Zeitschrift für Psychologie: Band 191, Heft 3 1983 [Reprint 2021 ed.]
 9783112469842, 9783112469835

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ISSN 0044-3409 . Z. Psychol. • Leipzig • 191 (1983) 3 • S. 2 3 3 - 3 4 0

ZEITSCHRIFT FÜR

PSYCHOLOGIE mit Zeitschrift für angewandte Psychologie

Schriftleitung Friedhart Klix, Berlin • Hans-Dieter Schmidt, Berlin • Hubert Sydow, Berlin Redaktion:

Jürgen Mehl, Berlin • Friedrich Kukla, Berlin

Unter Mitwirkung

von

N. Bischof, Zürich G. Clauß, Leipzig D. Dörner, Bamberg H. Düker, Marburg H . - J . Eysenck, London P. Fraisse, Paris W. Hacker, Dresden J . Helm, Berlin H. Hiebsch, Jena A. Kossakowski, Berlin

E V P 12,50 M je Heft

D. Koväc, Bratislava B. F. Lomow, Moskau D. Magnusson, Stockholm H. D. Rösler, Rostock W. P. Sintschenko, Moskau W. Straub, Dresden M. Vorwerg, Leipzig D. Wendt, Hamburg M. Wertheimer, Boulder

JOHANN

AMBROSIUS

BARTH

LEIPZIG

INHALT (Berlin). Zum Zusammenhang zwischen den alterstypischen Antworten auf Fragen mit „größer" und „mehr". Mit 1 Abbildung

GOEDE, KARIN

WITRUK,

EVELIN,

und

MARTINA

STAATS

(Leipzig). Differentielle Leselernanalyse. Mit

3

Ab-

bildungen (Zürich). Der Einfluß der Impulsivität auf das Lösen von Analogaufgabon. Mit bildungen

HÖLZLI, J .

PLAUM,

E.

233 253

2

Ab271

(Konstanz). Die Berücksichtigung unterschiedlicher Handlungsstrukturen in der

Psychodiagnostik

282

HÄGER, W. (Göttingen). Uber univariate parametrische Maße der wissenschaftlichen Signifikanz

295

SCHMIDT, II.-D. (Berlin). Bio Entwicklungsidee im Kontext der philosophischen Anthropologie J o h a n n Gottfried Herders

310

Buchbesprechungen

325

Manuskripte für Originalabhandlungen und Buchbesprechungen werden an Dr. J. Mehl, Sektion Psychologie der Humboldt-Universität, DDR • 1020 Berlin, Oranienburger Str. 18 erbeten. Für diese Zeitschrift werden grundsätzlich nur Arbeiten angenommen, die vorher weder im Inland noch im Ausland veröffentlicht worden sind. Mit der Annahme des Manuskriptes und seiner Veröffentlichung geht das alleinige Recht der Vervielfältigung, Verbreitung und Übersetzung auf den Verlag über. Von Originalarbeilen liefert der Verlag an Stelle eines Honorars 50 Sonderdrucke. Buchbesprechungen werden nicht vergütet, dafür wird das Besprechungsexemplar Eigentum des Referenten. Beachten Sie bitte die Hinweise für die Manuskriptgestaltung! Der Bezugspreis beträgt für den Band mit 4 Heften 50,— M zuzüglich Postgebühren. Auslandspreise sind den Zeitschriftenkatalogen des Außenhandelsbetriebes üuehexport zu entnehmen. Bestellungen nehmen entgegen: In der DDR der Postzeitungsvertrieb und der Verlag J o h a n n Ambrosius Barth. In den sozialistischen Ländern der zuständige Postzeitungsvertrieb. In der BRD/Berlin (West) die Firma Zeitungsvertrieb Gebr. Petermann, Kurfürstcnstr. 111 D - 1000 Berlin (West) 30 und der örtliche Buch- und Zeitscluiftenhandcl. In allen anderen Staaten der örtliche Buch- und Zeitschriftenhandel. Bestellungen des Buch- und Zeitsrlmftrnhandels sind zu richten an Buchexport Volkseigener Außenhandelsbetrieb der D D R , DDR - 7010 Leipzig, Leninstr. 16, Postfach 160. Die Lieferung erfolgt regelmäßig bis zur Abbestellung, die für das Ende des Quartals erfolgen muß, so daß sie zu dem gewünschten Termin noch berücksichtigt werden kann. Die vergriffenen Bände 1 (1800) bis 176 (1969) der Zeitschrift sind nachgedruckt worden und lie'erbar l;ei: Sweets & Zeillinger B. V. Backscts Department Heereweg 3 4 7 - b , P. 0 . Box 810, 2160 SZ Lisse-llolland Adresse des Verlages: J o h a n n Ambrosius Barth, D D R - 7010 Leipzig, Salomonstr. 18b, Postfach 109, Ruf 7 0131. Anzeigen werden erbeten für Inland a n : VEB Fachbuchverlag, D D R - 7 0 1 0 Leipzig, RichardWagner-Slr. 6; für Ausland an: Interwerbung G m b H — Gesellschaft für Werbung und Auslandsmessen der D D R , D D R - 1157 Berlin-Karlshorst, Hermann-Duncker-Str. 89, Ruf 5 09 0981. Für die Anzeigenpreise gelten die Festlegungen gemäß Preiskatalog Nr. 286/1 vom 1. 7. 1975.

ZEITSCHRIFT FÜR

PSYCHOLOGIE

Band 191,1983

Heft 3

mit Zeitschrift für angewandte Psychologie

Band 95

Aus dem Zentralinstitut für Sprachwissenschaft der Akademie der Wissenschaften der DDR

Z u m Z u s a m m e n h a n g zwischen den alterstypischen Antworten auf F r a g e n mit „größer" und „ m e h r " Von KARIN GOBDE Mit 1 Abbildung

1. Problemstellung Wortbedeutungen, die die Interpretation und die aktive Verwendung von Wörtern bestimmen, werden in der Regel schrittweise vom Kind erlernt. Ungefähre Annäherungen an die gültigen Normen der Erwachsenen können recht schnell erreicht werden, während die Ausarbeitung der endgültigen Bedeutung vielfach Jahre dauert. Im Laufe dieses Prozesses sind unterschiedliche Teilaufgaben zu lösen (vgl. CAREY, 1978; BIERWISCH, 1981). Von besonderem Interesse ist dabei das Verhältnis von Entwicklungen im Bereich bestimmter konzeptueller Strukturen und von semantischen Entwicklungen, die den Prozeß der Zuordnung zwischen einem Wort und diesen konzeptuellen Strukturen betreffen. (Eine allgemeine Begründung für die Betrachtung semantischer Strukturen als eine spezielle Teilmenge konzeptueller Strukturen findet sich bei JACKENDOFF, 1982). In der Regel besteht ein enger, nur bedingt auflösbarer Zusammenhang zwischen Konzeptualisierung und Semantisierung. Einen experimentellen Nachweis für die Existenz beider Prozesse beim Erlernen einer Wortbedeutung hat CAREY (a. a. 0.) gegeben. Sie konnte zeigen, daß sich unter geeigneten Bedingungen interindividuelle Unterschiede in der Reihenfolge auffinden lassen, in der beide Teilaufgaben in Angriff genommen werden, und daß es dementsprechend unterschiedliche Zwischenlösungen mit charakteristischen Fehlern gibt. Gegenüber den Vorstellungen stufenweiser Konzeptkonstruktionen (z. B. PLAGET, 1929; BRUNER, 1966) setzt sich gegenwärtig in der Entwicklungspsychologie immer mehr die Vorstellung durch, daß bestimmte grundlegende Konzepte, wie z. B. das Volumen, die Größe oder die Anzahl bereits sehr früh vorhanden und auch schon beim vorsprachlichen Kind nachzuweisen sind (BOWER, 1974; 1979; GELMAN, 1972). Eine ausführliche Diskussion dieses Trends findet sich bei KEIL (1981). Auf das Vorhandensein eines Konzeptes wird geschlossen, wenn das Kind die an der Anzahl, dem Volumen usw. ausführbaren Operationen richtig als relevant bzw. irrelevant klassifizieren kann. Irrelevante Operationen verändern die betreffenden Größen nicht (Konservation). Ebenso setzen die Serienbildung, sowie Transivitäts- und Klasseninklusionsurteile konzeptuelle Strukturen voraus. 16

Z. Psychologie 191-3

234

Z. Psychol. Bd. 191 (1983) H. 3

Kommt es später zu systematischen Fehlleistungen, wenn dieselben Aufgaben auf Grund einer gezielten sprachlichen Instruktion gelöst werden sollen, kann eine unzureichende Semantisierung der auf die Konzeptstrukturen referierenden Wörter vermutet werden. Diese Schlußfolgerung erfordert jedoch beträchtliche Vorsicht. Zum Beispiel können geringfügig erscheinende Variationen der Anforderungssituation zusätzliche kognitive Fähigkeiten für die Anwendung der konzeptuellen Strukturen erfordern. Zu Fehlleistungen kommt es dann, weil eben diese Fähigkeiten noch nicht ausgebildet wurden. Besondere Anforderungen an die Interpretation stellen Fälle, wo unter experimentellen Bedingungen sehr junge Kinder auf sprachliche Instruktionen wie Erwachsene reagieren, während die Reaktionen älterer Kinder deutlich davon abweichen. E x p e r i m e n t e dieser A r t sind in d e r L i t e r a t u r v o n BEVER u n d MEHLER ( 1 9 6 7 ;

BEVER,

1 9 7 0 ) , v o n MARATSOS ( 1 9 7 3 , 1 9 7 4 ) u n d in n e u e r e r Zeit a u c h v o n AHNERT u n d K L I X ( 1 9 8 1 )

beschrieben worden. Die vorliegende Arbeit knüpft direkt an die Ergebnisse von MARATSOS und indirekt an d i e v o n BEVER u n d M i t a r b . a n .

MARATSOS fragte nach dem größeren von zwei Objekten, wobei das Objekt mit der größeren Ausdehnung auf der vertikalen Achse das kleinere Volumen hatte. Während Kinder unter 4^2 Jahren und Erwachsene das Objekt mit dem größeren Volumen als das größere wählten, richteten sich die älteren Kinder (etwa 4 y 2 bis 6 Jahre) bei ihrem Urteil ausschließlich nach der Ausdehnung auf der vertikalen Objektachse. MARATSOS führt diese Reaktionsveränderungen auf Veränderungen in der Semantik von „größer" („bigger") zurück. Als Ursachen für letztere werden von ihm und anderen (TINDER und Mitarb. 1976) Alltagsroutinen sowie Übergeneralisierungen der Bedeutungen später erworbener speziellerer Dimensionsadjektive vorgeschlagen. Bei BEVER und Mitarb. war anzugeben, in welcher von zwei Reihen mehr Perlen lagen, wobei die Anzahl der Perlen und die Länge der Reihen gegensinnig variierten. Die Abweichung der drei- bis vierjährigen Kinder von den anderen Gruppen bestand in der Wahl der längeren Reihe. Für die schlechteren Leistungen dieser Kinder werden von BEVER und Mitarb. Perzeptionsstrategien verantwortlich gemacht, die eine vermutlich erfahrungsbedingte Vereinfachung darstellen und das ursprünglich vorhandene (angeborene) Konzept lediglich überlagern, weshalb sie bei geeigneter Motivation auch zu überwinden sind. (Eine kritische Diskussion der Experimente sowie ihrer Interpretation findet sich bei PLAGET, 1968). Ganz ähnlich ist die Interpretation als Schematisierung ursprünglich abstrakter Lösungsmethoden, die BOWER (1979) vorschlägt. Es wird in dieser Arbeit angenommen, daß bei der Entwicklung sprachlicher Quantitäts- und Größenurteile tiefere Zusammenhänge bestehen, als die vorgestellten Interpretationen zeigen. Damit ein unmittelbarer Vergleich der „mehr"-Urteile mit den „größer"-Urteilen möglich ist, werden die „mehr"-Urteile für kontinuierliche Quantitäten (Volumina) untersucht. Die Ergebnisse lassen sich aber auch für die Beurteilung diskontinuierlicher Quantitäten (Anzahlen) diskutieren. Das Größen- und das Volumenkonzept stehen in enger Relation zueinander: Beide

K . GOEDE, Z u s a m m e n h a n g zwischen A n t w o r t e n a u f „ g r ö ß e r " und „ m e h r "

235'

beziehen sich auf die dreidimensionale Ausdehnung von Objekten, jedoch auf unterschiedliche Weise (vgl. 2). Es ist zu erwarten, daß es zu charakteristischen Interferenzen kommt, wenn diese Konzepte den Wörtern „größer" und „mehr" als Urteilsdimensionen zugeordnet werden und daß sich daraus zusätzliche Schlußfolgerungen über die Natur altertypischer Reaktionsveränderungen ergeben. Da in der Literatur über den Erwerb von Raumadjekliven eine Differenzierung zwischen Größen- und Volumenkonzept völlig fehlt oder nur unbefriedigend vorgenommen wurde, stehen eine Präzisierung der Semantik von „größer" und eine daraus folgende Neuinterpretation der beobachteten Entwicklungsphänomene relativ ausführlich am Anfang dieser Arbeit. S i e bilden die Grundlage für die anschließende Analyse der Abhängigkeit zwischen „größer"- und „mehr"-Urtcilen in der Entwicklung. 2. Zur Semantik von „größer" (Urteilsdimension) In den psycholinguistischen Arbeiten wird das semantische Merkmal, das die Urteilsdimension für „größer" bzw. „groß" bezeichnet, als, [dimension] (3) (CLARK, 1973) oder als[spatialextent] (CAREY, a. a. 0 . ) angegeben. Die ausführlichen Formulierungen besagen, daß sich „groß" auf alle 3 Dimensionen eines Objektes, also auf seine Gesamtgröße overall size bezieht. Dies scheint einen Spielraum für unterschiedliche Interpretationen offenzulassen. So sieht MARATSOS semantische Ursachen für die V eränderungen der „größer"-Antworten bei älteren Kindern als erwiesen an, weil diese Kinder zur selben Zeit das schwerere der beiden Objekte (also die Masse und damit in den vorliegenden Versuchen das Volumen) richtig identifizieren können. Eine solche Schlußfolgerung ist nur dann korrekt, wenn man annimmt, daß sich „größer" vor der Veränderung tatsächlich auf das Volumen bezogen hat. Das ist nicht selbstverständlich, da das Größen- und das Volumenkonzept nicht identisch sind und Volumenentscheidungen in dem speziellen Experiment auch zustande kommen können, ohne daß das Volumen die Urteilsdimension von „größer" ist (vgl. unten). Eine Abgrenzung des Größenkonzepts vom Volumenkonzept nimmt BIERWISCH (1967) in seiner Analyse der Semantik der deutschen Raumadjektive vor. E r legt sich bei der Verknüpfung der Objektachsen auf das Produkt fest, bezieht dann aber nicht alle Objektachsen in die Betrachtung ein, sondern nur die „Hauptdimensionen". Ein O b j e k t kann (bei dreidimensionaler Ausdehnung) eine, zwei oder drei Hauptdimensionen haben. (Für die Klasse von Objekten mit 3 Hauptdimensionen bleiben Größe und Volumen gleichgesetzt.) Entsprechend einer Analyse, wie sie in der vorliegenden Arbeit erfolgt, ist bei der Bestimmung des größeren Objekles eine multiplikative Verknüpfung der Objektachsen in keinem Fall angebracht. Die Bestimmung des größeren Objektes wird konsequent unterschieden von der Bestimmung des Objektes mit dem größeren Volumen. Vor einer Darstellung der Einzelheiten soll zunächst der bisher ohne nähere Erläuterung verwendete Begriff der Objektachse präzisiert werden. Die Formulierungen sind dabei so gewählt, daß sich spätere Ausführungen vereinfachen: 16*

236

Z. Psychol. Bd. 191 (1983) H. 3

a) Bei Objekten mit inhärentem Oben und Unten stellt die in der Normalposition des Objektes durch die Vertikale festgelegte Richtung von oben nach unten die Richtung einer ausgezeichneten Hauptachse (HA) dar. — In Fällen, wo es kein Oben und Unten gibt (z. B . Brett, Zigarette usw.), approximiere man das Objekt durch einen Quader. (Beispielsweise kann gefordert werden, daß die Summe der räumlichen Abweichungen zwischen Quader- und Objektoberfläche minimal ist.) Die Richtung der HA ist dann definiert durch die Richtung der längsten Kante dieses Quaders. b) Die Richtungen senkrecht zur HA sind die Richtungen der Nebenachsen (NA). Die Ausdehnung eines Objektes in der Richtung einer speziellen Achse ist die Länge dieser Achse. (Allgemeingültige Formulierungen müssen berücksichtigen, daß ein Objekt mehrere Längen in einer Richtung haben kann. Der Einfachheit halber wird hier die Betrachtung auf Objekte beschränkt, für die es nur eine Länge in jeder Richtung gibt. Die entscheidenden Aussagen über die Semantik von „größer" hängen nicht von dieser Einschränkung ab). Es können dann folgende Annahmen über die richtige Verwendung von „größer" formuliert werden: a) „größer" ist universell verwendbar für den Vergleich von Ausdehnungen auf jeder beliebigen Dimension, wenn diese angegeben ist. Es kann sich dabei uin die Achsen eines Objektes, sein Volumen, seinen Umfang, aber auch um die Anzahl der Elemente von Mengen usw. handeln. b) Läßt man die Angabe der Dimensionsbezeichnung weg, sagt man von einem Objekt A also lediglich, daß es größer ist als e i n Objekt B (der eigentlich interessante Fall), so ist das dann und nur dann eindeutig, wenn A bezüglich jeder einzelnen Dimension größer ist als B, also gdw. A auf allen 3 Objektachsen die größeren Ausdehnungen hat. Die „größer"-Relation ist demnach — ohne weitere Angaben — nicht für beliebige Objektpaare definiert, es gibt Anwendungslücken. Sie entspricht in der vorliegenden Form der Relation des Umfassens bzw. Enthaltens, „kleiner" bezieht sich dementsprechend auf die Relation des Enthaltenseins eines Objektes in einem anderen. Beim Vorliegen einer semantischen Repräsentation, die diesem Wissen entspricht (im folgenden R 1), sollte also die aktive Verwendung (Produktion) von „größer" ohne zusätzliche Angabe einer Bezugsdimension auf Fälle beschränkt bleiben, in denen die „größer"-Relation zwischen zwei Objekten definiert ist. Unterschiede, die nur einige Dimensionen betreffen, sollten spezifischer beschrieben werden („höher", „mehr zu essen" usw.). Abweichungen von einem solchen Verhalten können vom Hörer nicht in Rechnung gestellt werden. Sie können überhaupt nur unter ganz bestimmten Bedingungen bemerkt und entsprechend verarbeitet werden. Das ist der Fall, wenn die verglichenen Objekte unmittelbar perzeptiv gegeben sind oder wenn anhand ihrer Benennung ein gedächtnismäßiger Vergleich eindeutig möglich ist. Es kann dann die fehlende präzisierende Dimensionsangabe aus dem Kontext ergänzt werden. Fragt man Versuchspersonen, welches von zwei Objekten das größere ist, wobei es größere Ausdehnungen auf den Objektachsen sowohl für das eine als auch für das andere Objekt gibt, so ist eine solche Frage relativ zu R 1 logisch unbestimmt. Dieser Fall liegt in den beschriebenen Experimenten von MABATSOS vor.

K. GOEDE, Zusammenhang zwischen A n t w o r t e n auf „größer" und „mehr"

237

Trotz ihrer Inkorrektheit können solche Fragen unter Umständen sehr einheitlich beantwortet werden Darin kommt zum Ausdruck, daß die Versuchspersonen (die Hörer) versuchen, die Frage möglichst sinnvoll zu „interpretieren". Es wird das Objekt so ausgewählt, daß die mit der inkorrekten Verwendung von „größer" verbundenen Fehlschlüsse eines Hörers, der das Vergleichsobjekt nicht kennt, möglichst unerhebliche Konsequenzen haben. Die mit dieser Entscheidung verbundene subjektive Unsicherheit ist in Abhängigkeit von der A r t des vorliegenden Kontextes, insbesondere von der A r t der vorliegenden Objektklassen, unterschiedlich groß. Es ist anzunehmen, daß eine sehr wesentliche Rolle bei der subjektiven Reduzierung der bestehenden Unbestimmtheit die Dimension der Objekte spielt, die f ü r ihre Funktion wesentlich ist. J e stärker sie ausgeprägt ist, desto stärker können sich die Antworten auf eine logisch unbestimmte Frage vereinheitlichen. Beispielsweise kann unter Umständen für Eßwaren eine Vernachlässigung der Achsenverhältnisse relativ bedeutungslos sein. So ist die Frage nach dem größeren Stück Schokolade nahezu identisch mit der Frage nach der größeren Menge. In anderen Fällen hingegen, etwa bei Fahnenstangen, wird die Masse nur eine untergeordnete Rolle bei der W a h l der Urteilsdimension spielen. Man vermutet, daß hier die Ausdehnung auf der HA zum Urteilskriterium wird. Welche anderen Repräsentationen sind denkbar, und welche Möglichkeiten gibt es, zwischen ihnen zu entscheiden? In dem Ansatz von BIERWISCH (im folgenden R 2) bestimmt sich das Urteilskriterium bei der Verwendung von „größer" aus der Anzahl der Hauptdimensionen (HD). S t i m m t sie nicht für die verglichenen Objekte überein, ist die „größer"-Relation nicht definiert. Das b e t r i f f t auch solche Fälle, die der Enthaltenseinbeziehung von R 1 genügen, was ganz offensichtlich der Intuition widerspricht. Andererseits gibt es sehr viele Paare von Objekten mit einer übereinstimmenden Zahl von HD, die nach R 1 nicht in der „größer"Relation zueinander stehen. Hier ergeben sich unterschiedliche Aussagen f ü r die Produktion von „größer". Im Gegensatz zu R 1 sollte sie nach R 2 in allen diesen Fällen gleichermaßen möglich sein und sich auf das durch die HD-Zahl bestimmte Kriterium (Volumen, Fläche bzw. Länge) bezichen. Relativ zu Repräsentationen (im folgenden R 3), die nur eine Dimension enthalten, etwa die Ausdehnung auf der HA oder das Volumen, gibt es keine logisch unbestimmten Fälle. Die Verwendung von „größer" ist in jedem Fall möglich und durch diese Dimension bestimmt. Es ist jedoch zu beachten, daß es auch für die Identifizierung von R 3 nicht ausreicht, die Beantwortung von „größer"-Fragen zu analysieren. Die Verwendung genau eines Merkmals in den Antworten ist ein notwendiges, aber kein hinreichendes Kriterium f ü r das Vorliegen einer entsprechenden Repräsentation. Es könnte sich beispielsweise auch um eine besondere Strategie handelp, auf logisch unbestimmte Fragen zu reagieren. Auch hier muß also die a k t i v e Verwendung von „größer" überprüft werden.

238

Z. P s j c h o l . Bd. 191 (1983) II. 3

Experiment 1 Dieses soll zwischen den beschriebenen Repräsentationen R 1 bis R 3 entscheiden. Methode Es wurden Objektpaare dargeboten, für die Unterschiede zwischen den Objekten zu benennen (Produktionsbedingungen) und logisch unbestimmte „größer"-Fragen zu beantworten waren („Interpretations"bedingungen). Die Unbestimmtheit der zu interpretierenden „größer"-Fragen bestand relativ zu R 1. Sie entstand dadurch, daß für das eine Objekt die Ausdehnung auf der HA, für das andere Objekt die räumliche Ausdehnung größer war. Es wurden Paare aus 4 unterschiedlichen Objektklassen verwendet. Analysiert wurde, ob die Entscheidung zwischen den Interpretationskriterien von der Objektklasse abhängt. Unter Produktionsbedingungen wurde eine Objektklasse verwendet, für die sich gemäß R 2 „größer" auf die räumliche Ausdehnung bezieht. Dieser Fall ist für eine Differenzierung zwischen R 1 und R 2 am günstigsten. Zum Vergleich angeboten wurden ein Objektpaar, für das nach R 1 die „größer"-Relation definiert ist, und weitere Paare derselben Objektklasse, für die diese Relation aus jeweils unterschiedlichen Gründen nicht definiert ist. Material: Es wurden Abbildungen von Objekten (in Längsschnittdarstellung) verwendet. Als Objektklasse wurden Fahnenstangen (F), Vasen (V), Schokoladenstücke (S) und Häuser (H) gewählt. Für F, V und S gab es je 3 Abbildungen mit den Abmessungen (Höhe und Breite in cm)

8 X 3 ; 10X1,8; 1 2 x 0 , 5 . Für Häuser gab es 5 Abbildungen (H 0 bis H 5). Die Abmessungen von Höhe und Breite

betragen (in cm)

HO. 8 X 6 ; H l : 1 2 x 9 ; II 2. 1 2 X 6 ; 113 8 X 9 ; H 4 : 6 , 5 X 9 ; 115:

9 . 5 X 3 . Im \ ergleich zu H 0 ist 11 1 (viel) höher und (viel) breiter. H 2 (viel) höher und gleich breit, H 3 gleich hoch und (viel) breiter, H 4 (etwas) niedriger und (viel) breiter, H 5 (etwas) höher und (viel) schmaler. Versuclistlarcliführung: Die Abbildungen wurden in senkrechter Position paarweise angeboten. Zunächst bestand die Aufgabe, die Häuser zu vergleichen und Unterschiede zu benennen. Die Häuser II 1 (a), II 2 ... H 5, H 1 (b) wurden in dieser Folge mit II 0 verglichen und in bezug auf H 0 beschrieben. Anschließend war für die Objektklassen F, \ , S und 11 die Frage nach dem größeren Objekt zu beantworten. Zum Schluß wurde mit Hilfe indirekter Fragen (z. B . „Wo ist mehr zu essen?")geprüft, ob die F'lächengrößen hinreichend genau differenziert worden waren. Versuchspersonen (Vpn): Untersucht wurden 20 erwachsene Ypn mittleren Bildungsgrades im Alter von 20 bis 40 J a h r e n . I i r g e b n i s s e und 1. „Interpretulions"bedingungen:

Diskussion

Die Kontrollfragen nach dem Flächeninhalt wurden

zu 100 % richtig beantwortet. Für die „größer"-Frage wurde pro Objektklasse der Anteil der Ypn bestimmt, der durch-

239

K. GOEDE, Zusammenhang; zwischen A n t w o r t e n auf „größer" und „mehr"

g ä n g i g die HA bzw. durchgängig die Fläche als Urteilskriterium verwendete. Daneben g i b t es einen bestimmten Anteil von Vpn, die innerhalb einer Objektklasse das Kriterium wechselten. Die Werte sind in Tabelle I zusammengestellt. Man sieht eine deutliche Abhängigkeit des Urteilskriteriums von der Art der Objektklasse: Tabelle I. Kriteriumswahl bei der „Interpretation" unbestimmter „größer"-Fragen in Abhängigkeit von der Objektklasse Erwachsene ^ ^ Kriterium

\

\

\

Objekt

\



Interpretation nach IIA

Kinder

Interpretation nach Fläche

\

F

70 p > 2 5 ° ( 0 ) . F / S . t = l , 4 5 (50 ° ' 0 > p > 2 5

(25 % > p > 1 0 % ) ,

V / S : t = 0,999

%).)

D i e H A w i r d bei den K i n d e r n f ü r \ , S und 11 s i g n i f i k a n t h ä u f i g e r zur I n t e r p r e t a t i o n s g r u n d l a g e als bei den E r w a c h s e n e n , f ü r F sind die D i f f e r e n z e n nicht s i g n i f i k a n t .

Hier

urteilen auch die E r w a c h s e n e n nach d e m I I A - K r i t e r i u m . ( D e r t - T e s t e r g i b t bei unabh ä n g i g e n S t i c h p r o b e n und f = 38 f ü r F : t = 1,738 (10 ° / 0 > p > 3 % ) . V : t = 3,34 ( p < l S

t = 7,01 ( p « = 0 , l % ) , I I : t = 5,5 ( p < 0 , l 2. Produktionsbedingungen:

0/0),

%).)

D i e „ g r ö ß e r " - A n t w o r t e n b e i m V e r g l e i c h e n der H ä u s e r kön-

nen nach den K r i t e r i e n v o n E x p e r i m e n t 1 m i t lediglich 2 A u s n a h m e n in H 1 (a) als H A l'rleile identifiziert werden. (Tab. I I ) Der A n t e i l dieser A n t w o r t e n mit H A - B e z u g ist in den V e r g l e i c h e n der K i n d e r s i g n i f i k a n t höher als bei den E r w a c h s e n e n . L e d i g l i c h in I I 3 i s t « d i e D i f f e r e n z kleiner, da hier auch E r w a c h s e n e in s t a r k e m M a ß e „ g l e i c h g r o ß " f ü r d e n V e r g l e i c h der v e r w e n d e n . ( D e r * * - T e s t e r g i b t bei f = l f ü r H 1 ( a ) : (p p > 1 0 % ) , I I 4 ^ = 8,12 (

P

< 1 % ) , 115. ^ = 9.24 (

P

< 1 o/o),

i4,4(p 1 0 %), C/B2: t = 1,96 (p=~5 % ) , C / A 2 : t = 3 , 7 9 ( p < l o/ 0 ),A2/B2:t = 2 , 5 9 ( p < 5 o/0).) Die vorangegangenen „größer"-Antworten haben somit einen größeren Einfluß auf die B2- als auf die A2-Antworten. Dieser Unterschied ist nicht auf ein zeitliches Abklingen zurückzuführen, da die Reihenfolge von A2 und B 2 zwischen den Vpn alter-

K. GOEDE, Z u s a m m e n h a n g zwischen A n t w o r t e n auf „ g r ö ß e r " und „ m e h r "

249

nierte. Dieses Ergebnis spricht dafür, daß durch die „größer"-Antwort nicht lediglich eine andere Strategie der Volumenabschätzung aktiviert wird. Das müßte die B 2- und die A2-Frage gleichermaßen betreffen. Es muß vielmehr speziell für die Bestimmung von „mehr" eine andere Regel in Kraft treten, etwa: „Mehr dran ist am größeren Objekt". (Die A 2-Antworten sind davon mitbetroffen, weil es entsprechende sprachliche Zwischenlösungen mit „mehr" geben kann.) 5. Die Protokolle der Gruppe I I I zeigen also insgesamt, daß es zeitweilige Veränderungen der „mehr"-Antworten gibt, die auf den Einfluß von „größer"-Antworten zurückzuführen sind und die nicht durch zeitweilige Veränderungen der quantitativen Volumenabschätzung verursacht sein können. Diese zeitweiligen Veränderungen treten in demselben Alter auf, wo andere Kinder permanente Veränderungen der „mehr"-Antworten zeigen (Gruppe II). In individuellen Fällen konnten die Protokolle von Kindern der Gruppe I I I durch häufige Wiederholung des Experimentes dahingehend verändert werden, daß auch d i e B l - und teilweise A 1Antworten dem HA-Kriterium folgten, also kaum Unterschiede mehr zu den Protokollen der Gruppe I I bestanden. Das legt nahe, die permanent veränderten „mehr"-Antworten der Gruppe I I in ähnlicher Weise wie die vorübergehend veränderten der Gruppe I I I als Folge davon aufzufassen, daß eine Regel „Mehr dran ist am größeren Objekt" wirksam ist. Insgesamt ergibt sich aus den unter i . bis 5. beschriebenen Ergebnissen und Überlegungen überzeugende Evidenz für die Behauptung, daß die Veränderungen der „mehr"Antworten eine Folge der semantischen Veränderungen von „größer" sind. Das ist dann möglich, wenn es Verbindungen zwischen den Items gibt, so daß unter Umständen „mehr" mit Hilfe von „größer" bestimmt werden kann. (s. unten) Eine veränderte Quantitätsschätzung als gemeinsame Ursache für die Veränderungen sowohl der „mehr"- als auch der „größer"-Urteile entfällt auf Grund von Punkt 1. Die Annahme radikal veränderter Quantitätsschätzungen parallel zu den semantischen Veränderungen bei „größer" scheint auf Grund der Punkte 4 und 5 überflüssig zu sein. Einen Entwicklungsverlauf, der die beschriebenen Zusammenhänge berücksichtigt, kann man sich auf folgende Weise vorstellen: In einem Anfangszustand der Semantisierung beziehen sich sowohl „mehr" als auch „größer" auf eine globale Bestimmung der gesamten Quantität, sie haben jeweils das semantische Merkmal [Quant.]. In diesem Zustand gibt es also keinen Unterschied zwischen der Bestimmung des größeren Objektes und der Bestimmung des Objektes mit der größeren Quantität. Diese Gleichwertigkeit kann hinweisend etwa durch die zusätzlichen Regeln ausgedrückt werden: (a) „Mehr dran ist am größeren Objekt." (Aus „größer" folgt „mehr".) und (b) „Größer ist das Objekt, an dem mehr dran ist." (Aus „mehr" folgt „größer".) In einer folgenden Entwicklungsphase kommt es über die globale Quantitätsbestimmung hinaus zu einer Analyse der einzelnen Komponenten der Quantitäten, was sich unter anderem darin äußert, daß spezifische Dimensionsbezeichnungen, wie „lang" oder „hoch", gelernt werden. Da „größer" im Gegensatz zu „mehr" auch eine Aussage über die einzelnen Komponenten der Quantität enthält, ist eine solche Analyse notwendige Voraussetzung für die Differenzierung zwischen beiden Itmes. Als Ergebnis einer zu17

LA. Psychologie 191-3

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Z. Psychol. Bd. 191 (1983) II. 3

nächst unvollständigen Analyse wird für „größer" das semantische Merkmal [Quant.] modifiziert zu [HA]. Dieses neue Wissen steht im Widerspruch zu Regel (b), die nach einer Übergangsperiode außer Kraft gesetzt wird. Entsprechendes gilt zunächst noch nicht für Regel (a), so daß über Regel (a) das Merkmal [HA] auch für „mehr" konkurrierend, ja sogar dominierend werden kann. Der Grad der Dominanz bestimmt die Zugehörigkeit zu den beschriebenen Gruppen II oder III. Auf Grund der vorliegenden Daten kann für diese Gruppen eine entwicklungsbedingte Reihenfolge nicht angegeben werden. In der geschilderten Retrachtungsweise ist das auch nicht unbedingt erforderlich. Der Konflikt zwischen Regel (a) und dem für „mehr" unverändert bestehenden Merkmal [Quant.] führt schließlich dazu, daß auch Regel (a) außer Kraft gesetzt wird, „größer" und „mehr" sind jetzt unabhängige Ilems. Das ist der Zustand der Kinder in Gruppe IV. In einer letzten Phase wird schließlich die semantische Repräsentation von „größer" im Sinne der Abschnitte 2 und 3 allmählich umgearbeitet. Die Kinder der Gruppe I B zeigen unter den vorliegenden Redingungen bereits ein Verhalten, das dem der Erwachsenen entspricht. (Nach Erreichen von R i für „größer" ist Regel (a) durchaus wieder angemessen.) Es liegt nahe, auch die bei der Beurteilung von Anzahlen (MEHLER und B E V E R , 1967) beobachteten Phänomene in die geschilderte Interpretation einzubeziehen. 2 Die zu (a) analoge Regel wäre etwa: „Mehr Objekte hat das größere Gebilde". Das größere Gebilde ist dann dabei das mit der größeren HA. Da Regel (a) das ursprünglich vorhandene Wissen über Quantitäten und ihre Abschätzung nicht ablöst, sondern lediglich in Konkurrenz dazu tritt, läßt sich auch annehmen, daß die Wahl der Entscheidungsregel beeinflußt werden kann, etwa durch die Motivation, wie es von den Autoren berichtet wurde. Dieser Vorschlag setzt also als Erklärung an die Stelle „perzeptueller Generalisierungen" Veränderungen im sprachlichen System. Das besagt selbstverständlich nicht, daß bei geeigneter Wortwahl oder bei Verzicht auf Sprache die fraglichen Effekte verschwinden sollten. Entsprechende Maßnahmen können lediglich abschwächend wirken, da man die kritischen Wörter nur in den Instruktionen, nicht aber in den Selbstinstruktionen der Versuchspersonen ausschalten kann. Insgesamt haben die Ausführungen deutlich gemacht, wie sehr die Beurteilung der betrachteten Phänomene abhängig ist sowohl von dem gewählten Untersuchungsausschnitt als auch von den Vorstellungen über mögliche semantische und kognitive Entwicklungen: So wurden in dieser Arbeit die anderenorts zwar motivierten, aber letztlich nutzlos gebliebenen Veränderungen der „größer"-Urteile auf dem Hintergrund eines 2 In einem Buch, das nach Fertigstellung dieser Arbeit verfügbar wurde, betont B E V E R (1982), daß die schlechteren Leistungen der älteren Kinder Folge eines Entwicklungsfortschritts sind. Dieser besteht in einer Differenzierung der internen Konstituenten "des Materials, was partiell zutreffende Generalisierungen möglich macht. Dieser Gedanke entspricht den in der vorliegenden Arbeit dargelegten Auffassungen. Unterschiede ergeben sich dadurch, daß die hier analysierten und für die Interpretation genutzten Zusammenhänge bei der Semantisierung von „größer" und „mehr" von B E V E R nicht thematisiert wurden.

K . GOEDE, Zusammenhang zwischen Antworten auf „größer" und „ m e h r "

251

p r ä z i s i e r t e n L e r n z i e l s als F o r t s c h r i t t bei der S e m a n t i s i e r n n g i n t e r p r e t i e r t . D a r ü b e r h i n a u s w u r d e d u r c h die E i n b e z i e h u n g v o n „ g r ö ß e r " in die U n t e r s u c h u n g g e z e i g t , a u f Weise m a n

sich a u c h

die Veränderung

der

„mehr"-Urteile

durch

welche

Veränderungen

sprachlichen S y s t e m erklären k a n n . E i n e solche L ö s u n g h a t den Vorteil, daß m a n

im

ohne

Z u s a t z a n n a h m e n v o n der B e i b e h a l t u n g bereits v o r h a n d e n e r außersprachlicher F ä h i g k e i t e n ausgehen kann.

W i e w e i t da., e r f o r d e r l i c h i s t , w i r d z u ü b e r p r ü f e n s e i n , w e n n n e u e t h e o -

retische E i n s i c h t e n über den C h a r a k t e r u n d die E n t w i c k l u n g q u a n t i t a t i v e r

Fähigkeiten

vorliegen.

Zusammenfassung E s wurde gefragt, aus welchen Gründen Kinder einer bestimmten Altersstufe schlechtere Leistungen zeigen als jüngere Kinder und als Erwachsene, wenn sie in experimentellen Situationen auf sprachliche Anforderungen, die „größer" bzxv. „ m e h r " enthalten, reagieren müssen. Auf Grund einer präzisierten semantischen Analyse von „größer" konnten die scheinbaren Verschlechterungen der „größer"-Urteile als Eolge eines Eortschritts bei der Semantisierung interpretiert werden. E r besteht darin, daß die älteren Kinder, wenn auch unvollständig, F o r m a s p e k t e in d a s „ g r ö ß e r " Urteil einbeziehen. Aufschlüsse über die Art der entsprechenden Veränderungen der „mehr"-Urteile wurden aus Kombinationen parallel abgegebener „größer"- und „mehr"-Urteile gewonnen. Analysiert wurden 99 Antwortmuster von Kindern im Alter von 3—8 Jahren. E s wurde geschlußfolgert, daß die semantischen Veränderungen bei „größer" primär sind und sich die Veränderungen der „mehr"-Urteile auf eine nur unvollständig erfolgte Aufhebung ursprünglich korrekter Verbindungen zwischen beiden lexikalischen Items zurückführen lassen.

Summary T h e author presents, experimental results why children in a specific age show lower achievements in comparison to younger children and adults when they are asked to respond to verbal tasks which include the categories '"bigger'' resp. "'more". After a semantic analysis of " b i g g e r " the author explains the seemingly deterioration of the " b i g g e r " judgements as the consequence of a progress during semantization. There is a trend that older children include aspects of form into the " b i g g e r " judgement. B y a combination of " b i g g e r " and "inore"-judgements conclusions can be m a d e as to the mode of change in the " m o r c " - j u d g e m e n t s . 99 patterns of response of children 3—8 years old have been analyzed. It can be demonstrated that the semantic changes are primary in " b i g g e r " judgements and that changes in the " m o r e " - j u d g e m e n t s have its cause in an only incomplete interruption of originally correct links between both lexical items.

Pe3K>Me ABTOP enpaiiiHBaJi, noneMy fle™ onpe^eneHHoro BoapacTHoro ypoBHH noKa3biBaioT Gojiee HH3KH6 pe3yjibTaxti neM MJiajuime a e r a h B3pocjitie HcnbiTyeMbie, ecjin B 3KcnepHMeHTaJibH0ii ciiTyaijHH TpeöyeTCH peaitijHH Ha H3biK0Bue 3 a n a ™ , conepHinne «öojibiue» (no pa3i«epy, no-HeiweiiKM: größer) hjih «ßojituie» (no KOJiHiecTBeHHOMy CMbicjiy, no-HeMGi^KH: mehr). H a 0CH0Be neraoro ceMaHTHiecKoro aHajiH3a OT IT

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Z. P s y c h o l . B d . 191 (1983) II. 3

«ßojibiue» (größer) cTaJio bo3mo>kho H H T e p n p e r a p o B a r b KantymnecH yxyHmeHiiH « 6 o j i b i u e » - o i < e H K H KaK n o c j i e n c T B H e n p o r p e c c a n p w ceMaHTH3HpoBaHHH. O h coctoht b tom, ito y ö o j i e e CTapHX «eTeii bxoaht, xoth h H e n o j i H o , acneKTH (fiopMM b oqeHKy « ß o j i t m e » ( g r ö ß e r ) . 3HaHHe o BHjje cootbctctbghhmx n3MeHeHnit «ßojibiue» (rnehr)-oijeHOK nojiyHiuiocb 113 itOMÖHiiaqHH n a p a j i n e j i H o aaHHhix «ßojibme» ( g r ö ß e r ) - n « ö o n t m c » ( m e h r ) oqeHOK. AHajiH30BajiH 99 oöpaaijOB otb6tob HeTeö B03pacTa 3 jjo 8 jieT. Cflenajiii bhboa, hto ceMaHTHiecKwe H3MeHeHHH npw «Sojibiue» ( g r ö ß e r ) HBJIHMTCH nepBHIHUMH H HTO H3M6HeHMH npH (¡OJIblllC (melir)-OL(eHKaX BbIXOAHT H3 HenOJIHOTO y H H I T O weHHH nepBOHaianbHO KoppeKTHbix CBH3eö Mew^y o6ohmh ji6Ki^HKajibHbiMH coAepmaHHHMH.

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Maratsos, M . P. W h e n Is a H i g h T h i n g t h e B i g O n e ' ' D e v e l . P s y c h o l . 10 ( 1 9 7 4 ) 3 6 7 - 3 7 5 . Mehler, J . , u n d Bever, T. G.: C o g n i t i v e c a p a c i t y of v e r y y o u n g c h i l d r e n . Scie. 158 ( 1 9 6 7 )

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Aus der Sektion Psychologie der Karl-Marx-Universität Leipzig

Differentielle Leselernanalyse V o n E V E L I N WITRUK u n d MARTINA STAATS Mit 3 Abbildungen

1. Lesenlernen als Form menschlicher Aneignungstätigkeit Lesenlernen ist ¡als Prototyp menschlichen Lernens zu verstehen, da es sich um einen pädagogisch gesteuerten, aber weitgehend selbstregulierbaren Prozeß handelt, welcher aus dem Aneignen eines Systems von Regeln und Strategien zur Extraktion von Information aus Texten besteht. Hauptziel des Leseunterrichts ist letztendlich die Befähigung zur Informationsaufnahme aus Texten und damit das Lernen mit Hilfe des Lesens. Gutes Vorlesen ist somit erst eine Vorstufe des kompetenten Levens. Dieses ist nach Auffassung von GIBSON und LEVIII (1980) und MENZ und GBONEB (1981) dann erreicht, wenn möglichst viel Information semantischer und syntaktischer Art in den Leseprozeß einfließt und deren Redundanz zusammen mit der orthographischen Redundanz derart ausgenutzt wird, daß sich die Verarbeitung von visueller Information darauf beschränkt, Alternativen anhand diakritischer Merkmale zu prüfen. In Abgrenzung zu assoziationstheoretischen und ganzheitspsychologischen Auffassungen möchten wir hervorheben, daß Lesen nicht verstanden werden kann: — als assoziative Verknüpfung von Buchstaben und Lauten und damit als einfache Syntheseleistung, die immer größere Einheiten entstehen läßt. — Lesen ist ebenfalls nicht erklärbar durch Assoziationen des geschriebenen Wortes mit dem Wortcode in einem internen Wortspeicher (Ganzworterkennung). — Lesen besteht auch nicht in einem Bedeutungsentschlüsseln auf der Grundlage von Vorstellungen über den Textinhalt bzw. Hypothesenprüfungen. Alle theoretischen Auffassungen vom Lesen als einem graphemisch-phonetischen Dekodierungsprozeß sowie die konträre Vorstellung eines holistischen Bedeutungszuganges sind einseitig und treffen nicht das Wesen dieses hochgradig komplexen, adaptiven, kognitiv gesteuerten Prozesses. Wir wollen versuchen, die Dialektik des Leseprozesses darzustellen, indem wir zunächst die am kompetenten Lesen beteiligten Komponenten und deren lernabhängige Herausbildung untersuchen.

Z. Psychol. Bd. 191 (1983) H. 3

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1.1. Tätigkeitsstruktur kompetenten Lesens Wir gehen von der allgemeinen theoretischen Position aus, daß das Lesen ein wichtiger Tätigkeitsbereich des Menschen ist, über den ein bedeutender Teil der aktiven Aneignung und Auseinandersetzung des Subjekts mit seiner gesellschaftlichen Umwelt erfolgt. Den Grundgedanken LEONTJEWS (1973) und HACKERS (1973) aufgreifend, realisiert sich diese Tätigkeit über konkrete, relativ in sich abgeschlossene Lese-Handlungen. Viele Komponenten bestimmen das „Wie" des Lesens, und das Dilemma der Lesemodelle besteht gerade darin, dieses nicht allgemeingültig abbilden zu können. — Die Informationsverarbeitungsmodelle, die grundsätzlich eine relativ starre Stufenfolge von Ereignissen oder Kodierungsprozeduren annehmen ( z . B . H U B E N S T E I N , 1 9 7 1 ; M A C K W O R T H , 1 9 7 2 , ref. in G I B S O N und L E V I S , 1 9 8 0 ) verwenden in der Regel chronometrische Methoden zum Nachweis der einzelnen Verarbeitungsstufen. Sie sind aber nicht in der Lage, die intraindividuelle Variabilität als Ausdruck der Adaptivität an verschiedene Lesetexte und -zweckc zu erklären. Ebensowenig wird damit die interindividuelle Variabilität erklärbar, die nicht nur von unterschiedlicher Lesefähigkeit und Intelligenz, sondern auch von differenzierender Motivation, Bewertung, von kognitiven und sozialen Konzepten abhängig ist. Wie stark die gesamte Persönlichkeit Subjekt dieser Tätigkeit ist, zeigt sich insbesondere in sekundär, an Leselernschwierigkeiten ansetzenden, neurotischen Entwicklungen (z. B. bei LRS-Kindern). — Ganzheitliche oder konstruktivistische Lesemodelle, die von einer unmittelbaren Bedeutungserschließung bzw. -konstruktion auf der Grundlage von Vorstellungen und Hypothesen ausgehen, erlauben nur sehr globale Einschätzungen, aber keine Erklärungen des Lesens (z. B. G O O D M A N , 1 9 6 7 ref. in GIBSON u n d LEVIN, 1980).

Die resignierende Feststellung von GIBSON und LEVTN (1980), daß es wohl soviele Arten des Lesens gäbe, wie Leser und Lesestoffe existieren, veranlaßt sie, die Suche nach einem allgemeingültigen Lesemodell aufzugeben und sich an Prinzipien zu orientieren. Wir sind der Meinung, daß der handlungstheoretische Ausgangspunkt (HACKER 1973) auf die Komplexität und Adaptivität der das Lesen organisierenden Handlungsregulation spezifiziert werden sollte, wie das ansatzweise von WLCKELGREN (1979) versucht wurde. Erste und entscheidende Frage für das „Wie" des Lesens ist das Ziel der Handlung, d. h. lese ich eine Zeitung oder einen Fachtext, lese ich in einem Wörterbuch oder in einem Kochbuch, brauche ich den Inhalt für eine Prüfung oder trage ich öffentlich ein Gedicht oder Referat vor. Mit der Spezifizierung des Ziels des Lesens ist die konkrete Handlungsregulation in ihrer hierarchisch-sequentiellen Struktur der Teilziele und der Regulationsebenen ableitbar, was die Prozesse der Informationsauswahl, -aufnähme, -Verarbeitung, -speicherung, der Motivierung und der Auslösung motorischer Bewegungsprogramme einschließt. Mit welcher Berechtigung können wir aber z. B. beim leisen Lesen von der Beteiligung der Motorik sprechen? 1. Die Aktivierung sprachmotorischer Programme ist auch beim leisen Lesen in Form der Subvokalisation nachweisbar und in ihrer Stärke abhängig von der Lesefähigkeit und der Schwierigkeit des Textes. 2. Die Augenmotorik beim Lesen ist Ausdruck der Informationsaufnahmestrategie und damit determiniert von einer Vielzahl habitueller, genetischer und aktueller Personbedingungen und äußerer Situations- und Textmerkmale. Die Analyse der Augenmotorik

E . WITRUK u. a., Differentielle Leselernanalyse

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bietet den direktesten Zugang zu den Mechanismen der Handlungsregulation beim Lesen. Es soll später ausführlicher darauf eingegangen werden. 3. Äußerlich sichtbare Abläufe, wie z. B . d a s U m b l ä t t e r n de£ Buches, das Verfolgen des Lesetextes mit dem Finger oder dem Lesezeichen tragen den Charakter von untergeordneten Teilhandlungen, die eine notwendige Hilfsfunktion' zur Zielerreichung erfüllen. Die handlungstheoretische Charakterisierung des Leseprozesses richtet sich in erster Linie darauf, daß dieser durch die operative N u t z u n g sprachlicher Regelsysteme gesteuert wird. Folgende hierarchisch s t r u k t u r i e r t e Regulationsniveaus sind u n t e r scheidbar : — E i n b e t t u n g in gesellschaftlich-weltanschauliche, soziale, allgemeine kognitive Konzepte — Nutzung semantischer und syntaktischer Regeln — Anwendung orthographischer u n d phonologischer Regeln — Sprachmotorische, optomotorische, grob- u n d feinmotorische Bewegungsabläufe Nach WLCKELGREN (1979) können beim Lesen sequentielle Verarbeitungsoperationen simultan auf verschiedenen Niveaus ablaufen u n d sich wechselseitig beeinflussen, indem höhere Regulationsniveaus niedere Niveaus aktivieren u n d u m g e k e h r t die Rückkopplungskreise immer höhere Regulationsniveaus erreichen. Z. B. können meine Vorkenntnisse, politisch-ideologische Überzeugungen oder allgemeine kognitive Konzepte meine semantischen E r w a r t u n g e n beim Lesen eines Textes steuern u n d von diesen gemeinsam m i t syntaktischen E r w a r t u n g e n der Satzgenerierung phonetische Einheiten aktiviert werden. Die Wirksamkeit aufsteigender Rückkopplungskreise bestehend aus Vergleichs-Veränderungs-Vergleichs-Einheiten (im Sinne von HACKERS V VR-Einheiten) wird an Lesßk o r r e k t u r e n , die Resultat von Rückkopplungsprozeduren auf unterschiedlichen Niveaus sein können, deutlich und erreicht so komplexe Verarbeitungseinheiten, wie die Bes t ä t i g u n g bzw. K o r r e k t u r kognitiver Konzepte, die Auseinandersetzung m i t dem T e x t i n h a l t u. a. I n diesem Zusammenhang ist von besonderer B e d e u t u n g , d a ß R ü c k k o p p l u n g e n bereits vom Impulsmuster eines Wortes ausgehen und K o r r e k t u r e n noch vor dem Aussprechen erfolgen können. HACKER (1973) verweist auf die einzigartige Möglichkeit des Menschen, vorwärts gerichtete äktionslenkende R ü c k k o p p l u n g e n vorzunehmen, welche die Grundvoraussetzungen f ü r die S p r a c h p r o d u k t i o n und das Lessen sind u n d die fehlervorbeugende Funktionen ausüben.

1.2. Anforderungsabhängige Optimierung der Tätigkeitsstruktur Da wir wissen, d a ß die F ähigkeit des Lesenkönnens eine f u n d a m e n t a l e Voraussetzung f ü r die Auseinandersetzung des S u b j e k t s m i t seiner Umwelt darstellt, fragen wir n a c h den Mechanismen, welche dieses u n t e r sehr unterschiedlichen A n f o r d e r u n g s b e d i n g u n g e n , d. h. bei verschiedenen Lesezielen ermöglichen: In den von GLBSON u n d LEVIN (1980) formulierten Prinzipien der A d a p t i v i t ä t und Ökonomie der Steuerung des Lesens finden wir Hinweise zur B e a n t w o r t u n g unserer F r a g e : l. Das Lesen des k o m p e t e n t e n Lesers zeichnet sich durch hohe Adaptivität

aus, welche

256

Z. Psycho!. Bd. 191 (1983) H. 3

sich in der aktiven und flexiblen Anwendung kognitiver Strategien ausdrückt. Deren Abhängigkeit vom Ziel des Lesens, der Art des Textes, vom Interesse des Lesers u. a. ist vielfach nachgewiesen. Anzeichen der Adaptivität des Lesens sind z. B . — die selektive Aufmerksamkeitsausrichtung auf die Priorität einer Wortmerkmalsklasse. Im Gegensatz zu der im täglichen Leben primär beachteten Merkmalsklasse der Wortbedeutung kann eine selektive Aufmerkisamkeitsausrichtung auch auf die graphische Information beim Suchen im Wörterbuch erfolgen bzw. die phonetische Merkmalsklasse beim Lesen von Lyrik primär Beachtung finden. — Die Lesegeschwindigkeit und mit ihr auch alle Parameter der Augenmotorik (Länge i^nd Häufigkeit der Progressionen, Regressionen und Fixationen) sind direkt abhängig vom Verständnis, d. h. von der Integration des Gelesenen in ein kognitives Konzept und damit indirekt abhängig von der Schwierigkeit des Textes. Die Warnung verschiedener Autoren vor Schnellesetechniken (WICKELGREN , 1979), dem Training effektiver Augenmotorik in Richtung längerer Fixationen und weniger Regressionen und dem Abtrainieren der Subvokalisation (GLBSON und LEVIN, 1980) bezieht sich insbesondere darauf, daß hiermit der Adaptivität entgegengewirkt wird, indem auf Symptome Einfluß genommen und deren Ursache ignoriert wird.. Damit ist in der Regel eine Verständnis- und Behaltensminderung verbunden. 2. Die Adaptivität wird ergänzt durch die Tendenz zur Okonomisierung des Lesens. Dieses sehr umfassende Regulationsprinzip des Anstrebens der Zielerreichung mit dem geringstmöglichen Aufwand wird beim kompetenten Lesen in folgender Weise realisiert: — Lesen wird zum einen ökonomischer durch gezielte Aufmerksamkeitsausrichtung, d. h. Auswählen relevanter und Nichtbeachten irrelevanter Information, Verarbeiten der größten Einheiten, die der Aufgabe angepaßt sind und Verarbeiten der kleinsten Menge an Information, die noch mit der Aufgabe verträglich ist. — Zum anderen erfolgt die Okonomisierung durch eine fortschreitende Reduktion der Information, welche dadurch erreicht wird, daß der Informationsverarbeitungsaufwand durch den Kontext auf bestimmte Alternativen reduziert wird. Diese Alternativen wiederum können reduziert werden durch die Anwendung vorhandener kognitiver Konzepte bzw. des Vorwissens. Die Hauptquelle der Alternativenreduktion ergibt sich durch die Nutzung sprachlicher Regeln, und zwar auf Wortebene orthographischer und phonologischer Art. Aüf den Ebenen der Phrase, der Satzteile und ganzer Sätze wirken semantische und syntaktische Regeln redundanzerzeugend und damit a l t e r n a t i v e n r e d u z i e r e n d (GIBSON u n d LEVIN, 1 9 8 0 ) .

Adaptivität und Tendenz zur Ökonomisierung sind handlungsregulatorische Prinzipien des Lesens, die eine anforderungsbezogene Optimierung der Tätigkeitsstruktur ermöglichen. 1.3. Optimierung der Tätigkeitsstruktur beim Lesenlernen Gehen wir davon aus, daß der Leseprozeß in erster Linie durch die operative Nutzung sprachlicher Regelsysteme geleitet wird, so muß das Prinzip des Lesenlernens im Auffinden von Invarianten (redundanten Mustern, Ordnungen) und deren Abstraktion auf

E. WITRUK u. a., Differentielle Leselemanalyse

257

immer höheren Ebenen bestehen (VOLPERT, 1 9 7 1 ) . In der Ontogenese setzt das Lesenlernen dann ein, wenn bereits eine Vielzahl von kognitiven Fähigkeiten ausgebildet ist, die unmittelbare Voraussetzungen für das Lesenlernen darstellen (Segmentierung des phonetischen Stroms in Spracheinheiten, graphische Diskriminierung von Schrift und Bild, Buchstaben und Worten, Erlernen der Buchstabennamen durch intermodale Zuordnung, kognitive Faktoren im Sinne des Verstehens, daß Schrift Bedeutung und Information trägt). Das auf diesen Vorfertigkeiten aufbauende eigentliche Lesenlernen stellt eine Invariantenerkennung und -nutzung auf immer komplexeren Ebenen dar, wobei eine sequentiellparallele Aktivierung der Regulationsebenen angestrebt werden soll. Es werden gelernt: — die gleichzeitige Verarbeitung semantischer und graphischer Information — die Generalisierung von Relationen innerhalb eines Wortes und die Übertragung auf neue Wörter — die Nutzung syntaktischer und semantischer Strukturierungen (z. B. Phrasen) auf Satzebene und — die Fähigkeit, das aus dem Text Entnommene in vorhandene Wissensbestände einzuordnen und in einem neuen Kontext anzuwenden. Die Tendenz zur Ökonomisierung zeigt sich deutlich im Lernverlaüf des Lesens, in der Abnahme der Subvokalisation und im Aufbau einer gezielteren, reduzierten Optomotorik. Gerade in der Reduzierung der Informationsaufnahmenotwendigkeit zeigt sich der Grad operativer Nutzung sprachlicher Regelsysteme.

2. Probleme der Anforderungsbewältigung des Lesenlernens Der Prozeß des Lesen- und Schreibenlernens stellt die Grundlage für alle weiteren schulischen Anforderungsbewältigungen dar, insofern kommt ihm eine außerordentlich große Bedeutung zu. Nach BRETJEE ( 1 9 8 0 ) zeigen gegenwärtig in der DDR 2 5 , 9 % der Schüler erster Klassen im Lesen und 27,5 % in der Rechtschreibung Lernschwierigkeiten. Bei diesen Kindern, die immerhin y 4 der Normalpopulation darstellen, besteht die Gefahr, durch negative Startresultate und -erlebnisse an der vollen Ausprägung ihrer individuellen Leistungspotenzen auch in den nachfolgenden Schuljahren gehindert zu werden. Massive Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und der Rechtschreibung, die als Lese-Rechtschreibschwäche (LRS) oder Legasthenie bezeichnet werden, treten bei etwa 3—5 % der Unterstufenschüler auf, wobei der Anteil der Jungen höher liegt als der der Mädchen (FALKENHAGEN u n d WINSMANN, 1 9 6 4 ) . Es handelt sich dabei um eine partielle Leriistörung, die durch eine im Verhältnis dazu höhere allgemeine Intelligenz charakterisiert ist. Von einer LRS kajin allerdings nur dann gesprochen werden, wenn peripher bedingte (Seh- und Hörstörungen), erworbene zentrale Störungen (Alexie), Oligophrenien sowie Störungen durch ungenügende Übung, Verwahrlosung, Krankheit oder durch mangelhafte methodische Anleitung ausgeschlossen werden können. Die Frage der Ursachen wird in der Literatur seit langem dis-

258

Z. Psychol. Bd. 191 (1983) H. 3

kutiert, wobei eine Reihe unterschiedlicher Standpunkte bezüglich der Ursachenerklärung und der Annahme eines spezifischen Defizits konstatiert werden müssen (vgl. OEHRLE, 1975; SCHEEBEB-NEUMANN, 197X). Von den meisten Autoren werden frühkindliche Hirnschädigung oder Vererbung als Ursachen für diese Störung angegeben (z. B. Kossow, 1977). Weitaus uneinheitlicher sind die Annahmen über primär1 gestörte Funktionen, die sich auf visuelle Wahrnehmungsschwäche, akustische Differenzierungsschwäche (Lautnuancenschwäche) oder allgemeine Wahrnehmungsdefizite in Form einer Einschränkung des Wahrnehmungsumfangs beziehen. Auch die Annahmen über zentrale Verarbeitungsdefizite sind zahlreich und reichen von Integrationsstörungen, die Schwierigkeiten bei der graphisch-phonemischen Dekodierung hervorbringen sollen, Deutungsschwächen, Gestaltgliederungsschwäche, Raum-Lage-Labilität, die nach SCHENK-DANZINGEE (1968) das systematische Einhalten der Leserichtung beeinträchtigt, Speicherdefiziten (ELLIS, 1981) bis zu Sprachstörungen im Sinne von Artikulations- und Phonationsschwächen. Störungen der visuomotorischen Koordination (BREUER und WEUFFEN, 1975) der Feinm o t o r i k ( KOSSAKOWSKI, 1961) u n d d e r O p t o m o t o r i k ( RAYNER, 1 9 7 5 ; HELL.EE, 1979) w e r d e n e b e n f a l l s a l s

Symptome und in älteren Auffassungen teilweise als Ursachen aufgeführt. Die jahrzehntelang anforderungsunspezifisch betriebene Legasthenieforschung hat somit ein umfangreiches Hypptheseninventar und bei Anwendung methodenunkritischer Forschungsstrategien außerordentlich widersprüchliches Befundmaterial hervorgebracht. OEHBLE (1975) beweist diese Aussage am Beispiel der Annahme von visuellen Wahrnehmungsstörungen des legasthenischcn Kindes. Sie kommt zu Ergebnissen, die verdeutlichen, daß das visuelle Wahrnehmungssystem des Legasthenikers sensibler und damit auch störanfälliger ist, daß wahrscheinlich eine Dominanz des visuellen Systems (angeborene* Weise oder als Kompensationsprodukt) vorliegt und damit auch eine anforderungsgerechte Integration visueller, auditiver und motorischer Komponenten nicht gelingt. Diese Befunde stimmen überein mit KOSSAKOWSKI ( 1 9 6 1 ) u n d K o s s o w (1977), die a u d i t i v e u n d s p r a c h m o t o r i s c h e F u n k t i o n s s t ö r u n g e n n a c h -

weisen konnten.

Auswege aus dem D i l e m m a der Legasthenieforschung zeigen sich in zweierlei H i n s i c h t : 1. B e t r a c h t u n g e n der L e g a s t h e n i e als multidimensional determiniertes K o n s t r u k t (HELLER, 1979) bei Zugrundelegung eines mehrschichtigen E r k l ä r u n g s m o d e l l s der Legasthenie. Die Übersicht zeigt die diesbezüglichen theoretischen Vorstellungen von VALTIN (1973, ref. in WEHRLI-HELDRICH,

1976):

1. ätiologische E b e n e der primären Ursachen a) K o n s t i t u t i o n s m ä n g e l (endogen) b) U m w e l t s c h ä d e n (exogen) II. ätiologische E b e n e der sekundären Ursachen Funktionsschwächen I I I . phänomenologische E b e n e der S y m p t o m a t i k E r s c h e i n u n g s f o r m e n — Lese- und R e c h t s c h r e i b v e r s a g e n ( P r i m ä r s y m p t o m a t i k ) — Verhaltensstörungen ( S e k u n d ä r s y m p t o m a t i k ) 2. E s erhebt sich immer dringlicher die F o r d e r u n g nach Z u s a m m e n f ü h r u n g der Forschungstradition der Legasthenieforschung mit der experimentellen Leseforschung. SCHEERER-NEUMANN (1977) verdeutlichte die Notwendigkeit, auf der G r u n d l a g e eines allgemein psychologischen Lesemodells die kritischen Stellen der d y s f u n k t i o n a l e n Anforderungsbewältigung des Legasthenikers zu prüfen und d a m i t eine anforderungsspezifische, differentielle und prozeßorientierte A n a l y s e des Lesens vorzunehmen. Ziel ist dabei zunächst die Identifikation der unvollständigen oder gestörten Teilprozesse des Lesens bei Legasthenikern, u m d a r a n gezielt Optimierungsprozeduren in F o r m von Therapie- und Trainingsverfahren ansetzen zu können.

E. WLTBTFK u. a., Différentielle Leselernanalyse

259

Die Fehler- und Zeitanalyse des realen Lesevollzugs erbrachte ßuf makroanalytischer Analyseebene, daß bei LRS-Kindern die gleichen Lesefehler auftreten wie bei normal Lesenden, jedoch sind diese weitaus häufiger und werden trotz Korrekturen und Erläuterungen wiederholt (KOSSAKOWSKI, 1961). Solche Fehler sind: — Laut- und Buchstabenverwechslung — Laut- und Silbenauslassung oder -hinzufügung — Umstellung der Laut- und Silbenfolge — Wortzusammenziehung — stockendes, probierendes, bei intelligenten Kindern ratendes-Lesen. Wir bemühen uns um eine prozeßorientierte, différentielle Leselernanalyse, wobei die Informationsaufnahmestrategie mit Hilfe der Augenbewegungsregistrierung untersucht wird. Uneffektive Informatiönsaufnahme auf Grund dysfunktionaler Steuerungsmechanismen konnte in jüngster Zeit vielfach bei Legasthenikern nachgewiesen werden, worauf im nächsten Abschnitt eingegangen wird.

3. Informationsaufnahmestrategien beim Lesen - ei« differentieller Ansatz 3.1. Die Funktion von Augenbewegungen beim Lesen Die beim Lesen auftretenden sprunghaften Augenbewegungen (Sakkaden) dienen dazu, neue Textabschnitte in den Bereich der Augennetzhaut mit der größten Sehschärfe (Fovea centralis) zu bringen. Während der sakkadischen Augenbewegung ist die Informationsaufnahme nur sehr eingeschränkt möglich (VOLKMANN, 1962, ref. GIBSON und LEVIN, 1980). Zwei Arten von sakkadischen Bewegungen werden beim Lesen unterschieden : — Progressionen erfolgen in Leserichtung. Ihre Länge unterliegt starken Schwankungen und ist vom Schwierigkeitsgrad des Textes und dem Übungsgrad des Lesers abhängig. Ihre Dauer wird von der Länge bestimmt. — Regressionen sind Rückwärtssprünge der Augen auf der Zeile zu vorangegangenen Teilen des Textes und sind meist Ausdruck von Yerständnisschwierigkeiten. Eine Sonderform der Regression ist der sogenannte Zeilensprung vom Ende einer Zeile zum Beginn der nächsten. Während der Fixation (Ruhephasen, in denen dennoch Mikrobewegungen des Auges vorhanden sind) wird die eigentliche Informationsaufnahme gewährleistet. Die Dauer einer Fixation unterliegt ebenfalls großen anforderungs- und personenabhängigen Schwankungen (¿100—500 msec. nach RAYNER, 1975). Die während der Fixation abgebildete klare Sehfläche umfaßt sieben bis zehn Buchstabenräume. Im peripheren Wahrnehmungsbereich können Längen, Formen und Zwischenräume der Worte erkannt werden, und damit wird die Steuerung auf den nächsten Fixationspunkt unterstützt. Für die handlungsregulatorische Funktion der Augenbewegungen beim Lesen ist besonders bedeutsam, daß die Augen dem Aussprechen vorauseilen und zwar um das Maß der FixierSprech-Spanne (EVS, meist in Worten gemessen). BUSWELL definierte bereits 1920 die

260

Z. P s y c h o l . B d . 191 (1983) H. 3

Funktion dieser E V S sehr treffend, indem er vermutet, „daß sie dem Geist erlaubt, eine große Bedeutung zu erfassen und zu interpretieren, bevor die Stimme" diese ausdrücken muß" (zit. in G L B S O N und L E V I N , 1980 S. 200). Handlungsbegleitende interne Feedbackkreise ermöglichen somit Korrekturen am noch nicht Ausgesprochenen. Die Länge der E V S ist abhängig vom Bedeutungsgehalt, der Schwierigkeit des Textes, von Satzstrukturen und Personmerkmalen. Sie beträgt im Mittel bei unstrukturierten Wortlisten 2,19 Wörter und 3,91 Wörter bei ganzen Sätzen. EnUvicklungsabhängige V e r ä n d e r u n g e n der A u g e n b e w e g u n g e n sind bis zur 4. K l a s s e zu b e o b a c h t e n und b e t r e f f e n eine V e r r i n g e r u n g der H ä u f i g k e i t von F i x a t i o n e n und der D a u e r der F i x a t i o n e n . D a m i t s i n k t die H ä u f i g k e i t der Progressionen bei Z u n a h m e ihrer L ä n g e . Die A n z a h l der R e g r e s s i o n e n v e r ä n d e r t sich n o c h bis z u m E n d e der Schulzeit ( RAYNER, 1 9 7 5 ; GIBSON und LEVIN, 1980). Die peripheren M e c h a n i s m e n d e r I n f o r m a t i o n s a u f n a h m e , a u c h als „ M e c h a n i k des L e s e n s " bezeichnet, finden s o m i t schon recht f r ü h eine gewisse S t a b i l i t ä t . Die weitere V e r v o l l k o m m n u n g der L e s e t ü c h t i g k e i t b e t r i f f t h a u p t s ä c h l i c h die O p t i m i e r u n g der H a n d l u n g s r e g ü l a t i o n d u r c h höhere R e g u l a t i o n s e b e n e n , so d u r c h die m a x i m a l e A u s n u t z u n g des peripheren W a h r n c h m u n g s b e r e i c h e s und die v e r s t ä r k t e N u t z u n g s y n t a k t i s c h e r und s e m a n tischer S t r u k t u r . E n t w i c k l u n g s a b h ä n g i g e V e r ä n d e r u n g e n der F i x i e r - S p r e c h - S p a n n e , die bis ins E r w a c h s e n e n a l t e r b e o b a c h t e t werden, sind A u s d r u c k des G r u n d p r i n z i p s des Lesenlernens, n ä m l i c h d e r I n v a r i a n t e n n u t z u n g auf i m m e r höheren E b e n e n .

Différentielle Vergleiche der Augenbewegungsmuster von guten und schlechten Lesern zeigen übereinstimmend, daß der schlechte Leser kürzere und damit mehr Progressionen, mehr Begressionen und längere Fixationen benötigt. Die Fixier-Sprech-Spanne is,t kürzer, der periphere Wahrnehmungsbereich wird weniger gut ausgenutzt, d. h. die Wahrnehmungsspanne ist geringer und ungleichmäßiger und weist Überschneidungen auf. Die differentialdiagnostische Valenz der Augenbewegungsmuster beim Lesen für die Legastheniediagnostik ist zumindest im Vergleich zu guten und durchschnitllichen Lesern abgesichert. ' 3.2. Différentielle Analysen der Informationsaufnahmestrategie beim Lesen (Statusanalysen) Untersuchungen zur Worterkennung ( S C H E E R E R - X K U M A N N , 1977) haben gezeigt, daß Unterschiede in der Informationsaufnahme zwischen Legasthenikern und normal Lesenden Kindern auch dann nachweisbar sind,, wenn Augenbewegungen durch die taehistoskopische Darbietung ausgeschlossen wurden. Diese Unterschiede betreffen die unökonomische Segmentierung auf Grund mangelhafter Ausnutzung der Intrawortstruktur bei Legasthenikern. Deren Lesefehler wären nach S C H E E R E R - . \ E U M A N N (1977, 4981) daraus erklärbar, daß es ihnen nicht gelingt, Wörter in ökonomische Segmente zu gliedern und diese Segmente direkt aus den gespeicherten Merkmalslisten phonologischer orthographischer und morphologischer Art abzurufen. Die funktionalen Einheiten der Worterkennung sind somit kleiner als ein Wort, aber größer als ein einzelner Buchstabe und können direkt, d. h. bereits auf visuelleiii Niveau, abgerufen werden. Die Defizite in der Nutzung der Intrawortstruktur beim Legastheniker führen zur Notwendigkeit, auf der Grundlage einzelner Buchstaben zu lesen bzw. Worte ganzheitlich zu identifizieren, was unterschiedliche Arten von Lesefehlern nach sich ziehen kann. Trainingspro-

E . WITRTJK u. 11, Differentielle Leselernanalyse

261

g r a m m e mit Segmentierungshilfen haben sich in der L R S - T h e r a p i e vielfach b e w ä h r t ( K o s s o w , 1977; SCHEEREE,-NEUMANN, 1981). Von diesen B e f u n d e n ausgehend stellte sich die F r a g e , inwieweit sequentielle G e d ä c h t nisdefizite ursächlich die o p e r a t i v e N u t z u n g v o n Merkmalslisten u n d d a m i t der Intraw o r t s t r u k t u r beeinträchtigen. E s zeigten sich bei s p r a c h u n a u f f ä l l i g e n und bei sprachges t ö r t e n Legasthenikern deutliche Schwächen, Reihen von B u c h s t a b e n u n d F a r b e n zu reproduzieren, während bei nichtverbalisierbaren, a b s t r a k t e n S y m b o l r e i h e n keine Behaltensunterschiede a u f t r a t e n (ENSSLEN, 1981). Interessanterweise waren sequentielle G e d ä c h t n i s p r o b l e m e bei L e g a s t h e n i k e r n nur f ü r verbalisierbares Material nachweisbar, wobei dieses in sehr hohen Benennungszeiten seinen A u s d r u c k f a n d . B e i m L e s e n auf Satz- und Textebene unter Einschluß höherer R e g u l a t i o n s n i v e a u s ließen sich interindividuelle Unterschiede in der I n f o r m a t i o n s a u f n a h m e m i t Hilfe der Augenbewegungsregistrierung nachweisen. Übereinstimmend zeigt sich in Untersuchungen von RAYNER (1975),GIBSON und LEVIN (1980) und HELLER (1979), daß schlechte Leser u n d insbesondere L e g a s t h e n i k e r mehr F i x a t i o n e n z u m Lesen einer Zeile benötigen, länger m i t den A u g e n a n einem F i x a t i o n s o r t verweilen u n d mehr Regressionen innerhalb einer Zeile v o r n e h m e n . Hervorstechendes Unterscheidungsmerkmal zwischen Normallesenden und L R S - K i n d e r n ist die ungleiche Verteilung der Fixationszeiten über eine Zeile:

Fix zeit (msec)

4 , ms

I

350

t 4

300

Normalle sende 0

' 20 ' ¿0 " 60*

8 0 " TOO

Zeiknbereich (°/o)

Abb. 1. Verteilung der Fixationszeiten über eine Zeile (aus HELLER, 1979, S. 45)

Normallesende fixieren den A n f a n g einer Zeile l a n g e u n d die nachfolgenden T e x t stellen wesentlich kürzer. B e i den legasthenischen K i n d e r n tritt diese V e r k ü r z u n g nicht ein, die Fixationszeiten verteilen sich relativ gleichmäßig über die Zeile. Dieser B e f u n d

262

Z. Psychol. Bd. 191 (1983) H. 3

von HELLER (1979) belegt sehr eindrucksvoll interindividuelle Differenzen der Informationsaufnahme, die durch Unterschiede der Redundanzausnutzung des Kontextes, sowie der semantischen und syntaktischen Satzstrukturen erklärbar sind und die in ihrer Gesamtheit die antizipativen Komponenten des Handlungsvollzugs beeinflussen. Das legasthenische Kind ist zu derartigen antizipativen, regulatorischen Leistungen nicht in der L a g e und damit an jeder Stelle der Zeile gleich intensiv mit der Zeichenerkennung und Sinnentnahme beschäftigt, was zu einem durch hohen perzeptiven Aufwand gekennzeichneten, fehlerbehafteten Lesen führt. E s läßt sich anhand dieser und anderer Untersuchungen belegen, daß beim legasthenischen Leser das Grundprinzip der Okonomisierung des Lesens durch Ausnutzung sprachlicher Redundanz nur unvollständig realisiert werden kann. Um nun zu prüfen, ob das Grundprinzip der Adaptivität des Lesens ebenfalls nur defizit ä r wirksam werden kann, muß vom Ansatz der Interaktion von Personmerkmalen und Situationsmerkmalen ausgegangen werden und wenn möglich eine systematische Variation der wichtigsten Situationsmerkmale vorgenommen werden. Wir gingen bei unseren Untersuchungen von

d e n B e f u n d e n T I N K E R S ( 1 9 6 5 , r e f . GLBSON u n d L E V I N , 1 9 8 0 ) z u r

allgemeinen Abhängigkeit der Augenbewegungsmuster von der Art und der Schwierigkeit des Textes aus und stützten uns auf Ansätze einer interaktiven Betrachtung zwischen Lesefähigkeit und Textart bei HELLER (1979). Auf der Grundlage einer systematischen Variation der Schwierigkeit von Texten untersuchten wir (vgl. SCHAAB und HENSCHKE, 1981) Augenbewegungen und Leseleistungen von normallesenden und L R S - K i n d e r n . Diese Untersuchung zeigte, daß sich L R S - K i n d e r von normallesenden Kindern bezüglich der Augenbewegungs- und Leseleistungsparameter (Lesezeit und Lesefehler) insbesondere beim Lesen schwieriger Texte unterscheiden. Bei leichterem Lesematerial konnte eine Angleichung der Leseparameter festgestellt werden. Wir können aus den Ergebnissen entnehmen, daß Adaptivität an unterschiedliche Schwierigkeitsgrade des Lesestoffes bei beiden Personengruppen (Schüler 7. Klassen — intelligenzhomogenisiert) über eine Erhöhung des perzeptiven Aufwandes realisiert wird, wobei diese Aufwandserhöhung nur bei L R S - K i n d e r n signifikant nachweisbar und anforderungsinadäquat hoch war. Stellen wir uns die Frage, ob dieser unökonomisch hohe perzeptive Aufwand und dessen anforderungsinadäquate Erhöhung bei L R S Kindern evtl. darauf zurückzuführen ist, d a ß sekundäre Streßmechanismen beim Zwang zum lauten Lesen ausgelöst werden. In diesem Fall müßten die Augenbewegungsparameter beim leisen Lesen sich denen der Normalleser angleichen. HELLER'S (1979) Ergebnisse sprechen gegen diese Hypothese der L R S als einer spezifischen Vorleseschwäche. Die Unterschiede zwischen lautem und leisem Lesen sind bei normallesenden Kindern recht stark ausgeprägt, während bei L R S - K i n d e r n Unterschiede zwischen diesen Bedingungen k a u m vorhanden sind. Dabei muß man natürlich die wesentlich höheren Werte in allen Augenbewegungsparametern bei den L R S - K i n d e r n und damit auch eine Ausgangswertabhängigkeit beachten. E s ergibt sich aus dem Befundmaterial kein Hinweis darauf, daß das laute Vorlesen von den L R S - K i n d e r n als Streßbedingung erlebt wird und deshalb eine inadäquate Aufwandserhöhung gegenüber dem leisen Lesen eintritt. Obgleich leises Lesen auch nicht identisch ist mit Inaktivität sprachmotorischer Pro-

E. WITRUK u. a., Différentielle Leselernanalvse

263

gramme, da diese auf subvokalem Niveau beteiligt sein können, erhebt sich die Frage, ob diese Befunde vereinbar sind mit der von KOSSAKOWSKI (1961), KOSSOW (1977) und OEHRLE (1975) vertretenen Hypothese einer sprachmotorischen Primärsymptomatik der L R S . Sprechen die Befunde nicht eher für ein noch zentraler ansetzendes Defizit in der internen Repräsentation sprachlicher Regelsysteme? FRITH (1981) verweist auf die erstaunlich „sparsame Interpretation" der L R S als einem kognitiven Sprachproblem, welches Defizite phonologischer und/oder sprachmotorischer Art nach sich ziehen kann. Ebenso sekundär, am kognitiven Sprachproblem ansetzend sind die dargestellten Phänomene perzeptiver Uneffektivität (im Gegensatz zu der älteren Hypothese eines allgemeinen Wahrnehmungsdefizits) 'zu betrachten. Das vorliegende Befundmaterial, von dem auf einige Beispiele verwiesen wurde, ist geeignet zur Sicherung interindividueller Differenzen beim Lesen auf der Ebene konstatierender Statuserhebung. Im folgenden soll auf die différentielle lernpsychologische Fragestellung der interindividuellen Leselernunterschiede eingegangen werden. 3.3. Différentielle Verlaufsatnalyse des Lesenlemens Der Leselernprozeß und seine differentiellen Verlaufsunterschiede sind in der Ontogenese nur im Verlaufe des 1. Schuljahres adäquat abbildbar. Unsere Untersuchungen sind diesbezüglich aber noch nicht abgeschlossen, so daß wir an dieser Stelle Befunde einer aktualgenetischen Simulation des Lesenlernens auf der Grundlage eines sogenannten „Zweitleselernprozesses" diskutieren wollen. Ausgehend von methodologischen Ausgangspositionen der differentiellen Lernpsychologie (WLTRTJK 1982) verwendeten wir ein von MENZ und GRONER (1980) vorgestelltes experimentelles Paradigma, welches das Textlesen auf der Grundlage graphemischer Umkodierung im Lernverlauf abbildet. Daß dabei von ganz anderen subjektiven Bedingungen ausgegangen wird als beim Erstlesenlernen, sei unbestritten. Von den genannten Autoren wurde aber sehr eindrucksvoll nachgewiesen, daß beim Zweitlesenlernen ein wichtiges Prinzip des Normalleselernprozesses aktualgenetisch abgebildet werden kann, nämlich die zunehmende Ökonomisierung der Informationsaufnahme durch Dikriminationslernen und die daran ansetzende fortschreitende Nutzung orthographischer, semantischer und syntaktischer Regeln. Die différentielle Lernverlaufsanalyse erfolgte im Extremgruppen vergleich normallesender Schüler und ehemaliger Schüler einer LRS-Sonderklasse — beide 7. Klassenstufe — (GROSSE, 1981). Das Versuchsmaterial bestand aus einem Geschichtentext, der in 6 gleichwertige Teile zerlegt, im Symbolschriftcode dargeboten wurde, wobei die Codezuordnung jeweils über dem Text angegeben war. Der Lernverlauf wurde mit Hilfe von Augenbewegungs- und Leseleistungsparametern abgebildet. Die Ergebnisse (GROSSE, 1981) zeigen interindividuelle Unterschiede im Leselernverlauf zwischen beiden Versuchspersonengruppen bezüglich der Parameter Lesezeit, Anzahl der Progressionen, Anzahl der Regressionen und der Dekodierungssprünge, die zur Informationsaufnahme des neuen graphischen Codes notwendig waren. Hervorstechendstes Merkmal der mittleren Lernverläufe ist der stark defizitäre Lernanfangszustand der legasthenischen Kinder in allen Prozeßparametern, an den sich ein

264

Z. Psychol. Bd. 191 (1983) II. 3

d)

9

Regr

Dekod. spr. i (n)

(n).

T

I -f

t

I

ISO +

500 -

100

300 ^ t t

LRS Normal

so1

2

3

4

5

6

t 100 0

1

2

3

4

5

Lcrnstufe Abb. 2. Différentielle Verlaufsanalyse des Zweitlesenlernens a) Lesezeit, b) Progressionen, c) Dekodierungssprünge, d) Regressionen

-t6 Lcrnstufe

265

E . WlTRTTK u. a., Différentielle Leselernanalyse

à) Behaltenstes t

Lesefehler J ft!) 18

18 T

16 %

Zahl

der gelernten

\oi=5%

-

(x),

16 7"

H 12

Symbole

12 10

10 •• 8

8

6

6

4

4

%

2 -•

'À LRS

0 Normal

LPS 1

Normal

Behaltersiesi

Abb. 3. Différentielle Effektvergleiche des Zweitlesenlernens a) Lesezeit, b) Lesefehler, c) Behaltenstest 18

Z. Psychologie 191-3

' A

LRS II.

Normal Behallenstcst

266

Z. Psychol. Bd. 191 (1983) II. 3

sehr dynamischer Lernfortschritt anschließt. Bezüglich dieses Lernfortschrittes gemessen in Form kumulativer Differenzwerte besteht eine signifikante Überlegenheit der legasthenischen Kinder. Der globale Effektvergleich der Gesamtwerte ergibt einen signifikanten Mittelwertsunterschied bezüglich der Lesefehler, allerdings keinen signifikant nachweisbaren Unterschied bezüglich der Lesezeit. In der Literatur gilt als „typischer" LRS-Fehler die Verwechslung von Buchstaben (KOSSAKOWSKI, 1961). Dieses auf Diskriminationsmängeln beruhende Phänomen war auch beim Erlernen der Symbolschrift zu beobachten. So verwechselten LRS-Kinder besonders häufig folgende Symbole: O

(n)

mit



(a)

und mit

A

(h),

^ (s) mit g (u). Diese Diskriminationsfehler traten zunächst auch bei den normallesenden Kindern auf, wurden aber nach entsprechenden Korrekturen bald überwunden, während die LRSKinder diese Symbole oft über die gesamte Versuchszeit verwechselten. Darauf aufbauend stellten wir uns die Frage, ob diese Fehler durch interindividuelle Unterschiede in der Internen Speicherung des neuen visuellen Lesecodes bedingt sind. Wie die Abbildung 3 verdeutlicht, konnten bei -der zweimaligen Behaltensprüfung (nach der 3. und nach der 6. Lernstufe) keine signifikanten Behaltensunterschiede ermittelt werden. Damit können wir den Befund von EFFLS (1981) bestätigen, wonach allgemeine Speicherdefizite des visuellen Codes bei LRS-Kindern auszuschließen sind. Dieses bedeutet aber nicht, daß der gespeicherte Code auch gleich gut operativ verfügbar und nutzbar ist. In diesem Zusammenhang sollte nochmals auf den Befund von ENNSLEN (1981) zu LRS-spezifischen sequentiellen Speicherdefiziten von verbalisierbarem Material verwiesen werden. Wir prüften die operative Nutzung des gespeicherten visuellen Codes im Lernverlauf durch multivariate Datenanalysen: Die Diskriminanzanalysen auf den 6 Lernstufen lassen oberflächlich nicht sichtbare Verschiebungen der handlungsregulativ wirksamen, diskriminierenden Prozeßmerkmale erkennen. Für die ersten beiden Lernstufen erwiesen sich insbesondere die Lesezeit in Verbindung mit dem zum Lesen notwendigen Dekodierungsaufwand als diskriminierende Variablen. Während es sich bei dem zum Lesen notwendigen Dekodierungsaufwand um eine den gesamten Lern verlauf über diskriminierend wirkende Variable handelt, zeigte sich, daß die Variable Lesezeit die beiden Vpn.gruppen nur in den ersten beiden Lernstufen trennt. Ab dritter Lernstufe tritt der für die Normalleseprozeß typische, diskriminierende Indikator der Regressionen in den Vordergrund (siehe Tab. I). Die Trennmaße weisen auf eine zweiphasige Struktur des Lerngeschehens hin. Das Trennvermögen sinkt zunächst als Ausdruck der Angleichung der Lernverläufe. Ab 4. Lernstufe ist wiederum ein Ansteigen der Trennmaße zu verzeichnen, welches Ausdruck der Stabilisierung interindividueller Unterschiede der Handlungsregulation auf verschiedenen Niveaus ist. Eine Nivellierung der Unterschiede, wie man sie aus der graphischen Anschauung der Lernverläufe (Abb. 2) vermuten könnte, muß auf Grund der Ergebnisse der Diskriminanzanalyse abgelehnt werden.

E. Witbtjk u. a., Differentielle Leselernanalyse

267

Tabelle I. Multivariate Analyse des Leselernverlaufs auf der Grundlage von Diskriminanzanalysen Lernstufe 1

2

3

4

5

6

Optimalmenge diskriminierender Variablen

Lesezeit Dekod.sprünge

Lesezeit

Regress. Dekod.sprünge

Regress.

Regress.

Regress. Dekod.sprünge

Trennmaß (Optimalmenge)

1,503

1,309

0,682

3,605

0,466

3,019

Trennmaß (Gesamtmenge)

1,987

1,409

0,961

4,384

0,699

3,612

Fehleranteil der Diskrimination

0,111

0,055

0,222

0,055

0,166.

0;055

Am Ende des von uns untersuchten Lernprozesses ist Lesen auf der Ebene einzelner Grapheme und Graphemsequenzen möglich. Der Übergang zum Lesen von Graphemsequenzen ist deutlich bei den Normallesern sichtbar und kann u. E. als Ausdruck der handlungsregulativ wirksamen Nutzung des gespeicherten Codes sowie der Regelnutzung orthographischer und semantischer Art angesehen werden, welche sich allerdings zunächst auf die Nutzung der Intrawortredundanzen bezieht. Dies zeigte sich z. B. darin, daß häufig auftretende Endungen und Buchstabencluster wie -ch, sch- von Normallesenden sehr schnell zum Lesen genutzt wurden und damit sich der Dekodierungsaufwand verringerte. Bei den LRS-Kindern vollzog sich das Lesen buchstabenweise mit häufig gar nicht notwendigen Dekodierungssprüngen, die Ausdruck ihrer besonders am Lernbeginn beobachtbaren Unsicherheit waren. Da wir feststellten, daß viele Untersuchungsergebnisse zum Leselernverlauf aus sich heraus kaum kausalen Erklärungswert besitzen, versuchten wir durch eine umfassende, multivariate Datenanalyse auf Persönlichkeitsmerkmalsebene Zusatzinformationen über die Persönlichkeitsstruktur unserer beiden Versuchspersonengruppen zu erhalten. Unser Variablensatz enthielt a) folgende Persönlichkeitsmerkmale: — IQ nach Colored Progressive Matrices Test von Raven, auf dessen Grundlage auch eine Grobhomogenisierung der Vpn.gruppen erfolgt ist — Lesequotient nach dem Züricher Lesetest von Biglmaier (signifikante Gruppenunterschiede in den Leseleistungen nachgewiesen)

— Konzentrationsfähigkeit nach dem Zahlenquadrattest von JibaSek mod. von Uebachs

— Kognitiver Reaktionsstil Impulsivität/Reflexität auf Grundlage des Matching Familiar Figure Test von Kagan (Fehler und Zeit-Skala) und b) folgende Globalmerkmale des Zweitleselernprozesses: — Gesamtlesezeit im Lernexperiment — Zahl der Lesefehler — beide Behaltenstestergebnisse 18*

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Z. Psychol. Bd. 191 (1983) II. 3

Als Optimalmenge zur Diskriminierung der beiden Ypn.gruppen erwiesen sich die Variablen Lesefehler im Lernexperiment und Fehler im Matching Familiar Figures Text. Dieses Ergebnis ist nun gleichermaßen interessant wie erstaunlich, wenn man bedenkt, daß eine Intelligenzhomogenisierung vorgenommen wurde, aber die Lesetestergebnisse sich univariat geprüft signifikant in den Gruppen unterschieden. Da die Diskriminierung beider Gruppen aber am besten auf der Grundlage der Lesefehler im Lernexperiment und der Fehlerskala des M F F gelingt, deutet sich eine differentialdiagnostische Überlegenheit einer experimentell provozierten Lernprozedur gegenüber einem auf Statusebene angelegten Lesetest an, was von GUTHKE (1977) und Mitarbeitern für den Bereich der Lernfähigkeits- und Intelligenzdiagnostik mehrfach nachgewiesen werden konnte. Zusammenfassend läßt sich einschätzen, daß, obgleich unsere Befunde noch nicht verallgemeinerungsfähig sind, sich in Zusammenhang mit den referierten Ergebnissen anderer Autoren die Anzeichen dysfunktionaler Informationsaufnahme auf Grund mangelhafter Nutzung sprachlicher Regelsysteme beim Legastheniker nicht mehr von der H a n d weisen lassen. E s hat sich als richtig erwiesen, Normabweichungen in der Anforderungsbewältigung des Lesens auch anforderungsspezifisch zu untersuchen, dabei von einem handlungstheoretischen Modell de£ Lesevollzugs auszugehen und wesentliche Regulationsmechanismen mikroanalytisch bezüglich ihrer interindividuellen Variabilität und potentiellen Dysfunktionalität zu untersuchen.

Zusammenfassung Ausgehend von der Charakterisierung des Lesenlernens als Form menschlicher Aneignungstätigkeit auf der Grundlage eines handlungstheoretischen Modells wird auf die interindividuelle Variabilität und potentielle Dysfunktionalität von Regulationsmechanismen des Lesens verwiesen. E s wird geprüft, inwieweit das partielle Leistungsversagen legasthenischer Kinder durch deren dysfunktionale Informationsaufnahme auf Grund defizitärer interner Repräsentation sprachlicher Regelsysteme erklärbar ist. Die Ergebnisse unserer experimentellen Lese- und Zweitleselernanalysen mit Hilfe der Augenbewegungsregistrierung bestätigen die Hypothese eines solchen Zusammenhanges.

Summary The authors characterize the learning process of reading as a specific form of human action of acquisition on the basis of a model of action regulation. Within this frame of reference interindividual differences and potential dysfunctions of reading are being discussed. The partial failure in reading achievement by children with legasthenia can be explained by a dysfunctional information input on the basis of a defective internal representation of language control systems. Experimental results by means of registration of eye movements confirm the hypothesis of such a connection.

269

E. WITRUK u. a., Differentielle Leselernanalyse Pe3ioMe HCXOP;H OT

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A u s dem Institut für Verhaltenswissenschaft der Eidgenössischen Technischen

Hochschule

Zürich

Der Einfluß der Impulsivität auf das Lösen von Analogieaufgaben V o n J . HÖLZLI Mit 2 Abbildungen

1. Einleitung Zur Beschreibung individueller Unterschiede im kognitiven Bereich wurden in den letzten Jahrzehnten neben Intelligenzleistungen vermehrt auch andere Dimensionen herangezogen. So wurden beispielsweise Motivation, verschiedene kognitive Stile oder soziale Kompetenz als prägende Faktoren kognitiven Verhaltens erkannt. Sie ermöglichen es, individuelle Äußerungen der Intelligenz angemessener und umfassender zu beurteilen und legen insbesondere auch pädagogische Ansatzstellen frei. Daneben wurde das Augenmerk auch vermehrt auf den Ablauf kognitiver Prozesse gelegt, auf individuelle Eigenheiten in Teilprozessen und deren Verknüpfung. Solche Untersuchungen versprechen grundsätzlich andersgeartete Aussagen über individuelle Unterschiede, als die lediglich am Denkprodukt orientierten Intelligenztests. In der vorliegenden Arbeit wird der Einfluß der kognitiven Stilvariablen Impulsivität auf das Lösen von Analogieaufgaben mit einem prozeßanalytischen Ansatz untersucht. Im Vordergrund stehen dabei Fragen zur Charakterisierung der Stille Impulsivität und Reflektiertheit.

2. Impulsivität vs. Reflektiertheit Diese Stildimension — auch unter der Bezeichnung „konzeptuelles Tempo" bekannt — wurde von KAGAN (1965) eingeführt. Grundlegend war dabei die Tatsache, daß beim Lösen von Aufgaben, in denen Genauigkeit und Schnelligkeit der Antworten negativ korrelieren und i^i denen der Schwierigkeitsgrad genügend groß ist, breite individuelle Unterschiede festgestellt werden können. Ferner ist die Gruppierung von Personen nach ihrem Antwortverhalten (schnell, ungenau vs. langsam, genau) zeitlich relativ stabil und nicht von der Art der Aufgaben abhängig. Mit der Dimension Impulsivität vs. Reflektiertheit werden individuelle Unterschiede bei der Verarbeitung von Information erfaßt, insbesondere, bei der Produktion und Uberprüfung von Antworthypothesen. Typisch für Impulse sind kurze Antwortzeiten und hohe Fehlerraten; die erste, spontan einfallende

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Z. Psychol. Bd. 191 (1983) H. 3

Antwort wird gegeben und zuvor kaum oder gar nicht auf ihre Richtigkeit überprüft. Reflektierte dagegen ziehen mehrere Hypothesen in Betracht, wägen sie sorgfältig gegeneinander ab und reduzieren so die Wahrscheinlichkeit eines Fehlentscheides. Während in K A G A N S Konzept der grundsätzliche Unterschied zwischen Impulsiven und Reflektierten im Ausmaß liegt, in welchem die betreffenden Individuen die Validität ihrer Antworthypothesen prüfen, heben W R I G H T und V L I E T S T R A ( 1 9 7 7 ) einen anderen Aspekt dieser beiden Stile hervor: die Organisation der Informationsaufnahme. Sie unterscheiden zwischen „stimulus-controllöd exploration" und „logic-controlled search". Exploration zeigt sich eher bei jüngeren Personen, in ungewohnten Situationen und richtet sich mehr auf physisch hervorstechende Stimuluseigenschaften. Search dagegen meint zielbewußtes Suchen, wird vorwiegend von den Intentionen der betreffenden Person geleitet und ist typisch für gewohnte Situationen und ältere Personen. Exploration ist die impulsive, search die reflektierte Art der Informationsaufnahme. Nach Meinung der genannten Autoren liegt in diesen beiden Mustern der Informationsaufnahme der hauptsächliche Unterschied zwischen Impulsiven und Reflektierten. Zur Klassifizierung von Impulsiven und Reflektierten wird heute üblicherweise der „Matching Familiar Figures"-Test (MFF-Test) nach K A G A N verwendet. Bei diesem Test werden der Yp ein Bild eines Gegenstandes als Standard gezeigt und gleichzeitig vier bis acht (je nach Alter der Vp) Vergleichsbilder, von denen eines genau mit dem Standard übereinstimmt, während die übrigen sich davon durch kleine Einzelheiten unterscheiden. Die Aufgabe besteht darin, aus den Vergleichsbildern jenes herauszufinden, das mit dem Standard identisch ist. Bei Fehlantworten wird die Vp angehalten, bis zum Auffinden des richtigen Bildes weiterzusuchen. Für jede der üblicherweise 12 Aufgaben werden die Zeit bis zur ersten Antwort und die Anzahl der falschen Antworten festgehalten. Mit dem Mittel der Antwortzeiten (L) sowie dem Total der Fehlantworten aus allen Aufgaben (F) wird nach K A G A N die Klitssifizierung einer VP vorgenommen: Mit Hilfe der Mediane der Lund der F-Werte aller Vpn wird unterschieden zwischen Impulsiven (schnell, viele Fehler), Reflektierten (langsam, wenig Fehler) und zwei Mischtypen (schnell, wenig Fehler bzw. langsam, viele Fehler). Da L- und F-Werte negativ korrelieren, fallen nur etwa 30 % der Vpn auf einen der Mischtypen und können somit in der Dimension Impulsivität vs. Reflektiertheit nicht klassifiziert werden. und W R I G H T ( 1 9 7 7 ) schlagen ein neues Bewertungskonzept vor. Sie gehen von der Annahme aus, daß beim Lösen der MFF-Aufgaben die beiden unabhängigen Dimensionen „Impulsivität" und „Effizienz" beteiligt sind. Impulsivität ist in ihrem Sinne das, was Impulsive und Reflektierte zur Hauptsache unterscheidet, nämlich die relative Betonung von Schnelligkeit bzw. Genauigkeit. Impulsivität wird als eine Stilvariable bezeichnet. Effizienz dagegen ist jene Dimension, in der sich die beiden Mischtypen vor allem unterscheiden und betrifft eher eine Fähigkeit als einen Stil. Impulsivitäts- und Effizienzwerte werden wie folgt bestimmt: SALKIND

h — Zfi ~ zu

;

EL

~ Zfl +

z

u-

Dabei bedeutet zfl bzw. % den z-Wert des F- bzw. L-Wertes der i-ten Vp im MFF-Test. Die Hauptvorteile dieses Bewtirtungsverfahrens sind die folgenden: Allen Vpn (auch den

J . HöLZLI, Einfluß der Impulsivität auf Lösen von Analogieaufgaben

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etwa 30 %, die nach K A G A N auf die Mischtypen fallen) kann ein I- und ein E-Wert zugewiesen werden. I- und E-Werte sind kontinuierliche, statistisch unabhängige Variablen. Alle Impulsiven (nach KAGAN) erhalten positive, alle Reflektierten negative I-Werte. Im folgenden verwenden wir die Bezeichnung „Impulsivität" für die Stildimension, Impulsivitätswert für einen Wert der erwähnten Variablen I. Positive I-Werte bezeichnen Impulsive, negative die Reflektierten.

3. Fragestellung Kognitive Stile ganz allgemein beziehen sich auf die Art und Weise, wie individuelle Problemlösungen zustande kommen, auf Ablaufseigenschaften des Lösungsprozesses; sie sind qualitative Beschreibungen. Die Klassifizierungsinstrumente, z. B. der MFF-Test im Falle der Impulsivität, sind aber produktorientiert und liefern quantitative Merkmale. Die Resultate des MFF-Tests sagen selber wenig aus über die Art und Weise, in der die Testleistung zustande kommt und wie die einzelnen Stilgruppen zu charakterisieren sind. Die heute übliche Beschreibung von Impulsiven und Reflektierten ist vielmehr das Resultat von Beobachtung und Vergleich des Verhaltens dieser beiden, mittels des MFF-Tests formierten Personengruppen in verschiedenartigen Problemsituationen. Soweit sich diese Beschreibungen, bzw. die Kennzeichen eines bestimmten Stils, auf globale, äußere Merkmale des Lösungsprozesses beziehen, sind sie ohne weiteres überprüfbar. Soweit sie aber Aussagen beinhalten über Verlaufseigenschaften des Lösungsprozesses, über die Existenz von bestimmten Teilprozessen und über das Ausmaß, in dem einzelne Teilprozesse am gesamten Lösungsprozeß beteiligt sind, bleiben sie größtenteils spekulativ. Solche Aussagen können im allgemeinen nicht aus bloßer Personenbeobachtung gewonnen werden. In diesem Zusammenhang stellen wir folgende Fragen : 1) Lassen sich Individuen, die mittels des MFF-Tests als impulsiv bzw. reflektiert bezeichnet werden, auch aufgrund von Eigenheiten des Lösungsprozesses unterscheiden? 2) Welches sind gegebenenfalls die charakteristischen Unterschiede? 3) Entsprechen diese Eigenheiten des Lösungsprozesses der beiden Personengruppen dem, was in der Literatur als typisch für Impulse bzw. Reflektierte genannt wird? Mit der Beantwortung vor allem der dritten Frage hoffen wir einen Beitrag zur Klärung des Konstruktes „Impulsivität" zu leisten, insbesondere was die von W R I G H T und V L I E S T R A erwähnte Bedeutung der Organisation der Informationsaufnahme betrifft.

4. Experimente Wir benötigen für unsere Fragestellung Aufgabenmaterial und eine Methode, die nicht nur die zu erwartenden globalen Unterschied^ zwischen Impulsiven und Reflektierten (Antwortzeit und Fehlerrate) wiedergeben, sondern auch auf der Ebene der Teilprozesse

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Z. Psychol. Bd."191 (1983) H. 3

und deren Verknüpfung Unterschiede offenlegen können. Wir wählten figúrale Analogie?

aufgaben, d. h. 4-Term-Analogien der Form U : V = X :Y, wobei anstelle der Terme U, V, X und Y einfache geometrische Figuren stehen. Folgende Gründe waren für diese Wahl maßgebend: Das Lösen von Analogieaufgaben gehört zu den am besten untersuchten Denkprozessen (für einen Uberblick vgl. S T E R N B E R G , 1 9 7 7 ) . Die zahlreichen experimentellen und theoretischen Arbeiten erlauben es, fundierte Modelle für den Lösungsprozeß bei derartigen Aufgaben zu erstellen. Diese Arbeiten zeigen aber auch, daß das Lösen von Analogieaufgaben relativ klar definierte Prozesse der Informationssuche und der Hypothesenüberprüfung verlangt, welche auch bei der Beschreibung der Impulsivität von Bedeutung sind. Außerdem läßt dieser Aufgabentyp bei entsprechender Versuchsanordnung genügend Raum für eine individuelle Lösungsfindung, d. h. man kann erwarten, daß die Lösungsprozesse von Impulsiven und Reflektierten sich unterscheiden. Der Lösungsprozeß wurde mit der Methode der Komponentenanalyse untersucht. Diese Methode wurde in einem früheren Aufsatz diskutiert, in dem auch einige Theorien zur Analogisieren, die in unseren Versuchen verwendeten Modelle des Lösungsprozesses und Aufgabentypen sowie die Durchführung der Experimente besprochen sind (HÖLZLI, 1983). Das für unsere Fragestellung Wichtige sei daher hier nur kurz zusammengefaßt. P

Eine Aufgabe der Form U:V = X : Y lösen heißt im Wesentlichen, Relationen (Transformationen) zwischen den Termen U und V zu finden und zu überprüfen, ob zwischen X und Y dieselben Relationen existieren. Unsere drei Modelle des Lösungsprozesses sehen je vier serial verknüpfte Teilprozesse (Komponenten) vor: Encoding (A): Von einem Term wird ein mentales Abbild erzeugt und im Kurzzeitgedächtnis gespeichert. Inference (B): Eine der in einem Termpaar vorkömmenden Transformationen wird gefunden und gespeichert. Application (D): Eine in der Inference-Komponente eruierte Transformation wird auf einen Term X angewandt und ein mentales Abbild X ' des transformierten Termes erzeugt. X ' wird mit einem vorgegebenen Term verglichen. Response (K). Das Resultat des Vergleiches in der Application-Komponente wird in eine Antwort übersetzt und ein motorischer Output wird erzeugt. Die drei bereitgestellten Modelle unterscheiden sich in der Anzahl selbstabbrechender Komponenten. Modell I enthält nur ausschöpfende Komponenten, in Modell II ist die Application-Komponente und in Modell III Inference- und Application-Komponente selbstabbrechend. Die Komponentenanalyse erlaubt zu entscheiden, welches Modell den Lösungsprozeß einer bestimmten Person oder Personengruppe am besten abbildet und liefert für jede Komponente eine Schätzung jener Zeit, die beim Lösen eines Items für den z. T. repetierten Ablauf dieser Komponente aufgewendet wird.

J . HÖLZLI, Einfluß der Impulsivität auf Lösen von Analogieaufgaben

275

5. Resultate und Diskussion Das Mittel der mittleren Antwortzeiten (L-Werte) aus dem MFF-Test beträgt 57,2 s (SD = 21,0 s), das der Fehlertotale (F-Werte) liegt bei 3,9 (SD = 3,8). Die L- und F-Werte korrelieren mit r = —0,51 (p, der der Quotient aus der Standardabweichung der „wahren" Mittelwertsdifferenz zu Lasten der experimentellen Behandlungen und dem Standardfehler des Mittelwerts ist, für dessen Quadrat also c = n gilt (vgl. auch WINER, 1971, S. 2 2 1 ) : (8)

=(n-al)/al.

COHEN ( 1 9 6 9 , S . 2 6 7 - 2 8 0 ) b e n u t z t d a s M a ß p

(9)

m i t c=

1:

P = ol/cl .

Zwischen diesen Nonzentralitätsparametern bestehen u. a. die folgenden Beziehungen: (10)

f*=