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German Pages 168 Year 1991
SLAWISTIK Beiträge zum Programm der MAIKSK
Studien zur Ukrainistik
u wo LÜ M
Band 35 • 1990
5
Akademie-Verlag • Berlin
ISSN 0044-3506
Z. Slaw., Berlin 35 (1990) 5, 6 3 3 - 7 9 0
Gestaltungshinweise für die Autoren Die Manuskripte sind in e i n e m Original mit z w e i Durchschlägen einzureichen und sollten einen U m f a n g von 25 Seiten nicht überschreiten. Die Manuskripte sind zu schreiben - auf Schreibmaschinenpapier F o r m a t A 4, — einseitig und zweizeilig, 30 Zeilen pro Seite, - mit kräftigem F a r b b a n d , deutlich lesbar (saubere Typen), — Absätze sind durch das Absatzzeichen kenntlich zu machen, nicht durch Einrücken. Zitate und Quellenangaben im T e x t müssen wortwörtlich mit dem Original übereinstimmen. Buch- oder Aufsatztitel, Zitate im laufenden Text werden in doppelte, Bedeutungsangaben in einfache Anführungsstriche gesetzt, z. B. lit. naga ,Huf'. Zitate sind in der Originalsprache zu bringen. Zitate aus kyrillischen Quellen sowie kyrillische Buchtitel sind unbedingt mit der kyrillischen Maschine (nicht mit der Hand) zu schreiben. Diakritische Zeichen müssen deutlich lesbar sein und sind notfalls mit der H a n d einzutragen. Personennamen werden im Normaldruck (nicht in Versalien) gebracht, kyrillisch geschriebene transkribiert (außer bei den Fußnoten). Hervorhebungen erfolgen nur durch Sperrung (gekennzeichnet durch unterbrochene Linie unter dem T e x t : ) oder durch Kursivdruck (Wellenlinie unter dem T e x t : Die Fußnoten sind fortlaufend zu numerieren und auf gesonderten Seiten — ebenfalls zweizeilig geschrieben — am Schluß des Manuskripts anzufügen. Sie müssen im Text und im Anmerkungsteil hinsichtlich ihrer Zahl und ihres Inhalts übereinstimmen. Die hochgestellten Fußnotenziffern im Text erhalten keine Klammern. Die Angaben in der F u ß n o t e sind in dieser Reihenfolge zu bringen: Vorname des Verfassers (abgekürzt), Familienname (gesperrt), Titel des Werkes bzw. des Artikels, ggf. Reihe, Band, Zeitschrift, Erscheinungsort und -jähr, Seite. Beispiele: P. B o e r n e r , Erinnerungen eines Revolutionärs, Skizzen aus dem J a h r e 1848, Bd. 2, Lpz. 1920, S. 83. JI. H. T O J I C T O Ü , GoCp. C 0 4 . B s s a a i j a T H T O M a x , T. 1, M. 1960, S. 383. L. U d o l p h , Stepan Petrovic Sevyrev 1820 — 1836 ( = Bausteine zur Geschichte der Literatur bei den Slaven, Bd. 26), Köln —Wien 1986. Bei Zeitschrifteilaufsätzen: D. R a d t k e , Zur Gebrauchsweise der Konjunktionen a und HO im Russischen, in: Wiss. Zs. der Ernst-Moritz-Arndt-Univ. Greifswald (GSR) 10 (1961), S. 5 1 - 5 6 . U. L e h m a n n , Werk und Leser im Wandel, in: ZfSl 33 (1988), S. 1 5 - 1 9 . F ü r häufig zitierte Werke ist ein Signum zu geben, das in einer F u ß n o t e oder (bei mehreren Werken) in einem speziellen Abkürzungsverzeichnis zu erläutern ist. Abkürzungen dürfen nur nach Duden (Abkürzungsverzeichnis) verwendet werden. Bei uns (in den Fußnoten) ständig abgekürzt: Berlin = Bln.; Leipzig = Lpz.; MocKBa =
M . ; JleHHHrpaA = - I •; M o c K u a — ¿ I e m i H r p a « = M . - J L ; CaHKT-IItTepOypr =
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herausgegeben = hg. Korrekturen im Manuskript sind auf ein Mindestmaß zu beschränken und nur über der Zeile in Druckbuchstaben (nicht auf dem R a n d ) einzutragen. Manuskripte, die den genannten technischen Anforderungen nicht entsprechen, werden von der Druckerei nicht angenommen. Solche Manuskripte gehen an den A u t o r zurück. In der Redaktion besteht keine Möglichkeit f ü r eine Abschrift von Manuskripten.
ZEITSCH RI FT FUR
SLAWISTIK B A N D 35
1990
HEFT 5
Herausgeber: Zentralinstitute f ü r Literaturgeschichte u n d f ü r Sprachwissenschaft der Akademie der Wissenschaften der D D R REDAKTIONSBEIRAT R . Rüzicka (Vorsitzender), W. Smolik (Sekretär), W. Beitz, E. Dieckmann, G. Dudek, E. Eichler, D. Freydank, W. Gladrow, A. Hiersche, G. Jäger, M. Jährlichen, K . Kasper, R. Lötzsch, G. Schaumann, H. Schuster-Sewc, M. Wegner
REDAKTIONSKOLLEGIUM G. Ziegengeist (Chefredakteur), K . Gutschmidt (Stellv. Chefredakteur), E. Donnert, R . Eckert, P . Kirchner (Wiss. Leiter d. Red.), U. L e h m a n n , L. Richter, R. Rüzicka, G. Schlimpert
AKADEMIE-VERLAG
BERLIN
Die 1956 als Fachorgan f ü r deutsche und internationale slawistische Forschung gegründete Zeitschrift veröffentlicht Untersuchungen zu Sprachen u n d Literaturen, zur Volkspoesie und Kulturgeschichte der slawischen Völker in Vergangenheit und Gegenwart. Besondere Aufmerksamkeit gilt den deutsch-slawischen sprachlichen, literarischen u n d kulturellen Wechselbeziehungen in europäischen Zusammenhängen, der Namenforschung, Baltistik, Sorabistik u n d Geschichte der Slawistik. Tagungsberichte informieren über wichtige wissenschaftliche Konferenzen. Rezensionen vermitteln einen Einblick in aktuelle Tendenzen und Entwicklungen der internationalen slawistischen Forschung. Bei unverlangt eingesandten Manuskripten besteht f ü r die Redaktion keine Verpflichtung zur Veröffentlichung.
BEZUGSMÖGLICHKEITEN DER ZEITSCHRIFT Bestellungen sind zu richten — in der D D R an den Postzeitungsvertrieb unter Angabe der K u n d e n n u m m e r des Bestellenden oder an den Akademie-Verlag Berlin, Leipziger Str. 3—4, DDR-1086 Berlin; — in der BRD und Berlin (West) an eine Buchhandlung oder an die Auslieferungsstelle K U N S T U N D W I S S E N , Erich Bieber G m b H , ein Unternehmen der Faxon-Gruppe, Postfach 102844, D - 7000 S t u t t g a r t 10; — in den übrigen Ländern an den internationalen Buch- und Zeitschriftenhandel bzw. an die Auslieferungsstelle K U N S T U N D W I S S E N , Erich Bieber GmbH, ein Unternehmen der Faxon-Gruppe, Stampfenbachstr. 73, Postfach, CH-8035 Zürich, an den zuständigen Postzeitungsvertrieb des Landes bzw. an den Akademie-Verlag Berlin, Leipziger Str. 3—4, D D R - 1 0 8 6 Berlin.
ZEITSCHRIFT FÜR
SLAWISTIK
Herausgeber: Zentralinstitute f ü r Literaturgeschichte und f ü r Sprachwissenschaft der Akademie der Wissenschaften der D D R . Chefredakteur: Prof. Dr. 6. Ziegengeist. Redaktion: Dr. P. Kirchner (Wiss. Leiter der Redaktion), W. Smolik (Stellv. wiss. Leiter), A.-G. Bartel, K. Orlishausen, I. Smolik. Anschrift der Redaktion: Prenzlauer Promenade 149 — 152, D D R - 1 1 0 0 Berlin; F e r n r u f : 4 7 9 7 1 9 5 . Verlag: Akademie-Verlag, Berlin, Leipziger Str. 3—4, D D R - 1 0 8 6 Berlin; F e r n r u f : 2 2 3 6 2 0 1 u n d 2 2 3 6 2 2 9 ; Telex-Nr. 114420; B a n k : Staatsbank der D D R , Berlin, Kto.-Nr. 6836-26-20712. Veröffentlicht unter der Registriernummer 1298. Gesamtherstellung: Druckhaus „Maxim Gorki", D D R - 7 4 0 0 Altenburg. Erscheinungsweise: Die Zeitschrift f ü r Slawistik erscheint jährlich in einem B a n d mit 6 H e f t e n , Bezugspreis je B a n d 162,— DM zuzüglich Versandspesen. Preis je H e f t 27,— DM. Der gültige Jahresbezugspreis f ü r die D D R ist der Postzeitungsliste zu entnehmen. Bestellnummer dieses Heftes: 1044/35/5. Urheberrecht: Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die der Übersetzungen. Kein Teil dieser Zeitschrift darf in irgendeiner F o r m — durch Fotokopie, Mikrofilm oder irgendein anderes Verfahren — ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsanlage verwendbare Sprachen, übertragen oder übersetzt werden. All rights reserved (including those of translation into foreign languages). No p a r t of this issue may be reproduced in any form, by photoprint, microfilm, or any other means, nor t r a n s m i t t e d or translated into a machine language, without written permissions from t h e publisher. © 1990 b y Akademie-Verlag Berlin. Printed in the German Democratic Republic. AN (EDV) 17421 01800
Z. Slaw. 85 (1990) 5, 635
Zum Geleit Die im Mai/Juni 1989 gegründete Internationale Assoziation der Ukrainisten setzt sich das Ziel, „die ukrainistischen Studien in den verschiedensten Ländern der Welt . . . und die Verbreitung von Kenntnissen über die ukrainische K u l t u r in der Welt zu unterstützen". Das vorliegende H e f t versteht sich hauptsächlich als ein erster, k o m p a k t e r Beitrag, diesem Anliegen gerecht zu werden. Profilierte Autoren aus sieben europäischen und außereuropäischen Ländern (aus der B R D , der D D R , K a n a d a , der Republik Polen, Rumänien, der U d S S R und den USA) stellen sich die Aufgabe, auf den unterschiedlichsten Forschungsfeldern einer bislang in ihren Potenzen unterschätzten unteilbaren Wissenschaftsdisziplin herangereiften Problemen nachzuspüren. Bewußt wurde deshalb darauf orientiert, ukrainistische Sprach- und Literaturwissenschaft, Volkskunde und Kulturgeschichte in ihrer interdisziplinären Einheit zu sehen und zu behandeln. I m Z e n t r u m der Analysen steht die ukrainische Literatur in ihrer ganzen Breite u n d Vielfalt vom 17. J h . bis zur Gegenwart, wobei vernachlässigten Gegenständen im 19. J h . , zu Beginn sowie in den 20er und 30er J a h r e n des 20. J h . — unter Verwendung unterschiedlichster methodologischer Verfahren — besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Verweise auf Desiderata im Hinblick auf künftige Untersuchungen bleiben nicht ausgespart. Mit den hier vorgelegten Beiträgen soll ein Angebot f ü r eine umfassendere Diskussion unterbreitet werden, deren F o r u m erfreulicherweise mit dem vom 27. 8. bis 2. 9. 1990 durchgeführten I . Internationalen Kongreß der Internationalen Assoziation der Ukrainisten in Kiev bereits deutliche Konturen erhalten h a t . G. G. Grabowicz
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P. Kirchner
I. O. Dzeverin
Z. Slaw. 85 (1990) 5, 636-644 M. T. J a c e n k o Zur Herausbildung der neueren ukrainischen Literatur Will m a n die Anfänge der neueren ukrainischen L i t e r a t u r bestimmen, sollte m a n n a c h meiner Ansicht von der Periodisierung ausgehen, die schon I v a n F r a n k o vorgeschlagen h a t . E r unterschied in der Geschichte der ukrainischen L i t e r a t u r drei q u a l i t a t i v verschiedene P e r i o d e n : die altrussische L i t e r a t u r (11. bis A n f a n g des 16. J h . ) , die mittelukrainische L i t e r a t u r (2. H ä l f t e des 16. bis E n d e des 18. J h . ) u n d die L i t e r a t u r der N e u zeit (seit d e m E n d e des 18. J h . ) . Die Ansichten f a s t aller Forscher zum Charakter der altrussischen L i t e r a t u r s t i m m e n im wesentlichen überein. I h r Genre- u n d Stilsystem entspricht (auf ihrer „ h o h e n " theologischen Ebene) d e m T y p des Genre- u n d Stilsystems in der westeuropäischen mittelalterlichen L i t e r a t u r . N a c h D . Lichacevs Definition wird sie gekennzeichnet d u r c h mangelndes „CTpeMJiemie K peanbHocra" („?Ka?K,na OTBjieieHHOCTH"), d u r c h einen H a n g „K aßcTparnpoBamno MHpa, K pa3pyuieHHio ero KOHKpeTHocTH H MaTepnajibHocTH, K
noHCKaM CHMBOJinqecKHx ßorocjiOBCKHX cooTHomeHHü"1. D a v o n ausgehend, u n t e r scheiden die meisten Forscher auf d e m Gebiet der Geschichte der ukrainischen Literat u r gleichsam die altrussische Periode von der neueren. Indessen gab es im mittelalterlichen L i t e r a t u r t y p u s neben d e m Streben n a c h A b s t r a k t i o n a u c h die Tendenz zu künstlerischer Konkretisierung, wie sie f ü r die L i t e r a t u r der Neuzeit charakteristisch ist. Besonders bezeichnend war das f ü r die „ n i e d e r e n " (weltlichen) F o r m e n der Literat u r , die sich d u r c h K o n k r e t h e i t , Historizität auszeichneten u n d E l e m e n t e der R e a l i t ä t enthielten. Andererseits ist a u c h in der L i t e r a t u r der Neuzeit das Bestreben, das „ N i c h t s t o f f l i c h e " i m „ S t o f f l i c h e n " zu sehen, das Ewige, Unvergängliche i m Besonderen, K o n k r e t e n zu entdecken, nicht verschwunden. Diese Züge t r a t e n in der ukrainischen L i t e r a t u r sowohl in I . K o t l j a r e v s ' k y j s „ E n e l f a " als a u c h im Schaffen der Dichter der R o m a n t i k zutage. I n dieser Beziehung sollte m a n a u c h die Existenz gleichnishaft-parabolischer F o r m e n u n d künstlerischer S t r u k t u r e n im Schaffen des s p ä t e n T. Sevcenko, I . F r a n k o s und Lesja U k r a j i n k a s nicht u n e r w ä h n t lassen, welche die Sicht auf historische K o n k r e t a des 19./Anfang des 20. J h . von der W a r t e der Weltgeschichte der Menschheit aus vert i e f e n ; schon gar nicht zu reden von der Suche n a c h „ewigen" allgemeinmenschlichen ethischen F u n d a m e n t e n in der sittenschildernden L i t e r a t u r , insbesondere im aufklärerischen Realismus. K u n s t k a n o n u n d die literarische E t i k e t t e des Mittelalters, die m i t der Volkspoesie verwoben u n d v o m gleichen T y p u s sind, h a b e n ihre Lebensfähigkeit als typologische Erscheinung bewiesen u n d w u r d e n in eben jener „ E n e l f a " K o t l j a r e v s ' k y j s auf originelle Weise „nationalisiert". Ästhetische Gesetze der Viten-Literatur t r a t e n in H . K v i t k a - O s n o v ' j a n e n k o s P o v e s t ' „ M a p y c j i " hervor. Ähnliches sehen wir a u c h in der russischen L i t e r a t u r , zumindest im W e r k N . S. Leskovs. D a b e i handelt es sich nicht u m einzelne „ E i n s p r e n g s e l " in ein anderes künstlerisches System, sondern größtenteils u m s t r u k t u r b i l d e n d e Elemente. Diese Beispiele, die die F r a g e bei weitem nicht er-
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fl. C. J l n x a M e n , riooTHKa flpeBHepyccKoii niiTepaTypbi. H3ji;aHHe TpeTbe,.n,ono;iHeHnoe, M. 1979,
S. 103f.
M. T. J a c e n k o , Zur Herausbildung der neueren ukrainischen Literatur
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schöpfen, zeugen d a v o n , daß die neuere ukrainische Literatur sowohl ästhetisch als auch in gewissem, Maße ideell ihren Ursprung in der Literatur des Mittelalters hat. D e m ideellen E r b e ist es zuzuschreiben, d a ß die These von der demokratischen N a t u r u n d von der Auserwähltheit des „südrussischen Volkes", die schon in der „ N e s t o r c h r o n i k " aufschien, ihre E n t w i c k l u n g als politische D o k t r i n in der „IcTopin Pyciß" e r f u h r , s p ä t e r a u c h in der ukrainischen R o m a n t i k , in d e n gesellschaftspolitischen A n s c h a u u n g e n M. K o s t o marovs, V. A n t o n y c ' u n d anderer Vertreter d e r neueren ukrainischen L i t e r a t u r u n d Kultur. D a ß m a n die A n f ä n g e der neueren ukrainischen L i t e r a t u r (selbstverständlich nicht als geschlossenes ideell-ästhetisches System, sondern auf der E b e n e einzelner Züge u n d Elemente) nicht erst im 18. J h . ansetzen k a n n , zeigt die Geschichte der ukrainischen L i t e r a t u r in der 2. H ä l f t e des 16. u n d im 17. J h . Die ukrainische L i t e r a t u r des 15. u n d 16. J h . , die solche „Genremodelle" wie Annalen, Chronik, Vita, Sendschreiben, P r e d i g t u n d Gebet noch m i t ihrer byzantinisch-orthodoxen Ausgangsbasis gemeinsam h a t , e n t h ä l t schon E l e m e n t e weltlicher Genres, wie die Sage, Legende, Kriegserzählung, P a r a b e l u n d andere. I n dieser Zeit k o m m e n a u c h die weltliche Malerei u n d die Buchgraphik auf, die sich von der kirchlichen I k o n o graphie lösen u n d die Leistungen der A n t i k e u n d der westeuropäischen K u n s t der Renaissance in sich a u f n e h m e n . I n der A r c h i t e k t u r n i m m t das F u n d a m e n t a l e zu, sie wird harmonischer u n d dekorativer. N a c h der lange w ä h r e n d e n H e r r s c h a f t des mittelalterlichen K u n s t k a n o n s versucht d a s ästhetische D e n k e n , die Gesetze des Schönen, das Wesen der K u n s t , die m i t R e n a i s sance u n d Barock v e r b u n d e n ist, zu durchdringen (Analyse von K o m p o s i t i o n , F a r b e u . a. m.). D e r K ü n s t l e r u n d der Schriftsteller werden als Menschen, die ein gottgefälliges W e r k t u n , höher geachtet als zuvor; es erscheint ein nichtreligiös b e g r ü n d e t e r Appell a n die J u g e n d zu lernen (H. S m o t r y c ' k y j s Aufruf „BcHKoro MHHa npaBoc.naBnr,iii HHTaTejiio . . . " ) . A n t i k e Traditionen, Allegorismus verbinden sich nicht selten m i t Satire u n d erlangen moralisch-didaktischen Charakter. Aus der S p h ä r e theologischen I n h a l t s t r e t e n sie in das Gebiet philosophischer Verallgemeinerung. E i n e äußerst wichtige Rolle bei der A n n ä h e r u n g der ukrainischen L i t e r a t u r a n westeuropäische I d e e n u n d an das künstlerische E r b e W e s t e u r o p a s spielte das K i e v e r Mohyla-Kollegium. Zu den Philosophie-Vorlesungen, wie sie a m Kollegium gehalten w u r d e n , ä u ß e r n H i s t o r i k e r : „ H a o.;ieiieHTLi cxojiacTHKii HaruiacTOBaJiHCb y.neivieiiTH (i>iijiocoHii ßojiee no3flHero BpeMemi, b tom i n c j i e Hjjeii " (stellt eine Zusammenfassung der Vorlesungen v o n 1766 vor, die 1780 umgearbeitet wurden), „KiiHrKe'iita, Ha3f>iBaeMafi Silenus Alcibiadis, cwpeHb Mitoiia AjiKiBiajiCKaH (I'l3panac;KÌii SMÌÌÌ)" (1975/76), „KiiHHiemta o MTemH cBHmeHH/aro/ niioairin, Hape^eHHa JKeHa Jl0T0Ba" (ca. 1780); Dialoge: „ H a p n i c c . Pa3rJiaroJi o TOM: y3Haü c e ß e " (vor 1767), „CNM(J)0Hia, HapenenHan K m i r a AcxaHb o no3HaHÌH caMoro c e ß e " (vor 1767), „ B e c e r a , HapeneHHaa ABoe, o TOM, ITO 6na>«eHHbiM ßBiTb nerKo" ( 1 7 7 2 ) ; „ B e c e r a 1-H, HapeneHHaH Observatorium ( C I O H ) " (vor 1785), „ B e c e a a 2-H, HapeHeimaH Observatorium Specula (eBpeit-
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CKH — CÌOH)" ( 1 7 7 2 ) , „ f l i a - n o r , HJIH p a 3 r a a r o j i o HpeBHeM M i p e " ( 1 7 7 2 ) , „ P a 3 r o B o p IIHTH n y T HHKOB o HCTHHHOM m a c T i « B >KH3HH" ( 1 7 8 0 ) ,
„KoJibi;o"
(wahrscheinlich
1774),
„Pa3roBop,
HasbiBaeMtiii aJiiJiaBiiT, HJIH öyKBapb i w i p a " (1774/75), „ B p a H b apxHCTparara MaxaHJia co CaTaHOK» o ceM: Jierito fji.iTb ÓJIARMM" (1783), „ O p a 6ecy co B a p c a ß o i o " (wahrscheinlich n a c h 1784), „EnaroflapHbiß EpofliK" (1787), „ Y S o r i i i JKaÖBopoHOK" (wahrscheinlich 1787), „fliaJior. HMH e M y I l o T o n 3MÌHH" ( v o r 1 7 9 0 ) .
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Die übrigen Briefe wurden in der Zeit zwischen 1758 und Skovorodas Tod verfaßt. Sie sind in lateinischer oder ukrainisch-kirchenslawischer Sprache gehalten und mit griechischen Zitaten oder mit Gedichten durchsetzt. Von den Übersetzungen aus dem Lateinischen ist nicht alles erhalten, so z. B. Teile aus Plutarchs „Moralia", die Skovoroda übersetzt haben will. 1758 entstand die Prosaübersetzung von „Oda" des Jesuiten Sidonius Hosschius (1596—1659). Unbekannt ist die Entstehungszeit der Übersetzung aus Ciceros „De senectute" und aus Plutarchs „Moralia" „De tranquillitate animi". Gleiches gilt für eine Übersetzung von Horaz' „Liber II, oda X " und eine Nachdichtung mit dem Titel ,,P. Terentii comoedia, quae vocatur Adelphi". Einige lateinisch geschriebene Fragmente und die Erzählung des Traumes, welcher den Wendepunkt in Skovorodas Leben vorstellen soll, runden das Werk ab 8 .
IV.
Gedankensystem
Die Hauptcharakteristika von Skovorodas barockem Stil sind Antithetik und Symbolik. Sie bringen die Grundzüge seines Denkens zum Ausdruck, so daß der Stil als äußere Form organisch mit dem inneren Sinn verbunden ist. Die Beziehung zwischen den Antithesen verläuft als kreisende Bewegung. Eine Dialektik wie bei Philo und Proklos kommt dabei jedoch nicht zustande, sondern eher ein Dualismus, da eines der gegensätzlichen Grundprinzipien Vorrang vor dem anderen erhält. Trotzdem kann von einer Triade, welche aus zwei räumlich und zeitlich auseinanderliegenden Prinzipien, die sich zu einer coincidentia oppositorum zusammenschließen, besteht, als der Grundstruktur des Denkens von Skovoroda ausgegangen werden. In diesem Denken wird das wahre Sein durch gegensätzliche Bestimmungen gekennzeichnet. Den Grundgegensatz bilden hierbei das vieldeutige Symbol, welches die Gegensätze und ihre Vereinigung zur Anschauung bringt, und das Symbolisierte. Alle Tatsachen, jedes konkrete Sein, die
8
Es ist wahrscheinlich, daß Skovoroda Plutarch nicht direkt aus dem Griechischen, sondern aus dem Lateinischen übersetzt hat. Die früheren Drucke von Skovorodas Werken werden aufgez ä h l t i n : YKPALHCBKI micbMeiiHHKH. B i o - 6 i 6 j i i o r p a $ i i H H i l CJIOBIIHK, T. I , KHID 1969, S. 5 2 1
— 522. Editionen: eine erste, allerdings unvollständige Werkausgabe ist: CoiHHeHHH B c r a x a x H npose rpwropHH CaBBHMa CKOBOPORLI. C ero nopTpeTOM H noiepKOM ero pyKii, CII6. 1861; eine weitere, aiich nicht vollständige Werkausgabe folgte zum 100. Todestag: CoTOHeHHH TpiiropnH CaBBHHa CKOBopo,nbi, coSpaHHbie H peflaKTHpoBaHHbie npo6a, üpopoHe CJIOBO, a. a. O., S. 121 — 122. vgl. G. G. G r a b o w i c z , The Poet as Mythmaker. Harvard University Press 1982, S. 82. T. IIIeBqeHKO, op. cit., T. 1, S. 263.
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Aber auch Safärik wird im Poem Sevcenkos zum Propagandisten der slawischen Wechselseitigkeit ; an ihn wendet sich der Dichter mit den Worten: CjiaBa Toßi, JiioßoMy/Tpe, Mexy-cjiaB'HHHiie! HJo H e ™ n0T0Hy™ B HiMeijbKiii nyiHHi Harniii npaB,n;i. Tbog Mope Cjiaß'HHCBKee, HOBe! 3aToro B>i>e 6yfle noBHe, I nonjiHBe HOBeH 3 IUHpOKHMH BiTpHJiaMH I 3 floßpHM KOpMHJIOM, nonjiHBe Ha bojimüm Mopi, Ha IIIIipOKHX XBHJIHX. CjiaBa To6i, IUaapHKy, BoßiKH i ßiKH! II|o 3BiB 6CH B OflHO MOpe Cjiaß'HHCbKil piKH!18 Die poetische Vision des Romantikers von einer slawischen Föderation erreicht hier ihren Höhepunkt. Über die Apotheose einer charismatischen Führerschaft und großer Helden, die zu Trägern von mitreißenden Ideen werden, zeigt Sevcenko das slawische Volk im Moment seiner großen Hoffnung, das bereit ist, das prophetische „Wort der Zukunft" anzunehmen und zu realisieren. Die poetischen Visionen und Symbole des Dichters des ,,Ko63ap" fanden großen Widerhall im Kreis der Kiever Verschwörer. Neben seiner ungewöhnlich starken Persönlichkeit, die die Leser und Zuhörer beeinflußte 19 , wirkten hier Ansichten, die zu den wesentlichsten Punkten der slawischen Idee, der sich die jungen Mitglieder der Bruderschaft verschworen hatten, vorstießen. In einem Brief an Mykola Hulak, einen der Führer der Verschwörung, vom Mai 1846 verweist Vasyl' Bilozers'kyj, ebenfalls ein führendes Mitglied der Bruderschaft, auf die Genialität Sevcenkos, dem es gelinge, die Bedürfnisse und Träume des Volkes und einer ganzen Epoche anzusprechen 20 . Pantelejmon Kulis glaubt in den „sehenden Worten" Sevcenkos die alten Propheten zu hören — der Dichter verkörpere alles zutiefst Menschliche in der damaligen Ukraine 21 . Einen äußerst ausgewogenen und objektiven Bericht über die uns interessierende Frage verfaßte Mykola Kostomarov. Er hat bereits in den ersten Monaten seiner Bekanntschaft mit Sevcenko (also in den ersten Monaten des Jahres 1846) den Dichter häufig gesehen, sich bis in die späte Nacht hinein mit ihm unterhalten und sich für seine Werke begeistert, die er in der Handschrift las. Sevcenkos flammende Reden über das
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20 21
ebd., S. 261-262. vgl. IL Kyjiirn, IcTopiiHHe onoßiflaHHH, in: Tboph IlaHTejieMMOHa Kyjiima, t. VI, JltBiB 1910, S. 377; B. BopoRHH, Tboph IIIeBieHKa b apxißax KHpnji0-Me(|)0j];iiBijiB, in: 36ipmiK npaiji. M O T H p H a a i l H T O i H a y K O B O l IIieBHeHKiBCbKOi K O H l J i e p e H I Ü i , Khib 1955, S. 114 — 126. vgl. die Korrespondenz der Mitglieder der Bruderschaft, hg. von V. M i j a k o v s ' k y j in: 3a cto niT, t. II, XapKiB 1928, S. 52. vgl. IL Kyjiiirr, Cnoraflii npo Tapaca IIIeBHeHKa, XapKiB —Khib 1930, S. 52, 70 — 71 u. a.
S. KOZAK, Kiever R o m a n t i k e r u n d slawische Wechselseitigkeit
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Zusammenleben der slawischen Völker haben wesentlich zur gegenseitigen Annäherung beider beigetragen 22 . Ein poetisches Zeugnis für diese Faszination, die die messianistische Idee der slawischen Wechselseitigkeit auf die Verschwörer ausübte, ist das Gedicht „ f l i ™ cjiaBH" von Kostomarov, dessen erste vier Strophen ich zitieren möchte: fli™ cjiaBH, fli™ cjiaBn! H a c Barn H a c T y n a e :
Op; EeHeTOK JJO KaMiaTKH ToMiH po3Jiarae.
0 « BeHeTOK 30 KaivmaTKH O A ( W H JJO B o c n o p a
Po3piuiaeTbCH 3arap;Ka BeoiHKoro cnopa. P03pHBai0TbCH KaitflaHH
HeBOJii ü HecjiaBH, 3 r H H e , me3He ßpaTHH CBapa,
Bopor Harn KpoBaBiiii. I ocßiTe Haine Heßo COHE^KO CBO6O«H;
CTaHyTb BKyni nepep; B o r o M B i j I b H Ü HapoflH. 2 3
Die vom „Slawenfieber" ergriffenen Kiever Verschwörer machten sich mit großem Eifer daran, die Sprachen, die Literatur, Geschichte und Folklore der slawischen Völker zu studieren, wobei sie sich insbesondere der tschechischen, polnischen und serbischen Sprache und Kultur zuwandten. Aus diesen Nationen kamen die Impulse für die neue Bewegung, und deshalb begannen auch die Mitglieder der Gesellschaft ihre für die damalige Zeit modernen Reisen durch slawische Länder in Prag, Warschau, Lemberg und Wien, wo sie Kontakte mit Kollär, Safarik, Hanka, Palacky, Stur, Maciejowski, Dubrowski, Wöjcicki anknüpften. Die Korrespondenz der Mitglieder der Bruderschaft, die im Band ,,3a CTO JUT" von Volodymyr Mijakovs'kyj herausgegeben wurde, veranschaulicht deren Aktivität. Das Interesse für serbische, mährische, slowakische Lieder ist beeindruckend, die Mitglieder beziehen sich auf die russischen Zeitschriften „ M O C K B H T H H H H " , „IlHBa.nn;i" und „CeBepHan imejia", auf die deutsche „Allgemeine Zeitung", die französische „ R e v u e de deux Mondes", auf Werke von Mickiewicz, die neueste Literatur über das Slawentum in slawischen Sprachen und auch auf deutsche und französische Werke wie die „Histoire de la langue et de la litterature des Slaves" (Paris 1839) und „Le Monde GraecoSlave", auf historische Arbeiten und auch auf Arbeiten aus dem Kreis der utopischen Sozialisten wie Buchez 24 . Während der Untersuchungen fand die Polizei bei Bilozers'kyj (wie auch bei Kostomarov und Hulak) ganze Stapel von „jakobinischer" Literatur, Aufzeichnungen und Exzerpten, insbesondere aus den Arbeiten des französischen
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23
24
vgl. B. MiHKOBCbKHft, HejjpyKOBane i 3a6yTe. H g . v o n M. A n t o n o v y c h , New Y o r k 1984, S. 141. M . K 0 C T 0 M a p 0 B , T ß o p n B JJBOX TOMax, T. I, KHIB 1967, S. 103. vgl. 3 a CTO jiiT, T. I I , a. a. O., S. 60.
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Z. Slaw. 35 (1990) 5
Slawisten Cyprien Robert, dem viele (ebenfalls durch die Polizei konfiszierte) Arbeiten Bilozers'kyjs wesentliche Anregungen verdanken. Zahlreiche in diesen Arbeiten aufgeworfene Probleme, die die slawische Idee berühren, wurden von den Mitgliedern der Bruderschaft detailliert dargestellt. Das betrifft insbesondere den programmatischen Text von Vasyl' Bilozers'kyj, der als Diskussionsgrundlage für die Ausarbeitung des Slawenprogramms diente. Zum wichtigsten Dokument der Bruderschaft wurden die „Kniirw GhtIh yitpaiHCBKoro Hapoßy" von Mykola Kostomarov, die eine eigenständige Variante des ukrainischen Messianismus darstellen. Diese Texte wie auch die Statuten der Gesellschaft können hier nur genannt werden; sie erfordern eine gesonderte ausführliche Betrachtung. Übersetzt von R. Göbner
Z. Slaw. 35 (1990) 5, 6 6 3 - 6 7 4
J. Fizer Philosophie oder Philo-Sophia Taras H. Sevcenkos? Einleitende
Bemerkungen No m a n was y e t a g r e a t p o e t w i t h o u t being a t t h e same t i m e a p r o f o u n d philosopher. S. T . Coleridge
V o m „ S t a a t " des P i a t o n und von der „Nikomachischen E t h i k " des Aristoteles bis zu den L i t e r a t u r t h e o r i e n unserer Zeit ist die Diskussion über das Wechselverhältnis v o n Philosophie u n d L i t e r a t u r nicht v e r s t u m m t . Obgleich die A r g u m e n t e dieser beiden Giganten menschlichen Geistes schon seit langem s t e r e o t y p geworden sind, b e w a h r e n sie doch in i m m e r neuen sprachlichen H y p o s t a s e n ihre epistemologische Gewichtigkeit. Man k a n n sogar sagen, d a ß während der zwei J a h r t a u s e n d e die ganze Diskussion d a r über, d a ß L i t e r a t u r u n d Philosophie entweder gänzlich u n v e r e i n b a r oder aber genetisch v e r w a n d t sind, zwischen der platonischen u n d der aristotelischen These hin u n d her schwankte. F ü r P i a t o n war die literarische Gestaltung, dreimal e n t f e r n t von der inv a r i a n t e n u n d universalen Wirklichkeit der I d e e n (eÜSy]), n u r eine verderbliche Vision, eine A n t i t h e s e zur apodiktischen W a h r h e i t (TKy b p o T H y i o KaHqejiHpiiio, CMOTpro, Ha CTOJie pn^oM c 06pa3U0BLiMH canoraMM jiewaT Tpn a0B0JibH0 njiOTHbie khhth b cepoii noflepHiaHHott oßepTKe. 'InTaio 3arjiaBHe. H hto >i;e h n p o w r a j i b ? ,Estetyka czyli umnictwo pigkne przez Karola L i b e l t a ' . " Und weiter: ,,C JlnoenbTOM h HeMHoro 3HaK0M no ero OpjieaHCKOü' h no ero KpHTiine h (J'MJiocoijmH. H a nepBtiü B3rjiHii; oh mhö noKa3ajicn mhcthkom h HenpaKTHKOM b ncnyccTBax." Und noch unter d e m 10. Juli: ,,B TaKOM CKBepHOM HacTpoeHHH yHLiBaromeii flyrn« BcnoMHHJi h npo ,Umnictwo pi^kne' JlnSejibTa, npHHHJiCH weBaTb: H?ecTOKO, khcjio, npHTopHo. HacTOHmHü HeMeuKHÜ cyn-Baccep. KaK, HanpnMep, nejiOBeK, TaK BaiKHO TpaKTyiomHH o B^oxHOBeHHH, npocTocepfle^Ho B e p H T , hto 6yaTo 6h Mociicj) BepneT Bejieji ceÖH bo B p e M H 6 y p n n p H B H 3 t i B a T b Ha M a p c a x
4
5
M. W e i t z , Literature and Philosophy: Sense and Nonsense, in: Literary Criticism and Philosophy, ed. by J. P. S t r e l k a , University Park and London 1983. T . I I I e B q e H K O , IHofleHHHK, ¡ n : T . I I I e B i e H K O ,
I I o B H e aiopanHH TBopiB y iiiecTH TOMax ( i m
folg. abgekürzt: n 3 T ) , T. 5, Khib 1964, S. 51 (Eintragung vom 5. Juli 1857). 3
Z. Slawistik, Bd. 35, (1990) H. 5
666
Z. Slaw. 35 (1990) 5
k MaiTe ßJiH nojiyneHHH b^oxhobghhh. K a n o e My?KHi;Koe noHHTHe 06 3tom HeH3peqeHHo ßowecTBeHHOM h v b c t b c . H 9T0My BepHT qeJiOBeK, iiHLuyiuiiii acTeTHKy, TpaKTymmuft 06 HaeajiBHOM, B03BHmeHH0-irpeKpacH0M b j j y x o B H o f t npHpop,e n e j i o B e K a . H e T , h 3CTe-
THKa c e r o ^ H H MHe He n a j i a c b . J l n ö e j i b T , o h TOJibKO nnrneT no-noJibCKH, a nyBCTByeT
(b hgm h coMHeßaiocb) h AyMaeT no-HeMeu,KH. Mjih, no KpaöHeft Mepe, nponnTaH Heiviei;khm HfleajiH3MOM (öhbiiihm, He 3Haio KaK Tenepb?). Oh CMaxHBaeT Ha Hamero B . A . JKyKOBCKoro b npo3e. Oh TaK H?e BepHT b 6e3?KH3HeHHyio npejiecTb HeMeijKoro Tomero, HJiHHHoro H,o;eajia, KaK h noKoimHü B . A . }KyKOBCKHii." 6 I n der E i n t r a g u n g v o m 11. Juli ist S e v c e n k o s n e g a t i v e R e a k t i o n auf L i b e l t s A r b e i t j e d o c h schon m e r k l i c h g e d ä m p f t : „ C e r o j y i H h jJiiöejibT MHe noKa3ajicn yMepeHHHM HfleajiHCTOM h ßojiee noxo?KHM Ha nejiOBeKa c TejiOM, HeH?ejiH Ha öecruioTHoro HeMija. B 0flH0M MeCTe oh (pa3yMeeTCH, ocTopo?«Ho) #OKa3HBaeT, h t o bojih h cnjia A y x a He MO?KeT npoHBHTbCH 6e3 MaiepHH. JlHÖejitT peuiHTejibHo n o x o p o m e j i b mohx r j i a 3 a x . H o oh Bce-TaKH uiKOJiap. Oh npeHanBHo ^0Ka3HBaeT npncyTCTBHe BceMorymero TBopija BcejieHHoii bo BceM BHflHMOM h He bh^hmom HciMH Mnpe. H TaK xjiononeT 06 btoh CTapoit, KaK CBeT, HCTHHe, KaK ßyflTo s t o e r o coÖCTBCiiHoe üTitpHTiie." E i n e n T a g s p ä t e r s t i m m t Sevcenko m i t Libelts Ansichten fast völlig überein: „ O h
cero^iin MHe peiiiHTejii.Ho
HpaBHTCH. H j i h oh b caMOM flejie xoporn, hjih oh MHe TOJibKO KaweTCH TaKHM noTOMy, h t o MHe b o t y?Ke
flpyroö
npHBJieKaTejibHtiMH.
jjeHb
flawe
BOBce HenpHBjieKaTejibHbie npeflMeTH KaniyTCH
BjiajKeHHoe cocTOHHHe. JlnßejibT, HanpHMep, BecbMa
cnpaBe,n;-
jihbo 3aMenaeT h BHCKa3HBaeT 3Ty, npaBßa, He coBceM MOJioHiaByio HCTHHy, K o p o r a o , h3hh;ho h HCHO, h t o pejiHrHH h flpeBHHX h h o b h x Hapofloß Bcer.ua ÖHJia hctohhhkom H aBHraTejieM h3hh;hhx ncKyccTB. 3 t o BepHo. A b o t 3to TaK He coBceM. Oh, HanpHMep, HejioßeKa-TBopija b .uejie hshiuhlix iicKyccTB Booöme, b tom HHCJie n b h w b o h h c h , CTaBHT BHme HaTypH. Il0T0My, necKaTb, i t o npnpojja fleiiCTByeT b yKa3aHHbix eil Hen3MeHHHX npep,ejiax, a *ieji0BeK-TB0peii hhtom He orpaHH^eH b cbocm co3^aHHH. T a K jih bto? MHe KaaseTCfl, i t o CBoßoflHbift xy^oJKHHK HacT0JibK0 me orpaHHieH oKpyHiaiomeio ero npnponoio, HacKOJibKO npMpo,n;a orpaHHieHa cbohmh BeiHbiMH, HeH3MeHHHMH 3aKOHaMH. A n o n p o ö y ü b t o t cbo6o,p;hhm TBopei; Ha bojioc OTCTynHTb o t BeHHoii KpacaBHijH npnp o ^ H , oh flejraeTCH 6orooTCTyiiHHKOM, HpaBCTBeHHHM ypoflOM, nofloÖHHM K o p H e j i n y c y h BpyHH. H He roBopio o
flareppoTHrmoMnoflpaHieHHHnpMpofle.
Tor.ua 6bi He 6bi.no h c k v c c t -
Ba, He 6 h j i o 6 h TBopnecTBa, He 6 h j i o 6 h h c t h h h h x xyaowHHKOB, a 6bijio 6bi TOJibKO nopTpeTHCTH Bpofle 3apHHKa ... JlH6ejibT cero^HH MHe peiiiHTejibHO HpaBHTCH." 7 Z w e i W o c h e n s p ä t e r v e r w a n d e l t sich diese, i m wesentlichen g e w o g e n e R e a k t i o n auf L i b e l t s Ä s t h e t i k a b e r m a l s in eine n e g a t i v e . „ ^ J i f l HejioBeKa-MaTepHajiHCTa, KOTopoMy 6 o r 0TKa3aji b cbhtom, paflOCTHOM lyBCTBe noHHMaHHH ero ÖJiaroaaTH, ero HeTjieHHoii KpacoTH, a m TaKoro noJiynejiOBeKa BCHKan TeopHH npenpacHoro Hnnero öojibme, KaK nycTan 6 o j i t o b h h . A,jih nejiOBeKa H?e, op;apeHHoro sthm 6o?«ecTBeHHHM pa3yM0M-, cepue po3Toniuio.
I Ha y K p a m i n o H e c j i o c b , I Ha Y K p a i H i CBHTHJIOCb,
Te
CJIOBO,
Sowee
KA^HJIO,
KaflMJIO ieTHHH.
T. F. llIeBienKo, Heo j i k > a h H a 3 e M J i i " 1 5 . Für ihn war Wahrheit, wie Ivan Franko bekräftigte, synonym mit einer gerechten Befriedigung der Bedürfnisse und Hoffnungen der Menschen. Eine solche Wahrheit, so glaubte Sevcenko, müsse sein, da das Herz sich aufrichte und die entweihte Erde entzünde; nur zu einer solchen Wahrheit, so sagte er allen Menschen guten Willens, sollten sie beten, mehr aber vor niemandem sich verbeugen. Eine solche Wahrheit H a T X H e , H a K j m q e , Ha?«eHe H e B e T x e [ e ] , H e A P E B J I E CJIOBO P o 3 T j i e H H o e , a CJIOBO HOBE
Me?K jnojjbMH KpwKOM nponece I Jiiofl OKpa«eHHH cnace . . . T. T. UleBieHKo, Ocii 15
ders., I ApxiMe« i TaJimeö ..., in: II3T, T. 2, S. 400.
RJIABA
X I V , in: II3T,
T.
2, S. 379.
J. FIZER, Philosophie oder Philo-Sophia T. H. Sevcenkos?
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Z u m Schluß stellt sich folgende Frage : Hielt Sevcenko die ästhetische und die ethische Dimension seines Schaffens für gleichwertig und gleichbedeutend mit philosophischen Reflexionen? Eine direkte A n t w o r t auf diese Frage ist in seiner Prosa und in seinem epistolaren Erbe nicht zu finden. Dafür kann man aus seiner Reaktion auf Libelts Ästhetik und aus seiner Anmerkung in bezug auf das Schaffen Gogol's in einem Brief an V . M. Rjepnina schließen, daß er literarisches Schaffen höher schätzte als Philosophie. Vor Gogol', so schrieb er, „caMHft Mynpbiit ({MUIOCOIJ) H caMbiii uosübinieHHLiii NOAT flOJiateH ÖJiaroroBeTb KaK n e p e « qejioBeiîojiioôqeM" 16 . Sevcenkos Aufmerksamkeit fesselte demzufolge anthropozentristisches intellektuelles und künstlerisches Schaffen. Alles andere ist, wie er in der „FlepeAMOBa 30 HesfliiicHeHoro BHflaHHH Ko63apn" des Jahres 1847 schrieb, „MapHOTpaTCTBO lopmuia i nanepy" 1 7 . Recht hat auch D . Cyzevs'k y j , wenn er behauptet, Sevcenko habe — den Menschen in den Mittelpunkt der W e l t , der Natur und der Geschichte gestellt — im Schicksal seiner Helden „THIIOBO .rrroacbKy ROJIK), jiio^CbKi npoôJieMH aKTyajibHi i äjih ftoro nacy (gesehen). IIIeBieHKO 3Ha ajih cou,i ajIbHHX, nOJliTHHHHX Ta GTHHHHX npOÔJieM TijIbKH MOBy HÎHBHX JUOflCbKHX 06pa3ÎB, HÏKOJIH, HK i ; e ß y B a e
3 ¡HIIIHMH n o e T a M H ,
He n e p e B O f l H T b
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nOHHTb Ta (JÙjIOCOCjHHHHX CHMBOJliß"18.
Philo-Sophia
im, Schaffen Sevcenkos Man suche nur nichts hinter den Phänomenen : sie selbst sind die Lehre. J. W . v. Goethe
Unter dem Begriff „Philosophie in der L i t e r a t u r " hat man zwei verschiedene, obgleich nah verwandte Erscheinungen zu sehen : das philosophische Thema und die philosophische These. E i n literarisches W e r k kann ein Thema ohne Vorhandensein einer These haben und umgekehrt, kann aber auch das eine wie auch die andere besitzen. Das Vorhandensein des ersten macht — bei zurückhaltender Distanz des Autors und bei deutlicher psychologischer und ideeller Differenzierung der handelnden Personen — ein W e r k polyphon, während das Vorhandensein der zweiten als einer bestimmten ideellen Position nicht nur des Autors, sondern auch der Zentralfigur, es zu einem W e r k à la thèse macht. Als augenfälliges Beispiel für das erste könnte man aus der großen Zahl der W e r k e dieses Jahrhunderts den R o m a n „ D e r Mann ohne Eigenschaften" v o n Robert Musil, für die zweite — den R o m a n „ L a N a u s é e " v o n Jean-Paul Sartre nennen. Das philosophische Thema ist in einem W e r k selten in einer speziellen, technischen Sprache vorgestellt, größtenteils ist es in die Sujetstruktur, die Haltung der handelnden Personen, die Autorreflexionen und den Metatext eingebettet ; die philosophische These wird in vielen Fällen in klar umrissenen Behauptungen artikuliert. Sevcenkos lyrisches, episches, dramatisches und Prosawerk ist themenreich.
Darin
sind Liebes-, Alltags-, historische, gesellschaftliche, politische, religiöse wie auch — unserer Definition v o n Philosophie zufolge — philosophische Themen präsent. Diese letztgenannten treten nicht als eine gesonderte Gruppe, sondern fast immer in Beziehung zu anderen Themen in Erscheinung. Man kann sogar sagen, daß sie die Funk16 17 18
Brief T. Sevcenkos an V. N. Repnina vom 7. März 1850, in: II3T, T. 6, S. 65. T . IIIGBiGHKO, üepeAMOBa « o He3RiiicHeHoro BHflaHHH Ko63apn, ebd., S. 314. fl. HHJKeBCbKHit, op. cit., S. 335.
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Z.
Slaw.
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tion entweder eines semantischen A k k o m p a g n e m e n t s oder eines ideellen T e x t r a h m e n s ausüben. So beginnt beispielsweise das historisch-heroische P o e m „Die H a i d a m a k e n " („raiiAaiiaKH"), in dem die tragischen Ereignisse der Kolijivscyna geschildert werden, mit d e m heraklitischen „ p a n t a r e i " : ,,Bce ftjje, Bce MHHae ~ — i Kpaio HeMae./Kyiui >K BOHO A i j i o c b ? Bi^KiiiH B3HJiocb?/I . n y p e H b , i M y ^ p n i i Hiioro He 3 H a e . / J K H B e . . . yninpae . . . O^HO aai;Bijio,/A «pyre 3 a B H J i o , HaBiKii 3aBH.n0 . . . " 1 9 N a c h dieser metaphysischen Feststellung erlangt die Historizität der dramatischen Ereignisse des Poetns kosmische Dimension. Oder: in der Powest „Die Zwillinge" („Ejiii3Hei;Li"), geschrieben u n t e r d e m E i n f l u ß der Ideen J e a n J a c q u e s Rousseaus, ist der philosophische U n t e r t e x t das T h e m a der Dichotomie von N a t u r und Zivilisation. Das, womit die N a t u r die beiden Zwillingsbrüder Zosyma und Savatij ausstattete, hat die Zivilisation in Gestalt des Kommisses wieder zerstört. Oder: in dem Poem und in der gleichnamigen Powest „ D e r Sträfling" („BapHaK") lautet das generative T h e m a „ S t i m m e des Gewissens", d. h. die im Innersten des Menschen kodierte Fähigkeit zu moralischem Wandel. Unter d e m Druck dieser S t i m m e wandelte sich der Sträfling, der im Laufe dreier J a h r e ,,HeHa;KHO-pyccKHX anoKpmJuMecKiix cKasaimfi h necen, KiieB 1888, S. 33. I n s e i n e m Brief an D . J a v o r n y c ' k y j v o m 19. Januar 1904 schrieb Panas M y r n y j : „ H K I I I O MaeTC A y M K y 6 y r a B ü o j i T a B i He s a ß y a b T e i M o e i x a r a . . I t y ® 6 6 M e n i 6 a ? « a J i o c H n p o i H T a ™ 3aMip
HaimcaTH
ijiijiocoijictKy apaiviy,
mo
BHJIHBCH
B MicTepii
I H T A B y w e p a 3 T y T CBOIM, T a IM n e 30BciM n o A o ß a J i a c t i i r r y K a , H a n i i c a n a H a Teiwy.
IJiKaBO
6
N r . 2, 1982, S. 82.)
Barnoro
cyny
noHyTH."
(Zitiert
nach:
B a M Miß
,,CnoKyca"/rpexona;neHMe,
„Pa^HHCbKe
H
oTBJieHeHHyio
niTepaTypo3HaBCTBo",
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der Autor einer biographischen Untersuchung, und auch das in negativer Form 7 . Dennoch ist es dieses Werk u. E . wert, daß man sich damit beschäftigt, und das nicht allein deshalb, weil es aus der Feder eines der größten Schöpfer der ukrainischen Sprache stammt, sondern auch deshalb, weil es eins der wenigen Werke der ukrainischen Klassik ist, die zu einem metaphysischen Thema geschrieben wurden, wobei es sich bewußt auf die Volkstradition stützt. In einem Brief an Volodymyr Naumenko, einen Redakteur der „KneBCKaH CTapima", in der Panas Myrnyj das Werk veröffentlichen wollte, umriß dieser seine Absicht folgendermaßen: ,,3BicHO, moö npan,H He öyjia MepTBoio, He Tpeöa 3AJII3ATN y BHCOKI BHCOKOCTI, a ßpara Te, mo CAM Hapoji; nop;ae y CBOIX nepeiiasax, npo iioro HE^OBI^KH, npo üoro rayxy Ta TEMHY ßipy y floopo Ta n p a B ^ y , HK BIH ^HBHTBCH Ha Ti a6o iHTi CBITOBI n p o « B H , HK MipKye He npo MONEHHI KJionoTH, a npo P03YM0ßI peii, Ta noTpeÖH CBoro jjyxy." 3 Wie diese Erklärung bezeugt, stimulierte zu einem solchen Herangehen das Interesse des Schriftstellers für die Weltanschauung des ukrainischen Volkes. Dieses Interesse war in der Familie der Rudcenkos — leidenschaftlicher Sammler von Volksliedern — ganz gesetzmäßig. Der Neuwert im Vergleich zur vorhergehenden Etappe des literarischen Interesses für die kosmogonische Legende, repräsentiert durch Rudans'kyjs Poem, liegt in der größeren Aufmerksamkeit gerade gegenüber sogenannten primitiven Erscheinungsformen der Volkspsyche, in dem Bestreben, jegliche Romantisierung und Poetisierung von Produkten der Volksphantasie zu vermeiden. Dieser Versuchung ist Rudans'kyj, welcher der Generation der ukrainischen Spätromantiker und „Prosvita"Anhänger angehörte, nicht entgangen. Für das Ende des 19. Jahrhunderts ist gerade das bemerkenswert, was die Weltanschauung des Volkes von der der gebildeten Schichten unterscheidet. Diese Anschauung, die wir als eine antiromantische bezeichnen könnten, hatte sich breit in Panas Myrnyjs großen Romanen ,,Xi6a PEBYTT BOJIH HK ncjia noBHi?" („Brüllen denn die Ochsen, wenn der Trog voll ist?", 1872/75) und „ H o B i n " („Die Dirne", 1883/84) entfaltet. Während der erste den Versuch der Entmystifizierung eines Volksrebells darstellt, ist der zweite der Versuch der Entmystifizierung eines Liebesromans über die glückliche Heirat eines Mädchens aus dem Volke. Infolgedessen strotzt es in beiden Werken von trivialen, prosaischen Details aus dem Leben aller Schichten der Gesellschaft, darunter auch der Bauernschaft. Das Vorhandensein solcher Bilder in „CnoKyca" wurde in der obengenannten Monographie von Cerkas'kyj den Mängeln dieses Werkes insofern angelastet, als der Kritiker die Ansicht vertrat, Panas Myrnyj habe sich auf das Niveau des finstersten Aberglaubens begeben. Der Kritiker hat zum Teil recht, das burleske Element ist darin tatsächlich überaus akzentuiert. Das alles muß man jedoch im Kontext der antiromantischen Tendenzen des Autors sehen und darf dabei nicht den Neuansatz der Gesamtkonzeption des Werkes vergessen, das Panas Myrnyj in seinem Brief an Javornyc'kyj mit vollem Recht ein „philosophisches Drama" nannte. Tatsächlich hatte er Vorwürfe solcher Art schon
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Wenngleich das Manuskript 1901 fertiggestellt war, erschien das Mysterium doch erst 1905 in dem K i e v e r Almanach „HoBa p a a a " . B . M. H e p K a c b K i i i i , IlaHac MHPHHH. Biorpacfiin. J],oc.iiH?KeHHH, KHÜB 1973, S. 322. vgl. P a n a s M y r n y j s Brief an Volodymyr Naumenko vom 23. 11. (8. 3.) 1902, i n : I l a H a c M H P HHH, 3iGpannH TBopiB y CGMH TOMax, T. 7, KHIB 1971, S. 481 (alle im T e x t vorkommenden Z i t a t e aus Werken P a n a s M y r n y j s erfolgen — getrennt nach B a n d - und Seitenzahl — nach dieser Ausgabe).
M. LÄSZLÖ-KUTIUK, Panas Myrnyjs Mysterium „CnoKyca" in komparatistischer Sicht
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e r w a r t e t u n d i m v o r a u s a u f sie i n s e i n e m B r i e f a n N a u m e n k o g e a n t w o r t e t : „ 3 B i c H O , m o TyT noBejiocH 3 a i e n H T H nuTaHHH i n p o 6 o r a i n p o l o p i a , n p o ß i p y B n e p m o r o i n p o BCHKi M y ^ p o m i . n p y r o r o , m o HHMH BiH p;0B03,e j n o f l e i i 30 c n o K y c H . C K a w e T e : 6 a 6 ' H i i
3a6o6oHH!
MeTaCH, H Maro npaBO Ha Te, m o 6 ü o r o 3aBecTH B xy,no?KHK) o n p a B y '
(7, 481). Außer dem Interesse für ein spezifisch volkstümliches Herangehen an die Frage des Sündenfalls kennzeichnete die K o n z e p t i o n des Werkes auch noch ein offensichtlicher Einfluß I v a n K o t l j a r e v s ' k y j s auf sein ganzes dramatisches Schaffen. Der Autor der „EHeifla" behandelte jedoch bekanntlich ein so erhabenes Thema wie die Liebe recht ungezwungen und gestaltete mit rubensschen Pinselstrichen körperliche Gelüste. So ist es kein Zufall, daß Panas M y r n y j das Thema des Sündenfalls gerade i m K o n t e x t erotischer Verlockungen seitens des Teufels behandelt und ein richtiges Liebesdreieck ausbaut. D i e ganze Handlung des Mysteriums bewegten die unreinen Gelüste Luzifers in bezug auf E v a , Adams Frau. Infolgedessen nähert sich seine Deutung des Rätsels v o m Baum der Erkenntnis am deutlichsten der Auffassung v o m Mythos als Verlust der Unschuld durch die ersten Menschen. I n Panas M y r n y j s Darstellung waren A d a m und E v a glücklich in ihrer Einfachheit, denn ihre Gedanken waren rein. Sie erdreisteten sich nicht einmal, anders zu denken, als ihnen aufgetragen war, beteten unablässig zu G o t t , indem sie die Erschaffung der W e l t priesen und auf diese Weise ihre Seele vor Unsauberkeit bewahrten. Eitelkeit, N e i d , Mißachtung des Nächsten, am meisten aber sexuelle Begierden waren in Panas M y r n y j s Darstellung Wesensattribute der W e l t der Teufel, und hineingetragen ins stille Paradies der ersten Menschen, untergruben sie die Einheit des Menschen und der Natur, mit den Tieren und mit den Pflanzen, seine Zufriedenheit mit der W e l t , seinen Seelenfrieden, wobei sie in seinem Innersten das Schuldgefühl — die Quelle all seines Ungemachs — weckten. Das ist das Grundkonzept, das alle Elemente des Myrnyschen Mysteriums durchdringt, das ungeachtet gewisser Schwerfälligkeiten und Unvollkommenheiten in der sparsamen Verwendung künstlerischer Mittel seine Bedeutsamkeit und sein unbestreitbares Interesse für unsere T a g e garantiert. Eines der beredtesten Zeugnisse für das ausgeprägte Moralempfinden des ukrainischen Volkes ist das L i e d ,,Oü He xoflw, FpHnio, Ta Ha neyopHimi". Panas M y r n y j fand eine Form, dieses Lied in das Werkgewebe einzufügen, indem er es sozusagen mit einem kosmischen Rahmen versah, um auf diese Weise die I d e e des K a m p f e s zwischen Gut und Böse als Triebkraft der Entwicklung der W e l t zu veranschaulichen. I n der zweiten Szene, d. h. A k t , improvisiert Satanail — einer der Hauptvertreter der „ T e u f e l s w e l t " — ein Lied, das er E v a vorsingt, um ihr sein künstlerisches Talent zu beweisen, wobei er als dämonische Macht die naive Unschuld bezaubert: B npo3opift ßJIAKHTI noromoro RHH TKJiHJia BenipHHH 3opn ... Xoporna, HK paHKOM poweBa 30H, I JKBaBa, HK XBHJIH Ha M o p i .
Becejii, 6e3JKypm no^pyrn 11 BiHOHKOM KpyrOM OTOHHJIH, CniBajin noflpy3i nicHi ronocHi, TaHKOM napiBHHM, BecejiHMH.
680
Z. Slaw. 3 5 (1990) 5 CaMa TamjiopHCTKa, B e i i p H H 3 o p n , T a K a 6y.ua p a / j a T a H o i K y , — B n c T y i m e M apiÖHeHbKO n e p e « CBiii B e j i a , B ßjiHCKyqoMy HCHIM B i H o i K y .
Der Mond langweilt sich, versteckt sich hinter dunklen Wolken, denn der Abendstern ist schon lange nicht mehr mit ihm spazierengegangen. Sonja, welche die Mutter dieses Sternes ist, aber wird es noch schwerer ums Herz: T o M a ™ CTapaH noMiTHJia Te I c n a T b CKijibKH 3Hiß He j i H r a j i a , — ^HTH HeoßaMHe, ^ i B i a Monome, 3
o i e i i i3 CBOix H e
cnycKajia.
B o H a i n e paHinie, Hiw j ; 0 4 K a Ii, B n o j j o ß a j i a T o r o ryjibTHH, B
B i H n o e ^ H H u , i o TO T i i i , TO
HauiinTyBaB,
HK i'x K o x a e
(VI,
flpyriii, 2 9 9 — 300)
Schließlich sprang der Mond hinter der Wolke hervor, begann mit dem Abendstern zu tanzen, währenddessen die erzürnte Sonne hinter dem Berg hervorhüpfte, sich auf der Sichel des Mondes niederließ und frohlockte: Oije To6i, 3pa,HHHKy, n j i a T a 3 a Te,
IIJoö
TH JJO OÖOX
He 3aJIimHBCH. (VI, 300)
Als Anstoß für eine so orientierte Bearbeitung des Liedes konnte das Poem „The Song of Hiawatha" (1855) des nordamerikanischen Dichters Henry Wadsworth Longfellow dienen, an dessen Ubersetzung Panas Myrnyj arbeitete, bevor er sein Werk zu schreiben begann 9 . Auch bei Longfellow ist in ähnlicher Form von einer übernatürlichen Herkunft des Helden die Rede, dessen Mutter eine Feentochter war, die vom Mond gefallen und deshalb gestorben war, weil ein verräterischer Liebhaber — der leichtsinnige Wind — sie während der Entbindung im Stich gelassen hat. Dient jedoch bei Longfellow das mythische Motiv zur Erhöhung der Autorität des Kulturhelden vom Stamme der Indianer 1 0 , so dient für Panas Myrnyj eine solche Projektion auf Himmelskörper als eine 9
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P a n a s Myrnyj arbeitete an der Übersetzung dieses Werkes zwischen 1899 und 1900, wobei er sich auf die russische Übersetzung von B u n i n und Lisovskij stützte und den Ratschlägen V. G. Korolenkos folgte, der Amerika 1893 besucht h a t t e und seit 1900 in P o l t a v a lebte. I n dem genannten Brief an Naumenko teilte Myrnyj mit, er besitze eine fertige Übersetzung des P o e m s von Longfellow. Die Übersetzung erschien jedoch nur in Fragmenten im Almanach „ H a iti'my naM'HTb KoTjiapeBCbKOMy" (1901). Vgl. dazu den Aufsatz von P . 3 o p i B i j a K , TeHpi JIoHr(jjejuio yKpaiHCbKora MOBOIO, i n : BcecBiT, Nr. 3, 1982, S. 149. Longfellow schrieb ein für seine E p o c h e mutiges W e r k , in dem er die S i t t e n und Gebräuche eines Volkes poetisierte, das viele noch für barbarisch hielten und mit dem die Kolonisatoren der S t a a t e n einen langwierigen und erbarmungslosen K a m p f führten. Entsprechend seiner eigenen Erklärung aus der Einleitung, daß der Glaube an G o t t und an die N a t u r sogar in den wilden Herzen der amerikanischen Indianer existiere, suchte er zu beweisen, daß auch sie das Verlangen, die Hoffnung und das Streben nach dem Guten haben, das sie nicht begreifen würden. Myrnyj, der in seinem Brief an Naumenko vom dumpfen und finsteren Glauben des Volkes an das Gute und an die W a h r h e i t schrieb, stand wahrscheinlich zur Zeit der Niederschrift von „CnoKyca" unter dem Einfluß der Anschauung Longfellows über die Indianer, was sich auch in der ganzen Vision des Werkes widerspiegelte.
M. LASZLÖ-KUTIUK, P a n a s M y r n y j s Mysterium „ C n o K y c a " in komparatistischer Sicht
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Form der Unterstreichung der dualistischen Konzeption des Werkes, in dem um die Seele des Menschen unablässig ein guter Gott und ein böser Dämon miteinander k ä m p fen und meistens Eros, genauer: sündhafte Liebe, die handelnden Personen zum Verbrechen treibt. Ähnliche Funktion haben auch die in diesem Werk dargestellten Metamorphosen. Bis zu einem gewissen Grade sind auch sie durch die in Longfellows Werk beschriebenen phantastischen Abenteuer vorgegeben, wo den Metamorphosen des durchtriebenen PoPock Keewis große Aufmerksamkeit geschenkt wird. Noch mehr stützte sich der Autor freilich auf ähnliche Metamorphosen dämonischer Wesen im ukrainischen kosmogonischen Mythos. Wie bereits festgestellt werden konnte, haben diese Metamorphosen nichts gemein mit dem Bild der Schlange im Buch des Lebens, sondern stehen in unmittelbarer Verbindung mit Versuchen der apokryphen und der schöngeistigen Liter a t u r späterer Zeiten, die Gestalt des Teufels in diesen Mythos einzuführen. I n einem der apokryphen Werke, dem von Franko veröffentlichten „CJIOBO O A^aivie" — einer Handschrift eines gewissen Teodor aus Dubivec' aus dem 17. J a h r h u n d e r t —, stellt der Teufel seinen Thron höher als die Wolken. Zweifelsfrei steht fest, daß das Satanail in der Konzeption der Bogomilen ist. E r versucht, Adam davon zu überzeugen, daß er von einer verbotenen Frucht gegessen hat. Adam will den göttlichen Auftrag nicht verletzen. Der Teufel gibt ihm zur A n t w o r t : ,,... MHOFO iKajiyio Bac noHeiKe He pa3yjvieeTe aiye ßTICTE OT Toro CHHJIH H 6ticTe ßOIKECTBEHHH ÖLIJIH." Nachdem der Teufel gesehen hatte, daß er keinen Erfolg bei Adam hat, ging er fort, fand eine Schlange und unterwies sie, was sie t u n sollte. Von den weiteren Ereignissen berichtet bereits E v a . Sie traf Satan, und er erschien ihr als Engel, der auf den B a u m der Erkenntnis verwies. Wissend, daß die Schlange das von Gott am meisten geliebte Wesen ist, kostete sie von der Frucht des Baumes und rief Adam, damit dieser das große Wunder sehe. Als sie sprach, schien es ihr, als sei das alles nicht von ihr, daß die Zunge ohne ihren Willen redete 11 . Gerade diesem apokryphen Werk nähert sich die in Myrnyjs Werk dargestellte Version a m meisten an, gerade diesem Skelett fügte der Autor noch einige im selben Geist erdachte wunderbare Ereignisse hinzu. Ihr Modell war eindeutig nicht die Bibel selbst, sondern volkstümliche und apokryphe Werke, die Panas Myrnyj Gelegenheit hatte, im Unterschied zu R u d a n s ' k y j in verschiedenen Veröffentlichungen zu lesen, so z. B. in Nikolaj Tichonravovs Sammelbänden „üaMHTHHKH oTpeieHHoii pyccKofi jiHTepaTypbi" (1863) und in I v a n Frankos ,,AnoKpn | H i jiereHflH 3 yKpaiHCbKiix p y K o n i i c i B " (1896). Die wundersamsten dieser Ereignisse sind die Metamorphosen der handelnden Personen. B. P. Chasdeu, der auf der Grundlage der Arbeit von Schmidt über die Albigenser 12 ähnliche Metamorphosen analysiert, die auch in rumänischen Volksbüchern apokryphen Charakters begegnen, k a m zu dem Schluß, daß sich diese Transformationen hauptsächlich durch den Glauben des Bogomilentums wie auch der K a t h a r e r an Seelenwanderungen erklären lassen. Dieser Glaube ist in einer kosmogonischen Sage der Bogomilen überliefert. Als Satan die materielle Welt erschaffen hat, wollte er um jeden Preis den Menschen schaffen. Der Körper k a m irgendwie zustande, doch er bewegte sich nicht. Da beschloß Satan, vom Himmel
11 12
I. I>paHKO, AnoKpH(J)H i jiereuAH 3 yKpaïHCBKHX pyKOimciB, T. I, JIbBiB 1896, S. 19 — 20. C. S c h m i d t , Histoire et doctrine de la secte des c a t h a r e ou albigeois, vol. II, Paris 1849, S. 25.
4 Z. Slawistik, Bd. 35, (1990) H. 5
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Z. Slaw. 35 (1990) 5
einen Engel zu entführen und ihn in den Körper des Menschen zu stecken. Doch wie sollte er das bewerkstelligen ? Es blieb nichts weiter übrig, als zu allen möglichen Listen und Metamorphosen zu greifen, damit man ihn im Himmel nicht erkannte. Bis diese Legende auf uns kam, erlebte sie verschiedene Transformationen 1 3 . Die Grundlage dieser Metamorphosen geriet jedoch bald in Vergessenheit, da das offizielle Christentum den Glauben an die Seelenwanderung nicht angenommen hat, denn dann wäre die wichtigste Perspektive entfallen, mit der es die Menschen ängstigt, u m sie von der Sünde abzukehren — nämlich die Hölle, und deshalb blieb im Volk nur die Erinnerung daran, daß Satan durchtrieben und zu allen Travestien fähig ist. Auch bei Panas Myrnyj versteckt sich Satanail, um sich ins Paradies einzuschleichen, im Körper einer Schlange. Zitieren wir jedoch die Worte Satanails selbst, die er über seine Travestie berichtet: A H K >Ke T H , — ÜHTaio 3Min h, — B Toii p a ß MöHe ynycTHiu? —
Bjii3aft ßo
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CHflH T a M THXeCeHbKO Mift. H a c m i y
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CmiKyioHMCb exoBaTHeb y Ty Bepmy.
OiKe C X O B a B C b . A 3 M i f t M i f t — X H J I b K H - X H J I b K H , T o TaK npHMiciHbKO n o p a i o ft iioxhjihb. npnJii3JiM ao BopiT. A T a M CTo'iTb A p x a H r e j i , A
pi3Ka y
Boro
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orHeHHaH
najxae,
A caM hk coHi;e Te, hchhü Ta rapHHft, Ah? o n a M 6 o j i H n e ahBiiracb H a ftoro. mo6 He nHBHTHCb, M e p r q i f t nonaBCH h , H a j i i b nepeBo: J i e a s y — am'MHHpK! I Bin CTpaxy a?K noxoaoHyB. (VI, 265)
Die Beschreibung solcher Ereignisse wie auch die Verwendung der Burleske sind nur in Szenen präsent, in denen Vertreter aus der Welt der Teufel auftreten. Metamorphosen — das ist ihre Form, sich in die Welt der Menschen einzuschleichen und sie sündig werden zu lassen. Es ist ein Teil des ausgeprägten Dualismus in der Vision von der Welt in Myrnyjs Werk, der es der dualistischen Kosmologie annähert, die den Volkslegenden zugrunde liegt und die es von traditionellen Erzählweisen in der Literatur über Ereignisse im Garten Eden unterscheidet. Gewiß, auch in Miltons „Verlorenem Paradies" trifft man auf Metamorphosen: Satan fliegt im Raum in Gestalt eines Engels, läßt sich in Gestalt eines Kormorans auf Paradiesbäumen nieder und wendet sich Eva zu in der Travestie einer Schlange. All das geschieht jedoch notwendigerweise und mindert keineswegs das Heroische der Gestalt des Satans, die bei dem englischen Schriftsteller des 17. J h . nicht weniger erhaben ist als die Gestalt des Adam. In den Metamorphosen des Satans findet sich auch nicht der Schatten einer Burleske, folglich ist das Werk auch jener Ambivalenz beraubt, die bei Myrnyj unmittelbar von der Tradition Kotljarevs'-
13
B. P. H a s d e u , Cardile poporane ale romànilor din sec. XVI in legatura cu literatura poporanä. cea nescrisä, Bucure^ti 1879, S. 562.
M. LASZLÖ-KUTIUK, Panas Myrnyjs Mysterium „CnoKyca" in komparatistischer Sicht
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k y j s und im weiteren Sinne von der Tradition der älteren ukrainischen Literatur herrührt. Infolgedessen gibt es auch keine dualistische Kosmologie, Miltons Konzept f ü g t sich nahtlos ein in das monotheistische Bibelkonzept. Auch in der Bibel figuriert — wenngleich selten — Satan als Verführer der Menschen, was jedoch der Alleinherrschaft Gottes durchaus nicht widerspricht. Der Ton des Poems von Milton, eines puritanischen Dichters, ist jedoch immer ein feierlicher, da der Autor sich stets darauf besinnt, daß er über Sakrales, Übernatürliches schreibt. Infolgedessen ist auch die Motivation der Handlungen des Satans von großer Wichtigkeit. Konsequent verfolgt er sein Ziel: den Menschen dazu zu bringen, daß er sündigt, damit er auf diese Weise in das Reich der gefallenen Engel eingeht und sein Schicksal verflucht, der reuevolle Gott hingegen sein eigenes Werk vernichtet. Das ist f ü r Satan die beste Form der Rache dafür, daß Gott sich von ihm losgesagt und ihn mit seinen Gehilfen in den brennenden See geworfen hat. Die anderen Dämonen aber fügen sich ihm widerspruchslos, bewundern seinen Stolz und seine Kühnheit. Bei Panas Myrnyj werden dagegen satirische Szenen aus dem Alltag recht niederträchtiger Personen gezeigt, die — mit Ausnahme von Satanail — hauptsächlich beschränkte und gottlose Liebe verfolgen, weshalb Burleske und Satire auch völlig am Platze sind. Die Welt der Teufel ist von Widersprüchen zerrissen, doch im Lager der Gegner Gottes kann es keine Einigkeit geben. Der Oberteufel Luzifer ist ein törichter und tyrannischer P a n , der entweder ein Weib oder die Geliebte Arefa hat, gleichzeitig jedoch u m die schöne E v a herumschwänzelt, die er besitzen will. Sein listiger Diener Satanail ist voller Ambitionen, ist gescheiter als sein Herr und will — auf dessen Begierde spekulierend — ihn von der Zweckmäßigkeit der Versuchung nicht nur Evas, sondern auch A d a m s überzeugen, um sie zu beherrschen. Mehr noch: er spekuliert auch auf Arefas Eifersucht, wobei er sie gegen E v a aufhetzt und verspricht, sie zu einer Magd zu machen. Wir haben bereits erwähnt, daß in den Apokryphen Luzifer und Satanail — wiewohl Gestalten von unterschiedlicher Herkunft 1 4 — natürlich zu einem Ganzen verschmolzen sind. Panas Myrnyj hat sie absichtlich getrennt, wobei er dem zweiten die in der Geschichte der Komödien populäre Dimension eines verschlagenen Dieners zuerkannte, um auf diese Weise Zusatzeffekte auf der Ebene der Intrige zu erzielen. Die handelnden Personen, die zur Welt der Teufel zählen, sind nicht nur verschlagen, hinterlistig und trivial, sie sind auch noch grausam. Besonders anschaulich wird das in bezug auf Luzifers Sohn Irodcaty gezeigt, der mit besonderem Genuß davon t r ä u m t , alles Lebendige in eine Grube zu locken, die Seele aus ihm herauszureißen, zu morden
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4*
Der Name Satan stammt aus dem Äthiopischen, wo das Wort „caaTaH" „Feind" bedeutet. Mit dieser Bedeutung drang es ins Althebräische ein, wo es auch die Bedeutung „ein Engel, der die Menschen versucht" (vgl. das Buch des Propheten Sacharija, Kap. 3, Vers 1 — 3, und im 1. Kap. des Bandes Hiob) annahm. Unter den Gnostikern bildete sich auf dieser Grundlage nach dem Beispiel der Bezeichnungen der Erzengel der Name Satanail heraus, wie Gottes älterer Sohn in der dualistischen Kosmologie genannt wurde. Die Herkunft des Namens Luzifer — Jlyqnnip bei Panas Myrnyj — ist dagegen eine ganz andere. Im 14. Kap., Vers 12 des Buches Jesaia wird der König von Babel mit folgenden Worten angesprochen: „Wie bist du vom Himmel gefallen, du schöner Morgenstern? Wie bist du zur Erde gefället, der die Heiden schwächtest?" Das hebräische Wort für „Morgenstern" — „hehel" — wurde von Hieronymus mit dem entsprechenden lateinischen Wort „lucifer" — „lichtbringend, aus Licht bringend" — übersetzt und mit Großbuchstaben geschrieben. Das bildete die Grundlage dafür, daß sich die Bezeichnung für den gefallenen Engel als Feind Gottes einbürgerte. Vgl. dazu II. TanciJib, 3a6aBHH BiSiiin, S. 14 — 15.
684
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und zu hängen. Das Vorhandensein eines solchen Hanges zum Sadismus bei Kindern von Dämonen ist ein weiterer Strich zur Charakterisierung von Dämonen „Erwachsener". Die Atmosphäre der Welt der Teufel ist derjenigen diametral entgegengesetzt, die im Paradies herrscht. Hier sind zügellose Szenen möglich, solche wie die, wo Luzifer sein eifersüchtiges W e i b Arefa schlägt. Die Grausamkeit solcher Verhältnisse wird schlaglichtartig auch mit Hilfe der Dekoration deutlich. I m Unterschied zur wunderschönen Landschaft des Paradieses ist die Landschaft, in der die Teufel leben, furchterregend. D a s sind keine imaginären R ä u m e , sondern eine Landschaft, der man auf E r d e n begegnen kann. E s ist ein Abgrund, wo auf Felsen, inmitten von Schlehen- und Weißdornsträuchern die handelnden Personen sitzen. I m Abgrund weht ständig der Wind. B e siedelt hat Myrnyj diese Welt mit Produkten der Phantasie des Volkes: a m Boden der K l u f t huschen Hexen hin, schnarchen Werwölfe, tollen Geister herum. Hier findet man jedoch auch reale Wesen, die sich traditionell mit dem S a t a n verbinden wie Eulen, Schlangen und Frösche. Die Teufel ernähren sich von ihnen, Schnaps nachtrinkend. E s ist die Landschaft des Kahlen Berges der Hexen. Schwieriger ist es, die Zugehörigkeit der Schlange zu bestimmen. Die Schlange lebt im Paradies, und die Teufel bemühen sich, sie für sich zu gewinnen. Sie ermöglicht es dem S a t a n , das Paradies zu erobern, und triumphiert über den Scheinerfolg, doch über den Untergang dieses schönen Wesens weint E v a bitterlich. Von der Schönheit der Schlange ist in dem Werk wiederholt die Rede, und diese Eigenschaft wurde vom Autor nicht der Intrige halber erfunden. Sie wurde in manchen ukrainischen apokryphen Werken fixiert, die Spuren der Begeisterung für die Schlange in manchen Strömungen des Gnostizismus, wie beispielsweise bei den Ophiten, bewahren. So ist z. B . von der Schönheit der Schlange die Rede in der Handschrift „ H I I I T T E o Abasie H Eße H O corpeiiieHMH MX M BBirnaHMio H3 paio H HKO oeme no corpenieHini", die Franko im J a h r e 1891, d. h. zehn J a h r e vor der Niederschrift von Myrnyjs „CnoKyca", in der „KneBCKan C T a p i m a " veröffentlichte 1 5 . D a auf den Seiten dieses Buches wiederholt die privilegierte Stellung der Schlange im Mythos über den Garten E d e n erwähnt wird, sollten wir dabei kurz verweilen. Gewiß, bei Panas Myrnyj reden alle Wesen im Paradies, im B u c h des Seins aber besitzt die Gabe der Rede unter ihnen nur die Schlange. Und dieser Umstand ist wesentlich. Der Schlangenkult hat seinenUrsprung in Ägypten. I m ägyptischen „ T o t e n b u c h " wird von der Schlange des Satans gesagt: ,,H BMiipaio i BOCKpecaro iho^hh. fl 3Mi?i CaTaHa, HKa jKHBe y Haiißijibm Bi/jflajieHHx K y m a x 3eMJii. fl BMHpaio, H Bi,n;poavKyioci>, H Bi^HOBJiroroct.
i Mojioßiio mojjHH." 16 Die Schlangen Ureus, die das Haupt des Osiris schmücken, — das sind die Augen des Urgrunds Them, des Urelements, d. h. die Organe einer allumfassenden Vision oder eines schöpferischen Moments. Moses, der vieles aus der Geheimwissenschaft der ägyptischen Opferpriester übernommen hat, übernahm von ihnen den Zauberstab in F o r m einer Schlange. Dieses bei ihnen ur-che-kau genannte Instrument verwendeten die Opferpriester, um den Verstorbenen den rechten Weg zu weisen, weil die Schlange die Klugheit und die Ewigkeit wie auch die Lebenskraft und deren Um-
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Der Aufsatz I. Frankos erschien in: KweBCKaH CTapima, Nr. 35, 1891, Bd. 11, S. 265 —275. Nachgedruckt wurde er in Bd. 28 des „ 3 i 6 p a H H H T B o p i ß y n'HTflecHTH TOMax". vgl. M. S e n a r d , Le zodiaque (s. Anm. 1), S. 286.
M. LÄSZLÖ-KUTIUK, Panas Myrnyjs Mysterium „CnoKyca" in komparatistischer Sicht
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Setzung symbolisiert. U n d wenn im B u c h des Seins gerade die Schlange E v a , die R e p r ä s e n t a n t i n des ewig Fraulichen, ihre Gestalt und ihre S t ä r k e lehrt, d a n n sind d a s m ö g licherweise gleichfalls S p u r e n ägyptischen Einflusses auf diese Episode des Mythos. Bei den J u d e n läßt sich dieser K u l t i m L a u f e einer recht langen Zeit verfolgen. Bek a n n t l i c h wird i m B u c h „ A u f g a n g " d a v o n gesprochen, d a ß d e m S t a m m e der L e v i t e n , d e m Moses angehörte, der privilegierte S t a n d der Diener des alleinigen Gottes z u e r k a n n t war. Das W o r t „ L e v i t " ist im Althebräischen m i t d e m W o r t „ l e v i j a " (Spirale) verw a n d t , i m Arabischen b e d e u t e t „ l a c h a " „sich lebhaft bewegen, sich t u m m e l n " . Die Leviten tragen häufig N a m e n , deren Wurzeln so oder so m i t Schlangenbezeichnungen v e r b u n d e n waren. All das nötigte Gelehrte zu der Schlußfolgerung, die L e v i t e n seien ein S t a m m gewesen, der den ägyptischen Schlangenkult fortgesetzt habe. Das wird a u c h d u r c h Moses' A u f t r a g , ein Ebenbild der Schlange zu errichten (Hiicjia, K a p . 21, Vers 8—9), b e k r ä f t i g t . Dieser K u l t schwand selbst n a c h der E r o b e r u n g K a n a a n s nicht. I m großen T e m p e l von J e r u s a l e m f a n d sich das Abbild einer Schlange, aus K u p f e r gegossen (nachasch hanachoschet), und im zweiten Buch der Könige (Kap. 18, Vers 4) wird d a v o n berichtet, d a ß König J e s e k i a (721 — 693 v. u. Z.) befohlen habe, die „ v o n Moses gem a c h t e " K u p f e r s c h l a n g e zu vernichten, dem bis zu dieser Zeit die Söhne Israels W e i h rauch streuten, wobei sie ihn „ n e c h u s c h t a n " n a n n t e n 1 7 . Dabei ist a n z u m e r k e n , d a ß d a s Verb „ n a c h o s c h " „ p r o p h e z e i e n " b e d e u t e t , „ n a c h a s c h " b e d e u t e t auch „ P r o p h e z e i u n g e n w a h r s a g e n " . Solche P r a k t i k e n waren bekanntlich im alten J u d ä a sehr verbreitet. All das zwingt uns, die A u f r i c h t u n g der Schlange i m B u c h des Seins u n d ihren S t u r z (war doch gesagt worden, sie würde „ d a s verfluchteste u n t e r allen Tieren des Feldes sein") als symbolischen Sturz der alten Gottheit zu w e r t e n . D a s erklärt auch, weshalb die Schlange im B u c h des Seins wie Menschen u n d wie G ö t t e r spricht. Bei P a n a s M y r n y j lobt E v a die Schlange m i t folgenden W o r t e n : BiH
RIOFLOßABCH
FLKHMCB
CH6BOM
MeHi:
M N O B A BCH
ropHTb
CH30-iepBC)HHM,
M O B I I 3 A K ß I T H A B 3JIOTOM XTO B I H O M T O M ,
A y B y x a x — HeBejiHHKi cepe?KKH 6pH?KqaTi>, T a BHCßinyioTt, HeMOB 3 o p i Ha Heoi.
Diese Poetisierung der Schönheit der Schlange gleicht sich jedoch aus m i t einer gewissen Banalisierung, sobald es u m ihr Verhalten geht. Sie t r i n k t zu E h r e n Luzifers, k o m m t S a t a n in allem entgegen, d e n k t sich alle möglichen u n e r h ö r t e n L ü g e n aus, u m zu rechtfertigen, weshalb ihr B a u c h geschwollen ist, in d e m sich S a t a n a i l versteckt h a t t e . Schließlich unterscheidet sie allein die Tatsache, d a ß sie spricht, in keiner Weise, i m P a r a d i e s sprechen alle Tiere mit den Menschen, u n d die Vögel singen Lieder zum L o b e des Schöpfers. W e n n in P a n a s M y r n y j s Darstellung die Figur der Schlange d o p p e l d e u t i g ist, so weicht das vom Bibeltext a b . Dieser U m s t a n d korreliert indes ausgezeichnet mit der allge17
vgl. Z. K o s i d o w s k i , Opowiesci biblijne, Warszawa 1966, S. 169; M. A s t o u r , Religia starozytnych zydöw, in: Zarys dziejow religii, Warszawa 1964, S. 304. In letztgenanntem Aufsatz finden sich interessante Angaben darüber, daß die jüdische Kolonie (eigentlich eine Militäreinheit) aus der ägyptischen Ortschaft Elephantine (5. Jh. v. Chr.) wie andere Semiten eine göttliche Familie anbetete, deren drittes Mitglied — der Sohn — die Gestalt einer Schlange hatte.
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Z. Slaw. 85 (1990) 5
meinen I n t e n t i o n des Autors, der sich b e m ü h t , so plastisch wie n u r möglich das friedliche Zusammenleben von Mensch und Tier im P a r a d i e s vor d e m Sündenfall zu zeigen, u m seine, des Autors Auffassung von der Tragödie, wie sie sich s p ä t e r herausbildete, zu unterstreichen. Dieses Mysterium, wie M y r n y j es n e n n t , ist jedoch bei weitem kein gewöhnliches Sittenstück, u n g e a c h t e t der zahlreichen Szenen aus d e m Alltag. Der Autor hat in seinem Stück nicht den Charakter des K a m p f e s zwischen G u t und Böse vergessen, wovon in erster Linie die Rolle des Satanail zeugt. Zu Beginn des d r i t t e n Aktes reflektiert der Teufel Ancybolot d a r ü b e r , d a ß einstiger Frieden zu den gefallenen Engeln noch zurückkehren wird, sollten sie B u ß e t u n . D a r auf gibt ihm S a t a n a i l zur A n t w o r t : flypHHIJH CH TijIbKH Toßi BepüeTBCH ! B Koro i 3a mo n p o x a n i HaM orrpo3eHHH? IIpoxaTM — ije npH3HaTt, mo BiH CTapuuiH Haß HaMii, 111,0 nepefl h h m m h H O M y c t B n n y B a T i . HhM BiH CTapiHHH? I B liM npOBHHHJIHCb ? OflHaKOBa b Hac CHJia, iyo i b Koro. Bhhh H i H K o ' i HeMa 3a Hann. T y T KOJKHOMy CBoe: ü o m v — o ^ h o poÖHTH,
A HaM flpyre . . . }Khtth BiH MHome, A MH, 5KHTTIO CKOpOHyiOHH ßiKy,
i],0n0MaraeM0 HOBe TyT 3anHH t h . . . ÜTaK Bce K 0 J i e c 0 M i/je Ta BepHe, # 0 ßiny ßi^Horo OTaK ¡th Bce 6yne. HeMa TyT npaBoro i BHHyBaToro HeMae, HeMae CTapinoro, 6o cnjia y Hac pißHa (VI, 273)
Vergleicht m a n diese Replik in Byrons Mysterium mit der Rebellion des K a i n , der sich nicht m i t dem Gedanken an den Tod abfinden k a n n , wird m a n sich doch davon überzeugen, d a ß das Vertreter unterschiedlicher E p o c h e n geschrieben haben. I m Dezennium des Sieges des wissenschaftlichen Denkens, der biologischen Position des Positivismus, erschien der Wechsel von Leben u n d Tod als etwas Natürliches, Logisches, Notwendiges, der romantische K a m p f g e i s t hingegen als etwas Antiquiertes. Die ideelle T e x t u r des Werkes ist jedoch noch komplizierter. Als Vertreter des Rationalismus erscheint im W e r k Satanail, der im Finale grausam von G o t t b e s t r a f t wird. I h n t r i f f t der Blitz, u n d er zerrinnt auf E r d e n in Pech, genauso, wie es in S t e p a n R u d a n s ' k y j s Erzählungen von den Teufeln berichtet wird, die Gottes D o n n e r ereilte. Die Menschen, f r ü h e r von i h m deswegen v e r s p o t t e t , d a ß sie sich nicht auf den eigenen Verstand stützen, sondern lieber vom Glauben leiten lassen wollen, aber finden schließlich Trost in der H o f f n u n g , d a ß sie d u r c h Liebe ihre Schuld vor G o t t begleichen. W e n n im Finale des Mysteriums der A d a m die E v a f r a g t : CnoKyTyem? . . . Ox He macjiHBa! H k t h cnoKyTyem ftoro ITOM?
M. LASZLÖ-KUTIUK, Panas Myrnyjs Mysterium „CnoKyca" in komparatistischer Sicht
687
antwortet E v a : JI1060B010 CBoeio. JIIOÖOBOK)FLOTeöe, MIß TH ßPY>Ke! Majian IIHTOHKA iioro CBHTOI CHJIH, B o H a «oßyAeTbCH jjo 6o?Koro n p e c r o j i y , I BHHGC6 3Bijl,Tijlb enaeiHHH CBlTy. ( V I , 3 1 9 )
Diese W o r t e E v a s werden von einer S t i m m e aus d e m H i m m e l b e k r ä f t i g t , welche diesen W o r t e n , die bei ihr eine rein i n t i m e B e d e u t u n g h a t t e n , eine umfassendere D e u t u n g , verb u n d e n mit der religiösen Idee der Nächstenliebe, gibt. Diese Idee entspricht voll und ganz d e m Geist der Bibel, wo sie sowohl im Alten als auch im Neuen T e s t a m e n t verteidigt wird 1 8 . Doch sie s t i m m t vollauf a u c h mit der literarischen Tradition überein. Der Atheist I v a n F r a n k o wählte sie bekanntlich zur H a u p t losung seines Schaffens. Denen a n t w o r t e n d , die sich geringschätzig gegenüber der ukrainischen Sprache verhielten, b e k u n d e t e F r a n k o seine u n b e u g s a m e Entschlossenheit, ihren R a n g aufzuwerten, die K u l t u r seines Volkes mit den Leistungen der W e l t literatur zu bereichern, was er in die folgenden Verse kleidete: fliajieKT, a MH iioro HajpimeM M i i w i o w y x a ii oraeM JIIOSOBH, I HecTepTHft cjiifl iioro 3anHiiieM CaMOCTiÖHO MiiK KyjIbTypHi MOBH.
F r a n k o s P o e m „CiviepTb Ka'ma" ist ein überzeugendes Beispiel f ü r eigene H i n a r b e i t u n g weltliterarischer, insbesondere biblischer Themen gerade m i t d e m Ziel, die F o r d e r u n g nach Liebe zu den Menschen zu unterstreichen. Wie es den Anschein h a t , ist die Schlußfolgerung, die aus M y r n y j s W e r k zu ziehen ist, die gleiche. Auch bei ihm erscheint die Liebe als Allheilmittel gegen das Böse in der W e l t . D e n n o c h k a n n m a n die Position beider Schriftsteller nicht auf eine S t u f e stellen. F r a n k o stellt seine Predigt der Liebe d e m d u r c h Wissensdrang erzeugten H a ß der Menschen u n t e r e i n a n d e r , der in allgemeiner F e i n d s c h a f t k o n t r ä r e r Ideologien, d a r u n t e r auch religiöser, gipfelte, gegenüber. Bei M y r n y j dagegen s t ü t z t sich der Ruf nach Liebe auf Messianismus, d. h. auf Glauben, d e n n der Mensch benötigt Glauben, d a die ausschließliche S t ü t z e auf den Verstand die Menschen in eine Sackgasse f ü h r t , da sie nicht anders als die Versuchung des Teufels, des Geistes des H o c h m u t s , des Geistes des Bösen (VI, 250) ist. Als E v a d e m A d a m erklärt, Glaube sei blind, a n t w o r t e t ihr A d a m : H i , 6BO — Bipa TA HCHOBHßIOMA, A oKHTb He B TOMRX, a B c n o c o ß i TPAKTYBANHH THX TEM, y j i i T e p a T y p n i i i MAHEPI a 6 o JJOKJIAFLHIME — B c n o c o ß i , HK ßA^ATB i BIFL^YBAIOTB RI NHCBMEHHHKH MTHRREßI $ A K T N . " —
„ . . . ^JIH HHX RONOBHA
pin
jiiOHCbKa ,n;yma, II CTRH, II pyxw B T A K H X I H ¡HUIHX OÖCTABHHAX . . . " 4 I m Gefolge dieses erneuerten, sozialpsychologischen (oder philosophisch-psychologischen) Realismus — wie er in der neuesten ukrainischen Literaturgeschichtsschreibung definiert wird — , der die ukrainische Literatur um die Jahrhundertwende prägte und ihr größere internationale Räume erschloß, entwickelte sich insgesamt auch Vynnycenkos Schaffen. Bereits in der P o v e s t ' „ K p a c a i C H J i a " (Vynnycenko selbst nennt sie — wie auch viele andere Povesti — Erzählung) werden veraltete stereotype N o r m e n erfolgreich überwunden. Das läßt sich bis in die Stilistik des Werkes hinein verfolgen. B e v o r er beispielsweise seine Heldin M o t r j a porträtiert, schreibt der Schriftsteller unverhüllt ironisch: „ T o öyjia Kpaca, mo BimoxyeTbCH T L I L K H HA Y K P A L H I , ane He T A K A , HK MajiioioTb ßenKi 3 HauiHx niicbivieHHHKiB. H e 6yjio B Hei HI ,ry6oK, HK n y n ' H H O K , iepBOHHX, HK ^ O ß P E HaMHCTo', HI ,nifl6opi,N„HH, HK ropimoK 1 , HI , M O K , HK NOBHAH po?Ka', i CAMA BOHa He ,BHJIHC-
3
I . paHKo in: JIiTepaTypH0-HayK0BHH BicmiK X (1907), t. X X X V I I I , S. 139.
4
I . < I > p a H K o , 3i6paHHH TBopiß y n'HTflecHTii TOMax, T. 35, KHIB 1982, S. 107F.
Z. Slaw. 35 (1990) 5
694
KyBajiacb, hk MaiiiuKa Ha ropofli'." 5 V y n n y c e n k o vertieft sich zuallererst in das I n n e n leben eines Menschen, das den ethnographisch orientierten Alltagsschilderungen f r ü h e r e r ukrainischer Realisten nicht zugänglich war. D a s S u j e t e n t f a l t e t sich u m die Beziehungen von M o t r j a zu zwei jugendlichen Dieben — d e m „schönen u n d g e s u n d e n " , aber willenlosen und unentschlossenen Il'ko u n d d e m klugen, von sich überzeugten, verwegenen, w e n n a u c h äußerlich nicht anziehenden A n d r i j . Beide lieben M o t r j a , aber sie k a n n sich f ü r keinen von ihnen entscheiden, k a n n die W a h l zwischen „ S c h ö n h e i t " und „ K r a f t " nicht t r e f f e n . N a c h d e m Andrij im H a n d g e m e n g e Il'ko schwer verletzt h a t u n d verurteilt wird, heiratet sie den Schuldigen und geht m i t ihm in die V e r b a n n u n g . N i c h t alles erscheint psychologisch motiviert. Lesja U k r a j i n k a stellt in ihrem offensichtlich f ü r die Zeitschrift ,,/Kit3Hi>" vorgesehenen unvollendeten Aufsatz über V y n n y c e n k o fest, d a ß „ T I > C H Mi?K 3 a H e n a f l O M cejia i i i r a p o K H M LUJIHXOM y n o B H i i f i n p o j i e HOMy CBirai njiHBe
TapiaT." 12
D a sich F r a n k o der P o v e s t ' unter soziologischen Aspekten n ä h e r t , stellt er n u r beiläufig fest, sie sei ein gelungener Versuch, das Leben des ukrainischen Volkes in einer historischen Übergangszeit zu skizzieren. Lesja U k r a j i n k a dagegen geht in ihrem Aufsatz über V y n n y c e n k o gerade den künstlerischen Vorzügen des Werkes nach. Besonders a n g e t a n ist sie v o m Interesse des Schriftstellers f ü r die „Masse" — Lesja U k r a j i n k a vergleicht „ r o n o T a " mit G. H a u p t m a n n s „ W e b e r n " , sie bezeichnet solch eine Darstellungsmethode als „ N e o r o m a n t i k " : Auf den Seiten des Werkes erscheine keine gesichtslose einfarbige Masse, sondern eine „ A n s a m m l u n g von k o n k r e t e n Persönlichk e i t e n " . „ r . B l I H H H H e H K O B3H.II O0T.eKTOM CBOefO Haii JIIOfleH HH HeÖOJIMIiyiO TOJiny Jiroaeö, 12 HejiOBeK paöonux B B K O H O M H H , H O 3aio BCIO ee H3y™ji H P A C Q J I E H M I H B H H C 13 H H J I J I H I H O C T B Ka?K,noro HJieHa B ee cymHocTii H B ee OTHOiueHim K OKPY?KaK)mHM." Selbstverständlich werden diese Gestalten in unterschiedlichem Grade künstlerisch analysiert. W o h l a m detailliertesten wird in der P o v e s t ' die Magd und Köchin K y l y n a psychologisch e r f a ß t . Sie ist eine kluge u n d schöne junge F r a u , die sich mit allen K r ä f t e n aus der Abhängigkeit befreien und selbst H e r r i n werden will. K y l y n a hat Angst, ihr Leben lang eine „ H u n g e r l e i d e r i n " zu bleiben u n d öffentlich ins Gesicht geschlagen zu werden. Aus diesem G r u n d e will sie den jungen H e r r n Andrij heiraten, der sich in sie verliebt h a t . D a ß sie selbst f ü r ihn nichts e m p f i n d e t , verbirgt sie ihm gegenüber nicht. Man k a n n deshalb — nach einer t r e f f e n d e n B e m e r k u n g von Lesja U k r a j i n k a — auch nicht sagen, sie d r ä n g e sich A n d r i j auf. K y l y n a stellt lediglich offen u n d ehrlich ihre Beding u n g e n : A n d r i j soll sie zur Herrin m a c h e n , und sie wird ihn d a f ü r mehr als jemals irgendeinen anderen lieben. Aber Andrij ist unentschlossen, und K y l y n a m u ß den Ged a n k e n a n eine H e i r a t aufgeben. N a c h langem Schwanken wird sie die Geliebte eines jungen Offiziers, u m wenigstens zu materiellem Wohlstand zu gelangen. Auch mit ihm ist sie offen u n d ehrlich. K y l y n a ist stolz, sie k e n n t ihren eigenen W e r t u n d wird niemals unterwürfig — es wird ihr zur Qual, sich d e m Offizier als Liebhaberin anzubieten. Man m u ß deshalb 0 . Doroskevyc widersprechen, der in seinem „Hi^pyqHiiK icTopiii y K p a i H C B K O i jiiTepaTypii" (1924) f ü r K y l y n a keine andere Bezeichnung als „ g e m ä ß i g t e Egoistin" fand. F e r n j e d e m sentimental-volkstümlerischen E n t z ü c k e n f ü r die Menschen aus den untersten Schichten, zeigt V y n n y c e n k o a u c h in anderen W e r k e n die Perspektivlosigkeit des Lebens u n t e r den Bedingungen einer sozialen Ungleichheit in S t a d t u n d L a n d ( „ H a n p H C T a m " , „ r o j i o s " , „ E a p m i i e H b K a " ) , sogar die exponierten Vertreter dieser Schichten halten nicht i m m e r d e m D r u c k der U m s t ä n d e s t a n d u n d degradieren moralisch („Tep e H b " ) . Andere Helden, einfache, „kleine" L e u t e , sind bereit, u n t e r E i n s a t z des Lebens f ü r ihre Ideale einzutreten („OeflbKO-xajiaMHflHHK", „TajiicMaH"). U n d natürlich stellt
12
I.
13
J L y K p a i i i K a i n : T B o p i i , T. 1 2 , S . 2 5 5 .
< I > p a H K O i n : J l i T e p a T y p H O - H a y K O B H f t BicHHK
X (1907),
T.
X X X V I I I , S. 140f.
I. O. Dzevekin, Zur frühen Prosa Volodymyr Vynnycenkos
697
Vynnycenko jene „ H u n g e r l e i d e r " , die entschlossen gegen die „ S a t t e n " auftreten, als wahrhaft positive Helden dar. D i e Revolution von 1905 — schrieb Lenin im Artikel „ D e r fünfzigste Jahrestag der Aufhebung der Leibeigenschaft" — „ . . . schuf zum erstenmal in Rußland aus dem Haufen Bauern, die durch die Sklaverei der Leibeigenschaft fluchwürdigen Angedenkens niedergehalten worden waren, ein Volk, das seine Rechte zu begreifen, seine K r a f t zu fühlen begann." 14 A n der Entwicklung vieler Helden von I . Franko, Panas M y r n y j , M. K o c j u b y n s ' k y j , Lesja Ukrajinka und V . Stefanyk läßt sich dieser Prozeß künstlerisch verfolgen. Erzählungen von Vynnycenko über revolutionäre Stimmungen und Bewegungen auf dem Dorf wie beispielsweise „ E i j i n mb.iiimhh", „Caji,naTiiKn!!", „ X t o Bopor?" stellen seine realistische Schreibweise unter Beweis; sie gehören ebenfalls zu den bleibenden Leistungen der ukrainischen demokratischen Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Bekanntlich wurde Vynnycenko in unserer wissenschaftlichen Literatur bis vor kurzem ohne Einschränkungen den „bürgerlich-nationalistischen" Schriftstellern zugeordnet. Seine frühe Prosa gibt dazu keinerlei Berechtigung. (Mehr noch: Nur auf einige wenige W e r k e aus seinem großen literarischen Erbe — wie z. B. auf die 1919 geschriebene P o v e s t ' „ H a toh Gilt" — t r i f f t diese Feststellung tatsächlich zu.) V y n n y c e n k o kritisiert hier mit allem Nachdruck national begrenztes Denken, er polemisiert gegen Erscheinungen von Überheblichkeit anderen Völkern gegenüber, die im Verhalten gewisser Kreise der damaligen Gesellschaft zum Ausdruck kam. Der junge Herr N e d o t o r k a n y j aus der Erzählung,, , y M i p K O B a H n ü ' T a , m n p H M ' " (1907) wird zum blindwütigen Eiferer, wenn es um „ n a t i o n a l e " Fragen geht. Auch bei der Darstellung seines Kameraden und Gegenspielers, des „ g e m ä ß i g t e n " Ukrainophilen Samzarenko, spart der Autor nicht an satirischen Farben. Vynnycenko sieht hinter den patriotischen Tiraden der liberalen Herren ganz konkrete egoistische Klasseninteressen. Als Gegenentwurf zu diesen „ P a t r i o t e n " und „ V o l k s f r e u n d e n " führt Vynnycenko ehrliche, ihrer Idee teilweise sogar fanatisch ergebene Vertreter der ukrainischen Intelligenz in einige W e r k e ein. Über solch eine Erzählung bemerkte M. V o r o n y j : „ O c l 3axonjiK>K>He coijiajiBHHM mothbom onoBi^aHHH ,CTyfleHT', MajnoeTbCH Henopo3yJliHHH Mi?K 03ßipijl0I0 i JierKOBipHOK) CejIHHCbKOK) K)p60K> i ariTaTOpOM-CTyfleHTOM n i « nac cTHxiftHoro HemacTH, noweHii b cejii, b HKiü nifl03piBaK>Tb ,CTyfleHTiB'; KOHtjwiiKT b HiM 3aKiHnyeTbCH TparinmiM iHajioM — caiworyßcTBOM CTyjjeHTa, mo CBoeio CMepTio xone ROKa3aTH cboio npaBOTy i bhhbhth cejifmaM ix cnpaBHiHix BoporiB, mo floro nepecjiiflyBajiH. T y T caMoryßcTBO — ocTaHHiü ariTau,iiiHHii cnociö bo im'h TopntecTBa iflei." 15 Zina Sokoryns'ka, der wir in der meisterhaft geschriebenen, lyrischen Erzählung , , 3 m a " begegnen, ist ebenfalls bereit, das Teuerste für den Sieg der revolutionären Sache einzusetzen. Vor uns entsteht das anziehende Bild eines träumerischen, romantischen Mädchens und gleichzeitig damit eines willensstarken und entschlossenen Menschen, der seine Bürgerpflicht höher als alles andere stellt. Zina eilt in die Stadt Ch. (wie sie in der Erzählung genannt wird), um ihren Verlobten zu retten — er ist im Gefängnis in den Hungerstreik getreten und liegt im Sterben —, als auf einem großen Bahnhof ihre
14
W. I. L e n i n , Werke, Bd. 17, Bln. 1962, S. 74.
15
M . B o p o H H ß i n : JIiTepaTypHO-HayKOBHit BicHHK X V ( 1 9 1 2 ) , t . L V I I I , S. 1 8 2 f .
5
Z. Slawistik, Bd. 35, (1990) H. 5
Z. S l a w . 3 5 (1990) 5
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Reise plötzlich unterbrochen wird : Die E i s e n b a h n e r streiken. Obwohl Zina weiß, was sie riskiert, k a n n sie nicht anders als bleiben, als der Streik zu scheitern d r o h t . I h r e leidenschaftlichen, erregten W o r t e erreichen die Herzen der Arbeiter und motivieren sie, den K a m p f f o r t z u f ü h r e n . Die E r z ä h l u n g ,,3iHa" w u r d e 1909 veröffentlicht, also bereits n a c h der Niederlage d e r ersten russischen Revolution. F ü r V y n n y c e n k o begann eine neue Periode seiner literarischen Tätigkeit, die von der nachrevolutionären politischen R e a k t i o n geprägt war. W i e auch andere schwankende kleinbürgerliche Intellektuelle verliert V y n n y c e n k o zu dieser Zeit den Glauben an die Möglichkeit, die bestehenden sozialen S t r u k t u r e n zu vernichten, und n i m m t in mehreren W e r k e n jene revolutionären Ziele zurück, f ü r die er selbst gestern noch g e k ä m p f t h a t — er diskreditiert die Teilnehmer der sozialdemokratischen Bewegung u n d m i ß a c h t e t ihre hohen moralischen W e r t e . E s reiche aus, ehrlich gegenüber sich selbst zu sein (ein R o m a n Vynnycenkos h e i ß t : „HecHicrb 3 coßoio"), nötig ist nur, , , I T O 6 H H . . . He jirajT ceße, HE oßiwaHbiBaji H H nyBCTBa, HM pa3yMa CBoero" 16 , u n d alle gesellschaftlichen Verpflichtungen und moralischen Normen sind überflüssig. Selbstverständlich verurteilte vor allem die marxistische K r i t i k (M. Ol'mins'kyj, M. Gor'kij) die R e c h t f e r t i g u n g und sogar R o m a n t i s i e r u n g von R e n e g a t e n t u m , Individualisierung u n d U n m o r a l . Viel wurde auch über Züge von E r o t o m a n i e u n d N a t u r a l i s m u s in Vynnycenkos damaligen Werken geschrieben. H e f t i g kritisierte Lenin in seinem bek a n n t e n Brief a n I n è s A r m a n d vom J u n i 1914 den R o m a n ,,3anoBi™ öaTbKiß": „ E i n zeln genommen können natürlich alle diese ,Schrecken', die Winnitschenko geschildert hat, im Leben vorkommen. Aber sie alle zu vereinigen, und zwar auf eine s o l c h e A r t u n d Weise, das b e d e u t e t , die Schrecken auszumalen, das bedeutet, die eigene P h a n t a s i e wie die des Lesers zu schrecken und sich und ihm das ,Gruseln' beizubringen." 1 7 Selbst in den J a h r e n der R e a k t i o n riß V y n n y c e n k o nicht alle Brücken hinter sich a b — als Beweis d a f ü r stehen seine Erzählungen ,,3iHa", „TepeHb", „TajiicMaH" und andere. Deshalb ist P . Fedcenko zuzustimmen, wenn er zur f r ü h e n Schaffensperiode V y n n y cenkos bemerkt : ,,14eft nepio«, H H , MOJKe, ToiHime, ß O I U M Y I O H H iioro iaeimo-TeMaTiiHCTpyMÎHb, BaWKO O Ö M O K H T H ÖijIblH-MeHLLI ocKijibKH TaKMMH HI OCOÖJIHBOCTHMH no3HaieHi
HHH
XpOHOJIOrÙlHHMM paMKaMH, .neani onoBi,A,aHHH HacTynHoro A E -
WKHMH M
CHTHJiiTTH .. . " l s H i n z u g e f ü g t sei lediglich, d a ß diese Erzählungen auch im Hinblick auf künstlerische Besonderheiten als realistische W e r k e seinem F r ü h s c h a f f e n nahestehen. , , . . . lMnpecioHÎ3M, n p H M i T M B i 3 M , H a T y p a j i i 3 M , HopT-öic, Bce, mo MOHie HaüKpame 0 6 K p e c j i M T H j i i o n H H y , ^ a B a i i T e Bce C 1 0 3 H ! " 1 9 , erklärt der K ü n s t l e r Olaf Stefenzon aus der gleichnamigen Erzählung, und hinter dieser Forderung steht V y n n y c e n k o selbst. D e n noch sind die größten Erfolge des Schriftstellers aufs engste m i t realistischen Traditionen v e r b u n d e n . Das schließt nicht aus, d a ß auch modernistische Ansätze seines Schaffens die ukrainische L i t e r a t u r wesentlich bereichert haben. E s ist meines E r a c h t e n s falsch zu sagen, d a ß sich Vynnycenkos Originalität gerade aus seiner modernistischen Schaffenskonzeption herleite und d a ß sogar die f r ü h e Prosa nicht d e m Realismus,
16
17 18
19
B. BiiHHHHenKO, O MopanH rocnoftCTByiomMX H Mopami yraeTeHUbix, a. a. O., S. 32, 43. W. I. L e n i n , Werke, Bd. 35, Bln. 1963, S. 119. N . O E F L I E N K O , flBa nojuocn ojjHoro HÎHTTH, in: JliTepaTypHa naHopaiua, K H Ï B 1 9 8 8 , S . 1 8 9 . B. BiiHumieriKO, Kpaca i ciuia ..., S. 628.
I. 0. Dzeverin, Zur frühen Prosa Volodymyr Vynnycenkos
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sondern dem Modernismus zuzurechnen sei 20 . Ein wesentliches typologisches Merkmal des Modernismus ist es, die Persönlichkeit außerhalb ihrer sozialen Bindungen zu betrachten, und das trifft nur auf einige Romane und Povesti Vynnycenkos aus den Jahren zwischen beiden Revolutionen, beileibe aber nicht auf alle seine Werke und ganz bestimmt nicht auf die Frühprosa zu. Daß vielfältige, insbesondere für den Expressionismus mit seiner prinzipiellen Orientierung auf subjektive Wirklichkeitsbetrachtung charakteristische Ausdrucksmittel auch in den frühen Werken breite Verwendung finden, steht selbstverständlich außer Zweifel. Gewisse Vorbehalte äußerte die Kritik auch an der frühen Prosa von Vynnycenko. M. Voronyj warf — wie viele andere — dem Schriftsteller nachlässigen Stil und eine grobe, unreine Sprache vor, S. J e f r e m o v sprach von einem aufgebauschten und unfertigen Stil, und I. Necuj-Levyc'kyj bemängelte die Vermischung seiner Redeweise mit russischem Wortschatz. Viele stilistische und andere Nachlässigkeiten erklären sich aus den äußerst komplizierten Bedingungen, unter denen der Schriftsteller arbeiten mußte, er litt ständig unter materieller Not und war gezwungen, schnell zu arbeiten. Der Vorwurf der Russifizierung seiner Sprache, den Necuj-Levyc'kyj im Artikel „ypipaiiiCLKa ACKaAeHTinima" erhob, richtete sich gegen einen Erzählungsband aus dem J a h r e 1910; der Schriftsteller schrieb: ,,B cboüx nepeflHimiix ononiflaHHnx MOBa BHHHHneHKa 6yjia hhcto Hapo/jHa." 21 Mitunter benutzte Vynnycenko dieses Kauderwelsch auch bewußt, da es im Alltag selbst verbreitet war und half, die Gestalten plastisch darzustellen. Vynnycenko repräsentierte die ukrainische Literatur bereits vor der Oktoberrevolution und diente ihr mehr als fünf Jahrzehnte lang. Seine Romane, Povesti und Dramen aus den 20er bis 40er Jahren fügten neue künstlerische Erfolge hinzu: „CoHHHHa MarnnHa", der erste sozialutopische ukrainische R o m a n ; ein Zyklus von politischen Romanen, unter denen „Cjiobo 3a toöoio, C T A J I I H E ! " , eine „politische Konzeption in Bildern", herausragt. Angeführt werden müssen die inhaltlich widersprüchlichen, aber stets aktuellen und zum Verständnis bestimmter geschichtlicher Perioden wichtigen publizistischen Arbeiten Vynnycenkos. Außerordentlich interessante Memoiren und Briefe harren ihrer wissenschaftlichen Aufarbeitung. Aber das ist ein Thema für spezielle und äußerst notwendige zukünftige Forschungen. Übersetzt von R. Göbner
20
21
5*
vgl.
H.
BojiofliiMHp BiiHHHHeHKO: noBepHenHH,
7, S . 73.
I . H e n y ö - J l e B H q b K H f i i n : 3 i ö p a n H H TBopiB
in:
y
Pa^HHCbKe
1 0 - t h TOMax,
jiiTepaTyp03HaBCTB0 t.
10,
Khüb
33
1968, S. 214.
(1989),
Z. Slaw. 35 (1990) 5, 700-709 R. Göbner Der Blick nach
„Europa"
Zu einigen Aspekten der „Literaturdiskussion
der Jahre 1925 bis 1928" in der
Ukraine1
„Orientierung auf E u r o p a " und „ Z e r f a l l Europas", „finstere europäische N a c h t " und „wahrer europäischer Geist" sind nur einige Stichworte, die sich wie ein roter Faden durch die „Literaturdiskussion der Jahre 1925 bis 1928" hindurchziehen. Eine fast magische K r a f t übt „ E u r o p a " auf die Anhänger aller politischen Weltanschauungen und künstlerischen Richtungen aus — sie begegnen sich in Berlin, P r a g und Paris, leben in denselben Pensionen, helfen sich gegenseitig mit ihren kargen finanziellen Mitteln — und bekämpfen sich dann nach ihrer Rückkehr nach Charkiv oder K i e v bis aufs Messer. W a s haben sie in Europa gesehen, worin liegen Brisanz und Differenziertheit ihres Europa-Begriffes begründet ? Als einer der ersten ukrainischen Schriftsteller reist um die Jahreswende 1924/1925 V a l e r " j a n Poliscuk nach Berlin, Prag und Paris — übrigens gemeinsam mit 0 . Dosvitnij und dem L y r i k e r P . T y c y n a , dem Poliscuk kurz darauf einen speziellen Artikel unter der Überschrift „/JyTHii KyMiip"' 2 widmet. E r fährt mit dem erklärten Ziel, „BMJii3TH 3 npoßiimii b c b I t , n o K a 3 a T i i ceöe, Bi/waTii CBoro i b 3 h t h noTpißnoro 3 nepimix pyit" 3 . Der erste Eindruck ist erschütternd: Vor dem dunstigen, dunkelgrauen Kolorit Berlins entdeckt er lediglich R e v u e in ihrer vielfältigen Einförmigkeit, Homosexualität und Prostitution. Die revolutionären Künstler, von denen Grosz, Schlichter, K l e i n und die in Berlin lebende ungarische Graphikerin Szilägyi namentlich genannt werden, seien mit großen Schwierigkeiten konfrontiert (,,... noxpoxy ßi^KaioTbCH .. ." 4 ), und nur Johannes R . Becher, „KOJimimift eKcnpecioHicT" 5 , ist für Poliscuk der größte gegenwärtige Dichter Deutschlands. W e n n auch nicht aus „erster H a n d " von Künstlern und Schriftstellern, so nimmt Poliscuk doch mittelbar Eindrücke mit nach Hause, die seine eigene Schreibweise als L y r i k e r ausprägen helfen. Mit unverkennbarer Sympathie schildert er beispielsweise den riesigen Mechanismus eines Leipziger Druckhauses, und auch die ständigen Verweise auf kapitalistische Ausbeutung können Poliscuks Begeisterung für die „Maschinisierung der W e l t " 6 nicht verbergen, in der die Kunst der Zukunft einzig und allein den ihr gemäßen Platz finden könne. Seine ästhetischen Ambitionen läßt bereits der wohl etwas wehmütig zu verstehende Verweis auf den „ f r ü h e r e n " Expressionisten
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Zu umfassenden Problemen der Literaturdiskussion jener Jahre vgl.: 10. KoBaiiiß, Tan, „KaMo rpn,neiiiH" ... xapaitTepHCTiiKM jitiepaTypnoi ;INCKYCII 1925 — 1928 poKiB, in: Pa,iHiichKe JiiTepaTypo3HaBCTBo (KHIB) 33 (1989), H . 6, S. 15—26.
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B. rioJiimyK, flyTHü KyMnp. A6o, hk ißecwioriMHa posiiJiMB'iaTicTb i h > v ( h h h \ie.;io;ii3M 3po6HJiM n . T h ' i h h h yKpai'HCbKoro HaflCOHa a j i h MiinaH i BiaeTaaiix, in: B. r i o j i i m y K , JliTepaTypHHÖ arianrapji;. llepcneKTHBH po3BHTKy yKpaiHCbKoi i;yjn,Typn. IIojreMiiKa i TeopiH noe3ii', Xapniß 1926, S. 4 6 - 6 3 . ders., 3aBflaHHH h o 6 h , in: B. I I o n i m y K , JliTepaTypHHÖ aßaHrapfl, S. 7. ders., Pa3K0Ji EBponw. Xyfl0>KHb0-c0i;iHJibHi Ta noöyroBi Hapwcn, XapKiB 1925, S. 28. ebd., S. 29. vgl. ders., 3aBflaHHH flOÖH, S. 13. 3
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R . GÖBNEK, Zur „Literaturdiskussion 1925 bis 1928" in der Ukraine
Becher erahnen: I n ihm sieht Poliscuk eine Schlüsselfigur des europäischen linken Expressionismus, dem er sich künstlerisch verwandt fühlt. Als Führer der Gruppe „ Anarirap,!" sucht Poliscuk nach einem selbständigen P r o g r a m m der KonstruktivistenDynamisten (nach eigener Benennung), das im Jahre 1928 wie f o l g t definiert w i r d : „MM
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Ba, i OCb m o MH 3BeMO KOHCTpyKTHBHHM AHHaMi3MOM."8
D i e Brisanz dieses konstruktivistischen Programms für die von traditionellen Dorfthemen nachhaltig geprägte ukrainische Literaturszene der 20er Jahre ist offensichtlich. Begünstigt einerseits durch die Gestalt Poliscuks (als Mathematiker und Architekt bleibt er dem „konstruktiven P r i n z i p " treu und sucht fortan nach der „inneren M a t h e m a t i k " der Dichtung 9 ), andererseits durch parallele Entwicklungen in der russischen und den mittel- und westeuropäischen Literaturen, faßt eine literarische Strömung Fuß, die auch mit anderen Künsten korrespondiert (die F i l m e des frühen D o v z e n k o wie ,,3BeHnropa", „ApceHaJi", die Filmchroniken Dziga Vertovs) — es brechen K o n traste auf, die historisch Gewachsenes plötzlich in Frage stellen. Folgerichtig sagt sich Poliscuk von vielem durch die Jahrzehnte Überkommenem los (ohne allerdings eine ausschließlich weltanschaulich verstandene Traditionslinie des Proletariats: Sevcenko, Franko, Lesja Ukrajinka — zu negieren): T o r o , M O 6 MH He 3ynHHHJiHCi> i B T B o p HOCTi, MH nOBHHHi ßHBHTHCb, KyflH H /JO HOrO MH HJjeMO, a He OrjIHßaTHCb yBeCb *iac Ty^H, 3BiflKH MH BHHIHJIH Ta 1H He Ay?Ke «ajieKO OaiÖUIJIH OA 3BHKJIOrO."10 F ü r P o l i s c u k
heißt das: konsequente Absage an „ v e r d ö r f l i c h t e " Traditionen (die er gern T y c y n a und anderen „ M e l o d i k e r n " zu überlassen bereit ist), Orientierung auf urbanistische Themen, in denen sich die Epoche der „konstruktiven Formen" 1 1 spiegelt. Markierungspunkt für ihn ist das revolutionäre, „ j u n g e " Europa. Damit ist die Polemik in der literarischen Öffentlichkeit bereits vorprogrammiert. Ideologisch fühlt sich Poliscuk wohl am ehesten mit der sich marxistisch nennenden, soziologisch orientierten Richtung K o r j a k s , R i c y c ' k y j s u. a. verbunden, wenn er beispielsweise die Führungsfrage aufwirft und dabei die Alternative „poManTHHHo-neoKJiacniHHH 6 J I O K " oder „KOHCTpyKTHBHO-ÄimaMiiHa jiiHin npojieTKyjibTypH 1 ' 12 aufstellt. V o n den Futuristen, mit denen Poliscuk zweifelsohne die meisten Berührungspunkte in künstlerischer Hinsicht aufzuweisen hat, werden er und seinesgleichen als „ l i n k e Vulga-
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ders., EioJieTeHb AßaHrapsy, XapKiB 1928, zit. nach: O. BesMii;bKHii, JliTepaTypHa RHCKycia 1925-1928, XapKiB 1932, S. 85. ebd., S. 86. vgl. ders., floporn MOIX nniB. ABTo6iorpaopMa ü oTOieHHH n i B H x , in: HoBa renepaqin 1927, H. I, S. 39—43, zit. nach: A. JleäTec — M. flineK, flecHTb poniB yKpa'iHCbKOi JitiepaTypn. 1917 — 1927; Bd. 2: OpraHi3au,iöHi Ta ineoJioriqHi IHJIHXH yKpai'HCbKOi pa^HncbKoi jiiiepaTypn. XapKiB 21930, S. 258. vgl. M. XBHJibOBHH, lipo KonepHHKa 3 OpayeHßypry a6o aöeTKa asiHTCbKoro peHecaHcy B MHCTGIJTBi. JJpyrHH JIHCT AO JliTepaTypHOl MOJIOAi, in: M. XBHJibOBHH, KaMO rpnaeiHH, XapKiB 1925; zit. nach: A. JleßTec — M. flmeK, flecHTb poniB ..., S. 215. O. flocBiTHiö, flo po3BHTKy nHCbMeHHHqbKHX CHJI, in: BAI1JIITE 1926, H. 1; zit. nach: A. JleüTec — M. flmeK, flecHTb poKiß ..., S. 250. M. XBHJibOBHH, 3yMKH npoTH TGHÜ, Xapniß 1926; zit. nach: O. Beji;Miu;bKHH, JliTepaTypHa ;(HCKycin, S. 38. vgl. ders., lipo KonepiiHKa 3 OpayeHßypry, S. 203.
R . GÖBNER, Zur „Literaturdiskussion 1925 bis 1928" in der Ukraine
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Z u m e r s t e n zentralen P u n k t der Auseinandersetzung wird folgerichtig ein d i a m e t r a l unterschiedliches K u n s t v e r s t ä n d n i s bei den Vertretern der diskutierenden Seiten. Chvyl'ovyjs H a u p t s t o ß richtet sich gegen eine als „ f u n k t i o n a l " zu bezeichnende Dicht u n g im Sinne der „ P r o d u k t i o n s ä s t h e t i k " , die die T r e n n u n g zwischen K u n s t u n d Alltag überwinden soll und von Poliscuk (zumindest programmatisch) d u r c h die Gleichsetzung des konstruktiven D y n a m i s m u s mit d e m „Leben selbst" bereits weit vorangetrieben worden ist. Die Forderung n a c h professioneller Qualität tendiert völlig gesetzmäßig zu einer Verteidigung des a u t o n o m e n Charakters jeglichen K u n s t s c h a f f e n s in der Tradition Hegels: „— , M H C T 6 H T B O B3arajii' — TO APXHCNEIIH(F)IHHA rajiy3b JIIOFLCBKOI A I H J I B H O C T H , mo HAMARAETTCH 3aflOBOJibHirra o^HY ¡3 noTpeö , a y x y ' JIIOAHHM, caiwe JIK>6OB ao npeKpacHoro." 1 8 Bereits die B e r u f u n g auf „ S c h ö n h e i t " u n d „ G e i s t " , die C h v y l ' o v y j und anderen den ironischen Beinamen „ O l y m p i e r " einbrachte, läßt die K l u f t zu operativen P r o g r a m m a t i k e n e r k e n n e n ; sie verschärft sich noch, wenn Chvyl'ovyj z u s p i t z t : „ — E Y ß Y B A H H H JKHTTH B lioro B C E C ß I T H B O M Y Maurraßi MH MHCJIHMO, i LÜJIKOM cnpaBeaJ I H B O , TijibKH qepe3 ni3HaHHH iioro i, OHEBHFLHO, nepe3 cnorjiHflaHHH, 6e3 HKoro He MOHie 19 6 Y T H ni3HaHHH." Seine L o s u n g : „ B H H B H N O A B I I M I C T B JIIOAHHH Hainoro nacy, NOKAJKH CBoe cnpaBJKHe ,H' " 2 0 , m u ß in den 20er J a h r e n als anachronistisch erscheinen — h e u t e sind es gerade die Erzählungen u n d R o m a n e von Chvyl'ovyj, P i d m o h y l ' n y j , V y n n y cenko u. a., deren individualpsychologische Darstellung zum Verständnis der geistigen Umbruchsprozesse zur damaligen Zeit beiträgt. U m der These von einer qualitativ hochstehenden K u n s t den nötigen N a c h d r u c k zu verleihen, b e m ü h e n die W o r t f ü h r e r von „ B A Ü J I I T E " K ü n s t l e r aus d e n unterschiedlichsten Epochen der W e l t k u l t u r , die hauptsächlich u n t e r d e m A s p e k t ihrer ausgefeilten Technik E u r o p a repräsentieren sollen. Michelangelo, P e t r a r c a , R a f f a e l , Goethe, Voltaire, Gautier, Byron, P u s k i n , F l a u b e r t — die Aufzählung von N a m e n , die sich in ihren programmatischen T e x t e n finden und die als beispielgebend gesetzt werden, ließe sich beliebig erweitern. (Für die F u t u r i s t e n sind P u s k i n u n d Sevcenko demgegenüber „ K o n s e r v e n " , die m a n sich bereits in der Grundschule zur Genüge einverleibt habe. 2 1 ) Das Schaffen dieser K ü n s t l e r wird mit bemerkenswerter K o n s e q u e n z i m m e r wieder gegen den Vorwurf des K o n s e r v a t i s m u s verteidigt, den Vertreter einer „ a k t i v i s t i s c h e n " K u n s t bisweilen einseitig in den Vordergrund stellen — C h v y l ' o v y j polemisiert h e f t i g gegen die These, die „ a l t e K u n s t " habe ihren K o n s u m e n t e n willenlos gemacht, i h m d e n Willen zur aktiven Veränderung g e r a u b t : „ B h raaaeTe, mo enoxa MHCTeijbKoro Bi^poa,H?EHHH Te?K 0Öe3B0JiK>Bajia CBoe cycnijibOTBo, m o I l y m K i H SyB H H H H H K O M KOHcepBaTiiBHoro nopHflKy, m o B o j i b T e p 3 i r p a B HeraTHBHy p o j i i o B n p o r p e c i , m o M m e j i b - A H ^ H t e j i o
Hi HopTa He BapTHß, mo ,oßjiaKO B uiTaHax' Te?K 06e3B0Jiroe."22 C h v y l ' o v y j f ü h r t seine historisch a k z e p t a b l e Position allerdings nicht weiter a u s ; er bleibt bei der Rehabilitierung, ohne sich detailliert mit der tatsächlichen Rolle dieser K ü n s t l e r im Entwicklungsprozeß der Gesellschaft auseinanderzusetzen. Ideelle P o t e n z e n des künstlerischen Schaffens werden sorgfältig ausgeklammert, so d a ß de f a c t o als zu nutzendes E r b e
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ebd., S. 198. ebd., S. 201. ebd., S. 211. vgl. M. CeMeHKO in: P03M0Ba Tpbox, in: 3yCTpw Ha nepexpecHiä CTaHijii, KHIB 1927; zit. nach: A. JleitTec — M. flirten, ¿ecHTb poniB . . . , S. 250. M. XBHJIBOBHFT, l i p o KonepHHKa 3 «IpayeHßypry, S. 200.
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Z. Slaw. 35 (1990) 5
lediglich ein Sammelsurium an „verfeinerten" Formen übrigbleibt. D a ß sich Klassiker mit ausgeprägt gesellschaftskritischem Engagement nicht problemlos auf diese Weise „bearbeiten" lassen, beweist C h v y l ' o v y j s Umgang mit Sevcenko — dieser habe durch seine sentimental volkstümliche „npociiiTa" die ukrainische Intelligenz „kastriert" und die Entwicklung einer nationalen K u l t u r nach europäischem Muster aufgehalten .. 23 Vieles im Mit- und Gegeneinander der rivalisierenden Seiten weist Ähnlichkeiten mit der russischen Literatur- und Kunstszene jener Jahre auf. Avantgardistische K o n z e p t e von Majakovskij, T r e t ' j a k o v u. a. stehen den beschriebenen „ l i n k e n " Positionen sehr nahe, und C h v y l ' o v y j wird (hauptsächlich von seinen Gegnern) des öfteren mit Voronskij (was die Betonung des Erkenntnischarakters der K u n s t betrifft) und Pil'njak (im Hinblick auf die Schreibweise) verglichen. ( „ V c i i;i KorauieHKii, MüHMTenKH, EuiKH, /KiiraJiKH ii HHini AMyrb nijj XBiMbOBoro, hkhh a»ie ni^ üijibHHKa" 24 , stellt Poliscuk sarkastisch fest.) Dennoch gelingt es insbesondere C h v y l ' o v y j (sehr zum Unwillen seiner Gegner), den von ihm entwickelten Theorien eine ausgesprochen nationale Note zu verleihen. A u s dem Umstand, daß die europäische K u n s t , auf die es sich zu orientieren lohne, historisch der Vergangenheit angehört und derzeitig im Verfall begriffen sei, leitet C h v y l ' o v y j die Hypothese einer bevorstehenden „asiatischen Renaissance" a b : Erste Anzeichen für diese Innovation aus dem Osten zeichnen sich — laut C h v y l ' o v y j — in den Befreiungsbewegungen Chinas und Indiens ab, die auch enorme geistige K r ä f t e freisetzen werden; die „asiatische Renaissance" „cnajiaxHe GarpfiHoro ,n y 6 m m n " H T H K V T HHKOM Haß TeMHOK» eBponeiicbKoro niqqio", ebenso wie zur Zeit der europäischen Renaissance Künstler „3 iTaJiificbKoro 3aKyTKy 3anajii«in Eßpony oraeM Biflpon?KeHHH"25. — „ . . . enoxa eBponeöctKoro Bißpoß?KeHHH njiioc HeapißHHHe, Öa^bopeii pa^icHe rpeijbKO-pHMCbKe MHCTeijTBo"26 sind für C h v y l ' o v y j die Eckpfeiler jener neuen Strömung, die die entstehende proletarische Literatur der Z u k u n f t prägt, und sein eigenes Schaffen sowie das seiner Gefolgsleute erscheint im Gegensatz zu einer auf aktuelle Tagesbedürfnisse ausgerichteten Didaktik als „romantischer Vitalismus" 2 7 , als unmittelbare Vorhut jener „asiatischen Renaissance". Auf der Basis der europäischen Erfahrung vieler Jahrhunderte, einer „grandiosen Zivilisation" 2 8 , wird jetzt ein Emanzipationsprozeß in umgekehrter Richtung, von Ost nach West, angenommen, der der ukrainischen K u l t u r große Perspektiven eröffne, die Grenzen Rußlands allerdings sorgfältig meide . . . Erschütternd sogar auf zahlreiche Mitglieder von „ B A n J I I T E " wirkt C h v y l ' o v y j s durchaus folgerichtiges F a z i t : Unwiderrufliche Absage an eine Orientierung auf die russische Literatur. „LJe pimyne i 6e3 BCHKHX 3acTepe?KeHb." — „PociücbKa jiiiepaTypa THHIHTB Hafl HaMM B Biitax, HK rocnoßap CTaHOBiima, HKHH npHBiaB Hamy ncnxiKy ßo
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vgl. die Darlegung von Chvyl'ovyjs Roman „BaJibauiHemi" in: B. CyxHHO-XoMeHKo, XBHJIBOBH3M — KAPAMA30BMHHA, in: KpHTHKa 1 9 2 8 , H. 1, S . 5 1 . B. IlojiimyK, 3aabopHCTHü riMHa3HCT XBHJII.oBHfl y pojii KpHTHKa „JliTepaTypHoro aeaHrapjiy", in: B. IIojiimyK, Ilyjibc enoxw, S. 28. M. XBHjibOBHft, lipo KonepHHKa 3 (DpayeHßypry, S. 206. ders., n p o jeMaroriMHy BOAHwy a6o cnpaBJKHH a^peca BOPOHIIJHHH, BINBHA KOHKypeHi;iH, BYAH i T. zit. nach: O. Be^MiijbKHH, JliTepaTypHa nncKyciH, S. 24. vgl. d e r s . , lipo KonepHHKa 3 Opayenßypry, S. 209. vgl. ebd., S. 215.
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R. GÖBNEK, Z u r „ L i t e r a t u r d i s k u s s i o n 1925 bis 1928" in d e r U k r a i n e
paßcbKoro Hac;ii;nyBaHHJi."29 S p ä t e s t e n s von diesem Augenblick an mischt sich die F r a g e n a c h d e m Charakter einer neuen K u n s t mit einem z w e i t e n zentralen Diskussionss c h w e r p u n k t : der nationalen Spezifik künstlerischen Schaffens. E i n w ä n d e von Seiten der P a r t e i r u f t selbstverständlich die messianistische F u n k t i o n hervor, die C h v y l ' o v y j seiner eigenen N a t i o n a n der Schnittstelle zwischen Ost u n d West z u d e n k t . C h v y l ' o v y j — so wird in d e n ,,Te3H U,K Kll(6)y npo ni,ncyMKH yitpaimsanii" v o m J u n i 1926 festgestellt — gehe von der Überzeugung aus, d a ß ,,3axi^Hbo-eBponeHCtKHfi npojieTapinT Mae Ba>KKi Tpajiimii i 6e3 npo6yH?«eHOi, yHiBepcajibHoro 3HaieHHH, a3iHTCbKoii eHeprii, BiH He rijibKHH He aniÖnnii nonaTH HOBHH KyjibTypno-icTopHiHiiii ran, ajie i 3BajiHTii 3 ce6e MepTBy Bary TpeTBoro CTaHy"30. I n Kurzschlußfolgerung wird C h v y l ' o v y j d a r a u f hin vorgeworfen, er t r e t e f ü r die S c h a f f u n g eines imperialistischen ukrainischen Großs t a a t e s ein 31 . U m die Brisanz der nationalen Frage, die in s t a r k e m Maße den Verlauf der L i t e r a t u r diskussion beeinflußte u n d u m die Mitte der 20er J a h r e in der U k r a i n e keinesfalls e n t schieden war, zu veranschaulichen, m a c h t sich ein historischer E x k u r s erforderlich. Die Oktoberrevolution h a t t e die Ungleichheit der Völker R u ß l a n d s de iure a u f g e h o b e n . Mit der „FLEKJIAPAIIHH npaß HAPOJIOB P O C C H H " vom 2 . 1 1 . 1 9 1 7 w u r d e n vier g r u n d l e g e n d e Prinzipien v e r k ü n d e t : Gleichheit u n d S o u v e r ä n i t ä t der Völker R u ß l a n d s ; R e c h t d e r Völker R u ß l a n d s auf freie E n t s c h e i d u n g bis hin zur Bildung eines eigenständigen S t a a t e s ; A b s c h a f f u n g aller nationalen u n d national-religiösen Privilegien u n d Bes c h r ä n k u n g e n ; freie E n t w i c k l u n g der nationalen Minderheiten u n d der e t h n o g r a p h i schen G r u p p e n , die das Territorium R u ß l a n d s besiedeln 3 2 . Dieses wichtige D o k u m e n t Leninscher Nationalitätenpolitik schuf jedoch — w e n n auch zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte — lediglich erste Voraussetzungen f ü r eine möglich erscheinende Lösung des N a t i o n a l i t ä t e n p r o g r a m m s , die in d e n Folgejahren auf a d m i n i s t r a t i v e Weise weitgehend zurückgenommen w u r d e n . N e u a u f f l a m m e n d e Auseinandersetzungen in d e r Gegenwart lassen erkennen, d a ß viele d a r a u s resultierende F r a g e n bis h e u t e n i c h t gelöst sind. Die R e a k t i o n e n auf die erlangte rechtliche Freiheit fielen zunächst äußerst unterschiedlich aus. F ü r die staatliche Loslösung der U k r a i n e p l ä d i e r t e n n a t i o n a l b e w u ß t e Schicht e n der Bevölkerung, die vor der Revolution, i m K a m p f gegen den Zarismus, eng m i t den gesamtstaatlichen demokratischen Bewegungen v e r b u n d e n gewesen waren. L e n i n selbst h a t t e in seinem Artikel ,,Die K a d e t t e n über die ukrainische F r a g e " aus d e m J a h r e 1913 die ukrainischen S e p a r a t i s t e n gegen die B e v o r m u n d u n g d u r c h die russische K a d e t t e n p a r t e i in Schutz g e n o m m e n : „ D i e Marxisten werden sich niemals mit einer nationalen Losung den K o p f verdrehen lassen, ob sie n u n eine großrussische, polnische, jüdische, ukrainische oder sonst eine ist. Die Marxisten vergessen aber a u c h n i c h t die elementare Pflicht eines jeden D e m o k r a t e n , jegliche H e t z e gegen irgendeine N a t i o n wegen S e p a r a t i s m u s ' zu b e k ä m p f e n u n d f ü r die A n e r k e n n u n g der völligen u n d vorbehaltlosen Gleichberechtigung der N a t i o n e n u n d ihres Selbstbestimmungsrechts einzutreten. Man k a n n verschiedener Meinung sein, wie diese S e l b s t b e s t i m m u n g v o m S t a n d p u n k t 29 30
zit. nach: O. BeAMiijbKiiü, JliTepaTypHa AwcKyciH, S. 47, 48. Te3H 14K KII(6)y npo ni«cyMKn yiipaiiriiianii, in: O. BeaiwiijbKHM, JliTepaTypHa ßncKyciH,
31
vgl. O. BeflMiijbKHü, JliTepaTypHa HHCKycin, S. 4. HCTOpHH CODeTCKOit KoiICTHTyL(HH. CÖOpHHKflOKyMeHTOB1 9 1 7 — 1 9 5 7 ,
32
S. 53.
M. 1957, S. 1 9 — 2 0 .
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des Proletariats in jedem einzelnen Fall aussehen soll. Man kann und soll mit den N a tionalsozialen wie Donzow streiten, aber die gemeine H e t z e wegen des Separatismus', die H e t z e gegen Menschen, die sich nicht verteidigen können, ist der Gipfel der Unverschämtheit unserer Kadetten." 3 3 In den Jahren nach der Oktoberrevolution können sich separatistische Tendenzen nicht behaupten — sie werden v o m I . Parteitag der K P ( b ) U im Jahre 1918 abgelehnt. Nach Jahren einer unentschiedenen Haltung beginnen die ukrainischen Kommunisten mit ihrem X I I . Parteitag im April 1923, sich der nationalen Problematik offensiv zu stellen. Der Parteitag nimmt eine Resolution an, die folgende zentrale Aufgaben ausweist: ,,a) OnaHVBaHHH Bcieio napTiiiHoio opraHi3aijieio VKpaiHH yiipaiHCbKoi MOBH, BHBHeHHH COI}iHJIbHO-nOJliTMKHX ßjiHCKaßimb" flicht („3HaK JleBa"), so durchdringt die Sammlung „3ejieHa eBaHrejim" die Idee von der Materialität der W e l t und des Lebens. Die Harmonie des Weltalls entäußerte sich ihres Urschöpfers — Gottes. Den Beginn dieser prinzipiellen Wendung signalisiert das bekannte Gedicht „IÜCHH: npo He3HHmeHHicTt MaTepii" im zweiten K a p i t e l der „ K m i r a JleBa". Das wichtigste in dieser Wendung ist nicht so sehr die Deklaration des Autors, als vielmehr sein poetisches K o n z e p t , das man als Biologismuskult oder -dominante bezeichnen könnte. „3aKOHH 6iocy o^HaKoui JJJIH Bcix", ihnen Untertan sind Mikro- und Makrokosmos: Pflanzen, Tiere, Sterne und Menschen. Dabei ist nicht uninteressant, daß die klerikale Presse diese Wendung als erste bemerkte. Der Autor, der mit dem K r y p t o n y m „ a H " unterzeichnete, schrieb mit Bedauern v o m Übergang des Dichters von christlicher Thematik zur Lobpreisung der „ v i t a l e n K r a f t " der Natur, „pa3 y cnpift KeHHH YiipaiHCbKoI AKafleMii)." 1 Seit der Niederschrift seines Berichts lebte I l ' k o Borscak noch 35 Jahre — er starb am 11. Oktober 1959. Es fällt schwer sich vorzustellen, welch gewaltigen U m f a n g an erkundender archivalischer Tätigkeit, wie viele Dokumente „ n o nHTaHHHM , U k r a i n i c a ' " er dem jahrhundertealten Vergessen entrissen hat. V o m Schicksal des unikalen Archivs von Borscak ist jedoch in der Sowjetukraine nichts bekannt. Einige Jahre nach Erhalt dieses Berichts begannen indes Repressalien gegen zahlreiche Mitglieder der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften, wobei das L o s der Historiker, Literatur- und Sprachwissenschaftler sowie der Juristen besonders grausam war. Erinnern wir uns nur daran, wie schnell die Schulen M. Hrusevs'kyjs und M . Javors'kyjs liquidiert worden sind, wie viele Gesellschaftswissenschaftler im Prozeß des Bundes zur Befreiung der Ukraine ( S V U ) im Jahre 1930 verurteilt worden sind. Damals ging es begreiflicherweise nicht um Borscaks Vermächtnis. Erst jetzt, in der Periode der Offenheit und der Demokratisierung unserer Gesellschaft, warf der Dozent für Geschichte an der K i e v e r Universität, V . Serhijcuk, die Frage nach der Rückkehr der Archivmaterialien Borscaks in die Ukraine auf 2 . H o f f n u n g e n setzt er vor allem in den Ukrainischen Kulturfonds und dessen Vorsitzenden B . Olijnyk. 1
2
3ßi,noMJieHHH IjibKa BopmaKa 3 jocjiiaiß B apxißax 3axi,n,HO'i CBporm, nepecjiaiie YKpai'HcbKift AKafleMii Hayn B Kiießi, in: 3araiCKii HaynoBoro ToBapHCTBa ijvieni T. r . IIIEBQEHKA, T. C X X X I V (1924). B. CeprHitMyK, B HBHX pyKax apxiiB BopmaKa?, in: „KoMCOMCuibCKoe 3HaMH" vom 16. Dezember 1988.
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I m G r u n d e g e n o m m e n haben wir u n s nicht zu einer Eloge ü b e r diesen selbstlosen Streiter f ü r die Ukrainistik aufgeschwungen, der ein ganz besonderes archivalisches F u n d a m e n t f ü r ein Grundlagenwerk „Die U k r a i n e u n d die W e l t " errichtete. Die Veröffentlichung seines Archivs, zumindest eines K a t a l o g s der Archivmaterialien, w ü r d e u n s der Notwendigkeit entheben, in allernächster Zeit neuerliche Nachforschungen n a c h d o k u m e n t a r i s c h e n Belegen ü b e r die U k r a i n e in Bibliotheken der meisten europäischen S t a a t e n anzustellen, forschte Borscak doch in den Archiven u n d Bibliotheken von P a r i s u n d Wien, Stockholm u n d H a m b u r g , Leiden u n d Brüssel, des V a t i k a n s u n d von E n g l a n d . . . I n den J a h r e n 1933—1935 publizierte er in der Pariser ,,Le Monde S l a v e " eine Bibliographie über die U k r a i n e in der westeuropäischen L i t e r a t u r seit d e m 15. J h . , die in der U k r a i n e faktisch u n b e k a n n t ist. Das Schicksal des Archivs von Borscak ist jedoch n u r eins jener zahlreichen Probleme, die h e u t e vor sowjetukrainischen Wissenschaftlern stehen, die dazu a u f r u f e n , eine Geschichte der ukrainischen K u l t u r auszuarbeiten. D a erhebt sich gleich die erste, e n t scheidende F r a g e : Gibt es wenigstens Beschreibungen von L i t e r a t u r a r c h i v e n n a c h L ä n d e r n , wie z. B . K a n a d a , den U S A oder der B R D ? Sind dabei die Ukrainika, die sich in Bibliotheken u n d Archiven befinden, bereits „eliminiert" u n d erfaßt? Gibt es Wegweiser d u r c h L i t e r a t u r a r c h i v e , die z. B . u n t e r der O b h u t der Ukrainischen Freien Akademie der Wissenschaften (UVAN) in New York, der Wissenschaftlichen Sevcenko-Gesellschaft in New York, in K a n a d a u n d in der B R D stehen? Leider e n t h a l t e n die Wegweiser bei weitem keine vollständigen Angaben über alle g e n a n n t e n I n s t i t u tionen. U n d das h a t seine o b j e k t i v e n Gründe. Der H a u p t g r u n d sind zweifellos das F e h len qualifizierter K a d e r , welche diese Arbeit n a c h verbindlichen Richtlinien u n d S t a n d a r d s zu leisten i m s t a n d e wären, sowie die finanziellen K o s t e n . Diese Probleme gibt es leider auch in der Ukrainischen S S R , wenngleich sie sich h e u t e vielleicht nicht m i t solcher Schärfe stellen. Wegweiser d u r c h Archive, die einen hohen wissenschaftlichen S t a n d a r d h a b e n u n d ers c h ö p f e n d e A u s k u n f t erteilen, gibt es natürlich in L ä n d e r n W e s t e u r o p a s u n d Amerikas. Größtenteils werden jedoch die U k r a i n i k a in diesen F ü h r e r n als Spezialdisziplin oder gen a u e r : als Wissenschaftszweig nicht gesondert ausgewiesen. Bibliographen dortzulande haben eine immense Arbeit geleistet zur Systematisierung v o n Materialien, die m i t R u ß l a n d und m i t der U d S S R in einem Z u s a m m e n h a n g stehen u n d die in staatlichen I n s t i t u t i o n e n , Bibliotheken, Archiven u n d P r i v a t s a m m l u n g e n a u f b e w a h r t werden. U n i k a l ist in diesem K o n t e x t der F ü h r e r durch entsprechende D o k u m e n t e u n d H a n d s c h r i f t e n im Vereinigten Königreich von J a n e t M. H a r t l e y aus d e m J a h r e 1987 3 . Dieser F ü h r e r verweist auf 333 Archive, Bibliotheken u n d ähnliche E i n r i c h t u n g e n G r o ß b r i t a n n i e n s u n d Nordirlands, in denen sich Materialien zur Geschichte R u ß l a n d s und der U d S S R befinden. I m I n d e x f i n d e n sich 38 Positionen zu U k r a i n i k a : 21 Positionen beziehen sich auf die Ukraine im allgemeinen, worunter vier Spezialsammlungen erscheinen, die u n m i t t e l b a r der Ukraine gewidmet u n d in Archiven u n t e r d e m Stichwort „ U k r a i n i c a " zu f i n d e n sind, a n d e r e b e t r e f f e n F o n d s des ukrainischen E p i s k o p a t s , zur ukrainischen Sprache u n d L i t e r a t u r ; 12 Positionen figurieren u n t e r der Bezeichnung „ U k r a i n i a n s " . E s ist peinlich, sich d a v o n zu überzeugen, d a ß U k r a i n i k a in den Biblio3
J. M. H a r t l e y , Guide to Documents and Manuscripts in the United Kingdom Relating to Russia and the Soviet Union, London and New York 1987.
M. H. 2ULYNS'KYJ, Ukrainische Literaturarchive und Bibliographien
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theken Englands im Vergleich zu Russistika so schwach vertreten sind. Die H a u p t ursache dafür ist m. E. die traditionelle Identifizierung von Ukrainika und Russistika. Der Leser urteile selbst: Die einzige Position zur ukrainischen Literatur in diesem Wegweiser ist die Chiffre 146.460, die darüber Auskunft gibt, daß in der British Library der Titel „,Mala knizka' by T. G. Shevchenko, Kiev 1903" vorhanden ist. Es handelt sich um die phototypische Ausgabe des Stiefelschaft-Büchleins Sevcenkos, die unser T.-H.-Sevcenko-Institut f ü r Literatur der AdW der Ukrainischen SSR besorgte. Da sich bei der Fixierung dieser einzigen Position zudem einige bezeichnende Fehler eingeschlichen haben, sehen wir, daß mit Ukrainika lediglich Sevcenko assoziiert wird, der eine nationale Akzentuierung seiner Person und seines Schaffens erfuhr. Ein sehr hilfreiches Handbuch für die wissenschaftliche Arbeit ist auch der von St. Grant und J . Brown besorgte „Guide to Manuscripts and Documents of the United States" 4 . In diesem Führer, der 1981 dank der Unterstützung durch das Kennan-Institute erschien, wird nicht nur verwiesen, sondern auch — was das wichtigste ist — nach thematischen und problemorientierten Prinzipien und mit Vermerk verschiedenster ukrainischer Organisationen politischer, kultureller und religiöser Orientierung auf die wesentlichen „Verästelungen" dessen rekurriert, was wir als „Ukrainika" bezeichnen. Wahrscheinlich konnte indes noch keiner diese Materialien überprüfen, systematisieren und aus ihnen die literarische Ukrainika herausfiltern, ihren ideellen Wert bestimmen und sich schließlich zu einer Publikation entschließen. Was die ukrainische Literatur (unter der Signatur: Ukrainian Literature, L 31-1; Y 95-1) betrifft, so figurieren in dem Führer Bibliothek und Archiv der Ukrainian Academy of Art and Sciences in New York, aber auch die Bibliothek der University of Illinois. Dort finden sich das Archiv von I. Cajkovs'kyj in Form eines Spezialfonds und das Archiv von V. Hrendza-Dons'kyj, bestehend aus Manuskripten und Korrespondenzen, Fotos und Mikrofilmen. Natürlich besteht keine Veranlassung, alle Wegweiser durch Archive Westeuropas und Nordamerikas auf Ukrainika hin zu analysieren, doch auf einige von ihnen wollen wir noch aufmerksam machen. Da ist vor allem der Führer durch die Archive des Hoover Institute zu nennen, weil dort Lesja Ukrajinkas Briefe an F . Volchovs'kyj aus den Jahren 1902 und 1903 aufbewahrt werden, die in der Ukraine noch nicht veröffentlicht worden waren. Einem unerfahrenen Literarhistoriker wäre es gewiß nicht leichtgefallen, sie aufzuspüren, da sie sich zwar im Nachlaß Volchovs'kyjs wiederfinden, was jedoch im Wegweiser nicht angezeigt wird. Ein brauchbarer Schlüssel, mit dem die Archive Kanadas zu erschließen sind, ist das Nachschlagewerk
„YitpaiHCLKi pyKonHCH B KaHa^i", d a s I . H e r u s - T a r n a v e c ' k a
be-
arbeitete 5 . Das Canadian Institute of Ukrainian Studies der University of Alberta gab im vergangenen J a h r den „IlyriBHHK no a p x i s a x i KOJICKHÜ pyKoniiciB YKPAIHCTKOII AKANEIVIII MHCTEU,TB i HAYKH B CII1A" heraus, ohne dessen eingehendes Studium die Arbeit an einer Erneuerung von Konzepten eines ganzheitlichen Entwicklungsprozesses der ukrainischen Kultur nur schwer vorstellbar ist. Dieses Institut hat übrigens damit begonnen, Informationsbulletins in Gestalt eines Nachschlagewerks über die Beschaffenheit ukrainischer Nachlässe in Archiven und Bibliotheken Kanadas herauszugeben. 4
S t . G r a n t — J. B r o w n , Guide to Manuscripts and Documents of the United States, New York 1981.
5
I.
T e p y c - T a p H a B e i i t K a , yKpai'HCBKi pyKonncH
B
KaHani,
E«MOHTOH 1 9 8 8 .
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Keineswegs anstößig wäre auch die B e k a n n t s c h a f t m i t d e m Archiv der Zeitung „ C B O 6ofla", in d e m sich möglicherweise Briefe von I . F r a n k o , M. D r a h o m a n o v , M. P a v l y k u n d anderen befinden. H e u t e wissen wir, d a ß A n f a n g dieses J a h r h u n d e r t s B. H r i n c e n k o 50 Bücher aus der Ukraine a n die New York L i b r a r y ü b e r s a n d t e . E s leuchtet ein, d a ß er a u s diesem Anlaß mit der Direktion dieser Bibliothek korrespondierte. W o ist dieser Briefwechsel jedoch abgeblieben? Auch w u r d e festgestellt, d a ß die New York L i b r a r y die P r i v a t b i b l i o t h e k des G r o ß f ü r s t e n Volodymyr käuflich erworben h a t , in der zahlreiche Originalfotos von K i e v e n t h a l t e n waren, die bislang jedoch nicht wieder aufget a u c h t sind. Große A n s t r e n g u n g e n bei der Suche n a c h U k r a i n i k a u n t e r n i m m t der k o m p e t e n t e Bibliograph u n d Bibliotheksspezialist E . Kassynec', der jedoch der U n t e r s t ü t z u n g bedarf vor allem bei der Veröffentlichung von ihm selbst v e r f a ß t e r N a c h schlagewerke u n d bibliographischer U n t e r s u c h u n g e n . Besonders wir in der Ukraine h a b e n alle Veranlassung, unsere Aufgaben u n d P l ä n e zur Systematisierung der Archive u n d Bibliotheksmatcrialien deutlicher zu umreißen, die mit der ukrainischen L i t e r a t u r u n d K u l t u r im Z u s a m m e n h a n g stehen, u m so mehr, als vieles in dieser Hinsicht in den U S A bereits u n t e r n o m m e n wurde. So w u r d e z. B . in der New York L i b r a r y in d e n Comp u t e r eine I n f o r m a t i o n z u m Stichwort „ U k r a i n i c a " eingespeist, die Angaben über U k r a i n i k a in Bibliotheken u n d Archiven der U S A e n t h ä l t . D a s ist ein schon r e c h t ernst zu n e h m e n d e r Schritt in R i c h t u n g einer Systematisierung von Angaben ü b e r U k r a i n i k a in den U S A ; diese I n f o r m a t i o n sollte jedoch alles erfassen, was diesbezüglich in Archiven u n d H a n d s c h r i f t e n b e s t ä n d e n i m W e l t m a ß s t a b a u f b e w a h r t wird. Folglich ist seit langem das B e d ü r f n i s herangereift, ein spezielles bibliographisches Z e n t r u m vielleicht bei der I n t e r n a t i o n a l e n Assoziation der Ukrainisten (MAU) zu installieren, das ein K o n z e n t r a t i o n s p u n k t f ü r sämtliche I n f o r m a t i o n e n über U k r a i n i k a in der W e l t sein k ö n n t e . E i n erster organisatorischer Schritt in dieser R i c h t u n g k ö n n t e die G r ü n d u n g einer bibliographischen Kommission bei der MAU sein, die ihre Tätigkeit mit entsprechenden E i n r i c h t u n g e n der Ukrainischen S S R — vor allem der B u c h k a m m e r d e r Ukrainischen S S R , der Wissenschaftlichen Zentralbibliothek „V. V. V e r n a d s ' k y j " der A d W der Ukrainischen S S R und anderen Bibliothekszentren der R e p u b l i k — koordiniert u n d die Verpflichtung ü b e r n i m m t , wissenschaftliche u n d Geschäftsbeziehungen zu ähnlichen Bibliotheken und bibliographischen Zentren im Ausland herzustellen. U m so mehr, als in der Library of Congress der U S A eine Abteilung U k r a i n i k a geschaffen wurde, die von d e m erfahrenen Bibliographen u n d Bibliothekar B. J a s y n s ' k y j geleitet wird, u n d in der Public L i b r a r y of New York große E r f a h r u n g e n bei d e r Verallgemeinerung von Leistungen auf d e m Gebiet der Theorie, Methodologie u n d Organisation der Bibliographie gesammelt wurden. Vor mehr als 60 J a h r e n rief der Bibliog r a p h M. J a s i n s ' k y j in seinem Beitrag ,,Ei6jiiorpa(|)iH y K p a i H C b K O ' i öiGjiiorpaiJni" dazu auf, „He oSiviejKyBaTHCH TLULKH THM MaTepiajiOM, HKHII BIIHIHOB Ha Y K p a i H i . BaraTo 6i6jiiora(i)iiHHX n o K a H i i H K i ß , o r a n ^ i B i HH., HKi o x o r u i i o i o T b LUHHHH 3 norjiHfly iHTepeciß ypepaiHCBKOi KyjibTypn MaTepiaJi, BHXOHHJIO H Bnxo,nHTb no3a MeHiaMii ViipalHH" 6 . Deshalb v e r t r a t er auch die Ansicht, ,,mo B e i T i SiS.niorpatfii'iHi n o K a ? K r a K i i , o r j i H j j H i t H H . , H K i CKJiaJin ™ BH^ajiH y K p a ' m c b K i 6i6jiiorpa, neu gebildet ciiven ,weit bekannt' . . . " Die urslawisch-dialektale Sippe (bei T 4, 178 *c,bvan}ati, bei Berneker 1, 175 *cbvan&) ist im Pomoranischen reich vertreten, wie auch das imperfekt i v e Verbum svanac ,Tabak schnupfen, aufschnupfen, riechen (trans.)' beweist ( L H 528). Das in der Putziger Gegend bezeugte verbum reflexivum svanac sq ,sich küssen, küssen' bezieht sich ja ebenfalls noch auf den Bereich derjenigen Sinnesorgane, die auch die o. g. Verbbedeutungen auszuführen imstande sind. P m . svankovac ,suchen, herumsuchen, schnüffeln' (Sy. 7, 320 = L H 1882) sehe ich als mit dem Deminutivsuffix -z>Jc- vollzogene Ableitung zu pm. svanic (s. o.) an. Weiter entfernt, jedoch den Sinnesorganbereich „ H a l s — Nase — Ohren" nicht verlassend, liegt das Verbum pm. svanec (3. Sing, svani) sq,Speichelfluß haben, sich mit Speichel bedecken, geifern' sowie das K o m positum uusvanec sq ,sich vollgeifern' ( L H 1882). — Auf der Ebene der Substantive dieser Sippe stehen sich folgende Parallelen gegenüber, freilich mit verschiedenen Flexionsendungen und Genera: 1. russ. HBaH ,eingebildeter, eitler Mensch' (Vasmer R E W 3, 307), ukr. iBaHb f. ,Stolz, Übermut' und pm. svana m. f. ,Tabakschnupfer, Tabakschnupferin?' ( L H 528), pm. svana ,aufdringlicher Mann, der sich den Mädchen aufdrängt und sie plötzlich, verstohlen, ohne ihre Einwilligung, küßt' ( L H 1882). Eine andere Frage ist eventuell die Etymologie von p. cwany ,listig', das im 19. Jh. als cwany .vorsorglich, betriebsam (p. zapobiegliwy)' im Podhale aufgezeichnet worden ist und sich somit auffallend von der Bedeutung des ukr. A d j e k t i v s HBCIHIHHH ,übermütig' sowie russ. IqBaHHHß ,stolz, hochmütig, geziert' abhebt. Ob aus diesem Grunde nicht doch eigenständige polnische (semantische) Entwicklung als Annahme vorzuziehen ist? Es handelte sich dann um ein polnisches participium praeteriti passivi 6van(n)y — ursl. *scbvanb ,gehetzt', das durch masurierende Mundarten sich später zu dem jetzigen A d j e k t i v cwany weiterentwickelt hat. Aus Fügungen wie szczwany Iis ,cz§sto szczuty i przez to doswiadczony' (Slawski S E J P 1, 110) hätte sich dann die heutige polnische Bedeutung von cwany entwickelt. V g l . im Deutschen die sprichwörtliche Redewendung mit allen Hunden gehetzt sein ,gewieft sein'. — 2. *dbgngti. Auf ursl. *dbgngti,stechen, beißen' (T 5, 205) ist das von Trubacev übersehene pomoranische Verbum 3gngc ,beißen' ( L H 1213) zurückzuführen : ukr. UtorHyTb ,stoßen, stechen' (rpHHieHKO 5, 205). Näher zu pm. $gac ,beißen' ( L H 1310) stellt sich lit. diegti ,stechen' (T 5, 205). — 3. *dble. Auf den urslawischen L o k a t i v Singular *dble führen folgende den Genitiv Singular regierende Präpositionen zurück: 1. ukr. dial. ajii ,in der N ä h e von, neben, bei', 2. r. dial. fljie dass. (Slownik prasl. 5, 215) und 3. p m die ,neben, längs' (genauer L 139—140). — 4. *protivbni>. Auf ursl. *protivbm> lassen sich (1) ukr. npoT^MB-
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Z. Slaw. 85 (1990) 5
HHH gegenüberliegend ; widerlich ; stur, widerborstig ; u n a n g e n e h m , widerlich ; widersprechend' (rpHHneHKo 3, 485), (2) russ. IIPOTIHBHBIÌÌ dass. u n d (3) p m . (slz.) procivwi ,gegnerisch, feindlich' (L 1, 660) z u r ü c k f ü h r e n . — Des weiteren stellen slz. procivnica ,Gegnerin, Feindin' sowie procivnik ,Gegner, F e i n d ' (L 660) : russ. npoT'iiBHima, I I P O T ' H B HHK dass. zwei analoge Isolexen dar. 1.3. eine ukr.-russ.-abg.-slk.-pomoranische Isolexe: *paz$tb/pazitb f. U k r . lna;i!HTL> ,3eMJiH, K O T o p y r o He naxajiH B TeieHiie M H o r n x jiei' (OLA, F r a g e b u c h - N r . L[exik] 541) ist im E r h e b u n g s p u n k t 466 = I I o j i H H a . 3 a K a p n a T C K a H o Ö J i a c T B . C B a j i H B C K H Ö paftoii, bezeugt, wird aber a u c h als schriftsprachliches W o r t InaHtHTB f. zitiert ( R u d n . 533), wozu sich die im „ A b l a u t " b e f i n d e n d e n W ö r t e r aus d e m Poles'e lno»>eHB (Gen. -JKHH) m . ,Stoppel' bzw. IITOÌKIIH (Gen. -i) f. stellen (Lysenko 166). Ostslawische E n t sprechungen sind aruss. (auch abg.) u n d russ. dial. lna»HTB f. ,Viehweide, T r i f t ; Wiese' (Vasmer 2, 300; Machek 440). D a s von Machek 440 e r w ä h n t e angeblich polnische dialektale W o r t ist nicht polnisch, sondern pomoranisch. So sind die d u r c h J . Karlowicz ( S G P 4, 65) u n t e r d e m L e m m a paz^c a n g e f ü h r t e n F o r m e n pazec , m u r a w a ' (Hilferding 175) u n d pazyc ,Wiese, R a s e n ' ( R a m u l t 132) genauer als \pazdc (Gen. -e) f. R a s e n platz, H ü t u n g , Weide' im Nordpomoranischen, Westkaschubischen, i m Seefelder Dialekt, d e m Zentralkaschubischen, Südostkaschubischen, in Oslawdamerow, Reckow usw. belegt (L 619), zu schreiben. Karlowicz' pazyca ist m i t L o r e n t z ' Ipazaca f. identisch, das im Slovinzischen u n d K a r l e k a u galt (L 619). F ü r Karlowicz' pazyce oder pqzyce (sie!) ,kleine Wiesen', das er nach N a d m o r s k i 28 zitiert, gibt es keinen Nachweis bei Friedrich Lorentz. Die f ü r die richtige Etymologie so wichtige pomoranische F o r m pazqc (L 619) ist u . a. f ü r die Dörfer Grünhof und bereits bei d e m Lexikographen P o blocki (P.) belegt. Vasmer, der die pomoranischen Belege nicht k a n n t e , h a t die E t y mologie verfehlt, d a er, indem er sich auf V. J a g i c u n d R . T r a u t m a n n berief, russ. InajKHTB ,,Zu pa- und ziti , l e b e n ' " stellte (Vasmer R E W 2, 300). Machek 4 4 0 , d e r außer den tschechischen F o r m e n pazit, slk. pazW a u c h gerade p m . pazenc (somit gibt er Lor e n t z ' pazqc, s. o., etwas verunglückt wieder) k a n n t e , h a t die richtige Etymologie aufgestellt. E r setzt ursl. *pa-zbn-tb an, das einmal *pazf-tb ergeben h a t , zu fassen in p m . pazqc, pazac — u n d z u m andern sich zu *pazitb entwickelte (bn w u r d e zu i). Sehr einleuchtend zur Motivation dieser Bezeichnung heißt es bei i h m : , , J a k o pa-seka (viz) je misto v lese, k d e k r o v i n o v y porost byl p o s e k à n , t a k i p a - z B n t B je p a k misto (pole, louka) p o z a t é , od znu ziti" (Machek 440). 1.4. ukr.-russ.-abg.-skr.sln.-pm. *sijäti. Auf ursl. *sijati ,glänzen, (aus)-strahlen' (vgl. T r a u t m a n n B S W b . 304 b.-sl. osiiäieti ,scheint, leuchtet') gehen u k r . CÌ'HTH ,leuchten' (rpHHTOHKo 4, 129), russ. CHIhtb .strahlen, glänzen', aruss. abg. sijati, slowen. sijàti ,glänzen', skr. sijati, sjäti ,glänzen' sowie p m . sdiac ,brennend heiß sein (p. palac), H i t z e a u s s t r ö m e n lassen' ( L H 232) zurück. — Dazu k e n n t das Pomoranische noch die Ableitungen sdì , R a u c h e r ' (ErNa) und p m . sdiöwlca ,Raucherin' ( L H 233). 2. eine „ u n r e i n e " Isolexe: *klizati : *klizikovati. Auf ein ursl.-dial. *ldizati (T 10, 49) ist das W o r t des niederen Stils u k r . lKJiH3aTH ,schreiten' zurückzuführen. I n der Bedeut u n g k o m m e n skr. KJiH3aTii ce ,gleiten' (wozu die Ableitungen skr. KJTH3&B ,glitschig, g l a t t ' , KJIH3BK dass.) u n d tsch. dial. klizati ,gleiten' a m nächsten. Die pomoranischen i m p e r f e k t i v e n Verben \kliz-dk-ov-a-c ,schaukeln, wiegen' (unveröffentlicht in den E r gänzungen der N a c h t r ä g e zum Pomoranischen W b . , aus St. P e s t k a / M S 274.341) u n d ^klizdkovac ,sq ,schaukeln, w i p p e n ' — S y c h t a 7, 120) stellen dazu m i t d e m D e m i n u t i v suffix -dk—ovac gebildete Ableitungen d a r , die strukturell m i t p . lazikowac zu ver-
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HINZE,
Ukrainisch-pomoranische Isolexen
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g l e i c h e n s i n d . E i n e p o m o r a n i s c h e A b l e i t u n g zu d e n s o e b e n g e n a n n t e n V e r b f o r m e n i s t d a s S u b s t a n t i v Ikliziköwka , W i p p e , bes. in F o r m eines ü b e r eine T o n n e gelegten B r e t t e s ' ( S y c h t a 7, 120). — D e s s t i m m h a f t e n -z- w e g e n i s t zu T r u b a c e v s u r s l a w i s c h e m d o p p e l t e n A n s a t z ^klizatijkVuzati (T 10, 49) n o c h a p . kluzawy , p e l z a j ^ c y , czolgajq,cy si§ (o g a d a c h i p l a z a c h , r e p t i l i s ) ' z u s t e l l e n ( A p . W b . 3, 289). D e m u r s l . -z- e n t s p r i c h t l i t . -£-; a l s o w i r d w e i t e r h i n d a s l i t a u i s c h e V e r b u m sliaüzti , k r i e c h e n , k l e t t e r n ' (T 10, 49) a l s u r v e r w a n d t d a m i t verglichen.
Abkürzungen 1. Literaturabkürzungen
:
Ap. Wb. = Slownik staropolski, Warszawa 1953ff.; Berneker (SEW) = E . B e r n e k e r , Slavisches etymologisches W b . I : A — morb, Heidelberg 1908 — 1913; rpiomeHKO = CjiOBapb VKpanHCKaro H3fciKa, PenaKTHpoBaJii. B. fl. r p h h > i e h k o , 4 Bde., Kieei. 1907 — 1909; Hilferding — A. O . F i i J i b i f i e p f l H H n . , OcTaTKH cjiaBHHT> Ha lOMtHOMt 6epery SaJiTiiiicKaro Mopn, CII6. 1862; L = F . L o r e n t z , Pomoranisches Wörterbuch, Bd. I : A —P, Berlin 1958 ( = D A W zu Berlin. Veröff. I n s t , f ü r Slawistik. Hg. von H . H . B i e l f e l d t . Sonderreihe Wörterbücher); L H = F . L o r e n t z , Pomoranisches Wörterbuch, Bd. I — V, f o r t g e f ü h r t von F . H i n z e . . . , Berlin 1971 — 1983; Lysenko = IL C. J l n c e H K O , C J I O B H H K nonicbKHX ronopin, K H I B 1974; Machek = V. M a c h e k , Etymologicky slovnik j a z y k a ceského. Druhé, opravené, doplnéné vydäni, P r a h a 1968; MS = modra struna. antologia poezji kaszubskiej, Gdansk 1973; Nadmorski = Lggowski; t g g o w s k i = J. L ^ g o w s k i (Dr. N a d m o r s k i ) , K a s z u b y i Kociewie . . . , P o z n a n 1892; OLA, F r a g e b u c h = BonpocHHK OSmecnaBHHCKoro jihurrincthhechoro a r a a c a , M. 1965; P . = Slownik kaszubski z dodatkiem idyotyzmów chelminskich i kociewskich ulozyl X . G. P o b l o c k i , Chelmno 1887; R a m u l t = St. R a m u l t , Slownik jazyka pomorskiego czyli kaszubskiego, K r a k o w 1893; R u d n . = Ukrainisch-deutsches Taschenwörterbuch . . . von J . R u d n i c k y j , Berlin 4 1943; S G P = J . K a r l o w i c z , Slownik gwar polskich, t . 1—6, K r a k o w 1900 — 1911; Slawski S E J P = F . S l a w s k i , Slownik etymologiczny jgzyka polskiego, K r a k o w 1952 ff. ; Slownik prasl. 5 = Slownik praslowianski Oprac. przez Zespól I n s t y t u t u Slowianoznawstwa P A N pod red. F . S l a w s k i e g o , t . V : drbgati — dbravb, Wroclaw—Warszawa —Krakow—Gdansk —Lodz 1984; Sy. = B. S y c h t a , Slownik gwar kaszubskich n a tle k u l t u r y ludowej, t . 1—6, 1967 — 1973; Sy. 7 = B. S y c h t a , Slownik gwar kaszubskich n a tle k u l t u r y ludowej, t . V I I . Suplement, Wroclaw—Warszawa — K r a k o w — G d a n s k 1976; T = 3 T H M O .1 O r H I e C K H i l caonapb C J I A B H H C K H X H 3 B I K O B . IIpao.'iaBsrncKHii jieKCHqecKHii (jiOHp,. n o n pej^. O. H. T p y ß a q e B a , M. 1974ff.; T r a u t m a n n B S W b . = R . T r a u t m a n n , Baltisch-slavisches Wb., Göttingen 1923; Vasmer ( R E W ) = M. V a s m e r , Russisches etymologisches Wörterbuch, 3 Bde., Heidelberg 1950 — 1958. I
2.
Wortabkürzungen
abg. = altbulgarisch; b.-sl. = baltisch-slawisch; dial. = dialektal; E r N a = Ergänzungen der N a c h t r ä g e zum Pomoranischen W b . ; p. = polnisch; p m . = pomoranisch; P t P f P a s s = P a r t i z i p P e r f e k t Passiv; skr. = serbokroatisch; ukr. = ukrainisch; ursl.-dial. = urslawisch-dialektal.
Z. Slaw. 35 (1990) 5, 7 5 4 - 7 6 1
H.W. Schaller
Altostslawisch — Altukrainisch — Altrussisch Zur Problematik
der drei
Bezeichnungen1
„Altostslawisch", „ A l t u k r a i n i s e h " und „Altrussisch" — drei Bezeichnungen, von denen die erste mehr oder weniger neu in die Diskussion eingeführt werden soll, „Altukrain i s c h " bisher nur ganz selten gebraucht wurde, während der d r i t t e Begriff „Altrussisch" — in der russischen sprachwissenschaftlichen Terminologie als „apeBHepyccKHii h3hk", vereinzelt auch als „CTapopyccKHii h3hk" — allgemein geläufig ist, jedoch grundsätzliche Probleme m i t seiner A n w e n d u n g v e r b u n d e n sind. Zu dieser Frage h a t K . G u t s c h m i d t einen grundlegenden Beitrag unter d e m Titel „ Z u r F r a g e der Stellung der ostslawischen Sprachen unter diachronischem und synchronischem A s p e k t " vorgelegt 2 , wobei er zunächst feststellt, d a ß das Ostslawische nach seiner Ausgliederung aus d e m Ur- bzw. Gemeinslawischen eine relativ einheitliche G r u n d s p r a c h e der drei späteren Einzelsprachen dargestellt h a b e n m u ß , und u. a. a n f ü h r t , d a ß m a n bei der diachronischen Darstellung der ostslawischen Sprachen von einem S p r a c h s t a d i u m des „Altrussischen" ausgehe, d a n n die Herausbildung der Einzelsprachen als Verzweigung des S t a m m b a u m e s beschreibe, während das Altrussische wiederum auf das Urslawische und Indogermanische zurückgehe, so d a ß K . G u t s c h m i d t von der zeitlichen Abfolge „Indogermanisch-Urslawisch- oder davor noch Baltoslawisch-Ostslawisch(Altrussisch)-Russisch, Ukrainisch, Belorussisch(= Weißrussisch)" ausgeht. G u t s c h m i d t s c h e i n t d e m n a c h die Bezeichnung „Ostslawisch" gegenüber „Altrussisch" f ü r diese älteste schriftlich belegte E p o c h e des Ostslawischen vorzuziehen, wobei selbstverständlich auf die F r a g e des Zeitraumes der Aufteilung des Ostslawischen in drei Einzelsprachen noch einzugehen sein wird. D a r ü b e r hinaus ist der Beitrag K . G u t s c h m i d t s noch u n t e r einem anderen A s p e k t von grundlegender B e d e u t u n g f ü r die F r a g e der diachronischen und synchronischen B e t r a c h t u n g der ostslawischen Sprachen, da er n ä m lich weitere Ü b e r e i n s t i m m u n g e n zwischen Ukrainisch und Weißrussisch einerseits sowie Tschechisch u n d Polnisch andererseits u n t e r Ausschluß des (Groß-)Russischen aufzeigt, wodurch sich beide ostslawische Sprachen v o m Russischen a b h e b e n , so u. a . d u r c h die K o n s o n a n t e n a l t e r n a t i o n e n i m D a t i v / L o k a t i v der Feminina, d e m Gebrauch des Vokativs, während im Russischen der S t a m m in den b e t r e f f e n d e n Flexionsparadigmen vereinheitlicht wurde, ein Vokativ im Großrussischen nicht m e h r verwendet wird. W a s den Begriff „Altostslawisch" b e t r i f f t , so ist hier zunächst A. V. Issatschenko a n z u f ü h r e n , der in seiner „Geschichte d e r russischen S p r a c h e " , die die E n t w i c k l u n g dieser ostslawischen Sprache von den A n f ä n g e n bis z u m E n d e des 17. J h . behandelt, nicht n u r von „Ostslawen", sondern a u c h von einem „ F r ü h o s t s l a w i s c h e n " spricht 3 , 1 2
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Vortrag, gehalten anläßlich des 7. Salzburger Slavistengespräches am 12. Oktober 1988. K. G u t s c h m i d t , Zur Frage der Stellung der ostslawischen Sprachen unter diachronischem und synchronischem Aspekt, in: Synchronischer und diachronischer Sprachvergleich. Bericht über die wissenschaftliche Arbeitstagung zu Ehren des 150. Geburtstages von August Schleicher, Jena 1972, S. 1 7 7 - 1 8 2 . A. I s s a t s c h e n k o , Geschichte der russischen Sprache. Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ende des 17. Jahrhunderts, Heidelberg 1984, S. 24.
H. W.
SCHALLER,
Altostslawisch — Altukrainisch — Altrussisch
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was dazu anregt, hier auch den Begriff „Altostslawisch" zur Diskussion zu stellen. E s ist bestens bekannt, daß so gut wie alle Fachvertreter von einer ostslawischen Spracheinheit ausgehen, daß diese aber kaum als ,,Ostslawisch" oder überhaupt nicht als „Altostslawisch" bezeichnet wird, sondern der seit langem von der russischen Sprachwissenschaft eingeführte Begriff „apeBHepyccKHH H3HK" d a f ü r verwendet wird. Schlägt man z. B. N. N. Durnovos Einführung in die Geschichte der russischen Sprache auf 4 , so fällt dort sofort die Behauptung auf, daß gegenwärtig — zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Werkes im J a h r e 1909 und 1927, dem Zeitpunkt der Herausgabe einer weiteren Auflage — d r e i r u s s i s c h e S p r a c h e n vorhanden seien, nämlich eine eigentlich russische, dann eine ukrainische und eine weißrussische. Erwähnt wird auch der Versuch der Konstituierung einer vierten russischen Literatursprache, nämlich der karpatorussischen — gemeint ist der karpatoukrainischen. Demgegenüber sind seine weiteren Ausführungen zur russischen Literatursprache nachvollziehbar, wenn er u . a . a n f ü h r t , daß das Russische sich aus dem Kirchenslawischen russischer Redaktionen, das in der alten Rus' in der Eigenschaft einer Literatursprache Verwendung fand, hervorging, wobei Elemente der gesprochenen russischen Volkssprache in sie eindrangen, nämlich in den ersten J a h r h u n d e r t e n ihres Bestehens, 11.—13. J h . , aus dem südlichen Russischen — namentlich der Kiever Koine, später seit dem 14. J h . aber aus der Moskauer Rus', in der südlichen und westlichen Rus' aus dem Ukrainischen und aus dem Weißrussischen. Ein weiteres Problem im Zusammenhang mit den drei Bezeichnungen „Altostslawisch", „Altukrainisch" und „Altrussisch" stellt sich mit dem Zeitraum des Zerfalls der ursprünglichen ostslawischen Spracheinheit, der nach Auffassung mehrerer ukrainischer Sprachwissenschaftler sehr f r ü h begonnen hat 5 . P. J a . Öernych verfolgt z. B. die Spaltung des „Gemeinostslawischen" als russischer Sprachwissenschaftler in die Zeit des 13. J h . zurück, also die Epoche der Auflösung des Kiever Reiches durch die Tataren im J a h r e 1240, obwohl es einzelne Texte aus vortatarischer Zeit mit ukrainischen Merkmalen gibt 6 . Von Anfang des 14. bis zur Mitte des 17. J h . hat es im Großfürstent u m Litauen bekanntlich eine sog. westrussische Kanzleisprache gegeben, die sowohl russische als auch ukrainische bzw. weißrussische Merkmale aufwies. Diese westrussische Kanzleisprache entwickelte sich unabhängig von der Moskauer Gemeinsprache, k a m jedoch bald wieder aus dem Gebrauch. Demnach k a n n die westrussische Kanzleisprache wohl nicht als Grundlage der heutigen ukrainischen und weißrussischen
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H. H. flypHOBO, BBeneHHe B HCTopmo pyccKoro H3tiKa, M. 1909, S. 27. Eine weitere Auflage des Werkes erschien 1927 in Brno. vgl. hierzu die Ausführungen V. K i p a r s k y s : Russische historische Grammatik, Bd. I, Heidelberg 1963, S. 17: „Ein Problem für sich bildet natürlich der Zerfall der ostslavischen Spracheinheit. Es ist verständlich, daß einige ukrainische Gelehrte ihn möglichst früh beginnen lassen wollen, aber auch ernste nichtslavische Forscher, die man keineswegs eines ukrainischen Chauvinismus beschuldigen darf, wie z. B. der Schwede Knut-Olaf Falk 1951, 256, verlegen den Beginn der ,durch schriftliche Zeugnisse dokumentierten ukrainischen Sprachgeschichte' ins 10. Jahrhundert, also ein ganzes Jahrhundert vor dem ältesten russisch-kirchenslavischen Denkmal und ein halbes Jahrhundert vor der Christianisierung Rußlands." P. J. Cernych = P. J. T s c h e r n y c h , Historische Grammatik der russischen Sprache, Halle (Saale) 1957, S. 14.
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Z. Slaw. 35 (1990) 5
Schriftsprache b e t r a c h t e t werden 7 . L i t e r a t u r in ukrainischer Sprache g a b es längst, während russische Sprachwissenschaftler i m m e r wieder die Existenz einer ukrainischen S p r a c h e b e s t r i t t e n . E r s t im J a h r e 1906 beschloß die Akademie in P e t e r s b u r g , d a s Ukrainische als selbständige Sprache zu b e t r a c h t e n , aber noch 1907 v e r t r a t A. I . Sobolevskij die Auffassung, d a ß das „Kleinrussische" u n d auch das Weißrussische n u r Dialekte ein u n d derselben Sprache, nämlich des (Groß-)Russischen seien 8 . Vom Weißrussischen als einer selbständigen Sprache spricht m a n gar erst seit der Revolution von 1917, als d e n Weißrussen die Selbstbestimmung zugesprochen w u r d e u n d diese sich auf der Grundlage einer südwestlichen M u n d a r t des Minsker Gebietes eine Schrifts p r a c h e schufen. H e u t e ist zwar die u n a b h ä n g i g e E x i s t e n z der beiden ostslawischen S c h r i f t s p r a c h e n Ukrainisch u n d Weißrussisch neben d e m Großrussischen u n b e s t r i t t e n , die tatsächliche B e d e u t u n g des Großrussischen im täglichen Gebrauch nicht n u r auf d e m gesamten Gebiet der ostslawischen Sprachen, sondern auch der gesamten Sowjetu n i o n unübersehbar 9 . N u n ist aber die Zahl der in der einschlägigen wissenschaftlichen L i t e r a t u r g e n a n n t e n „ D i a l e k t m e r k m a l e " des Ostslawischen nicht gerade groß, so d a ß m a n wohl von einer weitgehenden ursprünglichen Einheitlichkeit dieses Bereichs der slawischen Sprachen ausgehen m u ß . Letztendlich f i n d e n sich größtenteils n u r S p u r e n einzelner erfolgter oder a u c h nur ansatzweise nachweisbarer Lautprozesse sowie Anzeichen abweichenden Verhaltens von W o r t f o r m e n u n d Flexionsendungen, aber a u c h die Zahl der von d e n Lautgesetzen b e t r o f f e n e n W ö r t e r ist ziemlich gering, wie V. Kip a r s k y seinerzeit überzeugend dargelegt hat 1 0 . P . J a . Öernych, Verfasser der b e k a n n t e n , auch aus d e m Russischen ins Deutsche übersetzten „Historischen G r a m m a t i k der russischen S p r a c h e " , geht f ü r das Altrussische d a v o n aus, d a ß die Schriftsprache in d e n beiden V a r i a n t e n der L i t e r a t u r s p r a c h e — B u c h s p r a c h e und Kanzleisprache bzw. Geschäftssprache u n d gesprochene Umgangssprache — als Sprache des gesamten Volkes zu sehen sei 11 . Die Geschichte der altrussischen Sprache ist f ü r ihn die Wissenschaft von einer a l t r u s s i s c h e n Volkssprache u n d ihrer weiteren Entwicklung, vor allem der U m g a n g s s p r a c h e der ostslawischen Bevölkerung im alten R u ß l a n d , wonach er der ostslawischen Bevölkerung eine, n ä m lich die russische, Volkssprache zuordnet 1 2 . Selbstverständlich darf hier der Hinweis n i c h t fehlen, d a ß die altrussische Bevölkerung, die d e n Kiever S t a a t errichtete, nicht n u r eine altrussische Sprache mündlich b e n u t z t e , sondern gegebenenfalls a u c h in dieser Sprache schrieb. N i c h t i m m e r , heißt es bei Öernych, schrieben sie aber in ihrem heimischen O s t s l a w i s c h , sondern b e d i e n t e n sich a u c h des Altslawischen ( = Altkirchenslawisch bzw. Altbulgarisch) als einer allgemeinen slawischen L i t e r a t u r s p r a c h e . Wichtig erscheint n u n die Tatsache, d a ß sich Öernych offensichtlich der von i h m g e b r a u c h t e n Terminologie nicht so ganz sicher ist, w e n n es in seiner Darstellung der historischen
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V. K i p a r s k y , Russische historische Grammatik, Bd. I, Heidelberg 1963, S. 17f. A. H. CoßoJieBCKHli, Jlem^H no H C T o p i r a pyccKoro H 3 b i K a , M. 1907, S. 3. vgl. hierzu z. B. M. A. K a p n e H K o — H. A. CeMeHOB, PyccKHft H 3 H K B ceMbe ejjHHoö, K N E B 1980, S. 3, wo u. a. V. V. Vinogradov zitiert wird: „PyccKHÜ H3HK BCTynmi B Hoßyio a3y CBoeü HCTopiraecKoü OBOJIIOHHH B nocjieoKTHßpbCKHö nepwoffl H cnei(H(j)HKa (|IYHKL(M0HaJii.ii0CTpyKTypHoro ero pa3BHTHH B COBBTCKOM oömecTBe, B HOBHX coniiaatHtix ycJiOBHHX nenaeT ero „CB0e0Öpa3HHM, CaMOSblTHbIM HBJieHHeM B HCTOpHH MIipOBOtt Kyj7I.TVpLI." V. K i p a r s k y , op. cit., S. 73ff. P. J. T s c h e r n y c h , op.cit., S. 14. ebd., S. 14f.
H. W. SCHALLER, Altostslawisch — Altukrainisch — Altrussisch
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Grammatik des Russischen weiter heißt, daß die Bezeichnung „Russisch" von ihm aus gesehen im weitesten Sinne zu verstehen sei. H e u t e werde sie gewöhnlich nur auf das Großrussische angewandt, historisch gesehen ist es aber die Sprache, die sich infolge der Entstehung eines neuen russischen Reiches im Norden und Nordosten herausbildete, nachdem im 13. J h . das Reich der Rjurikiden, die ,,Kievskaja R u s " ' , zerfallen war. Da man aber die Geschichte des Russischen, gemeint ist sicher des Großrussischen, nicht losgelöst von der des gesamten Ostslawischen darstellen k a n n , beginnt die Geschichte des Russischen und dementsprechend auch ihre wissenschaftliche Beschreibung ebenso wie auch die Geschichte des Ukrainischen und des Weißrussischen gewöhnlich mit der altrussischen Sprache, zu verstehen als Sprache der Ostslawen in altrussischer Zeit, zuerst der Stammesdialekte der ostslawischen Völkerschaften, d a n n der altrussischen Völkerschaft vor der Herausbildung der einzelnen ostslawischen Nationen 13 . Ein Übergang zu Bezeichnungen wie „Frühostslawisch" und „Altostslawisch" wäre also nach all diesen Überlegungen durchaus denkbar. Von grundsätzlichem Interesse in Zusammenhang mit der Fragestellung „Altostslawisch — Altukrainisch — Altrussisch" sind selbstverständlich auch die Ausführungen V. Kiparskys, die er in seinem ersten Band der „Russischen Historischen G r a m m a t i k " gemacht hat. Dort lehnt er zunächst eine mögliche Einteilung der Geschichte der russischen Sprache in „Alt-, Mittel- und Neurussisch" ab, f ü h r t aber die Bezeichnung „Urrussisch" f ü r die Periode vom endgültigen Zerf all der Einheit des Urslawischen bzw. Gemeinslawischen bis zum Beginn der schriftlichen Überlieferung im 11. J h . ein. Dieses U r r u s s i s c h e läßt sich aber, wie es bei ihm weiter heißt, nur mit Hilfe von Lehnwortanalysen sowie Aufzeichnungen ausländischer Beobachter rekonstruieren 1 4 . Sogar f ü r die vorschriftliche Zeit wird hier also f ü r Ostslawisch der Begriff „Russisch" verwendet, während es sich hier doch wohl um das „Ostslawische" in seiner vorschriftlichen Epoche handelt, demnach also der Begriff „Urostslawisch" gegenüber einem denkbaren „Altostslawisch" oder „Gemeinostslawisch" angemessener zu sein scheint als etwa „Urrussisch". Innerhalb der eigentlichen altrussischen oder altostslawischen Entwicklung vom 11. bis zum 14.—15. J h . d ü r f t e es aber schwierig sein, rein lautliche Grenzen zu ziehen. Als solche kommen zwar in Betracht die Vokalisierung und der Ausfall der reduzierten Vokale sowie auch die Reduktion der unbetonten Vokale im Süd- und Mittelrussischen, d. h. die Entwicklung des Akanje. Die Entwicklung der reduzierten Vokale hat E n d e des 11. bis Anfang des 12. J h . stattgefunden, fällt also mit dem Beginn des altrussischen Schrifttums zusammen, während das Akanje nach den Vermutungen Kiparskys spätestens um 1300 entstanden sein kann, also gerade noch vor der endgültigen Entwicklung ostslawischer Kanzleisprachen 1 5 . Der Schwund der reduzierten Vokale in schwacher Position war dagegen von grundlegender Bedeutung f ü r die Entwicklung des russischen Konsonantismus und stellte eine der entscheidenden Bedingungen f ü r die Entwicklung einer eigenständigen ukrainischen Sprache dar. F ü r die Gesamtheit der ostslawischen Sprachen findet sich auch gelegentlich der Terminus „russische G r u p p e " , wobei m a n aber die Tatsache außer acht ließ, daß der Terminus „russisch" einmal zur Bezeichnung der gesamten ostslawischen Sprachgruppe und ein anderes Mal nur zur
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ebd., S. 14. V. K i p a r s k y , op. cit., S. 75ff. ebd., S. 74.
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Z. Slaw. 35 (1990) 5
Bezeichnung e i n e r ostslawischen Sprache,nämlich des (Groß-)Russischen, Verwendung fand. Solche terminologischen Unklarheiten stehen sicher zu der Behauptung in Beziehung, daß es keine selbständige ukrainische Literatursprache gäbe, sondern nur ein „kleinrussisches Idiom" = „MajiopocciiiicKoe Hapenne" der russischen Sprache, was u. a. auch dazu führte, daß im Jahre 1876 ein Verbot der ukrainischen Sprache im damaligen zaristischen Rußland ausgesprochen wurde, das zur Folge hatte, daß drei Jahrzehnte lang keine Veröffentlichungen in ukrainischer Sprache innerhalb Rußlands erscheinen konnten 16 . Wirft man einen Blick auf die Entwicklung der ukrainischen Sprache und die entsprechende wissenschaftliche Literatur, so zeigt sich sehr schnell, daß hier eigentlich keine klare Aufgliederung der Geschichte dieser Sprache ausfindig zu machen ist, wie dies beim Großrussischen der Fall war, wo etwa bis 1700 unbestritten von einer altrussischen Epoche gesprochen wird, der sich dann die neurussische unmittelbar anschließt. Für das Ukrainische finden sich kaum irgendwelche Hinweise auf eine solche Gliederung der Entwicklung der Sprache. Der Begriff „Altukrainisch" läßt sich m. W. nur in drei einschlägigen wissenschaftlichen Veröffentlichungen aufgrund des Titels belegen, ohne daß aber in der eigentlichen Abhandlung die führende Rolle der russischen Sprache und Kultur für die älteste Epoche schriftlicher Uberlieferung des Ostslawischen irgendwie in Frage gestellt werden würde. Es sind drei Veröffentlichungen, die den Begriff „Altukrainisch" direkt verwenden, nämlich: 1. CJIOBHMK CTapoyKpaiHCbKoi MOBH X I V — X V CT. y 2 - x T. KHIB 1 9 7 7 . 2. B . B . HHMHYK: CTapoyKpaHHCKan jieKCHKorpaijfflH. ABTope