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German Pages 140 [144] Year 1990
S LAW ISTIK
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P. M a r e s
Linguistische Überlegungen zum literarischen Text Nach Bestimmung der Grenzen zwischen Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft tritt das deutliche Bedürfnis hervor, gegenseitige Verbindungen herzustellen. Der Ausgangspunkt f ü r die Interdisziplinarität ist dadurch gegeben, daß sich die Objekte beider Wissenschaften teilweise decken, d. h., es decken sich Ausschnitte der objektiven Realit ä t , mit denen sie sich befassen, und zugleich auch Eigenschaften dieser Objekte, auf die sich die Wissenschaften konzentrieren. Mit dieser Dimension der Interdisziplinarität, die als ontologisch bezeichnet wird (zur Terminologie vgl. Nekvapil, 1986), verbindet sich die gnoseologische Dimension: Übertragung der Methoden und des begrifflich-terminologischen Apparats, Bildung von Analogien im Herangehen a n die erforschte Problematik. Schließlich gewinnt auch die sozial-institutionelle Dimension der Interdisziplinarität an Bedeutsamkeit: Es handelt sich z. B. u m wiederholte Versuche um die Unterordnung der Literaturwissenschaft unter die Linguistik, u m die Konstitution der Literaturwissenschaft als einer linguistischen Subdisziplin (vgl. Jakobson, 1960, S. 350, van Dijk, 1972, S. 2 0 3 - 2 0 5 ) . Wir können auch die gegenwärtigen Bemühungen um den Aufbau einer komplexen Textwissenschaft nicht übergehen; als Basis funktioniert hier allerdings eine Reihe von Disziplinen, nicht nur Linguistik und Literaturwissenschaft. I n der Wechselwirkung zwischen dem Interessenbereich der Linguistik und dem I n t e r essenbereich der Literaturwissenschaft treten vor allem zwei Fragen in den Vordergrund : (1) In welchem Maße sind die (spezifischen) Eigenschaften des literarischen Textes in der linguistischen Forschung zu berücksichtigen? (2) Ist es nötig (bzw. in welchem Maße ist es nötig), daß die Forscher, die sich mit literarischen Texten befassen (die Literaturwissenschaftler), die Verfahren u n d E r k e n n t nisse der Linguistik beherrschen und während der Analyse nutzen'( Die Hervorhebung dieser Fragen ist ein deutlicher Ausdruck der — öfters konstatierten — aktiven Rolle der Linguistik in der interdisziplinären Beziehung. Die A n t w o r t e n auf die genannten Fragen unterscheiden sich klar voneinander, je nachdem, ob sie im Zusammenhang mit der „klassischen" Linguistik formuliert werden, die ihre Forschung im Prinzip mit dem Satz abgrenzt, oder im Zusammenhang mit der Linguistik, die in ihren Interessenbereich die Sprechtätigkeit, den Text und die verbale K o m m u n i k a t i o n explizit einschließt. Die Änderung in der Auffassung des linguistischen Objektes bedeutet zweifellos die E n t s t e h u n g einer neuen Phase der Interdisziplinarität zwischen beiden Fächern. F ü r die „Satzlinguistik" ist der literarische Text vor allem ein K o r p u s von Sprachbelegen, die als Material f ü r die linguistische Beschreibung dienen. Dabei können wir eine Entwicklung von der Behandlung literarischer Texte als hauptsächlicher, repräsentativer Quelle von Belegen zur Akzentuierung der Texte des sog. Sachstils (Fachtexte, publizistische Texte) und zur Verschiebung der literarischen Texte in eine Sekundärposition feststellen. Gleichzeitig vertieft sich die Differenzierung in der Klassifikation von Sprachmitteln, es wird die Unterscheidung zwischen den grundlegenden, merkmallosen Mitteln und den Mitteln betont, die merkmalhaft, f ü r ausgeprägte T e x t t y p e n wie literarische Texte charakteristisch sind.
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Das Maß der Anerkennung der Wichtigkeit der „klassischen" linguistischen Verfahren für die Erforschung literarischer Texte ist von verschiedenen Faktoren abhängig. Vornehmlich geht es darum, was f ü r eine Rolle der Sprache in literarischen Texten zugeschrieben wird. Die Skala der Ansichten reicht vom Hinweis auf das sprachliche Wesen dieser Texte — z. B. f ü h r t Wolfgang Kayser (1969, S. 5) an, daß das literarische Werk „als in sich geschlossenes sprachliches Gefüge lebt und e n t s t e h t " — über die Betonung bzw. Zulassung der Bedeutsamkeit der sprachlichen Seite, freilich als Teil- und Dienstkomponente in einem Ganzen, das im Prinzip übersprachlich ist (das ist die typische Haltung der Literaturstilistik), bis zum völligen Abstrahieren von Sprache in der Definition literarischer Texte. Mit dieser Grundfrage ist eine andere Frage eng verbunden: ob die Spezifik der Sprache der literarischen Texte, ihr Unterschied zur Sprache der nichtliterarischen Texte, und somit ein Bedürfnis der Erforschung der sprachlichen Gestaltung literarischer Texte akzentuiert wird. Neben diesen Problemen spielt auch der Umfang dessen, was als „sprachlich" im literarischen Text angesehen wird, eine ziemlich wichtige Rolle. Öfters wird die Satzgrenze deutlich überschritten, z. B. sieht der polnische Forscher Janusz Slawinski (1974, S. 138) die thematischen Kontexte, die sich im Text konstituieren, als Bestandteil der Semantik von Sprachmitteln an (gegen diese Auffassung steht freilich eine entschiedene Betonung des Umstandes, daß in der thematischen Ebene des Textes selbständige, nichtsprachliche Organisationsprinzipien zur Geltung kommen — vgl. z. B. Nyirö, 1981, S. 276—277). Beim Hineintragen der sprachlichen Aspekte in höhere Ebenen des literarischen Textes geht die ontologische Interdisziplinarität zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft im großen und ganzen unmerklich und fließend in die gnoseologische I n t e r d i s z i p l i n ä r s t über. Schließlich hängt es selbstverständlich davon ab, ob die Literaturwissenschaft der Linguistik den Status einer durchgebildeten, „vorbildlichen", methodologisch bestimmenden Disziplin zuspricht. I m Zusammenhang mit der „Satzlinguistik" gab es im zwanzigsten J a h r h u n d e r t drei deutliche Wellen des Eindringens linguistischer Verfahren in die Erforschung literarischer Texte. Aus der idealistischen Linguistik am Anfang des Jahrhunderts, die auf eine enge Verbindung zwischen Sprache und K u l t u r hinwies und das kreative Moment in der Sprache, die individuelle sprachliche Schöpfungskraft betonte, entstand die psychologisch orientierte Stilistik, die die Relationen zwischen einer einzigartigen Autorpersönlichkeit und ihrer Schöpfung, dem literarischen Text, hervorhob. Wie Leo Spitzer sagte, sei das Ziel vor allem Beschreibung und Analyse der „Ausdruckssysteme, die sich erlesene Geister in ihrer Individualsprache geschaffen h a b e n " (Spitzer, 1961, I, S. I X ) . Spitzer und auch andere Forscher waren fähig, die Rolle einzelner Sprachmittel im Text mit großer Feinfühligkeit zu bestimmen. Auf der anderen Seite ist aber die Überzeugungskraft und Nutzbarkeit von Arbeiten dieser Richtung durch ihren ausgeprägten Irrationalismus und Subjektivismus eingeschränkt. Viel bedeutender war d a n n der Einfluß der strukturalistischen Richtungen; die Interdisziplinarität setzte sich hier sowohl in der ontologischen als auch in der gnoseologischen Dimension durch. I m ersten Falle wird die grundlegende Bedeutung der Sprache des literarischen Textes betont, die Analyse der Sprache soll zur Erfassung des Wesens der Mitteilung führen, die der Text bietet (vgl. z. B. Mukarovsky, 1948, 1982). Weil f ü r den Strukturalismus die Existenz eines Systems von Relationen an erster Stelle steht, konzentrierte sich die Aufmerksamkeit oft vor allem auf den lautlichen und gram-
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matischen Aufbau des literarischen Textes, auf Gegensätze im R a h m e n der grammatischen Kategorien. Das prägnanteste Beispiel des genannten Verfahrens ist wahrscheinlich die „vorbildlich strukturalistische" Analyse des Baudelaireschen Sonetts Les chats (Jakobson — Lévi-Strauss, 1962). Analysen dieses T y p s bringen viele interessante Erkenntnisse, die aus detaillierten Beobachtungen hervorgehen ; eine Tendenz zur Reduzierung des kommunikativen Wertes des literarischen Textes auf ein Netz von formalen Relationen ist freilich offensichtlich. Ein anderes Problem besteht darin, daß einige Schlußfolgerungen einen deutlich subjektiven Charakter haben, sie sind nicht direkt mit den im Text enthaltenen Angaben verbunden. Was den gnoseologischen, nicht weniger wichtigen Aspekt anbelangt, äußert sich wiederholt die Bemühung, den literarischen Text als Ganzes mit linguistischen Begriffen und mit Hilfe der linguistischen Verfahren zu modellieren, es setzt sich eine Suche nach strukturellen Analogien zwischen den sprachlichen und übersprachlichen K o m p o n e n t e n des Textes durch. Wir können z. B. den Barthesschen Hinweis auf die Existenz der homologen Beziehungen zwischen Satz und T e x t anführen, seine Auffassung des E r zählens als Sprache ,,über" Sprache (vgl. Barthes, 1977, S. 158), oder die Ansicht, die vor allem von Tzvetan Todorov (1969, 1978) akzentuiert wurde, daß sich die grammatischen Kategorien im Ganzen des (literarischen) Erzählens auf einer höheren E b e n e reflektieren. Insbesondere mit dieser zweiten Voraussetzung ist aber die reale Gefahr des oberflächlichen Analogisierens verbunden. Schließlich wurde die dritte Welle des erhöhten Interesses der Forscher, die sich mit literarischen Texten befassen, an linguistischen Verfahren durch den mächtigen Aufschwung der generativen Grammatik bedingt. Bald nach der Formulierung von Grundsätzen der generativen Grammatik mehrten sich Versuche ihrer Applikation auf die Erforschung der Spezifik literarischer Texte, Versuche zur Konstitution der generativen Poetik (der bedeutendste tschechische Repräsentant dieser Bemühungen war J i r i Levy — 1970, 1971). Es wurde z. B. mit Hilfe von statistischen Methoden der Anteil von verschiedenen T y p e n syntaktischer Strukturen in literarischen und nichtliterarischen Texten verglichen (Hayes, 1969). Ins Z e n t r u m der Aufmerksamkeit der Forscher geriet aber vor allem die Tatsache, daß einige Sätze, die in literarischen Texten vorkommen, den Generierungsregeln, die f ü r die Sprache als Ganzes formuliert wurden, nicht entsprechen. Entweder wurde über den devianten Charakter der literarischen Sätze gesprochen, oder es wurde eine spezielle generative Grammatik f ü r diese Texte postuliert (Saporta, 1960; Levin, 1965; Thorne, 1965).Damit hängen d a n n die E i n f ü h r u n g d e s Begriffs literarischer Kompetenz zusammen und die Bemühungen u m ihre Präzisierung (Bierwisch, 1965, Ihwe, 1970). Relativ bald zeigte sich aber, daß m a n mit diesen Verfahren nur Teil- und Randerscheinungen ergreifen k a n n . Die Periode der Konzentration auf generativistische Methoden deckt sich jedoch mit dem Anfang des systematischen Interesses der Linguistik an Problemen des Textes und der verbalen Kommunikation. I m Zusammenhang damit überschreiten einige generativistische Konzeptionen die Grenze des Satzes und versuchen, allgemeine Regeln f ü r die Generierung des Textes zu formulieren; aufgrund dieser Regeln werden d a n n auch die spezifischen Züge literarischer Texte verfolgt (z. B. van Dijk, 1972). E s ist beachtenswert, daß Versuche der Applikation der generativistischen Grundprinzipien auf das Ganze des Textes in der Erforschung der künstlerischen Sphäre schon u n t e r nommen wurden, noch bevor sich diese Orientierung im R a h m e n der Linguistik abzeichnete. So t r a t e n die sowjetischen Forscher A. K . Zolkovskij und J u . K . Sceglov
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(1967) mit dem Anspruch der Entdeckung und Beschreibung des Komplexes von Regeln auf, nach denen der literarische Text aus dem vergebenen Gesamtthema erwächst (in der Praxis gelangten sie jedoch nur zu Erwägungen über mögliche Generierungsweisen ausgewählter konkreter Texte). Die generativistisch aufgefaßte Texterforschung brachte keine überzeugenden und dauernden Ergebnisse, sie war aber eine der Forschungsrichtungen, die sich auf Text und Kommunikationsproblematik konzentrieren. Die Erweiterung des Objektes der Linguistik auf das Textganze und die verbale Kommunikation erweist sich vom Gesichtspunkt der interdisziplinären Beziehungen zur Literaturwissenschaft als anregend und fruchtbar. Die zunehmende Durchdringung, ein bestimmter „Ausgleich" zwischen beiden Disziplinen führt zur neuen Formulierung des gegenseitigen Verhältnisses. Man kann wohl sagen, daß die linguistisch orientierte Forschung auf das Erfassen der Prinzipien gerichtet ist, die für Text und verbale Kommunikation eine grundlegende, allgemeine Geltung haben. Im Zusammenhang damit konzentriert sie sich auf alle Texttypen und alle Kommunikationssphären, bemüht sich um deren ausführliche Analyse und unterscheidet, was spezifisch und was allgemein ist. Auf der anderen Seite ist das Ziel der Literaturwissenschaft eine gründliche Analyse der Problematik eines begrenzten, ausgeprägten Textkomplexes und einer Kommunikationssorte; die Erklärung der Spezifik dieses Bereichs ist aber nur aufgrund des Vergleichs mit allgemeinen Prinzipien sowie mit anderen Texttypen und Kommunikationssphären möglich. Von den Forschungen, die diese Situation bewußt reflektieren, können wir z. B . die Erwägungen von Wolfgang Iser (1976, S. 87—112) erwähnen; er zeigt, wie die Bedingungen der erfolgreichen Kommunikation, die die Theorie der Sprechakte formulierte, im Zusammenhang mit der literarischen Kommunikation wesentlich verletzt und zugleich bestätigt werden, oder — um einen Beleg aus der tschechischen Wissenschaft anzuführen — Olga Müllerovas Aufsatz (im Druck) über Mißverständnisse in der verbalen Kommunikation und über Stilisierung dieser Mißverständnisse im literarischen Text. Es ist noch zu bemerken, daß die Betonung der Weite des Feldes von interdisziplinären Beziehungen in keinem Falle die Bedeutung der spezielleren Relationen zwischen beiden Fächern in Frage stellt. Weiterhin aktuelle Geltung hat zweifellos die Problematik der Verwendungsweisen von Sprachmitteln in literarischen Texten (vgl. z. B. Vanko, 1985). Ein anderes Problem, das Aufmerksamkeit verdient, ist mit philosophischen Aspekten der Linguistik verbunden : Es handelt sich um die Frage, wie sich verschiedene Konzeptionen der Sprache (bzw. auch des Textes, der Kommunikation) im Aufbau sowie im Sinn der literarischen Texte widerspiegeln, eventuell wie solche Konzeptionen (meistens implizit) gerade im Rahmen der literarischen Texte realisiert werden (vgl. z. B. Sawecka, 1979). Die Problematik der interdisziplinären Beziehungen zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft ist natürlich sehr kompliziert, und noch andere Fragen und andere Aspekte wären nennenswert. Unser Ziel konnte begreiflicherweise nur sein, auf die Wichtigkeit der interdisziplinären Beziehungen aufmerksam zu machen. Literaturverzeichnis R . B a r t h e s , Wstep do analizy strukturalnej opowiadari, in: Studia z teorii literatury. Archiwum przekladöw „Pamietnika Literackiego" I, Wrociaw—Warszawa —Krakow—Gdansk 1977, S. 155 bis 184 (Introduction à l'analyse structurale des récits, 1966).
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J. Chloupek
Sprache der schönen Literatur und Übersetzung Die Dichotomie „schriftsprachlicher Charakter — nichtschriftsprachlicher Charakter der Ausdrucksweise" ist wegen ihrer funktionellen Veränderlichkeit sehr kompliziert. Was die schöne Literatur betrifft, schwächte sich allmählich der wichtige, sie konstituierende F a k t o r des Geschriebenen, Gehobenen, Literarischen ab. I n diesen Zusammenhängen verliert die Schriftsprache den Charakter eines ausschließlichen I n s t r u m e n t s der schönen Literatur, aber sie blieb bisher (und wir setzen voraus f ü r immer) eine bewegliche Grundlage f ü r stilistische Aktivierungen, die schon außerhalb ihrer Grenzen authentische MikroSituationen aus Arbeitstätigkeit und Familie, also aus einem nichtöffentlichen Milieu, widerspiegeln sollen. Manchmal vermögen solche Aktualisierungen, die in der Regel mit nichtschriftsprachlichen Mitteln erreicht werden, präzise die Funktion, gesellschaftliche Loyalität oder Solidarität auszudrücken. Der Schriftsteller steht dann vor der Aufgabe, eine allgemeine, übliche Situation unter üblichen Bedingungen und Umständen in einer einmaligen, speziellen Situation auszudrücken, d. h. in einer der Situationen innerhalb eines Kunstwerkes. Hier kreuzen sich die entgegengesetzte Partnerschaft der Dialogteilnehmer und die Linie des sprachlichen Ausgangspunkts des Verfassers, anders gesagt: seines sprachlichen Bewußtseins, das einerseits im Bereich des Autors und andererseits in der sprachlichen Bewertung durch den Leser zum Ausdruck gebracht wird. Über diese setzt sich der Einfluß der zeitgenössischen literarischen Konvention durch, obwohl sie f ü r manche Autoren nur den Weg des geringsten Widerstandes bei der W a h l der Ausdrucksmittel bedeutet. Was die Kodes betrifft, so ist davon auszugehen, daß eine höhere und eine niedere Existenzform der Nationalsprache genutzt wird. I m Bereich der sprachlichen S t r u k t u r in ihrer Beziehung zum gegenwärtigen Usus entspricht diesen in der Dialektologie üblicherweise angenommenen Idiomen der bekannte Gegensatz des elaborierten und des restringierten Kodes. So wurde er von dem britischen Soziologen B. Bernstein formuliert, und er betrifft die Kommunikationsperformanz, nicht die Kommunikationskompetenz. Nach der Zusammenfassung M. Brenners ist der elaborierte K o d e „typisch für die sprachliche Sozialisation in der Mittelschicht, während das Kind der Unterschicht in seiner familiären Umwelt einen gegenüber der Sprachform der Mittelschicht an den K o n t e x t des Alltagslebens gebundeneren, einen restringierten K o d e erlernt". Bei einer solchen Formulierung wird nicht mit einer erweiterten, funktionsmäßig bedingten Diglossie gerechnet. Außerdem wird der Einfluß des subjektiven Faktors, der sich an der Realisierung der Kommunikations- und Stilnormen im Kommunikationsakt beteiligt, verdeckt. Von nicht geringerer Bedeutung ist auch der Umstand, daß diese Auffassung vor allem deswegen so eng und einseitig ist, weil sie statisch ist, sie läßt nämlich die potentielle Entwicklung des Individuums, der sozialen Gruppe und der Gesellschaftsklasse außer a c h t ; deren Positionen aber sind auch innerhalb einer kürzeren Zeitspanne nicht unveränderlich, wie dies zumindest in der europäischen Geschichte am wachsenden Einfluß der Arbeiterklasse nachgewiesen werden kann. E s bietet sich eher die Erklärung an, daß die Grundvoraussetzung f ü r eine Durchsetzung des elaborierten Kodes im Maße der von der Gesellschaft übertragenen und vom Bürger angenommenen moralisch-politischen und arbeitsbezogenen Verantwortung vor der Familie, dem Arbeitskollektiv und der ganzen Gesellschaft zu suchen ist sowie im Maße
J. CHLOUPEK, Sprache der schönen Literatur und Übersetzung
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seines richtig orientierten Ehrgeizes, mit dem er seine Arbeit der Gesellschaft anbietet. Schließlich wirkt vom Standpunkt der Situationsfaktoren aus, die einen bestimmten Kommunikationsakt konstituieren, die Charakteristik eines mit den Gesellschaftsgruppen so vorbehaltlos verbundenen Kodes immer im großen und ganzen relativ, was sich ganz offensichtlich bei der Betrachtung der sprachlichen Situation in den Entwicklungsländern herausstellen würde. In den Werken der schönen Literatur kommt eine unbeschränkte Anzahl kommunikativer Mikrosituationen vor, besonders in der Dialogreihe der Figuren sowie um diese Reihe herum auf dem Übergang zur Autorenreihe. Der sog. restringierte K o d e reicht gesetzmäßig für viele Standardsituationen aus, aber seine Merkmale bezeichnen in der Bedeutungsschicht häufig etwas anderes als in der Objektschicht, sie beteiligen sich an der Herausbildung des Sinns eines literarischen Werkes zusammen mit dem elaborierten K o d e vor allem in der Autorenreihe, sie gehen auf verschiedene Weise in vollkommen andere Folgebeziehungen ein, als sie sich in einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort der Handlung befunden haben. Die Teilnehmer eines Dialogs äußern ihren metasprachlichen Kommentar für den Leser, die Figuren eines historischen Stückes wenden sich an den heutigen Zuschauer, ein Roman über das Leben der Genossenschaftsbauern spricht nicht nur eine bestimmte Gegend an, obwohl seine Handlung in dieser Gegend angesiedelt ist. Sprachlich einfache Interaktionen „aus dem alltäglichen L e b e n " erwecken im Buch den Eindruck einer formalen Perfektion, während tiefsinnige Reflexionen bruchstückhaft, in Andeutungen, ja sogar verworren ausgedrückt werden können; in einem Drama schreibt der Autor den Figuren Ratlosigkeit beim Formulieren, fast pathologische Schweigsamkeit, stockende und stotternde Redeweise sowie überstürzte Reflexreaktionen vor. I m großen und ganzen kann festgestellt werden, daß die sprachlichen Interaktionen der Figuren im literarischen Werk auf den Handlungseffekt hinzielen. Dabei ist eine angemessene Verwendung des restringierten Kodes integraler Bestandteil der Fiktion der Standardhaftigkeit, Konkretheit und Anschaulichkeit der Objektschicht. Der elaborierte K o d e dagegen repräsentiert begriffliche, abstrahierende Verständigung sowie die Bedeutungsschicht, die für das Wesen der künstlerischen Form entscheidend ist, denn sie bestimmt ihren Sinn. I n einer anderen Stilschicht, nämlich in der Ausdruckskomponente der Publizistik, wird meist die kenntnisintegrierende Funktion der Kommunikate unterstrichen, z. B. durch Anführungszeichen, die nicht als Bezeichnung der direkten Rede gesetzt werden: So wird in der Sprachschicht des Kunstwerks in jeder möglichen A r t und Weise die Einzigartigkeit des Kommunikats betont, die Authentizität der Aufzeichnung des Kommunikats aus einer bestimmten sprachlichen Mikrosituation, oder es wird die Berechtigung der Bewertung einer bestimmten sprachlichen Mikrosituation vorgetäuscht. Deswegen neigen die heutigen Autoren meist zu einer breiten Ausnutzung aller Existenzformen der Nationalsprache und aller Stilschichten, um quasi unmittelbar aus einem bestimmten Arbeits-, Gesellschafts- oder Familienmilieu zu schöpfen. Das stets leicht nachweisbare Überwiegen der Schriftsprache in künstlerischen Kommunikaten ist durch die Polyfunktionalität der Schriftsprache, ihre stilistische Differenziertheit, den Reichtum ihrer Ausdrucksmittel sowie durch ihr gesellschaftliches Prestige, jahrelange Tradition, ihre Bindung an das orthographische System und nicht zuletzt durch ihre Unauffälligkeit im Kunstwerk hervorgerufen. I m Prinzip wird jedoch die Bevorzugung der Schriftsprache, vor allem wenn sie vom Standpunkt der Kodifizierung aus
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aufgefaßt wird, nicht durch Anforderungen der Gesellschaft an ein künstlerisches K o m m u n i k a t bedingt, sie beschränkt den K ü n s t l e r in seinem literarischen Schaffen nicht. Bekannt ist die Interpretation, nach der Ausdrucksmittel, die vom S t a n d p u n k t der Nationalsprache aus merkmalhaft, stilistisch aktiv, m a r k a n t sind, ein K o m m u n i k a t schaffen, das seinem Verständigungsbereich a d ä q u a t ist und das dann als entsprechend bzw. auch als elaboriert — verständlicherweise samt den nichtmerkmalhaften Mitteln — bewertet wird. I n künstlerischen K o m m u n i k a t e n k a n n die F u n k t i o n der nichtmerkmalhaften, stilistisch mehr oder weniger inaktiven, aus dem restringierten Kode schöpfenden Mittel b e t o n t werden. Quasi gegen ihr eigenes Wesen haben sie dann global eine sehr aktive Funktion, wenn sie die Bedeutung von Müdigkeit, Monotonie, Stereotypie, Trostlosigkeit in gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Beziehungen sowie Absterben der Lebensaktivität signalisieren sollen. I n dieser Angelegenheit handelt es sich wieder um die Konsequenz der Verknüpfung der sprachlichen Form mit dem Inhalt. Damit auch eine solche Kompliziertheit des sprachlichen Aufbaus des künstlerischen K o m m u n i k a t s in ästhetisch erwünschter Weise wirksam wird, m u ß sich der Künstler durch sein Feingefühl leiten lassen, das auf einer metasprachlichen Bewertung beruht, möge er es durch Studien gewonnen oder dem Usus abgesehen haben. G. B. Shaw sagte: ,,Das Reich des Schriftstellers ist eine Gemeinwiese, und niemand hat das Recht, sie einzuzäunen." Wir meinen, daß dieses Recht nur die eigene metasprachliche E r k e n n t nis des Schriftstellers hat. Eine vor allem metasprachliche Operation stellt die künstlerische Übersetzung dar. Bei ihrer Analyse und Kritik ging man zunächst von der gründlichen K e n n t n i s der Sprache des Originals und der Sprache der Übersetzung aus, später überdies von der Charakteristik der Wörter und Formen. Außerdem sollte der Übersetzer noch Fingerspitzengefühl haben, wie K u r t Tucholsky bemerkte. E s k o m m t u. a. auch auf das Begreifen der kommunikativen Mikrosituation des Originals und ihre Übersetzung entsprechend der Makrosituation der Zielsprache an. Von Wichtigkeit ist schon die erste Entscheidung : ob nämlich die ursprüngliche Mikrosituation zufällig, allgemeiner N a t u r , nicht spezifiziert ist, und nur als solche darf sie vom S t a n d p u n k t des Ortes und der Zeit aus vom Übersetzer übergangen werden, oder ob sie ein wichtiger integraler Bestandteil des Sinns des Werkes ist. I m letzteren Fall beginnt ein anstrengendes Suchen nach Parallelen, die sowohl vom S t a n d p u n k t der sprachlichen als auch der gesellschaftlichen, historisch bedingten und der Arbeitssituation aus voll zum Ausdruck gebracht werden können; dennoch können sie sich dem Ideal der Angemessenheit höchstens annähern. Abschließend möchte ich folgendes zusammenfassen: Es k a n n eine Analogie gefunden werden zwischen der metasprachlichen Tätigkeit des Grammatikers beim Formulieren, Analysieren und Interpretieren, z. B. bei der Wahl der Termini oder der Illokutionsübertragungen, und der literarischen Tätigkeit des Schriftstellers, Dichters und Übersetzers, z. B. bei der W a h l des Ausdrucks oder bei der Schaffung der komplexen sprachlichen Situation des Kunstwerkes. I n beiden Fällen wird die Aufmerksamkeit auf den Satz, das Wort, die grammatische F o r m in der Art und Weise gerichtet, daß sie sie aus der möglichen Reihe der potentiellen sprachlichen Mittel selektiert. I m literarischen Kunstwerk ist der stilistische W e r t des sprachlichen Mittels Grundstein des Aufbaus, der durch das Respektieren metasprachlicher Gesetzmäßigkeiten bedingt ist.
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J. Stevcek
Traditionen des slowakischen Romans und ihre Wirkung in der Gegenwart E s heißt, die Slowaken seien die älteste und jüngste slawische Nation zugleich. Die Formulierung „die älteste" und „die jüngste" verweist auf einen speziellen Zug im heutigen slowakischen Geschichtsbewußtsein, und zwar auf das intensive Interesse an der Herausbildung eines organischen Hintergrundes f ü r die gegenwärtigen kulturellen Prozesse. I m aktuellen slowakischen Kulturbewußtsein existiert ein bestimmter Druck in Richtung Vergangenheit, gerade so, als wolle die Vergangenheit auf den Ruf nach Kontinuität des kulturellen Geschehens antworten. Und der R o m a n ist ein bezeichnender Ausdruck dieser K o n t i n u i t ä t . Die Traditionsbeziehungen im slowakischen Romanschaffen weisen seit E n d e des 18. J a h r h u n d e r t s bis in die Gegenwart verschiedene Formen und Interpretationsmöglichkeiten auf. Überraschenderweise erscheint das, was die Typologie des zeitgenössischen Romans bietet, bereits im älteren R o m a n . Wir denken hierbei a n das Übergewicht bestimmter Struktureigenschaften: es ist nämlich ganz offensichtlich, daß sowohl im neueren als auch im älteren slowakischen R o m a n der A u t o r e n s t a n d p u n k t gegenüber dem Abbild und der epischen Wiedergabe des Stoffes vorherrscht. Die zweite Analogie besteht im Suchen und Nichtfinden oder erschwerten Auffinden des Themas. Die d r i t t e Qualität des älteren und neueren R o m a n s ist bei uns die Sicht auf den Romanstoff „von u n t e n " als Resultat der vorhergehenden Charakteristika. Dieser Fragenkomplex ist aufmerksam, mit Rücksicht auf die besondere Verknüpfung des Vergangenen und Gegenwärtigen in der slowakischen Literatur und in unserem gesamten Geistesleben zu beleuchten. Ungefähr seit dem J a h r e 1838, als der R o m a n „ L a d i s l a v " von Karol K u z m a n y publiziert wurde, über die 40er und 50er J a h r e des 19. J a h r h u n d e r t s hinweg, als Jozef Miloslav H u r b a n seine anregendsten Prosawerke schrieb (den „ A n t i r o m a n " „ P r i t o m nost' a obrazy zo zivota t a t r a n s k e h o " (1844), den R o m a n „Slovenski ziaci" (1853)), bis in die 80er J a h r e des 19. J a h r h u n d e r t s hinein, die mit der Entdeckung des modernen Romans und dem Namen Svetozar H u r b a n Vajanskys verbunden sind, ja bis heute dauert die Tendenz an, den Romanstoff gelehrt und erzieherisch, „von o b e n " zu interpretieren, und den R o m a n vom Autorenstandpunkt aus zu thematisieren. Was sich im Geiste des slowakischen Intellektuellen zutrug, das floß auch aus der Feder des slowakischen Romanciers der nationalen Wiedergeburt: es ging u m einen Gefühlskomplex, wo neben Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit ein chiliastischer Zukunftsglaube Platz fand. Der slowakische Intellektuelle f ü h l t e sich nicht nur unter dem national nicht bewußten Volke, sondern ebenso unter den Intellektuellen einsam. Die Stilisierung der Verlassenheit und der daraus resultierenden Anstrengung, sie mit historischer Fiktion zu überwinden, ist Grundlage jenes slowakischen Romanmodells, das in der Geschichte dieses Genres bei uns a m häufigsten a u f t r i t t . I n gewissem Sinne ist es das System eines Gedichts, das in die Prosa des Lebens projiziert wird. E s ist dies ein R o m a n , dessen epische Schlüsselfiguren von den Ansichten des Autors beherrscht werden. Die reale Welt verbleibt hier im Hintergrund, ja im Abseits, solange ein solcherart festgelegter Autor die magische Grenze seiner Situation nicht überschreiten kann. Ausgehend von
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dieser Romanform und diesem S t a n d p u n k t schuf Vajansky ein harmonisches Modell und auf dessen Grundlage auch meisterhafte Werke des slowakischen Romans. Aber e i ist sicher, daß alles, was wir bei Vajansky finden, bereits auch K u z m a n y und H u r b a n eigen war. Kuzmänys Roman „Ladislav" überrascht mit einer intellektuellen und philosophischen Problematik, die hier nicht nur systematisch und sehr ausgereift eingebracht wird, die direkt oder indirekt die Haltung eines slowakischen Intellektuellen seiner Zeit definiert, sondern im angedeuteten Sinne auch künstlerisch produktiv war. E s handelt sich u m den R o m a n eines Intellektuellen, der sein Drama, also seine Sehnsucht, sich dem Volk anzuschließen und demgegenüber die Möglichkeiten dieser Annäherung in der damaligen Zeit offenbaren und zugleich verbergen möchte. Die skeptische Betrachtung dieses slowakischen Romanmodells ist schon zum Stereotyp slowakischen kritischen Denkens geworden (A. Mräz, A. Matuska). Da ist es interessant, daß gerade Mraz seine kritischen Zweifel später mit dem Obulus des Lobes an Vajanskys Werk bezahlen wollte, so daß sich die heutigen Literaturhistoriker bemühen, ein gerechtes Maß f ü r die Wertung Vajanskys und dazu einer ganzen wesentlichen Entwicklungsetappe des slowakischen Romans zu finden. Anregend ist es zu verfolgen, wie bei uns in den Erzählertyp eines Erziehungsromans das Wesen der slowakischen Kultursituation einfließt. Das Modell der Sichtweise von oben, das psychologische Gefühl der Verlassenheit und des vergeblichen Strebens, eine Romanwelt ohne Basis in der Realität zu errichten, entspricht der Situation der slowakischen nationalbewußten Intelligenz. Innerhalb des historischen und kulturellen Geschehens blieb sie ohne Widerhall, worunter auch solche demokratischen Denker wie Jozef Gregor Tajovsky zu leiden h a t t e n (was aus seiner Korrespondenz ersichtlich wird). Aber dieser fehlende Widerhall, resp. dessen ästhetisch moderierter Komplex besaßen eine u m so größere innere Formierungsfähigkeit und die K r a f t , ein bestimmtes Romanmodell an den Anfang einer Traditionslinie zu stellen, die in abgewandelter Form bis ins H e u t e reicht. Der Fall Vajansky ist deshalb theoretisch so anziehend und f r u c h t b a r , weil Vajansky das angeführte Modell des Erziehungsromans zu einem Zeitpunkt aufstellte, als die Erziehung a n sich schon zu einer fraglichen Methode geworden war, u m Impulse zur Bewegung der sozialen Realitäten und ihrer Umgestaltung zu geben. Andererseits lebt Vajanskys Modell bis in die Gegenwart, weil die Widersprüchlichkeit des Geistes der Geschichte in der slowakischen soziologischen Realität immer noch teilweise relevant ist, ebenso wie das Interesse des slowakischen Intellektuellen a n der Herausbildung bewußter Haltungen zur Realität, am geistigen Wachstum des slowakischen Menschen, a n der Erweiterung des intellektuellen Horizonts seiner Umgebung unvermindert anhält. Der Erziehungsroman wandelt sich mit der Zeit zum tendenziösen, programmatisch ideologischen Roman, u m sich letztendlich dem philosophischen R o m a n anzuschließen. Der R o m a n des Themas, das zweite Modell, erlebte in der slowakischen K u l t u r ein interessantes Schicksal. Schon in den 40er J a h r e n des vergangenen J a h r h u n d e r t s wurde dieser R o m a n t y p vom Prosaautor und Dramatiker J a n Chalupka vorgestellt. Die Substanz seines (polemisch) deutsch verfaßten und 1841 in Leipzig erschienenen Romans „Bendeguez, Gyula Kolompos und Pista Kurtaforint. Eine Donquixottiade nach der neuesten Mode" fand er im Thema des slowakischen Landadels. Wenn die Feststellung interessant ist, daß Chalupka hier vom slowakischen Landadel als soziokultureller Einheit inspiriert wurde, so ist es ebenso interessant, daß der Landadel als Thema im
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slowakischen Roman immer eine widersprüchliche Gestalt a n n a h m . Chalupka, ein Mensch ungewöhnlicher intellektueller Reife, erkannte in seinem R o m a n , daß das historische Schicksal des slowakischen Landadels in dessen baldigem Verschmelzen mit der Bauernschaft, also im Untergang bestand. Die epische Poesie J a n Kalinciaks, die der slowakische Romantiker aus seiner gefühlsmäßigen E r f a h r u n g hervorbrachte und die die landadeligen Figuren mit einer fast Gogol'schen liebenswürdigen und kritischen Aura umgibt, beruht auf derselben Erkenntnis, die J a n Chalupka formuliert hatte, auf der Erkenntnis vom Untergang des slowakischen Landadels, aber ebenso auch auf dem Gefühl fiir seine Attraktivität als slowakische Kulturerscheinung, auch wenn sie f ü r die aufsteigende moderne slowakische Nation unproduktiv war. Die zweifache Bewertung des slowakischen Landadels, die gefühlsmäßige und die sachlich historische, die rationale und die poetische, bringt in den slowakischen R o m a n eine Erkenntnis ein, die in der Entwicklung dieses Genres bei uns ein grundlegendes Übergewicht besitzt: R o m a n t h e m a wird nicht, was sich in der Anfangsphase der Entwicklung befindet, sondern was als Einheit schon ausgebildet und gegebenenfalls historisch überlebt ist. Der slowakische R o m a n (Kalinciak schrieb drei) gelangte zu diesem inneren Bewußtsein über das historische Thema im wörtlichen und übertragenen Sinne, also über ein Thema, das auf seine Weise schon abgeschlossen war. Auch heute, da wir den R o m a n auf die Gegenwart orientieren wollen, fühlen wir, daß sich das R o m a n t h e m a der reinen Autorenintuition, seiner Willensanstrengung und Programmatik nicht leicht unterordnet — wenn es sich um ästhetisch vollendete Romanwerke handelt . Das Romanthema muß historisch vorbereitet sein, wie das übrigens auch Belinskij sagt, wenn er konstatiert, daß sich der Romanschreiber nichts „ausdenken" könne. W a s er „ausd e n k e n " kann, ist das Anliegen, das Programm. W e n n das R o m a n t h e m a soziologische und kulturelle Reife besitzt, wenn es also im Sein und Bewußtsein der Gesellschaft schon seinen Platz gefunden hat, weist es in seiner Verarbeitung als ästhetische Voraussetzung einen hohen Grad an Poesie, an epischer Poesie auf, die auch J a n Kalinciak in den 50er, 60er und 70er J a h r e n des vergangenen J a h r h u n d e r t s anstrebte. Das Thema des Landadels endet mit dem Roman-,,ka.rneval" in Hviezdoslavs E p o s „Gabor Vlkolinsky" (1901), einem poetischen und tragischen Abbild vom Niedergang und Zerfall des slowakischen Landadels. E s geht um sein letztes Aufbegehren in Geschichte und Gesellschaft, nicht aber in der Geschichte des Romans. Sicherlich erscheint das Thema Landadel auch später, bei Nadasi und Hana Zelinova, aber das sind Versuche, diesen Stand leichter, von der Gegenwart aus zu betrachten und nicht in seiner eigentlichen historischen Gestalt. Das Thema des slowakischen Romans besteht in der Suche nach einer starken gesellschaftlichen Instanz, die dem Autor Sicherheit, Erkenntnis und Poesie verleihen soll. Wo der slowakische Roman, auch der heutige, erfolgreich und weiterführend ist, umspielt sein Thema immer die Grenze von Gegenwart und Vergangenheit, oder er ist wiederum die Thematisierung des Autorenstandpunktes. Nicht daß es keine Gegenwartsromane geben würde, aber diese sind teilweise moralisierend, teilweise superintellektuell oder letztlich von schwächerem künstlerischem Niveau. Ich denke hier a n Romane, denen die oben angeführten Stützen fehlen. Schließlich enthüllt auch hier der slowakische R o m a n indirekt etwas Wesentliches aus der slowakischen K u l t u r und ihrer Erfahrung, ihre schwache Verankerung in psychologischen, geistigen und sozialen Prozessen, ihr nichterfüllter Anspruch, kulturvoller Ausdruck des Geschehens, des Lebens zu sein, das sich nicht nur um uns herum abspielt, sondern auch in den Subjekten der 3
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Gesellschaft, im Individuum. Die Gegenwart im R o m a n über den Landadel, z. B. in der klassischen „ R e s t a u r a t i o n " , war Gegenwart in „ K l a m m e r n " , wenn sich ein Autor wie J a n Kalinciak der landadeligen Vergangenheit als verlorener Gegenwart bewußt wurde. N u r Hviezdoslav, der Dichter, vermochte im E p o s „Gabor Vlkolinsky" das Vergangene und das Gegenwärtige in Beziehung zu setzen, wenn er den historischen Bezug des Themas des slowakischen Landadels im dichterischen Parallelismus von historischer und sozialer Existenz und dem Sein überhaupt andeutete. N u r dieser Hintergrund verlieh seinem Thema Wahrheit und Poesie. E i n drittes Herangehen, ein drittes Modell schließt in gewisser Weise die Nahtstellen auf dem historischen Antlitz des slowakischen R o m a n s : Das ist der R o m a n der Realit ä t , wo es weder u m den Autorenstandpunkt noch u m ein kulturell oder historisch vorbereitetes, ausgereiftes Thema geht, sondern um die Realität an sich. I n der Regel trägt d a n n der slowakische R o m a n die stilistischen Merkmale einer Reportage, was sich historisch und entwicklungsmäßig beweisen läßt. E s war der erste slowakische R o m a n von Bajza „Rene mläd'enca prihodi a skusenosti" (T. 1: 1783, T. 2: 1785, unvollst.), der die anregende Wirkung und Widersprüchlichkeit eines Romans mit Reportagencharakter demonstriert. Bekannt ist, daß der erste Teil dieses Werkes aus dem 18. J a h r h u n d e r t fiktiv ist, und heute ist es schon fast ganz sicher, daß Bajza die Vorlage f ü r den fiktiven Bestandteil seines Romans, f ü r die Handlung, im alten antiken R o m a n f a n d . Nicht genügend gewürdigt verblieb jedoch ein F a k t der Entwicklung und des historischen Sinns dieses R o m a n s : Bajza glich die Fiktion, in die er viele seiner Erkenntnisse und sein Realitätsgefühl hineinlegte, mit „ F a k t e n " aus, die er direkt der Gegenwart, der eigenen E r f a h r u n g entnommen hatte. Bajzas R o m a n mit zweifacher Gültigkeit und Gestalt ist f ü r uns typisch. Auf der einen Seite ist hier die Fiktion, getragen von einer bestimmten Philosophie und vor allem vom Autorenstandpunkt, auf der anderen die Reportage, die beobachteten F a k t e n . Die theoretische und die empirische Sphäre bilden die unausgewogene Grundlage des „Romans der R e a l i t ä t " von Bajza bis zur Gegenwart. Wieviel Mühe legte J o n a s Zäborsky in seine Romanarbeiten, u m das zu verknüpfen, was f ü r einen R o m a n gleichermaßen notwendig und wesentlich ist, die Autorenkonzeption und das Abbild der Welt! Wieviel Mühe widmete er seiner „ F a u s t i ä d a " (1864, unvollst.; 1912, vollst.), einer prächtigen Romantravestie, der Herabsetzung hoher Begriffe und Anschauungen, u m das zu überwinden, was in der slowakischen Literatur „ o b e n " ist (der Autor) und was unten ist (die Realität)! Die f ü r Zäborsky historisch und entwicklungsmäßig unlösbare Situation erwies sich z . B . auch f ü r den sozial-expressionistischen R o m a n der dreißiger J a h r e als gleichermaßen unlösbar, wo das Thema ein Ergebnis der Autorenvision und die Konzeption Angelegenheit von Willen und Emotionen des Autors ist. Der R o m a n als historisch-ästhetische Einheit drückt indirekt ein bestimmtes ungelöstes Problem der slowakischen K u l t u r aus: die Gesellschaft, die gesamte Umwelt des Menschen, auf die sich der R o m a n bezieht, als Angelegenheit des integrierten Individuums darzustellen, also zu erleben und zu begreifen. Wir denken hierbei nicht a n die Autorenpersönlichkeit, obwohl das Problem auch mit diesem Aspekt des Romanschaffens verbunden ist; es geht uns um eine Erscheinung von prinzipieller, kultureller Art, und zwar u m die individuelle Fähigkeit, die gesellschaftliche Gesamtheit zu reflektieren, die von einem P u n k t aus erklärbar ist, von einem Erlebniszentrum, von einer moralischen oder philosophischen Reflexion, von einer dichterischen Vision, von einem Analysestandpunkt.
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Die Frage nach der Ursache hängt mit der soziologischen Grundlage der slowakischen Gesellschaft zusammen, die nicht vollständig ausgebildet und strukturiert ist, also historisch, psychologisch und moralisch unausgereift. Thematisch am produktivsten ist d a r u m in der slowakischen Literatur der Erziehungsroman, also jener R o m a n , der auf die Interpretation der Darstellung eingestellt ist; das höchste künstlerische Niveau besitzt, wenn es möglich ist, hierunter die gesamte komplizierte ästhetische Problematik zu fassen, der R o m a n des Themas, wo es nicht darum geht, zu entdecken, sondern eher zu konstatieren, zu gestalten; noetisch am entdeckungsfreudigsten und meist auch a m stärksten ist der R o m a n der Realität, falls wir ihm „verzeihen", daß er wenig durchgestaltet und episch ist. Diese F a k t e n können aber nicht zu pessimistischen Schlußfolgerungen führen. W ä r e es so, würden wir die historische Methode verhehlen. Die historische Methode als die Betrachtungsweise von Geschichte und gesellschaftlichen Prozessen berechtigt uns, die Bewertung des Heutigen von Skepsis und die Anzeichen des Zukünftigen von Negativit ä t zu befreien. E s geht uns nicht u m eine Unterschätzung der R o m a n e der 70er u n d 80er Jahre, also der Gegenwart, die zweifellos ein Eintrag in das slowakische R o m a n schaffen sind. E s liegt uns eher daran, die ästhetische Situation des slowakischen Romans zu durchdenken und die Reflexion über ihn zu vervollständigen. Der zeitgenössische slowakische R o m a n erreichte bedeutende internationale Erfolge (Budmerice, London 1987). Die Bedeutsamkeit des slowakischen R o m a n s beruht, wie wir anzudeuten versuchten, auf der nachhaltigen Inhaltsproblematik und den sich daraus ergebenden einfachen Erzählmethoden. Stets dominiert der Autor, die Tradition oder die Realität. Die slowakische Gesellschaft vervollkommnet sich, und das ist die Basis der inhaltlichen Stärke ihres Romanschaffens. Der R o m a n ist eine F u n k t i o n der gesellschaftlichen Entwicklung, Ausdruck ihrer geistigen E n t f a l t u n g , aber es ist dies ein Roman, der eher von der „Romansituation der Gesellschaft" als von einer „ S i t u a tion des R o m a n s " definiert wird. D a r u m sehe ich die nächste Entwicklungsetappe des slowakischen Romans in der Vertiefung moderner Romanmethoden und -techniken und in der Verfeinerung der I n haltsproblematik. Dies ist eine kritische, aber optimistische These. Sie verweist auf die Tradition, die keine historische und ästhetische Abgrenzung mehr sein wird. Das ist ein schöpferischer Determinismus der unauskristallisierten Gegenwart und ihrer möglichen geistigen und ethischen Aspekte! Marcel Proust sagt übrigens sinngemäß: die ästhetischen Mittel des Romans verfeinern sich unter dem Einfluß inhaltlicher Subtilität. Übersetzt von U. Raßloff
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Z. B a s t l o v a
Der tschechische Gegenwartsroman im Vergleich zum DDR-Roman Die Frage nach der Veränderung des Romans gewinnt zunehmend das Interesse der Literaturwissenschaftler. Die Veränderung des tschechischen Gegenwartsromans wird jedoch meist nur mit dem Blick auf die eigene Literaturproduktion verfolgt. Selten widmet m a n sich dieser Problematik unter komparatistischen Gesichtspunkten 1 . Wir wollen zeigen, inwieweit Metamorphosen des tschechischen Gegenwartsromans mit Veränderungen des Gegenwartsromans der D D R übereinstimmen bzw. divergieren. Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, soll versucht werden, diese Frage am Beispiel einiger Werke zu beantworten. Unsere Aufmerksamkeit gilt an dieser Stelle der künstlerischen Darstellung auf der ästhetischen Ebene der Einheit und des K a m p f e s der Widersprüche — der Konfliktebene. Denn im Konflikt und Konflikt verlauf spiegelt sich wider, in welchem Maße der Autor Bewegung oder Stagnation der Gesellschaft künstlerisch darstellt, in welchem Maße das Werk den f ü r die Z u k u n f t von Gesellschaft und K u n s t entscheidenden Tendenzen entspricht. Stellen wir uns also die Frage: Worüber geben Konflikte des zeitgenössischen Romanschaffens Auskunft? Läßt sich eine Entwicklungsdynamik feststellen, wenn ja, in welchem Sinne? Zu Beginn der 80er J a h r e erschien Z. Pluhars R o m a n ,,V sest vecer v Astorii" (1982; dt. „Abends u m sechs im ,Astoria'" [1986]), der von der Literaturkritik hoch eingeschätzt wurde 2 . Der Konflikt, der nicht nur den entscheidenden Kampf u m den Charakter der Republik, sondern auch den Prozeß der Konstituierung der sozialistischen Gesellschaft reflektiert, hat seinen Platz bereits in Werken der 70er J a h r e gefunden ( z . B . bei B. Nohejl, Velkä voda [1973]; A. Pludek, Vabank [1974]). Der Werdegang der sieben Gymnasiasten und ihres Lehrers wird in der Makrostruktur durch den Konflikt zweier Gesellschaftsformationen (des Kapitalismus und des Sozialismus) dargestellt, in der Mikrostruktur durch den Konflikt, der aus einem unterschiedlichen Grad staatsbürgerlichen Bewußtseins erwächst. Der Doppelcharakter des Konflikts setzt einen inneren Prozeß in Zusammenhänge, die diesen nicht nur hervorgebracht haben, sondern ihn auch weiterhin beeinflussen. Makrostruktur und Mikrostruktur in ihrer Wechselbeziehung räumen der Entwicklung der einzelnen Charaktere ungewöhnlich viel Platz ein, wobei sich im makrostrukturellen Konflikt die innere K r a f t des Sozialismus, die Humanisierung der Gesellschaft durchsetzt. E b e n diese Wechselbeziehung legt gleichzeitig auch andere Seiten dieses Prozesses frei, und zwar, daß der Klassenantagonismus, aus dem die neue Gesellschaft erwächst, im Sozialismus nicht aufgehoben wird. E r zeigt sich jedoch in anderer Gestalt. Im gesellschaftlichen Bewußtsein existiert er weiter als Konflikt zweier Welten, zweier gesellschaftlicher Systeme. Innerhalb unserer Gesellschaft stellt er sich dar als Kampf der im Entstehen begriffenen sozialistischen Moral mit den Folgen einer besiegten Vergangenheit. Der Konflikt zwischen einer Moral, die alle Hindernisse bei der Schaffung menschlicher Verhältnisse f ü r das ganze Volk beseitigen soll, und einer Moral, die im Widerspruch zum Wesen sozia1 2
vgl. M. Z a h r ä d k a , Paralely a vztahy, P r a h a 1986. vgl. H . H r z a l o v a , Gas zivota a cas romanu, in: Literarnik mesicni 10/1983, S. 22—23 ;M. P o h o r s k y , Hledani velkeho romanoveho t e m a t u , in: Literarni mesicnik 5/1983, S. 16 — 19; S. J u g a , Srdcovä sedma a on, in: Ucitelske noviny 37/1983, S. 12.
Z. BASTLOVÄ, Der tschechische Gegenwartsroman
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listischer Gesellschaftsbeziehungen steht, k a n n sich so vertiefen, daß er antagonistischen Charakter annimmt. Die Transformation des antagonistischen Konflikts f ü h r t bei P l u h a r zu einer R o m a n s t r u k t u r , die den Prozeß der Formierung neuer gesellschaftlicher Beziehungen in einem K o n t e x t objektiviert, wie ihn sich die tschechische Gegenwartsprosa in einer solchen Vollständigkeit bis heute nicht bewußt gemacht hat, obwohl gerade dieser Aspekt f ü r das heutige gesellschaftliche Bewußtsein von ungewöhnlich großer Bedeutung ist. I m Zusammenhang mit P l u h a f s R o m a n darf m a n H . K a n t s „Die Aula" (1965; tsch. 1967) nicht unbeachtet lassen. Mit Humor, Ironie, zum Teil mit satirischer Schärfe modelliert der Autor das Schicksal von vier Freunden, Absolventen der Arbeiter-undBauern-Fakultät, wobei die Entwicklung R o b e r t Iswalls eine Schlüsselrolle einnimmt. Die einzelnen Entwicklungswege verdeutlichen neben den positiven Veränderungen im Denken der Menschen und den Veränderungen der Heimat des Autors nach der Befreiung auch die starke Bindung von Menschen an die Welt des Egoismus und des Gewinns, die sie zum Verlassen ihres Landes bewegt. Der Konflikt zweier Ideologien widerspiegelt sich ähnlich wie bei P l u h a r im Bewußtsein der Gestalten und determiniert ihr Handeln. Ähnlich angelegt sind auch die Gestalten der begabtesten Studenten, Quasi Rieck und Marian Navara. Interessanterweise wurde bei beiden R o m a n e n von der Kritik konstatiert, daß die Autoren die negative Wandlung dieser Gestalten nicht hinreichend motivierten 3 . Die Tatsache, daß sich diese Romantendenz in ihrer allgemeingültigen Gestalt in der D D R früher manifestierte als bei uns, gibt A u s k u n f t über unterschiedliche objektive, mit dem sozialpolitischen Entwicklungsstand des jeweiligen Landes zusammenhängende Faktoren und über subjektive Faktoren, wie z. B. Stand der Literatur als Ganzes und individuelle Voraussetzungen der Schriftsteller. Infolgedessen wurde K a n t s R o m a n bei Erscheinen der tschechischen Übersetzung 1967 nur wenig beachtet, auch wenn im K u l t u r z e n t r u m der D D R in P r a g eine Gesprächsrunde über dieses Werk s t a t t f a n d . Als der R o m a n im J a h r e 1975 ins Slowakische übersetzt wurde, w a n d t e ihm die tschechische Kritik erneut ihre Aufmerksamkeit zu, die sich seiner Parallelen mit dem Schaffen und den gesellschaftlichen Erfordernissen in der CSSR bewußt geworden war 4 . E i n e ähnlich positive Rolle spielte im tschechischen literarischen Kontext Ch. Wolfs R o m a n „Nachdenken über Christa T . " , der in der ÖSSR im J a h r e 1977, neun J a h r e nach Herausgabe in der D D R , erschien. Er stellte u n d beantwortete Fragen, die den tschechischen, vor allem den intellektuellen Leser interessierten und zu denen sich tschechische Romanciers erst zu äußern begannen (0. Chaloupka, Zitra rano [1981]; R . J o h n , Dzinovy svet [1981]; P. Prouza, K r ä m e k s kräskami [1981]; J . Cejka, Kulisäci [1985]). Sujetkern des R o m a n s von Ch. Wolf ist die Schilderung des Entwicklungsweges eines Menschen, der danach strebt, „er selbst zu sein". Dies glaubt er zu erreichen, indem er sich „über die Dinge" stellt. Ziel der Autorin ist es zu zeigen, daß ein Leben nach diesem Prinzip unmöglich ist und sich auf ein tragisches E n d e zubewegt. Zu dieser E r k e n n t n i s gelangt auch die Hauptheldin, doch erst in dem Moment, als es bereits zu spät ist, als 3
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vgl. Z. K o z m i n , Roman o N D R , in: Literärni listy 23/1968, S. 9; E. A d a m o v a , Hermann Kant „Aula", in: Impuls 5/1968, S. 377 —378; M. B r o u s k o v a , Klickujici talent, in: Host do domu 5/1968, S. 6 7 - 6 8 . J. J a n o v s k y , Vyznamny roman z NDR, in: Literärni mesicn ik 5/1976.
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die Realität selbst sie einholt — die E r k r a n k u n g an Leukämie. Der Tod Christa T.s drückt symbolisch den Gedanken aus, daß m a n nicht innerhalb einer Gesellschaft leben und gleichzeitig über ihr stehen kann, daß das Leben nicht vom Willen und Wunsch des einzelnen abhängt. Der Schluß, daß ein Leben nur in der gegenseitigen Formung von Mensch und Wirklichkeit möglich ist, wird im R o m a n nicht explizit ausgedrückt. Zu ihm gelangt der Leser selbst, weil der Erzähler die Rolle eines Chronisten eingenommen hat und entstandene Fragen eher andeutet als beantwortet, so daß der Leser ständig zum Nachdenken über das Problem und seine Lösung gezwungen ist, was bereits der Titel des Buches indirekt ausdrückt. (Aus diesem Grunde entspricht der tschechische Titel „Nävrat ke Christe T . " nicht der Absicht der Autorin.) Die meisten typologischen Übereinstimmungen mit Ch. Wolfs R o m a n weist 0 . Chaloupkas R o m a n „Zitra räno" 5 auf, die Darstellung des Schicksals eines jungen Anwalts, der in eine Krise gerät. Wie auch f ü r Ch. Wolfs Heldin ist die Ursache dieser Krise eine Ungeklärtheit der gesellschaftlichen Position, das Streben, über den Dingen stehen zu wollen. Auch Chaloupkas Held durchlebt diesen Konflikt in der ersten H ä l f t e der 60er J a h r e . Die zugrunde liegende Handlungsebene bildet die K o n f r o n t a t i o n zweier widersprüchlicher Lebenssichten des Helden. Vor dem Hintergrund eines sich verschärfenden K a m p f e s von zwei entgegengesetzten Ideologien, wo die Zeit den Menschen zwingt, sich zwischen ,,ja" und „ n e i n " zu entscheiden, erkennt der Held, daß er f ü r ein schöpferisches Leben die Moral und besonders die Einstellung zur Arbeit begreifen muß, wie sie seinem Freund, einem Arbeiter, eigen ist. Bei der Untersuchung der Romanentwicklung auf Grundlage von typologischen Ubereinstimmungen und Unterschieden gewinnt auch die Übersetzung als Form der Rezeption a n Bedeutung. Wenn sich zeigte, daß die genannten R o m a n e H . K a n t s und Ch. Wolfs im tschechischen K o n t e x t eine entscheidende Rolle spielten, bedeutet das noch nicht, daß es nur um eine einseitig gerichtete Wirkung geht. Auch die tschechische Literatur in deutscher Übersetzung wirkt im K o n t e x t des DDR-Schaffens als a d ä q u a t e Erscheinung, die bei Bewahrung der nationalen Spezifik Tendenzen der rezipierenden Literatur entspricht. E r w ä h n t sei in diesem Zusammenhang Jaromila Kolaroväs R o m a n „ M ü j chlapec a j a " (1974 6 ; dt. „Mein J u n g e und ich" [1977] 7 ), von dem man sagen kann, d a ß seine A u f n a h m e in der D D R und eine K o n f r o n t a t i o n mit Ch. Wolfs R o m a n „ K i n d h e i t s m u s t e r " (1976 8 ; tsch. „Vzory d e t s t v i " [1981] 9 ) seine wirklichen Werte verdeutlichen. „Jaromila Kolarova k n ü p f t damit an die proletarischen Literaturtraditionen der frühen 20er und 30er J a h r e an, ausgewiesen durch N a m e n wie I v a n Olbracht oder Marie Majerovä, und setzt sie unter sozialistischen Verhältnissen in realistischer moderner Schreibweise fort. . . . Doch nimmt der dissonante Schluß des Romans von der darin verfochtenen historischen Richtigkeit und Überzeugungskraft kommunistischer Ideale nichts zurück, denn Aufarbeitung der Vergangenheit, ideo-
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6 7 8 9
vgl. Z. H e r m a n , 0 . Chaloupka, Zitra rano, in: „Mladä fronta" vom 23. 10. 1981; J. H e r t o v ä , Krok do dospelosti, in: „Rüde pravo" vom 8. 1. 1982. vgl. H. H r z a l o v a in: Literärni mesicnik 6/1974. M. J ä h n i c h e n , Erleben des Lebens, in: „Sonntag", Nr. 48/1978, S. 12. S. B o c k , Ch. Wolf: Kindheitsmuster, in: Weimarer Beiträge 23 (1977), H. 9, S. 1 0 2 - 1 3 0 . vgl. jer, Cesta do detstvi za 46 hodin, in: „Svobodne slovo" vom 21. 1. 1982, S. 5; I. Z i t k o v a , Christa Wolfovä, Vzory detstvi, in: „Mlada fronta" vom 6. 2. 1982, Beilage S. 4.
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logische Auseinandersetzung in der Gegenwart, Klärung der Standpunkte, mit einem W o r t : Kampf wird als Voraussetzung angesehen, Neues durchzusetzen." 1 0 Den R o m a n J . Kolarovas verbindet mit Ch. Wolfs R o m a n die Lebensbilanzierung von Menschen, die ihre bisherigen Erfahrungen zusammenfassen, sie mit der Gegenwart konfrontieren und Antwort auf die Frage finden, wer sie sind, welche Umstände und welche Menschen ihre Charaktere geprägt haben. Beide Heldinnen suchen nach Kriterien eigener S t a n d p u n k t e und die Konsequenzen f ü r das eigene Handeln, wobei sie sich der Bedeutung der Kindheit eines Menschen f ü r seine Entwicklung bewußt sind. Ihr Bild entsteht durch die Spannung zwischen dem Pol der Lebensskepsis u n d der Anpassung, die eine der Ursachen d a f ü r ist, daß Menschen zu einem willfährigen Instrument einer Maschinerie werden, daß sie sich manipulieren lassen, und d e m Pol, den die Menschen, die das „Salz der E r d e " und des Lebens sind, bilden. Beide R o m a n e legen die nationale Psyche in ihren verschiedenen Schichten und in verschiedenen Zeitebenen frei. Trotz übereinstimmender allgemeiner Züge tritt in ihnen die nationale Spezifik in solchem Maße hervor (Problematik der nazistischen Ideologie bzw. der Krise der 60er Jahre), daß die Verschiedenartigkeit beider R o m a n e deutlich wird. Bereichert wurde der deutsche Leser auch durch das Schaffen von L. Fuks 11 , wie z. B. durch den Roman „Pasacek z doliny" (1977; d t . „ D e r H ü t e j u n g e aus dem Tal" [1978]). Mit der Gestalt des J u n g e n aus einem abgeschiedenen Dorf im östlichsten Zipfel der Republik zeigt F u k s inmitten der Nachkriegswirklichkeit Züge, Verhältnisse und Verwicklungen, in denen erneut auflebt, was den Reiz menschlicher Beziehungen in den E p e n Homers und den patriarchalischen Zeichnungen des Alten Testaments ausmacht. Die Gestalt des Hütejungen fühlt die Zusammengehörigkeit der menschlichen Welt mit der N a t u r und bewahrt in sich wirkliche Menschlichkeit. Fuks, f ü r den jedes Werk ein Problem der Form darstellt und der sich bemüht, so überzeugend wie möglich und auf hohem künstlerischen Niveau den gesellschaftlichen Prozeß in einer neuen Qualität zu erfassen, objektiviert in seinen menschlichen Schicksalen eine Situation, in der eine mythologische Beziehung zur N a t u r , zum Nutzen des Menschen aufgehoben wird. Mit der die Kindheit der Gesellschaft symbolisierenden Naivität des Kindes gibt er einer realen Aussage unserer Epik Ausdruck, die den Weg zu einer wirklichen Erfüllung früherer Träume weist. Von E. Fetter wurde an diesem R o m a n besonders seine Lyrizität und Poetizität hervorgehoben 1 2 . Neben einer R o m a n s t r u k t u r , in der ein in der sozialistischen Gesellschaft lebender Held zwei Gesellschaftsordnungen konfrontiert und zur Erkenntnis eines sich unter d e n Bedingungen des Sozialismus ausbildenden neuen Inhalts menschlicher W ü r d e gelangt, entwickelt sich deutlich eine R o m a n s t r u k t u r mit einem Helden, der in Konflikt gerät mit der kleinbürgerlichen Lebensweise, wie sie sich von einem Teil unserer Menschen zu eigen gemacht wurde. Betrachten wir das tschechische Romanschaffen, so fällt auf, d a ß in den Werken, die das größte Echo bei Leser und Literaturkritik fanden (J. Svejda, Moloch I [1983] und Moloch I I [1985]; R . Räz, Sokmistr [1985]; J . K f e n e k , Tomas a Marketa [1984]; J . Kostrhun, Svatba stoleti [1984]; Z. Zapletal, Pülnocni bezci [1986]), die Darstellung 10 11
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M. J ä h r l i c h e n , Erleben des Lebens (s. Anm. 7), S. 12. Obraz Martina Blaskowitze (1980), dt.: Berlin 1983; Neboitici na bale (1972), dt.: Berlin 1976; Mysi Natalie Mooshabrove (1971), dt.: Berlin 1982. vgl. E. F e t t e r , Aus dem Nebel heraus, in: „Nationalzeitung" vom 2. 6. 1980.
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des Konflikts zwischen den Zielen unserer Gesellschaft und der Praxis selbst auf Kritizismus reduziert wird. Von Svejda bis K o s t r h u n stoßen wir in kleinerem oder größerem Maße auf Probleme bei der E n t f a l t u n g sozialistischer Demokratie, darauf, daß Schöpfern und Trägern neuen Denkens nicht genügend R a u m zur Realisierung gegeben wird, während eine offenkundig utilitaristische Arbeitseinstellung Erfolge feiert. Mit „Tomás a Markéta" und „ S v a t b a stoleti" liegen R o m a n e vor, die auf künstlerische Weise mit beachtlicher Glaubwürdigkeit das illustrieren, was Lenin in seinen Erwägungen über den Klassenkampf während der D i k t a t u r des Proletariats so formulierte: ,,... nach Ergreifung der Macht wird dieser K a m p f fortgesetzt, jedoch in anderen Formen", eine dieser Formen ist ,,die Verteidigung der Interessen der Arbeiterklasse gegenüber Grüppchen, Gruppen und Schichten von Arbeitern, die hartnäckig an den Traditionen (Gewohnheiten) des Kapitalismus kleben und den sowjetischen Staat mit gleichen Augen betrachten wie den f r ü h e r e n : so wenig und so schlecht wie möglich ,fiir ihn' zu arbeiten — so viel wie möglich Geld ,aus ihm' pressen" 1 3 . Diese zitierten Worte über den Klassenkampf in der Phase der Errichtung unserer Gesellschaft haben Gültigkeit nicht nur in der tschechischen Literatur. U n t e r Bewahrung nationaler Spezifik finden wir gleiche Gestaltungsweisen im Romanschaffen der D D R (z. JB. im Schaffen G. de Bruyns, W. Heiduczeks, E . Richters, K . Nowaks). Dieter Noll gestaltete in seinem Roman „ K i p p e n b e r g " (1979, tsch. 1982)14 das Bild eines Menschen, der sich nicht nur der Leere eines bequemen Lebens bewußt wird, sondern auch einen Weg aus dem Spießbürgertum findet, das ihn bereits zu verschlingen drohte. Noll überläßt seiner Hauptgestalt die Konfliktlösung. Sein Held m u ß zuerst „sich selbst säubern", in sich Joachim K., den ehrlichen und furchtlosen Menschen finden und sich eines Kippenbergs der Halbheiten, des Karrierismus und des Egoismus entledigen. Die eigene Wiedergeburt hilft gleichzeitig jenen, die bemüht sind, schöpferisch tätig zu sein, hilft ihnen, ihren hohen moralischen Anspruch zu bewahren. Die tschechische Prosa der 70er und Anfang der 80er J a h r e weist keine überzeugenden Romanwerke auf, die die Grenze des Kritizismus überwinden und einen gangbaren W e g aus dem Spießbürgertum aufzeigen, wie es in Werken der DDR-Literatur gelungen ist. Die tschechische Literaturkritik in diesen J a h r e n fordert kontinuierlich einen aktiven Helden unserer Gesellschaft und findet ihn nicht, obwohl es ihn in den Romanen J . Frais' „Muzi z podzemniho k o n t i n e n t u " (1978; dt. „Männer vom unterirdischen K o n t i n e n t " [1984]) und „Narozeniny s v é t a " (1981; dt. „ N a c h dem K . O . " , [1984]) gibt 15 . Der Romanheld in diesen Werken ist kein bloßer Betrachter des Lebens, er gestaltet es aktiv mit. E r stellt nicht mehr jenen T y p dar, wie wir ihn bei Svejda, Ráz oder Zapletal finden. E r schweigt nicht zu Betrügereien und Unehrlichkeit, äußert seine Meinung a m richtigen Ort und liebt vor allem seine Arbeit, findet in ihr Befriedigung und Freude. Trotz ihres Wertes fanden beide R o m a n e kein großes Echo in der tschechischen Literaturkritik. Demgegenüber wurden sie in der D D R hoch eingeschätzt. Hier f ü g t e n sie sich in eine Reihe von Romanen ein, in denen es um die Bezwingung festgefahrener Stereotypa geht, um die Fähigkeit des Menschen, Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. 13 14
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W. I. L e n i n , Werke, Bd. 25, Bln. 1970. vgl. D. K ö r n e r , Verstört suchend, in: „Der Morgen" vom 17. 2. 1979; G. V e s e l a , Obraz nasi doby, in: „Rude prävo" vom 28. 2. 1983, S. 5. Auch in den Werken M. Rafajs, St. Rudolfs, J. Stans, F. Skorunkas, jedoch in nichtüberzeugender psychologisch-künstlerischer Gestaltung.
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E s stellt sich die Frage, ob die tschechische Literaturkritik mit Hilfe eines Vergleichs des tschechischen Schaffens mit dem einer anderen Literatur J . Frais' R o m a n im tschechischen K o n t e x t nicht einen anderen Stellenwert beimessen würde. Betrachtet wurden von uns bisher zwei Tendenzen des Romankonflikts, die eine neue Gestalt des Klassenkonflikts widerspiegeln. Die humanistische K r a f t des Sozialismus wird hier bereits zum bestimmenden Faktor. So treten im Bewußtsein der Existenz eines globalen Klassenkonflikts der Welt neue Formen eines Antagonismus innerhalb der sozialistischen Gesellschaft zutage. Gleichzeitig bedeutet dies jedoch einen Konfliktt y p , der f ü r die Entwicklung des Sozialismus notwendig ist und dessen D y n a m i k widerspiegelt. Es wird deutlich, daß sich diese Konfliktpolarität gegenseitig durchdringt, daß sie sich in R o m a n e n in einem unterschiedlichen Wechselverhältnis manifestiert. Hierauf gründet sich die künstlerische Vielfalt des Gegenwartsromans. Andererseits wird von dieser Konfliktpolarität die Tatsache widergespiegelt, daß ein neues Aufblühen der Menschlichkeit nur durch eine konsequente E n t f a l t u n g einer revolutionären Arbeitsmoral und durch die Bekämpfung kleinbürgerlicher Lebensweise möglich wird. I n den Romanen des sozialistischen Realismus der 70er und 80er J a h r e bildet sich ein neuer Konflikt heraus, der über den Klassenkonflikt hinauswächst, weil er eine weitere Seite aufdeckt, die sich erst unter den Bedingungen des Sozialismus ausprägt. (Er äußert sich in Verflechtung mit Konflikttypen, von denen bereits die Rede war.) Gemeint sind Romane, die — u m es mit den Worten E . Fojtikovas zu sagen — „dem Leser helfen, sich den Reichtum der Welt vom einzig möglichen S t a n d p u n k t aus anzueignen, vom S t a n d p u n k t der künftigen kommunistischen Gesellschaft" 1 6 . I n der tschechischen Literatur ist dieser T y p in unterschiedlichem Maße präsent mit den R o m a n e n „ P o d zim v k r a j i t y g r ü " (1979) von J . Kozäk, „2ivot stridä s m r t " (1985) von P . Prouza, „Milenci na cely zivot" (1987) von J . Suchl. Die neue Qualität in der Romangestaltung zeigt sich vor allem in der Darstellung des Individuums und seiner Beziehung zu anderen Menschen und zur Welt. Die Hauptgestalten I v a n und Narina in ,,Podzim v k r a j i t y g r ü " , Pavel und Hedvika in „Zivot strida s m r t " , Vit und I d a in „Milenci n a cely zivot" weisen Züge auf, die den Menschen der künftigen kommunistischen Gesellschaft charakterisieren, wie es von Karl Marx vorausgesehen wurde, als er schrieb: „ . . . vyssi rozvoj individuality se v y k u p u j e jedine takovym historickym procesem, v nemz jsou individua obetoväna" 1 7 . Grundlegender Zug der Partnerbeziehung dieser Gestalten ist bewußtes Übersichhinausgehen f ü r den anderen und die bewußte Herausbildung einer harmonischen Beziehung. Die P a r t n e r wecken die Sehnsucht und das Bedürfnis, gemeinsam durch das Leben zu gehen, ohne ein bequemes Leben, R u h m oder Geld zu erstreben. I n der Literatur der D D R ist eine solche Beziehung zwischen zwei Menschen nicht dargestellt worden. E s gibt sie jedoch in einer Form, die der tschechische Leser bereits aus B. itihas R o m a n „Doktor Meluzin" (1973; d t . 1976) k e n n t . I n H . Sakowskis R o m a n „Daniel D r u s k a t " (1976; tsch. 1979) wird ein Mensch gezeigt, der mit seiner bisherigen Sicht der Wirklichkeit zugunsten der Z u k u n f t bricht. Das eigentliche D r a m a des Widerspruchs zwischen alter Sichtweise unter d e m Gesichtspunkt des Sozialismus und neuer Sicht unter dem Aspekt einer künftigen Gesellschaft wird im Konflikt der Hauptgestalten transparent gemacht. Der Konflikt zwischen Daniel und S t e p h a n läßt 16 17
E. F o j t i k o v ä , Leninskä kulturni politika je stale aktualni, in: Literärni mesicnik 3/1986. K. M a r x , Ke kritice politicke ekonomie, Praha 1953, S. 155.
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sich mit Stephans Worten verdeutlichen: „Ich denke immer an mein Dorf, du denkst an die ganze W e l t . " So bewertete die Literaturkritik der D D R Leben, Handeln und Denken der Titelgestalt folgendermaßen: „Druskats Leben ist das Leben eines Vorkämpfers für die sozialistische Umgestaltung auf dem Lande, eines vorbildlichen Mannes." 1 8 Deutlich wurde, daß die neue Romantendenz Werte in unserer Gesellschaft aufdeckt, auf die man sich auf dem langen Weg zu einer klassenlosen Gesellschaft stützen kann. Kehren wir nun zurück zur Ausgangsfragestellung, so läßt sich konstatieren, daß die Wandlung des Gesellschaftsromans die Entwicklung unserer Gesellschaft widerspiegelt, daß der Klassenkonflikt weiterhin seine Gültigkeit behält, gleichzeitig aber ein neuer Konfliktbegriff entsteht, der dem Prozeß der Humanisierung der Gesellschaft in einem Maße entspricht, wie ihn die Literatur bisher nicht kannte. Weiterhin kann festgestellt werden, daß trotz nationaler Spezifik in unserem Romanschaffen und dem der D D R allgemeine übereinstimmende Züge übernationalen Inhalts erkennbar sind und daß sich beide Literaturen gegenseitig bereichern. Übersetzt von M. 18
vgl. K . Z i p p e l , Ein anständig gelebtes Leben, in: Der Bibliothekar 11/1976.
Heinemarm
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I. S e e h a s e
Josef Peterkas philosophisches Poem „Autobiografie vlka"/ „ Autobiografie cloveka" Die Gegenüberstellung „Wolf" und „Goethe" hat Josef Peterka nicht erfunden. Wir kennen sie aus der Journalistik des Jahres 1918. In Karel Capeks „Kritika slov I I " heißt es: „Byl Goethe, byl K a n t , byl nevimkdo jeste; ale je to Iva pfednost a zasluha, jsi ty tim o neco vice nebo neco lepsiho? Jsi kulturni, veliky, lidsky a svetovy proto, ze nekdo pred tebou byl takovy? Jsi Wolfüv nebo Goethüv, smoküv ci Kantüv? Co jsi ty? . . . Nezälezi na tom, ci jsme, nybrz na tom, ci jsi ty. Narod sam potrebuje spise lidi nezli jmen." 1 Daß hier nicht „vlk", sondern Wolf bevorzugt wurde, hat sicherlich etwas mit dem gesellschaftlichen Anwendungsbereich der Gegenüberstellung zu t u n : Capek bringt in Erinnerung, daß es Deutsche waren, die dem Schlieffenplan gemäß im ersten Weltkrieg im neutralen Belgien einfielen. Aber er entwickelt aus der Anspielung „masirovali porazenou Belgii" eine selbstkritische Adresse an jedes Volk unter dem Titel „My, närod neci". Die Welthaltung des Autors offenbart sich als direkte Gretchenfrage an den Leser: Wolf sein oder denkender Mensch? Für den Schriftsteller gilt die abgeleitete Entscheidungsfrage: Bist du „smok" 2 — liebdienerischer Schreiberling — oder Immanuel K a n t ? Capek übernimmt im Stil seiner Antwort den kategorischen Imperativ und wendet Kants Sittengesetz auf eine welthistorische Situation an, die ein nicht-chauvinistisches Denken und Handeln jedes einzelnen gebietet. Den Namen K a n t finden wir in Peterkas Dichtungen nicht. Der Autor hat ein distanziertes Verhältnis zum aufklärerischen Optimismus und damit letztlich auch zur Selbstbestimmung eines Künstlers, der davon überzeugt ist, daß die Maxime seines Wollens jederzeit ein Prinzip der allgemeinen Gesetzgebung werden könnte. Dennoch (oder gerade deshalb) fragt er in einer veränderten Situation der Menschheit nach den humanen Chancen f ü r das Individuum und eine „Vernunftkultur". Mit Capeks journalistischer Äußerung verbindet seine Gedichte vor allem die „geistige Angespanntheit" des Textes. Walfried und Christel Hartinger definierten dieses Merkmal jüngst bei der Charakteristik neuester Gedichte von Volker B r a u n : „Die geistige Angespanntheit der neuen Texte beruht darauf, daß der Dichter die geschichtliche Wirklichkeit, gegenwärtig erlebte wie künftig zu gewinnende, mit seiner philosophischen Auffassung, politischen Position und ethischen Überzeugung im Wortsinne anspruchsvoll ins Verhältnis setzt." 3 Bei einigen Ähnlichkeiten im Dichtertyp unterscheidet Josef Peterka vom genannten DDR-Lyriker auf den ersten Blick schon die Art, die Frage nach dem Sinn des Lebens zu gestalten. Er schreibt an einem prägnanten, krisenhaften P u n k t seiner Entwicklung, angesichts der ihm drohenden Gefahr, entweder ein „smok" zu werden oder ein ungewollter Parteigänger bestimmter Außenseiter. Peterka teilt solche Besorgnisse mit einer kompakten Dichtergruppe, in der er das Wort nahm. Eine 1 2 3
K . C a p e k , 0 umeni a kulture I, P r a h a 1984, S. 481. vgl. F. T r ä v n i c e k , Slovnik jazyka ceskeho, P r a h a 1952, S. 1505. C. u. W. H a r t i n g e r , „Der Lorbeer bloßen Wollens h a t nie gegrünt . . . " — Zu Volker Brauns Gedichtband Langsamer knirschender Morgen, in: D D R - L y r i k im K o n t e x t ( = Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, 26 [1988], S. 223.)
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Reihe von Gruppenmerkmalen verweisen also auf bestimmte nationale Situationen und Traditionen. Besonders auffällig ist der Bezug zur Avantgarde. Als die tschechischen Dichter der Gruppe um Vitezslav Nezval das 30. Lebensjahr überschritten hatten, stellten sie im Flugblatt „Surrealismus v Ö S R " 1934 die Frage nach dem Sinn des Lebens auf neue Weise: „Coz neprichazi surrealismus mezi nas prave vcas, coz nebylo potfeba . . . moralni a intelektualni krise lidem, kteri prekrocili tricitku, majice za sebou tolik a tolik odvaznych del jez zivilo dvacetilete nadseni, coz se neocitä tricetilety muz, ktery to a to vykonal, na naklonene rovine, odkud vede cesta pfimo k resignaci ci zradc, coz neni v tomto veku prave najvic pokousen temi, kdoz by rädi korumpovali vse, co stoji za korupci, coz se prave po tricatem roce nezfekli sve provokativni ülohy duchove krajne zajimavi, kteri, obesedse tuto krisi, dali pfednost stati se konvencnimi, coz müzeme ruciti za to, ze bez teto krise by kterykoliv z näs z okamzite ünavy ci ze strachu pred realnym zivotem nemohl ucinit kompromis, jenz by ho zabil?" 4 K n a p p e 50 J a h r e später war die tschechische Dichtergeneration um Karel Sys (J. Peterka, J . Pelc, J . Simon, J . Zäcek u. a.) in ihr viertes biologisches Lebensjahrzehnt eingetreten. Ihre bedeutendsten Vertreter hatten erfolgreich die Möglichkeiten der Selbstmitteilung ausgeschöpft. Sie empfanden, daß ihnen nun eine ,,2. Geburt" (pferod) bevorstehe, wenn sie Schriftsteller bleiben wollten, die den Mut zur Wahrheit glaubwürdig äußern. Wie ihre linksavantgardistischen literarischen Vorbilder, zu denen sie sich mit eigenwilligen Auswahlbänden aus den Gedichten von Nezval und Halas bekannten, orientieren sie sich in dieser kritischen Situation auf den Lebensprozeß. „Basnik a spolecnost" nannte Karel Sys ein Buch, in dem er seine Generationsgefährten iin J a h r 1981 vorgestellt hat. Auf Peterkas Gedichte nahm er 1986 und 1988 so Bezug: ,,Nase generace, at' je jakakoli, neni povrchni. Hrdina Autobiografie vlka nebyl zlym vlkem z pohädky a hrdina Autobiografie clovcka neni clovekem bez bazne a hany. Oba maji rub i lic a mezi obema stranami jeste mnoho odstinü, ktere teprve tvofi nefalsovany a nezfalsovany obraz byti. Takovä poezie pritahuje lidi, kteri jsou ve stavu okolni vseobecne beztize schopni vnimat gravitaci." 5 Somit dürfen die Werke, die wir interpretieren wollen, als generationentypisch im tschechischen literarischen Bewußtsein bezeichnet werden. Die objektive Realität ist inzwischen wohl noch schwerer durchschaubar als in den 30er Jahren. Doppeldeutig geworden sind die Tendenzen des Zeitalters 6 , das diese Dichter in ihrem „eigenen Begriff vom J e t z t " 7 vorstellen wollen. Josef Peterka (geb.1944) formulierte im Aufsatz „Dialektika sücasnosti", daß wir uns nur dann Herren des Geschehens nennen dürfen, wenn wir die Mittel unseres Handelns hinsichtlich langfristiger Ziele beherrschen 8 . Auch die Kommunikationschancen des Dichterworts werden heute entschieden skeptischer beurteilt.
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Letäk Surrealismus v CSR zitiere ich hier aus dem Original 1934. Für die Möglichkeit, diesen Text einzusehen, danke ich Herrn Dr. V. Kubin, Prag. K. S y s , 0 jedne (?) basnicke generaci, in: „Kmen" vom 28. 4. 1988. J. P e t e r k a , Dialektika süßasnosti, in: „Nedel'a" vom 6. 5. 1985, S. 1. Auffällig, bis in die Formulierung ähnlich ist die Artikulation der Zeiterfahrung, wenn wir sie mit Äußerungen von Arendt, Cibulka, Hermlin, Hüchel, Wiens und Bobrowski vergleichen, wie sie U. Heukenkamp vorlegte in: Weimarer Beiträge 33 (1987), S. 805. vgl. J. P e t e r k a , a. a. 0 .
I . SEEHASE, Peterkas „Autobiografie vlka"/„Autobiografie cloveka"
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Im Präludium zu „Autobiografie vlka" (1980) — im weiteren Text 1 — stellt sich das Autorenmedium mit folgenden Merkmalen vor: Nichtheld/schüchtern vermeldend, daß seine Arbeit das Bücherlesen sei/einer, der beim Lesen nachdenkt und manchmal selbst im Traum die Wahrheit nicht findet/ einer, der bedrückt erkannte, daß wohl nur jedes tausendste Wort eine Chance hat, gehört zu werden. (S. 9)9 Dieses lyrische Ich nimmt nichts individuell Merkmalhaftes für sich in Anspruch, wenn es die Künstlerproblematik thematisiert. Wir sehen darin einen ersten gravierenden Unterschied zu Vitezslav Nezval und dessen Gedichtband „Absolutni hrobaf" (1937). In Peterka liefert sich kein auf Einmaligkeit bedachter Autor an einen ebenso einmaligen aufnahmebereiten Rezipienten aus. Die kommunikative Basis einer individuell besonders sensibilisierten Aufnahmebereitschaft wird verschmäht. Die Dichtergestalt beansprucht nicht mehr und nicht weniger, als ein „Naturwesen mit Stimme" 1 0 zu sein. Was da weit in das kulturell-kommunikative Umfeld hineingreift und den gesamten Text metaphorisch durchkettet, kann man — genaugenommen — kein lyrisches Ich nennen. Ungewohnt ist auch die Urnsetzung der Lebensrealität. Der Untertitel zu „Autobiografie cloveka" (1983) — im folgenden Text 2 — lautet: „Poeticke divadlo pro nekolik hlasü jedneho rnuze". Verschiedene Stimmen vermitteln hier die einzelnen „pictura". Es wird kein eindeutiges Bild von äußeren Vorgängen oder vom Geschehenscharakter angestrebt. Aus einem heftig wirkenden, weil intensiv mitgeteilten Erlebnis der jeweiligen „Stimme" wächst die gnomische Reflexion. Meist sind die Bilder lose gereiht und betonen eher etwas dem Menschen Vertrautes. Es geht dem Autor um das größtmögliche Einvernehmen im Menschlichen. Der Leser soll ein gedanklich angereichertes Bild des „gewöhnlichen" kollektiven Schicksals der Menschheit selbst für sich zusammensetzen können, in das er sinnenfällig einbezogen ist. Eben diese beiden Differenzen zur tschechischen historischen Avantgarde, die sonst als Erbewert unverkennbar ist, sollen beschrieben werden. Ein kultursemiotischer Zugang zu den Texten bietet sich von deren Spezifik her an. zu 1: Die Funktionen des Dichters und seines Textes werden identisch benannt: Beide wollen Wehr und Zeichen sein. Ein Zeichen für die Bedürftigkeit nach dem Fortbestand der Bindung von Menschheit und Natur. Ein Wehr gegen die Selbstdeformation und die Selbstvernichtung der Menschheit. Zu diesem Zweck werden Text 1 und Text 2 verschieden aufgebaut. Text I veranschaulicht den Blutkreislauf, der Mensch und Außenwelt natürlich verbindet. Text 2 schildert das biologische und gesellschaftliche Reifen eines ganz gewöhnlichen Menschen im realen Sozialismus: Kind, Schüler, Studierender, Lehrer und Vater, öffentlich tätiger Mensch. Den einzelnen und die Menschheit verbindet das Bewußtsein der gemeinsamen Verantwortung für die Bewohnbarkeit des Planeten. Der Dichter lieh zwar Text 2 mehr Details seines eigenen Lebenslaufes, Tber Text 1 sagt mehr über seine Schaffensprobleme aus. aitel und Text 1 halten insgesamt ambivalent, ob das Tier Wolf gemeint ist oder das Symbol Wolf. Zunächst werden in einem gedachten „Panoptikum lidske geologie" (S. 15) nebeneinander in folgender Reihung in Käfigen vorgeführt: 9
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Sämtliche in Klammern genannte Seitenangaben beziehen sich auf die tschechischen Erstausgaben von T e x t 1 und 2. Auch in diesem Punkt besteht Übereinstimmung mit der typologischen Charakteristik des Warngedichts, wie sie S. Schlenstedt gegeben hat. Vgl. bes. d i e s , i n : Welt im sozialistischen Gedicht, Bln. 1974, S. 28.
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— das Raubtier Wolf; — das seiner natürlichen Eigenschaften vom Menschen beraubte manipulierte Wolfstier H u n d ; — der wölfisch einsame literarische Held und sein Autor — stark kollektiver Individualist und individueller Kollektivist. Hier treffen wir Macha und Vilem, die Nemcova und Viktorka, Olbracht und seinen Nikola Suhaj, Hermann Hesse und seinen Steppenwolf ; — der Wolf als Symbol vom Menschen, der dem Mitmenschen ein Wolf ist; — der Mensch als wölfischer Ausplünderer der Erde. Die Geschöpfe in Peterkas Panoptikum oder Zoo wirken in der Reflexion des Beobachters aufeinander ein. Er stellt sich und uns die Frage, wer wen gegenwärtig am wölfischsten bedroht. Obgleich — wie zu Nezvals Zeiten — noch immer Menschen dem anderen Menschen ein Wolf sind, sieht Peterka die größte Gefahr im wölfischen Zugriff zur Natur der menschlichen Zivilisation. „Nase lekärstvi /ma plodne vysledky s pokusy na zviratech/ sudy sera jsme injekcne odkouseli na techle potvürkach. I antikoncepci,/ bohuzel jsou tak trochu neplodni, /daji se pfevychovat, nechteji vsak rodit, / S tim se ovsem v programu pocita/ a neplodnost resime plänovite." (S. 18f.) Dieser bitter-sarkastische Einschub der eignen Meinung zur Genmanipulation wird als handlungsretardierendes Moment noch vor der Vorführung der Wolfsarten gegeben. Und erst nach diesen „Zoo-Attraktionen" und nach dem Erschrecken vor den künftig möglichen menschlichen Eingriffen in die genetische Struktur der N a t u r wird das Künstlerproblem persönlich-unpersönlich und ebenso zeitgebunden-zeitlos eingekreist. Es geschieht in einem Traum vom Tribunal, genannt „Pohädka o cervene karkulce" — Rotkäppchenmärchen: Da hatte doch ein Höhlenbewohner der Betongroßstadt elegisch aufgeheult. Ausgerechnet nachts im Kurort Karlovy Vary, wo sich die Schöpfer des Wohlstands und der Zivilisation verdientermaßen erholen, wie ein Zeuge dem Gericht erklärt. Der angeklagte Wolfsdichter begründet seinen Angstschrei mit einem Alptraum — er wurde gejagt und konnte die rettende helle H ü t t e nicht erreichen. Sein erstes Argument f ü r die Warnfunktion der Kunst als Wehr und Zeichen verweist auf verwandte literarische Gestalten wie besonders den frühergrauten Vilem des tschechischen Romantikers Karel Hynek Macha. Da die Richterinstanz diese Verteidigung nicht anerkennt, wird nun die Psychologie bemüht: Der Dichter habe eine unerklärliche Abscheu vor Hunden, die ihre Herkunft vom Wolf verrieten, die aber längst verlernten, offen zu kämpfen und die meuchlerisch jaulend den Jäger mit dem Gewehr herbeirufen. Die Art, in der formuliert wird, verrät allerdings wenig Vertrauen in die Überzeugungskraft der eignen Worte und Bilder. Hingegen klingt das dritte Argument wie eine romantische Konfession, die in eine große Gegenanklage mündet: „ . . . Hledal jsem läsku vzprimenou jak vzpoura/ proti vsemu, co nas rozdvojuje, / proti vsemu, co nas jenom syti,/ proti koristi, kterä zavaluje/ brlohy pfibytku naporem veci,/ zatimco prostor mezi ocima a mezi zuby,/ zatimco prostor mezi rty/ näm vytesnuje dizajn prekäzek." (S. 27f.) Aufheulen, aus der gefühlsmäßigen Unterernährung einen Grund finden, f ü r jemand anderen zu leben — dies nun nähert sich dem neuen Kern der Sache in Romantikerart. Bemerkenswerterweise läßt Peterka den Wolfsdichter nicht triumphieren. Es ist verständlich, daß er entsetzt aufschreit beim Anblick der Moldau, die einst Bedrich
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Smetana („Vitava") und Karel Toman („Mesice") als Symbol der Heimat besungen hatten. Denn inzwischen — so erfahren wir — ist der Fluß ein bißchen verseucht und Tomans roter Mohn mit PVC ausgetilgt. Nun beobachtet der Wolfsdichter, wie er ungewollt plötzlich in einer Reihe steht mit sehr verschiedenen „Wölfen" — mit Plebejern, Präromantikern, Aussteigern, Primitiven, Panoptikumsreifen. Besonders wichtig erscheint mir, daß er um sein schreckliches Risiko weiß, dem Betrug einer Verlockung zu unterliegen, die ihn tatsächlich zum Aussteiger aus dem Sozialismus machen könnte. Allzuleicht verwechselt einer in sich Instrument und Ziel. Eben deshalb erklärt sich der zum Ankläger gewordene Angeklagte zuletzt selbst schuldig, allzu harmlos auf das Entsetzliche und Schreckliche reagiert zu haben. E r nennt sich „strasidlo obcanü a lhostejny jim tak,/ ze mam strach, aby vyhlazene vlky nenasli pak ve vlastni povaze. A jako kdyz/ ve starych dobach jeste lava ze sopek/ se vyrinula do ziveho mesta,/ az zkamenela küze kräsnych lidi,/ cos ve mne stka a krici uzkosti, ze/ mizime sami sobe pfed ocima." (S. 32f.) Auch weiterhin fehlt in diesem Selbstbild vom Dichter jeglicher Zug von Selbstgerechtigkeit. I m dritten Gesang stellt er sich als Teil des gehetzten Alltags sich selbst dressierender Großstadtmenschen vor. I m unbarmherzigen Selbstversuch spaltet er sich selbst in den Wolf Naturwesen und in den mit den Hunden Heulenden. E r will nicht besser und nicht schlechter sein als jeder beliebige arbeitende Mitmensch in seiner Umgebung. zu 2.: Eingangs verglich der Dichter sein Werk mit einem kleinen Grab. Am Ende von Text 1 spricht er von einem großen Grab, nämlich von der Gruft Talsperre. E r erzählt im Abgesang („Pfehradni hraz") ein modernes Gleichnis von Segen und Fluch des menschlichen Schöpfertums. E s ist für das zivilisierte Land seiner Ansicht nach erforderlich, daß das Wehr im Staubecken Wasser zurückhält, selbst wenn die Quellen der Flüsse vermauert werden mußten. Die mit dem kollektiven menschlichen Werk verglichene Talsperre versteht er zugleich als das Gesamtreservoir einer Menschheitskunst, die in das Leben eingreift. Dies ist eine Umpolung zum Text 2 und zu unserer zweiten Frage. Die menschliche Arbeit als Tochter der Natur tritt jetzt stärker in den Mittelpunkt der Reflexion. Sofern sie ein Kunstwerk im oben beschriebenen Sinn ist, darf sie nicht der Eitelkeit entspringen: „ne ovsem ponoren do sebe sebelaskou/ jako muz, ktery dosah navzdy sveho,/ jako muz, ktery pochvalen a uznan/ uz nechce nie krom sebe sama . . . stud mi nedovoli/ byt nafoukanec, pfeziravec, ktery/ hned heslem zmeni svet a pocasi a dava reeepty/ na näladu pri drobnych katastrofach . . . " (S. 20) Ob Wahrheit oder Granit gefördert wird, beides ist in Peterkas Auffassung Steinbrucharbeit. Beides bedingt einander und sollte gesellschaftlich kontrollierbar sein. Wollen wir die beschriebenen Texte rezipierbar machen, dann werden wir Lesegewohnheiten verändern müssen. Während der Shakespeare-Tage 1988 ergab sich in Weimar eine Diskussion zu Heiner Müllers „Anatomie Titus. Ein Shakespearekommentar". Dieses Stück, ebenfalls von einem Autor geschrieben, der gelegentlich Literatur und Steinbrucharbeit vergleicht, läßt sich nicht mit unseren eingeschliffenen Sehweisen begreifen. Der Rezipient wird geradezu gehindert, mit der Fabel mitzugehen. Mehrere Zuschauer führten nun Beschwerde gegen den Regisseur, der eigentlich dasselbe tat wie Peterka in seinem Text 2: Die „Leiter zur Wirklichkeit" wird von ihm stellenweise abgebrochen. Dann erhält im Stimmenwechsel das rational Unbegreifliche einer ungeheuerlichen Bedrohung die ästhetisch adäquate Stimme des Wahnsinns. Sie bricht kraß ein in die logisch aufgebauten Argumentationen und (oder) in poetisch aufdringlich bis
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zur Sentimentalität gestaltete Erlebnisse. Die unsymmetrische Stimmenvielfalt des Durcheinanders ist atmosphäreschaffend. So veranschaulichen heute einige Dichter eine äußerst widersprüchliche Lebendigkeit. Solche Textpartien lassen sich deshalb nicht in der linearen Sujetabfolge zernehmen. Peterka empfahl selbst einmal, von der „Nestbildung" (hnizdovani) auszugehen 11 . Das war f ü r mich hilfreich, u m die Dimensionen des „Umdenkens in den Formen" 1 2 überhaupt beschreibbar zu machen. Angesiedelt wurde zum Beispiel im Text 1 bei den Käfigen mit den Wolfstypen ein nicht näher beschriebener Käfig mit Faust und Gretchen und mit der lakonischen Feststellung „ j e Faust a Marketa". Ereignisse des Textes 2 werden jedoch mit Hilfe der Formel „ j e Faust a Mefisto" zugeordnet und gewertet. Sie bleibt schließlich der einzige F e s t p u n k t im ständigen Pulsieren zwischen den Polen der Möglichkeit und der Wirklichkeit, zwischen Tradition und Z u k u n f t , zwischen Konkretem und Abstraktem — spürbar gemacht über funktionale Stilschichten, die ein unterschiedliches Betroffensein des Erlebenden in Stimmungslagen (moods) umsetzen; Simultanität wird suggeriert. I n jähen Umbrüchen der Mitteilung ist der Wahrheitssuchende bald Bittsteller f ü r jeden Grashalm, bald Mahner wegen der Runzeln aller Mütter, bald Narr, der sich und uns den Spiegel vor das Gesicht hält, bald ein zutiefst Geängstigter, der in Wahnsinnsvisionen das mögliche Schicksal der Menschheit schaut. In diesen wechselnden Optiken vollzieht sich — ich wiederhole es — ein ganz normales Menschenleben im Sozialismus: prägende Kinderwelt und Erziehung, Liebe und Arbeit. Weil aber im Gedächtnis der Menschheit der faustische Wahrheitsdrang verankert ist, können auf der diachronen Ebene des Bewußtseins dem Wissen u m Faust und Mephisto Widersprüche jeglicher menschlicher Handlungsweise abgewonnen werden. Das Faustische wird zu einer betont sinnfälligen Formel verknappt (Je Faust a Mefisto) und so als I n t e r t e x t und „ N e s t " eingespeist. Die lose daran gefügten Gegensatzpaare lauten: Forschen und Sünde; Gedanke und S t a u b ; Sehnen und Gelächter, Skepsis und Konstruktion, Abgrund und Produktion. Diese Art der „Nestbildung" ermöglicht es, über Sinn und Fluch der menschlichen Einflußnahme auf die N a t u r nachzudenken. U m Wehre gegen den Abgrund stabil zu machen und R a u m zu schaffen f ü r das Produktive, sieht der Autor f ü r sich nur eine einzige menschheitliche Chance: Wir sollten einander immer wieder u m E r b a r m e n bitten f ü r diese unsere erste und letzte Welt, wenn wir etwas auf unserem Planeten anstellen; in allen Dingen, die wir — jeder einzelne — tagtäglich verrichten. Die F u n k t i o n des literarischen Werks ist in diesem Sinn ein Teil der humanisierend begriffenen menschlichen Zivilisation. Eine letzte Beobachtung sei noch angemerkt. I m Text 1 unterstrich Peterka, der ja selbst ein erfahrener Literaturwissenschaftler ist, die Überzeugungskraft seiner Erbetheorie („Metamorfözy tradic"). I n Text 2 bleibt die Bezeichnung der Wehrfunktion einer lebensverbundenen zeitgenössischen K u n s t nach meiner Meinung verhaltener als in seinen zeitgleichen theoretischen Beiträgen wie „Kritika fiktivni revolty" oder „Umeni a filosofie". Sichtlich waren die literarischen Texte eine Art Vorverständigung 11
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Dieses Verfahren beschreibt Peterka selbst in seiner Analyse von Karel Tomans „Mesice" (Rozumet literatufe, Interpretace zäkladnich del ceske literatury, hg. v. M. Z e m a n u. Kollektiv, Praha 1985, S. 238 — 244), die auf mich stellenweise eher wie ein Schlüssel zu Text 1 und 2 wirkt. ebd., S. 242.
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über theoretische Probleme, die der A u t o r d a n a c h aufgriff 1 3 . Bemerkenswert erscheint mir jedoch, d a ß P e t e r k a einen a n d e r e n Beweis indirekt erbrachte, nämlich d a ß ein intimes Verflechten der p r a k t i s c h e n u n d der ästhetischen Einstellung zur Wirklichkeit u n m i t t e l b a r im künstlerischen S c h a f f e n s a k t s p ü r b a r g e m a c h t werden k a n n . G e r a d e ein solches U n t e r f a n g e n b e t r a c h t e n mehrere Zeitgenossen als ,,utopie t v o r b y " 1 4 . Zugleich m ö c h t e ich betonen, d a ß sich T e x t e wie die hier vorgestellten in P e t e r k a s Schaffen k a u m wiederholen werden. D e n n ein kommunistisch engagierter D i c h t e r erlebt eine so mitteilungswerte p r o d u k t i v e Krisensituation auf seinem Schaffensweg wohl n u r einmal. I n diesem einen Fall ist sein literarisches W e r k ein E l e m e n t (nicht n u r ein Objekt) des Suchens der wirklichen Bewegung in der L i t e r a t u r u n d im L e b e n zugleich. Solche D i c h t u n g k a n n d a h e r a u c h nicht nur als O b j e k t der K o m m u n i k a t i o n angeeignet werden, sondern sie m u ß a u c h als thematisierter P r o d u k t i o n s - u n d K o m m u n i k a t i o n s vorgang im E p o c h e n k o n t e x t begriffen werden. E s empfiehlt sich abschließend einige Sentenzen P e t e r k a s d e m I n t e r p r e t a t i o n s v e r s u c h hinzuzufügen. Schon der Titel S E N T E N C E Z B L O K U h a t insofern eine d o p p e l t e D e u t b a r k e i t , als die B e n u t z u n g von G r o ß b u c h s t a b e n f ü r den G e s a m t t i t e l die I n t e r p r e t a t i o n „ B l o c k " (Notizblock) ebenso zuläßt wie B L O K (Gruppenbezeichnung der sozialistisch-realistischen K u n s t b e w e g u n g der 30er J a h r e in der ÖSR). Die A u s f ü h rungen hingegen zeigen unzweideutig die Z u s a m m e n h ä n g e zwischen poetischer S t r u k t u r u n d philosophischem D e n k e n f ü r die Schreibzeit von T e x t 1 u n d T e x t 2 auf. W i r m ö c h t e n sie zusammenfassend n e n n e n . 1. I m W e r t b e w u ß t s e i n des lyrischen Ichs wird der persönlichkeitsgeprägte Lebensbezug hervorgehoben. P e t e r k a spricht in d e n Sentenzen wie in T e x t 2 von „ h o d n o t a solovych p a r t i i " , f ü h l t sich dabei als ein eher verhaltener P a t h e t i k e r u n d verallgemeinert f u n k t i o n a l : ,,Svou az dojimavou läskou k detailu, svou setrnou prezentaci slozitych jevü u m i poezie kläst doslova h o u z e v n a t y o d p o r m e n t ä l n i korozi — v s e m geometricky n a l i n y r o v a n y m chodniküm, vsem apriorismüm a d u s e v n i m s t e j n o k r o j ü m " . 2. Der Dichter v e r t r i t t die Ansicht, d a ß seine Maxime „ I c h weiß, d a ß ich nichts w e i ß " m i t d e m Selbstbewußtsein v e r b u n d e n ist, zu den Quellen vorzudringen. D a s Gedicht bezeugt ihm die Gesundheit des menschlichen Organismus; es ist bei aller I n t r o s p e k t i o n v o m D r a n g zur Selbsterkenntnis so d u r c h d r u n g e n , d a ß eine „Biographie der Z e i t " erstrebt wird, wobei sich der einzelne Dichter als „ A t o m seiner G e n e r a t i o n " einordnet. 3. E i n e Unterscheidung s u b j e k t i v e r u n d o b j e k t i v e r L y r i k wird abgelehnt, d a diese A r t des lyrischen Epos persönliches als anthropologisches D e n k e n versteht u n d d e n P l a n e t e n auf „ T a s c h e n f o r m a t " k o m p r i m i e r e n will über Synekdoche, Metapher, indirekte A r t des assoziierenden Z i t a t s . 4. — und das ist in der tschechischen L i t e r a t u r seltener als in vergleichbaren S t r ö m u n gen anderer sozialistischer Völker — b e a n s p r u c h t der Dichter f ü r sich die Bezeichnung nüchterner Optimist. E r t r e n n t sein E n g a g e m e n t klar von d e m eines skeptisch l a u e r n d e n Pokerspielers ab, aber a u c h von U t o p i s t e n u n d T r ä u m e r n . F ü r ihn m a c h t der Widers p r u c h s c h a r a k t e r der realen W e l t diese anziehender, gesetzmäßiger erklärbar als jegliche utopische Alternative. Mit seinem G e n e r a t i o n s g e f ä h r t e n J i r i Zäcek u n d auf N e z v a l bezogen wird b e h a u p t e t : „ J e n m r t v i n e j s m e p r o t i s o b e . " 13 4
J. P e t e r k a , Teoretické otázky rozvoje socialistického realismu, Praha 1986; mehrere seiner Beiträge zur aktuellen Literaturdebatte publizierten die Zeitschriften „Nedel'a" und „Kmen". vgl. J. S l a w i n s k i in: Ceská literatura, 1977, S. 472.
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',Zvony p a m e t i " , wie Karel Sys mit Nezval das Gedichtgenre einmal lakonisch charakterisierte, lassen sich nicht beliebig zum Schwingen bringen, wenn Pragdichtung zur Menschheitslyrik werden soll. Eine Vorbedingung ist jenes Verhältnis des Lesers zu Prag und zur Menschheit, das Nezval in „ P r a h a s p r s t y deste" so festhielt: „Plac a smej se rezezvuc vsecky sve zvony J a k jsem se ja snazil rozezvucet vsecky zvony pameti Nebot' cas leti a ja bych toho chtel jeste o tobe mnoho rici Öas leti a ja jsem toho dosud o tobe malo rekl." 1 5 Es sei nicht verschwiegen, daß solche Lyrik außerhalb des nationalen K o n t e x t s schwer lesbar ist und daß eine künstlerisch a d ä q u a t e Übersetzung schwer realisierbar wäre. Denn zu Metaphern, f ü r die es deutsch nur Umschreibungen geben kann, k o m m t ein erheblicher U n t e r t e x t und I n t e r t e x t aus der heimischen Literatur. Beispielsweise die Assoziation des Konzepts von Marie Majeroväs „ P f e h r a d a " (1932). Oder die R o t k ä p p chen-Version in St. K . Neumanns „ R ü d e zpevy", ein Versuch, den Abstoß vom Märchen f ü r die Epochenverständigung zu reaktivieren; oder eine geglückte pictura der tschechischen Literatur, Jiri Wolkers „Universitni knihovna", die P e t e r k a aus der gleichen Stimmung heraus aktualisiert. Oder — es k a n n nur um wenige herausgegriffene Beispiele gehen — wir entdecken die Paraphrase eines Schlüsselgedichts von K . H . Macha (,,Hledäm lide ..."), die die zu probleinatisierende romantische Konfession trägt. Bisherige internationale Erfahrungen mit den Zone-Gedichten der tschechischen Avantgarde zeigten, daß solche Texte in der Regel nicht oder spät in andere Sprachen übersetzt werden. Dennoch meine ich, daß sie als poetologisch-poetische Selbstverständigungen über Literatur als einen zeitgenössischen Lebenswert in internationale Deb a t t e n über die Künstlerproblematik eingebracht werden sollten. 15
Zitiert als Vorspruch zu K. S y s , PraZsky chodeo II, Praha 1988.
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U. R a ß l o f f
Das Ende der Linearität Romankomposition
und Weltbild in Ladislav Balleks Roman
,,Akazien"
I n der slowakischen P r o s a k a m es E n d e der 70er, A n f a n g der 80er J a h r e zu einem explosionsartigen Aufschwung im R o m a n s c h a f f e n . A u t o r e n wie P e t e r J a r o s , Vincent Sikula u n d I v a n H a b a j w i d m e t e n sich slowakischer Nationalgeschichte u n t e r n e u e m A s p e k t : aus der Sicht des I n d i v i d u u m s , „ v o n u n t e n " , regionalbetont 1 . D a s gilt a u c h f ü r Ladislav Ballek, der m i t seinem m o n u m e n t a l e n R o m a n „ A g ä t y " (1981), dessen d e u t sche Ü b e r t r a g u n g von R e i n h a r d Fischer „ A k a z i e n " (1986) erschien, die a n g e d e u t e t e E n t w i c k l u n g zu einem H ö h e p u n k t f ü h r t e . Dieser A u t o r (geb. 1941) verfolgt seit Erscheinen seines Novellenbändchens „ D i e S ü d p o s t " ( „ J u z n a p o s t a " , 1974) i m R o m a n „ D e r Geselle" („Pomocnik, 1977), in d e n „ A k a z i e n " u n d a u c h in seinem neuesten R o m a n „ D a s W a l d t h e a t e r " („Lesne d i v a d l o " , 1987) k o n s e q u e n t seine K o n z e p t i o n , ein umfassend-ausführliches, regional-konkretes Bild der slowakischen, seine Generation b e t r e f f e n d e n Geschichte zu zeichnen, u m die P r o b l e m a t i k der Gegenwart begreifen zu k ö n n e n . Ausgehend von dieser K o n z e p t i o n soll im folgenden ihre Realisierung im Werk „ A k a z i e n " b e t r a c h t e t werden, das d e m L e b e n in einer südslowakischen K l e i n s t a d t nach d e m zweiten Weltkrieg gewidmet ist, u m darauf a u f b a u e n d den Sinn des Werkes u n d eine f ü r unsere Lebenssituation, f ü r unsere Gegenwart naheliegende I n t e r p r e t a t i o n abzuleiten. I n theoretischer Hinsicht soll von zwei Voraussetzungen ausgegangen w e r d e n : E r s t e n s wird das literarische K u n s t w e r k , der Gegenstand der U n t e r s u c h u n g , als S y s t e m angesehen, welches selbst aus den verschiedensten Teilsystemen besteht, zwischen d e n e n geordnete u n d u n g e o r d n e t e Beziehungen existieren u n d die sich zu einer n e u e n Q u a l i t ä t , eben d e m W e r k , z u s a m m e n f i n d e n , das wiederum B e s t a n d t e i l von a n d e r e n S y s t e m e n i s t ; zweitens wird vorausgesetzt, d a ß die Beziehungen zwischen den Systemen weder s t a r r , mechanisch, einseitig noch linear sind, sondern beweglich, wechselseitig, vibrier e n d , schöpferisch, pulsierend 2 . U m die K o m p o s i t i o n des R o m a n s zu analysieren, soll auf eine seiner m a r k a n t e s t e n E i g e n s c h a f t e n verwiesen werden, die gleichzeitig als G r u n d p r i n z i p von Balleks Schreibu n d Denkweise anzusehen ist u n d P o e t i k und W i r k u n g dieses Buches maßgeblich m i t b e s t i m m t : sein simultaner u n d zugleich komplexer C h a r a k t e r . Auf folgende F r a g e n wird eine A n t w o r t g e s u c h t : W o r i n zeigt sich das k o m p l e x e H e r a n g e h e n des Autors a n T h e m a tik u n d Stoff, wie schlägt es sich im W e r k t e x t nieder? Wie werden all die E l e m e n t e , die als Voraussetzung einer komplexen W i r k u n g in i h m e n t h a l t e n sind, zu einem einheitlichen Ganzen verflochten? Welche Wirkungsmöglichkeiten hält dieses komplex konzipierte Wirklichkeitsabbild f ü r den heutigen Leser bereit, der sich m i t b r e n n e n d e n Lebensfragen k o n f r o n t i e r t sieht, d a er in einer Zeit lebt, in der existentielle Menschheitsprobleme bis hin zur E n t s c h e i d u n g über den F o r t b e s t a n d der Menschheit als A r t n a c h einer Lösung d r ä n g e n i 1
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ausführlich zur Situation vgl. L. R i c h t e r , Slowakische Prosa der siebziger und achtziger Jahre, in: Weimarer Beiträge 32 (1986), S. 5 - 3 0 . ausführlich zu Grundlagen und Konsequenzen dieser Auffassung vgl. P. Z a j a c , Tvorivost' literatüry, in: Slovenske pohl'ady 1/1988, S. 34—49.
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Als komplex gegliedertes Gebilde erscheint das Werk gleich bei seinem ersten Eindruck vor dem Auge des Lesers, weil es sich aus neun relativ selbständigen, genremäßig differenzierten Teilstücken zusammensetzt. Einerseits können sie isoliert Geltung beanspruchen und eine a d ä q u a t e Wirkung hervorrufen 3 . Andererseits erwachsen alle Einzelteile gemeinsam, in ihrer direkten oder weniger direkten Wechselwirkung, zu einer neuen Qualität, u m die gerade es in dieser Interpretation geht. Die wechselnde Genreform der einzelnen Teile ist gekoppelt mit unterschiedlichen Hauptfiguren und ihren Schicksalen, verschiedenen Erzählerstandpunkten, Grundstimmungen und Problemstellungen. Die Einleitung „ P a l a n k — das Katzenviertel" ist — ähnlich dem Kapitel „Palank — eine S t a d t an der Grenze" — eine historisch-geographische Skizze, in der Ort und Zeit vorgestellt, ethnische und soziologische Fragen erörtert werden. Beide Abschnitte tragen essayartigen, informativen Charakter, besitzen keine handelnden Figuren, sondern werden beschreibend der epischen Breite des gesamten Werkes gerecht. Sie sind sachlich verallgemeinernd und geben Sicherheit, ein Gefühl von K o n t i n u i t ä t und Dauer. Ganz anders die „Agave", seine sentimentale und etwas nostalgisch anmutende Liebesgeschichte in einer empfindsamen Novelle, deren Pole von Liebe und Tod bestimmt werden. D a m i t verknüpft wird die Vollendung des Lebenslaufes des H u m a n i s t e n Doktor Varga, der sich in der wechselvollen Geschichte Palänks nicht zu e i n e r Nation zu bekennen vermochte, wohl aber mit seiner Berufung als Arzt und H ü t e r des Lebens sein Dasein als sinnvoll und erfüllt empfand. Der Erzählung „Frühling auf dem E i s " fehlt diese Nostalgie; dieser Abschnitt ist einer Generation und Figuren gewidmet, denen Ballek als einzigen Chancen f ü r die Z u k u n f t einräumt. Historische Schlachten werden gleichsam auf der Schulbank fortgesetzt, die Bibel kontrahiert mit Darwin, die Gymnasiasten sehen sich mit der ganzen W u c h t und Last des gesellschaftlichen Umbruchs konfrontiert. Sie stellen sich ihm unvoreingenommen — eine gewisse Aufbruchsstimmung ist zu spüren, die sich im bewußten Abgrenzen der jungen Leute gegenüber älteren Generationen zeigt. Der Aufbruch in die — f ü r die Figuren des R o m a n s nicht genau vorstellbare — Z u k u n f t ist verbunden mit dem zähen, schmerzhaften Abgang des Alten, dem nicht immer genug Zeit zum Reifen vergönnt war. Besonders eindringlich k o m m t das im „Tagebuch des Apothekers Filadelfi" zum Vorschein. Diese in Tagebuchform, äußerst subjektiv gebotene Selbstaussage, Lebensanalyse, Selbstanklage eines Gescheiterten steht nicht zufällig im Zentrum des ganzen Werkes. Filadelfi ist gewiß eine Kristallisationsfigur, in der sich die Widersprüche der Epoche und die Widersprüche des Individuums zu seiner Zeit auf extreme Weise in der inneren Widersprüchlichkeit der Figur widerspiegeln. Sarkastisch und voller Selbstironie, zuweilen fatalistisch übertreibend und derb, aber auch mit der wehmütigen E r innerung a n glückliche Lebensmomente gibt dieser Schwarzseher und Pessimist, der er durch Verschulden der kleinbürgerlichen Stadtgesellschaft geworden war, aus seiner spezifischen, völlig illusionslosen Sicht mit verblüffender Gelehrsamkeit eine Chronik
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Das mag auch der slowakischen Buchausgabe „ K r a j za vinicami" („Das Land hinter den Weinbergen") mit der Novelle „Konik z Orlanda" („Das Pferd vom Zirkus Orlando") und einigen Episoden aus der „ J u z n ä p o s t a " („Südpost") ihre Berechtigung verleihen.
U. RASSLOFF, L. Balleks R o m a n „Akazien"
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der historischen Ereignisse, die den Ort während seines Lebens, aber auch davor streiften, und gleichzeitig eine ganze Philosophie über den Menschen in der Geschichte 4 . I n diesem Tagebuch wird „Biographisches und Historisches in ein und demselben geographischen R a u m so eng miteinander verwebt, daß die individuelle Lebensbilanz eines ,Kauzes', eines ewigen ,Rebellanten', eines ,schwarzen Schafes' der bürgerlichen Gesellschaft unversehens zur Epochenbilanz einer Nation gerät." 5 So aufrüttelnd und aussagekräftig das Tagebuch aber auch sein mag, zur vollen Geltung k o m m t es erst durch den Kontrast zu den anderen Begebenheiten. — Die Humoreske mit tragikomischen Zügen ,,Palänk — Platz der R e p u b l i k " erinnert entfernt an eine Renaissancenovelle. I n dieser burlesken, operettenhaften Begebenheit wird das „ K a r nevalsgesicht" der abtretenden Welt in den Mittelpunkt gerückt und Palänk als Theater gezeigt. Durch die streckenweise Heiterkeit wird Filadelfis Tragik zwar nicht abgeschwächt oder gemildert, der Leser k a n n aber trotzdem a u f a t m e n , es wird wieder a n die Weite des Lebens erinnert. So auch in der Novelle „ D a s Pferd vom Zirkus Orlando", einer nostalgischen R ü c k k e h r zur Kindheit, die mit der „ S ü d p o s t " korrespondiert und exotisch und poetisch wirkt wie die „ A g a v e " . Ergänzende, abrundende Funktion besitzt auch der Kurzroman „Der Engel und das K a t z e n h a u s " . I n der Art einer Kriminalgeschichte wird der mysteriöse, „ v o m H i m m e l gefallene Engel" als Polizistenmörder entlarvt. Parallel im Text, doch vom Sinn her eher kontrastierend dazu, erlebt der slowakische Polizist eine sinnliche, leidenschaftliche, aber sprachlose Liebe zu einer ungarischen Witwe — ganz im Gegensatz zur platonischen, aber gesprächigen Liebe in der „Agave". Der Epilog des Buches ist im Genre von Briefen, eigentlich Berichten gehalten. In „Palänk — Briefe an die K o r m o r a n e " werden viele im Buch offengehaltene Begebenheiten vollendet oder mit einem neuen Aspekt versehen, verändert, berichtigt. Erzähler ist hier ein Postangestellter, eine gespaltene Persönlichkeit, der mit resignierendem Blick sein Leben analysiert. E r konnte die gesellschaftlichen Änderungen nach 1948 nicht begreifen und stand ihnen nicht nur skeptisch, sondern auch hilflos und ohnmächtig gegenüber. E r k o n n t e dem Lauf der Zeit, d e m Gang der Geschichte keinen E i n h a l t gebieten, sich aber auch nicht eingliedern oder zumindest damit abfinden. Die einzelnen Teile der „Akazien" stehen nicht isoliert voneinander. Verbunden sind sie zunächst durch die Einheit von Ort (Palänk) 6 und Zeit (1945—1948). Vor allem aber 4
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Die gesamte slowakische Nationalgeschichte fließt in die Darstellung mit ein. E r w ä h n t werden das Großmährische Reich, die Angliederung des Gebietes an Ungarn, die Habsburger Monarchie, die Türkenkriege, die Metternich-Reaktion, die Bewegung der Nationalen Wiedergeburt, der Bachsche Absolutismus, die Teilung der Monarchie in Österreich und Ungarn, die G r ü n d u n g der Tschechoslowakischen Republik, die Gründung des sog. Slowakischen Staates, die Okkupation der Südslowakei, der K a r p a t e n - U k r a i n e u n d von Teilen der Ostslowakei durch H o r t h y Ungarn, der Slowakische Nationalaufstand, die Befreiung der Südslowakei durch die Sowjetarmee, die Erneuerung der Tschechoslowakischen Republik. vgl. L. R i c h t e r , a. a. 0 . (s. Anm. 1), S. 20. I m Ungarischen bedeutet „ p a l ä n k " soviel wie „Zaun, Bretterzaun, P f a h l z a u n " ; es ist dort die Entlehnung des deutschen Wortes „ P l a n k e " . Ballek, der in der Kleinstadt Palänk eigentlich seine südslowakische H e i m a t s t a d t Sahy schildert, beruft sich darauf, daß die Türken ihre Grenzfestungen, deren Spuren sich ebendort auffinden lassen, als „ p a l ä n k " bezeichneten. In den symbolischen Begriffsgehalt geht aber nicht nur die Bedeutung einer „abgeschlossenen F e s t u n g " , sondern auch eines „Mitteldings zwischen Dorf u n d S t a d t " und „finsterster Provinz" ein, wie sie in südslawischen Gebieten tradiert wird.
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durch ihre Dialektik von relativer Selbständigkeit und relativem Verbundensein bilden sie ein diffiziles Gesamtgefüge, eine Qualität höherer Ordnung. Dies jedoch wird erst bei ihrer Betrachtung als Ganzheit sichtbar. — Sie sind nicht planlos miteinander verknüpft. Es wurde bereits angedeutet, daß mit Einleitung, Höhepunkt (Tagebuch) und Epilog einer linearen Gliederung, wie sie beim Lesen dem Rezipienten zugänglich ist, zunächst entsprochen wird. Die einzelnen Abschnitte werden (vom disziplinierten Leser) hintereinander aufgenommen, wobei sich nach dem Durchlesen eines jeden Kapitels ein relativ abgeschlossenes, vorläufiges Gesamtbild der Kleinstadt Palank im Kopf des Lesers herausbildet. Es wird mit jedem weiteren Kapitel modifiziert und erweitert. Das geschieht auch gerade durch die Simultaneität und die komplexe Konzeption des Werkes. Wie diese Eigenschaft, die sich auch ganz eindeutig am Mikrotext des Werkes nachweisen läßt 7 , auf die Figuren, Erzählerstandpunkte, Grundstimmungen, Problemstellungen und Traditionsbezüge ausgedehnt wird, soll im folgenden dargelegt werden. Für das gesamte Werk ließe sich keine Hauptfigur benennen, wohl aber für die jeweiligen Kapitel, die stets das Schicksal einer bestimmten Figurengruppe umreißen. I n den anderen Kapiteln bleiben diese Figuren im Hintergrund. Ihre Existenz ist aber spürbar. Das geschieht ganz bewußt: „Im Zusammenhang mit diesem Austausch der Helden spreche ich von einer bestimmten epischen Gerechtigkeit — diese kennt keinen bedeutungslosen Menschen und kein vernachlässigbares menschliches Schicksal." 8 (Übersetzt von mir — U. R.) Die Figuren können selbst nach ihrem epischen Tod noch in Erscheinung treten, so daß ihre Begebenheiten durch neue Informationen ergänzt und neu bzw. umgewertet werden. Ballek läßt hier die Relativität vieler Wertungen anklingen, seine Skepsis gegenüber absoluten und starren Werten, denen er das Gefühl ständiger Entwicklung und Veränderung vorzieht. Fast jede Figur äußert sich z. B. auf ihre Weise über den stadtbekannten Filadelfi und charakterisiert auf diese Weise ihn und gleichzeitig auch sich selbst. Nach der Kenntnis des gesamten Werkes sind Gemeinsamkeiten der Figuren festzustellen : Sie sind keine aktiven Kämpfer für den gesellschaftlichen Fortschritt (das sind höchstens ein paar Ausnahmen, wie der Lehrer Pekärik oder der Kommissar). Ihre Berufe wie Arzt, Apotheker, Beamter, Notar, Handwerker oder Polizist waren im Ort zu jeder Zeit vertreten und sind deshalb historisch gesehen neutral. Über die mannigfaltigsten Umschwünge der Geschichte in die Gegenwart hinübergerettet, sind sie von ihrer Entwicklung auffällig gekennzeichnet. Sie verweisen auf Balleks Suche nach Stabilität, nach dauerhaften Werten in einer schnellebigen Zeit voller Vergänglichkeit. Die Berufe signalisieren die Zugehörigkeit der Figuren zum Kleinbürgertum, das in der Tat tonangebend und atmosphärebestimmend war. Viele gelangen in Palank auf den Höhepunkt ihres Lebens und blühen auf, doch ihre Zeit ist abgelaufen, sie reicht nicht mehr, um „in Ruhe" vom Schauplatz der Geschichte abzutreten, sie werden von der sich beschleunigenden Entwicklung der Gesellschaft „überrollt". Sie haben keine Zu.
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vgl. U. R a ß l o f f , Tendenzen der slowakischen Romanentwicklung der 70er und 80er Jahre. (Dargestellt am Schaffen von Vincent Sikula und Ladislav Ballek) (Phil. Diss. A, Masch.), Berlin 1986. L. B a l l e k , Agaty, Bratislava 1981, Klappentext.
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k u n f t mehr in P a l ä n k : Die meisten Begebenheiten enden tragisch, oder die Figuren verlassen Palank. Die Reihenfolge der „Abgänge" der Figuren aus dem Buch, die ähnlich wie A b t r i t t e von der Bühne wirken, und damit auch die Reihenfolge der einzelnen Kapitel besitzen eine innere Logik: Zuerst tritt Varga, der die geistigen Werte der vergangenen Epoche verkörpert, vom Schauplatz des Geschehens ab, ihm folgt die Hamplova, der „Glanz der Epoche", und danach das „schlechte Gewissen der E p o c h e " in Gestalt des Filadelfi, bis ganz zuletzt der Postmeister Havrila geht, der sich a m meisten von allen der neuen Zeit angepaßt h a t t e und d a r u m a m längsten seine Zeit überdauerte. Die Abgänge erfolgen von oben nach unten, vom Positiven zum Negativen, vom Stabilen zum Nachgiebigen, sind also graduiert 9 . E s geht nicht u m die Feststellung des Endes einer Epoche schlechthin, sondern u m die Gesetzmäßigkeit, u m die notwendige Folgerichtigkeit der Ereignisse. Die Teile des Buches sind nicht nur formal, durch Ort, Zeit, den stillen Zeugen J a n Jurkovic, durch die Figuren und durch die Wiederholung einiger Begebenheiten unter verschiedenem Blickwinkel, verknüpft, sondern durch innere Zusammenhänge. I m Einklang mit den Figuren entsteht Komplexität und Simultaneität auch durch die Veränderung der Erzähler und Erzählerstandpunkte. Auch wenn Ballek grundsätzlich Herr über seine Figuren ist und souverän über ihnen und über den Dingen steht, „ges t a t t e t " er einigen Figuren das Erzählen in eigener Diktion, ohne sie jedoch aus der Kontrolle zu verlieren. Eine naive Freundin, eine schwärmerische Verliebte, ein erwägender Arzt und H u m a nist werden anders reflektieren und erzählen als der sarkastische, illusionslose Filadelfi in seiner Selbstverachtung oder der „ v e r r ü c k t e " Postmeister Havrila. Kein einziger Erzähler fungiert hierbei als „Leitbild", auch I r r t ü m e r — nicht nur in der W e r t u n g historischer Ereignisse — werden einkalkuliert 1 0 . Auf diese Weise können die unterschiedlichsten, f ü r die damalige Zeit typischen politischen Anschauungen wiedergegeben werden. Hier äußert sich Balleks Denkweise und sein Bestreben, der Wahrheit möglichst nahezukommen: Erscheinungen werden gründlich und von vielen Seiten beleuchtet und untersucht, aus den Teilaspekten formiert sich eine „Gesamtwahrheit" mit verallgemeinerungswürdiger Gültigkeit. Der Autor sieht in jeder Figur in erster Linie eine besondere, reiche Individualität. Die einzelnen Figuren stehen noch nicht als R e p r ä sentanten, Symbole oder Modelle, sondern f ü r sich selbst. Ein Symbol oder Sinnbild wird erst die Kleinstadt Palank. Bereits an den S t a n d p u n k t e n der Figuren wird sieht 9 10
vgl. P. Z a j a c , Koncepcia Ballekovych Agätov, in: Slovenska literatüra 29 (1982), S. 501 —516. Zu seinen Figuren und ihren Irrtümern sagte Ladislav Ballek in einem Gespräch mit Gejza Hajdani: „Ich mag aktive, tatendurstige Menschen, denen ich es hierbei nicht verwehre, in kleineren oder größeren Widersprüchen zu leben . . . sie arbeiten gern, beherrschen ihr Handwerk, im Rahmen ihrer Profession sind sie eher der Glanz ihres Standes als sein Elend, und fortwährend stellen sie sich irgendwelche Fragen . . . Fragen stellen, das gehört zum Charakter eines Menschen, dem nichts gleichgültig ist. Ein Mensch, der gut arbeitet, weiß, daß zu guter Arbeit immer neues und abermals neues Nachdenken gehört. So ein Mensch setzt sich eigentlich ununterbrochen mit etwas auseinander, analysiert das Alte, Bewährte, prüft es und sucht, prüft und probiert aufs Neue." Er sucht, und er irrt sich auch, allerdings besagt so ein Irrtum vieles, und unter dem Gesichtspunkt des Vorwärtsschreitens kann er wertvoller sein als die vorsichtige Wiederholung des Erprobten. Ja, ein Irrtum, so scheint mir, wird nicht nur einmal das Signal für eine ungewöhnlich wichtige Entdeckung sein." (übersetzt von mir — U. lt.) (s. O literature a jej autoroch, in: Rol'nicke noviny 1980-05-09, S. 8).
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bar, daß es Ballek u m das Lebensgefühl der slowakischen Menschen jener Zeit geht, und hier — obgleich er einen geographisch sehr eng begrenzten Ausschnitt wählte — u m eine Breite und Komplexität in der Darstellung, die bis dahin in der slowakischen Literatur selten erreicht worden ist. Der Eindruck von Komplexität, die den begrenzten R a h m e n der Südslowakei überschreitet, ergibt sich auch aus den Grundstimmungen der Kapitel. I n dieser äußerst bewegten Zeit, die freilich ein lockendes Feld f ü r einen Epiker sein mag, k a n n t e m a n alle erdenklichen Gefühle in einer bunten Mischung: romantische Nostalgie, Beklommenheit und Schwelgen in der üppigen N a t u r , Ironie und Sarkasmus, Desillusionierung, Resignation, Tragik und Komik, theatralische Kuriosität, barocke Askese und Sinneslust, Aufbruchs- und Untergangsstimmung ganz eng nebeneinander. Ballek „zerglied e r t " dieses Gefühlsgemisch zunächst, seziert aber nicht, sondern f ü g t es kunstvoll zu einem neuen, vibrierenden, größeren Ganzen 11 . Entscheidend sind hier seine Dialektik, Objektivität und sein Sinn f ü r ein ästhetisches Maß, so daß nichts „geklebt" oder „vergewaltigt" wirkt. (Die einzige, aber unübersehbare Ausnahme seines Maßhaltens ist der Umfang des monumentalen Werkes.) Von ganz allein wachsen die Einzelteile jedoch nicht zusammen. Ballek stellt seinem Leser Aufgaben. Dieser hat nicht nur die Textqualitäten im Detail, im Mikrotext zu entschlüsseln, zumindest nicht vorwiegend, sondern seine Energie wird vor allem auf das Zusammenfügen aller Elemente zu einer Ganzheit gerichtet, die im fortschreitenden Lese- und damit Rezeptionsprozeß immer vollkommener und differenzierter vor seinen Augen entsteht. Ballek schuf die Voraussetzung, daß dem Leser dieses angestrebte „Erfolgserlebnis" beschert wird, denn das Buch zeichnet sich durch Harmonie, durch einheitliche Gestaltung aus. Gerade das Prinzip der Komplexität ist es, das alle Ebenen des Buches zu einem teils organischen, teils aber auch sehr heterogenen Ganzen verbindet. Zur Aktivierung des Lesers nutzt Ballek die Diskrepanz zwischen der linearen Texta u f n a h m e und dem räumlichen Gebilde seines Denk- und Weltmodells aus, das der Leser während des fortschreitenden Leseprozesses parallel zur A u f n a h m e neuer F a k t e n in seinem Kopf entstehen läßt resp. nachvollziehen, rekonstruieren, korrigieren muß. Die Anstrengungen des Autors, der selbst „ganz o b e n " steht, sind darauf gerichtet, den Leser mit „heraufzuholen", ihn ebenfalls in die Situation, die Illusion des Schöpfers zu versetzen. D a m i t macht er den Leser souverän und vor allem vermittelt er ihm das Gefühl, selbständig zu urteilen und Verantwortung zu tragen. Spätestens wenn m a n die im Buch — mehr oder weniger direkt — zur Sprache kommenden Problemstellungen in die Betrachtung einbezieht, wird klar, daß Palank bei weitem
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Dies wurde in der slowakischen Literaturwissenschaft wiederholt festgestellt, z. B. von Milan Sütovec, dem zugestimmt werden kann: „ . . . Die Makrokomposition (auf der Ebene der Genre und Genreformen) strebt keine zeitliche Linearität an, sie will also keine Entwicklung in der Zeit modellieren, sondern umgekehrt, mittels zeitlicher Simultaneität und räumlicher Identität strebt sie die Fixierung ihres Objektes an, das analytische Aufdecken seiner einzelnen Etagen und Schichten und damit — vielleicht paradox, aber eher dialektisch — das Begreifen seiner Totalität. Die einzelnen Genres haben dann bei diesem ideellen und auch kompositioneilen Anliegen ihre von den einzelnen Aspekten dieses analytisch —synthetischen Projektes abgeleitete Funktionalität." (übersetzt von mir — U. R.) (s. M. S ü t o v e c , O zanrovej strukture Ballekovych Agatov, in: Romboid 9/1982, S. 45).
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nicht nur f ü r Balleks H e i m a t s t a d t Sahy steht. I m Tagebuch des Filadelfi wird eine Jahrhundertbilanz des ganzen slowakischen Volkes gezogen, die Problematik des Kleinbürgertums und der Provinzialität nimmt einen bedeutenden Platz ein, ist aber nicht die alleinige. Ballek untersucht in seinem Buch auch psychologisch genau und konsequent Probleme der Persönlichkeit, des gescheiterten und gespaltenen Individuums, zwischenmenschliche Beziehungen, z. B. zwischen Vater u n d Sohn, weiterhin sinnliche, geistige, auch deformierte Liebesbeziehungen usw. J e d e f ü r sich allein k a n n sogar etwas seltsam wirken, keine einzige wird als Vorbild oder als allgemeingültig ausgegeben, sie bekommen ihren endgültigen Sinn erst im Gesamtbild, wobei Ballek weniger nach Verallgemeinerung, sondern mehr nach Konkretisierung, Herausstellung des Besonderen und Einmaligen strebt. Von der Problematik einzelner und weniger Individuen geht die Fragestellung weiter zu Rolle, Aufgaben und Chancen des Menschen in der Geschichte; er befaßt sich mit der südslowakisch-ungarischen Grenzproblematik, mit der slowakischen und der Menschheitsgeschichte und immer wieder mit der Dialektik von Dauerhaftigkeit und Wandel. Die Fragen werden im weltfremden Palänk gestellt, doch provinziell sind sie nicht: „Die Konstruktion dieser epischen lebenden Totalität und ihre Annahme erlauben es dann, das Werk auch als große Metonymie zu lesen, in der durch die S t a d t an der Grenze die Erde, ein Land, die K u l t u r an der Grenze zweier Welten vertreten wird." 1 2 (übersetzt von mir — U . R . ) Palank wird zum Symbol eines relativ abgeschlossenen, aber in sich ungemein differenzierten und zerklüfteten Menschenwohnorts, dessen Wesen folgendermaßen charakterisiert werden k a n n : „Die Herausbildung des Ganzen k a n n in den ,Akazien' — und darin besteht die Logik ihrer Gliederung und der resultierenden Gestalt — keinen einheitlich zusammenhängenden, fest im System hierarchisierten Charakter, sondern nur den Charakter einer innerlich zerrissenen Ganzheit aufweisen, dessen Bindeglieder und Zusammenhänge chaotisch auftauchen, mosaikartig, ungeordnet wie Browns Molekülbewegungen. Auch diese unterbrochene Anordnung hat jedoch ihre innere Logik: sie bildet ein Ganzes, eine Gemeinschaft, eine unterbrochene, aber romanhafte Gesamtheit, eine Romankomposition." 1 3 „Diese unbefriedigende Anordnung ist das Ergebnis des ,Übergangscharakters der Epoche' und also auch des Übergangscharakters ihrer Werte." 1 4 (übersetzt von mir — U. Ii.) Das k a n n sich auf die Situation in der Slowakei nach dem zweiten Weltkrieg beziehen, aber es ist auch eine wesentlich aktualisierte Lesart zu akzeptieren: Das vergangenheitsgeschichtliche Abbild Palänks und der Slowakei wird zum Weltbild — zum Sinnbild einer einzigartigen, innerlich widersprüchlichen, äußerlich relativ isolierten, in jedem Fall erhaltenswerten Welt 1 5 . Das ist nicht mechanisch zu sehen, die Einzelteile stehen nicht f ü r exakt zu definierende Erscheinungen der Wirklichkeit, es liegt keine lineare Übertragbarkeit vor. Ballek vergleicht die Südslowakei des öfteren mit dem Paradies, mit der Urheimat der Menschen: „Das Land am Unterlauf des Ipel'erinnert mich seit jeher an das alte Land
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ebd., S. 47. P. Z a j a c , Koncepcia Ballekovych Agätov, a. a. O. (s. Anm. 9), S. 508. ebd., S. 514. Verwendung der Begriffe im Sinne von Rita Schober (vgl. d i e s . , Abbild — Sinnbild — Wertung, Berlin und Weimar 1982).
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der Geburt des Menschen." 16 (übersetzt von mir — U. R.) Er feiert die Erde als die Wiege des Lebens, des vielleicht einzigen Lebens überhaupt. Da er sein Werk so komplex und mit einem ausgesprochenen Totalitätsanspruch anlegte, scheint diese Interpretation gerechtfertigt zu sein. Befragt man den Werktext in seiner Reichhaltigkeit unter dem genannten Gesichtspunkt, so fallen weitere Fakten ins Gewicht. Neben der bunten nationalen Zusammensetzung der Stadtbevölkerung, den Eigennamen slowakischen, ungarischen, deutschen, serbischen, russischen Ursprungs sind deutliche Reminiszenzen Balleks an die Geschichte der Weltkultur zu finden. Die „Agave" bringt romantische Motive, wie das Doppelgängermotiv oder den Kontrast Liebe — Tod; sie wurde mit Werken von Öechov verglichen. In Beschreibungen der Architektur sind Elemente des Jugendstils vorhanden; ausführlich schreibt Ballek über Franz Schubert. Die vom Autor genutzten verschiedenen Genreformen erhalten erst unter diesem Gesichtspunkt ihren völligen Sinn (Novelle, Erzählung, Briefe, Tagebücher ...). Sie bedenken große Etappen der Weltkultur: die Antike in der gesamten epischen Breite und in den Zitaten in Filadelfis Reden, die Renaissance in einer Humoreske, den Barock in der Gestalt der skurrilen, asketischen Tischlerova, den Realismus besonders in Riecans (des Fleischermeisters) „Aufstieg und Fall", im „Glanz und Elend" seiner Frau aus dem Roman „Der Geselle" ... (Es würde eine gesonderte Untersuchung erfordern, sämtliche Andeutungen dieser Art ausfindig zu machen und zu entschlüsseln.) Der Effekt ist ein doppelter: Indem Ballek aus den verschiedensten Traditionen schöpft, verleiht er wiederum seinem Gefühl Ausdruck, daß die slowakische Geschichte in geraffter Form abläuft — diese „Beschleunigung von Prozessen" als eine Erscheinung der modernen Zivilisation ist eines der immer wiederkehrenden Probleme des Romans. Außerdem bringt der Autor durch sein Anknüpfen an internationale Traditionen die ganze Welt bewußt in sein Werk hinein. Zweifellos sucht er das Gespräch mit allen wahrhaft menschlich empfindenden Zeitgenossen. Daraufhin befragt, antwortete der Autor, Teilnehmer des Internationalen Treffens der Schriftsteller für den Frieden in Berlin 1987: „Ich würde so sagen: Ich bin Slowake, Bürger der CSSR, Europäer und Bewohner der Erde. Die literarische wie auch die weitere Welt betrete ich durch meine farbenreiche, südslowakische Region — ein bestimmter Regionalismus bereichert das Leben immer, macht es satter, bunter —, auf keinen Fall jedoch bin ich Anhänger irgendeines literarischen, kulturellen oder gleichweichen Separatismus. Ich reflektiere mein Verhältnis zu meiner Herkunft und meiner Bestimmung und umgekehrt. Auch in unserem Erbe verbirgt sich das Erbe der europäischen und der Weltkultur, auch wir verspürten ein Bedürfnis, es zu kennen und zu bewahren. Wir lebten an einem Kreuzweg, aus allen Himmelsrichtungen mündeten hier die Wege. Die großen Stilrichtungen machten um uns keinen Bogen. Wir nahmen Einflüsse auf, und dennoch bewahrten wir uns unsere eigenständige nationale Kultur und eine ursprüngliche Folklore. Auch meine Gegend ist eine Landschaft des Ursprungs — mit ihrer Wärme, ihrem Licht, ihren Farben und Düften; meine Stadt ist eine Stadt dieser Welt, ein Teil von ihr, ein Symbol des Lebens, das wir bewahren müssen. Palänk kann nicht fehlen auf der Weltkarte, wie auf ihr keine Heimstatt fehlen darf, in der Menschen geboren werden und leben. Was der Schriftsteller tun kann ? . . . An den Lebenswillen erinnern, die Sehnsucht verstärken, fortzudauern ... den Menschen daran er-
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s. L. B a l l e k , Pomocnik (Kniha o Palänku), Bratislava 1980, Klappentext.
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innern, daß er Traditionen hat, mit denen er nicht allein ist, daß er eine große Geschichte von Arbeit und Kultur hinter sich hat, die ihn mit der Vergangenheit verbindet, aber auch in der Gegenwart mit allen Menschen auf der Welt." 17 Ballek geht von konkreten nationalhistorischen Gegebenheiten und dem persönlichen Erkenntnis- und Erfahrungsbereich aus, um dann eine Brücke zu brennenden menschheitlichen Problemen zu schlagen und Fragen von Weltgeltung zu stellen. In der immer wieder hervorgehobenen Ahnung von der Vergänglichkeit aller Existenz schwingt die Mahnung mit, die Welt nicht dem Selbstlauf zu überlassen. In diesem monumentalen und höchst aktuellen Buch ist der Appell an die Menschheit lesbar, die Erde und das Leben zu bewahren. Und Ballek zeigt ein Stück Erde, aufrichtig, ungeschminkt und nicht beschönigend, mit allen den Widersprüchen und Tragödien, die das Leben bietet, doch immer wieder lebenswert und lohnend. Mit Zuversicht klingt das Werk aus: „In Palank blühten wieder die Akazien, und es begannen neue Geschichten." 18 17 18
Ladislav Ballek in einem Gespräch mit Ute Raßloff (s. Architektur der Heimat, in: Sonntag 1/1987 vom 4. Januar 1987, S. 10). L. B a l l e k , Akazien, Berlin und Weimar 1986, S. 670.
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K. H a u s e n b l a s
Zur Norm des Reims in der tschechischen Poesie Für die Verwendung des Reims gilt in der Poesie einzelner Sprachen oder in einer bestimmten Epoche eine Norm. E s handelt sich dabei um eine Norm ästhetischen Charakters; sowohl ihre Einhaltung als auch ihre Verletzung rufen ästhetische E f f e k t e hervor. Kenntnisse über den Grad ihrer Einhaltung bei einzelnen Dichtern, evtl. auch in einzelnen Phasen ihres Schaffens — und in ihren einzelnen Gedichten — sind besonders für das Übersetzen von Versen wichtig. Ich möchte das an folgendem Beispiel zeigen: Eines der bekanntesten Gedichte von Jaroslav Seifert „Svatebni cesta" („Hochzeitsreise") aus der Sammlung „ N a vlnach T S F " („Auf den Wellen der T S F " ) beginnt in der deutschen Übersetzung von W . Dege wie folgt: Wären nicht diese törichten Küsse, unternähmen wir keine Hochzeitsreisen. Aber gäbe es die Hochzeitsreisen nicht : wozu d a n n die Waggon-lits auf den Gleisen? Bahnhofsglocken in ihrer ewigen Angst, auch, Waggon-lits, Hochzeitskarossen. Das Eheglück gleicht zerbrechlichem Glas, wie bald ist der Honigmond zerflossen; — d. h. mit voll klingenden „zweisilbigen" Reimen: Hochzeitsreisen — Gleisen; Hochzeitskarossen — zerflossen. I m tschechischen Original dagegen gibt es nur einsilbige Reime svatebni — naklani usw. — In solchen Reimen wird die Norm des tschechischen Reims nicht beachtet, sondern in starkem Maße verletzt. Die Verletzung der Reimnorm gehört zu den typischsten Mitteln des Poetismus der 20er J a h r e in der tschechischen Poesie. Der Reim gehört zu den wenigen spezifischen Formmitteln des dichterischen Schaffens in Versen — den Prosa-Reim und den Vers-Reim außerhalb der K u n s t lassen wir unbeachtet und beschränken uns hier nur auf den Endreim —, er ist aber f ü r den Vers nicht konstitutiv. H e u t e herrscht in unseren Literaturen deutlich die nichtgereimte Poesie vor. Der Nichtgebrauch des Reims m u ß nicht unbedingt mit dem freien Vers verbunden sein, aber trotzdem sind rhythmische Regelmäßigkeit und Gereimtheit (und andererseits rhythmische Freiheit und Nicht-Gereimtheit) Eigenschaften, die sich günstig ergänzen. In der Poesie einer bestimmten Sprache mit einem bestimmten Versifikationssystem gilt zu einer bestimmten Zeit f ü r den Reim eine bestimmte Norm. I n der tschechischen Poesie wurde zu Beginn des 20. J a h r h u n d e r t s die Reimnorm mit geringfügigen Abweichungen eingehalten, in ihrem R a h m e n allerdings wurden verschiedene Eigenarten des Reims bei den einzelnen Autoren und evtl. bei ihren Gruppierungen verwendet. I n vielen Zügen ist der Reim einiger Dichter aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg (z. B. Brezina, Hlavacek und Dyk) beschrieben worden. I n einem Teil des dichterischen Schaffens nach dem ersten Weltkrieg (vor allem bei den Poetisten Nezval, Seifert und Biebl) k o m m t es zu einer deutlichen Innovation,
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nämlich zu einer unterschiedlich starken Verwendung von Reimen, die die gültige Norm verletzen und das oft sogar sehr spürbar. (Der Anstoß dazu k a m aus der französischen Poesie und wurde durch Öapeks Übersetzungen vermittelt.) Dadurch aber m u ß t e der Reimeffekt nicht abgeschwächt werden, im Gegenteil, in der Regel wurde er dadurch erhöht. Bei der Betrachtung der Poesie in einem bestimmten Zeitabschnitt können wir uns aber nicht an die traditionelle Abgrenzung des Reims, die bloße Unterscheidung von Reim und Assonanz usw. halten, denn das wäre eine ziemlich enge Auffassung, die nur einige Typen der breitgefächerten Skala, in der der Reim in Erscheinung t r i t t , betrifft. Und ein zweiter G r u n d : Den Reim k a n n man zwar auch allgemein definieren, f ü r die in den verschiedensten Sprachen mit unterschiedlichster Versifikation geschriebene Poesie, aber bei der Erörterung der gegebenen Texte ließe sich damit nicht arbeiten. Wir müssen f ü r die tschechische Poesie den Reim speziell abgrenzen. Der Reim (der Endreim) ist eine spezifische euphonische Figur, die a n einer sehr empfindlichen Stelle — dem Versende — untergebracht ist. Sein Wesen besteht darin, daß wir Wortganzheiten (d. h. Wörter, evtl. Wortverbindungen), mit denen zwei oder mehr Verse auslauten, bei der Rezeption des Gedichts auf der Grundlage der Lautähnlichkeit bzw. der Lautübereinstimmung ihrer Endteile — (besser: ihrer Nicht-Anfangsteile) — konfrontieren. Das Segment, in dem sich die Lautähnlichkeit äußert, wollen wir als Reimabschnitt bezeichnen, z. B. lösen wir im Reim Icladla — do divadla den Reimabschnitt wie folgt heraus: kl/adla; — do div/adla. Der Reim ist retrograd orientiert, die Reime können sich durch den unterschiedlichen U m f a n g des Reimabschnitts unterscheiden, dieser wächst in Richtung des Versinneren a n : sladky zp/ev — korouh/ev, bl/ede — v/ede; do p/laste — obzv/ldste; m/o&äly — p/ocaly . . . Die Grundform ist der T y p bl/ede — v/ede. Wir können ihn als zweisilbigen Reim bezeichnen, dieser ist im Tschechischen die Reimnorm. Allerdings erweitert sich in der tschechischen Poesie die Lautähnlichkeit oft weiter in den Vers hinein, sie erfaßt nicht nur den „Stützkonsonanten" (do p/laste — obzv/ldste), sondern oft auch einen größeren Teil oder die ganze dritte Silbe vom E n d e her, ja, es erscheinen sogar noch längere Reimabschnitte; hier k a n n es aus begreiflichen Gründen allerdings nicht mehr u m L a u t übereinstimmung gehen, sondern „ n u r " u m eine hinreichende Ähnlichkeit. Weil f ü r d e n Reim das vokalische Element wesentlich wichtiger als das konsonantische Element ist, können wir Beispiele, wo außer der Ubereinstimmung in den letzten beiden Silben wenigstens noch die Vokale der dritten, evtl. auch der vierten, ja sogar der f ü n f t e n oder sechsten Silbe vom E n d e her übereinstimmen, als drei-, vier-, fiinfsilbigen (unvollständigen) Reim ansehen. Was den Grad der lautlichen Nähe betrifft, so sollte m a n den Reim möglichst weit auffassen. Die dichterische Praxis einer ganzen Reihe neuerer Dichter mit einer Skala vielfältiger Typen des unvollständigen Reims erfordert, daß z. B. die Assonanz nicht aus den Reimgrenzen verwiesen und sie von anderen T y p e n des unvollständigen Reims nicht zu streng unterschieden wird. Wenn wir unter Assonanz die L a u t ü b e r e i n s t i m m u n g der Vokale verstehen, gibt es einsilbige, aber auch zwei- und mehrsilbige Assonanzen (snidani — koräly, ananasy — tiha läsky) und andererseits einsilbige Reime, z. B. mit der Übereinstimmung eines Vokals und eines K o n s o n a n t e n (lo/di — neprobu/di). Wir wiederholen: Das vokalische Element ist f ü r den Reim wesentlicher. Deswegen ist die Situation bei der sog. Konsonanz, d. h. der Übereinstimmung von nur Konsonanten, anders. Die bloße Übereinstimmung von nur einem K o n s o n a n t e n reicht a n u n d
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für sich nicht aus, um im Tschechischen den Effekt einer euphonischen Figur hervorzurufen. (Sie könnte nur im Rahmen des regelmäßigen Reimschemas bewußt gemacht werden). Es ist vielleicht praktisch nicht wichtig, jedoch theoretisch sehr interessant, sich dessen bewußt zu werden, daß der Reimabschnitt eine Einheit ist, die sich prinzipiell mit keiner anderen sprachlichen oder Verseinheit deckt; sie kann sich nämlich mit einer Einheit decken, aber ein anderes Mal weicht sie von ihr ab. So deckt sich die Grenze eines Reimabschnitts nicht mit der Grenze zwischen den Silben, vgl. n/edd — bl/edd: ne — da, ble — da, sie deckt sich nicht mit den Morphemen: ne/d/d — bled/ä, sie deckt sich nicht mit den Wörtern, sie deckt sich nicht mit den Versfüßen. Der Reimabschnitt ist eine sprachliche und prosodische Einheit sui generis. In den folgenden Ausführungen soll die tschechische Reimnorm charakterisiert und der „normgerechte" vom „nichtnormgerechten" Reim unterschieden werden. Norm ist im Tschechischen der zweisilbige Reim, genauer gesagt, der Reim, in dem der Reimabschnitt mit dem silbenbildenden Laut der vorletzten Silbe beginnt, wie bl/ede — v/ede, na rjohu
— nem/ohu,
d/rti
— sm/rti.
E s ist nicht entscheidend, wie d a s zweite
Beispiel belegt, ob die vorletzte Silbe des Wortes betont oder unbetont ist. Der Wortakzent hat im Tschechischen in bezug auf den Reim eine viel geiingere Relevanz als in einigen anderen Sprachen, z. B. im Russischen. Im Tschechischen ist der Wortakzent nur in zwei Fällen relevant. Einmal erfordert die Norm, daß sich die Reimwörter nicht so in der Weise unterscheiden, daß im Reimabschnitt die betonten Silben eines Wortes den unbetonten eines anderen Wortes gegenüberstehen. Sehr seltene Reimtypen, wie zä zddy — dö zahrady (Biebl), werden als eine sehr grobe Verletzung der Norm empfunden. Wir finden diese nur bei sehr wenigen Dichtern (manchmal bei Zavada, der allerdings aus Ostrava stammt). Ein anderer Fall der Akzentrelevanz besteht darin, daß in den Versen mit männlichem Ausgang (in denen die letzte Silbe betont ist) wenigstens ein Wort des Reimpaares einsilbig ist, der einsilbige Reim genügt, z. B. zpev — korouhev, pfes svüj hrob — od tech dob. Allerdings steht auch in solchen Fällen nicht selten der zweisilbige Reim, z. B. ber kd/e ber — do z/eber. In Seiferts „Svctlem odena" gibt es 54 Reimpaare, die ein einsilbiges Wort enthalten, in 14 sind zweisilbige Reime; die „über der Norm liegenden" Reime bilden also ein Viertel aller Fälle. Hier wirkt aber eigentlich nicht die Betonung, sondern vor allem die Anwesenheit eines einsilbigen Wortes, so daß — ohne daß die Norm verletzt wird — nur ein einsilbiger Reim stehen kann. Daß die Einsilbigkeit des Wortes ein wichtiger Faktor ist, ergibt sich daraus, daß zweisilbige Reime mit einem einsilbigen Wort entweder nur der Typ des „Reimechos" sind (vgl. ber kde ber — do zeber) und dadurch das Repertoire der möglichen Reimwörter erheblich gesenkt wird oder nur ungenaue Reime sind, wie odv/e zen — srdc/e zen. Viele Dichter vermeiden diese Reime oder nutzen sie nur ausnahmsweise. Die Norm muß aber nicht nur hinsichtlich des Umfangs des Reimabschnitts, sondern auch hinsichtlich des gewünschten Grades der Lautähnlichkeit bis hin zur Übereinstimmung der entsprechenden Segmente abgegrenzt werden. Die Norm verlangt nämlich keine totale Übereinstimmung, bestimmte Unterschiede werden in einer gegebenen Epoche nicht als Normverletzung angesehen. Wie wir wissen, haben im Reim die silbenbildenden Laute eine größere Tragweite, bei ihnen werden die wenigsten Abweichungen toleriert. Die Norm des zweisilbigen Reims verlangt vor allem Übereinstimmung in der Qualität der Vokale beider Silben. Ich formuliere es deshalb so, weil ungefähr seit der
K.
HAUSENBLAS,
Der Reim in der tschechischen Poesie
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Mitte des vorigen Jahrhunderts die Norm Unterschiede in der Quantität erlaubt: Normgerecht ist sowohl der Reim bräna — zräna als auch der Reim splyvajici — na bfidlici; ich möchte fast behaupten, daß die Quantitätsunterschiede eine begrüßenswerte Nuance der Variabilität in den Reim hineintragen, ähnlich wie in den R h y t h m u s der metrischen Verse. Auch bei den Dichtern, die die Norm streng beachten, treten manchmal Abweichungen der Art auf, daß dem silbenbildenden r ein l (vlci — v Krci), evtl. der Vokal u (strzi — rüzi) und dem Diphthong ou manchmal ein o (proudy — vody) gegenüberstehen. Andere Unterschiede bei den Vokalen in der vorletzten Silbe senken den zweisilbigen Reim auf einen einsilbigen, stark unter der Norm liegenden (also nichtnormgerechten). Dieser tritt z. B. in „Svetlem odena" unter 252 Reimen nur ein einziges Mal auf: na orloji — prichäzeji (481). Größer sind die Unterschiede beim konsonantischen Element. Als feine Abweichungen, die bei einer geringeren Frequenz nicht die Norm verletzen, werden die Unterschiede zwischen den wirklichen weichen und nicht-weichen Konsonanten, d. h. t — t, d — d, n — n, auch das Vorhandensein — Nichtvorhandensein von j, schließlich die Gegenüberstellung der Konsonanten mit der nasalen Komponente m — n, seltener s — s, c — 6 (neuhasis — hasis) angesehen. Wir erinnern erneut daran, daß sich die Reimnorm auf die Lautbesetzung des Segments von dem silbenbildenden L a u t der vorletzten Silbe nach rechts bezieht. Sie bezieht sich nicht auf die hinzukommenden Teile der reichen Reime, die zum Reimabschnitt links vom silbenbildenden Laut der vorletzten Silbe gehören. Immer ausreichend ist der zweisilbige Reim (in Entitäten mit einem einsilbigen Wort genügt der einsilbige Reim, wie wir wissen), allerdings sind reichere Reime im Tschechischen wünschenswert; darin sind nur die den Reim verstärkenden Elemente relevant, so daß im Reim obema — golema der positive Faktor in der Übereinstimmung der Vokale in der dritten Silbe besteht, die Nichtübereinstimmung der Konsonanten l und b zwischen o und a hingegen kein negativer Faktor ist. Die beschriebene Norm des „zweisilbigen" Reims gilt in der tschechischen Poesie bis heute, in den Gedichten mancher Autoren wird sie jedoch nicht in vollem Maße eingehalten. E s gibt auch in unserer Zeit Dichter, bei denen wir keine (oder nur unbedeutende) Abweichungen von der Norm finden können, z. B. in der Poesie Frantisek Hrubins. I n einer Auswahl seiner Gedichte habe ich nur eine einzige, sehr kleine Ungenauigkeit gefunden (svetel — nedoletel, d. h. t — t ). Auch einige jüngere Autoren halten sich streng an die Reimnorm, wie z. B. ¿äcek. I n seiner Gedichtauswahl „Tri roky prazdnin" (1982) habe ich überhaupt keine Abweichung gefunden (allerdings gehört die Verwendung des Reims nicht zu den Vorzügen von Zaceks Poesie). Bei den Dichtern, bei denen wir verschiedene Abweichungen feststellen können, sind die Unterschiede o f t ganz individuell. Bei Jiri Orten (der während des zweiten Weltkrieges jung gestorben ist), finden wir z. B. zahlreiche Reime mit Überhang. I n folgendem Beispiel besteht die ganze Strophe ausschließlich aus solchen Reimen: Tezko je po präci pisnicce tancovat, tezko je zapominat, a mysli na vüni (nikdy ne na slova) a chtela b y b y t jina.
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Z. Slaw. 34(1989)6
Ich zitiere eben diesen Dichter, weil bei ihm die Verwendung der Reime mit Überhang höchstwahrscheinlich nicht als Einfluß der russischen Poesie erklärt werden k a n n . Reime mit Überhang finden wir natürlich auch bei den heutigen Autoren, z. B. oft bei J . Hanzlik (aus der Sammlung „ L a m p a " ) : rüze — tizeh, o6i — potit, uhlem — ztuhle, mefit — peri, palte — saltern/, auch bei den jüngeren, z. B. bei Öernik / do mesta — neroztälj, usw. Andererseits gibt es Dichter, die zwar die Reimnorm nicht immer einhalten, jedoch den Reim mit Überhang nicht verwenden, z. B. J a n a Stroblovä, die sonst mit dem Reim sehr einfallsreich arbeitet. Miroslav Florian geht beim Freisetzen der Reimnorm manchmal sehr weit, er benutzt — wie einst die Poetisten — auch einsilbige Reime: za ruce — vdnoce; prsi — dusi; jablko — vysoko, doch Reime mit Überhang finden wir in seinen Gedichten fast nie. Sehr frei arbeitet mit dem Reim J a n Skäcel: Man findet in seinen Gedichten sowohl Reime mit Überhang als beispielsweise auch zweisilbige Assonanzen: jind — zbyvd; p a d a — hlava; büä — otevird. Eine Charakteristik des heutigen Zustands h ä t t e natürlich eine breitere Materialgrundlage erfordert, wir haben jedoch nur einige typische Beispiele angeführt. Wir können aber sagen, daß auch heute die Norm des zweisilbigen Reims, wie wir sie oben beschrieben haben, als Grundnorm gilt. Sie setzt sich jedoch in der heutigen Praxis nicht so stark durch wie in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg. Andererseits wirken jedoch die Abweichungen von der Norm jetzt nicht so auffällig wie vor 60 J a h r e n in der Poesie Nezvals, Seiferts und Biebls. Bei der Darstellung der Reime in den Gedichten einzelner Autoren, Gruppen usw. m u ß m a n ihre euphonische, rhythmische, kompositioneile und semantische Funktion, den Anteil der Reime am Aufbau der Gesamtgestalt und des Sinns des Werkes feststellen. Die Berücksichtigung der charakteristischen Eigenschaften der Reimnorm ist jedoch eine der Voraussetzungen f ü r die erfolgreiche Lösung solcher Aufgaben.
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J. Glo viia
Hviezdoslavs „Krvave sonety" in der deutschen Übertragung von D. Zirnstein Der Vers ist keine freiwillige „ D e f o r m a t i o n " der Sprache, sondern eine spezifische Organisation der sprachlich-akustischen Mittel, die ein System bilden. Der syllabotonische Vers — typisch sowohl f ü r das Deutsche als auch f ü r das Slowakische — ist vor allem durch die regulierte Anzahl der Silben und die normierte Alternanz von betonten und unbetonten Silben charakterisiert. Unterschiedliche akzentologische Eigenschaften der deutschen und der slowakischen Sprache beeinflussen die metrischen Ordnungsprinzipien. Man unterscheidet zwei T y p e n der rhythmischen Organisation: den R h y t h mus, in dem die Akzentgruppe das Zeitmaß bildet, und den R h y t h m u s , in dem die Zeiteinheit die Silbe ist 1 . Die erste Gruppe weist eine Tendenz zur Isochronie des Taktes auf, die zweite eine Tendenz zum Isosyllabismus, d. h., die Silbe bildet das Zeitmaß 2 . Zur zweiten G r u p p e gehört auch das Tschechische und Slowakische. Die deutsche Sprache mit ihrem m a r k a n t e n Akzent und mit starker Reduktion der unbetonten Silben tendiert zur Isochronie des Taktes. Die akustisch-funktionale Charakteristik des deutschen Akzents als des etymologischen und des slowakischen Akzents als des delimitativen spiegelt sich bei der Übersetzung von Poesie wider. Wie sich einige akzentologisch-rhythmische u n d sprachlich-typologische Unterschiede in der Lyrikübersetzung manifestieren, möchten wir an der Zirnsteinschen Nachdichtung von Hviezdoslavs Sonetten darstellen 3 . Wir haben das Sonett deshalb ausgewählt, weil seine Form einen beträchtlichen Zwang auf die Auswahl der akustisch-sprachlichen Mittel f ü r den Dichter darstellt, aber besonders f ü r den Nachdichter und seine Zielsprache. Bereits J . W . von Goethe sagte im Zusammenhang mit dem Sonett, daß sich der Meister in der „Beschränkung" bewährt. Hviezdoslavs Sonette haben eine klassische Form und sind in syllabotonischen Versen mit jambischem Tonverlauf geschrieben. Der jambische R h y t h m u s im Tschechischen und Slowakischen existiert „in n a t u r a " nicht, da der Akzent eine delimitative F u n k t i o n hat (er liegt auf der ersten Silbe) 4 . Durch strenge Regulativität der Versfüße der dreizehn* bzw. zwölfsilbigen Verse entsteht in den Sonetten eine rhythmische Automatisierung, die durch E n j a m b e m e n t s beseitigt wird. Die K o n s t a n t e des Verses bilden leichte unbetonte Silben, die schweren Positionen werden nicht konsequent b e t o n t . E s handelt sich auch u m den Deklamationsvers 5 . Wie sieht die Übersetzung aus der Sicht der F o r m aus, und wie beeinflußt die Auswahl der sprachlichen Elemente in der Zielsprache die semantisch-thematische Ebene?
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vgl. J . L e v y , Die literarische Übersetzung. Theorie einer K u n s t g a t t u n g , F r a n k f u r t am Main — Bonn 1960, S. 308. Ausführlicher dazu s. ebd., Die literarische Übersetzung, S. 201—203. Hviezdoslav, Mit dem Olivenzweig kehr bei uns ein. Sonette, Lpz. 1983, S. 8—50. SlowakischDeutsch. Nachgedichtet von D. Z i r n s t e i n . Mit drei Grafiken von H.-H. G r i m m l i n g . vgl. J . H r a b ä k , Üvod do teorie verse, P r a h a 1978, S. 9 9 - 1 0 5 . vgl. auch M. B a k o s , Z dejin slovenskeho versa, Bratislava 1984, S. 227 — 266. Z. Slawistik, B d : 34, H . 6
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Z. Slaw. 84 (1989) 6
Wir beginnen mit der Schlußfolgerung: I n der Nachdichtung Zirnsteins besteht die klare Tendenz, die formelle metrisch-rhythmische S t r u k t u r des Originals möglichst lOOprozentig zu erhalten. Das ist dem Nachdichter — unseren empirischen Betrachtungen nach — gelungen, wenn auch nicht in allen Komponenten. Die entscheidende Komponente spielen hier sprachliche Unterschiede. I m Original beruht der jambische R h y t h m u s auf den unbetonten ungeraden Silben und auf der Tendenz, gerade Silben zu betonen. I n der Nachdichtung ist er viel präziser, der jambische Tonverlauf ist hier viel stärker als im Original ausgeprägt. Am Anfang des deutschen Verses stehen häufig unbetonte Silben, was akzentologisch vor allem durch Verben mit unbetonten Präfixen, wie be-, ge-, ent- ..., bedingt ist: „ e n t n ß der Bruder . . . " , aber auch durch andere Wörter mit dem Akzent auf der zweiten Silbe: „kometengleich . . . " Der unbetonte A u f t a k t des Verses im Deutschen wird weiter durch Artikel, Personalpronomen, Konjunktionen und andere grammatische Wörter erreicht, die im Slowakischen nicht unbetont am. Satzanfang stehen können: „den £/bermut; je höher; mein Zawbervogel; er wollte; und stwtzte . . . " I m Auslaut des zwölfsilbigen Verses ist in der Übersetzung die männliche Kadenz konsequenter als im Original. Das hängt mit der hohen Frequenz der einsilbigen Wörter im Deutschen zusammen. Die daktylischen Reime bei Hviezdoslav sind nicht so stark jambisch ausgeprägt: „zävoru — komoru; üporu — obzoru." I n der Nachdichtung ist also der jambische Verlauf viel exakter als im Original: „entriß der Brwder goldnen Strahlen letzte K r a f t . " Das E n j a m b e m e n t fungiert bei Hviezdoslav als Mittel der rhythmisch-syntaktischen Divergenz. An der Stelle der Versbrechung stehen die Wörter f ü r den Sinn des Gedichts (Vers), die semantisch wichtig sind. Zirnstein plaziert E n j a m b e m e n t in dieselben Positionen wie im Original. Es ist schwer, in den typologisch unterschiedlichen Sprachen an dieselbe Stelle der Versbrechung identische Wörter zu plazieren. Ein seltenes Beispiel : Vy svetld nesmrtne, ichz roj sa vencom vi nie hol bozej podnoze, ja vds, hoc skromny brat! I h r ewigen Lichter, deren Schar als K r a n z sich windet u m Gottes Thron, erkennt als euren Bruder mich! Aus linguistischer Sicht ist hier zu bemerken, daß das E n j a m b e m e n t im Slowakischen keine so große Ausdruckswirkung hat wie in Sprachen mit fester Wortfolge. Das Streben des Nachdichters, alle metrischen und rhythmischen Komponenten des Originals beizubehalten, zeigt sich auch in der Silbenzahl. Die übersetzten Verse in den ersten zwei Strophen haben dieselbe Silbenzahl, in den letzten zwei Strophen variiert sie. Die identische Silbenzählung ist hier als besondere Erscheinung zu betrachten, da hier typologisch unterschiedliche Sprachen (Slowakisch — Deutsch) auch die Neigung zu den unterschiedlichen akzentologisch-rhythmischen Komplexen aufweisen (s. o.). Der Nachdichter respektiert formell das kanonisierte Genre des Sonetts Hviezdoslavs. I m Slowakischen werden betonte und unbetonte Silben in quantitativer Hinsicht gleichwertig wahrgenommen; der wenig m a r k a n t e Akzent hat hier keinen wesentlichen Einfluß auf die akustische Form. Die Reduktion der unbetonten Silben als charakteristisches Merkmal des Deutschen wirkt in Zirnsteins Vers bei gleichbleibender Silben-
J. GLOVKA, Hviezdoslavs „Krvave sonety"
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zahl des Originals a b e r nicht immer positiv auf den glatten r h y t h m i s c h e n Tonverlauf. Aus der Sicht der R e z e p t i o n e n t s t e h e n hier nicht i m m e r vollendete r h y t h m i s c h e Sequenzen : „ 0 Stern, d u r c h dich erschließt das P a r a d i e s sich wieder d u k e n n s t die Bresche, die d a s Cherubsang n i c h t sieht, u n d n a c h t s im Dunkeln, l ä ß t die m a n c h m a l ein d e n D i c h t e r " I m d r i t t e n Vers wird die r h y t h m i s c h e Versmusikalität abgeschwächt 6 . I n der nachgedichteten L y r i k h a b e n die gereimten W ö r t e r ein freieres Verhältnis zur gedanklichen K o m p o s i t i o n des Gedichts als im Original. E s geschieht selten, d a ß sich in der Zielsprache zwei W ö r t e r reimen, die der B e d e u t u n g n a c h gerade einem R e i m p a a r der Vorlage entsprechen w ü r d e n . Die synthetischen Sprachen h a b e n einen weit größeren Vorr a t a n R e i m e n als die analytischen Sprachen. Deshalb f o r d e r n beide T y p e n eine a n d e r e Reimtechnik.7 Die E i n s c h r ä n k u n g bei der R e i m w o r t w a h l in der N a c h d i c h t u n g wird a u ß e r d e m d u r c h weitere linguistische Voraussetzungen beeinflußt. Sowohl im Original als a u c h in d e r N a c h d i c h t u n g ist die z e h n t e Silbe b e t o n t . I n der N a c h d i c h t u n g h a t der zwölfsilbige Vers öfter einen männlichen A u s l a u t als im Original, deshalb ist die S t r u k t u r des Versauslautes in der N a c h d i c h t u n g wie f o l g t : Drei einsilbige lexikalische E i n h e i t e n : „fest im K e r n " , eine zweisilbige u n d eine einsilbige K o m p o n e n t e usw. Die S i t u a t i o n in d e n 13silbigen Versen ist wie f o l g t : Die zehnte Silbe ist b e t o n t u n d zugleich eine W o r t grenze. I m Original ist es eine K o n s t a n t e , in der N a c h d i c h t u n g n u r eine T e n d e n z . Deshalb sind im Original in der Reimposition viersilbige W ö r t e r : „motovidlä — malovidlä". So wird d u r c h d e n N e b e n a k z e n t der j a m b i s c h e A u s l a u t schwächer. I n d e r N a c h d i c h t u n g gibt es diese Möglichkeiten: „ D ä m m e r s t u n d e n — h e i m g e f u n d e n — R a d g e b e n d e n " u n d a n d e r e K o m b i n a t i o n e n . M a r k a n t sind hier dreisilbige lexikalische E i n heiten mit d e m u n b e t o n t e n P r ä f i x (oft Partizipien). I n der N a c h d i c h t u n g ist die r h y t h m i s c h e F u n k t i o n des Reimes erhalten. Die F r a g e , ob a u c h die semantische F u n k t i o n des Reimes e r h a l t e n bleibt, m u ß m i t „ N e i n " b e a n t w o r t e t werden. D a s liegt a n d e m typologischen Unterschied zwischen beiden Sprachen. Viele gereimte W ö r t e r t r e t e n bei Hviezdoslav in die f u n k t i o n a l e n semantischen Vertikalbeziehungen 8 u n d zugleich in die gedankliche K o m p o s i t i o n des Gedichts ein. So bedingt z. B. d a s lyrische S u b j e k t die S t ä r k e des schöpferischen Geistes in der t h e m a tischen Opposition „Ewiges — Vergängliches". I m Original befinden sich in den R e i m positionen (abba) folgende L e x e m e m i t semantischen Beziehungen: ,,nekonecnä — cesta Mlie6nä — pravda veind — svätoreönd". I n der N a c h d i c h t u n g f i n d e n sich hier n u r synsemantische, wenig besagende W ö r t e r , die im Sinne der Ideenwelt des Gedichts zweitrangig s i n d : „ g e k o m m e n — g e n o m m e n — k o m m e n — v e r n o m m e n " . Die K o m -
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Der semiotische Begriff „Versmusikalität" ist ein Schlüsselbegriff in der neuen Theorie der Lyrik bei F. Miko. Vgl. seine Arbeiten: Lyrika a problemy jej vyskumu, in: Süradnice literarneho diela, Bratislava 1986, S. 191—259, und Analyza literärneho diela, Bratislava 1987, S. 176. Ausführlicher dazu s. J. L e v y , op. cit., S. 215f. V. Turcäny betrachtet den Reim als vertikale Metapher. Vgl. seine Arbeit Rym v slovenskej poezii, Bratislava 1975.
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ponenten des lyrischen Bildes 9 erlöschen zwar nicht — sie werden an eine andere Stelle des Gedichts verschoben, aber das Wesentliche bleibt hier nicht erhalten: Die Pointierung des Verses durch semantisch markante Reime ist der Grundzug des poetischen Stils Hviezdoslavs. Die prosodisch-metrischen Mittel sollen in der Einheit und dialektischen Oszillation von Inhalt und Form betrachtet werden. Diese Oszillation spiegelt in der Zirnsteinschen Übersetzung die Werte des Originals wider, aber während die formell-rhythmische Struktur der Nachdichtung die Qualitäten des Originals enthält, sind auf der Ebene der syntaktischen Struktur Verschiebungen zu beobachten 10 , so werden z. B. einige Komponenten der Bildhaftigkeit schwächer oder fallen sogar ganz aus. W i e die Struktur des lyrischen Bildes in der Nachdichtung beeinflußt wird, läßt sich an diesen Beispielen beobachten. Jetzt zur Ersetzung eines Motivs durch ein anderes, wobei eine Bildkomponente ausfällt, z. B. in der suggestiven Beschreibung des Wechsels von Tag und Nacht, wo visuelle Effekte eine wichtige Rolle spielen, ist diese Äquivalenz wie f o l g t : ,,Boj nastal o dedicstvo. — Darmo zjezil sticu brat zUüolücovü a napnul svetla sily: mdlie 6im dial, tirzena jak hlaven v
povichricu."
„ D e r K a m p f entbrannte um das Erbe. Ohne H o f f e n entriß der Bruder goldnen Strahlen letzte K r a f t , und wieder sank er, wie ein Baum im Sturmwind fern. Die Parallele „ B a u m im Sturmwind" ist so ausdrucksstark wie im Original ,,hlaven v povichrici", aber hier ist der Lichteffekt, der für die motivische Struktur von Hviezdoslavs Schaffen wichtig ist, nicht vorhanden. I n der Nachdichtung kann weiter das ganze Bild (z. B. nadrä) ausfallen, wodurch die Expressivität abgeschwächt wird. Vergleiche: ,,A sestra vzteklejsia je samej od Dalily: hoc mrel uz, este chvatla, £o jej nadrä kryli, a v srdce vrazila mu dyku — veöernicu" „ D e r Schwester Grimm hat selbst Dalilas übertroffen Er liegt (der Tag, J. G.) im Sterben, doch sie hält den Dolch umfaßt und rasch noch stößt sie ihm ins Herz — den Abendstern". Weiter kann ein L e x e m (ein W o r t ) ausfallen, aber seine Semantik bleibt implizit im lyrischen Bild enthalten: Noc v serom, iervdnkami obrübenom säte" — „ I m Dämmer kam die Nacht mit rotem Saum am K l e i d " . Hier beinhaltet die Wortgruppe „mit rotem Saum am K l e i d " die Semantik des Wortes ,,6ervdnky". Interessant ist die Ersetzung des Motivs (des lyrischen Bildes) durch ein neues Bild, wobei die funktionale Äquivalenz erhalten bleibt:
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Zur Struktur des lyrischen Bildes s. F. M i k o , Umenie lyriky, Bratislava 1988. Den Begriff der Verschiebung, sl. posun, s. bei A . P o p o v i c , Preklad a vyraz, Bratislava 1968.
J. Glovna, Hviezdoslavs „Krvave sonety"
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„Ja verim, pravda ducha ze je pravda vecnä, po desnych strminäch mi ona zäbradlim,, ona mi blahozvest, hoc i hrob odhalim, . . . " I n den Versen ist „die W a h r h e i t " eine Stütze (zäbradlie) f ü r das lyrische S u b j e k t in seinem komplizierten Leben, besonders dann, wenn es sich mit existentiellen Fragen beschäftigt ,,hoc i hrob odhalim". I n der Nachdichtung fällt das Motiv der Stütze aus, und es erscheint ein ganz neues Wort — S t e r n : „ D a s ewig wahre k a n n nur aus d e m Geiste kommen, und in Gefahren ist es stets mein guter Stern, bis an das Grab, doch auch zum Glück f ü h r t es mich gern, . . . " Das Motiv „des S t e r n s " als Plus in der Nachdichtung stört nicht, im Gegenteil, es ist hier im Einklang mit anderen biblischen und antiken Symbolen (Ixion, Dalila, P a t m a , Hospodin ...) funktional günstig. An einigen Beispielen haben wir zu zeigen versucht, wie der Zwang der F o r m des Originals die semantische Artikulation in der Nachdichtung ändern k a n n . Die Lyrik hat einen vielschichtigen Bau. Die Nachdichtung verlangt, d a ß die Motive und Bilder sehr aufmerksam behandelt werden. Dazu k o m m e n der Zwang der F o r m , die semiotische Bedeutung des Verses, die lexikalisch-semantische Artikulation und stilistische Nuancen. Somit ist die Nachdichtung als schöpferische Tätigkeit zu betrachten.
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H. A d a m
Expressivität in der tschechischen Gegenwartsprosa und ihre Wiedergabe im Deutschen „Die Sprache ist in der Lage, alles auszudrücken, was in den Gesichtskreis einer Gesellschaft tritt, sowohl Erscheinungen und Beziehungen der objektiven Realität als auch Phantasieprodukte und Truggebilde, nicht nur Urteile, sondern auch die subjektive Einstellung des Sprechers zu den Sachverhalten, nicht nur begrifflich Rationales, sondern auch Emotionen, Wunschvorstellungen, Sehnsüchte, Träume." 1 Durch E x pressivität, die als linguistische Erscheinung alle Ebenen der Sprache durchdringt und vor allem mit ihrer mündlichen Form, mit spontanen Äußerungen verbunden ist, soll vor allem Auffälliges geschaffen und Aufmerksamkeit erregt werden. Der Begriff der Expressivität oder auch Ausdrucksstärke wird in der entsprechenden Fachliteratur unterschiedlich weit g e f a ß t ; häufig wird er als mögliche Bezeichnung f ü r die Summe aller begrifflichen und nichtbegrifflichen Merkmale eines Textes verstanden. Als wesentliche Komponente der Expressivität sind die Rationalität — auf Vernunftserkenntnis gegründete Elemente eines Textes bzw. Anreicherung des Textes durch wissenschaftliche Aussageteile — und die Emotionalität, die die gemütsbewegenden Elemente eines Textes darstellt, zu bezeichnen. Die Emotionalität ist also der Expressivität begrifflich untergeordnet. I n unseren Betrachtungen möchten wir die genannte Differenzierung nicht vornehmen. Die Expressivität wird von Jozef Mistrik 2 als „ t a k o v a zlozka komunikujüceho prostriedku, ktorü p o d a v a t e l ' p r e j a v u j e s v o j u osobnost" charakterisiert. Der Textproduzent drückt somit seine subjektive Einstellung zum Thema, zum Perzipienten und zur K o m munikationssituation aus, wobei seine Empfindungen, Emotionen eine wesentliche Rolle spielen. Dabei werden angenehme bzw. unangenehme Gefühle ausgedrückt sowie Stellung zur angebrachten bzw. nichtangebrachten Meinung des Textproduzenten oder auch des Perzipienten genommen. Die Skala der expressiven Merkmale beruht auf der Opposition „positiv — negativ", wobei natürlich die unterschiedlichsten Nuancierungen zum Ausdruck gebracht werden können. Zur Opposition „positiv" gehören Merkmale wie lieb, niedlich, vertraut, schmeichelhaft, besänftigend, lustig, verfeinernd, etwas Unangenehmes verhüllend u. a., zur Opposition „negativ" Merkmale wie ungünstig, abwertend, verurteilend, pejorativ, beleidigend, vulgär, grob. Die Expressivität ist hinsichtlich der Zuordnung zu den Funktionalstilen dem Alltagsstil sowie dem publizistischen Stil eigen und spielt auch im künstlerischen bzw. literarischen Stil eine wesentliche Rolle. Dabei ist in der gegenwärtigen tschechischen Prosa zu beobachten, daß expressive Mittel im literarischen Werk eine zunehmende Bedeutung erlangen und eine wichtige Rolle bei seiner sprachlichen Gestaltung spielen. Sie werden nicht nur in Dialogen, in denen die Alltagsrede modelliert wird, sondern auch in der Autorensprache angewandt. I m künstlerischen Stil dient die Expressivität vor allem, ausgehend von der künstlerischen Absicht des Autors, einerseits zur realistischen Dar-
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Deutsche Sprache, Lpz. 1983, S. 512. J. M i s t r i k , Stylistika slovenskeho jazyka, Bratislava 1970.
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H . ADAM, Tschechische Gegenwartsprosa
Stellung des abgebildeten Milieus, andererseits ist sie Ausdruck des Bemühens um Verwendung ungewöhnlicher,
wirkungsvoller
Ausdrucksmittel.
Durch
die
Anwendung
expressiver Elemente geht es in der Figurenrede auch um eine Charakterisierung der literarischen Gestalt und der ihr eigenen Redeweise in verschiedenen Situationen. So wird z. B . in der Erzählung Bohumil Hrabals „ P o s t r i z i n y " ( „ D a s H a a r o p f e r " ) die Figur des Onkels Pepin gerade durch die Verwendung verschiedener expressiver Mittel charakterisiert. Ähnlich wird auch in der Prosa von Vaclav Dusek „ D n y pro k o c k u " ( „ T a g e für die K a t z " ) , in der die Schicksale junger, am R a n d e der Gesellschaft lebender Menschen wie z. B. Delf oder Supi widergespiegelt werden, das asoziale Milieu ebenfalls durch eine expressive Ausdrucksweise gekennzeichnet. Es sei an dieser Stelle vorausschickend auf viele Vulgarismen, wie z. B . pitomec, vül, blbec, Mastat,
hulit,
sowie andere Substandardismen, wie fdro, bijäk, cvakat
cvok, foto-
apardtem na plny peclcy, je me blbe z hladu u. a., verwiesen. Diese beiden W e r k e möchten wir im folgenden aus zwei Gründen etwas näher betrachten : 1. D i e Expressivität tritt in beiden Erzählungen als eine dominante Erscheinung hervor, 2. für beide W e r k e liegen Übersetzungen ins Deutsche vor, so daß ein Vergleich dieser Erscheinung vorgenommen werden kann. W i e eingangs dargelegt, ist die Expressivität auf allen sprachlichen Ebenen vorhanden. Betrachten wir die lexikalische Ebene etwas näher, so stellen wir fest, daß bei den Benennungsmitteln die Wortbedeutung o f t nicht nur eine begrifflich-rationale, sondern auch eine wertende, emotionale und voluntative, also expressive, K o m p o n e n t e enthält. Diese ist häufig im Gegensatz zur denotativen K o m p o n e n t e nur schwer zu bestimmen, jedoch beruht gerade auf ihr die Wirksamkeit sprachlicher Gestaltung. D i e expressiv markierten lexikalischen Mittel sind sehr anschaulich, konkret, manchmal sogar naturalistisch und deshalb gesellschaftlich tabuisiert. Bezüglich der lexikalischen Ebene unterscheidet Jaroslav Zima 3 drei Arten dieser Erscheinung : 1. die sog. inhärente Expressivität (expresivita inherentni), die ein Bestandteil der Bedeutung und auch ohne K o n t e x t erkennbar ist, da sie allein aus der für das Tschechische ungewöhnlichen bzw. unzulässigen Zusammensetzung der Phoneme resultiert, z. B. fnukat, nouma,
tulpas.
A l s äußeres Signal der Expressivität wirkt auch die Derivation mit H i l f e fremder S u f f i x e bzw. durch die Verwendung heimischer Wortbildungsmittel, die als Störung bzw. Aktualisierung des vorhandenen Wortbildungssystems empfunden werden. Hierzu zählt z. B. auch die Ausnutzung deminutiver Formen zum Ausdruck eines qualitativen, nicht quantitativen Merkmals, z. B. byte6ek; 2. die adhärente Expressivität (expresivita adherentni), die rein semantischer N a t u r ist und nur aus d e m K o n t e x t ersichtlich wird. Es handelt sich hierbei um semantische Übertragungen bei Lexemen, deren ursprüngliche Semantik neutral ist, z. B . mastny ,fettig', spinavy
,schmutzig':
Svlekl jsern si dzinsy. Jo, byly mastny, jak fikal je kamenem, aby mi je proud neodnesl k 3
Delf. Namo&il jsem je do vody a zatizil
pfistavisti;
J. Z i m a , Expresivita slova v cestiné, Praha 1961, S. 20.
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oder z. B. ztvrdnout ,hart werden', das in der Bedeutung züstat ,bleiben' verwendet wird: Ztvrdnu u feky säm s t a t t Züstanu u reky säm; 3. die kontextuelle Expressivität (expresivita kontextovä), die jedoch rein stilistischer N a t u r ist. Hierbei handelt es sich um eine Transposition eines stilistisch merkmalhaften Ausdrucksmittels in einen anderen stilistischen K o n t e x t . Die expressiven Ausdrucksmittel stellen in der Regel stilistisch markierte Äquivalente f ü r neutrale, semantisch gleichwertige Benennungen dar. Sie enthalten gleichzeitig zwei Arten von Informationen: a) die obligatorische (semantische, bezeichnende) b) die fakultative (pragmatische), wobei die semantische den konstanten, die pragmatische den variablen Teil darstellt, der hinsichtlich des Translats verschiedene Verschiebungen bzw. Transformationen ermöglicht. Zu den expressiven Ausdrucksmitteln gehören, wie schon angedeutet, die Mittel des sprachlichen Substandards, zu denen auch Germanismen, die schon erwähnten Vulgarismen, eine Reihe von Univerbaten sowie andere lexikalische Mittel gezählt werden können. Diese expressiven Mittel stellen f ü r den Übersetzer ein besonders schwieriges Problem dar und werden häufig ohne die Beibehaltung der pragmatischen Information wiedergegeben, die in einigen Fällen nicht gewahrt werden kann. Sie sind also in der Zielsprache stilistisch merkmallose, der neutralen Stilschicht angehörende Mittel, wie z. B. autdk — ,Lieferwagen', levatka — ,linke H a n d ' , zävodka — ,Kantine', bijäk — Z e i t kino', snubäk — ,Verlobungsring', melouch — F e i e r a b e n d a r b e i t ' , kvartyr (krcdlek) — ,Wohnung', spacirovat — ,spazieren'. F ü r die Adäquatheit einer literarischen Übersetzung müssen jedoch bekanntlich weitere Kriterien herangezogen werden, die verschiedene Möglichkeiten der Kompensierung der Nullstellen erlauben. Insgesamt ist als tertium comparationis die stilistische Ebene anzusehen, denn, wie Popovic meint, „iba n a tejto rovine prechadza dielo z jazyka do jazyka ako homogeny ütvar" 4 . Welche Möglichkeiten der Kompensierung der Nullstellen in beiden analysierten Werken angewandt werden, wird im folgenden gezeigt. 1. I n der Zielsprache, d. h. im Deutschen, werden nichtgängige Ausdrucksmittel ver wendet, die das fremde Kolorit a n d e u t e n : loupäk — ,Kipfel', toz sakra — ,ein sakra'' maröda — ,marode'. 2. Die Merkmalhaftigkeit der Lexeme in der Originalsprache wird durch zusätzliche lexikalische Mittel in der Zielsprache kompensiert: strozok — ,ein a l t e r ' S t i o h s a c k ' , kafovat — , w i e e i n V e r r ü c k t e r K a f f e e trinken'. 3. Nicht zuletzt werden dazu graphische Mittel genutzt, z . B . Apostroph: drohet — ,'n bißchen', deti ja brzy homro — ,Kinder ich k r a t z ' bald a b ' . 4. E s werden im Deutschen an anderen Stellen als in der Originalsprache ausdrucksstärkere Elemente verwendet: V rohu sedel Skuban a Bisa — ,In der Ecke h o c k t e n Skuban und Risa'. 4
A. P o p o v i C , Teöria umeleckeho prekladu, Bratislava 1975, S. 75.
H. ADAM, Tschechische Gegenwartsprosa
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5. Nicht selten wird eine subjektive Wortfolge gewählt: Mam desnej hlad — f ü r c h t e r lichen Kohldampf hab ich'. 6. E i n besonderes Problem stellt die Verwendung von Germanismen zusammen mit ihren tschechischen Entsprechungen in der Figurenrede dar. Der Übersetzer versucht eine Lösung durch die Übernahme des Synonympaars in den zielsprachlichen T e x t : A tohle je, jak jsme juz feMi, absac neboli podpatek . . . ,Und das hier, wie schon gesagt, das ist der A b s a t z oder auch P o d p a t e k . . . ' Sakra svagrovä, fehl s obdivem, tady by bylo pekny beobachtungsstelle neboli pozorovatelna ... ,Potztausend, Schwägerin, sagte er voller Bewunderung, das gäbe hier 'ne hübsche B e o b a c h t u n g s s t e l l e oder auch P o z o r o v a t e l n a .. Während allerdings im Originaltext die Verwendung zweier Benennungen in der Rede eines ehemaligen k.u.k. Soldaten zumindest von älteren Lesern nicht als ungewöhnlich aufgefaßt wird, bleibt f ü r den Rezipienten des Zieltextes die F u n k t i o n der Synonymverwendung unklar. I m vorliegenden Beitrag wollten wir auf einige Probleme der Expressivität und ihrer Wiedergabe eingehen. E s k o n n t e festgestellt werden, daß diese sprachliche Erscheinung auch im literarischen Text eine bedeutende Rolle spielt und daß sie f ü r die Translation eine unerschöpfliche Quelle f ü r Lösungen bietet, die die Adäquatheit der Übersetzung gewährleisten.
Z. Slaw. 34 (1989) 6, S. 864-866 B. L o m m a t z s c h
Aspekte der stilistischen Äquivalenz Die stilistische Äquivalenz literarischer Übersetzungen gilt o f t als schwer e r f a ß b a r u n d beschreibbar. E s scheinen wenig o b j e k t i v e Kriterien f ü r ihre Beurteilung zu bestehen. Die stilistischen Erscheinungen sind zweifellos nicht n u r m i t der W i r k u n g objektiver, sondern a u c h vieler subjektiver F a k t o r e n v e r b u n d e n . Auch die W i r k u n g der s u b j e k t i v e n F a k t o r e n h a t jedoch o b j e k t i v e Gründe, u n d somit ist es f ü r den Übersetzer möglich, diese zu berücksichtigen u n d f ü r die W a h l äquivalenter sprachlicher Mittel zu n u t z e n . J e d e r T e x t ist d a s P r o d u k t von Kommunikationsereignissen, g e p r ä g t von den F a k t o r e n , die a m Kommunikationsereignis beteiligt sind. Die s t ä r k s t e Abhängigkeit von den k o m m u n i k a t i v e n F a k t o r e n im weiten Sinne weisen die stilistischen Merkmale auf. Deswegen ist es wichtig, bei stilistischen U n t e r s u c h u n g e n die k o m m u n i k a t i v e E b e n e als Ausgangsbasis zu wählen. Stilistische I n f o r m a t i o n e n , die die sprachlichen Mittel in einem T e x t beinhalten, sind n u r u n t e r B e a c h t u n g der aktuell wirkenden stilbildenden F a k t o r e n zu erkennen. Stilbildende F a k t o r e n stellen ein variables dynamisches Beziehungsgefiige dar, d a s in einem aktuellen Kommunikationsereignis in einer b e s t i m m t e n Konstellation u n d auf eine bes t i m m t e A r t u n d Weise wirkt. Z u m Sprachgebilde (nach Trubetzkoy) gehören sprachliche E i n h e i t e n mit ihren p o t e n tiellen stilistischen E i g e n s c h a f t e n bzw. stilistisch relevanten I n f o r m a t i o n e n . U n d ähnlich, wie m a n die aktuelle B e d e u t u n g sprachlicher E i n h e i t e n n u r a n h a n d des K o n t e x t e s erschließen k a n n , ist a u c h die aktuelle stilistische Funktion sprachlicher E i n h e i t e n n u r aus d e m gesamten k o m m u n i k a t i v e n K o n t e x t , d . h. aus d e n stilistisch relevanten Elem e n t e n der v o r h a n d e n e n k o m m u n i k a t i v e n S i t u a t i o n e r k e n n b a r , e r m i t t e l b a r . F ü r das Erreichen der stilistischen Äquivalenz ist es deshalb wichtig, d a ß der Ü b e r setzer u n t e r K e n n t n i s potentieller stilistischer E i g e n s c h a f t e n der eingesetzten sprachlichen Mittel d e n k o m m u n i k a t i v e n K o n t e x t u n t e r s u c h t u n d die aktuellen stilistischen F u n k t i o n e n e r k e n n t . E r p r ü f t die W i r k u n g aktueller stilbildender F a k t o r e n u n d ermittelt, ob in dieser Konstellation die eingesetzten sprachlichen E i n h e i t e n merkmallos (d. h. wie erwartet, a d ä q u a t ) bzw. m e r k m a l h a f t (d. h. u n e r w a r t e t , nicht a d ä q u a t ) fungieren. Einige Beispiele zur D e m o n s t r a t i o n : 1. Der Stilwert sprachlicher E i n h e i t e n als eine potentielle stilistische F u n k t i o n ist — synchron gesehen — eine k o n s t a n t e Größe, d. h., eine sprachliche Einheit weist eine feste Zugehörigkeit zu einer Stilschicht u n d eine b e s t i m m t e Stilfärbung auf. I m a k tuellen T e x t k a n n sich jedoch der Stilwert ein u n d derselben sprachlichen Einheit unterschiedlich k o m m u n i k a t i v auswirken. Beispiele: chrup ,Gebiß' — S t i l w e r t : Stilschicht: sachlich-buchsprachlich; S t i l f ä r b u n g : f a c h sprachlich; aktuelle stilistische F u n k t i o n e n : in der F a c h s p r a c h e : merkmallos, a d ä q u a t , im Alltagsstil: ironisch, in der Poesie: lächerlich, d a zu sachlich; of , R o ß ' — S t i l w e r t : Stilschicht: poetisch; S t i l f ä r b u n g : feierlich, p a t h e t i s c h , etwas veraltet;
B. LOMMATZSCH, Stilistische Äquivalenz
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aktuelle stilistische F u n k t i o n e n : in der Poesie: merkmallos, a d ä q u a t in älteren T e x t e n ; in der F a c h s p r a c h e : lächerlich, d a zu poetisch, im Alltagsstil: ironisch. Dazu noch ein Textbeispiel — eine m e r k m a l h a f t e aktuelle F u n k t i o n des b u c h s p r a c h lichen Mittels nybrz — : „Ja uz jsem tak hodny, ze mluvím pravopisné a pofád fíkám ,nybrz' a ,tudíz'. Tatínek pravil: ,,Nech si uz to nybrz, já jsem z toho nervózní". (K. P o l á c e k , Bylo nás p é t , S. 79) 2. I n jeder Sprache existieren situationsgebundene k o n s t a n t e sprachliche Mittel, wie z. B. Begrüßungen, Anreden, Höflichkeitsphrasen, Phraseologismen, S c h i m p f w ö r t e r , Füllelemente usw., die beim aktuellen Gebrauch wiederum entweder stilistisch m e r k mallos (adäquat, erwartet) bzw. m e r k m a l h a f t (nicht a d ä q u a t , u n e r w a r t e t ) wirken k ö n n e n . A u ß e r d e m k a n n jedoch jeder A u t o r als N e u s c h ö p f u n g eigene Vergleiche, Anreden, Schimpfwörter, eigene originelle Bilder schaffen. Diese wirken einerseits wie die o b e n g e n a n n t e n sprachlichen Mittel (je n a c h d e m a k t u e l l e n E i n s a t z im T e x t e n t weder ohne zusätzliche stilistische Merkmale oder m i t zusätzlichen stilistischen I n formationen), es k o m m t aber immer noch ein wichtiges Merkmal der Originalität, der Ü b e r r a s c h u n g hinzu. Zwei Textbeispiele von H r a b a l sollen das belegen: — die k o n s t a n t e R e d e w e n d u n g : „No nazdar hodinyl" (Romance); — das originelle Bild: „komunikace je hrdlo lahve, kterym se prokloktávám lidem" (Domácí úkoly z pilnosti).
k tém
druhym
Als prinzipiell stilistisch i n a d ä q u a t ist zu werten, w e n n k o n s t a n t e sprachliche Mittel der Quellensprache mit originellen Mitteln der Zielsprache wiedergegeben werden. I n dieser Hinsicht verhielt sich der Übersetzer bei d e m ersten Textbeispiel von H r a b a l prinzipiell stilistisch a d ä q u a t . E r wählte f ü r die k o n s t a n t e R e d e w e n d u n g „No nazdar hodiny!" ebenfalls eine k o n s t a n t e W e n d u n g „Mein lieber Schollil" (die a n d e r e n F r a g e n bei diesem P r o b l e m — z. B. d e n Kreis der B e n u t z e r v o n k o n s t a n t e n sprachlichen Mitteln b e s t i m m t e r Art, die A k t u a l i t ä t usw. — lassen wir hier a u ß e r a c h t ) . Prinzipiell stilistisch i n a d ä q u a t entschied sich dagegen der Übersetzer des R o m a n s „ D r e i K a m e r a d e n " von R e m a r q u e ins Tschechische, i n d e m er die k o n s t a n t e n sprachlichen Mittel „verdammte treulose Tomate" u n d „ein wandernder Mollenfriedhof" mit „zatraceny rajée nevérny" u n d „putujici hfbitov biftekü" wiedergegeben h a t . Beides ist im Tschechischen originell. Der literarische Stil unterscheidet sich von d e n a n d e r e n F u n k t i o n a l s t i l e n d a d u r c h , d a ß er nicht a n natürliche k o m m u n i k a t i v e Situationen g e b u n d e n ist. D e r A u t o r m o d e l l i e r t die k o m m u n i k a t i v e n S i t u a t i o n e n mit d e n einzelnen aktuellen k o m m u n i k a t i v e n Ereignissen u n d A k t e n selbst. E r k a n n sich zwar d a b e i n a c h d e n n a t ü r l i c h e n k o m m u n i k a t i v e n Situationen richten, k a n n aber a u c h eigene, v o n d e n n a t ü r l i c h e n S i t u a t i o n e n abweichende Modelle bilden. E s werden d a b e i E l e m e n t e oder K o m p l e x e a n d e r e r Funktionalstile a u s g e n u t z t , wobei a u c h a t y p i s c h e F o r m e n der F u n k t i o n a l s t i l e e n t s t e h e n können. Der A u t o r wählt u n d modelliert eine k o m m u n i k a t i v e R a h m e n s i t u a t i o n , die sich in engere, mit aktuellen Kommunikationsereignissen v e r b u n d e n e k o m m u n i k a t i v e Situationen gliedert. Aus jeder k o m m u n i k a t i v e n S i t u a t i o n ergibt sich eine b e s t i m m t e K o n stellation stilbildender F a k t o r e n mit ihrer aktuellen W i r k u n g . D a im literarischen W e r k die individuellen E n t s c h e i d u n g e n des Autors i m V o r d e r g r u n d stehen, k a n n er a u c h die
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Wirkung stilbildender Faktoren im Sinne der Gesamtintention des Werkes und seiner Kommunikationsabsichten in den einzelnen Situationen lenken. E r k a n n die Wirkung bestimmter F a k t o r e n verstärken, hemmen bzw. ausschalten (z. B. die subjektive Beziehung der Kommunikationspartner zueinander, die subjektive Beziehung zum Thema, eine bestimmte Kommunikationsabsicht, die Zeit der Handlung, den Ort der Handlung usw.). E r kann außerdem geltende stilistische Normen einhalten oder gegen sie verstoßen. Dementsprechend wählt er auch sprachliche Mittel. E r k a n n f ü r bestimmte Situationen zu erwartende, aber auch absichtlich unerwartete, überraschende Mittel wählen, er kann Neuschöpfungen schaffen. Die Personen, die er im Werk agieren läßt, können sowohl typische als auch atypische kommunikative Verhaltensweisen demonstrieren. Das literarische Werk trägt als Folge stilistischer Entscheidungen des Autors bestimmte aktuelle Stilzüge, die u. a. — — — —
eine bestimmte Art der Disposition und Komposition, eine bestimmte Art der Gedankenführung, eine bestimmte Darstellungshaltung, bestimmte Darstellungsweisen usw.
umfassen. U m eine stilistisch äquivalente Übersetzung zu erreichen, m u ß der Übersetzer in der Lage sein, die s t i l i s t i s c h e n E n t s c h e i d u n g e n d e s A u t o r s n a c h z u v o l l z i e h e n . Dazu ist eine s t i l i s t i s c h e A n a l y s e notwendig, die vor allem folgende Schritte enthält: — Analyse der Gesamtintention des Werkes, der kommunikativen Rahmensituation sowie auch der Kommunikationssituationen der einzelnen Kommunikationsereignisse des Werkes, — Analyse der Konstellation und der Wirkung stilbildender Faktoren in den Kommunikationsereignissen, — Analyse der Stilzüge des Werkes im allgemeinen und im einzelnen. Der Übersetzer vergleicht diese Informationen mit seiner sprachlichen E r f a h r u n g und t r i f f t in der Zielsprache eigene Entscheidungen. Wünschenswert ist, daß er solche sprachlichen Mittel wählt, die den aktuell wirkenden stilbildenden Faktoren in den einzelnen Kommunikationssituationen sowie den aktuellen Stilzügen entsprechen. Eine notwendige Voraussetzung f ü r das Erreichen einer stilistisch a d ä q u a t e n Übersetzung ist vor allem eine gute Kenntnis stilistischer Eigenschaften sprachlicher Einheiten und ihrer Wirksamkeit sowohl in der Quellen- als auch in der Zielsprache. Das Erreichen der stilistischen Äquivalenz hängt nicht nur von der Quantität und Qualität der sprachlichen E r f a h r u n g des Übersetzers ab, sondern auch von seiner Bereitschaft, die E n t scheidungsgründe des Autors sorgfältig zu untersuchen, sowie auch davon, inwieweit er eigene stilistische Fertigkeiten entfalten kann, ohne dabei den Autor seiner Individualität zu berauben.
Z. Slaw. 84 (1989) 6, S. 8 6 7 - 8 7 8
U. M a c h t
Novomeskys „Analyza" in der Übertragung von Paul Wiens Innerhalb der interliterarischen Beziehungen gewinnt die literarische Übersetzung zunehmend an Bedeutung. Ein besonderes Phänomen stellt in diesem Zusammenhang die Übertragung von Lyrik dar, da das subjektiv-kreative Moment hier verstärkt in Erscheinung t r i t t . Wie die Individualpoetik eines Nachdichters dessen H a l t u n g zum Originaltext und so auch den Adäquatheitsgrad der Übertragung beeinflußt, soll im folgenden 1 anhand des Originals und der deutschen Übertragung von P a u l Wiens des Gedichts „Analyza" von Ladislav Novomesky (1904—1976) dargestellt werden. Sie e n t s t a m m t dem 1971 in der Weißen Reihe des Verlags Volk und Welt erschienenen Querschnittsband Novomeskys „Abgezählt a n den Fingern der T ü r m e " und steht stellvertretend f ü r sein Spätwerk, in reflexiver Rückschau auf die Kriegsereignisse poetische wie Lebenserfahrungen des Dichters gleichsam bündelnd. U m die Vergleichbarkeit der slowakischen und der deutschen Variante des Gedichts zu gewährleisten, wurde neben vorbereitenden Studien zum Werk beider Autoren wie zu deren jeweiligem K o n t e x t das analytische I n s t r u m e n t a r i u m der Nitraer Schule herangezogen. Zur Anwendung kommen vor allem das System der Ausdruckskategorien und die Verschiebungstypologie. Durch diese komplexen, interdisziplinär angelegten Analyseverfahren, die besonders durch A. Popovic und F. Miko entwickelt wurden, lassen sich Lyrikübertragungen weitgehend objektiviert kritisch werten. Mit Hilfe einer makro- und mikrostrukturellen Analyse wird eine übersetzerische Invariante zu den Poetiken und Kont e x t e n beider Autoren in Beziehung gesetzt und die Wirkungspotenz beider Texte daraus abgeleitet. Zum besseren Verständnis sind den Analysen jeweils die Gedichttexte — slowakisch und deutsch — vorangestellt. Analyza
I
II
1 2 3 4 5 6
Vsetkého sme sa bàli. J a c a n i a sirén, zatemnenych noci, toho, ze mózbyt' nebudeme, jak mesto Dresden, v k t o r o m bez pohrebov lihali tol'ki do tla v hroboch pod pahrebou, vsetkého sme sa bàli.
7 8
Toho, ze mòzbyt' nebudeme, i toho, ze sme boli.
9 10 11 12 1
Dobrého rana na dva p r s t y prisotené k ciapke, stupania na stupadlàch elektriciek do dna, dni dielnych v dielnach, pravidelnych nediel', pridelov ( „ . . . paneboze, jak len podelit'
Die Darlegungen sind Teil eines Kapitels aus der Dissertation A der Verfasserin mit dem Titel „Slowakische Lyrik in deutsehen Übertragungen. Vergleichende Analysen von Original und Nachdichtungen.", eingereicht 1989 an der Humboldt-Universität zu Bln.
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vsetky tie vecne vyhladnuté krky ..."), 13 paklikov premastenych (,,... esteze myslia takto nasi doma na nás ..."), 14 bez nich sám Kristus nevykúzli dnesnú veceru ;
15 16 17 IV 18 19 20 21 22 23 24 25
vecerov zaliehavych pri spine naliehavych recí na reci, napt'ñajúcich nepokojom pokoj, pokojny navecer, cuj : „Vola Londyn." ,,Hovori Moskva. Moskva hovori!" o desnom, o cudesnom, s cuvami na prasknutie sme ju pocúvali a bàli sme sa o ñu, o seba sme sa bàli v nej, o vsetko sme sa bàli.
V 26
Doslova o vsetko. A vsetkého. A stále.
27 Chrastenia zbraní, v smrtonosnej dial'ke 28 zlovestne znejúceho 29 jak pohyb, suchy pohyb v necakanom chrastí, VI 30 ale a j toho, 31 ba, nazdávam sa, toho este väcsmi, 32 mlcanlivého vsieho ticha pod chrastou, 33 co je vraj nadovsetko múdrost' státnická, 34 VII 35 36
,,... len lipnút' k nemu, a bude co to, to, co iny nema, do hrdla, na zub, k perám prilipnutá lipka . . . "
37 chvíl' dobrej volé, 38 na celé kolo 39 smiechu z nej, i náreku a kliatby dookola; 40 radosti vsednodennej, ze sme nazi ve, VIII 41 ale a j mrtvych, mrúcich v dennych neradostiach ; 42 slnka, co vidi nás a 43 videlo muky Lidie, 44 pozerajúcich svetu do svedomia (riekli by sme Vidíc, 45 vidiacich Vidíc, 46 z nominatívu Vidice) ; 47 I X 48 49 X 50 51
vzdusného vzduchu do pl'úc vdychnutého, i dychu, ktory dúchol kto, kym klesol bez duse; ale a j vody v starej studni, vody na perejach s kvapkami pomyslení, ci by z nej nepristala na vyschnutych perách
U. MACHT, Novomeskys „Analyza"
XI
52 53 54
väcsmi nez v nasom dvore, chotäri trojkopcovom, trosticka vyspliechnutä;
55 56 57 58
detskeho vresku, vresku detskeho, jedneho z hrözy konca, no toho do zaciatku tiez. A zien, ustaranych, ostaranych, v starostiach i krasnych, pretoze take boli aj tie, aj oni boli predtym iba take;
59 60 61
62 63 X I I 64 65 66 67 68 69 70 71
„ . . . To je z tej mrzkej vojny vsetko, ta näs mrzaci . . . " , mrzütske nasedivo mrazl z mrzutosti z nej, zo strachu, strachov zo vsetkeho, zo strachu o vsetko, napriklad o chlapov, o vsetkych chlapov vsetkych nasich Lehot, o nasho na Kaukaze, ci ho nezabijü, ci nezabijü jeho, a ci on dakoho, ,,... Paneboze, ochranuj ho, i dusu jeho, nech sa neposkvrni hriechom . . . "
72 73 74 X I I I 75 76 77 78
A taky vrüci vzdych siel hl'adat' rozhresenie, i taky vrüci vzdych jak ruka s rukou v ruke podanou zhodol sa tesne so zamerom presne zameranym do jadra veci, do jej podstaty, myslienkou v mysliach stal sa, zrejmym ümyslom na omak zhmotenym a v jeho tele zmyslom.
X I V 79
Priatelia, südruhovia, tak sa to zacalo.
80 81 X V 82 83
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Vsetkeho, vravim vam, o vsetko sme sa bäli, a preto na vojnu, na vojnu sme sa dali.
',Novomeskys Dichtung zeichnet sich durch eine intensive Durchdringung von rationalen und emotionalen Elementen aus . . . Poesie . . . begriffen als echtes Zwiegespräch mit dem Leser . . . Ohne zu vereinfachen, einfach zu sein, tief zu loten und doch verständlich zu bleiben — Novomesky hat mit seinem Werk bewiesen, daß diese Kunst möglich ist. Die Schlichtheit und Strenge der Volksballade, die geballten Bilder und Assoziationen, die Schwere abstrakter Begriffe, alles bezieht er ein, um eine reflexive Poesie zu schaffen, die nichts gemein hat mit passiver Weltsicht, sondern gespeist wird von einer aktiven, weltverändernden Haltung. In der Reflexion wird so der Zusammenhang der Erscheinungen erfaßt, werden Geschichts- und Epochenbewußtsein formuliert und
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existentielle Fragen, wie es nun einmal Geburt oder Tod, Zeit oder R a u m sind. Auch dann, wenn Novomesky gleichsam überzeitliche Motive aufgreift, elementare Gefühlserlebnisse, wie Liebe, Schmerz, Glück oder Naturbegegnung, sind sie gesellschaftlich und philosophisch determiniert; dialektische Bezüge werden auch hier geschaffen, die nie vordergründig, agitatorisch sind." 2 Die hier gegebene Kurzcharakteristik der Poetik Novomeskys t r i f f t voll und ganz auch auf dieses Gedicht aus seiner letzten Schaffensperiode zu. Erschienen 1964 in der Wochenschrift „ K u l t ü r n y zivot" aus Anlaß des 20. Jahrestages des Slowakischen Nationalaufstands, ist es sowohl persönliches Bekenntnis (darauf deutet auch schon die durchgängige Verwendung der ersten Person Plural) als auch eine plastische Darstellung und Verallgemeinerung der Zustände im hitlerhörigen klerikalfaschistischen Slowakischen Staat, aller wesentlichen Faktoren, die ein so friedfertiges Volk wie das slowakische in den Aufstand führten. Implizit teilt sich mit, worin der Wert dieses lange zurückliegenden Ereignisses f ü r die Nachwelt besteht, Verpflichtung und Mahnung werden nicht mit erhobenem Zeigefinger dem Leser übermittelt, sondern gehen als aktivierendes Moment, als verinnerlichtes moralisches Gebot aus der Zustandsschilderung damaligen Lebens und dessen Konsequenzen hervor. Die Dialektik des Inhalts, in der Friedfertigkeit der Menschen und ihrer Angst die Wurzeln d a f ü r zu zeigen, daß sie zu den W a f f e n griffen, spiegelt sich in der äußeren Gestalt des Gedichts wider. I m Spiel mit Worten und Begriffen, die in ihrer Widersprüchlichkeit zu Kontrasten, ja Paradoxa getrieben, dann aber wieder durch verschiedenste Ableitungen eines Wortes zueinander in Beziehung gesetzt werden, mitunter fast bis zur Tautologie, in kehrreimartigen Wiederholungen, Paronomasien und an Zwillingsformeln erinnernden Fügungen, wird das Thema vielfach variiert und von den verschiedensten Seiten her beleuchtet. Bei all dem überwiegt ein liedhafter Ton, die Verwendung der Klangstilmittel geschieht so bewußt, daß sie das Volkslied geradezu unausweichlich assoziiert. Am stärksten sichtbar wird das im abschließenden und resümierenden Vierzeiler, der nicht nur grafisch vom übrigen Text abgesetzt ist, sondern — ein bekanntes Lied paraphrasierend — konsequent wie eine Volksliedstrophe gebaut ist. Auffällig ist die gehäufte Verwendung des Stabreims im Gedicht. Daneben sind Assonanzen und Onomatopöien ebenfalls charakteristisch, gelegentlich vorkommende Binnen- und Endreime haben immer auch betonte semantische Funktion. Die grafischen Absetzungen im Text, durch Anführungszeichen und Dreipunkt als aus einem Zusammenhang gelöste Pseudozitate der „ S t i m m e des Volkes" gekennzeichnet, unterstreichen den ernsthaften, beinahe wissenschaftlichen Anspruch, den schon der Titel verrät, und haben den Charakter von beweiskräftigen, objektivierenden Beispielen. Übergreifendes Motiv ist die Angst — einsetzend mit dem ersten Vers, ist sie immer wieder präsent, wenn nicht als direkt Benanntes, so doch als Voraussetzung jedes einzelnen Bildes, jeder Strophe, ausgedrückt durch den permanenten Genitiv. Dieser „Genitiv der Angst" treibt das Gedicht wie in Spiralen vorwärts, flankiert von den Wiederholungsformen und Alliterationen, dem tensionalen H ö h e p u n k t entgegen, so daß die durch den Vierzeiler vermittelte Schlußlösung unausweichlich, zwingend wird. Das analytische Vorgehen von der These über die Sammlung von F a k t e n zum Beweis 2
M. J ä h r l i c h e n , Nachwort zu: L. N o v o m e s k y , Abgezählt an den Fingern der Türme. Gedichte, Bln. 1971, S. 103, 104.
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bzw. zur Widerlegung der Ausgangsthese bis hin zur Schlußfolgerung, an wissenschaftliche Verfahrensweise erinnernd, hat Novomesky auch schon in manchen frühen Gedichten angewandt, hier führt er es zur Vollendung und verleiht damit dem Gesagten objektives Gewicht. Die syntaktische Gestaltung trägt dieses Prinzip wie ein Gerüst: Die These als einfacher erweiterter Satz wird sofort von einem komplizierten, für die mündliche umgangssprachliche Äußerung typischen Satzgefüge kommentiert, das die erste Strophe abschließt und zum Kern aller weiteren — unvollständigen — Sätze wird, die bis zur vierten Strophe reichen. Diese „Rumpfsätze" beginnen sämtlich mit dem Genitiv und sind eine Erläuterung und Untersetzung des „vsetkeho" der Ausgangsthese, die sowohl den Anfangs- als auch den Schlußvers der ersten Strophe bildet. Während Strophe I I wieder ein relativ kurzer Satz — wenngleich Torso, in Form zweier kontrastiver Gliedsätze — ist, vollzieht sich in den torsohaften Gliedsatzreihungen von Strophe I I I und IV der semantische wie auch syntaktische Umschlag in eine neue Qualität. In semantischer Hinsicht betrifft er das tragende Verb — statt des bisher ausschließlichen Genitivs (Furcht vor etwas) taucht in der vierten Strophe mit dem als Satzverbindung an das überlange Satzgefüge angeschlossenen Vers 23 ein neuer Akzent auf: die Furcht um etwas. Der mit dieser neuen Qualität zum Abschluß gebrachte Satz provoziert eine neuerliche Einfügung der — diesmal modifizierten und in drei Torsi zerlegten — Ausgangsthese, die von Anfang an leitmotivisch fungiert: ,,o vsetko sme sa bali. // Doslova o vsetko. A vsetkeho. A stale." Sie ist hier (Strophe V) bereits Zwischenbilanz, damit auch Zäsur — gleichzeitig mit dieser spannungslösenden Wirkung wird jedoch ein neuer tensionaler Bogen aufgebaut: ,,A stale." Strophe VI löst diese Spannung nicht, knüpft erneut mit einem Genitiv an die Ausgangsthese an und führt den endlos erscheinenden Torsosatz über immer neue Genitivverknüpfungen bis zur elften Strophe, wo der Satz in Vers 58 einen formalen Abschluß findet. Ein gedanklicher Bruch entsteht jedoch nicht, der Punkt ist eher wie ein Atemschöpfen beim Sprechen. Von neuem setzt die umgangssprachliche Genitivreihung ein, noch im selben Vers, schlägt aber ohne neuerlichen Satzabschluß eine Strophe weiter wieder um in das ,,o vsetko". Spätestens hier wird klar, daß das ,,A stale" der fünften Strophe eben in der Endlosigkeit des nachfolgenden Satzes aufgehoben und als konnotatives Element in ihm enthalten ist. Dieser Kunstgriff bewirkt letztlich, daß keine Ermüdung eintritt, die Spannung durchgehalten werden kann, ja noch zunimmt und stetig einer Lösung zudrängt. Der Pseudozitatabschluß der zwölften Strophe mit seinem Gebetcharakter ist zugleich auch wieder ein Satzabschluß, beides zusammen bewirkt erneut eine Zäsur, fast andächtiges Innehalten. Das Gedicht strebt dem tensionalen Höhepunkt zu, da Angst und Ratlosigkeit in empirischer Reihung von Alltäglichkeiten jener Zeit eine ungeheure Sprengkraft gewonnen haben. So ist nun Strophe X I I I als in sich geschlossenes Satzgefüge ohne diesen Genitiv und ohne das ,,o vsetko" eine innere Sammlung, Bilanzierung und gleichzeitig das Ringen um die Gestalt des Auswegs aus der Angst. Der tensionale Bogen scheint sich hier bereits auflösen zu wollen, weil dem slowakischen Adressaten klar sein muß, worin dieser Ausweg bestand. Da erscheint fast unerwartet nochmals ein einfacher erweiterter Satz, der als direkte Anrede einerseits die Fiktion einer spontanen mündlichen Äußerung weiterträgt, andererseits (,,tak sa to zacalo") einen definitiven Abschluß in Form einer Schlußfolgerung evoziert. Diese besteht nun in einer mit der abschließenden Strophe X V identischen synthetisierenden Satzverbindung: Sie vereint die Ausgangsthese kondi6
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tional mit der Unausweichlichkeit des Aufstands. Gemildert wird die H ä r t e dieses „ p r e t o " durch die K o n j u n k t i o n ,,a", die das Satzgefüge in eine Satzverbindung wandelt, sowie durch die Gestaltung dieser Strophe als Pseudovolkslied, bis hin zum Reim, d a m i t auch die Reihe der Pseudozitate abschließend, sie so aufhebend und ihre F u n k t i o n verdeutlichend. Die Strophe erreicht dadurch zugleich eine gnomische Geschlossenheit, die in ihrer Unbedingtheit suggestiv wirkt, jeden Zweifel ausschließt. Der umgangssprachlichen Diktion folgend, sind freie R h y t h m e n das bestimmende Merkmal der Versgestaltung (eine Ausnahme bildet lediglich — wie bereits erwähnt — die 15. Strophe). Zwanglosigkeit, Spontanität werden dadurch assoziiert; der fest a n das jambische Metrum geknüpfte R a h m e n wird ebenso kaschiert wie die kunstvolle Onomatopöie, die, wie gesagt, Alliterationen, Assonanzen, Konsonanzen in verschwenderischer Fülle präsentiert und selbst Binnen- und Endreime einschließt. All das ist streng funktional eingesetzt, der Semantik ebenso gehorchend, wie den R h y t h m u s mittragend. Der J a m b u s ist darüber hinaus das f ü r Novomeskys Werk insgesamt prägende Metrum, wesentliches Kennzeichen seiner Modernität. In einer Sprache, die wie das Slowakische einen festen Akzent auf der ersten Silbe besitzt, hat der J a m b u s freilich ein etwas anderes Gesicht und auch einen anderen Stellenwert als etwa im Deutschen. E r wirkt hier eher artifiziell, ist in reiner Form nicht praktikabel. Der Vers beginnt gewöhnlich mit einem Trochäus, erst ab dem zweiten T a k t kann der J a m b u s zum Tragen kommen. So k a n n das Metrum hier als gegenläufige Tendenz einen hohen Verallgemeinerungsgrad mitbewirken. Die große Implizität der Umgangssprache, dem slowakischen Leser Mitvollzug und Weiterdenken ermöglichend, ihre Assoziations- und Konnotationsbreite werden so ausgiebig genutzt, daß auch der indirekte, verschlüsselte Ausdruck — charakteristisch f ü r die Zeit der Angst und der Verfolgung — sichtbar wird. Die konsequente Verwendung der ersten Person Plural (einzige Ausnahmen: Verse 79, 80, zweite Person Plural, sowie die Pseudozitate und beschreibende Passagen der Satzgefüge) hat mehrfachen E f f e k t : Sie ermöglicht durch die demokratische Einbeziehung der Leser in die Reflexionen des Dichters, der sich mit ihnen identifiziert, die Durchdringung von objektivierender Beschreibung und subjektiver Reflexion zu einem Ges a m t p a n o r a m a des slowakischen Volkes in dieser Zeit. Sie f ü g t die verschiedenen einander ausschließenden oder zumindest einschränkenden Ausdruckswerte zu einer harmonischen E i n h e i t : Soziative Operativität 3 ist implizit vorhanden, die Reflexion stellt sich über „kollektive" Subjektivität her. Die erlebnisorientierte Ikonizität 4 der Beschreibungen bezieht sich auf kollektive Erlebnisse und Erfahrungen, die dadurch bereits einen bestimmten Abstraktionsgrad in sich tragen, der Leser wird in einer Weise in den Schaffensprozeß integriert, daß er sich als „ M i t a u t o r " begreifen muß. Diese Wirkung wird noch u n t e r s t ü t z t durch die große Suggestivkraft, die von der bereits in der Ausgangsthese enthaltenen starken Emotionalität ausgeht. I n Anbetracht des Umfangs des Gedichts können mit dieser Darlegung natürlich nur seine wichtigsten Eigenschaften in stark geraffter Form und mit dem Schwerpunkt auf der Charakterisierung der vom Nachdichter zu berücksichtigenden I n v a r i a n t e vorgestellt werden, u m einen Vergleichsmaßstab f ü r die Übertragung zu erhalten, die Gegenstand des zweiten Teils der Untersuchungen ist. 3
4
A. P o p o v i c a kol., Original/preklad, interpretacnä terminolögia, Bratislava 1983, S. 92, 94: sociativnost', operativnost' vyrazu. ebd., S. 102, 110: ikonickost', zäzitkovost' vyrazu.
U. MACHT, Novomeskys „Analyza"
Analyse
dt.: Paul Wiens
I
1
Alles machte uns bangen.
II
2 3 4 5 6
Das Sirenengeheul, die verdunkelten Nächte, der mögliche Untergang bald, siehe Dresden, wo ohne Begräbnis so viele für immer sich legten ins Glutgrab im Trümmergestein — Alles machte uns bangen.
III
7 8
Bangen, bald nicht mehr zu sein, und bangen, weil wir noch waren.
IV
9
Das magere „Morjen!" im Morgengraun, das Zweifingergetipp an die Mütze, der Tritt in den Tag auf dem Trittbrett der Tram, die Woche im Werk ohne Wechsel, die Regel der Ruhe am Sonntag, die raren Rationen (,,... Herrgott, wie stopfen alle die ewig heißhungrigen Hälse . . . " ) ,
10 11 12
V 13 14 VI 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25
die drückenden Abende, schwanger vom Mondschein geheimer Gespräche, unheimlich die schwüle Ruhe der Unruh, die Stille des Vorabends, horch, ins Schweigen: „ . . . R U F T LONDON . . . " , horch: „ . . . H I E R S P R I C H T MOSKAU . . . " Moskau spricht von Furchtbarem, Wunderbarem, und wir lauschten, die Nerven zum Reißen, und bangten um Moskau und bangten in Moskau um uns. Wir bangten um Alles.
V I I 26
Buchstäblich um Alles. Buchstäblich vor Allem. Und immer.
V I I I 27 28 29 30 31 32 33 6*
die Schmalzpakete (,,... daß Unsre daheim noch an uns denken . . . " ) , ohne sie zauberte Christus höchstselbst heute kein Abendbrot her;
So vor dem Dröhnen, dem fernen, der Waffen, todträchtiger Drohung, dem Rasseln, unheilig, wie eine Bewegung, Bewegung im jähen Gestrüpp, aber viel mehr noch, vermute ich, vor diesem lausigen Schweigen, dem wortlosen Warten — angeblich der höchsten staatsmännischen Weisheit,
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I X 34 35 36
„ . . . nur brav sich dran halten, und kommt dir was hoch, was ein andrer nicht weiß, schluck es runter, zerbeiß es, verkleb dir die Lippen mit Lipkakippen . . ;
X 37 vor den Aufschwüngen guten Willens 38 und überall 39 vor dem Gelächter, dem Klagen und Fluchen ringsum; X I 40 vor der täglichen Freude zu leben, aber auch vor 41 den Toten, den in der Mühle der Mühsal zermahlnen; 42 vor der Sonne, die uns sieht und sah 43 aller Lidices Qualen, 44 die durchschaut die Gewalt, die der Welt ins Gewissen 45 leuchtet und blickt (bitter auf Lidice 46 reimt sie sich: Seherin — Yidice); X I I 47 48 X I I I 49 50 51 52 53 54
vor der Atemluft, von den Lungen geatmet, und vor dem Atem, den aushauchte einer, der hinsank entseelt; ja, vor dem Wasser auch in dem alten Brunnen, dem Wasser der Stromschnellen mit seinem Tropfenversprühn von Gedanken, als sei es ihm unpaß auf ausgetrockneten Lippen mehr noch als auf unsrem Hof, dem Dreihügelland, so daß es sich beinah verplempert;
XIV 55 vor dem Kindergewein, vor dem Weinen der Kinder, 56 dem aus Angst vor dem Ende, 57 doch dem auch am Anfang, dem ersten. Und, und 58 vor den Frauen, den kummerbeladen zu früh gealterten, den selbst im Kummer noch schönen, 59 denn das waren sie einmal, X V 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71
sie waren es, ja, aber vorher; ,,... Das alles kommt nur von dem scheußlichen Krieg, der macht uns so scheußlich . . . " , das häßliche Gramgrau, es grieselt aus ihrer Vergrämtheit, aus der Angst, aus dem Bangsein vor Allem, aus dem Bangen um Alles, um die Burschen, zum Beispiel, um alle Burschen aus all unsern Lehotas, um den Unsern im Kaukasus etwa, daß die ihn ja nicht töten, ja nicht ihn töten, und ja nicht er selbst irgendeinen, ,,... Behüte ihn Herrgott, und hüt seine Seele, daß sie sich nicht flecke mit Sünde . . . "
U. MACHT, Novomeskys „Analyza"
X V I 72 73 74 75 76 77 78 X V I I 79 X V I I I 80 81 82 83
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Und so ein inniges Seufzen trachtete d a nach Vergebung der Sünden, so aus dem Tiefsten ein Seufzen wie die H a n d in der H a n d entgegengestreckt einer H a n d und fand sich in E i n t r a c h t mit der t a t t r ä c h t i g e n Einsicht in das Wesen der Sache, traf ihren K e r n und wuchs als Gedanke im Denken und offensichtlich zur Absicht, d e u t b a r und deutlich, und kräftig zur Tat stand es auf. So, Freunde, Genossen, begann es. VOR ALLEM, SAGE ICH, U N D UM A L L E S M U S S T E N W I R B A N G E N . UND DARUM STANDEN W I R A U F UND SIND IN DEN KRIEG GEGANGEN.
Betrachten wir die erste Strophe als Ganzes, so fällt zunächst auf, d a ß Vers 1 in der Übertragung vom Rest der Strophe getrennt als selbständige Einheit steht. Die zweite Abweichung vom Original bereits in diesem Vers ist die Verwendung einer passiven Ausdrucksweise: „Vsetkeho sme sa bali" (Alles f ü r c h t e t e n wir) — „Alles m a c h t e uns bangen". E s handelt sich hier um eine notwendige f u n k t i o n a l e Verschiebung (konstitutive Verschiebung 5 ) zum Ersatz der im Original durch den p e r m a n e n t e n Genitiv sukzessive wirkenden, aber im Deutschen nicht mit gleichen Mitteln realisierbaren Abhängigkeit des ganzen Gedichts von dieser These, ihre Identifizierung als Leitmotiv auch f ü r den Leser der Übertragung. Mit der Wahl des passiven Ausdrucks und der Teilung der ersten Strophe erreicht Wiens zweierlei: erstens, ermöglicht diese Form überhaupt die Lesbarkeit des Gedichts durch Vermeiden des ständigen grammatischen Bezugs auf die Ausgangsthese, der im D e u t schen Unverständlichkeit zur Folge hätte, zweitens, dient sie dem Leser im andersnationalen K o n t e x t als Signal f ü r den Charakter des beschriebenen Volkes; Wehrlosigkeit, Unschuld teilt sich mit, eine Haltung des „Kaninchens vor der Schlange", des Opferseins ohne eigenes Z u t u n oder gar Verschulden, des sich erst im L a u f e der Reflexion der eigenen Rolle Bewußtwerdens. Die folgenden Verse der ersten (bei Wiens zweiten) Strophe sind getreue, plastisch wirkende Äquivalente der Originalbilder, gekennzeichnet durch den Einsatz von K o m posita („Jacania siren" — „Sirenengeheul"; „do tla v hroboch pod p a h r e b o u " — „ins Glutgrab im Trümmergestein"), Verknappung und Verwendung unpersönlicher Formen, die der deutschen Umgangssprache in ihrer größeren Nüchternheit eigen sind, der Wirkung des Originals jedoch funktional entsprechen („toho, ze mozbyt' nebudeme, / jak mesto Dresden, v k t o r o m . . . " — „der mögliche Untergang, / bald, siehe Dresden, wo . . . " ) sowie durch die Nutzung des E n j a m b e m e n t s zur Wiedergabe des Gejagtseins durch die Angst — im Slowakischen teilweise durch den Genitiv, aber auch durch den im Deutschen nur mit semantischem Verlust verwendbaren und daher vom Nachdichter durch andere Metren ersetzten J a m b u s abgedeckt. Bei der hier erfolgten Wiedergabe der slowakischen J a m b e n durch daktylo-trochäische Verse ( z . B . Leitmotiv), später auch durch Anapäste ist eine der rhythmischen Tradition des Deutschen Rechnung tragende analoge rhythmische Verschiebung 6 vorgenommen worden, mit deren 5 6
ebd., S. 197: konstitutivny posun. ebd., S. 202, 203: analogicky rytmicky posun.
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Hilfe es dem Nachdichter gelingt, eine dem Original funktional entsprechende Sprachhaltung einzunehmen. Die zur Erhaltung der Bildkraft notwendige Verknappung des sprachlichen Ausdrucks f ü h r t e in einem Falle zum Verlust: Vers 3 ist im Original identisch mit dem ersten Vers der zweiten Strophe (Vers 7), die damit — Vers 8 wiederholt kehrreimartig das erste Wort, um d a n n in gleicher grammatischer Gestalt das genaue Gegenteil auszudrücken, wobei er noch eine Konsonanzbildung zur ersten Strophe aufweist (bäli — boli) — ihren resümierenden Charakter als Zusammenfassung und leitmotivische Abhebung der Ausgangsthese erhält und die dialektische Sicht des ganzen Gedichts verdeutlicht, die sich ausschließende und gleichzeitig bedingende Gegensätzlichkeit der Prozesse und Erscheinungen. Dieser Verlust wird jedoch kompensiert durch das Absetzen des ersten Verses und den prononcierten Einsatz des Verbs: „Bangen, bald nicht mehr zu sein, / und bangen, weil wir noch waren." Die nächsten beiden Strophen f a ß t Wiens folgerichtig als Einheit auf, erkennt auch die synsemantische Funktionalität der Syntax wie der phonetisch-euphonischen Gestaltung und f o r m t sie in einer solchen Weise mit den Mitteln moderner deutscher Sprache (auch umgangssprachlichen) nach, daß der Leser der Nachdichtung sich ebenso einbezogen fühlen muß, wie der des Originals. Dabei setzt er folgende Prämissen: erstens, weitestgehende Respektierung und konsequenter Ersatz der Bilder, ihres denotativen wie konnotativen Gehalts; zweitens Erhalt der lautlichen Besonderheiten des Originals in ihrem funktionalen Einsatz als Bedeutungsträger sowie drittens Respektierung des vorgegebenen syntaktischen und Versrahmens, soweit nur irgend möglich. Dabei bleibt er konsequent in der Verwendung der anderen Metren wie auch beim Einsatz des E n j a m b e m e n t s zur Substitution von Stilmitteln, die — beibehalten — das deutsche Gedicht in seiner Wirkungspotenz vom Original entfernen würden oder die dem Deutschen nicht zur Verfügung stehen. Bei diesem Vorgehen ergeben sich erhebliche Abweichungen, verfolgt m a n Vers f ü r Vers. Insgesamt ist die Bilanz jedoch ausgeglichen, obwohl die Nachdichtung die beiden ersten Strophen des Originals mit drei Strophen gleicher Verszahl bei größerer Verslänge wiedergibt, was jedoch a n der im Verhältnis zum Deutschen größeren Implizität des Slowakischen liegt. Die dadurch bedingte Redundanz bewirkt keine Sinnentstellung, da sie stets funktional ist. Im weiteren ergibt sich folgendes Bild: Vers 9 des Originals — „Dobreho rana na dva prsty prisotene k ciapke," — jambisch, mit Genitivbindung an das Leitmotiv, in lakonischer Kürze starke assoziative Bildwirkung erreichend, wird in der Übertragung durch einen Doppelvers mit leicht eingerücktem zweiten Teil wiedergegeben, dessen erster Teil aus Daktylen, der zweite dagegen aus den komplementären Anapästen besteht. Um dieselbe Bildkraft zu erreichen, m u ß Wiens entweder weglassen oder zwei gleichberechtigte Bilder nebeneinander stellen; er entscheidet sich f ü r letzteres und nutzt neben dem Metrum noch die sich hier zwanglos ergebende Möglichkeit der Alliteration (die in diesem Vers bei Novomesky weniger ausgeprägt ist): „ D a s magere ,Morjen!' im Morgengraun, / das Zweifingergetipp an die Mütze". Es ist hier ein originaler Schöpfungsprozeß sichtbar, ein Nacherfinden von Ausdrucksmitteln des Originals in der anderen Sprache, bei dem die Invariante des Ausgangstextes unbeschädigt transformiert wird. Vers 10 des Originals — „stüpania na stüpadläch elektriciek do d n a " — Charakteristik wie Vers 9, aber ausgeprägte Alliterationen, dabei durch das letzte Wort alliterierender
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Übergang zu Vers 11 wird im Deutschen ebenfalls mit nur einem Vers wiedergegeben, die Alliterationen noch verstärkt, wodurch gemeinsam mit dem folgenden Doppelvers die fehlende Alliterationsbindung zwischen beiden im wesentlichen kompensiert wird: „der Tritt in den Tag auf dem Trittbrett der T r a m " . Weg fällt weitgehend die sich im Slowakischen anbietende Paronomasie, das Spiel mit Worten gleichen Stammes (bis auf: Tritt — Trittbrett, für: stüpania — stüpadlach), so z . B . bei: ,,dni dielnych v dielnach, pravidelnych nediel', / pridelov" (nediel' ist ein Binnenreim), in der Nachdichtung wiedergegeben mit: „die Woche im Werk ohne Wechsel, / die Regel der Ruhe am Sonntag, / die raren Rationen". Aufgrund der Struktur der deutschen Sprache ist dieser Verlust aber unvermeidbar und wird durch die Verstärkung der Alliteration ersetzt. Auf die gleiche Art werden die Pseudozitate herübergeholt: „Paneboze, j a k len podelit' / vsetky tie vecne vyhladnute k r k y " wird zu: „Herrgott, wie stopfen / alle die ewig heißhungrigen Hälse". Die Verse 15 und 16 der vjeiten Strophe des Originals wurden paraphrasiert. Hier findet der Nachdichter eine deutsche Metapher, die den Stimmungsgehalt des Originals genau erfaßt: „die drückenden Abende, schwanger / vom Mondschein geheimer Gespräche". Die durch die Wurzel „spln" im Original vorhandene Verbindung zum nächsten Vers wird hier wiederum durch Enjambement erreicht. Das Gedicht ist in der Übertragung ebenso monolithisch wie im Original, um stete Wiederholung zu vermeiden, sollen hier nur noch einige Beispiele abweichender Lösungen behandelt werden. So rückt Wiens in seiner elften Strophe — Strophe V I I I des Originals — den F a k t des Übersetztseins in das Bewußtsein des Lesers, indem er den R e i m Lidic — Vidic beibehält: „bitter auf Lidice / reimt sie sich: Seherin — Vidice". E r übernimmt die syntaktischen Parallelismen, bei Novomesky der Vertiefung des gedanklichen Kerns des Gedichts dienend, z. B . : „vor der Atemluft, von den Lungen geatmet, und / vor dem Atem, den aushauchte einer, der hinsank entseelt" für: vzdusneho vzduchu do pl'üc vdychnuteho, / i dychu, ktory düchol kto, kym klesol bez duse" (Verse 47, 48) oder: „vor dem Kindergewein, vor dem Weinen der K i n d e r " für: „detskeho vresku, vresku detskeho" (Vers 55). Auch der abschließende Vierzeiler ist in seiner gnomischen Geschlossenheit erkannt und etwa im Stil deutscher Arbeiterkampflieder nachempfunden worden: „Vor allem, sage ich und / um alles mußten wir bangen. / Und darum standen wir auf — / und sind in den Krieg gegangen.". Auch nur rhythmisch liedhaft, auch zwingend im Schlußfolgern, auch grafisch hervorgehoben — dennoch keine wörtliche Übersetzung, sondern kreative Transformation. Was die Redundanz anbelangt, so ist sie in der Nachdichtung größer (Original: 447 lexikalische Einheiten, Nachdichtung 571). Auch die Wortartverteilung ist unterschiedlich : Wortart
slow. Norm
Substantiva
Original
Nachdichtung
28%
27%
23%
Adjektive/Adverben
10%
14%
Pronomina
20%
11%
14%
Verben
19%
Sonstige
29%
10% 29%
15%
11% 40%
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Ablesbar ist hier zweierlei: die erlebnisorientierte Ikonizität als Grundzug des Originals stellt sich vor allem als ein Übergewicht von Pronomina und Adjektiven/Adverbien bei gleichzeitiger Unterrepräsentanz von Verben her. Die Nachdichtung respektiert dies und hält sich dennoch bei der Nachformung an die strukturellen Besonderheiten der deutschen Sprache. Trotz gravierender Abweichungen hinsichtlich der Strophenzahl ist eine Nachdichtung entstanden, die in ihrem denotativen wie konnotativen Gehalt und in ihrer phonetisch-euphonischen Gestaltung eine gültige deutsche Variante des Novomesky-Gedichts repräsentiert, deren Wirkungspotenzen denen des Originals sehr nahe kommen d ü r f t e n . Wiens und Novomesky waren „Brüder im Geiste". So unterschiedlich ihre Temperamente auch waren, demzufolge ihr Schreibstil — die H a l t u n g zur Welt wie zum eigenen Schaffen war die gleiche. Wiens' reiche Erfahrungen im Übertragen fremder Lyrik und seine Kenntnis mehrerer Sprachen, also auch der Klippen des „Hinübertragens", h a t t e n zweifellos eine große Sensibilität im Umgang mit fremder poetischer Individualität und ein vielseitiges und verfeinertes poetisches I n s t r u m e n t a r i u m zur Folge. Hinzu k o m m t seine feste Überzeugung von der dienenden Funktion des Nachdichters, die es ihm unmöglich machte, seine eigene Poetik vordergründig in Form einer Selbstdarstellung mit ins Spiel zu bringen. Wiens konnte sich völlig zurücknehmen, ganz in der anderen Individualität aufgehen, weil er dabei nie Gefahr lief, sich selbst zu verlieren. E r ließ die Originale ihm nahestehender Dichter auf sich wirken, bis er sie soweit erfaßt hatte, daß er hinter ihre W o r t e schauen konnte und hierarchisierte dann, ausgehend von der Invariante, die verwendeten Mittel. E r behielt streng bei, was f ü r die Wirkung unerläßlich, weil sinnkonstituierend war, und transformierte auf allen Ebenen kreativ, die Bildhaftigkeit als oberstes Prinzip betrachtend. So gelingt es ihm auch bei Novomesky, die Invariante unbeschädigt im Deutschen nachzuformen, womit nahezu eine dem Original a d ä q u a t e Wirkung erreicht werden kann. Dabei ist seine Varianz im Detail o f t groß, was auch die Analyse belegt. Die von Wiens — der sich eben nicht am Wortlaut der einzelnen Verse festhielt — vorgenommenen Verschiebungen sind jedoch funktional und streben nach exaktem Ausgleich von sprachsystembedingten Verlusten und entsprechenden Kompensationen. Hier ist — ebenso wie bei seiner zweiten Übertragung in dem Novomesky-Band (Auszügen aus dem Poem „Villa Therese") — die Bezeichnung Nachdichtung vollkommen zutreffend, während in einigen anderen Fällen (z. B. Übertragungen von Friedemann Berger in dem erwähnten Band) eher von Adaptionen zu sprechen ist.
Z. Slaw. 34 (1989) 6, S. 879-881
J. Mistrik
Funktionelle Arhythmien in der modernen slowakischen Prosa In unserem Beitrag soll den Fragen des Rhythmus in der modernen slowakischen Prosa Aufmerksamkeit gewidmet werden. Der Textrhythmus ist unserer Auffassung zufolge ein sujetgestaltender Faktor. Betrachten wir einerseits das Sujet als das dem Autor eigene System thematischer Komponenten, die funktionell angeordnet sind und künstlerisch-ästhetische Aussageabsichten widerspiegeln, so stellt andererseits die Fabel nur eine Reihe von Ereignissen, gegebenenfalls den logischen Verlauf einer Handlung, dar. Eine bestimmte Aussage erreicht der Autor in seiner Prosa u. a. durch die Spannung zwischen Fabel und Sujet, anders ausgedrückt, durch das Streben nach funktioneller Entropie der einzelnen Komponenten in der Kunstprosa. Die Entropie wiederum läßt sich durch funktionelle Unregelmäßigkeit in der Anordnung oder durch eine unvollendete Logik der Fabel realisieren. Einer der charakteristischsten Faktoren der Entropie ist in der Kunstprosa die Unterbrechung ihres Rhythmus und das Hervorrufen einer arhythmischen Form der Sujetkomponenten. Bei welchen Gegenwartsautoren findet das Prinzip der funktionellen Unterbrechung des Rhythmus als Kompositionsmethode am häufigsten Anwendung? Berücksichtigt man, mit welcher Intensität der Rhythmus innerhalb der Prosa manipuliert wird, ermöglicht das eine Einteilung der Autoren in drei Gruppen: Zur ersten Gruppe gehören diejenigen Autoren, welche auf die K r a f t der Fabel bauen, also der Erzählertyp, dem wir insbesondere V. Minäc, L. Ballek, P. Jaros und A. Chudoba zuordnen. Zur zweiten Gruppe zählen diejenigen Autoren, welche Arhythmien vor allem mit Hilfe von syntaktischen Mitteln und Mitteln der Mikrokomposition auf kleineren Texteinheiten hervorrufen, z. B. R. Jasik, J . Johanides, J . Vilikovsky, F. Svantner und L. Tazky sowie vorwiegend Autoren von Erzählungen und Novellen. Zur dritten Gruppe werden diejenigen Autoren gerechnet, welche Arhythmien durch größere Rupturen im Text, vor allem auf der Zeit- und Raumebene der Fabel, erzeugen. Vertreten wird diese Gruppe hauptsächlich durch V. Sikula, A. Hykisch, A. Bednar, P. Andruska, J . Puskas und einige weitere Autoren des slowakischen Gegenwartsromans. Betrachten wir im folgenden, durch welche Mittel in der modernen slowakischen Kunstprosa funktionelle Arhythmien am häufigsten ausgelöst werden. Im Bereich der Syntax erfüllen diese Funktion im wesentlichen alle syntaktischen Einheiten, die beim Lesen durch Nichtprädiktabilität der Konstruktion Impulse hervorrufen. Das geschieht z. B. dann, wenn ganze Satzaussagen nur durch Satzfragmente, z. B. Aposiopesen, ersetzt werden. Die Aposiopese ist zwar eine klassische Form der Replik im dynamischen Dialog, der dyadischen Kommunikation, wird aber auch in der Erzählerrede zur Rhythmusänderung im Erzählen verwandt, so, wie wir es z. B. bei V. Sikula finden. Angeführt seien hier Beispiele aus seinem Werk „Liesky", die im Text unmittelbar aufeinanderfolgen: „Klinga si küpim a ... Koldciky ... Mam na cestu ... Keby ste nahodou niekedy nasli cestu zo Zdlesia do Ivanky ... v priekope ... maeäm ... kold-a6 ..." Der vollständige Wortlaut aller Aposiopesen läßt sich nur mit Hilfe des Kontextes herausfinden. Manchmal ist die Aposiopese nicht von der unterbrochenen Aus-
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sage zu unterscheiden. Unterbrochene Aussagen als stilistisches Mittel gebraucht z. B. J . Johanides in f a s t all seinen Prosawerken. Hier ein Beispiel: ,,Hej, dno, 6ita,l sorn vseliöo, hej, dno, o takych veciach, hej, dno, o okultizme, o spiritizme, hej, dno, no vobec ... proste ... o takych veciach, ale ...". Die Autoren verwenden derartige Konstruktionen, wie m a n sieht, zur Darstellung des Gedankenganges im inneren Monolog. J e d e Unterbrechung des Redeflusses signalisiert Dynamik im Gedankengang und Unentschlossenheit beim Formulieren der Informationen. Wiederholungen und ü b e r h a u p t Rezidive im Ausdruck sind ebenso Zeichen der Unterbrechung des normalen Textrhythmus. Durch ihr Auftreten wird die Satzkonstruktion gestört, weil jede Wiederholung im Redefluß eine markante Erscheinung darstellt. F ü r sich allein gesehen, ist dieses Element zwar rhythmisch, in einen breiteren K o n t e x t gebracht, sticht es allerdings als etwas Besonderes hervor. Auf die Wiederholung als Stilem greifen lyrisch schreibende Prosaisten und Autoren von Kinderprosa zurück. Als eine zur Gewohnheit gewordene künstlerische Eigenheit finden wir sie z. B. bei L. Tazky. Ein Beispiel aus seinen „ D u n a j s k e hroby" soll das verdeutlichen. I m Kapitel „Zjavenie O t c a " frequentiert er das Wort „Otec" bis ins sarkastisch gehende: „Obraz sa kyva, hlasy burdcajü. Otec sa usmieva, blahosklonne ukazuje: dost, Hm je blahosklonnejsi, tyrn mohutnejsie znie: Nech zije Otec, Nech zije Velky Otec, sldva mu! Tlieskajüce ruky sa mu •pchaja k ociam, ale Otec je blahosklonny, priatelia, dost, priatelia ... Otec to nehovori dost odvazne, ba niektorym sa zdd, ze to dost znamend este!" V. Minac macht von der Wiederholung in seinen bekannten Triaden, die den Charakter des rhetorischen Stils tragen, vielseitig Gebrauch. Ein entscheidendes Element, das dem ruhigen R h y t h m u s der Prosa entgegenwirkt, ist die Diskrepanz zwischen Satz und Aussage. I n der Alltagsrede haben wir uns daran gewöhnt, daß sich die Satzbegrenzungen im großen und ganzen mit den Grenzen der Aussage decken. Dieses Gleichgewicht hebt der Autor dadurch auf, daß er innerhalb eines einzigen Satzes mehrere Aussagen verarbeitet oder, umgekehrt, eine Aussage mit mehreren Sätzen erklärt. Dazu ein Beispiel aus J . Hronskys ,, Jozef M a k " : ,,Neskoro je, Jozef Mak, i keby si Adusa zabil, ze ta sem poslal. I keby si Julu zabil, ze sa postavila vedla teba v tazkom zivote. I keby si seba zabil — i to by bolo neskoro. Len sa rozpamdtaj, ako vstala Marusa . . . " Die mit den Worten „i keby si ..." beginnenden Nebensätze haben innerhalb der Satzkonstruktion eine absolut gleiche Stellung. Der Autor könnte diese Nebensätze, im Prinzip unvollständigen Sätze, in zueinander gehörende Satzgefüge verknüpfen, ihm jedoch liegt es näher, den grammatischen Gehalt und den Textgehalt der syntaktischen Konstruktionen in Nichtübereinstimmung darzustellen. Ein Meister der Bildung funktioneller Arhythmien im Text ist R . Jasik, der akzelerierende Elemente mit retardierenden wechselt. Dadurch gewinnt seine Prosa an d y n a mischer Unruhe, und die Konstruktionen nehmen semantischen Gehalt an. Die Begrenzungen von Sätzen und Abschnitten werden annuliert. E s entstehen Übergriffe, wie z. B. „Tvdr zatatd, este aj po smrti zatatd. Zaseknutd! Pery zomknute, so stopami po zuboch. Lebo Alino chcel umierat ticho. Ti, So utekajü pred potupou, nekrilia a neplaiü. j Nekricia a neplaSü." Noch ein Beispiel: „Ö, noci, ktore nechcete dozicit delorn spdnku! / Preklinam vds ... j Preklinam. / Preklinam!" An einer Stelle steigert er die Situation soweit, daß die F u n k t i o n eines Abschnittes durch einen L a u t erfüllt wird: „Igor ... Eva sa usmieva. / Zivot vytekd, färbt trdvu. / Igor ... j : I ...". /
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J. MISTRIK, Arhythmien in der slowakischen Prosa
Ein künstlerisches Mittel, das dem regelmäßigen R h y t h m u s der prosaischen Sprache entgegenwirkt, ist die in die Erzählerrede eingefügte indirekte Rede und erlebte Rede. Eine derartige Figurenrede verweist zwar auf syntaktische Adhäsion, befindet sich aber semantisch mit dem übrigen T e x t des Erzählers in Homogenität. Dieser T y p von Konstruktionen ist bei den meisten Gegenwartsprosaisten schon recht geläufig. Noch expressiver in der Anwendung, allerdings funktionell verborgener Elemente der Arhythmie, sind Rupturen, welche die zeitliche oder lokale Kontinuität der Erzählung durchbrechen. Wir finden sie als häufiges Sujetelement z. B . bei P . Andruska „Hodiny s kukuckou", J. Puskäs „ S t v r t y rozmer", bei V. Sikula in allen Prosawerken, bei S. Raküs sowie weiteren Gegenwartsautoren. Im Sujet einer Prosa wird die Arhythmie vom Leser zwar nicht empfunden, in der Fabel jedoch erweist sie sich als evident. Der Autor verwirklicht eine Ruptur z. B. mit den Worten: ,,A potom presli styri roky . . . " oder „Vrdtme sa vsak", ,,Zatial vsak inde . . . " usw. In einigen Fällen deutet er die Grenzen des Exkurses nicht an (J. Puskäs) und gestattet eine Überschneidung zweier Textebenen, oder er verläßt sich auf die Assoziation des Lesers. Das Resultat solcher Textarhythmien ist dann, daß z. B. einer Stunde der realen Zeit der Fabel im T e x t zehn Seiten gewidmet werden, wohingegen z. B . an anderer Stelle einem ganzen Jahr der Fabel nur eine einzige Reihe, ein einziger Satz gewidmet wird. Die Sujetgestaltung der Prosa nähert sich auf der Ebene der Makrokomposition der Sujetgestaltung des Dramas, was verständlicherweise den gesamten Text dramatisiert. Im vorliegenden Aufsatz haben wir aufgezeigt, daß die Unterbrechung des regelmäßigen Verlaufes der Fabel, die funktionelle Rhythmusstörung, die Deformierung des E K G eines Textes in der slowakischen Gegenwartsprosa ein sujetgestaltendes Mittel darstellt. Das kann auf der Ebene eines Satzes, aber auch auf der Ebene der Tektonik des gesamten Textes realisiert werden. Die Funktionen dieser Arhythmien sind oftmals nur mit Hilfe des umfangreichen Texthintergrundes zu erkennen. Sie sind zwar nicht augenscheinlich, aber dafür um so hinterhältiger im Prozeß des Transformierens in eine andere Sprache. Wenn sie nicht erläutert sind, setzen sie beim Übersetzer eine gute Orientierung in der Landeskunde, in der Geschichte und Kultur des jeweiligen Landes, im Denken der Menschen, aber auch in der Mentalität des Autors voraus, der sie zum Aufbau des Textes häufig unbewußt verwendet, wie z. B. V. Sikula, P. Vilikovsky, L . T a z k y , R . Jasik, A. Hykisch, P . Andruska und J. Johanides. In geringerem Maße gelangen sie z. B. bei E. Dzvonik, J. Lenco, L . Ballek, A. Chudoba, J. Habaj, P . Karvas, K . Jarunkova, R . Moric und L . Ondrejov zur Anwendung, da dies eher suggestive Erzähler sind, als daß sie mit Hilfe der Form das Sujet eines prosaischen Werkes gestalten würden. Abschließen möchte ich mit der Frage, ob Arhythmien nur formale Ausdrucksmittel oder auch Träger des Inhalts sind. Die Antwort ist eindeutig. Ähnlich wie beim Gedicht, wo auch die Form Inhaltsträger ist, handelt es sich in der Prosa um künstlerische Mittel, die am Aufbau des Inhalts und der Semantik des Textes Anteil haben, die selbst dramatisieren, hervorheben, also den Inhalt bilden. Übersetzt von A.
Prusas
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Eu. B a j z í k o v á
Semantik der Anknüpfungskonnektoren I n diesem Beitrag schließen wir uns den Autoren an, die den Text unter primär linguistischem Aspekt behandeln. F ü r den primären textbildenden F a k t o r halten wir die Kohäsion. D a r u m untersuchen wir die Mittel ihrer Realisierung. Der Zusammenhalt des Textes wird von der Kohärenz, die den Textsinn bildet, und von der Kohäsion als formalem Verknüpfungsverfahren in der Oberflächenstruktur des Textes bewirkt. An dieser Stelle befassen wir uns mit der Beschreibung einiger Mittel der Kohäsion (der Konnektoren). Den Begriff der Konnektoren fassen wir weit auf, denn wir beziehen in ihn alle an der Konnexion beteiligten Mittel ein. Die Aufgabe der Konnektoren besteht darin, die Aufeinanderfolge zwischen elementaren Texteinheiten (ETE) herauszubilden. Diese Texteinheiten sind nicht mit Sätzen als syntaktischen Einheiten identisch 1 . Anaphorische Konnektoren werden in zwei Gruppen unterteilt: 1. in wiederholende Konnektoren, bei denen es u m den Hinweis auf vorhergehende lexikalische Einheiten geht, auf syntaktische Verbindungen, auf die gesamte elementare Texteinheit, evtl. auch auf den ganzen vorangehenden Text. Zu diesen Konnektoren zählen z. B. lexikalische und pronominale Wiederholungen, Ellipsen (als potentieller Konnektor), die Wiederholung der Relationsmorpheme bei Verben und Adjektiven (bei Kategorie der Kongruenz), z. B.: Oznámil program: vojna-nevojna, zajatie-nezajatie, prácu za nich nikto nespravi. To je najprvsí a najhlavnejsí zákon Tomasa Halaja. (Beño) 2. in Anknüpfungskonnektoren, die a n den vorangehenden Text durch semantische Beziehungen mit einer bestimmten Bedeutung anschließen. Den Terminus Anknüpfungskonnektoren fassen wir im weiteren Sinne auf, weil wir in ihn alle sprachlichen Mittel einbeziehen, die eine anaphorische (retrospektive) Anschlußf u n k t i o n a n den vorhergehenden Text ohne Wiederholung erfüllt. Diese Verknüpfung von Texteinheiten wird vor allem bei expliziten Beziehungen zwischen benachbarten E T E auf der Basis bestimmter semantischer Beziehungen realisiert, es geht um sog. logische Beziehungen — temporale, lokale, modale. Verknüpfungsmittel können Kont a k t f u n k t i o n besitzen. I n der slowakischen Linguistik f a ß t J . Mistrik 2 als elementaren retrospektiven Anschluß die Verknüpfung mit koordinierenden K o n j u n k t i o n e n und Einführungspartikeln auf und wertet diesen Anschluß als syntaktisches textbildendes Mittel. Da zwischen Konjunktionen und Partikeln ein fließender Übergang besteht, schlägt der Autor f ü r diesen T y p der Konnektoren den Terminus „modale K o n n e k t o r e n " vor. Es geht also u m einen T y p von Konnektoren, die eine bestimmte H a l t u n g (Modalität) ausdrücken. Der Autor
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vgl. E. B a j z i k o v ä , Vymedzenie textovej jednotky. Jazykovedny casopis, 28 (1977), S. 157 bis 165; russ. Resümee S. 165. Die elementare Texteinheit wird hier eingegrenzt als „Segmentierung einer komplexen Einheit, also des Textes, in Teile, die unter dem Aspekt der kommunikativen Intention (inhaltliche Seite) vollständig sind und nach grammatischen Regeln gegliedert werden (formale Seite)." (S. 160) Zu diesen primären Kriterien treten sekundär außersprachliche Mittel hinzu. J. M i s t r i k , S t r u k t ü r a textu. Ceskoslovensky rozhlas, Bratislava 1975, S. 93.
Ext. B a j z i k o v A , Semantik der Anknüpfungskonnektoren
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führt auch den Gebrauch subordinierender Konjunktionen in der Funktion retrospektiver Konnektoren an, obwohl diese Konjunktionen im Normalfall keine textbildende Funktion ausüben können. Er wertet sie als Zeichen der Expressivität einer Äußerung. Andere Mittel führt der Autor nicht an, obwohl er konstatiert, daß die aufgeführten sprachlichen Mittel elementare Verknüpfungsmittel seien, womit das Vorkommen auch weiterer Mittel vorausgesetzt wird. In der tschechischen Akademie-Syntax 3 gliedert man die Textkategorie der Verknüpfungskonnektoren in Zentrum und Peripherie. In das Zentrum der Verknüpfungsmittel werden die formalen eingereiht, die aber funktional nicht mit satzverbindenden und Satzglied verbindenden Konjunktionen, identisch sind. Hier werden in erster Linie die Konjunktionen der Satzverbindung eingereiht, die meistens grundlegende „logische" Beziehungen ausdrücken (additive, graduierende, temporale usw.). Weiterhin finden in dieser Funktion auch andere Wortarten Anwendung, z. B. Adverbien, Pronominaladverbien, Partikeln, wobei konstatiert wird, daß zwischen der funktionalen Anwendung und der Zuordnung dieser Wörter zu einer bestimmten Wortart oft ein Spannungsverhältnis entsteht (im folg.: nach Hoffmannova). Außerdem werden in diese Gruppe endozentrische Partikeln, temporale und lokale „Relatoren", Gliederungssignale, Kommentarwörter (unterschiedlicher Wortart), ganze Texteinheiten usw. eingereiht. Bei der Klassifizierung der Verknüpfungsmittel (im weiter gefaßten Verständnis) geht J. Hoffmannova 4 von einer Proportion zwischen Bedeutungs- und Funktionsaspekt der angewandten Mittel sowie dem realisierten Maße ihres pragmatischen Aspekts aus. Den Terminus Konnektor verwendet sie im engeren Sinne für sprachliche Mittel, die grundlegende „logische" Beziehungen, ähnlich den Beziehungen von Satzstrukturen in zusammengesetzten Sätzen, kennzeichnen. Sie wertet sie als eigentliche Konnektoren. Von diesen eigentlichen Anknüpfungskonnektoren unterscheidet sie (makro)-kompositionelle Konnektoren, Textorientatoren, Kontaktmittel und metatextuelle Kommentare. Die Klassifizierung aller „Verknüpfungsmittel" nach Hoffmannovä geht also nicht mehr von der Unterteilung der Wortarten aus, was unter dem Aspekt des Textaufbaus eine konsequente Erfassung seiner Mittel bedeutet, denn die Forschung ergab, daß für die Hierarchisierung dieser Verknüpfungsmittel andere Kriterien gewählt werden müssen als die Einteilung der Wortarten. Auch Dressler5 beschreibt diese Anknüpfungskonnektoren semantisch. Zu Mitteln, die den neuen Satz mit dem vorangehenden verbinden, zählt er Konjunktionen und andere Konnektoren (Adverbien und Partikeln). Fragen der Verbindung von Sätzen durch Konnektoren (im engeren Sinne) schlägt er vor, entweder deduktiv zu betrachten (falls sich alle möglichen logischen Verbindungsrelationen ableiten lassen) oder induktiv (falls der semantische Aspekt der verbindenden Relationen durch Konjunktionen untersucht wird). Zu Beginn unserer eigenen Arbeit befaßten wir uns mit sprachlichen Mitteln in der Funktion des anaphorischen Anschlusses, die zum vorangehenden Text bzw. zu den vorangehenden E T E bestimmte semantische Beziehungen besaßen und die nachfolgende E T E ohne Wiederholung anreihten. Darum sind sie als Gegensatz zu den wieder3 4
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Mluvnice cestiny (3). Skladba, Praha 1987, S. 705. J. H o f f m a n n o v ä , Typen der Konnektoren und deren Anteil an der Organisierung des Textes, in: Linguistics X, Text and the Pragmatic Aspects of Language, Praha 1984, S. 101—140. W. D r e s s i e r , Einführung in die Textlinguistik, Tübingen 1972, S. 6 6 - 7 1 .
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holenden Konnektoren 6 aufzufassen- Den somit primär semantisch definierten Anknüpfungskonnektoren ordneten wir Partikeln und in der Funktion von Partikeln auftretende Wörter/lexikalische Einheiten zu. Zu den letzteren gehören koordinierende Konjunktionen, die vor allem am Anfang der E T E eine starke Glutination (Mistrik 7 ) verursachen. Seltener haben auch am Satzanfang stehende subordinierende Konjunktionen eine ähnliche Funktion, wenn sie keine kataphorische Beziehung zur nachfolgenden E T E bzw. innerhalb der syntaktischen Konstruktion eingehen. Zu den Verknüpfungsmitteln zählten wir vor allem koordinierende Konjunktionen als Grundmittel, ferner Partikeln, Adverbien u. a. 8 Bei ihrer Klassifizierung hielten wir uns an die in der slowakischen Linguistik traditionelle Einteilung der Wortarten, obwohl wir als primäres Kennzeichen der Verknüpfungsmittel ihre semantische Charakteristik und funktionale Anwendung festgestellt hatten. Das dokumentieren wir an einigen zentralen Verknüpfungsmitteln, die wir als grammatische Konnektoren werten und die sowohl den fließenden Textcharakter hervorrufen als auch die semantischen Beziehungen zwischen den E T E betonen, z. B . im T e x t : Ale ani Vilrna neddvala vzdy vsetko zadarmo. Gi som jej raz zabehol do obchodu? Aj zeleninu som jej pomohol vykopaf. A koVkokrät maposlala za majstrom pozriet', Si nähodou v kr&me nepije, o tom radsej nehovorim. Ani o torn nesmiem, hovorit'. (Sikula) Diese Verknüpfungsmittel erzeugen die unmittelbare Kohäsion dieses Textes. Ihre Bedeutung tritt hervor; wenn wir den Text unter ihrer Auslassung transformieren: Vilma neddvala vsetko zadarmo. Ci som jej raz zabehol do obchodu? Zeleninu som jej pomohol vykopat'. KoVkokrät ma poslala za majstrom pozriet', 6i nähodou v kröme nepije, o tom radsej nehovorim. 0 tom nesmiem hovorit'. Hier gingen mehrere Bedeutungsnuancen verloren, weil die Kohäsion, vormals explizit durch Konjunktionen ausgedrückt, nun vermindert wurde. Die Bedeutung der Verknüpfungsmittel beim Textaufbau weisen wir am Beispiel der echten Parataxe nach. Diese Art der Parataxe halten wir für eine sprachliche Erscheinung an der Grenze zwischen Satz- und Textsyntax. Darum „zerfällt" sie in der Satzsyntax in zwei E T E , die semantisch relativ abgeschlossen und grammatisch gegliedert sind. Das Bauprinzip, bei dem statt der koordinierenden Beziehungen innerhalb des Satzes auch Beziehungen außerhalb des Satzes bzw. zwischen den Sätzen Anwendung finden, halten wir für ein stilistisch wirksameres Mittel, z. B . : Vystupovali peso na plosinku Cierneho kamena a odtiaV sa kochali pohVadom na jej nädherny veniec. (Pravda, 1982) Vystupovali peso na plosinku Cierneho kamena. A odtiaV sa kochali pohVadom na jej nädherny veniec. Im ersten Fall, einer kopulativen Satzverbindung, ist das verbindende Mittel a eine parataktische Konjunktion, sie steht nach einer offenen Kadenz und die gesamte syntaktische Konstruktion wird phonetisch als eine Einheit aufgefaßt. I m zweiten Beispiel wurden beim Textbau anstelle der angeführten syntaktischen Konstruktion zwei einfache Sätze verwendet. Das sprachliche Mittel a übernimmt anstelle der Funktion einer kopulativen Konjunktion die Funktion des sprachlichen Konnektors. Sie steht E. Bajzíková, Üvod do textovej syntaxe. Bratislava, Univerzita Komenského 1979, S. 26. J. Mistrík, Kompozícia jazykového prjavu, Bratislava 1969. B E. Bajzíková, Pripájacie jazykové prostriedky, in: Studia Académica Slovaca 11, Red. J. Mistrík, Bratislava 1982, S. 2 1 - 2 9 .
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E U . BAJZIKOVÄ,
Semantik der Anknüpfungskonnektoren
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nach der geschlossenen Kadenz als Verknüpfungspartikel, die die semantische Kohäsion zwischen den E T E verkittet und gleichzeitig hervorhebt. Alle sprachlichen Verknüpfungsmittel untergliedern wir in a) Wörter, wenn sie durch ein Wort oder eine Wortgruppe ausgedrückt werden, z. B . : Ak nieco potrebujem, sta6i povedat'. A ja viem hovoriC. (Sikula) b) Sätze, wenn sie durch einen einfachen oder zusammengesetzten Satz ausgedrückt werden, z. B . : Uz v predchddzajücich kapitoldch sme zdoraznili, ze stard sloveniina na konci 12. stor. nemala jednotny samohldskovy system. (Krajcovic) Hier befassen wir uns mit den grundlegenden Verknüpfungsmitteln: mit Konjunktionen, Partikeln und Adverbien. Die Grenze zwischen ihnen ist fließend, der Übergang zwischen ihnen ist eine häufige und natürliche Erscheinung. Die wichtigsten Anknüpfungskonnektoren werden beim Textbau wie folgt verwendet: 1. als selbständige Konnektoren, wenn die Konnexion mit nur einem sprachlichen Mittel realisiert wird: a, ved', tiez, ba, potom, vtedy u. a., z. B . : Hovorieval to 6asto. Aj pred niekoVkymi dnami, ked' ho vyhnal z dvora. (Ballek) 2. als kombinierte Konnektoren, wenn die Konnexion mit mehreren, meistens zwei Wörtern realisiert wird, die eine semantische Beziehung ausdrücken, z. B . a tak, aj preto, i tym, a teda, z. B. : Seridl pokracuje d,alej. A tak s napätim sledujeme zävereönu monumentalnu scenu vystupu velitel'a na stoziar vysokeho napätia. (Pravda, 1982) Der kombinierte Konnektor a tak drückt die Finalbeziehung zur vorhergehenden E T E als Ganzheit aus. 3. als zusammengesetzte Konnektoren, falls beide (oder mehrere) der sprachlichen Verknüpfungsmittel selbständig eine bestimmte semantische Beziehung zur vorhergehenden Texteinheit ausdrücken, z. B . : Zostanies sedief s kujrikom na kolendch, kym nepoSujes stanicne hldsenie. Az potom neisto vystüpis a ustrasene cupitds cez halu nezndmej stanice von k autobusovej stanici, ktord tu za nasich cias nebyvala, ale zbadal si ju, hoci roky si necestoval, vies, ako vyzeraju autobusove stanice. (Dzvonik) Beide Mittel besitzen gegenüber der vorangehenden Texteinheit verknüpfende Funktion : Die Partikel az drückt ein erhöhtes Maß aus, und die Partikel potom erklärt die zeitliche Aufeinanderfolge. Am häufigsten sind die a d d i t i v e n s e m a n t i s c h e n B e z i e h u n g e n , die mit den Konnektoren a, aj, potom, i, ani als den frequentiertesten Mitteln realisiert werden, z. B . : Najprv si fuzy iba trochu skrdtil, ale vyzeral celkom indc ako predtym. Potom ich stenöil tym, ze spod nosa vybral tenky pdsik. (Sloboda) A d v e r s a t i v e s e m a n t i s c h e B e z i e h u n g e n werden vorwiegend von folgenden Konnektoren mit verknüpfender Funktion eingeleitet: no, ale, len, iba, zato, avsak (mit den Varianten lenze, a zato, zato vsak u. a.), z. B . : Pre Stefana a Veronu by bolo byvalo najlepsie za6inaf na svojom, öo ako skromnom hospodärstve. Ale spoiiatku sa im netriajalo ni6 lacnejsie, do 6oho by mohli vlozif nemnoho Stefanovych korün, ktorymi ho vyplatil starsi brat, hospoddriaci na rodicovskom majetku. (Habaj) — Jedol s veVkou chutfou, zhovärajüc sa pritom s vravnym iasnikom, ktory si to mohol dnes dovolit\ Avsak veVa sa od neho nedozvedel. (Urban) Bei den g r a d u i e r e n d e n s e m a n t i s c h e n B e z i e h u n g e n wird am häufigsten das
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elementare Verknüpfungsmittel ba verwandt (mit den Varianten ba aj, ba dokonca u. a.), z. B . : Ked' v devät'sto strndstom vypukla vojna islo mu na dvadsiaty siedmy roh a bol uz pät' rokov zenaty. Ba mal aj dvoje malych deti, dceru Veronu a syna PaVa. (Habaj) — Majster dosvedcil. Ba chcel to povedat' este doraznejsie a vyreinejsie, lebo aj on sa tesil. (Sikula) D i s j u n k t i v e s e m a n t i s c h e B e z i e h u n g e n t r e t e n im Vergleich zu den vorhergehenden seltener auf. Hauptsächliches Verknüpfungsmittel ist alebo (bud'' tritt seltener auf), z. B . : Ani po roku iniciativa zväzäkov neochabla, ba prdve naopak, zvysila sa. Alebo si zoberme ako priklad zdväzok zväzakov zo Zelezorudych bani v Niznej Slanej na pocesf III. zjazdu SZM. (Smena 1982) — Vcera poobede bol s otcom na dvore ... Zeby naozaj chodil? Ved' doteraz stdle iba spal. Alebo ze by ho majster na dvor vyniesol ? (Sikula) K a u s a l b e z i e h u n g e n t r e t e n beim Textbau häufig auf. Zu den grundlegenden Mitteln gehören ved\ vsak, totiz, predsa, aj tak, i tak u. a., z. B . : „Do certa, odkiaV ti Vudia vsetko vediaV srdil sa. Ved' on tiez Utal noviny, poSüval rozhlas, hl'adel vökol seba otvorenymi oöami, rozmysVal, uvazoval... (Urban) — Pravdaze, mam aj inych Vudi. Nespolieham sa len na sürodencov. Napokon, ved'' mäm este oboch rodi£ov. (Sikula) — Sestra ma mala rada, ale dovtedy, kym sa vydala. Vlastne aj potom, lenze sa z nasej dediny odst'ahovala ... (Sikula) Auch F i n a l b e z i e h u n g e n kommen beim Textbau häufiger vor. Anknüpfungskonnektoren sind die Ausdrücke preto, a preto, tak, teda u. a., die häufig durch Partikeln verstärkt werden, z. B. prdve preto, ani tak u. ä., z. B.: Ktovie, mozno ho potajomky pozorujü a zbierajü kazdy detail. A preto uz ajpripravujüpre istotu zodpovedneho pracovnika, ktory by Jana v pripade ochorenia nahradil. (Sloboda) — Jano sa tak nal'akal, ze ked' vycitil koniec filmu, potichu vstal a zmizol z kina. A tak nevidel, 6o hrdinka, zhrozend nad vierolomnost'ou svojho ndpadnika, na konci urobila. (Sloboda) Wird die Textkohärenz durch Anknüpfungskonnektoren ausgedrückt, können im R a h men eines Textes, z. B. eines Artikels, Gedichts, R o m a n s oder einer Erzählung, bei konkreten semantischen Beziehungen zur vorhergehenden Texteinheit, zum vorangehenden Absatz oder zum ganzen Text ganze Synonymreihen dieser Verknüpfungsmittel verwendet werden, u m damit den Textbau unter dem angeführten Aspekt zu modifizieren. I n manchen Fällen handelt es sich nur u m ein einfaches Synonym, z. B.: Domov ist' sa mu videlo privcas, a tak sa rozhodol, ze vojde a obzrie sa po nejakom co aj neznämom partnerovi. Ale ked' od TJniverzitnej zährady prechddzal na druhü stranu ulice, zarazila ho podivnä zmena. (Urban) Hier k a n n die adversative Beziehung ohne Bedeutungsänderung synonym ausgedrückt werden : No ked' od TJniverzitnej zährady prechddzal ... Lez ked' od TJniverzitnej zährady prechddzal ... Ähnlich: lenze, avsak, ibaze u . a . Diese Beziehung läßt sich auch mit dem universellen Konnektor a ausdrücken. I n diesem Falle wird die adversative Beziehung jedoch formal nicht herausgestellt: A ked' od TJniverzitnej zährady prechddzal... I n anderen Fällen k a n n die Auswahl konkreter Verknüpfungsmittel zur Verstärkung, Abschwächung oder anders gearteten Modifizierung der semantischen Beziehungen zur vorhergehenden Texteinheit führen. Ein Beispiel sind die erwähnten additiven Beziehungen :
El'. BAJZÍKOVÁ, Semantik der Anknüpfungskonnektoren
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Ak nieÓo potrebujem, stací povedaf. A ja viem hovorif. (Sikula) In modifizierter synonymer Variante hieße es: I ja viem hovorit'. Aj ja viem hovorif. Diese (und andere) synonyme Varianten des elementaren, merkmallosen Verknüpfungsmittels drücken einen höheren Grad der Kohärenz durch Hervorhebung einer bestimmten Beziehung aus. Hier geht es um den stilistischen Wert des angewandten Textbaumittels. Die angeführten sprachlichen Mittel sind elementare Anknüpfungskonnektoren bei anaphorischem Anschluß. Weitere Verknüpfungsmittel sind z. B. aus mehreren Wörtern bestehende Ausdrücke vom Typ z toho dövodu, die Adverbien rovnako, naopak, die Partikeln nech, dokonca, die subordinierenden Konjunktionen ze, aby und andere. Die Grundfunktion der Anknüpfungskonnektoren an den Grenzen elementarer Einheiten ist die Herausbildung des anaphorischen Anschlusses (der Kohäsion). Außerdem können sie eine Reihe weiterer Funktionen erfüllen, was einer näheren Spezifizierung bedarf. Übersetzt von U. Raßloff
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Z. Slawistik, Bd. 34, H. 6
Z. Slaw. 34 (1989) 6, S. 8 8 8 - 8 9 2
A. G l a d r o w
Aktuelle Fragen der Sprachkultur in der CSSR Bemühungen um die Sprachkultur haben in der Tschechoslowakei eine Tradition, die bis in die 20er Jahre unseres Jahrhunderts zurückreicht, als die Vertreter des Prager Linguistenkreises, insbesondere V. Mathesius und B. Havranek, in den „Allgemeinen Grundsätzender Sprachkultur" von 1932 formulierten: „Unter der Kultur der Literatursprache verstehen wir die bewußte Pflege der Literatursprache. Sie kann auf folgende Weise verwirklicht werden: 1. mit Hilfe theoretischer Arbeiten zur Linguistik; 2. durch den Sprachunterricht in der Schule; im Prozeß der schriftstellerischen Praxis." 1 Für die Prager Schule war bekanntlich die Theorie der Literatursprache die Grundlage der Sprachkultur, und die wichtigste Voraussetzung für erfolgreiche Bemühungen um die Sprachkultur war die Erforschung sowie die Kodifizierung der Normen der Literatursprache. Daraus ergab sich als vordringliche Aufgabe, die funktionale Differenzierung und den stilistischen Reichtum der Literatursprache zu fördern. Dieses Anliegen ist im Grunde noch heute gültig, es hat unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen in der sozialistischen CSSR allerdings ein noch größeres Gewicht erhalten. Die Diskussionen um die Hebung des Niveaus der Sprachkultur werden in jüngster Zeit auch auf internationaler Ebene geführt, ausgehend von der Konferenz des Jahres 1976 in Liblice, deren Ergebnisse in dem Sammelband „Aktuälni otazky jazykove kultury v socialisticke spolecnosti" veröffentlicht wurden 2 . An dieser Konferenz hatten Wissenschaftler aus sechs sozialistischen Ländern teilgenommen, in deren Beiträgen und Diskussionen die Bedeutung der Sprachsituation und der Normproblematik für die Theorie der Sprachkultur im Mittelpunkt standen 3 . Im Abschlußdokument dieser Konferenz wurde die Notwendigkeit einer internationalen Zusammenarbeit der Linguisten auf dem Gebiet der Sprachkultur hervorgehoben 4 . In der Folge wurde diese Zusammenarbeit u. a. auch durch die Teilnahme von tschechischen und slowakischen Wissenschaftlern an Tagungen und die Mitarbeit an Publikationen der Akademie der Wissenschaften der DDR zur Problematik der Sprachkultur realisiert 5 . Zur Thematik der tschechischen Sprachkultur legten 1981 F. Curin
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s. Grundlagen der Sprachkultur, Beiträge der Prager Linguistik zur Sprachtheorie und Sprachpflege, T. 1. Hg. von J. S c h a r n h o r s t und E. I s i n g , Bln. 1976, S. 74. Aktuälni otazky jazykove kultury v socialisticke spolecnosti, Red. J. C h l o u p e k , Praha 1979. 3 vgl. A. J e d l i c k a , Teorie jazykove kultury dnes, in: Aktuälni otazky ..., S. 17 — 19. * ebd., S. 242. 5 s. Grundlagen der Sprachkultur, Beiträge der Prager Linguistik zur Sprachtheorie und Sprachpflege, T. 2. Hg. von J. S c h a r n h o r s t und E. I s i n g , Bln. 1982, vgl. in Linguistische Studien A, H. 72/1, Bln. 1980, weiterhin: J. H o r e c k y , Zur sprachlichen Strukturiertheit (S. 40—43); J. K u c h a f , Die Nichtliteratursprache unter dem Gesichtspunkt der Sprachkultur (S. 113 bis 122); J. K r a u s , Die Entwicklungsdynamik der Gattungen und Stile des öffentlichen Sprachverkehrs (S. 123 — 128); J. K a c a l a , Sprachsituation und Sprachkultur (S. 129 — 136); sowie in Linguistische Studien A, H. 89, Bln. 1982, d e r s . , Aspekte der Kultivierung der Literatursprache, S. 1 — 16); J. R u z i c k a , Die gegenwärtige Etappe in der Entwicklung der slowakischen Literatursprache (S. 17 — 39); J. H o r e c k y , Zur Theorie der Literatursprache (S. 40—50); J. M i s t r i k , Der Leser und die Kultur der sprachlichen Äußerung in der sozialistischen Gesellschaft (S. 5 1 - 5 9 ) . 2
A. G l a d r o w , Fragen der Sprachkultur in der CSSR
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u n d J . N o v o t n y sowie im J a h r e 1986 J . Chloupek wichtige Arbeiten vor, die die neueste Entwicklung seit 1945 zum I n h a l t haben 6 . Curin u n d N o v o t n y stellen f ü r die Entwicklung der Sprachkultur der tschechischen Literatursprache folgende Aufgaben in den M i t t e l p u n k t : 1. genaue K e n n t n i s des Zustands, der Bedürfnisse u n d Tendenzen der Literatursprache auf allen ihren Ebenen, 2. die Überarbeitung der Kodifikation in der Orthographie u n d Morphologie, 3. die weitere Erforschung und Bereicherung der lexikalischen und syntaktischen Mittel, 4. weitere Analysen zur Stilschichtung der Literatursprache unter besonderer Berücksichtigung des Fachstils u n d des publizistischen Stils, 5. die Untersuchung des Tschechischen in seiner ganzen Breite, d. h. nicht nur der Literatursprache, sondern aller Existenzformen der Nationalsprache in ihrem Verhältnis zueinander, u n d zwar der Literatursprache, der Umgangssprache, des Gemeintschechischen u n d der Dialekte, 6. die aktive Aneignung der Literatursprache in ihrer stilistischen Differenzierung durch die Schüler und die Herausbildung einer gefühlsmäßigen Beziehung zur Sprache als kulturellem W e r t , 7. stärkere Beachtung der Sprachkultur in den Massenmedien und im öffentlichen A u f t r e t e n ' . Das Buch von J . Chloupek geht von der dialektischen Beziehung der literatursprachlichen und nichtliteratursprachlichen Ausdrucksweise aus u n d stellt den f u n k t i o n a l e n Gebrauch der einzelnen Existenzformen der Nationalsprache in den Z u s a m m e n h a n g der Sprachkultur u n d der Herausbildung eines Sprachbewußtseins. I n Anbetracht der Breite und K o m p l e x i t ä t der Aufgabenstellung ist es hier n u r möglich, einzelne Fragen aus der komplizierten Problematik der Sprachkultur herauszugreifen und auf einige Tendenzen und Beziehungen sowohl in der ÖSSR als auch in d e r D D R hinzuweisen, u m so mehr, als die exakten Grenzen, Aufgaben u n d Methoden der Theorie der Sprachkultur noch nicht einheitlich definiert sind. Aktuell bleibt jedoch die Verbindung der Problematik der Sprachkultur u n d der Sprachsituation, d. h. die Frage, unter welchen sozialen u n d kommunikativen Bedingungen sich die L i t e r a t u r sprache entwickeln, wie sie ihre neue Norm herausbilden u n d ihre Kodifikation verbessern k a n n . Die jüngste Tagung zu Fragen der Sprachkultur wurde in der ÖSSR im April 1985 in Bratislava v e r a n s t a l t e t . I h r e Materialien sind in dem B a n d „ J a z y k o v a politika a jazykova k u l t ü r a " zusammengefaßt worden 8 . Diese Konferenz stellte erstmals die P r o blematik der S p r a c h k u l t u r in eine Beziehung zur Sprachenpolitik in der ÖSSR, die als Bestandteil der Nationalitätenpolitik und der Kulturpolitik b e t r a c h t e t wird. J . H o r e c k y bringt hier den Begriff ,,jazykovednä politika" (Sprachwissenschaftspolitik) in die Diskussion ein, der den aus der bürgerlichen Soziolinguistik s t a m m e n d e n T e r m i n u s „ S p r a c h p l a n u n g " (language planning) ersetzen soll u n d der die Strategie u n d T a k t i k der Bemühungen u m die Entwicklung der Sprache u n d ihrer K u l t u r beinhaltet 9 . I n d e m Beitrag von F . Kocis wird der axiologische Aspekt der Sprachkultur herausgestellt, d a die Sprache in der Hierarchie der kulturellen W e r t e eine besondere und vorrangige Stellung einnimmt 1 0 . 6
F. C u r i n — J . N o v o t n y , Vyvojove tendenee soucasne spisovne cestiny a k u l t u r a j a z y k a , P r a h a 1981; J . C h l o u p e k , Dichotomie spisovnosti a nespisovnosti, Brno 1986. ' F. C u r i n — J . N o v o t n y , op. cit., S. 99. 8 J a z y k o v a politika a jazykova kultüra, Red. J . K a c a l a , Bratislava 1986. 9 vgl. ebd., S. 1 5 - 2 4 . 10 vgl. ebd., S. 147. 7*
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Die Diskussionen zu Fragen der Sprachkultur in der CSSR stehen in enger Korrespondenz zu ähnlichen Problemstellungen in der D D R . I n Berlin fand im Oktober 1986 eine Tagung s t a t t , in deren Vorbereitung in der Zeitschrift f ü r Germanistik „Thesen zur Sprachkultur" veröffentlicht worden waren 11 . Diese Thesen wurden auch f ü r die Zeitschrift „Slovenska rec" 12 übersetzt und trugen somit zur Fortsetzung der Diskussion auf internationaler Ebene bei, insbesondere zur Klärung von Begriffen, die die subjektive Komponente f ü r die Bestimmung des Niveaus der Sprachkultur ausmachen. Ein solcher Begriff ist das Sprachbewußtsein der Sprecher, das eine wichtige K o m ponente f ü r die Bestimmung des Niveaus der Sprachkultur darstellt. Diese subjektive Komponente ist f ü r das Sprachverhalten in einer Gesellschaft von Bedeutung. Sprachbewußtsein wird als die mehr oder weniger entwickelte Fähigkeit definiert, über Sprache reflektieren zu können, sprachliche Ausdrucksmittel einzusetzen und zu bewerten. Unter Sprachfähigkeit ist die Gesamtheit aller Kenntnisse zu fassen, die Sprecher und Hörer in die Lage versetzen, sprachliche Äußerungen zu bilden bzw. zu verstehen. Sprachbewußtsein ist also vor allem bewußt gemachte Sprachfähigkeit und stellt einen, graduellen Begriff mit zwei extremen Polen d a r : Der erste ist das Sprachgefühl, d. h. das relativ ungenaue, isolierte, methodisch nicht kontrollierte Bewußtwerden einzelner Aspekte der Sprachfähigkeit, das sich häufig in sprachlichen Konfliktsituationen vollzieht, z. B. beim Aufeinandertreffen unterschiedlicher Varianten auf den einzelnen Sprachebenen. Den zweiten Pol stellt das wissenschaftliche Sprachbewußtsein dar, das die methodisch und theoretisch ausgearbeitete Reflexion über die Sprachfähigkeit umfaßt 1 3 . Einen festen Platz in den Diskussionen zur Sprachkultur in der CSSR nehmen die Fragen ein, die sich mit den Spezifika der sprachlichen Situation verbinden, d. h. mit den Beziehungen zweier gleichberechtigter Nationen und der Gleichberechtigung ihrer nationalen Sprachen innerhalb eines gemeinsamen Staates 1 4 . I n der zweisprachigen Situation der CSSR k a n n es weder um das Forcieren der Entwicklung einer Sprache zu einer übernationalen Verkehrssprache noch um einen sog. aktiven Bilinguismus gehen, da die Verständigung gewährleistet ist, wenn Vertreter beider Nationen ihre Muttersprache gebrauchen. U m jedoch eine differenzierte Verständigung zu ermöglichen, ist wegen der Nähe der beiden Sprachen die Schaffung von differenzierenden Wörterbüchern und Handbüchern, eine aktuelle Aufgabe. Diesem Bedürfnis kommen z. B. das 1979 im slowakischen Akademieverlag herausgegebene Tschechisch-slowakische Wörterbuch und die entsprechenden Schul- und Hochschullehrbücher des Tschechischen f ü r Slowaken bzw. des Slowakischen f ü r Tschechen entgegen 15 . Eine wichtige Rolle f ü r die Sprachkultur im Sinne von sprachlicher Weiterbildung und Sprachpflege spielen außer den Fachzeitschriften mit spezifisch sprachpflegerischer
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s. B. T e c h t m e i e r u. a., Thesen zur Sprachkultur, in: Zeitschrift für Germanistik 5 (1984), S. 389—400; E. I s i n g — A. K l e i n f e l d — R. S c h n e r r e r , Literaturbericht über Forschungen zu einer Theorie der Literatursprache und der Sprachkultur in der DDR, in: Sprachwissenschaftliche Informationen 7 (1984), S. 5 — 159. s. B. T e c h t n ^ e i e r a k o l . , Tezy o jazykovej kultüre, in: Slovenska refi 52 (1987), S. 3 — 15. vgl. B. T e c h t m e i e r u . a., op. cit., S. 394. s. a. V. B u d o v i ö o v a , Koexistencia a interakcia dvoch närodnych jazykov a jej dösledky pre jazykovü politiku a jazykovü kultüru, in: Jazykovä politika a jazykovä kultüra, S. 125 — 134. vgl. Cesko-slovensky slovnik, Bratislava 1979; Slovenstina, Praha 4 1964; Cestina, Bratislava 1972.
A . GLADROW,
Fragen der Sprachkultur in der CSSR
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Orientierung, wie „Nase f e c " für das Tschechische und „Kultura slova" für das Slowakische, die sog. Sprachrubriken in den Tageszeitungen und im tschechoslowakischen Rundfunk, die neueste sprachliche Erscheinungen und Entwicklungstendenzen popularisieren, Auskünfte zum exakten sprachlichen Handeln erteilen und so Einfluß auf das Sprachbewußtsein nehmen. Das Interesse der Sprachbenutzer zeigt sich u. a. auch in den jährlich etwa 500 Briefen aus allen Schichten der Bevölkerung an die Sprachberatungsstelle im Sprachwissenschaftlichen Institut „L'udovit Stur" der Slowakischen Akademie der Wissenschaften, wo konkrete Fragen zur Orthographie, Grammatik und Wortbildung, insbesondere zur Terminologie und Namenkunde, gestellt werden 16 . Schlußfolgerungen aus den Diskussionen um die Sprachkultur und die Hebung ihres Niveaus sollen die Notwendigkeit unterstreichen, daß dem Sprachbenutzer genauere Kenntnisse über Normierungsprozesse durch eine bewußte und präzise Kodifikation vermittelt werden müssen. Die Kodifizierung als auf Verallgemeinerung zielende sowie auf Bewertung und Selektion von Varianten basierende Fixierung von Normen und Normensystemen hat für den Benutzer vor allem den Abbau von Unsicherheiten in der Beherrschung der Normen der Literatursprache zum Ziel17. Als kodifizierende Werke wurden 1978 in Prag das einsprachige Wörterbuch „Slovnik spisovne cestiny pro skolu a vefejnost" und f ü r das Slowakische „ K r a i k y slovnik slovenslseho jazyka" (Bratislava 1987) geschaffen, deren solide theoretische Fundierung und sprachpflegerische Intention eine wichtige Markierung für weitere Kodifikationen der tschechischen bzw. slowakischen lexikalischen Norm darstellen. Das jüngste Werk mit kodifikatorischem Anspruch ist die 1986—1987 in drei Bänden herausgegebene Akademiegrammatik „Mluvnice cestiny" 18 . Negativ wirkt sich ein gewisser Konsumentenstandpunkt von Benutzern der Literatursprache aus, der die Sprache als kommunikativ-ästhetischen und allgemein kulturellen Wert unterschätzt und auf einer oberflächlichen Kenntnis von Norm und System basiert 19 . Auch DDR-Autoren stellen fest, daß die Sprache im Bewußtsein vieler Angehöriger der Kommunikationsgemeinschaft noch nicht den R a n g einnimmt, der ihr angesichts der Bedeutung der Kommunikation in der Gesellschaft zukommt 2 0 . Ein weiterer neuer Aspekt in der Problematik der Sprachkultur, der einer breiteren Untersuchung bedarf, liegt darin, daß auch die Literatursprache im Ensemble der Existenzformen der Nationalsprache mehr von den Kommunikationssphären hei- erforscht werden sollte, d. h. stärker von ihrer funktionalen als von der systemhaften Seite. Dieser Aspekt wird von mehreren Linguisten in der CSSR, z. B. von J . Chloupek in seinem Buch „Dichotomie spisovnosti a nespisovnosti" sowie von J . Kacala und J . Horeckv, hervorgehoben 21 .
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s. M. P i s a r c i k o v a , 0 sucasnom poslani a sücasnych ciel'och jazykovych rubrik; J. D o r u l ' a , Z listovej poradne, in: Jazykovä politika a jazykovä kultüra, S. 256 — 262, S. 268—271. vgl. B. T e c h t m e i e r u. a., op. cit., S. 398. Mluvnice cestiny, Red. J. P e t r , (1) Fonetika, Fonologie, Morfonologie a morfemika, Tvoreni slov, Praha 1986; (2) Tvaroslovi, Praha 1986; (3) Skladba, Praha 1987. vgl. F. K o c i s , System jazyka a jazykovy üzus, in: Kultüra slova 22 (1988), S. 10. s. G. H a n s e , Sprachkultur und Einstellungen zur Sprache, in: Sprachpflege 37 (1988), S. 94. s. J. C h l o u p e k , op. cit.; J. K a c a l a , Jazykovopoliticky kontext pojmu spisovny jazyk, in: Jazykova politika a jazykovä kultüra, S. 44 — 49; J. H o r e c k y , Zur Theorie der Literatursprache, in: Linguistische Studien A, H. 89, Bln. 1982, S. 40—50.
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Die Skizzierung der aktuellen Diskussion um Fragen der Sprachkultur in der Tschechoslowakei kann m. E. zwei Dinge verdeutlichen: Zum einen stellen sich sprachpflegerische Probleme auch in der ÖSSR als immer wieder neu zu lösende Aufgaben dar, zum anderen können das Herangehen an die Klärung derartiger Probleme und die Bemühungen um die Sprachkultur auch Anregungen und Anstöße über die Grenzen dieses Landes hinaus vermitteln.
Z. Slaw. 34 (1989) 6, S. 893-910 T. H. M o n c e e ß a
CaMyajii, PosKHafi — n e p e s o f l i H K ,,Cjiosa o nojiKy
HropeBe"
O tom, hto b HHCJie yieHHKOB BenHKoro neiiiCKoro cjiaBHCTa Ho3ea /JoSpoBcnoro, 3aHHMaBiiiHXCH b Ilpare no,n ero pyKOBOACTBOM b 1809—1810rr. nepeBOflOM „CnoBa o nojiKy Mropeße", 6hji cjioBau;KHH noaT CaMyajit PoHtHatt, nncajin MHorne nccjieAoBaTejiH1.
OcHOBaHHGM fljiH 3Toro BHBOfla cjiyHtaT CBH^OTGJiBCTBa flßyx flpyrHx yieHHKOB H. floSpoBCKoro: ßo3e$a Mrojijiepa h BaijJiaßa TaHKH. B npeflHCJiOBHH k nepeßofly „CjioBa o nojiKy Mropeße" Ha hgmgi^khh h3hk, H3,naHH0My b Ilpare b 1811 r., Vi. Mrojuiep nncaji o nepeBonax cbohx Kojuier, c kotopbimh oh o3Hakomhjich DJiaroaapa npotj). Here^-nu: „Eine treue und gute böhmische Uebersezung findet sich noch im Manuscript von dem Herrn Professor Jungmann. Der Doctor Herr Negedly, Professor der böhmischen Literatur an der Universität zu Prag, der mir dieselbe zur Durchsicht mittheilte, wird sie gelegentlich in seinen Hlasatel ,Bekanntmacher' aufnehmen. Auch ist mir durch die Güte des letztern eine andere böhmische Uebersezung im Manuscript in gereimten Versen zu Gesicht gekommen, welche natürlich mehr den Sinn berücksichtigen, als das Original treu wiedergeben konnte, welches leztere in einem slawischen Dialecte sehr leicht ist". 2 OßHaKo nepeBOfl „CiiOBa o nojiKy Mropeße" Ha nemcKHü H3HK, 3aKOHTOHHBiii ß . K>Hr-
Fi. ^ o ö p o B C K o r o B 1810r., n p o i i e j K a j i B p y K o n n c H 6ojiee CTa h 6liji H3flan npo$. B. A . OpaHijeBHM B 1932r.3 B 1821 r. b „Predmluwe" k CBoeMy nepeBOfly ,,CjioBa o nojiKy HropeBe" BaijjiaB TaHKa,
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iijhx nepeBOfla: ,,Ciz 1808 prelozil pjsen tuto Prof. J. Jungmanna pozdegi Roznay (we wersjch) w gazyk cesky, prelozenj ta ale tiskem ne wysla." 4 PyKonnCB B. FaiiKii, coxpäHHBinaHCir b ero apxHBe, no3B0JiHeT noHHTB, KaK npoH3onuia oiuHÖKa b onpenejieHHH H3L.ma, Ha kotopbix Cßejiaji cthxotbophbih nepeBOß „CnoBa o nojiKy HropeBe"
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S. W oll man, Dobrovsky a Slovo o pluku Igoreve. — Slavia. Roc X X I V . Praha, 1955, ses. 2 — 3, 273 — 282; A. M. nameHKO, MeincKHe nepeBOKBi „CnoBa o no-ray HropeBe" X I X b. — Tpyabi OTji;ejia ApeBHepyccKOii JiiiTepaTypBi, t. X I I I , M.—JI., 1957, c. 635 —643; M. L a c i o k , Slavisticke zaujmy Samuela Roznaya. — Slavica Slovaca 2 (1967), c. 3, S. 267. A. C. M h j i b h h kob, „Cjiobo o nojiKy HropeBe" h cJiaBHHCKiie nsynenHH KOHija X V I I I — naia.na X I X b. BonpoCBi HCTOpHH. 1981, JV°. 8., c. 37—48; G. Z i e g e n g e i s t , Das altrussische „Igorlied" in der intereuropäischen Rezeption von Aufklärung und Romantik (1797 — 1812). — ZfSl 33 (1988), c. 1—14. J. H a r n e y — G. S t u r m , Zur Igorlied-Rezeption im deutschsprachigen Raum und bei den Sorben. - ZfSl 33 (1988), c. 272-286. Heldengesang vom Zuge gegen die Polowzer, des Fürsten vom sewerischen Nowgorod Igor Swätslawlitsch, geschrieben in altrussischer Sprache gegen das Ende des zwölften Jahrhunderts ... von Joseph M ü l l e r , der Philosophie Doctor und ehemals Professor am Gymnasium zu Heiligenstadt. Prag, 1811, c. 28 — 29. Slovo o pluku Igoreve. Rusky text v transkripci, cesky preklad a vyklady Josefa Jungmanna z r. 1810. Vydal a uvodem opatril V. A. F r a n c e v . V Praze, 1932. Igor Swatoslawic. Hrdinsky zpiew o tazenj proti Pol owcüm. Werne w püwodnjm gazyku, s pripogenjm Ceskeho a Nemeckeho prelozenj od Waclawa Hanky. W Praze, 1821, s. I X .
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cjiOBaijKHH yqeHHK V i . ^oßpoBCKoro no3T CaMysjib PoHiHaö. B. TaHKa nmiieT: „Pez 1808 prelozil pjsen tuto Prof. Jungmann w gazyk cesky, prelozenj ta aletiskunepodal". 5 Ha ÖOKOBOM nojie aoSaBjieHo: ,,a pozdegi Roznay we wersjch". ^ejiaa 3Ty BCTaBKy B TGKCT, B. TaHKa IIOMGCTHJI ee nocjie CJIOB „Prof. Jungmann", n03T0My nojiyHH;iocb, HTO H ß . LOHRMAN H C . POJKHAII o ß a NEPEBOFLHJIN „ C J I O B O " HA QEMCKHFT H 3 H K .
llo-BHflHMOMy, HMeHHo 3TA OHIH6OHHOCTB B onpenejieHHH H 3 H K A nepeBona „CjioBa o nojiKy Hropeße" C. PoiKHaeM H O6I>HCHHGT TO O6CTOHTGJIBCTBOJ HTO BTOT nepeBOfl 6onee 100 JIET He GLIJI HaflaeH H He npHBJieneH K H3yHeHHio. I'I TOJILKO B 1969r. CJIOBAQKNIT YNEHHIT Py«o BpTaHt ONYßJIHKOBAJI pH,n ijeHHHX CBefleHirä o CaMysJie PoniHae6. CaMyajib PoiKHaft (1787—1815) ÖHJI cepte3HBiM 3HaTOKOM pyccKoii JiHTepaTypbi, HCTOP H H H K Y J I B T Y P H . B TENEHHE MHORAX JIET OH TOTOBHJI HJIH H3NAIOMEROCH B TioßnnreHe IITYPHAJIA „Morgenblatt für gebildete Stände" COO6MEHHH o POCCHH, CIIÖIIJIH, o l l e T p e BejiHKOM, o EKaTepHHe I I , o H. M. KapaM3HHe. B 1812r. C. Po?KHaM aH0HHMH0 0ny6jiHK0Ba,n B ;i;ypHa.;ie „Morgenblatt für gebildete Stände", JV° 202, perjeH3iiio Ha HeMei;KHii nepeBoa „CjioBa o nojiKy HropeBe", onyGanKOBAHHHFT B Ffpare M. MtojuiepoM B 1811r. AHOHHMHan nyßjiHKau,Ha C. PojKHaa B H X O i(HT 3a npeflejiu oöbmuoii peijeH3HH: B aToii CTaTte co^epHtaTCH oßcroHTejibHbie CBe^eHHH o COFLEP?KAHHH BejiHKoro NAMHTHHKA ^peBneit Pycw, ero XYJJOHIECTBEHHBIX ocoßeHHOCTHX, o nepBOM H3AAHHH „CjioBa o nojiKy IlropeBe" A. H. MycHHa-NYUIKHHA 1800r. H O BTOpOM H3^aHHH 1805 T. A. C. lIlHIIIKOBa. BAHIHOÜ
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npiiBOflHM TeKCT ny6jiHKan;HH C. PoHiHan, onyßjiHKOBaHHHii B „Morgenblatt für gebildete Stände". Tübingen, 1812, N? 9, S. 35. Schöne R e d e k ü n s t e . H e l d e n g e s a n g vom Zuge der Polowzer des Fürsten vom sewerischen Nowgorod I g o r Swätslawlitsch, geschrieben in alt-russischer Sprache gegen das Ende des zwölften Jahrhunderts; in die deutsche Sprache übertragen, von J o s e p h M ü l l e r , Doktor der Philosophie. Prag, bey Franz Sommer, 1811. S. 85, in 12. Eine der merkwürdigsten Erscheinungen in der neuern russischen Literatur ist unstreitig der a l t - r u s s i s c h e Heldengesang vom Feldzuge des sewerischen Fürsten Igor Swätslawlitsch gegen die Polowzer, welchen der gelehrte Graf A l e x e j Mussin P u s c h k i n im Jahre 1795 aufgefunden, und 1800 in Moskwa herausgegeben, und der Vice-Admiral A l e x a n d . S c h i s c h k o w i m Jahre 1805 kommentirt und ins Neu-Russische übertragen hat. Innere und äußere Gründe sprechen stark für die Aechtheit dieses Gedichts, und
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Literärni Archiv. Pamätnikü Närodniho pisemnictvi v Praze. Archiv V. Hanky, p. 50. R . B r t ä n , Neznamy prekladatel' Igora. — Slavia. Roc. X X X V I I I , Sesit 2. Praha, 1969, c. 230—241.
T . H . MOHCEEBA,
CaMygjib PoHmait
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versetzen die Abfassung desselben in die zweyte Hälfte des zwölften Jahrhunderts; und eben dieses für Rußlands Kultur sehr hohe Alter macht das Gebiet sowol dem Geschichts- und Sprachforscher, als auch dem Freunde alter National-Poesien wichtig. Die Geschichte wird zwar durch dasselbe nicht bereichert, aber doch beleuchtet und im Detail bestätigt; die ältere slawische Sprachkunde hingegen gewinnt ungemein, weil die Sprache dieses Heldengesanges den Uebergang aus der allgemeinen alt-slawischen Mundart in die neu-russische bildet. Für den Freund alter Poesie ist das Gedicht seiner Eigenthümlichkeiten wegen interessant, denn es trägt ganz das Gepräge der Nationalität und des Alterthums; die Sprache ist kräftig, wenn auch hier und da etwas unbeholfen; die Darstellung lebhaft und durch kühne Umrisse und glückliche Wendungen überraschend; der Gang des Ganzen einfach, durch passende Episoden und Reflexionen belebt, und wegen seiner eigenthümlichen Tendenz edel. D e r I n h a l t des Gedichts ist tragisch heroisch, und dem hervorleuchtenden Zwccke sehr angemessen. Igor Swätslawlitsch, Fürst vom sewerischen Nowgorod, verbindet sich mit drey befreundeten Fürsten, und zieht im Jahre 1185 mit ihren und seinen Truppen gegen die tatarischen Horden der Polowzer, ohne dem Großfürsten von Kiew Nachricht davon zu geben, und den allgemeinen Feldzug gegen die Hauptfeinde Rußlands abzuwarten. Der schreckenden Himmelszeichen ungeachtet erringen die Schaaren Igors im ersten Treffen den glänzendsten Sieg; bald aber werden sie von den verstärkten Polowzern unerwartet angegriffen, nach einer zweytägigen Niederlage in Flucht gejagt, und Igor selbst in die Gefangenschaft der Polowzer geführt, aus welcher er sich aber bald durch Flucht rettet. — Die Erzählung dieser Begebenheit wird durch passende Episoden, kurze, aber kräftige Schilderungen, freimüthige Reminiscenzen und Ermahnungen, kernhafte Reden und gefühlvolle Klagen belebt, und so das Ganze zu einem kleinen Epos erhoben. Sowol aus dem Inhalte, als auch aus mehrern deutlichen Aeußerungen ergibt sich d e r Z w e c k dieses Gedichts: Ermahnungen der Fürsten Rußlands zur Eintracht im Frieden, und zum gemeinschaftlichen Wirken im Kriege gegen ihre damaligen Hauptfeinde, die Polowzer; eine Lehre, deren Vernachlässigung der Dichter an Igors Schiksalen kräftig und anschaulich genug darstellt. Wer übrigens der V e r f a s s e r dieses Heldengesanges gewesen seyn mochte, dies lässt sich nicht so leicht oder vielleicht gar nicht bestimmen; der neueste deutsche Uebersetzer hält ihn für einen Geistlichen aus Klein-Rußland, allein blos nach beliebigen und schwachen Muthmaßungen. Herr J o s e p h M ü l l e r , (jetzt Professor am Gymnasium zu Bromberg, ein wackerer Schüler des berühmten slavischen Philologen, Abbé Dobrowsky in Prag), verdient aufrichtigen Dank, daß er dieses interessante Gedicht aus der Ursprache ins Deutsche übersetzte. Er schickte seiner Uebersetzung eine lehrreiche Einleitung (S. 1 — 31) voran, in welcher er von der Veranlassung zur Herausgabe dieses Gedichts, von der Veranlassung zum Gedichte selbst, vom geschichtlichen Gange desselben, vom Verfasser des Gedichts, vom Standpunkte der damaligen Kultur Rußlands, von der Sprache des Gedichts und von den neuern Bearbeitungen desselben in sieben §§ handelt. Von S. 70—82 laufen historische und antiquarische Anmerkungen, größtentheils aus S c h i s c h k o w s Kommentar entlehnt; die ästhetischen und philologischen Erklärungen stehen unter der Uebersetzung, welche von S. 32—69 fortläuft. — Schade, daß Hr. M. seine U e b e r s e t z u n g in Prosa verfertigte, einige sehr wenige Stellen ausgenommen, die aber weder metrisch noch rhythmisch klingen. In seiner Prosa geht der kräftige Rhythmus des Originals nur zu oft ganz verloren; seine übertriebene Treue, mit der er sich ängstlich an die Ursprache anschmiegt, zwang ihn, dem Genius der deutschen Sprache nahe zu
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treten; und die oft vernachlässigte Auffassung des Geistes dieser Dichtung macht seine Uebersetzung bald matt, bald hart, bald unbeholfen. Zum Belege mag hier die Klage der Gemahlinn Igors nach M's Verdeutschung, nebst der Probe einer handschriftlichen metrischen (im Jahre 1810 verfertigten) Uebersetzung stehen, welche letztere den Mittelweg zwischen der allzuängstlichen Treue M ü l l e r s und der allzufreien Paraphrase S c h i s c h k o w s zu halten trachtet. flajiee C. PojKHait npHBo^HT npo3aHHecKnft nepeBojj „Il-nana flpocJiaBHu" it. Mrojuiepa h HH»e noMemaeT cboh cthxotbophhh nepeBOfl. T a u KaK C. PoHiHaü cßeJiaJi cboh cthxotbophhh nepeBOfl c H3flaHHH „CjiOBa o nojiKy HropeBe" 1805r., KaK oh 06 3tom nnmeT caM b npeRinecTByiomeH CTaTbe, mh npHBOAHM n a p a j u i e j i B H o k ero nepeßojjy «peBHepyccKHH tökct no nepeH3ji;aHHK> A. C. IIlHiuKOBa. MpoHHecKan n i c H b o noxo^-fc H a n o j i o B i i O B i , y f l i j j i b H a r o KHH3H
Morgenblatt für gebildete Stände. [Tübingen] 1812, JVs 9. S. 36.
HoBaropo^a-C'ÈBepcKaro M r o p n CBHTOCJiaBHHa . . . CoiHHeHHH H n e p e B O f l H , H3FLABAEMBIE POCCHHCKOIO
AKafleMHio. HacTb I. CII6., 1805, c. 6 8 - 7 0 flpocjiaBHHHi rjiaci
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Jaroslawna klagt mit banger Stimme, Gleich der Turteltaub', in aller Frühe: „Fliehen will ich, gleich der Turteltaube, Längs der Donau, will die Biberermel Seufzend in Kojala's Fluthen tauchen, Und die blut'gen Wunden meines Fürsten An dem starren Körper weinend waschen." Jaroslawna weint in aller Frühe, Weint und klaget von Putiwle's Zinnen: „Wind, o Weher, warum so getobet? Warum trägst auf mühelosen Flügeln Du die Heidenpfeile auf die Heere Meines Theuren? Ist es Dir zu wenig, Auf den Bergen im Orkan zu brausen, Oder auf dem blauen Meer die Schiffe Zu bestürmen? Mußt du meine Freuden Ueber Disteln unbarmherzig schleudern?"
Jaroslawna weint in aller Frühe, Weint und klaget von Putiwle's Zinnen: „Hehrer Dneper! Du hast kühn gebrochen Die Gebirge des Polowzerlandes, Du getragen gegen Kowaks Scharen Swätslaw Flotte; trage ruhig gleitend
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T. H . MOHCEEBA, CaMy3Jii> PoHmatt MOK)
Jiaay KT. MFFFE, a 6 H X T > He cjiajia KT. Hejvry cjie3i> Ha Mope paHo.
Her zu mir den Trauten meines Herzens, Daß ich nicht ins Meer ihm Thränen sende!"
HpocjiaBHa paHo njiaien. BT. nyTHBjrh Ha 3a6pajrfc, apKyin: CBIJTJIOE H TpecB^TJIOE cjn,HL(e! Bcfem. Tenjxo h KpacHo ecn: neMy rocno/piHe npocTpe ropHHioio CBOK) Jiyiio Ha Jiaß'fc B O H ? BT. N O J I I 6e3BO«H'fe H?a?KflOK) HMB J I Y I H , CT>npH?Ke, Tyroio HMT> TyjiH 3aTHe.
Jaroslawna weint in aller Frühe, Weint und klaget von Putiwle's Zinnen: „Lieblich helle, dreymal helle Sonne! Allen bist du hold und wärmest Alle: Warum sprühst du sengend deine Strahlen Auf die Heere meines theuren Gatten? Du vertilgst mit Durst im wasserlosen Feld die Bogenschützen, und vor Kummer Schließen sich die Köcher braver Krieger!"
B 1817 ro,ny, nocjie CMepTH C. PoHiHan, B a b Y x HOMepax „Morgenblatt für gebildete Stände" 6 H J I H onyÖJiHKOBaHH flBe nacTH n0flr0T0BJieHH0r0 H M nepeBOfla „CnoBa o nojiKy M r o p e B e " . IlyßjiHKaijHH B X» 298 OT 15 ^eKaöpn 1817r. 6 H J I O npeflnocjiaHo H e ö o j i t m o e BBefleHHe, B K O T O P O M noATBepHiAaJioct., HTO aTOMy ?Ke aBTopy npHHafljiejKHT CTaTbH o ,,HpeBHepyccKOH reponqecKOH n e c H e " H nepeBojj OTptiBKa „ C j i O B a " , noMeu;eHHHÄ B
„Morgenblatt", ¿V? 202, 1812r. (TO ecTb „IIjiaH HpocjiaBHti"). qacTb TeKCTa 3TOH CTaTbH C. PoiKHas H ero C T H X O T B O P H B I Ü nepeBOA „Des Sängers Vorwort" „CjiOBa o n o j i K y I i r o p e B e " , T A N W E npHBJieKaa « J I H conocTaBJieHH« HpeBHepyccKHH TÖKCT no9MH no HsaaHHio 1805 r. ILPHBOFLHM
Igor. E i n a l t r u s s i s c h e r H e l d e n g e s a n g aus d e m z w ö l f t e n
Jahrhundert.
Wir liefern hier eine Uebersetzung des merkwürdigen Denkmals altrussischer Poesie, welches der gelehrte Graf A l e x e j M u s s i n P u s c h k i n im Jahre 1795 aufgefunden, und 1800 zu Moskwa herausgegeben, dann der Viceadmiral A l e x a n d e r S c h i s c h k o w im Jahre 1805 kommentirt und in's Neurussische übertragen hat. Innere und äußere Gründe sprechen gleich stark für die Aechtheit dieses Gedichts, und versetzen die Abfassung desselben in das z w ö l f t e J a h r h u n d e r t ; dieses für Rußlands Kultur sehr hohe Alter macht das Gedicht sowol dem Geschichts- und Sprachforscher, als auch dem Freunde alter National-Poesien wichtig. Da der Verfasser dieser Uebersetzung schon früher, (im M o r g e n b l a t t e Jahrg. 1812 Nro. 202 Beylage I X ) dieses Gedicht angezeigt und gewürdigt hat; so darf hier nur der I n h a l t desselben, zur leichtern Auffassung des Ganzen, in gedrängter Kürze angegeben werden. MpoHHecKan n/ftcm. o noxojyfe Ha N0JI0BD;0BT> yjj-isjitHaro K H H 3 H HoBaropojja C/kßepcKaro Hropn CßHTocjiaBHqa ...
Morgenblatt für gebildete Stände. [Tübingen] 1817, Nro. 298. 13 Dec. S. 1189—1190.
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CoHHHeHHH H nepeBOAH, H3aaBaeMtie Pocckhckok) AKa,n,eMiieio. H a c T b I . Cn6., 1805, c . 3 3 - 3 8 . I. Des Sängers He jrfeno jih hm ÖHineT'i, 6paTie, HaHHTH CTapblMH CJIOBeCBI Tpy^HLixi» noB'fecTiii 0 m.JiKy MropeB'fc, I l r o p n
CBHT^cjiaBJiHHa! HanaTH Hie CH T t H irfeCHH n o ÖWJIHHaML c e r o BpeMeHH, a He n o 3aMbiui-
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BpeMeHt y c o S i n i s ; Tor^a riymameTB 1 c0K0Ji0Bb Ha CTa^o jieöe/j'M, KOTopbiö «OTeqame, Ta npean n'fecb nonnie, CTapoMy flpocjiaßy, x p a ß p o M y M e T H e j i a B y , HH?e 3api33a P e A e ^ i o n p e ^ t
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Vorwort.
Lasst uns Brüder! in der Vorzeit Sprache Kühn das Trauerschicksal der gepriesnen Scharen I g o r s 1 , S w ä t s l a w s Sohns, beginnen ! Nach der Sitte unsrer Tage walle Dieses Lied, und nicht in B o j a n s 2 Fluge Denn wenn er, der Sänger der Begeistrung, I m Gesänge Helden preisen wollte; H a ! da lief er sinnend durch die Wälder, Gleich dem grauen Wolf auf weiter Erde; Schwang sich durch des Aethers öde Bläue, Gleich dem Adler unter Himmelswolken. Wohl gedenkt die Sage alter Zeiten, Wohl gedenkt sie jener Sängerfehden. Zehn der Falken flogen, muthig kreischend, Nach der Schwanenherde: wessen Falke Sie erschwungen, dem gebührte billig Stets des ersten Liedes Rang und Würde. Und sie sangen von J a r o s l a w s Thaten 3 , Von dem tapfern Mstislaw, der den Reded Vor dem Antlitz kassogischer Scharen Hingestreckt, und von dem schönen Roman. Aber B o j a n , Brüder! nimmer ließ er Zehn der Falken auf die Schwanenherde. Nein! begeistert hüpften seine Finger Auf den lebenvollen Leyersaiten, Und ertönten hoch den Ruhm der Fürsten. Lasst uns, Brüder! jene Heldensage Von dem alten W l a d i m i r 4 und Igor Nun beginnen! Er, der tapfre Igor Stärkte sein Gemüth mit Heldenmuthe Und sein hohes Herz mit Männerstärke. Schlachten athmend, führt' er seine Scharen
r . H. MOHCEEBA, CAMYANB PoMtiiaß xpaßpHH njn.KH Ha 3eMJiio nojiOBiiibKyio 3a 3eMJiio PycbKyio. Torjja Mropb B'bsp'fe Ha CB'hTJioe COJIHI^e H BUßi; OTt HerO TbMOIO BCH CBOH BOH npuKpuTH, ii pene Hropb Kt ^pyiKHH'fe CBoeö: ßpaiie H NPY'KHHO! JIyu;e>KT> 6H NOTHTY
6LITH, He?Ke nojiOHeny 6HTH: a BCH^EMI), öpaTie, Ha CBOH 6PI3BIN KOMOHH, fla n03pHMT> cimero Äony. Cnajia KHH3IO YMT IIOXOTH, H IKAJIOCTB EMY
3HaMeHie 3acTynn, HCKycHTH /JoHy BejiHKaro. Xomy 6o, pe^e, KOnie IipHJIOMHHHTH KOHeiiB IIOJIH I l o J i o B e i ; K a r o CT> BBMH
PycimH, xomy rjiaßy CBOIO npHJIOJKHTH, a JIIOÖO HCnHTH mejiOMOMb fl,OHy.
0 EoHHe, cojioBiio CTaparo BpeiienH! aÖH TU cia ruxtHH ymeKOTajrh, cKana cjiaßiio no MbicjieHy «peBy, jieTan yMOMT. nOflT. OÖjiaKH, CBHBaH CJiaBbi o6a nojibi cero BpeMGHH, pwina BT> Tpony TpoHHio Hpeci> nojin Ha ropbi. Hfe™ 6HJIO nfjcb Hrop'feBH, Toro (Ojira) BHyny. He 6ypn COKOJIH 3aHece i p e s i IIOJIH HiMpoKaa; RAJIHI^H CTAI(H ßIFKATB KT> FLOHY
Be'jiHKOMy; HHJIH BicirfäTH 6HJIO Bimeii BoHHe, BejiecoBb BHyie!
899 In's P o l o w z e r l a n d 5 zum Heil der Russen. Igor blickt hinauf zur hellen Sonne, Und ein Nachtgraun deckte seine Heere. Sieh, da sprach er zu den Kriegsgefährten: „Brüder und Gesellen! immer besser Todt zu fallen, als das Joch zu tragen! Frisch, ihr Tapfern! auf die schnellen Rosse, Um den blauen Donfluß bald zu schauen!"
Kriegslust lenkte kühn den Sinn des Fürsten, Und sein Muth verschmähte Schreckenszeichen ; Denn er strebte bald den Don zu schauen. „Lanzen will ich mit den Russen brechen Dort am Rande des Polowzerlandes. Kühn mein Haupt dem Schlachtgetümmel bieten, Oder mit dem Helm den Donfluß leeren." B o j a n ! o du Nachtigall der Vorzeit! Hättest du doch dieses Heer besungen, Hüpfend gleich der Nachtigall im Laube, Schwebend hohen Sinns durch Himmelswolken, Preisend beyder Zeiten Heldenthaten. Rennend auf der Bahn des grossen T r o jan6, Igorn, seinen Heldensproß besingend. Nicht des Sturmes Wuth trug seine Falken Ueber weite Fluren; Krähenschwärme Schwangen sich zum großen Don mit Zagen Hehrer Sänger, Bojan! W e l e s 7 Liebling, Hättest du doch dieses Heer besungen!
CjiOBai;KHH nepeBOflraK C. PoJKHaÄ CHaSflHJi nepeBeneHHoe HM HanaJio „CnoBa o nojiKy Mropeße" „Anmerkungen", no^epnHyTHMH B coitpameHHH H3 pyccKoro neqaTHoro H3AaHHfl 1805r.: Anmerkungen 1 I g o r S w ä t s l a w i t s c h , Fürst vom sewerischen Nowgorod, geboren 1151, gestorben 1201, sechszehn Jahre nach diesem Feldzuge.
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2 B o j a n mag ein bekannter Barde gewesen seyn, von dem aber die russischen Alterthumsforscher bisher eben so wenig wissen, wie von dem Verfasser dieser Igor-Epopee. 3 J a r o s l a w und M s t i s l a w zogen 1022 gegen die Kassogen, und der letztere erschlug denKassogerfürsten R a d a d im Zweykampfe. R o m a n , Fürst zu Kursk, fiel 1026 im Kriege gegen die Polowzer. 4 W l a d i m i r , höchst wahrscheinlich der damalige Großfürst von Kijew. Aber in diesem Gedichte ist nichts von seinen Thaten. Sollte nicht ein Theil desselben, wo W l a d i m i r s Thaten besungen wurden, verloren gegangen seyn? 5 P o l o w z e r , die damaligen Hauptfeinde Rußlands, waren aus dem Stamme der Tartarn, wohnten am Donfluß, wo jetzt die Donschen Kosaken, und konnten lange nicht unterjocht werden. 6 Diesen T r o j a n kennt die russische Geschichte gar nicht; auch ist er schwerlich der Kaiser T r a j a n , noch irgend ein Abkömmling aus T r o j a , wie die Kommentatoren meinen. 7 W e l e s war bey den noch heidnischen Slaven Gott der Herden, und zugleich wohl auch Patron der Barden, denen ja Fluren und Wälder heilig waren. B tom Hte 1817r. b wypHaJie „Morgenblatt für gebildete Stände" (J\? 299 ot 15 jjeKaßpH) 6tm 0ny6jiHK0BaH C. Po?KHaeM eine orhh 3HanHTejii.Hi.iii otphbok cthxotbopHoro nepeBOfla „CjiOBa o nojiKy I'IropeBe". Oh Ha3BaH „Igor. Ein altrussischer Heldengesang aus dem zwölften Jahrhundert" h HMeeT noasarcuiOBOK: „Igors Feldzug und Sieg". IlponiecKaH irÈCHb o noxoflis Ha nojioBiiOBi. yicfejibHaro K H H 3 H HoBaropona CiBepcKaro Mropn CBHTOcjiaBiiia . . . Co^HHeHHH H nepeBOßbi, H3flaBaeMHe Pocchhckoio Ana«eMHio HacTb I. CII6., 1805, c. 3 8 - 4 2 .
Morgenblatt für gebildete Stände. [Tübingen] 1817, Ns 299. 15 Dec. S. 1193-1194.
Igor. Ein altrussischer Heldengesang aus dem zwölften J a h r h u n d e r t . II. Igors Feldzug und Sieg. Komohh pwyTb 3a Cynoro ; 3BeHHTb cjiaBa bt> KneBi; T p y ß b i T p y Ö H T b bt> HoBerpajjlj; C T O H T b C T H 3 H BT. r i y T H B j r k ;
Hropb iKjjeTT. MHJia 6paTa BceBOJiOAa. H pene eMy Byti Typi. Bceßojio.n'b: OnilHT. ÖpaTT., OAHHT. CBÌjTT. CB"feTJIHH Tbl
Horch! die Rosse wiehern an der Sula 8 , Kriegsgebot erschallt in Kijews Mauern, Fahnen wehen vor Putiwle's Thoren, Und in Nowgorod Trompeten schmettern. I g o r harrt des vielgeliebten Bruders, „Tapfrer W s e w o l o d 9 , du theurer Bruder, Einzig helle Sonne deinem Igor!
r . H. MOHCEEBA, CaMysjib PoJKHait Mropio, 06a e c B i
CßHTiCJia-
bjihhh; cfe^.jiaii, öpaTe, CBOH 6pt3HH KOMOHH, a MOH TH r O T O B H , ocfeAJiaHH y
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K y p H H H CB-fe^OMH MeTH, h o ^ t .
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noBHTH, no,n'f> uieJioMH BisjiejiijHHH, KOHei;i> Konin BtCKopMJieHH, nyTH HMT. B^PtOMH, HpyrH HMT. 3HaeMH, JiyijH h hhxt. HanpHiKeHH, Tyjin OTBopeHH, caßjiH H3T>OCTpeHH, CaMH CKaiiOTb 8KH cfepHH BJIT.IJH bt> nojii;, Hinymi ceöe HTH, a KHH3K) CJiaBi. Tor^a BiCTynH Mropb KHH3b BT. 3JiaTT> CTpeMeHb, h no^xa no HHCTOMy nojno. C o j i f m c eMy tt.moio n y T b
3acTynaiue; Homb CTonymii e M y rpo3oio nTHHb y ö y a n ; CBHCTT. aB^pUHTj BT. CTa3ÖH; Ahbt. Kjmien> Bptxy #peBa, BejiHTb nocjiyinaTH 3eMJiH He3HaeM-fe, Bjn>3e,h, h no Mopiio h no Cyjiiio, h CypoHty, h Kopcymo, h TeSi T l m y t o p a k a h b c k h ii o.ntüaHT,.
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OpjIH KJieKTOMT. Ha KOCTH SB'i.pii 30ByTT>, jihchu;h öpeinyTT. Ha ipT>JieHbIH inHTbl.
901 Beyde sind wir Swätslaws brave Söhne. Sattle, Bruder, deine schnellen Rosse! Sieh, die meinen schnauben schon gewärtig, Und gesattelt stampfen sie vor Kursko. Meine Kursker, kundig jedes Wurfes, Unter Kriegstrompeten eingewindelt, In den Helmen eingewiegt, und männlich Unter Lanzenspitzen aufgewachsen, Rennen im Gefild, wie graue Wölfe. Aller Pfade, aller Graben kundig, Spannen sie schon ihren starken Bogen; Offen stehen ihre schweren Köcher, Und gewetzt sind ihre blanken Säbel, Für des Fürsten hohen Ruhm und Ehre!"
I g o r trat, der Fürst, in güldne Bügel, Jagte hin und her im freyen Felde. Doch der Nebel deckte rings mit Dunkel Seine Pfade; Schreckesvögel weckte Ihm das Nachtgraun, und des Wildes Heulen. Furchtbar heult der Diw 10 vom Eichengipfel;. Ihn vernimmt das ferne Land der Wolga Dort am Meer, und Sula's Schwesterströme ; Du auch, Tmutorakans schnöder Götze 11 .
Doch auf ungebahnten Wegen rennen Die P o l o w z e r hin zum blauen Donfluß; Und im Graun der Mitternacht erkreischen Ihre Wagen, gleich zerstreuten Schwänen. I g o r zieht zum Don mit seinen Scharen! Das Gevögel weidet sich im F l u g e Schon an seinem Elend; schon erwecken Wilde W ö l f e mit Geheul das Grauen; Adler laden mit Gekreisch das Wild her Auf die Knochen der gefallnen Helden; Füchse bellern an die rothen Schilde.
902 0 pyccKaa aesuie! y>Ke 3a menoMeHeMt ecu. ^ J l t r o . Ho^b MpKHGTT), 3apn CB^ÄTT) 3anajia, Mi>rjia nojia noKptuia, meKOTi> cjiaBiä ycne, roßopi> rajnmb yöyflii. P Y C H H H B E J I H K A N NOJIH
HpbJieHHMH mHTLI nperopo^Hina, iimyiw CESI l ITH, a KHFI3k> cnaBbi. CT> 3apaHin BT> N H T K T
noToirraiua noraiibm I U T L K H Ü0Ji0BeLi,KbiH; h paccyniHCb CTp'fejiaMH no nojiio, noM^ania KpaCHLIHfl-feBKHnOJIOBeqKHH, a CT. HHMH 3JiaTO, H naBOJIOKH, H AparHH OKCaMHTbi; OpbTl>MaMH H HnOUHHIiaMH, H KOJKyXH Ha^aiUH MOCTbl MOCTHTH IIO ÖOJIOTOMt H rpH3CBMMl> M'LcTOJVTB, H BCHKblMH y30p0HbH nojioBeu;KHMH. MpbJieHl CTHrb, S^uia xopiorBb, npbJieHa HOJiKa, cpeöpeHo CTpyatie xpaöpoMy CBHTCJiaBHHK).
Z. Slaw. 84 (1989) 6 Hinter S c h e l o m a n 1 2 sind Rußlands Söhne! Lange graut die Nacht, die Morgenröthe Zaudert mit dem holden Licht, der Nebel Deckt die Flur, der Nachtigallen Lieder Schlummern schon, es wacht das Kräh'n der Raben. Doch die Russen decken rings die Felder Schon mit rothen Schilden, muthig strebend Ehr' und Ruhm dem Fürsten zu erkämpfen. Freytag war es: und vom Morgen schlugen Sie die Scharen der Polowzerheiden, Und zerscheuchten die Polowzerscharen, Gleich den Pfeilen, durch das Schlachtgefilde. Da erkämpften sie die schönen Dirnen Der Polowzer, Gold und feine Stoffe; Und mit leichten Mänteln, und mit Pelzen Bauten sie sich Brücken über Sümpfe. Kostbar war die Beute dieses Sieges! Doch das Rothpanier, die weisse Fahne, Rothe Quasten, und der Schaft vom Silber, Ward dem I g o r , Swätslaws bravem Sohne.
Anmerkungen 8 S u l a , ein Fluss bey Tschernigow. Die genannten Städte waren Sitze der Fürsten, die Igorn mit Truppen unterstützten. Der Versammlungsplatz war bey K u r s k o , einer Stadt von Igors Fürstenthum. 9 W s e w o l o d Swätslawitsch, Igors jüngerer Bruder, zog mit diesem gegen die Polowzer. Unser Barde nennt ihn ob seiner Stärke den Au e r ; er war Fürst zu Tschernigow. 10 D i w , ein Unglücksvogel der altslawischen Mythologie. Die Etymologen können es nicht bestimmen, ob es der Uhu oder der Kibitz sey. 11 T m u t o r a k a n , ein russisches Fürstenthum, damals in der Gewalt der Polowzer: daher die Anspielung an das Heidenthum der Polowzer. 12 S c h e l o m e n war ein russisches Dorf an der Gränze des Polowzerlandes, welches Igor nun mit seinen Truppen betreten hatte. y®e nocjie oKoniamiH paöoTH Hafl STOH cxaTbeft, CTajio ii3BecTHo o TOM, HTO 10. TapHeii T. IIlTypM C H O B a y K a 3 a j i n H a Tpn HacTH nepeB0.ua „CjiOBa o n o j i K y Hropeße" Casiy-
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Morgenblatt für gebildete Stände. 1818, 36. 11. Febr. S. 141 — 142.
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c. 4 2 - 4 9 . Igor. III. Igors Niederlage. .UpeMJieTt BI> nojrh Ojitroßo xopoöp o e ra^AO Aanene 3ajieTi;,iio; HEßHJIOH'B O ß H ^ I
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Dort im Felde schlummere Olegs 1 3 Enkel, Weit geflogen! aber nicht zum Unheil Sonst geboren, nicht zum R a u b dem Falken, Nicht dem Geyer, nicht auch dir zum Raube, Schwarzer Rabe, du Polowzerheide! Sieh! K s a k rennt schon, gleich dem grauen Wolfe; K o n t s c h a k 1 4 bahnt die Spur zum großen Donfluß. Blut verkündet früh des andern Tages Morgenröthe; schwarze Hagelwolken Steigen aus dem Meere; düstre Wolken Decken schon die hehren Sonnen Rußlands. Helle Blitze zittern aus den Wolken, Donner krachen aus den schwarzen Wolken, Pfeile regnen her vom großen Donfluß. Da begann das grause Lanzenbrechen; Säbel prallen ab von Heidenhelmen Dort bey großem Don am Fluß Kojaka. Nimmer steht ihr hinter Schelomany, Rußlands Söhne! S t r i b o g s Brut, die Winde, 15 Wehen Pfeile auf die Schaaren Igors,
J. H a r n e y — G. S t u r m , Zur Igorlied-Rezeption im deutschsprachigen Baum und bei den Sorben. - ZfSl 33 (1988), c. 2 7 2 - 2 8 6 . Z. Slawistik, B d . 34, H . 6
Z. Slaw. 34 (1989) 6
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Furchtbar bebt die Erd', die Flüsse rinnen Trüb' und trüber, Staub bedeckt die Felder, Und die Fahnen rauschen schon Verderben. Die Polowzer rennen her vom Donfluß und vom Meere, und von allen Seiten Stehn unirungen Rußlands kühne Scharen. Teufelskinder brüllen auf den Feldern; Fruchtlos schanzen nun die tapfern Russen Ihre rothen Schilde auf dem Felde. Du nur, tapfrer W s e w o l o d ! du stehest In der Schlacht, und sprühest herbe Pfeile Auf das Heer, und donnerst mit dem Schwerte Auf die Helme der Polowzerheiden. Wo der Held mit Löwenkraft sich wendet, Und mit seinem goldnen Helme leuchtet, Ha! da liegen schon Polowzerköpfe, Liegen die vom Schwert gespaltnen Helme, Rings vor dir, o Wsewolod, du Auer! Welche Bahn zu Wunden, edler Bruder! Nicht gedenkt er seines Ruhms und Lebens, Nicht auch Tschernigows, nicht jenes güldnen Vatersitzes, nicht der holden Reize Seiner Braut G l e b o w n a , 1 6 der Geliebten! IV. B l i c k e in die V o r z e i t .
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Traun! es gab auch Zeiten T r o j a n s . Strahlend Schwebten einst J a r o s l a w s 1 7 Herrscherjahre; Männlich blühten O l e g s tapfre Scharen, Olegs, des erlauchten Swätslawitschen. Diesem schmiedete das Schwert nur Fehden, Und er sprühte rings im Reich mit Pfeilen. Muthig trat er in den güldnen Bügel Tmutorokans; seinem Ruf gehorchte
905
T . H . MOHCEEBA, C a M y a j i b P o f K H a ö
Gern J a r o s l a w , WsewolodsEntsprossner. W l a d i m i r verstopfte jeden Morgen, Trotzend, sich in Tschernigow die Ohren. Eopnca cyAt
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Doch den Boris 18 , Swätslaws kühnen Sprößling, Führte einst der Ruf zum Hochgerichte: Und er breitet' eine grüne Decke Auf der Pferdehaut, die Schmähung Olegs, Dieses jungen Fürsten, widerlegend. Selbst von dieser Kojala nach Kijew Heischte S w ä t o p o l k den Vater ziehen Durch die Reihen ungarischer Reiter. Damals sä'te O l e g Gorislawitsch, Und es wuchs empor das Fehdenalter. Und zu Grunde ging der Kinder D a s c h bogs 19 hehres Leben, und der Fürsten Fehden Rafften hin der Menschen rasches Alter. Selten jauchzten auf den Fluren Rußlands Ackersleute; ringsum krächzten Raben, Sich die Leichen der Erschlagnen theilend; Und die Krähen kreischten ihr Geschwätze, Um den Fraß der Leichen gierig flatternd Also war's zur Zeit der Fürstenfehden. So die Zeiten jener Kriegsgefahren. Doch von solcher Schlacht war nichts zu hören. Denn vom Morgen bis zum Abend flogen, Und vom Abend bis zur Morgenröthe, Immer flogen zischend herbe Pfeile. Schwerte donnerten auf Helmenkuppeln, Lanzen krachten auf den fernen Fluren Im Polowzerlande; blutumflossen Und bedeckt mit Heldenknochen, dröhnte Unter Hufen rings die schwarze Erde. Elend ging einher auf Rußlands Boden.
Anmerkungen. 13 Igor und Wsewolod beyde O l e g s Enkel. O l e g war Fürst von Tmutorakan und Murom. 14 K s a k und K o n t s c h a k waren Heerführer der Polowzer, die jetzt mit verstärkten Kräften I g o r n überfielen, und ihm unvermuthet eine Niederlage beybrachten. 8*
Z. Slaw. 34 (1989) 6
906
15 S t r i b o g , nach der Annahme slavischer Alterthumsforscher, Gott der Winde und Stürme. 16 G l e b o w n a , Tochter des Fürsten G l e b Jurawitsch von Perejaslaw, Gemahlinn des Fürsten W s e w o l o d Swätslawitsch. 17 J a r o s l a w s 35jährige Regierung war eine der glücklichsten in Rußland; Oleg hingegen, Fürst von Tmutorakan, führte beständige Fehden; vereinigte sich mit dem Fürsten J a r o s l a w , und vertrieb den widerspenstigen Fürst W l a d i m i r aus Tschernigow anno 1094. 18 Ueber diesen B o r i s kann man selbst aus Nestors Geschichte kein Licht gewinnen; eben so wenig über den S w ä t o p o l k und den andern Oleg; sie werden hier als kriegerische Fürsten angeführt zur Beleuchtung. 19 D a s c h b o g , ein altslawischer Götze, Geber des Glücks und Segens; daher alle glücklichen Menschen seine Kinder. IlpoH'iecKafl: irfccHb o n o x o ß ' k Ha nojioBiiOBi. . . . Hopn CBHTOcjiaBjmraa. CoHHHemiH H nepeBojjH, H3j(aBaeMi>ie P O C C H H C K O K ) A K A ß E M N E I O . CI16., 1805. c. 4 9 - 5 3 .
Morgenblatt für gebildete Stände. 1818, J\° 37. 12. Febr. S. 145—146. Ig°rV Igors Gefangennehmung.
'-ITO MH myMHTb, ITO MH 3BeHHTb ÄaBe^H paHO npe^i. 3opHMH? Mropb njiiKHE 3aBopoiaeTT> ; Hiajib 6o eMy M H J i a ßpaTa BceB0Ji0,na. Enuiacn AßHb, ÓHiuacH apyrofi: TpeTbHro JJHH K I nojiy^HiK) na^oiua C T H 3 H Mropeßbi. Ty CH öpaTa pasjiyHHCTa Ha 6pe3"fe 6 H C T poft KaHJiH. Ty KpoBaBaro BHHa HejjocTa; Ty n n p i «OKOHiama xpaßpin PycnHH: CBaTH nononina, a caMH nojieroma 3a 3eMJiio PycKyio.
Ha! was graust mich an? was tönt so gräßlich Mir so frühe vor der Morgenröthe? I g o r lenkt zurück die tapfern Scharen, Denn ihn dauert W s e w o l o d s , des Bruders. Und sie kämpfen noch den Kampf des Tages, Kämpfen ihn noch auch des zweyten Tages. Doch zur Mittagszeit des dritten Tages Sinken schon die hohen Fahnen I g o r s . Sieh, da trennen sich die theuren Brüder An der reißenden Kojala Ufern. Hier gebrach's an blutigrothem Weine, Hier verging der Schmaus der tapfern Russen. Ihre Swaten zechten froh zu Hause; Doch sie lagen da für Rußlands Ehre.
HniHTb TpaBa jKanomaMH, a « p e -
Traurend senkt das Gras vor Leid sich nieder, Bäume neigen sich vor Gram zur Erde. Nun erwachten jammervolle Zeiten! Wilde Horden deckten rings die Fluren;
BO C T y r o i o K L 3EMJIH N P E K J I O H H J I O C B .
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^asKb-EoJKa BHyKa. BcTynHjri. ^-feBOK) Ha 3eMJiio TpoHHio, BicnjiecKajia jießeflnHBLMH
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y c o ö i i q a KHH3eMT. Ha noraHHH nornÖe, penocTa 60 ßpaTTb ßpaTy: ce Moe, a TO Moewe; H HaHHina K H H 3 H npo Majioe, ce Bejiimoe M J I I B H T H , a caMH Ha ceSi KpaMOJiy K O B a r a .
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907 Aufruhr tobte frech in Daschbogs Reichen. Gleich der Jungfrau trat er auf im Lande, Schwang sich dann auf grassen Schwanenflügeln, Flog vom großen Don zum blauen Meere, Und erweckte hungervolle Tage. Nimmer fochten Fürsten gegen Heiden; Bruder nahm dem Bruder weg das Seine. So begannen die bethörten Fürsten Sich zu hetzen und Aufruhr zu schmieden. Doch im Siegestaumel zog der Heiden Schar auf Rußlands Flur von allen Seiten. O zu weit entflog der kühne Falke! Niemand wird nun I g o r s Schar erretten! S c h l a und K a r n a 2 0 brüllen ihm im Rücken, Toben schon auf Rußlands schönen Fluren, Des Verderbens Brand um sich verbreitend. Rußlands Weiber weinen laut und sagen: „ N i m m e r sehn wir unsre lieben Männer! Gold und Silber müssen wir verlieren!" K i j e w stöhnt vor K u m m e r , und vor Unheil Zittert Tschernigow in seinen Mauern. Angst durchzuckt das tiefgebeugte Rußland, Elend strömt einher durch seine Fluren, Und die Fürsten schmieden selbst den Aufruhr, Doch die Heiden jagten triumphirend Hin auf R u ß l a n d ; nahmen schwere Gaben, Ein Eichhörnchen von jedwedem Hofe. A c h ! die beyden tapfern Swätslawitschen, W s e w o l o d und I g o r , sie erweckten Jammertage, die ihr Vater S w ä t s l a w 2 1 , Der erhabne Großfürst eingeschläfert. E r erweckte Grauen: zog von K i j e w I n das Land der heidnischen Polowzer K ü h n mit Scharen, daß die Säbel blitzten. Hügel trat der Fürst und Wälle nieder, T r ü b t e Flüsse rings und weite Seen, Trocknete die F l u t der B ä c h ' und Sümpfe. E r entriß dem K o b a c k , jenem Heiden,
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Z. Slaw. 34 (1989) 6
MOpH OTT> HiejffeSHHXI. BGJTHKHX'b nJltKOBTi ÜOJIOBeilKHXl, HKO BHXpb BEJTOpHiC' H NA«ecH KO6HKT> BI R P A ^ I K I E ß I , BT> rpiI^HITIjij CBHTbCJiaBJIH.
Und den eisernen Polowzerscharen, Gleich dem Sturmwind, ihres Meeres Hafen. Und es fiel der übermüth'ge K o b a c k Dort auf Swätslaws Burg in Kijews Mauern.
Ty HijMqH h BeHeaHqw, Ty Tpeiin h Mopaßa noioTT» cnaBy CßHTicjiaBJiio, KaioTb Khh3h Hropn, nwe norpy3n JKHpT, BO AHi KaHJIH piKH IIoJIOBeiJKifT, PycKaro 3JiaTa HacHnama. T y Mropb KHH3b BHcfefli H3i> c-iifljia 3JiaTa, a bt> efefljio K o m i e ß o ; yHHina 6o rpal(omt> 3a6pajiu, a Becejiie noHiine.
Sieh, da sangen Deutsche und Veneter, Sangen Griechen und die fernen Mährer Den erhabnen Ruhm des Fürsten S w ä t slaw, Und beklagten I g o r s Fall, der muthig An Kojala's Ufern seine Scharen Hingeschlachtet, und das Gold von Rußland Am Polowzerstrome hingeschüttet. Jetzt entschwang sich I g o r seinem Sattel, Ach! und schwang sich auf den Sattel Kontschacks, 2 2 Da entsank der Muth den Städten Rußlands, Und im Land umher verschwand die Freude.
Anmerkungen. 20 Schla und K a r n a , Anführer polowzischer Horden, die nach Igors Niederlage Rußland verheerten. 21 S w ä t s l a w , Igors und Wsewolods Vater, zog ein Jahr früher, als seine Söhne, gegen die Polowzer, schlug 1184 den Polowzer-Anführer K o b a c k , und nahm ihn und seine Söhne nach Kijew gefangen. ' 22 I g o r schwang sich auf den Sattel K o n t s c h a c k s , das ist, er ward von dem Anführer der Polowzer, K o n t s c h a c k , in die Gefangenschaft abgeführt. 06 onyßjiHKOBaHHOli b TroßimreHCKOM üsypHajie „Morgenblatt für gebildete Stände", (1812, A1» 202) aHOHHMHOH peiieH3MH Ha neivieijKHH nepeBoa „CjioBa o n o j i K y Mropeße" H. Miojuiepa 1811r. h cthxotbophhh nepeBO,n; Ha HeMeijKHft h3hk „Fljiaia HpocjiaBHu" cooßinnji N. H. EepKOB8. Oh nacait: ,,Kto 6bra nepeBOHHHK, ycTaHOBHTb He yjjajiocb. M 3to TeM ßojiee Htajib, hto hm 6bijih 0ny6jiHK0BaHti eme flBa OTpHBKa H3 3Toro nepeBOAa b TOM ^ e caMOM HiypHajie (X«X . . . H r o p a
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R. B r t a n , Neznämy prekladatel' Igora. - Slavia. Roc. X X X V I I I . Ses. 2. Praha, 1969, c. 241. R. B r t a n , Neznamy prekladatel' Igora, c. 233. HwcbMa floßpoBCKoro h Konmapa b C0BpeMeHH0M nopnflKe. Tpyn H. B. H r w i a . CII6., 1885, c. 7 4 . Knihovna Närodniho muzea v Praze. 76. D. 44.
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Z. Slaw. 84 (1989) 6 CBOHMH yncHHKciMH V i . ,H,o6poBCKHH «ejiHJiCH ,,hej e n o m p o d a n i m p r a v e n e k n i h y ,
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Slovo o pluku Igoreve. Rusky text y transkripci, eesky preklad a vyklady Josefa J u n g m a n n a z r. 1810. V Praze, 1932, c. 19. F. H. M o w c e e ß a — M. M. K p 6 e i j , Ho3ei|) ^oöpoBCKHil M POCCHH (IlaMHTiiiiKH pyccKOit K y j i b T y p b i X I — X V I I I BENOB B M3YMEHHH qemcKoro CNABMCTA) (HAXOAWTCH B n e q a T i i ) . Vzäjemne dopisy Vaclava Hanky a Josefa Dobrovskeho. Podäva, A. Y . V r t ä t k o . — Casopis ceskeho musea, t. 44. Prag, 1870, c. 326 — 327.
Z. Slaw. 34 (1989) 6, S. 9 1 1 - 9 1 7
K. G u t s c h m i d t
Vatroslav Jagic als Bohemist Im vergangenen Jahr gedachten die Slawisten der 150. Wiederkehr des Geburtstages zweier Gelehrter, die durch ihr tieflotendes und faktenreiches Werk wesentlich an dem Fundament mitgebaut haben, auf dem die slawische Philologie auch heute steht. Es sind dies Vatroslav Jagic und J a n Gebauer. Besonderen Anlaß zu ihrer Würdigung hatten auch die Berliner Slawisten: V. Jagic war der erste Inhaber des 1874 errichteten Lehrstuhls für slawische Philologie an der damaligen Friedrich-Wilhelms-Universität; während seiner Berliner Zeit stand er in lebhaften Beziehungen zu seinem Prager Kollegen J a n Gebauer, der auch als sein Nachfolger im Gespräch war. Jagic war der bedeutendste Paläoslawist nach Josef Dobrovsky; wir verdanken ihm die Editionen einiger wichtiger altbulgarischer Denkmäler wie des Codex Zographensis und des Codex Marianus, die noch nicht ersetzt sind. Jagic leistete Entscheidendes bei der Klärung der historisch-philologischen Probleme des Werks der Slawenlehrer Konstantin-Kyrill und Method und der Heimat der ältesten slawischen Kultursprache, des Altbulgarischen/Altslawischen. Im Bewußtsein der Slawisten lebt Jagic' als überragender Wissenschaftsorganisator im letzten Viertel des 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts, als Lehrer zahlreicher bedeutender Philologen und als Begründer und jahrzehntelanger Herausgeber des „Archivs für slavische Philologie", das seit 1875 in Berlin erschien. Jagic' Nachfolger auf der Wiener Lehrkanzel, N. S. Trubetzkoy, bezeichnete das „Archiv" zu Recht als „sein wohl allerwichtigstes Unternehmen" 1 . Das Jagic-Jubiläum war aber auch Anlaß, uns seine mitunter weniger beachteten Leistungen, insbesondere in der vergleichenden slawischen Sprachwissenschaft und im Bereich der Erforschung einzelner slawischer Sprachen und Literaturen, wieder ins Gedächtnis zu rufen. Im folgenden sollen einige Bemerkungen zu Jagic' bohemistischen Publikationen gemacht werden. Bereits 1938 meinte Milos Weingart in einem Gedenkartikel anläßlich der 100. Wiederkehr von Jagic' Geburtstag, daß die Bohemistik allen Grund habe, seiner in Dankbarkeit zu gedenken 2 . Josef Kurz teilte in einer Studie über die Beziehungen Jagic' zur tschechischen Slawistik mit, daß dieser sich schon in seiner Zagreber Zeit, also in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts, für die tschechische Sprache und die tschechische Philologie interessiert hätte. Wichtige Anregungen seien von seinem tschechischen Kollegen am Zagreber Gymnasium Frantisek Branislav Korinek ausgegangen (Jagic berichtet in seinen „Spomeni" mehrfach über spätere 1
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N. S. T r u b e t z k o y , Opera Slavica Minora Linguistica, Wien 1988, S. 197 (Aus dem Nachruf für Jagic). Hier die betreffende Stelle im Wortlaut: „A také bohemistika, ackoli obor ceskych véci nestäl v prvni rade Jagicovych praci, ma vsechny pficiny, aby Jagice vzpominala s vdécnosti: ve svém nejvlastnéjsim oboru, totiz v pracich o pamätkäch hlaholskych, ukazal Jagic na düleiitost velkomoravské periody pro pocätky nasi kultury, ve svém pamatném vydäni „Glagolitica" prirkl s definitivni platnosti vznik Kyjevskych listu uzemi jazyka ceskoslovenského, a touto thesi nemohly otrasti zàdné z pozdéjsich, leckdy zmatenych domnének, vydal a objasnil „kirchenslavisch-böhmische Glossen saec. X I — XII." (Viden 1903) a za prudkého vzplanuti boje rukopisného propùjcil svùj Archiv Masarykovi a Gebauerovi, uvefejniv jejich studie o RKZ v X. roc. 1887. ¿e i jinak byl Jagic mravni oporou Gebauerovi v tézkych dobach, vime i ze vzpominek Marie Gebauerové"; vgl. M. Weingart, ¡Sedesàtpèt let védecké prace. Ke stam narozeninäm Vatroslava Jagice, in: Casopis pro moderni filologii 24 (1938), S. 5 des S.-A.
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Z. Slaw. 34 (1989) 6
Begegnungen mit dem Freund Korinek in P r a g — K. G.). „Schon zu Anfang der 60er J a h r e referierte Jagic in der kroatischen Zeitschrift ,Knjizevnik' auch über tschechische Publikationen und bekannte sich dabei zur Bedeutung der Idee der slawischen Wechselseitigkeit, die in Böhmen formuliert worden war." 3 Jagic' bohemistische Interessen und Kenntnisse spiegeln sich auch im „Archiv f ü r slavische Philologie" deutlich wider. I n den Bänden 1 — 37 finden wir ca. 35 einschlägige Publikationen, ganz überwiegend Besprechungen, Anzeigen und Zusätze zu Arbeiten tschechischer Autoren. J . Kurz schreibt d a z u : „ J a g i c selbst gab d a n n der tschechischen philologischen Arbeit viele Anregungen: er referierte fleißig über bohemistische Publikationen und schrieb sogar über neueste tschechische und slowakische Belletristik" 4 . Jagic' vorzugsweise referierende Publikationstätigkeit erstreckte sich vor allem auf folgende Themen: — alte tschechische Literatur- und Sprachdenkmäler und Fragen ihrer Edition und Erforschung 5 (Nr. 1, 2, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 18, 20, 22, 27, 30, 31); — tschechische Sprache der Gegenwart und tschechische Sprachgeschichte (Nr. 4, 14, 17, 23, 24, 25); — tschechische Mundartkunde, Lexikographie und Namenforschung (Nr. 15, 26, 28; 3; 16). Zwei Gesichtspunkte dominieren in diesen Veröffentlichungen: 1. der Streit u m die Echtheit der Grünberger und der Königinhofer Handschrift (weiterhin R K Z ) — Jagic gehörte von Anfang an zu den Gegnern der Authentizität dieser „ D e n k m ä l e r " ; 2. die Bestätigung der Richtigkeit des von J . Gebauer eingeschlagenen Weges der minutiösen Erforschung des Alttschechischen. Jagic' bohemistische Publikationen sind nie lediglich referierende, den Inhalt wiedergebende Besprechungen und Anzeigen. Auch wenn sie nicht immer grundsätzliche theoretisch-methodologische Auseinandersetzungen mit dem S t a n d p u n k t des Verfassers und eine kritische Sichtung der F a k t e n enthalten — und nicht alle besprochenen Schriften geben dazu die Möglichkeit —, so bergen sie doch stets originelle Ideen und Beobachtungen, die m a n meist auch heute mit Gewinn zur Kenntnis nimmt. Dies ist um so bemerkenswerter, da Jagic ja gleichzeitig über zahlreiche weitere Neuerscheinungen aus allen Bereichen der slawischen Philologie berichtete. 3
4 5
J. K u r z , V. Jagic und die tschechische Slawistik, in: Beiträge zur Geschichte der Slawistik, Bln. 1964, S. 5. Den Angaben in den Verzeichnissen der Schriften Jagic' ist zu entnehmen, daß er in der genannten Zeitschrift P. J. Safariks „Geschichte der südslavischen Literatur I. Slowenisches und glagolitisches Schrifttum", Prag 1864, und K. J. Erbens „Slovanskä citanka", Prag 1865, besprochen sowie eine Übersetzving des Berichts von J. Kollär über dessen Reise nach Moskau veröffentlicht hat. Es handelt sich somit noch nicht um bohemistische Publikationen. In der Rezension zum Erbenschen Lesebuch slawischer Märchen und Sagen findet sich neben der Würdigung der Idee der slawischen (literarischen) Wechselseitigkeit auch ein Lob des tschechischen Volkes, das zwar nicht das größte und mächtigste unter den Slawen, aber das geistig am meisten entwickelte und fortgeschrittene sei, vgl. V. J a g i c , Izabrani kraci spisi, Zagreb 1948, S. 456. J. K u r z , op. cit., S. 6. Die Nr. beziehen sich auf das als Anhang beigefügte Verzeichnis der bohemistischen Veröffentlichungen Jagic' im „Archiv". — Gebauers Edition des Wittenberger Psalters wurde maßgeblich durch die Hilfe Jagic' ermöglicht. Der damalige Berliner Ordinarius für slawische Philologie hielt sich Ende Juli 1878 in Wittenberg auf und erwirkte, daß die Handschrift nach Berlin geschickt wurde, wo sie Gebauer im Januar 1879 als Gast Jagic' studieren konnte, vgl. V. J a g i c , Spomeni mojega äivota. I. Beograd 1930, S. 335.
K. GÜTSCHMIDT, Jagic als Bohemist
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Beeindruckend sind Jagic' Kenntnisse der bohemistischen F a k t e n und der Literatur. So nimmt er z. B. in der Besprechung des ersten Teils der „Dialektologie m o r a v s k ä " von Fr. Bartos (Nr. 15) einen ausführlichen Vergleich der dort gebotenen Klassifizierung der ostmährischen Mundarten mit der Einteilung in A. V. Semberas „Zakladove dialektologie ceskoslovenske" (1864) vor. Von besonderer Wichtigkeit ist jedoch, daß Jagic auch in seinen Rezensionen und Referaten oft grundsätzliche methodologische Fragen stellt. Der Streit u m die R K Z und die Problematik der Echtheit anderer tschechischer Handschriften waren ihm Anlaß zur Akzentuierung der speziellen Aufgaben u n d Möglichkeiten der Philologie. 1879 würdigt er in einem Aufsatz über die Fälschungen in der Mater Verborum (Nr. 5), der auf einer umfangreichen Publikation der tschechischen Gelehrten Anton B a u m und Adolf P a t e r a beruht, die paläographischen und kunsthistorischen Beweisgründe, die die Verfasser gegen die Echtheit eines großen Teils der Glossen in der Handschrift ins Feld führen, vermißt aber einen philologischlinguistischen Nachweis, daß es sich u m Fälschungen handelt (S. 120). Jagic macht darauf aufmerksam, daß der Fälscher Verstöße gegen die „formale und lautliche Seite" des Tschechischen begangen hat. „U'nd das glaub ich, läßt sich an einigen Beispielen nachweisen. Ich will diesen Beweis liefern" (S. 121). Zu diesen Beispielen gehören u. a. hyperkorrekte bzw. hyperarchaische Stammformen von Substantiven sowie Lexeme, „die im Russischen als alltägliche Wörter leben, fürs Cechische aber gänzlich unbelegt bleiben" (S. 123). Von hier aus führt eine gerade Linie zu J . Gebauers philologischlinguistischem Beweis der „Unechtheit der Königinhofer und Grüneberger H a n d s c h r i f t " 6 . Am E n d e des ersten Teils seines berühmten Aufsatzes erklärt Gebauer: „Die Sprache der K . und G. H . reicht vollkommen hin, diese beiden Texte als unecht nachzuweisen . . . und H a n k a als den Urheber oder Miturheber ihrer altböhmischen Einkleidung zu bezeichnen" (S. 569). Die Altersgenossen Jagic und Gebauer unterhielten seit 1871 recht enge wissenschaftliche und persönliche K o n t a k t e . Th. Syllaba weist darauf hin, d a ß die beiden Gelehrten seit 1875 ständig ihre Ansichten über die R K Z austauschten 7 . Jagic äußerte die Überzeugung, daß es sich um Fälschungen handele, wesentlich f r ü h e r als Gebauer 8 , wobei er als entscheidendes Argument immer wieder die Sprache der Texte a n f ü h r t e . In seinem 1886, ein J a h r vor den entscheidenden Aufsätzen J . Gebauers und T. G. Masaryks, erschienenen polemischen Artikel „Philologie und Patriotismus" (Nr. 11) heißt es: „Unsere Pflicht ist es zunächst, von den möglichen oder unmöglichen Resultaten der chemischen und paläographischen Untersuchung abzusehen u n d die Sprache der K . H . als solche zu p r ü f e n " (S. 338). Weiterhin werden Beispiele der „tendenziös vielen Archaismen" angeführt, weiterhin „schon halb u n d halb falsche, d. h. gegen die Lautgesetze der altböhmischen Sprache verstossende", „wenn auch hie und da nachweisbare F o r m e n " , „viele Verkehrtheiten in der Anwendung der Imperfectformen statt des Aorists, des Präs. his. statt des Aorists"; es ist die Rede von „curiosen Erscheinungen" in Wortbildung und Syntax (S. 340). Jagic drängt seinen tschechischen
6
J. G e b a u e r , Unechtheit der Königinhofer und Grüneberger Handschrift, in: AfslPh 10 (1887), S. 4 9 6 - 5 6 9 ; 11 (1888), S. 1 - 3 9 ; 1 6 1 - 1 8 8 . ' Th. S y l l a b a , Jan Gebauer, Praha 1986, S. 128f. 8 vgl. in Nr. 7: „was Tomek, Feifalik, Jirecek, Gebauer bezüglich des Inhalts, Sembera, Vasek bezüglich der Sprache geschrieben haben (nicht immer gegen die K. H.), das reicht für den, der kritisch zusammenzufassen versteht aus, für den ergibt sich die Unechtheit der K. H. so zu sagen von selbst" (S. 175).
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Z. Slaw. 34 (1989) 6
Fachgenossen zu entschiedenem A u f t r e t e n : „Prof. Gebauer k a n n sich doch unmöglich verhehlen, daß wo in einem verhältnismässig nicht umfangreichen Texte Ungereimtheiten aller Kategorien (nach L a u t e n und Formen, nach Wort- und Satzbildung) recht zahlreich vertreten sind, die sprachliche Echtheit eines solchen Denkmals durch keine Ausreden aufrecht erhalten werden k a n n . " (S. 340) Der Handschriftenstreit wurde zwischen 1886—1888 zumindest wissenschaftlich zuungunsten der R K Z entschieden, aber immerhin m u ß t e J a g i c noch 1912 kritische Stellung gegen Verfechter ihrer Echtheit beziehen (Nr. 30, 31). Jagic betonte in der Auseinandersetzung u m die R K Z das P r i m a t linguistischer Methoden bei der Bestimmung des Alters oder der Feststellung der Authentizität von Texten, wodurch er die Autonomie der Philologie verteidigt. Neben den bewährten textkritischen Methoden der klassischen Philologie bedient er sich der Methoden aus dem Arsenal der fortgeschrittensten sprachwissenschaftlichen Schule seiner Zeit — der J u n g g r a m m a t i k e r . Das zeigt die Benutzung des Begriffs der Lautgesetze nicht nur in dem genannten polemischen Artikel, sondern schon 10 J a h r e zuvor in der Besprechung von Gebauers „Uvedeni do mluvnice ceske" (Nr. 4) 9 . Die Anwendung der junggrammatischen Prinzipien und ihres Begriffsapparates wird in Jagic' Vortrag über Q u a n t i t ä t und Betonung in den slawischen Sprachen deutlich, der im gleichen J a h r wie der erste Band von Gebauers monumentaler historischer Grammatik des Tschechischen veröffentlicht wurde 10 . I n diesem Vortrag wird zum ersten Mal eine sprachvergleichend begründete Erklärung f ü r das Auftreten kurzer und langer Vokale in tschechischen Wörtern mit der ursprünglichen Lautfolge tort, tolt usw. gegeben (also hrad, vlas, vran, aber vräna, bläto usw.) Nach Jagic „stellt sich nämlich als G e s e t z (von mir gesperrt — K. G.) heraus: a) dass töro = serb. trä im cechischen ein kurzes trä gibt, weil die cechische Sprache die s c h l e i f e n d e Länge verloren h a t ; und b) das torö = cech. trä (d. h. langes trä) im Serbischen trä (d. h. kurzes betontes tra) abgiebt, weil die serbische Sprache die g e s t o s s e n e Länge (der ursprünglich langen Silbe) verloren, während das cechische hier die Länge gerettet" 1 1 . Fälle wie strana, hlava, brada (statt der zu erwartenden sträna, hldva, brdda) stellten Verallgemeinerungen der Formen des Akkusativs und Vokativs Sing, (sowie des Nominativs, Akkusativs und Vokativs Plur.) dar, in denen der kurze Vokal lautgerecht ist — sie sind also ein Ergebnis der Wirkung der Analogie. Schließlich erblickt Jagic den Grund f ü r die Wirkung des entdeckten Gesetzes in unterschiedlichen Tendenzen des Tschechischen und Serbokroatischen : „Der (!) Grund des Abgangs einer schleifenden Länge im Böhmischen und einer gestossenen Länge im Serbischen erblickt der Referent in der prinzipiellen Neigung des Böhmischen zu gestossenen Längen und des Serbischen zu musikalischer (!) schleifenden Längen. J e d e u n b e t o n t e Länge wird nämlich im Serbischen schleifend, im Böhmischen gestossen ausgesprochen" 1 2 . Jagic beweist in seinen Rezensionen eine erstaunliche Kenntnis von sprachlichen Details und ihrem Auftreten in den Handschriften,
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Jagic warnt vor zu reichlicher Anführung von Besonderheiten aus den Mundarten, denn sonst bestünde die Gefahr, daß der Lernende vor Lautvorgängen die Lautgesetze übersieht (Nr. 4, S. 693). Zur Wiener Philologenversammlung. Vortrag von Hrn. H o f r a t Jagic, in: Anzeiger f ü r indogermanische Sprach- und Altertumskunde 3 (1894), S. 251—254. ebd., S. 2 5 2 - 2 5 3 . ebd., S. 254.
K. GUTSCHMIDT, Jagic als Bohemist
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urteilt also durchaus nicht nur von der Position eines methodologisch versierten, aber mit den einzelsprachlichen K o n k r e t a nicht vertrauten Linguisten. Das wird besonders in seiner ausführlichen Besprechung des ersten Bandes der Gebauerschen historischen Grammatik des Tschechischen deutlich (Nr. 24). E s handelt sich u m die tiefgründige Diskussion einiger Hauptprobleme der historischen Lautlehre des Tschechischen, insbesondere der Palatalitätskorrelation, des Schicksals des vorderen Nasalvokals g und des Umlauts. Interessant ist, daß Jagic, dessen N a m e n wir vor allem mit der Erforschung und kritischen Edition slawischer Denkmäler verbinden, die durch den Forschungsstand bedingte spärliche Heranziehung von Dialektmaterial beklagte 13 . I n der Besprechung zeigt sich die junggrammatische Denkweise J a g i c ' durchaus; er verlangt z. B. „Unser Bestreben m u ß dahin gerichtet sein, die Zahl der Fälle, wo wir f ü r einen lautlichen Ubergang keinen Grund angeben können, möglichst zu beschränken" (S. 527) — er warnt aber auch davor, der Sprache eine Zwangsjacke anzuziehen und fordert, ihr „einige Freiheit der Bewegung" zu gönnen (S. 516). Weil Jagic in theoretisch-methodologischer Hinsicht auf der Höhe seiner Zeit stand und die einzelsprachlichen D a t e n kompetent beurteilen konnte, vermochte er es, die überragende Bedeutung des Werks von J a n Gebauer f ü r die tschechische Philologie schon sehr f r ü h zu erkennen. 1886 urteilte er wie folgt: „ D a m u ß ich gleich die großen Verdienste Prof. J . Gebauers hervorheben, der seit mehr als einem Decennium diese Aufgabe, nämlich die allseitige Durchforstung der altböhmischen Sprache, ganz auf seinen Schultern trägt. Unsere Zeitschrift hat zu wiederholten Malen auf die vielen ebenso genauen wie gewissenhaften Detailforschungen Gebauer's auf dem Gebiet der altböhm. Sprache mit voller Billigung seiner H a u p t r e s u l t a t e hingewiesen (vgl. Archiv I I I . 731. IV. 153. 697. 718. V. 432. 473. 484.669. V I I . 675)" (Nr. 11, S. 336). Die bohemistischen Beschäftigungen Jagic' ordnen sich immer in seine Bemühungen auf dem Feld des Altbulgarischen/Altslawischen (von ihm zunächst noch „Altslowenisch" genannt) und der vergleichenden slawischen Sprachwissenschaft ein. So hebt er in der Besprechung von zwei Studien Gebauers zur Entwicklung der Deklination im Tschechischen (Nr. 14) als eine grundlegende Konstituente der Methode Gebauers „die gewissenhafte Vergleichung der altslovenischen und wo angezeigt [...] der übrigen slavischen Sprachformen" hervor (S. 209). I n seinem Nachruf auf Gebauer (Nr. 29) bedauerte er allerdings, daß dieser die vergleichende Betrachtungsweise etwas außer acht gelassen habe. Jagic selbst m a c h t in seinen Besprechungen auf alttschechisch-„altslovenische" Parallelen aufmerksam, z. B. in der Rezension der Edition des Wittenberger Psalters (Nr. 8). I n der kritischen Auseinandersetzung mit H a t t a l a s Transkription der alttschechischen Alexanderfragmente, die den Unterschied zwischen primärem e und sekundärem 'e (als Vertreter der „altsloven." Laute e, j