Zeitschrift für Slawistik: Band 34, Heft 3 [Reprint 2021 ed.]
 9783112577929, 9783112577912

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SLAWISTIK

Französische Revolution und slawische Kulturen

iu Band 31 • 1989

LÜ M

3

Akademie-Verlag • Berlin

I S S N 0044 • :5306

Z. Slaw., Berlin 34 (19B9) .1, "527

478

Gestaltungshinweise für die Autoren Die Manuskripte sind in e i n e m Original mit z w e i Durchschlägen einzureichen und sollten einen Umfang von 25 Seiten nicht überschreiten. Die Manuskripte sind zu schreiben — auf Schreibmaschinenpapier F o r m a t A 4, — einseitig und zweizeilig, 30 Zeilen pro Seite, — mit kräftigem F a r b b a n d , deutlich lesbar (saubere Typen), — Absätze sind durch das Absatzzeichen kenntlich zu machen, nicht durch Einrücken. Zitate und Quellenangaben im Text müssen wortwörtlich mit dem Original übereinstimmen. Buch- oder Aufsatztitel, Zitate im laufenden Text werden in doppelte, Bedeutungsangaben in einfache Anführungsstriche gesetzt, z. B. lit. naga , H u f ' . Zitate sind in der Originalsprache zu bringen. Zitate aus kyrillischen Quellen sowie kyrillische Buchtitel sind unbedingt mit der kyrillischen Maschine (nicht mit der H a n d ) zu schreiben. Diakritische Zeichen müssen deutlich lesbar sein und sind notfalls mit der H a n d einzutragen. Personennamen werden im Normaldruck (nicht in Versalien) gebracht, kyrillisch geschriebene transkribiert (außer bei den Fußnoten). Hervorhebungen erfolgen nur durch Sperrung (gekennzeichnet durch unterbrochene Linie unter dem T e x t : ) oder durch Kursivdruck (Wellenlinie unter dem T e x t : Die Fußnoten sind fortlaufend zu numerieren und auf gesonderten Seiten — ebenfalls zweizeilig geschrieben — am Schluß des Manuskripts anzufügen. Sie müssen im Text und im Anmerkungsteil hinsichtlich ihrer Zahl und ihres Inhalts übereinstimmen. Die hochgestellten Fußnotenziffern im Text erhalten keine Klammern. Die Angaben in der F u ß n o t e sind in dieser Reihenfolge zu bringen: Vorname des Verfassers (abgekürzt), Familienname (gesperrt), Titel des Werkes bzw. des Artikels, ggf. Reihe, Band, Zeitschrift, Erscheinungsort und -jähr, Seite. Beispiele: P. B o e r n e r , Erinnerungen eines Revolutionärs. Skizzen aus dem J a h r e 1848, Bd. 2, Lpz. 1920, S. 83. JI. H . T o j i c T o f t , Co6p. C O H . B FLNA^ATH toMax, T. 1, M. 1960, S. 383. L. U d o l p h , Stepan Petroviö Sevyrev 1820 — 1836 ( = Bausteine zur Geschichte der Literatur bei den Slaven, Bd. 26), Köln —Wien 1986. Bei Zeitschriftenaufsätzen: D. R a d t k e , Zur Gebrauchsweise der Konjunktionen a und HO im Russischen, in: Wiss. Zs. der Ernst-Moritz-Arndt-Univ. Greifswald (GSR) 10 (1961), S. 5 1 - 5 6 . U. L e h m a n n , Werk und Leser im Wandel, in: ZfSl 33 (1988), S. 1 5 - 1 9 . Für häufig zitierte Werke ist ein Signum zu geben, das in einer F u ß n o t e oder (bei mehreren Werken) in einem speziellen Abkürzungsverzeichnis zu erläutern ist. Abkürzungen dürfen nur nach Duden (Abkürzungsverzeichnis) verwendet werden. Bei uns (in den Fußnoten) ständig abgekürzt: Berlin = Bln.; Leipzig = Lpz.; MoCKBa = M.; ^eHHiirpaA = JI.; Mocijua —JIciiHHrpa« = M.-JL; CaHKT—üeTepöypr = CI1G.; herausgegeben = hg. Korrekturen im Manuskript sind auf ein Mindestmaß zu beschränken und nur über der Zeile in Druckbuchstaben (nicht auf dem Rand) einzutragen. Manuskripte, die den genannten technischen Anforderungen nicht entsprechen, werden uns von der Druckerei nicht abgenommen. Solche Manuskripte gehen an den Autor zurück. In der Redaktion besteht keine Möglichkeit f ü r eine Abschrift von Manuskripten.

ZEITSCH RI FT FUI

SIAWISTIK BAND 34

1989

HEFT 3

Herausgeber: Zentralinstitute für Literaturgeschichte und für Sprachwissenschaft der Akademie der Wissenschaften der DDR REDAKTIONSBEIRAT R. Rüzicka (Vorsitzender), W. Smolik (Sekretär), W. Beitz, E. Dieckmann, G. Dudek, E. Eichler, D. Freydank, K. Gabka, W. Gladrow, E. Hexelschneider, A. Hiersche, G. Jäger, M. Jähnichen, K. Kasper, E. Kowalski, R. Lötzsch, P. Nowotny, G. Schaumann, H. Schuster-Sewc, I. Seehase, M. Wegner, H. Zikmund

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Französische Revolution und slawische Kulturen

A K A D E M I E - V E R L A G BERLIN

Die „Zeitschrift f ü r Slawistik" ist das zentrale Fachorgan der Slawistik in der D D R . I n ihr werden Sprachen und Literaturen, Folklore, Kulturgeschichte und Geschichte der slawischen Völker in Vergangenheit und Gegenwart untersucht. Spezialgebiete sind insbesondere die Sorabistik, die deutsch-slawischen Wechselbeziehungen auf den Gebieten der Sprache u n d der Literatur, die Namenforschung, die Geschichte der Slawistik und die Baltistik. — Tagungsberichte informieren über wichtige wissenschaftliche Konferenzen des In- und Auslandes. Rezensionen vermitteln einen Überblick über aktuelle Tendenzen und Entwicklungen in der internationalen slawistischen Forschung.

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SLAWISTIK

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Z. Slaw. 34 (1989) 3, 329-344 G. M. F r i e d l ä n d e r

Freiheit und Gesetz Puskin und die Große Französische

Revolution

1 Die Französische Revolution von 1789—1794 gehört zu den herausragenden Ereignissen der Weltgeschichte. Sie versetzte dem Absolutismus einen vernichtenden Schlag. Darüber hinaus war sie im Unterschied zu anderen, früheren bürgerlichen Revolutionen die erste bürgerliche Revolution, die nicht unter religiösem Vorzeichen (wie die englische Revolution des 17. Jahrhunderts) und nicht unter der Flagge des K a m p f e s u m nationale Befreiung (wie der amerikanische Unabhängigkeitskrieg), sondern unter dem Banner der Ideen staatsbürgerlicher Gleichheit und politischer Freisinnigkeit geführt wurde. Sie, die von den atheistisch und materialistisch eingestellten Aufklärern des 18. J a h r hunderts vorbereitet worden war, schrieb „Freiheit", „Gleichheit" und „Brüderlichk e i t " auf ihre Fahnen. Indes: Bei all ihrer historischen Bedeutung h a t t e die Große Französische Revolution auch ihre tragische Seite. Einem Bündnis zwischen den Bauern und dem bürgerlichen „dritten S t a n d " entsprungen, bereitete sie objektiv dem Sieg der bürgerlichen Gesellschaft den Boden. Neben den Ideen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verkündete sie als oberstes und unantastbares Prinzip das Prinzip des Privateigentums. Dadurch, daß die Französische Revolution das Privateigentum als „ewige", u n a n t a s t bare Grundlage der Gesellschaft proklamierte, verstrickte sie sich unausweichlich in unüberwindbare Antinomien. Denn sie, die einerseits die Volksmassen in deren K a m p f um die eigene Befreiung zu größtem Heldentum und höchster Selbstaufopferung stimulierte, brachte nicht nur die Klasse der Großeigentümer und Spekulanten hervor, die sich durch den Aufkauf von Nationalgütern bereicherten, sondern auch die noch zahlreichere Klasse des Kleinbauerntums. Diese Klasse der Kleinbauern wurde durch die Revolution der Feudallasten ledig und war, nachdem sie selbst über kleine Bodenanteile verfügte, ^zeitweilig mit dem von ihr errungenen Parzelleneigentum völlig zufrieden und daher nicht an einer weiteren Vertiefung der Revolution interessiert. D a h e r m u ß t e die Große Französische Revolution, u m an den Kriegsfronten die antirevolutionäre Koalition der europäischen Monarchen zu besiegen und um den Widerstand der Aristokraten und der neu hinzugekommenen Bourgeois zu unterdrücken, in den J a h r e n 1793/94 bei der Verteidigung ihrer Errungenschaften zum Terror greifen. Und nur dank dem Terror und dank der Einmischung breiter Massen von Stadtplebejern in den Gang der revolutionären Ereignisse vermochte es die Revolution, a n den äußeren Fronten den Sieg zu erringen sowie den Widerstand der Aristokraten und Neureichen im Landesinnern niederzuhalten. Doch der revolutionäre Terror der Jakobiner h a t t e notwendigerweise seine Kehrseite. E r zog einen Kampf innerhalb der herrschenden Partei nach sich, der ihre K r ä f t e untergrub. Als Robespierre Danton, Camille Desmoulins ebenso wie Jacques Roux, die Hébertisten und weitere „ E n r a g é s " auf die Guillotine geschickt hatte, verlor er die Mehrheit im Konvent und den Halt in den breiten Volksmassen. So erklärt sich, weshalb es seinen politischen Gegnern so vergleichsweise leicht gelang, den Sieg über ihn davonzutragen. Die D i k t a t u r des revolutionären Volkes wurde 1*

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schrittweise abgelöst von der persönlichen Diktatur Robespierres, Saint-Justs und ihrer wenigen Mitstreiter, d a n n — nach dem 9. Thermidor — von den Orgien der Thermidorianer und durch die Einrichtung des Regimes des Direktoriums, das der Macht Napoleons als „erstem K o n s u l " und d a n n als Kaiser den Weg bahnte. Die revolutionäre Macht der Pariser K o m m u n e und des Wohlfahrtsausschusses wich dem Regime des Imperiums, anstelle der Befreiungskriege der Revolution gab es nun die Eroberungskriege Napoleons I. Lange Zeit herrschte in der fortschrittlichen (darunter auch in der marxistischen) Geschichtsschreibung die Auffassung vor, daß eine negative Einstellung zum jakobinischen Regime dort, wo sie E n d e des 18. bis Anfang des 19. J a h r h u n d e r t s anzutreffen ist, s t e t s und ü b e r a l l von Schwächen im revolutionären Denken oder von direkt reaktionären Tendenzen zeuge. D a ß Goethe, Schiller, Hegel mit der ersten E t a p p e der Französischen Revolution sympathisierten, daß sie die allgemeinen Resultate der Revolution (die Goethe am Tage der Schlacht bei Valmy scharfblickend als die Geburtsstunde einer neuen Epoche der Weltgeschichte charakterisierte) akzeptierten, doch die Zeit des „Schreckens" (d. h. des jakobinischen Terrors) ablehnten, wurde in den meisten literaturwissenschaftlichen Arbeiten in der erwähnten Weise eingeschätzt. Indessen ist dieses Problem, wie wir heute sehen können, weitaus komplizierter. Ist es doch kein Zweifel, daß nicht nur Goethe und Schiller, sondern auch Radiscev, Karamzin, Babeuf, Saint-Simon, Balzac, Tolstoj und Dostoevskij, ja nahezu alle großen Schriftsteller und Denker des 18. und 19. J a h r h u n d e r t s zwar zutiefst mit dem Emanzipationspathos der Großen Französischen Revolution sympathisierten und deren allgemeine Resultate billigten, sich jedoch zur Periode des revolutionären Terrors äußerst reserviert (oder direkt ablehnend) verhielten. Bei den Menschen des 18. und 19. J a h r h u n d e r t s war das reservierte (oder negative) Verhältnis zur Epoche des Terrors d u r c h a u s n i c h t i m m e r e i n e F o l g e k o n s e r v a t i v e r Ü b e r z e u g u n g e n . Nicht selten resultierte ein solches Verhältnis aus anderen, tieferliegenden Motivationen: nämlich aus dem Bewußtsein der I n h u m a n i t ä t des Terrorregimes und seiner verhängnisvollen Folgen f ü r die Sache der wahren Emanzipation der Menschheit, mitunter aber auch aus tragischen Vorahnungen. Diese Vorahnungen entsprangen der mehr oder weniger deutlichen Vorstellung, daß der Terror der Jakobiner dahin geführt habe, daß eine abstrakte und gesichtslose Staatsmaschine noch mehr Macht über den Menschen gewann, eine Staatsmaschine, die von ihm e n t f r e m d e t ist und sich in eine selbständige, ihm feindliche K r a f t zu verwandeln droht und die fähig ist, den Schuldlosen wie den Schuldigen gleichermaßen erbarmungslos zu treffen. E b e n daher r ü h r t die negative Einstellung, die der größte Teil der ersten russischen Revolutionäre des 19. J a h r h u n d e r t s — die Dekabristen — wie auch der ihnen in seinem politischen Denken eng verbundene Puskin zum Regime des jakobinischen Terrors hatten. Puskin, der große Dichter und Humanist, schätzte, seit er das Alter der geistigen Reife erlangt hatte, die Französische Revolution und ihre historische Bedeutung stets hoch ein. Er begeisterte sich f ü r ^lirabeau, den „Revolutionslöwen" 1 , und hob ihn gleichzeitig entschieden von Robespierre (und Marat) ab. Letztere waren f ü r Puskin hervorragende Revolutionäre und Despoten in einem, die er mit anderen Tyrannen der Antike und Neuzeit — von Tiberius und Caligula bis zu P a u l I. und Napoleon — verglich. 1

K. Marx/P. Engels, Werke. Bd. 23. 17. Aufl. Bln. 1988, S. 774 ( = K . Marx, Das Kapital. Erster Band).

G. M. FRIEDLÄNDER, Puskin und die Französische Revolution

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In der negativen Einstellung der Dekabristen und Puskins gegenüber den Jakobinern sahen viele Historiker und Literaturhistoriker (zum Teil ist das heute noch der Fall) eine Nachwirkung der Ideen Madame de Staëls, Benjamin Constants und anderer liberaler französischer Schriftsteller und Historiker des frühen 19. Jahrhunderts. 2 Doch obgleich sowohl die Dekabristen als auch Puskin die „Considérations sur les principaux événements de la Révolution française" (1818) von Madame de Staël und die Arbeiten Benjamin Constants gut kannten (und Puskin in den 30er Jahren die Darstellungen der Geschichte der Französischen Revolution von A. Thiers und F. Mignet wie auch die „Histoire de la civilisation en France" und andere Arbeiten von F. Guizot aufmerksam studierte), führt uns in Wirklichkeit diese traditionelle Erklärung von einem richtigen Verständnis des Sachverhalts weg. Denn der Ausgangspunkt f ü r die Kritik an der Herrschaft der Jakobiner war f ü r Madame de Staël und andere liberale französische Historiker die Verteidigung der Unantastbarkeit des Eigentums. Als Ideologen der nachrevolutionären Bourgeoisie sahen sie, worauf Larisa Vol'pert und ihre Vorgänger zutreffend hingewiesen haben, im Privateigentum das „Allerheiligste", den Eckstein des Gesellschaftsgebäudes. 3 Puskin und die russischen Adelsrevolutionäre jener Epoche hingegen kritisierten den Terror der Jakobiner in erster Linie unter anderen — politischen und sittlich-humanistischen — Aspekten. Die Verteidigung des bürgerlichen Eigentums war ihnen im höchsten Grade fremd: Davon zeugen allein schon Puskins „nyTeinecTBiie na MOCKBBI B IleTepßypr" (1834/35) und sein Aufsatz ,„II,>KOH TeHHep" (1836). Diesen prinzipiellen Unterschied zwischen der Ideologie der russischen Adelsrevolutionäre und Puskins und der der liberalen französischen Publizisten vom Anfang des 19. Jahrhunderts hat erstmals Michail Lifsic 1936 in seiner Polemik gegen Andrej Sebunin und Boris Tomasevskij zu Recht hervorgehoben. 4 2

Während seines gesamten Lebens brachte Puskin der Epoche der Großen Französischen Revolution immenses Interesse entgegen. Ihren Ereignissen wandte er sich in seinem dichterischen Schaffen immer wieder zu: von der Ode „BojibHOCTb" (1817) bis zu dem Gedicht „K BejibMo?Ke" (1830). In „Apan IleTpa BejiHKoro" (1827) wird die französische Gesellschaft der vorrevolutionären Epoche knapp, aber markant charakterisiert. In den Aufsätzen f ü r die „JIiiTepaTypHaH ra3eTa" und den „CoBpeMeHHHK" k e h r t der D i c h t e r in den 30er Jahren mehrmals zu verschiedenen Aspekten dieses Themas zurück. 1831 plant er eine spezielle historische Studie über die Revolution, sammelt dafür Material, verwirklicht diese Absicht aber dann doch nicht und hinterläßt lediglich einige E n t würfe, Exzerpte und Skizzen. Anzumerken wäre noch, daß Puskins Bibliothek eine große Sammlung der verschiedenartigsten Bücher und Quellen zur Revolutionsgeschichte enthält. Man findet hier sowohl die gegen die Französische Revolution gerichteten Pamphlete

2

vgl.: B. ToMameBCKHö, IlyiiiKHH H OpamiHH, JI. 1960, S. 179, 194, 208; JI. M. B o j i b n e p T , A. C. r i y i i i K H H H r-»ta ^e GraJib, in: paHny3CKHii e w e r o j i H H K . 1972, M. 1974, S. 286—303 (vgl. dort das Verzeichnis der bisherigen Literatur zu dieser Frage); JI. H. BoJibiiepT, I l y i i i K H H n o c j i e B o c c T a H i i a A e K a 6 p H C T O B H K H H r a M-M «e Oranb o paHqy30K0M peBOJUounii, in: IlyiiiKHH-

3

JI. 11. B o j i b n e p T , A. C. IlyiiiKHH H r - » a «e Oranb, S. 287.

4

M . A . . 1 n ( f > u i u q , r i y i n K H i i C K H ü B p e M e H H H K , i n : J I i i T e p a T y p H b i f t KpiiTHK 1 2 / 1 9 3 6 , S . 2 4 3 — 2 5 0 .

CKHÜ c ö o p H H K , ITCKOB 1 9 6 8 , S . 1 1 4 — 1 3 1 .

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von P . J . Nougaret (1797) und E. ß u r k e (in der französischen Übersetzung von 1823) als auch ein umfangreiches Konvolut von Memoiren und Dokumenten zur Geschichte der Revolutionsepoche (die 1821 erschienenen Materialien über die Prozesse gegen Ludwig XVI., Marie-Antoinette, Madame Élisabeth und Philippe d'Orléans; die vierbändige Ausgabe der „Débats de la Convention nationale" von 1828; die Werke und Briefe Mirabeaus sowie biographisches Material über ihn ; die „Collection des mémoires à la Révolution française" in 23 Folgen, die Berville und Barrière zwischen 1821 und 1825 herausgaben; u. a. m.). 5 Darüber hinaus k a n n t e Puskin die Bücher von Madame de Staël (1816 bis 1818), J . Ch. Bailleul (1822) und A. Thibaudeau (1824) über die Revolution, die „Histoire de la Révolution française" von F. Mignet und die gleichnamige Arbeit von A. Thiers, die „Histoire de la civilisation en France" und den „Cours d'histoire moderne" von F. Guizot (1828—1832), die Geschichte der 'Revolutionskriege von Jomini, die künstlerischen Werke über die Revolution, die die ihm zeitgenössischen französischen Dichter und Schriftsteller (J. J a n i n , Ch. Nodier, A. de Vigny u. a.) verfaßt hatten — ganz zu schweigen vom Schaffen E . Lebruns, A. Chéniers und anderer Dichter der Revolutionsepoche. Puskin war kein Zeitgenosse der Französischen Revolution. Seine Kindheit und sein Knabenalter fielen in die Epoche Napoleons. In dieser Zeit wurde die Herrschaft Napoleons zwangsläufig als das historische Resultat der K e t t e der revolutionären Ereignisse angesehen, die dieser Herrschaft vorangegangen waren, Napoleon den Weg zur Macht ebneten und seine Eroberungskriege vorbereiteten. Dies alles m u ß t e — besonders in Rußland — auf die eine oder andere Weise bis zu einem bestimmten Moment auch auf die Revolution selbst einen Schatten werfen. Nicht zufällig ist in Puskins f r ü h e n Werken die Sicht auf die Ereignisse der Französischen Revolution mit einer Wertung Napoleons verknüpft, wird die Hinrichtung Ludwigs X V I . als unmittelbarer Prolog zur Thronbesteigung des „Tyrannen" betrachtet, dessen „meuchlerischer P u r p u r m a n t e l " danach als schwere Bürde auf Frankreich und dem französischen Volk lastete und beide mit einer neuen, schlimmeren K e t t e „fesselte". Erst als nach Napoleons Sturz eine gewisse Zeit verstrichen war, f a ß t e der junge Puskin Napoleon nicht mehr nur als Ausgeburt der Revolution, sondern auch als deren „Mörder" auf, was eine wesentliche Veränderung in der Haltung des Dichters zur Revolution nach sich zog. Noch wichtiger ist jedoch etwas anderes. Die Ereignisse der Französischen Revolution waren f ü r Puskin kein Gegenstand abstrakten historischen Interesses. Puskins Einstellung zu ihnen war stets eng mit den ihn beschäftigenden Problemen des russischen Lebens verbunden, desgleichen — insbesondere in den 20er und 30er J a h r e n — mit den brennenden und aktuellen Fragen des Lebens der Völker Europas und der gesamten Menschheit. Wesentlichen Einfluß auf Puskins Ansichten h a t t e hierbei, d a ß er nach den historischen K r ä f t e n des russischen Lebens suchte, die dessen Umgestaltung befördern könnten. Und hier spielte — ungeachtet aller historischen Veränderungen und Umwälzungen in den Ansichten des Dichters — eine besonders wichtige Rolle in'Puskins Einschätzung der Ereignisse der Französischen Revolution, daß der Dichter den fortschrittlichen und denkenden Adel als notwendiges historisches Glied in den komplizierten Wechselbeziehungen zwischen der Selbstherrschaft und dem „einfachen Volk" in Rußland wertete. Seit seinen frühen Lebensjahren empfand Puskin tiefe Sympathie 5

vgl.: B. Jl. MoA3ajieBCKHii. BufawoTeKa nyuiKHiia, CIIC. 1910.

G. M. FRIEDLÄNDER, Puskin und die Französische Revolution

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f ü r den russischen B a u e r n u n d f o r d e r t e dessen B e f r e i u n g von der Leibeigenschaft. Doch obwohl P u s k i n in „flepeBHn" (1819) wie auch in den B e m e r k u n g e n zur russischen Geschichte des 18. J a h r h u n d e r t s die A u f h e b u n g der Leibeigenschaft und die V e r ä n d e r u n g der Lebensbedingungen des Volkes als eine notwendige Bedingung f ü r die allgemeine Veränderung der politischen und sozialen Ordnung des damaligen R u ß l a n d a u f f a ß t e , ließ er bis zum E n d e seines Lebens nicht ab, den fortschrittlichen u n d d e n k e n d e n Adel als ein Bollwerk zu b e t r a c h t e n , das nicht nur f ü r den russischen S t a a t , sondern a u c h f ü r die B a u e r n s c h a f t s e l b s t u n a b d i n g b a r sei und die G a r a n t i e f ü r deren Freiheit, Unabhängigkeit u n d W o h l s t a n d darstelle. Und dies ü b t e einen u n m i t t e l b a r e n E i n f l u ß auch darauf aus, wie P u s k i n den französischen Adel u n d dessen Rolle in der E p o c h e der Großen Französischen Revolution beurteilte. P u s k i n neigte d a z u , in R u ß l a n d den als S t ü t z e der Selbstherrschaft dienenden Adel von den besten unabhängigen V e r t r e t e r n der Adelsklasse abzuheben, die — wie die Dekabristen — von ihren adligen V o r f a h r e n nicht nur die in den ruhmreichen Chroniken der russischen Geschichte verewigten N a men, sondern auch deren Eigenschaften (Ehre, Edelsinn, U n a b h ä n g i g k e i t v o m T h r o n , t i e f e m p f u n d e n e V e r a n t w o r t u n g vor R u ß l a n d u n d der russischen K u l t u r ) ererbt h a t t e n . Auf ähnliche Weise unterschied P u s k i n zwei gegensätzliche Teile des französischen Adels in der Revolutionsepoche. I m Unterschied zu der p a r a s i t ä r e n H o f a r i s t o k r a t i e u n d d e n Provinzgutsbesitzern, die a n den alten Methoden f e s t h a l t e n , sah P u s k i n d e n f o r t schrittlichen Teil des französischen Adels des 18. u n d der f r ü h e r e n J a h r h u n d e r t e als einen organischen Bestandteil der französischen N a t i o n an, ohne d e n der Glanz d e r französischen K u l t u r , die militärische Vergangenheit F r a n k r e i c h s u n d seine r u h m r e i c h e n historischen Traditionen nicht d e n k b a r wären. Deshalb w a n d t e sich P u s k i n 1831 in seinen Bemerkungen über die Französische Revolution heftig gegen Sieyes, der erklärt h a t t e , die N a t i o n sei m i t d e m d r i t t e n S t a n d identisch (d. h. Adel u n d Geistlichkeit gehörten nicht zu ihr), 6 und schrieb 1830 in einem R o h e n t w u r f : ,,B KpHKe ,,les aristo(crates) ä la l a n t e r n e " — ORHH N;a.NKNFT anH30A ({ip(aHny3CK0ii) p(eBOJiK)i;HH) — r a ß Kan apca B orpoMHoft flpaMe" (XI, 171, vgl.: X I , 282). P u s k i n war (ebenso wie den meisten seiner Zeitgenossen) nicht b e k a n n t , d a ß weder Marat noch Robespierre, die in den Ideen Rousseaus erzogen waren, den Terror absolut setzten (beide sahen d e n Terror als eine zeitweilige, erzwungene M a ß n a h m e an), d a ß beide nach der F l u c h t Ludwigs X V I . nach Varennes eine Zeitlang gegen dessen Verurteilung waren u n d d a ß die J a k o b i n e r nach d e m Sieg des Bergs über die Gironde den verurteilten Girondisten H a u s a r r e s t gewährten. Vermutlich w u ß t e der D i c h t e r a u c h nicht, d a ß Robespierre dagegen war, d a ß F r a n k r e i c h der europäischen Koalition d e n Krieg erklärte, weil er meinte, es sei die H a u p t a u f g a b e der Gesetzgebenden V e r s a m m lung, die revolutionären Veränderungen in Frankreich selbst zu E n d e zu f ü h r e n . U n d sicher h a t t e P u s k i n auch d a v o n keine K e n n t n i s , d a ß die Politik des revolutionären Terrors den J a k o b i n e r n faktisch von ihren Gegnern gewaltsam aufgezwungen worden war: Diese Politik war u n t e r d e n besonderen Bedingungen, wie sie in den J a h r e n 1793/94 (bis zum Sieg bei Fleurus) gegeben waren, d a s einzige Mittel, u m an d e n F r o n t e n zu siegen und die Revolution zu E n d e zu f ü h r e n ; hinzu k o m m t , d a ß u n t e r den V e r f e c h t e r n des Terrors eine große Anzahl von Kleinbürgern u n d S p e k u l a n t e n waren, wobei sich 6

A. C. IlyiilKHH, IIOJIH. coßp. co1!. B 16-TH T O M a x , M. 1949, T. X I I , S. 196. Im weiteren werden die Verweise auf diese Ausgabe im Text angeführt (die römischen Ziffern bezeichnen die Bände, die arabischen die Seitenzahlen).

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letztere, die sich mit Hilfe der Revolution an Nationalgütern bereichert hatten, als „Ultralinke" maskierten. Wir sind heute gewohnt — und das völlig zu Recht —, die Aufklärer des 18. J a h r h u n derts als die unmittelbaren, ideellen Vorläufer der Französischen Revolution anzusehen. Diese Ansicht teilte, wie wir noch sehen werden, auch Puskin in seinen reifen J a h r e n . Die Aufklärer des 18. J a h r h u n d e r t s traten in der Regel jedoch f ü r eine friedliche Umwandlung der Gesellschaft ein. Die Französische Revolution hingegen zeigte, daß die Zerstörung des Feudalismus und der Sturz des Absolutismus in Frankreich ohne die Anwendung der Mittel des revolutionären K a m p f e s nicht möglich waren: Die Festigung der Resultate der Revolution erforderte die Beseitigung der Macht des Königs, die Errichtung der Republik und der Jakobinerdiktatur, die Anwendung des Terrors als Mittel zur B e k ä m p f u n g der Konterrevolution. Der junge Puskin und die meisten seiner Zeitgenossen nahmen zu diesen Fragen eine ganz andere Haltung als wir ein. Sie glaubten wie die Aufklärer an die Möglichkeit einer friedlichen Umwandlung der Gesellschaft und hielten die Anwendung politischer Gewalt nur im Kampf mit der Tyrannei f ü r zulässig. Tyrannei war indes f ü r Puskin (und ebenso f ü r Montesquieu und andere Aufklärer des 18. Jahrhunderts) durchaus nicht identisch mit der Monarchie als solcher. Sie meinten, daß dem Staat ein Gesellschaftsvertrag zugrunde liege. J e nach den Abmachungen dieses Vertrags könne der Staat eine monarchische, aristokratische oder republikanische Regierungsform haben. Hieraus folgt, daß nicht jede Monarchie etwas Schlechtes ist und nicht jede Republik etwas Gutes. Monarchie und Republik können gleichermaßen zu etwas Schlechtem werden, wenn in ihnen die staatsbürgerlichen Gesetze verletzt werden und diese Regierungsformen sich in eine Despotie verwandeln. Ein solches System von Ansichten, das sich in Puskins der Französischen Revolution gewidmeten Vers- und Prosawerken niederschlug, enthält im Ansatz den richtigen Gedanken, daß der Charakter eines Gesellschaftsaufbaus letztlich nicht von seinen politischen Formen, sondern von anderen, tieferen Gesetzmäßigkeiten bestimmt wird. Doch worin diese real bestehen, darüber war sich Puskin (ebenso wie die Aufklärer des 18. Jahrhunderts) — trotz allen Hasses auf den Despotismus und aller Sympathien f ü r die Demokratie — nicht im klaren. Puskin, der weder die Tyrannei der Selbstherrschaft noch die revolutionäre Diktatur der Jakobiner akzeptierte, war bestrebt, zwischen beiden eine Art „goldene Mitte" zu finden. Und diese „goldene Mitte" blieb f ü r ihn bis zum E n d e seines Lebens eine Form des Gesellschaftsaufbaus, in der sich ein ideales Gleichgewicht zwischen der obersten Macht, dem Adel, und dem Volk, das das Fundament des sozialen Gebäudes ist, herstellt. Dieses politische Programm fand in Puskins historischen und publizistischen Skizzen der 30er J a h r e seinen deutlichen Ausdruck, doch erste Anzeichen sind bereits in der Ode „BojibHocTb" spürbar. Als E r b e der humanistischen Ideen der Renaissance und des Emanzipationsgedankens der Aufklärer des 18. J a h r h u n d e r t s neigte Puskin seit seinen frühen Lebens- und Schaffensjahren dazu, im Menschen den höchsten sittlichen Wert zu sehen. Deshalb konnten ihm die nivellierenden Ideen der Jakobiner, die im Namen der Interessen der Gesellschaft den Wert der einzelnen Persönlichkeit negierten, nicht imponieren. Der Dichter sah in ihnen eine Verneinung der lebendigen Vielfalt des Lebens, eine Negierung seiner ewigen Anmut und seiner Schönheit, eine Aberkennung des verbrieften Rechts des Menschen auf Daseinsfülle, Freiheit und Glück. U m so weniger konnte eine politische Doktrin Puskins Beifall finden, die den Terror zur historisch notwendigen Grundlage

G. M. FRIEDLÄNDER, Puskin und die Französische Revolution

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f ü r die Errichtung eines künftigen Gesellschaftsaufbaus machte. Puskin, der die Revolution unter bestimmten Bedingungen als eine notwendige und progressive historische K r a f t anerkannte (allerdings nicht in jedem Falle, sondern nur dort, wo ein anderer, friedlicher Entwicklungsweg nicht möglich war), unterschied in seinen J u g e n d - wie auch in seinen reifen J a h r e n grundlegend zwischen Revolution und Terror, wobei er die Revolution als einen Weg zur Befreiung der Menschheit akzeptierte und den Terror als ein blutiges und unmenschliches Mittel politischer Unterdrückung der Gesellschaft verurteilte, das mit grausamer Gewaltanwendung und der Verletzung der natürlichen Gesetze und Normen des menschlichen Daseins einhergehe. Die Ode „BojibHoerb" (1817) ist, was die Entstehungszeit anbelangt, Puskins erstes Gedicht, in dem die Ereignisse der Französischen Revolution zur Sprache kommen. Der Dichter k n ü p f t hier an die Idee der Freiheit an, wie sie von den amerikanischen und französischen Aufklärern und Revolutionären des 18. J a h r h u n d e r t s und in R u ß land von Radiscev verkündet worden war. Die Gleichheit der Bürger vor den „mächtigen" Staatsgesetzen, die „ f e s t " mit der „heiligen Freiheit" verknüpft sind — das ist sein gesellschaftspolitisches Ideal. I n „BojibHoeTb" wendet sich Puskin den Ereignissen aus der Zeit der Französischen Revolution zu (wobei er sich ganz und gar auf deren politische Seite konzentriert) und charakterisiert Ludwig X V I . als Opfer der Geschichte. Ludwig senkte sein „gekröntes H a u p t " , er persönlich war kein „ T y r a n n " , sondern ein „Märtyrer ruhmreicher Fehler", den die Verfechter der politischen Willkür auf die „ R i c h t s t a t t des Verrats" geschleppt hatten, welche mit dem Blut des Königs und der anderen Opfer befleckt ist. Und dennoch ist, wie Puskin meint, Ludwigs Tod der unvermeidliche Preis zwar nicht f ü r seine persönliche Schuld, jedoch f ü r d i e T y r a n n e i s e i n e r h e r r s c h s ü c h t i g e n u n d g r a u s a m e n V o r f a h r e n . Und nicht von ungefähr schweigt bei seiner Hinrichtung nicht nur das „Gesetz", sondern auch das „Volk". Da ein Verbrechenaus Willkür das andere nach sich zieht, wird der hingerichtete Ludwig auf dem Thron von einem neuen, furchtbareren Herrscher abgelöst — von Napoleon, der sich anschickt, den versklavten Galliern die Fesseln einer neuen, grausameren Tyrannei anzulegen. So zieht in der Geschichte der Menschheit die eine Willkür unausbleiblich die andere nach sich. Und die einzige Garantie, den Despotismus und die Eigenmächtigkeit der Tyrannen wie auch die Anarchie des spontan agierenden und in seinem Zorn und Grimm blinden Volkes zu vermeiden, ist, die „heilige Freiheit" eines jeden Mitglieds der Gesellschaft mit „ f e s t e n " und dauerhaften staatsbürgerlichen Gesetzen zu verknüpfen, die sich auf die Forderungen nach Gleichheit, Wahrheit und Gerechtigkeit gründen. 7 In die Ideen, die er den Vorlesungen seines gehebten Lyzeumsprofessors Kunicin und den Werken der französischen Aufklärer entnahm, legt Puskin einen zutiefst persönlichen Sinn: die Freiheit ist in seinem Verständnis m i t d e r F r e i h e i t a l l e r M i t g l i e d e r d e r G e s e l l s c h a f t u n d d e r e n R e c h t a u f G l ü c k verbunden. Doch dieses Recht kann nur das Gesetz gewährleisten. Und zudem nicht lediglich ein politisches (oder juristisches) Gesetz, sondern in erster Linie ein sittliches Gesetz, das Gesetz der H u m a n i t ä t , von dem das politische Gesetz abgeleitet ist. S t ü t z t sich die Freiheit nicht auf das sittliche Gesetz, so verwandelt sie sich in Eigenmächtigkeit und der König in einen Despoten und Tyrannen.

7

vgl. hierzu: H. CKaTOB, PyccKHii remi», M. 1987, S. 116 — 126.

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Der nächste Schritt in Puskins geistiger Auseinandersetzung mit den Ereignissen der Revolution ist das Gedicht „ H a n o n e o H " (1821), das vier Jahre nach „BojibHocTb" entstand. Die Revolution wird hier als ein Ereignis von welthistorischer Bedeutung gewertet, als das Erwachen der „ W e l t " aus der „ S k l a v e r e i " . Zwar ist auch hier die Hinrichtung Ludwigs X V I . das zentrale Ereignis der Revolution, doch dieses Ereignis wird auf grundsätzlich andere Weise historisch beleuchtet: nämlich als der Moment des höchsten Triumphs der Freiheit, als der Moment des Anbruchs ihres „ g r o ß e n " , „unvermeidlichen" und strahlendsten Tages. Napoleon hingegen wird als der Mörder der v o m französischen Volk während der Revolution errungenen Freiheit charakterisiert: K o r ; ; a Haae?K«OH 03apeHHHÜ

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Pa30nap0BaHH0H Kpacoft.

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raaBoft

(11,214)

I n „BojibHocTb" diente dem Dichter als Garantie der Freiheit das Gesetz, dessen „ S c h w e r t " , „ o h n e einen Unterschied zu machen", die „gleichberechtigten H ä u p t e r " aller Bürger, den Monarchen und das Volk inbegriffen, treffen kann. In dem Gedicht ,,KHH?Kaji" (1821) ändert Puskin diese politische Konzeption. Das politische und sittliche „ G e s e t z " ist die G r u n d l a g e der Freiheit. Doch wenn das Gesetz „ s c h l ä f t " und es nur noch den „ L e i c h n a m " der enthaupteten „ F r e i h e i t " gibt, ist es die Pflicht des starken und mutigen Menschen, das Schwert zu ziehen und gegen den Mörder der „ F r e i h e i t " zu erheben. I n einem solchen Augenblick ist nicht mehr das Gesetz, sondern der Dolch dazu ausersehen, zum „letzten Richter über Schmach und Schande" zu werden. Davon zeugt nicht nur das klassische Beispiel der antiken Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton, sondern auch das Beispiel des „freiheitsliebenden" Brutus, der den Dolch gegen Cäsar erhob, desgleichen das Beispiel der Charlotte Corday, der „EumenidenJungfrau", die auf dem Höhepunkt der Revolution an Marat, dem „ A p o s t e l des Verderbens", die „ T o d e s s t r a f e " vollzog, sowie das Beispiel aus neuester Zeit, der deutsche Student K a r l Sand, der 1819 den Agenten der Regierung Alexanders I . und der Heiligen Allianz und damals auch in Rußland populären reaktionären Schriftsteller und Dramatiker August K o t z e b u e ermordete und deshalb hingerichtet wurde. Bald darauf gesellt Puskin ihnen noch einen weiteren Tyrannenmörder hinzu : Louvel, der 1820 den Herzog von Berry tötete.

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G. M. FRIEDLÄNDER, Puskin und die Französische R e v o l u t i o n

Charlotte Corday wird hier von Puskin nicht als Konterrevolutionärin aufgefaßt, sondern als Trägerin der hohen — von der Revolution hervorgebrachten — Freiheitsideale. Hierbei muß man auf den spezifischen poetischen „Maximalismus" des Dichters hinweisen. Ihn begeistert die Figur der heroischen Persönlichkeit, die sich ganz der staatsbürgerlichen Pflicht ergibt und bereit ist, für deren Erfüllung ihr Leben hinzugeben. Und zugleich entspricht Puskins Ideal nicht der kalte, asketische Held, sondern ein lebensvoller und feuriger Mensch, für den die volle persönliche Entfaltung eine ebenso unverzichtbare Forderung darstellt wie die politische und sittliche Pflicht. In diesem Sinne ist das Ideal des Dichters, das in dem Gedicht „ K u H w a j i " zum Ausdruck k o m m t , jenem Ideal einer heroischen Persönlichkeit, die mit der „nationalen Substanz", mit den Gesetzen und Rechten der Gesellschaft als Ganzem organisch verschmilzt, verwandt, das Hegel in seinen „Vorlesungen über Ä s t h e t i k " als einen integralen Bestandteil der antiken Heldenwelt ansah. Diese W e l t stellte der Philosoph der „prosaischen" W e l t gegenüber, in der der gespaltene und schwache Mensch mit ihm entfremdeten und feindlichen politischen und juristischen Institutionen konfrontiert ist, die zu einer unabhängigen und ihm nicht gehorchenden K r a f t geworden sind. 1821/22 hoffte Puskin inbrünstig auf den ewigen Frieden zwischen den Völkern, dessen Heraufkunft der Dichter mit dem ersehnten Sieg der unterdrückten Völker Europas über die Heilige Allianz verband ( X I I , 189, 190, 480). Doch schon bald erlebt der Dichter eine tiefe geistige Krise, die durch den Rückgang des Befreiungskampfes hervorgerufen wird. Die Bilanz seiner düsteren Gedankengänge, die der neuerliche Sieg der europäischen Reaktion auslöste, zog er in einem Gedicht von 1824, das an Napoleon gerichtet ist: Bemajiw K H H J K H H K H , Tojina npefl HMMH

TPEBO?KHJIHCB

qapH,

BOJIHOBAJIHCB,

PaaoßjiaieHHEie nycTejiH ajrrapn, [CBOÖOAH

M ropa H Har npHineji Pa3BpaT, H n p e « H H M cepjma 3acTHJiH, 3a BJiacTb OTenecTBO 3a6biJM,

6ypn] noAUMajiacb.

3a 3JiaTO npe^aji ßpaTa 6paT. ( I I , 314, 8 2 4 - 8 2 6 )

II Bflpyr HarpHHyjia . . . Y n a j i n B npax H B KpOBb Pa30HJIHCb, BeTXHe CKpHWKajlH, H B H J I C H My?K

cy^eö, paßu 3aTHXJiH

BHOBB,

M e i n « a ijenH 3a3ByHaJiH. I m April 1824 stirbt der bei Missolunghi im K a m p f um die Befreiung Griechenlands tödlich verwundete Byron. Die Freunde verlangen von Puskin ein Gedicht, das d e m Andenken des großen englischen Dichters gewidmet ist. A m 24./2Ö. Juni 1824 schreibt Puskin aus Odessa an P e t r V j a z e m s k i j : „Teße rpycTHo no BaiipoHe, a H paß ero CMep™ KaK B H C O K O M Y npeflMeTy ^JIH I I O 3 3 H H . T E H H I I EaftpoHa ßJIEJIHEJI c ero M 0 J I 0 A 0 C T B I 0 . B CBOHX TparejpiHx, He BHKJironaH H Kaima, OH y?K He TOT njiaivieHHbiii fleMOH, KOTopbiii cosnaji T e y p a H H n j i b « rapojib.ua. nepBEie 2 necHH floH }KyaHa BHiue cjieflyiomHx. E r o N O 3 3 H H BHFLHMO H3MeH«jiajicb. O H BECB co33;aH 6 H J I H A B H B O P O T : N 0 C T E N E H H 0 C T H B HeM He öbijio, OH B^pyr co3peji H B03Mytf?aji — nponeji H 3aM0jmaji; M nepBbie 3ByKH ero y>Ke eMy He B03BpaTHJiHCb — nocjie 4-oft necHH Child Harold EaftpoHa MH He CJIHxaJiM, a NHCAJI KaKoft-TO flpyroii no3T c B H C O K H M HEJIOBENECKHM TajiaHTOM. T B O H M H C J I B BocneTb ero CMepTb B 5-OH necHH ero Tepon npenecTHa — HO MHE He no CHJiaM — TpeuiHH

338

Z. Slaw. 34 (1989) 3

MHG oraflmia ( . . . ) n p n e x a j i 6H TH K HAM B Ofleccy nocivioTpeTb HA COOTSHGCTBGHHHKOB MHJibTHafla H TBI G h i co MHOÜ corjiacHjicH ( . . . ) OSemaio Teße 0flHaK0 »

BHpiira Ha CMEPTB

e r o npeB0cx0«HTejibc,TBa" ( X I I I , 99). D a s V e r s p r e c h e n , „ e i n p a a r R e i m e " auf den T o d B y r o n s zu schreiben, e r f ü l l t e P u s k i n nach seiner A n k u n f t in M i c h a j l o v s k o e . D a s ist das b e r ü h m t e G e d i c h t , , K M o p i o " (1824), in d e m das Bild des „ s t o l z e n " und ungehorsamen M e e r e s e l e m e n t s zu d e n

Gestalten

z w e i e r stolzer und ungestümer „ B e h e r r s c h e r unserer G e d a n k e n " — N a p o l e o n und der „ v o n d e r F r e i h e i t b e w e i n t e " B y r o n — in B e z i e h u n g g e s e t z t i s t : TBOH o6pa3 öbui HA neivr 03HAHEH, OH CO3ßAH JJYXOIU öbui TBOHM: K a K TH, M o r y m , r j i y ö o K H MPA^EH, K a K T H , HH^EM HEYKPOTHM.

(II,

332)

— heißt es hier über den englischen D i c h t e r . S t a t t eines f ü n f t e n Gesanges des „ C h i l d e H a r o l d " , d e n ihm V j a z e m s k i j d e m A n d e n k e n B y r o n s zu w i d m e n g e r a t e n hatte, v e r f a ß t P u s k i n 1826 indes eine historische E l e g i e , d e r e n erste Z e i l e n u n m i t t e l b a r m i t d e m I n h a l t des zitierten

B r i e f e s an V j a z e m s k i j

zusammenhängen:

Me?K TeM, KaK HsysmieHHuft amp

3oBeT MeHH j j p y r a n TeHb,

H a y p H y BaiipoHa B3HpaeT,

;],aBHo 6e3 neceH, 6e3 pn^aHiiìi

M x o p y eBponeäcKHx jinp

C KPOBABOFT rraaxH B ,O;HH CTPA^AHMÜ

BJIH3 FLAHTE TEHB e r o BHTAET,

Come^maH B jiornjibHy TeHb ( . . . ) (11,397)

A n d r é Chénier (1762—1794) w u r d e bereits v o r 1819, d. h. d e m J a h r , in d e m d i e p o s t u m e S a m m l u n g seiner V e r s e erschien, zu e i n e m L i e b l i n g s d i c h t e r Puskins. 8 D a v o n zeugt d i e A n r u f u n g des S c h a t t e n s des „ e r h a b e n e n G a l l i e r s " (mit d e m , w i e w i r m e i n e n , A . C h é n i e r , und nicht E c o u c h a r d L e b r u n g e m e i n t ist) in der O d e „ B o J i b H o c T b " , d e r i n m i t t e n d e r „ r u h m r e i c h e n U n g l i i c k s e l i g k e i t e n " d e r R e v o l u t i o n d i e F r e i h e i t pries. 9 A m 5. Juli 1824

8

9

Über Puskin und A. Chenier vgl.: HyTeBORHTejib no IlymKHHy, in: A . C. llyiUKHH, IIOJIH. coop. co i [. B 6-TII TOMax, M.—JI. 1931, T. 6, S. 381 -382; B. B. T o M a i u e n c K H f t , IlyuiKHB. KH. I I (1824-1837), M . - J I . 1961, S. 6 5 - 7 1 ; B. B. C a n a o M H p c K ä H , IlepBbjtf nepeßoa IlyiiiKHiia H3 Atmpe Illeiibfi, in: A. C. IlymKHH. MccjieaonaHHH H MaTepna:ibi, JI. 1974, T. 7, S. 167 bis 184; B. B. C a n ^ o M H p c K a H , HepeBOHbi H iiepenoJKeniiH riyiBKiiHa i « A . IlIeHbe, in: A . C. ÜyiiiKHH. Mcc3;e«oBaHHH h MaTepwajibi, JI. 1978, S. 90—196; B. B. CaHÄOMHpcKan, An/ipeü llleube, in: CraxoTBopenHH üyiiiKHHa 1820 —1830-x TOHOB, ,1. 1974, S. 8 — 34 (hier findet man auch die ausführlichsten Literaturangaben zu dieser Frage). vgl. die Polemik um den Prototypen des „erhabenen Galliers": B. B. ToMauieBCKiiü, 3aMeTi;n o riyuiKHHe. I V . O „B03BMineHH0M ranjie", in: IlymKHH H ero coBpeMeHHHKH, I l r . 1917, BBM. X X X V I I I , S. 70—72; B. B. ToMameBCKHft, flymniiH H $paHnv3CKaH peBOJiioqHoitHaH OAa (9Kymap JleöpeH), in: E. B. ToMameBCKHft, IlymKHH H i ) p a n m i « , JI. 1960, S. 315 — 359; vgl.: B. B. ToMameBCKHft, IlyiiiKHH. KH. I (1813-1824), M . - J I . 1956, S. 1 5 7 - 1 5 9 ; M. JI. HoJibMan, CJIEFL, ,,B03RbiiiieHHoro raji.na" (IlymKHH H AHUPE IlIeHbe), in: X X I I I REPQEHOBOKHE MTemiH „OHJioJiornHecKHe HayKH", JI. 1970, S. 44—46; M. JI. H o j i b M a H , IlapaaoKc o „BOSBHmeHHOM ra.iuie", in: Bonpocu JTOTepaTypbi 6/1973, S. 172 — 176; H . I I . CIUTOB, Pycciiuii reHHü.M. 1987, S. 119-121.

G. M:

Friedländer,

Puskin und die Französische Revolution

339

schrieb P u s k i n an Vjazemskij einen Brief, in d e m er seine negative Meinung zur f r a n zösischen romantischen D i c h t u n g z u m Ausdruck b r a c h t e (Puskin hob lediglich L a m a r tine, der „ d u r c h seine neue H a r m o n i e g u t " sei, wohlwollend hervor) u n d dieser die Dicht u n g Chéniers gegenüberstellte: „ H h k t o ßojiee M e H H H e j i k > 6 h t n p e J i e c T H o r o A n d r é Chénier — h o o h h 3 KjiaccHKOB K j i a c c H K — o t Hero TaK h HeceT ^ p e B H e i i rpeiecKoft no83Heii" (II, 963, X I I I , 102). E i n J a h r s p ä t e r , 1825, schrieb der Dichter in einer Bem e r k u n g über Chénier (die er o f f e n b a r bei der D r u c k l e g u n g seinem eigenen Gedicht über Chénier als A n m e r k u n g h i n z u f ü g e n wollte) : /KepTBoro i;HH) H a 31 rojjy o t p o f K ^ e H M H . CKa3aH(Hbix) o H(eiw) l I I a T 0 6 p n a H 0 M , 3;ba h j i h Tpn OTpHBKa, h o 6 m e e co?KajieHHe 0 6 yTpaTe Beerò n p o ^ i e r o . — H a K O H e i j TBopeh h h e r o 6 h j i h O T H C K a H H h b l i m j i h b C B e T 1819 ro,na. — Hejn>3fi B 0 3 « e p ? K a T t C H o t r o p e CTHöro qyBCTBa" (XI, 35). I n dieser Zeit e n t s t e h t a u c h — als eine Art A n t w o r t auf Vladimir R a e v s k i j s Gedicht „ I l e B e i j b TeMHHije" (1822), auf den Streit u m Ryleevs ,,,H,yMbi" und d e n e r w ä h n t e n Brief Vjazemskijs — die historische Elegie „AH^peK IIIeHbe" (April—Juli 1825), d e r e n Anfangsstück in P u s k i n s Gedichtsammlung von 1826 erschien (die übrigen Verse, die den Ereignissen der Revolution gewidmet waren, w u r d e n von der Zensur verboten). Byron s t a r b f ü r die Freiheit Griechenlands. J e d o c h obgleich P u s k i n weiterhin f ü r d e n K a m p f u m die Freiheit Griechenlands tiefe S y m p a t h i e e m p f a n d , k o n n t e er 1825 n i c h t m e h r den I r r t ü m e r n Byrons z u s t i m m e n , der sich den Unterschied zwischen den H e l d e n der A n t i k e und den heutigen „ K r ä m e r n " , die „ n i c h t einmal d e n ersten Salven der miserablen türkischen Schützen s t a n d h a l t e n k o n n t e n " ( X I I I , 104—105, 529), n i c h t vergegenwärtigt h a t t e . „ A n d r é Chénier

nornß

^ o j i r o CJiaßy e r o cocTaBJiHJio H e c K ( o j i b K o ) c j i ( o b ) ,

D a s Beispiel der Griechen ließ P u s k i n die Sache der Freiheit in n e u e m L i c h t e sehen. D e n n der G e d a n k e a n die griechischen „ K r ä m e r " m u ß t e sein Sinnen auf die f r a n z ö sischen „ K r ä m e r " lenken, deren Psychologie d e n Ereignissen der Großen Französischen Revolution ihren S t e m p s l a u f g e d r ü c k t h a t t e . D a s ist der G r u n d , weshalb P u s k i n seine historische Elegie nicht B y r o n , sondern Chénier widmete, dessen Schicksal — im Z u s a m m e n h a n g m i t P u s k i n s Überlegungen über die „ K r ä m e r " seiner Gegenwart, die sich als N a c h k o m m e n der a n t i k e n K ä m p f e r u n d Helden ausgeben — f ü r den Dichter einen b e u n r u h i g e n d e n u n d prophetischen Sinn erhält. B y r o n s t a r b , erfüllt vom Ideal der Freiheit. D o c h in Wirklichkeit war d a s Volk, f ü r dessen Freiheit er k ä m p f t e , ein Volk von „ K r ä m e r n " . Die Tragödie Chéniers (und der anderen, die seiner Generation angehörten) war f u r c h t b a r e r . Sie, die von d e n I d e a l e n der Freiheit erfüllt u n d diesen Idealen aufrichtig ergeben waren, w u r d e n nicht von der H a n d der „ ä u ß e r e n " , sondern der „ i n n e r e n " T ü r k e n gefällt — von der blutigen G e w a l t u n d vom Despotismus, den die Revolution selbst in ihrem s p o n t a n e n , undirigierten Verlauf hervorgebracht h a t t e ; u n d dieser s p o n t a n e Verlauf der R e v o l u t i o n h a t t e eine E p o c h e herbeigeführt, in der die neuen H e r r e n des L e b e n s zur M a c h t d r ä n g t e n : die „ R ä u b e r " u n d „ K r ä m e r " , die im 19. J a h r h u n d e r t ihre H e r r s c h a f t a n t r a t e n , m i t a n d e r e n W o r t e n : die zeitgenössischen Bourgeois. D a s ist der tiefere geschichtliche Sinn, d e n P u s k i n in seine historische Elegie legte. I n der Ode , , B o j i e > h o c t i > " w u r d e die Französische R e v o l u t i o n ungegliedert b e t r a c h t e t : Von der H i n r i c h t u n g Ludwigs X V I . ging der D i c h t e r u n m i t t e l b a r zu Napoleon über. I n „AHflpeft IIIeHbe" f i n d e n wir etwas anderes. Gemeinsam mit seinem Helden b e g r ü ß t u n d preist der Dichter leidenschaftlich die erste Periode der R e v o l u t i o n : die E r s t ü r m u n g

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der Bastille, die „ f u r c h t l o s e A n t w o r t " der D e p u t i e r t e n der K o n s t i t u i e r e n d e n Vers a m m l u n g a n den König, ihr „ S c h w u r " im Saal des Ballhauses, Mirabeaus f l a m m e n d e R e d e zur Verteidigung der Freiheit, die Ü b e r f ü h r u n g der Asche der „ r u h m r e i c h e n V e r b a n n t e n " Voltaire u n d Rousseau in das P a n t h é o n , die Befreiung der Gefangenen, die von Ludwig X V I . und seinen Vorgängern ins Gefängnis geworfen worden waren, „die feierliche Verkiindung der Gleichheit", „ d e n Sturz der Könige". Diese erste Periode der Revolution — die Periode des „Zerspringens der K e t t e n " des Feudalismus u n d der absoluten Monarchie — charakterisiert der Dichter als die Ära, in der das Gesetz, das m i t der Freiheit ein Bündnis einging, „ d i e Gleichheit v e r k ü n d e t e " . Doch d a n n bricht die f ü r Chénier und P u s k i n u n a n n e h m b a r e Periode des jakobinischen Terrors a n , eine Periode, die nach A u f f a s s u n g beider f ü r die Freiheit (und zwar, wie b e t o n t werden m u ß , nicht n u r f ü r die Freiheit des Dichters, sondern a u c h f ü r die Freiheit des Volkes) verderbenbringend ist. Den P l a t z des gestürzten Königs n i m m t „ d e r Mörder m i t den H e n k e r n " (Robespierre u n d seine Umgebung) ein, u n d die H e r r s c h a f t von Gesetz und Freiheit wird d u r c h die H e r r s c h a f t des „Beils", d. h. der Guillotine, abgelöst. E s geschieht das, was Radisöev bereits im 18. J a h r h u n d e r t b e f ü r c h t e t e , als er einen Vorgang aus der Zeit der englischen Revolution des 17. J a h r h u n d e r t s beschrieb: E i n „großer M a n n " und „ V e r b r e c h e r " in einem — nämlich Cromwell, den Radisöev als einen „ H e u c h ler, Speichellecker u n d F r e v l e r " einschätzte — habe, „als er die Macht in den H ä n d e n hielt", n a c h der H i n r i c h t u n g K a r l s I . die „ F e s t e der F r e i h e i t " geschleift; so sei in E n g land aus der „ F r e i h e i t " eine neue „ K n e c h t s c h a f t " erwachsen. 1 0 J e d o c h die Einsicht, d a ß sich die von den Aufklärern des 18. J a h r h u n d e r t s u n d von Chénier e r h o f f t e Freiheit im Zuge der Revolution in einen „ N a r r e n t r a u m " verwandelte, veranlaßt weder Puskin noch seinen Helden, sich vom Ideal der Freiheit loszusagen : Ho Tbl, cBHmeHHaH CBoßoaa, ßorHHH IHCTaH, HeT He BHHOBHa TU, B nopwßax SyHHOit cjienoTH, B npe3peHHOM öemeHCTBe Hapo«a, CoKpbiJiacb t h ot Hac; ijejießHbift tboh cocyfl 3aßemeH neneHoft KpoBaBoii; Ho t h iipHjjenib onHTb co MiijeHHeM h cjiaBoft M BHOBb tboh BparH naj;yT. HapOH, BKyCHBIHHH pa3 TBOH HeKTap OCBHmeHHHÜ, Bce nmeT BHOBb ynHTbCH hm; Kau ßyflTO BaKxoM pa3T>HpeHHbiü Oh ßpejiHT jKaJKjjoio TOMHM; T a u — o h HaöneT Teßn. n o n ceHHio paBeHCTBa

B OÖT.HTHHX TBOHX OH CJiaßKO OTflOXHeT ; T a u 6ypn MpaHHan MHHeT! (II, 398—399) Die den z u m Tode verurteilten Dichter befallenden Zweifel werden d u r c h berechtigten Stolz u n t e r d r ü c k t u n d besiegt : E r h a t t e es vermocht, seine Menschenwürde zu bew r ahren 10

A. H. PaHHqeB, Il36paHHbie comhhühmh, M.— JI. 1949, S. 272. Vgl. hierzu: B. IIjiHMaK, TpajHuim ftopbÓM Ii HCKam-iii (Pallimeli, HepHMiueBCKiiii, JTemiH), in: Bonpocu jiHTepaTvpu 11/1987,8.136-138.

G. M. FRIEDLÄNDER, Puskin und die Französische R e v o l u t i o n

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und angesichts des ihn umgebenden öffentlichen Kleinmuts dem Banner der Freiheit treu zu bleiben ; und er hatte nicht abgelassen, den neuen blutrünstigen Tyrannen mit derselben zornigen Unversöhnlichkeit zu entlarven, mit der er schon den „altersschwachen Thron" der früheren Herrscher über Frankreich, die verhängnisvollen „Vorurteile" und „ K e t t e n " der alten Ordnung bloßgestellt hatte. Chénier, der seine stolze Unabhängigkeit bis ans Ende seiner Tage zu bewahren vermochte und mit seinem Dichterwort Freiheit, Schönheit, Humanität und die Fülle des menschlichen Lebens in all seinen Erscheinungsformen — auf dem Schauplatz der Geschichte wie in der „kleinen W e l t " der Liebe, Freundschaft und poetischen Muße, unter „Liedern", auf „Gelagen" und in „flammenden Nächten" — pries, blieb während eines der Katastrophenmomente in der Geschichte seines Landes und der ganzen Menschheit ein wahrer Dichter und ein wahrer Mensch. Und darin besteht, wie Puskin meint, Chéniers enormes historisches Verdienst.11 3 Nach Vollendung des Gedichts „Anapeil IIIeHbe" ändert sich Puskins allgemeines Verhältnis zur Französischen Revolution bis zum Ende seines Lebens nicht mehr. Der Gedanke, daß der Sturz des Absolutismus in Frankreich unvermeidlich war, findet im ersten Kapitel von „ A pari FleTpa Bejmnoro" (1827) seinen Ausdruck : „ n o CBH^eTejibCTBy Bcex HcropKraecKHX 3anncoK", so wird hier die Zeit der Regentschaft Philipps von Orléans (1715—1723) charakterisiert, „ H H H T O He Morjio cpaBHHTbca c BOJILHEIM jierKOMucjiHeM, 6e3yMCTBOM H pocKouibio 3 yMa h paHi;y3CKoro 3eM,ne,nejii>u;a. Bepio. BCTTOMHHM orrncaHHe JlaSpioepa; cjiOBa rocnoH?H CaBMHbe eme CHJibHee TeM, HTO OHa r o B o p i i T 6e3 H e r o A O B a H H H H ropenn, a npocTO p a c c K a 3 H B a e T , HTO BH^HT H K qeiviy npnBMKJia. Cyflböa pamjy3CKoro KpeCTbHHHHa He y-nymimiacb B u;apcTBOBamie JlioßoBHKa X V h ero npeeMHHKa ( . . . ) " ( X I , 257). Hier bringt Puskin erstmals die Französische Revolution mit der für das Rußland seiner Zeit so aktuellen Bauernfrage in Zusammenhang.

In „üyTemecTBHe H3 MOCKBM B üeTepöypr" wendet sich Puskin, der sich hier mit Radisöevs Gedanken über die Freiheit des Buchdrucks auseinandersetzt, wieder jener allgemeinen Überlegung über das Wechselverhältnis von Gesetz und Freiheit zu, die er erstmals am Beginn seiner Tätigkeit als Dichter, nämlich 1817 in der Ode „BojibHoeTb", zur Sprache gebracht hatte: „^Ito h cocTaBJineT BejiHHHe nejioBeKa, eH?ejiH He MHCJib? ,3,a 6y«eT H?e M u c - J i b CBoßoflHa,, KaK nojiJKeH ßbiTb CBo6o,neH N E J I O B E K : B npeAßJiax 3aKOHa, n p a n0JiH0M co6jnoaeHHH 3HKOHOB, HaJiaraeMHX 0 6 mecTBOM" ( X I , 235). In den Entwürfen zu dem Aufsatz „ O HHHTo?KecTBe jiHTepaTypn pyccKOÄ" (1833/34) zieht der Dichter gleichsam die gedankliche Bilanz seiner allgemeinen Einschätzung der Revolution und betont, daß diese vom ganzen Verlauf der französischen Geschichte des 18. Jahrhunderts vorbereitet wurde — einem Jahrhundert, das eine „schicksalhafte Vorherbestimmung" hatte ( X I , 271): „ ( . . . ) BCJIMKIIÜ B e K MHHOBajICH. JIKW>BHK

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Z. Slawistik, Bd. 34, H. 3

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Z. Slaw. 34 (1989) 3

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BaHMH h nopimaHHH Haiaji npoHBJiHTtCH bo flOB(HKa) X V I hhcxoj;ht b a p e H y c nncaTejiHMH, B o M a p r n e BJieneT Ha cijeHy, pa3,n;eBaeT ho Hara h T e p 3 a e T Bce, h t o e m e noHHTaeTCH He-

n p H K O C H O B G H H H M . C T a p a a M O H a p x H H xoxoneT h pyKonjiemeT. CTapoe 06mecTB0 co3pejio hjih BejiMKoro pa3pymeHHH. Bce eme cnoKOiiHO, ho y?Ke ronoc M0Ji0A0r0 MHpaßo, nofloßHHtt OTnajieHHoit 6ype, r j i y x o rpeMHT H3 rayÖHHLi tgmhhlj, no kotophm oh CKHTaeTCH . . . " ( X I , 271—272; vgl. ebd., 505—506, 515). Zum letzten Mal wendet sich Puskin dem Thema der Französischen Revolution in dem Aufsatz ,,AjieKcaH,n;p PaflHmeß" (1836) zu, der für seine Zeitschrift „CoBpeMeHHHK" vorgesehen war, jedoch von der Zensur verboten und erst postum veröffentlicht wurde. Der Dichter schreibt hier über die Tragödie des großen russischen Revolutionärs des 18. Jahrhunderts, der mit ansehen mußte, wie die ihm so teuren Emanzipationsideale der Aufklärer (seine „ l i e b s t e n " Gedanken) in den Jahren des „Schreckens"

„zum

schändlichen Beifall des Pöbels von der Guillotine herab" gepredigt wurden ( X I I , 34). Puskin war — das kommt in dem Aufsatz über Radiscev zum Ausdruck — von dem „Löwengebrüll des gewaltigen Mirabeau" begeistert und hob diesen von dem „sentimentalen T i g e r " Robespierre a b ; diese Gegenüberstellung weist noch einmal nachdrücklich auf den Gedanken des Dichters, daß Freiheit und Gesetz mit Gewaltanwendung, Grausamkeit und Blut unvereinbar sind. Dieser humanistische Gedanke Puskins ist sein Vermächtnis an die nach ihm kommende russische Literatur — an Turgenev, Tolstoj, Dostoevskij, Cechov — und danach auch an die Literatur der Menschen des Sozialismus. Übersetzt v o n M.

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G. D u d e k

Die Französische Revolution im Urteil N. M. Karamzins Als Karamzin auf seiner Europatour, von Genf kommend, am 4. März 1790 die f r a n zösische Grenze überschritt, heftete er eine dreifarbige Kokarde an seinen H u t . Beim Verlassen des Landes warf er sie bei der Überfahrt nach Dover alsbald ins Meer 1 . Stand der russische Schriftsteller somit — wie Richard Pipes meint — der Französischen Revolution völlig indifferent gegenüber? 2 D a f ü r scheint das rückblickend verfaßte Resümee über seinen etwa drei Monate, vom 27. März bis E n d e J u n i 1790, währenden Aufenthalt in der französischen H a u p t s t a d t in den „Briefen eines russischen Reisend e n " (1791 — 1801) zu sprechen: „Ich verlasse dich, liebes Paris, mit D a n k und Bedauern. Ich lebte mitten unter deinen geräuschvollen Erscheinungen ruhig und heiter, wie ein sorgloser Kosmopolit. Mit ruhiger Seele blickte ich auf den Sturm, der in dir wütet, wie der friedliche Hirt von seinem Berge hinab auf das stürmische Meer blickt. Weder deine Jakobiner noch deine Aristokraten haben mir das geringste Böse zugefügt. Ich sah ihren K a m p f ; ohne mich dareinzumengen." 3 Bei diesen Worten ist allerdings zu bedenken, daß die der Französischen Revolution gewidmeten Teile der „Reisebriefe" erst 1801 gedruckt erschienen und der Zeitpunkt ihrer Abfassung bis heute nicht völlig geklärt ist. Gegen die Ansicht von Karamzins Indifferenz sprechen jedoch die Zeugnisse von dem Dichter nahestehenden Zeitgenossen wie A. M. K u t u z o v , M. I. Bagrjanskij und N. I. Turgenev 4 . Ihr widerspricht ferner Karamzins eigene Feststellung im „ L e t t r e au Spectateur sur la littérature russe", der im Oktober 1797 in der in H a m b u r g herausgegebenen Zeitschrift französischer Emigranten „ L e Spectateur du N o r d " erschien 5 , daß ihn die Nachricht vom Ausbruch der Französischen Revolution, die ihn am 29. J u l i 1789 in F r a n k f u r t a m Main erreichte, tief erregt habe 6 . (Eine solche Feststellung fehlt übrigens an der entsprechenden Stelle der „Reisebriefe".) Auch Karamzins hartnäckige Bemühungen, den Sitzungen der Nationalversammlung beizuwohnen, wo er schließlich Augenzeuge der großen Dispute zwischen Mirabeau und Abbé Maury wurde, lassen sein lebhaftes Interesse am Fortgang der Revolution erkennen. Sein Betroffensein von den Ereignissen in Frankreich spricht ferner aus Briefen an den befreundeten Dichter I. I. Dmitriev der J a h r e 1792 und 1793. „Glaubst du mir", schreibt er am 17. August 1793 an Dmitriev, „ d a ß die schrecklichen Vorkommnisse in E u r o p a meine ganze Seele

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vgl. H. M. K a p a M 3 H H , Lettre au Spectateur sur la littérature russe, in: H. M. K a p a M 3 H H , ÜHCLMa pyccKoro nyTemecTBenHHKa, JI. 1984, S. 459, 461. „Karamzin was indifferent to the Revolution and to all that it entailed", stellt R. Pipes fest. (R. P i p e s , Karamzin's Memoir on Ancient and Modern Russia. A Translation and Analysis, Harvard University Press, Cambridge Massachusetts 1959, S. 35.) N. M. K a r a m s i n , Briefe eines russischen Reisenden, Bln. 2 1981, S. 575. vgl. E. W a e g e m a n s , KapaMSHH H (J)paHi;y3CKaH peBOJironiiH, in: SLAVICA G A N D E N S I A . Belgian Contributions to the 10 t h International Congress of Slavists, Sofia. 15/1988, S. 93—94. Außerdem veröffentlichte diese Zeitschrift bereits im Februar 1797 Karamzins „Lettre au Spectateur sur Pierre III" sowie eine Übersetzung seiner Erzählung „IOJIHH". V g l . G . Z i e g e n g e i s t , Wege der intereuropäischen Rezeption russischer Literatur im Zeitalter der Aufklärung, in: The Slavic World and Scandinavia. Cultural Relations, Aarhus University Press 1988, S. 186. H. M. K a p a M 3 H H , ÜHCbMa pyccnoro nyTemecTBeHHHh i, JI. 1984, S. 459.

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Z. Slaw. 34 (1989) 3

aufwühlen?" 7 U n d noch 1802 bemerkt er in dem Aufsatz „Bceo6mee o6o3peHHe" zur Beendigung des ein Jahrzehnt dauernden „Revolutionskrieges": , , K t o He 3aHMMajiCH eio c iKHBeftiimM HyBCTBOM ? K t o He jwejiaji peBHocTHo ycnexoB t o h hjih « p y r o f t CTopo-

Überblickt man Karamzins gesamtes W e r k , so ist es u. E . nicht übertrieben festzustellen, daß die Französische Revolution für ihn — wie für keinen anderen russischen Schriftsteller — ein tief bewegendes Grunderlebnis darstellte, das nicht nur seine politischen und historischen Vorstellungen, sondern auch sein ästhetisches Denken und literarisches Schaffen entscheidend bestimmt hat. W i r möchten daher S. A . Makasin zustimmen, wenn er Karamzin einen Schriftsteller nennt, ,,...

ßtiTt MOweT, Hanöojiee rjiyÖOKO

nepeiKHBmero h oTpa3HBiuero b CBoeM TBopnecTBe BnenaTjieHHH o t KaTaKJiH3Ma, pa3pyumBinero

peBOJiicmHOHHoro

caMtie o c h o b h ABopHHCKO-MOHapxHHecKOH

KyjibTypti b

Eßpone." 9 Karamzins Verhältnis zur Französischen Revolution war durchaus widersprüchlich und durchlief, wie Ju. M. Lotman gezeigt hat 10 , drei Phasen. Nachdem der Schriftsteller sich v o m Mystizismus der Moskauer Freimaurer um A . M. K u t u z o v gelöst und durch die Mitarbeit in N . I . N o v i k o v s Kinderzeitschrift ,,^I,eTCKDe M T e n n e ajih cep;ma h pa3yMa" seit 1787 Anschluß an die russische Aufklärung gefunden hatte, war er durch die Lektüre der französischen und englischen Aufklärungsliteratur sowie die durch Jakob L e n z vermittelte Begegnung mit dem deutschen „ S t u r m und D r a n g " auf die Revolution vorbereitet. So zeigte er sich nicht zufällig davon beeindruckt, daß Rousseau bereits im ,,]§mile" die Revolution und den Beginn einer neuen Epoche vorausgesagt hatte 11 . Karamzin verband daher mit der ersten E t a p p e der Französischen Revolution (1789 — 1792) die — wenngleich keineswegs euphorische — Erwartung des Anbruchs eines „ i j a p c T B o oßineß My^pocra" 1 2 , eines neuen „goldenen Zeitalters". Aus dieser Haltung heraus trat er in dem von ihm nach Rückkehr von seiner Europareise gegründeten „Mockobckhh iKypHaJi" (1791 —1792) für Aufklärung und gesellschaftlichen Fortschritt in Rußland ein13. I n dieser Zeit veröffentlichte er zustimmende Rezensionen zu Stücken des Pariser revolutionären Theaters von Marie-Joseph de Chenier, Philippe Fabre d'Eglantine u. a. Und in dieser Periode entstanden auch seine v o n demokratischen Sympathien durchdrungenen Erzählungen „ O p o j i Chjihh, 6jiaro,a;eTejibHi,iH nenoBeii" (1791) und „ B e « H a a Jliisa" (1792). M i t dem Volksaufstand v o m 10. August 1792, der Hinrichtung v o n Louis X V I . und der Errichtung der Diktatur der Jakobiner im Juni 1793 wurde diese Erwartung zer-

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zit. nach JI. F. K u c j i H r w H a , OopMuponanHe oömecTBenHO-iiOJiHTHiecKHX bstjih^ob H. M. KapaM3nna (1785-1803rr.), M. 1976, S. 95. H. M. KapaMSHH, H3opaHHbie cxaTbH h imebMa, M. 1982, S. 78. C. A . MaKauiHH, .ÜHTepaTypHbie B3anM00TH0iuemiH Pocchm h OPATMNN X V I I I — X I X bb., in: JlHTepaTypiioe nacjieg,CTBO, t . 29/30, M. 1937, S. X X I I . 10. JIoTMan, IIoasnH KapaM3HHa, in: H. M. K a p a M 3 H H , IIoJiHoe coSpamie cthxotbopghhm, M.—JI. 21966, S. 12. Hierzu bemerkt Karamzin in „ L e t t r e au Spectateur sur la littérature russe": „ U n e nouvelle époque commence; je le vois, mais Rousseau l'a prévu. Lisez une note dans Emile, et le livre vous tombera des mains." ( H . M. K a p a M 3 H H , IIncbMa pyccKoro iiyTemecTBeHHHKa, JI. 1984, S. 461.) H. M. K a p a M 3 H H , Mejioffop K HJiaJieTy, in: K a p a M 3 H H , Ms6p. CTaTbH H nacbivia, M. 1982, S. 148. vgl. JI. T. K i i c j i H r H u a , a. a. O., S. 38; 10. JI o t m a h , IIo33hh KapaM3iiHa, a. a. O., S. 12.

G. Dudek, Die Französische Revolution und Karamzin

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stört. K a r a m z i n durchlebte in den J a h r e n 1793 bis 1796 eine tiefe ideologische Krise, eine P h a s e der Desillusionierung. Aus ihr f a n d er schließlich im Z e i t r a u m zwischen 1797 u n d 1802 zu einer objektiven, historisch wertenden B e t r a c h t u n g der Französischen Revolution als einem Ereignis von epochaler Tragweite: „ L a révolution française", schrieb er im „ L e t t r e au S p e c t a t e u r sur la l i t t é r a t u r e russe", ,,est u n d e ces é v é n e m e n t s , qui f i x e n t les destinées des h o m m e s p o u r u n e longue suite de siècles. U n e nouvelle èpoche commence .. ," 14 Dieser von u n s skizzierte, in der Forschung vielfach erörterte W a n d e l in der B e u r t e i l u n g der revolutionären Ereignisse in Frankreich 1 5 ist von K a r a m z i n selber b e s t ä t i g t worden, als er in dem Artikel „Bceoßmee o6o3peHHe" bei der R ü c k s c h a u auf den zehn J a h r e w ä h r e n d e n „ R e v o l u t i o n s k r i e g " die rhetorische F r a g e stellte: ,,M M H o n i e jih c o x p a H i i J i H no KOHLja ceË b o h h h To MHeHHe o Bemax h Jho/jhx, KOTopoe HMejiH ohm n p w ee Hanajie?" 1 6 Wir wollen uns jedoch nicht mit diesem Problem n ä h e r beschäftigen, sondern u n s jenen theoretischen E r w ä g u n g e n zuwenden, die K a r a m z i n als Schlußfolgerungen aus den revolutionären Vorgängen in F r a n k r e i c h anstellte. D e n n die Französische R e v o l u t i o n wurde f ü r ihn zum P r ü f s t e i n sowohl f ü r seine geschichtsphilosophische K o n z e p t i o n und politische P r o g r a m m a t i k als auch f ü r seine Ästhetik. U n t e r d e m E i n d r u c k der durch die J a k o b i n e r d i k t a t u r zerstörten H o f f n u n g auf d e n Beginn eines Reiches der V e r n u n f t schuf K a r a m z i n m i t d e n Briefen „Mejionop k (Dmiaj i e i y " u n d „(DnjiajieT k Mejionopy" (1795) eine A r t platonischen Dialog z u m P r o b l e m der Gesetzmäßigkeit in der Menschheitsgeschichte, in d e m er zwei polar entgegengesetzte Varianten durchspielte. Melodor, in dem sich K a r a m z i n s Desillusionierung reflektiert, entwickelt hier die Theorie des ewigen Kreislaufs, der ewigen W i e d e r k e h r . Die Geschichte stellt sich ihm als „Be^Hoe nBHHteHHe B ojjhom n p y r y " 1 7 d a r , als ständiger Wechsel von A u f k l ä r u n g u n d zivilisatorischer B l ü t e mit Niedergang u n d Barbarei. Dies beweise das Schicksal der ägyptischen u n d griechischen K u l t u r e n , die von d e m „BapBapcTBO MHomx bckob" 1 8 abgelöst w u r d e n . Die Schrecken der Französischen Revolution erscheinen ihm als das E n d e des kulturellen Aufschwungs der Neuzeit seit der Renaissance. „ B e n npocBemeHHHÎ", r u f t Melodor aus, ,,fl He y3Haio TeÖH — b KpoBH h njiaMeHii He y3Haio Teßn — cpejpi yÖHücTB h pa3pymeHHH He y3Haio TeÖH ! .. ."19 Alle zivilisatorischen Mühen der Menschheit erscheinen ihm sinnlos wie die Arbeit des S i s y p h u s : ,,Ax, n p y r moh ! yasejiH pop; lejioBe^ecKHH jjoxojjhji b Harne BpeMH no KpaftHeii CTeneHH B03M0?KH0r0 npocBemeHHH h flOJDKeH neiiCTBHeM KaKoro-HHßynt ny^Horo M 11 15

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H. M. KapaMSHH, rincbMa pyccKoro nyTemecTBeuHHKa, JI. 1984, S. 461. So führt II. Rothe aus, daß Karamzin, „ursprünglich ein Parteigänger der Revolution (1789 bis 90)", unter dem Eindruck der Periode des revolutionären Terrors eine Entwicklung vom „Enthusiasmus von 1789" zur „Resignation von 1801" durchgemacht habe. (H. R o t h e , N. M. Karamzins europäische Reise: Der Beginn des russischen Romans. Philologische Untersuchungen, Bad Homburg v. d. H. — Berlin —Zürich 1968, S. 332 — 333). Zu ähnlichen Ergebnissen sind auch fl. fl. B n a r o ß (MeropHH pyccKoö JiHTepaTypbi XVIII BeKa, M. 1951, S. 634 — 636), T. MaKoroHeHKo (JlHTepaTvpHaH no3HijMH Kapaii3HHa b XIX Bene, in: PyccKan jiHTepaTypa, Jl. 1962, Js» 1, S. 78—89), H. ,L(. K o e t k o h a (Hctophh pyccKoii nHTepaTypti b 'leTwpex TOMax, t . nepBbiö, JI. 1980, S. 754 — 756) gekommen. H. M. KapaMSHH, M36p. CTaTbii H nwcbMa, M. 1982, S. 78. ebd., S. 152. ebd., S. 151. ebd., S. 149.

348 T a t o o r o 3aK0Ha

Z. Slaw. 34 (1989) 3 Hiicna^aTb

c ceft b h c o t h , itoSbi

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b BapßapcTBO h

CHOBa M a j i o - n o M a J i y b b i x o ^ h t b m 3 O H o r o , n o f l o Ö H O CH3ii(j)OBy K a M H i o . . . " 2 0

Diesen aus der E n t t ä u s c h u n g über den F o r t g a n g der Französischen Revolution entsprungenen G e d a n k e n stellt Philaleth seinen ungebrochenen Glauben an d e n Menschheitsfortschritt sowie einen religiös und anthropologisch begründeten historischen Optimismus im Sinne von Leibniz' „prästabilierter H a r m o n i e " u n d S h a f t e s b u r y s „kosmischer H a r m o n i e " entgegen. Philaleth vergleicht die Französische Revolution mit einem großen E r d b e b e n , das schreckliche Zerstörungen bringe, aber vorübergehe und dem ein neuer A u f b a u folge. Melodors Verzweiflung über den ewigen Wechsel von Aufstieg u n d Niedergang der A u f k l ä r u n g u n d Zivilisation in der Geschichte erscheint ihm u n b e g r ü n d e t , u n d er lehnt das Bild des Sisyphus mit seinem Stein als Metapher f ü r die E n t w i c k l u n g der Menschheit a b . Philaleth hat sich seinen Glauben an die menschliche V e r n u n f t b e w a h r t u n d meint, ,,b ojjhom npocBemeHHH Haii^eii mh cnacHTejibHwü aHTHnoT fl.iiH Bcex oo^otrpiü qejiOBeqecTBa!"21 I n diesen W o r t e n k ö n n e n wir zweifellos K a r a m z i n s eigene Überzeugung erkennen, die ihm wenig s p ä t e r aus seiner geistigen Krise herauszufinden half und die f ü r sein ganzes weiteres Leben u n d Schaffen grundlegend bleiben sollte. Als Alternative zu Melodors Kreislauftheorie entwickelt Philaleth die K o n z e p t i o n , d a ß sich die Menschheit in einer Abfolge von S t u f e n aufwärtsbewege, dabei allerdings a u c h Rückschläge u n d Perioden des Niedergangs hinnehmen müsse. ,„H JIH nero h Tenepb He ^yiviaTb HaM", läßt Karamzin Philaleth sagen, „mto BeKH cjiyjKaT pasysiy jiecTHimeio, no K O T o p o i i B 0 3 B L i m a e T C H oh k C B o e M y C 0 B e p u i e H C T B y , HHor.ua ßbiCTpo, HHor.ua M e f l J i e H H O ? " 2 2 Somit verteidigte K a r a m z i n d u r c h den Mund Philaleths die A u f k l ä r u n g und den F o r t schrittsgedanken, w e n n er ihnen auch in der Folgezeit — im Gegensatz zu den französischen Aufklärern des 18. J a h r h u n d e r t s oder D e n k e r n wie A. N . Radisöev— weniger einen politischen u n d sozialen als vielmehr einen sittlichen u n d zivilisatorischen I n h a l t verlieh. I n d e m K a r a m z i n Melodors K o n z e p t i o n der ewigen Wiederkehr Philaleths Theorie der stufenförmigen Höherentwicklung als grundlegende Gesetzmäßigkeit der menschlichen Geschichte und Zivilisation entgegenstellte, f a n d er a u c h zu einem objekt i v e n Urteil über den historischen Stellenwert der Französischen Revolution. D a s europäische Mittelalter und die Ereignisse in F r a n k r e i c h erscheinen ihm j e t z t nicht m e h r als ein bloßer R ü c k f a l l in die Barbarei, sondern — u n d das in erster Linie — als eine notwendige Durchgangsstufe im ewigen Prozeß der Weiter- u n d Höherentwicklung der Menschheit. D a s aus der Desillusionierung über die Ergebnisse der Französischen Revolution hervorgegangene Suchen nach einer neuen, objektiven Geschichtskonzeption f a n d in der E n t wicklung von K a r a m z i n s ästhetischem D e n k e n eine Parallele. I n der Periode seiner ideologischen Krise 1793—1796 zog er die von der A u f k l ä r u n g ü b e r k o m m e n e Auffassung einer politischen u n d sittlich-aufklärerischen F u n k t i o n von L i t e r a t u r und K u n s t in Zweifel u n d schuf — zumindest in Ansätzen — das K o n z e p t einer reinen, künstlerisch-immanenten u n d esoterischen B e s t i m m u n g der K u n s t . I n Gedichten wie , , n o c j i a H n e k / j M H T p H e B y " (1794) und ,,K ß e ^ H O M y noaTy" (1796) ä u ß e r t e er seine Zweifel, ja Verzweiflung ü b e r den Z u s a m m e n b r u c h eines aufklärerischen, fortschrittsgläubigen 2

ebd., S. 150. ' ebd., S. 157. 22 ebd., S. 157. 2

G. DUDKK, Die Französische Revolution und Karamzin

349

Dichterturas angesichts der Schrecknisse der Revolution. In „IIocjiaHHe K 3 M H T P H E B Y " stellt er resigniert fest: „ H e MomeM npeMeHHTb jno/jeii" und empfiehlt seinem Dichterfreund : „Ceöe nocTpoHM T H X H H KpoB / 3a MpanHoft ceHHio Jiecoß .. ," 23 In ,,K 6eaHOMy noaTy" rät er dem Poeten dann schon eindeutig, vor den Mißhelligkeiten des Daseins Zuflucht in der reinen Innerlichkeit, einer Welt der Phantasie und des Traums zu suchen: „Mrpaft B flyrne CBoelt MeHTaiviH, / Miiane 6y.neT ?KH3Hb CKyqHa."24 In diesem Gedicht formuliert Karamzin bereits ein Lieblingsmotiv der späteren „reinen Kunst", nämlich den Topos des „freien Vogels" als Sinnbild der Unabhängigkeit des Dichters von allen gesellschaftlichen Bindungen: „Kaii rrriiiKa, B SejioM CBeTe BOJieH, / He3Haemb KJieTKH, H H OKOB .. ," 25 (Der Topos besitzt eine Entsprechung in Goethes Ballade „ D e r Sänger": „ I c h singe, wie der Vogel singt, / Der in den Zweigen wohnet; / Das Lied, das aus der Kehle dringt, / Ist Lohn, der reichlich lohnet." 26 Er drückt hier die Idee des Eigenlohns der Kunst aus, auf die sich die Anhänger der „reinen Kunst" ebenfalls beriefen.) Aus dieser resignierenden Rückzugsposition fand Karamzin erst nach Überwindung seiner geistigen Krise in den Jahren 1797/98 heraus, wie das programmatische Gedicht „IIpoTeit, HJIH HecorjiacHH CTHXOTBCtpija" (1798) erkennen läßt. Karamzin kontrastiert darin den empfindsamen Naturdichter und Idylliker mit dem die Gesellschaft suchenden Schriftsteller und Aufklärer, ohne einem von beiden den Vorzug zu geben. Er beansprucht aber für den Dichter das Recht auf proteische Wandelbarkeit, auf die Ausfüllung beider Rollen. Er entsagt zwar nicht der reinen Innerlichkeit, hält sich jedoch als Schriftsteller — wie später auch als Historiker — die Rückkehr zum gesellschaftlichen Engagement offen. Damit hatte Karamzin sowohl in seinem philosophischen wie ästhetischen Denken einen Standpunkt erreicht, der es ihm ermöglichte, um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert konkrete politische Schlußfolgerungen aus der Französischen Revolution und dem zehnjährigen „Revolutionskrieg" zu ziehen. Sie liefen einerseits auf die Begründung eines politischen und sozialen Konservatismus besonderer Prägung hinaus. Die revolutionären Ereignisse hätten, so argumentierte der russische Denker in dem Artikel „IlpHHTHHe BHJJH, HaßeHiflBI H HtejiaHHH HBIHeillHero BpeMeHü" (BeCTHHK Eßponbl, 1802), mit ihrer Anarchie wider ihren Willen — ja in Umkehrung von Absicht und Wirkung — gezeigt, daß ein starker Staat notwendig sei und „ H T O caMoe Typei;Koe npaBJiemie jiynme

aHapxHH,

noTopan

Bcerjja OHBaeT

cjie^cTBHeM rocyflapcTBeHHbix

noTpnce-

HHÜ;..."27 Schließlich gelangt er hier zu folgendem Fazit: „ToecTB(I)paHLtyaoKaHpeeoJIKH^HH, rpo3HBinaH HHcnpoBeprHyTb B c e npaBHTejibCTBa, yTBep^HJia HX." 28 Der russische Feudälstaat habe infolgedessen aus den revolutionären Vorgängen in Westeuropa profitiert: „HiiKorfla P O C C H H CTOJibKO He yBa?Kajiacb B noJiHTHKe", stellte er hier fest, „HHKorjja ee B E J I N I N E He 6 H J I O T A U JKHBO H Y B C T B Y E M O BO Bcex 3EMJIHX, K A U Hbrne."29 Diesen politischen Konservatismus verband Karamzin andererseits mit der unbedingten Verteidigung der Aufklärung in Rußland, der er allerdings jetzt lediglich eine

23

H. M. KapaM3HH, IloJiHoe coßpamie cTiixoTBopeniiW, M.— JI. 1966, S. 138. ebd., S. 193.

25 26 27 28 29

ebd., S. 192. Goethes Werke in sechs Haupt- und vier Ergänzungsbänden. Hrsg. von Th. Friedrich, Erster Band, Lpz. (Reclam) o. J., S. 187. II. M. KapaM3HH, H3ßp. CTaTi>n H i i H C b w a , M. 1982, S. 85. ebd., S. 86. ebd., S. 87.

350

Z . Slaw. 84 (1989) 3

ethisch-kulturelle Funktion zugestand. Die Aufklärung, die in Frankreich Wegbereiter der politischen und sozialen Revolution gewesen war, solle in Rußland zu einem Instrument der Regierung bei der sittlichen Erziehung der Bürger und der Durchsetzung des kulturellen und zivilisatorischen Fortschritts umfunktioniert werden. Sie habe, nach Karamzin, ihre Aufgabe innerhalb der bestehenden Feudalordnung zu erfüllen, indem sie deren innere Evolution und zivilisatorische Höherentwicklung sichere: ,,... MLI HE XOTHM BNACTB H B npyryio K p a i i H o c T b " , führte er in „ ü p H H T H b i e B H H M , HaßejKßbi H jKejiaHHH H H H e u m e r o B P E M E H N " aus, ,,He XOTHM Y B E P N T B ceßn, HTO P O C C H H HAXOFLHTCH y w e Ha BHCOHaÄnieft CTeneHH ß j i a r a H coBepmeHCTBa. HeT, M y ^ p o e npaBJieHHe Haine Tew CßEJIATB eme MHOTO aoöpa OTenecTBy." 3 0 Schließlich ließen die Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der Französischen Revolution und seine historischen Studien Karamzin zu dem Schluß gelangen, daß — wie R. Pipes feststellt — „in Russia civil rights had to be attained at the cost of political rights, that is, through the acceptance of an autocratic system of government" 31 . CNACTJIHBEE, HTO OHO MO?KET

Damit nahm Karamzin, wie M. M. Strange gezeigt hat, eine Zwischenstellung zwischen den radikalen Aufklärern (Radiscev und dessen Anhängern) und den entschiedenen Gegnern der Revolution (insbesondere den in religiöser Mystik befangenen Moskauer Freimaurern) ein32. Diese Spezifik des Karamzinschen Konservatismus, die sich auch darin äußert, daß er der Charakterstärke und Selbstlosigkeit eines Robespierre durchaus Hochachtung zollte, während selbst Radisöev in „üecHb HCTopHTOCKa«" (1801 — 1802) Robespierre mit dem grausamen Sulla auf eine Stufe stellte, erklärt, warum der Autor der „Reisebriefe" als Ideologe der Selbstherrschaft dennoch bis zu seinem Tode an dem Ideal von Piatos „Republik der Weisen" festhielt33. Sie macht auch Karamzins Eigencharakteristik in einem Brief an den Fürsten P . A . Vjazemskij aus dem Jahre 1820 verständlich: „ H B flyme pecnyojiMKaHen H TaKHM yMpy." 34 Dieses Selbstzeugnis bestätigt Vjazemskij in seinen Anmerkungen zu Karamzins Gedicht „McTopHnecKoe noXBAJIBHOE CJIOBO EITATEPHHE I I " (1803) mit den Worten: „ K a p a M 3 H H 6HJI B CRMOM FLEJIE FLYMOK) pecnyßjiHKaHei;, a TOJIOBOIO M O H a p x n c T . IlepBbiM 6HJI OH no nyBCTBy CBoeMy, r o p H i M M NPEFLAHHHM ioHomecTBa H a y x o B H o i i CBoeü HE3ABHCHMOCTH; BTOPHM CAeJiajica OH BCJIEßCTBNE H3yneHHH HCTOPHH H c Heio npHoöpeTeHHoft OHBITHOCTH." 3 5 Karamzins resümierende Überlegungen zur Bedeutung der Französischen Revolution bildeten andererseits eine wesentliche Voraussetzung für seine vertiefte Einsicht in das Wesen des historischen Prozesses, insbesondere in die Zwänge objektiver gesellschaftlicher Notwendigkeiten. Das Erlebnis und die geistige Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Revolution haben u. E. entscheidend zur Formung Karamzins als herausragendem Historiker, als Verfasser der 12bändigen „McTopHH roey;i,apcTBa P O C C H H CKoro" (1818 — 1826) beigetragen. Die Stürme der Revolution entzauberten für ihn die Vergangenheit, ließen ihn von der rückwärtsgewandten Utopie einer idyllischen, arkadischen Periode der Menschheit Abschied nehmen. „üycTb 3arjiHHyT B CTapwe jieTonncn

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ebd., S. 88. R . P i p e s , K a r a m z i n ' s Memoir on Ancient and Modern Russia, Cambridge Mass. 1959, S. 90. vgl. M . M . I I l T p a H r e , Pyccwoe oömecTBO h a. Oanc.HMitJibHoe usaaHiie. PejaKqiiH: M. B. HenKUHa/E. JL PyAiiHUKaH. BcTVimTejibnan CTaTbH h KOMMeHTapnH: II. fl. EitjiejibMaH, M. 1983. vgl. P. H o f f m a n n , Alexander Suworow. Der unbesiegte Feldherr, Bln. 1986, S. 94.

MUCJMTEJIEII

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24

M.

SCHIPPAN,

Die Französische Revolution und Kußland

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P a i x de l ' E u r o p e ne p e u t s'établir q u ' à la suite d ' u n e longue trêve, ou P r o j e t de pacification g é n é r a l e . . . " (Amsterdam 1757). 25 U n t e r den vielen P r o j e k t e n zur S c h a f f u n g eines allgemeinen Friedens schien diese Schrift k a u m hervorzuragen, ihr Autor war d e m europäischen P u b l i k u m nahezu u n b e k a n n t . Cebrikov, der Vater eines z u k ü n f t i g e n D e k a bristen, wählte jedoch gerade dieses B u c h zur Übersetzung aus, weil es ihm geeignet schien, eigene Gedanken zu propagieren, ohne den Zugriff der Zensur f ü r c h t e n zu müssen. D a die Übersetzung a n o n y m erschien 2 6 , n a h m C u b a r ' j a n an, es handele sich u m eine Arbeit von Cebrikov selbst. I n diesem Fall h a t C u b a r ' j a n die Arbeiten sowjetischer Literaturwissenschaftler u n d Philosophen nicht zur K e n n t n i s genommen, in denen auf Goudar als Autor verwiesen wird. 27 G o u d a r als ein plebejischen Kreisen v e r b u n d e n e r Schriftsteller h a t t e auf den Z u s a m m e n h a n g des Charakters der Kriege u m die Mitte des 18. J h . mit dem A u f k o m m e n der M a n u f a k t u r a u f m e r k s a m gemacht : „ H e u t e sind es nicht mehr die Armeen, die den Krieg machen, sondern das Gewerbe, d e n n hier werden die R e i c h t ü m e r geschaffen, ohne die ein Krieg nicht existieren k a n n . " An a n d e r e r Stelle meinte G o u d a r : „Alle E r o b e r u n g e n sind abgeschlossen. Die E r d k u g e l ist a u f g e t e i l t . Die Kriege selbst haben den Kriegen ein E n d e setzen müssen." 2 8 Diese Zeilen w u r d e n 1757 veröffentlicht, als F r a n k r e i c h schwere Niederlagen im Siebenjährigen Krieg hinnehmen m u ß t e . Sie widerspiegeln Tendenzen der Übergangsepoche vom F e u d a l i s m u s zum Kapitalismus. G o u d a r e r f a ß t e in Ansätzen Z u s a m m e n h ä n g e zwischen Krieg u n d W i r t s c h a f t sowie die R e a l i t ä t der u m Kolonialbesitz u n d Handelsvorteile g e f ü h r t e n Kriege in der letzten P h a s e des „klassischen" Absolutismus. Mit der Ü b e r s e t z u n g des W e r k s von Goudar beeinflußte Cebrikov die gesellschaftliche Diskussion über Krieg und Frieden in R u ß l a n d nach 1789. Sein Tagebuch, in d e m er a n h a n d eigener Erlebnisse vor Ocakov die Schlußfolgerungen Goudars bestätigte, k o n n t e Cebrikov seinerzeit n i c h t veröffentlichen; es erschien erst 1895. 29 Als russischer D i p l o m a t u n d Bevollmächtigter in d e n D o n a u f ü r s t e n t ü m e r n h a t t e V. F . Malinovskij ebenfalls die Schrecken des Türkenkrieges u n d seine Folgen f ü r die Zivilbevölkerung aus eigener A n s c h a u u n g kennengelernt. E r war a n den F r i e d e n s v e r h a n d lungen in J a s s y 1791/92 und a m Abschluß des Friedens zwischen R u ß l a n d u n d der T ü r kei u n m i t t e l b a r beteiligt. N u r wenigen Mitgliedern der russischen Gesellschaft w u r d e 1803 klar, wer sich h i n t e r den Initialen ,,V. M." v e r b a r g : der Autor eines zweiteiligen Buches u n t e r d e m Titel „PaccyHsneHHe o MHpe H BOÜHe". Der erste Teil dieser Schrift war bereits 1790 im englischen R i c h m o n d fertiggestellt worden. I m J a h r der Französischen R e v o l u t i o n war Malinovskij, der Autor „V. M.", Sekretär der russischen G e s a n d t s c h a f t in E n g l a n d geworden. Möglicherweise w u r d e Malinovskij in E n g l a n d mit den Auffassungen von J e r e m y B e n t h a m b e k a n n t , der 1786 — 1789 einen P l a n zur Herstellung eines allgemeinen u n d 25 26

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3

vgl. G o r d o n , S. 344. Map Eßponu He Mo;i;eT ima^e B0CCTan0BHTf>CH, Kau TOJII>KO no npo;noJi>KHTe.ni>noM ncpewupuH. MJIH IlpoeKT nceoömero 3aMHpeHHH, nepeBeseHHO c ({)paHijy3CKoro Hsuna B CTaHe nepefl OiaKOBUM B 17S8r., cne. 1789. vgl. x IyöapbHir, S. 129. Das betrifft die zitierten Arbeiten von Gordon und Alekseev sowie 9. A. A p a o - O r n u , BHAaiomwicH pyceunft npoCRCTHTe.iib, in: B. . EuiKOiia, OTTHCK H3 jKypHajta „Pyccnafl C T a p H H a " , JV? 9/1895, T. 84. Z. Slawistik, Bd. 34, H. 3

360

Z. Slaw. 34 (1989) 3

beständigen Friedens verfaßte. Dieses Werk erschien allerdings erst 1843 in Bd. I I der Ausgabe der W e r k e B e n t h a m s . Den zweiten Teil seines ,,Paccy}Kji;eHHe" schrieb Malinovskij 1798 in Belozerka bei Pavlovsk, also in unmittelbarer N ä h e von St. Petersburg. 3 0 Der Französischen Revolution von 1789 stand Malinovskij reserviert gegenüber. Er lehnte gewaltsame Methoden der Umwälzung der Gesellschaft a b u n d setzte — als typischer Vertreter der Aufklärung — auf die Erziehung des Menschen. W e n n hier die Französische Revolution u n d das russische Friedensdenken in eine Beziehung zueinander gesetzt werden sollen, so ist zu beachten, d a ß der aus Frankreich k o m m e n d e Ruf nach Frieden nicht u n m i t t e l b a r eine F l u t zustimmender Meinungen aus R u ß l a n d hervorbrachte. Die Zeitgenossen, so auch Malinovskij, erlebten, d a ß auf die Revolution bald eine Welle kriegerischer Ereignisse folgte. E s n i m m t nicht wunder, d a ß in dem 1803 erschienenen H a u p t w e r k Malinovskijs die Revolution gar keine Rolle spielt. Malinovskij blieb immer Aufklärer, er wurde kein Revolutionär. Wie die kurzzeitig von Malinovskij herausgegebene Wochenzeitschrift „OceHHiie se'iepa" deutlich werden läßt (es erschienen nach dem 26. September 1803 nur acht Ausgaben 3 1 ), war er durchaus in der Lage, die politische Situation in E u r o p a realistisch zu werten und die Gegensätze zwischen den S t a a t e n auf den K a m p f zwischen Frankreich und England um die Vorherrschaft zurückzuführen. 3 2 Malinovskij ist vor allem in der Puskin-Forschung als Direktor des gerade gegründeten Lyzeums in Carskoe Selo von 1811 bis zu seinem Tode 1814 beachtet worden. E . A. ArabOgly und M. P . Alekseev haben g l a u b h a f t gemacht, d a ß der junge Aleksandr Sergeevic und die k ü n f t i g e n Dekabristen, die an dem Lyzeum ausgebildet wurden, mit den Ideen Malinovskijs über Krieg und Frieden v e r t r a u t waren. 3 3 Der ehemalige Diplomat und vielseitig gebildete Gelehrte Malinovskij, dessen Schriften noch längst nicht alle publiziert worden sind, verkörperte einen Übergang von den Ansichten der russischen Aufklärer zu denen der nachfolgenden Generation, ohne selbst zu revolutionären Schlußfolgerungen gelangt zu sein wie die Dekabristen. B. S. Mejlach, der das E r b e Malinovskijs wieder f ü r die Puskin-Forschung zugänglich machte, u n d Arab-Ogly betonten, d a ß die in bisherigen Darstellungen anzutreffende Charakteristik Malinovskijs als eines weichherzigen, schwärmerischen und weltfremden Träumers, der phantastischen Weltverbesserungsplänen nachhing, nicht zutreffend ist. 34 Sicher, u m seine gesellschaftliche Stellung nicht zu gefährden, veröffentlichte Malinovskij seine Denkschriften über eine Staatsreform, über die Befreiung der russischen Bauern aus der Leibeigenschaft, über die Verbesserung der Lage der J u d e n u n d jenen dritten, „ u t o p i s c h e n " Teil seines Fried e n s t r a k t a t e s nicht, den I . S. D o s t j a n analysierte. Aber allein die 1958 publizierten Arbeiten lassen erkennen, d a ß er ein demokratisch gesinnter Publizist war, dessen Ged a n k e n zum Teil weit in die Z u k u n f t wiesen. E i n Vergleich der Auffassungen der Dekabristen über Krieg u n d Frieden, die von Alek30

vgl. MajiHHOBCKiiil, MaöpaiiHbie oömecTBeHHO-iiOJiHTHHecKKe com-meHiin, S. 27, 156; ß o c t h h , ,,RuponeiiCKan yTonun". 31 vgl. die Wiedergabe in: MaJiHHOBCKHii, S. 99 — 110; Kommentare, S. 159. 32 „Opamjiin h A h f j i h h Hapyiiuum nesaBHO BOCTaHOBJieHHbiii Mnp, h npoTHBooopcTBo h x cHOBa yrpowaeT Eßpone o6meio b o ä h o i o " , ebd., S. 99. ®3 vgl. auch 9. A. Apa6-OrJiti, BbmaromnecH npocBeTHTe.il>-,neMonpaT (K 150-jieTnio BbixoAa b CBeT ,,Paccy?KßeHHH o MHpe h Boftne") in: Bonpocu 5ff.

D. JENA, Die Französische Revolution und Herzen

363

einandersetzung mit den historischen Vorbildern bürgerlicher Revolutionen entwickelten. Und dennoch: Bei den Narodniki der 70er Jahre, die unter den Einflüssen P. L. Lavrovs und M. A. Bakunins standen, existierte eine besondere jakobinistische Fraktion. Ganz anders gingen jene Kräfte des russischen Gesellschaftsdenkens, die die proletarische Etappe der Befreiungsbewegung repräsentierten, an das bürgerliche revolutionäre Erbe heran. Auch für sie war die Große Französische Revolution Ansatzpunkt eigener revolutionstheoretischer Überlegungen. Der erste große russische Marxist, G. V. Plechanov, schrieb am Ende des 19. Jh., daß die Zeit herangereift sei, in der das Proletariat „die Rechte der Kapitalisten auf derselben Waage wiegt, deren sich vor mehr als einem Jahrhundert die Repräsentanten der Bourgeoisie bedienten, um die Privilegien des Adels zu wägen" 4 . Wie überaus schwierig es für die russischen Marxisten war, am Beginn des 20. Jh. ihre Aufgaben in der bürgerlichen Revolution zu bestimmen, erhellt u. a. die Tatsache, daß sich Plechanov selbst nach der Niederlage des Moskauer Proletariats vom Dezember 1905 als den Robespierre Rußlands betrachtete, der angeblich zur rechten Zeit versucht habe, die Revolution zu bremsen.5 Im Jahre 1889 wurde in aller Welt der 100. Jahrestag der Französischen Revolution begangen. Frankreich gedachte dieses Ereignisses mit einer Weltausstellung. Ein Rückblick auf das Jubiläum läßt erkennen, welche historische und politische Sicht die unterschiedlichen gesellschaftlichen Kräfte in Rußland auf das Problem der sozialen Umgestaltung des eigenen Landes besaßen. Dabei hoben sich deutlich die drei politischen Lager voneinander ab, die sich 1861 mit der Aufhebung der Leibeigenschaft herauszubilden begonnen hatten: das monarchistische, das bürgerlich-liberale und das revolutionär-demokratische Lager. Während die konservativen „ M o c K o e c K i i e Be/JOMOCTII" das Jubiläum am liebsten ganz verschwiegen hätten und ihre Würdigungen des Datums von 1789 mit der Forderung verbanden, die staatliche und militärische Macht des Zarismus unablässig zu stärken, würdigte die liberale Presse, z. B. der „ B C C T H H K Eßponbi" — trotz notwendiger Zensurrücksichten — ausdrücklich und umfangreich die im Kampf gegen den Absolutismus erkämpften bürgerlichen Freiheiten. Die Liberalen maßen dem 5. Mai 1789 — dem Tag der Einberufung der Generalstände — eine herausragende historische Bedeutung zu.6 Die Liberalen, für die zu diesem Zeitpunkt eine mögliche künftige Republik in Rußland noch kein politisches Ziel war, gingen sogar so weit, in ihrem „ C e B e p i i f c i ü B e c r a i i K " in drei Ausgaben den Artikel von Karl Kautsky „Die Widersprüche der Klasseninteressen im Jahre 1789. Zum einhundertsten Jubiläum der großen Revolution" zu veröffentlichen7. Das revolutionär-demokratische Lager wurde vor allem durch den Beitrag von G. V. Plechanov „Der einhundertste Jahrestag der Großen Revolution" repräsentiert. In der Polemik gegen den bürgerlichen französischen Historiker Paul Janet formulierte Plechanov die Auffassung: „Die Ziele der Bourgeoisie können nicht die Ziele der Arbeiterklasse sein ... Darum geht das Proletariat weiter, indem es den bürgerlichen Geist der Großen Revolution verurteilt. Aber es bleibt dem 4

5

G. W . P l e c h a n o w , Beiträge zur Geschichte des Materialismus. Holbach, Helvetius, Marx, Bln. 1957, S. 44. vgl. d e r s . , Eine o Hamern noao>«eHHM. IIiicbMO K TOBAPHMY X . , in: COH., M.-ürp.-JI. 1923 bis 1927, T. 15, S. 12; e b e n f a l l s i n : ^IICÜHHK coqiiaii-AeMOKpaTa, JN° 4, flen. 1905R.

6

B . C. M T e H Ö e p r , POCCHK H CTOJIOTHC nemiKoft (JtpaHuyacKoii pcBOJuoniiH, i n : M e r o p H H C C C P ,

7

K . K a y T C H H M , r i p o T H B o p e q i m KJiaccoBux nirrepeccoB B 1 7 8 9 r . K cTOJieTneMy Kioiuiew Be.ni-

1988, JVI 2, S. 65 ff. KOÖ PEBGJTIOQHH (nepeBOA c H e M e q K o r o ) , i n : CenepHHft BGCTHHK, 1889, A » 4, 5, 6.

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revolutionären Geiste treu, weil diesem treu bleiben bedeutet, unermüdlich und f u r c h t los f ü r eine bessere Z u k u n f t zu kämpfen sowie einen unerbittlichen Kampf gegen alles Veraltete und Überlebte zu führen." 8 In dieses das gesamte 19. J h . prägende Spektrum objektiver historischer Prozesse, divergierender Meinungen, unterschiedlicher Klasseninteressen und dynamischer gesellschaftlicher Veränderungen in Rußland m u ß auch Herzens Wertung der Großen Französischen Revolution eingeordnet werden. Seine Person ist in besonderer Weise geeignet, den Zusammenhang Rußlands mit den gesamteuropäischen Problemen zu dokumentieren: Mit Alexander Herzen (1812—1870) trat ein in vieler Hinsicht neuer T y p revolutionärer Aktivisten in das Rampenlicht der russischen Geschichte. Nach der Niederlage der Dekabristen gehörte Alexander Herzen nicht mehr jener Generation russischer Revolutionäre an, die in den bürgerlichen Idealen von 1789 unmittelbar ein Vorbild für die soziale und politische Perspektive des eigenen Vaterlandes erblickte. Sein geschichtlicher Standort im Beziehungsgefüge von bürgerlichem Revolutionszyklus und russischer Gesellschaftsentwicklung wurde dadurch geprägt, daß er als großer russischer Aufklärer und Denker, der historisch zwischen den Dekabristen und den revolutionären Demokraten einzuordnen ist, gleichzeitig in markanter Weise den geistigen Trennungsprozeß von revolutionärem und liberalem Gesellschaftsdenken in Rußland beeinflußte. Die entscheidenden Impulse f ü r seine geistige Evolution empfing er dabei aus der russischen Wirklichkeit, vor allem aus den politischen Erfahrungen im Klassenwiderspruch von Bourgeoisie und Proletariat während der revolutionären Ereignisse von 1848/49 in Frankreich, sowie aus dem Erlebnis der revolutionär-demokratischen Unabhängigkeitsbewegung in Italien. Aus E n t t ä u s c h u n g über die konterrevolutionäre Politik der Bourgeoisie — besonders im Paris des J u n i 1848 — entwickelte er einen Skeptizismus, der objektiv „eine Widerspiegelung jener weltgeschichtlichen Epoche (darstellte — D. J.), da das revolutionäre Streben der bürgerlichen Demokratie s c h o n in den letzten Zügen lag (in Westeuropa), die revolutionäre Gesinnung des sozialistischen Proletariats jedoch n o c h n i c h t herangereift war." 9 Später entstand eine Ideologie, deren Inhalte sich — in Anlehnung an den französischen utopischen Sozialismus — dahingehend entwickelten, daß Rußland unter Umgehung des Kapitalismus zu einer sozialistischen Ordnung gelangen könne, die sich auf die Befreiung der Bauern mit der Zuteilung von Land, auf den Grundbesitz der Dorfgemeinde und auf die Verwirklichung der bäuerlichen Idee vom „ R e c h t auf Grund und Boden" stütze 1 0 . Lenin hat im J a h r e 1912 darauf hingewiesen, daß in dieser Lehre Herzens „auch nicht ein G r a n " Sozialismus enthalten ist 11 . Gerade die Befreiung der Bauern aus der Leibeigenschaft mit Landzuteilung wäre eine entscheidende Voraussetzung f ü r die beschleunigte E n t wicklung zum Kapitalismus gewesen. Gleichzeitig war Herzen eine philosophische Persönlichkeit von gesamteuropäischem Rang. Die Geschichte Frankreichs und seiner großen revolutionären Traditionen trug wesentlich zur Formierung seines eigenen Weltbildes bei — freilich nicht in dem Sinne, daß sie f ü r ihn das entscheidende historische Vorbild eigener nationalrevolutionärer und -staatlicher Entwicklung gewesen wäre. Herzen entwickelte ein Sozialismus-Modell, das subjektiv utopisch war, weil es objektiv auf die bürgerliche Gesellschaft hinauslief. 8 9 10 11

r. B. ÜJiexaHOB, P O C C H H H CTOJieTne rie.TOKüä peBOJiK>ii;nn, in: C O H . , T. 4, S . 65. W. T. L e n i n , Dem Gedächtnis Herzens, in: Werke, Bd. 18, Bln. 1965, S. 10. ebd., S. 11. ebd., S. 12.

D. JENA, Die Französische Revolution und Herzen

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Zudem enthielt es, bedingt durch die Niederlage der Dekabristen und den extremen Despotismus im Regime Nikolajs I., die f ü r die nächste Z u k u n f t in Rußland keine bürgerliche Revolution erhoffen ließen, starke Tendenzen, die Herzens Reaktion auf die französischen und italienischen Ereignisse von 1848 mit traditionellen Moralvorstellungen russischer Revolutionäre verbanden. Auf diese Weise repräsentierte Herzen auch in ethischer Hinsicht eine neue Generation in der russischen antizaristischen Befreiungsbewegung. Lenin schrieb d a z u : „Herzen rettete die E h r e der russischen Demokratie." 1 2 Für die revolutionären Moralvorstellungen Herzens, die aus den gesammelten Erfahrungen der russischen und seiner eigenen Vergangenheit resultierten und die zugleich dem individuellen Erfahrungsschatz eigener Erlebnisse besonders in der Verbannung im Russischen Reich entsprachen, war die Revolution von 1848/49 von ausschlaggebender Bedeutung. Sie n a h m bei der Ausprägung seines revolutionär-demokratischen Weltbildes einschließlich der Verarbeitung der Erfahrungen des revolutionären F r a n k reichs eine Schlüsselfunktion ein. Diese Revolution aus der Mitte des 19. J h . ist als Zäsur seiner geistigen und weltanschaulichen Entwicklung so bedeutsam gewesen, daß Wissenschaftler, wie z. B. der Philosoph A. I. Volodin dazu neigen, den Alexander Herzen aus der Zeit vor der Revolution von dem danach zu trennen. „Davor — der junge begeisterte Glaube an die Menschheit, an deren Vernunft, an das unausweichlich, schon bald zu verwirklichende sozialistische Ideal sozialer Harmonie . . . Danach — die tiefe Skepsis in bezug auf die früheren Hoffnungen, gegenüber der Z u k u n f t Europas sowie der Z u k u n f t überhaupt, gegenüber jeglicher sozialer Theorie und zeitweilig sogar gegenüber dem eigenen neuen Glauben an die Möglichkeit, in Rußland die ,bourgeoisen Blatternarben' der qualvollen kapitalistischen Ordnung vermeiden zu können." 1 3 Dieses Bild ist jedoch zu einfach, es romantisiert und mystifiziert das komplizierte Verhältnis Herzens sowohl zur bürgerlichen Revolution als auch zur sozialistischen Umgestaltung in Rußland. Damit ist auch nicht die A u f n a h m e der Französischen Revolution durch Herzen zu bewältigen. Der Skeptizismus Herzens war im historisch fortschrittlichen Sinne „eine Form des Übergangs von den Illusionen des ,über den Klassen stehenden' bürgerlichen Demokratismus zum harten, unerbittlichen, unbesiegbaren Klassenkampf des Proletariats" 1 4 . W e n n die Revolution von 1848/49 tatsächlich nur eine tiefe persönliche Resignation gegenüber allem Bourgeoisen hervorgebracht hätte, wäre es nicht möglich gewesen, daß Herzen im J a h r e 1853 voll Begeisterung schrieb: „Die erste ernsthafte Einwirkung, welche dem literarischen Dilettantismus (in Rußland — D. J.) sofort ein anderes Gepräge aufdrückte, k a m von der Freimaurerei. Gegen das E n d e der Herrschaft Katharinas I I . war sie in Rußland sehr verbreitet. I h r H a u p t , N o w i k o w , war eine von den hervorragenden Persönlichkeiten in der Geschichte . . . Er ließ Übersetzungen machen und veröffentlichte sie auf seine Kosten. So erschien zu seiner Zeit die Übersetzung des ,Esprit de lois' des ,Emil', verschiedener Artikel aus der Enzyklopädie . . . Bei allen diesen Unternehmungen wurde Nowikow kräftig durch den Freimaurerorden, in dem er Meister vom Stuhl war, u n t e r s t ü t z t . Welch eine ungeheure T a t war der k ü h n e Gedanke, in e i n moralisches Interesse, in e i n e brüderliche Gemeinschaft alles hineinzuziehen, was geistig Reifes da war . . . Die Kaiserin K a t h a r i n a ließ

12 13 11

ebd., S. 14. yTomwecKMii connajin3M. XpecTOMaraH, M. 1982, S. 387 f. W. I. L e n i n , Dem Gedächtnis Herzens, (Arim. 9), S. 11.

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Nowikow in die Petersburger Zitadelle werfen, und schickte ihn hernach in die Verbannung . . . Inzwischen erreichte die französische Revolution ihren H ö h e p u n k t . Der Donner der Revolution störte den Schlaf der Monarchen — an der Donau wie an der Newa. Die alternde K a t h a r i n a wurde unruhig, argwöhnisch sogar in Hinsicht auf ihren Sohn. Mißtrauisch sah sie den Freimaurerorden eine neue von ihrem Willen unabhängige Macht erlangen; man sprach viel von dem Anteil, den die Illuminaten und Martinisten an der Revolution genommen hätten, und unter diesen Gerüchten erfuhr sie, daß der Großfürst Paul durch Nowikow in den Freimaurerorden aufgenommen wäre." 1 5 Die von Herzen f ü r Rußland positiv gesehenen Wirkungen der Großen Französischen Revolution — in diesem Falle bezogen auf die Einflußnahme von Freimaurern und Illuminaten auf die Politik Katharinas I I . — verdeutlichten abermals, daß es notwendig ist, tiefer und allseitiger in das geistige Gesamtgebäude seiner Ansichten einzudringen, u m das Wesen der Wandlungen zur Auffassung vom Bauernsozialismus zu verstehen. Allein die Resignation auf den J u n i 1848 k a n n es nicht gewesen sein, obwohl die damals gewonnenen negativen Erfahrungen mit der Bourgeoisie gravierend blieben. E r f a ß t e sie in dem verzweifelten Satz zusammen: „Die Reaktion triumphierte; durch die blaßblaue Republik hindurch waren die Züge der Prätendenten zu erkennen; die Nationalgarde machte J a g d auf Blusenmänner, der Polizeipräfekt veranstaltete auf der Suche nach denen, die sich verborgen hielten, Kesseltreiben in den Wäldern und K a t a k o m b e n . . . Das mit Blut gewaschene Paris hielt niemanden mehr; ohne besondere Notwendigkeit beabsichtigten alle abzureisen; wahrscheinlich wollten sie sich von dem inneren Druck befreien, von den Junitagen, die ihnen ins Blut gegangen waren und die sie mit sich nahmen." 1 6 W a r dieser Rückblick noch sehr stark vom persönlichen Erleben diktiert, so zog Herzen in den „Briefen aus Italien und Frankreich" sowie in der Schrift „Vom anderen U f e r " grundsätzlichere Schlußfolgerungen. Herzen hielt nach 1848 die Staatsformen Frankreichs und aller europäischen Mächte für „unverträglich mit der Freiheit, Gleichheit und Verbrüderung" 1 7 . Er ging sogar noch weiter: „ E u r o p a ist sehr alt, es hat nicht K r a f t genug, um sich zur Höhe seines eigenen Gedankens aufschwingen zu können, es hat nicht Haltung genug, um seinen eigenen Willen auszuführen. E u r o p a hat übrigens nach einer langen L a u f b a h n das Recht, ohne Schande aus dem großen Strome der Geschichte zu treten." E s könne, so Herzen, seinen Platz an Amerika oder — das wurde zu einem beherrschenden Gedanken der Mehrheit revolutionär-demokratischer Denker Rußlands — an die „slawische W e l t " abtreten 1 8 . Gerade der Bezug auf die „slawische W e l t " mit deren sehr unterschiedlichen Entwicklungsbedingungen im Osmanischen Imperium, in der Habsburger Monarchie und im zaristischen Rußland verdeutlicht, daß es Herzen bei seiner Analyse der Geschichte nicht auf die damals bereits durch Karl Marx und Friedrich Engels herausgearbeiteten Klassenkämpfe in der Entwicklung der Menschheit a n k a m . Mit seiner russischen Heimat im Hintergrund konnte er das Klassenwesen der bürgerlichen Revolution nicht erfassen. Seine geistige Entwicklung war bis zu diesem Zeitpunkt 1848 durch die Dekabristen, durch den Ideenstreit von Westlern und Slawophilen, durch Hegel, Schelling und Caadaev und bestenfalls durch die innerrussischen Bauernunruhen geprägt und beeinf l u ß t worden. 15 16 17 18

A. H e r z e n , Rußlands soziale Zustände, Lpz. (1947), S. 68f. ders., Mein Leben. Memoiren und Reflexionen. 1847 — 1852, Bln. 1963, S. 290. ders., Vom anderen Ufer, Hamburg 1850, S. 130. ders., Briefe aus Italien und Frankreich. 1 8 4 S - 1 8 4 9 , Hamburg 1850, S. 218.

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Herzen hatte bis zu seiner Emigration im Jahre 1847 schon bedeutende philosophische Arbeiten geschrieben, wie die Studie , , 0 M E C T E N E J I O B E K A B npiipofle" ( 1 8 3 2 ) , die Schrift ,,,Il,HjieTaHTH3M B H a y K e " ( 1 8 4 2 / 4 3 ) , d i e „ÜHCbMa 06 H3yieHHH NPHPOAH"

(1845/46)

oder den Roman ,,KTO B H H O B a T ? " ( 1 8 4 7 ) . Damit hatte er einen Namen als Philosoph erworben, aber die politische Wirklichkeit der Revolutionen in Italien und Frankreich traf ihn elementar und unvorbereitet. Daraus resultierten auch die Schlußfolgerungen, die er aus den revolutionären Ereignissen in Frankreich zog, und in diesem Sinne verarbeitete Herzen sowohl die politische Geschichte Frankreichs als auch die Lehren der Großen Französischen Revolution. Sie wurden in hohem Maße durch seine Vorstellungen von den subjektiven moralischen Eigenschaften eines Revolutionärs geprägt. Einen aufschlußreichen Überblick über diese Problematik hat in jüngster Zeit der sowjetische Wissenschaftler L. R. Lanskij in dem Aufsatz „Herzen und Frankreich" gegeben, der in dem mit zahlreichen neuen Dokumenten ausgestatteten Sammelband ,,Herzen und der Westen" enthalten ist 19 . Alexander Herzen hat sich in seinem Gesamtschaffen vielfach mit den Erscheinungen, Persönlichkeiten und Lehren der Aufklärung und der Großen Französischen Revolution auseinandergesetzt. Bereits in jungen Jahren begeisterte er sich für die Ansichten Voltaires, Rousseaus und Diderots. Sie entsprachen in hohem Maße seinen eigenen Idealen von einer Welt voller Gerechtigkeit und Gleichheit. Ihre Gedanken, literarischen Formen und Wirkungen inspirierten ihn. Rousseau vergötterte er in jungen Jahren geradezu. Zu einer späteren Zeit — besonders unter dem Einfluß des Juni 1848 — verhielt sich Herzen Rousseau gegenüber jedoch sehr viel kritischer. In dem fiktiven Gespräch „Consolatio" schrieb er: ,,Dem armen Greise blieb nichts als die Natur, und sie bewundernd und preisend schloß er lebensmüde und gramgebeugt die Augen", verachtet und verlassen von den Menschen, denen er sein Leben gewidmet hatte — ist man geneigt, hinzuzufügen 20 . Herzen bekannte in seinen Lebenserinnerungen, daß ihm „Die neue Heloise" überhaupt nichts mehr zu sagen habe 21 . Dabei ist unverkennbar, daß die „Beichte" Rousseaus und die „Memoiren und Reflexionen" Herzens in ihrer Anlage und Zielstellung sehr starke Gemeinsamkeiten aufweisen. Diese Erscheinung ist auch in bezug auf das Werk Diderots erkennbar. Die dialogische Darstellungsform in „Vom anderen Ufer" erinnert an Diderots Erzählweise in „Rameaus Neffe". Bereits aus dieser Sicht geht hervor, daß die französische Aufklärung sehr viel Anregendes zu Herzens allgemeiner philosophischer Bildung beigedragen hat. Den Höhepunkt stellten in dieser Hinsicht die „Briefe über das Studium ter Natur" dar. Den letzten Abschnitt dieser Briefe, den er unter die Überschrift „Realismus" setzte, widmete Herzen ausschließlich der französischen Aufklärung und Philosophie des 18. Jh. Diese große Denkrichtung war unmittelbarer Bestandteil seines gesamten geistigen Reifens und Schaffens und beeinflußte in diesem Sinne auch die Aufarbeitung der Französischen Revolution, wenngleich nicht in jedem Falle der Zusammenhang gegeben war. Auch über die Revolution von 1789 erhielt Herzen bereits in seiner Jugend umfangreiche Kenntnisse. Sein Hauslehrer, ein französischer Emigrant, hatte offensichtlich am Sturm auf die Bastille teilgenommen und war möglicherweise auch am revolutionären Terror 18

20 21

.II. P . .IT a ir C K IT ¡ i , T e p u e H H paHUHH, i n : J l H T e p a T y p H o e HacjieacTBO. T e p n e n it s a n a a , T. 96>

M. 1985, S. 254ff. A. H e r z e n , Vom anderen Ufer, (Anm. 17), S. 79. d e r s . , Mein L e b s n . . . , S. 210.

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beteiligt. Er sprach mit Herzen über diese Ereignisse und weckte in ihm eine solche Begeisterung, daß Herzen die Revolution im fernen Frankreich für eine gewaltige Eruption hielt, die das gesamte Antlitz des Planeten verändert hatte. E r entwickelte in schwärmerischer Jugendhaftigkeit einen wahren K u l t um die Französische Revolution. Er befaßte sich mit ihr wie mit einer Religion. Die Proklamationen, die Reden Mirabeaus, Marats, Robespierres und der „harten Persönlichkeiten" im K o n v e n t sowie Briefe und Memoiren von Zeitgenossen wurden von ihm immer wieder und wieder gelesen. D a gab es viel jugendliches Feuer, obwohl gerade Rußland durch den Vaterländischen K r i e g von 1812 ein besonderes Verhältnis zur damals jüngsten Geschichte Frankreichs besaß. Bei Alexander Herzen blieb die Beschäftigung mit der Französischen Revolution nicht auf die Zeit der Jugend beschränkt. Sie begleitete ihn durch sein ganzes Leben und ihre Würdigung war dementsprechenden Veränderungen unterworfen. Dabei ist vor allem die Frage interessant, welche Probleme ihn besonders interessierten, wie er die von ihm vor allem untersuchten Ereignisse und Persönlichkeiten wertete und wie sich diese Wertungen in die Entwicklung des eigenen Weltbildes, der eigenen revolutionären Vorstellungen einordneten. Zeitlebens hat sich Herzen mit den Schriften Thiers', Michelets, Lamartines, Blanc', Carlyles u. a. Politiker und Historiker über die Revolution der Franzosen intensiv auseinandergesetzt. N o c h 1869, wenige Jahre vor seinem Tode, schrieb er an den französischen Historiker Michelet, mit dem ihn ein umfangreicher Briefwechsel verband: ,,fl njiaKaji, qirraH nocaeAHHe CTpaHHijH (Bauteil khutii) o cwepTii /JaHTOHa h ero flpy3eii

" 2 2 Herzen besaß keineswegs ein sentimentales oder nostalgisches Verhältnis

zur Französischen Revolution, wie diese W o r t e vermuten lassen. Dennoch offenbaren sie eine Grundtendenz seiner Ansichten: Herzen analysierte die Geschichte nicht nach den methodologischen Kriterien des historischen Materialismus. Natürlich galt auch für ihn der später von Lenin formulierte Grundsatz, „ d a ß die ganze Entwicklung der gesamten zivilisierten Menschheit im ganzen 19. Jahrhundert aus der großen französischen Revolution hervorging." 2 3 Aber diese Schlußfolgerung schloß zugleich die Vielf a l t historisch und klassenmäßig bedingter Denkrichtungen und Bewegungen ein. A l e x ander Herzen fand seinen Bezugspunkt zur Revolution von 1789 u. a. in dem Satz: „,H,ejia H JIIOflH 3THX TOpHieCTBeHHHX JlHeil HCTOpjHH OCTaiOTCH, nOflOÖHO MaHKaM, npe«Ha3HaieHHHM ocßemaTb aopory HeJioBeHecTBy ohh c0np0B0?KAaroT nejiOBeKa H3 noiiojieHHH b noKojieHne, cjiyHia eMy HacTaBJiemieM, npmviepoM, c0BeT0M, yTeinemieM, noaAepjKHBan ero b ßeftCTBHHx h eme 6onee b CHacTiMi."24 Aus dieser Position heraus ist es verständlich, daß Herzen besonders die Menschen aus der Zeit der Französischen Revolution interessierten, die sich durch jene moralischen Eigenschaften auszeichneten, die seinen eigenen Vorstellungen als „ R e t t e r der russischen D e m o k r a t i e " und als Begründer einer revolutionär-demokratischen Denkrichtung entsprachen, d. h., die Repräsentanten des revolutionärsten Flügels der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Demokratie — die Jakobiner. Ihre besten Vertreter, die der „unerbittlichen L o g i k der R e v o l u t i o n " folgten, Menschen wie Robespierre, Marat oder Saint-

22 23

24

zit. nach: JInTepaTypnoe nacJieACTBO, S. 257. W. I. L e n i n , Referat auf dem I I . Gesamtrussischen Gewerkschaftskongreß. 20. Januar 1919, in: Werke, Bd. 28, Bln. 1968, S. 435. zit. nach: JInTepaTypnoe HaoieRCTBo, S. 257.

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J u s t und auch Babeuf waren die Vorbilder, deren moralische Eigenschaften f ü r Alexander Herzen zum Gradmesser eigenen revolutionären Denkens und Handelns wurden, ohne d a ß er sich diesen „Vorbildern" gegenüber unkritisch verhalten hätte. Hier ist erneut zu bekräftigen, daß der von Herzen begründete utopische Sozialismus im Grunde eine bürgerliche Ideologie gewesen ist: „Die sozialistischen Bestrebungen der Denker waren . . . utopisch, der bürgerliche Demokratismus aber, der den objektiven Inhalt dieser Bestrebungen und Ideen bildete, war fortschrittlich und revolutionär." 2 5 Das heißt, die Lehre Herzens in ihrer Einheit von bäuerlichem Sozialismus und Demokratie stand in so unmittelbarem Zusammenhang mit den ethischen und moralischen Auffassungen des russischen Aufklärers und Philosophen, daß ihn die Handlungen der französischen Bourgeoisie im J u n i 1848 abstoßen mußten, während er den französischen Jakobinern von 1792 sehr viel Sympathie entgegenbringen konnte. Herzen betrachtete Robespierre im doppelten Sinne als den „heiligen Scharfrichter einer Idee". E r verstand die Aufrichtigkeit in den Ansichten des „Unbestechlichen", dessen unbedingte Treue gegenüber dem Volk — die f ü r Herzen zu den entscheidendsten Maximen eines Revolutionärs gehörte — und gegenüber der Revolution. Gleichzeitig verurteilte Herzen den Robespierre, der Züge von menschlicher Kälte, Mißachtung der Wahrheit und Menschenverachtung an den Tag legte. Er warf Robespierre sogar eine bestimmte Unmoral vor, vor allem deshalb, weil dieser, so Herzen, vor den Wirkungen und Ergebnissen seiner eigenen „weitgehenden Predigten" zurückschreckte. E s sprach in den späteren Lebensjahren f ü r das sich wandelnde komplizierte Verhältnis Herzens gegenüber den Widersprüchen von revolutionärer Demokratie und bürgerlichem Liberalismus, wenn er die Redegewandtheit Robespierres sowohl f ü r kalte Rhetorik als auch f ü r schrecklich und sentimental hielt. Seinem Demokratieverständnis und seinen Auffassungen vom Dienst am Volk widersprach auch der revolutionäre Terror der Jakobiner, obgleich er konzedierte, daß die außerordentliche Lage die Maßnahmen des K o n v e n t s gerechtfertigt und diesem historische Größe verliehen habe. Die Persönlichkeit Robespierres genoß Herzens besonders wohlwollende Aufmerksamkeit. Wie h ä t t e es auch anders sein können, d a er den russischen Zaren Peter I. einen „antizipierten J a k o b i n e r " und „revolutionären Terroristen" nannte und ihn mit den Attributen eines kühnen, „mit einem mächtigen Genius und einem unbeugsamen Willen" ausgerüsteten „Revolutionärs auf dem Throne des Zaren" apostrophierte 2 6 . Die Sicht war jedoch keineswegs nur historisch rückschauend, sondern durchaus gegenwartsbezogen und aufgeschlossen-kritisch. Herzen differenzierte die verschiedenen Vertreter des Jakobiner-Klubs. Marats harte Position gegenüber den Feinden der Revolution hielt er f ü r unbegründet. Gleichzeitig bestärkten ihn die Ereignisse des J a h r e s 1848 in der Ansicht, daß Leichtgläubigkeit und Sorglosigkeit den einmal errungenen revolutionären Gewinn nicht festigen können. Nach seiner Auffassung h a t t e Marat diesen Grundsatz richtig verstanden. Er bezeichnete und charakterisierte ihn als „ p a 3 a p a ? K H T e j i t H o r o , 6 o j i e 3 H e H H o r o , » e j i H H o r o , (JtaHaTHHHoro, n o a o 3 p H T e j i b H o r o , Koro

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Gegenüber den bürgerlichen Historikern verteidigte Herzen in

I. K o w a l t s o h e n k o — A. K u t s c h e r e n k o , Fortschrittliches gesellschaftliches Denken in Rußland und Westeuropa im 19. Jh.: Probleme des gegenseitigen Einflusses, in: Gesellschaftswissenschaften 23 (1980), Nr. 3, S. 46. A. H e r z e n , Rußlands soziale Zustände, S. 36 und 73. zit. nach: JIwTepaTypHoe nacJieacTBo, S. 258.

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Marat den Revolutionär, den wahren Freund eines demokratischen Frankreichs. Aber zeit seines Lebens hielt er die Politik der Jakobiner — und besonders die Handlungen Marats — für übermäßig hart und schrieb in diesem Sinne, „daß Frankreich nicht von dem Blut trocken werden konnte, das während des Terrors vergossen worden ist" 28 . W i e nahe war eine solche Charakteristik dem Urteil über den großen russischen ReformZaren: „Peter I. war weder ein orientalischer Zar, noch ein Dynast, er war ein Despot nach A r t des Wohlfahrtsausschusses, ein Despot auf eigene Faust und im Namen einer großen Idee, welche ihm eine unbestreitbare Überlegenheit über alles zusicherte, was ihn umgab." 29 Selbst im Vergleich zur Politik Napoleons I . kam dieser Grundzug der Parallelen zwischen den Jakobinern und jener Persönlichkeit in der russischen Geschichte, die dem Lande die Tür zur Neuzeit aufgestoßen hatte, zum Vorschein: „ W ä h rend Napoleon ... Jahr um Jahr seinen bürgerlichen Ursprung mit einem neuen Lappen königlicher Würde bedeckte, entkleidete Peter sich täglich von einigen Lappen des Zarentums, um er selbst zu bleiben, er selbst mit seinen großen, auf einen unbeugsamen Willen, auf die Grausamkeit eines Terroristen gestützten Gedanken." 30 Auch dieses Beispiel verdeutlicht, daß es Herzen bei der Beurteilung historischer Persönlichkeiten und Erscheinungen stets um eine Sicht ging, die versuchte, die individuellen Eigenschaften in ihrem Bezug zur Politik und Geschichte zu betrachten. Seinem Erkenntnisvermögen entsprechend war dieser Standpunkt logisch und folgerichtig, ja, er war in bezug auf die Gesellschaftsvorstellungen der Dekabristen sogar ein großer Fortschritt im russischen Gesellschaftsdenken, ohne dadurch seine historisch und klassenmäßig objektiven Grenzen zu verlieren. Das wurde auch bei der Beurteilung Babeufs deutlich. Herzen interessierte sich für dessen sozialistische Utopien bereits seit den 30er Jahren, maß ihnen damals aber noch keine sonderliche Bedeutung zu, da er sich zu diesem Zeitpunkt selbst noch auf der Suche nach einer für Rußlands Gesellschaftsentwicklung geeigneten revolutionären Theorie befand. In dem Maße, wie er sich in seinem revolutionären Demokratieverständnis zum utopischen Sozialismus hinentwickelte, widmete er Babeuf größere Aufmerksamkeit. Er sah in diesem einen geistigen Vorläufer des utopischen Sozialisten Saint-Simon und „oana 113 Tex BejiHKiix j t i i h H O C T e i t , M y H e H H K O B H n O Ö H T H X n p O p O K O B , nepej; K O T O p L I M H H e B O J I b H O CKJTOHHeTCfl neJiOBeK"31. Herzen gebrauchte sogar den bildhaften Vergleich, daß der französische Arbeiter aus der Asche des ermordeten Babeuf hervorgegangen ist. Verständlich war aber auch, daß Herzen dessen egalistischen Extremismus ablehnte. Die Forderung nach Aufhebung jeglichen Privateigentums widersprach dem Prinzip der bäuerlichen Landzuteilung, und eine Reglementierung des gesamten gesellschaftlichen wie privaten Lebens durch die Staatsmacht divergierte in besonderer Weise mit den politischen Erfahrungen Herzens im despotischen zaristischen Staat Nikolajs I . Er hielt die Lehre Babeufs insgesamt zwar für eine große Idee, die aber schlecht in W o r t e gefaßt worden sei. Die Aufnahme der Politik der Jakobiner für die Bewältigung der eigenen nationalen Geschichte und für die Formulierung persönlicher weltanschaulicher Positionen schloß nicht aus, daß sich die Aufmerksamkeit Herzens auch der Persönlichkeit Napoleon Bonapartes zuwandte. Das Schicksal Frankreichs war am Ende des 18. und am Beginn

ebd. A . H e r z e n , Rußlands soziale Zustände, S. 36. 3 ° ebd., S. 41. 31 zit. nach: . ¡ I n T e p a T y p H o e liacjie/iCTBO, S. 258. 28

29

D. JENA, Die Französische Revolution und Herzen

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des 19. J h . so eng m i t d e m R u ß l a n d s verflochten, d a ß Herzen — besonders nach d e m Vaterländischen Krieg v o n 1812 — das Kaiserreich N a p o l e o n s I. aus seinen historischen R e p l i k e n und Überlegungen zum weiteren W e g R u ß l a n d s keinesfalls ausschließen k o n n t e . A u c h Alexander Herzen k o n n t e sich in seinen Jugendjahren nicht einer romantischen Verklärung des M y t h o s N a p o l e o n Bonapartes, des W e l t g e i s t e s zu Pferde, entziehen. Später sah er in N a p o l e o n den großen Kondottiere, der in Frankreich und Europa eine K n e c h t s c h a f t eingeführt hatte, die durch schändlichste soziale Folgen charakterisiert wurde, und der die Schuld daran trug, d a ß E u r o p a in den Kriegen der J a h r e bis 1815 mehr Blut als alle R e v o l u t i o n e n vergossen hatte. D i e Regierungszeit N a p o l e o n s war für Herzen keine heroische E p o p ö e der R e v o l u t i o n , sondern eine heroische E p o c h e der sich formierenden Bourgeoisie, jener Bourgeoisie, die im Juni 1848 die Pariser Insurgenten mordete. Gleichzeitig blieb N a p o l e o n auch für den reifen Herzen s t e t s eine Persönlichkeit der Vergangenheit, die eine g a n z e Generation verblendet hatte. D i e „ruhmreiche E p o c h e " der Kriege des Kaisers war für ihn eine Zeit nicht e n d e n wollender Verbrechen, ein allgemeines Gemetzel. J e d e n Gedanken an eine tiefgeistige Größe des Kaisers wies H e r z e n weit v o n sich. Als er a m Vorabend der R e v o l u t i o n v o n 1848 die Verehrung A d a m Mickiewicz' und anderer polnischer Emigranten für N a p o l e o n bemerkte, bezeichnete er diese H a l t u n g als Wahnsinn 3 2 . I n gleicher W e i s e charakterisierte er auch N a p o l e o n s Marsch nach R u ß l a n d . D i e Betrachtungen Herzens über N a p o l e o n I. standen jedoch nicht nur mit R e f l e x i o n e n über die Französische R e v o l u t i o n v o n 1789 oder über den Vaterländischen Krieg i m Z u s a m m e n h a n g . Sie waren in erster Linie ein Versuch, die Ereignisse in Frankreich seit der Mitte des 19. J h . aus der Sicht eines russischen revolutionären D e m o k r a t e n , der sich entschlossen hatte, nicht wieder in die H e i m a t zurückzukehren, zu verstehen. W e n n Herzen über d e n ersten N a p o l e o n schrieb, hatte er stets den dritten im Blick. I m J a h r e 1858 verfaßte er die Schrift ,,La France ou l'Angleterre?", gerichtet gegen den seit 1852 regierenden französischen Kaiser. Darin unterzog er die D y n a s t i e Bonaparte einer scharfen Kritik. Er schrieb: „ B o H a n a p T H 3 M . . . fleäcTByeT jimiib npH noMomii C M e p T H . Ero cjiaBa — bch h3 K p o B M , bch h3 TpynoB. B HeM HeT chjih 3HaiaHTejibH0ii, HeT np0H3B0jjnTejibH0ii rteHTejibHOCTH; oh coBepineHHO Secniio^eH .. . 33 Er kritisierte das S y s t e m administrativer R e g l e m e n t i e r u n gen, die nach seiner Auffassung der Staatspolitik Frankreichs eigen war, und schloß mit der sibyllinischen Frage: „Mojkho jih y j p i B j i H T b C H T o n y , hto JIjojjobmk X V I , npoitAH *iepe3 ona (F.) 138, onwcb (Op.) 6. IL ToijmaH, ¿JefrreJibHOCTb A. H. PaßiimeBa b KOMMepii-KOJiJienm (OÖ3op MaTepna^Oß), in: Apxeorpaif)H"-iecKHii emerojiHHK 3a 1987 ros, M. 1988, S. 189ff. vgl. fl. C. E a 6 K H H , ü p o u e c c A. H. Pa«nmeBa, M.—JI. 1952, S. 165. P. H o f f m a n n , Radiscev im Staatsdienst zur Zeit der beginnenden Krise des Feudalismus in Rußland (achtziger Jahre des 18. Jh.), in: Jahrbuch für Geschichte der sozialistischen Länder Buropas, Bd. 33 (im Druck); d e r s . , PAAUIUCB B rocynapcTBeHHOM c.'iyvKÖe, in: BcnoMOraTenbHbie HCT0pH4eCKHe AHCUHITOHHbl, T. 21, JI. (im Druck).

P.

HOFFMANN,

Radisëev : Neue Materialien

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Die dienstliche Tätigkeit Radiscevs ist bisher in der Forschung nur wenig beachtet worden. Sein Wirken wurde vorwiegend in literarhistorischer, philosophischer und revolutionsgeschichtlicher Sicht untersucht, behördengeschichtliche Aspekte fanden dabei keine ausreichende Beachtung. Nur A . I . Starcev hatte 1960 seine Forschungen zur Biographie Radisöevs für die 70er und 80er Jahre des 18. Jahrhunderts zusammenfassend dargelegt und dabei auch seiner dienstlichen Tätigkeit größere Aufmerksamkeit gewidmet. Aber Starcev standen nur die Materialien des Kommerzkollegiums im Zentralen Staatsarchiv für Alte Akten (CGADA) in Moskau sowie der Bestand des Voroncov-Nachlasses im Archiv der Leningrader Abteilung des Instituts für Geschichte der U d S S R der Akademie der Wissenschaften der UdSSR (Archiv L O H ) zur Verfügung. Die Radiscev-Autographe aus dem Archiv L O H sind bereits im dritten Band der Werkausgabe veröffentlicht 6 . Da die dienstlichen Materialien für eine literarhistorische oder philosophische Interpretation nur geringe Ansätze bieten, blieben sie weitgehend unbeachtet. Auch Starcev hat als Literaturhistoriker das von ihm erschlossene Material nur überwiegend illustrativ genutzt. Dabei spürte er aber auch die Unzulänglichkeit der ihm zur Verfügung stehenden Angaben, denn er schreibt, daß bedauerlicherweise dieses Material den Anteil Radiscevs an den vom Kommerzkollegium ausgehenden Leitungsmaßnahmen nicht widerspiegelt 7 . Diese Feststellung wurde aber nicht Ausgangspunkt für weitere Forschungen. Zur dienstlichen Tätigkeit Radisöevs ist hier ein einleitender Exkurs angebracht, da es sich dabei um ein allgemeines Problem seiner Biographie handelt: In der von seinem Sohn Nikolaj verfaßten Biographie Radisöevs findet sich ein Hinweis, der von der bisherigen Forschung unterschiedlich interpretiert wurde. Radiscev wurde 1749 geboren; er studierte von 1768—1771 in Leipzig und wurde nach seiner Rückkehr im Senat als Protokollant eingestellt. Über diese erste Zeit im Staatsdienst schreibt nun sein Sohn, daß ihm „Unkenntnis der russischen Sprache" größere Schwierigkeiten bereitet habe, weshalb er bei P. V. Zavadovskij sogar Sprachunterricht genommen habe. In der bisherigen Literatur wird entweder die Richtigkeit dieser Feststellung überhaupt bestritten, denn seine Muttersprache verlernt man nicht, oder aber es wird versucht, eine Interpretation zu finden. Starcev schreibt in diesem Zusammenhang, daß Radisöev Schwierigkeiten mit der russischen Literatursprache gehabt habe, und sucht diese These durch den Hinweis auf stilistische Ungeschicklichkeiten und Germanismen bei der Übersetzung der Schrift „/Kejiamie r p e K O B . . . " zu beweisen8. Aber seine Argumentation bleibt doch wenig überzeugend. Die Ausführungen Nikolaj Radisöevs lauten vollständig: „Unkenntnis der russischen Sprache, die Gemeinschaft mit den einfachen Büroangestellten und die Nichtachtung seitens der Höhergestellten, die keinen Unterschied im Vergleich mit anderen Angestellten machten, verleideten ihm diese Art des Dienstes" 9 . Stellt man die eingangs • ApxHB JIcHHHrpaACKoro OT^GJIGHHH HHCTHTyTa HCTopHH CCCP A H CCCP (im folg.: LOH), F. 36 (BopoimoBux); A. H. PanameB, ncwiHoe coßpaHae COHHHÖHHÜ, T. 3, M.—JI. 1952, S. öl ff.; B. A. neTpoB, Oöaop coßpamiH BopoimoBux, xpaimmerocH B apxHBe JleHHHrpaACKoro OTp,ejia HHCTHTyTa HCTOPHH AKafleMHH Hayn CCCP, in: ITpoSneMH HCTOHHIIKOBEAEIMN, T. V, JI. 1956, S. 115. 7 A. I. CTapijeB, Patinnen B roflH NYTEMECTBHH, M. 1960, S. 51. 8 ebd., S. 11. 9 BworpaijiHH A. H. Pa.iiimena HamicaiiiiaH ero CHHOBI>HMH, M.—JI. 1959, S. 40 (Übersetzung hier u. im folg. von mir — P. H.).

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Z. Slaw. 34 (1989) 3

zitierte Feststellung in den Gesamttext hinein, dann handelt es sich offensichtlich allgemein um Aussagen über die dienstliche Tätigkeit Radisöevs, die Ausführungen über Radisöevs mangelhafte Kenntnis des Russischen ist auf die Amtssprache zu beschränken. Damit erhält Nikolaj Radiscevs Angabe einen verständlichen Sinn. Radiscev h a t t e in Leipzig studiert, war gerade aus dem Ausland in seine Heimat zurückgekehrt und wurde sofort als Protokollant im Senat eingesetzt, also mit Aufgaben betraut, f ü r die eine gute Kenntnis der Aktenführung und der Amtssprache eine unbedingte Voraussetzung bildete. Beides mußte Radiscev, der in Deutschland seine Ausbildung erhalten hatte, erst erlernen. Die Materialien, die hier1 unter einem speziellen Aspekt vorgestellt werden sollen, lassen nur gelegentlich einen mehr oder weniger direkten Bezug zum literarischen Schaffen Radiscevs erkennen. Eine Analyse vor allem seines Hauptwerkes, der „Reise von Petersburg nach Moskau", zeigt, wie Radiscev ihm aus seiner Diensttätigkeit bekannte Fakten verarbeitete, dabei aber Namen, Ort und Zeit sowie das Umfeld so veränderte, daß nur noch eingeweihte Leser die der Schilderung als Vorlage dienenden realen Vorkommnisse erkennen konnten. F ü r den Zeitgenossen war das in vielen Fällen gegeben, jedenfalls hat schon Katharina II. in ihren Randbemerkungen zur „Reise" auf einige Beispiele d a f ü r hingewiesen, wenn sie auf Cicagov und Saltykov als „Vorbild" f ü r einzelne Episoden verweist 10 . Für die heutige Forschung ist es oft schwierig, diese realen Hintergründe aufzuhellen. Aber es finden sich immer neue Episoden, f ü r die das gelingt 11 . Nimmt man das Wirkungsfeld Radiscevs, wie es sich aus seinen dienstlichen Materialien ergibt, in seiner Gesamtheit, dann erhält man ein Bild, das erstaunliche Parallelen zur künstlerisch überhöhten und verallgemeinernden Darstellung in der „Reise" bietet. In seinem Hauptwerk greift Radiscev mehrfach das Thema der Bürokratie auf. Unter den dienstlichen Materialien findet sich ein Dokument, das zwar die konkreten Verhältnisse beim Petersburger Hafenzoll schildert, aber letztlich f ü r das bürokratische System insgesamt als charakteristisch zu bezeichnen ist. Unterzeichnet hat es am 13. Dezember 1788 H e r m a n n Dahl, aber es ist wahrscheinlich, daß Radiscev bei seiner Ausarbeitung beteiligt war, zumindest war ihm der Inhalt vertraut. Bemängelt wird der ungenügende Diensteifer, die fehlende, unvollständige oder unklare Berichterstattung, die ungenügende Kontrolle der ein- und auslaufenden Schiffe usw. Dahl hatte am 29. Mai 1788 einen abschließenden Bericht über das vergangene J a h r angefordert, erhalten h a t t e er ihn aber erst nach Mahnung am 9. November. Es waren mehrere untere Zollangestellte (moKHiie cjiy/KH're.jm) verhaftet worden, weil sie „französischen W o d k a " ohne Zolldeklaration freigegeben hatten, aber die Untersuchungen wurden verschleppt, und im Widerspruch zu den geltenden gesetzlichen Regelungen befanden sich diese Zollangestellten noch immer in Haft 1 2 . I n ihrer Gesamtheit provozieren die jetzt bekanntgewordenen Materialien aus der dienstlichen Tätigkeit Radiscevs die Frage nach den Wechselbeziehungen von Privatem und Dienstlichem im Leben und in der Weltanschauung Radiscevs, eine Frage, die meines Wissens in der Literatur bisher nicht gestellt worden ist. G. P. Storm h a t t e in seinem 10 11 12

3 . C. BaÖKHH, npoijeec A. H. PaAHmeBa, S. 158, 161. vgl. A. T. TaTapHHijeB, A. H. PaßHujeB S, 111 ff.; vgl. ders., CarapHHecKoe B033BaHHe k BOCMymeHHK), CapaxoB 1965, S. 45ff. CGIA, F. 138, Op. 6, Nr. 54, Blatt 655f.

P.

HOFFMANN,

Radisöev: Neue Materialien

405

Buch „rioTaeHHHH Pa^nmeB" einen Brief zitiert, der in seiner Aussage bei einer Antwort auf diese Frage zu berücksichtigen ist. Am 12. J a n u a r 1791 schrieb A. R . Voroncov, Präsident des Kommerzkollegiums und Freund Radisöevs, an seinen Bruder Semen, der zu jener Zeit russischer Gesandter in England war: „Ich kenne nichts, was bedrückender wäre als der Verlust von Freunden, besonders dann, wenn deine Beziehungen nicht eben zahlreich sind . . . Ich habe gerade, wenn auch im gesellschaftlichen Sinne, einen Menschen verloren, der die Achtung des Hofes h a t t e und die besten Fähigkeiten f ü r den Staatsdienst besaß. Man wollte ihn an die Stelle von Dahl setzen, und in diesem Bereich hat er mir große Hilfe geleistet. E s ist Herr Radiscev. Sie haben ihn mehrmals bei mir gesehen, aber ich bin nicht gewiß, ob Sie ihn näher kennen. Außerdem war er in den letzten sieben, acht J a h r e n außerordentlich verschlossen. Ich glaube nicht, daß er ohne weiteres zu ersetzen ist; das ist sehr traurig. Ob er zu irgendeiner Organisation gehört hat? Aber was mich am meisten verwunderte, als seine Sache bekannt wurde, ist, daß ich ihn f ü r einen gemäßigten, nüchternen und absolut an nichts anderem interessierten guten Sohn und Vater sowie f ü r einen ausgezeichneten Staatsbürger gehalten habe . . . E r hat gerade jetzt ein Buch mit dem Titel,Reise von Petersburg nach Moskau' herausgegeben. Dieses Werk a t m e t angeblich den Geist Mirabeaus und aller zügellosen Franzosen." 1 3 Eine unbestreitbare Schlußfolgerung aus diesem Brief ist, daß Radiscev im Dienst zu keinerlei Beanstandungen Anlaß gegeben hat, daß er seine Dienstaufgaben zuverlässig und gewissenhaft sowie vorbildlich erfüllt hat. Und dieser Eindruck bestätigt sich bei Einsicht in die dienstlichen Dokumente. In diesem Zusammenhang k a n n auf ein im Aktenmaterial des 18. J a h r h u n d e r t s absolut einmaliges Dokument verwiesen werden: eine Weisung (npejiJioweHHe) an den Hafenzoll, die vom ersten bis zum letzten Wort von Radisöev eigenhändig geschrieben worden ist. Bei einer Inspektion des Gostinyj davor war ausländischer Brokatstoff ohne Zollkennzeichnung gefunden worden. Da es sich dabei mit hoher Wahrscheinlichkeit um Schmuggelware handelte, befahl Radiscev die vorläufige Beschlagnahme 1 4 ; da kein Schreiber zugegen war, griff er selbst zu Feder und Papier und schrieb die entsprechende Weisung nieder. Weitere Angaben lassen sich zu diesem Vorgang anhand der von mir eingesehenen Materialien nicht machen, aber die Tatsache als solche ist schon bezeichnend genug. Dem R a t des Zoll- und Akzisewesens unterstanden alle Zoll- und Akziseämter des Gouvernements, zu seinen Aufgaben gehörte auch die Beaufsichtigung der Handelstätigkeit besonders in den Städten, wobei die besondere Aufmerksamkeit der Verhinderung des Handels mit geschmuggelten Waren galt sowie der Einhaltung der geltenden Bestimmungen f ü r die Handelstätigkeit von Ausländern, denen in der Regel jeglicher Detailhandel verboten war. Diese Aufgabenstellung erforderte offensichtlich häufiger Reisen durch das Gouvernement. N u r f ü r Februar 1782 läßt sich jedoch eine Reise Radisöevs nach Narva nachweisen, da sie aus besonderen Gründen in den Materialien des Hafenzolls aktenkundig geworden ist: Radiscev war von dieser Reise noch nicht zurückgekehrt, als Dahl Petersburg verlassen mußte. E r informierte daher den Hafenzoll, daß in dringenden Angelegenheiten bis zur in wenigen Tagen zu erwartenden Rückkehr Radiscevs selbständig zu entscheiden sei.15 Die Schlußfolgerung ist hier möglich, d a ß 13 14 15

r . n . IÜTopM, IIoTaeHHbiii PaawmeB, M. 3 1974, S. 71. CGIA, F. 138, Op. 6, Nr. 56, Blatt 231 (24. Oktober 1789). ebd., Nr. 40, Blatt 68 (npeAJiomeHHe Dahls vom 5. Februar 1782).

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Z. Slaw. 84 (1989) 3

zu Radisöevs Dienstaufgaben wohl öfter solche Inspektionsreisen gehörten. I n sein H a u p t w e r k sind sicherlich manche Beobachtungen mit eingeflossen, die er bei derartigen Gelegenheiten gemacht hatte. Dem R a t des Zoll- und Akzisewesens des Petersburger Gouvernements unterstanden viele Dienststellen, aber die wichtigste war der Petersburger Hafenzoll mit immerhin 315 Mitarbeitern 1 6 . Damit erklärt sich, daß die Materialien dieser Institution f ü r das Wirken Radisöevs doch recht aussagekräftige Angaben bieten, obwohl er nicht zu ihr, sondern zur übergeordneten Instanz gehörte. Die Aufsicht über das Hafenzollamt gehörte offensichtlich zu den wichtigsten Aufgaben, denn es war zugleich Leitzollamt f ü r den Außenhandel über alle Grenzzollstationen. Aus dieser Aufgabenstellung ergaben sich vielfältige Maßnahmen Dahls und Radisöevs, die im Aktenmaterial ihre Widerspiegelung gefunden haben. Ein weiteres Beispiel mag das illustrieren: Am 27. Mai 1783 erläßt Radisöev die Weisung, den Unterinspektor Derevjanin bis zum Abschluß der eingeleiteten Untersuchungen vom Einsatz bei der Zollkontrolle abzulösen, da ihm falsche Deklarierung vorgeworfen wird (HaftfleHb B JIOJKHOM jjocMOTpe)17. K e h r e n wir zur Ausgangsfrage zurück, wie sich f ü r Radisöev Dienst und Weltanschauung zueinander verhielten: Bildeten sie eine Einheit oder gab es spürbare Widersprüche? Radisöev hat selbst in seiner 1789 veröffentlichten Schrift „Wer ist ein Sohn des Vaterlandes?" zu dieser Problematik Stellung genommen: „Wahrer Adel ist tugendhaftes Handeln, beseelt von jenem echten Ehrgefühl, das nur zu finden ist im stetigen Dienst am Menschengeschlechte, besonders aber an den eigenen Landeskindern." 1 8 Betrachtet m a n Radisöevs Dienstlaufbahn, d a n n läßt sich deutlich sein Suchen nach einem Platz in der Gesellschaft erkennen, der solchen sittlichen Anforderungen entspricht. Nach der Rückkehr aus Leipzig war er von K a t h a r i n a I I . als Protokollant d e m Senat zugewiesen worden, aber schon bald wechselte er auf eigenen Wunsch als Auditor, d. h. als Gerichtsoffizier, in den Militärdienst, aber 1775 — zur Zeit der Niederschlagung des Pugaöev-Aufstandes — bittet er „aus persönlichen Gründen" um seinen Abschied. Schon bald bat er erneut um Aufnahme in den Staatsdienst, aber erst 1778 wurde er als Mitglied in das Kommerzkollegium eingestellt. Hier fand er offensichtlich einen Arbeitsplatz, der seinen ethischen Anforderungen weitgehend entsprach. E r k o n n t e f ü r Staat und Gesellschaft nützliche Arbeit leisten, ohne direkt in das staatliche Unterdrückungssystem eingebunden zu sein. Und so konnte er mit reinem Gewissen ordnungsgemäß seinen Dienst versehen, wobei sicher auch eine Rolle spielte, daß er einen Vorgesetzten wie A. R . Voroncov fand 1 9 , der zwar die Anschauungen Radisöevs nicht teilte, dessen aufrechte und ehrliche Haltung jedoch hoch schätzte und auch nach der Verhaftung zu ihm hielt und ihn in der Zeit der Verbannung auf vielfältige Weise unterstützte 2 0 . Und es ist sicherlich kein Zufall, daß sich gerade im Voroncov-Archiv ein großer Teil des heute bekannten handschriftlichen Nachlasses Radisöevs befindet 2 1 . I n diesem Zusammenhang ist auch H e r m a n n Dahl zu nennen, ein gewissenhafter und ehr16 17 18 19

20

21

vgl. ebd., Nr. 352, Blatt 254ff. ebd., Nr. 50, Blatt 302. A. N. R a d i s t s c h e w , Ausgewählte Schriften, Bln. 1959, S. 119. vgl. H. B. MHHaeBa, IIpaBHTejibCTBeHHtiö KOHCTHTyiiHOHaJiHOM h nepe^oBoe oGmecTneinioe MH6HH6 POCCHH B Hanajie X I X BeKa, CapaTOB 1982, S. 7ff. vgl. den Briefwechsel RadisCev — Voroncov, in: A. N. R a d i s t s c h e w , Ausgewählte Schriften, S. 403ff.; A. H. P a « H m e B , N O J I H . co6p. COM., T. 3, S. 408ff., 502ff., 509ff. vgl. oben Anm. 6.

P. HOFFMANN, Radisöev: Neue Materialien

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licher Beamter 22 , von dem Radisöev in einem Brief an A . R . Voroncov ausdrücklich erklärte, daß es in ihrer Zusammenarbeit niemals irgendwelche Mißhelligkeiten oder Auseinandersetzungen gegeben habe 23 . I n sowjetischen Publikationen wird die Tätigkeit Dahls zu einseitig gesehen, seine K o m p e t e n z unterschätzt. D i e Materialien des Petersburger Hafenzolls geben zumindest ein anderes Bild. Dahl war den ihm übertragenen Aufgaben durchaus gewachsen und erfüllte sie gewissenhaft und zuverlässig. Wenden wir uns jenen Aspekten im Hauptwerk Radisöevs, der „ R e i s e von Petersburg nach Moskau", zu, für die sich aus den dienstlichen Materialien mehr oder weniger direkte Angaben bieten. I n den Akten des Hafenzolls finden sich recht häufig Weisungen, teilweise von Radiscev unterzeichnet, die durch direkte Interventionen des Kaiserhofes oder höchster Würdenträger veranlaßt worden waren. Meist handelt es sich darum, Kuriere des H o f e s oder diplomatische Vertreter ohne Zollkontrolle passieren zu lassen. I n verschiedenen Fällen wird angegeben, was mitgeführt wird. A m 9. Januar 1789 gab Radiscev auf Grund eines in Abschrift den A k t e n beigefügten Briefes von A . R . Voroncov entsprechend einem mündlichen Befehl der Kaiserin die Weisung, einen Kurier nach Hannover ohne Kontrolle passieren zu lassen, der — wie es in diesem Falle ausdrücklich heißt — ,,Tee, K a f f e e und andere Sachen" mitführt 24 . I n anderen Fällen wird die zollfreie ungehinderte Einfuhr von Sendungen für den Kaiserhof angewiesen 25 . Beim Lesen derartiger Materialien denkt der mit dem W e r k Radisöevs vertraute Leser sofort an die Schilderung im K a p i t e l „CnaccKan I I o j i e c T t " , an den Kurier, der mit Sondervollmachten seines Gouverneurs Austern aus Petersburg holen muß 26 . Diese Episode zeigt die unmittelbare Verbindung mit der tagtäglichen Praxis im Zolldienst; es ist also nicht nötig, als Erklärung dafür auf einen Brief von Moisej Radisöev an seinen Bruder Aleksandr zu verweisen 27 , der entsprechende Informationen enthält. Moisej Radiscev war R a t des Zoll- und Akzisewesens im Gouvernement A r c h a n g e l s k , über seine Dienstlaufbahn finden sich im Petersburger Material einige zusätzliche A n gaben. A m

15. N o v e m b e r 1782 wurde er zur Ausbildung — wir würden heute sagen

als Volontär — dem Petersburger Hafenzoll zugewiesen; schon am 22. Februar 1783 wurde er als R a t des Zoll- und Akzisewesens im Gouvernement Vologda eingesetzt 28 . W a n n er diese Funktion im Gouvernement Archangel'sk übernommen hat, ist aus den vorliegenden Materialien nicht zu ermitteln. Auch Aleksandr Carevskij, der aus der Biographie Radisöevs als Hauslehrer bei dessen Kindern und durch die Mitwirkung beim Druck der „ R e i s e " bekannt ist 29 , trat am 19. Juni 1787 als Volontär in den Zolldienst ein; auf Weisung Radisöevs wurde ihm am 16. März 1789 die Aufsicht über das Wachpersonal beim Hafenzoll übertragen (npii TaMOJKHe CTpaste Ha«3HpaTeJieM)30. In seine „ R e i s e " hat Radiscev die Justizfarce gegen den beim Zoll angestellten Gouvernementssekretär Stepan Andreev als Begegnung mit einem Unbekannten in das K a p i t e l

22

vgl. n . ro(j>MaH, PA^HmeB B rocyflapcTBeHHOM cjiymöe (s. Anm. 5).

23

A . I . C T a p i ; e B , PA^HMEB B TOAM . . . , S. 5 6 ; A . H . P A H H M E B , IIOJIH. c o 6 p . COH., T. 3, S. 481.

24

GGIA, F. 138, Op. 6, Nr. 53, Blatt 627; Abschrift des Briefes von Voroncov s. ebd., Blatt 628. ebd., Nr. 49, Blatt 354; Nr. 50, Blatt 296 u. a. A. N. H a d i s t s c h e w , Reise von Petersburg nach Moskau, Bln. 1961, S. 29ff. A. I. CTapi;eB, PaHHmeB B TOÄH ..., S. 79. CGIA, F. 138, Op. 6, Nr. 49, Blatt 273; Nr. 351, Blatt 78.

25 26 27 28 29

A . I . C T A P U E B , PAANMEB B r o n u . . . , S. 189.

30

CGIA, F. 138, Op. 6, Nr. 53, Blatt 335; Nr. 55, Blatt 178.

6

Z. Slawistik, Bd. 34, H. 3

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Z. Slaw. 34 (1989) 3

„CnaccKan nojieerh" eingefügt. Von A. G. Tatarincev ist diese Problematik eingehend untersucht worden 31 . Ergänzend kann jetzt mitgeteilt werden, daß der auf höhere Weisung gegebene Ukaz der Petersburger „KaseiraaH najiaTa" an den Petersburger Hafenzoll vom 10. September 1786, durch den Andreev unberechtigterweise zur Bezahlung einer angeblichen Schuld in Höhe von 5323 Rubel und 77 Kopeken gezwungen wurde, von Radiscev unterschrieben worden war 32 . Wenig später wurde gegen Andreev eine ebenfalls unbegründete Anklage wegen Mordes erhoben, die am 23. J a n u a r 1787 zu seiner Dienstentlassung und Überstellung an die „IlajiaTa yroJioBHoro cyßa" führte 3 3 . Nur wenige Details im vorliegenden Aktenmaterial bieten einen solchen direkten Bezug zu Radisöevs Hauptwerk. Aber in der Gesamtheit gibt dieses so heterogene Material doch ein Bild, das die allgemeine Atmosphäre mit bedrückender Eindringlichkeit widerspiegelt, in der ein solches Werk wie die „Reise von Petersburg nach Moskau" entstehen konnte. Einige Bemerkungen seien über die Haltung Radisöevs zur Französischen Revolution angefügt, da sich in dem eingesehenen Material auch dazu einige ergänzende Hinweise finden. Am 14. April 1790 gab er bereits die Anweisung an den Hafenzoll, bei der Kontrolle einzuführender Waren besonders auf Gegenstände zu achten, die durch ihre Form oder in anderer Weise „Bezug auf die gegenwärtigen Verhältnisse in Frankreich" zeigen. Alle derartigen Gegenstände und Druckschriften sind der Leitung des Zollamts vorzulegen, wo über Einfuhr oder Verbot zu beschließen ist 34 . Bezeichnenderweise gibt gerade diese Weisung Radisöevs den Vorwand f ü r die letzte Erwähnung seines Namens im Aktenmaterial des Petersburger Hafenzolls. Die Stelle des „Rates des Zoll- und Akzisewesens" war im Petersburger Gouvernement noch nicht wieder besetzt, als am 5. September 1790, also mehr als zwei Monate nach der am 30. J u n i erfolgten Verhaftung Radisöevs, der Vizegouverneur Novosil'cev von den Zollbediensteten forderte, die erwähnte „Weisung Radisöevs" genau einzuhalten 35 . Überhaupt enthalten die sowjetischen Archive, wie eingangs bereits festgestellt wurde, noch viele nicht ausgewertete Angaben über führende Persönlichkeiten des russischen Kultur- und Geisteslebens des 18. und 19. Jahrhunderts. Das hier unter dem Aspekt der Radisöev-Forschung vorgestellte Material bietet darüber hinaus beachtenswerte Angaben f ü r Forschungen beispielsweise über Lomonosov 36 , Boitin 37 , Culkov38 und andere. Für die Jahre 1794 und 1795 findet sich in den Akten häufig die Unterschrift Gavrila Romanoviö Derzavins, der als Präsident des Kommerzkollegiums Nachfolger

31 32 33 34 35 36

37

38

A. T. TaTapHHijeB, A. H. PannmeB . . . (s. Anm. 1), S. 123ff. CGIA, F. 138, Op. 6, Nr. 52, Blatt 176. ebd., Nr. 53, Blatt 75. ebd., Nr. 534, Blatt 177 Rucks. ebd., Nr, 535, Blatt 30 Rücks. vgl. P. H o f f m a n n , Lomonosov-Forschungen. Ergebnisse — Richtungen — Fragestellungen, in: Jahrbuch für Geschichte der sozialistischen Länder Europas, Bd. 31, Bln. 1988, S. 328ff. Ivan Boitin war bis 1780 Mitglied der „rjiaBHan Hap; TaMomeHHhiMH sßopaMii KaHnempiiH" und hat in dieser Funktion Ukaze an den Petersburger Hafenzoll unterzeichnet (vgl. n . TcxfiMaH, ^eHTejibHOCTb PaRumeBa [s. Anm. 3], S. 192); zur Biographie Boitins vgl. CjioBapb pycCKHX nHcaTejie» XVIII Bena, BMII. 1, JI. 1988, S. 118f. Culkov war Sekretär im Kommerzkollegium; vgl. II. To(j)MaH, fleHTeJibHOCTb Pa^nmeoa, S. 192.

P. Hoffmann,

409

Radiscev: Neue Materialien

von A. R. Voroncov geworden war39. Noch unerforscht sind die Beziehungen zwischen Radisöev und Derzavin, wenn man von den eher polemischen Bemerkungen in der Monographie Starcevs absieht40. Die von Tatarincev und die im vorliegenden Beitrag erschlossenen Archivmaterialien vervollständigen nicht unwesentlich unsere Kenntnisse über Leben und Werk Radiscevs. In ihrer Gesamtheit würden sie es ermöglichen, eine längst fällige biographische Chronik zusammenzustellen. Dabei wirft — wie in der wissenschaftlichen Forschung üblich — auch in diesem Fall die Beantwortung vieler Fragen neue Probleme auf, die von der bisherigen Forschung nicht gesehen wurden, zum großen Teil nicht gesehen werden konnten. 39

T.

P./^epjKaBHH,

MaiomHe 40

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S. 373ff. A. I. O a p n e B ,

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(s. Anm. 7), S. 190ff.

in:

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«en, 3 a K j i i o Coihhghhh, JI. 1987,

noAJiHHHbix l

ders.,

Z. Slaw. 84 (1989) 3, 4 1 0 - 4 1 5

E. D o n n e r t

Johann Christoph Petri (1762—1851) als gesellschaftspolitischer Denker Das mutige Auftreten Garlieb Helwig Merkels und Johann Christoph Petris als Anwälte der lettischen und estnischen Bauern am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jh. hatte bereits bei den Zeitgenossen eine heftige Diskussion ausgelöst, die auch heute noch nicht abgeklungen ist. So fehlt es ungeachtet zahlreicher Arbeiten über Merkel1 noch immer an einem abschließenden Werk, in dem diesem die gebührende Würdigung als Publizist zuteil wird. In weit größerem Maße gilt diese Feststellung für Petri, dessen Schaffen, abgesehen von einer bislang nicht veröffentlichten halleschen Dissertation2 und wenigen Aufsätzen3, überhaupt noch keine monographische Bearbeitung erfahren hat. Hinzu kommt, daß Petri als Baltikumspublizist im Vergleich zu Merkel nach wie vor in dessen Schatten steht und in der neueren und neuesten einschlägigen Forschung zur Geschichte des bürgerlichen Demokratismus in Deutschland bisher keinen Platz erhalten hat. Nun haben Forscher wie H. Kraus, J. Zutis, L. Loone, J. Kahk, H. Ligi, L. Brutus u. a. Johann Christoph Petri freilich längst die gebührende Anerkennung zuteil werden lassen, auch wenn es unter ihnen im einzelnen nicht immer übereinstimmende Meinungen und Wertungen gab und gibt4. Dieser Umstand macht deutlich, daß eine zulängliche gesellschaftspolitische und ideengeschichtliche Einordnung Petris noch immer aussteht . Johann Christoph Petri, der am 5. 11. 1762 in Kleinmölsen bei Erfurt geborene Pfarrerssohn, verließ nach dem Erwerb des Magistertitels an der Philosophischen Fakultät der Universität Erfurt im Jahre 1784 seine Heimat und begab sich ins Baltikum und nach Rußland, wo er sich, wie er schrieb, gründlich mit Land und Leuten bekannt machte: „Ich habe nicht als ein flüchtig Durchreisender das Land und dessen Bewohner nur so obenhin beschauet, und hier und da zerstückelte Nachrichten aufgefangen, sondern zwölf Jahre in sehr verschiedenen Gegenden und Provinzen desselben mich "aufgehalten. Liv- und Estland, Ingermanland und selbst St. Petersburg waren der Schauplatz, wo ich als Privatlehrer, Erzieher und Gesellschafter in den vornehmsten Häusern Zutritt fand ..., sowie auf der andern Seite (die Möglichkeit hatte — E. D.), die unglücklichen Esten und Letten in ihrem Elende kennenzulernen."5 Dabei war er Augenzeuge, „daß in den beiden Provinzen (Liv- und Estland — E. D.) die Bauern nicht 1

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5

vgl. J. H e e g , Die politische Publizistik Garlieb Merkels (1769 — 1850), in: Zeitschrift für Ostforschung 33 (1984), S. 1 — 15; Freimütiges aus den Schriften Garlieb Merkels. Hrsg. A. A d a m e c k , Bln. 1959. H. A n d r e s , Johann Christoph Petri (1762 —1851). Ein Beitrag zur Geschichte des gesellschaftspolitischen Denkens in Estland. Phil. Diss. Masch., Universität Halle 1979. d i e s . , Im Bannkreis des Jakobinismus. Johann Christoph Petri (1762 — 1851), in: ZfSl 23 (1978), S. 713 — 721; J. H e e g , Die Publikationen Johann Christoph Petris (1762 — 1851) über Estland, Livland und Rußland, in: Journal of Baltic Studies 16 (1982) 2, S. 1 2 8 - 1 3 7 . vgl. H. A n d r e s , Im Bannkreis des Jakobinismus (Anm. 3), S. 714; L. L o o n e , Zu den Beziehungen zwischen der deutschen und der baltischen Aufklärung, in: Wiss. Zs. d. ErnstMoritz-Amdt-Univ. Greifswald (GSR) 18 (1969), Nr. 3/4, T. 1, insbesondere S. 1 9 4 - 1 9 6 ; J. K a h k , Der Bauer in der Literatur und im wirklichen Leben, in: Der Bauer Mittel- und Osteuropas im sozio-ökonomischen Wandel des 18. und 19. Jahrhunderts, Köln —Wien 1973, S. 3 5 1 - 3 6 5 . J. Ch. P e t r i , Ehstland und die Ehsten. T. 1, Gotha 1802, S. XIII. (Die Orthographie wurde im Text modernisiert.)

E. DONNERT, Johann Christoph Petri

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viel besser als Lasttiere angesehen und gebraucht werden; aber man findet auch Gegenden, wo sie die Leibeigenschaft kaum fühlen. Doch Ausnahmen machen die Regel, und in der Regel ist ihr Zustand der traurigste und ein wahres freudloses Sklavenleben" 6 . Von E r f u r t aus h a t t e sich Petri 1784 direkt zu seinem thüringischen Landsmann, d e m Pastor, Gelehrten und Schriftsteller August Wilhelm Hupel ins estnische Oberpahlen (Pöltsamaa) begeben, wo er sich drei J a h r e lang aufhielt. Der enge K o n t a k t , insbesondere mit Hupel 7 , und die Vertiefung in die zahlreichen profunden Werke dieses Mannes erlangten grundlegende Bedeutung f ü r Petris späteres wissenschaftliches Schaffen, Danach lebte er weitere vier J a h r e in der Umgegend von Pernau (Pärnu), wo er neue Anregungen erhielt. In den J a h r e n 1793 bis 1795 weilte Petri in St. Petersburg und wohl auch in Moskau und verkehrte dort in den Palais der Fürsten Kurakin, R e p n i n u n d anderer Aristokraten, die wohl zugleich seine Arbeitgeber waren. A n f a n g 1797 kehrte er nach E r f u r t zurück und promovierte hier zum Doktor der Theologie 8 . I m selben J a h r wurde er Professor f ü r Rhetorik, Lateinische und Deutsche Sprache, Altertümer, Didaktik und Pädagogik am E r f u r t e r Ratsgymnasium. Ebendiese Fächer vertrat er gleichzeitig als Privatdozent an der Universität E r f u r t bis zu deren Auflösung im J a h r e 1816. Von 1805 bis 1807 war Petri interimistischer Direktor des E r f u r t e r Gymnasiums. In dieser Eigenschaft wurde er 1806 von der französischen Besatzungsmacht in Gewahrsam genommen. Die Anschuldigung lautete auf Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, wobei man sich auf Artikel bezog, die Petri über russische Themen in der Erfurtischen Zeitung veröffentlicht hatte. Nach zweimonatiger Enthebung von seinem Amt d u r f t e Petri im April 1806 seine Lehrtätigkeit wieder aufnehmen. 1809 erhielt er die Ehrenmitgliedschaft der Sächsischen Ökonomischen Sozietät zu Leipzig, und von 1814 bis 1840 gehörte er auch der E r f u r t e r Akademie Gemeinnütziger Wissenschaften an. 1820 erfolgte Petris vorzeitige Pensionierung unter Beibehaltung der vollen Gehaltsbezüge. Die näheren Hintergründe der Abschiebung und des Verzichts auf seine Tätigkeit am Gymnasium waren bislang nicht zu ermitteln. Am 24. Februar 1851 verstarb Petri in E r f u r t im Alter von achtundachtzig J a h r e n . Was Petri bewog, aus Rußland in seine Heimat zurückzukehren, ist nicht b e k a n n t . Es waren möglicherweise die Berufsaussichten, die sich ihm jetzt boten, und der Wunsch, eine Familie zu gründen, wie die am 15. September 1799 mit der E r f u r t e r K a u f m a n n s tochter Elisabeth J u s t i n e Berns vollzogene Heirat verdeutlichte. Jedenfalls nahm der noch recht junge Petri, kaum zurückgekehrt und zum Dr. theol. bestellt, sogleich seine publizistische Arbeit auf. Petris schriftstellerisches Werk erreichte bald einen beachtlichen Umfang. Die Mehrzahl 6 7

8

ebd., S. 367. J. B a r t l i t z , August Wilhelm Hupel (1737 — 1819) und das bürgerliche Gesellschaftsdenken in den baltischen Gouvernements. Phil. Diss. Masch., Universität Halle 1982; d e r s . , Ein Polyhistor des Ostbaltikums. Zum Wirken von August Wilhelm Hupel, in: Gesellschaft und Kultur Rußlands in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts. T. 2: Literatur, Wissenschaft und Bildung. Hrsg. E. D o n n e r t , Universität Halle 1983, S. 177 — 215; E. D o n n e r t , Das Russische Imperium im Urteil des deutschbaltischen Aufklärungsschriftstellers August Wilhelm Hupel, in: Journal of Baltic Studies 5 (1984) 2 - 3 , S. 9 1 - 9 7 ; d e r s . , August Wilhelm Hupeis „Nordische und ,Neue Nordische Miscellaneen' als Quelle für die Kulturgeschichte Rußlands und des Baltikums", in: Zeitschriften und Zeitungen des 18. und 19. Jahrhunderts. Hrsg. I. F r i e d u. a.. Bln. (West), S. 1 0 9 - 1 1 6 . J. Ch. P e t r i , De historia duorum gadarenorum daimonizomenon. Matth. VII, Marc. V et Luc. VII, Erfordiae 1797.

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seiner Schriften befaßte sich mit Agrarproblemen Estlands und Rußlands sowie mit Fragen des Handelns, der Sitten und Gewohnheiten einzelner Völker des Russischen Kaiserreiches, mit Industrie, Viehzucht und anderen Zweigen der Volkswirtschaft. Petri brachte im Anschluß an Hupel und andere Rußlandschriftsteller wichtige Nachrichten über die Kosaken, Samojeden, Tataren und Tschuwaschen. Sie erschienen sowohl als Einzelwerke als auch in Zeitungen und Zeitschriften, so im „ J o u r n a l f ü r Fabrik, Manufaktur, Handlung und Mode", in den „Oekonomischen H e f t e n " , im „Allgemeinen Litterarischen Anzeiger", „Archiv der Teutschen Landwirthschaft", der „ L a n d w i r t s c h a f t l i c h e n Zeitung" und an anderen Stellen mehr. Allein die von J o h a n n Samuel Ersch und J o h a n n Gottfried Gruber herausgegebene „Allgemeine Enzyklopädie der Wissenschaften und K ü n s t e " enthielt aus Petris Feder 371 Beiträge 9 . Die Mehrzahl von ihnen behandelte geographische, ethnographische und statistische Themen, die Rußland und dessen baltische Provinzen betrafen. Einzelne Artikel wurden zum Teil mehrmals nachgedruckt. Namentlich aus den Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln ging Petris Vielseitigkeit hervor. Am bekanntesten wurde der Verfasser freilich durch seine Bücher: Briefe über Reval, nebst Nachrichten von Ehst- und Liefland. Ein Seitenstück zu Merkels Letten (Deutschland 1800); Ehstland und die Ehsten (3 Teile, Gotha 1802); Neue Pittoresken aus demNorden oder Statistisch-historische Darstellungen aus Ehst- und Liefland (Erfurt 1805; 2. Auflage Leipzig 1809); Neuestes Gemähide von Lief- und Ehstland unter Katharina II. und Alexander I. (2 Teile, Leipzig 1809); Rußlands blühendste Handels-, Fabrik- und Manufakturstädte in alphabetischer Ordnung (St. Petersburg 1811).

Am Ende des 18. J h . waren in nahezu ganz Europa die kraftvollen Impulse zu verspüren, die von den bürgerlichen Revolutionen in Amerika und Frankreich ausgingen. Ihre umwälzenden Ideen erlangten rasche Verbreitung und zeitigten weitreichende Wirkungen vornehmlich in bürgerlichen Kreisen. Auch in der deutschen Literatur und Publizistik wurden die neuen Parolen in vielen Fällen begeistert aufgenommen und propagiert. Ihre Rezeption vollzog sich freilich in häufig recht unterschiedlichen Formen u n d mit verschiedenen Ergebnissen. So stellte sich f ü r die deutschen Aufklärer in ihrer Mehrheit nicht vorrangig die Frage des praktischen politischen Engagements, und nicht immer wurden aus den Entwicklungen in Amerika und Frankreich revolutionäre Schlußfolgerungen f ü r die Veränderung der bestehenden Verhältnisse in den deutschen Heimatländern abgeleitet. Jedoch waren einzelne Vertreter der Intelligenz k ü h n genug, die Ideen der großen Revolution des 18. J h . weiterzudenken und in ihrem Wirkungsbereich anzuwenden. Zu denen, die dies taten, gehörte auch der E r f u r t e r Gymnasialprofessor Petri. Petris erste Artikelserie nach seiner Heimkehr aus Rußland erschien in den Leipziger „Oekonomischen H e f t e n f ü r den Stadt- und Landwirth". In diesem Journal wurden die Errungenschaften der Französischen Revolution gepriesen, den Lesern Bücher über die dortigen Veränderungen empfohlen und die französische Lösung der Bauernfrage als Vorbild hingestellt. Zu den Herausgebern der Zeitschrift stand Petri offensichtlich in näheren Beziehungen. Die Schriften, die J o h a n n Christoph Petri nun in rascher Abfolge verfaßte, ließen ein breit gefächertes Interesse f ü r gesellschaftliche Erscheinungen und Prozesse erkennen, 9

vgl. die bibliographischen Zusammenstellungen in der Dissertation von H. A n d r e s (Anm. 2), S. 169ff., und bei J. H e e g (Anm. 3), S. 1 3 5 - 1 3 6 .

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DONNERT,

Johann Christoph Petri

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die von ihm häufig in engem Zusammenhang mit der natürlichen Umwelt des Menschen gesehen wurden. Eine Hauptrichtung von Petris Augenmerk war auf das Grundübel der im Baltikum und Rußland bestehenden Ordnung, die bäuerliche Leibeigenschaft, gerichtet, die er mit der Negersklaverei in Amerika verglich. Petris Schriften enthielten an zahlreichen Stellen eine vernichtende, nahezu revolutionäre Kritik der in den baltischen Provinzen des Russischen Reiches bestehenden Gesellschaftsverhältnisse. Seine Forderungen gipfelten in dem Verlangen nach Aufhebung der Leibeigenschaft der estnischen und lettischen Bauern. Petri nahm dabei auch Stellung zu der in Deutschland geführten Diskussion, ob der Weg zur Freiheit über die Reform oder die Revolution führe. Die deutschen Jakobiner zeigten sich gegenüber der von der Mehrheit der Aufklärer gehegten Hoffnung, eine Veränderung der bestehenden Verhältnisse durch Reformen und nicht durch Revolution herbeiführen zu können, recht skeptisch. Jedoch schrieb Andreas Georg Friedrich Rebmann, der wohl bedeutendste deutsche Jakobiner, noch im J a h r e 1796: „Zu wünschen ist eine gewaltsame Revolution aber in Deutschland gewiß nicht, und noch k a n n sie verhindert werden, wenn man nur nicht fortfährt, sie aus Ängstlichkeit und Unwissenheit durch die verkehrten Maßregeln, welche m a n dagegen anwendet, zu beschleunigen." 1 0 Dieselben Gedankengänge u n d fast die gleichen Worte finden sich bei Petri, der im J a h r e 1800 schrieb: „Gewiß würde die Menschheit in diesem Lande nur d a n n in einen vollkommeneren Besitz ihrer Rechte treten, wenn entweder, was ich nicht wünsche, eine Revolution entstanden, oder der herrschende Teil des Volkes, sei es durch das Beispiel benachbarter Nationen oder durch weise und mit Freimütigkeit und Ansehen begabte Männer, vor ihrem eigenen Verderben werden gewarnt sein, und sie so lernen, auch die armen Esten f ü r ihre Mitbriider anzusehen." 1 1 Unmittelbar danach f ü h r t e er freilich zahlreiche Beispiele d a f ü r an, daß vom Adel ein solches Vorgehen nie und nimmer zu erwarten sei. Jedoch setzte Petri, jedenfalls theoretisch und mit Rücksicht auf die Zensur, in diesem Zusammenhang einige Hoffnungen auf den aufgeklärten Monarchen. Freilich waren dies keine ernsthaften Überlegungen und Erwartungen, wie seine Bemerkungen über die Reformen Katharinas I I . und des jungen Kaisers Alexander I. deutlich machten. So schrieb er im J a h r e 1802, daß im Russischen Reich derzeit wohl k a u m mit der Aufhebung der Leibeigenschaft gerechnet werden könne 12 . Petri bediente sich häufig der bei den deutschen Jakobinern üblichen revolutionären Terminologie. So n a n n t e er Adlige und Beamte Tyrannen und Despoten und gebrauchte bekannte Schlagwörter und Parolen der Französischen Revolution. So hieß es: „Nie machen Geburt, Stand, Titel und Reichtümer den Menschen groß und verehrungswert, nur das Herz allein adelt . . . Ein Brauer und ein Bauer können so gut General werden als des Fürsten Sohn oder der junge Erbe von 2.000 Bauern. I n dem letzten Amerikanischen Kriege schlug ein titelloses Volk alle die Betitelten, welche England 10

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12

Die Schildwache, hrsg. von A. G. F. R e b m a n n , Paris 1796, S. 27; s. schon L. L o o n e , Zu den Beziehungen zwischen der deutschen und der baltischen Aufklärung (Anm. 4), S. 194; vgl. auch H. V o e g t , Die deutsche jakobinische Literatur und Publizistik 1789 — 1800, Bln. 1955, S. 220. J. Ch. P e t r i , Briefe über Reval, nebst Nachrichten von Ehst- und Liefland, Deutschland 1800, S. 27. d e r s . , Neuestes Gemähide von Lief- und Ehstland, unter Katharina II. und Alexander I., T. 2, Lpz. 1809, S. 96.

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und Deutschland wider sie aussandten. Pflanzer, K a u f l e u t e , Schuster, Schmiede etc. wurden H a u p t l e u t e , Oberste, Generale und widerstanden den Angriffen der disziplinierten T r u p p e n in E u r o p a m i t Adligen a n ihrer Spitze, d e n n sie waren Männer von Talenten . . . P a t r i o t i s m u s adelte sie, und die E d e l n von königlichem Gemachte sanken vor ihnen . . . D e r Geburtsadel, dieser so entbehrliche S t a n d , der n u r von d e m Marke, das er fleißigen, arbeitssamen und geschickten Menschen aussaugt, lebet und selbst faulenzet, f ü h l t sich immer m e h r beengt . . . ; n u r in Liv- u n d E s t l a n d hat er noch das R e c h t , seine B a u e r n zu schinden u n d auf den H a n d w e r k e r mit V e r a c h t u n g herabzusehen." 1 3 Streng verurteilte P e t r i auch einzelne livländische Pastoren, die in ihrem W i r t s c h a f t s und Herrschaftsgebaren den adligen Gutsbesitzern in keiner Weise n a c h s t ä n d e n , während er andere, u n t e r ihnen P a s t o r H u p e l , mit großem Lob bedachte. W a s die im Z u s a m m e n h a n g mit dem Gang der französischen Ereignisse in Deutschland g e f ü h r t e Diskussion über die Greuel der Revolution anging, so stand P e t r i in seinen Ansichten auch in dieser Frage den deutschen J a k o b i n e r n nahe. U n g e a c h t e t aller Zur ü c k h a l t u n g u n d Skrupel scheute er nicht davor zurück, seine Bereitschaft zur U n t e r stützung des gewaltsamen K a m p f e s der Bauern u m die E r l a n g u n g ihrer Freiheit zu b e k u n d e n . So rief er a u s : „ U n d wenn m a n nun vollends siehet, mit welcher eisernen H ä r t e und kalten Unentpfindlichkeit diese kleinen, dabei zum Teil herzlich d u m m e n Despoten, die adligen Gutsbesitzer, den so o f t drückenden Mangel, die n a c k t e A r m u t ihres geplagten Sklaven ansehen ..., d a n n schwillt einem die B r u s t vom edeln gerechten Unwillen, das Herz eines jeden Bessern u n d menschlicher Gesinnten empört sich gegen diese B a r b a r e n , gegen solche schwelgende Sardanapale und gefühllose U n t e r d r ü c k e r ihrer Brüder, Nebenmenschen und M i t u n t e r t a n e n , in d e n e n o f t ein edleres H e r z schlägt u n d bessere Gesinnung herrschen ..., und m a n möchte der erste sein, der mit diesen a r m e n Opfern der H ä r t e und Grausamkeit (den geplagten estnischen leibeigenen Bauern — E. D.) gemeinschaftliche Sache m a c h t e , sich an ihre Spitze stellte, u m des adligen Despotismus ein E n d e zu machen u n d ihn von G r u n d zu vertilgen." 1 4 Aus diesen Worten erhellt, auf welchem Wege P e t r i seine Ziele zu erreichen suchte. Sein großes Vorbild war dabei die Französische Revolution. Bereits zu Lebzeiten stellte P e t r i eine in der Publizistik und gesellschaftspolitischen L i t e r a t u r heftig u m s t r i t t e n e Persönlichkeit dar. Seine W e r k e wurden in den verschiedensten Orten und durch den Buchhandel sowie Buchverleih in ganz Deutschland und den Ostseeprovinzen des Russischen Reiches verbreitet. Sowohl F r e u n d e als auch Gegner sorgten f ü r die Publizität von Petris Arbeiten. D a b e i w u r d e P e t r i m e h r m a l s des Plagiats bezichtigt. So hieß es im Hinblick auf sein Buch „ R u ß l a n d s blühendste H a n dels-, F a b r i k - u n d M a n u f a k t u r s t ä d t e " , das 1811 h e r a u s k a m : ,,... Ohne Storch h ä t t e der Verfasser sein W e r k nicht vollenden k ö n n e n .. ," 15 . I n der T a t ü b e r n a h m P e t r i Beispiele, A r g u m e n t e u n d selbst wörtliche Passagen nicht n u r von Merkel, H u p e l , Friebe und Storch, sondern auch aus seinen eigenen Schriften, ohne dies anzugeben. Freilich war er nicht der einzige, der dies t a t . Höchstwahrscheinlich spielten bei dieser Verfahrensweise in Petris literarischem Schaffen die Nebenverdienste keine unwesentliche Rolle, lebte der Verfasser doch in ständigen finanziellen N ö t e n . Zu seinen Werken gehörten auch ein „ M u s t e r b u c h deutscher P r o s a " (Weimar 1815), eine „ N e u e s t e K u n d e 13 14 16

ders., Ehstland und die Ehsten, T. 2, S. 336 — 337. ebd., S. 153-154. Jenaische Allgemeine Literaturzeitung, Nr. 101, Mai 1813, S. 312.

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von A m e r i k a " (2 Bände, W e i m a r 1816) und das „Lehrbuch der Allgemeinen Geschichte, insbesondere Europas" (Weimar 1818). Nach der Zwangspensionierung im Jahre 1820 wurde es still um P e t r i : Erst 57jährig, verstummte er fast ganz. Lediglich von einigen Vorträgen wird berichtet, und nur noch wenige Arbeiten kamen heraus. Einer umfassenden Analyse und geschlossenen Darstellung von Petris Leben und W e r k steht die Schwierigkeit im W e g e , daß die Quellengrundlage hierfür sehr lückenhaft ist und ein handschriftlicher Nachlaß bislang nicht aufgefunden werden konnte. So wird Petri, der über ein halbes Jahrhundert in E r f u r t wirkte, von der zeitgenössischen städtischen Überlieferung nahezu totgeschwiegen. Diese Sachlage läßt den Schluß zu, daß dieser Mann ein für die dortigen Obrigkeiten unbequemer Freigeist war, mit dem es beständige Händel und Auseinandersetzungen gab, wie Petris zeitweilige Inhaftierung und Amtsentsetzung zeigten. Informationen über sein politisches Engagement fehlen fast gänzlich. So dienen als Quellenbasis in der Hauptsache Petris gedruckte W e r k e . Ihr U m f a n g und ihre Aussagekraft machen es der Forschung jedoch möglich, eine weitgehend zuverlässige und wissenschaftlich ausreichende Darstellung seines Lebens und Schaffens zu geben. Johann Christoph Petri lebte in einer Epoche, die die Zeitgenossen vor ungewöhnliche Entscheidungen stellte. Seine Lebensperioden vermitteln gleichsam ein

Spiegelbild

der geschichtlichen Vorgänge dieses Zeitabschnitts. Auf die Jugend- und Bildungsjahre in Erfurt folgten die ersten Berufsjahre im Baltikum und in Rußland, wo Petri den Widerschein der Großen Revolution in Frankreich verspürte, für die er sich begeisterte. Es war dies zugleich die Akkumulationsphase, der eine explosiv schöpferische zweite Erfurter Zeit folgte, die bis 1820 andauerte. I n dieser mittleren Periode seines Lebens vermochte sich Petri seinen Zeitgenossen und der Nachwelt in ungewöhnlichem Ausmaß und beredter Weise mitzuteilen. I n Erfurt hatte der deutsche Jakobiner Rebmann in den Jahren 1794 und 1795 einen Freundeskreis um sich geschart, dem mehrere Professoren des Ratsgymnasiums und der Universität sowie andere Persönlichkeiten angehörten, unter ihnen Johann Bartholomäus Trommsdorf, Johann Joachim Bellermann, Johann Jakob Dominikus und Constantin Beyer. Ungeachtet dessen, daß Petri zu diesem Zeitpunkt noch im Russischen Reich weilte, kann vermutet werden, daß ihm Rebmanns Schriften bekannt waren und er v o m Ausland her Beziehungen zu Erfurt unterhielt. Jedenfalls erweisen sich die geistigen Anregungen, die er von den Jakobinern empfing, als unverkennbar. Der entscheidende Wesenszug in Petris gesellschaftspolitischen Auffassungen war sein bürgerlicher Demokratismus, der in der revolutionären Forderung nach der Beseitigung der alten Gesellschaftsordnung gipfelte. Petris Schriften enthalten an zahlreichen Stellen äußerst radikale Postulate und ein zorniges Pathos, womit er seinem Unmut über die bestehenden Zustände der späten Feudalzeit L u f t machte. Als Petri nach Estland kam, kannte er bereits die deutsche aufgeklärte Publizistik und die französische Aufklärungsliteratur. Jedoch seine Weltanschauung formte sich erst endgültig unter den Einwirkungen der Wirklichkeit, wie er sie im Baltikum und in Rußland vorfand. Johann Christoph Petri gehört zu den Vorkämpfern der sozialen und nationalen Befreiung des estnischen Volkes, in dessen Mitte er mehrere Jahre gewirkt hat. Seine Schriften besitzen europäischen Rang. I n ihnen hat er ein geistiges Erbe hinterlassen, das bis heute lebendig geblieben ist. Es verdient, gründlich erforscht zu werden.

Z. Slaw. 34 (1989) 3, 4 1 6 - 4 1 9 H. S c h m i d t

„Geistiges und literarisches Leben in Rußland 1789—1825 und die Französische Revolution" Konferenz Wittenberg

der Sektion Sprachund Literaturwissenschaft am, 21. Oktober 1988 in Halle

der

Martin-Luther-Universität

Halle —

Ein zweites Mal — nach der Konferenz vom 13. April 1984 (vgl. ZfSl 30 [1985], S. 602 — 608) — h a t t e die Arbeitsgruppe „Russische L i t e r a t u r " der Halleschen Sektion Sprach- und Literaturwissenschaft f ü r den 21. Oktober 1988 zu einer Konferenz über die russische Literatur der Aufklärung eingeladen. Das Thema dieser zweiten Konferenz stand unter dem Motto „Geistiges und literarisches Leben in Rußland 1789 — 1825 und die Französische Revolution" und f ü h r t damit bereits auf die internationale Konferenz hin, die unter dem Thema „Aufklärung und Revolution: ihre Rezeption und W i r k u n g " im November 1989 an der Martin-Luther-Universität zur Würdigung des 200. Jahrestages der Großen Französischen Revolution durchgeführt werden wird. Zur anregenden und vertiefenden Diskussion über die Gesetzmäßigkeiten und spezifischen Merkmale der geistigen und künstlerischen Entwicklung der Epoche waren auch diesmal Fachwissenschaftler der Hochschulen der D D R , der Akademie der Wissenschaften sowie ausländische Gelehrte (Frankreich, U d S S R ) zusammengekommen. Der Konferenz gab die Beteiligung von Literatur- und Sprachwissenschaftlern, Historikern und Kunstwissenschaftlern aus Lehr- und Forschungsstätten unterschiedlichen Profils ein ausgesprochen interdisziplinäres Gepräge, was ihre Ergebnisse wesentlich mitbestimmte. Hervorzuheben ist auch die aktive Mitwirkung von Nachwuchswissenschaftlern. Der Skizzierung der Grundlinien des geistigen und literarischen Lebens in Rußland zwischen 1789 und der revolutionären Bewegung der Dekabristen, der Erhebung des 14. Dezember 1825 war das einführende Referat von H . S c h m i d t (Halle) gewidmet. Dem Auftrag der Konferenz entsprechend, waren dazu die von der Französischen Aufklärung des 18. J h . und der Französischen Revolution ausgehenden Impulse detailliert in ihrer Wirkung auf die russische Entwicklung zu untersuchen. Der Referent sah seine H a u p t a u f g a b e darin, das von der bisherigen Forschung gezeichnete Bild der Epoche, in dem eine Vielzahl von einzelnen F a k t e n über vorhandene Verbindungen und K o n t a k t e der ebenso allgemeinen wie lapidaren Schlußfolgerung „vorhandener Einflüsse" gegenübersteht, in eine historische Bewegung aufzulösen und die spezifischen Inhalte einer jeden einzelnen der zum Dezember 1825 aufsteigenden E t a p p e n genauer zu bestimmen. Gegen Beginn der Epoche von 1789 bis 1825 konnte Rußland bereits auf eine mehr als 50jährige Wechselbeziehung mit dem aufklärerischen französischen Denken zurückblicken, die sich besonders während der Regierungszeit K a t h a r i n a s I I . durch eine intensive Übernahme (Übersetzungen, Publikationen, Interpretationen etc.) aufklärerischer Ideen auszeichnet. I m Ergebnis dessen h a t t e n sich die russischen Aufklärer, auch infolge eines entschiedenen ideologischen Kampfes gegen den absolutistischen Mißbrauch aufklärerischer Formeln, die grundlegenden Ideen der Französischen Aufklärung angeeignet, als Gut des einheitlichen fortschrittlich bürgerlichen Denkens der Epoche und als Antwort auf die Rußland selbst bewegenden Fragen zu eigen gemacht. War auch die Zahl der russischen Aufklärer gering, so bildete dieser Ideenschatz doch eine dauerhafte Grundlage f ü r die nun beginnende Aufnahme der Impulse der Großen Französischen Revolution. Letztere wurde darum zunächst auch in Rußland überwiegend zustimmend, als Erfüllung des Vermächtnisses der Aufklärer des 18. J h . verstanden und begrüßt, bis die Hinrichtung Ludwigs X V I . und der Jakobinerterror (1793/94) eine neue E t a p p e komplizierterer Rezeption eröffnet. Die russischen aufklärerischen Ideen zwischen 1793/94 und der Erhebung der Dekabristen, dem ersten Versuch einer bürgerlichen Revolution in R u ß l a n d (1825), durchlaufen drei Entwicklungsetappen, die bei allen Widerständen und Modifizierungen eine historisch voranschreitende, aufsteigende Tendenz aufweisen. Die E t a p p e von 1793/94 bis zum Tode Pauls I. (1801) wird durch eine verstärkte offizielle Reaktion gegen die Auswirkungen der Französischen Revolution nach innen und außen charakterisiert. Doch weder diese noch die 1793 aufgetretene kurzzeitige Verwirrung in den Reihen der Aufklärer konnte die Vorwärtsentwicklung der aufklärerischen Ideen krisenhaft aufhalten. Indem die Fran-

H. SCHMIDT, Rußland und die Französische Revolution

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zösische Revolution über die endgültig fixierten Ergebnisse hinaus vorgetrieben wurde, indem die Revolution den Terror und Napoleon hervorbrachte, wurden in Rußland ebenso wie international ihre aufbauenden philosophischen Grundlagen und aufklärerischen Leitideen im Bewußtsein der Zeitgenossen bewahrt und unumkehrbar gemacht. Die erste Hälfte der Regierung Alexanders I. (1801 — 1814) ist durch die Wiederherstellung, innere Erneuerung und generationsmäßige Verjüngung der russischen Aufklärung gekennzeichnet. Uber die offiziellen Möglichkeiten hinausgreifend, durch die Rückschläge der Reformpolitik Alexanders vorangetrieben, durchläuft sie an der Seite der antinapoleonischen Aufklärung der von Napoleon unterdrückten europäischen Völker eine rasche Sensibilisierung und Demokratisierung, die spätestens nach Beginn der Koalitionskriege durch das neue Nationalbewußtsein und den Patriotismus der demokratischen Kräfte der Gesellschaft ergänzt und vertieft werden. In dieser Zeit vermag die von aufklärerischem Nationalbewußtsein und vom Streben nach Nationalkolorit und Originalität erfüllte deutsche Literatur ihre starke Wirkung auf die russische Literatur auszuüben. In Rußland entwickelte sich die im Zeichen der Erneuerung stehende Literaturbewegung, die zunächst von Karamzin, später von 2ukovskij und weiteren Dichtern des demokratischen Nationalbewußtseins getragen wird. Ihre letzte Entwicklungsstufe zum revolutionären Denken durchläuft die russische Aufklärung der betrachteten Epoche zwischen 1814 und 1825 in einer Zeit der immer mehr ins Reaktionäre abgleitenden Regierungspolitik. So wandelt sich die zumindest teilweise immer noch auf die Unterstützung des Zaren gerichtete Taktik zur Mobilisierung der öffentlichen Meinung um 1820/21 rasch in die revolutionäre Taktik der dekabristischen Geheimorganisationen, die den Sturz des Absolutismus, die bürgerliche Republik und die Ausrufung einer bürgerlichen Verfassung zum Ziele hatten. Parallel dazu geht die russische national-patriotische und romantische Literaturbewegung nach dem Vaterländischen Krieg in die revolutionäre Romantik der Dekabristen über, die die Möglichkeiten des Übergangs zum Realismus (der sich im Schaffen Puskins im wesentlichen nach 1825 vollzog) bereits in sich trug. Auch in dieser letzten revolutionären Phase empfängt das russische aufklärerische und revolutionäre Denken, wie an zahlreichen Beispielen belegt wurde, die Anregungen des französischen Ideenguts und setzt sie im Wandel der wachsenden nationalen Forderungen in die Theorie und die Losungen der Dekabristenerhebung um. I m Ablauf der Konferenz standen sodann in chronologischer Abfolge wichtige geistig-kulturelle Prozesse und Persönlichkeiten im Mittelpunkt der Diskussion, die, repräsentativ für die E n t wicklung des progressiven aufklärerischen Denkens, die voranschreitende Nationalliteratur oder das konservative Lager, die Epoche wesentlich mitgeprägt haben. A. N. Radiscev war in diesem Zusammenhang zunächst der Beitrag von P. H o f f m a n n (Berlin) „Internationale Aufklärung und russische Wirklichkeit im Schaffen A. N. Radisöevs" gewidmet. H. war in der glücklichen Lage, Ergebnisse seiner jüngsten Forschungen in Archiven der Sowjetunion vorstellen zu können, die es über die Erhellung der Tätigkeit Radiscevs als stellv. Leiter der Petersburger Zollbehörde gestatteten, wesentliche Seiten der Biographie, dienstlichen Tätigkeit und Weltanschauung Radiscevs klarer als bisher vorzustellen. Die Radiscev-Forschung der Gegenwart wird an diesen Untersuchungsergebnissen H.s nicht vorübergehen können. — Einer vertieften Betrachtung des Aufklärertums Radisöevs galt auch der Beitrag von A. G r a ß h o f f (Berlin) „Die Revolutionsauffassung A. N. Radisöevs". A. G. griff zunächst mit der Bewertung der jüngsten, insbesondere in der D D R angestellten Untersuchungen zur Theorie und Geschichte der Französischen Revolution den theoretischen Grundtenor der Konferenz wieder auf, um sich dann mit bekannten Einschätzungen und Stereotypen in der Charakterisierung der Revolutionsauffassung Radiscevs zu beschäftigen. I n einer ebenso persönlich engagierten wie gegenüber dem Radiscevschen Wort vertrauensvollen und verantwortungsbewußten Neuinterpretation gelangte sie zu einer sehr ausgewogenen und differenzierenden Definition der Weltanschauung Radisöevs. Darin gab sie einer weltanschaulichen Grundhaltung den Vorrang, die in allen E n t wicklungsetappen des Denkers und Dichters von einem konsequent demokratischen und humanistischen Aufklärertum bestimmt wurde, jedoch aus Liebe zum Volk und unter dem Druck der Starre der Autokratie auch selbständige Aktionen der revolutionären Empörung des versklavten Volkes nicht ausschließen konnte. An die Ausführungen H.s und G.s schloß sich eine angeregte Diskussion an, die allgemeine Aspekte des Verhältnisses von Aufklärung und Revolution ebenso wie den Gedanken einer differenzierenden Lesart der Positionen Radiscevs weiter vertieften. Die Gesamtepoche der Aufklärung in der Entwicklung der russischen Musikkultur stand im Mittelpunkt des Beitrags, den der Musikhistoriker G. B i m b e r g (Halle) unter dem Thema „Russische

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Musikvorhaltnisse unter dein Einfluß der Französischen Revolution" vorstellte. In Übereinstimmung mit dem methodischen Ausgangspunkt der Konferenz vermochte B. zu verdeutlichen, d a ß R u ß l a n d entgegen der flachen Definition von einer sog. Vor-Glinka-Periode am Ende des 18. und zu Beginn des 19. J h . ein vielseitiges nationales Musikleben besaß, in dem jedoch — unter dem Gedanken der europäischen Aufklärung und der Französischen Revolution — ausländische Einflüsse eine große Rolle spielten. Eine feingliedrige Betrachtung der russischen Musik und der in ihr wirkenden französischen Musikeinflüsse — von der Opera comique, dem Ballett, dem Vaudeville, Schauspiel, Drama, Konzert und der Hausmusik bis zur Etablierung russischer Komponisten — gab den Anwesenden Aufschluß über eine sich in der Epoche vollziehende relativ einheitliche Kulturentwicklung. Über den Zeitabschnitt zwischen 1790 und 1800 gab der folgende „Block" von Konferenzbeiträgen eine gute Auskunft. Dazu gehörte zunächst der Beitrag von U. R ö ß n e r (Halle) ,,M. M. Cheraskovs R o m a n ,IIojm,n;op, cwii Kaaiwa h rapMOHim' — eine konservative Stellungnahme auf dem Höhep u n k t der Französischen Revolution". R. verdeutlichte a n h a n d einer anschaulichen und einfühlsamen Gesamtanalyse des Cheraskovschen Romanwerkes einschließlich des genannten monarchistischen Programmromans die differenzierte Position eines profilierten Vertreters der russischen Aristokratie. S. P e t e r (Halle) vermochte ebenso vielseitig argumentierend wie informativ in ihrem Beitrag „Gesellschaftliche Alternativen zur herrschenden feudalabsolutistischen Ordnung in der Dichtergruppe Derzavin-Kapnist-L'vov-Chemnicer" die sozialen und menschlichen Alternativen eines aufklärerisch-oppositionellen Dichterkreises zu verdeutlichen, der weder dem Absolutismus noch den französischen Ereignissen unkritisch gegenüberstand u n d der seine Einschätzungen in der Zeit dynamisch und differenziert entwickelte. Die aufklärerischen Positionen I. P. Pnins charakterisierte H . W i n k e l m a n n (Halle) in seinem Beitrag „Gedanken I. P. Pnins zur Aufklärung und Erziehung". Während W. einerseits der These vom „Radiscev-Nachfolger" nicht folgen kann, gelingt es ihm andererseits, die Ansichten und den Kampf Pnins als den zeitverbundenen T y p progressivster und demokratischster Aufklärung zu zeichnen, der der progressiven Entwicklung des aufklärerischen Denkens des J a h r z e h n t s in Rußland mit entscheidend das Gepräge gab. Einen hervorragenden Beitrag lieferte D. F r e y d a n k (Halle) mit seiner reich durch Beispiele belegten Betrachtung „Metaphorik und zweite Bezugsebene in N. M. Karamzins .Briefen eines russischen Reisenden'". Die Diskussion um die schon im Hauptreferat angesprochene Stellung Karamzins zur Französischen Revolution erhielt durch F.s detaillierte sprachlich-stilistische Analyse der „französischen" und „englischen" Reisebriefe Karamzins unter den gegensätzlichen Aspekten „ N a t u r / H a r m o n i e von N a t u r und Mensch/menschheitsgefällige Evolution: Lärm/Theater/Revolution" noch einmal einen bedeutenden Anstoß. Große Anerkennung fand auch Ch. F l e c k e n s t e i n (Halle) mit ihrem Beitrag „Zur Sprache der Publizistik der Dekabristen", mit dem sie einen Vergleich der sprachlichen Ausdrucksmittel in D. I. Fonvizins ..Trakt a t " und „ P r o j e k t fundamentaler R e c h t e " und deren Neubearbeitung durch N. M. Murav'ev f ü r eine umfassende Charakterisierung der ideell-sprachlichen Positionen der Dekabristen nutzte. Zeitlich wiesen die letzten drei Beiträge der Konferenz in die Zeit der Fortsetzung und des Weiterwirkens der Ideen und Traditionen der Dekabristenepoche, ins nachfolgende 19. J a h r h u n d e r t . L. F r i z m a n (Char'kov) gelang der Nachweis der ideellen K o n t i n u i t ä t der kämpferisch-humanistischen Ideen des beginnenden 19. J h . anschaulich in seiner Darlegung der Einschätzung der Dekabristenbewegung durch A. Herzen („Die Dekabristen und Herzen"), die in ihrer revolutionärdemokratischen Konsequenz und Klarheit sowohl der offiziellen Deutung als auch der liberalen Darstellung der Dekabristenbewegung entgegenstand und tiefgreifende Wirkungen auf das russische historische Denken des 19. und 20. J h . hatte. K . D r e u t (Halle) gab mit ihrem Beitrag „Die Französische Revolution im Urteil N. A. Polevojs" einen informativen und g u t begründeten Einblick in die Wertungen eines nachdekabristischen Ideologen der russischen Bourgeoisie, einen Einblick, der geeignet war, die Vielschichtigkeit des historischen Fortschritts in der Gesellschaftsund Kulturtheorie zu verdeutlichen, zum nicht geringen Teil aber auch eine Selbstcharakteristik der russischen Bourgeoisie beinhaltet. V. B e l e n t s c h i k o w (Berlin) beschloß das P r o g r a m m der Konferenz mit seiner Betrachtung „Wege und Irrwege einer aus der Französischen Revolution und der Niederlage der Dekabristen hervorgegangenen utopischen Idee (von I. V. Kireevskij bis V. S. Solov'ev)". In den Darlegungen, die auf großes Interesse stießen und noch einmal die Diskussion der Konferenz anregten, u n t e r n a h m es B., die russische Philosophie einer nationaleigenständigen Gesellschaftsentwicklung (oder die russische Sendung zur Vereinigung „verfeindeter I d e e n " bzw. die besondere humanistische Mission des „russischen Geistes") bis zu Solov'ev und Ern, d. i. bis an die Schwelle der Oktoberrevolution, zu verfolgen und den Nachweis zu führen,

H. SCHMIDT, Rußland und die Französische Revolution

419

daß Elemente dieser Idee in den humanistischen Visionen sowjetischer Schriftsteller von heute wieder produktiv geworden sind. Die erfreulichen Ergebnisse der Konferenz und ihre beachtliche Resonanz verdeutlichen erneut, daß die in den Mittelpunkt gestellten Themen einen festen interdisziplinären Kreis von Fachleuten und Interessenten auch künftig zu produktiver Gemeinsamkeit zusammenführen können und Diskussionen der hier geführten Art in unserem wissenschaftlichen Leben nicht fehlen sollten.

Z. Slaw. 34 (1989) 3, 4 2 0 - 4 2 6

G. Z y b a t o w

Zum Status der BBOflHwe CJiOBa im Russischen 0. In der russischen grammatischen Tradition existiert eine lexikalische Ausdruckskategorie, BBojjHBie cjioßa (VS) genannt, deren semantisch-syntaktische Eigenschaften bislang wenig oder gar nicht beschrieben sind. Bimorpa^oii 1972 2 hat mit seiner 12Gruppen-Unterteilung den ersten Klassifizierungsversuch unternommen und auf die Bedeutsamkeit dieser Wörter aufmerksam gemacht: ,,... 9TOT KJiacc CJIOB . . . B pyccKOM H3HKe CTPEMHTEJIBHO B03pacTaeT /ocoöeHHO B X V I I I — X X BB./" (S. 569) und gleichzeitig hervorgehoben, daß die Bestimmung des grammatischen Status dieser Ausdruckskategorie noch offensteht: vgl. „CaMoe Ha3Bamie Mo;iajii.iiLix CJIOB ,BBOHHHMH' TOJibKO B H e u i H e o6o3Haiajio H X MecTO B CBHSHOM peiH, HO He onpe,nejiHJio H X BHyTpeHHeä rpaMMaTHiecKoft npnpoflbi B coBpeMeHHOM pyccKOM H3HKe." ( S . 569)

Seither sind die VS in jeder Grammatik des Russischen zu finden. Als formales Kriterium ihrer Klassenzugehörigkeit dient dabei die asyndetische Satzposition, verbunden mit intonatorischen und interpunktorischen Besonderheiten, als inhaltliches Merkmal ihre Charakterisierung als Ausdrucksmittel von Sprechereinstellungen. Vgl. ,,... OHH [BBOFLHHE cjioßa] Beer,na TaK HJIH HHaie xapaKTepH3yioT cooßmaeMoe c no3HLjHH roBopnmero, BHpaHiaioT oTHonieHne roBopamero K C006maeM0My . . . . CHHTaKCHiecKHe CBH3H c KaKHM-aaßo HJieHOM npeaJioiKeHHH HJIH c npefljio>KEHHEM B ijejiOM y BBOAHHX CJIOB . . . oTcyTCTByioT." (PpaMMaTHKa 1980, S . 229)

Ziel dieses Beitrags ist es, unter semantisch-syntaktischem Gesichtspunkt die durch die V S bewirkten Modifikationen der Satzbedeutung genauer zu beschreiben. Ausgangspunkt für unsere Überlegungen ist die Tatsache, daß die V S verschiedene Distributions- und Permutationseigenschaften zeigen, die darauf schließen lassen, daß sich grammatisch hinter den V S eine recht heterogen zusammengesetzte Ausdruckskategorie verbirgt. So gehören die in den folgenden Beispielen gewählten Paare in den gängigen Subklassifizierungen meist in eine Gruppe. Dabei sind V S wie KOHerao, pa3yMeeTCH mit explizit performativen Formeln verträglich, die V S BepoHrao, HaBepHoe hingegen nicht. KOHENHO, H

*Bep0HTH0,

oßemaio Teße N 0 3 B 0 H H T B npn nepBoft BO3MOWHOCTH. H oßemaio Teöe N 0 3 B 0 H H T B npw nepBoft BO3MOJKHOCTH.

Außerdem gibt es VS, die mit allen Satzmodi verträglich sind: KpoMe uiyTOK, H ycTaji. KpoMe rnyTOK, B H npnfleTe? KpoMe uiyTOK, nepecTaHb MHe MernaTb! Andere verhalten sich in dieser Hinsicht sehr selektiv: MßaH, HaBepHoe, y?Ke «oMa. *MßaH, HaBepHoe, jme Ha qeTBepTOM Kypce? *IIepecTaHb, HaBepHoe, MHe MernaTb! T u , cjiyiaftHO, HE BJIK>6HJICH? * f l , cjiyiaÄHo, nporny Bac ocTaTbc«.

*CjiyHaftHO, noeawafi TH HA HeflejibKy B cejio! Unterschiedliche Eigenschaften zeigen die VS auch in ihren Verträglichkeiten mit anderen modalisierenden Kategorien, z. B . Kontrastakzent.

G. Z Y B A T O W , BßOÄHue C J i O B a im Russischen OH, N P A ß N A ,

421

WEHAT.

*OH, B e p O H T H O ,

JKEHAT.

1. Die linguistische Klärung und Erklärung des Status der VS setzt voraus, daß man zunächst über die grundsätzlichen Bestandteile und Funktionszusammenhänge von Äußerungen gewisse modellhafte Vorentscheidungen trifft, auf die dann die durch Tests des Kontextverhaltens der sprachlichen Einheiten zu ermittelnden Befunde projiziert werden können. Denn Aussagen über die Bedeutung sprachlicher Ausdrucksmittel sollten zum einen explizieren, was der Sprecher ausdrückt, wenn er ein solches sprachliches Mittel gebraucht, zugleich aber auch einen großen Teil seiner systematischen Beziehungen zu den anderen Ausdrucksmitteln im Satz erfassen und im Falle von Kontextrestriktionen erklären können, warum bestimmte Verbindungen als abweichend bewertet werden. Unsere Grundannahmen gehen auf Bierwisch 1979; 1980, Lang 1979; 1983; MS zurück und bestehen in folgendem: Jeder komplette, selbständige Satz S enthält die Repräsentation eines Sachverhaltes p sowie Anweisungen, wie diese Repräsentation zu verarbeiten ist — und zwar kognitiv wie kommunikativ. Die in der semantischen Struktur von S codierte Repräsentation des Sachverhaltes p ist eine Proposition bzw. der propositionale Inhalt (PC) von S. Darüber hinaus enthält die semantische Struktur von S eine Einstellung zu dem Sachverhalt p, die zum einen eine Bewertung von p hinsichtlich seiner Existenzbedingungen und damit die Erfüllungsbedingungen für den Satz S bezüglich seines Denotats darstellt und zum anderen den kommunikativen Status determiniert, mit dem S als Äußerung bezüglich p in den Interaktionskontext eingeführt wird. Der dafür zuständige Teil der semantischen Repräsentation von S ist nicht-propositional, sondern hat technisch den Status eines komplexen Funktors ATT (für „attitude" = Einstellung), der PC als Argument nimmt und daraus die semantische Repräsentation von S macht: SEM(S) = (ATT, PC). Primäre grammatische Indikatoren für ATT sind die syntaktischen Modi Deklarativ, Interrogativ, Imperativ (und evtl. Exklamativ). Die Wahl eines solchen Grundmodus ist für jeden selbständigen Satz obligatorisch. Daneben sind innerhalb von ATT oder kombiniert mit ATT (als ebenfalls nicht-propositionale Komponenten) weitere Modifizierungen bzw. Spezifizierungen möglich, die im Deutschen morphosyntaktisch (als Verbmodus) und/oder lexikalisch-syntaktisch (als Modalverben, Satzadverbien, Partikeln) und/oder prosodisch (Kontrastakzent) und/oder topologisch (Topik-Fokus-Gliederung) ausgedrückt werden können. Diese modalen bzw. modalisierenden Kategorien sind im Unterschied zum Satzmodus fakultative Ausdrucksmittel für Einstellungen. Als ein fakultatives Ausdrucksmittel für Einstellungen sind auch die russischen VS aufzufassen. Allerdings zerfallen sie hinsichtlich ihrer syntaktischen Integration in das Satzganze in zwei Gruppen: a) VS, die in die syntaktische Struktur des Satzes integriert sind und die wir als Modalwörter bezeichnen wollen; b) VS, die nicht in die syntaktische Struktur des Satzes integriert sind und die wir als Schaltwörter bezeichnen wollen. 2. Modalwörter (MW), die die Einstellung zu PC spezifizieren. Auf Grund des durch ihre lexikalische Bedeutung spezifizierten Typs der Einstellungsbedeutung lassen sich die MW subklassifizieren in

422

Z. Slaw. 34 (1989) 3

2.1. epistemische M W 2.2. emotive MW. 2.1. Wie wir bereits gesagt haben, ist eine Einstellung zu einem Sachverhalt p eine Bewertung von p hinsichtlich seiner Existenzbedingungen, oder — u m mit Frege zu sprechen — das „Fassen eines G e d a n k e n s " ist stets v e r b u n d e n mit einer Einstellung zu diesem G e d a n k e n . W ä h r e n d der deklarative S a t z m o d u s die d u r c h PC a u s g e d r ü c k t e Proposition als (unmarkiert) wahr bezüglich der a k t u a l e n Welt w 0 bewertet, spezifizieren die epistemischen M W dieses Urteil dahingehend, d a ß sie zum einen die s u b j e k t i v e Wahrscheinlichkeit des Sprechers über das Bestehen des Sachverhaltes a b s t u f e n und zum anderen anzeigen, in welchem Teilbereich des konzeptuellen Systems — einem e r f a h r u n g s f u n d i e r t e n , w a h r n e h m u n g s f u n d i e r t e n oder logisch f u n d i e r t e n Teilbereich — p a u f g e b a u t bzw. aktiviert wurde. Die M W H A B E P H H K A , AOJI?KHO Ö H T b , H A ß E P H O E , H A B E P H O , noH?ajiyii, BEPOHTHO, BO3MO?KHO, M O J K e T Ö H T B , MOJKeT

zeigen an, d a ß p in einem logisch f u n d i e r t e n Teilbereich des konzeptuellen Systems aufg e b a u t worden ist. Die s u b j e k t i v e Wahrscheinlichkeit ist dabei bei HaBepHHKa a m höchsten, bei B 0 3 M 0 J K H 0 , MOJKET ÖHTB a m geringsten. Die M W OQEBHAHO, BHAHO, IIO-BHJJHMOMY reflektieren, d a ß die Urteilseinstellung w a h r n e h m u n g s f u n d i e r t ist, wobei die subjektive Wahrscheinlichkeit wiederum bei OIGBHAHO a m höchsten ist. Die epistemischen M W sind in der Regel n u r in Deklarativsätzen verwendbar. O H , Bep0HTH0, 3naji 06 OTOM. * r « e , B e p O H T H O , OH B3HJI 3 T y Bemb? * 3 H a j I JIM OH, B e p O H T H O , OÖ 3 T O M ? * I I e p e c T a H i > , B e p O H T H O , MHe M e m a T b !

was d a v o n zeugt, d a ß die epistemischen M W nicht verwendbar sind, wenn die propositionale B e d e u t u n g des Satzes I n h a l t einer Frage-, Befehls- oder Wunscheinstellung ist. E i n e A u s n a h m e bildet ein b e s t i m m t e r T y p von Entscheidungsfragen, m i t d e m die oben a n g e f ü h r t e n epistemischen M W verträglich sind, und zwar sind das positive E n t scheidungsfragen des T y p s p? 1 . I n Entscheidungsfragen des T y p s p? liegt im U n t e r schied zu d e n neutralen Entscheidungsfragen des T y p s p (JIH)? außer der Fragebed e u t u n g noch eine b e s t i m m t e Einstellung des Sprechers zu der in d e m Fragesatz ausg e d r ü c k t e n Proposition vor, die als V e r m u t u n g oder A n n a h m e über die Gültigkeit d e r Proposition charakterisiert werden k a n n . D u r c h die epistemischen M W wird diese d u r c h den F r a g e t y p implizierte Sprechereinstellung zu p spezifiziert. MoweT, c TepKHHHM 6e.ua? (TBapflOBCKMÄ) HaBepHO, njioxo KopMJiio B a c ? ( J I H ^ H H ) B H , ÄOJIJKHO Ö H T b , HHJKeHep? W ä h r e n d eine Frage des T y p s p? ohne M W eine positive Sprechereinstellung impliziert, modifizieren die M W in den a n g e f ü h r t e n Fragesätzen wiederum die s u b j e k t i v e Wahrscheinlichkeit der implizierten S p r e c h e r a n n a h m e . E s gibt a u ß e r d e m noch eine kleine G r u p p e von M W : c.nyqaimo, cjiyiaeiu, nacoM, die

1

Dieser Fragetyp wird in der TpaMMaTHKa 1980, S. 394, als KOHCTaTHpyiome-BonpocHTejibHtie bezeichnet: ,,[OHH] coBMemaioT Bonpoc c ITOHTH noJiHoft yBepCHHOCTbio, c yTBepJKReHHeM."

npeRnomeHHH

G. ZYBATOW, BBOjjHbie CJiOBa im Russischen

423

n u r in Fragesätzen gebraucht werden u n d auch n u r in Entscheidungsfragen eines bes t i m m t e n T y p s : in He . . . (jiH)-Fragen: B H , cjiyqaftHo, He HHHseHep JIH? (AntaeB) Bbi, cjiynaeM, He K0HCTpyKT0p aToro ociiHJiJiorpa^a? (TpaHMH) A BTI, NACOM, HE YCTAJIH, p e Ö H T a ?

(ROPßATOB)

He . . . (jin)-Fragen ohne diese M W implizieren, d a ß der Sprecher He-p f ü r wahrscheinlicher hält als p . Die Fragesätze mit den g e n a n n t e n M W bringen zum Ausdruck, d a ß irgend etwas den Sprecher v e r m u t e n läßt, daß doch p z u t r e f f e n k ö n n t e . Die epistemischen M W sind des weiteren nicht negierbar u n d nicht k o n t r a s t i e r b a r 2 : *OH, He HaßepHoe, ono3flaeT. *OH, B e p o H T H o , npHfleT. 3

Die MW H A B E P H H K A , «OJI>KHO 6 H T B usw. sind als Antwortrepliken auf Entscheidungsfragen verwendbar. — OH npHjjeT? — HaßepHoe. (BepoHTHo.) ÜOHiajiyH. Die M W geben eine positive Antwort, schränken aber die s u b j e k t i v e Gewißheit wiederum ein. Die in den W ö r t e r b ü c h e r n und G r a m m a t i k e n z. T . als Adverbien, z. T. als V S einges t u f t e n L e x e m e FLEFTCTBHTEJIBNO, B NEIICTBHTEJIBHOCTM, B c a M O M nejie, npaB.ua, deren deutsche E n t s p r e c h u n g e n ,wirklich, in Wirklichkeit, tatsächlich, in der T a t ' von Doherty 1985 ebenfalls als epistemische Satzadverbien angesehen werden, k ö n n e n nicht als Antwortrepliken verwendet werden. — OH NPH«eT? — *Jl,eHCTBHTejibHO. (B caMOM ßeJie./IlpaBAa.) Bnpaßfly. Diese M W zeigen aber bis auf die Nichtnegierbarkeit 4 a u c h in all den anderen oben illustrierten Eigenschaften Abweichungen vom Verhalten der epistemischen M W : Sie sind erfragbar, k o n t r a s t i e r b a r u n d m i t dem I m p e r a t i v verträglich. Vgl.: O H «EHCTBHTEJIBHO N P N ß E T ?

OH FLEÄCTBHTEJIBHO ßojieH. MAH «eHCTBHTejIbHO flOMOÜ!

L a n g MS hat bereits Zweifel geäußert, d a ß die von D o h e r t y als t r a n s p a r e n t e epistemische Satzadverbien i n t e r p r e t i e r t e n sprachlichen A u s d r ü c k e wirklich eine epistemische Bed e u t u n g haben. Die NichtVerwendbarkeit als Antwortreplik k ö n n t e ein weiteres Indiz sein. Ich n e h m e a n , d a ß die g e n a n n t e n M W dazu dienen, die im Satz a u s g e d r ü c k t e U r teilseinstellung zu unterstreichen m i t d e m Ziel, beim Hörer eine entsprechende R e a k tion auf A T T zu bewirken; d a ß sie eine A r t A p p e l l f u n k t i o n h a b e n . F ü r ihre Verwendung in Deklarativsätzen heißt das, d a ß der Sprecher unterstreicht, d a ß der Adressat seinerseits das Urteil ü b e r n e h m e n soll, d a ß er davon überzeugt sein k a n n , d a ß P C w a h r ist. In I m p e r a t i v s ä t z e n unterstreicht der Sprecher, d a ß der Adressat der A u f f o r d e r u n g u n bedingt n a c h k o m m e n soll, u n d in Fragesätzen, d a ß der Adressat d e m Sprecher u n b e dingt die richtige A n t w o r t geben soll.

2

Die Nichtquantifizierbarkeit der deutschen Satzadverbien (vgl. Lang 1979, S. 207) ist durch die freiere Wortstellung im Russischen nicht gut nachweisbar, vgl.: *Hans schläft immer leider hier, vs. NETP CIIHT Bcerjja, K COJKANEHHIO, s u e c b .

1 4

7

Die Sätze sind zulässig, wenn sie die Korrektur einer anderen Äußerung darstellen. Doherty 1985, S. 43, hält den deutschen Satz „Konrad ist nicht w i r k l i c h verreist" für sprach gerecht. „KoHpap; He neftCTBHTejibHO vexaji" wird von russischen Informanten abgelehnt. Z. Slawistik, Bd. 34, H. 3

424

Z. Slaw. 3 4 (1989) 3

2.2. Zu den emotiven MW zählen z. B . K ciacTbio, K co>KajieHMio, K ,n;oca,ne, Ha 6eay, n o HecMacTbio, rpeniHHM ßejioM.

Die emotiven MW zeigen weitgehend die gleichen syntaktischen Eigenschaften wie die epistemischen MW. Sie sind ebenfalls nur mit dem Deklarativmodus verträglich, nicht negierbar und nicht kontrastierbar. Die emotiven MW enthalten kraft ihrer lexikalischen Bedeutung eine Faktivifcätspräsupposition, die epistemischen MW HaBepHHKa tun dies nicht. Das ist z. B . der Grund dafür, weshalb die emotiven MW im Unterschied zu den epistemischen nicht in Konditionalsätzen verwendbar sind. * E C J I H OH MaTeMaraK, TO OH, K ciacTbio, peinwi 9Ty sa^aiy. E C J I H OH MATEMATHK, TO OH, H A B E P H H K A / B 0 3 M 0 ? K H 0 , peumji 3 T Y 3 A « A H Y . 2.3. MW der Redewiedergabe Die MW der Redewiedergabe zeigen an, daß der durch den Satz S identifizierte Sachverhalt der Äußerung eines anderen Individuums entstammt. 2.3.1. Die MW MOJI, HECKATB kennzeichnen dabei ein direktes Zitat, sie geben die ursprüngliche Äußerungsbedeutung wieder, identifizieren aber den Einstellungsträger als Nicht-Sprecher. Der Sprecher gibt damit zu verstehen, daß er nicht in die Rechtfertigungssituation kommen möchte. O H , MOJI, 9 T o r o H e 3 H a j i . H e n y c K a i o T H n o c M a x p H B a i o T H a H a c : H y KSK, MOJI?

H xo>iy n o T e j i e n H 3 o p y KHHO C M O T p e T t ,

a

fle« M H e

(IlojieBoii)

roBopHT: MUH,

MOJI, c n a T b , T H ,

aecKaTb,

eme MajiciihKiiii.

In diesen Sätzen wird (vorausgesetzt es ist ein faires Zitat 5 ) SEM(S) der Originaläußerung wörtlich wiedergegeben und durch MOJI und ^ECKATI> das Zitat als Zitat verdeutlicht. Die MW sind folglich mit allen Satzmodi verträglich. 2.3.2. Die MW roBopHT, Kau CJIHIHHO, no cjiyxaM, KaK yKa3tiBajiocb u. a., die ein indirektes Zitat anzeigen, sind nur mit dem Deklarativmodus verträglich. Sie beziehen sich nur auf PC der Originaläußerung und drücken aus, daß der in dem Satz enthaltene Gedanke nicht vom Sprecher stammt. 3. Schaltwörter Im Unterschied zu den unter 2. behandelten MW, die angeben, als Objekte welcher Art von Einstellung die p entsprechende konzeptuelle Konfiguration aufgebaut wurde und die als Teil von ATT kompositioneil in die Satzbedeutung eingebracht werden, befinden sich die Schaltwörter (SW) nicht auf derselben Ebene der semantischen Struktur des Satzes. Sie sind im Unterschied zu den MW partnerbezogen und kommentieren die gesamte Satzbedeutung mit unterschiedlichen kommunikativen Zielstellungen. 3.1. SW wie KOHeiHo, pa3VMeeTcn, caMO coßoft pa3yMeeTcn, caMo coßoü, ecTecTBeHHo dienen dazu, Zweifel des Partners an der durch SEM(S) erfaßten Bedeutung auszuräumen. Sie sind im Unterschied zu den unter 2.1. behandelten epistemischen MW, mit denen sie nach den üblichen VS-Klassifizierungen in eine Gruppe gehören, mit allen Satzmodi verträglich, verändern aber den kommunikativen Status der Satzmodi. O H , K 0 H E * I H 0 , 3HAJI 0 6 K 0 H E H H 0 , H ^ H FLOMOFT!

5 vgl. L a n g 1983, S. 318.

STOM.

G . Z Y B A T O W , BBO^HBIE CJiOBa i m R u s s i s c h e n

425

C a M o COÖOH P A 3 Y M E E T C H , B 0 3 B M H !

B H , KoneiHo, K MoeMy ctiHy no KAKOMY-HHÖYFLB nejiy? (JlepMOHTOß)

Kyfla OH öCTGCTBeHHO norneji?

Ein Deklarativsatz mit KOHeiHo, pa3yMeeTCH usw. ist keine bloße Mitteilung, sondern eine nachdrückliche Bestätigung eines vom Gesprächspartner angezweifelten Sachverhaltes. Imperativsätze mit diesen S W sind immer als Erlaubnis oder Ratschlag zu interpretieren und setzen einen Kontext voraus, in dem der Sprecher gefragt wurde, ob der Hörer die entsprechende Handlung tun oder lassen soll. Und die Fragesätze mit diesen S W sind immer rhetorisch zu interpretieren. 3.2. SW, die sich auf Aspekte der lexikalischen Form des Satzes beziehen M i t S W wie TaK cKa3aTb, CTporo roBopH, HTO Ha3HBaeTCH, SyKBajibHO, no-Hameiuy

roBopn, HHLIMH cjiOBaMH, MOHiHO CKa3aTB, npome CKa3aTb, Kopone roBopn, B cymHocTH, no cymecTBy, rpyoo roBop« kommentiert der Sprecher seine eigene sprachliche Bezeichnungsleistung, indem er auf Konnotationen, Regularität oder Okkasionalität der gewählten Worte verweist. H a n a j i c n , no-HauieMy roBopn, 6 a j i . B MHcapoBe, CTporo roBopn, HeT Hunero Hpe3BHiaftHoro. (Ji,o6pojiio6oB) O H A , MOJKHO C K A 3 A T B , H A C T O N M A N B N P T Y O 3 K A .

Die angeführten S W können sich auf einzelne Wörter oder auf die Äußerung insgesamt beziehen. Die SW, die sich auf einzelne Wörter beziehen können, unterscheiden sich von denen, die nur auf die gesamte Äußerung Bezug nehmen können, dadurch, daß sie in einer definiten Nominalphrase gebraucht werden können (vgl. EapaHOB/Ko6o3eBa 1984, S. 87): 3TOT, no-HauieMy cKa3aTb, 6aji MOH, TAK CKA3ATB, M y 3 a * 3 T 0 T , ORHHM CJIOBOM, 6 a J I

Da sich der durch diese S W ausgedrückte Kommentar auf die Verbalisierung von P C (oder Teilen davon) bezieht, ist für sie der syntaktische Modus des Satzes irrelevant. Sie können in Sätzen aller Modi verwendet werden. 3.3. SW, die die Einstellung des Sprechers zur Funktion der Äußerung im Text spezifizieren 3.3.1. SW, die Topikwechsel anzeigen Der Hintergrund für den Gebrauch von S W wie KCTaTH, Me?Kfly npoHiiM, BiipovcM ist die Textkohärenz. Durch diese S W wird zum Ausdruck gebracht, daß die folgende Äußerung nicht die Fortsetzung der bisher dargelegten Gedanken ist, sondern daß in der Themaprogression jetzt ein neuer Texttopik kommt. KcTaTH, t u Cepre« TaM He BH^eji? A H, MejKjjy npoiHM, y?Ke neTBepTHÜ TOR KBapTnpy a m y .

BnponeM,

N03B0HM B

6 i a c o B , MO?KeT, H yjKe ocBo6o?Kycb.

K C T A T H , H NO3FLPABJIHIO T E ß N c ßHEM P O W ^ E H M H .

Wie die Beispiele zeigen, sind diese S W mit allen Satzmodi und mit explizit perform ativen Formeln verträglich. 3.3.2. Im Gegensatz zu den S W unter 3.3.1. stellen S W wie HTaK, 3Hawr, CJieflOBaTejibHO, CTajio ßuTb, CTano

die so eingeleitete Äußerung als von vorangegangenen Äußerungen ableitbar dar. 7*

Z. Slaw. 34 (1989) 3

426 B

l a c OHa c ^ e n a e T n e r a p e , HeT, n o f K a j i y ü , «Ba KmioMCTpa, 3HaiHT,

n e p e 3 HGTHpG-nflTL nacoB ö y ^ e T Ha MecTe. (HaKOBCKim) T a K , CTajio, eMy Hano o t b c t flaTb? (CyxoBo-KoÖHJiHH) T h xoneiiiL nocTynHTb b HHCTMTyT? 3HaqHT, t o t o b b c h k BCTynHTejibHtiM 9K3aMGHaM!

Diese SW haben eine Verwandtschaft zu den Kausalkonjunktionen, jedoch wird durch sie die sequentielle Unterordnung auf größere Abschnitte verteilt. Auch sie zeigen in bezug auf den Satzmodus keine Einschränkungen. Literatur M. Bierwisch 1979, S a t z t y p u n d kognitive Einstellung, i n : Slovo a Slovesnost, X L , 3, S. 194 bis 199. — 1980, Semantic S t r u c t u r e a n d Illocutionary Force, i n : J . R . S e a r l e , F . K i e f e r , M. B i e r w i s c h (Hg.), Speech Act Theory, D o r d r e c h t 1980, S. 1 - 3 5 . A . H . BapaHOB/H. M. Ko6o3eßa 1984, BBOAHue cjioßa b ceMaHTHHecKofi CTpyKType npeAJioweHh b : CuHTäKCHHecKHe cTpyKTypti, KpacHonpcK 1984.

M. D o h e r t y 1985, Epistemische B e d e u t u n g , studia g r a m m a t i c a X X I I I , 1985. TpaMMaraKa 1980, P y c c n a a rpaMMaTHKa/no,n peH. H. K). IIlBe,noBoii, t . I I , M. 1980. E . L a n g 1979, Zum S t a t u s der Satzadverbiale, i n : Slovo a Slovesnost, X L , 3, S. 200 — 213. — 1983, Einstellungsausdrücke u n d a u s g e d r ü c k t e Einstellung, i n : R . R ü ä i ö k a , W. M ö t s c h (Hg.), U n t e r s u c h u n g e n zur S e m a n t i k , studia g r a m m a t i c a X X I I , 1982, S. 305—341. — MS, G r a m m a t i s c h e u n d k o m m u n i k a t i v e A s p e k t e des S a t z m o d u s (Unveröffentlichtes Manuskript) ,5. 3 . Po3eHTajib/M. A. TejieHKOBa 1985, CjioBapb-cnpaBOHHiiK jMHrBHCTHHecKHx TepMHHOB, M. 1985. B . B. BnHorpa,noB 1972, PyccKHü H3HK (rpaMMaTHwecKoe yqemie o cjiOBe)2, M. 1972.

Z . Slaw. 34 (1989) 3, 4 2 7 - 4 3 5

Forschungsbericht 3.

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Z. Slaw. 34 (1989) 3, 4 3 6 - 4 5 4

Tagungsberichte R. E c k e r t

Der X. Internationale Slawistenkongreß in Sofia Vom 14. bis zum 22. September 1988 tagte in Sofia der X. Internationale Slawistenkongreß. Die H a u p t s t a d t der VR Bulgarien war schon einmal Austragungsort des größten internationalen F o r u m s der Slawisten gewesen — im J a h r e 1963 f a n d hier der V. Internationale Slawistenkongreß s t a t t . Aus 28 Ländern (Neuseeland war n u n in Sofia erstmalig vertreten) waren etwa anderthalb Tausend Slawisten zusammengekommen, darunter über 700 Kongreßteilnehmer aus der gastgebenden VR Bulgarien. E t w a 500 Personen waren Gastteilnehmer, so daß der Kongreß insgesamt von r u n d 2000 Menschen besucht wurde. Der X . Internationale Slawistenkongreß f a n d in einer Zeit statt, die geprägt ist durch die Politik des Dialogs und der wachsenden Erfolge der Abrüstungsinitiativen der Sowjetunion u n d der anderen sozialistischen Länder. Die Bedeutung des Weltforums der Slawisten f ü r die internationale Verständigung und die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den Ländern wurde in der Grußadresse des Generalsekretärs des ZK der B K P und Vorsitzenden des Staatsrates der VR Bulgarien T o d o r 2 i v k o v besonders zum Ausdruck gebracht. Gleichzeitig fanden die großen Anstrengungen des Gastgeberlandes auf allen Gebieten der Slawistik und bei der Ausrichtung des Kongresses die ungeteilte Anerkennung seitens der internationalen Öffentlichkeit. Der Kongreß verlief in einer aufgeschlossenen und konstruktiven Atmosphäre. Die Arbeitsbedingungen im prächtigen Gebäude des Kulturpalastes waren optimal. Die überaus herzliche Aufnahme und Gastfreundschaft sowie die umfangreiche Vorbereitungsarbeit der bulgarischen Slawisten (das Bulgarische Nationalkomitee der Slawisten f ü h r t e in Vorbereitung auf den Kongreß 1985 in Pravec eine Plenarsitzung des Internationalen Slawistenkomitees und 1986 in Sofia eine Sitzung des erweiterten Präsidiums des I S K zusätzlich durch) trugen wesentlich zum Gelingen des Kongresses bei. In seinen wissenschaftlichen Ergebnissen vermittelte der X . Internationale Slawistenkongreß ein repräsentatives Bild über die slawistischen Forschungen in der Welt. E s wurden 750 Vorträge auf 94 Fachsitzungen gehalten. Vier Hauptvorträge auf der Plenarsitzung zur Eröffnung des Kongresses galten wichtigen Schwerpunktbereichen der Kongreßarbeit: AM Prof. D. L. L i c h a c e v (UdSSR) sprach über Besonderheiten des Christentums in der Kiever Rus', AM Prof. W. H e n s e l (VR Polen) referierte über die alten Wohnsitze der Slawen, Prof. R . O l e s c h (BRD) hielt einen Vortrag zur Frage phonetischer und lexikalisch-akzentologischer Gemeinsamkeiten in slawischsprachlichen Randzonen und AM Prof. P. Z a r e v (VR Bulgarien) behandelte das Thema „Die schöpferische Persönlichkeit in den slawischen Literaturen". Wie auf dem Kiever Kongreß 1983 bewegte sich die gesamte Arbeit in 5 Sektionen: 1) Sprachwissenschaft (mit 5 Subsektionen) 2) Literaturwissenschaft (mit 6 Subsektionen) 3) literaturwissenschaftlich-linguistische Probleme (mit 5 Subsektionen) 4) Folkloristik (mit 6 Subsektionen) und 5) historische Problematik (mit 6 Subsektionen). Zur Sprach- u n d Literaturwissenschaft fanden am ersten Konferenztag je eine Plenarsitzung s t a t t , auf denen als Vertreter der D D R Prof. K . G u t s c h m i d t über Prinzipien der Periodisierung der slawischen Literatursprachen u n d Prof. E. B a y e r (beide Humboldt-Universität Berlin) über das literarisch-theoretische Werk von Dimit ä r Blagoev im europäischen K o n t e x t referierten. I m R a h m e n der literaturwissenschaftlichen Sektion fanden spezielle Fachsitzungen s t a t t , die den Jubiläen von Christo Botev, Francisk Skaryna und Taras Sevöenko gewidmet waren. Die Sektion Geschichte würdigte den 100. Gründungstag der Universität Sofia und Vuk Karadzic' Beitrag zur Weltslawistik. Aus der Arbeit des Kongresses lassen sich wichtige Schwerpunkte und Tendenzen der internationalen Slawistik erkennen: I n der S p r a c h w i s s e n s c h a f t war charakteristisch, daß besonders zum Urslawischen und zu den balto-slawischen Beziehungen intensiv geforscht wird, wobei als Tendenz festzustellen ist, daß das Urslawische als funktionierendes (dynamisches) System betrachtet wird; Erkenntnisse der Etymologie, historischen Dialektologie, diachronischen Akzentforschung und Onomastik synthetisch verarbeitet werden und besonders die Lexik und Phraseologie zur Rekonstruktion der

R. ECKERT, Der X. Internationale Slawistenkongreß in Sofia

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materiellen und geistigen K u l t u r der Sprachträger in frühen Entwicklungsperioden eingesetzt werden. Ein weiterer Schwerpunkt waren die Forschungen zum Altslawischen (Altbulgarischen) und die Bedeutung dieser Sprache f ü r die K u l t u r der slawischen Völker und viele ihrer Schriftsprachen. Was die breit auf dem Kongreß repräsentierten slawischen Gegenwartssprachen betrifft, so standen vor allem grammatische u n d lexikologische Forschungen im Mittelpunkt (z. T. mit veränderten Schwerpunktsbildungen): funktional-semantische Betrachtungsweisen; Untersuchungen mit stärker integrierenden Momenten (z. B. bei der Behandlung des Verbalaspekts die Einbeziehung anderer Kategorien sowie der lexikalischen Bedeutung des Verbs); vergleichende Studien zur slawischen Dialektologie und Areallinguistik; eine größere Anzahl von Untersuchungen zu Intonations- und Akzentproblemen. Die Phonetik/Phonologie war relativ schwach vertreten. Moderne allgemeinlinguistische Verfahren und Errungenschaften setzen sich in der slawistischen Sprachwissenschaft nur langsam durch (Textlinguistik, Soziolinguistik, Einsatz von Computern). In der L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t standen folgende Themenkomplexe im Zentrum der D e b a t t e n : Entwicklungsprobleme der Literatur Bulgariens von den Anfängen bis ins 20. J h . ; Wechselbeziehungen innerhalb der slawischen Literaturen sowie ihre Stellung im K o n t e x t der europäischen Literaturen und der Weltliteratur; die Spezifik literarischer Richtungen, Strömungen und Schulen sowie der Gattungen und Genres in den slawischen Literaturen; Fragen der Entwicklung der Realismustheorie, insbesondere der Theorie des sozialistischen Realismus; die historische Poetik der slawischen Literaturen vom Mittelalter bis zur Avantgarde des 20. J h . und methodologische sowie theoretische Aspekte der Allgemeinen Literaturwissenschaft, vor allem der Analysetheorie, der Rezeptionstheorie und der Theorie der vergleichenden Literaturbetrachtung. Erstmals tagte auf dem Kongreß eine Subsektion zu Fragen der Literaturtheorie. In der l i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h - l i n g u i s t i s c h e n S e k t i o n war eine Dreiteilung in literaturwissenschaftlich, übersetzungswissenschaftlich und linguistisch orientierte Beiträge unverkennbar, d. h. zu der angestrebten stärkeren Integration kam es nur vereinzelt. Gute A u f n a h m e fanden die Arbeiten, die am Text die Untersuchungsmethoden und ihre Ergebnisse demonstrierten bzw. die ein klares übersetzungswissenschaftliches Konzept aufwiesen. I n der Sektion F o l k l o r i s t i k wurde im Vergleich zum vorangegangenen Kongreß ein höheres theoretisches und methodologisches Niveau der Beiträge festgestellt, woran einen besonderen Anteil die Referate der Delegationen aus der U d S S R , der VR Bulgarien und der ÖSSR hatten. Thematisch standen vielfach Gegenwartsprozesse (Adaption der Folklore in der Gegenwartsliteratur) und Untersuchungen zur Einwirkung der slawischen Folklore auf die K u l t u r e n in den nichtslawischen Ländern im Mittelpunkt. I n der Sektion G e s c h i c h t e spielten die Fragen der Ethnogenese der Slawen, der altbulgarischen K u l t u r , des gesellschaftlichen Denkens in den slawischen Ländern Mitte des 19. bis Anfang des 20. J h . sowie die vielfältigen Untersuchungen zur Geschichte der Slawistik eine bestimmende Rolle. Die D D R n a h m mit einer repräsentativen Delegation von 50 Wissenschaftlern, darunter 6 sorbischen Slawisten, am X. Internationalen Slawistenkongreß teil. Die DDR-Delegation leistete mit 47 Vorträgen, mit einer Anzahl von Diskussionsbeiträgen sowie durch die Mitarbeit in den Kommissionen beim I S K einen beachteten Beitrag zum Gelingen des Kongresses. Die Vorträge zeigten ein gutes wissenschaftliches Niveau und fanden interessierte Aufnahme. Auch eine Anzahl jüngerer Delegationsmitglieder t r a t erfolgreich auf dem Kongreß auf. Außer den bereits erwähnten Plenarvorträgen der sprachwissenschaftlichen und der literaturwissenschaftlichen Sektion erstattete Prof. M. W e g n e r (Friedrich-Schiller Univ. Jena) im A u f t r a g des Veranstalters den resümierenden Bericht über die Arbeit der Sektion Literaturwissenschaft auf der Abschlußsitzung das Kongresses am 21. 9. 1988 in der Volksoper Sofia. t Vier DDR-Slawisten (Prof. R . E c k e r t , Prof. H. J ü n g e r , Prof. K.-H. K a s p e r , AM R. R ü i i ö k a und Dr. sc. H . S a l e v s k y ) waren mit der Leitung von Sitzungen von Subsektionen b e t r a u t worden. Zwei DDR-Wissenschaftler leiteten Sitzungen der internationalen Kommissionen beim I S K : Prof. H. S c h u s t e r - S e w c — die Kommission f ü r Lexikologie und Lexikographie, Prof. R . E c k e r t (als Stellvertreter von AM V. M a z i u l i s ) — die Kommission zum Studium der balto-slawischen Beziehungen. Traditionsgemäß war während des Kongresses eine Ausstellung slawistischer Fachliteratur der beteiligten Länder — darunter auch der D D R — veranstaltet worden. Am 16. 9. 1988 stellten führende Slawisten unseres Landes im Kultur- und Informationszentrum der D D R in der VR Bulgarien auf einem Treffen mit Mitgliedern des Bulgarischen National-

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komitees, mit Slawisten und Vertretern der hauptstädtischen wissenschaftlichen Einrichtungen sowie mit bulgarischen Pressemitarbeitern die Slawistik der D D R , ihre Geschichte, den Forschungsstand sowie ihre Perspektiven vor. Die Assoziation der Russisten der VR Bulgarien lud verdiente Russisten aus den verschiedenen Ländern zu einem E m p f a n g ein und überreichte ihnen Diplome über die Ehrenmitgliedschaft dieser Vereinigung. Unter ihnen waren aus der D D R Prof. D. F r e y d a n k (Martin-Luther-Univ. Halle) und Prof. R. E c k e r t (ZISW der AdW der DDR). Auf dem Kongreß tagten am 21. 9. 1988 von den 23 Kommissionen beim I S K 22. An den Beratungen der Kommissionen nahmen jeweils Vertreter der DDR-Delegation teil. Am 19. 9. 1988 f a n d in Blagoevgrad unter der Leitung des Stellvertreters des Vorsitzenden des I S K AM Prof. P. D i n e k o v (VR Bulgarien) die Sitzung des Internationalen Slawistenkomitees s t a t t . Auf dieser Plenarsitzung wurde AM N. I. T o l s t o j (UdSSR) f ü r das ausscheidende Mitglied AM P. T. T r o n k o (UdSSR) zum Vizepräsidenten des I S K gewählt. Als neue Mitglieder des I S K (für ausscheidende Mitglieder) wurden bestätigt: J . K a ö a l a (CSSR), M. H o l m a n (Großbritannien), I. N y o m ä r k a y (VR Ungarn), A. K . M a u r y a (Indien), P. G a r d e (Frankreich), M. T a u b e (Israel), W. V e d e r (Niederlande), H. P. S t o f f e l (Neuseeland) und T. P r i e s t l y (Kanada). Ferner wurden Fragen über die Arbeit der Kommissionen beim I S K beraten. E s wurde beschlossen, den X I . Internationalen Slawistenkongreß im J a h r e 1993 in Bratislava in der ÖSSR durchzuführen. I m Zusammenhang damit wurden für die bevorstehende fünfjährige Amtszeit Prof. S. W o l l m a n (CSSR) als Vorsitzender des I S K und Prof. V. M a t u l a (CSSR) als Stellvertreter des Vorsitzenden des I S K gewählt. Als Sekretäre des I S K wurden Dr. J . B o s ä k (Jazykovedny üstav L. Stüra SAV Bratislava), Dr. T. I v a n t y s y n o v a (Üstav historickych vied SAV Bratislava) und Dr. J . V l a s k a (Üstav pro öeskou a svetovou literaturu CSAV Praha) gewählt. Dem Bulgarischen Nationalkomitee der Slawisten und seinem Vorsitzenden AM Prof. P. D i n e k o v , dem Organisationskomitee des X . Internationalen Slawistenkongresses und allen unseren bulgarischen Fachkollegen und Freunden möchten wir unseren aufrichtigen Dank f ü r die gastliche Aufnahme, f ü r die vortreffliche Organisation und nicht zuletzt f ü r die bleibenden Eindrücke, die wir von Sofia, von Blagoevgrad und von der Exkursion nach Melnik mitnehmen konnten, zum Ausdruck bringen. I m folgenden schließen sich Berichte zu einzelnen Sektionen und Subsektionen an, die die Sicht der jeweiligen Autoren widerspiegeln und die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Diese Berichterstattung wird im nächsten H e f t der ZfSl fortgesetzt.

R. E c k e r t

Die Phraseologie auf dem X. Internationalen Slawistenkongreß* Die Vorträge zur phraseologischen Thematik waren leider im Programm des X. Internationalen Slawistenkongresses nicht in einer Subsektionssitzung zusammengefaßt worden, sondern auf thematisch sehr verschiedenartige Subsektionen der Sektion Sprachwissenschaft verteilt, obwohl es in Vorbereitung des Kongresses Vorschläge f ü r eine Konzentrierung dieser aktuellen linguistischen Problematik gegeben h a t t e . Dies h a t t e vor allem Auswirkungen auf die Diskussion, die nicht so geschlossen und gründlich geführt werden konnte. Einige bekannte Phraseologen wie z. B. V. N. T e l i j a (Moskau), L. J a . K o s t j u c u k (Pskov) und A. S. A k s a m i t o v (Minsk) waren angereist und hielten z. T. auch Vorträge, diese waren aber nicht im Programm oder im Resümee-Band 1 * Zur phraseologischen Problematik auf den beiden vorausgegangenen Internationalen Slawistenkongressen vgl. R . E c k e r t , Die Phraseologie auf dem V I I I . Internationalen Slawistenkongreß in Zagreb, in: ZfSl 24 (1979), S. 2 5 8 - 2 6 2 und d e r s . , Die Phraseologie auf dem I X . Internationalen Slawistenkongreß in Kiev, in: ZfSl 29 (1984), S. 7 6 1 - 7 6 7 . 1 X . MeJKßyHapoßeH KOHrpec Ha cjiaBHCTHTe. Pe3K>MeTa HA AOKJiafflHTe. COI|)HH, 14—22 ceirreMBpH 1988 r. (Ei>jirapcKa AKaAeMHH Ha HaynnTe. EmrapcKH Hai;HOHajieH KOMHTBT Ha cjiaBHCTHTe), COIJIHH 1988, 767 S. (weiterhin: Pe3iOMeTa).

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komitees, mit Slawisten und Vertretern der hauptstädtischen wissenschaftlichen Einrichtungen sowie mit bulgarischen Pressemitarbeitern die Slawistik der D D R , ihre Geschichte, den Forschungsstand sowie ihre Perspektiven vor. Die Assoziation der Russisten der VR Bulgarien lud verdiente Russisten aus den verschiedenen Ländern zu einem E m p f a n g ein und überreichte ihnen Diplome über die Ehrenmitgliedschaft dieser Vereinigung. Unter ihnen waren aus der D D R Prof. D. F r e y d a n k (Martin-Luther-Univ. Halle) und Prof. R. E c k e r t (ZISW der AdW der DDR). Auf dem Kongreß tagten am 21. 9. 1988 von den 23 Kommissionen beim I S K 22. An den Beratungen der Kommissionen nahmen jeweils Vertreter der DDR-Delegation teil. Am 19. 9. 1988 f a n d in Blagoevgrad unter der Leitung des Stellvertreters des Vorsitzenden des I S K AM Prof. P. D i n e k o v (VR Bulgarien) die Sitzung des Internationalen Slawistenkomitees s t a t t . Auf dieser Plenarsitzung wurde AM N. I. T o l s t o j (UdSSR) f ü r das ausscheidende Mitglied AM P. T. T r o n k o (UdSSR) zum Vizepräsidenten des I S K gewählt. Als neue Mitglieder des I S K (für ausscheidende Mitglieder) wurden bestätigt: J . K a ö a l a (CSSR), M. H o l m a n (Großbritannien), I. N y o m ä r k a y (VR Ungarn), A. K . M a u r y a (Indien), P. G a r d e (Frankreich), M. T a u b e (Israel), W. V e d e r (Niederlande), H. P. S t o f f e l (Neuseeland) und T. P r i e s t l y (Kanada). Ferner wurden Fragen über die Arbeit der Kommissionen beim I S K beraten. E s wurde beschlossen, den X I . Internationalen Slawistenkongreß im J a h r e 1993 in Bratislava in der ÖSSR durchzuführen. I m Zusammenhang damit wurden für die bevorstehende fünfjährige Amtszeit Prof. S. W o l l m a n (CSSR) als Vorsitzender des I S K und Prof. V. M a t u l a (CSSR) als Stellvertreter des Vorsitzenden des I S K gewählt. Als Sekretäre des I S K wurden Dr. J . B o s ä k (Jazykovedny üstav L. Stüra SAV Bratislava), Dr. T. I v a n t y s y n o v a (Üstav historickych vied SAV Bratislava) und Dr. J . V l a s k a (Üstav pro öeskou a svetovou literaturu CSAV Praha) gewählt. Dem Bulgarischen Nationalkomitee der Slawisten und seinem Vorsitzenden AM Prof. P. D i n e k o v , dem Organisationskomitee des X . Internationalen Slawistenkongresses und allen unseren bulgarischen Fachkollegen und Freunden möchten wir unseren aufrichtigen Dank f ü r die gastliche Aufnahme, f ü r die vortreffliche Organisation und nicht zuletzt f ü r die bleibenden Eindrücke, die wir von Sofia, von Blagoevgrad und von der Exkursion nach Melnik mitnehmen konnten, zum Ausdruck bringen. I m folgenden schließen sich Berichte zu einzelnen Sektionen und Subsektionen an, die die Sicht der jeweiligen Autoren widerspiegeln und die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Diese Berichterstattung wird im nächsten H e f t der ZfSl fortgesetzt.

R. E c k e r t

Die Phraseologie auf dem X. Internationalen Slawistenkongreß* Die Vorträge zur phraseologischen Thematik waren leider im Programm des X. Internationalen Slawistenkongresses nicht in einer Subsektionssitzung zusammengefaßt worden, sondern auf thematisch sehr verschiedenartige Subsektionen der Sektion Sprachwissenschaft verteilt, obwohl es in Vorbereitung des Kongresses Vorschläge f ü r eine Konzentrierung dieser aktuellen linguistischen Problematik gegeben h a t t e . Dies h a t t e vor allem Auswirkungen auf die Diskussion, die nicht so geschlossen und gründlich geführt werden konnte. Einige bekannte Phraseologen wie z. B. V. N. T e l i j a (Moskau), L. J a . K o s t j u c u k (Pskov) und A. S. A k s a m i t o v (Minsk) waren angereist und hielten z. T. auch Vorträge, diese waren aber nicht im Programm oder im Resümee-Band 1 * Zur phraseologischen Problematik auf den beiden vorausgegangenen Internationalen Slawistenkongressen vgl. R . E c k e r t , Die Phraseologie auf dem V I I I . Internationalen Slawistenkongreß in Zagreb, in: ZfSl 24 (1979), S. 2 5 8 - 2 6 2 und d e r s . , Die Phraseologie auf dem I X . Internationalen Slawistenkongreß in Kiev, in: ZfSl 29 (1984), S. 7 6 1 - 7 6 7 . 1 X . MeJKßyHapoßeH KOHrpec Ha cjiaBHCTHTe. Pe3K>MeTa HA AOKJiafflHTe. COI|)HH, 14—22 ceirreMBpH 1988 r. (Ei>jirapcKa AKaAeMHH Ha HaynnTe. EmrapcKH Hai;HOHajieH KOMHTBT Ha cjiaBHCTHTe), COIJIHH 1988, 767 S. (weiterhin: Pe3iOMeTa).

R . ECKERT, Die Phraseologie auf dem X . Slawistenkongreß

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ausgewiesen. W i r können aber feststellen, daß die Phraseologie nach wie v o r eine aktuelle und sich rasch weiterentwickelnde Disziplin innerhalb der slawistischen Sprachwissenschaft ist. I n diesem Zusammenhang sollte wohl auch darauf verwiesen werden, daß der slawistischen Phraseologieforschung in den vergangenen Jahrzehnten eine gewisse Pionierrolle bei der Herausbildung und Entwicklung dieser linguistischen Disziplin zukam. W i r wollen uns in der folgenden Darstellung an den im P r o g r a m m ausgedruckten und gehaltenen Vorträgen orientieren und diese in alphabetischer F o l g e knapp charakterisieren. M . B a s a j ( V R P o l e n ) hielt einen Vortrag ,,Über das semantische F e l d der phraseologischen Internationalismen" 2 , in dem er als internationale Phraseologismen solche auffaßt, die in zwei oder mehreren verwandten oder nichtverwandten Sprachen v o r k o m m e n und auf der Inhalts- und Ausdrucksebene übereinstimmen sowie die ihrem Ursprung nach auf ein Muster zurückgehen oder eigenständig entstanden. Die verschiedenen T y p e n internationaler Phraseme reichen danach v o n solchen, die eine Übereinstimmung in ihrem Inhalt, ihrer Lautgestalt, Schreibung und ihrer M o t i v a t i o n aufweisen, bis zu solchen, in denen nur zwei dieser Merkmale vorhanden sind, wobei die inhaltliche Übereinstimmung immer obligatorisch ist. Es werden also sowohl Phraseme, die durch Lehnübersetzung (Kalkierung) entstanden, als auch solche, die unabhängig voneinander auf der Grundlage der gleichen bildhaften Übertragung zustandegekommen sind (z. B . somatische Phraseologismen), einbezogen. Innerhalb der großen Gruppe der Kalkierungen unterscheidet B . als erste die phraseologischen Internationalismen, die als kulturelles Erbe durch Einfluß der Bibel, der M y t h o l o g i e der klassischen Sprachen, geflügelter Ausdrücke entstanden sind, wobei diese nicht immer auf bestimmte T e x t f r a g m e n t e zurückgehen, sondern einfach bestimmte Situationen widerspiegeln ( v g l . z. B. russ. ÖJIY ÄHHH CI.IH, engl, the prodigal son, dtsch. der verlorene Sohn oder russ. TpOHHCKHÜ KOHh, engl, the Trojan horse, f r z . cheval de Troie, dtsch. das Trojanische Pferd). Eine zweite Gruppe bilden phraseologische Internationalismen, die m i t der modernen Entwicklung v o n Wissenschaft und Technik, Sport und gesellschaftspolitischen Prozessen zusammenhängen (man v g l . z. B. dtsch. die dritte Welt, russ. TpeTiifl MHp oder engl, brain washing, poln. pranie mözgow, russ. npoMtiBaune M03r0B). R . E c k e r t ( D D R ) hielt ein R e f e r a t , das der „Historischen Phraseologie der slawischen S p r a c h e n " 3 g e w i d m e t war. E r ging dabei auf die Schwierigkeiten ein, die bei der historischen Untersuchung der Phraseologismen auftreten: die spärliche Bezeugtheit phraseologischer F a k t e n in alten Schriftdenkmälern und ihre aufwendige und schwierige Herauslösung; das Fehlen eines Sprachgefühls für frühere Epochen der Entwicklung der Sprachen; die U n v o l l k o m m e n h e i t der M e t h o d e n der diachronischen Phraseologieforschung etc. Gleichzeitig verwies er auf einige M o m e n t e , die die historischen Untersuchungen zur Phraseologie begünstigen: die Präsentation v o n Ausgangsstrukturen im F o r m a t i v des Phraseologismus, das T e x t f r a g m e n t e darstellt, und die T e n d e n z zur Bewahrung archaischer Elemente ( W ö r t e r , W o r t f o r m e n , K o n s t r u k t i o n e n ) im V e r b a n d der Phraseologismen, die allerdings auch dem Systemzwang der Gegenwartssprachen ausgesetzt sind. E s k o m m t daher auch zu einer Erneuerung archaischer Elemente ( v g l . russ. H3HK npMJibne K ropTRHH -»• H3HK npmran K ropTami). I m Unterschied zu einer oberflächlichen (und häufig dilettantischen) Etymologisierung der Phraseologismen auf der Grundlage der isoliert betrachteten F o r m a t i v e und der sogen, „inneren F o r m " der Einheiten hält E . folgende Prinzipien für eine erfolgreiche diachronische Beschreibung der Phraseologie für unerläßlich: 1) ein systemhaftes Herangehen, das nicht nur die Heranziehung des phraseologischen Materials, sondern auch der nichtidiomatischen stabilen W e n d u n g e n , der K o m posita und relativ freien L e x e m v e r k n ü p f u n g e n beinhaltet, 2) die N u t z u n g der Systembeziehungen in der Phraseologie und L e x i k (Varianten, S y n o n y m e , polysemantische Einheiten etc.), 3) die Auswertung der F a k t e n aus den alten Schriftdenkmälern und in Ergänzung oder manchmal in K o m 2

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I m folgenden werden wir, soweit wir das können, zuerst auf den gedruckten Beitrag verweisen und sodann auf die entsprechende Kurzfassung im Resümee-Band. Der Beitrag v o n M. B a s a j erschien unter dem T i t e l „ O polu semantycznym internacjonalizmów f r a z e o l o g i c z n y c h " , i n : Z polskich studiów slawistycznych, Seria 7, J g z y k o z n a w s t w o . P r a c e na X M i g d z y n a r o d o w y kongres slawistów w Sofii 1988, W a r s z a w a 1988, S. 29—35. — Kurzfassung in deutscher Sprache in: Pe3K)MeTa, S. 91. R . E c k e r t , Historische Phraseologie der slawischen Sprachen (unter Berücksichtigung des Baltischen) — Prinzipien, Methoden und Resultate, in: Z f S l 32 (1987), S. 801 — 807. K u r z f a s sung in russischer Sprache in: Pe3iOMeTa, S. 84. Z. Slawistik, Bd. 34, H. 3

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pensation dazu der Materialien aus den M u n d a r t e n , a u s der Sprache der Folklore, a u s verschiedenen Berufssprachen u n d aus den v e r w a n d t e n Sprachen u n d ihren Dialekten, 4) die Berücksichtigung der semantischen Evolution, 5) die Berücksichtigung der extralinguistischen F a k t e n (frühe materielle u n d geistige K u l t u r , Mythologie etc.). Die A n w e n d u n g dieser Prinzipien demonstrierte E . a m Beispiel der Geschichte der russ. P h r a s e m e p o « H ( / j a ) n j i e M H u n d BaJiHTb i c p e s n e H b KOJiOHy, wobei f ü r letzteres baltische E n t s p r e c h u n g e n angeführt wurden. M. L e o n i d o v a (VR Bulgarien) behandelte in ihrem V o r t r a g „ P r o b l e m e der Stilistik in den zweisprachigen W ö r t e r b ü c h e r n " 1 vorrangig F r a g e n der stilistischen Charakterisierung v o n Phraseologismen im Bulgarischen u n d Russischen u n d den d a m i t v e r b u n d e n e n Unterschieden in diesen Sprachen. Sie ging auf die b e d e u t e n d e n S c h w a n k u n g e n , die hinsichtlich der stilistischen Markier u n g bereits in den einzelnen Sprachen zu b e o b a c h t e n sind, ein, z. B. auf die P r o b l e m a t i k der Z u o r d n u n g b e s t i m m t e r P h r a s e m e zur neutralen bzw. umgangssprachlichen oder zur umgangssprachlichen bzw. lässig umgangssprachlichen Stilschicht im Russischen. F e r n e r verwies sie auf Fälle recht unterschiedlicher Stilzuweisungen in den Beispielen: russ. CJio>KHTb ro.ioBy ( r o j i o B L i ) : u m gspr. (nach Molotkov), gehoben (nach 2 u k o v , Ozegov); 00J7B 3 e M J i H : umgspr. (nach Molotkov) u n d b u c h s p r . (nach 2 u k o v , Oüegov). Noch größere P r o b l e m e t a u c h e n nach Meinung von L. in stilistischer Hinsicht in zweisprachigen phraseologischen W ö r t e r b ü c h e r n auf. A m Beispiel des Russisch-bulgarischen phraseologischen W ö r t e r b u c h e s u n t e r R e d . v o n S. Vlachov 5 d e m o n s t r i e r t e sie eine Reihe von stilistischen Nichtü b e r e i n s t i m m u n g e n bei den bulgarischen Ä q u i v a l e n t e n f ü r russische P h r a s e m e . Gleichzeitig m a c h t e sie auf die großen Schwierigkeiten a u f m e r k s a m , die die F o r d e r u n g nach stilistischer Äquivalenz in der zweisprachigen Phraseographie beinhaltet. J . M a t e s i c ( B R D ) s p r a c h „ Z u r Bildhaftigkeit des P h r a s e m s " 6 u n d ä u ß e r t e sich in diesem Zus a m m e n h a n g ebenfalls zu d e m komplizierten P r o b l e m der stilistischen Wertigkeit der P h r a s e m e . E r ging d a v o n aus, d a ß P h r a s e m e im Vergleich zu den E i n w o r t l e x e m e n im allgemeinen einen höheren Grad a n E x p r e s s i v i t ä t aufweisen, wobei n a c h seiner Meinung E x p r e s s i v i t ä t u n d Bildh a f t i g k e i t zwar eng z u s a m m e n h ä n g e n , aber n i c h t identische Begriffe sind. I m weiteren u n t e r schied er zwischen einer p r i m ä r e n (inneren) Bildhaftigkeit (hier g e h t es u m die Bildvorstellung, die d e m jeweiligen P h r a s e m zu G r u n d e liegt u n d auf die die B e d e u t u n g des P h r a s e m s rekurriert werden k a n n ) u n d einer s e k u n d ä r e n Bildhaftigkeit, die den stilistischen W e r t des P h r a s e m s ausmacht. A n h a n d des skr. P h r a s e m s na vrbi svirala (von etw. das noch unsicher ist, in d e n Sternen geschrieben steht) d e m o n s t r i e r t e er, wie das der W e n d u n g zu G r u n d e liegende Bild ( „ F l ö t e n auf d e m W e i d e n b a u m " ) zu der Assoziation über etwas Unmögliches, U n a u s f ü h r b a r e s — u n d wir f ü g e n hinzu a u c h Unsicheres — f ü h r t e in K o n f r o n t a t i o n zu der Tatsache, d a ß in f r ü h e r e n Zeiten tatsächlich F l ö t e n aus Weidenzweigen g e m a c h t wurden, aber das n a t ü r l i c h n i c h t auf der Weide selbst geschah. I n seinen weiteren Darlegungen gelangte M. zu der sehr weitreichenden Schlußfolgerung, d a ß es n i c h t a n g e h t , P h r a s e m e einer Sprache b e s t i m m t e n Stilschichten zuordnen zu wollen, z. B. der U m g a n g s s p r a c h e oder einer salopp-umgangssprachlichen Stilschicht. Seiner Meinung n a c h k a n n lediglich die V e r w e n d u n g des P h r a s e m s in einem b e s t i m m t e n K o m m u n i k a t i o n s k o n t e x t stilistisch gewertet werden, nicht aber das P h r a s e m an sich. „ D a h e r ist bei phraseologischen E i n h e i t e n nicht die Registrierung der stilistischen Markierung in einem W ö r t e r b u c h ausschlaggebend, sondern die Ü b e r e i n s t i m m u n g oder N i c h t - Ü b e r e i n s t i m m u n g des realisierten Stilwertes m i t der Stilerwar. t u n g . " 7 Dieses H e r a n g e h e n e n t s p r i c h t einer in j ü n g s t e r Zeit i m m e r deutlicher w e r d e n d e n A u f . 4

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M J l e O H H H O B a , IIpoßjieMbl CTHJIHCTHKH B «ByH3bIHHbIX CJIOBapHX, i n : C j i a B H H C K a (JlHJlOJIOrilH ( E t J i r a p c K a Anatemi-m H a H a y K H T e . EiJirapcKM KOMMTCT H a c j i a B H C T H T e ) , TOM 19, E 3 H K 0 3 H a HHe, Co(fiiiH 1988, S. 216—226 (besonders 222 — 226). — K u r z f a s s u n g in bulgarischer Spraohe, i n : Pe3K>iueTa, S. 520. K . Ä H f l p e i i m i H a , C . B j i a x o B , CT. , I I , H M H T p o B a , K J I . 3 a n p H H O B a , P y c K O - 6 ' b J i r a p c K H i f i p a -

3eojiornMeH peMHHK. I l o a peji,. Ha C . B j i a x o ß , C O ^ H H — M o c K B a 1980. K . M a t e s i c , Zur Bildhaftigkeit des P h r a s e m s , i n : Slavistische S t u d i e n z u m X . I n t e r n a t i o n a l e n Slavistenkongress in Sofia 1988. Herausgegeben von R . O l e s c h u n d H . R o t h e , K ö l n —Wien 1988. S. 113 — 119. — Deutsche K u r z f a s s u n g i n : Pe3K>MeTa, S. 557. vgl. die erste in A n m . 6 zitierte Arbeit, S. 119.

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fassung, die die Stilistik im K o n t e x t f u n k t i o n a l - k o m m u n i k a t i v e r A u f g a b e n s t e l l u n g u n d -bewältigung sieht, u n d ist in diesem Sinne nicht phraseologiespezifisch. D. V e l i c k o v i c ( S F R J ) war m i t einem Beitrag zum T h e m a „ F r a g e n der Ü b e r s e t z u n g russischer u n d serbokroatischer Sprichwörter, die onomastische Lexik e n t h a l t e n " 8 v e r t r e t e n . E s w u r d e n theoretische F r a g e n der Ü b e r t r a g u n g von Sprichwörtern (Parömien) als linguistischer u n d literarischer Erscheinungen in beiden v e r w a n d t e n slawischen Sprachen beleuchtet u n d Möglichkeiten ihrer Ü b e r s e t z u n g in beiden R i c h t u n g e n erörtert. Die Sprichwörter, die onomastische K o m p o n e n t e n e n t h a l t e n , weisen in der Regel Nulläquivalenz auf. An H a n d einer Reihe von Beispielen demonstrierte V. Möglichkeiten der Ü b e r t r a g u n g dieser besonderen G r u p p e v o n Sprichwörtern entgegen der allgemein a n g e n o m m e n e n H y p o t h e s e ihrer U n ü b e r s e t z b a r k e i t . E. E h e g ö t z ( D D R ) war im P r o g r a m m u n t e r den S k r i p t a (nHCMeHH CboömenHH) m i t einem Beit r a g „ 0 rozwoju polskej frazeologii idiomatycznej w drugiej polowie X I X wieku" 9 ausgewiesen, den sie d a n n auch als Vortrag halten konnte. Auf der Grundlage des Vergleiches einer Anzahl r e p r ä s e n t a t i v e r W ö r t e r b ü c h e r seit der Mitte des vergangenen J h . bis in unsere G e g e n w a r t e r m i t t e l t e E., daß an der Schwelle des 20. J h . eine b e d e u t e n d e Zahl von idiomatischen W e n d u n g e n des Polnischen im Veralten begriffen ist bzw. bald darauf schwindet. G r ü n d e d a f ü r erblickt sie in der V e r s t ä r k u n g der I d i o m a t i z i t ä t u n d im Verlust der Motiviertheit bei einer Reihe v o n P h r a s e m e n bzw. in der V c r a l t u n g von W ö r t e r n , die d a n n a u c h Auswirkung auf die Archaisierung v o n P h r a s e m e n h a t . Zu den beständigsten T y p e n von P h r a s e m e n gehören n a c h Meinung v o n E . die somatischen, deren Motivation ja immer wieder nachvollziehbar ist. E i n e n hohen Anteil u n t e r den archaischen P h r a s e m e n bestreiten die sogen. Minimalphraseme, deren B e d e u t u n g ziemlich a m o r p h u n d undurchsichtig ist. Mit der fortschreitenden N o r m i e r u n g der Schriftsprache setzt sich schließlich häufig eine der P h r a s e m v a r i a n t e n durch. V e r ä n d e r u n g e n lassen sich a u c h auf anderen Gebieten, z. B. hinsichtlich der V e r b i n d b a r k e i t der P h r a s e m e , feststellen. Als zur phraseologischen P r o b l e m a t i k gehörig sind im P r o g r a m m u n t e r den S k r i p t a noch die Beiträge von Dr. M r s e v i c ( S F R J ) „ B e i t r a g zur R e k o n s t r u k t i o n der mythologischen Grundlage einer Schicht von a d j e k t i v i s c h e n k o m p a r a t i v i s c h e n Phraseologismen (im Serbokroatischen u n d in d e r b e n a c h b a r t e n slowenischen Sprache)" 1 0 u n d von S. L u b e n s k y (USA) „ Ü b e r K r i t e r i e n der Idiom a t i z i t ä t " 1 1 fixiert, diese Beiträge sind jedoch, soweit wir informiert sind, n i c h t v o r g e t r a g e n worden. Sie f a n d e n auch keine A u f n a h m e in dem R e s ü m e e - B a n d . Schließlich k a n n noch darauf hingewiesen werden, d a ß in den P u b l i k a t i o n e n der N a t i o n a l k o m i t e e s der Slawisten in den einzelnen L ä n d e r n eine Reihe von Beiträgen zur slawischen Phraseologie z u r Veröffentlichung gelangte. 1 2 W ä h r e n d des Kongresses f a n d a m 21. 9. 1988 die Sitzung der Kommission f ü r slawische P h r a s e o logie beim I n t e r n a t i o n a l e n Slawistenkomitee u n t e r der L e i t u n g ihres Vorsitzenden J . M a t e s i ö s t a t t , an der die Mitglieder der Kommission A. St. A k s a m i t o v ( U d S S R ) , M. B a s a j , R . E c k e r t u n d M. L e o n i d o v a u n d als Gäste K r . C o l a k o v a , V. K j u v l i e v a - M i s a j k o v a , K . N i ö e v a , S. S p a s o v a - M i c h a j l o v a , S. V l a c h o v (alle VR Bulgarien), L. J a . K o s t j u c u k , V. N. T e l i j a (beide U d S S R ) u n d E . E h e g ö t z t e i l n a h m e n . 8

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vgl. die K u r z f a s s u n g „ P i t a n j a p r e v o d j e n j a ruskih i s r p s k o h r v a t s k i h p a r e m i j a k o j e s a d r i e onomasticku leksiku", i n : Pe3WMeTa, S. 570. vgl. E . E h e g ö t z , Zur E n t w i c k l u n g der polnischen idiomatischen Phraseologie in der zweiten H ä l f t e des 19. J a h r h u n d e r t s , i n : ZfSl 32 (1987), S. 8 2 4 - 8 3 0 . vgl. X . MejKÄyHapoaen KOHrpec Ha cjiaBHcraTe CO(J>hh 14—22 ceirreMBpn 1988r. I l p o r p a w a (BT>jirapcKa AKa^eMiiii Ha nayitHTe. E t j i r a p c i t n HaqHoiiajien KOMMTÖT Ha cnaBneniTe), COC)IMH 1988, S. 74: M p m e B H h 3 p . (Vn) — üpHJior ycnocTaBjbaiby MMTCKÖ 0CH0Be y je^HOM cjiojy npHAeBCKHX nopeaßeHwx (JipaaeoJiorroaMa (y cpncKoxpBaTCKOM H cyceamiM CJIOBGHCKHM je.3ni^uvia). I b i d e m , S. 75: L u b e n s k y S. (USA) — On Criteria of I d i o m a t i c i t y . Wir m ö c h t e n in diesem Z u s a m m e n h a n g auf folgende Beiträge im polnischen S a m m e l b a n d z u m 10. I n t e r n a t i o n a l e n Slawistenkongreß (s. A n m . 2) a u f m e r k s a m m a c h e n : 1) A. B e d n a r e k , R e p r e z e n t a c j a s e m a n t y c z n a wyraznia jednym slowem, op. cit., S. 57 —66; 2) H . flamBHCKa, PyccK0-n0JibCKHe JiowHbie pa3eoJiorHMecKHe 3KBHBajieHTii, op. cit., S. 95—104; 3) A. P a j d z i r i s k a , P r z y d a t n o s c koneepeji pola znaezeniowego w b a d a n i a c h frazeologicznych, op. cit., S. 303 —312; 4) B. R e j a k o w a , N e g a c j a a zwi^zki frazeologiczne (na m a t e r i a l e j^zyka slowackiego i polskiego) u n d 5) CT. CTaiueBCKH, OpaaeoJiornqecKne eAHHmju, o o p a s o n a m m e Ha ÖHÖJieHCKOM MaTepwajie, op. cit., S. 419—427.

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In A u s w e r t u n g des 10. I n t e r n a t i o n a l e n Slawistenkongresses wurde beschlossen, d a ß in Vorbereitung des 11. I n t e r n a t i o n a l e n Slawistenkongresses spätestens 1990 von der Kommission Auff o r d e r u n g e n a n die Phraseologen zur Vorbereitung der Thesen ergehen sollen u n d der K o m m i s sionsvorsitzende die E i n r i c h t u n g einer phraseologischen Subsektion beim I S K b e a n t r a g e n wird. E s wurde d a r ü b e r b e r a t e n , d a ß die n ä c h s t e n Symposien u n d Sitzungen der I n t e r n a t i o n a l e n K o m mission f ü r slawische Phraseologie voraussichtlich 1989 in Zagreb ( S F R J ) z u m T h e m a „ P r o b l e m e der S y n o n y m i e u n d Varianz in der Phraseologie slawischer S p r a c h e n " u n d 1990 in Berlin ( D D R ) zum T h e m a „Satzgliedwertige u n d satzwertige Phraseologismen in den slawischen S p r a c h e n " s t a t t f i n d e n werden. Gleichzeitig wurde eine E r ö r t e r u n g der P r o b l e m e der phraseologischen Terminologie u n d der B e s t ä t i g u n g neuer Kommissionsmitglieder auf den nächsten Sitzungen vorgesehen. E s f a n d ein Meinungsaustausch über die G r ü n d u n g einer Zeitschrift m i t d e m Titel „Slawische u n d allgemeine Phraseologie" s t a t t . M. B a s a j teilte mit, d a ß er die H e r a u s g a b e der Materialien des I n t e r n a t i o n a l e n S y m p o s i u m s ,,Opa3eoJiorn3M h ero jieKCHKorpahh 14—22 cenTeMBpH 1988r. Pe3K>MeTa na noKJiaHHTe (Bi.jirapcKaaKaAeMHH Ha HayKMTC. EuirapcKH Hai;noHa:iCH kommtc™ a cjiaBHOTHTe), Conn 1988. I . M. }Kejie3HHK, rißpoHiMin V^KpaiHH ü npoSneiwa cjioß'HHCbKoro eTHoreHesy, i n : CM, S. 5 bis 15. C J i O B ' H H C b K e M0B03H&BCTB0.

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In A u s w e r t u n g des 10. I n t e r n a t i o n a l e n Slawistenkongresses wurde beschlossen, d a ß in Vorbereitung des 11. I n t e r n a t i o n a l e n Slawistenkongresses spätestens 1990 von der Kommission Auff o r d e r u n g e n a n die Phraseologen zur Vorbereitung der Thesen ergehen sollen u n d der K o m m i s sionsvorsitzende die E i n r i c h t u n g einer phraseologischen Subsektion beim I S K b e a n t r a g e n wird. E s wurde d a r ü b e r b e r a t e n , d a ß die n ä c h s t e n Symposien u n d Sitzungen der I n t e r n a t i o n a l e n K o m mission f ü r slawische Phraseologie voraussichtlich 1989 in Zagreb ( S F R J ) z u m T h e m a „ P r o b l e m e der S y n o n y m i e u n d Varianz in der Phraseologie slawischer S p r a c h e n " u n d 1990 in Berlin ( D D R ) zum T h e m a „Satzgliedwertige u n d satzwertige Phraseologismen in den slawischen S p r a c h e n " s t a t t f i n d e n werden. Gleichzeitig wurde eine E r ö r t e r u n g der P r o b l e m e der phraseologischen Terminologie u n d der B e s t ä t i g u n g neuer Kommissionsmitglieder auf den nächsten Sitzungen vorgesehen. E s f a n d ein Meinungsaustausch über die G r ü n d u n g einer Zeitschrift m i t d e m Titel „Slawische u n d allgemeine Phraseologie" s t a t t . M. B a s a j teilte mit, d a ß er die H e r a u s g a b e der Materialien des I n t e r n a t i o n a l e n S y m p o s i u m s ,,Opa3eoJiorn3M h ero jieKCHKorpahh 14—22 cenTeMBpH 1988r. Pe3K>MeTa na noKJiaHHTe (Bi.jirapcKaaKaAeMHH Ha HayKMTC. EuirapcKH Hai;noHa:iCH kommtc™ a cjiaBHOTHTe), Conn 1988. I . M. }Kejie3HHK, rißpoHiMin V^KpaiHH ü npoSneiwa cjioß'HHCbKoro eTHoreHesy, i n : CM, S. 5 bis 15. C J i O B ' H H C b K e M0B03H&BCTB0.

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U. G r u b e , Die ukrainische Sprachwissenschaft auf dem X . Slawistenkongreß

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suchungen der slawischen Ethnogenese sind ohne Berücksichtigung der Forschungsergebnisse der H y d r o n y m i e der slawischen Gebiete, insbesondere der Ukraine, nicht möglich. Ebenfalls eine historische T h e m a t i k wählte V. V. N i m ö u k f ü r seinen Beitrag, der Untersuchungsergebnisse zur Lexik der Kiewer Glagolitischen Blätter auf der Grundlage des Wortschatzes alter slawischer Schriftdenkmäler 4 vorstellte. E s zeigt sich, d a ß die verwendete Lexik einerseits eng mit der sprachlichen Tätigkeit von Kyrill u n d Method v e r b u n d e n ist, sowie andererseits altslawischen T e x t e n u n d Schriftdenkmälern, die nach dem Tod von Method geschaffen wurden, n a h e steht. Die U n t e r s u c h u n g der Lexik der Kiever B l ä t t e r in genetischer u n d chronologischer Hinsicht und u n t e r arealem Aspekt erbrachte die Erkenntnis, d a ß neben südslawischen auch westslawische Elemente auf phonetischer, morphologischer u n d lexikalischer E b e n e v e r t r e t e n sind. Dies ist als R e s u l t a t des Zusammenwirkens verschiedener sprachlicher Elemente u n d als Folge der Wirkungsweise des Usus im Altslawischen des 9. —10. J a h r h u n d e r t s zu werten, das ein entsprechendes Variieren sprachlicher Mittel gestattete. Die V e r k n ü p f u n g der typologisch-vergleichenden u n d der historisch-vergleichenden Methode bei der Untersuchung slawischer Sprachen 5 stand im M i t t e l p u n k t des Beitrages von O. S. M e P n i c u k , V. T. K o l o m i j e c ' , T. H . L y n n y k . Bei gleichzeitiger Berücksichtigung möglichst vieler gegenüberzustellender F a k t e n verschiedener Sprachen sind Wesen u n d Spezifik besonders klar zu dokumentieren. Dabei k o m m t es vor allem darauf an, den Aspekt der Historizität m i t dem der Systemhaftigkeit bei der U n t e r s u c h u n g sprachlicher Erscheinungen zu verbinden. D a f ü r wurden Analysen der verschiedenen sprachlichen Ebenen (phonetische Ebene, W o r t b i l d u n g der Substantive und Adjektive) nach strukturellen Gemeinsamkeiten aller slawischen Sprachen sowie entsprechenden Unterschieden vorgenommen und ihre Ursachen k o m m e n t i e r t . Typologische Besonderheiten gliedern die slawischen Sprachen in verschiedene Gruppen, welche in unterschiedlichem Maße der traditionellen Einteilung in ost-, west- u n d südslawische Sprachen entsprechen. Die typologischen Beziehungen der slawischen Sprachen auf den einzelnen E b e n e n verweisen auf die Existenz gemeinsamer Tendenzen. Vergleichende U n t e r s u c h u n g e n der slawischen Sprachen mit Orientierung auf den Prozeß der Schaffung u n d E n t w i c k l u n g des Wortschatzes u n t e r Berücksichtigung der Beziehungen der lexikalischen Systeme bilden die Grundlage der Ausführungen von P . J u . H r y c e n k o u n d I. A. S t o j a n o v . 6 Die typologisch-vergleichende Analyse von Erscheinungen der lexikalisch-semantischen Ebene der L i t e r a t u r s p r a c h e n s t ü t z t sich vor allem auf die lexikographische Basis u n d Spezialuntersuchungen slawischer Sprachen und erbringt Erkenntnisse über die S t u f e der Ähnlichkeit bzw. Divergenz der verschiedenen slawischen Sprachen in ideographischer, semantischer und quantitativer Hinsicht. Die linguistische K a r t e bietet die Möglichkeit, eine Reihe von Zonen innerhalb des slawischen Gebiets zu konstatieren, wo eine erhöhte Anzahl lexikalischer u n d semantischer Erscheinungen in einigen slawischen Sprachen identisch ist bzw. sich mit ukrainischen Dialekten deckt. Lexeme, die ähnlich in S t r u k t u r und/oder Semantik sind, weisen auf gemeinsame Entwicklungsprozesse hin. Verbunden d a m i t gibt die Analyse der Parallelen zwischen dem Ukrainischen und den anderen slawischen Sprachen die Möglichkeit, gründlicher den U m f a n g der Zonen mit gemeinsamen/ähnlichen lexikalisch-semantischen Eigenschaften sowie den C h a r a k t e r u n d die I n t e n s i t ä t der Erscheinung solcher Parallen zu bestimmen. Die Determination der historischen Entwicklung der Lexik durch das System u n t e r s u c h t e V. M. R u s a n i v s ' k y j 7 . Er unterstrich die Tatsache, daß die Entwicklung des lexikalischen Systems einer jeden Sprache durch bestimmte innersprachliche Gesetzmäßigkeiten bedingt sei. Als Quelle dieser Entwicklung werden jene Widersprüche angesehen, die im System durch Nichtübereins t i m m u n g der B e d e u t u n g des Wortes (Gesamtheit seiner Sememe) mit seiner Wertigkeit (syntagmatische Möglichkeiten) hervorgerufen werden. Als Folge dessen, d a ß zwischen neuen Begriffen 4

5

6

7

B. B. H i M H V K , .rieKCHKa KHlBCbKHX IYiarOJIIIHHHX JIHCTKiB na (JlOHI MOBHJIKOliOrO CKJiaHy naiiAaBHiuinx cjioB'fmcbKiix naM'fiTOK, in: CM, S. 185 — 214. A. C. M e . i b i n n i y K , B. T. K o a o M i i e n , T. T. J I h h h h k , Co i ieTamie eonocTaBHTejibHO-Tiino.TOrimecKoro ii cpaBiniTejibHo-iicTopuMecKoro MewaoB n p n HccjieaoBamni cjiaBHiicKiix h3bikob, in CM, S. 5 3 - 8 5 . 11. K>. F p m j e H K O , 1. A . C t O H H O B , yKpai'HCbKOiHOCJIOB'HHCbh'i neKCHKO-CCMaHTHMHi Mi>KsonajibHi napajie;ii, in: CM, S 101 — 124. B. M. P y c a H i B C b K i i i l , CncTeiviHa syMOBjieiricTb po3BHTKy neKciiKii (na MaTepiaai raoB'HHCti-uix mob). in: CM, S. 8 5 - 1 0 1 .

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Z. Slaw. 34 (1989) 3

und ihren sprachlichen Realisierungen Diskrepanzen bestehen, ergeben sich im lexikalisch-semantischen System solche dialektisch verbundenen Erscheinungen wie Polysemie und Streben des Wortes nach Eindeutigkeit, Bewahrung der Autonomie der semantischen S t r u k t u r und die Tendenz zur Begrenzung des Umfangs der semantischen S t r u k t u r einzelner Wörter, Metaphorisierung als neue Nominationsmittel, Neutralisierung und wiederholtes Aufkommen emotionaler Markiertheit des Wortes. Aus seinen Untersuchungen zieht V. M. Rusanivs'kyj die Schlußfolgerung, daß die Entwicklung und Bereicherung der Lexik einer bestimmten Sprache nicht nur in der Vergrößerung der Anzahl der lexikalischen und semantischen Einheiten liegt, sondern auch in der Entwicklung und Komplikation des lexikalischen Systems als Ganzes. T. I. P a n ' k o ist in der ukrainistischen Forschung vor allem durch ihre umfangreichen Arbeiten zur gesellschaftswissenschaftlichen Terminologie bekannt. In ihrem Beitrag, der gemeinsam mit K . K . Trofymovyc erarbeitet wurde, stellt sie eine Typologie der gesellschaftspolitischen Lexik der slawischen Sprachen vor 8 . Dabei wird vom Zusammenwirken der slawischen Sprachen, den Beziehungen zu den anderen europäischen Literatursprachen und der Orientierung auf griechische und lateinische Elemente als wichtige Indikatoren dafür ausgegangen, daß sich die gesellschaftspolitische Lexik der slawischen Sprachen als auf semantischer Ebene ähnlich herausgebildet hat. Dabei werden gleiche Ressourcen bei der Auswahl des lexikalischen Materials und seiner Modellierung genutzt. I n jeder slawischen Literatursprache h a t sich das System der gesellschaftspolitischen Lexik über J a h r h u n d e r t e geformt: beginnend bei einer relativ frühen Entwicklungsstufe des Schrifttums, wo jene Lexik, die in Denkmälern nichtbelletristischen Charakters verwendet wurde, gesellschaftspolitische Merkmale aufwies, über eine entsprechende Stabilisierung in staatlichen Dokumenten bis zum Funktionieren in der Presse, Konkretisierungsprozessen und der Befreiung von alten Elementen. Bei der Herausbildung der ukrainischen gesellschaftspolitischen Lexik ist unbedingt die Rolle T. H . Sevöenkos hervorzuheben, der internationale Lexik verwendete und es verstand, die S t r u k t u r nationaler Lexeme f ü r die Erweiterung der semantischen S t r u k t u r zu nutzen, was besonders die weitere stilistische Differenzierung des Ukrainischen begünstigte. Großen Einfluß auf die Entwicklung der gesellschaftspolitischen Lexik in den slawischen Sprachen und ihre Kodifizierung hatte die von P . J . Safärik geleitete Kommission von Sprachwissenschaftlern, die in der Mitte des vergangenen J a h r h u n d e r t s eine Vielzahl terminologischer Wörterbücher erarbeitete. Die gesellschaftspolitische Lexik stabilisierte sich im Verlaufe ihrer Entwicklung allmählich, nahm immer mehr Systemcharakter an und wurde vor allem durch die Verbreitung des Marxismus und später des Marxismus-Leninismus in Europa bereichert. Das erforderte wiederum Kodifizierungsarbeiten. Es sei in diesem Zusammenhang an die Tätigkeit tschechischer Wissenschaftler nach dem 1. Weltkrieg oder auch an die Bestrebungen russischer, ukrainischer und belorussischer Sprachwissenschaftler zur Ordnung der nationalen Terminologien erinnert. Unter den Bedingungen des Kontaktierens der Sprachen ergeben sich gemeinsame Entwicklungstendenzen der Systeme der gesellschaftspolitischen Lexik, wie z. B. parallele Bildungen mit einer großen Anzahl identischer Wurzel- und affixaler Elemente oder die in der Presse verwendeten lexikalischen Einheiten, die sich in Beziehung auf ihre Entstehung und entsprechende Wortbildungsmerkmale ähneln (Internationalismen, Synonyme zu Internationalismen). Als besonders wichtig im Prozeß der Entwicklung der modernen Literatursprachen ist die Neologisierung hervorzuheben. Innovationen internationalen Charakters werden von allen slawischen Sprachen aktiv aufgenommen und treten in komplexe Beziehungen mit nationalen Elementen. Das bewirkt u. a. Veränderungen z. B. in den synonymischen und antonymischen Beziehungen sowie die Herausbildung neuer innerstruktureller Beziehungen zwischen den Lexemen. Die gesellschaftspolitische Lexik in den slawischen Sprachen ist durch zunehmenden Parallelismus gekennzeichnet, wobei der russischen Sprache die führende Rolle bei der semantischen I d e n t i t ä t zukommt. Auch eine große Anzahl der zum X . Internationalen Slawistenkongreß schriftlich eingereichten Beiträge beschäftigt sich mit historischer Thematik. Besonders hervorhebenswert erscheint uns die Untersuchung von J . F. A n d e r s , die einem Aspekt der Erforschung der modernen slawischen Sprachen gewidmet ist: der Valenzstruktur des Prädikats und der Typologie einfacher Sätze 9 . 8

9

T. I. I l a H b K D , K. K. T p 0 $ i i M 0 B n % Tmio.ioriH cycniJitHO-noiiiTHMHOi jieKCHKH B CbKHx MOBcix, i n : CM S. 136 — 148., H. A H R e p u i , BajieHTHO-iHTemjiöHa CTpyKTypa n p e s H u a T a i T H n o n o r i n n p o e n i x y C Y Q A C H H X CJIOB'HHCI>KHX MOBax, i n : CM, S. 124—136.

CJIOB'HH-

peMem>

G. S c h l i j i p e r t , Die Onomastik auf dem X. Slawistenkongreß

445

Die Analyse wurde auf zwei Ebenen der syntaktisch-semantischen Modellbildung des einfachen Satzes vorgenommen u n d erbrachte auf der a b s t r a k t e n Ebene eine gleiche Anzahl von Valenzu n d intentionalen Typen der minimalen Satzstruktur, während auf der Ebene der konkreten Valenzstrukturen unterschiedliche Merkmale bei den einzelnen slawischen Sprachen gegeben sind. Das breite Spektrum der auf dem X . Internationalen Slawistenkongreß vorgestellten Ergebnisse bietet zahlreiche Anregungen f ü r die weitere sprachwissenschaftliche Forschung in der D D R im allgemeinen u n d f ü r die Ukrainistik im besonderen.

G. S c h l i m p e r t

Die Onomastik auf dem X. Internationalen Slawistenkongreß Der Onomastik war auch auf diesem Kongreß der ihr gebührende Platz eingeräumt worden. Zusammen mit dem „Vergleichenden und historischen Studium der slawischen Sprachen u n d Dialekte" sowie den „ S p r a c h k o n t a k t e n " bildete sie die Sektion 1/2. I n den Vorträgen wurden gleichermaßen theoretisch-methodologische wie auch praktische Fragen der slawischen Onomastik behandelt. M. M a j t ä n (CSSR) stellte in einem Gemeinschaftsreferat (zusammen mit H. B o r e k f , E. E i c h l e r und R. S r a m e k ) das P r o j e k t des „Slowianski atlas onomastyczny. T y p y s t r u k t u r a l n e ojkonimii slowiariskiej" vor, wobei er S t a n d und Aufgaben in fünf P u n k t e n z u s a m m e n f a ß t e : 1. Der Slawische Onomastisohe Atlas (SOA) ist sowohl in heuristischer, theoretisch-methodologischer als auch in organisatorischer Hinsicht ein sehr anspruchsvolles P r o j e k t , dessen Realisierung über die Bearbeitung der Onymie in den einzelnen slawischen L ä n d e r n f ü h r t . Am weitesten sind die Arbeiten am westslawischen Namenmaterial vorangeschritten. 2. Der SOA setzt sowohl die Bearbeitung der in den slawischen Eigennamen enthaltenen Lexeme als auch die Bearbeitung der formalen S t r u k t u r t y p e n voraus. Der erste Schritt dazu stellt die Inventarisierung ( „ I n d e x " ) der Strukturt y p e n der slawischen Oikonyme dar 1 , die einen Überblick über alle Wortbildungsmittel bei Oikonymen in den einzelnen slawischen Sprachen mit Beispielen vermittelt. Der „ I n d e x " schließt Deappellativa u n d Depropia ein u n d ist als 1. B a n d des SOA vorgesehen. 3. Bei den theoretischmethodologischen Vorbereitungen ging es vor allem u m die Definition des onymischen Benennungsprozesses sowie u m Probleme der formalen Analyse der S t r u k t u r der Oikonymie wie auch der morphematischen Analyse. 4. Ein kompliziertes Problem stellt die I n t e r p r e t a t i o n von Oikonymen slawischer H e r k u n f t in heute nichtslawischen L ä n d e r n dar, f ü r die eine in sich geschlossene Rekonstruktionstheorie entwickelt wurde 2 . 5. Die morphematisch begriffene Klassifizierung der S t r u k t u r t y p e n ermöglicht ein einheitliches Herangehen, welches die Grundlage u n d die Voraussetzung f ü r dieses internationale P r o j e k t darstellt. E . E i c h l e r (Leipzig) referierte über „Die sprachliche Stellung der slawischen Dialekte im heutigen deutschen Sprachraum im Lichte der Onomastik". Die im Gebiet zwischen Saale, Elbe u n d Oder, zwischen Ostseeküste u n d Erzgebirge ehemals gesprochenen altpolabischen u n d altsorbischen Mundarten, die sich uns h e u t e in historischen Quellen u n d U r k u n d e n seit dem 9. J h . , teilweise sogar seit dem 7. J h . , überwiegend in Eigennamen darbieten, sind von hervorragendem Interesse f ü r die Slawistik, nicht zuletzt auch deshalb, weil diese a m äußersten W e s t r a n d der gesamten Slavia gesprochen wurden. Die Onomastik liefert uns über diese ausgestorbenen Dialekte zuverlässige Kenntnisse, so z. B. über Derivationsund Kompositionsprozesse. Besondere Aufmerksamkeit wurde in diesem Z u s a m m e n h a n g den Komposita sowohl bei den A n t h r o p o n y m e n als auch bei den Oikonymen geschenkt. Einen Schwerp u n k t der Namenforschung der D D R stellt gegenwärtig die lexikologische Seite des überlieferten Namenmaterials dar. Viele der in aso. Toponymen enthaltenen Appellativa fehlen h e u t e dem Ober- und Niedersorbischen u n d ihre Zahl wächst mit der weiteren Aufarbeitung des Namen1

2

vgl. S t r u k t u r t y p e n der slawischen Ortsnamen. S t r u k t u r n i t y p y slovanske oikonymie. Hg. von E . E i c h l e r u n d R . S r ä m e k . Namenkundliche Informationen, Sonderheft, Karl-Marx-Universität Leipzig, 1988. vgl. S p r a c h k o n t a k t im Wortschatz — Dargestellt an Eigennamen —, Wiss. Beiträge der KarlMarx-Universität Leipzig, Lpz. 1984.

G. S c h l i j i p e r t , Die Onomastik auf dem X. Slawistenkongreß

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Die Analyse wurde auf zwei Ebenen der syntaktisch-semantischen Modellbildung des einfachen Satzes vorgenommen u n d erbrachte auf der a b s t r a k t e n Ebene eine gleiche Anzahl von Valenzu n d intentionalen Typen der minimalen Satzstruktur, während auf der Ebene der konkreten Valenzstrukturen unterschiedliche Merkmale bei den einzelnen slawischen Sprachen gegeben sind. Das breite Spektrum der auf dem X . Internationalen Slawistenkongreß vorgestellten Ergebnisse bietet zahlreiche Anregungen f ü r die weitere sprachwissenschaftliche Forschung in der D D R im allgemeinen u n d f ü r die Ukrainistik im besonderen.

G. S c h l i m p e r t

Die Onomastik auf dem X. Internationalen Slawistenkongreß Der Onomastik war auch auf diesem Kongreß der ihr gebührende Platz eingeräumt worden. Zusammen mit dem „Vergleichenden und historischen Studium der slawischen Sprachen u n d Dialekte" sowie den „ S p r a c h k o n t a k t e n " bildete sie die Sektion 1/2. I n den Vorträgen wurden gleichermaßen theoretisch-methodologische wie auch praktische Fragen der slawischen Onomastik behandelt. M. M a j t ä n (CSSR) stellte in einem Gemeinschaftsreferat (zusammen mit H. B o r e k f , E. E i c h l e r und R. S r a m e k ) das P r o j e k t des „Slowianski atlas onomastyczny. T y p y s t r u k t u r a l n e ojkonimii slowiariskiej" vor, wobei er S t a n d und Aufgaben in fünf P u n k t e n z u s a m m e n f a ß t e : 1. Der Slawische Onomastisohe Atlas (SOA) ist sowohl in heuristischer, theoretisch-methodologischer als auch in organisatorischer Hinsicht ein sehr anspruchsvolles P r o j e k t , dessen Realisierung über die Bearbeitung der Onymie in den einzelnen slawischen L ä n d e r n f ü h r t . Am weitesten sind die Arbeiten am westslawischen Namenmaterial vorangeschritten. 2. Der SOA setzt sowohl die Bearbeitung der in den slawischen Eigennamen enthaltenen Lexeme als auch die Bearbeitung der formalen S t r u k t u r t y p e n voraus. Der erste Schritt dazu stellt die Inventarisierung ( „ I n d e x " ) der Strukturt y p e n der slawischen Oikonyme dar 1 , die einen Überblick über alle Wortbildungsmittel bei Oikonymen in den einzelnen slawischen Sprachen mit Beispielen vermittelt. Der „ I n d e x " schließt Deappellativa u n d Depropia ein u n d ist als 1. B a n d des SOA vorgesehen. 3. Bei den theoretischmethodologischen Vorbereitungen ging es vor allem u m die Definition des onymischen Benennungsprozesses sowie u m Probleme der formalen Analyse der S t r u k t u r der Oikonymie wie auch der morphematischen Analyse. 4. Ein kompliziertes Problem stellt die I n t e r p r e t a t i o n von Oikonymen slawischer H e r k u n f t in heute nichtslawischen L ä n d e r n dar, f ü r die eine in sich geschlossene Rekonstruktionstheorie entwickelt wurde 2 . 5. Die morphematisch begriffene Klassifizierung der S t r u k t u r t y p e n ermöglicht ein einheitliches Herangehen, welches die Grundlage u n d die Voraussetzung f ü r dieses internationale P r o j e k t darstellt. E . E i c h l e r (Leipzig) referierte über „Die sprachliche Stellung der slawischen Dialekte im heutigen deutschen Sprachraum im Lichte der Onomastik". Die im Gebiet zwischen Saale, Elbe u n d Oder, zwischen Ostseeküste u n d Erzgebirge ehemals gesprochenen altpolabischen u n d altsorbischen Mundarten, die sich uns h e u t e in historischen Quellen u n d U r k u n d e n seit dem 9. J h . , teilweise sogar seit dem 7. J h . , überwiegend in Eigennamen darbieten, sind von hervorragendem Interesse f ü r die Slawistik, nicht zuletzt auch deshalb, weil diese a m äußersten W e s t r a n d der gesamten Slavia gesprochen wurden. Die Onomastik liefert uns über diese ausgestorbenen Dialekte zuverlässige Kenntnisse, so z. B. über Derivationsund Kompositionsprozesse. Besondere Aufmerksamkeit wurde in diesem Z u s a m m e n h a n g den Komposita sowohl bei den A n t h r o p o n y m e n als auch bei den Oikonymen geschenkt. Einen Schwerp u n k t der Namenforschung der D D R stellt gegenwärtig die lexikologische Seite des überlieferten Namenmaterials dar. Viele der in aso. Toponymen enthaltenen Appellativa fehlen h e u t e dem Ober- und Niedersorbischen u n d ihre Zahl wächst mit der weiteren Aufarbeitung des Namen1

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vgl. S t r u k t u r t y p e n der slawischen Ortsnamen. S t r u k t u r n i t y p y slovanske oikonymie. Hg. von E . E i c h l e r u n d R . S r ä m e k . Namenkundliche Informationen, Sonderheft, Karl-Marx-Universität Leipzig, 1988. vgl. S p r a c h k o n t a k t im Wortschatz — Dargestellt an Eigennamen —, Wiss. Beiträge der KarlMarx-Universität Leipzig, Lpz. 1984.

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materials ständig. Dabei geht es auch um die Rekonstruktion der Bedeutung. Das überlieferte Namenmaterial vermittelt wertvolle Aufschlüsse bei der Lösung von Problemen der Frühgeschichte der slawischen Sprachen wie auch bei der Rekonstruktion des Urslawischen. Slawistische Probleme in Ortsnamen in einem heute nichtslawischen Land erörterten auch Ch. D z i d z i l i s (Griechenland) über „Griechische Ortsnamen von Appellativen slawischer H e r k u n f t " und Ch. S i m e o n i d i s (Griechenland) „Zur slavischen Endung -tsa in neugriechischen Ortsnamen". G. S c h l i m p e r t (Berlin) hielt einen Vortrag über „Altpolabisch-südslawische Entsprechungen im Namenmaterial zwischen Elbe und Oder". Im altpolabischen Sprachgebiet sind Namen überliefert, bei denen sich Bezüge zum Südslawischen herstellen lassen. Dabei geht es weniger um Namen, die die Stammesnamen der Serben und Kroaten enthalten können, sondern vor allem um solche, die mit Appellativa wie *stobor, *stodor, *guscer/*gusierica gebildet wurden, die heute nur noch im Südslawischen bezeugt sind. Daneben wurde auf GX, wie z. B. Beetzsee, aufmerksam gemacht, für deren Erklärung nach Auffassung des Referenten ebenfalls in erster Linie das Südslawische in Betracht kommt. Abschließend wurde in Erwägung gezogen, bei den behandelten Namen einen Zusammenhang mit der slawischen Einwanderung herzustellen. E. F e l e s z k o R z e t e l s k a (Polen) sprach zu Ortsnamen in Pomorze Zachodnie und deren Beziehungen zum Großpolnischen, während W. W i t k o w s k i (Polen) zum Thema ,,Ze studiöw nad historia_ choronymöw w j§zyku rosyjskim" referierte. Den ältesten russischen Ländernamen liegen Ethnonyme zugrunde (z. B. Vengry), doch wurden diese relativ früh — im 14. —15. J h . — von Bildungen des Typs Polskaja zemlja abgelöst, die seit der Mitte des 17. J h . als Ellipsen verwendet wurden (Polskaja). Schon im 16. J h . kommen aber vermutlich unter polnischem Einfluß latinisierte Choronyme auf -ija wie Oispanija, Italija auf. Neubildungen dieser Art wie Vengrija und Öechija entstehen etwa seit der 1. Hälfte des 17. J h . M. M a j t a n s (CSSR) Ausführungen waren der „Slovenskä, hydronymia v slovanskom kontexte" gewidmet. M. betonte den slawischen Charakter der Hydronymie in der Slowakei, doch stammen insbesondere Namen von größeren Flüssen auch aus vorslawischer Zeit mit z. T. keltischer oder germanischer Herkunft. Letztere wurden von den Slawen nach ihrer Einwanderung übernommen und slawisiert und konnten dann ihrerseits als Modell für rein slawische Bildungen dienen. Das Thema des Vortrages von M. K o n d r a t i u k (Polen) lautete: „ 0 metodach slawizacij baltyckich nazw geograficznych na pograniczu polsko-bialorusko-litewskim". Es handelte sich dabei um Namen, die in Nordostpolen und im Raum von Grodno, d. h. in Gebieten, in denen es schon sehr früh zu Kontakten zwischen slawischen und baltischen Stämmen gekommen war, überliefert sind und die in unterschiedlichem Maße polonisiert bzw. belorussifiziert wurden. Die auf verschiedene Weise erfolgte Slawisierung wurde an Beispielen aus der Toponymie und Mikrotoponymie der Gebiete um Bialystok und Grodno demonstriert. Das Thema des Vortrages von K. R y m u t (Polen) lautete: „Praslawianski system antroponimiczny". Das urslawische anthroponymische System läßt sich mit Hilfe der in den einzelnen slawischen Sprachen existierenden Personennamensystemen rekonstruieren, wobei den in mittelalterlichen Quellen überlieferten Personennamen während der Einnamigkeit eine wesentliche Rolle zukommt. Die Rekonstruktion bezieht sich sowohl auf die Struktur als auch auf die anthroponymischen Basen der Personennamen. Die rekonstruierten urslawischen Komposita unter den Personennamen lassen sich in solche, die aus vorslawischer Zeit ererbt wurden, und in solche, welche erst in slawischer Zeit entstanden, teilen. N. V. B i r i l l o (UdSSR) widmete seine Ausführungen der ,,TnnojioniH H reorpafyiifl cnaB H H C K H X (jiaMHJiHii", deren Herausbildung — es handelt sich dabei zunächst um Zunamen — im Zusammenhang mit der zusätzlichen Identifizierung von Personen im 15. —18. J h . erfolgte. Die neuen „Identifikatoren" sind durch unterschiedliche Merkmale motiviert, wobei jedes über bestimmte Wortbildungsmittel verfügt, z. B. durch Geburts- und Wohnort mit Hilfe der Suffixe -ski(j)/-cki(j), -cik, -anin u. a. Die erblichen Familiennamen bildeten sich in den slawischen Sprachen auf der Grundlage der entstandenen Zunamen im wesentlichen im 18. —19. J h . heraus. In der Gegenwart unterscheidet man folgende Typen: 1. Suffixlose, 2. Familiennamen mit patronymischen Suffixen und 3. Familiennamen mit Ortssuffixen, wobei sich bestimmte Areale feststellen lassen: gesamtslawische Areale (z. B. -ski(j)/-cki(j)), Areale, an denen nur zwei Sprachen beteiligt sind (z. B. -ukj-juk im Belorussischen und Ukrainischen) und Areale, an denen mehrere Sprachen teilhaben (-iö, -oviil-evic im Russischen, Belorussischen, Ukrainischen, Polnischen und Serbokroatischen, Suffix -ovj-ev im Russischen, Ukrainischen, Belorussischen und Bulgarischen). Anthroponyme waren auch Gegenstand der Vorträge von 0 . J a s a r - N a s t e v a ( S F R J ) über die „Integration von türkischen Elementen im makedonischen patronymischen System" und von T. S t a m a t o s k i ( S F R J ) über „Neue Tendenzen bei Vornamen einiger südslawischer Völker".

P.

KIRCHNER

U. a., Die Literaturwissenschaft auf dem X. Slawistenkongreß

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In den letzten Jahrzehnten kommen unter dem Einfluß moderner Kommunikationsmittel in zunehmendem Maße „moderne", aus anderen europäischen Sprachen übernommene Namen auf (z. B. Zan, Majkl, Brizita), die unter allen sozialen Schichten verbreitet sind. Dabei lassen sich folgende charakteristische Tendenzen beobachten: Indeklinabilität, wesentliche Einschränkung von Ableitungen und damit verbunden Schwund vieler hypokoristischer Suffixe bei gleichzeitigem Entstehen neuer Suffixe — hier insbesondere -i, vgl. Viki, Goki, Mimi —, Einschränkung der Bildung possessiver Adjektive sowie Nichtunterscheidung des Geschlechts. Diese Tendenzen veranlaßten St. zu der Frage, ob angesichts dieser Tatsachen — Nichtbeachten der ästhetischen Seite der Namen, Verletzung der Besonderheiten des Benennungssystems wie auch der morphologischen und akzentologischen Normen der Literatursprache — das praktizierte hohe Maß von Toleranz bei der Wahl von Vornamen gerechtfertigt ist. M. G r k o v i c ( S F R J ) hielt einen Vortrag über „Charakteristika von Anthroponymen der Südslawen im Mittelalter", in dem sie Ergebnisse von jahrelangen Untersuchungen von Personennamen bei den Südslawen seit deren Besiedlung der Balkanhalbinsel vortrug 3 . Die ältesten, in Griechisch und Latein geschriebenen Quellen zeigen, daß die Slawen nach ihrer Besiedlung des Balkans den aus urslawischer Zeit ererbten Namenschatz bewahrt hatten. J e nach Zeit und Ort dringen dann F r e m d n a m e n ein, die ebenso wie die autochthon slawischen beleuchtet wurden. 3

vgl. auch M. G r k o v i c , Recnik imena Banjskog, Decanskog i Prizrenskog vlastelnistva u X I V veku, Beograd 1986.

P. K i r c h n e r - E. K o w a l s k i - B. M a i

Fragen der Literaturwissenschaft auf dem X. Internationalen Slawistenkongreß Wiewohl Fragen der Literaturwissenschaft auf dem X. Internationalen Slawistenkongreß praktisch im Rahmen dreier Sektionen (Literaturwissenschaft, Literaturwissenschaftlich-linguistische Probleme, Folkloristik) behandelt wurden, konzentrieren wir unsere Aufmerksamkeit ausschließlich auf einige in Untersektionen der Sektion 2 („Literaturwissenschaft") erörterte Probleme, die uns bemerkenswert erscheinen. Eine dieser Untersektionen, welche die slawischen Literaturen im K o n t e x t der weltliterarischen Entwicklung im 19. und 20. Jh., ihre Richtungen und Genres, zum Gegenstand hatte, wurde erstmals erfreulicherweise durch drei Foren eröffnet, die anstehenden Jubiläen bedeutender slawischer Dichter bzw. Kulturschaffender gewidmet waren: dem 140. Geburtstag Christo Botevs, dem Ö00. Geburtstag Francisk Skarynas und dem 175. Geburtstag Taras Sevcenkos. Verständlicherweise wurde das erste der genannten Foren fast ausnahmslos von bulgarischen Kollegen selbst bestritten. Während M. C a n e v a in ihrem Beitrag „Christo Botev im Schaffen Tvan Vazovs" nachwies, daß Vazov sein Leben lang nicht das Interesse an der Gestalt Botevs verloren habe, was in den mannigfaltigsten Genres seines literarischen Schaffens und seiner Publizistik vom Vorabend der Befreiung bis zum Ende des vergangenen J h . zum Ausdruck gekommen sei, spürten P. T r o e v dem Verhältnis Botevs zur russischen Literatur im allgemeinen und St. T a r i n s k a dessen Beziehung zur russischen revolutionären Lyrik der 60er und 70er J a h r e des 19. J h . im besonderen nach. Auf neue Aspekte machten A. K ' o s e v („Die Metaphorik der Lyrik Christo Botevs") sowie Cv. U n d i i e v a / K l . P r o t o c h r i s t o v a („Probleme der Poetik des Schaffens von Botev") aufmerksam, zu denen in der Diskussion M. G u r g u l o v a , V. N. K l i m c u k (UdSSR) u. a. wertvolle Ergänzungen (z. B. in der Konfrontation mit der Poetik Lermontovs, in der Zusammenschau Botevs als Lyriker und Publizist) lieferten. Interesse fanden auch N. K o s u t i c B r o z o v i c ' ( S F R J ) Ausführungen über „Christo Botev in Kroatien. Probleme der Rezeption und der Übersetzung". Richtete auf dem zweiten Forum A. I. M a l ' d z i s (UdSSR) zunächst die Aufmerksamkeit auf Skarynas Rolle f ü r die Herausbildung eines kulturellen Selbstbewußtseins des belorussischen Volkes und informierten A. I. 2 u r a u s k i / U . V. A n i c e n k a (UdSSR) über einen geplanten Reprintdruck der Skaryna-Bibel in Minsk (wobei andere seiner Werke folgen sollen), so galt das lebhafte Interesse vor allem zwei Vorträgen, die jeweils am konkreten Material Gemeinsames und

P.

KIRCHNER

U. a., Die Literaturwissenschaft auf dem X. Slawistenkongreß

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In den letzten Jahrzehnten kommen unter dem Einfluß moderner Kommunikationsmittel in zunehmendem Maße „moderne", aus anderen europäischen Sprachen übernommene Namen auf (z. B. Zan, Majkl, Brizita), die unter allen sozialen Schichten verbreitet sind. Dabei lassen sich folgende charakteristische Tendenzen beobachten: Indeklinabilität, wesentliche Einschränkung von Ableitungen und damit verbunden Schwund vieler hypokoristischer Suffixe bei gleichzeitigem Entstehen neuer Suffixe — hier insbesondere -i, vgl. Viki, Goki, Mimi —, Einschränkung der Bildung possessiver Adjektive sowie Nichtunterscheidung des Geschlechts. Diese Tendenzen veranlaßten St. zu der Frage, ob angesichts dieser Tatsachen — Nichtbeachten der ästhetischen Seite der Namen, Verletzung der Besonderheiten des Benennungssystems wie auch der morphologischen und akzentologischen Normen der Literatursprache — das praktizierte hohe Maß von Toleranz bei der Wahl von Vornamen gerechtfertigt ist. M. G r k o v i c ( S F R J ) hielt einen Vortrag über „Charakteristika von Anthroponymen der Südslawen im Mittelalter", in dem sie Ergebnisse von jahrelangen Untersuchungen von Personennamen bei den Südslawen seit deren Besiedlung der Balkanhalbinsel vortrug 3 . Die ältesten, in Griechisch und Latein geschriebenen Quellen zeigen, daß die Slawen nach ihrer Besiedlung des Balkans den aus urslawischer Zeit ererbten Namenschatz bewahrt hatten. J e nach Zeit und Ort dringen dann F r e m d n a m e n ein, die ebenso wie die autochthon slawischen beleuchtet wurden. 3

vgl. auch M. G r k o v i c , Recnik imena Banjskog, Decanskog i Prizrenskog vlastelnistva u X I V veku, Beograd 1986.

P. K i r c h n e r - E. K o w a l s k i - B. M a i

Fragen der Literaturwissenschaft auf dem X. Internationalen Slawistenkongreß Wiewohl Fragen der Literaturwissenschaft auf dem X. Internationalen Slawistenkongreß praktisch im Rahmen dreier Sektionen (Literaturwissenschaft, Literaturwissenschaftlich-linguistische Probleme, Folkloristik) behandelt wurden, konzentrieren wir unsere Aufmerksamkeit ausschließlich auf einige in Untersektionen der Sektion 2 („Literaturwissenschaft") erörterte Probleme, die uns bemerkenswert erscheinen. Eine dieser Untersektionen, welche die slawischen Literaturen im K o n t e x t der weltliterarischen Entwicklung im 19. und 20. Jh., ihre Richtungen und Genres, zum Gegenstand hatte, wurde erstmals erfreulicherweise durch drei Foren eröffnet, die anstehenden Jubiläen bedeutender slawischer Dichter bzw. Kulturschaffender gewidmet waren: dem 140. Geburtstag Christo Botevs, dem Ö00. Geburtstag Francisk Skarynas und dem 175. Geburtstag Taras Sevcenkos. Verständlicherweise wurde das erste der genannten Foren fast ausnahmslos von bulgarischen Kollegen selbst bestritten. Während M. C a n e v a in ihrem Beitrag „Christo Botev im Schaffen Tvan Vazovs" nachwies, daß Vazov sein Leben lang nicht das Interesse an der Gestalt Botevs verloren habe, was in den mannigfaltigsten Genres seines literarischen Schaffens und seiner Publizistik vom Vorabend der Befreiung bis zum Ende des vergangenen J h . zum Ausdruck gekommen sei, spürten P. T r o e v dem Verhältnis Botevs zur russischen Literatur im allgemeinen und St. T a r i n s k a dessen Beziehung zur russischen revolutionären Lyrik der 60er und 70er J a h r e des 19. J h . im besonderen nach. Auf neue Aspekte machten A. K ' o s e v („Die Metaphorik der Lyrik Christo Botevs") sowie Cv. U n d i i e v a / K l . P r o t o c h r i s t o v a („Probleme der Poetik des Schaffens von Botev") aufmerksam, zu denen in der Diskussion M. G u r g u l o v a , V. N. K l i m c u k (UdSSR) u. a. wertvolle Ergänzungen (z. B. in der Konfrontation mit der Poetik Lermontovs, in der Zusammenschau Botevs als Lyriker und Publizist) lieferten. Interesse fanden auch N. K o s u t i c B r o z o v i c ' ( S F R J ) Ausführungen über „Christo Botev in Kroatien. Probleme der Rezeption und der Übersetzung". Richtete auf dem zweiten Forum A. I. M a l ' d z i s (UdSSR) zunächst die Aufmerksamkeit auf Skarynas Rolle f ü r die Herausbildung eines kulturellen Selbstbewußtseins des belorussischen Volkes und informierten A. I. 2 u r a u s k i / U . V. A n i c e n k a (UdSSR) über einen geplanten Reprintdruck der Skaryna-Bibel in Minsk (wobei andere seiner Werke folgen sollen), so galt das lebhafte Interesse vor allem zwei Vorträgen, die jeweils am konkreten Material Gemeinsames und

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Spezifisches genau analysierten. Da war einmal M. A l t b a u e r (Israel), der — selbst „Polonus, gente Belorossiae" — in seinem Beitrag „Orientalismen in Skarynas Bibelübersetzungen", gestützt auf eigene Bibelfunde in Leningrad und in Kopenhagen, anschaulich und überzeugend zwei Traditionen dieser Übersetzungen — eine kirchenslawische lind eine westslawische — herausarbeitete, die jener „große Individualist mit seinen großen Sympathien f ü r die Orthodoxie" erkennen lasse. A. B. M c M i l l i n (Großbritannien) machte in seinem Beitrag „Die Metaphorik in den Nach- und Vorworten F. Skarynas" u. a. auf ein Desiderat, nämlich auf den Einfluß der Bibelübersetzungen Skarynas auf die belorussische Literatur, aufmerksam. Was schließlich das dritte Forum dieser Art betrifft, so wurde dieses durch drei Vorträge ausgefüllt, an die sich eine rege Diskussion anschloß. Am konkreten Material der Lyrik Sevöenkos analysierten zunächst V. S. B o r o d i n , V. K . ¿ y t n y k und M. M. P a v l j u k (UdSSR) Besonderheiten der Genesis poetischer Texte Sevienkos, wie sie sich in der z. Z. vom T. H. SevöenkoInstitut für Literatur der AdW der Ukrainischen SSR besorgten Gesamtausgabe der literarischen und bildkünstlerischen Werke Sevöenkos in 12 Bänden niederschlagen. Die sodann demonstrierte Konzentration auf den verstärkten Autobiographismus als ein Charakteristikum romantischen Selbstbewußtseins — und diese wiederum unter vergleichendem Aspekt — war wohl gewiß nicht zufällig: Während G. G. G r a b o w i c z (USA) „Zur Frage der romantischen Autobiographie: die Projektion des Autoren-,Ich' in Mickiewicz' und Sevöenkos L y r i k " referierte, ging P. K i r c h n e r (DDR) erstmals dem Thema ,,T. H. Sevcenkos ,}KypHaJi' und die Tradition des Journal intime" nach. Die Produktivität des methodischen Neuansatzes in beiden Vorträgen wurde in der Diskussion nicht bestritten. Anlaß zur Fortsetzung dieses Dialogs bot gleichsam der Beitrag „Die ukrainische Literatur im gesamtslawischen und weltliterarischen K o n t e x t : Periodisierung, Bezugssystem, Typologie" von H. D. V e r v e s (UdSSR), der — basierend auf nunmehr drei Bänden der auf insgesamt fünf Bände kalkulierten gleichlautenden Edition — den Versuch erläuterte, die Dynamik des Eintritts einer Nationalliteratur in regionale künstlerische Systeme und in das der Weltliteratur aufzuhellen sowie neben literarhistorischen Problemen dabei zugleich auch theoretische Fragen moderner Komparatistik zu lösen. Bei allem Respekt, der diesem mutigen Unterfangen (dem sich allerdings auch schon andere sowjetische Literaturwissenschaftler wie z. B. V. Kubilius mit seiner bemerkenswerten Arbeit „Lietuviq literatüra ir pasaulines literatüros procesas", Vilnius 1983, gestellt haben) von D. D'urisin, S. V. Nikol'skij u. a. mit Recht gezollt wurde, gab dennoch St. K o z a k (VR Polen) zu bedenken, ob Kriterien nach literarischen Richtungen (Barock, Positivismus u. ä.) nicht praktikabler gewesen wären, warf G. G. Grabowicz die Frage auf, ob „das bloße Konstatieren zweier unabhängig voneinander existierender ukrainischer Literaturen, zweier unabhängiger literarischer Prozesse, zweier unterschiedlicher Interpretationen (z. B. Sevcenkos) tatsächlich auf ewig fortbestehen" solle und kritisierte unter diesem Aspekt Auswahlkriterien, methodische Verfahren und konkrete Defizite, wie sie seiner Ansicht nach besonders im 2. K a p . („Ukraine und U S A : Literarische K o n t a k t e " ) des 2. Teils des 3. Bandes zutage treten. Wie instruktiv sich ein auf größere Konkretheit des Materials orientierter Beitrag ausnimmt, bewiesen ansatzweise dagegen wiederum V. A. Z a e h a r i e v s ' k a s , V. N. K l i m ö u k s und V. A. M o s k a l e n k o s (UdSSR) Ausführungen über „Ukrainisch-bulgarische literarische Wechselbeziehungen am Ende des 19. und im 20. J h . " , in denen solchen Kontakt- und typologischen Beziehungen wie dem ukrainischen Interesse an der bulgarischen kulturhistorischen Schule (I. Franko/I. Sismanov), im Rahmen einzelner Strömungen der Moderne sowie unter revolutionären Autoren (z. B. P. Tycyna/L. Stojanov) nachgegangen wird. Konstatierte M. G u r ö i n o v ( S F R J ) — „dogmatischem ästhetischem Denken" ein „pluralistisches gesellschaftliches Denken" in Jugoslawien betont gegenüberstellend — in seinem Beitrag „Mazedonische Gegenwartsliteratur im K o n t e x t weltliterarischer Entwicklung" einen mazedonischen Surrealismus, der — bislang ungewohnt — in der mazedonischen Gegenwartslyrik dominiere und in Th. S. Eliot, W. S. Yeats u n d E. L. Pound seine Vorbilder sehe, so bot J . M a r u s k o v a D e m a r t i s (Italien) in ihrem Vortrag „Zu einigen Genreformen der russischen Prosa der 20er J a h r e " eine subtile Analyse der autobiographischen Prosa von Majakovskij über Mandel'stam, Pasternak, Gor'kij bis zu Sklovskij. Paradoxerweise wurde jedoch nicht darüber debattiert, sondern über „Grin u n d die angelsächsische Abenteuerliteratur (Cooper, Stevenson, Conrad, Poe)" der Dostoevskij-Forscherin S. O l l i v i e r (Frankreich), der zumindest von A. K o v ä c s (SR Rumänien) in puncto „Konkretisierung der Welt des Phantastischen" Perspektivreichtum bescheinigt wurde. Produktive Denkanstöße und Debatten provozierte schließlich eine Reihe von Beiträgen, welche das „unabgeschlossene Kapitel" der künstlerischen Avantgarde, das Verhältnis von Avantgarde

P.

K I R C H N E R U.

a., Die Literaturwissenschaft auf dem X. Slawistenkongreß

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lind Moderne zum Gegenstand hatte. Wies gleich zu Beginn T. D ¡ | b e k - W i r g o w a (VR Polen) in ihrem mit viel Beifall quittierten Vortrag „ D a s bulgarische neoromantische Modell vor dem Hintergrund der europäischen Moderne" recht überzeugend nach, daß ungeachtet der originellen Manifestation nahezu aller Tendenzen der europäischen Moderne in der bulgarischen Geschichte dieser Strömung die Revolte der um „MHCIJI" gescharten „ J u n g e n " die produktivste Epoche konstituiert habe, so blieb ein solcher Applaus ihrer Landsmännin H. J a n a s z e k - I v a n i ö k o v ä leider allein schon deshalb versagt, weil sie die Geduld ihrer Zuhörerschaft, die der „Literarischen Avantgarde in den westslawischen L ä n d e r n " durchaus aufgeschlossen gegenüberstand, zeitlich überstrapazierte — auf eine abflachende Erörterung ihrer Problematik f ü r die Zeit nach 1945 h ä t t e sie besser verzichten sollen. Aufmerksamkeit demgegenüber fanden die Ausführungen über den „Norden als Chronotopos avantgardistischer russischer P r o s a " von J . J . v a n B a a k (Niederlande). Festgemacht vor allem an der Prosa Zamjatins, mußte diese Betrachtungsweise allein schon von ihrem Ansatz her (Zuordnung Zamjatins zur Avantgarde überhaupt u. a. m.) Widerspruch hervorrufen, den B. jedoch entschieden zurückwies. Einen abschließenden Höhepunkt erreichte diese Debatte allerdings vor allem dank der Beiträge zweier Autoren, die sowohl vom konkreten Material als auch vom theoretischen Neuansatz her genügend Stoff zur Diskussion boten. Den A u f t a k t gaben J . M a g n u s z e w s k i s (VR Polen) Reflexionen „Von der Romantik über den P a r n a ß zum Symbolismus. Transformationen der polnischen und der tschechischen Lyrik im letzten Drittel des 19. J h . " , ergänzt durch den anregenden Beitrag „Zur N a t u r der dramatischen Genres im Werk der russischen Symbolisten" von M. C y m b o r s k a - L e b o d a (VR Polen). Lebhafte Zustimmung fanden schließlich L. S z i l á r d s (VR Ungarn) Bemerkungen über „Genreprobleme symbolistischer Prosa (Roman und M e t a m a t h e m a t i k ) " , in denen u. W. zum erstenmal sachkundig dem Konzept symbolistischer Geometrie in A. Belyjs „CHMB03H3M" ( 1 9 1 0 ) als Antwort auf N. Bugaevs Arythmologie und P. Florenskijs „imaginäre Geometrie als Bindeglied zwischen Topologie und K u n s t " , der Reflexion der neuen R a u m k o n z e p t e und Bedeutungsembleme in der S t r u k t u r von Sologubs und Belyjs Romanen sowie der Projektion von Elementen von Florenskijs und Belyjs Vorstellungen von der R a u m s t r u k t u r in der russischen Literatur der 20er und 30er J a h r e nachgespürt wird. Ein treffendes Beispiel f ü r genaue Analyse lieferte auch Gy. Cs. K i s s (VR Ungarn), der in seinem Beitrag „Der ,Generationenroman' in den slawischen und nichtslawischen Literaturen von Ostmitteleuropa" zeigte, wie die unter dem Einfluß westeuropäischer Vorbilder entstandenen „Generationenromane" traditionelle nationale Bedingungen widerspiegeln. Kiss stellte die These auf, der ostmitteleuropäische „Generationenroman" unterscheide sich von seinen Vorläufern vor allem durch drei Besonderheiten des Chronotopos: 1. im Wechsel der Nationalität durch einen Helden, 2. im Verhältnis von S t a d t und Land und 3. in der Realismustradition, die naturalistische und didaktische Züge trage. Ein ähnliches Herangehen — die Analyse der unter konkreten historischen und nationalen Bedingungen erfolgten Transformationen und Neubewertungen von gesamteuropäischem Erbe — zeichnete auch eine Reihe von Beiträgen aus der D D R (G. D u d e k , L. R i c h t e r , I. S e e h a s e , B. M a i u. a.) aus. Der Vortrag von A. K n i g g e (BRD), der — a n k n ü p f e n d an den erreichten Forschungsstand — ein Konzept zur Untersuchung von Gor'kijs „>KH3Hb Knmvia CaMrHHa" im K o n t e x t des zeitgenössischen europäischen Romans, besonders von M. Prousts ,,Ä la recherche du temps perdu", Th. Manns „Der Zauberberg" und R. Musils „Der Mann ohne Eigenschaften", entwickelte, gehört ebenso in diesen Zusammenhang, wie auch die Beiträge von C. W r i g h t (Kanada) und M. R é v (VR Ungarn). Wright verglich den T y p des „überflüssigen Menschen" im russischen und sowjetischen Drama der 20er J a h r e mit dem des „Antihelden" im europäischen Theater jener J a h r e . Rév betrachtete Cechovs Dramen im K o n t e x t der europäischen Entwicklung. Auf den Nutzen vergleichender Untersuchungen von Literatur, welche die komplizierten Wechselwirkungen zwischen den europäischen Literaturen erhellen, wurde in den Diskussionen vielfach hingewiesen. Beachtliches Interesse fanden Beiträge zur sowjetischen Gegenwartsliteratur (C. Ajtmatov, V. Rasputin u. a.) sowie solche zu satirischen und utopischen Werken in den slawischen Literaturen. Genannt seien hier die Beiträge von J.-U. P e t e r s (BRD) zu Zamjatins „Mbi", von J . K l e i n über K . Capeks „Krieg mit den Molchen" und von K . K a s p e r (DDR) zum russischsowjetischen Roman der 20er J a h r e unter dem spezifischen Aspekt der Ironie, der eine lebhafte Diskussion auslöste. Neueste literarische Ereignisse in der Sowjetunion wie auch die Publikation zahlreicher Werke aus vergangenen J a h r z e h n t e n wurden in den Vorträgen und Diskussionen kaum berührt. Der bevorstehende XI. Internationale Slawistenkongreß in Bratislava (1993) wird sicher bereits Resultate

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der jetzt notwendigen Analyse und Bewertung vorstellen, um so auch zur Erarbeitung einer vollständigen Geschichte der sowjetischen Literatur des 20. J. beizutragen, die von sowjetischen Forschern in Angriff genommen wird. U n d eine weitere Erfahrung, die wir gewonnen haben: D e m Problemkreis „ H u m a n i s m u s in den slawischen Literaturen" sollten die Teilnehmer aus den sozialistischen Ländern künftig noch größere Aufmerksamkeit widmen. Eine stärkere Beteiligung an dieser Untersektion hätte die Diskussion zu diesem gerade in unserer Zeit wichtigen Thema befruchten können. Auf diesem Slawistenkongreß nahm im R a h m e n der 2. Sektion erstmalig auch eine Untersektion „Literaturtheorie" (in den slawischen Ländern) unter der Leitung der Professoren B. Niöev, M. Klimowicz und A. N a t e v ihre Arbeit auf. Die Skala allein der gehaltenen Vorträge war breit gefächert. Sie umfaßte folgende Themen und Referenten: „Methodologische Probleme des vergleichenden Studiums slawischer Literaturen" von B. N i c e v (VR Bulgarien), „Kriterien des Realismus und Erfahrungen der Literaturentwicklung in slawischen Ländern" von L. N. B u d a g o v a ( U d S S R ) , „Entwicklungstendenzen der sowjetischen Literaturtheorie und des ästhetischen Denkens in den 20er und 30er Jahren" von E. K o w a l s k i ( D D R ) , „ N e u e Richtungen in der (russischen und polnischen) Literaturtheorie" von E. C z a p l e j e w i c z (VR Polen), „Zur Tatsachenliteratur heute. Gattungs- und Rezeptionsfragen" von J. R o h o z i r i s k i (VR Polen), ,,E. M. de Vogue. Der russische R o m a n und die russische Tradition der Literaturkritik" von L. C. 0 ' B e l l (USA), „Russische Deklamationsprobleme in soziolinguistischer Sicht" von P. B r a n g (Schweiz), „Polnische und französische Aufklärung. Einige vergleichende Aspekte" von M. K l i m o w i c z (VR Polen), „Der ästhetische Gegenstand in Husserls Phänomenologie und in Mukarovskvs Strukturalismus" von J. F i z e r (USA) und „Disput über den Roman. G. Lukacs' und M. Bachtins Konzepte im internationalen K o n t e x t (30er Jahre)" von M. W e g n e r ( D D R ) . Bei aller Disparatheit der vorgestellten Themen schloß sich dennoch an einige Referate eine lebhafte, bisweilen auch kontroverse D e b a t t e an, an der sich u. a. so markante Zeitzeugen wie G. M. Friedländer ( U d S S R ) beteiligten. Im Mittelpunkt des Meinungsstreits standen dabei Fragen der sowjetischen Theorieentwicklung, insbesondere die romantheoretischen Auffassungen von Bachtin und Lukäcs. Innerhalb der sowjetischen Literatur und Literaturtheorie erwiesen sich die 20er und 30er Jahre als ein Schwerpunkt der Diskussion. Eindeutig schwächer als auf vorangegangenen Kongressen war indes auch hier die Gegenwartsliteratur und deren theoretische Reflexion repräsentiert. Dennoch hatte die Einführung einer Untersektion „Literaturtheorie" trotz ihrer thematischen Heterogenität zweifellos einen produktiven Charakter. Durch eine straffere Profilierung könnte ihre wissenschaftliche Ausstrahlung sicher noch erhöht werden. Die Erörterung theoretischer Fragestellungen blieb freilich nicht auf diese Untersektion beschränkt.

M. K a s p e r — P. K u n z e

Die Sorabistik auf dem X. Internationalen Slawistenkongreß Schon seit langem ist die Sorabistik als immanenter Bestandteil der Slawistik auf den Slawistenkongressen vertreten. Bereits im Vorfeld des X . Kongresses hat die sorbische Volksforschung in ihren vier Reihen der Jahresschrift „Letopis" (Reihe A: Sprachwissenschaft, Reihe B : Geschichte, Reihe C: Volkskunde, Reihe D : Kultur und Kunst) eine Vielzahl von Beiträgen vorgelegt, die einen Einblick in das breite Forschungsspektrum der am Institut für sorbische Volksforsciumg vertretenen sorabistischen Teildisziplinen vermitteln. Am Kongreß selbst beteiligten sieh sechs Sorabisten aus der D D R , von denen fünf Referate hielten. Die Sprachwissenschaftler H. S c h u s t e r - S e w c (Leipzig) und F. M i c h a l k (wie die folgenden Bautzen) referierten über „Die späturslawischen Grundlagen des Lechischen mit besonderer Berücksichtigung des Polabischen und Pomoranischen" sowie über „ J . X . Ticin und die Durchsetzung seiner grammatischen Norm". M. V ö l k e l beschäftigte sich in seinem Beitrag mit d e r Übersetzung der bulgarischen Literatur ins Sorbische. In der folkloristischen Sektion war die Sorabistik zum wiederholten Male nicht vertreten, ein Umstand, der zum Nachdenken Anlaß geben sollte. Drei Vorträge waren der historischen Problematik gewidmet. M. K a s p e r sprach über den Einfluß der slawischen kulturellen Wechselseitigkeit auf die nationalen Wertvorstellungen der Lausitzer Sorben. P. K u n z e analysierte die preußische Nationalitätenpolitik in den 50er und 60er Jahren des 19. Jahrhunderts. L. E l l e , dessen Vortrag aus Zeitgründen nicht ge-

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der jetzt notwendigen Analyse und Bewertung vorstellen, um so auch zur Erarbeitung einer vollständigen Geschichte der sowjetischen Literatur des 20. J. beizutragen, die von sowjetischen Forschern in Angriff genommen wird. U n d eine weitere Erfahrung, die wir gewonnen haben: D e m Problemkreis „ H u m a n i s m u s in den slawischen Literaturen" sollten die Teilnehmer aus den sozialistischen Ländern künftig noch größere Aufmerksamkeit widmen. Eine stärkere Beteiligung an dieser Untersektion hätte die Diskussion zu diesem gerade in unserer Zeit wichtigen Thema befruchten können. Auf diesem Slawistenkongreß nahm im R a h m e n der 2. Sektion erstmalig auch eine Untersektion „Literaturtheorie" (in den slawischen Ländern) unter der Leitung der Professoren B. Niöev, M. Klimowicz und A. N a t e v ihre Arbeit auf. Die Skala allein der gehaltenen Vorträge war breit gefächert. Sie umfaßte folgende Themen und Referenten: „Methodologische Probleme des vergleichenden Studiums slawischer Literaturen" von B. N i c e v (VR Bulgarien), „Kriterien des Realismus und Erfahrungen der Literaturentwicklung in slawischen Ländern" von L. N. B u d a g o v a ( U d S S R ) , „Entwicklungstendenzen der sowjetischen Literaturtheorie und des ästhetischen Denkens in den 20er und 30er Jahren" von E. K o w a l s k i ( D D R ) , „ N e u e Richtungen in der (russischen und polnischen) Literaturtheorie" von E. C z a p l e j e w i c z (VR Polen), „Zur Tatsachenliteratur heute. Gattungs- und Rezeptionsfragen" von J. R o h o z i r i s k i (VR Polen), ,,E. M. de Vogue. Der russische R o m a n und die russische Tradition der Literaturkritik" von L. C. 0 ' B e l l (USA), „Russische Deklamationsprobleme in soziolinguistischer Sicht" von P. B r a n g (Schweiz), „Polnische und französische Aufklärung. Einige vergleichende Aspekte" von M. K l i m o w i c z (VR Polen), „Der ästhetische Gegenstand in Husserls Phänomenologie und in Mukarovskvs Strukturalismus" von J. F i z e r (USA) und „Disput über den Roman. G. Lukacs' und M. Bachtins Konzepte im internationalen K o n t e x t (30er Jahre)" von M. W e g n e r ( D D R ) . Bei aller Disparatheit der vorgestellten Themen schloß sich dennoch an einige Referate eine lebhafte, bisweilen auch kontroverse D e b a t t e an, an der sich u. a. so markante Zeitzeugen wie G. M. Friedländer ( U d S S R ) beteiligten. Im Mittelpunkt des Meinungsstreits standen dabei Fragen der sowjetischen Theorieentwicklung, insbesondere die romantheoretischen Auffassungen von Bachtin und Lukäcs. Innerhalb der sowjetischen Literatur und Literaturtheorie erwiesen sich die 20er und 30er Jahre als ein Schwerpunkt der Diskussion. Eindeutig schwächer als auf vorangegangenen Kongressen war indes auch hier die Gegenwartsliteratur und deren theoretische Reflexion repräsentiert. Dennoch hatte die Einführung einer Untersektion „Literaturtheorie" trotz ihrer thematischen Heterogenität zweifellos einen produktiven Charakter. Durch eine straffere Profilierung könnte ihre wissenschaftliche Ausstrahlung sicher noch erhöht werden. Die Erörterung theoretischer Fragestellungen blieb freilich nicht auf diese Untersektion beschränkt.

M. K a s p e r — P. K u n z e

Die Sorabistik auf dem X. Internationalen Slawistenkongreß Schon seit langem ist die Sorabistik als immanenter Bestandteil der Slawistik auf den Slawistenkongressen vertreten. Bereits im Vorfeld des X . Kongresses hat die sorbische Volksforschung in ihren vier Reihen der Jahresschrift „Letopis" (Reihe A: Sprachwissenschaft, Reihe B : Geschichte, Reihe C: Volkskunde, Reihe D : Kultur und Kunst) eine Vielzahl von Beiträgen vorgelegt, die einen Einblick in das breite Forschungsspektrum der am Institut für sorbische Volksforsciumg vertretenen sorabistischen Teildisziplinen vermitteln. Am Kongreß selbst beteiligten sieh sechs Sorabisten aus der D D R , von denen fünf Referate hielten. Die Sprachwissenschaftler H. S c h u s t e r - S e w c (Leipzig) und F. M i c h a l k (wie die folgenden Bautzen) referierten über „Die späturslawischen Grundlagen des Lechischen mit besonderer Berücksichtigung des Polabischen und Pomoranischen" sowie über „ J . X . Ticin und die Durchsetzung seiner grammatischen Norm". M. V ö l k e l beschäftigte sich in seinem Beitrag mit d e r Übersetzung der bulgarischen Literatur ins Sorbische. In der folkloristischen Sektion war die Sorabistik zum wiederholten Male nicht vertreten, ein Umstand, der zum Nachdenken Anlaß geben sollte. Drei Vorträge waren der historischen Problematik gewidmet. M. K a s p e r sprach über den Einfluß der slawischen kulturellen Wechselseitigkeit auf die nationalen Wertvorstellungen der Lausitzer Sorben. P. K u n z e analysierte die preußische Nationalitätenpolitik in den 50er und 60er Jahren des 19. Jahrhunderts. L. E l l e , dessen Vortrag aus Zeitgründen nicht ge-

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halten werden konnte, h a t ausgewählte Aspekte der Rezeption der sorbischen K u l t u r durch deutsche Bewohner in einem deutsch-sorbischen Dorf untersucht. Diese Vorträge, die in der Regel breit angelegt waren und durch die Anwendung der historischvergleichenden Methode über den engen sorbischen R a h m e n hinausgingen, fanden ein breites Echo und waren oftmals Grundlage f ü r weiterführende Diskussionen. Das zeigte sich besonders deutlich in der sprachwissenschaftlichen und der historischen Sektion. Doch damit war die sorbische Problematik keinesfalls erschöpft. I n Beiträgen aus der D D R (M. J ä h n i c h e n , R . L ö t z s c h , G. Z i e g e n g e i s t , alle Berlin), der U d S S R (K. T r o f i m o v i ö , T. P a n k , beide Lwow), der CSSR (T. I v a n t y s y n o v a , V. G a s p a r i k o v ä , beide Bratislava) und der VR Polen (B. B i a l o k o z o w i c z , Warschau) wurde wiederholt auf sorabistische Fragen Bezug genommen bzw. die Notwendigkeit einer engen wissenschaftlichen Zusammenarbeit unterstrichen. Auffallend war, daß sieh auch Länder mit einer weniger ausgeprägten sorabistischen Tradition verstärkt der Sorabistik widmen. So h a t G. S c h a a r s c h m i d t aus K a n a d a phonologische Fragen einiger urslawischer Konsonantengruppen in den sorbischen Dialekten und in anderen westslawischen Sprachen untersucht, und H . B. B r i j n e n aus Holland stellte ihren Beitrag unter das Thema „Das Sorbische in der D D R — eine Standardsprache und eine Umgangssprache". Der X. Internationale Slawistenkongreß gab der Sorabistik viele Impulse f ü r weiterführende Forschungen auf allen Gebieten. Es h a t sich erneut bestätigt, daß die Sorabistik fester Bestandteil der Slawistik in der D D R ist und auf Grund ihrer vielfältigen beachtenswerten Forschungsergebnisse international über einen guten Ruf verfügt, den es auch zukünftig zu bestätigen gilt.

W. Z e i l

Fakten und Probleme der Geschichte der Slawistik auf dem X. Internationalen Slawistenkongreß Die 6. Untersektion der sich mit historischen Problemen befassenden 5. Sektion war der Geschichte der Slawistik, der Slawistik an der Universität Sofia, Vuk Stefanovic Karadzic und seinem Beitrag zur internationalen Slawistik und der Bedeutung der internationalen Slawistenkongresse für die Entwicklung der Slawistik gewidmet. Sie war q u a n t i t a t i v die stärkste Untersektion der 5. Sektion auf dem X . Internationalen Slawistenkongreß. Breit war das Spektrum der behandelten Themen. E s reichte von Überblicken über Byzantinistik und Slawistik, die KyrillMethod-Forschung, die ethnographische Slawistik in der VR Bulgarien, die Erforschung der westund südslawischen Literaturen durch russische Slawisten in der ersten Hälfte des 19. J h . , die deutsche sprachwissenschaftliche Bulgaristik in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, die historische Problematik auf den internationalen Slawistenkongressen, den Anteil rumänischer Philologen an den internationalen Slawistenkongressen und die Entwicklung der Slawistik in der VR China bis hin zur Würdigung des wissenschaftlichen Wirkens einzelner Persönlichkeiten, wie R . Kosubic, N. A. Janczuk, V. St. Karadzic und M. Drinov sowie des Verhältnisses von V. J a g i c und Th. Mommsen. Etwas außerhalb der eigentlichen Thematik der Untersektion standen die interessanten Vorträge von G. F r e i d h o f (BRD) über „Urteil" und „ S a t z " in der russischen Universalgrammatik zu Beginn des 19. J h . , von S. S i g n o r i n i (Italien) über die Begriffe „ G e b r a u c h " und „ N o r m " in der linguistischen Theorie M. V. Lomonosovs und von U. B i r g e g ä r d (Schweden) über Mitteilungen in Tagebüchern J . G. Sparvenfelds über das Rußland der 80er J a h r e des 17. J h . Freidhof stellte die Definitionen zu den Begriffen „Urteil" und „ S a t z " in den russischen Universalgrammatiken zu Beginn des 19. J h . gegenüber und wies auf mögliche west- und mitteleuropäische Einflüsse hin. Des weiteren ging er auf die S t r u k t u r des Urteils, insbesondere auf seine sog. Zweigliedrigkeit, sowie auf die Darstellung der Frage bei Lomonosov ein. Signorini arbeitete in ihrem R e f e r a t heraus, daß „ynOTpeöjieime" und „HopMa" als Gesamtheit der Gesetze und Regeln die beiden Hauptbestandteile der linguistischen Theorie Lomonosovs sind, denen man in seinen Werken ständig begegne. I n Lomonosovs Entwurf der Kodifizierung einer einheitlichen Literatursprache, die den Bilinguismus überwand, seien diese beiden Konzeptionen durch eine Interdependenz verbunden, die m a n mit „ynoTpeMemie — npaBHJia — ynoTpeöjieHiie" charakterisiert. Birgegärd

VV. ZEIL, Die Geschichte der Slawistik auf dem X. Slawistenkongreß

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halten werden konnte, h a t ausgewählte Aspekte der Rezeption der sorbischen K u l t u r durch deutsche Bewohner in einem deutsch-sorbischen Dorf untersucht. Diese Vorträge, die in der Regel breit angelegt waren und durch die Anwendung der historischvergleichenden Methode über den engen sorbischen R a h m e n hinausgingen, fanden ein breites Echo und waren oftmals Grundlage f ü r weiterführende Diskussionen. Das zeigte sich besonders deutlich in der sprachwissenschaftlichen und der historischen Sektion. Doch damit war die sorbische Problematik keinesfalls erschöpft. I n Beiträgen aus der D D R (M. J ä h n i c h e n , R . L ö t z s c h , G. Z i e g e n g e i s t , alle Berlin), der U d S S R (K. T r o f i m o v i ö , T. P a n k , beide Lwow), der CSSR (T. I v a n t y s y n o v a , V. G a s p a r i k o v ä , beide Bratislava) und der VR Polen (B. B i a l o k o z o w i c z , Warschau) wurde wiederholt auf sorabistische Fragen Bezug genommen bzw. die Notwendigkeit einer engen wissenschaftlichen Zusammenarbeit unterstrichen. Auffallend war, daß sieh auch Länder mit einer weniger ausgeprägten sorabistischen Tradition verstärkt der Sorabistik widmen. So h a t G. S c h a a r s c h m i d t aus K a n a d a phonologische Fragen einiger urslawischer Konsonantengruppen in den sorbischen Dialekten und in anderen westslawischen Sprachen untersucht, und H . B. B r i j n e n aus Holland stellte ihren Beitrag unter das Thema „Das Sorbische in der D D R — eine Standardsprache und eine Umgangssprache". Der X. Internationale Slawistenkongreß gab der Sorabistik viele Impulse f ü r weiterführende Forschungen auf allen Gebieten. Es h a t sich erneut bestätigt, daß die Sorabistik fester Bestandteil der Slawistik in der D D R ist und auf Grund ihrer vielfältigen beachtenswerten Forschungsergebnisse international über einen guten Ruf verfügt, den es auch zukünftig zu bestätigen gilt.

W. Z e i l

Fakten und Probleme der Geschichte der Slawistik auf dem X. Internationalen Slawistenkongreß Die 6. Untersektion der sich mit historischen Problemen befassenden 5. Sektion war der Geschichte der Slawistik, der Slawistik an der Universität Sofia, Vuk Stefanovic Karadzic und seinem Beitrag zur internationalen Slawistik und der Bedeutung der internationalen Slawistenkongresse für die Entwicklung der Slawistik gewidmet. Sie war q u a n t i t a t i v die stärkste Untersektion der 5. Sektion auf dem X . Internationalen Slawistenkongreß. Breit war das Spektrum der behandelten Themen. E s reichte von Überblicken über Byzantinistik und Slawistik, die KyrillMethod-Forschung, die ethnographische Slawistik in der VR Bulgarien, die Erforschung der westund südslawischen Literaturen durch russische Slawisten in der ersten Hälfte des 19. J h . , die deutsche sprachwissenschaftliche Bulgaristik in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, die historische Problematik auf den internationalen Slawistenkongressen, den Anteil rumänischer Philologen an den internationalen Slawistenkongressen und die Entwicklung der Slawistik in der VR China bis hin zur Würdigung des wissenschaftlichen Wirkens einzelner Persönlichkeiten, wie R . Kosubic, N. A. Janczuk, V. St. Karadzic und M. Drinov sowie des Verhältnisses von V. J a g i c und Th. Mommsen. Etwas außerhalb der eigentlichen Thematik der Untersektion standen die interessanten Vorträge von G. F r e i d h o f (BRD) über „Urteil" und „ S a t z " in der russischen Universalgrammatik zu Beginn des 19. J h . , von S. S i g n o r i n i (Italien) über die Begriffe „ G e b r a u c h " und „ N o r m " in der linguistischen Theorie M. V. Lomonosovs und von U. B i r g e g ä r d (Schweden) über Mitteilungen in Tagebüchern J . G. Sparvenfelds über das Rußland der 80er J a h r e des 17. J h . Freidhof stellte die Definitionen zu den Begriffen „Urteil" und „ S a t z " in den russischen Universalgrammatiken zu Beginn des 19. J h . gegenüber und wies auf mögliche west- und mitteleuropäische Einflüsse hin. Des weiteren ging er auf die S t r u k t u r des Urteils, insbesondere auf seine sog. Zweigliedrigkeit, sowie auf die Darstellung der Frage bei Lomonosov ein. Signorini arbeitete in ihrem R e f e r a t heraus, daß „ynOTpeöjieime" und „HopMa" als Gesamtheit der Gesetze und Regeln die beiden Hauptbestandteile der linguistischen Theorie Lomonosovs sind, denen man in seinen Werken ständig begegne. I n Lomonosovs Entwurf der Kodifizierung einer einheitlichen Literatursprache, die den Bilinguismus überwand, seien diese beiden Konzeptionen durch eine Interdependenz verbunden, die m a n mit „ynoTpeMemie — npaBHJia — ynoTpeöjieHiie" charakterisiert. Birgegärd

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stellte das hauptsächlich in schwedischer, aber teilweise auch in französischer und italienischer Sprache abgefaßte Tagebuch des schwedischen Slawisten und Reisenden Sparvenfeld, dessen wissenschaftliche Ausgabe sie vorbereitet, als Quelle f ü r die Kenntnis der Geschichte Rußlands im 17. J h . vor. Sparvenfeld zeichnete in seinem Tagebuch, das sicher auch wertvolle Hinweise auf seine slawistischen Interessen und Aktivitäten enthält, u. a. ein lebendiges Bild von Rußland, von der Lebensweise und dem Brauchtum der Russen im 17. J h . E r erweist sich als ein zuverlässiger Augenzeuge der Entwicklung des Zarenreiches in den 80er J a h r e n des 17. J h . Eingeleitet wurde die Arbeit der 6. Untersektion der 5. Sektion durch das Referat von V. T ä p k o v a - Z a i m o v a (VR Bulgarien) über Byzantinistik und Slawistik. Es enthielt anregende Gedanken über Wesen und Aufgaben dieser beiden Wissenschaften und über die typologischen Beziehungen zwischen ihnen sowie über methodologische Aspekte der Perspektiven, die sich der weiteren einschlägigen Forschung eröffnen. N. D r a g o v a (VR Bulgarien) beleuchtete in ihrem Vortrag über das erste J a h r t a u s e n d der Kyrill-Method-Forschung die Hauptrichtungen der Wertung des Werkes der beiden Slawenapostel bis zur Feier des Milleniums und wies auf künftige Forschungsaufgaben hin. Der ethnographischen Slawistik in der VR Bulgarien war das Referat V. C h a d f c i n i k o l o v s (VR Bulgarien) gewidmet. E r stellte u. a. fest, daß sich die bulgarische Ethnographie vor allem als nationale Ethnographie entwickelt habe. Probleme der ethnographischen Slawistik seien hauptsächlich in den Lehrveranstaltungen der Universitäten sowie im Zusammenhang mit der vergleichenden Erforschung der Volkskultur der Bulgaren und anderer slawischer Völker behandelt worden. Das Fazit des Referats von E. K u c h a r s k a (VR Polen) über die Erforschung der west- und südslawischen Literaturen durch russische Slawisten in der ersten Hälfte des 19. J h . war die Feststellung, daß diese Zeit eine Periode vergleichender Studien über die Entwicklung der bulgarischen, tschechischen, slowakischen, serbischen, kroatischen und polnischen Literatur war. was die Referentin an reichem Faktenmaterial demonstrierte. Besondere Bedeutung m a ß sie V; Grigorovic' „OnbiT H3Jio»enHH jiHTepaTypbi CjiKeHne paGo'iero KJiacca B POCCHH" erschien nicht 1889, sondern 1869, N . E. Fedoseev beging nicht 1889 Selbstmord, sondern 1898 (S. 446), S. L . Perovskaja war nicht Mitglied des Volks-, sondern des Exekutivkomitees der „Narodnaja v o l j a " . Sie leitete das Attentat auf Alexander I I . und nicht auf Alexander I. (S. 451). Insgesamt ist den Herausgebern für eine wünschenswerte Nachauflage des Buches zu einer gründlichen Überarbeitung des beigegebenen Verzeichnisses zu raten. F. Ortmann

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AaTejibCTBO „ r i p o c ß e m e H n e " , M . 1 9 8 7 , 6 0 8 S .

Die vorliegende Literaturgeschichte ist das Ergebnis der seit längerem stattfindenden Diskussionen um die effektivste Wissensvermittlung bei der Ausbildung von Russisten. Der Grundsatz, weniger eine Menge von Fakten zu vermitteln, sondern eine vertiefende Betrachtung anzustreben, wird vom Hauptherausgeber des Bandes deshalb entsprechend hervorgehoben. Daß dabei auch für die wissenschaftliche Betrachtung neue Ansatzpunkte zu finden sind, zeigt die vorlieg. Publikation durch originelle Gruppierung des Materials und eine Fülle von besonders aufbereiteter Information. Dabei stehen nicht vorzugsweise neue Forschungsergebnisse im Vordergrund, sondern ein neuer Blickwinkel der Untersuchung, der von traditionellen Betrachtungsweisen abweicht. Durch Konzentration und Verdichtung des Materials wird Bestimmtes betont und eine Vorstellung von wechselseitigen literarischen Einwirkungen, größeren literarischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen sowie bestimmten künstlerischen Systemen gegeben. I m folgenden soll deshalb vorlieg. Geschichte der russischen Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Hinblick auf gewisse hervorzuhebende Merkmale analysiert werden. Zu den Mitarbeitern der Ausgabe gehören außer N . N . Skatov so bekannte, erfahrene Autoren wie Ju. V. Lebedev, Ju. M. Prozorov, A. I . 2uravleva, E. I . Annenkova, K . I . Sokolova, Ja. S. Bilinkis, B. S. Dychanova, A. A. Gorelov, V. A. Kotel'nikov und G. A. Bjalyj. Sie selbst charakterisieren ihr Material als eine kurze, „mobile" Darstellung, die Möglichkeiten und Ansätze für weiterführende Beschäftigung biete, wobei einigen zentralen Problemen besondere Aufmerksamkeit zuteil werde. Es gehe vor allem um die Herausarbeitung allgemeiner Gesetzmäßigkeiten der russischen Literaturentwicklung, um die Akzentuierung des Prinzips der „.Volkstümlichkeit" (HapOßHOCTb) in die russische Literatur und die damit verbundene Suche der Schriftsteller auf moralisch-ethischem Gebiet. Es komme darauf an zu zeigen, daß die russische Literatur eine „Revolution vor der Revolution" gewesen sei. Als Grundlage der zeitlichen Anordnung der Fakten wurde die Leninsche Periodisierung der Befreiungsbewegung in Rußland genommen. Das vorliegende Lehrbuch unterscheidet sich deshalb in einigen Punkten von anderen Darstellungen. Die Akademie-Ausgabe der russischen Literaturgeschichte (1981, Bd. 4) gibt eine alle Gebiete (Poesie, Dramatik, Prosa, Publizistik u. a.) gleichmäßig gründlich durchleuchtende Information, was der Aufgabenstellung einer kompakten und vollständigen Wissensvermittlung entspricht. Vorliegende Darstellung unterscheidet sich auch von V. I . Kulesovs „MeropHH pyccKoti jiHTepaTypu X I X ß e K a . 70-e —90-e IT.", M. 1983, der auf allgemeine umfangreiche Übersichten Wert legt und durch das breite Materialangebot problembezogene Wertungen nur kurzfassen kann; die Bezüge des einzelnen Werks zum

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der großen russischen Demokraten V. G. Belinskij und N . A. Dobroljubov, des Dichters N . A . Nekrasov oder des Publizisten K . S. Aksakov jeweils nur drei Zeilen umfassen. Die Vorstellung Neiaevs (28 Zeilen) erscheint, auch bei Berücksichtigung aller interessanten Detailinformationen, im Vergleich zu anderen wichtigen Figuren des Romans wie Azef (4), N . F. Daniel'son (6), Lavrov (9) oder N . P. Ogarev (8) überdimensioniert. Weiterhin fehlen wichtige Daten und Fakten aus dem Leben verschiedener Personen (z. B. Bakunins Rolle in der I . Internationale, Daniel'sons vom Standpunkt des liberalen Narodniöestvo in den 80er und 90er Jahren mit den russischen Marxisten geführte Polemik über das Schicksal des Kapitalismus in Rußland, S. M. Kravöinskijs Attentat auf den Gendarmeriechef N . V. Mezencov u. a.). Ohne Erklärung bleibt das in der Kurzbiographie von Bogoljubov angeführte bedeutsame Attentat von Vera I . Zasuliö auf den Petersburger Stadthauptmann F. F. Trepov im Jahre 1878. Schließlich enthält das Verzeichnis der historischen Personen zahlreiche das Verständnis der Zusammenhänge beeinträchtigende Sachfehler. Hierzu gehören u. a. die Verwechslung von A. S. Emel'janov (Bogoljubov) mit dem Angehörigen der „Narodnaja v o l j a " I . P . Emel'janov (S. 444), V. V. Bervi-Flerovskijs Hauptwerk „IIoJio>KeHne paGo'iero KJiacca B POCCHH" erschien nicht 1889, sondern 1869, N . E. Fedoseev beging nicht 1889 Selbstmord, sondern 1898 (S. 446), S. L . Perovskaja war nicht Mitglied des Volks-, sondern des Exekutivkomitees der „Narodnaja v o l j a " . Sie leitete das Attentat auf Alexander I I . und nicht auf Alexander I. (S. 451). Insgesamt ist den Herausgebern für eine wünschenswerte Nachauflage des Buches zu einer gründlichen Überarbeitung des beigegebenen Verzeichnisses zu raten. F. Ortmann

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Die vorliegende Literaturgeschichte ist das Ergebnis der seit längerem stattfindenden Diskussionen um die effektivste Wissensvermittlung bei der Ausbildung von Russisten. Der Grundsatz, weniger eine Menge von Fakten zu vermitteln, sondern eine vertiefende Betrachtung anzustreben, wird vom Hauptherausgeber des Bandes deshalb entsprechend hervorgehoben. Daß dabei auch für die wissenschaftliche Betrachtung neue Ansatzpunkte zu finden sind, zeigt die vorlieg. Publikation durch originelle Gruppierung des Materials und eine Fülle von besonders aufbereiteter Information. Dabei stehen nicht vorzugsweise neue Forschungsergebnisse im Vordergrund, sondern ein neuer Blickwinkel der Untersuchung, der von traditionellen Betrachtungsweisen abweicht. Durch Konzentration und Verdichtung des Materials wird Bestimmtes betont und eine Vorstellung von wechselseitigen literarischen Einwirkungen, größeren literarischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen sowie bestimmten künstlerischen Systemen gegeben. I m folgenden soll deshalb vorlieg. Geschichte der russischen Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Hinblick auf gewisse hervorzuhebende Merkmale analysiert werden. Zu den Mitarbeitern der Ausgabe gehören außer N . N . Skatov so bekannte, erfahrene Autoren wie Ju. V. Lebedev, Ju. M. Prozorov, A. I . 2uravleva, E. I . Annenkova, K . I . Sokolova, Ja. S. Bilinkis, B. S. Dychanova, A. A. Gorelov, V. A. Kotel'nikov und G. A. Bjalyj. Sie selbst charakterisieren ihr Material als eine kurze, „mobile" Darstellung, die Möglichkeiten und Ansätze für weiterführende Beschäftigung biete, wobei einigen zentralen Problemen besondere Aufmerksamkeit zuteil werde. Es gehe vor allem um die Herausarbeitung allgemeiner Gesetzmäßigkeiten der russischen Literaturentwicklung, um die Akzentuierung des Prinzips der „.Volkstümlichkeit" (HapOßHOCTb) in die russische Literatur und die damit verbundene Suche der Schriftsteller auf moralisch-ethischem Gebiet. Es komme darauf an zu zeigen, daß die russische Literatur eine „Revolution vor der Revolution" gewesen sei. Als Grundlage der zeitlichen Anordnung der Fakten wurde die Leninsche Periodisierung der Befreiungsbewegung in Rußland genommen. Das vorliegende Lehrbuch unterscheidet sich deshalb in einigen Punkten von anderen Darstellungen. Die Akademie-Ausgabe der russischen Literaturgeschichte (1981, Bd. 4) gibt eine alle Gebiete (Poesie, Dramatik, Prosa, Publizistik u. a.) gleichmäßig gründlich durchleuchtende Information, was der Aufgabenstellung einer kompakten und vollständigen Wissensvermittlung entspricht. Vorliegende Darstellung unterscheidet sich auch von V. I . Kulesovs „MeropHH pyccKoti jiHTepaTypu X I X ß e K a . 70-e —90-e IT.", M. 1983, der auf allgemeine umfangreiche Übersichten Wert legt und durch das breite Materialangebot problembezogene Wertungen nur kurzfassen kann; die Bezüge des einzelnen Werks zum

B. Seidel-Dbeffke, Hctophh

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XIX b.

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gesamtgesellschaftlichen Prozeß und verschiedenen Problemfeldern fallen hier knapp aus oder fehlen ganz. I n der hier vorgestellten Literaturgeschichte werden andere Akzente gesetzt. Es erscheinen nicht sämtliche in der betrachteten Epoche wirkenden Autoren neben- oder nacheinander, es wird sogar auf viele verzichtet. Besonders ins Blickfeld gerückt werden jedoch jene, deren Gesamtwerk das Bild der Epoche weitgehend bestimmt ( I . S. Turgenev, N . G. Öernysevskij, N . A . Nekrasov, A . A . Pet, A . N . Ostrovskij, M. E. Saltykov-Söedrin, G. I . Uspenskij, N . S. Leskov, F. M. Dostoevskij, L . N . Tolstoj, A . P . Cechov). U m diese Autoren werden alle die literarische W e l t bewegenden Probleme, Zeitkritiken u. a. gruppiert. Deutlich und überzeugend werden Zusammenhänge aufgezeigt, die zwischen den Schriftstellern bestehen. Dabei wird jedoch keine alte Konzeption von Literaturgeschichte als eine K e t t e von Gipfelleistungen im neuen K l e i d präsentiert. Das breite literarische U m f e l d wird bewußt gemacht und erfährt gleichzeitige Anerkennung. Eine Reihe von Klassikern wird besonders hervorgehoben, die auf diesem U m f e l d fußen, deren Leistungen ohne dieses jedoch nicht möglich gewesen wären. Eine Isolierung der jeweiligen Leistung von anderen wird vermieden. Den Aufgabenstellungen entspricht die Gliederung des Materials. Neben einzelnen, den genannten Hauptautoren gewidmeten Kapiteln finden sich drei Übersichtskapitel, den Literaturprozeß 1) der 60er Jahre, 2) der 70er Jahre, 3) der 80er und 90er Jahre betreffend. I n den genannten Kapiteln erfolgt die Analyse des Literaturprozesses in enger Verbindung mit gesellschaftlichen Gegebenheiten, die sich im Vergleich zu Kulesov (s. o.) weniger schematisch und anschaulicher ausnimmt. Es werden wichtige Etappen des ideologischen K a m p f e s vorgestellt, auf die Spezifik der Literaturentwicklung in der jeweiligen Epoche wird ausführlich eingegangen, Poesie, Dramatik und Prosa werden im engen Zusammenhang mit ihrem gesellschaftlichen und literarischen U m f e l d beleuchtet. Für die Literatur der 60er Jahre war zum Beispiel, auf bestimmten gesellschaftlichen Veränderungen basierend, die Herausbildung eines neuen Heldentypus charakteristisch. Dessen Akzentuierung wird entsprochen durch eine vergleichende Analyse einzelner Helden im Überblickskapitel, deren Untersuchung in den folgenden Kapiteln in Verbindung mit detaillierter Werkanalyse weitergeführt wird, so daß sich tatsächlich von einer vertieften Betrachtung sprechen läßt. Ein Held oder W e r k erscheint so im K o n t e x t verschiedener gesellschaftlicher und literarischer Bezugsebenen, und es ist möglich, ein allseitiges Bild zu gewinnen. Bei Werkanalysen ist vor allem die Einbeziehung der Zeitkritik hervorzuheben, wobei solch namhafte Kritiker wie V . G. Belinskij, N . A . Dobroljubov, D. I . Pisarev, V . P. Botkin, A . Grigor'ev u. a. zu W o r t kommen. Wenn die jeweiligen literaturkritischen Bemerkungen (aus objektiven Gründen) auch nur kurz ins Bild kommen können, geben sie doch immer gerade das Prägnante des behandelten Gegenstandes wieder. Besonderer W e r t wird auf das Aufzeigen entscheidender Polemiken gelegt. So wird z. B. die Kontroverse Dobroljubovs und Pisarevs um die Auslegung von Ostrovskijs „ r p o 3 a " akzentuiert oder auf Divergenzen im Lager der revolutionären Kritik bei der Einschätzung des Turgenevschen Bazarov (Antonovic — Pisarev) hingewiesen u. a. Das Aufdecken von Beziehungen zu vorausgegangenen Literaten bzw. Literaturepochen vermittelt eine Vorstellung von der Kontinuität des Literaturprozesses. Die Wirkungen Gogol's und Belinskijs auf Cernysevskij werden deshalb ebenso wie etwa Parallelen der Helden aus Nekrasovs Poem „ K o M y Ha Pycw jKHTb xoporno?" zu Gestalten aus L . N . Tolstojs „ B o i m a H Miip" hervorgehoben, auch Beziehungen zur Weltliteratur kommen zur Sprache. Ein besonderer Akzent liegt auf dem Erfassen biographischer Fakten. Dabei wird jedoch die Biographie niemals schematisch vom literarischen W e r k des Autors getrennt, diesem voran- oder nachgestellt, sondern sie wird organisch mit dem Schaffen des Dichters verbunden. Es werden Momente herausgestellt, die entscheidenden Einfluß auf die weitere künstlerische Entwicklung des jeweiligen Autors hatten. Allerdings nimmt es in diesem Zusammenhang etwas wunder, warum Dostoevskijs „Fast-Hinrichtung" und deren Auswirkungen auf sein folgendes Schaffen (z. B. den Roman „ H a i - i o t " ) so gut wie nicht beachtet wurden. Zur Auflockerung und Bereicherung trägt das Einfügen von Memoirenliteratur bei. Dies erfolgt in Gestalt häufiger Zitate aus Tagebüchern und Briefen, Erinnerungen von Zeitgenossen etc. Auf diese Weise wird eine hohe Anschaulichkeit des behandelten Gegenstandes erreicht. Weiterführende Hinweise liefert eine Aufstellung der wichtigsten Literatur zu jedem Autor am Ende der entsprechenden Kapitel. Allerdings muß hinzugefügt werden, daß ein Namen- und Sachregister die Benutzung erleichtert hätte. Zusammenfassend läßt sich die behandelte Literaturgeschichte als Schritt nach vorn bei der Suche nach neuen Darstellungsmöglichkeiten literarischer Prozesse kennzeichnen. Durch Aufbrechen traditioneller Schemata bei der Materialauswahl und -gruppierung wurde eine in die Tiefe gehende 9*

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A u s l e u c h t u n g entscheidender P r o b l e m e erreicht, was eine u m f a s s e n d e Orientierung im g e s a m t e n L i t e r a t u r p r o z e ß der E p o c h e ermöglicht. Dabei wird neben d e m Zurückgreifen auf b e w ä h r t e wissenschaftliche Positionen nicht wenig Anregung f ü r w e i t e r f ü h r e n d e Forschungen gegeben. B.

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Mit der ü b e r a r b e i t e t e n F a s s u n g seiner Geschichte der belorussischen L i t e r a t u r s p r a c h e legt Verf.. der ein p r o f u n d e r K e n n e r der Materie u n d erfahrener Hochschullehrer ist, ein modernes Hochschullehrbuch zu einer relativ jungen Wissenschaftsdisziplin vor. I n der E i n f ü h r u n g w i d m e t er insbesondere d e m historischen Aspekt des Begriffs „ L i t e r a t u r s p r a c h e " breiten R a u m u n d zeigt a n h a n d der spezifischen E n t w i c k l u n g des Belorussischen, d a ß der E n t w i c k l u n g s s t a n d einer L i t e r a t u r s p r a c h e immer in engem Z u s a m m e n h a n g mit der historischen E n t w i c k l u n g der Gesellschaft u n d des jeweiligen Volkes zu sehen ist u n d d a ß m a n f r ü h e r e S p r a c h z u s t ä n d e nicht m i t d e m M a ß s t a b heutiger Kriterien messen darf. Verf. v e r t r i t t die Ansicht, d a ß die H e r a u s b i l d u n g der L i t e r a t u r s p r a c h e nicht an die E n t s t e h u n g von N a t i o n e n g e b u n d e n ist, sondern d a ß es auch vornationale L i t e r a t u r s p r a c h e n gab. Als charakteristische Merkmale der belorussischen L i t e r a t u r s p r a c h e der G e g e n w a r t b e h a n d e l t er im einzelnen ihre vielfältigen gesellschaftlichen F u n k t i o n e n als überdialektales K o m m u n i k a tionsmittel (Polyvalenz), das hohe Niveau ihrer literatursprachlichen B e a r b e i t u n g u n d der kodifizierten, orthoepischen, lexikalisch-semantischen u n d g r a m m a t i s c h e n N o r m e n , die H e r a u s b i l d u n g differenzierter A u s d r u c k s m i t t e l f ü r verschiedene E x i s t e n z f o r m e n u n d die Funktionalstile. D a s vorliegende Buch zeigt n u n , welch komplizierten Weg die belorussische Sprache bis zu ihrer heutigen entwickelten F o r m gegangen ist. U n t e r s u c h u n g s g e g e n s t a n d der Geschichte der belorussischen L i t e r a t u r s p r a c h e ist die qualitative E n t w i c k l u n g der belorussischen L i t e r a t u r s p r a c h e , insbesondere ihrer schriftlichen Ausprägung in den verschiedenen historischen E t a p p e n . Die Geschichte der L i t e r a t u r s p r a c h e unterscheidet sich von der historischen G r a m m a t i k , die die E n t wicklung der S t r u k t u r , d. h. des phonetischen Systems, des g r a m m a t i s c h e n B a u s u n d des Wortschatzes in allen Erscheinungsformen, einschließlich der Dialekte, erforscht. Bei der Periodisierung der belorussischen L i t e r a t u r s p r a c h e folgt Verf. u n t e r Einbeziehung intrau n d extralinguistischer F a k t o r e n der Einteilung in die Periode der altrussischen L i t e r a t u r s p r a c h e (11. —Beginn des 14. J h . ) , die mit der allmählichen H e r a u s b i l d u n g der ostslawischen S p r a c h e n endet, die Periode der altbelorussischen L i t e r a t u r s p r a c h e (14.— 18. J h . ) u n d die Periode der neuen belorussischen L i t e r a t u r s p r a c h e (19. J h . bis zur Gegenwart). I n n e r h a l b dieser Perioden wird der sprachliche E n t w i c k l u n g s s t a n d (Vervollkommnung, Differenzierung der sprachlichen Mittel, aber a u c h E i n s c h r ä n k u n g u n d Stagnation) in den einzelnen E t a p p e n im K o n t e x t m i t der gesellschaftlichen E n t w i c k l u n g beschrieben. Als Quellen dienen neben künstlerischen, publizistischen u n d wissenschaftlichen T e x t e n a u c h a m t liche Schriftstücke. Verf. polemisiert in diesem Z u s a m m e n h a n g gegen verschiedene Ansichten über die B e d e u t u n g des a m t l i c h e n Schriftverkehrs f ü r die vollständigere Widerspiegelung der sprachlichen Züge der jeweiligen E p o c h e (S. 21f.). E i n Vorzug gegenüber der 1. Auflage (Minsk 1963) b e s t e h t darin, d a ß die ursprüngliche G r a p h i k der Texte, die teilweise bis ins 20. J h . hinein in lateinischer Schrift polnischer R e d a k t i o n g e d r u c k t w u r d e n , erhalten blieb. Das ermöglicht eine genauere Vorstellung vom Original. Verf. geht a u c h auf die Abgrenzung altbelorussischer u n d altukrainischer T e x t e des 15. —17. J h . ein, die auf G r u n d der außerordentlich n a h e n S p r a c h v e r w a n d t s c h a f t u n d des gleichen historischen Schicksals beider Völker innerhalb des G r o ß f ü r s t e n t u m s L i t a u e n u n d später in der Rzeczpospolita erschwert wird, u n d erläutert die a n g e w a n d t e n Methoden. Weitere Quellen f ü r die A u f d e c k u n g der Entwicklungswege der belorussischen L i t e r a t u r s p r a c h e sind neben einer reichen künstlerischen L i t e r a t u r des 19. u n d 20. J h . Aussagen von hervorragenden Schriftstellern u n d Geistesschaffenden. Verf. m a c h t dabei a u c h auf weitere A u f g a b e n in der E r f o r s c h u n g der belorussischen L i t e r a t u r sprache, wie stilistische Probleme, Besonderheiten in der H e r a u s b i l d u n g u n d E n t w i c k l u n g der neuen belorussischen L i t e r a t u r s p r a c h e , a u f m e r k s a m . Der wissenschaftlichen E r f o r s c h u n g der Geschichte der belorussischen L i t e r a t u r s p r a c h e von ihren

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A u s l e u c h t u n g entscheidender P r o b l e m e erreicht, was eine u m f a s s e n d e Orientierung im g e s a m t e n L i t e r a t u r p r o z e ß der E p o c h e ermöglicht. Dabei wird neben d e m Zurückgreifen auf b e w ä h r t e wissenschaftliche Positionen nicht wenig Anregung f ü r w e i t e r f ü h r e n d e Forschungen gegeben. B.

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S.

Mit der ü b e r a r b e i t e t e n F a s s u n g seiner Geschichte der belorussischen L i t e r a t u r s p r a c h e legt Verf.. der ein p r o f u n d e r K e n n e r der Materie u n d erfahrener Hochschullehrer ist, ein modernes Hochschullehrbuch zu einer relativ jungen Wissenschaftsdisziplin vor. I n der E i n f ü h r u n g w i d m e t er insbesondere d e m historischen Aspekt des Begriffs „ L i t e r a t u r s p r a c h e " breiten R a u m u n d zeigt a n h a n d der spezifischen E n t w i c k l u n g des Belorussischen, d a ß der E n t w i c k l u n g s s t a n d einer L i t e r a t u r s p r a c h e immer in engem Z u s a m m e n h a n g mit der historischen E n t w i c k l u n g der Gesellschaft u n d des jeweiligen Volkes zu sehen ist u n d d a ß m a n f r ü h e r e S p r a c h z u s t ä n d e nicht m i t d e m M a ß s t a b heutiger Kriterien messen darf. Verf. v e r t r i t t die Ansicht, d a ß die H e r a u s b i l d u n g der L i t e r a t u r s p r a c h e nicht an die E n t s t e h u n g von N a t i o n e n g e b u n d e n ist, sondern d a ß es auch vornationale L i t e r a t u r s p r a c h e n gab. Als charakteristische Merkmale der belorussischen L i t e r a t u r s p r a c h e der G e g e n w a r t b e h a n d e l t er im einzelnen ihre vielfältigen gesellschaftlichen F u n k t i o n e n als überdialektales K o m m u n i k a tionsmittel (Polyvalenz), das hohe Niveau ihrer literatursprachlichen B e a r b e i t u n g u n d der kodifizierten, orthoepischen, lexikalisch-semantischen u n d g r a m m a t i s c h e n N o r m e n , die H e r a u s b i l d u n g differenzierter A u s d r u c k s m i t t e l f ü r verschiedene E x i s t e n z f o r m e n u n d die Funktionalstile. D a s vorliegende Buch zeigt n u n , welch komplizierten Weg die belorussische Sprache bis zu ihrer heutigen entwickelten F o r m gegangen ist. U n t e r s u c h u n g s g e g e n s t a n d der Geschichte der belorussischen L i t e r a t u r s p r a c h e ist die qualitative E n t w i c k l u n g der belorussischen L i t e r a t u r s p r a c h e , insbesondere ihrer schriftlichen Ausprägung in den verschiedenen historischen E t a p p e n . Die Geschichte der L i t e r a t u r s p r a c h e unterscheidet sich von der historischen G r a m m a t i k , die die E n t wicklung der S t r u k t u r , d. h. des phonetischen Systems, des g r a m m a t i s c h e n B a u s u n d des Wortschatzes in allen Erscheinungsformen, einschließlich der Dialekte, erforscht. Bei der Periodisierung der belorussischen L i t e r a t u r s p r a c h e folgt Verf. u n t e r Einbeziehung intrau n d extralinguistischer F a k t o r e n der Einteilung in die Periode der altrussischen L i t e r a t u r s p r a c h e (11. —Beginn des 14. J h . ) , die mit der allmählichen H e r a u s b i l d u n g der ostslawischen S p r a c h e n endet, die Periode der altbelorussischen L i t e r a t u r s p r a c h e (14.— 18. J h . ) u n d die Periode der neuen belorussischen L i t e r a t u r s p r a c h e (19. J h . bis zur Gegenwart). I n n e r h a l b dieser Perioden wird der sprachliche E n t w i c k l u n g s s t a n d (Vervollkommnung, Differenzierung der sprachlichen Mittel, aber a u c h E i n s c h r ä n k u n g u n d Stagnation) in den einzelnen E t a p p e n im K o n t e x t m i t der gesellschaftlichen E n t w i c k l u n g beschrieben. Als Quellen dienen neben künstlerischen, publizistischen u n d wissenschaftlichen T e x t e n a u c h a m t liche Schriftstücke. Verf. polemisiert in diesem Z u s a m m e n h a n g gegen verschiedene Ansichten über die B e d e u t u n g des a m t l i c h e n Schriftverkehrs f ü r die vollständigere Widerspiegelung der sprachlichen Züge der jeweiligen E p o c h e (S. 21f.). E i n Vorzug gegenüber der 1. Auflage (Minsk 1963) b e s t e h t darin, d a ß die ursprüngliche G r a p h i k der Texte, die teilweise bis ins 20. J h . hinein in lateinischer Schrift polnischer R e d a k t i o n g e d r u c k t w u r d e n , erhalten blieb. Das ermöglicht eine genauere Vorstellung vom Original. Verf. geht a u c h auf die Abgrenzung altbelorussischer u n d altukrainischer T e x t e des 15. —17. J h . ein, die auf G r u n d der außerordentlich n a h e n S p r a c h v e r w a n d t s c h a f t u n d des gleichen historischen Schicksals beider Völker innerhalb des G r o ß f ü r s t e n t u m s L i t a u e n u n d später in der Rzeczpospolita erschwert wird, u n d erläutert die a n g e w a n d t e n Methoden. Weitere Quellen f ü r die A u f d e c k u n g der Entwicklungswege der belorussischen L i t e r a t u r s p r a c h e sind neben einer reichen künstlerischen L i t e r a t u r des 19. u n d 20. J h . Aussagen von hervorragenden Schriftstellern u n d Geistesschaffenden. Verf. m a c h t dabei a u c h auf weitere A u f g a b e n in der E r f o r s c h u n g der belorussischen L i t e r a t u r sprache, wie stilistische Probleme, Besonderheiten in der H e r a u s b i l d u n g u n d E n t w i c k l u n g der neuen belorussischen L i t e r a t u r s p r a c h e , a u f m e r k s a m . Der wissenschaftlichen E r f o r s c h u n g der Geschichte der belorussischen L i t e r a t u r s p r a c h e von ihren

S. HEYL

r i c T o p b i H 6 e j i a p y c n a f i J i i T a p a T y p H a ü MOBM

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Anfängen im 19. J h . über den Begründer der belorussischen Philologie, E. F. Karskij, bis zur zweibändigen Akademie-Publikation „ricTopHH ßejiapyCKatt JiiTapaTypHaü MOBM", MiHCK 1967 — 1968, von A. I. 2uraüski, I. I. Kramko, A. K . Jureviö und A. I. JanoviS ist ein Abriß (S. 25 — 31) gewidmet. Die altrussische Literatursprache wird unter Einbeziehung neuerer Forschungen (V. V. Vinogradov, N. A. K o i i n , B. A. Larin, N. A. MesCerskij) von der Entstehung des Schrifttums bei den Ostslawen im 11. J h . bis zur Schriftsprache des 14. J h . in ihren wesentlichen strukturellen U n t e r schieden zum Altslawischen sowie in ihrer genrestilistischen Vielfalt dargestellt und ihre Bedeutung als Ausgangsbasis f ü r die Herausbildung der drei ostslawischen Sprachen hervorgehoben (S. 32 — 79). Im Kapitel zur altbelorussischen Literatursprache (14. —18. Jh.) wird die Sprachentwicklung in engem Zusammenhang mit der Herausbildung der belorussischen Völkerschaft unter den Bedingungen des ethnisch heterogenen Großfürstentums Litauen und der Rzeczpospolita betrachtet. Ungeachtet vieler bewahrter Merkmale des Altrussischen spiegeln die Schriftdenkmäler besonders zum Ausgang des 17. J h . bereits spezifisch belorussische Züge — wenn auch noch nicht durchgängig und einheitlich — wider (z. B. in der Phonetik: das akanne/jakanne, dzekanne/cekanne; vor j s/b > y/i; zwischen Vokalen ro, lo, le > ry, ly, Ii; die Affrikate ¡dij; das frikative g [/¡]; die Dopplung von Konsonanten; die Verhärtung der Zischlaute, des [r], des etymologischen /c/; der Übergang von jvj, /1/ in unsilbisches /w/ U. a.; in der Morphologie: die E n d u n g -u im Gen. Sg. Mask., die Endung -y im PI. der Mask./Neutr., die Superlativbildung mit dem Suffix -ejs- nach Zischlauten, Formen der 1. Konjugation der Verben vom T y p njase u. a.; in der S y n t a x : die Verwendung der Langform der Adjektive in prädikativischer Funktion, die Verwendung der Numeralia dva, try, iatyry mit Substantiven im Nom. PL, bestimmte Verbalrektionen, die Verwendung eigener Konjunktionen in verschiedenen Typen von Satzgefügen. Die Ausführungen werden durch Beispielmaterial aus Originaltexten (amtlichen und juristischen Schriftstücken, Chroniken, religiösen, wissenschaftlichen, polemischen und literarischen Werken veranschaulicht (S. 80 — 148). Ausführlich werden die ersten Fibeln, Grammatiken und Wörterbücher (I. Fedorov, M. Smotrickij, R. Berynda) betrachtet und die Rolle des belorussischen Buchdrucks im 16. —17. J h . (F. S k a r y n a u. a.) für die Entwicklung der altbelorussischen Literatursprache gewürdigt (S. 148 — 161). Die Entwicklung der Sprache wird immer im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Bedingungen gesehen, so z. B. gegen Ende des 16./zu Beginn des 17. Jh., als im polnischen Staat keine günstigen Voraussetzungen f ü r die Entwicklung des Belorussischen bestanden u n d die Polonisierung des Schulwesens und die offizielle Verwendung der lateinischen Sprache in der Wissenschaft, der Rechtssprechung und im amtlichen Schriftverkehr zum Polylinguismus f ü h r t e n . Als spezifische Erscheinung der Verwendung der belorussischen Schriftsprache des 17. J h . untersucht Verf. die sog. Intermedien (Interludien) zu Schuldramen, die zur Belustigung des Publikums in der Sprache des Volkes abgefaßt wurden, während die eigentlichen Stücke in polnischer oder lateinischer Sprache verfaßt waren (S. 161 — 167). Zwischen der altbelorussischen und der neuen belorussischen Literatursprache wird gewöhnlich eine Zäsur von fast zwei J a h r h u n d e r t e n gemacht, in der das Belorussische offiziell nicht zugelassen war, somit seine Ausdrucksmittel nicht vervollkommnen konnte und nur in der mündlichen F o r m der Sprache des Volkes weiterexistierte. Diese E t a p p e läßt sich auf Grund fehlender Aufzeichnungen bis auf einzelne folkloristische Untersuchungen aus späterer Zeit schwer rekonstruieren. E r s t nach den Teilungen Polens und der Angliederung Belorußlands an das zaristische R u ß l a n d entstanden durch das Erstarken der nationalen Befreiungsbestrebungen und der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, besonders nach der Revolution 1905, günstigere Bedingungen f ü r die Entwicklung auch der nationalen Sprache der Belorussen. Im Kapitel zur neuen belorussischen Literatursprache beschreibt Verf. die historischen Bedingungen f ü r die Herausbildung einer einheitlichen Literatursprache der Belorussen im engen Zusammenhang mit der Entwicklung des Kapitalismus u n d der Konsolidierung der Nation, die sich jedoch durch die soziale und nationale Unterdrückung des Zarismus nur langsam vollzog. Verf. zeichnet ein anschauliches Bild von der komplizierten sprachlichen Situation im Belorußland des 19. J h . und der Bedingungen, unter denen sich z. B. das belorussische Verlagswesen u n d mit ihm die junge belorussische Literatur entwickelten (S. 175—249). Der Sprache der anonymen Dichtung der 1. Hälfte des 19. J h . , insbesondere der Poeme „3nei,T,a HaBHBapaT" und „ T a p a c Ha üapHace", sowie den Schriftstellern und Dichtern P . B a h r y m , J a . Caöot,, J a . Baräfieüski und A. Rypinski wurden neben der bedeutenden Rolle von V. Dunin-Marcinkevic bei der Herausbildung der neuen belorussischen Literatursprache einzelne Abschnitte des

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Kapitels gewidmet. An Textauszügen werden graphische, phonetische, lexikalische und grammatische Besonderheiten ihrer Sprachverwendung demonstriert. In der 2. Hälfte des 19. J h . verschärft sich nach der Zerschlagung des Aufstandes von 1863 zunächst die Russifizierungspolitik des Zaren, Ende des 19. J h . erscheinen jedoch wieder einzelne Schriften in belorussischer Sprache (z. T. im Ausland). Verf. zeigt an Beispielen aus Werken von F. B a h u ä e v i c , wie dieser Dichter versucht, die Sprache seines Volkes schöpferisch anzuwenden und dialektale Besonderheiten allmählich zu überwinden. Neben Lyrik und Dramatik entstehen in der 2. Hälfte des 19. J h . publizistische Werke, die sich wesentlich auf die Entwicklung des belorussischen Wortschatzes und die Vervollkommnung der belorussischen Syntax auswirken und die Grundlagen f ü r die Herausbildung eines publizistischen Stils legen. Nach dem Gesetz über die Pressefreiheit von 1905 konnten viele Werke in bellorussischer Sprache von J a . Kupala, J a . Kolas, Cjotka, M. Bahdanoviö, Z. Bjadulja, C. H a r t n y und M. Harecki zum ersten Mal gedruckt werden. Der z. T. widersprüchlichen und uneinheitlichen Entwicklung der sprachlichen Mittel dieser Zeit geht Verf. anhand der Zeitungen „Harna Irina" und „ H a i n a aojih" nach. Instruktiv ist der Überblick über die Bemühungen und Ergebnisse von Sprachwissenschaftlern des 19./Anfang des 20. J h . , z. B. I. I. Nosoviö und E. F. Karskij, bei der Erforschung der Sprache der Belorussen (S. 250—258). Mit dem Sieg der Oktoberrevolution und der Verwirklichung der Leninschen Sprach- und Nationalitätenpolitik veränderten sich die gesellschaftlichen Bedingungen für die E n t f a l t u n g der Ausdrucksmittel auch der belorussischen Sprache. I m Kapitel „Die belorussische Literatursprache der Sowjetepoche" werden die Wechselbeziehungen zwischen der neuen Literatursprache u n d den Dialekten sowie die Rolle des Russischen bei der Entwicklung der Lexik und Phraseologie, die Stabilisierung der graphischen, orthographischen und orthoepischen Norm sowie Veränderungen im stilistischen System der belorussischen Literatursprache behandelt (S. 259 — 286). Verf. untersucht außerdem die Wirkung der belorussischen Sowjetlit3ratur und Publizistik auf die Vervollkommnung der Literatursprache, wobei der Rolle J a n k a Kupalas und J a k u b Kolas' ein gesonderter Abschnitt gewidmet ist. Die belorussische Literatursprache der Gegenwart h a t sich trotz ihrer verhältnismäßig jungen Geschichte zu einer hochentwickelten, alle Bedürfnisse der gesellschaftlichen Kommunikation befriedigenden Literatursprache mit stabilen orthographischen und grammatischen Normen vervollkommnet, in der u. a. auch literarische Kunstwerke mit großer ästhetischer Wirkung entstehen. Bei der Darstellung der Entwicklungstendenzen der belorussischen Literatursprache der Gegenwart geht Verf. nur kurz auf den funktionale Bilinguismus in der Belorussischen SSR ein. Das Spezifische in der Entwicklung der belorussischen Literatursprache besteht im Vergleich zur Mehrzahl der anderen slawischen Sprachen darin, daß sie nicht die Traditionen der alten Literatursprache fortsetzt, sondern sich auf der Grundlage der vom Volk verwendeten Sprache entwickelt, deren Ausdrucksmittel vervollkommnet und unifiziert. Bei der Stabilisierung der literatursprachlichen Normen erfolgte im wesentlichen eine Orientierung an den zentralen (mittel-) belorussischen Dialekten. Das vorliegende Buch kann zweifellos als ein Standardwerk zur Geschichte der belorussischen Literatursprache empfohlen werden, da es methodologisch und faktologisch hohen Ansprüchen gerecht wird und die Erkenntnisse zur allgemeinen Theorie der Literatursprache durch das spezifische Material bereichert. Die wissenschaftliche Leistung wurde 1986 mit dem Staatspreis für Wissenschaft der Belorussischen SSR gewürdigt. S.

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A. M. L E W I C K I - A. P A J D Z l S S K A - B. R E J A K O W A , Z zagadnien frazeologii. Problemy leksykograficzne. Paristwowe wydawnictwo naukowe, Warszawa 1987, 102 S. In der unvermindert lebhaften lexikographischen Diskussion der letzten J a h r e fehlt es nicht an Überlegungen zu einer verbesserten lexikographischen Fixierung von Phrasemen. In der polnischen Linguistik h a t A. M. Lewicki bereits 1976, ausgehend von der Erkenntnis der Mängel in der bisherigen Praxis, Überlegungen zu einer adäquateren lexikographischen Darstellung von Phra-

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Kapitels gewidmet. An Textauszügen werden graphische, phonetische, lexikalische und grammatische Besonderheiten ihrer Sprachverwendung demonstriert. In der 2. Hälfte des 19. J h . verschärft sich nach der Zerschlagung des Aufstandes von 1863 zunächst die Russifizierungspolitik des Zaren, Ende des 19. J h . erscheinen jedoch wieder einzelne Schriften in belorussischer Sprache (z. T. im Ausland). Verf. zeigt an Beispielen aus Werken von F. B a h u ä e v i c , wie dieser Dichter versucht, die Sprache seines Volkes schöpferisch anzuwenden und dialektale Besonderheiten allmählich zu überwinden. Neben Lyrik und Dramatik entstehen in der 2. Hälfte des 19. J h . publizistische Werke, die sich wesentlich auf die Entwicklung des belorussischen Wortschatzes und die Vervollkommnung der belorussischen Syntax auswirken und die Grundlagen f ü r die Herausbildung eines publizistischen Stils legen. Nach dem Gesetz über die Pressefreiheit von 1905 konnten viele Werke in bellorussischer Sprache von J a . Kupala, J a . Kolas, Cjotka, M. Bahdanoviö, Z. Bjadulja, C. H a r t n y und M. Harecki zum ersten Mal gedruckt werden. Der z. T. widersprüchlichen und uneinheitlichen Entwicklung der sprachlichen Mittel dieser Zeit geht Verf. anhand der Zeitungen „Harna Irina" und „ H a i n a aojih" nach. Instruktiv ist der Überblick über die Bemühungen und Ergebnisse von Sprachwissenschaftlern des 19./Anfang des 20. J h . , z. B. I. I. Nosoviö und E. F. Karskij, bei der Erforschung der Sprache der Belorussen (S. 250—258). Mit dem Sieg der Oktoberrevolution und der Verwirklichung der Leninschen Sprach- und Nationalitätenpolitik veränderten sich die gesellschaftlichen Bedingungen für die E n t f a l t u n g der Ausdrucksmittel auch der belorussischen Sprache. I m Kapitel „Die belorussische Literatursprache der Sowjetepoche" werden die Wechselbeziehungen zwischen der neuen Literatursprache u n d den Dialekten sowie die Rolle des Russischen bei der Entwicklung der Lexik und Phraseologie, die Stabilisierung der graphischen, orthographischen und orthoepischen Norm sowie Veränderungen im stilistischen System der belorussischen Literatursprache behandelt (S. 259 — 286). Verf. untersucht außerdem die Wirkung der belorussischen Sowjetlit3ratur und Publizistik auf die Vervollkommnung der Literatursprache, wobei der Rolle J a n k a Kupalas und J a k u b Kolas' ein gesonderter Abschnitt gewidmet ist. Die belorussische Literatursprache der Gegenwart h a t sich trotz ihrer verhältnismäßig jungen Geschichte zu einer hochentwickelten, alle Bedürfnisse der gesellschaftlichen Kommunikation befriedigenden Literatursprache mit stabilen orthographischen und grammatischen Normen vervollkommnet, in der u. a. auch literarische Kunstwerke mit großer ästhetischer Wirkung entstehen. Bei der Darstellung der Entwicklungstendenzen der belorussischen Literatursprache der Gegenwart geht Verf. nur kurz auf den funktionale Bilinguismus in der Belorussischen SSR ein. Das Spezifische in der Entwicklung der belorussischen Literatursprache besteht im Vergleich zur Mehrzahl der anderen slawischen Sprachen darin, daß sie nicht die Traditionen der alten Literatursprache fortsetzt, sondern sich auf der Grundlage der vom Volk verwendeten Sprache entwickelt, deren Ausdrucksmittel vervollkommnet und unifiziert. Bei der Stabilisierung der literatursprachlichen Normen erfolgte im wesentlichen eine Orientierung an den zentralen (mittel-) belorussischen Dialekten. Das vorliegende Buch kann zweifellos als ein Standardwerk zur Geschichte der belorussischen Literatursprache empfohlen werden, da es methodologisch und faktologisch hohen Ansprüchen gerecht wird und die Erkenntnisse zur allgemeinen Theorie der Literatursprache durch das spezifische Material bereichert. Die wissenschaftliche Leistung wurde 1986 mit dem Staatspreis für Wissenschaft der Belorussischen SSR gewürdigt. S.

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A. M. L E W I C K I - A. P A J D Z l S S K A - B. R E J A K O W A , Z zagadnien frazeologii. Problemy leksykograficzne. Paristwowe wydawnictwo naukowe, Warszawa 1987, 102 S. In der unvermindert lebhaften lexikographischen Diskussion der letzten J a h r e fehlt es nicht an Überlegungen zu einer verbesserten lexikographischen Fixierung von Phrasemen. In der polnischen Linguistik h a t A. M. Lewicki bereits 1976, ausgehend von der Erkenntnis der Mängel in der bisherigen Praxis, Überlegungen zu einer adäquateren lexikographischen Darstellung von Phra-

E . EÖEGÖTZ — K . MORVAY, Z z a g a d n i e i i f r a z e o l o g i i

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semen angestellt und exemplarisch an sechs ausgewählten Wörterbuchartikeln demonstriert 1 . Das hier zur Besprechung anstehende Bändchen knüpft an diese Überlegungen an und entwickelt sie weiter. Es gliedert sich in zwei Abschnitte. Der erste, „Problemy opracowania slownika frazeologicznego", dessen Autor A. M. Lewicki ist, umreißt die wichtigsten theoretischen Probleme bei der Erarbeitung eines phraseologischen Wörterbuchs, im zweiten Abschnitt werden in einem 99 Artikel umfassenden Wörterbuchteil Beispiele für die praktische Umsetzung der gebotenen Lösungsvorschläge präsentiert. Als eines der zentralen theoretischen lexikographischen Probleme sieht Lewicki die Definition des Phrasems an. Sie hat seiner Meinung nach zu berücksichtigen, daß das Phrasem als Mehrwortverbindung in den meisten Fällen kein Wortäquivalent aufweist. Sie muß die semantische und syntaktische Struktur des Phrasems widerspiegeln und pragmatische Informationen sowie Hinweise zur syntaktisch-semantischen Verknüpf barkeit enthalten. Lewicki unterscheidet für die phraseologische Lexikographie (auch: Phraseographie) vier grundlegende Definitionsarten: a) autonome analytische Definitionen (im Sinne der o. g. Postulate), b) verweisende analytische Definitionen, die nur bei zueinander in Derivationsbeziehungen stehenden Phrasemen in Frage kommen und auf das „Basisphrasem" mit der unkomplizierteren, einfacheren Bedeutung verweisen, vgl. ktoi zdejmuje cos z afisza ,ktos powoduje, ze cos schodzi z afisza', c) situative Definition, die die Gebrauchssphäre des Phrasems beschreibt und ein obligatorisches metasprachliches Element (Formel z u . . . , Ausdruck z u r . . . , Fluchformel usw.) enthält. Sie ist die grundlegende Definitionsform für kommunikative Formeln wie SZCZQSC Boze! ,formula wyrazaj^ca zyczenie owocnej pracy', d) synonymische Definition, deren Eignung für Definitionszwecke allgemein zu Recht bestritten wird, da sie in den meisten Fällen die Bedeutung eines Phrasems nicht durchsichtiger macht, eine nicht vorhandene Gleichwertigkeit von Phrasemen suggeriert bzw. zu Zirkeldefinitionen führt. Lewicki räumt ihr allerdings eine gewisse Daseinsberechtigung bei der Beschreibung idiomatisierter Termini ein, vgl. boza hrowka ,biedronka'. Das in jüngster Zeit stark diskutierte Problem der Einführung pragmatischer Informationen versucht Lewicki zum einen durch die traditionellen, von der Einwortlexikographie übernommenen Diversifikatoren zu lösen, die er auf funktionalstilistischer und expressiver Ebene ansetzt, zum anderen durch individuell ausgeformte verbale Charakteristika zum Verhältnis des Sprechers/Schreibers zu dem vom Phrasem bezeichneten Sachverhalt. Während die Expressivitätsskala nur einige wenige Punkte markiert, ist die Stilskala mit je sieben Haupt- und Hilfs-Diversifikatoren sehr weit aufgefächert. Das ermöglicht erstmals eine nahezu durchgängige, sehr differenzierte stilistische Charakteristik der aufgeführten Phraseme. Es fällt dabei ins Auge, daß die stilistischen Bewertungen der vorliegenden Sammlung in der Regel um eine Ebene höher liegen als in den bekannten Wörterbüchern des Polnischen, was durchaus als allgemeine Entwicklungstendenz im Phrasembestand angesehen werden kann. In der Frage der Ansatzform des Phrasems spricht sich Lewicki nachdrücklich für eine Notation in der 3. P. Sg. bzw. in einer anderen, für das Phrasem typischen Personalform aus, wie sie in letzter Zeit vielfach von den Lexikographen postuliert wird (Burger, Petermann, Matesic u. a.). Neben dem Vorzug, den realen Sprachgebrauch adäquater abzubilden, erfüllt diese Form mit der Setzung des unbestimmten Pronomens kto£/co£ zugleich den Zweck, grundlegende semantische Informationen (Person/Nichtperson) über die Verknüpfungspartner zu geben. In der auf die theoretischen Ausführungen folgenden Sammlung von Phrasemen fällt auf, daß neben bereits in früheren Lexika notierten Phrasemen viele erscheinen, die zwar seit längerer Zeit bereits im Umlauf sind, jedoch zum ersten Mal lexikographisch fixiert werden, z. B . ktos wpmszcza kogoi w maliny, ktos je (¿g) zabq, ktos strzela z grubej rury, ktoS przejmuje paleczkg, ktoi rozmienia cos na drobne u. a. Hier wird endlich eine spürbare Lücke in der polnischen Lexikographie geschlossen, denn alle einschlägigen modernen Wörterbücher tun sich sehr schwer mit der Aufnahme neuer Phraseme. Grundlage für dieses offene Herangehen der Autoren der vorliegenden Sammlung ist eine Phraseologie-Auffassung, die in der Phraseologie den dynamischsten Teilbereich der Lexik sieht. Es werden auch alle belegten Varianten verzeichnet, die dem Leser den Mechanismus des Entstehens und der Entwicklung der Phraseme anschaulich vor Augen führen. Dabei erhebt sich u. E . aber auch zugleich die Frage, ob man so weit gehen sollte, auch Phraseme zu fixieren, die als „Individualismen" gekennzeichnet sind (vgl. kto^/cos dodaje komuä wiatru w zagle, odbiera komus 1

A. M. L e w i c k i , Wprowadzenie do frazeologii syntaktycznej. Teoria zwrotu frazeologicznego, Katowice 1976. (Lewicki 1976).

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wiatr z zagli)2 bzw. als „neue Entlehnung", wie im Falle von ktos ma maslo na glowie ,swieza pozyczka z czeskiego'. I m folgenden sei auf einige Aspekte der lexikographischen Umsetzung der im ersten Teil aufgestellten Postulate eingegangen. Zunächst einige Bemerkungen zum A u f b a u des Wörterbuchartikels. Nach dem „Identifikator", dem Phrasemwort, unter dem das Lemma angeordnet ist, folgt das Phrasemiemma in der o. g. Ansatzform. Verben werden durchgängig aspektuell charakterisiert, desgleichen wird auf paradigmatische Einschränkungen bzw. Gebrauchspräferenzen verwiesen, wie z. B. ktos owija cos w bawelne. — najczgsciej uzywa si§ z przeczeniem. Bei der Beschreibung der Valenzbeziehungen folgen die Autoren dem Lösungsvorschlag aus Lewicki 1976, verzichten dabei jedoch auf eine allzu starke Formalisierung, wie sie dort noch angestrebt wurde, zugunsten einer weitgehend verbalisierten — benutzerfreundlicheren — Darstellungsform. Beibehalten werden die u. E. nicht immer aussagekräftigen, eher verwirrenden Zahlensubskriptoren bei den Pronomen, die der besseren Identifizierung der Kontextelemente des Phrasems mit den entsprechenden Elementen der Definition dienen sollen, vgl. ktoi3 przerzuca coi1 na czyjes2 barki ,ktos 3 , bgd^c do czegos zobowi^zany, powoduje, ze coSj zaczyna spoczywac na czyichs 2 barkach', was wiederum einen besseren Vergleich mit dem „Basisphrasem" cos1 spoczywa na czyicM± barkach ermöglicht. Die weitere semantische Auffächerung von cowird verbalisiert gegeben: „cz^sto w pozycji cosj wyst^puj^ wyrazy: ci^zar, obowi^zek, koszt i in., ktörych dalsze okreslenia wyjasniajq. zakres zobowi^zania." Diese Art von K o m m e n t a r ist zwar f ü r den Benutzer sehr bequem, h a t jedoch eine Aufblähung des Wörterbuchartikels zur Folge, und das ökonomische Element entscheidet oftmals über das zu wählende Darstellungsverfahren. Innerhalb eines Artikels werden mehrere verwandte Phraseme zusammengefaßt, dennoch wird jedes Phrasem als selbständige, voneinander abgehobene Einheit bearbeitet, wie ktoi/cos pracuje a. idzie na pelnych obrotach. cos ruszy na pelnych obrotach, cos zwalnia obroty, ktos a. coi pracuje na polobrotach. Am Ende eines jeden Artikels sind die bisherigen lexikographischen Notationen des Phrasems verzeichnet, jedes Phrasem und jede Phrasembedeutung wird durch ein Beispiel aus der Literatur der J a h r e 1970 bis 1983 illustriert. Ein Index von Hilfsstichwörtern verweist auf das Hauptstichwort, unter dem der vollständige Artikel zu finden ist. Die lexikographische Darstellung des phraseologischen Materials in der vorliegenden Sammlung ist gegenüber den traditionellen polnischen Wörterbüchern ein großer Fortschritt, sie registriert erstmals — sieht man von der nach anderen Kriterien zusammengestellten Sammlung von A. Boguslawski und T. Garnysz-Kozlowska 3 ab — den lebendigen polnischen Sprachgebrauch und bietet eine Fülle grammatischer und semantisch-pragmatischer Zusatzinformationen, die dem Wörterbuchbenutzer eine sowohl grammatisch und semantisch korrekte als auch kommunikativ angemessene Verwendung von Phrasemen ermöglichen. In der Frage des „ W i e " der lexikographischen Umsetzung solcher Informationen ist das letzte Wort noch nicht gesprochen, die hier unterbreiteten Vorschläge sind jedoch zweifellos ein ernstzunehmendes Angebot. Wünsche offen läßt dagegen die typographische Umsetzung, die u. E. einer optisch durchsichtigeren Gestaltung bedarf. Auch die innere Gliederung des Wörterbuchartikels ist nicht sehr übersichtlich, so daß leicht wichtige Informationen erst beim zweiten Lesen erfaßt werden. Zwischen dem theoretischen und dem Wörterbuchteil sind einige Abstimmungsschwierigkeiten erkennbar. Dies sei zugleich als Indiz gedeutet, welcher Konsequenz und filigraner Kleinarbeit es bedarf, um selbst die eindeutigsten Darstellungsprinzipien im Einzelfall durchzusetzen. E. Ehegötz — K. Morvay 2

3

Hier ist zugleich zu fragen, wo die Grenze f ü r eine Bestimmung als „Individualismus" zu ziehen ist, zumal den Autoren der vorliegenden Besprechung f ü r ktoSjcos odbiera kortms wiatr z zagli sechs Belege aus unterschiedlichen Quellen vorliegen. A. B o g u s l a w s k i — T. G a r n y s z - K o z l o w s k a , Addenda do frazeologii polskiej, E d m o n t o n 1978.

K. O N ASCH, L'iconographie russe de l'apocalypse

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R. BARTHÉLÉMY-VOGELS - CH. HYART, L'iconographie russe de l'apocalypse. La „Mise à J o u r " des Livres Saints d'après le manuscrit n° 6 de la Collection Wittert appartenant à la Bibliothèque Générale de l'Université de Liège ( = Bibliothèque de la Faculté de Philosophie et Lettres de l'Université de Liège. Fascicule CCXLI). Société d'Édition „Les Belles Lettres", Paris 1985. Die Veranlassung zu dieser Arbeit bestand darin, „de faire connaître aux érudits d'Occident" mit einem literatur- und kunstgeschichtlich gleich bedeutsamen Denkmal, das in der Geschichte der russischen Apokalypsehandschriften eine Schlüsselstellung einnimmt: der Hs. Wittert 6 der Universitätsbibliothek in Liège (Lüttich) mit dem Sigel „ W " . Zugleich will sie sie verstanden wissen als Studie zum Thema „La ,mise à jour' des Livres Saints", wie sein Untertitel sagt. Diesem Titel ist der 2. Teil „ L e c a d r e h i s t o r i q u e " vor allem mit Abschn. 3 „Mise à jour des Livres Saints" gewidmet. Wird man im 1. Teil „ L e m a n u s c r i t W i t t e r t JY° 6" über die Qualität und Herkunft des Papiers (niederländischer Import aus dem 17./18. J h . , restauriert wahrscheinlich in Jaroslavl' Anfang/Mitte des 18. Jh., Entstehung zur Zeit Peters I.), des Einbandes, der Art der Anlage der Miniaturen u. a. unterrichtet, so erfolgt in Teil 3 , , L e t e x t e " eine detaillierte Textanalyse. Ihr ist eine historische Übersicht des slavischen Apokalypsetextes vorangestellt, die von den bosnischen Übersetzungen über die Apokalypse der Gennadij-Bibel bis zur ersten Druckausgabe Kopystenskij' 1625 reicht sowie die Ostrog-Bibel von 1581 und die „Moskauer Bibel" von 1663 miteinbezieht. Dabei sind „deux sources bien distinctes" zu unterscheiden: 1. der Text der soeben genannten Vollbibeln und 2. der Text des wichtigsten und verbreitetsten Kommentators der Apokalypse, Andreas von Kaisareia (563 — 637), von dem es heißt: „Le chercheur qui sui mot à mot le texte de l ' A p o c a l y p s e s'aperçoit que c'est encore toujours celui d'André de Césarée qui est à la base de la dernière mise à jour" (S. 21), also auch f ü r die Vollbibeln. Der Scopus der Untersuchung besteht in einer vergleichenden Analyse von „ W " mit „ Y " ( = „mon Yous", Cyc.'iaeu, PyccKHö jnmeBOfi AnoKa.iiincuc, M. 1884). Zu diesem Zweck werden ferner herangezogen : „ R " = Sammlung Rumjancev n° 8 (Lenin-Bibliothek, Moskau), 13. oder 14. J h . „ A " = Übersetzung des Metropoliten Aleksej (Mitte 14. Jh.), nach der Ausgabe Leontij's, Moskau 1892, sowie die Druckausgaben „ 0 " = Ostrog. Bibel von 1581, „ G " = Bibel aus der Epoche Peters I., NiederländischSlavisch, wichtig für die Datierung von „ W " , sowie „ S " = Synodalausgabe, die „couramment en usage dans l'Église orthodoxe", leider ohne Angabe der Ausgabe. Das Ergebnis dieser paläographischen, linguistischen, orthographischen und lexikalischen Vergleiche einschließlich sehr interessanter Glossen in „ Y " (S. 43—50) wird so formuliert: „ . . . le texte de l'Apocalypse qui figure dans W est la copie de celui qu'on trouve dans un manuscrit du X V I e siècle que Bouslaev nomme constamment: ,Mon Yous' ... La principale particularité orthographique de ce manuscrit est l'utilisation de la lettre slave ,yous' ai là où les autres emploient le ou grec, écrits ou Y en slavon. La différence capitale d'avec W est que Y cqntient les commentaires d'André de Césarée que W ne recopie pas. Des concordances orthographiques, morphologiques, syntaxiques et stylistiques avec ce manuscrit apparaissent à toutes les lignes de notre W " (S. 35). Oder noch deutlicher: „II y a donc de fortes présomptions pour croire que le manuscrit que nous appelons Yous . . . est le modèle qui a été utilisé pour établir le texte de notre Wittert 6" (S. 77). Der 4., umfänglichere Teil beschäftigt sich mit der Illustration der Hs „ W " . Auch er holt zunächst mit einer „Introduction historique" weit aus, indem in einer kurzen Skizze die russische Malerei bis zum 18. J h . behandelt wird, der Ausführungen über die „manuscrits historiques" (Harmatolos, RadziwillChronik) folgen, die Bedeutung des Metropoliten Makarij (1482 — 1563) f ü r den „CBOH", d. h. den „JlmjeBoit ¿IeTomiCHfalfi cnojl", und seine Miniaturistik und schließlich über die Apokalypse in der russischen Kunst, in deren Mittelpunkt die Arbeit von M. B. AnnaTOB, IlaMHTHHK flpeBHepyccKofi /KHBonncH KOHua XV Bena: HKOHa AnonaJinnciic YeneHCKoro Coôopa M0CK0BCK0r0 KpeMJiH, M. 1964, steht. Wie der Text werden nun die Miniaturen von „ W " einer detaillierten Vergleichsanalyse unterzogen, wobei , , P " ( = Soloveckij-Filaret) aus dem 16. J h . und „ B " ( = CudovKIoster-Manuskript) aus der ersten Hälfte des 18. J h . eine wichtige Rolle spielen. Es zeigt sich, „que la miniature de W a été faite au début du X V I I I e , qu'elle représente donc une copie au départ d'une tradition remontant au X V I e siècle" (S. 100). Auf dieser Grundlage folgt in der „ D e s c r i p t i o n d e s m i n i a t u r e s " eine mit Akribie durchgeführte Darstellung und Analyse der einzelnen Bilder unter Hinweis auf die abfolgenden Verse der Apokalypse, die durch jene eine oft interessante Interpretation erfahren. Dem entspricht eine Numerierung der Miniaturen von „ W " im Abbildungsteil, deren Schwarz-Weiß-Wiedergabe leider nicht die im Kontext behan-

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delten ästhetischen Q u a l i t ä t e n v e r m i t t e l n können. Die z. T. erstaunliche Vielfalt der Motivvariationen wird übersichtlich b e h a n d e l t u n d bleibt im übrigen nicht selten diskutabel (so ist z. B. die Darstellung des reitenden Erzengels Michael auf , , W " 34 [S. 125] gerade in der E n t s t e h u n g s z e i t von „ W " vor allem in N o r d r u ß l a n d gar nicht so selten. Zu fragen wäre, ob die Darstellung des Z e b a o t h m i t dem E m m a n u e l im Schoß, wiederum im Z u s a m m e n h a n g m i t der E n t s t e h u n g s z e i t von , , W " , nicht u n t e r dem E i n f l u ß des westlichen „ G n a d e n s t u h l e s " stehen k ö n n t e [ebenfalls „ W " 34]). E r w ä h n t werden sollte die detaillierte Analyse der „ R e a l i a " (Himmel, Meer, Vegetation, Architektur, Gebäude, Kirchen, S t ä d t e u. a.). Teil 5 beschäftigt sich m i t d e m „ R é c i t é d i f i a n t " , d. h. den d e m A p o k a l y p s e t e x t o f t beigegebenen erbaulichen T e x t e n u n d deren Illuminationen. Das entsprechende Bildmaterial im A n h a n g w u r d e den Miniaturen ( = M) von „ R " e n t n o m m e n . Rezensent hält diesen Teil f ü r eine Bereicherung der Arbeit u n d unseres Wissens u m d e n vollständigen U m f a n g der russischen Apokalypse, insofern a u c h das deutsche „ e r b a u l i c h " hier in Bild u n d T e x t eine semantische I n t e r p r e t a t i o n e r f ä h r t , die d e m griechischen ,,oùto8o[jicj" entspricht. D a s d o r t e n t f a l t e t e T h e m a , das m a n a u c h m i t „ v a n i t a s v a n i t a t i s " umschreiben k a n n , f i n d e t s i c h a u c h i m „RYXOBHHÄ CTHX" (Z. B . „ O C M e p r a " u n d „ C M e p T t AHHKH B o H H a " ) u n d i n d e r

Ikonenmalerei (Dreiteilige I k o n e „MeropiiH >KH3HH HeJiOBeKa", IIpeo6pa>KeHCKaH uepKOBb auf K i z i [ C . HMIIJUKOB/H. RYPBHQ, KHHJH. FLPEBHHH HMBONHCI. K a p e j i m i , ILETPOAABOACK 1 9 7 9 , N r . 2 6

bis 27, S. 82] u n d das „JjBoecJiOBne »KHBOTa h CMepra" im Museum von P e t r o z a v o d s k , erstere 18., zweite 17. J h . ) . D a z u ergänzend zwei Titel: P . IT. ^ M H T p H e ß a , IIoBecTH o cnope ÎKH3HH H C M e p T H , M.—JI. 1964, u n d Th. Lewandowski, D a s mittelniederdeutsche Zwiegespräch zwischen d e m Leben u n d dem Tode u n d seine altrussische Übersetzung, W i e n — K ö l n — G r a z 1972. Übrigens h ä t t e die S. 185 g e n a n n t e Arbeit von I. Nowikowa S. 207 noch einmal e r w ä h n t werden sollen. Die „Conclusions" der Arbeit lassen sich wie folgt kurz so formulieren: 1. Die B e d e u t u n g der Apokalypse ergibt sich aus der eschatologischen bis chiliastischen S i t u a t i o n in R u ß l a n d v o m 16. bis 18. J h . 2. D a m i t s t e h t im Z u s a m m e n h a n g die B e n u t z u n g in der Auseinandersetzung m i t den Altritualisten u n d 3. die F o r m v o n , , W " als M a n u s k r i p t , weil sich die Altritualisten gegenüber den g e d r u c k t e n B ü c h e r n sehr kritisch verhielten. „ . . . on p e u t dire que n o t r e m a n u s c r i t a le souci c o n s t a n t d ' ê t r e s t r i c t e m e n t d a n s la ligne orthodoxe, de présenter u n témoignage sûr s ' a p p u y a n t sur la tradition, p a r t a n t , plus sûr que le t e x t e i m p r i m é " (S. 212). 4. D a s k o m m t u. a. darin zum Ausdruck, d a ß m i t der Modernisierung der alten Orthographie sehr z u r ü c k h a l t e n d v e r f a h r e n wird. „ L e travail est finalement superficiel t a n t reste g r a n d le respect pour la Parole. Il se situe en plein évolution du m o u v e m e n t qui a b o u t i r a à l'établissement du t e x t e définitif en 1751" (S. 214). 5. E s wird nicht ausgeschlossen, „ q u e le papier des feuilles de garde p r o v i e n t d ' u n e f a b r i q u e de J a r o s l a v l " (S. 213) m i t seiner reichen K a u f m a n n s c h a f t u n d deren H a n d e l s v e r b i n d u n g e n n a c h W e s t e u r o p a . Die Apokalypse-Fresken in den K i r c h e n J a r o s l a v ' s (vgl. auch S. 97f.) zeigen „ u n e certaine similitude d a n s la t e c h n i q u e de la m i n i a t u r e " . Die Verf. h a l t e n es f ü r möglich, d a ß sich „ W " in der ber ü h m t e n Bibliothek des Verklärungsklosters b e f u n d e n h a t , von d e m a u s eine intensive Mission u n t e r den nördlichen Altritualisten betrieben wurde. I n eine solche H y p o t h e s e würde sich die N ä h e des „récit é d i f i a n t " m i t dem „ S i n o d i k " von K o l j a s n i k o v o um 1640 in der Provinz J a r o s l a v ' g u t einfügen m i t seinen 32 Miniaturen, „ q u i a c c o m p a g n e n t de courts récits relatifs à de saints personnages, à la m o r t de l ' h o m m e et à l'utilité de l ' a u m ô n e " (S. 205). 6. Schließlich bleibt noch hinsichtlich der I k o n o g r a p h i e festzuhalten, bei allgemeiner B i n d u n g a n byzantinische P r o t o t y p e n , „l'originalité consiste à r a p p r o c h e r les mortels e t les b â t i m e n t s d ' u n e réalité russe plus t a n g i b l e " (S. 210). Stilistisch u n d ästhetisch ist eine deutliche N ä h e zur Miniaturistik historischer Hss. des 16. J h . festzustellen. Auffällig bleibt „ u n e plus grande rigueur d a n s la représentation des personnes de la Trinité", wobei Christus „la seule forme de Dieu visible pour les h o m m e s " bleibt, w ä h r e n d „ S a b a o t h et l ' E s p r i t Saint ne sont dessinées que lorsque la nécessité d ' i n t e r p r é t a t i o n s'en f a i t a b s o l u m e n t s e n t i r " (ebd.), wobei allerdings zu b e m e r k e n ist, d a ß der barocke S a b a o t h in der russischen Malerei immer noch etwas als „Alter der T a g e " , d. h. „als die p r ä e x i s t e n t e zweite Person der T r i n i t ä t " v e r s t a n d e n wurde, „die m i t G o t t v a t e r eins i s t " (Lexikon der christl. Ikonographie 1, 395). Die U n t e r s u c h u n g e n v o n Barthélémy-Vogels u n d H y a r t stellen ohne Zweifel eine wertvolle Bereicherung u n d Vertiefung unserer K e n n t n i s s e der russischen Apokalypse, ihres Textes, ihrer I k o n o g r a p h i e u n d ihres soziokulturellen Umfeldes dar, auch wenn m a n in der S e k u n d ä r l i t e r a t u r vielleicht diesen oder jenen Titel gerne gesehen h ä t t e 1 . K. Onasch 1

Ch. H a n n i c k h a t i n : Die alten Übersetzungen des N e u e n T e s t a m e n t s , die K i r c h e n v ä t e r z i t a t e u n d Lektionare. H g . von K . A l a n d , Bln. (West) 1972, sowie u n t e r d e m L e m m a „Bibelüber-

K.

MÜLLER,

Der Holzbau bei den Nordwestslawen

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E. SCHULDT, Der Holzbau bei den nordwestslawischen Stämmen vom 8. bis 12. Jahrhundert (Beiträge zur Ur- und Frühgeschichte der Bezirke Rostock, Schwerin und Neubrandenburg, 21. Hg. vom Museum für Ur- und Frühgeschichte Schwerin durch H. K e i l i n g). V E B Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1988, 166 S. sowie 131 Textabbildungen und 38 Tafeln. Ewald Schuldt 1 , Autor zahlreicher einschlägiger Publikationen 2 , ist auf Grund vieler Ausgrabungen, so beispielsweise in Teterow, Neu Nieköhr/Walkendorf, Sukow, Behren-Lübchin, Sternberger Burg, Groß Görnow und Groß Raden, seit langem einer der maßgebenden Sachverständigen f ü r den nordwestslawischen Burgenbau. In Verbindung mit dem beabsichtigten originalgetreuen Wiederaufbau des slawischen Tempelortes des 9./10. J h . von Groß Raden (Krs. Sternberg/Bez. Schwerin) als archäologisches Freilichtmuseum am Sternberger See — 1986 wurde das Museumsgebäude fertiggestellt, und 1990 soll das gesamte Projekt verwirklicht sein — ergab sich die Möglichkeit, den Holzbau der Nordwestslawen umfassend zu erforschen, denn Ausgrabungen förderten bereits seit 1950 im ehem. nordwestslawischen Siedlungsgebiet im kultischen Zentrum im Stammesgebiet der Warnower — teilweise bedingt durch die Lage in Niederungen und in Seen — einstmals verarbeitetes Bauholz in noch sehr gut erhaltenem Zustande zutage. Die eingehende Untersuchung der in den letzten 35 Jahren in den mecklenburgischen Bezirken gewonnenen umfangreichen Ausgrabungsfunde von mehreren tausend Bauhölzern in slawischen Siedlungszentren des 8. —12. J h . — berücksichtigt werden auch Forschungen in Vipperow, Ralswiek, Neubrandenburg, Feldberg, Dorf Mecklenburg, in der Lieps sowie in Wagrien —, deren Details damals in ihrer Bedeutung noch nicht immer erkannt wurden, führte nunmehr zu den Aussagen des zu würdigenden Werkes. Die mannigfaltige Gestalt der Bauhölzer sowie ihre vielerlei Verbindungen miteinander, spezielle bauliche Konstruktionen wie die Anwendung von gemeinsamen Grundelementen für unterschiedliche Baugeschehen, Handwerkszeuge sowie Techniken der Holzbearbeitung, Zeugnisse eines hochentwickelten Zimmermannhandwerkes, sind Gegenstand der Darstellung dieses Buches. Durch gänzlich unversehrte Bauabschnitte insbesondere in Sukow (Krs. Teterow/Bez. Neubrandenburg) sowie in Teterow wird die beste Untersuchungsausbeute zum Wege-, Straßen- und Brükkenbau erzielt. Die in Teterow anzutreffende Brückenkonstruktion mit dem aus vier Pfählen sowie einem Träger gebildeten Joch wird f ü r den Brückenbau der Nordwestslawen als typisch erwiesen. Auch für das bei den obodritischen Stämmen im 9. J h . beobachtete Flechtwandhaus mit einem Sattel- oder Walmdach aus einem Gemisch von Rohr und Ried sowie mit lehmbeworfenen Wänden — aus dem 7. und 8. J h . lassen sich für den Hausbau keine Befunde beibringen —

Setzungen" in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 6, eine Übersicht der slawischen Übersetzungen gegeben. Erinnert werden sollte an R. A. K l o s t e r m a n n , Probleme der Ostkirche, Göteborg 1955, Kap. 8: Die Bibel in Rußland. — Die ältere und neuere Literatur zur Bücherrevision in Rußland hat s. Z. H. N e u b a u e r , Car und Selbstherrscher. Beiträge zur Autokratie in Rußland, Wiesbaden 1964, aufgearbeitet. — Zu Avvakum: P. H a u p t m a n n , Altrussischer Glaube. Der Kampf des Protopopen Avvakum gegen die Kirchenreform des 17. Jahrhunderts, Göttingen 1963 (Reg. Apokalyptik); A. H. P O Ö H H C O H , Bopbßa naeü B pyccKOß JiHTepaType X V I I ueKa, M. 1974 (Per.: AnoKajiiinciic). — Neben Milosevic (S. 189) sollte B. B r e n k , Tradition und Neuerung in der christlichen Kunst des ersten Jahrtausends. Studien zur Geschichte des Weltgerichtsbildes, Wien 1966, erwähnt werden, neben Rozov (S. 34 u. ö.) ,II,peBHepyccKoe HCKyccTBO. PyKoniiCHaH KHHra, T. 1, M. 1972, T. 2, M. 1974. — Von V. N. L a z a r e v sollte seine „Storia della pittura bizantina", Turin 1967, neben dem zweibändigen Werk von 1947 (Moskau) genannt werden. 1

2

Ewald Schuldt verstarb am 1. J u n i 1987 im Alter von 73 J a h r e n ; vgl. Ausgrabungen und Funde. Archäologische Berichte und Informationen 33 (1988), H. 1, S. 1, und H. 3, S. 109f. vgl. Die slawischen Burgen von Neu-Nieköhr/Walkendorf, Kreis Teterow, Schwerin 1967; Die mecklenburgischen Megalithgräber, Bln. 1972; Perdöhl. Ein Urnenfriedhof der späten Kaiserzeit und der Völkerwanderungszeit in Mecklenburg, Bln. 1976; Groß Raden. Die Keramik einer slawischen Siedlung des 9./10. Jhs., Bln. 1981; zahlreiche weitere Veröffentlichungen finden sich im Literaturverzeichnis des vorlieg. Buches, S. 126.

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konnten aus Groß Raden zahlreiche Einzelheiten gewonnen werden. (Für das bei den Slawen allenthalben anzutreffende Blockhaus indes sind zwar viele Grundrisse erhalten, aber wenig aufgehendes Bauholz überliefert.) Die sehr genauen Angaben zu diesen erwähnten Baugeschehnissen imponieren besonders. Die bei weitem aussagefähigsten Ergebnisse zum Burgenbau — nachweisbar sind im Untersuchungsgebiet mehr als 300 Burgplätze in sehr unterschiedlichem Erhaltungszustand — bringen die Ausgrabungen in der obodritischen Fürstenburg des 11./12. J h . von Behren-Lübchin (Krs. Teterow) bei, wo von 1957 bis 1961 eine auf einer Insel in einem verlandeten See befindliche' Anlage sehr detailliert studiert werden konnte. Auch die Untersuchungsergebnisse zu der auf einer acht H e k t a r großen langgestreckten Insel im Teterower See angelegten Burg, die im Zuge gesellschaftlicher Umschichtung um die Mitte des 9. J h . errichtet wurde, erlauben eine oftmals bis in Einzelheiten reichende Nachbildung der Anlage, die den Mittelpunkt eines größeren Territoriums im Stammesgebiet der Zirzipanen bildete. Die einstige Architektur des Siedlungskomplexes im vor 1000 J a h r e n für einen Tempelort gewählten und genutzten Niederungsgebiet in Schutzlage auf einer Halbinsel wie Insel am bzw. im Sternberger Binnensee wurde bisher am besten nachvollzogen. Lediglich eben in Groß Raden gab es f ü r einen Kultbau noch so viele Bauhölzer, daß die Nachbildung eines solchen Bauwerks möglich wurde — und es konnte hier erstmals einer der oft erwähnten Tempel der nordwestslawischen Stämme an seinem einstigen Standort im Siedlungsgelände vorgestellt werden. Die Holzbauten vermitteln einen umfassenden Einblick in das große Können slawischer Zimmerleute des 9./10. J h . Das Werk von Schuldt gestattet aufschlußreiche Einsicht in die Holzbaukultur der damaligen Nordwestslawen, die auf Grund größerer Ausgrabungen in den letzten J a h r z e h n t e n in einstigen Zentren des ehem. nordwestslawischen Siedlungsgebietes in zahlreichen Funden von g u t erhaltenen Bauhölzern zutage kam. Viele eindrucksvolle Abbildungen sowie Tafeln veranschaulichen die lehrreiche Darstellung des unumstrittenen Fachmannes. Unbestreitbar ist der Wert der Publikation als ein wichtiger Anteil zum Wissen über das Siedlungswesen, das Straßen- und Brückenbaugeschehen sowie den Burgenbau der einstigen Nordwestslawen auf dem Gebiete der D D R . K.

Midier

CH. L Ü B K E , Regesten zur Geschichte der Slaven an Elbe und Oder (vom Jahr 900 an). Teil I: Verzeichnis der Literatur und der Quellensigel mit einem Vorwort von H . L u d a t , 1984, 303 S.; Teil II: Regesten 9 0 0 - 9 8 3 , 1985, 315 S.; Teil III: Regesten 9 8 3 - 1 0 1 3 , 1986, 317 S.; Teil IV: Regesten 1013 — 1057, 1987, 303 S. ( = Osteuropastudien der Hochschulen des Landes Hessen, Reihe I : Gießener Abhandlungen zur Agrar- und Wirtschaftsforschung des europäischen Ostens, Bde. 131, 133, 134 und 152). Zentrum f ü r kontinentale Agrar- und Wirtschaftsforschung, Gießen. I n Kommission bei Duncker & Humblot, Berlin (West). In rascher Folge sind bisher vier Bände der „Regesten zur Geschichte der Slaven an Elbe und Oder" erschienen. Sie sind ein Teilergebnis langjähriger Arbeiten unter der Leitung von Herbert Ludat. Diese h a t t e n zum Ziel, f ü r das slawisch-deutsche Kontaktgebiet zwischen Saale/Elbe im Westen, Oder im Osten, der Ostsee im Norden und dem Erzgebirge im Süden in der Zeit zwischen Einwanderung der Slawen in diesen R a u m (6. Jh.) und dem Beginn der Kolonisation (12. Jh.) sowohl die Quellen in Regestenform als auch die wissenschaftlichen Forschungsergebnisse der Historiker, Archäologen und Sprachwissenschftler zugänglich zu machen. Dies ist in bemerkenswerter Weise gelungen. Teil I bietet ein umfangreiches Literatur- und Quellenverzeichnis, das sich auf den gesamten Zeitraum des Regestenwerkes vom 6. —12. J h . bezieht. Die Fülle des erfaßten Materials ist beeindruckend. Neben den deutschsprachigen Arbeiten sind auch die Ergebnisse der tschechischen und polnischen Forschungen berücksichtigt. I n dem in Teil I enthaltenen Vorwort verweist H . L u d a t auf die vielen unterschiedlichen Publikationen und Diskussionen in den letzten 30 J a h r e n , die das große Interesse an der Frühgeschichte des slawisch-deutschen Kontaktgebietes zwischen Elbe und Oder zeigen, so daß es erforderlich wurde, die Quellen in der gewählten Form der Regesten zugänglich zu machen und die sich darauf beziehende Literatur aufzuarbeiten. Begonnen wird in Teil I I mit der Veröffentlichung der Regesten vom J a h r 900 bis 983. (Die

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konnten aus Groß Raden zahlreiche Einzelheiten gewonnen werden. (Für das bei den Slawen allenthalben anzutreffende Blockhaus indes sind zwar viele Grundrisse erhalten, aber wenig aufgehendes Bauholz überliefert.) Die sehr genauen Angaben zu diesen erwähnten Baugeschehnissen imponieren besonders. Die bei weitem aussagefähigsten Ergebnisse zum Burgenbau — nachweisbar sind im Untersuchungsgebiet mehr als 300 Burgplätze in sehr unterschiedlichem Erhaltungszustand — bringen die Ausgrabungen in der obodritischen Fürstenburg des 11./12. J h . von Behren-Lübchin (Krs. Teterow) bei, wo von 1957 bis 1961 eine auf einer Insel in einem verlandeten See befindliche' Anlage sehr detailliert studiert werden konnte. Auch die Untersuchungsergebnisse zu der auf einer acht H e k t a r großen langgestreckten Insel im Teterower See angelegten Burg, die im Zuge gesellschaftlicher Umschichtung um die Mitte des 9. J h . errichtet wurde, erlauben eine oftmals bis in Einzelheiten reichende Nachbildung der Anlage, die den Mittelpunkt eines größeren Territoriums im Stammesgebiet der Zirzipanen bildete. Die einstige Architektur des Siedlungskomplexes im vor 1000 J a h r e n für einen Tempelort gewählten und genutzten Niederungsgebiet in Schutzlage auf einer Halbinsel wie Insel am bzw. im Sternberger Binnensee wurde bisher am besten nachvollzogen. Lediglich eben in Groß Raden gab es f ü r einen Kultbau noch so viele Bauhölzer, daß die Nachbildung eines solchen Bauwerks möglich wurde — und es konnte hier erstmals einer der oft erwähnten Tempel der nordwestslawischen Stämme an seinem einstigen Standort im Siedlungsgelände vorgestellt werden. Die Holzbauten vermitteln einen umfassenden Einblick in das große Können slawischer Zimmerleute des 9./10. J h . Das Werk von Schuldt gestattet aufschlußreiche Einsicht in die Holzbaukultur der damaligen Nordwestslawen, die auf Grund größerer Ausgrabungen in den letzten J a h r z e h n t e n in einstigen Zentren des ehem. nordwestslawischen Siedlungsgebietes in zahlreichen Funden von g u t erhaltenen Bauhölzern zutage kam. Viele eindrucksvolle Abbildungen sowie Tafeln veranschaulichen die lehrreiche Darstellung des unumstrittenen Fachmannes. Unbestreitbar ist der Wert der Publikation als ein wichtiger Anteil zum Wissen über das Siedlungswesen, das Straßen- und Brückenbaugeschehen sowie den Burgenbau der einstigen Nordwestslawen auf dem Gebiete der D D R . K.

Midier

CH. L Ü B K E , Regesten zur Geschichte der Slaven an Elbe und Oder (vom Jahr 900 an). Teil I: Verzeichnis der Literatur und der Quellensigel mit einem Vorwort von H . L u d a t , 1984, 303 S.; Teil II: Regesten 9 0 0 - 9 8 3 , 1985, 315 S.; Teil III: Regesten 9 8 3 - 1 0 1 3 , 1986, 317 S.; Teil IV: Regesten 1013 — 1057, 1987, 303 S. ( = Osteuropastudien der Hochschulen des Landes Hessen, Reihe I : Gießener Abhandlungen zur Agrar- und Wirtschaftsforschung des europäischen Ostens, Bde. 131, 133, 134 und 152). Zentrum f ü r kontinentale Agrar- und Wirtschaftsforschung, Gießen. I n Kommission bei Duncker & Humblot, Berlin (West). In rascher Folge sind bisher vier Bände der „Regesten zur Geschichte der Slaven an Elbe und Oder" erschienen. Sie sind ein Teilergebnis langjähriger Arbeiten unter der Leitung von Herbert Ludat. Diese h a t t e n zum Ziel, f ü r das slawisch-deutsche Kontaktgebiet zwischen Saale/Elbe im Westen, Oder im Osten, der Ostsee im Norden und dem Erzgebirge im Süden in der Zeit zwischen Einwanderung der Slawen in diesen R a u m (6. Jh.) und dem Beginn der Kolonisation (12. Jh.) sowohl die Quellen in Regestenform als auch die wissenschaftlichen Forschungsergebnisse der Historiker, Archäologen und Sprachwissenschftler zugänglich zu machen. Dies ist in bemerkenswerter Weise gelungen. Teil I bietet ein umfangreiches Literatur- und Quellenverzeichnis, das sich auf den gesamten Zeitraum des Regestenwerkes vom 6. —12. J h . bezieht. Die Fülle des erfaßten Materials ist beeindruckend. Neben den deutschsprachigen Arbeiten sind auch die Ergebnisse der tschechischen und polnischen Forschungen berücksichtigt. I n dem in Teil I enthaltenen Vorwort verweist H . L u d a t auf die vielen unterschiedlichen Publikationen und Diskussionen in den letzten 30 J a h r e n , die das große Interesse an der Frühgeschichte des slawisch-deutschen Kontaktgebietes zwischen Elbe und Oder zeigen, so daß es erforderlich wurde, die Quellen in der gewählten Form der Regesten zugänglich zu machen und die sich darauf beziehende Literatur aufzuarbeiten. Begonnen wird in Teil I I mit der Veröffentlichung der Regesten vom J a h r 900 bis 983. (Die

E . HEXELSCHNEIDER, Russische Volksdichtung

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Regesten f ü r die Zeit bis 900 sollen zu einem späteren Z e i t p u n k t veröffentlicht werden.) J e d e s Regest ist in vier Abschnitte eingeteilt. I n A b s c h n i t t I s t e h t der R e g e s t t e x t , in I I folgen die Quellenangaben. Der A b s c h n i t t I I I bietet weiterführende L i t e r a t u r u n d vor allem die A n m e r k u n g e n zu den im R e g e s t t e x t e n t h a l t e n e n E i g e n n a m e n u n d besonderen Termini. Hierbei sind f ü r d e n Namenforscher die erfolgten Identifizierungen, besonders der u r k u n d l i c h e n E r w ä h n u n g e n der Ortsn a m e n m i t den heutigen bzw. vergangenen Örtlichkeiten, die Z u s a m m e n s t e l l u n g der jeweiligen L i t e r a t u r , worunter a u c h die n a m e n k u n d l i c h e e n t h a l t e n ist, v o n besonderem Interesse. Auf k o n t r o verse Meinungen wird öfters hingewiesen, so d a ß der interessierte Forscher in die Lage versetzt wird, den unterschiedlichen Meinungen nachzugehen. I n A b s c h n i t t I V erfolgt d a n n eine zusammenfassende Darlegung des neuesten Forschungsstandes. N a c h d e m in Teil I I I der Z e i t r a u m von 985 — 1013 e r f a ß t ist, wird m i t Teil I V der Regesten, die sich auf die Zeit von 1013 — 1057 erstrecken, ein vorläufiger Abschluß erreicht. Wie a u s d e m Vorw o r t zu diesem B a n d zu e r f a h r e n ist, sollen die Arbeiten zwar bis ins 12. J h . , den Beginn der mittelalterlichen Kolonisation, f o r t g e f ü h r t werden, doch ist als nächster Teil erst einmal ein N a m e n register zu e r w a r t e n , das dem B e n u t z e r den Zugang zu den bisher publizierten Quellen u n d Literat u r a n g a b e n erleichtern wird. Bereits die erschienenen vier B ä n d e der Regesten bringen ein reichhaltiges u n d wertvolles Material f ü r die Siedlungs-, Wirtschafts- u n d Sozialgeschichte der zwischen E l b e u n d Oder siedelnden slawischen S t ä m m e u n d ihre Beziehungen zu den N a c h b a r m ä c h t e n , das von V e r t r e t e r n verschiedener Disziplinen d a n k b a r g e n u t z t werden wird. Auch der N a m e n f o r s c h u n g , die zur E r h e l l u n g der Sprach- u n d Siedlungsgeschichte dieses R a u m e s beitragen will u n d k a n n , bieten die Regesten in der vorliegenden F o r m eine große Hilfe. S. Wauer

Beiträge zur russischen der Abteilung f ü r Slav. der Freien U n i v e r s i t ä t Berlin [West] 1987, 175

Volksdichtung. Herausgegeben von K . - D . S e e m a n n ( = Veröffentl. Sprachen u n d L i t e r a t u r e n des O s t e u r o p a - I n s t i t u t s [Slav. S e m i n a r ] a n Berlin, B d . 63). I n Kommission bei O t t o Harrassowitz, W i e s b a d e n ; S.

Klaus-Dieter S e e m a n n als Herausgeber dieser — sagen wir es v o r a b — sehr verdienstvollen Edition vornehmlich f ü r die deutschsprachigen L ä n d e r beschreibt eingangs die S i t u a t i o n , wie sie sich in der Forschung wohl der meisten L ä n d e r herausgebildet h a t : „Die T r e n n u n g von L i t e r a t u r wissenschaft u n d Volkskunde n a c h ihren Forschungsgegenständen L i t e r a t u r u n d V o l k s d i c h t u n g resp. Folklore ist inzwischen p e r f e k t geworden." (S. 7) Seemann f ü h r t Adolf S t e n d e r - P e t e r s e n an, der sich 1957 in seiner „Geschichte der russischen L i t e r a t u r " quasi d a f ü r entschuldigte, d a ß die russische Volksdichtung nicht m e h r m i t dargestellt wurde. N u n , ganz so bescheiden u n d zurückh a l t e n d m u ß m a n es im nichtslawischen Ausland h e u t e wohl n i c h t halten. U n d deshalb setzt die von D D R - W i s s e n s c h a f t l e r n j ü n g s t herausgegebene „Geschichte der russischen L i t e r a t u r v o n den Anfängen bis 1917" in ihrem ersten B a n d (Berlin —Weimar 1986) in einer breiten k u l t u r h i s t o r i s c h e n Sicht sehr wohl die russische Folklore m i t a n den Beginn der altrussischen K u l t u r ü b e r h a u p t , ohne selbstverständlich ein Gleichheitszeichen zwischen Volksdichtung u n d L i t e r a t u r zu setzen. Die deutschsprachigen Z u s a m m e n f a s s u n g e n zur russischen Folklore-Geschichte u n d - E n t w i c k l u n g lassen sich (sieht m a n von U n t e r s u c h u n g e n einzelner G a t t u n g e n ab) a n weniger als a n fünf F i n g e r n abzählen. I m G r u n d e sind es drei S c h r i f t e n : K . D. Zelenins grundlegende „Russische (ostslavische) V o l k s k u n d e " (1927), W . K ö p p e s kurzer, k a u m b e k a n n t e r Lehrbrief „Russische V o l k s d i c h t u n g " (1958) u n d V. I. Cicerovs Vorlesungszyklus von 1954 — 1956 „PyccKoe HapoßHoe TBopnecTBo" in der gekürzten u n d bearbeiteten F a s s u n g u n t e r dem Titel „ R u s s i s c h e V o l k s d i c h t u n g " (1968) (Die kritische B e m e r k u n g von B a r b a r a K r ä d e r , S. 150, A n m . 48, über angeblich im T e x t n i c h t verm e r k t e Bearbeitungskriterien ist u n z u t r e f f e n d , vgl. die V o r b e m e r k u n g des R e d a k t e u r s , S. 9/10). U m so wichtiger wird vorliegendes K o m p e n d i u m , z u m a l die russische Volksdichtung im akademischen L e h r b e t r i e b offensichtlich fast völlig verschwunden oder bestenfalls in den f a k u l t a t i v e n Bereich v e r b a n n t ist. Wer h a t z. B. bei u n s im wissenschaftlichen N a c h w u c h s noch f u n d i e r t e Kenntnisse über russische Folklore? Ohne sie aber k a n n — wie a u c h S e e m a n n S. 8 deutlich m a c h t — russische L i t e r a t u r bis in die Gegenwart hinein einfach nicht ausreichend begriffen werden. Die Edition ist aus einem Vortragszyklus über russische Volksdichtung a n der Freien U n i v e r s i t ä t Berlin (West) hervorgegangen, der vornehmlich E i n f ü h r u n g s c h a r a k t e r getragen h a t t e . I n a c h t

E . HEXELSCHNEIDER, Russische Volksdichtung

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Regesten f ü r die Zeit bis 900 sollen zu einem späteren Z e i t p u n k t veröffentlicht werden.) J e d e s Regest ist in vier Abschnitte eingeteilt. I n A b s c h n i t t I s t e h t der R e g e s t t e x t , in I I folgen die Quellenangaben. Der A b s c h n i t t I I I bietet weiterführende L i t e r a t u r u n d vor allem die A n m e r k u n g e n zu den im R e g e s t t e x t e n t h a l t e n e n E i g e n n a m e n u n d besonderen Termini. Hierbei sind f ü r d e n Namenforscher die erfolgten Identifizierungen, besonders der u r k u n d l i c h e n E r w ä h n u n g e n der Ortsn a m e n m i t den heutigen bzw. vergangenen Örtlichkeiten, die Z u s a m m e n s t e l l u n g der jeweiligen L i t e r a t u r , worunter a u c h die n a m e n k u n d l i c h e e n t h a l t e n ist, v o n besonderem Interesse. Auf k o n t r o verse Meinungen wird öfters hingewiesen, so d a ß der interessierte Forscher in die Lage versetzt wird, den unterschiedlichen Meinungen nachzugehen. I n A b s c h n i t t I V erfolgt d a n n eine zusammenfassende Darlegung des neuesten Forschungsstandes. N a c h d e m in Teil I I I der Z e i t r a u m von 985 — 1013 e r f a ß t ist, wird m i t Teil I V der Regesten, die sich auf die Zeit von 1013 — 1057 erstrecken, ein vorläufiger Abschluß erreicht. Wie a u s d e m Vorw o r t zu diesem B a n d zu e r f a h r e n ist, sollen die Arbeiten zwar bis ins 12. J h . , den Beginn der mittelalterlichen Kolonisation, f o r t g e f ü h r t werden, doch ist als nächster Teil erst einmal ein N a m e n register zu e r w a r t e n , das dem B e n u t z e r den Zugang zu den bisher publizierten Quellen u n d Literat u r a n g a b e n erleichtern wird. Bereits die erschienenen vier B ä n d e der Regesten bringen ein reichhaltiges u n d wertvolles Material f ü r die Siedlungs-, Wirtschafts- u n d Sozialgeschichte der zwischen E l b e u n d Oder siedelnden slawischen S t ä m m e u n d ihre Beziehungen zu den N a c h b a r m ä c h t e n , das von V e r t r e t e r n verschiedener Disziplinen d a n k b a r g e n u t z t werden wird. Auch der N a m e n f o r s c h u n g , die zur E r h e l l u n g der Sprach- u n d Siedlungsgeschichte dieses R a u m e s beitragen will u n d k a n n , bieten die Regesten in der vorliegenden F o r m eine große Hilfe. S. Wauer

Beiträge zur russischen der Abteilung f ü r Slav. der Freien U n i v e r s i t ä t Berlin [West] 1987, 175

Volksdichtung. Herausgegeben von K . - D . S e e m a n n ( = Veröffentl. Sprachen u n d L i t e r a t u r e n des O s t e u r o p a - I n s t i t u t s [Slav. S e m i n a r ] a n Berlin, B d . 63). I n Kommission bei O t t o Harrassowitz, W i e s b a d e n ; S.

Klaus-Dieter S e e m a n n als Herausgeber dieser — sagen wir es v o r a b — sehr verdienstvollen Edition vornehmlich f ü r die deutschsprachigen L ä n d e r beschreibt eingangs die S i t u a t i o n , wie sie sich in der Forschung wohl der meisten L ä n d e r herausgebildet h a t : „Die T r e n n u n g von L i t e r a t u r wissenschaft u n d Volkskunde n a c h ihren Forschungsgegenständen L i t e r a t u r u n d V o l k s d i c h t u n g resp. Folklore ist inzwischen p e r f e k t geworden." (S. 7) Seemann f ü h r t Adolf S t e n d e r - P e t e r s e n an, der sich 1957 in seiner „Geschichte der russischen L i t e r a t u r " quasi d a f ü r entschuldigte, d a ß die russische Volksdichtung nicht m e h r m i t dargestellt wurde. N u n , ganz so bescheiden u n d zurückh a l t e n d m u ß m a n es im nichtslawischen Ausland h e u t e wohl n i c h t halten. U n d deshalb setzt die von D D R - W i s s e n s c h a f t l e r n j ü n g s t herausgegebene „Geschichte der russischen L i t e r a t u r v o n den Anfängen bis 1917" in ihrem ersten B a n d (Berlin —Weimar 1986) in einer breiten k u l t u r h i s t o r i s c h e n Sicht sehr wohl die russische Folklore m i t a n den Beginn der altrussischen K u l t u r ü b e r h a u p t , ohne selbstverständlich ein Gleichheitszeichen zwischen Volksdichtung u n d L i t e r a t u r zu setzen. Die deutschsprachigen Z u s a m m e n f a s s u n g e n zur russischen Folklore-Geschichte u n d - E n t w i c k l u n g lassen sich (sieht m a n von U n t e r s u c h u n g e n einzelner G a t t u n g e n ab) a n weniger als a n fünf F i n g e r n abzählen. I m G r u n d e sind es drei S c h r i f t e n : K . D. Zelenins grundlegende „Russische (ostslavische) V o l k s k u n d e " (1927), W . K ö p p e s kurzer, k a u m b e k a n n t e r Lehrbrief „Russische V o l k s d i c h t u n g " (1958) u n d V. I. Cicerovs Vorlesungszyklus von 1954 — 1956 „PyccKoe HapoßHoe TBopnecTBo" in der gekürzten u n d bearbeiteten F a s s u n g u n t e r dem Titel „ R u s s i s c h e V o l k s d i c h t u n g " (1968) (Die kritische B e m e r k u n g von B a r b a r a K r ä d e r , S. 150, A n m . 48, über angeblich im T e x t n i c h t verm e r k t e Bearbeitungskriterien ist u n z u t r e f f e n d , vgl. die V o r b e m e r k u n g des R e d a k t e u r s , S. 9/10). U m so wichtiger wird vorliegendes K o m p e n d i u m , z u m a l die russische Volksdichtung im akademischen L e h r b e t r i e b offensichtlich fast völlig verschwunden oder bestenfalls in den f a k u l t a t i v e n Bereich v e r b a n n t ist. Wer h a t z. B. bei u n s im wissenschaftlichen N a c h w u c h s noch f u n d i e r t e Kenntnisse über russische Folklore? Ohne sie aber k a n n — wie a u c h S e e m a n n S. 8 deutlich m a c h t — russische L i t e r a t u r bis in die Gegenwart hinein einfach nicht ausreichend begriffen werden. Die Edition ist aus einem Vortragszyklus über russische Volksdichtung a n der Freien U n i v e r s i t ä t Berlin (West) hervorgegangen, der vornehmlich E i n f ü h r u n g s c h a r a k t e r getragen h a t t e . I n a c h t

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Z. Slaw. 34 (1989) 3

Beiträgen werden wichtige Gattungen der russischen Folklore behandelt, wie Sprichwörter, Rätsel, Märchen, Bylinen, Volksballaden und Brauchtumslieder. Vieles wurde ausgeklammert, so bedauerlicherweise das lyrische Lied („Brauchtumslieder im weiteren Sinne" bei Seemann, S. 9), das Volksdrama, die öastuska, geistliche Lieder und leider auch das historische Lied. Das Ergebnis ist trotz dieser Desiderata beeindruckend. Mit der vorliegenden Schrift ist zwar kein neuer, etwa gar systematischer Kurs über russische Volksdichtung, dennoch aber ein für Lehrzwecke sehr wohl nutzbares Material entstanden. Das zeigen besonders der strukturalistisch orientierte Beitrag von Friedrich S c h o l z „Methoden der Analyse des Volksmärchens" (S. 75ff.) sowie die Aufsätze von Barbara K r ä d e r „Russische dörfliche Hochzeitslieder und die Gattung der Klagen" (S. 136ff.) und Susanne Z i e g l e r „Russische Brauchtumslieder im Zyklus des Jahres" (S. 155, stark an Ciöerov angelehnt), die Volksdichtung als synkretistische und synthetische Kunst mit ihren Bezügen zum musikalischen Vortrag bzw. zum Brauchtum untersuchen. Alle Autoren sind — wenn auch durchaus nicht nach einem einheitlichen Schema — bemüht, den jeweiligen Stand der Forschung in seiner historischen Genesis und aktuellen Situation zu charakterisieren und eigene Positionen zu entwickeln. Einzig Georg M a y e r begnügt sich in seinem Aufsatz „Die russischen Bylinen im Spiegel der Forschungsgeschichte" (S. 112ff.) mit einer Darstellung der verschiedenen Konzeptionen. Sehr gut gearbeitete, auf die wesentlichen Texteditionen und andere Publikationen konzentrierte Bibliographien ergänzen die jeweiligen Kapitel. Ein Vorzug aller Darstellungen ist, daß die Verfasser oft weit über den Rahmen der russischen Folklore hinausgehen und diese nicht nur oft in einen slawischen Rahmen, sondern auch in den gesamteuropäischen Kontext stellen. Vor allem wird nach der Eigenständigkeit der einzelnen Folkloregattungen und der Folklore schlechthin gefragt, ohne daß ihr synkretischer Charakter etwa dabei verlorenginge oder notwendige Bezüge und Verbindungslinien übersehen würden. Charakteristisch gerade in dieser Beziehung ist Karl E i m e r m a c h e r s sehr diffizile Analyse über „Aspekte des literarischen Märchens in Rußland" (S. 92ff.), die ihn nach einem sehr detaillierten und scharfsinnigen Vergleich von A. S. Puskins Märchen vom Zaren Saltan mit den entsprechenden Volksmärchen, wie sie A. N. Afanas'ev verzeichnet, zu dem Ergebnis bringt, dieser liege u. a. in dem „Unterschied zwischen dem Prinzip der einfachen Variation mit Tendenz zur Reduktion und Stereotypisierung im Volksmärchen und dem von Puskin extensiv genutzten Variationsprinzip" (S. 102). Ausführlicher untersucht Eimermacher auch die Märchen von P. P. Ersov, VI. Dal' und V. A. 2ukovskij; vor allem fragt er dabei nach dem Verhältnis von „narodnost'" und „literaturnost'" und zieht den Schluß im Vergleich zu Schriftstellern des 18. Jh., wie N. M. Karamzin u. a., „daß es seit 1825/30 um eine Literarisierung von Volksmärchen, im 18. Jahrhundert jedoch um eine Folklorisierung der Literatur geht und daß . . . eine klare Tendenz zur Gattungsreinheit (z. B. durch das Merkmal der „skazoönost'") gibt, während für das 18. Jahrhundert gerade die Gattungsmischung, die Verwischung von Gattungsgrenzen charakteristisch ist." (S. 110) Eimermacher folgert daraus: „Erst an seinen (2ukovskijs — E. H.) Werken läßt sich nachweisen, daß die Volksdichtung nicht mehr nur als Materialreservoir für Motive usw. betrachtet wurde, sondern auch jede Gattung für sich als ein eigenständiges normatives System fungiert, das bei jeder Art von Literarisierung wert war, nach Möglichkeit in seinen Grundcharakteristika erhalten zu werden. In diesem Sinne stellen seine an der Volksdichtung orientierten Werke einen radikalen Bruch mit der Praxis des 18. Jahrhunderts dar und bildet sein Schaffen in diesem Bereich eine der wesentlichsten Voraussetzungen für die Symbiose von Volksdichtung und Literatur bei P U S K I N . " (S. 110) Derartige neuartige Forschungsansätze finden sich öfter, vor allem wenn — aufbauend auf den Leistungen sowjetischer Forscher, besonders von V. Ja. Propp — mit Hilfe struktureller Methoden oder der Semiotik vorgegangen wird. Dagmar B u r k h a r t z.B. befaßt sich in zwei Aufsätzen mit den epischen Kleinformen des Sprichworts und des Rätsels („Die semiotischen Dimensionen des russischen Sprichwortes", S. 13ff. und „ H E P h h h K O H b nptirAeT b oronb — Zur Geschichte und Struktur des russischen Volksrätsels", S. 30ff.) und formuliert als ein Resultat: „Untersucht man beide (Sprichwörter und Rätsel — E.H.) nach Kriterien der funktionalen Satzperspektive — nach topic und comment oder Thema-/Rhema-Kategorien —, stellt sich heraus, daß Rätsel(frage) und Sprichwort strukturell nicht unterschiedlich sind: Beide bestehen aus einem oder mehreren topics und einem oder mehreren comments . . . Beiden gemeinsam ist die metaphorische Verhüllung einer Bedeutung. Während das Rätsel aber in der Regel einen Gegenstand beschreibt, drückt das Sprichwort ein Urteil aus, bringt eine (soziale) Situation oder Beziehung auf den Nenner." (S. 63) Zwei entgegengesetzte Sprachhandlungen, nämlich die Spezifizierung im Rätsel und die Generalisierung im Sprichwort sind das Resultat (vgl. S. 64).

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E . HEXELSCHNEIDER, CoBeTCKan JiHTepaTypa B coBpeMeimoM MHpe

A m deutlichsten ist die ursprüngliche Vortragsform noch in Wolfgang G e s e m a n n s Beitrag „ Z u r Motivik der russischen Volksballade als G a t t u n g s k o n s t i t u e n t e " (S. 124ff.) b e w a h r t . Mit einer Reihe von Beispielen s u c h t der A u t o r deutlich zu m a c h e n , d a ß o f f e n b a r d a s „ P a t i e n s p r i n z i p " ein Universalprinzip der Balladen sein k ö n n t e : „Die Balladenfiguren sind Leidende, a n denen sich das Schicksal stellvertretend f ü r u n s alle vollzieht. Der Mensch, a u c h wenn er a k t i v die H y b r i s h e r a u f b e s c h w ö r t , ist u n d bleibt Spielball der N a t u r , der Triebe, vorgegebener N o r m e n u n d des Zufalls." (S. 128) Inwieweit das f ü r den Gesamtbereich der russischen Ballade s t i m m t , l ä ß t G. f r a g e n d offen, weil dazu eine vergleichende Balladenforschung u n a b d i n g b a r ist. E.

JL T. O E / J O C E E B A , CoBeTCKaa JiHTepaTypa B coBpeiweHHOM MHpe. IIpofijieMbi 3apy6emHbiMH mrraTejiHMH. HaaaTCJibCTBO „ H a y n a " , MocKBa 1987, 268 S.

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Zu d e n vielen Arbeiten über die A u f n a h m e u n d die W i r k u n g e n der S o w j e t l i t e r a t u r in der W e l t gesellt sich die vorliegende Monographie, m i t der V f n . sowohl im U m f a n g des e r f a ß t e n Materials als a u c h in der A r t des H e r a n g e h e n s N e u l a n d beschritten h a t . Sie g e h t weltweit vor u n d r ü c k t d a s E c h o in den Vordergrund, das die S o w j e t l i t e r a t u r bei den Lesern des Auslandes f i n d e t , w ä h r e n d gleichartige Schriften vor ihr n a c h L ä n d e r n oder regional vorgingen u n d sich dabei v o r n e h m l i c h auf Ä u ß e r u n g e n von Schriftstellern, K r i t i k e r n u n d Wissenschaftlern b e s c h r ä n k t e n . V f n . stellt sich d a m i t ein sehr anspruchsvolles Ziel. Sie m ö c h t e (S. 17) die Besonderheiten der R e z e p t i o n wesentlicher ideologischer, kulturwissenschaftlicher u n d ethisch-ästhetischer Aspekte der S o w j e t l i t e r a t u r in sozialistischen, kapitalistischen u n d in E n t w i c k l u n g s l ä n d e r n h e r a u s f i n d e n sowie die verschiedenen Leserkategorien im Ausland b e s t i m m e n . Als Materialbasis dienen ihr a u ß e r Mein u n g e n von Ausländern in der sowjetischen Presse schriftliche B e f r a g u n g e n von 5 0 0 0 Kursteiln e h m e r n , die sich in russischer Sprache u n d L i t e r a t u r in einjährigen W e i t e r b i l d u n g s k u r s e n a m Moskauer P u s k i n - I n s t i t u t in den J a h r e n 1974—1980 weitergebildet h a b e n . I h n e n w u r d e n (S. 17) m e h r als 30 F r a g e n vorgelegt, von denen Vfn. allerdings n u r vier publiziert. Genauere statistische A n g a b e n oder Tabellen über die nationale H e r k u n f t oder die Berufs- u n d A l t e r s s t r u k t u r der Bef r a g t e n werden freilich nirgends a n g e f ü h r t . Vfn. begnügt sich d a m i t , die Materialien im l a u f e n d e n T e x t zumeist ohne Zitatbeleg u n d mit ä u ß e r s t d ü r f t i g e n A n g a b e n zur Person — bestenfalls Beruf u n d L a n d — a n z u f ü h r e n . Das aber s c h r ä n k t den W e r t der U n t e r s u c h u n g leider ein, denn es wird nicht deutlich, wie r e p r ä s e n t a t i v die im T e x t a n g e f ü h r t e n Meinungen sind, da n u r selten erkennb a r wird, d a ß es a u c h vom K o n z e p t der V f n . abweichende Meinungen gibt (was j a n i c h t s N e g a t i v e s sein m u ß ) . Materialbasis waren im E i n j a h r e s k u r s des g e n a n n t e n Z e i t r a u m s a u c h die Ergebnisse von jeweils zwei K o n t r o l l a r b e i t e n pro K u r s , wobei Vfn. o f f e n l ä ß t (S. 17/18), welche T h e m e n gestellt w u r d e n . Weiterhin n u t z t Vfn. Erlebnisse u n d B e o b a c h t u n g e n w ä h r e n d vieler Gastvorlesungen u n d -vortrage im Ausland sowie D i p l o m a r b e i t e n von Ausländern aus E n t w i c k l u n g s l ä n d e r n zur sowjetischen L i t e r a t u r a n der L u m u m b a - U n i v e r s i t ä t Moskau. Zeithorizont ihrer Analyse sind die 70er J a h r e , wobei a u c h auf die vorhergehenden a n d e r t h a l b J a h r z e h n t e zurückgegriffen wird. Methodologisch s t ü t z t sich Vfn. vornehmlich auf N. A. R u b a k i n , wenngleich a u c h rezeptionsästhetische Arbeiten der D D R u n d der B R D g e n a n n t werden. D a s 1. K a p i t e l ist d e m „ H i s t o r i s m u s " der A u f n a h m e der S o w j e t l i t e r a t u r gewidmet, wobei V f n . hier — wie auch sonst im Verlauf ihrer Darstellung — zwischen wissenschaftlicher Analyse u n d E r z ä h l t o n s c h w a n k t . E i n e Historisierung der E t a p p e n der A u f n a h m e von S o w j e t l i t e r a t u r bleibt im B e k a n n t e n stecken; die Liste der a u f g e f ü h r t e n Schriftstellernamen ist traditionell, was n a t ü r l i c h m i t der E n t s t e h u n g s z e i t der Arbeit vor dem E r n e u e r u n g s p r o z e ß a b 1985 in der U d S S R zus a m m e n h ä n g t . I m 2. K a p i t e l , das sich m i t der S t r u k t u r u n d Spezifik der A u f n a h m e sowjetischer L i t e r a t u r im Ausland b e f a ß t , geht Vfn. von der richtigen These aus, d a ß gerade die R e z e p t i o n der S o w j e t l i t e r a t u r , der Griff des Lesers zu ihren W e r k e n in entscheidendem Maße b e s t i m m t wird d u r c h ihr Verhältnis zur dargestellten sowjetischen Wirklichkeit, die beim Leser entsprechende soziale u n d emotionale Vorstellungen über die Lebensweise in der S o w j e t u n i o n hervorr u f t . V f n . m a c h t dabei zu R e c h t auf den außerordentlich komplizierten u n d widersprüchlichen ideellen u n d ästhetischen Aneignungsprozeß a u f m e r k s a m (S. 50). Sie ä u ß e r t die d u r c h a u s richtige Idee, d a ß der Leser im Ausland die L i t e r a t u r oft a u c h als I n f o r m a t i o n s t r ä g e r über das L e b e n in der Sowjetunion ansieht, weil er es aus u n m i t t e l b a r e r A n s c h a u u n g nicht k e n n t , u n d zugleich h ä u f i g im B a n n e einer K r i t i k steht, die den Aneignungsprozeß f ö r d e r n oder h e m m e n k a n n .

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E . HEXELSCHNEIDER, CoBeTCKan JiHTepaTypa B coBpeMeimoM MHpe

A m deutlichsten ist die ursprüngliche Vortragsform noch in Wolfgang G e s e m a n n s Beitrag „ Z u r Motivik der russischen Volksballade als G a t t u n g s k o n s t i t u e n t e " (S. 124ff.) b e w a h r t . Mit einer Reihe von Beispielen s u c h t der A u t o r deutlich zu m a c h e n , d a ß o f f e n b a r d a s „ P a t i e n s p r i n z i p " ein Universalprinzip der Balladen sein k ö n n t e : „Die Balladenfiguren sind Leidende, a n denen sich das Schicksal stellvertretend f ü r u n s alle vollzieht. Der Mensch, a u c h wenn er a k t i v die H y b r i s h e r a u f b e s c h w ö r t , ist u n d bleibt Spielball der N a t u r , der Triebe, vorgegebener N o r m e n u n d des Zufalls." (S. 128) Inwieweit das f ü r den Gesamtbereich der russischen Ballade s t i m m t , l ä ß t G. f r a g e n d offen, weil dazu eine vergleichende Balladenforschung u n a b d i n g b a r ist. E.

JL T. O E / J O C E E B A , CoBeTCKaa JiHTepaTypa B coBpeiweHHOM MHpe. IIpofijieMbi 3apy6emHbiMH mrraTejiHMH. HaaaTCJibCTBO „ H a y n a " , MocKBa 1987, 268 S.

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BOCIIPHHTHH

Zu d e n vielen Arbeiten über die A u f n a h m e u n d die W i r k u n g e n der S o w j e t l i t e r a t u r in der W e l t gesellt sich die vorliegende Monographie, m i t der V f n . sowohl im U m f a n g des e r f a ß t e n Materials als a u c h in der A r t des H e r a n g e h e n s N e u l a n d beschritten h a t . Sie g e h t weltweit vor u n d r ü c k t d a s E c h o in den Vordergrund, das die S o w j e t l i t e r a t u r bei den Lesern des Auslandes f i n d e t , w ä h r e n d gleichartige Schriften vor ihr n a c h L ä n d e r n oder regional vorgingen u n d sich dabei v o r n e h m l i c h auf Ä u ß e r u n g e n von Schriftstellern, K r i t i k e r n u n d Wissenschaftlern b e s c h r ä n k t e n . V f n . stellt sich d a m i t ein sehr anspruchsvolles Ziel. Sie m ö c h t e (S. 17) die Besonderheiten der R e z e p t i o n wesentlicher ideologischer, kulturwissenschaftlicher u n d ethisch-ästhetischer Aspekte der S o w j e t l i t e r a t u r in sozialistischen, kapitalistischen u n d in E n t w i c k l u n g s l ä n d e r n h e r a u s f i n d e n sowie die verschiedenen Leserkategorien im Ausland b e s t i m m e n . Als Materialbasis dienen ihr a u ß e r Mein u n g e n von Ausländern in der sowjetischen Presse schriftliche B e f r a g u n g e n von 5 0 0 0 Kursteiln e h m e r n , die sich in russischer Sprache u n d L i t e r a t u r in einjährigen W e i t e r b i l d u n g s k u r s e n a m Moskauer P u s k i n - I n s t i t u t in den J a h r e n 1974—1980 weitergebildet h a b e n . I h n e n w u r d e n (S. 17) m e h r als 30 F r a g e n vorgelegt, von denen Vfn. allerdings n u r vier publiziert. Genauere statistische A n g a b e n oder Tabellen über die nationale H e r k u n f t oder die Berufs- u n d A l t e r s s t r u k t u r der Bef r a g t e n werden freilich nirgends a n g e f ü h r t . Vfn. begnügt sich d a m i t , die Materialien im l a u f e n d e n T e x t zumeist ohne Zitatbeleg u n d mit ä u ß e r s t d ü r f t i g e n A n g a b e n zur Person — bestenfalls Beruf u n d L a n d — a n z u f ü h r e n . Das aber s c h r ä n k t den W e r t der U n t e r s u c h u n g leider ein, denn es wird nicht deutlich, wie r e p r ä s e n t a t i v die im T e x t a n g e f ü h r t e n Meinungen sind, da n u r selten erkennb a r wird, d a ß es a u c h vom K o n z e p t der V f n . abweichende Meinungen gibt (was j a n i c h t s N e g a t i v e s sein m u ß ) . Materialbasis waren im E i n j a h r e s k u r s des g e n a n n t e n Z e i t r a u m s a u c h die Ergebnisse von jeweils zwei K o n t r o l l a r b e i t e n pro K u r s , wobei Vfn. o f f e n l ä ß t (S. 17/18), welche T h e m e n gestellt w u r d e n . Weiterhin n u t z t Vfn. Erlebnisse u n d B e o b a c h t u n g e n w ä h r e n d vieler Gastvorlesungen u n d -vortrage im Ausland sowie D i p l o m a r b e i t e n von Ausländern aus E n t w i c k l u n g s l ä n d e r n zur sowjetischen L i t e r a t u r a n der L u m u m b a - U n i v e r s i t ä t Moskau. Zeithorizont ihrer Analyse sind die 70er J a h r e , wobei a u c h auf die vorhergehenden a n d e r t h a l b J a h r z e h n t e zurückgegriffen wird. Methodologisch s t ü t z t sich Vfn. vornehmlich auf N. A. R u b a k i n , wenngleich a u c h rezeptionsästhetische Arbeiten der D D R u n d der B R D g e n a n n t werden. D a s 1. K a p i t e l ist d e m „ H i s t o r i s m u s " der A u f n a h m e der S o w j e t l i t e r a t u r gewidmet, wobei V f n . hier — wie auch sonst im Verlauf ihrer Darstellung — zwischen wissenschaftlicher Analyse u n d E r z ä h l t o n s c h w a n k t . E i n e Historisierung der E t a p p e n der A u f n a h m e von S o w j e t l i t e r a t u r bleibt im B e k a n n t e n stecken; die Liste der a u f g e f ü h r t e n Schriftstellernamen ist traditionell, was n a t ü r l i c h m i t der E n t s t e h u n g s z e i t der Arbeit vor dem E r n e u e r u n g s p r o z e ß a b 1985 in der U d S S R zus a m m e n h ä n g t . I m 2. K a p i t e l , das sich m i t der S t r u k t u r u n d Spezifik der A u f n a h m e sowjetischer L i t e r a t u r im Ausland b e f a ß t , geht Vfn. von der richtigen These aus, d a ß gerade die R e z e p t i o n der S o w j e t l i t e r a t u r , der Griff des Lesers zu ihren W e r k e n in entscheidendem Maße b e s t i m m t wird d u r c h ihr Verhältnis zur dargestellten sowjetischen Wirklichkeit, die beim Leser entsprechende soziale u n d emotionale Vorstellungen über die Lebensweise in der S o w j e t u n i o n hervorr u f t . V f n . m a c h t dabei zu R e c h t auf den außerordentlich komplizierten u n d widersprüchlichen ideellen u n d ästhetischen Aneignungsprozeß a u f m e r k s a m (S. 50). Sie ä u ß e r t die d u r c h a u s richtige Idee, d a ß der Leser im Ausland die L i t e r a t u r oft a u c h als I n f o r m a t i o n s t r ä g e r über das L e b e n in der Sowjetunion ansieht, weil er es aus u n m i t t e l b a r e r A n s c h a u u n g nicht k e n n t , u n d zugleich h ä u f i g im B a n n e einer K r i t i k steht, die den Aneignungsprozeß f ö r d e r n oder h e m m e n k a n n .

Z. Slaw. 34 (1989) 3

470

I n den Kapiteln 3—5 beschäftigt sich Vfn. ausführlich mit der Verbreitung der Sowjetliteratur in den sozialistischen Ländern, in den kapitalistischen Industriestaaten und in den Entwicklungsländern. Hier stößt sie aber trotz ihrer großen Befragungsmaterialien auf Grenzen einer solchen individuellen Untersuchung, da die Rezeptionsforschung zu einzelnen Ländern und Regionen noch sehr unterschiedlich entwickelt ist und die von der Vfn. angestrebten größeren Verallgemeinerungen derzeit offenbar kaum möglich sind. Vfn. greift deshalb auch oft zu illustrierenden Zitaten, die über diese Klippen hinweghelfen sollen, zumal die drei Kapitel in sich weder zeitlich noch regional gegliedert sind. Daneben aber bringt sie beachtliche Materialien über die Rezeption in Asien, vor allem in China, J a p a n und der K D V R , behandelt erstmalig — soweit ich es jedenfalls überschaue — ausführlich die Literaturrezeption in Entwicklungsländern (vornehmlich in Afrika und Asien), wobei sie die Rolle der in der Sowjetunion ausgebildeten Studenten f ü r diesen Prozeß hervorhebt und besonders die Rolle Gor'kijs für die Rezeption in diesen Ländern würdigt. Bei den kapitalistischen Staaten entwickelt sie ausführlich ein Modell, mit dem sie die Kontrolle durch den reaktionären Flügel der Sowjetologie (S. 121 ff.) nachweisen will, die — bei aller Differenziertheit im einzelnen — über die wissenschaftlichen Zentren, die Verlage, die lernende J u g e n d ausgeübt wird. Hier werden zweifellos zutreffende Tendenzen und der Mechanismus der geistigen Manipulierung erfaßt und auch positive Ansätze gesehen, die in der bürgerlichen Wissenschaft und der öffentlichen Meinung vorhanden sind und sich heute immer deutlicher abzeichnen. Ob sich das alles freilich in der vorgenommenen Weise wirklich universal und weltweit modellieren läßt, müßte a n h a n d von Einzelanalysen gründlicher überprüft werden. Das 6. Kapitel befaßt sich mit der Klassifikation der Leser. Vfn. geht sehr zu Recht von dem hohen Wirkungspotential aus, das den besten Werken sowjetischer Literatur innewohnt, und bet o n t auch jene Fernwirkungen, die die russische klassische Literatur (S. 203) auf Leserinteresse und Leserurteile ausübt. Aufgrund ihres Materials hebt sie folgende Gruppen hervor: Russisten, Schriftsteller, Übersetzer, Kritiker und (hier eben wird es sehr allgemein) den sogenannten breiten Kreis der Leser (S. 191). Dieses entscheidende Kapitel bleibt leider sehr traditionell. Das abschließende 7. Kapitel untersucht dann noch die Aufnahme des positiven Helden durch den ausländischen Rezipienten. Der Wert der vorliegenden Monographie liegt m. E. in der großen Materialfülle. Vfn. f ü h r t die Äußerungen herausragender Persönlichkeiten der internationalen Arbeiterbewegung, die sie zumeist selbst interviewt hat, ebenso an wie die positiven Meinungen von Schriftstellern, Kritikern und an sowjetischer Literatur interessierten Laien (wobei andere Auffassungen bei den befragten Personen kaum angeführt werden). Es überwiegen die zustimmenden Äußerungen aus vieler Herren Länder. Das ist sicher durchaus gerechtfertigt, wenngleich Vfn. auch deutlich macht, wo in größeren Teilen der Welt Barrieren errichtet werden, etwa in den kapitalistischen Ländern durch das erwähnte System der Manipulierung, aber auch in Entwicklungsländern durch die noch weitgehende Begrenzung auf die Leserschicht der Intelligenz. Insgesamt wird das Werk zu einer Fundgrube f ü r positive Stimmen zur Sowjetliteratur in der heutigen Welt. Weitergehende Befunde müssen freilich weiterführenden Untersuchungen vorbehalten bleiben. E.

S. VUKOMANOVIÖ, 164 S.

Jezik, 1 druStvo, n a c i j a ( =

Hexelschneider

Jugoslovenska revija 1987). Beograd 1987,

Die Beziehungen zwischen Sprache, Nation und Gesellschaft sind für die jugoslawische Gesellschaft von besonderem Interesse, da sie hier schon über mehrere J a h r e hinweg Gegenstand von Diskussionen sind, in denen mitunter durchaus Meinungsverschiedenheiten wissenschaftlicher und anderer Art auftreten. Dies alles ist nichts Ungewöhnliches, da es sich doch um einen S t a a t handelt, in dem neben Serbokroatisch, Makedonisch und Slowenisch weitere 14 Sprachen anderer Nationalitäten gesprochen werden. Wir haben es also mit einer sehr differenzierten Sprachsituation zu tun, die das Zusammenleben verschiedener Völker auf der Grundlage der jugoslawischen Konzeption widerspiegelt. V. untersucht diese Sprachsituation, wobei er von der Bestimmung des Wesens der Sprache und ihrer gesellschaftliehen Wirkung sowie von der Definition der Begriffe „Volk", „ N a t i o n " und „ S p r a c h e " unter jugoslawischen Bedingungen ausgeht und im letzten Abschnitt auch auf Schwierigkeiten bei der Normierung der serbokroatischen Literatursprache hinweist.

Z. Slaw. 34 (1989) 3

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I n den Kapiteln 3—5 beschäftigt sich Vfn. ausführlich mit der Verbreitung der Sowjetliteratur in den sozialistischen Ländern, in den kapitalistischen Industriestaaten und in den Entwicklungsländern. Hier stößt sie aber trotz ihrer großen Befragungsmaterialien auf Grenzen einer solchen individuellen Untersuchung, da die Rezeptionsforschung zu einzelnen Ländern und Regionen noch sehr unterschiedlich entwickelt ist und die von der Vfn. angestrebten größeren Verallgemeinerungen derzeit offenbar kaum möglich sind. Vfn. greift deshalb auch oft zu illustrierenden Zitaten, die über diese Klippen hinweghelfen sollen, zumal die drei Kapitel in sich weder zeitlich noch regional gegliedert sind. Daneben aber bringt sie beachtliche Materialien über die Rezeption in Asien, vor allem in China, J a p a n und der K D V R , behandelt erstmalig — soweit ich es jedenfalls überschaue — ausführlich die Literaturrezeption in Entwicklungsländern (vornehmlich in Afrika und Asien), wobei sie die Rolle der in der Sowjetunion ausgebildeten Studenten f ü r diesen Prozeß hervorhebt und besonders die Rolle Gor'kijs für die Rezeption in diesen Ländern würdigt. Bei den kapitalistischen Staaten entwickelt sie ausführlich ein Modell, mit dem sie die Kontrolle durch den reaktionären Flügel der Sowjetologie (S. 121 ff.) nachweisen will, die — bei aller Differenziertheit im einzelnen — über die wissenschaftlichen Zentren, die Verlage, die lernende J u g e n d ausgeübt wird. Hier werden zweifellos zutreffende Tendenzen und der Mechanismus der geistigen Manipulierung erfaßt und auch positive Ansätze gesehen, die in der bürgerlichen Wissenschaft und der öffentlichen Meinung vorhanden sind und sich heute immer deutlicher abzeichnen. Ob sich das alles freilich in der vorgenommenen Weise wirklich universal und weltweit modellieren läßt, müßte a n h a n d von Einzelanalysen gründlicher überprüft werden. Das 6. Kapitel befaßt sich mit der Klassifikation der Leser. Vfn. geht sehr zu Recht von dem hohen Wirkungspotential aus, das den besten Werken sowjetischer Literatur innewohnt, und bet o n t auch jene Fernwirkungen, die die russische klassische Literatur (S. 203) auf Leserinteresse und Leserurteile ausübt. Aufgrund ihres Materials hebt sie folgende Gruppen hervor: Russisten, Schriftsteller, Übersetzer, Kritiker und (hier eben wird es sehr allgemein) den sogenannten breiten Kreis der Leser (S. 191). Dieses entscheidende Kapitel bleibt leider sehr traditionell. Das abschließende 7. Kapitel untersucht dann noch die Aufnahme des positiven Helden durch den ausländischen Rezipienten. Der Wert der vorliegenden Monographie liegt m. E. in der großen Materialfülle. Vfn. f ü h r t die Äußerungen herausragender Persönlichkeiten der internationalen Arbeiterbewegung, die sie zumeist selbst interviewt hat, ebenso an wie die positiven Meinungen von Schriftstellern, Kritikern und an sowjetischer Literatur interessierten Laien (wobei andere Auffassungen bei den befragten Personen kaum angeführt werden). Es überwiegen die zustimmenden Äußerungen aus vieler Herren Länder. Das ist sicher durchaus gerechtfertigt, wenngleich Vfn. auch deutlich macht, wo in größeren Teilen der Welt Barrieren errichtet werden, etwa in den kapitalistischen Ländern durch das erwähnte System der Manipulierung, aber auch in Entwicklungsländern durch die noch weitgehende Begrenzung auf die Leserschicht der Intelligenz. Insgesamt wird das Werk zu einer Fundgrube f ü r positive Stimmen zur Sowjetliteratur in der heutigen Welt. Weitergehende Befunde müssen freilich weiterführenden Untersuchungen vorbehalten bleiben. E.

S. VUKOMANOVIÖ, 164 S.

Jezik, 1 druStvo, n a c i j a ( =

Hexelschneider

Jugoslovenska revija 1987). Beograd 1987,

Die Beziehungen zwischen Sprache, Nation und Gesellschaft sind für die jugoslawische Gesellschaft von besonderem Interesse, da sie hier schon über mehrere J a h r e hinweg Gegenstand von Diskussionen sind, in denen mitunter durchaus Meinungsverschiedenheiten wissenschaftlicher und anderer Art auftreten. Dies alles ist nichts Ungewöhnliches, da es sich doch um einen S t a a t handelt, in dem neben Serbokroatisch, Makedonisch und Slowenisch weitere 14 Sprachen anderer Nationalitäten gesprochen werden. Wir haben es also mit einer sehr differenzierten Sprachsituation zu tun, die das Zusammenleben verschiedener Völker auf der Grundlage der jugoslawischen Konzeption widerspiegelt. V. untersucht diese Sprachsituation, wobei er von der Bestimmung des Wesens der Sprache und ihrer gesellschaftliehen Wirkung sowie von der Definition der Begriffe „Volk", „ N a t i o n " und „ S p r a c h e " unter jugoslawischen Bedingungen ausgeht und im letzten Abschnitt auch auf Schwierigkeiten bei der Normierung der serbokroatischen Literatursprache hinweist.

B. CIGOJA, J e z i k , d r u s t v o , nacija

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I n der Einleitung gibt Verf. einen Überblick über die E n t w i c k l u n g von Sprache u n d Sprachtheorie, v o n sehr f r ü h e r Zeit bis zur Gegenwart (Veda-Texte, a n t i k e Sprachtheorien, A u f f a s s u n g e n von Marx u n d Engels über die Sprache, S t r u k t u r a l i s m u s sowie neueste Sprachtheorien). V. aktualisiert einzelne wissenschaftliche P r ä m i s s e n u n d k o n f r o n t i e r t diese m i t der gegenwärtigen Sprachsituation, wobei er die t r e f f e n d s t e n Beispiele findet, wenn Sprache in u n m i t t e l b a r e r Beziehung zu Gesellschaft u n d N a t i o n s t e h t . E r v e r t r i t t die These von A. Belic, wonach das wirklich Beständige in der Sprache die V e r ä n d e r u n g e n sind, u n d f ü h r t gesellschaftliche S i t u a t i o n e n a n , die dies deutlich illustrieren. Meinungsunterschiede bezüglich der Definition der Termini „ N a t i o n " u n d „ V o l k " gehen m i t u n t e r auf Differenzen in der Beurteilung sprachlicher F r a g e n z u r ü c k . V. spricht von der begrifflich-terminologischen Dichotomie Volk — N a t i o n . Diese beiden Begriffe würden häufig wegen „ d e r unzureichenden semantischen Explizierung der T e r m i n i " v e r m i s c h t . E r n i m m t eine Analyse ihrer Verwendung in den einzelnen Z e i t a b s c h n i t t e n der E n t w i c k l u n g Jugoslawiens vor. V. sieht im Wirken religiöser u n d politischer F a k t o r e n in den einzelnen geschichtlichen Z e i t a b s c h n i t t e n den G r u n d d a f ü r , d a ß sich keine einheitliche jugoslawische N a t i o n formieren k o n n t e . Weiterhin beschäftigt sich V. m i t der aktuellen S i t u a t i o n des Serbokroatischen in d e n l e t z t e n 40 J a h r e n . Auch in diesem Zeitabschnitt war die Sprache G e g e n s t a n d politischer M a n i p u l a t i o n e n seitens einzelner Personen oder auch ganzer G r u p p e n . E i n e solche „ f a l s c h e " V e r w e n d u n g ist f ü r multinationale S t a a t e n außerordentlich gefährlich. I n diesen S p r a c h k o n f l i k t e n g e r ä t die S p r a c h e häufig über die Grenzen ihrer k o m m u n i k a t i v e n F u n k t i o n hinaus u n d wird sowohl „ M y t h o s als auch R e a l i t ä t " . Verf. analysiert die jugoslawischen vertraglichen Regelungen zur V e r w e n d u n g des Serbokroatischen, besonders den in der Nachkriegszeit getroffenen V e r t r a g von Novi S a d (1954). I m abschließenden A b s c h n i t t wird die gegenwärtige S p r a c h s i t u a t i o n in Jugoslawien b e h a n d e l t , wobei V. auf die verschiedenen Bezeichnungen f ü r das Serbokroatische eingeht. Verf. setzt sich f ü r eine Regelung ein, die beide sprachliche V a r i a n t e n berücksichtigt, wobei er d a v o n a u s g e h t , d a ß in der SR K r o a t i e n als Schriftsprache Kroatoserbisch u n d in der S R Serbien Serbokroatisch verwendet wird. I n den übrigen beiden Republiken, Bosnien u n d Herzegowina u n d Montenegro, sollte entweder eine dieser beiden Bezeichnungen ü b e r n o m m e n oder aber beide Bezeichnungen s y n o n y m v e r w e n d e t werden. Auf diese Weise würde die Dominanz einer dieser V a r i a n t e n ausgeschlossen. Dieser S t a n d p u n k t weist Verf. als hervorragenden K e n n e r der S p r a c h s i t u a t i o n in J u g o slawien u n d der diesbezüglichen aktuellen Meinungsverschiedenheiten aus. E i n e präzise terminologische Abgrenzung ist unumgänglich, will m a n den Differenzen in der Sprache den B o d e n entziehen. V. greift zahlreiche grundsätzliche sprachliche P r o b l e m e u n d P r o b l e m e der Sprachpolitik im K o n t e x t der Situation in Jugoslawien auf u n d vergleicht diese m i t der S i t u a t i o n in a n d e r e n L ä n dern. D a s B u c h ist ein bemerkenswerter Beitrag zu der a n größeren P u b l i k a t i o n e n i m m e r noch recht a r m e n slawistischen Soziolinguistik. B. Cigoja

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z . Slawistik, B d 34, Hl 3

Z. Slaw. 34 (1989) 3, 4 7 2 - 4 7 3

Gedenktage Kurt Gabka 65 Jahre Am 18. August 1989 begeht Prof. Dr. sc. phil. K u r t Gabka seinen 65. Geburtstag. Nach dem Studium der Slawistik (vor allem bei W. Freymann, H. H . Bielfeldt, W. Steinitz) und der Germanistik (u. a. bei F. Tschirch) an den Universitäten Greifswald und Berlin (1948 — 1952) galt sein wissenschaftliches Interesse vor allem der russischen Sprache in Gegenwart und Vergangenheit. K . Gabka h a t sich stets mit Erfolg neben aller gebotenen Spezialisierung um die Zusammenführung von Erkenntnissen aus linguistischen Teildisziplinen bemüht. Dies dokumentierte er in seiner über dreieinhalb J a h r z e h n t e währenden umfangreichen Lehrtätigkeit, in der er Vorlesungen und Seminare zum Altkirchenslawischen, zur Geschichte der russischen Sprache und der russischen Literatursprache, zur altrussischen Literatur, zur Einführung in die Sprachwissenschaft und zu allen Teildisziplinen der russischen Sprache der Gegenwart hielt. Seine Forschungstätigkeit (vgl. die 1990 in der Wissenschaftlichen Zeitschrift der Ernst-MoritzArndt-Universität Greifswald erscheinende Bibliographie seiner über 220 Publikationen) wie auch zahlreiche von ihm inspirierte wissenschaftliche Arbeiten sowohl zu speziellen Problemen der sprachlichen Teilsysteme als auch zu verbindenden und übergreifenden Fragen legen hierfür beredtes Zeugnis ab. So beschäftigte er sich mit der Phonetik, der Morphologie, der Lexikologie u n d der Funktionalstilistik, während die Syntax der russischen Sprache der Gegenwart sein bevorzugter Forschungsgegenstand wurde. Dabei verband K . Gabka neue, meist einzelsprachlich gewonnene Erkenntnisse mit methodologischen und metatheoretischen Fragestellungen sowie mit kritischen Auseinandersetzungen. Das verdeutlichen besonders seine 1956 als Dissertation verteidigten „Untersuchungen zur Hypotaxe im Altrussischen", seine 1960 abgeschlossene Habilitationsschrift zum Wortgebrauch I v a n Groznyjs im Bereich des Psychischen sowie seine Monographie „Theorien zur Darstellung eines Wortschatzes. Mit einer Kritik der Wortfeldtheorie'' (Halle 1967). Seit seiner Berufung zum Professor für Slawistik an der Greifswalder Universität (1. 9. 1963) sowie der erfolgten Ernennung zum Direktor des dortigen Instituts f ü r Slawistik (1. 1. 1964) widmete sich K . Gabka mit der ihm eigenen Energie und Umsicht verstärkt auch der Lehre, Wissenschaftsleitung und Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses, u. a. auch in seiner Funktion als Prorektor f ü r den wissenschaftlichen Nachwuchs. I n dieser Funktion initiierte er die Hochschulpädagogischen Tage und zeichnete f ü r die ersten beiden H e f t e mit Ergebnissen dieser inzwischen traditionsreichen Weiterbildungsveranstaltungen des wissenschaftlichen Nachwuchses der ErnstMoritz-Arndt-Universität verantwortlich. Mit Übernahme des Direktorats der 1968 gegründeten Sektion Sprach- und Literaturwissenschaft, in der neben dem ehemaligen I n s t i t u t f ü r Slawistik auch jene für Anglistik, Romanistik und vergleichende Sprachwissenschaft sowie die damalige Abteilung Fremdsprachen aufgingen, wuchsen f ü r K. Gabka die Aufgaben in Wissenschaftsleitung und -Organisation beträchtlich. Seine 1967 erfolgte Berufung zum Vizepräsidenten der M A P R J a L und Vorsitzenden des Nationalkomitees dieser Assoziation in der D D R war einerseits Würdigung und Anerkennung der internationalen Bedeutung der DDR-Russistik und der Leistungen des Jubilars, brachte andererseits f ü r ihn aber auch erhöhte internationale Aufgaben im Leitungsgremium dieser Assoziation. K . Gabka vermochte es in seinem 19jährigen Wirken als Vizepräsident, Arbeit und Wirkungsweise der M A P R J a L mitzugestalten und die Russistik der D D R aktiv zu vertreten. In seinem Vortrag auf der I. Internationalen Konferenz der Lehrkräfte f ü r russische Sprache und Literatur 1969 in Moskau griff K. Gabka bereits so wichtige Fragestellungen wie die Verbindung von sprachpraktischen und theoretischen Kenntnissen über die Sprache und die Berücksichtigung der Muttersprache der Lernenden bei der Konzipierung eines Lehrbuchs für die Russischlehrerstudenten der D D R auf. Diese Überlegungen wurden auf dem II. Internationalen Kongreß der M A P R J a L 1973 weitergeführt. Auf dem I I I . Kongreß 1976 konkretisierte K . Gabka seine lehrmethodischen Positionen am Beispiel der Beschreibung des Satzgefüges aus der Sicht der Valenztheorie. Der IV. Kongreß 1979 in Berlin, dessen Vorbereitung und Durchführung K . Gabka die Pflichten eines stellvertretenden Vorsitzenden des Internationalen und des Nationalen Organisationskomitees auferlegte, sah ihn als Mitautor und Referenten eines Hauptvortrages, in dem von ihm

H.

BARTEN

— M.

NIEMEYER,

K u r t G a b k a 65 J a h r e

473

insbesondere die Rolle des Lehrers bei der V e r m i t t l u n g der russischen S p r a c h e h e r a u s g e a r b e i t e t wurde. Die B e d e u t u n g theoretischer Kenntnisse über die M u t t e r s p r a c h e bei der E r l e r n u n g des Russischen wurde von ihm auf d e m V. K o n g r e ß 1982 in P r a g b e t o n t , w ä h r e n d er auf d e m V I . M A P R J a L K o n g r e ß 1986 in B u d a p e s t die F e d e r f ü h r u n g bei der E r a r b e i t u n g des sprachwissenschaftlichen Sektionsvortrages h a t t e . Vom J u b i l a r , der zahlreiche internationale Konferenzen initiierte u n d m i t g e s t a l t e t e , so u. a. die K o n f e r e n z e n der R e d a k t e u r e der Zeitschriften f ü r russische Sprache u n d L i t e r a t u r , gingen vielfältige Impulse f ü r die wissenschaftsorganisatorische u n d v ö l k e r v e r b i n d e n d e T ä t i g k e i t der M A P R J a L aus. Wesentlichen Anteil h a t t e K . G a b k a a u c h a n der Vorbereitung u n d wissenschaftlichen G e s t a l t u n g der Konferenz z u m 150. G e b u r t s t a g von F. Engels u n t e r d e m T h e m a „ D e r B e i t r a g v o n Friedrich Engels zur E n t w i c k l u n g der wissenschaftlichen Sprachtheorie u n d aktuelle P r o b l e m e der marxistisch-leninistischen S p r a c h w i s s e n s c h a f t " im J a h r e 1970 in Sellin, auf der er einen der H a u p t v o r t r ä g e hielt. I n jener Zeit entwarf ein R e d a k t i o n s r a t u n t e r der L e i t u n g von K . G a b k a ein auf vier B ä n d e angelegtes Hochschullehrbuch zur russischen Sprache der Gegenwart, das mehrere Auflagen erlebte (außerdem erschien eine Lizenzausgabe f ü r zwei B ä n d e in der B R D ) u n d n u n m e h r — ebenfalls u n t e r der F e d e r f ü h r u n g v o n K . G a b k a — d u r c h eine N e u b e a r b e i t u n g u n d vier ergänzende Ü b u n g s b ä n d e m i t K o m m e n t a r e n abgelöst wird. N e b e n der G e s a m t r e d a k t i o n m a c h t e sich K . Gabka vor allem als M i t a u t o r der B ä n d e I ( E i n f ü h r u n g , Phonetik/Phonologie) u n d I I I (Syntax) verdient. Dabei wird ein A s p e k t der Tätigkeit K . G a b k a s besonders deutlich — die Ausrichtung der wissenschaftlichen Arbeit auf die Lehre, auf die Bedürfnisse der gesellschaftlichen P r a x i s der Russischlehrerausbildung. Diesem Ziel diente a u c h die v o n K . G a b k a geleitete F o r t setzung der u n t e r F . Liewehr 1961 begonnenen Reihe „ B e i t r ä g e zu einem H a n d b u c h f ü r den Russischlehrer" bzw. die Neukonzipierung der „Beiträge zu einem H a n d b u c h f ü r den F r e m d s p r a chenlehrer" (von 1975 — 1986 fünf Lieferungen unter L e i t u n g u n d m i t spezifischen Beiträgen von K. Gabka), in denen Russisten, Anglisten u n d R o m a n i s t e n neue sprach- u n d literaturwissenschaftliche, methodische u n d landeskundliche Erkenntnisse u n d E r f a h r u n g e n aus der s p r a c h p r a k t i s c h e n Arbeit f ü r den F r e m d s p r a c h e n l e h r e r a u f b e r e i t e t e n . 1984 wurde u n t e r K . G a b k a s L e i t u n g eine internationale wissenschaftliche K o n f e r e n z aus Anlaß des 50. G r ü n d u n g s t a g e s des Greifswalder I n s t i t u t s f ü r Slawistik d u r c h g e f ü h r t , auf der von einem breiten Teilnehmerkreis neueste E r k e n n t n i s s e der Sprachwissenschaft, der Methodik, der Landesk u n d e sowie der fachsprachlichen Lehre u n d Forschung v o r g e t r a g e n w u r d e n . N e b e n seiner umfangreichen Tätigkeit als Direktor der o. g. Sektion (bis 1985) u n d als Vizepräsid e n t der M A P R J a L (bis 1986) wirkte K . G a b k a auch in verschiedenen a n d e r e n zentralen Gremien, so u . a . im R a t f ü r Sprachwissenschaft der D D R , im B e i r a t f ü r K u n s t - , K u l t u r - u n d Sprachwissenschaft beim M H F , in der Zentralen Fachkommission f ü r die Russischlehrerausbildung u n d im Beirat f ü r F r e m d s p r a c h e n der A P W . A u f m e r k s a m k e i t v e r d i e n t a u c h seine zielstrebige Arbeit m i t dem wissenschaftlichen N a c h w u c h s unterschiedlicher Philologien u n d philologischer Disziplinen (Russistik, Polonistik, Bohemistik, L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t u n d Methodik). Als E r g e b n i s dieser wissenschaftspolitisch wichtigen A u f g a b e wurden über 50 v o n ihm b e t r e u t e u n d b e g u t a c h t e t e Dissertationen A u n d B verteidigt, wobei 18 dieser Wissenschaftler inzwischen selbst als Hochschullehrer t ä t i g sind. F ü r seine wissenschaftlichen u n d gesellschaftlichen Leistungen w u r d e K . G a b k a hohe E h r e zuteil. So erhielt er im J a h r e 1974 d e n Vaterländischen Verdienstorden in Bronze, 1979 (im Kollektiv) die Auszeichnung m i t d e m Orden „ B a n n e r der A r b e i t " ( S t u f e I I I ) , 1967 die Verdienstmedaille der D D R , 1972 die Dr.-Theodor-Neubauer-Medaille in Silber sowie 1979 die Puschkin-Medaille der M A P R J a L . Ohne hier eine vollständige W ü r d i g u n g des bisherigen Wirkens des J u b i l a r s v o r n e h m e n zu können, sei zum Schluß gesagt, d a ß K . G a b k a in seinem g e s a m t e n W i r k e n als Hochschullehrer seine ganze K r a f t f ü r d e n F o r t s c h r i t t in Wissenschaft u n d Gesellschaft u n d f ü r die Festigung der deutschsowjetischen F r e u n d s c h a f t einsetzte. Wir sind d a v o n ü b e r z e u g t , d a ß er auch n a c h d e m Ausscheiden aus der L e h r t ä t i g k e i t ein von seinen Kollegen stets geschätzter R a t g e b e r bleiben wird. H. Barten — M.

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Z. Slaw. 34 (1989) 3, 474-478 M . 3. flpiieBCKiiií Bw,a,aH»mHHCH

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Z. Slaw. 34 (1989) 3

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