbacheriana I — Ivanov). Der Herausgeber bedankt sich besonders bei Herrn Dr. R. Horn der Bayerischen Staatsbibliothek für Kopien der Ivanov-Briefe. Für wertvolle Hilfe bei der Vorbereitung dieser Publikation sei herzlich gedankt: Herrn Dr. Konstantin Azadovskij (Leningrad), Frau Doris Heimann (Princeton University), Herrn Dimitri Ivanov (Rom), Frau Professor Dr. Leslie Kurke (University of California at Berkeley), Frau Professor Dr. Ellen Oliensis (University of California at Berkeley), Frau Annette Pein (Harvard University), Frau Gonda van Steen (Princeton University). Diese Arbeit wurde durch ein Fulbright Stipendium gefördert. 6
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Es ist bemerkenswert, daß sich diese Überzeugung mit den Jahren nicht änderte. Fast vierzig Jahre später schrieb Ivanov: „Rußland ist Byzanz bis in die tiefsten Schichten der Sprache und der Denkformen". Das Zitat stammt aus einem Brief des Jahres 1932 an Ernst Robert Curtius. Ivanovs Briefwechsel mit Curtius wird in dem ersten Heft des Jahrgangs X X X V I I (1992) der „Welt der Slaven" (München) erscheinen. Vgl. den letzten Brief (bzw. Postkarte) dieser Publikation.
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Brief 1 Roma. Albergo Alibert, via Margutta d. 12. Juli 1892 Hochgeehrter Herr Professor! Gleichzeitig mit diesem Briefe übersende ich Ihnen eine Postkarte und eine Kreuzbandsendung, welche auf Ihren Namen hier eingetroffen sind. Sollten weitere Sendungen für Sie zukommen, so werde ich dieselben gleichfalls an die von Ihnen mitgeteilte Adresse expedieren, bzw. unseren Wirt damit beauftragen. Ich freue mich sehr, eine Nachricht von Ihnen, und zwar aus Baiae amoenae 8 , bekommen zu haben, und ich spreche Ihnen meinen besten Dank aus für Ihre freundliche Warnung, beim Suchen einer Wohnung in Neapel die Stadtgegend in der Nähe des Strandes zu meiden. Wir gedenken, unsere Reise bald nach dem 20ten dHKTHBHWX penyTamrii H JKMKHUX, HeonpaBflaHHHX npnTH3aHHÖ." - schrieb er 1931.8 Schon 1917, als beide unter dem Eindruck des Kriegsschreckens zusammenkamen, versuchte Pasternak, Majakovskij zur Distanzierung von seinen futuristischen Genossen — von „unernsten, unverantwortlichen Wortspielereien" — zu bewegen.9 Im Verlauf der 20er Jahre kam er dann zu der Erkenntnis, daß Majakovskij sich mit seiner Gruppe wohl nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Mittelmäßigkeit umgab. Mit seinem unstillbaren Drang nach Selbstbestätigung und Inszenierung der eigenen Person verstellte er sich seine dichterische Größe, d. h. auch seine innere Unabhängigkeit, und trieb zunehmend in die Arme der dogmatisch-utilitaristischen proletarichen Literaturfunktionäre, womit Pasternak sowohl die eigenen Anhänger des LEF, Novyi LEF als auch die RAPP meinte, der Majakovskij im Februar 1930 kurz vor seinem Tod noch beigetreten war: „Ü He noHHMaji ero nponaraHßHCTCKoro ycepflim, BHeapemra ceöa H TOBapHmeii CHJIOK) B OÖmeCTBeHHOM CO3HaHH0, KOMnaHeHCTBa, apTejIblUHHbl, nOflHHHeHHH rojiocy
3Jl060flHeBH0CTH."10 Hatte sich Pasternak schon früh von den Futuristen abgesetzt, so schreckte ihn gegen Ende der 20er Jahre die „undurchdringliche Heuchelei und sklavische Unterwürfigkeit", die sich in der gesamten Öffentlichkeit und in der Literatur breitmachte.11 Er mußte feststellen, daß auch der Kreis um LEF und Novyj LEF diesen Stil pflegte:" JIE yflpynaji H OTTajiKHBaji MeHa cBoefi H36HTOHHOH coBeTCicocTbio, T. e. yraeTaiomHM cepBHJin3MOM, T. e. CKjlOHHOCTbK) K öyncTBy c 0(J)HimaJibHHM MaHflaTOM Ha ßyHCTBO B pyKax." 12 - „Te x e ccwjiKH Ha HanaJibCTBa, Ha aBTopHTeT xaK Ha ojiHiieTBopeHHyio Hfleio, TO »ce MbimneHHe
B paMKaxflOjracHOCTbK)co4>H3Ma, TO »ce rpaMoraoe KpacHopenHe."13 Deshalb kündigte er in einem offenen Brief im Juli 1927 dem LEF jede Mitarbeit auf und distanzierte sich, als man seinen Austritt ignorierte und den offenen Brief nicht abdrucken wollte, im April 1928 auch endgültig von Majakovskij, sofern dieser weiter zu seiner Gruppe stand. Majakovskijs Kommentar dazu: „3TO HejioBeK, KOTOPMH ayMaeT, HTO MOJKHO ToproBaTbca c anoxoii H oueHHBaTb ceöa, KaK Ha ayiamoHe."14
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Majakovskij hatte Lenin ein Exemplar des Poems mit Widmung geschickt und wußte spätestens seit 1921, daß dieser wie auch andere hohe Parteiführer, z. B. Lunacarskij und Trotzki, seine Dichtung ablehnten; vgl. Bengt J a n g f e l d t , Esce raz o Majakovskom i Lenine (Novye materialy), in: Scando-Slavica 1987/33, S. 129-140. vgl. B. P a s t e r n a k , Ochrannaja gramota, in: ders.: Vozdusnye puti, Moskva 1983, S. 269. vgl. Pasternask Antikriegsgedicht „Artillerist stoit u kormila" (Stichotvorenija ipoemy, S. 503f.) z. B. stand ästhetisch unter Einfluß Majakovskij; vgl. hierzu und im folgenden Johann-Renate D ö r i n g , Die Lyrik Pasternaks in den Jahren 1928-1934, München 1973. B. P a s t e r n a k , Ljudi i polozenija, in: Vozdusnye puti, a. a. O., S. 456. in „Anketa", Nas sovremennik, zit. nach Pis'mo Vladimiru Majakovskomu, in: Literaturnoe obozrenie 1990/2, S. 42. ebd. in einem Brief an seine Bekannte P. N. Lomonosova, zit. nach: Literaturnoe obozrenie 1990/2, S. 42. Majakovskij zu N. Aseev, zit. nach V. K a t a n j a n 1976, a. a. O., S. 509.
Z. Slaw. 37 (1992) 3
372
Die dichterische Auseinandersetzung mit Majakovskijs Selbstmord geht weit über seinen „Geleitbrief" hinaus. Nicht nur die Gedichte „Smert' poeta" und „O znal by ja" lassen sich als Nekrologe auf Majakovskij identifizieren, sondern auch der 1934 erschienene Band „Vtoroe rozdenie" ist unmittelbarer Ausdruck der Verarbeitung dieses „literarischen Faktums", ein Aspekt, der genauere Ausführung verdiente. 15 Festzuhalten ist jedoch, daß Pasternaks Nekrolog-Gedichte Majakovskijs Tod mit dem Puskins in Zusammenhang und damit in eine historische Dimension bringen (eine weitere Beziehung auch zu dem vier Jahre vorher verstorbenen Rilke, motivische und phonetische Parallelen zu dessen Gedicht „Der Tod des Dichters"), daß sie zweitens den Schlußpunkt einer langjährigen intertextuellen Auseinandersetzung zwischen den beiden Dichtern über den Selbstmord bilden und daß sie drittens eine deutliche Kampfansage gegen den Kreis Majakovskij enthielten. Das Gedicht „Smert' poeta", das unmittelbar an Lermontovs zornige Invektive gegen die falschen Freunde Puskins von 1837 anknüpft, endet mit den Zeilen: „TBOH BbicTpeji 6BIJI no^OÖEH 3THC
B npearopbH TpycoB H Tpycax. (...) ,Hpy3ba ace H 3 o m p » j n i c b B c n o p a x , 3a6bIB, HTO PJWOM - 3CH3Hb H H. H y HTO HC e m e ? HTO TM n p n n e p HX K 3 e M j m , H c r p a x TBOH n o p o x BbmaeT 3 a n p a x ? (...) TaK n o i u j i o c T b CBepTbiBaeT B T B o p o r C e f l b i e CJIHBKH 6bITH«." 1 6
Und wie bei Lermontov strich man bei der Veröffentlichung in der Zeitschrift „Novyj mir" eben diese streitbaren Zeilen an die Zeitgenossen heraus und nannte das Gedicht kurzerhand „Otryvok"/Fragment. 17 Lenken wir nun den Blick von den direkten Beziehungen auf die Rezeption beider Dichter nach dem Tod Majakovskij. Das entscheidende Ereignis war zweifellos Stalins Urteil vom Dezember 1 9 3 5 („MaaKOBCKHH 6 b m H o c T a e T c a nyniiiHM, TajiaHTJiHBeiniraM IKOTOM H a m e n COBCTCKOH
und es stellt sich die Frage: Was bewog Stalin, einen futuristischen Rebellen, der von der Partei und ihren Führern abgelehnt, von vielen Seiten als unverständlich und unannehmbar kritisiert wurde, für die sowjeti3 n o x n . Be3pa3JiHHHe K e r o n a v w T H H e r o npoH3Be^EHHK> - n p e c T y i u i e m i e . " ) ,
15
16
17
Der Titel des Gedichts „O znal by ja" dürfte eine Anspielung auf den kollektiv von Majakovskijs Weggenossen verfaßten Nekrolog „Esli by znal on" in der Sondernummer der Literaturnaja gazeta vom 17. 4. 1930 sein. Zum übrigen vgl. auch L. F l e j s m a n , Fragmenty ..., a. a. O. und O gibeli Majakovskogo kak .Literaturnom fakte'. Postskriptum k stat'e B. M. Gasparova, in: Slavica Hierosoymitana 1979/4, S. 126-30. B. P a s t e r n a k , Smert' poeta, in: d e r s . , Izbrannoe vdvuchtomach, Moskva 1985,drugajaredakcija, S. 509. Der Bezug - über Puskin hinaus - zu Lermonotov ist unverkennbar. In Lermontovs Gedicht „Smert' poeta" hieß es u. a.: „ A BM, HAFLMEHHHE ÜOTOMKH H3BecTHoft nofljiocTbio npocnaBneHHbix OTUOB, ÜHTOK) paöcKoio nonpaBinne O6JIOMKH H r p o i o CHacTHH o6HaceHHbix pofloß!" in: M. Ju. L e r m o n t o v , Sobranie socinenij v 4 tomach, tom 1, Moskva-Leningrad 1958, S. 414. vgl. Novyj mir 1931/1, S. 117. Das Gedicht wurde - von Pasternak selbst verändert - wieder abgedruckt 1931 und 1932 in „Poverch bar'erov", in der Ausgabe „Izbrannoe" von 1948 unter dem Originaltitel, aber ohne die letzte Gedichtzeile.
B. MENZEL, V. V. Majakovskij und B. L. Pasternak
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sehe Dichtung zur Norm zu erheben? Gab es keine Alternativen? Was hat Pasternak damit zu tun? Meine Thesen hierzu sind: 1. Unabhängig von Stalins persönlichen Motiven bedeutete sein Urteil die Entscheidung für ein bestimmtes dichterisches Konzept und Dichterbild, das sich in den Rahmen der sozialistischen Literatur einfügen ließ, und gegen ein anderes, das zu diesem Zeitpunkt sich als konkrete Alternative anbot, nämlich das B. Pasternaks. 2. Für seine von Stalin zugewiesene Funktion war Majakovskij - im Gegensatz zu Pasternak — mit erheblichen Anteilen seines Werkes und seiner Person prädestiniert. Ja, man kann sagen, daß seine Dichtung das autoritäre Potential der Avantgarde in sich trug, während Pasternak eher das emanzipative Potential verkörperte.18 3. Indem Stalin ausgerechnet den Führer der linken Avantgarde an die Spitze der sozialistischen Dichtung stellte, gelang ihm eine geschickte Integration der autoritären Anteile dieser Avantgarde in das Kulturmodell der 30er Jahre. 4. Mit der knapp zwei Monate später eröffneten Anti-Formalismus-Kampagne gegen Sostakovics Oper „Lady Macbeth von Mzensk" — im Januar 1936 - wurden die Weichen für eine einseitige Rezeption Majakovskijs und der Avantgarde gestellt. Alle nicht integrierbaren Anteile wurden bei ihm tabuisiert oder als Jugendverfehlungen ausgegrenzt und den anderen Dichtern der Avantgarde — von P. Antokol'skij über V. Chlebnikov und S. Kirsanov bis hin zu Pasternak — als Formalismus angelastet. Majakovskij wurde als wichtigstes Argument gegen Pasternak eingesetzt, den das Verdikt ähnlich hart traf wie Sostakovic. Ich möchte versuchen, die Thesen kurz zu begründen: (Zu 1.) Die Jahre zwischen 1930 und 1935 waren geprägt von den entscheidenen Auseinandersetzungen um die normative Richtung der sowjetischen Lyrik. Neben der von Gor'kij favorisierten ästhetisch konservativen Liedrichtung um Surkov und Tvardovskij, die wohl die - 1932 von M. Cvetaeva angemerkte - Vakanz der Plätze Esenins und Bloks epigonal ausfüllte, standen sich die Fraktion für Majakovskij und die für Pasternak gegenüber. Von offizieller Seite gab es starke Bestrebungen, Majakovkijs Bedeutung, Werk und Einfluß auf die Literatur zurückzudrängen. In dem Maß, wie im Vorfeld des Schriftstellerkongresses um die Vereinheitlichung der Literatur und um die Weichenstellung für bestimmte ästhetische Normen gestritten wurde und Majakovskij dabei in den Hintergrund geriet, taten sich seine Anhänger — Aseev, Brik, Kirsanov - mit aggressiven Angriffen auf Pasternak hervor und verlangten - von wem? — seine Ausgrenzung aus der sowjetischen Literatur, d. h. seine gesellschaftliche Ächtung. Zugleich gab es im Vorfeld des Schriftstellerkongresses einige Anzeichen einer Favorisierung Pasternaks von Seiten der Partei, die sich auch nach Auflösung der RAPP 1932 um eine Integration der sogenannten Mitläufer bemühte. Und ein sicheres Argument dafür, Pasternak zum Dichterführer zu erheben, war, daß die sowjetische Literatur international wesentlich an Ansehen gewinnen würde, wenn sich ein ausgewiesen bürgerlicher Dichter so exponiert zu ihr bekennen würde. Die Tatsache allein, daß man eine Hierarchie in den literarischen Gattungen, ja, in der Kunst allgemein, aufstellte und um den 1., 2. und 3. Platz kämpfte, hatte Pasternak in seinem Gedicht „Drugu" (1931) problematisiert, in dessen letzter Strophe er schrieb:
18
vgl. zu dieser Problematik auch Boris G r o y s , Gesamtkunstwerk Stalin, München 1988 und meinen Aufsatz „Streit um Majakovskij. Die russische Avantgarde zwischen Stalin und Perestrojka" in: Osteuropa 1989/11-12, S. 1066-75.
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Z. Slaw. 37 (1992) 3 „HanpacHo b ähh Bejiracoro coßeTa, Tae Bbicmeö crpacTH oTflanti Mecra, OcTaBJieHa BaKaHCH« no3Ta: OHa onacHa, ecjin He nycTa." 1 9
Den Höhepunkt der Auseinandersetzungen leitete Bucharins Rede zur Dichtung auf dem ersten Schriftstellerkongreß 1934 ein. Bucharin gab Pasternak als Dichter von Gegenwart und Zukunft den Vorrang vor Majakovskij, dem Lyriker der vergangenen Geschichte der Revolution. Pasternak obliege es nun, die notwendige Synthese der neuen Zeit dichterisch zu gestalten. Pasternak selbst reagierte nicht geschmeichelt, sondern seiner Grundlage entsprechend, und kommentierte die Rede, daß ihn weder das Lob eines Politikers freue noch dessen Tadel beeindrucken könne, sondern daß allein Verständnis und Liebe seiner Leser ihm wichtig seien. Er wurde anschließend ins Präsidium des ersten Schriftstellerverbandes gewählt, ausführliche positive Porträts von ihm in den Zeitschriften versuchten, Pasternak einem breiteren Publikum zu vermitteln. 20 Im Sommer 1935 wurde der Dichter auf dem antifaschistischen Kongreß in Paris triumphal als Repräsentant der sowjetischen Literatur gefeiert, obwohl er gar nicht an der Spitze der Delegationshierarchie stand. Da der dritte Kandidat — Dem'jan Bednyj - schon 1930 bei Stalin in Ungnade gefallen war, stand also gegen Ende des Jahres 1935 für eine Vakanz des führenden Dichters deutlich die Alternative Majakovskij oder Pasternak zur Wahl. Stalin entschied - angeregt durch den bekannten Brief von Lilja Brik, und Pasternak schrieb später in seiner zweiten Autobiographie, er habe Stalin in einem persönlichen Brief für dessen Entscheidung dafür gedankt, daß er ihm dieses Los erspart habe. Dieser Brief ist allerdings bis heute nicht aufgefunden worden. (Zu 2. und 3.) Pasternak und Majakovskij schrieben gleichermaßen schwierige Lyrik. Beide begrüßten die Revolution und bemühten sich lange Jahre, einen Platz innerhalb des neuen Systems einzunehmen und sich als Dichter in die sowjetische Literatur zu integrieren. Ausdruck dafür sind bei Pasternak z. Bsp. die Poeme „Lejtenant Smit" und „Spektorskij", biographisch wäre sein Briefwechsel mit M. Gor'kij zu nennen, seine Teilnahme an einer Schriftstellerreise mit sozialem Auftrag in die Gebiete der Industralisierung, die Unterzeichnung eines Aufrufs an die Schriftsteller, mehr über die Rote Armee zu schreiben, sein persönlicher Nekrolog zum Tod von Stalins Frau Svetlana Alilujewa und auch seine verschiedentlich geäußerten unschlüssigen Haltungen gegenüber seinen Dichterkollegen Mandel'stam und Cvetaeva. Und doch sind beide Dichter nicht nur von ihrem sozialen und kulturellen Hintergrund her, sondern in ihrer Poetik wie auch ihrem Dichter- und Menschenbild her grundverschieden. Und in diesem Unterschied liegt die Erklärung dafür, daß die Wahl auf Majakovskij fiel. Was prädestinierte ihn für seine Rolle als Dichterführer der Sowjetepoche? (Diese Frage klammert wohlgemerkt die nicht integrierbaren Seiten Majakovskijs aus.) 1. Von Anfang an huldigte Majakovksij einem Kult der Größe, Stärke und Überlegenheit. Sein Kampf — inner, wie außerliterarisch — galt nie der Macht, sondern der Schwäche, er selbst nahm sich dabei nicht aus. Auch hier galt nur das Schema Herrschaft oder Unterwerfung bzw. Vernichtung, Macht oder Opfer. Das läßt sich an den lyrischen Subjekten, an seiner Metapho-
B. Pasternak, Drugu, in: ders.: Socinenija, Bd. 1, Stichotvorenija i poémy 1912-32, Ann Arbor 1961, S. 223, zuerst in Novyj mir 1931/4. 20 z. B. Jaropolk Semenov, Boris Pasternak, in: Literaturnaja gazeta 29. 8. 1935, Dmitrij M i r s k i j , Zametki o stichach, in: Znamja 1935/12, S. 231; vgl. auch die Umstände um den von Pasternak mitverfaßten hymnischen Nekrolog auf A. Belyj in der Izvestija vom 9. 1. 1934, L. Flejsman, Pasternak v tridcatye gody, a. a. O., S. 154-57. 19
B. MENZEL, V. V. Majakovskij und B. L. Pasternak
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rik und an den literarischen Polemiken vom futuristischen Frühwerk bis zur späten publizistischen Dichtung nachweisen. 2. Für ihn war die Sprache ein vollkommen in rationalistischer Transparenz aufgehendes Mittel und verband sich mit dem Glauben an die uneingeschränkte Erziehbarkeit der Masse. Sein operativer Begriff von Dichtung als Handwerk und Teil der Produktion in gesellschaftlichem bzw. sozialem Auftrag, ja die Partei, seine Indienstellung des Dichters für die Interessen der proletarischen Klasse kamen Stalins Losung von den Schriftstellern als „Ingenieuren der menschlichen Seele" entgegen. 3. Entsprechend folgten sein Denken und Stil einem dualistischen Schema, das keine Zwischentöne kannte. „KTO ceroflH« noeT He c HÜMH, TOT npoTHB Hac." Ein solch vereinfachtes militantes Denkschema förderte die Verhärtung einander ausschließender Freund- und Feindbilder. 21 4. Majakovskijs dichterische Sprache, seine Metaphern, Motive und auch seine Person offenbaren eine strukturelle Disposition zur Gewalt — auch hier besteht eine Kontinuität vom Futurismus bis zur RAPP-Phase. Diese Disposition war verbunden mit dem starken Bedürfnis nach Selbstbestätigung, und führte nach der Revolution, als sich erstmals die reale Chance politischer Macht bot, zu einem problematischen Kampf um die Hegemonie und zugleich zur Unterwerfung unter die Autorität der Partei. Durch den Wunsch und die Bereitschaft, die eigene Utopie mit der politischen Realität zusammenzubringen, wird seine Dichtung autoritär im Gestus und blind für den zunehmenden Mißbrauch der Macht und für die Ende der 20er Jahre deutlichen Anzeichen des Massenterrors. Für Pasternak dagegen bedeutete Kunst im Kern immer Kritik, Distanz und Selbstbehauptung des Individuums gegen alle wie auch immer gearteten Ansprüche von Macht und Kollektiv. Diese Selbstbehauptung des Individuums manifestierte sich gerade in den leisen, vom gleichmachenden Lärm der Öffentlichkeit ungehörten Zwischentönen und bestand auf der Differenz zwischen gesellschaftlicher Wirklichkeit und ästhetischer Erfahrung und Gestaltung (d. h. Ablehnung der Widerspiegelungstheorie). Im Gegensatz zu Majakovskij, für den Leben und Natur keinen Wert an sich darstellten, — er erkannte ihr Existenzrecht nur durch Kampf, Bewährung und Beherrschung an — hielt Pasternak an einem Absoluten fest, das größer ist als der Mensch und all seine gesellschaftlichen Entwürfe und Bemühungen, egal, ob dieses Absolute Gott, Natur oder Leben genannt wurde. Pasternaks dichterische Sprache ist geprägt von der Achtung vor dem Individuum und der Ablehnung jeglicher - Menschen kollektiv führender Ideologie einerseits und dem Beharren auf der Wahrnehmung der empirischen Realität andererseits. Wie Ju. Lotman nachgewiesen hat, sind seine Gedichte alles andere als realitätsferne, willkürliche Selbstversenkung, Vorwürfe, die von der Kritik immer geäußert wurden. Vielmehr behauptet in ihr das Subjekt die Wahrheit seiner Gefühle und seine authentische Wahrnehmung der Wirklichkeit und trifft diese damit präziser als andere von ideologischen Definitionen verstellte vermeintlich realistische Beschreibungen. Obwohl die Gedichte also realistischer als die verklärende Lyrik des sozialistischen Realismus waren, sind sie durch ihre komplizierte Form einer breiten Leserschaft schwer zugänglich. Aber die Erschwerung der Form ist von anderer Art als bei Majakovskij. Gerade weil Pasternak der Sprache als einem total verfügbaren Instrument mißtraut und an ihrer Fähigkeit zweifelt,
21
vgl. hierzu auch Victor E r l i c h , The Place of Russian Futurism in the Russian Poetical Avantgarde. A Reconsideration, in: Russian literature XIII, 1983, S. 1—18, wo es u. a. heißt: „The remarkable affinity of rhetoric and tone (...) may well be rooted in an attitude or a cluster of attitudes which transcends and, if one will, antedates politics, but which, given a combative individual temperament and an acute social cirsis, is readily translatable into blatantly, if variously, political terms. It is high time, that the salient ingredients of this syndrome be disentagled. They include, I believe, an attraction to violence, verbal or otherwise (...)."
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Z. Slaw. 37 (1992) 3
Wirklichkeit adäquat zu erfassen, - und in dieser Erkenntnis der grundsätzlichen Unzulänglichkeit der Sprache ist er „moderner" als Majakovskij - ergreift bei ihm die Dekonstruktion des Gegebenen auch das sprachliche Gefüge selbst und reicht bis in die Zerstörung des konventionellen grammatischen Systems („langue"). Lotman spricht in diesem Zusammenhang von einer Verteidigung des Lebens vor dem Wort. 22 Indem Pasternaks Lyrik die Diskrepanz zwischen subjektiver Wahrnehmung, Wirklichkeit und sprachlichem Ausdruck zum zentralen Problem erhebt, steht sie in eklatantem Widerspruch zu den Prämissen des sozialistischen Realismus. Auch Majakovskij wurde immer wieder vorgehalten, er sei zu schwierig und zu subjektiv. Die anhaltenden unterschwelligen Widerstände gegen seine Kanonisierung galten vor allem seiner komplizierten innovatorischen Sprache und dem unkonventionellen Rhythmus, Verfahren, die allesamt unter das Verdikt des Formalismus fielen. In „Kak delat' stichi" forderte er, daß Thema und Aussage eines Gedichts unmißverständlich klar und eindeutig sein sollten. Die Mehrzahl seiner Gedichte, v. a. der nachrevolutionären Zeit, entspricht diesem Postulat. Die Erschwerung der Form, die Innovation von Lexik, Rhythmus, Syntax und Wortbildung verändert weder die inhaltliche Aussage noch das System der Sprache - letzteres hat G. Vinokur schon 1943 nachgewiesen. 23 Sie zeugt einerseits von einem spielerischen Umgang mit Sprache — und u. a. war Majakovskij in dieser vermeintlich subjektivistischen Freiheit anstößig —, zum anderen bewirkt sie eine Intensivierung der Aussage und zielt, indem sie die revolutionäre Aussage in revolutionäre Form kleidet, auf noch größere Beherrschbarkeit der jeweils zu überzeugenden Adressaten. Gewiß, Stalins Kanonisierung führte zu einer stark verengten Rezeption von Majakovskij. Man unterschlug den rebellischen Futuristen, der sich in kein Kollektiv einfügen ließ und entstellte seine Biographie, indem er zum bürgerlichen Biedermann, zum Patrioten und Antiwestler gemacht wurde, man verschwieg sein kompliziertes, unkonventionelles, aber öffentlich geführtes Privatleben, seine enge Beziehung zur westeuropäischen Avantgarde in Dichtung und Malerei wie auch seine Bewunderung für die westliche, v. a. amerikanische Technik und Zivilisation. Durch Beschränkung auf einen mageren Kanon von politisch-publizistischen Gedichten unter Ausschluß der Theaterstücke, des futuristischen Frühwerks und großer Teile seiner Liebesdichtung bemühte man sich, die innovative Eigenart seiner dichterischen Sprache zu verdecken und ihn so konventionell wie möglich herzurichten. Dennoch zeigen die genannten Aspekte, daß sein Erbe ambivalent war und durchaus auch ein autoritäre Potential enthält, das den Grundprinzipien des sozialistischen Realismus und dem Kulturmodell der 30er und 40er Jahre entgegenkam und in seiner Rezeption von 1936 ab hauptsächlich die Oberhand gewann. Wenn nun in den heutigen, seit 3—4 Jahren aufgebrochenen Debatten in der sowjetischen Intelligenz Majakovskij sehr breit und in aller Schärfe abgelehnt wird und Pasternak dagegen als Gewissen der Nation, als Zeuge einer Kontinuität humanistischer Tradition auch in der Stalin-Zeit und als Orientierungsfigur einer ethischen Erneuerung durch Literatur gefeiert wird, so spiegelt diese neuerliche Einseitigkeit zunächst und vor allem die problematische Rezeptionsgeschichte beider Dichter. In der gegenwärtigen Kontroverse reproduziert sich häufig die von mir eingangs erwähnte einfache Gleichung vom Verhältnis Dichtung und Macht, nur mit umgekehrten Vorzeichen: Majakovskij wird als der eigentliche Stalinist und Wegbereiter des Ezovschen Terrors dargestellt, während Pasternak zum Märtyrer, Opfer und Dissidenten der ersten Stunde wird. Diese Situation bestätigt, was Henrietta Mondry kürzlich in ihrer Untersuchung der ideologischen Struktur der sowjetischen Literaturwissenschaft und -kritik seit Beginn der Perestrojka festgestellt hat, daß nämlich das alte dualistische Denk- und Wertungsschema unverändert — wenn auch mit vielfach 22 23
Jurij L o t m a n , Stichotvorenija rannego Pasternak, a. a. O. Grigorij V i n o k u r , Majakovskij - novator jazyka, Moskva 1943.
B. MENZEL, V. V. Majakovskij und B. L. Pasternak
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umgekehrten Vorzeichen — weiterlebt.24 Eine von ideologischen Vorurteilen unverstellte Einschätzung der Dichter, die ihrer Komplexität und Problematik gerecht wird und doch auf eine Parteinahme nicht verzichtet, scheint gegenwärtig in der sowjetischen Literaturdiskussion noch nicht möglich zu sein. Anschrift der Verfasserin: Dr. Birgit Menzel, Ilmenauer Str. 9 b, W - 1000 Berlin 33 24
Henrietta M on dry, The Evaluation of Ideological Trends in Recent Soviet Literary Scholarship. Slavistische Beiträge, Band 255, München 1990.
Z. Slaw. 37 (1992) 3, 378-389
Joachim K l e i n
Lagerprosa: Evgenija Ginzburgs „GratWanderung" Ein bedeutsamer Aspekt des Reformprozesse, der sich nun schon seit Jahren in der Sowjetunion vollzieht, ist die inzwischen völlig offene und kritische Auseinandersetzung mit der Stalinzeit. Diese Entwicklung kommt auch einem Kapitel der Literaturgeschichte zugute, das in der Sowjetunion bis vor nicht allzu langer Zeit tabuisiert war: der Darstellung dessen, was man mit Solzenicyn als den „Archipel Gulag" bezeichnet — der Gefangnisse und Arbeitslager der nachrevolutionären Zeit und der Stalinschen Epoche. Dieses Schrifttum 1 ist vielfältig: außer dokumentarischen Formen wie Autobiographie und Memoiren umfaßt es Werke, die zur Epik, Dramatik oder zur Lyrik gehören — Romane, Erzählungen, Bühnenstücke, Gedichte und Lieder aus dem Lagerleben. Unterschiedlich sind auch die Intentionen. Nicht wenige dieser Werke dienen einer offiziell gebotenen Verharmlosung — im Jahre 1934 schreibt z. B. ein Autor eine Komödie aus dem Lagerleben; dieses Stück konnte noch 1960 und 1972 nachgedruckt werden2. Insgesamt ist es schwierig, den Begriff der Lagerliteratur auf eine Weise abzugrenzen, die über das bloß Thematische hinausginge. Allerdings hat das Thema seine eigene Logik, es besteht eine Affinität zu bestimmten Formen. Auch gibt es innerhalb der Lagerliteratur Traditionsbezüge: zum guten Teil orientieren sich die Autoren nicht nur am unmittelbar Erlebten und Erfahrenen, sondern - bewußt oder unbewußt, zustimmend oder kritisch — auch an anderen Werken der Lagerliteratur. Was den enger gefaßten Begriff der Lagerprosa betrifft, so verwende ich ihn für dasjenige Schrifttum, das aufgrund eigenen Erlebens oder doch eigener Beobachtung vom Leben in den Gefängnissen und Straflagern nicht nur der Sowjetzeit handelt, sondern auch der Zarenzeit: Dostoevskijs „Aufzeichnungen aus einem Toten Hause" und Cechovs „Insel Sachalin" sind ebenso bedeutende Denkmäler der Lagerprosa, wie die einschlägigen Werke Solzenicyns, wie Varlam Salamovs „Erzählungen von der Kolyma" oder wie E. Ginzburgs „Gratwanderung" 3 . Biographie und Textgeschichte E. Ginzburg wurde 1906 geboren; als 70jährige ist sie 1977 in Moskau gestorben4. Sie gehört zu der großen Zahl parteitreuer Kommunisten, die seit Mitte der 1930er Jahre der großen „Säuberung" zum Opfer gefallen sind. In Kazan', wo sie als Hochschuldozentin und Journalistin tätig 1
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vgl. M. G e l l e r , Koncentracionnyj mir i sovetskaja literatura, London 1974, und G. N i v a t , La littérature témoin de l'inhumain, in: Symposium. Encyclopaedia universalis, Paris 2 1985, S. 64—72. N. P o g o d i n , Aristokraty. Komedija v cetyrech dejstvijach [i] dvadcati cetyrech épizodach, in: ders., Sobranie dramaticeskich proizvedenij v pjati tomach, t. 3, Moskva 1960, S. 85-171; ferner in: d e r s . , Sobranie socinenij v cetyrech tomach, 1.1, Moskva 1972, S. 3 2 7 - 4 1 2 - Zur affirmativen Lagerliteratur vgl. A. S o l z e n i c y n , Archipelag GULag. 1918-1956. Opyt chudozestvennogo issledovanija, Bd. II, Paris 1974, S. 77ff., und G e l l e r , a. a. O., S. 84ff., 133ff., hier 1 5 1 - 1 5 7 („>Aristokraty< - komedija o konclagere"). E. G i n z b u r g , Krutoj marsrut, t. 1 - 2 , New York 1985. Die Übersetzungen stammen von mir. Bei den Zitaten beziehen sich die römischen Ziffern auf den Band und die arabischen Ziffern auf die Seitenzahl, also: I, 45 oder II, 28. - Inzwischen ist das Buch auch in der Sowjetunion erschienen (Moskva 1990). Eine textkritische Ausgabe steht aber noch aus. In der deutschen Übersetzung bezieht sich der Titel „Gratwanderung" nur auf den zweiten Band: E. G i n s b u r g , Gratwanderung, München - Zürich 8 1989; der erste führt den - nicht so glücklich übersetzten - Titel „Marschroute eines Lebens" (München - Zürich 2 1989). In der vorliegenden Arbeit soll der deutsche Titel „Gratwanderung" für beide Bände gelten, wie das dem einheitlichen Titel des Originals entspricht. E.-J. B r o w n nennt das Jahr 1980 (in: Handbook of Russian Literature, New Haven - London 1985, S. 172).
J. KLEIN, Lagerprosa: Evgenija Ginzburgs „Gratwanderung"
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war, wird sie 1937 verhaftet: sie sei Mitglied einer trotzkistischen Terrororganisation. Im selben Jahr verurteilt man sie zu zehn Jahren Einzelhaft und fünf Jahren Ehrverlust. Nach zweijähriger Haft im Gefängnis von Jaroslavl' wird ihre Strafe in Lagerhaft umgewandelt. Diese verbüßt sie im äußersten Nordosten der Sowjetunion, in der Nähe des Polarkreises, in den berüchtigten Lagern an der Kolyma. 1947 wird sie aus dem Lager entlassen. Die folgenden Jahre verbringt sie als Zwangsangesiedelte in Magadan, der Hauptstadt des Magadaner Gebiets der ehemaligen RSFSR. Dort wird sie im Jahre 1949 erneut verhaftet, zum Glück nur für einen Monat, den sie im Gefängnis von Magadan zubringt5. Einer neuen Verhaftung im Jahre 1953 entgeht sie durch den Tod Stalins. 19556 wird sie rehabilitiert und kann nun ihren Wohnsitz zunächst in L'vov 7 , dann in Moskau nehmen. In Moskau wird sie gegen ihren Willen veranlaßt, erneut der Kommunistischen Partei beizutreten; eine solche Aufforderung abzulehnen, hätte unangenehme Folgen gehabt8. Andererseits hat sie sich in diesen Jahren offenbar noch als Kommunistin gefühlt9. Jedenfalls besucht sie „regelmäßig" die Versammlungen einer Parteiorganisation, sie zahlt Beiträge und redigiert Wandzeitungen10. Private Äußerungen aus den 70er Jahren zeigen jedoch, daß sie sich gegen Ende ihres Lebens von den revolutionären Idealen ihrer Jugend gelöst hat11. Ohne Hoffnung auf eine spätere Drucklegung, unabhängig also vom Zwang der Zensur, beginnt sie im Jahre 1959, ihre Erinnerungen aus Haft und Zwangsansiedlung aufzuschreiben; vgl. den „Epilog" am Ende des zweiten Bandes. Im Jahre 1962 liegt ein umfangreiches Manuskript vor. Ein Jahr zuvor war es auf dem 22. Parteikongreß zu einer offiziellen Verurteilung Stalins gekommen; in der Zeitschrift „Novyj mir" erscheint 1962 Solzenicyns Lagererzählung „Ein Tag im Leben des Ivan Denisovic" und erregt großes Aufsehen. Nun kann auch E. Ginzburg auf eine legale Veröffentlichung hoffen. Aber mit der vorliegenden Fassung ihres Buches ist sie aus literarischen Gründen nicht zufrieden; auch politische Rücksichten spielen offenbar eine Rolle: manches erschien ihr als zu gewagt; (in einem Anfall von Panik hat sie diese frühe Fassung später verbrannt) 12. Sie macht sich von neuem an die Arbeit und schreibt den ersten Band der „Gratwanderung" —nun aber, wie sie selber hervorhebt, mit Blick auf den „inneren Zensor" (II, 347), wobei sie besonders auf ihr Vorwort verweist: dort spricht sie von der „großen Leninschen Wahrheit", die nun in ihrem Lande herrsche, und bezeichnet ihr Buch als die „Aufzeichnungen einer einfachen Kommunistin" (I, 7 f.; 8). Aber schon 1963 endet die Tauwetterperiode und spätestens gegen Ende
Vgl. dagegen W. K a s a c k , Lexikon der russischen Literatur ab 1917, Ergänzungsband, München 1986, S. 224. Der Verf. vervollständigt hier seine Angaben in: ders., Lexikon der russischen Literatur ab 1917, Stuttgart 1976, S. 121. Das hier angegebene Todesdatum - 1977-entspricht den Angaben bei R. O r l o w a L. K o p e l e w , Zeitgenossen. Meister. Freunde, München - Hamburg 1989, S. 121-169, hier S. 121. Ich beziehe mich auf diese übersetzte Ausgabe - sie ist ausführlicher als das russische Original: R. O r l o v a L. K o p e l e v , My zili v Moskve. 1956-1980, Ann Arbor/Mich. 1988, S. 322-344 („Evgenija Ginzburg v konce krutogo marsruta"). Wenn nicht anders angegeben, entnehme ich die folgenden Daten zu Biographie und Textgeschichte der „Gratwanderung". 5 vgl. dagegen W. K a s a c k , Lexikon (1976), S. 121: E. Ginzburg sei 1951 erneut ins Lager gekommen. 6 W. K a s a c k , a . a. O. S. 121,undE.-J. Brown, a. a. O., nennen das Jahr 1956. In der sowjetischen Ausgabe der „Gratwanderung" (s. Fußn. 3) ist neben Photos auch die Rehabilitationsurkunde abgebildet. Sie ist auf den 4. Juli 1955 datiert. 7 R. O r l o w a - L. K o p e l e w , a. a. O., S. 126. 9 ebd. 9 ebd. 10 ebd., 130. 11 In einem Gespräch des Jahres 1970 hat sie J. P. Sartre wegen seiner revolutionären Sympathien scharf kritisiert. Vgl. auch ihre Äußerungen über Majakovskij und dessen Lobpreis der Sowjetmacht - ebd., S. 134 f., 139. 12 ebd., S. 131.
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des Jahres 1966 hat E. Ginzburg jede Hoffnung auf eine legale Veröffentlichung in der Sowjetunion verloren. Aber sie ist entschlossen, ihr Werk zu Ende zu bringen. Nachdem sie auf den ersten Seiten des zweiten Bandes noch auf die Zensur geblickt hatte, schreibt sie den Rest, wie sie selber betont, ohne jede Rücksicht dieser Art. Inzwischen kursiert der erste Band im Untergrund des Samizdat und ist sehr erfolgreich: er erreicht ein großes Publikum sowjetischer Leser; aus den unterschiedlichsten Kreisen der Bevölkerung erhält die Autorin zustimmende Briefe. Ohne ihr Wissen wird der erste Band der „Gratwanderung" im Jahre 1967 von einem italienischen Verlag herausgegeben; in schneller Folge erscheint das Buch dann auch in anderen westlichen Ländern. Der zweite Band wird posthum veröffentlicht, ebenfalls im westlichen Ausland.
Memoirenwerk und Autobiographie Die Erinnerungen der Evgenija Ginzburg handeln von dem 18 Jahre währenden Abschnitt ihres Lebens, der mit der Verhaftung im Jahre 1937 beginnt und mit dem Tag der Rehabilitation im Jahre 1955 endet. Es wirken zwei gattungsprägende Impulse: die „Gratwanderung" ist gleichzeitig ein Memoirenwerk und eine Autobiographie13. Zwei Themen werden entfaltet, ein geschichtliches und ein persönliches: die Stalinsche Gefängnis- und Lagerwelt und die Lebensgeschichte der Autorin. Wie eng diese beiden Themen miteinander verflochten sind, zeigt sich an der Gestalt erlebenden und erzählenden Ich. Dem Leser tritt ein Individuum von eigener Prägung entgegen, eine Frau, die mit Humor, Klugheit, Bildung, mit der Fähigkeit zum Mitleiden und einer unbändigen Lebenskraft begabt ist. Gleichzeitig erscheint sie aber auch, wie schon angedeutet, als ein bestimmter historischer Typus: als eine zum Zeitpunkt der Verhaftung noch jüngere Vertreterin der linientreuen Parteiintelligenz, als eine Kommunistin, die wie viele andere ihre Kraft in den Aufbau des neuen sowjetischen Staates gestellt hatte - und die nun plötzlich als „Volksfeindin" angeprangert und behandelt wird. Dieselbe Einheit von Typischem und Individuellem kennzeichnet den Weg des erlebenden Ich durch die Stalinschen Gefängnisse und Straflager. Als Häftling teilt E. Ginzburg das Schicksal von vielen anderen. Aber ihr Weg gestaltet sich auch auf eine besondere Weise. Allein die Tatsache, daß es ihr gelingt zu überleben, fallt aus dem Rahmen des Typischen heraus. Die Zweieinheit von Autobiographischem und Memoirenhaftem verwirklicht sich auch in jener Doppelrolle, in der das erlebende Ich auftritt: es fühlt sich nicht nur „als Opfer, sondern auch als Beobachter" (I, 7). Mehrfach spricht die Autorin von der Neugier und Wißbegier, mit der sie - bei allem Schrecken und bei aller Ratlosigkeit - in die Welt der Häftlinge eingetreten sei (I, 7, 109). Auch in dieser Hinsicht durchdringt sich das Historische mit dem Persönlichen, denn die Haltung des Beobachters hilft dem erlebenden Ich, zu der Gefängnis- und Lagerwelt, der es nun für viele Jahre ausgeliefert ist, eine Distanz zu gewinnen, die ihm das Uberleben erleichtert. Mit Blick auf diese Doppelrolle erscheint die „Gratwanderung" nicht nur als Leidensweg oder, wie es an einer Stelle heißt, als „Kreuzweg" (II, 327), sondern auch als erzwungene Entdeckungsreise, die mit dem Ziel angetreten wird, alle Erfahrungen dereinst aufzuzeichnen und der Öffentlichkeit mitzuteilen (1,7). Umgekehrt wirken die .unterwegs' gemachten Erfahrungen auf das Weltbild des erlebenden Ich zurück und gewinnen so, über das Allgemeine und Geschichtliche hinaus, eine wiederum persönliche Bedeutung.
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Zur Theorie vgl. R. Pascal, Die Autobiographie. Gehalt und Gestalt, Stuttgart - Berlin - Köln - Mainz 1965 (veränderte und erweiterte Fassung des englischen Originals von 1960).
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Die „Gratwanderung" als Memoirenwerk E. Ginzburg erlebt ihr Schicksal nicht nur als Unglück, sondern auch als Chance zeitgeschichtlicher Erfahrung (II, 69) — eine Chance, die sie entschlossen wahrnimmt und später, nach der Rehabilitierung, als Autorin einlöst: aus eigenem Erleben will sie die Stalinsche Gefängnis- und Lagerwelt auf eine möglichst umfassende, wirklichkeitsnahe, differenzierte und anschauliche Weise darstellen. Sachliche Information verbindet sich mit emotionalem Appell. Als unauffälligkonventionelles Medium der Erzählrede fungiert eine weitgehend merkmallose und präzis benennende Literatursprache. Sie sichert eine leichte und flüssige Lektüre. In den dialogischen Partien bemüht sich die Autorin um eine getreue Wiedergabe regionaler und sozialer Dialekte — hier wirkt die Tradition des realistischen Stils, so wie er sich z. B. in Dostoevskijs „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus" ausprägt. Mit dem Rückgriff auf solche altgewohnten und eingängigen Formen der publizistisch-literarischen Kommunikation gewinnt die Autorin die Möglichkeit, einen möglichst großen Leserkreis anzusprechen - was ihr ja auch gelungen ist. Im zeitlichen Abstand der Erinnerung weiß sie als erzählendes Ich das seinerzeit Erlebte zu überblicken und zu kommentieren. Immer wieder verengt sich diese auktoriale Perspektive jedoch zur personalen Perspektive des hier-und-jetzt erlebenden Ich. Durch die Verfahren einer quasi-szenischen Darstellung entsteht eine Illusion von Unmittelbarkeit; der Leser soll die dargestellte Wirklichkeit nicht nur von außen, sondern auch von innen wahrnehmen - mit den Augen des Häftlings, als konkret erfahrene und erlebte. Das umfassende und reich differenzierte Bild der Stalinschen Gefängnis- und Lagerwelt ist Inhalt der historischen Erinnerung. Eine Epoche der russischen Geschichte, die für die Autorin mit Stalins Tod am 5. März 1953 zuende gegangen ist, soll mit literarischen Mitteln beschworen und über den Abstand der Zeit auf suggestive Weise vergegenwärtigt werden. In fiktiver Unmittelbarkeit soll sie dem Leser auf eine Weise vor Augen treten, daß alle Versuche zunichte werden, diese Vergangenheit dem Vergessen preiszugeben. Es geht der Autorin speziell auch darum, die Erinnerung an die zahllosen Opfer des Regimes wachzuhalten und ihnen ein literarisches Denkmal zu setzen. Der einzelne Mensch, dessen tragische Lebensgeschichte sie erzählt, soll aus der anonymen Masse der Opfer heraustreten. Sein individuelles Schicksal, das in der Erinnerung vergegenwärtigt und auf eine je persönliche Weise aufgefaßt wird, gewinnt so jene Eindringlichkeit zurück, die sich im Statistisch-Abstrakten der großen Zahl zu verflüchtigen droht. Vor allem ein Ziel ist es, das die Autorin mit ihren Aufzeichnungen verfolgt: die Zerstörung des Stalin-Mythos. Diesen Mythos bringt sie mit Zitaten aus dem seinerzeit offiziellen Formelrepertoire immer wieder sarkastisch zur Geltung; im russischen Original verwendet sie die Großschreibung, um den quasi-göttlichen Charakter des offiziellen Stalin spöttisch hervorzuheben: sie spricht vom „Großen und Weisen", vom „Führer und Freund" (II, 294), vom „Besten Freund der Kinder" (II, 300). Eine übersteigernde Aufzählung dieser Art lautet: „Genius, Führer, Vater, Schöpfer, Inspirator, Organisator, der Beste Freund, die Koryphäe usw., usw." (II, 295). Diesen Stalin-Mythos sucht sie nicht nur durch die Darstellung jener Realität zu entlarven, die sie in den Gefängnissen und Lagern kennengelernt hat, sondern auch durch die Schaffung eines Gegenmythos. Die Kategorien geschichtlicher Erfahrung, die diesen Gegenmythos begründen, werden nicht ausdrücklich formuliert. Sie lassen sich an der Metaphorik ablesen. Oft genug soll diese Bildersprache nur die Gefühle und den Wertstandpunkt der Autorin zur Geltung zu bringen. Aber auch ein Moment unbewußter Geschichtsdeutung äußert sich. Das historische Geschehen der Stalinzeit wird mit Naturgewalten ineinsgesetzt — mit einer „Lawine" (1,17ff.), einem „reißenden Strom", in dem das Individuum hilflos umhertreibt (II, 316), oder mit einem Sturmwind, der die Menschen 25
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wie Hobelspäne vor sich herwirbelt (II, 189). Manchmal verkörpern sich diese geschichtlichen Kräfte im Bild des „Drachen" (z. B. 1,392 oder II, 241), auch von „Dämonen" ist die Rede (II, 287). Nicht selten begegnet man dem Bildfeld des Mechanischen, etwa in der traditionellen Ausprägung vom „Rad" der Geschichte, das die einzelnen Menschen unterschiedslos zermalmt (II, 137, 167); vgl. auch die Wendung vom „Teufelsrad" (I, 296). Um die Tätigkeit des Stalinschen , Apparats' zu kennzeichnen, spricht die Autorin von einem „Fleischwolf" (II, 313), von einer „Henkermaschine" und von einer „Maschine des Verbrechens" (II, 314). Was die genannten Bilder miteinander verbindet, ist das Moment des Unpersönlich-Bedrohlichen, des Menschenfernen und -fremden, des Übermächtigen und Unaufhaltsamen, schließlich des Unverständlichen und Rätselhaften. Wie aus der Perspektive des erlebenden Ich immer wieder hervorgehoben wird, spottet das Wirken dieser .Naturgewalten', dieses .Drachens', dieser .Dämonen' oder dieser .Maschine' jedem gesunden Menschenverstand. Deutungsversuche erscheinen als naiv, als Ausdruck von Illusionen, die an der Erfahrung scheitern müssen und scheitern. Jede Prognose wird zunichte, es sei denn, sie rechne mit dem Sinnwidrigen und Schrecklichsten. Das, was sich tatsächlich ereignet, entzieht sich einer jeden Erklärung; die kausalanalytischen oder zweckrationalen Kategorien der Menschenwelt versagen. Diese Ratlosigkeit, die sich in dem Begriffsfeld des Absurden oder des Wahnsinnigen äußert, kennzeichnet die Haltung des erlebenden ebenso wie des erzählenden Ich. Auch im Rückblick unternimmt die Autorin keinerlei Versuch, die Ereignisse der Stalinzeit auf die eine oder andere Weise geschichtlich abzuleiten, etwa aus ideologischen Voraussetzungen, aus der realhistorischen Entwicklung, aus einem Kalkül der Macht, aus der inneren Dynamik der Bürokratie oder aus wirtschaftlichen Interessen. Diesen Versuch unternimmt Solzenicyn in seinem „Archipel Gulag", nicht aber E. Ginzburg. Mit Ausnahme der schon zitierten Stelle aus der Einleitung fällt an keiner Stelle ihres Buches der Name Lenins. Die einzige Ursache und Quelle der Verbrechen ist für sie der souveräne Wille Stalins - ein Wille, der auch seinerseits nicht weiter abgeleitet wird, etwa aus einer Charakteranalyse. Man versteht nun, wie die Autorin nach der Rehabilitierung erneut am Leben der Kommunistischen Partei aktiv teilnehmen konnte. In dem schon zitierten Vorwort zum ersten Band charakterisiert sie ihre Aufzeichnungen als „Chronik aus den Zeiten des Personenkults" (I, 8). Diese offizielle Formel verweist auf die antistalinistische Kampagne, die mit Chruscevs Geheimrede auf dem 20. Parteikongreß im Jahre 1956 eingesetzt hatte. Offenbar sucht E. Ginzburg beim Schreiben ihres Buches diese Kampagne zu unterstützen. Aber damit fügt sie sich auch deren Grenzen. Zwar macht sie sich, wie man noch sehen wird, an einer Stelle ihres Buches selber Vorwürfe, daß sie seinerzeit, als junges Parteimitglied, der Stalinschen Politik keinen Widerstand geleistet hat. Derselbe Vorwurf könnte sich auch gegen die ganze Partei richten. Davon ist jedoch nicht die Rede, eher im Gegenteil. In nahezu ausschließlicher Weise richtet sich die Anklage gegen die Person Stalins und dessen bürokratische Helfershelfer. Die Partei wird von der historischen Verantwortung entlastet. Sie erscheint nicht als Komplize, sondern eher als Opfer Stalins. Damit erspart die Autorin nicht nur sich selber, sondern auch ihren Lesern den Entschluß, eine radikale Konsequenz zu ziehen und mit Partei und System zu brechen. Der Lenin-Mythos konnte auf diese Weise ebenso intakt bleiben wie der Mythos der Großen Revolution. All dies mag zu dem bemerkenswerten Erfolg beigetragen haben, den die „Gratwanderung" beim sowjetischen Leser seinerzeit gehabt hat. In ihrem Kampf gegen den offiziellen Stalin-Kult verwendet die Autorin unter umgekehrten Vorzeichen dessen ureigene Kategorien. Sie steht im Banne dieser Kategorien und kann so den Stalinismus als historische Formation nur unter mythischen und jedenfalls irrationalen Auspizien betrachten. Stalin erscheint ihr als eine unpersönliche und unbegreifliche Instanz, als Dämon und
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KLEIN,
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Verkörperung jenes absolut „Bösen", von dem an einer Stelle die Rede ist - auch hier verwendet sie wieder die quasi-sakrale Großschreibung: Zlo s boFsoj bukvy (I, 121). Diese Auffassung von Stalin und der Stalinschen Epoche zeigt ein religiöses Gepräge. Von Stalin ist oft die Rede, aber nicht immer wird auch sein Name genannt. Es äußert sich eine gewisse Scheu, dieses Wort auszusprechen. Auch gegen Ende des zweiten Bandes, als die Autorin Stalin mit Hitler auf eine Stufe stellt (II, 314), vermeidet sie es, seinen Namen zu verwenden. Es ist auffallig, wie oft sie einer direkten Nennung des Namens ausweicht und es vorzieht, ironisch die schon angeführten Formeln des positiven Stalinmythos zu verwenden. Oder sie benutzt solche Periphrasen wie „(der Große) Menschenfresser" (( Velikij) Ljudoed- 1,167, 346), der „Große Verderber" ( Veltkij Dusegub - II, 254) oder „das blutige Idol des Jahrhunderts", dessen „teuflischer Willen" ihr Leben zerstört habe (krovavyj Idol veka — II, 293); im ersten Band war die Rede vom „Netz des Luzifer", in das sie hineingeraten sei, dort noch in Anführungszeichen (I, 27).
Die „Gratwanderung" als Autobiographie In diesem Kampf gegen den Stalinkult resümiert sich ein Aspekt derjenigen Entwicklung, die sich im Weltbild der E. Ginzburg unter dem Eindruck ihrer Hafterlebnisse vollzogen hat. Schon auf den ersten Seiten der „Gratwanderung" wird dem Leser klar, daß die Autorin jetzt ein anderer Mensch ist, als jene realitätsblinde und naive Idealistin, die im Jahre 1937 verhaftet worden ist. Sie weiß nun, daß sie seinerzeit an den Schrecken der Epoche mitschuldig geworden ist, sei es durch Nicht-wahrhaben-wollen, durch Schweigen oder durch gehorsames Abstimmen im Sinne der Parteidirektive. Sie stellt sich in einen Gegensatz zu anderen Häftlingen, die aus ihren Erfahrungen nichts gelernt haben und noch als Opfer des Regimes am Stalinkult festhalten. Im Gefängnis von Jaroslavl' verfaßt eine Zellennachbarin guten Glaubens ein Huldigungsgedicht an Stalin (1,287 f.). Andere Häftlinge versuchen, den Stalinschen Terror mit den Verfahren des dialektischen Materialismus zu rechtfertigen und scheuen sich nicht, jenes bekannte Sprichwort anzuführen, das man auch im Russischen verwendet: „Wo gehobelt wird, da fallen Späne" (¿es rubjat - scepki letjat: I, 289). Wie aus der ganzen Darstellung deutlich wird, hat die Autorin mit solchen Vorstellungen längst gebrochen. Von einer relativistischen Parteimoral des Zwecks, der alle Mittel heiligt, von einer Dialektik, die das Verbrechen der Gegenwart im Namen einer idealen Zukunft zu rechtfertigen versteht - von all dem will sie nichts mehr wissen. Sie ist zur Moralistin geworden. Maßgeblich ist nur noch das Gewissen (etwa I, 78,145), der zeitlose Gegensatz von Wahrheit und Lüge, von Gut und Böse (etwa II, 313). Die Nähe zur christlichen Ethik nicht zu verkennen. E. Ginzburgs zweiter Ehemann, der Wolgadeutsche Dr. Anton Walter, war praktizierender Katholik; unter seinem Einfluß hat sie dem parteioffiziellen Atheismus abgeschworen und ist offenbar der katholischen Kirche beigetreten14. In ihrem Buch kommt derlei allerdings nur selten zur Sprache, und auch erst gegen Ende, als sie vom Evangelium und von Gott spricht (II, 314, 327f.). Diese Zurückhaltung erklärt sich vielleicht durch Rücksichtnahme auf die sowjetischen Leser. Wann ihre Entwicklung zur Religion eingesetzt hat, bleibt jedenfalls unklar; in ihrem Buch ist davon nicht die Rede. Sie gehört wohl auch nicht in den Lebensabschnitt, von dem hier die Rede ist - noch in den Jahren der Zwangsansiedlung kann A. Walter ihr auf humorvolle Weise den Vorwurf der Ungläubigkeit machen (II, 291). Zu dieser Entwicklung gehört auch ihre Abwendung von der offiziellen Ethik der Partei. Aber 14
vgl. R. O r l o w a - L. Kopelew, a. a. O., S. 153f.
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auch dieser Prozeß wird eher vorausgesetzt, als zum Gegenstand des autobiographischen Berichts gemacht: in erster Linie handelt die „Gratwanderung" nicht von Entwicklung, sondern vom Beharren, es geht um Selbstbehauptung. An die Stelle jener lebendigen und letztlich produktiven Wechselwirkung von Ich und Welt, die das Strukturprinzip der klassischen Autobiographie bildet15, tritt der starre Antagonismus eines Lebenskampfes, der sich in jeder Situation der Lagerwelt auf zermürbende Weise wiederholt. Dieser Kampf wird gegen Haftbedingungen geführt, die das physische Überleben eher zur Ausnahme als zur Regel machen. Selbstbehauptung bedeutet für die Autorin jedoch mehr als nur das physische Überleben — es bedeutet auch Festhalten am eigenen Ich, das Beharren auf ihrer Identität. Mit dem Kampf gegen Krankheit, Erschöpfung, Hunger und Frost verbindet sich der Widerstand gegen die Reduktion auf das Elementare der physischen Existenz, gegen Entpersönlichung und den Verlust der Individualität. Wie schon hervorgehoben, sucht das erlebende Ich innerlich Distanz zu gewinnen und sich gegenüber den Umständen der Lagerexistenz und dem Verfügungsanspruch der Lagerobrigkeit als personales Gegenüber zu behaupten. Diese Distanz gewinnt es nicht nur durch die Haltung des Beobachters, sondern auch durch Ironie und sogar Humor. Die große Zahl von literarischen Reminiszenzen und Zitaten, die man in der „Gratwanderung" findet, erfüllt ähnliche Aufgaben. Mit der Dichtung eröffnet sich dem erlebenden Ich in den ganzen Jahren seiner Gefängnis- und Lagerhaft eine Welt humaner Werte, in die es sich nach Belieben hineinversetzen kann, um so einen Rest von persönlicher Autonomie zu bewahren. Inmitten einer verkehrten Welt, in der die überkommenen Regeln des Zusammenlebens aufgehoben und ins Gegenteil verkehrt sind, sucht das erlebende Ich auf denjenigen Maßstäben zu beharren, die vor der Haft für es gültig gewesen waren. Das Gegenbeispiel bieten diejenigen Häftlinge, die mit ihrer Vergangenheit gebrochen haben und sich widerstandslos dem fügen,was als das „Wolfsgesetz der Lager" (I, 269) bezeichnet wird. Gerade diese Vergangenheit ist für die Autorin aber besonders wichtig. Ihre Vorstellung von dem Selbst, das es zu bewahren gilt, ist untrennbar mit der lebensgeschichtlichen Kontinuität der eigenen Persönlichkeit verbunden - mehrfach spricht sie diesem Sinne von einem „Zusammenhang der Zeiten", von einem „Lebensfaden", der nicht zerrissen werden dürfe (II, 219f., 335f.). In diese Kontinuität gehört auch der Lebensabschnitt, den die Autorin in Haft und Zwangsansiedlung verbracht hat. Gegen Ende des zweiten Bandes berichtet sie von einem Mithäftling, der nach der Rehabilitierung den Kontakt zu den ehemaligen Leidensgenossen abbricht, der die Erinnerung an seine Lagerjähre von sich wegschiebt und in das seinerzeit unterbrochene Leben zurückkehren will, als sei nichts geschehen. E contrario fallt damit ein Licht auf die autobiographische Intention der „Gratwanderung": wenn die Autorin ihre Vergangenheit in der Erinnerung vergegenwärtigt, dann tut sie das nicht nur für den Leser, sondern auch für sich selber - die Einheit ihres Selbst liegt in jenem lebendigen Zusammenhang von Vergangenheit und Gegenwart, der durch die Erinnerung verbürgt und aktualisiert wird. Derselbe Gedanke läßt sich vom Persönlichen wieder ins Geschichtliche übertragen: indem E. Ginzburg ihren Landsleuten von den Schrekken der Stalinschen Epoche berichtet, leistet sie ihren Beitrag zur Stiftung einer nationalen Identität, deren kollektives Bewußtsein nicht mehr nur in militärischen Triumphen und technischen oder sozialen .Errungenschaften' begründet wäre. Ebenso wie das gesamte nicht-affirmative Lagerschrifttum bildet das Erinnerungsbuch der E. Ginzburg ein Korrektiv zu solchen Formen der Sowjetliteratur, wie dem Produktionsroman oder der Kriegsliteratur, ganz zu schweigen von der offiziellen Geschichtsschreibung. Mit den zahlreichen Literaturzitaten, die man in der „Gratwanderung" findet, ergibt sich für das 15
vgl. P a s c a l , a. a. O., S. 49-64.
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Beharren der Autorin auf der eigenen Identität auch eine soziale Bedeutung. Wenn sich das erlebende Ich in Gedanken immer wieder in die Welt der Dichtung versetzt, dann gewinnt es nicht nur Distanz zur Lagerwelt, sondern es versichert sich auch seiner eigenen Prägung als Angehörige jener sozialen Schicht, die im Russischen auf schwer übersetzbare Weise mit intelligencija bezeichnet wird 16 . Was die Autorin hier im Sinn hat, ist eine soziale Elite, für deren Einheit sie nicht nur Bildung, sondern auch gemeinsame Ideale und moralische Maßstäbe in Anspruch nimmt. Sie spricht von den „unsrigen". Das kann sich auf die Schicksalsgemeinschaft der ehemaligen Häftlinge beziehen (II, 305), aber auch auf die intelligencija, der sie sich auf so entschiedene Weise zugehörig fühlt (II, 86,95,134 f.). All dies wirft schließlich auch ein Licht auf ihren Stil, auf dessen literatursprachliches Gepräge und das Vermeiden von Vulgarismen aus dem Lager-Jargon 17 . Eine nicht sehr häufige Ausnahme bilden diejenigen Wörter, die in ihrer besonderen Prägnanz kein hochsprachliches Äquivalent haben mochten {dochodjaga, balanda, parasa u. a.), aber solche Wörter erscheinen oft genug in Anführungszeichen: gerade auch in sprachlicher Hinsicht soll deutlich werden, daß die Autorin sich treu geblieben ist und nach wie vor als Mitglied der russischen ,Intelligenz' gelten will. Eine noch größere Rolle für die Wahrung ihrer Identität spielt das Selbstgefühl als Frau und als Mutter von zwei Kindern. Die Sorge um ihre Kinder, von denen sie durch die Verhaftung getrennt wurde, begleitet die Autorin durch ihr ganzes Häftlingsleben. Dasselbe gilt für die Trauer um den älteren Sohn, der bei der Leningrader Blockade umgekommen ist. Später, als Zwangsangesiedelte in Magadan, wird sie gegen alle Bedenken ihrer Freunde ein kleines Mädchen von noch nicht zwei Jahren adoptieren. Inmitten dieser Welt ist die Autorin nicht bereit, auch nur ein einziges jener vielfältigen Momente preiszugeben, die den Reichtum ihrer Persönlichkeit begründen. Sie beharrt auf ihrer Weiblichkeit. In zähem Widerstand gegen die Gefängnisordnung hält sie an bestimmten weiblichen Kleidungsstücken fest. Mehrfach äußert sie ihre Abneigung gegen eine Häftlingskleidung, die den Unterschied der Geschlechter verwischt. Wann immer sich Gelegenheit bietet, was selten genug vorkommt, blickt sie in den Spiegel und sorgt sich um ihre äußere Erscheinung. In diesen Zusammenhang gehört auch die Geschichte ihrer Liebe zu dem Mann, der später ihr zweiter Ehegatte wird — zu dem schon erwähnten Wolgadeutschen Dr. Anton Walter. Der Leser erfährt, wie sie ihn im Lager kennenlernt, wie sie von ihm den ersten Liebesbrief erhält, der aus Diskretionsgründen in lateinischer Sprache abgefaßt ist. Der Bericht weist geradezu schwärmerische Züge auf. Ausführlich schildert die Autorin, wie sie am Tag nach ihrer Entlassung einem arktischen Schneesturm trotzt, um den Geliebten möglichst bald wiederzusehen.
Die „Gratwanderung" als Buch der Hoffnung In einem Buch, das von den Lagern und Gefangnissen der Stalinzeit handelt, mutet diese Episode befremdlich an und scheint sich jedenfalls nicht mit dem Pathos des Enthüllens und der Anklage zu vertragen. Gleichwohl fügt sie sich einer bestimmten Konzeption. Diese Konzeption prägt den autobiographischen Bericht der „Gratwanderung". Gleichzeitig trägt sie dazu bei, dessen Eigenart im Verhältnis zu anderen Werken der Lagerliteratur zu begründen. Allein schon die Tatsache, daß E. Ginzburg die Formen des autobiographischen Berichts verwen16
17
vgl. O. W. M ü l l e r , Intelligencija. Untersuchungen zur Geschichte eines politischen Schlagworts, Frankfurt/M. 1971. Kopelev erinnert sich an die entsprechenden Vorwürfe, die ihm E. Ginzburg mit Blick auf seine eigene Darstellung des Lagerlebens gemacht hat - vgl. R. O r l o w a - L. K o p e l e w , a. a. O., S. 158f.
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det, ist hier von Bedeutung. Bei einem Schrifttum, das von der Überzeugungskraft des Selbsterfahrenen lebt, scheinen zwar gerade diese Formen nahezuliegen. Im Zusammenhang des Lagerthemas sind sie gleichwohl problematisch. Das autobiographische Subjekt, dem Dostoevskij seine „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus" zuschreibt, ist bekanntlich nicht der Autor, sondern ein fiktiver Erzähler mit erfundenem Namen 18 . Der Autor tritt nur als „Herausgeber" auf. In seiner „Einleitung" schildert er den Erzähler als Menschen, der seine zehnjährige Haft nur um wenige Jahre überlebt habe; die angeblich ,hinterlassenen' Notizen werden als „zusammenhanglos" bezeichnet 19 . Es äußert sich das Bewußtsein einer Formproblematik, die für die Lagerliteratur charakteristisch ist. In jeder Autobiographie liegt ein Element des Positiven, sofern diese Form einen Erzähler voraussetzt, der seine Erfahrungen nicht nur überlebt, sondern der auch die Kraft gefunden hat, diese aufzuschreiben und zu einem Ganzen zu fügen. Dostoevskij vermeidet diese Vorstellung. Er selber hat bekanntlich nicht zehn, sondern vier Jahre im Lager verbracht, und auch ist seine Darstellung keineswegs „zusammenhanglos", sondern sorgfältig komponiert 2 0 . Die angebliche Zusammenhanglosigkeit soll den vorgeschobenen Erzähler als einen Menschen charakterisieren, der von der Haft gebrochen ist. Dostoevskij war es darum zu tun, seinen „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus" mit Hilfe einer literarischen Fiktion gleich zu Anfang eine Perspektive zu sichern, die dem düsteren Titel des Werks und den Erfahrungen des Lagerlebens gerecht würde. In diesem Zusammenhang lohnt auch ein Blick auf Varlam Salamovs „Erzählungen von der Kolyma" 2 1 . Ebenso wie E. Ginzburg hat Salamov viele Jahre als Lagerhäftling an der Kolyma verbracht. Zum Teil verwendet auch er die Form der autobiographischen Ich-Erzählung. Sie beglaubigt die selbsterlebte Authentizität des Dargestellten. Die anderen Möglichkeiten, die dieser Form innewohnen, werden jedoch nicht genutzt. Wir erfahren, daß der Ich-Erzähler ein ehemaliger Häftling ist, daß er bestimmte sittliche Werte vertritt - und damit hat es sein Bewenden. Die Gestalt des erzählenden Ich bleibt insgesamt abstrakt, immer wieder tritt seine auktoriale Perspektive hinter die personale Perspektive des erlebenden Ich zurück, und der Leser erhält jedenfalls nicht die Möglichkeit, sich von seiner Persönlichkeit ein Bild zu machen. Es scheint, als wolle Salamov jene autobiographischen Implikationen abschneiden, die der Ich-Form in ihrer epischen Verwendung innewohnen. Und das gilt umsomehr, als das erzählende Ich in einer Reihe von Fällen mit dem des Autors nicht identisch sein soll, es heißt nicht Salamov, sondern es trägt, wie aus dem Dialog deutlich wird, einen anderen Namen 2 2 ; dasselbe Verfahren war von Dostoevskij benutzt worden. In vielen anderen Erzählungen verwendet Salamov anstelle der Ich-Form die Er-Form und entfernt sich damit noch weiter von der Form des autobiographischen Berichts. Die Helden sind Lagerinsassen, manche treten nur einmal auf, andere mehrfach. Der wiederkehrende Held, mag er nun Andreev, Golubev oder Krist heißen, ist das alter ego des Autors - aber eben nur das alter ego, von dem sich der Autor ausdrücklich absetzt. Das ist ein pointierter Verzicht auf die eigentlich naheliegende Form der autobiographischen (Ich-)Erzählung. Erneut rückt damit jenes Element des Positiven und Tröstlichen ins Blickfeld, das dieser Form im Kontext der Lagerliteratur innewohnt. Mag das erlebende Ich die Wechselfälle vgl. R. L. Jackson, The Art of Dostoevsky, Princeton/NJ 1981, hier S. 33-69: „The Narrator in House of the Dead". 19 F. M. Dostoevskij, Zapiskì iz Mertvogo doma, in: ders., Polnoe sobranie socinenij v tridcati tomach, t. 4, Leningrad 1972, S. 8. 20 ebd., S. 39ff. 21 V. Salamov, Kolymskie rasskazy, Paris 21982. 22 In den Erzählungen „Zagovor juristov", „Inzener Kiselev" u. a. heißt er Andreev (225, 237, 341), in „Nadgrobnoe slovo" - Vasilij Petrovic (268). 18
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des Lagerlebens auch als stets erneuerte Bedrohung erfahren, so vermittelt die Form der IchErzählung doch ein Gefühl der Zukunftsgewißheit. Der Leser weiß ja, daß der Held die Gefahren des Lagers schließlich doch überlebt hat. Anders verhält es sich mit den Formen der fiktionalisierten Ich-Erzählung und der Er-Erzählung: auch wenn der Held die Gefahr des Augenblicks übersteht (was bei Salamov durchaus nicht immer der Fall ist), bleibt sein Schicksal auf längere Sicht doch ungewiß, und seine Zukunft behält jene Offenheit und Unvorhersehbarkeit, die zwar das Zeiterleben eines jeden Menschen kennzeichnet, die unter den Bedingungen der Stalinschen Lagerwelt aber eine durchweg bedrohliche Bedeutung gewinnt; einer solchen Darstellungsweise verdankt auch Solzenicyns Lager-Erzählung „Ein Tag im Leben des Ivan Denisovic" einen guten Teil ihrer Eindringlichkeit. In ähnlicher Weise bedeutungshaltig ist bei Salamov ein weiterer Formaspekt. Für seine Darstellung der Lagerwelt hat der Autor die Gattungsform der Kurzgeschichte gewählt — viele dieser Erzählungen umfassen nur einige Seiten. Wenn man das Ensemble der Texte als Ganzes betrachtet, fühlt man sich an jene ,Zusammenhanglosigkeit' erinnert, von der in der Einleitung zu den „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus" die Rede war. Bei Salamov wird dieses Prinzip jedoch konsequenter verwirklicht als bei Dostoevskij. Später hat er zwar betont, daß den „Erzählungen von der Kolyma" eine „durchdachte Komposition" zugrundeliege 23 . Im konventionellen Sinn von Symmetrie und harmonischer Geschlossenheit ist das wohl kaum zu verstehen, denn diese Erzählungen bilden ein Ensemble von durchaus zersplittertem Gepräge, was durch die Neigung betont wird, die Einzeltexte ex abrupto beginnen zu lassen. Die Begebenheiten wechseln ebenso wie die Helden; dasselbe gilt für die Formen der Komposition und Darbietung. Eine chronologische Ordnung ist insgesamt nicht zu erkennen — einheitlich ist hier nur die ausweglose und endlose Zuständlichkeit der Lagerwelt. Immer wieder geht es in diesen kurzen Erzählungen um die Erlebniswelt von Häftlingen, die sich auf der Grenze zwischen Leben und Tod befinden von Menschen, die ihre Individualität unter dem nivellierenden Einfluß extremer Existenzbedingungen eingebüßt haben. In einer Sprache, die mit ihrem oft asyndetisch-parataktischen, manchmal alogischen Gepräge zur äußersten Verknappung tendiert, wird der jeweilige Realitätsausschnitt kommentarlos dargeboten - aus der Perspektive eines deformierten Bewußtseins, dem die vorgefundene Wirklichkeit schon längst nicht mehr befremdlich ist, das sich in wiederum extremer Weise auf die reine Faktizität des Hier-und-Jetzt verengt hat. In der dissonanten Folge der kurzen Texte findet all dies eine suggestive Entsprechung. Für seine Lagerprosa hat Salamov eine unkonventionelle Form gefunden. Sie bildet das ästhetische Äquivalent einer Erfahrung, die den Menschen früherer Jahrhunderte erspart geblieben ist. Salamovs Verzicht auf den persönlichen Erzähler und die souverän geschlossene Form der autobiographischen Darstellung lenkt den Blick zurück auf E. Ginzburg — ihr liegt ein solcher Verzicht ganz fern. Gerade auch in dieser Hinsicht orientiert sie sich am Überkommenen. Die Entstehungsgeschichte ihres Buches zeigt, welch großen Wert sie auf Geschlossenheit und Abrundung gelegt hat. Eine erste Variante verwirft sie, wie schon hervorgehoben, nicht nur aus politischen, sondern auch aus formalen Gründen: diese Aufzeichnungen mit ihrer gar zu „lockeren Komposition" könnten noch nicht als „Buch" gelten (II, 347,346). Die schließlich doch gewonnene Einheit des Werks verdankt sich jener Integration von Geschichtlichem und Individuellen, von Allgemeinem und Persönlichem, die in der Zweieinheit der memoirenhaften und autobiographischen Gattungsaspekte begründet ist. Zur formalen Geschlossenheit trägt auch die chronologische Ordnung bei, wie sie durch die wiederum konventionelle Metaphorik des Weges — der „Gratwanderung" - nahegelegt wird. Und schließlich hat dieser Weg nicht nur einen Anfang, 23
V. S a l a m o v , Levyj bereg, Moskva 1989, S. 544-554 (O proze), hier 548.
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sondern auch ein Ende: aus der Perspektive der Erinnerung erscheint die Vergangenheit als abgeschlossene; sie endet mit dem Tag der Rehabilitation, der im letzten Kapitel des Buches geschildert wird. Wenn die beschränkte Perspektive des hier und jet2t erlebenden Häftlings auch immer wieder zur Geltung gebracht wird, so doch nur im Horizont jener Zukunftsgewißheit, die durch die auktoriale Erzählweise aus der sicheren Distanz verbürgt wird. Mit Blick auf V. Salamov mag man den konventionellen Charakter der Darstellung bei E. Ginzburg als problematisch empfinden — einer Darstellung, die sich der Mittel des 19. Jh. bedient, um eine spezifische Erfahrung des 20. Jh. darzustellen. Auch in dieser Hinsicht ist jedoch hervorzuheben, daß sich diejenigen Formen, die E. Ginzburg für ihr Buch gewählt hat, einer eigenständigen Konzeption fügen. Im Vollzug des Sich-Erinnerns und Berichtens sucht die Autobiographin mit sich und ihrer Lebensgeschichte ins reine zu kommen. Für sich und für ihre Leser gewinnt sie eine bestimmte Vorstellung vom eigenen Ich — das Persönliche der Selbsterforschung und das Soziale des Mitteilens sind hier nicht zu trennen. Diese Vorstellung mag auf einer Illusion beruhen. Aber auch eine Illusion hat als authentischer Ausdruck der Persönlichkeit zu gelten. In der „Gratwanderung" suggeriert die Geschlossenheit der Form das Bild einer Autorin, die sich im Vollbesitz ihrer seelischen Kräfte befindet. Sie hat die innere Freiheit gewonnen, aus der Fülle des Erinnerten auszuwählen und diese Daten zu einem Ganzen zusammenzufügen. Die Vergangenheit ist kein Alpdruck, sondern ein verfügbares Objekt literarischer Gestaltung. Als erzählendes Ich findet die Autorin mannigfaltige Gelegenheit, sich mit ihrer intakt gebliebenen Individualität, mit ihrem Denken und Fühlen zur Geltung zu bringen. Der Leser der „Gratwanderung" lernt einen Menschen kennen, der durch seine Erlebnisse nicht verbittert worden ist, der seine Fähigkeit zum abwägenden Urteil nicht verloren hat, und der sogar versucht, den Lagerkommandanten von der Kolyma und den übrigen Beamten des NKWD jene Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die ihm selber nicht zuteil geworden ist. Die Autorin sieht und gibt sich als eine Frau, der es gelungen ist, sich unter den Bedingungen eines langjährigen Gefängnis- und Lagerlebens die Substanz ihrer Persönlichkeit zu bewahren. Im Schlußkapitel liest man die folgenden Sätze: „Und aufs Neue gebe ich mir Rechenschaft darüber ab, daß ich nicht nur Glück, sondern hundertfach Glück gehabt habe. Weil ich nicht nur [...] ziemlich heile Hände und Füße, Augen und Ohren [... behalten habe], sondern auch eine heile Seele, weil ich nicht die Fähigkeit verloren habe, zu lieben und zu verachten, mich zu empören und zu begeistern." (II, 327).
Das Erinnerungsbuch der Evgenija Ginzburg bietet nicht nur das vielfaltig detaillierte Bild des Stalinschen Lageruniversums, sondern auch die Geschichte einer gelungenen Selbstbehauptung: „Sie ertrug, überwand und überlebte die Schrecken einer schweren [...] Haft. Daraus entstand das stolze Bewußtsein des Sieges." 24 Eine solche Geschichte verlangt die traditionelle Form des autobiographisch-geschlossenen Erzählens, so problematisch diese in der Lagerliteratur aus anderer Perspektive und im Horizont anderer Intentionen auch erscheinen mag. Die schwärmerische Liebesgeschichte der Autorin gewinnt eine symbolische Bedeutung: in seinem autobiographischen Gattungsaspekt handelt das Buch der E. Ginzburg vom Sieg des Lebens über den Tod, vom Triumph der Einzelpersönlichkeit über den Stalinschen Apparat. Dieser Triumph verdankt sich einer Vielzahl von Zufällen, unter den zahllosen Opfern des Regimes ist das Schicksal der Autorin eine glückliche Ausnahme. Mögen solche Ausnahmen auch selten gewesen sein, so legen sie doch 24
R. O r l o w a - L. K o p e l e v , a. a. O., S. 137.
J . KLEIN,
Lagerprosa: Evgenija Ginzburgs „Gratwanderung"
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die Vorstellung einer realen Möglichkeit nahe. Die „Gratwanderung" ist nicht nur ein Buch der Anklage, sondern auch ein Buch der Hoffnung. Anschrift des Verfassers: Prof. Dr. Joachim Klein, Vakgroep Slavische taal- en letterkunde, Postbus 9515, NL 2300 RA Leiden, Niederlande
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Andrzej L a m
Literatur und literarisches Leben in der neuen Republik Polen Aus dem Chaos der Übergangsperiode tauchen die neuen Konturen des literarischen Lebens in Polen noch nicht ganz deutlich auf: im Sinne der Meinungsfreiheit ist auch die Literatur frei, wie jedoch die Schriftsteller die sich daraus ergebenden Chancen wahrnehmen werden, könnten nur neu entstandene Werke bezeugen. Die neue Lage bedeutet für die Literatur, daß ihr keine Staatsmacht irgendwelche Richtlinien verordnen oder sie unter rechtsgültige Kontrolle stellen darf. Im Gegenteil, man beobachtet ein gewisses Desinteresse an der Literatur, als ob die Schriftsteller ihre bisherige Autorität eingebüßt hätten. Ob dies gleichzeitig den Abbau der staatlichen Fürsorge bedeutet, bleibt unentschieden. Auf die Frage, wie die Rolle des Kultusministers in der neuen Regierung aussehen sollte, antwortete der Vorsitzende des Polnischen Schriftstellerverbandes; Andrzej Braun: „Das Ministerium für Kultur und Kunst müßte eigentlich die sog. hohe Kultur unterstützen, denn die Unterhaltungskultur wird sich selbst zu finanzieren und zu helfen wissen. Die hohe Kultur (Literatur, Malerei, ernste Musik und teilweise das Theater) zeugt von der Kultur eines Volkes und wird auf der ganzen Welt vom Staat unterstützt /.../ Wir stehen als Autoren und als ihre Organisation am Rande des Bankrotts. Wenn das Ministerium die Verbände nicht bezuschußt, wenn es (praktisch) mit der Unterstützung aller Aktivitäten aufhören, die Kulturinstitutionen (Literaturhäuser) nicht weiter unterhalten und nicht mehr über den Literaturfond (der seine Einnahmen aus den erloschenen Autorenrechten bezieht) die defizitäre, aber wertvolle Literatur und die Schriftsteller (Arbeitsstipendien u. ä. m.) subsidieren soll — wozu brauchen wir dann eigentlich noch ein Ministerium?" 1 Es ist auffallend, wie stark in dieser Frage die nostalgische Vorstellung von einem allmächtigen und treusorgenden Staat mitschwingt. Die Liste der Wünsche weicht von den früheren Erwartungen der Schriftsteller dem Staat gegenüber nicht ab. Mit dem Unterschied natürlich, daß es keine staatliche Zensur gibt. Die Freiheit des Wortes also — und die Knappheit der materiellen Mittel. Und doch sind die Buchhandlungen in großem Maße schon privatisiert, voll an neuerschienenen Büchern, die nicht nur aus politischen Hits und aus Kriminal-, Sensations-, Liebes- oder melodramatischen Romanen bestehen. Die Bestseller der ersten Dezemberwoche 1991 waren nach Angaben der Büchhändler: Irving Shaws „Acceptable Losses"; die Autobiographie von Shirley MacLaine „Out on a Limb"; ein Reprint der Porträts polnischer Fürsten und Könige von Jözef Ignacy Kraszewski; eine Textauswahl Franz Kafkas („Nowele i miniatury"); die Autobiographie von Robert Graves „Goodbye to All That"; die Memoiren von Mircea Eliade. Und dazu Gespräche mit dem Politiker Jaroslaw Kaczynski „Odwrotna strona medalu" und die witzig-boshaften Erinnerungen des ehemaligen Regierungssprechers Jerzy Urban. Es nähert sich langsam ihrem Ende jene Zeit, in der man in ganzer Breite Lesern, Kritikern wie Forschern die polnische Literatur zugänglich machte, die zuvor drei verschiedenen Ursprüngen entstammte: die im Lande entstandene und publizierte, das im letzten Jahrzehnt verfaßte und edierte Untergrundschrifttum und die Exilliteratur nach dem Zweiten Weltkrieg. Von letzterer wurde vor 1989/90 nur ein selektierter, als politisch ungefährlich eingeschätzter Teil publiziert, mit der schon in den 80er Jahren sichtbaren Tendenz, dieses Spektrum zu erweitern. Allerdings gab es 1
„Gazeta Wyborcza" 1991 Nr. 275, 26. Nov., S. 17.
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verschiedene Wege, auf denen diese Literatur ins Land kommen und damit unaufhaltsam das kritische Bewußtsein mitbestimmen konnte. Einige Beispiele. Die berühmten Werke von Tadeusz Konwicki, „Mala Apokalipsa" (1979) oder „Kompleks polski" (1977), die Romane von Stefan Kisielewski, die sozialkritische und kulturelle Publizistik von Adam Michnik („Z dziejow honoru w Polsce" [1980]) und viele andere hatten zwei Buchpremieren: die erste oft schon vor vielen Jahren, im Untergrund, die zweite dann in den letzten zwei Jahren - unter normalen Umständen und im allgemeinen in luxuriöser Ausstattung. Was die Exilschriftsteller anbelangt, so kann man hier zwei Fälle unterscheiden: erstens, der Autor war schon früher (in den 60er bis in die 80er Jahren) in Polen, wenn auch in unvollständigen Ausgaben zugänglich (wie W. Gombrowicz, Cz. Milosz, J. Lechon, K. Wierzynski), und die Lücken werden jetzt aufgefüllt; zweitens, der Autor durfte offiziell in Polen überhaupt nicht herausgegeben werden, woran sich aber die Untergrundverlage nicht hielten, wie z. B. Gustaw Herling-Grudzinski, der aus Litauen stammende und der Kollaboration bezichtigte Jozef Mackiewicz, Jozef Czapski, der Essayist und Autor der Erinnerungen an die Kriegszeit in der Sowjetunion („Na nieludzkiej ziemi" [1951]) oder (nach ihrer Emigration) der Philosoph Leszek Kolakowski, die Prosaisten Wlodzimierz Odojewski, Henryk Grynberg und Janusz Glowacki, der auch als Dramatiker hervorgetreten ist. Diese Autoren erfreuen sich, soweit sie noch am Leben sind, sogar besonderer Ehrungen: Herling-Grudzinski erhielt die Ehrendoktorwürde der Universität Posen und Jerzy Giedroyc, der langjährige Chefredakteur der Pariser Monatschrift „Kultura", um die sich seit Ende der 40er Jahre das einflußreichste Zentrum der Literatur, des intellektuellen Lebens und der Sozialkritik im Exil ausgebildet hatte, erfuhr dieselbe Auszeichnung an der Jagiellonen-Universität in Krakau. Jedenfalls ist dank den allgemein zugänglichen Ausgaben der Prozeß des Zusammenwachsens der einzelnen Zweige der polnischen Literatur schon abgeschlossen, nicht nur in den Buchregalen, sondern auch in den Schulprogrammen und im gesellschaftlichen Bewußtsein überhaupt. Es mangelt noch an tiefergehenden literaturgeschichtlichen Synthesen, an entsprechenden Lexika usw., wofür man allerdings Mittel und Zeit braucht. Eine neue, wesentlich erweiterte und geänderte Auflage der stark gefragten Literaturenzyklopädie („Literatura polska. Przewodnik encyklopedyczny". 2 Bde. Warszawa 1984) befindet sich erst in redaktioneller Vorbereitung. Ein wichtiges Nachschlagewerk ist die nun auch in Polen erschienene Chronik „Kultura polska po Jalcie" (1989) von Marta Fik, in der sehr detailliert Ereignisse der Kulturpolitik und die wichtigsten Äußerungen von Oppositionellen in der Zeit der Volksrepublik verzeichnet werden. Auch liegen populäre Kompendien der Exilliteratur zur Hand (z. B. Jan Zielinski. Leksykon polskiej literatury emigracyjnej. Lublin 1990). Daß eine neue Literaturgeschichte für die ganze Nachkriegszeit dringend ist, bedeutet natürlich nicht, daß alle bisherigen gründlichen und ausführlichen Studien, z. B. über die strukturellen Qualitäten der Werke, plötzlich veraltet seien und ein leeres Feld zurückließen. Der Kritiker Jan Blonski trat letztens mit der These hervor, daß die Literatur Volkspolens im politischen Sinne überhaupt nicht existierte, weil die hervorragenden Schriftsteller, die das Antlitz der Literatur bestimmt haben, sich spätestens seit 1956 weder in ihrem Schaffen, noch in der Publizistik mit den repressiven Aspekten der Kulturpolitik identifizierten 2 . Sie brachten im Gegenteil, sofern es unter der Zensurkontrolle möglich war, ihre oppositionellen Einstellungen zum Ausdruck. Die literarische Hierarchie bleibt in wesentlichen Zügen also von den aktuellen politischen Ereignissen unberührt. Unter den Prosaisten zählen nach wie vor Andrzej Kusniewicz, Julian Stryjkowski, Jan Jozef Szczepanski oder Wladyslaw Terlecki, unter den Dramatikern und 2
Pora lezakowania, in „Polityka" 1991 Nr. 43, 26. Okt., S. 9.
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Lyrikern Czesiaw Milosz, Tadeusz Rozewicz, Slawomir Mrozek oder Wisiawa Szymborska. Der Fall Rozewicz ist übrigens kennzeichnend: Manche Kritiker versuchten, ihn wegen seiner Distanz zur politischen Opposition zu verurteilen - er sei zu wenig dem Kampf um die Demokratie, um die christlichen und nationalen Werte usw. zugeneigt. Die ausführliche und polemische Monographie von Tadeusz Drewnowski „Walka o oddech" (1990), die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Breslau aus Anlaß des 70. Geburtstages und der neue Gedichtband „Plaskorzezba" (1991) zeigen, daß der Rang des Dichters letztlich bewahrt blieb. Die Verhaltensweisen der Schriftsteller unter den überwundenen Verhältnissen wurden selbstverständlich zum Gegenstand der Abrechnung. Teilweise taten es die Schriftsteller selbst. Den Vorreiter machte hier Jacek Trznadel, der zahlreiche Autoreninterviews unter dem für manche umstrittenen Titel „Hanba domowa" (Paris 1986) versammelte. Zu erwähnen ist auch das umfangreiche Gesprächsbuch mit T. Konwicki „Pol wieku czyscca" (Warszawa 1987). In einem von Adam Michnik angeregten Gespräch äußerte sich Konwicki über die Gründe, sich mit seiner Vergangenheit zu befassen: „Dies ist ein extremer Fieberzustand, verursacht durch den Erpressungsbazillus. Du hast keine Ahnung, wie ich erpreßt werde, wie man auf mich ohne Unterlaß einredet, auf mich eindrischt. Auch deine „Zeitung" rüffelt mich ab und zu dafür, daß ich mich zu wenig enthusiastisch, zu wenig patriotisch gezeigt habe /.../ Ich meine aber, daß die Tatsache, daß ich mich an einer mit solch tragischen Folgen verbundenen Prozedur beteilitgt habe, mich für bestimmte Bereiche unseres Lebens und unserer Tätigkeit disqualifiziert hat /.../ Ich habe mich selbst disqualifiziert. Ich bin mit keiner Selbstkritik herausgeplatzt, denn so etwas ist verdächtig. Ich bin nicht zu Kreuze gekrochen. Ich habe mir selbst einen Platz angewiesen, an den ich bis ans Lebensende gebunden bleibe. Denn anders als nach einem Filmbesuch gibt es hier keinen angenehmen Ausgang." 3 Publikationen von Gesprächen mit Schriftstellern sind Mode geworden: mit Stryjkowski, Rozewicz, Szczypiorski; mit Milosz gibt es sogar mehrere Bücher. Vorbereitet wird ein Band von Gesprächen mit Kusniewicz. In diese Reihe gehören auch die Bekenntnisse von J. J. Szczepanski aus der Zeit, als er die Funktion des Vorsitzenden des Schriftstellerverbandes ausübte („Kadencja" 1989). Mit Fragen der Vergangenheitsbewältigung beschäftigte sich auch die Kritik. Es ist merkwürdig, daß die Abrechnungen oft die Zeit des sog. Stalinismus, also die verhältnismäßig kurze und weit zurückliegende Periode 1950-1954 betreffen, die bereits seit mehreren Jahrzehnten im Brennpunkt kritischer Auseinandersetzungen stand. Es kamen aber neue und wichtige Aspekte dazu: Das Ausfüllen der sog. weißen Flecken bedeutete, daß die Verbrechen des stalinistischen Systems, bisher gehemmt, vorsichtig und lückenhaft in den öffentlichen Äußerungen aufgedeckt, jetzt im breiten Umfang ins gesellschaftliche Bewußtsein gelangten, mit Hilfe von zahlreichen historischen und publizistischen Berichten oder Erinnerungen der Opfer, manchmal von hohem literarischen Rang, wie Herling-Grudzinskis vor 40 Jahren entstandener „Inny swiat" (1951). Der politische Grund der bisherigen Hemmungen war immer der gleiche: nicht viel mehr, als es die Sowjets selber tun, bekanntzumachen, obwohl in den 80er Jahren der Druck der polnischen Mitglieder der bilateralen Historikerkommission, in der Sache kühner vorzugehen, nicht ohne Einfluß auf die sowjetische Seite war. Schwerpunkte der neuen Auffassung und Beurteilung von Geschichte sind: der Einmarsch der Roten Armee im September 1939, die Besetzung der damaligen Ostgebiete Polens und die Unterdrückung und Deportation der dortigen polnischen Bevölkerung; der Mord an polnischen Offi3
Na swiecie jestem przejazdem, in: „Gazeta Swijteczna" 1991 Nr. 285, 7-8. Dez., S. 11, 13.
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zieren in Katyn und anderen neu entdeckten Stätten (Charkow); die perfide Gefangennahme 1945 von 16 Führern des Untergrundstaates mit General Okulicki und ihr Schauprozeß in Moskau; die Verfolgung und Deportation der Mitglieder der Landesarmee (Armia Krajowa) und die sowjetische Infiltration des formell polnischen Sicherheitsdienstes; die unrechtmäßigen Prozesse mit Foltern und Todesstrafen gegen die „Klassenfeinde" in der ersten Hälfte der 50er Jahre usw. Zu diesen Themen ist eine reiche Dokumentarliteratur entstanden, und außerdem sind die früher im Westen publizierten Berichte zugänglich geworden. Auch wenn diese Tatsachen schon vorher der Öffentlichkeit nicht unbekannt waren, rückte ihre literarische und visuelle Vergegenwärtigung aufs neue die Rolle von Intellektuellen, Künstlern und Schriftstellern innerhalb des alten Regimes ins Licht. Daß seit 1956 Polen trotz aller Beschränkungen ein Land relativ großer geistiger, darunter auch religöser, Freiheit war, daß in der Polnischen Vereinigten Arbeitspartei (PV AP) die reformatorischen und von der Zentrale in Moskau unabhängigen Tendenzen immer wieder auflebten und daß die Partei am Runden Tisch letztlich auf das Monopol der Macht verzichtete und sich gleich danach auflöste, fand angesichts dieser massiven (und übrigens verständlichen) Demaskierungen schon weniger Beachtung. Der Historikerstreit wird wahrscheinlich auch noch dann lange andauern, wenn das publizistische Fieber nachläßt. Zum Hauptproblem ist die Abhängigkeit Polens von der Sowjetunion geworden; ein aus der polnisch-russischen Geschichte tradierter neuralgischer Punkt, und in diesem Zusammenhang die Verantwortung der Intelektuellen. Die neue Republik wird mit der Nummer III gekennzeichnet, als ob die Volksrepublik als ein nicht völlig souveräner Staat, mit dem Adler ohne Krone und dem konstitutionell fixierten Bündnis mit der Sowjetunion einer eigenen Nummer nicht würdig wäre. Je nach der Zugehörigkeit zu einem politischen Lager wird die Grenzlinie zwischen den antikommunistischen Streitern und denen, die mit dem Regime verbunden waren oder eine gewisse Neutralität bewahrten und sich in der Opposition nicht unmittelbar engagierten, schärfer oder undeutlicher gezogen. Diejenigen, die sich über die ganze Nachkriegszeit hinweg oppositionell verhielten, wie Stefan Kisielewski oder Zbigniew Herbert, waren nicht sehr zahlreich, obwohl z. B. die katholische Wochenschrift „Tygodnik Powszechny" (zusammen mit dem Verlag „Znak") immer ein starkes intellektuelles Milieu bildete. Von einer extremen Randposition aus konnte man noch unlängst die Meinung hören, daß auch Antoni Sionimski, einer der geistigen Führer der liberalen Opposition (Michnik war sein persönlicher Sekretär), ein „Stalinist" war, weil er am Anfang der 50er Jahre den emigrierten Czeslaw Milosz in dem Parteiorgan verdammte und ein Lobgedicht auf Boleslaw Bierut schrieb, und daß Jerzy Andrzejewski mit seinem Roman „Popiol i diament" (1948) politische und moralische Schuld auf sich geladen habe. Große Aufregung verursachte Zbigniew Herbert, als er ehemaligen Regimeanhängern (die übrigens später mehrheitlich zur Opposition wechselten) vorwarf, daß sie den politisch-ethischen Herausforderungen in der Situation, in der sich Polen damals befand, nicht gewachsen gewesen wären. Derartige Abrechnungen bestimmen noch immer die literarische Atmosphäre. Sie sind mehr in die Vergangenheit als in die Zukunft gerichtet, und die Problematik erschöpft sich allmählich. Für die Wochenschrift „Polityka" hat sich letztens der Philosoph Krzysztof Pomian (seit 1973 in Frankreich als Professor am Centre National de la Recherche Scientifique) über den politischen Vertrag zwischen der „Solidarnosc" und der PVAP geäußert: „Er ermöglichte es, ein Chaos zu vermeiden, ja, vielleicht sogar Gewalt, Opfer und Zerstörungen, die gewöhnlich spontan verlaufende Systemveränderungen, Machtübernahmen von unten begleiten. Es gab in Polen zum Glück keine antikommunistische Revolution. Daher sind auch solche Vorschläge unannehmbar, daß einige Personen nur deshalb in ihren
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Grundrechten eingeschränkt werden sollen, weil sie - was zweifellos zutrifft - mit dem kommunistischen Regime zusammengearbeitet haben." 4 Eines ist sicher: Schriftsteller, die sich in den früheren Verhältnissen konform verhielten und dazu ein mittleres künstlerisches Niveau repräsentieren, können im allgemeinen kein Entgegenkommen von Verlagen oder Kritikern erhoffen, auch wenn sie nicht unmittelbar angegriffen werden. Aber das Verschwiegenwerden ist keineswegs leichter zu ertragen. Manche Autoren versuchen, in neuen Verlagsgenossenschaften unterzukommen oder sich der Flut der Trivialliteratur entgegenzustellen. Die von Hannah Arendt aufgeworfene Problematik, in welchem Maße die totalitären Systeme mit bloßem Terror zu regieren fähig waren und inwieweit sie sich der Unterstützung von unten erfreuten, bleibt zwar noch lange eine offene und kontroverse Frage, für die Zukunft der Literatur wäre es jedoch von größerer Bedeutung, die Rollen der Schriftsteller aufs neue zu bestimmen. Eigene Souveränität in einem nicht demokratischen System zu bewahren, den Lesern durch Anspielungen das Anders-Denken transparent zu machen, sich als Kämpfer gegen den allmächtigen Staat in illegalen Verlagen zu profilieren, alle derartige Verhaltensweisen scheiden jetzt aus. Was nun die leere Stelle einnehmen wird, ist noch ungewiß, und der Kritiker verfügt über kein maßgebendes Material, um zuverlässige Hypothesen aufzustellen. Die eingetretene Leere ist eine an sich relevante Tatsache. Die Nachfrage nach neuen Romanen oder Gedichten ist wesentlich gesunken und dementsprechen fällt es nicht leicht, einen Verleger für schöne Literatur zu finden. Erfolge sind selten, und wenn sie doch eintreffen, dann auf dem Gebiet des gut gemachten Romans, der die Verwicklungen der neueren Geschichte, diesmal schon ohne Hemmungen und Tabus, aber zugleich nicht ostentativ, mit gewisser Distanz, oft mit Ironie, unter Einbeziehung des Lesers als mitdenkendem Partner, zum Gegenstand macht. So haben die Romane von Andrzej Szczypiorski, „Pocz^tek" (1986; dt. „Die schöne Frau Seidenmann", 1988) und „Noc, dzien i noc" (1991; dt. Nacht, Tag und Nacht, 1991), nicht nur in Polen ein breites Echo gefunden. Eine trivialere und affektivere Version dieses Stils repräsentiert z. B. Maria Nurowska, eine detektivische und persönlich geprägte Variante die erfolgreiche Reporterin Hanna Krall, die die verwischten Spuren jüdischer Schicksale verfolgt. Unter den jüngeren Prosaikern fand die reflexive Entdeckung der eigenen Jugend des Danzigers Pawel Huelle großen Anklang. Hoher Wertschätzung erfreut sich erlebte und aufgeschriebene Lebenserfahrung. Dies bezeugt die neueste Essay- und Notizsammlung, „Rok mysliwego" (1990) von Czeslaw Milosz, die elegant, eindringlich und suggestiv vermittelte Kommentare zur Zeitgeschichte, zu berühmten Persönlichkeiten und zur eigenen Biographie enthält: die angewandete Intertextualität. Wahrscheinlich wird sich diese komplexe Gattung auch bei anderen Schriftstellern weiter durchsetzen können: sie ist flexibel und geräumig genug, um der schnell rotierenden Wirklichkeit Rechnung zu tragen. Auf diesem Gebiet haben zur Zeit die jüngeren Autoren weniger Chancen. Von der sog. sprachlichen Revolution in der jungen Literatur ist keine Rede mehr; das nimmt nicht wunder, weil keine auffallenden Debüts zu verzeichnen sind, und die früheren Debütanten nur selten ihre Poetik fortsetzen. Auch die traditionellen thematischen und symbolhaften Schwerpunkte, wie sie für die Dorfprosa oder die Darstellungen der gesellschaftlichen Randgruppen kennzeichnend waren, werden nicht mehr gepflegt. Jan Prokop bewertet die literarische Situation wie folgt: „Ein Erbe, das nicht der Feuerprobe der Spötter unterzogen wird, verwandelt sich leicht in ein Ruinenfeld. Aber was wird die Zukunft für Früchte bringen? Die Zukunft unseres Schreibens sehe ich weniger in einer modischen Europäisierung als vielmehr darin, das Nationale 4
Spojrzec w lustro i zastanowic si$, in: „Polityka" 1991 Nr. 48, 30. Nov., S. 7.
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auf die Menschheit hin anzuheben, wobei nicht die ganze Menschheit im glücklichen Paris oder New York wohnt. Ich weiß nicht, in welchem Maße das polnische Christentum dabei der polnischen Literatur behilflich sein kann, wieviel Glaube in ihm steckt und wieviel Folklore, die man morgen in einem Freilichtmuseum einsperren kann. Ich weiß auch nicht, in welchem Maße die Kirche für die Schriftsteller über eine Institution hinauswächst, die während des Kriegsrechts Milchpulver und ausländische Medikamente verteilt hat. Und in welchem Maße sie als schwarzer Polyp erscheint, der ihre durch den säkularisierten Westen garantierten Kosumfreiheiten bedroht."5 Am meisten wurden die Mammutgespräche mit ehemaligen Prominenten oder die Autobiographien bzw. Tagebücher von Persönlichkeiten öffentlichen Interesses gelesen, Materialien zur Zeitgeschichte also. Hierzu gehören „Ostatnia dekada" (1989) von Edward Gierek, „Jak to sie stalo" (1991) von Mieczyslaw Rakowski, die selbstbestätigenden Bekenntnisse „Przerywam milczenie" (1991) von Piotr Jaroszewicz, „Kiszczak mówi... prawie wszystko" (1991) des ehemaligen Innenministers, die in Kürze erscheinenden Memoiren von Wojciech Jaruzelski - und auf der anderen Seite die autobiographischen Äußerungen von Jacek Kuroñ „Wiara i wina" (1989) oder von J. Bujak „Przepraszam za Solidarnosc" (1991). Kulissen (selbstverständlich nicht alle) werden damit abgebaut, Motivationen erörtert, diejenigen, die den edlen und vernünftigen Absichten sich widersetzten, verurteilt. Von Ausnahmen abgesehen, findet man hier wenig Selbstkritik, sondern vorwiegend das Bestreben, sich ins beste geschichtliche Licht zu stellen. So gesehen läuft vor der Öffentlichkeit ein Riesenprozeß ab, allerdings zur Zeit noch ohne rechtliche Konsequenzen. Die neu entstandenen Verlage profitieren davon. Die bewegliche Firma BGW, die den größten Teil dieser Publikationen besorgte, befindet sich in ständiger Expansion: sie beschäftigt sich außerdem mit modern ausgestatteten Kinderbüchern, sie sucht die Zusammenarbeit mit den besten europäischen Verlagen und will eine Tätigkeit im großen Stil entwickeln, die nicht nur Geld, sondern auch Prestige einbringen könnte. Im Verlagswesen gibt es überhaupt kennzeichnende Verschiebungen: die bisherigen Giganten, wie „Panstwowy Instytut Wydawniczy" (PIW), „Czytelnik", „Wydawnictwo Literackie" kämpfen ums Überleben, manche haben schon Bankrott gemacht (wie „Sljsk") oder sind kurz davor (Wydawnictwo Lubelskie). Verlage, die in den 80er Jahren entweder im Untergrund oder im Westen entstanden sind, wie „Nowa" oder „Puls", entwickeln in den geänderten Verhältnissen neue Initiativen. Es existieren ca. 900 Verlagshäuser, mehr oder weniger ephemer, und versuchen, sich den Anforderungen des Marktes anzupassen. Es bestehen weiterhin die alten renommierten literarischen Zeitschriften, mit Mitteln des Kultusministeriums unterstützt, wie „Twórczosc", „Literatura", „Dialog", „Literatura na Swiecie" oder die Breslauer „Odra". Manche entwickelten sich aus der kulturellen Untergrundpresse mit der Hilfe verschiedener Kulturstiftungen, wie „NaGlos", „Arka" oder der alternative „Brulion" in Krakau, „Puls" in London—Warschau, „Zeszyty Literackie" in Paris; natürlich gibt es jetzt die Pariser „Kultura" im freien Verkauf. Ihr Leserkreis ist ziemlich elitär. Tageszeitungen übernehmen in größerem Umfang als bisher auch die literarische Problematik. Die meistgelesene Wochenschrift „Poütyka" (die der Chefredakteur der „Kultura", Giedroyc, vor kurzem als die beste ihrer Art pries) richtete letzens die monatliche Beilage „Poütyka - Kultura" ein, die von bekannten Kritikern redigiert wird. Darin findet sich u. a. ein Fragment des wegen der Zensur in den 60er Jahren nicht veröffentlichten Romans von Aleksander Scibor-Rylski, „Pierscionek z konskiego wlosia", den Andrzej Wajda jetzt verfilmen will. In der Zwischenzeit ist der Roman schon erschienen: seine Schlüsselszene ist die Rampe in Rembertów (in der Nähe von Warschau), von wo
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„Arka" 1991 Nr. 4, S. 14-15.
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gleich nach dem Kriege die Sowjets die Mitglieder der Landesarmee nach Rußland abtransportierten. Was sich noch in Handschriften befindet und welche Inedita noch auftauchen (wie z. B. die Tagebücher von Maria D^browska, private Korrespondenz von Schriftstellern u. ä.), läßt sich nicht genau beurteilen; die Sammlungen müssen zunächst erschlossen werden. Die Literaturwissenschaftlerin Maria Janion trat letztens mit der These hervor, die polnische Literatur stehe vor der Notwendigkeit, ihren ererbten Code zu ändern. 6 Dieser wurde bestimmt von den Archetypen des Freiheitskampfes und der nationalen Heiligtümer, die die Identität der Nation sicherten und das Uberdauern ermöglichten. Es ist nicht zu bezweifeln, daß die nationalkatholische Rhetorik, von dem Kampf gegen den Kommunismus getragen und beflügelt, sich in manchen Kreisen in voller Blüte befindet. Die Autorin berücksichtigt jedoch nicht den Umstand, daß in der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts andere Tendenzen maßgebend waren: jene, die bei Witkacy, Gombrowicz, Milosz, Rözewicz, Mrozek, Herbert oder Bialoszewski auftraten und sich den romantisch-nationalen Ideologemen in ihrer pragmatischen Funktion widersetzten. Andererseits ist die polemische Verwicklung ein Beweis dafür, daß der Gegenstand doch existiert. Die Rolle der Literatur, so kann man es voraussehen, wird letztens auch darauf beruhen, die polnischen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte so darzustellen und auszudrücken, daß sie mit den universellen europäischen Tendenzen kompatibel und in diesen Rahmen produktiv werden könnten. Dies bedeutet natürlich nicht, daß die Literatur hauptsächlich an den Leser draußen adressiert werden sollte. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Gesellschaft betrachtet z. B. Tadeusz Konwicki als die Hauptaufgabe der Literatur. In der jüngeren Generation Polens spürt man das Bedürfnis, sich mit umfangreicheren als den innernationalen Kriterien bewerten zu lassen; dieses Streben schafft wahrscheinlich die wichtigste Voraussetzung für die weitere Entwicklung der Literatur und für die Umwertung ihrer Vergangenheit. Anschrift des Verfassers: Prof. Dr. Andrzej Lam, Uniwersytet Warszawski, Wydzial Polonistyki, Warschau / Polen 6
„Polityka" 1991 Nr. 48, 30. Nov.
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Karlheinz H e n g s t
Slawische Sprachstudien im Mittelalter im sächsisch-thüringischen Raum Sachsen, Thüringen, Nordostbayern, Sachsen-Anhalt und Teile des südlichen Brandenburg gehörten einst vom 7. bis 10. Jh. ausschließlich zum slawischen Siedelgebiet. Und von Ostholstein über das Lüneburger Wendland, Brandenburg, Mecklenburg und Pommern bis Danzig erstreckten sich die westslawischen Siedelgebiete von Polaben und Pomoranen, den Elb- und Meeranwohnern. Im eben erwähnten norddeutschen Gebiet ist der polabische Dialekt, das Drawänische, um 1700 erloschen. Im Haus von Bauer Parum-Schultze ist noch das Vaterunser in drawänischer Sprache, also polabisch, vom letzten großen Kenner dieser Sprache, Prof. Dr. Reinhold Olesch, gesprochen zu hören. Die slawische Bevölkerung ist in Nord- und Ostdeutschland längst in der deutschen aufgegangen. Dieser Prozeß vollzog sich seit der massenhaften deutschen Ostsiedlung vom 12. Jh. an und ist wohl z. T. in den einst von Slawen weniger dicht besiedelten Gebieten, wie im Vorraum zum Erzgebirge, im 13./14. Jh. bereits abgeschlossen gewesen. In slawischen Altsiedelgebieten wie in Daleminze, also in der Meißen-Döbeln-Lommatzscher Pflege, oder im Gau Plisni, dem Altenburger Land, hat der Eindeutschungsprozeß wohl bis ins 15./16. Jh. angedauert. Nach einer Zeit längerer Zweisprachigkeit hat die bäuerliche Dorfbevölkerung - wohl letztlich auch unter dem Einfluß der Reformation - ihre slawische Hausmundart aufgegeben. Rückzugs- bzw. Kerngebiete einer slawischen Sprache in Ostdeutschland sind heute noch die sorbischen Kerngebiete in der Oberlausitz um Kamenz und Bautzen sowie in der Niederlausitz bei Cottbus. Das sind gewissermaßen dem Tschechischen bzw. Polnischen vorgelagerte slawische Sprachzonen. Sie sind die Restgebiete der im 9./10. Jh. bis an die Elbe-Saale-Linie ansässigen Altsorben. Der Raum an der Mulde mit Glauchau, Gesau, Jerisau, Wulm, Schlunzig, Crossen, Pöblitz, Culitzsch, Schedewitz — also das Territorium Zwickau - gehörte wie das Gebiet um Rochlitz zu den südlichsten Siedelgebieten der Altsorben. Weiter westlich schließen sich an der Dobna-Gau, das spätere Land der Vögte, der Gau Puonzowa, das Gebiet des Bistums Zeitz usw. Für die die Zeit vom 16. bis 20. Jh. ist die Geschichte des Sorbischen anhand der seit der Reformationszeit nachweisbaren Schriften von Linguisten schon kontinuierlich bearbeitet worden.1 Auch über die Verbreitung des Slawischen zwischen Saale und Oder liegen überzeugende Forschungsergebnisse vor. Das gilt für die slawischen Siedelräume, die Kultur dieser slawischen Stämme und auch für ihre Sprache. Historiker, Archäologen und Sprachwissenschaftler haben für die Zeit von 600 bis ca. 1300 die Frühgeschichte auch der Slawen, genauer der Altsorben, im heutigen thüringisch-anhaltinisch-obersächsischen Raum erforscht.2 Nun hat das westslawische Siedelgebiet östlich von Elbe und Saale schon früh eine InteressenVgl. die zusammenfassende Darstellung von H. Schuster-Sewc, Das Sorbische und der Stand seiner Erforschung, Berlin 1991, mit Überblick über die wesentliche Literatur. 2 Vgl. insbes. J. Herrmann (Hrsg.), Die Slawen in Deutschland. Geschichte und Kultur der slawischen Stämme westlich von Oder und Neiße vom 6. bis 12. Jahrhundert. Ein Handbuch. Berlin 1985; J. Herrmann, Welt der Slawen.Geschichte,Gesellschaft,Kultur.Leipzig-Jena-Berlin 1986; H.Bach, S.Dusek, Slawen in Thüringen. Geschichte, Kultur und Anthropologie im 10. bis 12. Jahrhundert. Weimar 1971; J. Brankack, Studien zur Wirtschaft und Sozialkultur der Westslawen zwischen Elbe-Saale und Oder aus der Zeit vom 9. bis 12. Jahrhundert. Bautzen 1964; J. Brankack, F. Metsk, Geschichte der Sorben.: Von den Anfängen bis 1789, Bautzen 1977. — Zu den slawischen Namen als Hinterlassenschaft im Deutschen vgl. bes. die Reihe „Deutsch-sla1
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Sphäre des sich auf feudaler Grundlage entwickelnden deutschen Staatswesens dargestellt. Es ergibt sich damit die Frage, ob für die Zeit vom 7. bis 13. Jh. parallel zu dem Bemühen um die slawisch besiedelten Gebiete auch ein Bemühen um Kenntnisse in der auf diesem Territorium gesprochenen slawischen Sprache feststellbar ist. Es ist also die Rolle von Staat und Kirche für diese Zeit mit Blick auf slawische Sprachstudien zu hinterfragen. Politische Verbindungen und Handelstätigkeit mit den Slawen sind vom 7. Jh. an nachweisbar und verläßlich bezeugt. Die Bedeutsamkeit slawischer Sprachkenntnisse in den politischen Beziehungen zwischen Thüringern, Franken sowie Sachsen und Slawen ist von den Historikern bisher n i c h t sonderlich beachtet worden. In einem 1990 in Heidelberg erschienenen Sammelband habe ich dieser Problematik daher besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Dabei wurden im staatlichen Bereich vom 7. Jh. an die an Sprachkenntnisse von Politikern gebundenen Fakten dargestellt. Das Ergebnis lautet — modern ausgedrückt: Die Spitzen der Gesellschaft (also Vertreter des Stammesadels) besaßen slawische Sprachkenntnisse. Politische Bündnisse und militärische kooperative Handlungen waren anders nicht vorbereitbar und auch nicht durchführbar. Auf eine Wiederholung der Darstellung muß hier verzichtet werden. 3 Konzentrieren wollen wir uns im folgenden auf das Werk der Kirche bei der Missionierung der Slawen und auf die besondere Rolle der Dom- bzw. Klosterschulen in diesem Prozeß. Bei den westlich der Saale siedelnden Slawen ist bereits für die Zeit vom 8. Jh. an Missionstätigkeit nachweisbar. So ist für die erste Hälfte des 8. Jh. gesichert: — In Bayern/Ostfranken (Raum Würzburg) war die Slawenmission bereits im Gange. — Gleiches gilt für Slawen im thüringischen Raum, denn im Briefwechsel zwischen Bonifatius (f 754) und Papst Zacharias spielen die Abgaben der Slawen eine Rolle. — Das Kloster Fulda (Anfang 8. Jh.) wurde sehr wahrscheinlich mit Blick auf die Missionstätigkeit bei den dort und weiter östlich lebenden Slawen gegründet. 4 — Etwa 793/94 wies Karl der Große an, für die Wenden an Main und Rednitz Pfarrkirchen zu gründen. 5 In der Zeit Karls des Großen sind durch entsprechende Gesetzgebung auch die Rahmenbedingungen für die Missionstätigkeit bei den Slawen geschaffen bzw. präzisiert worden. Ganz wesentlich ist dabei die Bildungsgesetzgebung durch Karl den Großen, die Admonitio generalis von 789. Sie wurde entscheidend durch die Bedürfnisse der Kirche und ihre Aufgaben zur Unterstützung der weltlichen Macht durch das christliche Missionswerk bestimmt. Die Admonitio generalis traf Festlegungen, die den realen Bedarfssituationen im Reich Karls sowie in seinen Interessensphären entsprachen. Und letztere reichten z. B. auch in die Gebiete östlich von Elbe und Saale bzw. von der Missionszentrale Salzburg aus bis in den südslawischen Raum. Von ausgesprochener Lebensnähe ist die Festlegung in der Admonitio, dem Volk vivo sermone, also in der jeweils vom Volk gesprochenen lebendigen Sprache das Evangelium zu verkündigen. Dabei wurde auch präzis ausgewiesen, was in der Volkssprache zu erfolgen hatte: Taufbelehrung, Beichtbelehrung, Vaterunser als Grundgebet und Glaubensbekenntnis. Das Paternoster und Credo mußten die Bekehrten auch zur Taufe selbst sprechen können, mußten sie also in ihrer eigenen wische Forschungen zur Namenkunde und Siedlungsgeschichte", bisher 35 Bände, und zusammenfassend E. Eichler, Slawische Ortsnamen zwischen Saale und Neiße. Bd. I (A-I) und II (K-M), Bautzen 1985 und 1987. 3 Vgl. K. Hengst, Frühe Namenüberlieferung als Sprachkontaktzeugnis in Ostthüringen. - In: R. Schützeichel (Hrsg.), Ortsname und Urkunde: Frühmittelalterliche Ortsnamenüberlieferung, Heidelberg 1990, S. 236 -248. 4 Vgl. H. Patze, W. Schlesinger (Hrsg.), Geschichte Thüringens, Bd. I, Köln - Graz 1968, S. 371 f. 5 Vgl. E. Schwarz, Sprache und Siedlung in Nordostbayern, Nürnberg 1960, S. 357f.
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Sprache beherrschen. Das Mainzer Konzil von 803 erneuerte daher nochmals die Forderung und Bestimmung, daß die Geistlichen ihre Täuflinge „in ipsa lingua, in qua nati sunt" zu unterweisen hatten.6 Die Kenntnis der Sprache des jeweiligen Einsatzgebietes war damit für einen Geistlichen zu einer wesentlichen Berufstätigkeitsvoraussetzung erklärt worden. Die Arbeit mit Hilfskräften, modern formuliert etwa mit Dolmetschern, hatte sich ganz offensichtlich nicht bewährt. Es ging also um die spürbare Erhöhung der Wirksamkeit des kirchlichen Einflusses. Als eine Folge der Bildungsgesetzgebung ist zu erachten, daß vom 9. Jh. an zu jedem Kloster und zu jeder Kathedrale in der Regel auch eine Ausbildungsstätte gehörte. Diese umfaßte Schule, Bibliothek und Scriptorium. Die Klosterbibliotheken jener Zeit wiesen auch bereits eine weltliche Abteilung aus. Darin fanden sich neben medizinischer Literatur auch antike Schriftsteller, Titel zur Philosophie und zur Sprache (Donatus, Priscianus) sowie zur Rhetorik.7 In den Scriptorien entstanden nicht nur die Abschriften oder Niederschriften von Büchern für die Bibliothek, sondern dort wurden auch die Urkunden und Briefe - also die wichtige Geschäftspost — ausgefertigt. Die Ausbildung in den geistlichen Schulen hatte vom 9. Jh. an die Übung in der Ausfertigung der beiden wichtigen Textsorten Brief und Urkunde zu sichern.8 Seit der Zeit Karls des Großen gingen die feudalstaatliche Expansion und die christliche Missionierung Hand in Hand. In Ausbildungsstätten für den geistlichen Dienst in slawisch besiedelten Gebieten war folglich auch die Vermittlung von Kenntnissen in der slawischen Sprache sowie zu Kultur und Recht bei den Slawen notwendig. Einen guten Überblick über die Slawenmission gibt im 12. Jh. Helmold von Bosau in seiner Slawenchronik.9 Er nutzte auch ältere historische Schriften aus dem 9. und 10. Jh. Aus den damaligen zeitgenössischen Aufzeichnungen lassen sich in Auswahl überlicksmäßig folgende Fakten nennen: - Im 9. Jh. gab es bereits Bemühungen um die Slawenmission von Hamburg aus. Die Namen der besonders eingagierten Bischöfe werden genannt. - Für die Zeit Ludwigs II. (855-875) wird mitgeteilt, daß von dem Benediktinerkloster Corvey a. d. Weser Mönche auszogen ins Slawenland bis nach Rügen „mitten im Meer".10 - Bischof Ekward von Oldenburg (ca. 968-973) wird genannt als Geistlicher, „qui multos Slavorum convertit ad Dominum". 11 - Für das 10. Jh. wird bereits die Visitation des Oldenburger Bischofs „in civitatem Obotritorum Mikilinburg" genannt.12 - Für die erste Hälfte des 11. Jh. sind die Bemühungen von Bischof Benno von Oldenburg (1014—1023) bis nach Plau und Parchim in Südmecklenburg belegt. Er predigte den Slawen: „populo Slavorum multum praedicando fructum attulit".13 Für das 12. Jh. bringt Helmold weitere Belege aus dem ganzen Gebiet von Ostholstein (Oldenburg) bis nach Verden, also bis in den Raum östlich von Hamburg. Besonders aufschlußreich ist die Aussage zu Bischof Bruno, einem Zeitgenossen von Helmold, und seinem Wirken Mitte des Vgl. K . Hengst (Anm. 3), S. 240 mit Literatur. Vgl. K. Hengst, Namenforschung, slawisch-deutscher Sprachkontakt und frühe slawische Sprachstudien im Elbe-Saale-Grenzraum. - In: Onomastica Slavogermanica X I X , Berlin 1990, S. 113f. mit Literatur. 8 Vgl. F. Zagiba, Das Geistesleben der Slaven im frühen Mittelalter, Wien - Köln - Graz 1971, S. 79. ' Helmold von Bosau, Slawenchronik. Neu übertragen und erläutert von Heinz Stoob, Berlin 1963. 10 ebd., S. 55. " ebd., S. 70. 12 ebd., S. 74f. " ebd., S. 90. 6
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12. Jh. Von ihm sagt Helmold, daß er Predigten in slawischer Sprache niederschrieb und bei Bedarf auf diese Aufzeichnungen jeweils für die Missionsarbeit zurückgriff. Die Stelle lautet: sacerdos Dei Bruno ... habens sermones conscriptos Slavicis verbis, quos pronuntiaret oportune.14 Damit sind also eindeutig slawischsprachige Predigttexte bezeugt. Sicherlich gab es bereits vom 9. Jh. an Aufzeichnungen slawischsprachiger Texte für Missionszwecke. Zumindest für die Ausbildung der Missionsgeistlichen sind diese notwendig gewesen. Ein ähnliches Bild ergibt sich für das Karolingische Reich im Süden: — Bereits im 9. Jh. erfolgte von Regensburg mit seinem Kloster St. Emmeram aus Bekehrung bis nach Mähren und in die Slowakei. Für 863/64 sind deutsche Geistliche in Mähren bestätigt, die dort bereits Klerikerschulen eingerichtet hatten.15 — Von St. Emmeran kam Bischof Boso zur Mission in den ostthüringischen Raum von Zeitz und Altenburg, wo er den Slawen slawisch predigte. Er wurde erster Bischof von Merseburg (968-970). Von ihm wird ausdrücklich gesagt: Sclavonica scripserat verba.16 — Erwiesen ist auch, daß in St. Emmeram slawische Texte in latainischer Schrift fixiert wurden. Bereits im 9. Jh. wurden dort auch althochdeutsche Beichtformeln sowie Lehrtexte ins Slawische übersetzt.17 Aus all dem ist erkenn- und ableitbar, daß von etwa 800 an seitens der Zentren für die Missionstätigkeit eine systematische Beschäftigung mit der slawischen Sprache sowie mit Kultur und Lebensweise der Slawen erfolgte. Dies entsprang der Notwendigkeit, für die Missionsgebiete die notwenige Volkssprachenkenntnis zu sichern. Zwischen den kurz beschriebenen Gebieten im Norden und Süden liegt nun der uns besonders interessierende Raum des späteren Thüringen, Sachsen-Anhalt und Sachsen. Zunächst fielen auch diese Territorien in den Zuständigkeitsbereich des Erzbistums Mainz. In dessen Bereich gewann Magdeburg an der Elbe von 800 an für die Beziehungen in die slawischen Gebiete zunehmend an Bedeutung. Bereits 805 wird Magdeburg wie auch Erfurt als Handelsplatz mit den Slawen urkundlich benannt. Bereist wenige Jahre nach der militärischen Sicherung der Ostmark mit Burg Meißen an der Elbe gründete Kaiser Otto I. 937 das Moritzkloster in Magdeburg. Die besonderen Missionsintentionen für Magdeburg unterstrich er schließlich mit der 968 realisierten Gründung eines Erzbistums Magdeburg. In der Stadt, die dem Kaiser öfters als Aufenthaltsort diente, war wohl seit Mitte des 10. Jh. auch eine Domschule vorhanden. Hier wurden Missionsgeistliche mit Rang und Namen ausgebildet. Der sicher vortreffliche Lehrkörper hat gewiß auch das Slawische gelehrt und vermittelt. Dafür wiederum einige Fakten: — Der erste Erzbischof von Magdeburg war der ehemalige Mönch von Trier mit Namen Adalbert, der 961 nach Rußland ging und den Beinamen „Bischof der Russen" erhielt. Durch Adam von Bremen wissen wird, daß dieser Erzbischof sein Amt in Magdeburg zwölf Jahre erfolgreich versah und viele Slawen bekehrte: multos Slavorum predicando convertit.18 Sicher gilt dieses Wort nicht für ihn allein, sondern für alle unter seiner Leitung stehenden Missionare. — In Magdeburg studierten auch die Bischöfe von Merseburg Wigbert (geb. 975, 1004—1009 Bischof) und Thietmar, der bekannte Chronist, sowie Eiko, Bischof von Meißen (992—1015). Sie wirkten in ausschießlich slawischen Siedelgebieten, stammten aber aus Adelsgeschlechtern in 14 15
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ebd., S. 296. Vgl. K . Bosl, Probleme der Missionierung des bömisch-mährischen Herrschaftsraumes, in: M. Hellmann, R. Olesch, B. Stasiewski, F. Zagiba (Hrsg.), Cyrillo-Methodiana, Köln - Graz 1964, S. 1-38. Vgl. Thietmar von Merseburg, Chronik. Neu übertragen und erläutert von Werner Trillmich, Berlin 1962, S. 74. Vgl. auch W. Schlesinger, Kirchengeschichte Sachsens im Mittelalter, Bd. I., Köln - Graz 1962, S. 24. Vgl. Helmold (Anm. 9), S. 66.
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Niedersachsen und Thüringen und waren auch nicht in slawischer Umgebung aufgewachsen. Offensichtlich erwarben sie ihre slawischen Sprachkenntnisse an der Domschule in Magdeburg.19 - Die Konzentration von Magdeburg auf die Slawenmission wird schließlich auch dadurch bestätigt, daß dort auch gebürtige Slawen ausgebildet wurden. So der Tscheche (Vojtech Adalbert), ein Freund Ottos III., der später Bischof von Prag und auch der erste polnische Heilige wurde. Er lebte ca. 950-997.20 - Ein Mitschüler Thietmars von Merseburg, nämlich Brun von Querfurt, wurde 1004 von Erzbischof Tagino in Magdeburg zum Missionsbischof geweiht und missionierte in Polen und Rußland. Die Sprachkenntnisse werden dabei nicht gesondert erwähnt.21 Diese gehörten seit der Zeit Karls des Großen zur erfolgreichen Ausbildung einfach dazu. Als Zwischenbilanz können wir konstatieren, daß erstens seit fränkischer Zeit Missionsbemühungen bei den Slawen nachweisbar sind und zweitens für die Zeit der sächsischen Kaiser, insbes. seit Otto I., das verstärkte Bemühen um die Institutionalisierung der Missionstätigkeit direkt im östlich der Elbe-Saale-Linie sich anschließenden slawischen Siedelraum bemerkenswert ist. Diese Institutionalisierung ist realisiert worden durch die Einrichtung des Erzbistums Magdeburg 968 und seiner Bistümer Meißen, Merseburg und Zeitz im gleichen Jahr. Damit wurden für die seit 929 bis nach Meißen an der Elbe militärisch unterworfenen Markengebiete östlich der Saale für die weitere Entwicklung wichtige Voraussetzungen geschaffen. Diese Bistümer mit ihren Zentren bildeten die Basis für eine wirksame Christianisierung. Die landesgeschichtliche Bedeutung ihrer Einrichtung besteht in der Einheit von Bistumsorganisation und Herrschaftsausübung. Die seit dem Anfang des 10. Jh. in den staatlichen Machtbereich der deutschen Kaiser einbezogenen ostsaalischen Gebiete wurden nun durch die einsetzende Christianisierung der slawischen Gaue in einem sonst riesigen Waldgebiet noch enger mit der weltlichen Herrschaftsordnung verbunden.22 Es muß betont werden, daß für etwa 200 Jahre aussschließlich die Christianisierung der Slawen Aufgabe dieser Archidiakonate war. Erst im 12. Jh. ist durch die deutsche Ostkolonisation die Einrichtung von Kirchen in den deutschen Neugründungen und deren Betreuung hinzugekommen. Diese Slawenmission setzte natürlich neben den Bischöfen auch weitere Geistliche mit guten slawischen Sprachkenntnissen voraus. Somit sind also slawische Sprachstudien seit der 2. Hälfte des 10. Jh. für zwei- bis dreihundert Jahre, also bis ins 12./13. Jh., in den Bildungsstätten des Erzbistums Magdeburg mit Sicherheit erschließbar. Die Wirkungsbereiche der Archidiakonate lassen sich etwa folgendermaßen umreißen23: - Das Bistum Merseburg umfaßte vor allem den Slawengau Chutici und reichte von Merseburg südlich Halle über den Leipziger Raum bis nach Grimma und zum Rochlitz-Gau an der Mulde. - Das Bistum Zeitz schloß sich südlich an und reichte von der Saale mit Naumburg und Lobeda über die slawischen Siedelgebiete an mittlerer Weißer Elster und Pleiße sowie Zwickauer Mulde bis an die Ostgrenze des heutigen Landkreises Zwickau. Es umfaßte also vor allem die alten 19 20
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Zu den slawischen Sprachkenntnissen Thietmars von Merseburg vgl. K. Hengst (Anm. 7), S. 112f. Vgl. A. Stender-Petersen, Die kyrillo-methodianische Tradition bei den Polen, in: M. Hellmann, R. Olesch, B. Stasiewski, F. Zagiba (Hrsg.), Cyrillo-Methodiana, Köln - Graz 1964, S. 448. Vgl. den Bericht bei Thietmar (Anm. 16), S. 342/344. Vgl. K. Blaschke, W. Haupt, H. Wießner, Die Kirchenorganisation in den Bistümern Meißen, Merseburg und Naumburg um 1500, Weimar 1969, S. 13 und 72. ebd., Karte S. 53 und S. 72-77.
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Slawengaue Puonzowa, Dobna und Plisni. Der Bistumssitz wurde nach 60 Jahren 1028 nach Naumburg verlegt. - Das Bistum Meißen schließlich umfaßte die weiten Gebiete östlich der vereinigten Mulde bzw. der Zwickauer Mulde bis zur Elbe noch nördlich von Torgau und bis etwa Pirna mit den slawischen Gauen Daleminze um Oschatz, Lommatzsch, Döbeln und Nisane in den Elbniederungen um Dresden. Das Bistum Meißen war von Anfang an auch für die östlich der Elbe liegenden Gebiete der beiden Lausitzen mit bestimmt. Um dieses Gebiet gab es in der Folgezeit kriegerische Auseinandersetzungen mit Polen und Böhmen. Besonders nach den Polenkriegen konnten ab etwa 1030 im 11./12. Jh. deutscher Burgenbau und Christianisierung vorangebracht werden. Zum Nachweis slawischer Sprachstudien werden nun die aus historischen Quellen vereinzelt ermittelbaren Hinweise auf den Gebrauch des Slawischen durch Missionsgeistliche des Bistums Meißen angeführt: - Burchardus, erster Bischof von Meißen (f 972), hat die Slawen zu beiden Seiten der Elbe selbst gelehrt und auch von seinen Kaplanen unterweisen lassen. 24 Bei Erasmus Stella heißt es über ihn: „Primus, qui transalbinos Slavos ad christianae Religionis sacra institutione traduxit." 25 - Folcold, zweiter Bischof von Meißen (972-992), war ausdrücklich für die „Ostgebiete geweiht" worden, war mit dem polnischen Herrscher Boleslaw befreundet, weilte auch in Prag, also im südlich benachbarten Bistum. 26 - Eid, dritter Bischof von Meißen (992—1015), starb kurz darauf, nachdem er „eben mit großen Geschenken aus Polen zurückgekehrt war". Seiner Herkunft nach ein Adliger 27 , wurde er in Magdeburg ausgebildet. „Durch Taufen, unablässiges Predigen und Firmen nützte der nicht nur seiner Kirche, sondern auch vielen anderen." 28 Ihm wird also wie seinem Vorgänger neben diplomatischer Tätigkeit in Polen zugleich auch großer Erfolg im Missionswerk unter den Altsorben bescheinigt. - Benno, zehnter Bischof von Meißen, missionierte in der 2. Hälfte des 11. Jh. in der Oberlausitz. Er wurde 1523 von Papst Hadrian heilig gesprochen, wobei sein nicht ohne Rückschläge verlaufenes Bekehrungswerk hervorgehoben wurde: „In qua (Ecclesia Misn.) cum omnia praeclare, tum hoc praeclarissime egit, quod Vandalos de religione male semientes ex pernicioso errore eripuit, eoque traduxit, ut una cum catholica ecclesia pari studio fidem christianam tuerentur, quod factum memorabile est et plane divi«29
num. Es ist angenommen worden, daß sich in Meißen seit Gründung des Bistums eine Ausbildungsstätte für Geistliche befand. Die dortige Stiftskirche wurde gekennzeichnet als „Collegium gelehrter Leute ..., woselbst auch junge Leute zu Priestern präpariret wurden" 3 0 . Diese These ist wohl noch zu prüfen. Was für Magdeburg sicher ist, könnte für Meißen angenommen werden, da es eine vorgeschobene Position für die Slawenmission besaß. Eine schließlich noch weiter östlich gelegene Bildungsstätte ist wohl Anfang des 13. Jh. in Bautzen geschaffen worden. Der 18. Bischof von Meißen, Bruno, der Überlieferung nach ein Herr von 24
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Vgl. Ch. Knauthe, Derer Oberlausitzer Sorberwenden umständliche Kirchengeschichte. Hrsg. v. R. Olesch, Köln - Wien 1980, S. 135. Zitiert nach Knauthe a. a. O. Diese Angaben macht Thietmar (Anm. 16), S. 121. Knauthe (Anm. 24), S. 136 nennt ihn einen geborenen Grafen von Rochlitz, was aber bei Thietmar nicht vermerkt ist. Thietmar (Anm. 16), S. 379 f. Zitiert nach Knauthe (Anm. 24), S. 137. Knauthe (Anm. 24), S. 140.
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Baruth, also sorbischer Adliger, hat im Zusammenwirken mit Markgraf Dietrich von Meißen die Collegiatkirche und das Stift Petri in Budisin begründet.31 Diese Ecclesia Collegiata, also Stiftskirche, unterstand dem Bischof von Meißen und ist auch von dort mit Geistlichen besetzt worden. Diese Gründung in Bautzen im zweiten Jahrzehnt des 13. Jh. diente ofensichtlich der weiteren Missionsarbeit in Lausitz. Von der Kirchengeschichtsforschung ist mit Recht betont worden, daß in der zur Stiftskirche gehörigen Schule (ebenso wie in Klöstern) zu jener Zeit auch der Priesternachwuchs ausgebildet wurde. Damals gab es weder Universitäten noch Akademien zur Vorbereitung auf den Dienst in weltlichen oder geistlichen Ämtern. Dom- und Klosterschulen erfüllten diese Aufgaben, sicherten also die notwenige Unterweisung in den Wissenschaften. Für die sorbischsprachige Lausitz ergab sich vor den Augen von Bischof Bruno gewißlich ein besonderer Bedarf an slawischsprachigen Priestern. Dieser konnte wohl von Magdeburg bzw. Meißen nicht mehr gesichert werden.32 Das hing vermutlich damit zusammen, daß sich durch die bäuerliche deutsche Zusiedlung und umfangreiche Erweiterung der Besiedlungsgebiete bis in die höheren Lagen des Erzgebirges die Aufgabenfelder sowohl quantitativ als auch qualitativ mit Blick auf die Sprache verändert hatten. Die deutsche Bevölkerung überwog und zog damit auch den entsprechenden Sprachakzent für die Ausbildung von Geistlichen nach sich. Folglich war für die dominant sorbischen Gebiete Anfang des 13. Jh. Hilfe durch des Slawischen mächtige Geistliche nötig. Es wiederholte sich quasi östlich der Elbe für die sorbischen Kerngebiete, für die Gaue Milcane und Lusici, was im 10. bis 12. Jh. für die Erfüllung der Missionsarbeit in den slawischen Gauen westlich der Elbe zu leisten war und die slawischen Sprachstudien der Geistlichen in Magdeburg erforderte. Auf den sonderlichen Bedarf an Geistlichen mit entsprechender Ausbildung in slawischer Sprache machte schließlich später um 1500 Johannes von Salhausen, Bischof von Meißen (1487-1518) 32a, in einem Statutum Synodale mit Nachdruck aufmerksam. Im Grunde wiederholte er genau die Forderungen, die bereits der karolingische Missionskatechismus festschrieb: Die Geistlichen müssen in der Lage sein, in slawischer Sprache zu predigen, die Beichte abzunehmen, Glaubensbekenntnis und Grundgebete vorzusprechen. Erstmalig wird festgelegt, daß des Slawischen unkundige Geistliche sich entsprechend kundige Kaplane oder Vikare zur Seite nehmen sollten, um das sprachliche Defizit auszugleichen. Diese Auflage wurde unter Androhung des Verlustes ihres Beneficiums, also ihres Kirchenamtes, erteilt.33 Wenn eine solche Weisung ausgegeben wurde, kann man auch damit rechnen, daß entsprechend im slawischen Idiom ausgebildete Kräfte verfügbar waren bzw. daß die entsprechende Ausbildung wieder einen Anschub erhielt. Insofern liegt also ein indirektes Zeugnis für Studium und Pflege des Slawischen an den kirchlichen Bildungsstätten vor.34 Aus der den zeitgenössischen Quellen vom 10. bis. 13. Jh. entnommenen Faktenfülle ist letztlich als Erkenntnis für die Kulturgeschichte des Mittelalters im thüringisch-sächsischen Raum folgendes formulierbar: 1. Das Missionswerk zwischen Saale und Elbe forderte von den deutschen Missionsträgern solide slawische Sprachkenntnisse. 2. Diese slawischen Sprachkenntnisse wurden in den geistlichen Bildungszentren vermittelt.
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Vgl. Ch. Knauthe (Anm. 24), S. 142f. ebd., S. 147ff. Vgl. E. Machatschek, Geschichte der Bischöfe des Hochstifts Meißen, Dresden 1884, S. 832. Vgl. Ch. Knauthe (Anm. 24), S. 181 f. Der lateinische Wortlaut des Textes zu De Plebanis Sclavos plebisanos habentibus ist abgedruckt bei Ch. Knautze (Anm. 24), S. 182f.
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3. Vom 10. bis 12. Jh. waren die Domschulen im Erzbistum Magdeburg und möglicherweise auch in den Bistümern Merseburg, Naumburg und Meißen solche Stätten slawischer Sprachstudien. 4. Im 13. Jh. verlagerten sich diese Studien nach Bautzen. 5. Vom Ende des 12. Jh. an gingen in den Bistümern Meißen, Merseburg und Naumburg infolge des eingetretenen Übergewichts an deutschen bäuerlichen Siedlungen die slawischen Sprachstudien wohl zunehmend zurück. Abschließend ist die Frage zu stellen, was wir über die in der Ausbildung vermittelte Sprache wissen bzw. in Erfahrung bringen können. Es ist die Frage nach der slawischen Sprache, in der Mönche ab ca. 800 in fränkischen Bildungstätten ausgebildet wurden. Und es ist die Frage nach der slawischen Sprache, in der diese Missionsgeislichen ab 800 auch christliche Texte verfaßt haben, sei es als Übersetzung, sei es als individueller Predigt- und Lehrtext. Zur Beantwortung dieser Frage sei erstens zunächst daran erinnert, daß in den Quellen stets nur von den Slawen und der lingua Slavica, nicht etwa von lingua Polabica oder Sorabica, Bohemica usw. die Rede ist. Ebenso ist zweitens die Beobachtung wesentlich, daß mit slawischen Sprachkenntnissen ausgerüstete Bischöfe bei den Elb- und Ostseeslawen, bei den (Alt)Sorben, bei den Slawen in Mähren und Pannonien, in Polen, in Karantanien, ja sogar in der Rus' tätig wurden. Aus diesen beiden Beobachtungen läßt sich schlußfolgern, daß im Zeitraum von 800 bis 12. Jh. noch eine Verständigung mit den Slawen in einer als Gemeinslawisch bezeichenbaren Sprache möglich bzw. gesichert war. Die im 9. Jh. vorhanden gewesenen Unterschiede zwischen den einzelnen slawischen Dialekten bzw. Mundarten sind wohl ganz unwesentlich gewesen. Darin besteht auch bei den slawistischen Linguisten Einigkeit.35 Unsere Beobachtungen bestätigen auch die neuere Meinung in der Slawistik. Sie setzt das Ende der gemeinslawischen Zeit für das 10./11. bzw. 12. Jh. an und rechnet bis dahin mit die Kommunikation nicht beeinträchtigenden Differenzierungstendenzen.36 Auch von sorabistischer Seite durchgeführte sprachgeschichliche Untersuchungen zum kirchlichen Wortschatz kommen zu dem Ergebnis, daß für den frühen Missionszeitraum eine lingua Slavica missionarica anzunehmen ist.37 In die einzelnen Texte freilich können dabei lokale dialektale Besonderheiten Eingang gefunden haben.38 Aber diese sind nicht überzubewerten und auch nicht als Zeichen für eine Zuordnung der Sprachzeugnisse zu den slawischen Einzelsprachen, wie das vom 14. Jh. an üblich ist, zu werten.39 Die Aussagen zur lingua Slavica missionarica, wie sie über Jahrhunderte in geistlichen Bildungszentren gepflegt wurde, sind dadurch erschwert, daß solche zusammenhängende Texte in unserem Gebiet östlich der Saale nicht erhalten geblieben sind. Mit Bezug z. B. auf Bischof Werner von Merseburg (f 1097) werden zwar für die zweite Hälfte des 11. Jh. libri slavonicae linguae in der Quellenliteratur genannt. Keines dieser Bücher hat aber offenbar in der späteren Zeit des Buchdrucks überlebt. Mit dem Aufgehen der slawischen Bevölkerung in der deutschen — zwischen Saale und Elbe im wesentlich im 13./14. Jh. — ist auch der Bedarf an slawischen Textsammlungen Vgl. A. de Vincenz, Zum Wortschatz der westlichen Slavenmission. - In: R. Olesch, H. Rothe (Hrsg.), Slavistische Studien: Zum X. Internationalen Slavistenkongreß in Sofia 1988, Köln - Wien 1988, S. 273-295, insbes. S. 289. 36 So F. V. Mares, in: P. Rehder (Hrsg.), Einführung in die slavischen Sprachen, Darmstadt 1986, S. 9—12. 37 Vgl. H. Schuster-Sewc, Die Bedeutung der mittelalterlichen altsorbischen (westlavischen?) Glossen für die sorbische Sprachgeschichte, in: Die Welt der Slaven 34 (1989), S. 158-166; H. Schuster-Sewc, Der kirchliche Wortschatz des Sorbischen und sein Ursprung. Ein Beitrag zur europäischen Sprach- und Kulturgeschichte, in: Die Welt der Slaven 34 (1989), S. 297-322. 38 Vgl. H. Schuster-Sewc (Anm. 37), S. 166. 39 Vgl. A. de Vincenz (Anm. 35), S. 289. 35
K. HENGST, Slawische Sprachstudien im Mittelalter im sächsisch-thüringischen Raum
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geschwunden. So ist wohl in der Zeit des aufkommenden Buchdrucks dann dieser Altbestand in den Bibliotheken ausrangiert oder zur Herstellung von gedruckten Editionen sekundär verwendet worden. Daher sind bis heute nur in einem Einband einigen Seiten mit etwa zwanzig slawischen Worten — im Text verstreut — gefunden worden. Diese sogenannten Magdeburger Glossen40 aus dem 12. Jh. sind daher von besonderer Bedeutung. Nun besitzen wir auch seit der Mitte des 9. Jh. noch weitere Aufzeichnungen von slawischem Wortgut. In Urkunden und Abgabenregistern sind massenhaft die Namen von slawischen Siedlungen aufgezeichnet worden. Entsprechende Analysen haben ergeben, daß die Niederschriften die slawischen Formen recht exakt wiedergaben, vgl. z. B. aus dem Hersfelder Zehntverzeichnis von 830/50 (freilich nur in Abschrift aus dem 12. Jh. vorhanden) Formen wie Ilauua für slaw. *I/äva zu *itb ,Lehm' (heute Eulau) oder Curuuuati für slaw. *Chürvati, einem urspr. Stammesnamen, der im heutigen Ortsnamen Korbetha bewahrt ist. Oder verwiesen sei auf Formen aus der Ausstattungsurkunde für die Zeitzer Stiftskirche von 976 mit Formen wie Brezniczani für *Breznicane zu *breza ,Birke' (heute Priesen) oder Podegrodici für *Pod(l>y)grodici zu * pod"b .unterhalb und *grodl> ,Burg* (heute Pauritz). Die lautnahen Schreibungen und die Systemhaftigkeit bzw. Normiertheit bei der Wiedergabe slawischer Phoneme sind ein weiterer Beweis für die slawische Sprachkundigkeit der Geistlichen und Notare in den Scriptorien und Kanzleien, insbesondere für die Zeit vom 9. bis 12./13. Jh.41 Schreibnormen bei lateinischen sowie althochdeutschen bzw. altsächsischen Texten waren längst Normalität. Und ganz analog bildeten sich auch Regelhaftigkeiten für die Graphie slawischer Missionstexte heraus. Das trifft zu für solche Zentren wie Passau, Regensburg/St. Emmeram, Hersfeld sowie Corvey, und in unserem Untersuchungsgebiet ist es gültig mit Gewißheit für Magdeburg, Merseburg, Zeitz-Naumburg und Meißen. Ein unlängst durchgeführter Vergleich zu Graphie der slawischen Magdeburger Glossen hat folgendes Ergebnis gebracht. Diese Glossen stehen voll in der Tradition der Graphem-PhonemRelationen, wie sie anhand der slawischen Onyme in Texten des 10. bis 12. Jh. nachgewiesen wurden. Es treten die gleichen normhaften Regularitäten wie in der Schreibweise von slawischen Siedlungsnamen in dieser Zeit auf.42 Die Analyse der uns in Texten überlieferten slawischen Lexik vom 9. Jh. bis zum Anfang des 13. Jh. erlaubt, in Zusammenschau mit den aus den Quellen angeführten Hinweisen zur Missionstätigkeit bei den Slawen im heutigen thüringisch-sächsischen Raum folgende Aussage treffen zu können: - Die Domschulen vermittelten gute und anwendungsbereite slawische Sprachkenntnisse. - Übung und Geläufigkeit im Lesen und Schreiben slawischsprachiger Texte ist rekonstruierbar. Die Fähigkeit im Sprechen und Verstehen darf für die deutschen Träger der Slawenmission vorausgesetzt werden. - Die tatsächliche Textproduktion in slawischer lingua missionarica auf der Grundlage des lateinischen Alphabets darf als gesichert gelten. Kulturgeschichtlich ist bedeutsam, daß bereits in althochdeutscher Zeit parallel zur Aufzeichnung 40
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Vgl. gedruckt bei F. Wiggert, Scherflein zur Förderung der Kenntniß älterer deutscher Mundarten und Schriften. Magdeburg 1832, S. 1-25. Vgl. K. Hengst, Die Beziehung zwischen altsorbischem Phonem und Graphem in lateinischen Urkunden. In: Onomastica Slavogermanica III, Berlin 1967, S. 113-126; K. Hengst, Strukturelle Betrachtung slawischer Namen in der Überlieferung des 11./12. Jahrhunderts. - In: Leipziger namenkundliche Beiträge II, Berlin 1968, S. 47-58. Vgl. K. Hengst, Slawische Namentradition und Magdeburger Glossen. Zum 70. Geburtstag von Hans Walther in Leipzig. Thesen zum Vortrag an der Universität Leipzig am 1. 2. 1991, S. 3.
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erster deutschsprachiger Texte im deutschsprachigen Raum auch slawischsprachige Texte mittels Latinica fixiert wurden. Dies geschah also auch im Gebiet des Erzbistums Magdeburg zur praktischen Nutzung dieser Texte zwischen Saale und Elbe insbesondere von Mitte des 10. bis Ende des 12./Anfang 13. Jh. Die dabei gezeigte slawische Sprachkenntnis läßt auf ausgesprochene Kompetenz schließen, und diese Sprachkompetenz bestand in einem nur dialektal gefärbten Gemeinslawisch. Dieses läßt sich wegen seiner bevorzugten Verwendungssphäre seitens der deutschen Missionsgeistlichen als lingua Slavica missionarica bezeichnen, wurde aber auch in der weltlichen Sphäre genutzt (z. B. in den Bereichen von Politik und Handel) und könnte daher ebenso lingua Slavica communis genannt werden. Anschrift des Verfassers: Prof. Dr. Karlheinz Hengst, Crimmitschauer Str. 108 A, O - 9550 Zwickau
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Sonja H e y l
Sprachwissenschafler, Publizisten und Schriftsteller des 19. Jahrhunderts über die belorussische Schriftsprache Das linguistische Interesse an der belorussischen Sprache kam in den ersten Jahrzehnten des 19. Jh. auf, als man, meist durch Arbeiten russischer Historiker, Ethnographen, Folkloristen und Dialektologen, auf die „belorussische Mundart" aufmerksam wurde. Die frühesten Verweise und Bemerkungen zum Belorussischen finden sich in Schriften von K. F. Kalajdovic, F. S. Simkevic, N. I. Nadezdin, 1.1. Grigorovic, S. P. Mikuckij, seit der Mitte des 19. Jh. dann bei P. M. Spilevskij, M. A. Maksimov, V. I. Dal', P. A. Bessonov, 1.1. Sreznevskij, A. A. Potebnja, A. K. Kirkor, P. V. Sejn, A. I. Sobolevskij, P. V. Vladimirov, I. A. Nedesev, A. A. Sachmatov und N. Ja. Nikiforovskij. Sie sind jedoch recht allgemeiner Art und behandeln das Belorussische entweder als russische oder polnische Mundart. Im damaligen „Nordwestlichen Gebiet" des zaristischen Rußlands, dem belorussischen Sprachgebiet, existierten keine philologischen Zentren oder Schulen (vgl. Petersburg, Warschau oder Wilna). Da die Muttersprache im offiziellen Leben nicht zugelassen war, gab es auch keine (normativen) Schulgrammatiken oder verbindliche Orthographieregeln. Nach 200 Jahren fast ausschließlich mündlicher Existenz des Belorussischen als Sprache des einfachen Volkes konnten die Forscher eigentlich nur noch eine weitgehende Zersplitterung in territoriale Dialekte mit charakteristischen Merkmalen in der Aussprache, im Wortschatz usw. konstatieren. Unter diesen Bedingungen erscheint es fast verständlich, daß selbst Potebnja und Miklosich das Belorussische als Mundart oder Untermundart einer anderen slawischen (russ., poln., ukrain.) Sprache betrachteten.1 P. M. Spilevskij (1823-1861), der sich als Publizist um die Erforschung und Popularisierung der Geschichte, Ethnographie und Folklore Belorußlands verdient gemacht hat, war einer der ersten, der die Idee der Selbständigkeit der belorussischen Sprache unter den anderen slawischen Sprachen verfocht (bis hin zu der falschlichen Annahme, daß das Belorussische Ausgangspunkt für andere slawische Sprachen sei). Schon als Student an der Geistlichen Akademie in Petersburg (1843-1847) verfaßte er Schriften über das Belorussische, die aber in theoretischer Hinsicht unter dem damaligen allgemeinen Niveau der russischen Linguistik blieben. Seine „KpaTKas rpaMMaTinca 6ejiopyccicoro Hapeia»" (1845), „CnoBapb Sejiopyccicoro Hapern«" (1845) sowie „3aMeTKH 6eJiopyciia o 6eji0pyccK0M H3biKe" (1853), dem eine kleine Liste belorussischer Dialektwörter beigegeben war, wurden jedoch nie gedruckt und werden heute als Manuskripte in der Handschriftenabteilung der Russischen Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg aufbewahrt. Andere vereinzelte Versuche der Beschreibung des Zustandes der belorussischen Sprache im 19. Jh. konnten ebenfalls keine breitere Wirkung erzielen.2 In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, daß A. Brückner und M. Murko das Belorussische von Anfang an nicht als regionale Variante des Russischen oder Polnischen betrachteten, sondern als eine eigenständige, dritte ostslawische Sprache neben dem Russischen und Ukrainischen, die auch über eine alte schriftsprach-
1 2
M. G. Bulachov, Jefimij Fedorovic Karskij: Zizn', obscestvennaja dejatel'nost', Minsk 1981, S. 58. K. F. Kalajdovic, O belorusskom narecii, in: Trudy obscestva ljubitelej rossijskoj slovesnosti pri Imperatorskom Moskovskom universitete, c. 1, Kn. 1, M. 1822, S. 67-80; A. Sobolevskij, Smolensko-polockij govor XIII-XV vv., in: Russkij filologiceskij vestnik, t. XV. Nr. 1, 1886, S. 7-24.
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liehe Form verfügte. 3 Im allgemeinen herrschte jedoch in zeitgenössischen Äußerungen die Vorstellung vom Belorussischen als Mundart mit geringen Entwicklungspotenzen zur Literatursprache vor. (Vgl. Anhang) 4 Mitte des 19. Jh./zu Beginn des 20. Jh. ist im Zusammenhang mit umfangreichen ethnographischen und folkloristischen Expeditionen, Untersuchungen und Veröffentlichungen auch ein gewisser Aufschwung des linguistischen Interesses am Belorussischen zu verzeichnen. Es erscheinen Sammlungen von dialektalem Wortschatz und andere Aufzeichnungen, die den damaligen Zustand der mündlichen Sprache der einfachen Menschen fixierten bzw. von Liedern, Bräuchen und Märchen.5 Eine herausragende Leistung auf lexikographischem Gebiet stellt der „CjIOBapb GeJiopyccKoro HapeiHJi" (1870) von I. I. Nosovic dar.6 Das Wörterbuch enthält über 30000 Wörter und phraseologische Wendungen, die der Verfasser in den 50-60er Jahren des 19. Jh. in den Gouvernements Mahiljou, Minsk und Hrodna aufgezeichnet hat bzw. Werken des mündlichen Volksschaffens und altbelorussischen Schriftdenkmälern entnommen hat. Es ist zwar die umfangreichste Sammlung der belorussischen Volkssprache der damaligen Zeit, sie trägt jedoch weder normativen Charakter, noch erfaßt sie annährend den gesamten Wortschatz der Belorussen, denn neben der territorialen Begrenzung des Materials fanden z. B. Wörter, die in allen ostslawischen Sprachen vorkamen, keine Berücksichtigung. Andererseits werden viele phonetische/graphische und morphologische Varianten parallel aufgeführt, vgl. z. B. konzessive Konjunktionen wie anb, flapMa HT0/flapM0iHT0, xoiib/xoHb/xoinb/xoueiub/xoueö/xyiib/ xoia/xonan. Das erste umfassende Werk zur Geschichte und Gegenwart der Sprache der Belorussen entsteht erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts. E. F. Karskij stellt in seinem mehrere Bände umfassenden Werk „Eenopycbl" das Lautsystem, die historische Morphologie, Wortbildung und Syntax des belorussischen „Narecie" sowie die belorussische Volksdichtung und schöne Literatur dar.7 Um die Eigenständigkeit und Entwicklungsfähigkeit der belorussischen Sprache nachzuweisen, war es notwenig, die Wechselbeziehungen zwischen der Sprache des belorussischen Volkes und den angrenzenden Völkern Rußlands, Polens, der Ukraine und Litauens zu untersuchen und auch die Struktur der altbelorussischen Literatursprache mit den anderen slawischen Sprachen in Vergangenheit und gegenwärtigem Zustand zu vergleichen. Der Monographie „Eejiopycbi" waren be3
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K. Gutschmidt, [A. Brückners Beitrag] Zur belorussischen Philologie, in: ZfSL 25 (1980), S. 267; ders., Matija Murkos Beitrag zur belorussischen Philologie, in: Linguistische Studien, Reihe A, Nr. 186, Berlin 1988, S. 116. Belorussisches Sprachmaterial wird von verschiedenen russischen, ukrainischen und polnischen Linguisten in ihren Arbeiten mit herangezogen, z. B. von F. I. Buslaev, K. Ju. Appel, M. A. Kolosov, M. M. Karpinskij, M. M. Durnovo, A. A. Potebnja, B. Linde u. a. E. R. Romanov, Opyt slovarja belorusskogo nareeija, 1876; A. K . Serzputovskij, Grammaticeskij ocerk belorusskogo nareeija der. Cudina, Sluckogo uezda, Minskoj gubernii, St. Peterburg 1911; P. Sejn, Materialy dlja izucenija byta i jazyka russkogo naselenija Severo-zapadnogo kraja, t. 1 - 3 , St. Peterburg 1902; N. Ja. Nikiforovskij, Ocerki Vitebskoj Belorussii, Vitebsk 1892-1899. I. I. Nosovic, Slovar' belorusskogo nareeija, St. Peterburg 1870; auch J. Czeczot, Piosnki wiesniaeze z nad Niemna i Dzwiny, nektóre przyslowia i idiotizmy w mowie slawiano-krewickiej, z postrzezeniami nad nij uezynionemi, kn. 6, Wilno 1846; I. I. Grigorovic, Slovar' zapadno-russkogo nareeija (rukopis'), 1850; S. P. Mikuckij, Belorusskie slova (rukopis'), 1855; ders., Proba litovsko-russkogo slovarja (rukopis'), 1854. E. F. Karskij, Belorusy: Vvedenie v izucenie jazyka i narodnoj slovesnosti, t. 1, Varsava 1903; t. 2, Jazyk belorusskogo plemeni. 1. Istoriceskij ocerk zvukov belorusskogo nareeija, Varsava 1908; 2. Istoriceskij ocerk slovoobrazovanija i slovoizmenenija v belorusskom narecii, Varsava 1 9 1 1 , 3 . Ocerki sintaksisa belorusskogo nareeija: Dopolnenija i popravki, Varsava 1912; t. 3, Ocerki slovesnosti belorusskogo plemeni. 1. Narodnaja poézija, M. 1916, 2. Staraja zapadno-russkaja slovesnost', Praga 1921, 3. Chudozestvennaja literatura na narodnom jazyke, Praga 1922.
S. HEYL, Sprachwissenschaftler, Publizisten und Schriftsteller über die belorussische Schriftsprache
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reits andere Publikationen E. F. Karskijs zur Sprache und Geschichte sowie zum Brauchtum im sog. „Nordwestlichen Gebiet" vorausgegangen, die auf die Auffassungen zeitgenössischer Slawisten zur Einteilung der slawischen Sprachen und zur Geschichte ihrer Wechselbeziehungen in den verschiedenen historischen Perioden einen gewissen Einfluß hatten.8 Die Sprache der Belorussen war in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie Karskijs Untersuchungen zeigten, nicht einheitlich, wies große dialektale Unterschiede nicht nur in den Aussprachegewohnheiten, sondern auch Varianten im Wortschatz, in der Syntax und Wortbildung auf. Folgerichtig verwendet er in seinen Schriften bezüglich des Belorussischen nicht den Terminus „Literatursprache" oder „Schriftsprache", sondern „öenopyccKaa penb", „6ejiopyccKoe HapeiHe", „h3hk 6ejiopyccKoro iuieMeHH", „ßejiopyccKHe rOBopw" bzw. „Hapo^Hbrä H3MK". (Andere Forscher umgehen z. T. die ethnische Zuordnung, vgl. bei Sejn „H3bnc pyccKOro HaceneHK» CeBepo-3anaflHoro Kpas", was der offiziellen Nichtanerkennung der Belorussen als selbständiges Ethnos geschuldet war.) Für Karskij stellte sich die Funktion, die das Belorussische noch im 17. Jahrhundert als Literatursprache spielte, folgendermaßen dar: Die belorussische Sprache „hatte ihre Rolle als Literatursprache und offizielle Sprache lange zu spielen. Erst zum Ende des 17. Jahrhunderts wurde sie durch das Polnische aus der Gerichts- und Verwaltungspraxis verdrängt; in anderen Sphären existierte sie (wenn auch in polnischer Schreibweise) bis zum Ende des 18. Jahrhunderts weiter fort." (Übers. - S. H.)9 Seit Beginn des 19. Jahrhunderts sind nach Karskijs Auffassung Versuche einer literarischen Bearbeitung der belorussischen Volkssprache unternommen worden, mehr oder weniger befriedigende Ergebnisse seien für rein literarische Zwecke allerdings erst am Ende des 19./zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu verzeichnen.10 Eine wichtige Quelle für die Entwicklung der belorussischen Sprache war für Karskij die „neue belorussische Literatur", die durch einen sog. Ethnographismus gekennzeichnet war, d. h. die plastische Widerspiegelung des Alltags des Volkes, der Sitten, Bräuche, der häuslichen Atmosphäre „npH /JOBOJIBHO npaBHJibHOM y MHornx (imcaTeJiefi) H3blKe".n Sein linguistisches Interesse galt jedoch zunächst (nach der Analyse älterer Schriftdenkmäler des 13.—17. Jahrhunderts) der lebendigen (gesprochenen) Sprache des Volkes. Er systematisierte als erster umfangreiches belorussisches Dialektmaterial und klassifizierte die belorussischen Mundarten unter Berücksichtigung der wichtigsten lautlichen und grammatischen Besonderheiten in den jeweiligen Territorien. Er teilte die belorussischen Mundarten in die südwesdichen (mit den Merkmalen hartes /r/, gemäßigtes Akanne, fehlende Verbalendung -c' in der 3. Pers. Sg. Präs.) und die nordöstlichen (mit den Merkmalen weiches /r/, Verbalendung -c' in der 3. Pers. Sg. Präs.) Gruppen ein. Innerhalb der südwestlichen Gruppe unterschied er die PolessjeMundarten (mit den Merkmalen schwaches Akanne, Übergang von o > u, e > ju, Diphtonge anstelle betonter o, e, e, hartes /r/, h-Prothese im Wortanlaut, 3. Pers. Sg. Präs. auf -e/-ic'/-it', unregelmäßiges Dzekanne und Cekanne u. a.), im Süden die Verwendung des /e/ anstelle von /e/ nach Labialen, die Bildung des Futurs mit imu, im Westen die Verwendung verschiedener Polonismen auch in grammatischen Formen. Innerhalb der nordöstlichen Gruppe unterschied er die Untergruppen mit bzw. ohne Cekanne u. a. Merkmalen.12 Karskijs Verdienst besteht darin, als erster in der Slawistik überhaupt eine vollständige Beschreibung der belorussischen Volkssprache der Gegenwart gegeben, die geographischen Grenzen des belorussischen Sprachgebiets bestimmt
Vgl. M. G. Bulachow, a. a. O., S. 263-270. ' E. F. Karskij, Belorusskaja rec': Ocerk narodnogo jazyka s istoriceskim osvesceniem, Praga 1918. 10 M. G. Bulachov, a. a. O., S. 194. 11 E. F. Karskij, Belorusy: Vvedenie v izucenie jazyka i narodnoj slovesnosti, t. 1, Varsava 1903, S. 431. 12 Ebenda, S. 195-196. 8
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und das Verhältnis des Belorussischen zu den Mundarten des Russischen, Ukrainischen und Polnischen beschrieben zu haben. Karskij erkannte bereits die Rolle der Bearbeitung der belorussischen Literatursprache durch Schriftsteller und Dichter. Im Band I seiner „Eejiopycw", Abschnitt I X finden sich kurze Beschreibungen der Sprache der belorussischen Äneide, der Werke von Rypinski Czeczot, Barsceüski, Dunin-Marcinkevic, Karatynski, Dereüski-Vjaryga, des anonymen Verfassers des „Taras na Parnase", von Sunkevic, Lucyna, Bahusevic, Jel'ski u. a. Schriftstellern. Wenn Karskij auch die Sprache der Werke von Janka Kupala und Jakub Kolas nur z. T. in seine Betrachtung einbeziehen konnte, so verfolgte er später um so aufmerksamer deren Einfluß auf die neue belorussische Literatur und ihre Sprache. Davon zeugt z. B. seine Bemerkung, daß einige belorussische Schriftsteller in ihren Werken noch „verschiedene Provinzialismen und Polonismen im Wortschatz zulassen und sich wenig um die Reinheit, die für die belorussische Volkssprache charakteristisch ist, sorgen." 13 (Übers. —S. H.) An anderer Stelle schreibt Karskij: „Die Gebundenheit der ersten weißrussischen Schriftsteller zur Zeit der Wiedergeburt an die polnische Sprache und Literatur übte (...) teilweise einen negativen Einfluß auf die Gestaltung der weißrussischen Schriftsprache aus, um so mehr, da die späteren Schriftsteller sich veranlaßt fühlten, ihren befähigten Lehrern auch in sprachlicher Hinsicht nachzueifern. Hieraus erklärt sich die Übernahme polnischer Wörter für im Weißrussischen unbekannte Gegenstände und Begriffe, besonders für Abstrakta; es wäre vielleicht einfacher gewesen, solche Ausdrücke dem Gemeinrussischen zu entnehmen. (...) Als Nachteil der heutigen weißrussischen Literatur muß vielleicht auch die allzu große Vorliebe für den Vers angesehen werden, ein Mangel, der sich wohl auch sonst in neu entstehenden Literatursprachen beobachten läßt. Für die Ausarbeitung der Schriftsprache wäre wohl eine gute Prosa geeigneter."14 Die Sprache der belorussischen Literatur im 19. Jahrhundert war verständlicherweise ungenügend normiert. Die Schriftsteller orientierten sich an ihren heimatlichen Mundarten. Die Herausbildung der schriftsprachlichen Norm war in gewissem Maße auch von der Konfession der Sprecher abhängig. Während die Rechtgläubigen (Russisch-Orthodoxen) einem größeren Einfluß des Russischen unterlagen und die kyrillische Schrift verwendeten, orientierten sich die katholischen Belorussen am Polnischen und benutzten das lateinische Alphabet. Diese paralle Existenz zweier graphischer Systeme reichte bis in die Zeit nach der Oktoberrevolution, und sie behinderte u. a. den Prozeß der Konsolidierung einer belorussischen Norm. 15 Mit der Entstehung kleiner belorussischer Verlagsanstalten in Wilna und Petersburg, die sich nach 1905 der Herausgabe von Zeitschriften, populärwissenschaftlichen Broschüren, Kalendern, literarischen Almanachen und Schullesebüchern widmete, ergaben sich erste bescheidene Möglichkeiten in einer Zeit des wiedererwachenden Nationalbewußtseins der Belorussen einen Beitrag zur Aufklärung des Volkes und gleichzeitig zur Bewahrung und Weiterentwicklung seiner Muttersprache zu leisten. Eine besondere Rolle spielen dabei die Zeitschriften „Haina flOJW" (SeptDez. 1906, Wilna), „Hama HiBa" (Nov. 1906-Aug. 1915, Wilna) und die Verlegergemeinschaft „3arjiHHe
coHua
i
y
Haina
aKornia"
(Mai
1906-1914,
Petersburg)
bzw.
„EejiapycKae
BbmaBeiQcae T a B a p w C T B a y BijibHe" ( 1 9 1 1 - 1 9 1 5 ) , die neben Werken von Bahusevic, DuninMarcinkevic, Kupala, Hartny, Bjadulja u. a. die ersten Fibeln und Lesebücher der belorussischen Sprache herausgaben.16 In diesen Publikationen war das Bemühen zu erkennen, die phonemati-
13 14 15
16
E . F. Karskij, Belorusskaja rec': Ocerk narodnogo jazyka s istoriceskim osvesceniem, S. 59. E . F. Karskij, Geschichte der weißrussischen Volksdichtung und Literatur, Berlin, Leipzig 1926, S. 1 4 8 - 1 4 9 . A. I. Zuraüski, D v u c h m o ü e i smatmoüe ü historyi Belarusi, in: Pytanni bilinhvizmu i üzaemadzejannja moü, Minsk 1982, S. 49. K . Kahanec, Belaruski lementar, abo Persaja navuka cytannja, St. Peterburg 1906; Ciotka, Pierszaja czytanne
S. HEYL, Sprachwissenschaftler, Publizisten und Schriftsteller über die belorussische Schriftsprache
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sehen Besonderheiten des Belorussischen in der schriftlichen Fixierung möglichst genau wiederzugeben, obwohl eine einheitliche verbindliche Norm noch nicht existierte. Allgemein anerkannt ist die herausragende Rolle der Sprache der Dichter und Schriftsteller Janka Kupala (eig. Ivan Lucevic, 1882-1942) und Jakub Kolas (eig. Kanstancin Mickevic, 1882-1956) für die Herausbildung der neuen belorussischen Literatursprache. Kupalas Sprachschaffen wurde von seinen Zeitgenossen als normativ aufgenommen und galt als beispielhaft fiir die adäquate Wiedergabe der Besonderheiten der lebendigen belorussischen Sprache.17 Kupalas Sprache schöpfte vor allem aus der lebendigen Sprache der Bewohner des Gebiets um Minsk und Lahojsk sowie aus dem mündlichen Volksschaffen des belorussischen Volkes insgesamt. Kupala beherrschte sowohl den mittelbelorussischen als auch den nordöstlichen belorussischen Dialekt, insbesondere den des westlichen Teils, so daß er in der Lage war, eine gewisse Verschmelzung verschiedener mundartlicher Züge in der Schriftsprache zu fördern. Im allgemeinen geht man davon aus, daß die neue belorussische Literaturspracche eine rein volkssprachliche, d. h. dialektale Grundlage hat, auf der die belorussischen Schriftsteller aufbauten. In der Kupala-Enzyklopädie gibt es einen Hinweis auf eine mögliche weitere Quelle. Noch sei zwar die Sprache der geistig-kulturellen Umgebung Janka Kupalas in Wilna und Petersburg nicht erforscht, aber wie Beobachtungen an schriftlichen Quellen, z. B. an Briefen und Aufzeichnungen führender Vertreter der damaligen Aufklärungsbewegung zeigten, hat er von ihr wichtige Anregungen empfangen. Deshalb sollte die These vom ausschließlich „dörflichen" Charakter der belorussischen Literatursprache in der zweiten Phase ihrer Herausbildung und das völlige Fehlen des „städtischen" Einflusses neu durchdacht werden. Bestimmte Wörter und Modelle von Wörtern, die sowohl in Kupalas Werken als auch in der „belorussischen Koine" zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorkommen sowie in der altbelorussischen Literatursprache belegt sind, dagegen aber weder im Polnischen, noch in mittelbelorussischen und nordöstlichen Mundarten anzutreffen sind, zeugten davon, daß einige „Neubildungen" Kupalas zwischen der alten und neuen belorussischen Literatursprache vermittelten. Daneben überwiegen bei Kupala zweifellos die nordöstlichen Dialektismen. Es existieren auch R u s s i s m e n ( v g l . na3BOJiim>, a c r a B i m » , KpacoTKa, T a p r a B a m » , n p a c T y i m i K ) , v i e l e P o l o n i s m e n (vgl. MOAJIH, KceHJKKa, aTpaMaHT, 3 a r a p a K ) bei paralleler Verwendung belorussischer Entsprechungen (vgl. aa3BOJiim>, naiciHym>, n p b i r a a c y H » , UHMÄK). Als hauptsächliche Ursache für die
Verwendung von Russismen und Polonismen wird die unzureichende Gestaltung des lexikalischen Systems der damaligen belorussischen Literatursprache angesehen. Zunächst verwendete Kupala in seiner poetischen Sprache vorwiegend einen allgemein gebräuchlichen („Bauern-") Wortschatz und die entsprechende Bildsprache (vgl. „)KaJieHKa"). Später ist eine allmähliche Veränderung und Erneuerung der sprachlichen Mittel in Richtung zu einer individuellen lyrischen Sprache (im „rycjwp") und eines überhöhten romantischen Stils (in „ffljlSXaM ütbliuyi") zu beobachten. Die mangelnde literatursprachliche Bearbeitung und Differenzierung der lexikalischen und stilistischen Mittel der belorussischen poetischen Sprache stellte Kupala im ersten Jahrzehnt des 20. Jh. vor die Wahl, entweder aus verwandten Sprachen die fehlenden Wörter zu entlehnen oder die einfachen Wörter der Volkssprache durch die Verwendung in der Dichtung auf eine höhere Stufe zu heben. Erst durch die meisterhafte Beherrschung und Verwendung des
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dla dzietak bietarusaü, St. Peterburg 1906; Ja. Kolas, Druhoe cytanne dlja dzjacej belarusaü, St. Peterburg 1910. _ L. M. Sakun, Rolja Janki Kupaly ü razvicci belaruskaj litaraturnaj movy, in: Vesci Akademii navuk BSSR. Seryja hramadskich navuk, Minsk (1982) 3, S. 32-33.
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belorussischen Wortes durch Janka Kupala empfanden auch die Leser seiner Werke das Belorussische als „schöne Sprache". 18 Ähnliche Urteile wurden über die Sprache von Jakub Kolas getroffen. Seine Dichtungen zeichnen sich „durch alle Vorzüge der lebenden weißrussischen Volkssprache aus: man begegnet keinen in Anlehnung an das Polnische künstlich geschaffenen Wörtern, auch keinen seltenen Provinzialismen, und keinen Einflüssen der gemeinrussischen Schriftsprache." 19 Karskij verweist weiter auf „jetzt noch gebräuchliche Archaismen, wie öopTHiK, cxaa3ii]b y Ilpycbi, BejibMi Majia, irapyH". Auffallend sei auch jene Innigkeit der Sprache, die durch die vielen Koseformen von Substantiven und Adjektiven erreicht wird, wie z. B. CBaa 3HMeJibKa, KyTOK yjiacHH, 3HMJiaHKa-6yflOHKa, xjiHBynioK, BOKOima, BaiceHaHKa, KpbDKbnc, aroHbHbnc, icKpanci, myicaiib CBaftro xjwÖKa, MflCKa, Kay6acKi, Jieneinca, coHeÖKa, ra/jÖK, 3ajiaiieHbKH flapareHbKH usw., d. h. durch solche Wörter und Wendungen, die für das von fremden Einflüssen unberührte Weißrussisch charakteristisch sind. Kolas selbst schrieb: „... unsere Literatursprache befindet sich im Entstehungsprozeß. Der Schöpfer der Sprache ist das Volk. Die Aufgabe des Schriftstellers besteht lediglich in der Formgebung, in der Auswahl des Besten, in der Hebung der Sprache auf eine literatursprachliche Norm." 20 (Übers. - S. H.) Zur Bereicherung der Ausdrucksmittel der belorussische Literatursprache entlehnten Kupala und Kolas auch aus anderen Sprachen, vor allem aus dem Russischen. Während besonders in ihrem Frühschaffen noch viele, nicht unbedingt erforderliche Polonismen (bei Kupala) und Russismen (bei Kolas) anzutreffen sind, wählten sie später sorgfaltiger aus und prüften, ob die betreffenden Wörter in einige belorussische Mundarten schon Eingang gefunden hatten. Sakun führt z. B. synonyme Reihen von Wörtern bei Kupala/Kolas auf, deren erstes Wort nicht nur im Russischen, sondern auch in einigen belorussischen Mundarten gebräuchlich ist, vgl. ÖMCTpa — nmapica; p a 3 r a B o p - pa3MOBa, ryTapica; CKapaö - xyTHsfi; cicpoMHbi - cuiiuibi; 3 B a u b - mikam»; Kparoca - MouHa; noMan - aanaMora; npbiBeT - npbiBiTaime; cnop - c i q m i c a . 2 1
Als hauptsächliche Quelle der Bereicherung der belorussischen Literatursprache sahen Kupala und Kolas jedoch die Sprache des Volkes an. „Jede Neubildung und Entlehnung wird sich nur dann durchsetzen, wenn sie dem Geist der Sprache und ihrer phraseologischen Struktur entspricht. Diese Feststellung soll nicht den äußerst komplizierten Prozeß der Bereicherung der Sprache einschränken (...). Wir besitzen jedoch ein großes sprachliches Reservoir, daß unverdientermaßen von uns Schriftstellern vergessen und vom Volk dagegen mit Erfolg genutzt wird. Vor jeder Einführung eines neuen Wortes sollte man deshalb alle Ecken seines Gedächtnisses gut durchstöbern, in Wörterbüchern und in der Folklore suchen und der lebendigen Sprache ablauschen - vielleicht findet sich gerade das Notwendige, das früher schon einmal gebräuchlich war und nur in Vergessenheit geriet, oder ohne, daß wir es wissen, verwendet wird." 22 (Übers. - S. H.) Für die Schaffung von normativen Wörterbüchern oder Grammatiken der belorussischen Sprache waren weder der sprachliche Entwicklungsstand noch die personellen und institutionellen Voraussetzungen ausreichend. Erst nach der Bildung der Belorussischen SSR (1918) entstanden in den 20er Jahren Möglichkeiten für eine allseitige und gleichberechtigte Entwicklung auch der belorussischen Sprache, die durch die Gründung von wissenschaftlichen Einrichtungen begünstigt wurden. Dem 1922 gegründeten Institut für belorussische Kultur (MHÖejncyJIbT) waren u. a.
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Janka Kupala: Encyklapedycny davednik, Minsk 1986, S. 404. E. F. Karskij, Geschichte der weißrussischen Volksdichtung und Literatur, S. 177. Ja. Kolas. Publicystycnyja i kriticnyja artikuly, Minsk 1957, S. 309. L. M. Sakun, Historyja belaruskaj litaraturnaj movy, Minsk 1984, S. 311. Ja. Kolas, a. a. O., S. 309.
S. HEYL, Sprachwissenschaftler, Publizisten und Schriftsteller über die belorussische Schriftsprache
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Kommissionen zur Ausarbeitung einer wissenschaftlichen Terminologie, von Wörterbüchern verschiedenster Art sowie zur Erforschung der Geschichte der belorussischen Sprache angeschlossen.23 Die erste normative Grammatik der belorussischen Sprache schrieb B. Taraskevic aber schon 1918. Die „BejiapycKaa rpaMaTtncaflJlflIIIKOJI" erlebte innerhalb von zehn Jahren fünf Auflagen und war lange Zeit das einzige stabile Lehrbuch, auf dessen Grundlage neue entstanden.24 Das von Taraskevic entworfene phonetische und grammatische System hat sich weitgehend als literatursprachliche Norm durchgesetzt. In Annäherung an das neuere belorussische Schrifttum gelang ihm eine Synthese zwischen den belorussischen Dialekten und der belorussischen Schrifttradition. Obwohl die „EeJiapycica» rpaMaTbiKa ..." als Schulbuch mit begrenztem Umfang und praktischer Zielstellung konzipiert war, stellt sie einen ersten wissenschaftlichen Abbriß der Phonetik, Orthographie, Morphologie, Wortbildung und Syntax der neuen belorussischen Schriftsprache dar. Die Bedeutung der Grammatik von B. Taraskevic für den Prozeß der Herausbildung der neuen belorussischen Schriftsprache liegt darin, daß sich die schriftsprachlichen Normen nicht nur an einem Dialekt orientierten, sondern daß sie sowohl Merkmale zentraler als auch nördlicher Dialekte widerspiegelten. Außerdem läßt die Grammatik von B. Taraskevic eine ganze Reihe paralleler Formen zu, was offensichtlich das Bestreben zeigt, in dieser Anfangsperiode soviel wie möglich rein belorussische Besonderheiten zu erfassen und in der Sprachverwendung ihre Lebensfähigkeit zu überprüfen. Es existierten daneben auch weitere Versuche, die belorussische Sprache in Lehrbüchern zu fixieren. 25 Zusammenfassend läßt sich konstatieren, daß alle Beschreibungen des Belorussischen vor 1918 Beschreibungen einer Mundartsprache waren. Es gab keine präskriptive Grammatik oder einheitliche Orthographieregeln. Die Verfasser der ersten bescheidenen Schul- und Lesebücher waren als Publizisten, Schriftsteller oder Lehrer meist Amateure ohne professionellen linguistischen Anspruch an ihre Schriften. 26 Die eigentliche sprachwissenschaftliche Diskussion über das Belorussische als Literatur- oder Schriftsprache setzte erst zu einem späteren Zeitpunkt ein und trug zunächst vorwiegend deskriptiven Charakter. Im Unterschied zu anderen jüngeren slawischen Schriftsprachen fehlten bei der Herausbildung der belorussischen Literatursprache jegliche Versuche von Linguisten normativ auf die Entwicklung der Sprache Einfluß zu nehmen (vgl. den Einfluß Vuks auf die serbokroatische Schriftsprache oder Sturs auf die slowakische Schriftsprache). Das eigentliche Verdienst an der schriftsprachlichen Bearbeitung der belorussischen Sprache gebührt den Schriftstellern und Publizisten der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, insbesondere Janka Kupala und Jakub Kolas, die durch den bewußten Einsatz sprachlicher Mittel in ihren literarischen Werken des Belorussische über das Niveau verschiedener territorialer Mundarten hinaus hoben, die Sprache, die das Volk sprach und verstand, bearbeiteten und in Schriftform fixierten.
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vgl. Belaruskaja navukovaja terminalohija, v. 1-24, Mensk 1922-1930; M. Ja. Bajkoü, Belaruska-rasijski sloünik, Mensk 1925; Pracy Akadèmicnaj kanferéncyi pa réforme belaruskaha pravapisu i azbuki, Mensk 1927. V. Taraskevic, Belaruskaja hramatyka dlja skol, Vil'nja 1918. Jak pravilna pisac pa belarusku, 1917; Belaruski pravapis, Vilna 1918; Prosty sposab staccja ü karotkim case hramatnym, 1918; B. Pacobka, Hramatyka belaruskaj movy, Vilna 1918. Vgl. Ciotka, a. a. O.; K. Kahanec a. a. O., Kolas (1910) a. a. O. Z. Slawistik, Bd. 37 (1992) 3
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Anhang Zeitgenössische Äußerungen von Philologen zur belorussischen Schriftsprache (Übers. - S. H.) Der Apologie von F. Bahusevic aus seiner Vorrede zu „Dudka biataruskaja" (1891) sei eine Auswahl von Äußerungen gegenübergestellt, die die in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts überwiegend abwertende Haltung gegenüber der Beschaffenheit und den Entwicklungspotenzen der Sprache der Belorussen dokumentiert. „... mowa naszaja josc takajaz ludzkaja i panskaja jak i francuzkaja, albo niamieckaja, albo i inszaja jakaja. (...) Szmat bylo takich narodaü, szto stracili napiersz mowu swaju, (...) a potym i zusim zamiorli. Nia pakidajciez mowy naszaj bielaruskaj, kab nia umiorli! ..." „... Unsere ist eine ebensolche menschliche und Herrensprache wie das Französische oder das Deutsche oder irgendeine andere Sprache. (...) Es gab viele Völker, die zuerst ihre Sprache verloren und dann selbst untergingen. Gebt unsere belorussische Sprache nicht auf, damit wir nicht verloren sind! ... (Dudka bialaruskaja Macieja Burac^ka, Krakow 1891, S. III.) „Bis heute ist in der belorussischen Mundart nicht ein Merkmal entdeckt worden, das sich nicht irgendwo in Großrußland wiederholt hätte. Deshalb ist es wohl richtiger, die belorussische Mundart als territorialen großrussischen Dialekt zu betrachten und nicht als besonderen Dialekt." (I. Sre^nevskij, op. cit. E. F. Karskij, Belorusy. Vvedenie k i^ucenijuja^yka narodnoj slovesnosti, Vir na 1904, S. 218) „Man bekommt Zweifel, daß sie (= die belorussische Sprache) eine Schriftsprache wird, die sich unabhängig entwickeln kann." (Ja. C^ec^ot, Piosnki wiesniac^e nad Niemna i D^winy, niektore prsgsloma i idioti^my n> mowie siawianokrewieckiej, s postr%e%eniami nad nia uc^ynioemi, Wilno 1846, S. XXX.) „Der belorussischen Mundart fehlt wegen ihrer originären Einfachheit die Gesellschaftsfähigkeit, obwohl sie ähnlich dem Russischen sehr dynamisch ist und besonders für die Versbildug geeignet ist. Sie ist fxir leichte und besonders humoristische Sujets geeignet, nicht aber für seriöse Anlässe, die sie stets zu parodieren scheint." (I. I. Nosovic, Opyt kratkogo filologiceskogo nabljudenija nad belorusskim nareciem (rukopis'), S. 245.) „Die mündliche Sprache des belorussischen Volkes wird nie eine Literatursprache, nie eine Schriftoder Buchsprache werden. Sie ist nicht dazu geeignet, sich aus eigenen Elementen und eigenen Wörtern herauszubilden." (P. Bessonov, Belorusskie pesni, M. 1871, S. LXIX-LXX.) „Die heutigen belorussischen Mundarten unterliegen keiner literatursprachlichen Bearbeitung, was man sicherlich auch nicht zu bedauern braucht." (A. Sobolevskij, Obs^or %yukov i form belorusskoj reci. Socinenie E. F. Karskogo, in: Zumal Ministerstva narodnogo prosvescenija. Maj 1887, S. 138) „... die belorussische Sprache ist der großrussischen Sprache so ähnlich, daß es ihr schwerlich gelingen wird, sich neben ihr zu behaupten. Für die Bedürfnisse der Belletristik und der Wissen-
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Schaft werden die Belorussen wahrscheinlich auch in Zukunft die gemeinrussische Sprache verwenden, die auf der großrussischen Basis entstanden ist." (E. F. Karskij, Belorusy, t. III. Ocerki slovesnosti belorusskogo plemeni, 3. Chudo^estvennaja literatura na narodnom ja^yke, Praga 1922, S. 442.) Anschrift der Verfasserin: Dr. Sonja Heyl, Riastr. 6, O - 1157 Berlin
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Hildegard S p r a u l
Zur Frage der Relation zwischen Lexikon und Satz 1. Der 163. Band der „Linguistischen Studien" trägt den Titel „Das Lexikon als autonome Komponente der Grammatik" (1987). Dieser Titel gab mir den Anlaß, meine nun folgenden Ausführungen über spezifische russische Satzstrukturen unter das Thema „Relation zwischen Lexikon und Satz" zu stellen. Folgende 2 Satzstrukturen sollen erörtert werden: (1) HejiH yHecjio TeneHHeM. (2) HejiH y H e c c a TeneHHeM. Einige weitere Beispiele (3)-(7) mögen die beiden Strukturen veranschaulichen: für 1: (3) B rpo3y c p e 3 a j i o MOJIHHCH Bepxymicy. (PacnyTHH) (Beim Gewitter hat es durch einen Blitz den oberen Teil [des Baumes (H. S.)] abgeschnitten.) (4) A BOT O C K O J I K O M , KaK HacMex, nojncaSjiyKa OTopBajio. (CHMOHOB) (Und da hat es durch einen Splitter wie zum Scherz den halben Absatz abgerissen.) (5) OH (T. e. Opeji, H. S.) BUOHT: a y 6 ero cßajiHjica H noaaBHJio HM Opjumy H AETEFI. (KptlJIOB) (Er (der Adler, H. S.) sieht: seine Eiche ist umgestürzt, und es hat durch sie sein Weibchen und die Jungen erschlagen.) für 2: (6) ... Jiereo ycTaHOBHJiacb CB«3b aKTpncw co cjiymaTejMMH. (... der Kontakt der Schauspielerin zu ihren Zuhörern ließ sich leicht herstellen.) (7) Tenepb, Haxoaacb B JIK>6OH TOHKC miacca, MOÄHO HaacaTb Ha KHonKy yica3KH, H fleMOHCTpaijHaiJmjibMa n p e p b i B a e T c a . . . . HaicoHeiiiiiTopbi pa3ABHraioTca. (... läßt sich die Filmvorführung unterbrechen. Schließlich gehen die Vorhänge auf.) 2. Es sei kurz daran erinnert, daß in der slavistischen sprachwissenschaftlichen Literatur dem Satztyp (1) eine Vielzahl von Arbeiten gewidmet ist, denen bei durchaus unterschiedlichem Beschreibungsansatz i n d e r R e g e l g e m e i n s a m ist, daß sie zum Angelpunkt ihrer Interpretation das n o m i n a l e G l i e d im I n s t r u m e n t a l (d. h. für ( 1 ) „TeneHHeM") machen. Wird z. B. dieser Satztyp als zu der Klasse der „unpersönlichen" Sätze gehörend beschrieben, so wird das Nomen im Instrumental als Ausdruck von „Ursache", von „magischer Kraft" etc. verstanden; wird dagegen der Satztyp als nicht-kongruiert eingestuft, so wird das Nomen im Instrumental als „demiaktives Subjekt" interpretiert (s. Mrazek, 1964, dort auch weitere Literatur). Diese Darstellungen des Satztyps (1) tragen jedoch dem Umstand nicht Rechnung, daß (1) auch in anderer Struktur, nämlich ohne Nomen im I n t r u m e n t a l vorkommt. Meine Untersuchungen belletristischer Texte und Beobachtungen am gesprochenen Russisch haben gerade zu dem Ergebnis geführt, daß diese Form eine auffallig breite Verwendung hat.
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Ein Beispiel hierfür: (8) HacreHa .. BbirjiHßejia eme cBera .., H3 KaKoö iiepicBH HXa™ cioaa 3aHecjiOoPs, HeH3BeCTHO. (Nastjona.. erspähte noch Kerzen.., aus welcher Kirche es sie hergetragen hatte, war unverständlich.) Dieser Beleg entstammt der Erzählung Rasputins „2KHBH H N O M H H " , die ich auf den hier diskutierten Satztyp hin untersucht habe. Meine dabei benutzte Ausgabe umfaßt 170 Seiten, der Satztyp kommt rund 60mal vor, davon nur 12mal in der expliziten Form mit dem Nomen im Instrumental. Bei der Form wie im Beleg (8) handelt es sich also nicht um eine Ellipse; eine Strukturbeschreibung des Satztyps (1) sollte daher dieser Form Rechnung tragen. Sätze wie o. (2): H e j i H yHecca TeneHHeM.
sind unter dem Gesichtspunkt ihrer stukturellen Eigenschaften in strukturalistischen wie auch generativ-transformationellen Arbeiten behandelt worden. Dabei konzentrieren sich die Analysen in der Regel darauf, die m e d i a l e Form „ y H e c c a " auf ihre transformationeilen Beziehungen zum Passiv, bzw. der Abgrenzung von diesem zu behandeln; es geht folglich um Beziehungen zu Sätzen wie: (9) HejiH
6MJI
yHeceH TeneHHeM.
In jüngeren Arbeiten - so in einem Aufsatz von I. Zimmermann (1985) — wird jedoch die Struktur wie in (2) dafür herangezogen, um Positionen einer lexikalistischen Grammatik zu veranschaulichen. 3. Ich möchte damit zu einigen Grundannahmen dieser neueren Grammatiktheorie überleiten, deren Vertreter mehr oder weniger konsequent in der Tradition der Chomsky'schen Sprachtheorie stehen. Hier spielt das Lexikon eine zentrale Rolle, und zwar unter der Fragestellung der Relation zwischen Merkmalen der Wortformen und solchen der Satzstrukturen, in denen diese Wortformen vorkommen. In diesen Arbeiten - etwa bei Vertretern der „Lexical Functional Grammar" - wird für die Behandlung wohl der zentralen Frage der modernen Sprachwissenschaft, nämlich wie in sprachlichen Äußerungen Bewußtseinseinheiten auf Lautfolgen bezogen werden, dem Lexikon, genauer den Wortformen, ein größerer Stellenwert beigemessen, als es früher in den transformationellen und generativen Konzeptionen der Fall war. Die Wortformen werden jetzt als Vermittler der verschiedenen Strukturebenen sprachlicher Ausdrücke gesehen. Sie tragen als die Bausteine komplexer syntaktischer Einheiten grundlegende strukturelle Informationen, zu denen die syntaktische und semantische Kategorisierung gehören wie auch Angaben über die syntaktischen und semantischen Fügungspotenzen der Lexeme. (Man wird sich hier daran erinnern, daß ru. „CJi0B0(})0pMa" ein wichtiger Begriff in der russischen Grammatiklehre ist; so ist es naheliegend, bei der Anwendung neuerer lexikalistischer Grammatikbeschreibungen auf das Russische diese Tradition zu berücksichtigen.) Das Lexikon wird gemäß der neueren Grammatikkonzeption 1. als L i s t e der lexikalisch verfestigten Zuordnungen von Laut und Bedeutung verstanden und 2. als der Ort in der G r a m m a t i k angesehen, wo das Spezielle — damit auch das Besondere der Einzelsprachen - im sprachlichen Zeichen als der Verbindung von Inhalt und Ausdruck auftritt. Jede Lexikoneinheit wird daher als M e n g e von S t r u k t u r a n g a b e n beschrieben, die das Verhalten des betreffenden Lexems auf den verschiedenen sprachlichen Ebenen charakterisieren. Das Problem der R e l a t i o n z w i s c h e n L e x i k o n und G r a m m a t i k wird also dahingehend behan-
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delt, daß die scharfe Trennung von lexikalischer und grammatischer Bedeutung, wie sie für frühere Konzeptionen generativer Grammatiken charakteristisch ist, aufgegeben wurden. Diese mehr lexikalistische Basis für die Beschreibung der Grammatik steht interessanterweise auch in der Tradition der Anfänge der modernen Sprachwissenschaft. Schon de Saussure fragte in seinem „Cours": est-il logique d'exclure la lexicologie de la grammaire?" Diese Frage beantwortet er mit zahlreichen Beispielen zu Interdependenzen zwischen Lexikon und Grammatik und kommt zu dem Schluß „... au point de vue de la fonction, le fait lexicologique peut se confondre avec le fait syntaxique." (dt: „Man sieht also, daß hinsichtlich der Funktion eine lexikalische Tatsache mit einer syntaktischen zusammenfließen kann." (de Saussure (1967) 162) Ein de Saussure durchaus entsprechendes Verhältnis von Gegenstand und Aufgaben der Grammatik hatte in den ersten Jahrzehnten der modernen Sprachwissenschaft auch in der Sowjetunion Schule gemacht und zu Einsichten geführt, die deutlich generative Ansatzpunkte erkennen lassen. Wir lesen bei Scerba in seinem Artikel von 1931 „ O TpoHicoM a c n e K T e fl3biKOBbix XBJICHHH H 06 3KCncpHMCHTe B H3UK03H21HHH" („Über den 3fachen Aspekt sprachlicher Erscheinungen und über das Experiment in der Sprachwissenschaft."): „... ßOCTOHHCTBO CJiOBapH H rpaMMaTHKH flOJDKHO H3MepHTbCH B03M0ÜCH0CTbK> IipH HX ÜOCpeflCTBe COCTaBJIflTb JIK)6bie npaBHJIbHHe pa3bi BO Bcex c j i y a x x SCH3HH H B n o j r a e n o H H M a T b Bce r o ß o p u M o e H a a a m o M
a3biice."
(dt.: ... der Wert von Lexikon und Grammatik muß an der Möglichkeit gemessen werden, mit ihrer Hilfe beliebige richtige Sätze für alle möglichen Situationen zu bilden und alle Ausdrücke der gegebenen Sprache zu verstehen.") 3.1 Wie können nun, gestützt auf die Konzeption der „Wortform" als Vermittlungsinstanz zwischen Lexikon und Grammatik, die Strukturangaben für die lexikalischen Einheiten der hier behandelten Sätze gewonnen werden und wie sehen diese aus? Ich beginne mit dem Satztyp, für den Beispielsatz (1) steht, und führe eine vereinfachte Distributionsanalyse durch, wobei ich auch ähnliche Satzstrukturen verwende. Als ein erster Analyseschritt bietet sich an, die Distribution des Prädikats im Hinblick auf das Argument im Instrumental zu ermitteln. In geraffter Form läßt sich dies mit folgenden Sätzen abstecken: wir erhalten w o h l g e f o r m t e Sätze in folgenden Fällen: (10) BeTpoM OTKPUJIO zroepb. (Durch den W i n d öffnete es die Tür.) (11) BeTep OTKpMJi flBepb. (Der W i n d öffnete die Tür.) (12) KJIKJH OTKpwji flBepb. (Der S c h l ü s s e l öffnete die Tür.) Dagegen ist hier nicht w o h l g e f o r m t : ( 1 3 ) *KJIK>HOM OTKpbLJIO
flBepb.
Ebenfalls nicht w o h l g e f o r m t ist: ( 1 4 ) * M a J I b H H K O M OTKpbLJIO
flBepb.
im Unterschied zu: (15)
M a J i b H H K OTpbiJi flBepb (KJIIOHOM).
(Der J u n g e öffnete die Tür (mit dem Schlüssel))
Für die Distribution des Prädikats wurden als exemplarische Besetzungen der Argumentstelle im Instrumental die Substantive „ M a J l b H H K " (Junge), „ K J I I O H " (Schlüssel) und „BeTep" (Wind) herangezogen. Es dürfte klar sein, daß es sich dabei um Vertreter solcher Subklassen von Substantiven handelt, die die Ebene semantischer Kategorien repräsentieren. Für das Deutsche wie auch
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für andere westeuropäische Sprachen, untersucht im besonderen für das Englische, konnte festgestellt werden, daß bei transitiven Verben zwei kategoriell semantische Subklassen der Substantive jeweils unterschiedliche syntaktische Strukturen motivieren. Es sind dies „ A G E N S " , hier vertreten durch „Junge", und „ M I T T E L " , hier vertreten durch „Schlüssel". Die unterschiedlichen syntaktischen Strukturen sind dadurch charakterisiert, daß das Prädikat im Aktiv sich mit Nomina dieser Klassen nach bestimmten Regeln, die Position und Wechsel der Position betreffen, verbindet—das läßt sich auch an den deutschen Sätzen zu den o. Beispielen (11,12 und 15) belegen. Diese Unterschiede treffen — wie die entsprechenden Sätze o. zeigen — auch auf das Russische zu. Jedoch reicht die Subklassifizierung in diese zwei Klassen für das Russische offensichtlich nicht aus. Es zeichnet sich vielmehr eine weitere Subklasse ab, die hier durch Substantive wie „BeTep" (Wind) vertreten ist. Ihr kategoriell semantisches Merkmal bezeichne ich mit „URSACHE". Die Syntax dieser Sätze ist nicht durch besondere Formen oder Positionen der Argumente markiert, sondern durch das Prädikat in seiner nicht-kongruierten Form. Diese Form ist es, die die Besetzung des Arguments im Instrumental - soweit es überhaupt besetzt ist - motiviert, und zwar durch Lexeme der Subklasse „Ursache"; unsere Belege und auch die Distributionsanalyse bestätigen diese Regel. Hier liegt auch der Schlüssel zum Verständnis der Opposition der Prädikatsformen „kongruiert" — „nicht-kongruiert". Denn bekanntlich können wir zu (1) mit dem nichtkongruierten Prädikat entsprechende Sätze mit kongruierten Prädikaten bilden: (16) MeJlH yHecnH. (Man hat den Kahn davongetragen.) (17) TeneHHe yHecjio *rejiH. (Die Strömung trieb den Kahn davon.) Diese Zusammenhänge führen zu dem Schuß, daß im Russischen der kategoriell semantischen Subklassifizierung der Nomina eine Subklassiffizierung der Verben entspricht, für die ich folgende Merkmaldifferenzierung vorschlage: ausgehend davon, daß es sich bei den hier untersuchten Prädikaten um Lexeme der Klasse „ H a n d l u n g s v e r b e n " handelt, trägt e i n e S u b k l a s s e das Merkmalbündel „ A C T I O / i n t e n t i o n a l " , realisiert in den Formen des kongruierten Prädikats, eine w e i t e r e S u b k l a s s e das Merkmalbündel „ A C T I O / - i n t e n t i o n a l " , realisiert in der Form des nicht-kongruierten Prädikats. In Sätzen wie (1) mit der nicht-kongruierten Wortform des Prädikats hat das kategoriell semantische Merkmal „ACTIO/-intentional" seine spezielle, syntaktische Ausdrucksform gefunden und steht in dieser Hinsicht in Opposition zu Sätzen wie (16) oder (17) mit dem im Vergleich zu (1) zwar lexikalisch identischen, aber in den Wortformen und distributiven Möglichkeiten verschiedenen Prädikaten. 3.2 In diesen Erklärungszusammenhang paßt jetzt auch die o. angesprockene breite Verwendung der Sätze wie (8) — also unser Satztyp ohne Besetzung des Arguments im Instrumental. Die Position dieses Arguments kann „leer" sein; nebenbei bemerkt liegt damit hier ein weiterer Fall des Vorkommens „leerer Kategorien" vor - ein Problem in Sätzen natürlicher Sprachen, das ebenfalls die neuere Syntaxforschung intensiv beschäftigt. Man kann nun sagen, daß die allgemeine Bedeutung des Prädikats von (1), d. h. sein kategoriell semantisches Merkmal „ACTIO/-intentional", schon a l l e i n durch die nicht-kongruierte Form des Prädikats hinreichend zum Ausdruck kommt. Es läßt sich daraus für die Hierarchisierung der Abhängigkeiten auf Satzebene schließen, daß die Subklassifizierung der Substantive eine F o l g e der S u b k l a s s i f i z i e r u n g des P r ä d i k a t s ist, das diese an sich bindet. — d. h: „ O T K p H U O flBepb" motiviert „ B e T p o M " als Element der Subklasse „URSACHE".
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Wir können weiter feststellen, daß Sätze wie (1) und (16) — jeder für sich - Teilgebiete des grammatischen Systems des Russischen darstellen. Das zeigt deutlich der Beleg unter Nr. ( 5 ) : zwei Handlungsverben in der Form der Prädikate - „CBajiHJiCH" und „noflaBHJio", verbunden durch die nebenordnende Konjunktion „h" (und), machen Aussagen über ein referentiell identisches Subjekt — „die Eiche". In ihrer g r a m m a t i s c h e n B e d e u t u n g — nur diese interessiert hier — unterscheiden sich diese Aussagen: die Wortform „noflaBHJio" ist durch das Merkmal „ACTIO/ -intentional" positiv markiert, was jedoch nicht für „CBaJiHJica" zutrifft. Die in diesem Beleg vorliegende Differenzierung der grammatischen Bedeutung der Prädikate bedarf einer zusätzlichen Analyse, womit ich gleichzeitig zu der w e i t e r e n , hier a n g e f ü h r t e n S a t z s t r u k t u r (s. o. (2)) überleite. Vorher möchte ich jedoch als Abschluß der Behandlung von (1) in vereinfachter Form die nunmehr deutlich gewordenen syntaktischen und kategoriell semantischen Strukturangaben der Lexeme formulieren, die in Sätzen wie (1) Verwendung finden — die Strukturangaben beschränken sich auf die Verben und die Nomina im Instrumental: (18) 1. (xl) unosi_ x2 x3 2. unosi_ +V (NP) NP P NP -kongr ACTIO /-intentional 3. (xl) +N NP instr. URSACHE
(Prädikat—Argument-Struktur) (lexik. Kategorie) (syntaktische Umgebung) (morphol. Form) (kategriell semant. Merkm.) (lexik. Kategorie) (syntakt. Funktion) (morphol. Form) (kategoriell semant. Merkm.)
Hierbei handelt es sich — wie gesagt - nur um einen Ausschnitt der Strukturangaben, die bei einer expliziten Beschreibung der Regel für die Bildung von Sätzen wie (1) notwendig sind. 4. Durch die Einbeziehung von Sätzen wie (2) mit der Prädikatsform „ y H e c c a " oder „ C B a J i H J i c a " (5) in den hier diskutierten Problemkreis mag meine Absicht deutlich geworden sein, eine weitere Subklassifizierung der traditionellerweise grob als „Handlungsverben" eingeordneten Lexeme für das Russische vorzuschlagen. Dabei werden die Kriterien für die Subklassifizierung, wie bereits demonstriert, mit Hilfe von Distributionsanalysen aus Aktantenstruktur und strikter Subkategorisierung der Verben gewonnen. Ähnlich wie bei dem Vergleich von (1) und (16) kann man zu (2) und (1) sagen, daß die Aussagen mit identischen Lexemen gebildet sind, es sich jedoch auch hier nicht um syntaktische Synonyme handelt, sondern um Sätze mit strukturellen Unterschieden, die zu satzsemantischer Differenzierung führen. Mein Ziel soll nun sein, diese Unterschiede zu beschreiben und zu motivieren, und zwar nicht isoliert, sondern im Kontext der Ergebnisse von (18). 4.1 Für eine verkürzte Distributionsanalyse greife ich auf den Beleg unter o. (7) zurück; es lassen sich bilden: (19) /JeMOHCTpamre Torona. Paris. HHKHTHH, B. A. 1989: rorojn. H H. B. OeflopoB. In: Simvol, Nr. 21, Paris, 157-177. Nilsson, N. A. 1975: Gogol's "The Overcoat" and The Topography of Peterburg. In: Scando Slavica, Bd. 21, 5-19. Oinas, F. J. 1976: Akakij Akakievics Ghost and the Hero Orestes. In: The Slavic and East European Journal, vol. 20, 27-33. Perlina, N. 1988: Travels in the Land of Cochaigne, Sluggards Land, and Dikan'ka: Mythological Roots of Gogol's Carnival Poetics. In: The Supernatural in Slavic and Baltic Literature. Essays to Honor Victor Terras XII, 57-71. Pinto, A. 1978: Das Mantelmotiv in Kellers „Kleider machen Leute" und Gogol's „Der Mantel" (= Europäische Hochschulschriften, Bd. 13), Bern - Frankfurt am Main - Las Vegas. Peuranen, E. 1984: AjcaKHÖ AxaKHeBm EaiHMaiKHH H CBJITOH AKaKHH. In: Studia Slavica Finlandensia. Helsinki. 1 2 2 - 1 3 3 . PGMH3OB, A . M . 1954: OTOHB Bemefi. IlapiDK.
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