Zeitenfülle: Annäherungen an das paradoxe Verhältnis von Vergänglichkeit und Vollendung 9783429043346, 9783429056179, 9783429051525, 3429043344

Nicht nur in den Geisteswissenschaften, der Kunst und Kultur des 20. Jahrhunderts ist die Komplexität und Vieldimensiona

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INHALTSVERZEICHNIS
HINFÜHRUNG
A PROVOCATIO: NOTGER SLENCZKA UND SEINE THESE DER DEKANONISIERUNG DES ALTEN TESTAMENTS IN DER DISKUSSION
1. Hermeneutische Voraussetzungen der Theologiegeschichte
2. Bibelhermeneutische Voraussetzungen Notger Slenczkas
3. Bedeutung des jüdisch-christlichen Dialogs
4. Christologische Prämissen für Notger Slenczkasb These
5. Das nicht-normative Alte Testament und das Neue des Neuen Testaments
6. Das Neue des Neuen und die reformatorische Freiheit
7. Provocatio: Die These der Dekanonisierung des Alten Testaments
B REVOCATIO: ENTGEGNUNGEN ZU UND KRITIK AN NOTGER SLENCZKAS THESE DER DEKANONISIERUNG DES ALTEN TESTAMENTS
1. Das Zeugnis des einen Wortes Gottes
2. „The parting of the ways“ – Judentum und Christentum
3. Hermeneutische Anfragen an N. Slenczka
4. Das Neue des Neuen Testaments
5. Die christologisch-theologische Auslegung von Röm 9-11
6. Zum Antijudaismusvorwurf gegen Notger Slenczka
7. Die Rückkehr Marcions?
8. Revocatio: Der Verlust des Alten Testaments
C INVOCATIO: DAS ZUEINANDER VON ALTEM UND NEUEM TESTAMENT IN DER SAKRAMENTALITÄT DER SCHRIFT
1. Die Weichenstellungen des II. Vatikanums für eine israelsensible Bibelhermeneutik
2. Historische und pneumatische Auslegung der Schrift
3. Heilsgeschichte und das Wort Gottes
4. Analogia fidei als bibelhermeneutisches Prinzip
5. Sakramentalität der einen christlichen Bibel
6. Invocatio: Die Einheit der christlichen Bibel als theologische Aufgabe
DIE EINHEIT DER CHRISTLICHEN BIBEL: PERSPEKTIVEN UND HERAUSFORDERUNGEN
Allgemeines Abkürzungsverzeichnis
Bibliographie
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Zeitenfülle: Annäherungen an das paradoxe Verhältnis von Vergänglichkeit und Vollendung
 9783429043346, 9783429056179, 9783429051525, 3429043344

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ISBN 978-3-429-04334-6 ISBN 978-3-429-05617-9

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Zeitenfülle

Studien zur systematischen und spirituellen Theologie Christian Bock Bernard Mallmann

Zeitenfülle Dekanonisierung des Alten Testaments?

Annäherungen an das paradoxe Verhältnis von Vergänglichkeit und Vollendung Rückfragen an Notger Slenczka aus Sicht katholischer Theologie

Christian Bock

Dekanonisierung des Alten Testaments?

Autor: Christian Bock, geb. 1976, Studium der kath. Theologie in Erfurt, Frankfurt a. hat M. und Rom. 2015und Promotion zum Dr. theol., Bernard Mallmann, geb. 1985, in Regensburg Rom TheoPfarrer in Sömmerda. logie studiertderzeit und wurde 2012 zum Priester geweiht. 2020 promovierte er am Institut für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.

Bernard Mallmann

Mit seinem Vorschlag, dem Testament den normativen Rang Nicht nur in denAlten Geisteswissenschaften, der Kunst und Kultur des im Kanon der20. heiligen Schriften zu nehmen, hat der Berliner TheoJahrhunderts ist die Komplexität und Vieldimensionalität der loge Notger Zeit Slenczka eine wichtigen kontroverse Debatte entfacht.Dabei Der Vorzu einem Thema geworden. zeigt sich, dass wurf des Antijudaismus wurde erhoben, die Einheit der christlichen die Frage nach der Zeit nicht restlos zu beantworten ist. Zeit ist Bibel aus Altem und Neuem Testament schien infrage gestellt. wesentlich Geheimnis. Die Bernard Untersuchung wendet sichHintergründe verschiedenen Die Studie von Mallmann legt die für philosophischen das theologischen Konzeptionen des 20. Jahrhunderts zu (u. a. Votum einer und Dekanonisierung des Alten Testaments frei und bietet Heidegger, Rahner, Balthasar, Pannenberg), deren Ansätze einen Überblick über dieRicœur, vielstimmige Kritik, die Slenczkas Vorstoß dieDie Vielschichtigkeit der zeitlichen Schöpfung ernstnehmen und ausgelöst hat. antimarcionitische Weichenstellung der frühen die deshalb für eine Sichtweise auf dasdes Phänomen Zeit Kirche mit ihrem Bekenntnis zur komplexe Normativität und Kanonizität plädieren. dabei ist gedeutet der Begriff der PeriAlten Testaments wird Interpretationsschlüssel sodann offenbarungstheologisch chorese gegenseitige Durchdringung), der die unterschiedene und im Gedanken der(= Sakramentalität der christlichen Bibel fortgeEinheit von Chronos, Kairosim und Pleroma aufdeckt und sie von der schrieben: Demnach ist das Gotteswort Menschenwort im Alten Jesu Christi auf die Gegenwart und Neuem zeitlichen TestamentExistenz in derselben Weise her vernehmbar. Das Be- des dreifalGottes transparent macht. kenntnis zumtigen kanonisch-normativen Stellenwert des Alten Testa­ ments steht gegen die Israelvergessenheit christlicher Theologie.

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Bernard Mallmann Dekanonisierung des Alten Testaments?

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Studien zur systematischen und spirituellen Theologie

57 Begründet von Gisbert Greshake, Medard Kehl und Werner Löser Herausgegeben von Jan-Heiner Tück und Klaus Vechtel

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Bernard Mallmann

Dekanonisierung des Alten Testaments? Rückfragen an Notger Slenczka aus Sicht katholischer Theologie

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ›http://dnb.d-nb.de‹ abrufbar. © 2021 Echter Verlag GmbH, Würzburg www.echter.de Umschlag: Crossmediabureau, Gerolzhofen Druck und Bindung: CPI-books, Clausen & Bosse, Leck ISBN 978-3-429-05617-9 978-3-429-05152-5 (PDF)

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VORWORT Am Beginn dieser Studie soll ein Wort des Dankes stehen. Aus dem Danken und dem Verdankt-Sein kommt das Denken; das Denken führt zum Dank zurück. Damit in dem vorliegenden Band die gekürzte Version der Dissertationsschrift, die an der Wiener KatholischTheologischen Fakultät eingereicht wurde, erscheinen kann, gilt es vielen zu danken. An erster Stelle darf ich Bischof Dr. Rudolf Voderholzer nennen, dass er die Möglichkeit gegeben hat, das Promotionsstudium in Wien aufzunehmen. Eine große Freude und Ehre war es für mich, dass mich Prof. Dr. Jan-Heiner Tück in seinen Doktorandenkreis aufgenommen hat und mich in den drei Jahren der Entstehung dieser Studie in einem wohlwollenden Austausch begleitet hat. Mit regem Interesse hat Prof. Dr. Ludger SchwienhorstSchönberger das Wachsen der Studie verfolgt und bedenkenswerte Hinweisen gegeben. Prof. Dr. Helmut Hoping und Prof. em. Dr. KarlHeinz Menke habe die Mühen der Begutachtung auf sich genommen. Ihnen gilt ebenso mein Dank. Almut Plobner, Britta Mühl, Stephanus Rützler Can. Reg., Philipp Supper und Dr. Christoph Weiss haben die Aufgabe des Korrekturlesens übernommen. Dafür, aber mehr noch für ihre Verbundenheit gilt ihnen meine Anerkennung. Eine wissenschaftliche Studie wächst nicht nur am Schreibtisch, sondern sie braucht auch den lebendigen Austausch. Ihnen und allen Wegbegleitern, die die vergangenen Jahre mit ihrer Freundschaft, ihrem Wohlwollen und ihrem Gebet begleitet haben, sei ein „Vergelt’s Gott“ gesagt. Die intensive Beschäftigung mit der Einheit der christlichen Bibel hat mir nochmals neu vor Augen geführt, dass sie nicht nur die erste Theologie für das theologische Denken ist, sondern dass sie zuerst die Heilige Schrift des Volkes Gottes ist und in der Gemeinschaft des Glaubens ihren originären Ort hat. Hierbei denke ich besonders an die Pfarrei St. Othmar in Wien mit ihrem Pfarrer Dariusz Schutzki CR, in der ich zur pastoralen Mitarbeit leben durfte. Dem gemeinsamen Glaubensweg gilt das Hören auf das „Wort des lebendigen Gottes“. Es ist mir eine Freude, dass die Studie in die Reihe „Studien zur systematischen und spirituellen Theologie“ aufgenommen wurde. Herzlich sei den Herausgebern Prof. Dr. Eberhard Schockenhoff († 2020), Prof. Dr. Jan-Heiner Tück und Prof. Dr. Klaus Vechtel, sowie Herrn Heribert Handwerk vom Echter Verlag ein Wort des Dankes gesagt; nicht weniger gilt dieses Wort auch den (Erz-)Bistümern Regensburg und Wien mit ihren (Erz-)Bischöfen. Durch einen großzügigen Druckkostenzuschuss haben sie die Veröffentlichung der Studie mitermöglicht.

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Meine Eltern haben meinen Weg immer begleitet. Sie haben mir und meinen beiden Geschwistern nicht nur immer ihre Unterstützung gegeben, sondern uns auch das „erste Sakrament des Glaubens: die elterliche Liebe“ (R. Voderholzer) geschenkt und damit grundgelegt, dass ich im Glauben und im Leben danken und denken kann. Ihnen sei die Studie gewidmet! Wien, im November 2020 Bernard Mallmann

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INHALTSVERZEICHNIS HINFÜHRUNG ........................................................................................... 11 A PROVOCATIO: NOTGER SLENCZKA

UND SEINE

THESE

DER

DEKANONI-

SIERUNG DES ALTEN TESTAMENTS IN DER DISKUSSION ............................ 21

1. Hermeneutische Voraussetzungen der Theologiegeschichte ........... 23 1.1. Martin Luthers Verständnis des Alten Testaments und das reformatorische Schriftprinzip ................................................. 23 1.1.1. Die Bedeutung des Alten Testaments bei Martin Luther ...................23 1.1.2. Das protestantische Schriftprinzip........................................................28 1.2. Friedrich D. E. Schleiermacher: Das christlich fromme Bewusstsein ............................................................................ 34 1.2.1. Die Stellung der Religion in der Geschichte .......................................35 1.2.2. Das Christentum als die Religion .........................................................40 1.2.3. Das christlich-fromme Bewusstsein ....................................................46 1.2.4. Die Bedeutung des Neuen Testaments und die Deutung des Alten Testaments...................................................................................50 1.2.5. Die Christozentrik im Denken F. Schleiermachers.............................53 1.3. Adolf von Harnack: Das Alte Testament als Vorgeschichte des Christentums..................................................................... 57 1.3.1. A. v. Harnack uns sein Marcionbild.....................................................58 1.3.2. Die geschichtliche Entwicklung der Religion .....................................63 1.3.3. Die Normativität aus der Universalität des Christentums ..................68 Exkurs: L. Baeck und seine Kritik an A. v. Harnack: Konstruktion als Projektion .......................................................................... 70 1.4. Rudolf Bultmann: Präsentische Gnade im Neuen Testament .... 76 1.4.1. Geschichte und Kerygma .....................................................................76 1.4.2. Entmythologisierung als Programm ....................................................79 1.4.3. Glauben in der Gegenwart ....................................................................83 1.4.4. Das Alte Testament als Vorbereitung des christlichen Seinsverständnisses............................................................................86 1.4.5. Das Neue im Glauben ...........................................................................88 Zwischenbilanz.................................................................................. 91 2. Bibelhermeneutische Voraussetzungen Notger Slenczkas .............. 93 2.1. Rezeptionshermeneutik und Intertextualität ............................. 93 2.2. Kanonisierung und Kanonverständnis...................................... 99 2.3. Normativität biblischer Schriften ............................................... 105 3. Bedeutung des jüdisch-christlichen Dialogs .................................. 112

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4. Christologische Prämissen für Notger Slenczkas These................ 122 4.1. Christologie als Deutung Gottes ............................................ 122 4.2. Vorordnung der Soteriologie vor die Christologie .................. 126 5. Das nicht-normative Alte Testament und das Neue des Neuen Testaments ... 135 5.1. Die Bedeutung der Kanonizität und Normativität für das Alte Testament...................................................................... 136 5.2. Vorchristliche Gotteserfahrung.............................................. 140 5.3. Bibeltheologische Problemstellungen .................................... 144 5.3.1. Die christozentrische Interpretation von Röm 9-11 ......................... 145 5.3.2. New perspective on Paul.................................................................... 148 5.4. Das Neue im Neuen Testament.............................................. 150 5.4.1. Die Neubegründung der Existenz des Glaubenden ......................... 151 5.4.2. Christologische Neuinterpretation des Vorgegebenen .................... 154 6. Das Neue des Neuen und die reformatorische Freiheit ................. 160 6.1. Das reformatorische Freiheitsbewusstsein.............................. 160 6.2. Das Selbstverständnis des Christen ........................................ 164 6.3. Glaube und Wirklichkeit ....................................................... 172 6.4. Geschichte als Kontextualisierung ......................................... 174 7. Provocatio: Die These der Dekanonisierung des Alten Testaments..... 177 B REVOCATIO: ENTGEGNUNGEN ZU UND KRITIK AN NOTGER SLENCZKAS THESE DER DEKANONISIERUNG DES ALTEN TESTAMENTS ..................... 183 1. Das Zeugnis des einen Wortes Gottes............................................ 188 1.1. Partikularität und Universalität .............................................. 188 1.2. Das Fremde des Wortes Gottes .............................................. 196 1.3. Das eine Wort Gottes im Zeugnis von Judentum und Christentum... 201 2. „The parting of the ways“ – Judentum und Christentum ............ 214 2.1. Die Entstehung des Judentums aus dem Christentum ............. 215 2.2. Das eine Volk Gottes aus Juden und Christen ........................ 222 2.3. Die LXX als hermeneutischer Zwischenschritt ...................... 229 3. Hermeneutische Anfragen an N. Slenczka .................................... 235 3.1. Die Neukontextualisierung der hebräischen Schriften ............ 236 3.2. Hermeneutik und Sinnpluralität ............................................. 246 3.3. Der christologische Sinn des Alten Testaments ...................... 254 4. Das Neue des Neuen Testaments ................................................... 263 4.1. Das Neue als Zueinander von Altem und Neuem Testament .. 264 4.2. Die Offenheit des Neuen Testaments ..................................... 270 5. Die christologisch-theologische Auslegung von Röm 9-11 ............ 274 6. Zum Antijudaismusvorwurf gegen Notger Slenczka .................... 284 8

7. Die Rückkehr Marcions? ............................................................... 291 8. Revocatio: Der Verlust des Alten Testaments ............................... 296 C INVOCATIO: DAS ZUEINANDER VON ALTEM UND NEUEM TESTAMENT IN .................................................. 303

DER SAKRAMENTALITÄT DER SCHRIFT

1. Die Weichenstellungen des II. Vatikanums für eine israelsensible Bibelhermeneutik.................................................................... 304 1.1. Nostra aetate und das Verhältnis zwischen Judentum und Christentum .......................................................................... 305 1.1.1. Christlicher Antijudaismus ................................................................ 305 1.1.2. Grundzüge von Nostra aetate ............................................................ 308 1.1.3. Nostra aetate 4: Wegweisung und Herausforderung ...................... 312 Exkurs: Die antimarcionitische Entscheidung der frühen Kirche bei Irenäus von Lyon und Tertullian: die regula veritatis/fidei ..... 315 1. Marcion von Sinope und seine Theologie der Diskontinuität ......... 315 2. Irenäus von Lyon und die regula veritatis......................................... 328 3. Tertullian und die regula fidei............................................................ 334 4. Von der regula veritatis/fidei zur norma normans non normata ..... 340 1.1.4. Nostra aetate 4: Bruch oder Tradition? ............................................ 344 1.1.5. Fortschreibung von Nostra aetate 4 .................................................. 349 1.1.6. Bleibende Herausforderungen für eine biblische und theologische Hermeneutik ....................................................................................... 358 1.2. Dei Verbum und der Anstoß zur biblischen Hermeneutik ....... 362 1.2.1. Grundzüge von Dei Verbum ............................................................. 362 1.2.2. Dei Verbum 12 als Grundlage für die Schriftauslegung .................. 368 1.2.3. Fortschreibung von Dei Verbum ....................................................... 375 1.2.4. Bleibende Herausforderung für eine biblische und theologische Hermeneutik ....................................................................................... 382 1.3. Zusammenführung von Nostra aetate 4 und Dei Verbum 12 .. 385 2. Historische und pneumatische Auslegung der Schrift .................. 388 2.1. Die historisch-kritische Methode: Anliegen und Grenzen....... 388 2.2. Die pneumatische Auslegung: eine alte Hermeneutik für die Gegenwart .......................................................................... 398 2.3. Das Gespräch von pneumatischer und historischer Schriftauslegung ................................................................... 409 2.3.1. Pneumatisch-kritische Hermeneutik ................................................. 409 2.3.2. Rezeptionsgemeinschaft und „religiöses Gedächtnis“ .................... 423 3. Heilsgeschichte und das Wort Gottes ............................................ 430 4. Analogia fidei als bibelhermeneutisches Prinzip ........................... 444 4.1. Analogia fidei als pneumatologische Korrelation ................... 444 4.2. Analogia fidei als Vermittlung zwischen Altem und Neuem Bund ..... 454 9

5. Sakramentalität der einen christlichen Bibel ................................ 469 6. Invocatio: Die Einheit der christlichen Bibel als theologische Aufgabe .................................................................................. 481 DIE EINHEIT

BIBEL: PERSPEKTIVEN UND HERAUS....................................................................................... 487

DER CHRISTLICHEN

FORDERUNGEN

Allgemeines Abkürzungsverzeichnis ................................................. 509 Bibliographie ..................................................................................... 509

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„Das Christentum ist unlöslich an das Judentum gebunden. Löst es sich davon ab, so hört es auf, es selbst zu sein. […]1 Jean-Marie Lustiger

HINFÜHRUNG Seit der antimarkionitischen Weichenstellung der Alten Kirche ist klar, dass das Alte Testament zum Kanon der christlichen Bibel gehört. Dieser Konsens, der von den Kirchen des Ostens, der katholischen Kirche und den Reformationskirchen geteilt wird, ist immer wieder einmal problematisiert und zuletzt im Jahr 2013 von Notger Slenczka aufgekündigt worden. In seinem Aufsatz „Die Kirche und das Alte Testament“ legte der Berliner Systematiker die provokante Empfehlung vor, das Alte Testament aus der christlichen Bibel zu dekanonisieren. Seine These lautete, dass „das AT in der Tat, wie Harnack vorgeschlagen hat, eine kanonische Geltung in der Kirche nicht haben sollte“.2 Die Einheit der christlichen Bibel aus Altem und Neuem Testament – eine feste Überzeugung des ökumenischen Gesprächs und der christlichen Theologie – ist mit diesem Vorstoß in Frage gestellt. Was auf den ersten Blick als Normalität verstanden werden kann, dass nämlich die Bibel aus Altem und Neuem Testament einen grundlegenden und damit normativen Charakter für das Christentum besitzt, wird mit dieser Provokation zur Disposition gestellt und verlangt eine Antwort. Denn in der Haltung des Christentums zum Alten Testaments drückt sich nicht nur eine kulturelle und theologische Wertschätzung gegenüber dem Judentum aus, auch ist damit die Frage nach der Identität des Christentums tangiert. Die alttestamentlichen Schriften können und dürfen nicht als Texte einer fremden Religion verstanden werden, wenn das Christentum konstitutiv auf das Erbe Israels rückverwiesen ist. Gerade wenn in Europa und besonders in Deutschland der Antisemitismus in letzter Zeit wieder neu aufflammt, ist christliche Theologie verpflichtet, ihrer Verantwortung gegenüber dem Judentum gerecht zu werden, die aus der untrennbaren Verbindung zum Erbe Israels erwächst. Der Berliner Theologe ist nicht der erste, der dem Alten Testament im christlichen Kanon in expliziter Weise einen inferioren Stellenwert 1

J.-M. LUSTIGER, „Christentum unlöslich an Judentum gebunden“, in: Wagt den Glauben. Artikel, Vorträge, Predigten, Interviews 1981–1984 (= ThRom 14), übers. v. H. U. V. BALTHASAR, Einsiedeln 1986, 79-86, 84; [in Folge: J.-M. LUSTIGER, „Christentum unlöslich an Judentum gebunden“] 2 N. SLENCZKA, „Die Kirche und das Alte Testament“, in: E. GRÄB-SCHMIDT (Hg.), Das Alte Testament in der Theologie (= MJTh 25), Leipzig 2013, 83-119. Wiederaufgenommen und im Folgenden zitiert nach: N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen. Beiträge zur Neuvermessung ihres Verhältnisses, Leipzig 2017, 49-84, 49; [in Folge: N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen].

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zuschreiben möchte. Die Frage nach dem kanonischen Status des Alten Testaments begleitet das Christentum seit seinen Anfängen. Marcion von Sinope darf als erster prominenter Denker angesehen werden, der bereits im zweiten Jahrhundert das Ziel verfolgte, einen einheitlichen und normativen Kanon christlicher Schriften zusammenzustellen. Die theologische und schrifthermeneutische Einheitlichkeit des Evangeliums Christi sollte die Normativität seines Schriftkanons bestimmen, weshalb er nur das Lukasevangelium und zehn Paulusbriefe als kanonisch ansah. Im Mittelalter mühten sich die Katharer um eine Reform des christlichen Glaubens, in deren Folge sie weite Teile des Alten Testaments aufgrund dualistischer Schöpfungsvorstellungen ablehnten. In der Neuzeit wird wohl A. v. Harnack als der bekannteste Theologe genannt werden müssen, der in seinen Studien zu Marcion und zum Wesen des Christentums zu dem Schluss kommt, dass das Alte Testament aus dem christlichen Kanon zu verwerfen sei. Als traurigsten und empörendsten Versuch des Ausschlusses des ersten Teils der christlichen Bibel gilt E. Hirsch als Akteur der „Deutschen Christen“ und Mitglied der NSDAP. Mit der Ablehnung des Alten Testaments als Text einer fremden Religion war für ihn die Ablehnung des Judentums mit ausgesprochen, das soweit ging, das Judesein Jesu zu dekonstruieren. Ein in der christlichen Theologie oftmals latenter Antijudaismus wurde bei E. Hirsch zu einem offenen Antisemitismus. Auch wenn die genannten Beispiele in der Ablehnung des Alten Testaments übereinkommen, so muss davor gewarnt werden, eine einheitliche und vereinheitlichende Linie zwischen ihnen zu ziehen. Jede Epoche und jeder Theologe haben ihren eigenen Zugang und je eigene hermeneutische Voraussetzungen zur Frage um den theologischen Stellenwert des Alten Testaments; gemeinsam dürfte ihnen jedoch das Anliegen sein, die specifica christiana und den Geist des Evangeliums hervorzuheben. Christliche Theologie hat sich von den Schrecken der Shoah erschüttern lassen und versteht sich heute als „Theologie nach Auschwitz“, die sich nunmehr um ein israelsensibles Denken müht und versucht, die theologischen Implikationen zwischen Judentum und Christentum zu integrieren. So spielen Erkenntnisse zu den heiligen Schriften Israels eine wichtige Rolle in den theologischen Disziplinen. Das proprium christianum muss so gedacht werden, dass es nicht zu einer Abwertung oder Diffamierung des Judentums kommt. Darum bedarf es der historischen und theologischen Reflexion darüber, was den Hintergrund für das Verständnis des Alten Testaments bildet. N. Slenczka ist sich dieser Aufgabe christlichen Denkens bewusst und formuliert gerade vor diesem Horizont seine These der Dekanonisierung des Alten Testaments. Er hat immer wieder dazu eingeladen, seine These kritisch zu bedenken und nach den 12

theologischen Grundlagen für eine Normativität des Alten Testaments zu suchen. Die vorliegende Studie verfolgt das Anliegen, in das Gespräch mit N. Slenczka einzutreten und seine These der Dekanonisierung des Alten Testaments kritisch zu prüfen. Dabei wird es nicht nur darum gehen, die theologischen und hermeneutischen Voraussetzungen auszuleuchten, die N. Slenczka zu seiner Bewertung des ersten Teils der christlichen Bibel führen, sondern auch die polyphone Kritik an seiner These zusammenzutragen und auszuwerten. Besonders die zeitliche Nähe zu E. Hirsch wurde N. Slenczka zum Verhängnis, weshalb ihm ungerechtfertigterweise antijudaistische Tendenzen vorgeworfen wurden und werden. Die Theologie des Berliner Theologen zeichnet sich aber durch eine beispielhafte Sensibilität für das christlich-jüdische Gespräch und historische Zusammenhänge aus, die manche Kritik überzogen oder befremdlich erscheinen lassen. Die These N. Slenczkas provoziert eine Antwort auf die Frage nach dem kanonischen Status des Alten Testaments – eine Frage, die die christliche Theologie als ganze auch in ihrer ökumenischen Dimension betrifft; aber sie ist auch eine Provokation für katholische Theologie, wie sie aus ihrer Geschichte und Denktradition seinem Anliegen begegnet und welche theologischen Argumente für die Einheit und Normativität der einen christlichen Bibel sprechen. Die vorliegende Studie gliedert sich in drei Teile. In einem ersten Teil (A Provocatio) soll die These von N. Slenczka vorgestellt und erläutert werden. Dazu werden die Texte des Berliner Theologen zum Alten Testament im größeren Zusammenhang seines theologischen Schaffens kontextualisiert. Hierbei zeigt sich, dass N. Slenczka ein Kenner der Theologiegeschichte, insbesondere der Theologie und Philosophie F. Schleiermachers ist. Er weiß um die theologischen Konsequenzen seiner Entscheidung, dem Alten Testament den normativen Status für das Christentum abzusprechen, und nimmt in seiner theologischen Argumentation die Grundlagen für die akademische Theologie sowie die protestantischen Kirchen ernst. Hermeneutische und theologische Voraussetzungen werden untersucht, die für die slenczkasche These bedeutungsvoll sind. Hierbei muss auf Vordenker der Dekanonisierungsthese wie F. Schleiermacher, A. v. Harnack und R. Bultmann eingegangen werden, die für den Berliner Theologen wichtige Gesprächspartner in den Überlegungen zum Alten Testament sind. Seine Gedankenführung wird sich darin zusammenfassen lassen, dass es ihm um das reformatorische Grundanliegen geht, das im rechtfertigenden Evangelium Jesu Christi besteht. „Wenn jemand feststellt, dass das Alte Testament ,in seinem ursprünglichen Sinn‘ nicht Jesus als den Christus verkündigte, dann stellt sich die

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hermeneutische Frage danach, was eigentlich der Sinn eines Textes ist und wie er sich konstituiert im Zusammenspiel von ,historisch zugänglichem‘ Textsinn und der Rezeption bzw. den jeweils die Produktion und die Rezeption des Textes gestaltenden und beeinflussenden Kontextbedingungen“.3

In diesem Rahmen wird bei den genannten protestantischen Denkern und bei N. Slenczka nach den Punkten ihres Denkens gefragt, die eine Abstufung des Alten Testaments begünstigen. Hierzu gehört das Fragen nach dem Geschichtsverständnis, die Wesensfrage sowie das Verständnis des reformatorischen Freiheitsbewusstseins. Die Frage nach dem Wesen des Christlichen ist gekennzeichnet durch eine Verinnerlichung des Glaubensbewusstseins.4 Diese Verinnerlichung erkennt die Geschichtlichkeit des Christentums nicht in einem heilsgeschichtlichen Zusammenhang gegeben, sondern in der unmittelbaren Christusbeziehung, die einzig von der Rechtfertigung bestimmt ist. Damit verbunden ist dann auch das Anliegen, das „Evangelium der Evangelien“ zu suchen und als die eigentlich christliche Botschaft auszumachen, das frei ist von Dogmen und den Kern des Christentums umschließenden theologischen Inhalten: Nicht mehr nach der Substanz, sondern nach dem Geist des Christentums wird gesucht, der einzig das Licht der jesuanischen Botschaft aufleuchten lässt. Damit erscheint die konkret-geschichtliche Verankerung der Gottesoffenbarung, wie sie sich im Alten Testament ausspricht, als Vorgeschichte zum eigentlichen und absolut zu wertenden Gedanken des Christentums. In einem zweiten Hauptteil (B Revocatio) soll die Diskussion um die These von N. Slenczka zusammenfassend ausgeleuchtet und erweitert werden. Sehr schnell hat sich die Kontroverse um den Berliner Theologen zu einer überkonfessionellen Gespräch entwickelt, die auch den binnenkirchlichen Raum verließ und selbst in den Feuilletons großer deutscher Tageszeitungen diskutiert wurde. Vor allem wurden bibeltheologische Bedenken an der Dekanonisierung geäußert, die um Stimmen aus der systematischen Theologie ergänzt werden. Mit C Invocatio ist der dritte Hauptteil überschrieben, in dem ein Antwortversuch auf N. Slenczka aus der Perspektive katholischer Theologie versucht werden soll. Ausgehend von den Weichenstellungen, die das II. Vatikanische Konzil mit Nostra aetate 4 und Dei Verbum 12 für die katholische Theologie getroffen hat, soll eine theologische Hermeneutik erarbeitet werden, die die Diskontinuität und die Kontinuität von Altem und Neuem Testament denken und verstehen 3

Ebd. 31. Vgl. K.-H. MENKE, Das unterscheidend Christliche. Beiträge zur Bestimmung seiner Einzigkeit, Regensburg 2015, 256-; [in Folge: K.-H. MENKE, Das unterscheidend Christliche]. 4

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kann. Die Einheit der christlichen Bibel ist keine harmonische, in der alles von Anfang an auf diese Einheit hin angelegt war. Die Auslegung der einen christlichen Bibel darf diese Differenzmarkierungen nicht einfach übergehen, sondern muss der bleibenden Bedeutung des Alten Testaments als Bibel Israels für das Judentum und seiner stets gültigen Erwählung als Volk Gottes eingedenk bleiben. In diesem Sinne wird eine christliche Schriftauslegung dem Umstand Rechnung tragen müssen, dass das in den Schriften bezeugte Wort Gottes das Wort ist, das zuerst zu den Vätern gesprochen ist (vgl. Hebr. 1,1). Zugleich wird das Christentum aber auch nicht davon ablassen können, dass das Wort Gottes der Logos-Christus ist, in dem Gott sich selbst in der Geschichte ausspricht (vgl. Joh 1,14). So ist christliche Theologie immer wieder darauf zurückgeworfen, dass sie von dem spricht, der immer größer ist als das, was über ihn ausgesagt wird, aber dass es dennoch er selbst ist, der in die Geschichte und das Leben hineinspricht. Die werdende Kirche hat sich gegen Marcion gestellt und an der Bibel Israels als integralen Teil der christlichen Bibel festgehalten. Der große Bibelübersetzer Hieronymus hat exemplarisch dafür den Satz geprägt: „Die Schrift nicht kennen heißt Christus nicht kennen“.5 Mit der Schrift ist die Bibel Israels gemeint, die konstitutiv dafür ist, Jesus als den Christus zu bekennen. Die Kirche hielt daran fest, dass sie all das, was im Neuen Testament von Jesus Christus geschrieben steht, nur im Licht des Alten Testaments verstehen kann. Trotz einer immer wiederkehrenden marcionitischen Versuchung, die gleichwertige und theologische Einheit beider Testamente aufzukündigen, darf die antimarcionitische Weichenstellung als Grundkonsens des Christentums gelten, dass das Alte Testament keineswegs nur ein literarischer Vorspann, sondern ein wesentlicher Teil der zwei-einen Bibel ist. Daraus folgt aber, dass das Christentum gerufen ist, die alttestamentlichen Texte in ihrem Eigenwert, aber auch in ihrem Zusammenhang mit dem Neuen Testament nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich in ihrer theologischen Bedeutung zu ergründen. Das Thema der Einheit der christlichen Bibel und ihrer Normativität gehört zu den zentralen, also grundlegenden Themen des Christentums. Der Bibelwissenschaft kommt hierbei die wesentliche Aufgabe zu, die Verbindung und Einheit beider Testamente immer wieder neu zu bedenken und zu ergründen. Weil die Bibel als Heilige Schrift jedoch „Seele der ganzen Theologie“ sein soll (vgl. PO 16; DV 24), muss auch systematische Theologie dieses Thema bedenken. Dabei geht es um die Grundlage dessen, was die Bibel als Heilige Schrift ausmacht und

5

HIERONYMUS, Comm. in Jes., Prol.: PL 24.

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welchen Gehalt sie ausdrücken möchte.6 Die Arbeit wird zeigen, dass diese Herausforderung ein interdisziplinäres und überkonfessionelles Gespräch erlaubt und fordert. Wenn der Titel der Arbeit die „katholische Perspektive“ anspricht, dann soll dies nicht allein konfessionell gemeint sein, sondern es darf auch der ökumenische Charakter im Argumentieren für die eine Bibel mitgehört werden. Die Intention der Studie folgt keinem kontroverstheologischen Vorgehen,7 sondern fühlt sich gerade in ihrem „katholischen Argumentieren“ dem Dialog für die Grundlage christlichen Denkens verpflichtet. Die Bibel als Zeugnis für das Wort Gottes ist die ökumenische Basis für das gemeinsame Bekenntnis zu Jesus Christus. Und es ist die eine Bibel, die das Christentum mit dem Alten Testament in eine besondere Beziehung zum Judentum stellt, in dem dem Christentum „die älteren Brüder“ begegnen (Johannes Paul II.). Wollte sich christliche Theologie lange Zeit ihres jüdischen Erbes entledigen, so ist die Hoffnung, dass die vorliegende Studie einen Beitrag gegen die Israelvergessenheit in Kirche und Theologie leisten kann. Das Judentum muss für das Christentum privilegierter Gesprächspartner im theologischen Denken sein, um im Lesen und Denken der gemeinsamen heiligen Schriften für den einzutreten, von dem jede Zeile der Bibel spricht. Der Bezug zum Judentum und seinen Heiligen Schriften bietet für christliche Theologie eine große Chance, das eigene Denken bereichern und erweitern zu lassen. Doch ist gerade dieser Bezug die Herausforderung für das Denken der Einheit der christlichen Bibel. Die Frage wird sich bibeltheologisch, aber auch systematisch daraufhin zuspitzen, wie der Zusammenhang der alttestamentlichen Schriften zu 6

Vgl. T. SÖDING, „Historische Kritik und theologische Interpretation. Erwägungen zur Aufgabe und zur theologischen Kompetenz historisch-kritischer Exegese“, ThGl 82 (1992) 199-231, 229-230: „Die Einheit der Heiligen Schrift, die von der Ekklesia in der Kanonentscheidung als Ur-Dogma festgehalten und damit der Theologie als Thema aufgegeben wird, kann gleichfalls nicht auf dem Wege historisch-kritischer Untersuchungen aufgewiesen werden. Untrennbar mit der Wahrheitsfrage verbunden, bleibt sie Gegenstand der systematischen Theologie, insbesondere der Dogmatik. Sie fällt aber insofern auch in die Kompetenz historisch kritischer Exegese, als diese den spezifischen, im einzelnen freilich recht unterschiedlichen Anspruch zu eruieren und geschichtlich zu verifizieren vermag, den die biblischen Autoren erheben“ (Hervorhebung im Original); [in Folge: T. SÖDING, „Historische Kritik“]. Siehe auch L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Einheit statt Eindeutigkeit. Paradigmenwechsel in der Bibelwissenschaft?“, HerKorr 57 (8/2003) 412-417, 414; [in Folge: L. SCHWIENHORSTSCHÖNBERGER, „Einheit statt Eindeutigkeit“]. Der Wiener Alttestamentler weist darauf hin, dass in rein historisch-kritischer Betrachtung der Schrift der Begriff der Einheit der Schrift „inhaltlich nicht zu füllen“ sei. 7 Zu einem kontroverstheologischen Argumentieren schreibt der Berliner Theologe selbst: „Ich habe hinlänglich bewiesen, dass ich von ökumenischen Formelkompromissen nichts und von kontroverstheologischer Klarheit alles halte […]“. N. SLENCZKA, „Votum Ecclesiae“, HerKorr 73 (7/2019) 24-28, 24.

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Jesus als dem Christus zu denken ist. Das Christentum hat mit seinem Bibelkanon die Bibel Israels8 nicht einfach übernommen, sondern ihr in der Rezeption eine theologische Interpretation in der Anordnung zum Neuen Testament gegeben.9 Diese Interpretation ist aber zugleich ein Bekenntnis zu dem Gott Jesu Christi, von dem die Bibel Jesu spricht. Das Verhältnis des Christentums beschränkt sich jedoch nicht nur darauf, in welchem Zusammenhang das Neue Testament mit seiner Christusbotschaft zum Alten Testament steht. Es ist immer auch die Frage, wie die Gesamtbotschaft der einen christlichen Bibel im Heute der Kirche und des Lebens zu verstehen ist: „Wie kann ein Buch aus vormodernen Zeiten heute über diese Distanz hinweg in der modernen Welt Geltung beanspruchen“?10 Die Frage verschärft sich für das Christentum noch einmal mit dem paulinischen Wort: „Denn einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist: Jesus Christus“ (1 Kor 3,11). Wenn Jesus Christus als Grund und Fundament bezeichnet wird, dann wurzelt christlicher Glaube und christliche Theologie in ihm und geht von ihm aus. Welche Rolle und welche Bedeutung hat dann noch das Alte Testament, das mit keinem Wort Jesus Christus beim Namen nennt? Eine christliche Auslegung der ganzen Bibel kann zwar methodisch auf die Texte Israels Christo remoto eingehen, doch wird es theologisch eine Auslegung dieser Texte nur im Glauben an Jesus Christus und in seinem Licht geben. So versucht gerade der systematische Ansatz, die beiden Pole einer historischen Achtung des Alten Testaments und der Rezeption dieser Texte im Christentum auszuloten. Wurde die Einheit der christlichen Bibel besonders bei den Kirchenvätern mit dem pneumatischen Schriftsinn begründet,11 so wird ein theologisches Denken auch dem historischen Ansatz im Denken Rechnung tragen müssen, um die Vernünftigkeit der kanonischen Stellung des Alten 8 Für den Ausdruck „Bibel Israels“ plädiert C. Dohmen, da dies den theologischen und religionstheologischen Stellenwert der hebräischen Schriften für das heutige Judentum am genauesten beschreibt. Vgl. C. DOHMEN, „Text und Kon-Text“, in: DERS. – G. STEMBERGER (Hgg.), Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments (= KStTh 1,2), zweite, überarb. Aufl., Stuttgart 2019, 11-28, 14-20; [in Folge: C. DOHMEN, „Text und Kon-Text“] 9 Einen Überblick über die Bibeln des Judentums und des Christentums bieten K. SCHMID – J. SCHRÖTER, Die Entstehung der Bibel. Von den ersten Texten zu den heiligen Schriften, München 2019, 19-69; [in Folge: K. SCHMID – J. SCHRÖTER, Die Entstehung der Bibel]. 10 G. THEISSEN, „Bibelhermeneutik als Religionshermeneutik. Der vierdimensionale Sinn der Bibel“, Evang. Theol. 72 (2012) 291-306, 291; [in Folge: G. THEISSEN, „Bibelhermeneutik als Religionshermeneutik“]. 11 Vgl. R. VODERHOLZER, Die Einheit der Schrift und ihr geistiger Sinn. Der Beitrag Henri de Lubacs zur Erforschung von Geschichte und Systematik christlicher Bibelhermeneutik (= SlgHor 31), Einsiedeln 1998; [in Folge: R. VODERHOLZER, Die Einheit der Schrift].

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Testaments gerecht werden zu können. Die Bibel als das Zeugnis für die Geschichte Gottes mit dem Menschen entwirft ein Bild, das historisch und geschichtlich gefasst und verfasst ist. Beschreiben Altes und Neues Testament zunächst diese Geschichte unterschiedlich akzentuiert, sodass ersteres das theologisch ausdrückt, was zweiteres christologisch verdeutlicht, so muss der Gedanke erwogen werden, ob eine Glaubensanalogie helfen kann, den geschichtstheologischen Schatz dieser Verbindung im Gedanken der Heilsgeschichte zu heben. Es darf mit C. Schwöbel herausgestellt werden, dass das Christentum nicht nur religionsgeschichtlich, sondern auch theologisch verbunden ist: „Das Verständnis der Heilsfrage als Dimension des Geschichtsverständnisses gehört ebenso wie der konnektive Bezug des Heilsverständnisses auf die Geschichte zum jüdischen Erbe des christlichen Glaubens, durch dessen Preisgabe der christliche Glaube seine Identität verlieren würde“.12 Die Frage nach dem Zusammenhang von Altem und Neuem Testament in der christlichen Bibel führt zurück zu der Grundlage, auf die sich das Christentum verwiesen weiß. Dies ist der Anspruch, der N. Slenczka leitet; dies soll auch der Anspruch sein, dem sich christliche Theologie verpflichtet weiß. Es ist das Ringen im Glauben an den Juden Jesus,13 der als der Christus bekannt wird, und der im Glauben der Bibel Israels Gott als seinen Vater angesprochen hat. In diesem Glauben lebte Jesus und aus diesem Glauben entstand das Christentum. Auch wenn das Christentum keine Buchreligion ist, so ist es dennoch auf das eine Wort verwiesen, das sich in den vielen biblischen Worten ausdrückt. Das „Gotteswort im Menschenwort“ (DV 12) ist kein vergangenes Wort, sondern eines, das auch heute wirkt. Theologie erschöpft sich deshalb nicht in einem historischen Wissenschaftsverständnis, sondern lässt sich immer wieder neu von diesem Wort Gottes ansprechen und herausfordern, und erkennt darin ihre Grundlage. Weil aber biblische Texte nicht aus sich heraus wirken, sondern immer der Interpretation bedürfen, um lebensdienliche Texte 12

C. SCHWÖBEL, „‚Heilsgeschichte‘. Zur Anatomie eines umstrittenen theologischen Konzepts“, in: J. FREY – S. KRAUTER – H. LICHTENBERGER (Hgg.), Heil und Geschichte. Die Geschichtsbezogenheit des Heils und das Problem der Heilsgeschichte in der biblischen Tradition und in der theologischen Deutung (= WUNT 248), Tübingen 2009, 745-757, 753 (Hervorhebung im Original); [in Folge: C. SCHWÖBEL, „Heilsgeschichte“]. Vgl. auch P. HOFMANN, Die Bibel ist die Erste Theologie. Ein fundamentaltheologischer Ansatz, Paderborn 2006, 249, das das Verhältnis von Altem und Neuem Testament mit der Beziehung von Tora und Evangelium beschreibt: „Die Alternative zur DifferenzEinheit von Tora und Evangelium ist zuletzt eben nichts anderes als das ,ewige Evangelium‘ der Gnosis – ein unverbindliches, unbiblisches, unkirchliches AllerwelsEvangelium, das auf den religiösen Anstoß und die theologische Anstößigkeit der Heiligkeit Gottes in dieser Geschichte bequem verzichtet“ (Hervorhebung im Original); [in Folge: P. HOFMANN, Die Bibel ist die Erste Theologie] 13 Vgl. Vgl. H. HOPING, Jesus aus Galiläa – Messias und Gottes Sohn, Freiburg – Basel – Wien 2019; [in Folge: H. HOPING, Jesus aus Galiläa].

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sein zu können, braucht es die Rezeptionsgemeinschaft, die sich von diesen Schriften ansprechen lässt und in ihnen die normative Grundlage erkennt. Das Selbstverständnis des Christentums wird sich nicht auf das Neue Testament und auf das Evangelium Jesu Christi reduzieren lassen, wie es sich in der Dekanonisierung des Alten Testaments bei N. Slenczka ausdrückt. Die Einheit des Alten und des Neuen Testaments und ihre symmetrische Normativität bilden die Grundlage christlichen Glaubens und Denkens und beschreiben das Wesen des Christentums. Diesem Anspruch verpflichtet sich die vorliegende Studie und möchte ihn systematisch-theologisch und aus katholischer Perspektive begründen.

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A PROVOCATIO: NOTGER SLENCZKA UND SEINE THESE DER DEKANONISIERUNG DES ALTEN TESTAMENTS IN DER DISKUSSION Christliche Theologie hat an sich selbst immer neu den Anspruch zu stellen, sich die eigenen Grundlagen der Glaubensreflexion bewusst zu machen. Das, worauf christliche Theologie aufbaut, und was für sie im theologischen Sinne normierend ist, bedarf der ständigen Rückfrage und Selbstvergewisserung. Theologie muss daher nicht nur dem „Rede und Antwort (lo,gon) stehen, der nach der Hoffnung fragt“ (1 Petr 3,15), sondern auch sich selber Rede und Antwort stehen, wenn sie vom Logos Gottes sprechen will. Diese Selbstvergewisserung kann bisweilen auch provokant ausfallen und provokant sein, um immer wieder neu auf die eigene Begründungspflicht der Theologie aufmerksam zu machen. N. Slenczka hat mit seiner Forderung der Dekanonisierung des Alten Testaments einen Beitrag in der Selbstvergewisserung christlicher Theologie geleistet.14 Er hat es nicht gescheut, provokant und provokativ nach der normierenden Begründung christlicher Theologie zu fragen und in der Theologiegeschichte danach zu forschen. Seine These ist provokant und fordert heraus, weil N. Slenczka sich des theologischen Anspruchs bewusst ist, und er seine These aufgrund der Nicht-Normativität des Alten Testaments stringent zu begründen versucht. Die Folge seiner Deutung des Alten Testaments ist eine faktische Schlussfolgerung dessen, was sich in der Theologiegeschichte immer wieder angedeutet hat. In präzisen Linien zeichnet N. Slenczka die Gedankengänge protestantischer Positionen nach, ohne sich in allem dem anzuschließen. Der Berliner Systematiker referiert, wertet und zieht für sich und sein theologisches Denken Konsequenzen, die heute meist eine Einzelstimme im theologischen Gespräch und der wissenschaftlichen Diskussion sind. Doch unterstreicht er dabei, dass christliche Theologie und christlicher Glaube – auch wenn seine theologischen Prämissen nicht geteilt werden – die faktische Folge dieser Bewertung des Alten Testaments bereits in das Denken und in die Praxis aufgenommen haben, da in Theologie und

14 P. Tillich fordert für die systematische Theologie – ein Anspruch, der auch auf das Denken N. Slenczkas angewendet werden kann –, dass sie sich dem „qeo,j“ mit „lo,goj“ zuwenden muss, wozu es aber den „kairo,j“ braucht. Nur im Zusammenspiel dieser drei Momente kann sich Theologie vor der Vernunft bewähren. Vgl. P. TILLICH, „Das neue Sein als Zentralbegriff einer christlichen Theologie“, in: DERS., Offenbarung und Glaube. Schriften zur Theologie II (= Gesammelte Werke 8), Stuttgart 1970, 220-239, 220; [in Folge: P. TILLICH, „Das neue Sein“]. Der „kairo,j“ der Debatte um N. Slenczka ließ zwar zwei Jahre auf sich warten, doch hat der protestantische Theologe aus Berlin – wie gezeigt werden wird – eine breite und hitzige Diskussion um den Stellenwert des Alten Testaments in der christlichen Theologie entzündet.

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Predigt dem Neuen Testament ein weitaus größeres Gewicht zugemessen wird als dem Alten Testament. Die Rekonstruktion der These N. Slenczkas möchte im Folgenden die hermeneutischen Voraussetzungen bedenken, auf die sich der Systematiker aus Berlin stützt. Nachdem Marcion im 2. Jahrhundert das Alte Testament aus dem Kanon der christlichen Bibel verbannen wollte und die alttestamentlichen Schriften mit dem Vorurteil belud, sie würden einen bösen Gott im Gegensatz zum guten Gott eines gekürzten neutestamentlichen Kanons verkünden, stand in der Neuzeit seit M. Luther das Verhältnis von Altem und Neuen Testament stets zur Diskussion, weshalb N. Slenczka auf Überlegungen großer reformatorischer Denker zurückgreifen kann. So soll in einem ersten Schritt der Schwerpunkt auf die theologischen Ansatzpunkte einer Nicht-Normativität des Alten Testaments gelegt werden, die N. Slenczka für seine Interpretation des Alten Testaments heranzieht und auf die er sich in seiner Argumentation immer wieder beruft. In einem zweiten Schritt sollen die bibeltheologischen Gesichtspunkte aufgezeigt werden, die zu einem Verständnis der Nicht-Normativität alttestamentlicher Schriften führen können, bevor die systematischen Überlegungen N. Slenczkas dargelegt werden. Als protestantischer Theologe ist N. Slenczka seinem theologischen Erbe verpflichtet und wendet dieses Denken auf das Alte Testament an. Dies führt in seiner Sicht eben zur Nicht-Normativität des Alten Testaments, dem damit auch ein neuer theologischer Stellenwert zugesprochen werden muss. Der Berliner Systematiker will das Alte Testament nicht aus dem Buch der christlichen Bibel herausschneiden und in ein Exil verbannen, weil ihm und der christlichen Theologie die Schriften Israels viel zu wichtig und zu wertvoll sind. Er fordert jedoch eine differenziertere Sicht auf diese Texte ein und möchte damit nicht nur für die christliche Theologie, sondern auch für den christlich-jüdischen Dialog einen Beitrag leisten.

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1.

Hermeneutische Voraussetzungen der Theologiegeschichte

Provocare – mit diesem Wort leitet N. Slenczka im Jahr 2013 seinen Beitrag zum Thema „Kirche und Altes Testament“ ein. Es ist ein Aufruf oder auch ein Weckruf an die protestantische Theologie, über das Verhältnis zum Alten Testament nachzudenken. Theologie und protestantische Kirchenleitung bekennen sich zur Einheit von Altem und Neuem Testament, die historisch damit begründet wird, dass Jesus und seine Jünger Juden waren und in der jüdischen Kultur aufgewachsen sind. Damit will sich die protestantische Kirchenleitung der EKD auch dezidiert gegen einen christlichen Antijudaismus stellen. Sie ist sich bewusst, dass allzu oft mit theologischen Argumenten einem christlichen Antijudaismus Vorschub geleistet wurde.15 Daraus ergibt sich der „Basiskonsens“ von Judentum und Christentum, dass die hebräische Bibel ihnen gemeinsam sei, ohne sie dabei christologisch zu vereinnahmen.16 Dieser „Basiskonsens“ hat jedoch Auswirkungen auf das Denken in der Theologie und das Verständnis der Schrift, die N. Slenczka in die Nicht-Normativität des Alten Testaments münden lässt. 1.1.

Martin Luthers Verständnis des Alten Testaments und das reformatorische Schriftprinzip

1.1.1.

Die Bedeutung des Alten Testaments bei Martin Luther

M. Luther hat seine Rolle in der Kirchengeschichte mit der Heiligen Schrift und durch die Heilige Schrift gefunden. In ihr fand er das entscheidende Moment des Glaubens für die Rechtfertigung des Sünders vor Gott (vgl. Röm 1,17). Bekannt sind seine Vorlesungen und 15

Zum Verhältnis Luther und Juden vgl. N. SLENCZKA, Der Tod Gottes und das Leben des Menschen. Glaubensbekenntnis und Lebensvollzug, Göttingen 2003, 148-151; [in Folge: N. SLENCZKA, Tod Gottes]; H. LEHMANN, „Luther und die Juden. Stolpersteine auf dem Weg zur Fünfhundertjahrfeier der Reformation 2017“, in: C. DANZ – J.-H. TÜCK (Hgg.), Martin Luther im Widerstreit der Konfessionen. Historische und theologische Perspektiven, Freiburg – Basel – Wien 2017, 428-442. Darin weitere Literaturangaben zum neueren Forschungsstand des Themas. 16 Dies unterstreicht N. S LENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 49. Vgl. zur jüdischen Reaktion auf eine israelsensible christliche Theologie: NATIONAL JEWISH SCHOLARS PROJECT, „Dabru Emet. Eine jüdische Stellungnahme zu Christen und Christentum vom 10. September 2000“, in: R. KAMPLING – M. WEINRICH (Hgg.), Dabru emet – redet Wahrheit. Eine jüdische Herausforderung zum Dialog mit den Christen, Gütersloh 2003, 9-12; [in Folge: NATIONAL JEWISH SCHOLARS PROJECT, „Dabru Emet“]; von evangelischer Seite: EVANGELISCHE KIRCHE IN DEUTSCHLAND (Hg.), Christen und Juden I-III. Die Studien der Evangelischen Kirche in Deutschland 1975-2000, Gütersloh 2002; [in Folge: EKD, Christen und Juden I-III].

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Auslegungen zu den unterschiedlichen biblischen Büchern, wobei oft übersehen wird, dass sich der Doktor aus Wittenberg besonders mit Schriften des Alten Testaments auseinandergesetzt hat. Es ist bestimmt nicht übertrieben, wenn N. Slenczka über Luther schreibt: „Nach heutigem Verständnis war Luther Alttestamentler, und ohne das Alte Testament wäre er nicht geworden, was er gewesen ist“.17 In seinen Vorreden zur Übersetzung des Alten Testaments möchte der Reformator den Leser zu einem richtigen Verständnis der alttestamentlichen Bücher anleiten. Bekannt ist das Bild des Alten Testaments als Krippe Jesu: „Hie [im Alten Testament; Anm. d. Verf.] wirs tu die Windeln vnd die Krippen finden / da Christus innen liegt / Da hin auch der Engel die Hirten weiset. Schlecht vnd geringe Windeln sind es / Aber thewr ist der schatz Christus / der drinnen liegt“.18 Luther weist den Leser darauf hin, dass er in der Krippe und somit im Alten Testament Jesus finden kann. Dies ist ein wichtiges Indiz dafür, dass Luther das Alte Testament nicht nur als Gesetz betrachtet, sondern darin auch Hinweise auf das Evangelium findet.19 N. Slenczka kommentiert M. Luther: „Dass das Alte Testament ‚Evangelium‘ verkündigt, heißt für Luther, dass es ein Zeugnis für Jesus Christus ist – und das ist für ihn nicht eine perspektivische Lesart des Alten Testaments, neben dem es dann auch noch die Lesart des Judentums gibt, sondern Luther ist mit Paulus der Meinung, dass nur der das Alte Testament in seinem eigentlichen Sinn versteht, der es als Verkündigung des Evangeliums von Christus versteht; wer es anders versteht, der hat, wie Paulus sagt, eine Decke vor dem Gesicht, er erkennt

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N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 219. M. LUTHER, Vorrede zum Alten Testament [1545], WA.DB 7.11-31, hier 13,8, zitiert nach N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 220. 19 Vgl. N. S LENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 221: „Das Alte Testament verkündigt Jesus Christus; es weckt damit bei den Vätern und Propheten genauso und genau denselben Glauben wie jetzt in der Kirche, oder anders: Die Väter und die Propheten sind Gläubige an Jesus Christus, Glieder der Kirche, die bis Adam zurückreicht“. N. Slenczka macht darauf aufmerksam, dass einige Begriffe bei M. Luther doppeldeutig sind. So kann Gesetz verstanden werden als Gesetz, das unterdrückt, aber auch als Evangelium für die Juden; im Werk erkennt er zum einen das Werk Gottes in der Schöpfung, durch das er erkannt werden kann oder andererseits die Werkgerechtigkeit des Menschen; auch die Passion kann mehrfach verstanden werden, zum einen als das Leiden Christi am Kreuz, aber auch als Leiden des Christen; entsprechendes gilt für das Kreuz als Erlösung Christi und als Kreuzigung der Werkgerechtigkeit. M. Luther möchte aber das menschliche Verständnis analog zum göttlichen Verständnis der Begriffe ausgelegt wissen. Vgl. N. SLENCZKA, „Das Kreuz mit dem Ich. Theologia crucis als Gestalt der Selbstdeutung“, in: K. GRÜNWALDT – U. HAHN (Hgg.), Kreuzestheologie – kontrovers und erhellend. Prof. Dr. Volker Weymann zur Verabschiedung in den Ruhestand, Hannover 2007, 99-116, 100-102; [in Folge: N. SLENCZKA, „Gestalt der Selbstdeutung“]. 18

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nicht, was da eigentlich in den Texten gemeint ist. […] Der Alte Bund ist Teil der Kirche Jesu Christi und auf den Glauben an Christus gegründet“.20

N. Slenczka ist sich aber auch bewusst, dass man gerade hier an die Schrift Luthers „Von den Juden und ihren Lügen“ erinnern muss, in der M. Luthers Antijudaismus am klarsten zum Vorschein kommt: In dieser Schrift beschreibt der Reformator auch, dass das Alte Testament seine Mitte in Jesus Christus findet. Weil die Juden aber dies nicht anerkennen wollten und das Alte Testament anders lasen, verfasste er diese Schrift gegen die Juden, um seine eigene christologische Lesart des Alten Testaments zu rechtfertigen.21 Wenn M. Luther im Alten Testament besonders das Gesetz herausstreicht, dann tut er dies mit einer theologischen Absicht. Das Gesetz ist für den Menschen die immerwährende Vergewisserung, dass er der Sünde verfallen ist und der Erlösung bedarf, denn das Evangelium ist die Erlösung und Befreiung von der Sünde. Der einzelne Mensch bleibt solange unter dem Gesetz, bis er existentiell das befreiende Evangelium Christi erfährt.22 Darin sieht M. Luther jeweils die „Hauptlehre“ von Altem und Neuem Testament, wie er in seiner Vorrede zum Alten Testament schreibt. Der Mensch ist aber simul iustus et peccator. Somit bedarf er immer wieder der befreienden Gnade des Evangeliums, wobei er aber gleichzeitig auch unter dem Gesetz bleibt, weil er Sünder ist. Sünde-Erlösung, Gesetz-Evangelium: das ist die anthropologisch-theologische Grundstruktur des Menschen. Dies zeigt aber, dass die Entgegensetzung bei M. Luther viel tiefer geht als die allgemein bekannte Entgegenstellung von Gesetz und Evangelium. Gesetz hat bei M. Luther eine theologische Bedeutung und einen theologischen Wert, der hineinreicht bis in das Neue Testament, so wie das Evangelium auch schon im Alten Testament zu erfahren ist. Dass M. Luthers theologisches Verständnis des Gesetzes schon zu seinen Lebzeiten falsch verstanden werden konnte, zeigt seine Auseinandersetzung mit den Schwärmern, die auch das gesellschaftliche Leben vom Gesetz des Alten Testaments bestimmt wissen

20 N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 221. N. Slenczka verweist auch auf M. LUTHER, Vorrede zum Alten Testament [1545], WA.DB 7.27,3-25. 21 Vgl. N. S LENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 222. Daraus folgert Slenczka „Das Festhalten der Christen am Alten Testament und die christologische oder ekklesiologische Interpretation des Alten Testaments ist eine der Quellen des Antijudaismus in der Kirche. Zweifellos: Das muss nicht so sein; […] Es gibt keinen Automatismus, nach dem jeder, der das Alte Testament christologisch liest, Antijudaist wäre. Aber die Einsicht in den Zusammenhang von christologisch-ekklesiologischer Lesart und christlicher Judenfeindschaft, für die mitnichten nur Luther steht, setzt doch eine recht deutliche Problemanzeige hinter die unbestreitbare Feststellung, dass Luther das Alte Testament hochgehalten und wertgeschätzt hat“. 22 Vgl. dazu ebd. 223.

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wollten, da sie darin die einzig richtige Sozialordnung sahen.23 Die Schwärmer wollten das ganze Leben durch ein entsprechendes Schriftwort geordnet und begründet wissen, wobei es dabei unter den Schwärmern auch zu kontroversen Schriftinterpretationen kommen konnte. In Entgegnung darauf vertritt M. Luther die These, dass das Gesetz des Alten Testaments für Christen nicht verbindlich sei. Dazu zählt er auch die Zehn Gebote. „Die Zehn Gebote werden also nicht als die einmalige und universal verbindliche Offenbarung des überzeitlich gültigen göttlichen Willens verstanden, sondern als Vorschriften, die an ein bestimmtes Volk mit einer bestimmten geschichtlichen Erfahrung oder gar an bestimmte Personen gerichtet sind und für andere keine Verbindlichkeit haben“.24 M. Luther hat also eine differenzierte Sicht auf das Alte Testament und auf die Gesetze. Das konkrete Gesetz ist gebunden an ein bestimmtes Volk und drückt damit die Partikularität des Alten Testaments und des Gottesvolkes Israel aus: Somit kann es aber für das Christentum nicht verbindlich sein, denn das Christentum kann in diesem Gesetz nicht gemeint und angesprochen sein. „Die Heiden sind Mose keinen Gehorsam schuldig. Mose ist der Juden Sachsenspiegel“ – so das berühmte Wort M. Luthers zur Bedeutung des Gesetzes allein für das Volk Israel.25 Gott bindet sein Volk durch den Exodus an sich 23

Vgl. ebd. 225-228. Luther reagiert auf dieses Problem der Schwärmer mit seiner Schrift „Unterrichtung, wie sich die Christen in Mose schicken sollen“, WA 16, (XII-XIV) 363393 (in dieser Studie zitiert nach R. SMEND (Hg.), Das Alte Testament im Protestantismus (= GKTG 3), Neukirchen-Vluyn 1995, 29-39; [in Folge: R. SMEND, Altes Testament]), die für den Berliner Systematiker Slenczka zu einer der bedeutendsten Schriften Luthers gehört. Siehe auch E. MÜHLENBERG, Art.: Schriftauslegung III, 4. Reformation, in: TRE3 30, 481-488, hier 483 [in Folge: E. MÜHLENBERG, „Schriftauslegung“]. 24 N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 227. Anders dagegen J. Ratzinger/Benedikt XVI., der den Dekalog mit der Bergpredigt zwar neu kontextualisiert versteht, aber dennoch seine Gültigkeit unterstreicht. J. RATZINGER/BENEDIKT XVI., „Gnade und Berufung ohne Reue. Anmerkungen zum Traktat ,De Iudaeis‘“, IKaZ 47 (2008) 387-406, 395-396; [in Folge: J. RATZINGER/BENEDIKT XVI., „Gnade und Berufung ohne Reue“]. Zum Beitrag des Papa emeritus siehe H. HOPING, „Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. über das Judentum. Bemerkungen aus aktuellem Anlass“, IKaZ 47 (2018) 618-631; [in Folge: H. HOPING, „Über das Judentum“]; K. V. STOSCH, „Wechselseitig aufgehoben? Zum jüdischkatholischen Verhältnis nach den jüngsten Debatten um Joseph Ratzinger/Benedikt XVI.“, IKaZ 47 (2019) 202-215. 25 Vgl. dazu M. LUTHER, Eine Unterrichtung, wie sich die Christen in Mosen sollen schicken (1525), zitiert nach R. SMEND, Altes Testament, 34. Vgl. auch 32.36: „Das Gesetz Moses geht die Juden an, es bindet uns somit von vornherein nicht mehr. Denn dieses Gesetz ist allein dem Volk Israel gegeben; Israel hat es für sich und seine Nachkommen angenommen, und die Heiden sind hier ausgeschlossen“. Denn man „muß mit der Schrift sorgfältig umgehen und verfahren. […] Man muß nicht allein darauf sehen, ob es Gottes Wort sei, ob Gott geredet habe, sondern vielmehr, zu wem es geredet sei, ob es dich betreffe oder einen anderen. Da gibt’s denn einen Unterschied wie Sommer und Winter“.

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und gibt dem Volk Israel die Zehn Gebote als Zeichen des Bundes, das damit seine Identität bestimmt. Den Christen gilt dagegen der Exodus nicht, denn sie haben das Zeichen der Gerechtigkeit der Erlösung in Jesus Christus. Andererseits kann der Reformator im Alten Testament und im Gesetz auch Hinweise auf das Evangelium finden. Die theologische Ebene des Alten Testaments und der Gesetze ist – wie bereits erwähnt – sehr wohl von Bedeutung für das Christentum, da in ihnen der Mensch sein Selbstverständnis als Sünder erfährt, das ihn immer auf die erlösende Gnade Christi verweist. Das Gesetz als lex naturalis hat eine anthropologische Dimension, die allgemein dem Menschen entspricht und ihn in seinem Gewissen verpflichtet. Darin ist das Gesetz auch für den Christen verpflichtend und bindend, also kanonisch und normativ. Aber eine Bindung an das Gesetz, das das soziale und liturgische Leben regelt, lehnt der Reformator ab. Für ihn ist die bleibende Bedeutung des Gesetzes ausschließlich die, die im Bezug zum Evangelium steht.26 Hier deutet sich die Unterscheidung zwischen partikularer und universaler Bedeutung des Gesetzes an. Als Volksgesetz ist das Gesetz partikular, aber in theologischer Perspektive hat es damit auch universale Züge, weil es alle Menschen im Gewissen anspricht und damit zugleich dem Evangelium rechtfertigende Bedeutung gibt. Das, was den Menschen im Gewissen anspricht, ist Licht des Evangeliums. Nach M. Luther ist aber das Evangelium das einzige, das in der Kirche Norm haben darf und das verkündigt werden muss. Das, was dem Menschen durch die Rechtfertigungsgnade zugesprochen wird, ist relevant für den Glauben, da sich einzig durch die Rechtfertigung das Selbstverständnis des Glaubenden verändert. Zugleich hat dies auch Konsequenzen für das Verständnis des Alten Testaments, das N. Slenczka pointiert zusammenfasst: „Damit ist aber eben auch ein Problem gestellt: Die Behauptung, dass das Alte Testament in der Kirche den gleichen Rang wie das Neue Testament hat, setzt jedenfalls nach Luther voraus, dass es nicht nur einfach allgemein ‚Evangelium‘, das heißt: Gnadenzusage und Indikative über Gottes Liebe, sondern dass es Jesus Christus als den Messias verkündigt. Wenn die

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M. LUTHER, Eine Unterrichtung, wie sich die Christen in Mosen sollen schicken (1525), bei R. SMEND, Altes Testament, 39. Vgl. zum Gesetz und dessen Bedeutung als lex naturalis auch die Auslegung in Luthers Katechismen. Dazu N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 227-230.307-308; auch DERS., „Gott und das Böse. Die Lehre von der Obrigkeit und von den zwei Reichen bei Luther“, LUTHER 79 (2008) 75-94, hier 82-83: „Diese Norm des ins Herz geschriebenen Gesetzes – das muß man allerdings zur Vermeidung von Mißverständnissen unterstreichen – ist für Luther nicht beliebig oder willkürlich änderbar, und eben auch nicht in dem Sinne säkular, daß diese Normen dem souveränen Willen des Volkes unterworfen wären. Auch und gerade sie sind Manifestationen des göttlichen Willens und vom Schöpfer allen Menschen ins Herz gesenkt […]“.

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Kirchen sich zu dieser These Luthers verstehen, dann ist in der Tat das Alte Testament dem Neuen Testament gleichrangig, weil es dasselbe sagt. Ist die Kirche der Meinung, dass dies nicht der Fall ist und dass das Alte Testament nicht das Evangelium von Jesus Christus verkündigt, dann ist es im Sinne Luthers eine Erschließung der Situation des Menschen unter dem Gesetz, die aber der Mensch – jeder Mensch – nicht nur im Alten Testament hört, sondern in seinem Herzen und Gewissen. Wo immer die Situation des Menschen unverstellt und authentisch zur Sprache gebracht wird, hört und erfährt er zugleich sein Angesprochensein und Gefordertsein von Gott“.27

1.1.2. Das protestantische Schriftprinzip Protestantische Theologie hat als grundlegende Norm für ihr Denken und Arbeiten das Prinzip sola scriptura entwickelt. Als Wort Gottes ist die Schrift damit Norm für Leben und Lehre der protestantischen Kirchen.28 Das Schriftprinzip kann aber nicht alleine für sich gelesen und verstanden werden, sondern ist erst für Theologie und Bekenntnis von Bedeutung, wenn es in der inneren Verschränkung mit den Materialprinzipien solus Christus, sola gratia und sola crux gelesen

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DERS., Vom Alten Testament und vom Neuen, 231. Galt das Schriftprinzip lange als protestantisches Pendant zum katholischen Traditionsprinzip, so wird es heute mehr und mehr das ökumenische Potential des protestantischen Prinzips herausgearbeitet, worauf Christoph Markschies in seinem Beitrag hinweist. Vgl. C. MARKSCHIES, „Sola scriptura. Was sollte reformatorische Theologie von katholischer Theologie lernen“, ThPh 92 (2017) 390-403, hier 391-392 [in Folge: C. MARKSCHIES, „Sola Scriptura“]. Der Berliner Patristiker geht sogar so weit, dass er auf S. 392 formulieren kann: „Originalität beanspruche ich heute nur für meine These, dass die evangelische Theologie in der Gegenwart notwendigerweise die römischkatholische Theologie und ihre Einsichten braucht, um das sogenannte reformatorische Schriftprinzip, das Kriterium sola scriptura, angemessen auszulegen und vor Fehldeutungen zu schützen“. Katholische Theologie kann laut C. Markschies evangelischer Theologie vermitteln, was es bedeutet, Schriftstellen für reformatorische Theologie heranzuziehen. Vgl. dazu in seinem Beitrag besonders 400-403. Dass das Schriftprinzip sola scriptura nicht nur einheitsstiftende Funktion hat, sondern selbst in reformatorischer Theologie zu unterschiedlichen Auslegungen und Anwendungen kommt, teilweise sogar dessen Revision gefordert wird, darauf weist F. STENGEL, Sola scriptura im Kontext. Behauptung und Bestreitung des reformatorischen Schriftprinzips (= ThLZ.F 32), Leipzig 2016, 11-18 hin; [in Folge: F. STENGEL, Sola scriptura im Kontext]. Kritisch setzt sich G. RAATZ, „Schriftprinzip oder Wesensbestimmung des Christentums? Anmerkungen zur Differenz von Luthers normativem Schriftprinzip und faktischem Schriftgebrach“, PTh 104 (2015) 159-172 mit dem Schriftprinzip auseinander; [in Folge: G. RAATZ, „Schriftprinzip oder Wesensbestimmung“]. Der Verweis auf das Schriftprinzip dispensiert für ihn nicht von einer theologischen Argumentation, die nicht von einem Schriftwort absolut gedeckt ist. G. Raatz unterstreicht, dass M. Luther in seiner Vorrede zum Neuen Testament 1522 selbst unterstreicht, dass die biblischen Bücher einem Qualitäts- und Werturteil unterzogen werden müssen, die im Rahmen des Rechtfertigungsglaubens und einer Rechtfertigungstheologie zu finden sind. Der Reformator selbst habe eine Subjektivität in seine Theologie und sein Schriftverständnis integriert (vgl. 164). 28

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wird.29 Das Schriftprinzip wird bei M. Luther wiederum in Auseinandersetzung und im Konflikt mit den Schwärmern entwickelt. Der Geistempfang, auf den sich die Schwärmer beriefen, ist in der Argumentation M. Luthers an das verbum externum gebunden, also an die Schrift. Die Confessio Augustana 5 übernimmt dann die Bindung des Geistempfangs an das verbum externum und stellt damit auch die Verwaltung der Sakramente auf dieselbe Stufe wie die Schriftauslegung.30 Das reformatorische Formalprinzip ist aber nicht nur ad intra der reformatorischen Bewegung gerichtet, sondern ist auch Form der Abgrenzung ad extra gegen katholische Theologie und Schriftauslegung. Erstmals taucht die Berufung M. Luthers auf die Schrift im Ablassstreit auf, wenn der Wittenberger Doktor der Theologie gegen die cajetanische Begründung des thaesaurus ecclesiae aufgrund der Bulle Unigenitus Dei Filius von 1343 (DH 1025-1027) diese als nicht schriftgemäß ablehnt, weil auch der Papst unter der Autorität der Schrift stehe und nicht über ihr. Dabei ist auszumachen, dass sich M. Luther in seiner Argumentation gegen die päpstlichen Legaten und Theologen mehr und mehr auf die Schrift stützt, um ihre Auslegung zu Gunsten der päpstlichen Autorität zu widerlegen. In seiner Assertio omnium articulorum von 1520/21 möchte M. Luther aber eine päpstliche Autorität nur anerkennen, wenn sie unter der Schrift steht und schriftgemäß sei. Dagegen sieht er in der katholischen Schriftauslegung, die sich mehr auf Kommentare und Codices beziehe, eine „Diabolisierung“ der Theologie und der Schriftauslegung.31 Die Schrift ist an sich wahr und braucht keine Deutung durch Spekulation, die in die Schrift eine Metaphysik hineinliest, die ursprünglich nicht in ihr steht. Die Schrift ist nicht darin Norm, dass sie auf verschiedene Arten ausgelegt werden kann, wie dies die Kirchenväter oder die Päpste getan haben, sondern dass sie eindeutig ein Zeugnis von Jesus Christus gibt. Um den Anspruch des Papstes auf die geistige Auslegung der Schrift zu brechen, führt M. Luther ein Argument der Autoritätsausübung ein. Der Reformator unterscheidet klar zwischen einer geistlichen und weltlichen Macht und überträgt diese Differenzierung auch auf die Schriftauslegung.32 Weltliche Macht, zu der er auch die 29

Vgl. dazu F. STENGEL, Sola scriptura im Kontext, 10-11, besonders aber 102-111. Vgl. ebd. 19-20. F. Stengel weist auch nach, dass sich Entsprechendes in den Schmalkaldischen Artikeln von 1537 findet, die zwar nicht explizit das Schriftprinzip erwähnen, aber die Geistgabe und die Gnade an das verbum externum binden. 31 Vgl. ebd. 48-50. 32 Vgl. F. LEPPIN, „Die Genese des reformatorischen Schriftprinzips. Beobachtungen zu Luthers Auseinandersetzung mit Johannes Eck bis zur Leipziger Disputation“, in: DERS. (Hg.), Reformatorische Theologie und Autoritäten. Studien zur Genese des Schriftprinzips beim jungen Luther (= SMHR 85), Tübingen 2015, 97-139, hier 109-112. 30

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Autorität der Päpste zählt, hat nur Befugnisse über das Diesseitige. Die geistige Macht besteht für ihn einzig im Evangelium, dem der Gehorsam geschuldet sei. Päpste und kirchliche Hierarchen schulden dieser geistigen Macht Gehorsam, da es das Wort Gottes ist und über die Jurisdiktion des Diesseits hinausgeht. Für M. Luther hängt also die Normativität der Schrift nicht an der Autorität des Auslegers, sondern an ihrem ursprünglichen Sinn, der nicht verborgen, sondern klar und offenbar ist.33 Damit lehnt protestantische Theologie die Lehre eines mehrfachen Schriftsinnes ab, denn die Reformatoren gehen davon aus, dass der eigentliche Schriftsinn der Literalsinn ist. Erst aus dem Literalsinn können dann Metaphern verstanden werden, die sich auf diesen Literalsinn beziehen. Der Literalsinn ist insbesondere für M. Luther der sensus principalis34 und er möchte die Auslegung so weit wie nur irgendwie möglich an diesen wörtlichen Sinn gebunden wissen. Jede Auslegung muss daher Der Autor weist darauf hin, dass das Schriftprinzip in Auseinandersetzung M. Luthers mit J. Eck nicht originär ein biblisches Thema war, sondern über die kirchengeschichtliche und ekklesiologischen (!) Fragen erarbeitet wurde. Der Reformator hat das Schriftprinzip zuerst als ein theologisches Argument für sein ekklesiologisches Verständnis des Papsttums und der Konzilien gebraucht. In der Auseinandersetzung mit J. Eck geht es zunächst nicht darum, dass in der altgläubigen Theologie die Schrift keine Bedeutung hatte, sondern um den Anspruch M. Luthers, den Sinn der Schrift besser und eindeutiger zu verstehen als die Väter und Konzilien. Siehe auch N. SLENCZKA, „Die Schrift als ‚einige Norm und Richtschnur‘“, in: K.-H. KANDLER (Hg.), Die Autorität der Heiligen Schrift für Lehre und Verkündigung der Kirche (= Lutherisch glauben Heft 1), Neuendettelsau 2000, 53-78, 53-57; [in Folge: N. SLENCZKA, „Schrift als Norm und Richtschnur“]. 33 Vgl. DERS., Tod Gottes, 44-46. Hier ist einer der relevanten Punkte der Auseinandersetzung zwischen M. Luther und J. Eck zu sehen. Der Reformator bezieht sich auf die Freiheit, mit der er seine Schriftauslegung begründet. Keine Autorität kann ihn dabei hindern, denn es liegt in der Freiheit des Menschen, sich einer falschen Schriftauslegung durch die Autorität zu widersetzen. 34 Vgl. DERS., Vom Alten Testament und vom Neuen, 243: „Es besteht die Gefahr, dass nicht mehr die Schrift die Auslegung regiert, sondern die Assoziationskunst und das diese Assoziationen leitende Interesse des Auslegers droht die Schrift zu beherrschen. Luther sieht die Gefahr, dass unter dem Deckmantel der geistlichen Auslegung und eines sensus spiritualis sich der Ausleger vom Text dispensiert fühlt und in den Text hineinliest, was passt. Das Problem der geistlichen Schriftauslegung ist für Luther die Willkür des Rezipienten, die die reformatorischen Theologen dadurch zu begrenzen suchen, dass sie die Interpretation an den ‚Text selbst‘ binden und seine Auslegung verpflichten“. Vgl. auch ebd. 300: „Das Entscheidende und theologisch Relevante ist dies, dass es zum Schriftprinzip nach reformatorischem Verständnis gehört, dass der ursprüngliche und erste Sinn des Textes der maßgebliche ist, an dem alle weitere Interpretation zu messen ist. Die Auslegung der Schrift durch die Tradition ist nicht autonom, sondern dem Sinn des Textes untergeordnet. Die Tradition darf nichts anderes sein als Interpretation des Textes und muss sich messen lassen am ursprünglichen Sinn des Textes“. (Hervorhebung im Original). E. MÜHLENBERG, „Schriftauslegung“, 481 weist auch darauf hin, dass es sich bei der Sorge um den Literalsinn um ein zutiefst humanistisches Anliegen handelt, mit dem der Geist der Urkirche auf dem Weg der Ursprache und des Ursprungssinns gefunden werden soll. Damit ist auch ein Grundzug der Reformation benannt.

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dem Literalsinn folgen, es sei denn, ein wörtliches Verstehen ist nicht möglich. Der Ausleger muss seine ganze Anstrengung darauf richten, um nicht vorschnell von diesem Sinn abzuschweifen, da ein Abweichen vom Literalsinn unter dem Deckmantel der Unverständlichkeit für den Reformator oft nur der Vorwand ist, dass „‚die Hure Vernunft‘ am Text Anstoß“ nimmt.35 Der Text muss also den Autor führen und nicht der Autor den Text: „Der reformatorische Umgang mit der Schrift ist geleitet von dem Grundprinzip, dass der Rezipient passiv ist, und der genuine Sinn des Textes das Lesen bestimmt“.36 Mit dem Anspruch, dass es einen gültigen Literalsinn der Schrift gibt, ist dann aber auch verbunden, dass die Schrift ihren Sinn selbst zum Ausdruck bringen kann. Nur in dem eigentlichen Schriftsinn, der aller Auslegung voraus ist, kann die Schrift dann Norm für alle weitere Auslegung sein. Alles wird also im Licht der Schrift interpretiert und ausgelegt. Dabei ist aber zu beachten, dass dies jedoch nicht für die Schriften an sich gilt, sondern nur insofern sie Zeugnis für das Evangelium Jesu Christi geben. So heißt es dann auch in einem Bekenntnistext der Reformation: „Wir glauben, lehren und bekennen, dass die einige Regel und Richtschnur, nach welcher zugleich alle Lehren und Lehrer gerichtet und geurteilt werden sollen, sind allein die prophetischen und apostolischen Schriften Altes und Neues Testamentes, wie geschrieben stehet: ‚dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege‘, Psal. 119[ 105]. Und S. Paulus: ‚Wann ein Engel vom Himmel käme und predigte anders, der soll verflucht sein‘, Gal. 1[8]“.37

Die Schrift ist in sich klar und deutlich und bedarf keiner weiteren Deutung, weil sie mit dem Anspruch der solae dem solus Christus dient und es zum Ausdruck bringt und damit zugleich normativ eine Verdeutlichung und Verheutigung des Christusereignisses wird. Immer dort, wo der Glaube an Jesus Christus bezeugt und verkündet wird, bedarf es keiner weiteren Interpretation, sondern das Wort Gottes ist wirksam.38 35

N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 244. Ebd. 244. 37 FC. Epit, Vom summarischen Begriff 1., BSLK 767, 14-24; zitiert nach N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 52. 38 Darum hat laut G. Raatz nicht das sola scriptura den Primat in der Reihe der vier solae, sondern das sola fide, gefolgt vom sola gratia und solus Christus. Das Schriftprinzip steht dem hintan, jedoch „in der Sowohl-Als-Auch-Struktur von Bibel und theologischer und religiöser Traditions- und Überlieferungsgeschichte“, denn „[d]ie religiöse Subjektivität konstituiert im eminenten Sinne ihren und jedweden religiösen und theologischen Bezug auf die Heilige Schrift einer bestimmten Religion(sgemeinschaft) mit“. DERS., „Schriftprinzip oder Wesensbestimmung“, 169. Vor dem Schriftprinzip steht also bei Luther die „religiöse Idee und [eine] daraus entfaltete Bestimmung des Wesentlichen am christlichen Glauben, nämlich des Rechtfertigungsglaubens“ (172). Kritisch äußert sich A. Deeg gegenüber dieser Hierarchisierung der sola, die er „absurd“ bezeichnet. Er stellt 36

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In diesem Grundverständnis werden im zuvor zitierten Text Altes und Neues Testament durch ein Psalmen- und Pauluszitat miteinander verbunden und christologisch interpretiert, wobei M. Luther mit Hilfe dieser christologischen Interpretation die Mitte der Schrift aufzeigt. Das Zentrum von allem ist das Evangelium, das von Jesus Christus spricht.39 In der protestantischen Dogmatik entwickelt sich daraus der Gedanke, dass das Alte Testament unmittelbare Rede Gottes ist, insofern es christologisch gelesen wird. Die Hinordnung auf das Evangelium Christi lässt dann das Gesetz durch Jesus Christus erfüllt sein. Das Gesetz hat seine Erfüllung im Evangelium, das damit das Gesetz für den Gläubigen zwar nicht aufhebt, aber wesentlich transformiert. N. Slenczka interpretiert die theologische Tradition dahingehend, dass die „normative Reichweite des AT […] in der lutherischen Tradition deutlich auf die Situation seiner geistlichen Wirkung in der Verkündigung von Gesetz und Evangelium – der Schärfung des Gewissen und des Trostes – zugespitzt [ist]“.40 Das Alte Testament ist nach M. Luther als eine Gotteserfahrung unter dem Vorzeichen des Gesetzes zu verstehen, die den Glaubenden zur Begegnung mit dem Evangelium hinführt. Der Sinn aller Schriften liegt in der Begegnung des Einzelnen mit dem Evangelium Christi. Davon sprechen die biblischen Texte in ihrem ursprünglichen und eigentlichen Sinn. Die Schriften sind daher für protestantische Theologie normativ zu verstehen, da sie das Glaubensleben des Menschen umfangen. Das Schriftprinzip besagt nicht, dass „die Heiligen Schriften nicht eine normative Beschreibung von verbindlichen Glaubensgegenständen bieten; vielmehr sind es Schriften, in denen der Glaube von Menschen seinen Ausdruck findet“.41 Weil die Schriften vom Glauben an Jesus Christus sprechen und diesen bezeugen, sind sie Norm für die Auslegung. Es bleibt dabei aber die Frage, wie die Schriften richtig sich gegen Raatz‘ selektiver Lutherinterpretation und sieht den Schriftbezug als „perpetuum hermeneuticum“ christlicher Existenz. Es ist ein Trugschluss zu meinen, das Wesen des Christentums ließe sich ohne die Schrift finden; vielmehr ist die Suche nach dem Wesen des Christentums ein Wechselspiel zwischen Schrift, Existenz und Gnade. Nur dies bewahrt davor, dass das Wesen des Christentums als Monolith dem Menschen gegenübersteht und nichts mehr mit seiner Existenz zu tun hat. Siehe A. DEEG, „Faktische Kanones und der Kanon der Kirche. Überlegungen angesichts der Diskussion um die Rolle der Bibel in der evangelischen Kirche, um die Kanonizität des Alten Testaments und die Revision der Lese- und Predigtperikopen“, PTh 104 (2015) 269-284, 271-276; [in Folge: A. DEEG, „Kanones und Kanon“]. 39 N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 52: „Das AT wird verstanden von Christus als der (zwischen den Propheten und Apostel stehenden) Mitte der Schrift her“. G. RAATZ, „Schriftprinzip oder Wesensbestimmung“, 166 bringt die Haltung seinerseits auf die Formel: „Es gilt nicht ein ‚sola scriptura‘, sondern ein ‚solus lex et solum evangelium in scriptura‘“. 40 N. S LENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 54. 41 DERS., Tod Gottes, 43

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ausgelegt werden können, wenn sie ihrerseits jede weitere Auslegung bestimmen sollen. M. Luther möchte diesen hermeneutischen Zirkel damit umgehen, indem er von einer sich selbst auslegenden Schrift ausgeht, weil das Evangelium als Norm vollkommen klar und verständlich ist. Aber diese Normfunktion bedarf immer wieder des Ausweises, dass die Normativität des Literalsinns des Evangeliums die Klarheit der Schrift zu Recht begründet: Die Klarheit der Schrift ist also eine Konsequenz der Normativität des Evangeliums und nicht umgekehrt!42 Für den Reformator konkretisiert sich das Prinzip sola scriptura somit mehr in der persönlichen Erfahrung mit der Schrift als durch ein von außen an die Schriften herangetragenes Prinzip. Die Schrift ist Norm und legt sich selbst aus, indem sie das Evangelium Christi zur Sprache bringt. Entscheidend für die Bewertung und Bedeutung der Schrift ist, dass in ihr das Evangelium zum Klingen komme, und sie damit das Prinzip der Theologie und des Lebens im Glauben sei. Die Schrift erschließt sich dem Lesenden, aber zugleich vollzieht sich das Evangelium am Lesenden: „Dass hierin die Mitte der Schrift liegt, bleibt nicht eine bloße Behauptung, sondern verifiziert sich dadurch, dass auf diese Mitte hin ein entspanntes Lesen und ungezwungenes Verstehen der ganzen Schrift möglich wird. Dass die Schrift Wort Gottes ist, steht nicht im Voraus fest, sondern erweist sich dadurch, dass sie Glaubens [sic!] wirkt“.43 Die Schrift als Wort Gottes ist darum für die Reformation Prinzip für Glauben und Theologie, da sie nicht ein Schriftstück aus vergangener Zeit ist, sondern die aktuelle Vermittlung des Glaubens durch das Evangelium darstellt. Somit ist sich die Schrift selbst Autorität und stimmt mit sich selbst überein. Keine äußere Autorität, nicht einmal die Vernunft ist berechtigt, einen anderen Sinn als den Literalsinn darin zu erkennen. Die Epitome der Konkordienformel, eine lutherische Bekenntnisschrift von 1580, sieht aber nicht nur die biblischen Schriften von Altem und Neuem Testament als normativ an. Für sie gelten auch Texte aus der Geschichte der Kirche und der alten Konzilien als bindend. „Diese Texte illustrieren, wie in vergangenen Zeiten Heilige Schrift korrekt ausgelegt und inkorrekte Auslegung zurückgewiesen wurde. Sie sind insofern auch für gegenwärtige wie zukünftige Auslegung maßstabsetzend“.44 Aber diese Schriften sind ihrerseits wiederum auf das Evangelium Christi zurückverwiesen. C. Markschies macht zudem darauf aufmerksam, dass das Schriftprinzip nicht nur 42

Vgl. DERS., „Schrift als Norm und Richtschnur“, 60-62; dazu auch DERS., Tod Gottes, 47-48 und E. MÜHLENBERG, „Schriftauslegung“, 484-485. Aufgrund der Klarheit der Schrift und der Auslegung ihrer selbst muss vom Ausleger nichts anderes gefordert werden als „sein philologischer Wille“, um den Literalsinn zu erforschen. 43 N. S LENCZKA, Tod Gottes, 58. 44 C. MARKSCHIES, „Sola scriptura“, 393.

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einen ausschließenden, negativen Sinn hat, sondern dass das reformatorische sola der Schrift auch einen positiven Sinn enthält, da sie ausdrückt, dass einzig in diesen Schriften alles gegeben ist, was für reformatorische Theologie nötig und ausreichend ist. Das Ganze ist in der Schrift als Wort des Evangeliums enthalten.45 1.2.

Friedrich D. E. Schleiermacher: Das christlich fromme Bewusstsein

In seinem dogmatischen Hauptwerk Der christliche Glaube46 hat der protestantische Kirchenvater des 19. Jahrhunderts F. Schleiermacher Akzente für seine Beurteilung des Alten Testaments gesetzt. In diesem Werk bringt er all das zur Sprache, was im Zusammenhang mit der dogmatischen Reflexion von Beginn bis zu seiner Gegenwart steht. Dabei geht es ihm darum, Theologie mit Philosophie zu verbinden und deren wechselseitige Verflechtungen aufzuzeigen, die in der Urkirche zum Dogma geführt haben. Mit philosophischen Argumenten folgt er dem eigenen Anspruch zu zeigen, dass es eigentlich unmöglich sei, nicht zu glauben. F. Schleiermacher reagiert in seiner theologischen Reflexion damit auf die mit der Aufklärung einsetzenden Krise des protestantischen Schriftprinzips47, wonach nicht jeder Satz und nicht jedes einzelne Wort der Schrift vom Geist Gottes inspiriert sei. Mit dem Fehlen der Verbalinspiration musste jedoch neu geklärt werden, woran sich nun die Wahrheit des Glaubens festmachen lässt, und inwiefern Sätze der Bibel Gegenwarts- und Glaubensrelevanz haben. In seiner Glaubenslehre Der christliche Glaube ersetzt F. Schleiermacher daher die Lehre von der Schrift durch die eine erneuerte Wesensbestimmung des Christentums, indem er dabei alles auf das „Gefühl als schlechthinnige Abhängigkeit“ zurückführt und damit die scholastischen und schultheologischen Bestimmungen des Glaubens aus der protestantischen Theologie zu verbannen versucht, zugleich aber die 45

Vgl. ebd. 393. F. SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, zweite Auflage (1830/31), erster und zweiter Band, R. SCHÄFER (Hg.), Berlin – New York 2008; [in Folge: F. SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube]. K. Beckmann zeichnet in seiner Dissertationsschrift den Gedankengang Schleiermachers zum Alten Testament und zum Judentum nach, der sich in seinen Schriften nuanciert und bis zur Glaubenslehre hin entwickelt: K. BECKMANN, Die fremde Wurzel. Altes Testament und Judentum in der evangelischen Theologie des 19. Jahrhunderts (= FKDG 85), Göttingen 2002, 34-60; [in Folge: K. BECKMANN, Die fremde Wurzel]. Zur Glaubenslehre Schleiermachers vgl. ebd. 60-81. 47 Zum Schriftprinzip und dessen Wandeln von Schleiermacher bis zur Gegenwart siehe J. LAUSTER, Prinzip und Methode. Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegenwart (= HUTh 46), Tübingen 2004, besonders zu Schleiermacher 49-65; [in Folge: J. LAUSTER, Prinzip und Methode]. 46

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Relevanz der Schrift vor der Vernunft gerechtfertigt wissen will.48 F. Schleiermacher ist für N. Slenczka ein Kronzeuge für sein Denken und Verstehen des Alten Testaments. Immer wieder kommt er auf ihn zurück, rezipiert ihn und denkt ihn weiter, weshalb seine Überlegungen in einem weiterem Umfang vorgestellt werden sollen. Es ist nicht nur die Berliner Universität, die beide miteinander verbindet, sondern auch das Denken und Erfassen der Wirklichkeit, die sich im Christentum zeigt. 1.2.1.

Die Stellung der Religion in der Geschichte

Mit der kantschen Destruktion der klassischen Metaphysik durch seine bewusstseinstheoretische Begründung der Objektivität war die protestantische Orthodoxie in ihren Grundfesten erschüttert, weil damit der metaphysische Gottesgedanke aus dem Bereich der Erkenntnis herausgenommen wurde und nun im Bereich der praktischen Vernunft seinen Ort fand.49 Mit dem Gottesgedanken war nun auch der 48

Vgl. J. ROHLS, „Frömmigkeit als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit. Zu Schleiermachers Religionstheorie in der ‚Glaubenslehre‘“, in: K.-V. SELGE (Hg.), Internationaler Schleiermacher-Kongress, Berlin 1984 (= SchlA 1,2), Berlin – New York 1985, 221-252, 221; [in Folge: J. ROHLS, „Frömmigkeit als Gefühl“]. Des Weiteren N. SLENCZKA, „Gott über die Religion wieder hoffähig machen – Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher“, in: R. K. WÜSTENBERG – J. SCHRÖTER (Hgg.), „Nimm und lies!“. Theologische Quereinstiege für Neugierige, Gütersloh 2008, 145-175, 148-150; [in Folge.: N. SLENCZKA, „Gott über die Religion“]. Schleiermacher folgt dabei Kant, dass sich das menschliche Erkenntnisvermögen einen Begriff von Gott machen, aber daraus noch nicht seine Existenz ableiten kann. Darum ist für ihn Religion „Anschauung und Gefühl“. Vgl. ebd. 151: „Es gibt Einsichten über Gott, so die meisten vorneuzeitlichen Theologen, die auch der vor- und außerchristlichen Vernunft einsichtig und plausibel sind – und mit Bezug auf diese jedermann andemonstrierbaren Aussagen kann der christliche Glaube seine der Vernunft nicht erschwingbaren Aussagen etwa über Christus und sein Werk nachvollziehbar machen. Die Sätze der Religion, soweit sie Sätze über gewusste Gegenstände – Gott, die Seele, das Weltganze – sind, haben nach Kant aber am Erkenntnisvermögen des Menschen keine Stütze. Religion ist keine einzelwissenschaftliche Theorie und kann sich nicht als solche Theorie begründen“. F. Schleiermacher sieht auch einen Zusammenhang der Wissenschaftsferne des Christentums mit der Theologie des Alten Testaments. Für ihn kann das Christentum nur mit der Frömmigkeit des Neuen Testaments vor der modernen Wissenschaft bestehen. Vgl. dazu K. BECKMANN, Die fremde Wurzel, 16-19. K. Beckmann weist auch den Bruch mit der herrnhutischen Tradition der inneren Kanonizität der Schrift durch Schleiermacher nach, die sich anhand seiner Auseinandersetzung mit Kant, Lessing, Herder und Semler nachzeichnen lässt. Siehe dazu auch ebd. 40-51. 49 Vgl. K. BARTH, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zürich ´61994, 385; [in Folge: K. BARTH, Die protestantische Theologie]; U. BARTH, „Die Religionstheorie der ,Reden’. Schleiermachers theologisches Modernisierungsprogramm“, in: DERS., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 259-289; M. ECKERT, Gott - Glauben und Wissen. Friedrich Schleiermachers Philosophische Theologie (= SchlA 3), Berlin – New York 1987, 83: „Die Idee des transzendenten Grundes versteht Schleiermacher bloß transzendental, d.h. er faßt das

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Religionsbegriff in der Schwebe, der sich nun nicht mehr auf eine metaphysische Begründung stützen konnte. F. Schleiermacher folgt darin der kantschen Wandlung der Metaphysik und möchte damit der „Usurpation der Metaphysik über die Religion“ entkommen, da „über dem Sein dieses Gottes vor der Welt und außer der Welt grübeln, mag in der Metaphysik gut und nötig sein, in der Religion wird auch das nur leere Mythologie“ (RüR I 57): Religion hat sich mit der Beziehung des Endlichen zum Unendlichen zu beschäftigen. Religion ist die Anschauung, in der die Wirklichkeit zur Geschichte wird, indem sich der Mensch darin auf das Ganze und sein Ziel bezieht. Es ist die Sehnsucht im Menschen, die ihn die Religion finden lässt; jedoch nicht eine Religion, die dem Menschen vorgängig wäre, sondern die in ihm gegeben ist. So ist es zu verstehen, wenn F. Schleiermacher davon spricht, dass der „Stoff der Religion“ in der Menschheit selbst liegt und darin „eigentlich das Universum“ besteht (vgl. RüR I 82-83). Der Berliner Philosoph und Theologe verfolgt mit seiner Schrift über die Religion nicht das Ziel, die Destruktion der Religion voranzutreiben; im Gegenteil: Sein Anliegen ist es, in der Krise des Theismus Religion in den Kategorien der sich gewandelten Moderne plausibel zu machen und als vernünftig darzustellen. Für F. Schleiermacher unterscheidet sich Religion von Metaphysik darin, dass sie nicht auf eine ihr voraus seiende Wirklichkeit zurückgreifen muss, sondern Ausdruck einer eigenständigen Bewusstseinsebene ist, die ihre eigentliche Begründung ist, weil Religion im unmittelbaren Umgang des Menschen mit dem Absoluten ihren Grund hat, weshalb die Religion im Bereich des Gefühls und nicht des Wissens zu verorten ist. In der Religion erfährt sich der Mensch vom Absoluten abhängig, indem er sich in dieser Abhängigkeit seiner endlichen Freiheit bewusst wird und mit dem Gefühl der Religion als Bezogensein auf das Absolute auf diese Kontingenz reagiert. In dieser Abhängigkeit vom Absoluten ist der Einzelne mitkonstitutiv für die Religion, indem der Mensch die „Grundanschauung“ der Religion erahnen muss (vgl. RüR I 234-236). Das selbstreflexive Verhalten des Bewusstseins auf den transzendentalen Grund der Freiheit drückt sich damit religiös in „Anschauung und Gefühl“ aus, die für Schleiermacher die Grundbedeutungen für Religion und das religiöse Empfinden des Menschen sind, indem sich beide Größen gegenseitig bedingen (vgl. RüR I 65, 69-70, 131-133, 156-158, 159, 216), wobei Schleiermacher aber unterstreicht: „Anschauen des Universums, ich bitte befreundet Euch mit diesem Begriff, er ist der Angel meiner ganzen Rede, er ist Verhältnis der Idee Gottes und der Idee der Welt als äußersten transzendentalen Gegensatz des Wissens, ohne einen transzendenten Gebrauch der Idee zu machen. Ganz im Sinne Kants läßt Schleiermacher keinen jenseits der Erfahrungsgrenze positiven Gebrauch beider Ideen zu“.

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die allgemeinste und höchste Formel der Religion […]“ (RüR I 49-50). Universum meint dabei nicht einen sinnlichen Gegenstand wie alle sinnlichen Dinge, sondern drückt die Gesamtstruktur des erkennbaren Seins als Totalität dieses Seins aus. Darauf bezieht sich Religion als religiös frommes Bewusstsein, indem es das sinnliche Bewusstsein überwindet und sich in ihm der Seinszusammenhang auftut, in dem erst sinnliche Wahrnehmung möglich wird und sich das abhängige Bewusstsein als solches erst erfährt. Zugleich wendet sich der Philosoph und Theologe auch dagegen, Religion einzig aus der Moral abzuleiten, das für ihn eine Reduktion der Religion bedeuten würde, da Religion nicht eine moralische Weltordnung begründen will (vgl. RüR I, 94). Religion beschreibt die Beziehung zum Absoluten und ist damit frei von jeglicher äußeren und vorgängigen Gottesvorstellung, die die Beziehung zum Absoluten nicht mehr als Gefühl erscheinen lässt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass er Metaphysik und Moral für überwunden hält, sondern dass die Religion gleichursprünglich und nicht daraus ableitbar ist. Metaphysik, Moral und Religion sind für ihn Grundvollzüge menschlicher Existenz und damit voneinander unabhängig. Bezieht sich Metaphysik und Moral selbsttätig auf das Universum und die Wirklichkeit wie auf einen endlichen Gegenstand und seine daraus entstehenden Beziehungen, so lässt sich Religion vom Unendlichen in der Unmittelbarkeit des Bewusstseins ergreifen. „Anschauung und Gefühl“ sind somit der passive Ausdruck für „Sinn und Geschmack des Unendlichen“. Damit gelingt es F. Schleiermacher, dass jegliche transzendente Vorgängigkeit eines autoritativen Gottesbegriffes vermieden wird und das Ziel im „Weltgeist“ (RüR I 74) als „Totalitätsdimension des Kontingenten“ zu umfassen, indem Offenbarung als „das unableitbare Erscheinen des Unendlichen im Endlichen bzw. das unmittelbare Transparentwerden des Endlichen für das Unendliche“ aufgefasst wird: „alles Einzelne als einen Teil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen in unser Leben aufnehmen, und uns davon bewegen lassen, das ist Religion“ (RüR II 56). F. Schleiermacher möchte in seiner Schrift die Religion als vernünftig darstellen, weshalb er an der Entmythologisierung des Religionsbegriffs interessiert ist und Religion aus der Geschichte hinein in das innere Empfinden des Menschen verlagert. Damit entzieht der Berliner Philosoph und Theologe Religion einem geschichtlichen Prozess, weil Religion sich im Menschen immer wieder neu generieren und erfahrbar machen muss. Was sich als Religion in der Geschichte ausdrückt, ist die Zusammenschau der Abhängigkeitserfahrungen des Einzelnen vom Unendlichen, wobei aufgrund des Primats der Innerlichkeit die „Anschauung und das Gefühl“ der Religion die sichtbare Ausfaltung der Religion in der Geschichte immer übersteigt, 37

in das Individuelle verlagert und allem Gegenständlichen und begrifflich Fassbaren entzogen ist (vgl. RüR I 72-73): „im inneren Leben bildet sich das Universum ab, und nur durch die geistige Natur, das Innere, wird erst die körperliche verständlich“ (RüR II 82). Nur in der Innerlichkeit des Bewusstseins ist die Einheit Gottes wahrzunehmen. Somit ist verständlich, wenn F. Schleiermacher die Religion nicht aus einer vorgegebenen Größe abzuleiten vermag, sondern sie einzig im menschlichen Bewusstsein verortet. Darum ist es folgerichtig, die „dürftigen Nachbeter zu verachten, die ihre Religion ganz von einem anderen ableiten, oder an einer toten Schrift hängen, auf sie schwören und aus ihr beweisen“ (RüR I 102). Das Christentum als Religion braucht sich nicht auf die Vorgeschichte des Judentums zu konzentrieren und versuchen, Verbindungslinien oder heilsgeschichtliche Kontinuität zu erkennen; ebenso wenig ist es von Belang, den religiösen Inhalt aus einer biblischen Schrift abzuleiten, da dies nur zurück in den Mythos und die Philosophie führe. „Vielleicht kann man auch sagen“ – so W. Gräb zusammenfassend: „Es wird die alte christliche Vorstellung von der Heilsgeschichte als einer göttlich initiierten Übergeschichte in Schleiermachers theologischer Geschichtsdeutung historisiert und säkularisiert. Es kommt zu einem Subjektwechsel: Nicht ein von außen in die Menschengeschichte intervenierender Gott führt diese zur Vollendung in seinem Reich, sondern die von der Person Jesu inspirierte, realgeschichtliche Bewegung des Christentums. Das christliche Gesamtleben bringt die Geschichte voran, auf dem Weg zu ihrer Vollendung im Reich Gottes als einem Reich vollendeter Humanität“.50

Das Entscheidende der Religion und des Christentums besteht nicht darin, einer Schrift zu glauben, sondern sie zu verstehen und als Ausdruck des Abhängigkeitsgefühls vom Unendlichen zu begreifen (vgl. RüR II 103) und mit einer bewusstseinsmäßigen Selbstdeutung eine Geschichts- und Weltdeutung zu geben. Selbst der Gottesgedanke ist von der Äußerlichkeit abgetrennt, da er in der Veräußerlichung nur ein reiner Begriff wäre. Der Gottesgedanke ist wie der Religionsbegriff dergestalt, dass „er nämlich kein Leben hat in sich selbst, sondern nur durch das Gefühl“ (RüR II 107). Nur ein Gott, der innerlich bewusst wird, kann den Menschen auch zu Moral und Sitte anleiten, da die Unsterblichkeit in der reinen Verinnerlichung besteht (RüR II 112). Gott, Religion und Unsterblichkeit sind für den Menschen nicht außerhalb seiner selbst gegeben, sondern wirken einzig in ihm und in seinem Bewusstsein, denn nur an diesem Ort kann es zu einem Zusammendenken von Transzendenz und Immanenz kommen. 50 W. GRÄB, „Geschichtsphilosophie und Geschichtstheologie bei Schleiermacher“, NZSTh (2012) 240-261, 260.

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Religion lässt sich nicht in ein festes Denksystem einordnen, da dies nur eine tote Religion generiere, weil der Geist des Unendlichen sich an keine Philosophie und keine Systematik bindet, was nur eine „Buchstabentheologie“ wäre (vgl. RüR I 15 und RüR II 23-25). In der Unmittelbarkeit des Unendlichen entspringt dann auch ein Pluralismus von Religionen (vgl. RüR I 211), da es keine normierende Größe in der Geschichte gibt, die die einzelnen Religionen miteinander verbindet bzw. unterscheidet. Die Pluralität der Religionen zeigt auch, dass es einen Unterschied in der Unmittelbarkeit des Abhängigkeitsgefühls in den Religionen gibt. Die Religionen sind nicht wie im modernen Religionspluralismus alle gleichwertig, sondern werden danach bemessen, inwiefern sie einer Erweiterung des Bewusstseinswissens dienen und damit einer teleologischen Ausrichtung folgen. In der Betrachtung der Religionen gilt: „In den Religionen sollt Ihr die Religion entdecken“ (RüR I 208) – also das bewusstseinserhebende Verhältnis von Unendlichem und Endlichem und der erlösenden Wirkung von jenem auf dieses. Die teleologische Ausrichtung ist in Entwicklungsstufen gegeben, weil in den unterschiedlichen Religionen eine unterschiedliche Klarheit der Differenzierung von Unendlichem und Endlichem gegeben ist, das sich in der Bewusstseinserhebung ausdrückt. F. Schleiermacher verwehrt sich damit eines religionstheologischen Exklusivismus und anerkennt die Geltungsansprüche anderer positiver Religionen und deren religiöser Einzelanschauungen, ohne ihnen aber denselben Ausdruck der bewusstseinsbildenden Abhängigkeit zuzusprechen. Es gilt: „Religionstheologische Wertschätzung beinhaltet nicht zwangsläufig religionstheologische Äquivalenz“.51 Alle Anstrengungen, Religionen in einen geschichtlichen, aber auch religionswissenschaftlichen Zusammenhang zu stellen, sind für F. Schleiermacher einzig Ausdruck der Verfehlung des eigentlich Religiösen, da sich aus dem Vergleich der Religionen keine allgemeine Religion deduzieren lässt. Im Konkreten wendet F. Schleiermacher seinen Religionsbegriff auf das Verhältnis von Judentum und Christentum an. Dabei beschreibt er jedoch das Judentum abwertend als „tote Religion“, deren Anhänger „klagend bei der unverweslichen Mumie“ sitzen (RüR I 237). Im Judentum hat die Vermischung des Gottesbewusstseins mit Moral und Politik die Klarheit der Beziehung von Endlichem und Unendlichem getrübt und im Schriftkanon niedergelegt. Darum steht das Christentum in keinem geschichtlichen, geschweige denn heilsgeschichtlichen Zusammenhang mit dem Judentum. 51

C. KÖNIG, Unendlich gebildet. Schleiermachers kritischer Religionsbegriff und seine inklusivistische Religionstheologie anhand der Erstauflage der Reden (= Collegium Metaphysicum 16), Tübingen 2016, 436; [in Folge: C. KÖNIG, Unendlich gebildet].

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„Auch rede ich“ – so F. Schleiermacher in seinen Reden über die Religion – „nicht deswegen von ihm [vom Judaismus; Anm. d. Verf.], weil er etwa der Vorläufer des Christentums wäre: ich hasse in der Religion diese Art von historischen Beziehungen, ihre Notwendigkeit ist eine weit höhere und ewige, und jedes Anfangen in ihr ist ursprünglich: aber er hat einen so schönen kindlichen Charakter, und dieser ist so gänzlich verschüttet, und das Ganze ein so merkwürdiges Beispiel von der Korruption und vom gänzlichen Verschwinden der Religion aus einer Masse, in der sie sich ehedem befand“ (RüR I 237).

Der „protestantische Kirchenvater“ gesteht dem Judentum eine „unmittelbare Einwirkung der Gottheit“ in der Seele zu, sieht aber weit mehr den politischen Charakter und die „belohnend[e], strafend[e], züchtigend[e]“ Eigenschaften der jüdischen Gottesvorstellung (vgl. RüR I 238) und erkennt darin eine äußere Fremdbestimmung der Religion, welches der romantischen Verinnerlichung des Wesens der Religion entgegensteht. Der jüdischen Religion fehlt der Drang zum Universalen bei einer Unterscheidung zum Endlichen, das sie als systematische Religion ausweisen würde, weil sie sich zu sehr an das konkrete gebunden und darin ihre Bestimmung gesucht hat. Religion muss von einer Freiheit des Gottesbewusstseins geprägt sein, nicht durch einen „gebietenden Willen“ (vgl. GL § 9,2), da sie nur im Gefühl und in der Abhängigkeit vom Absoluten entwickelt und gewusst werden kann. Jesus wuchs in jüdischer Umgebung auf, deutete jedoch die gegebene Kultur radikal in seinem Gottesbewusstsein um. 1.2.2.

Das Christentum als die Religion

Aus seinem allgemeinen Religionsverständnis zieht F. Schleiermacher die Bewertung des Christentums, das „[h]errlicher, erhabener, der erwachsenen Menschheit würdiger, tiefer eindringend in den Geist der systematischen Religion, weiter sich verbreitend über das ganze Universum“ (RüR I 239) ist, da es in sich die Kraft trägt, dem Ganzen und dem Universum entgegenzustreben. In ihm kommt es zur Verbindung von Transzendenz und Immanenz als Anschauung, indem es darin die universale Erlösungsbedürftigkeit des Menschen erfasst und zum Ausdruck bringt, dass das Endliche durch das Unendliche erlöst wird. F. Schleiermacher setzt daher das Christentum gegenüber allen anderen Religionen ab, wenn er schreibt: „Dieses, dass das Christentum in seiner eigentlichsten Grundanschauung am meisten und liebsten das Universum in der Religion und ihrer Geschichte anschaut, dass es die Religion selbst als Stoff für die Religion verarbeitet, und so gleichsam eine höhere Potenz derselben ist, das macht das Unterscheidendste seines Charakters, das bestimmt seine ganze Form. […] Ohne Schonung entlarvt es daher jede falsche Moral, jede schlechte Religion, jede unglückliche Vermischung von beiden wodurch ihre

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beiderseitige Blöße bedeckt werden soll, in die innersten Geheimnisse des verderbten Herzens dringt es ein und erleuchtet mit der heiligen Fackel eigener Erfahrung jedes Übel das im Finstern schleicht. So zerstörte es – und dies war fast seine erste Bewegung – die letzte Erwartung seiner nächsten Brüder und Zeitgenossen, und nannte es irreligiös und gottlos eine andere Wiederherstellung zu wünschen oder zu erwarten als die zur besseren Religion, zur höheren Ansicht der Dinge, und zum ewigen Leben in Gott. Kühn führt es die Heiden hinweg über die Trennung die sie gemacht hatten zwischen dem Leben und der Welt der Götter und der Menschen“ (RüR I 240-241).

Das Plus des Christentums besteht darin, dass es das Religiöse im Menschen aktual hält und nicht dem Irreligiösen anheimgibt. Die Kontinuität zeigt sich demnach nicht in der Geschichte, sondern in der religiösen Kontinuität im Bewusstsein des Menschen als „heilige Wehmut“ (vgl. RüR I 243), weil das Bewusstsein beständig auf das Universale ausgerichtet ist und bleibt. Geschichte entsteht aus der Religion und nicht Religion aus der Geschichte, da „alle wahre Geschichte […] überall zuerst einen religiösen Zweck gehabt [hat] und […] von religiösen Ideen ausgegangen [ist]“ (RüR I 90). Geschichte ist der höchste Gegenstand der Religion, die in ihr beginnt und in ihr endet. F. Schleiermacher geht es dabei nicht um eine historische Betrachtung, sondern Geschichte ist „ein besonderer Gegenstand der menschlichen Seelenkunde. Einen wahrhaften Geschichtssinn zu besitzen, bedeutet nach Schleiermacher, über die Fähigkeit zu verfügen, ein Bewusstsein vom raum-zeitlichen Entwicklungsprozess der menschlichen Seelencharaktere auszubilden“.52 Religion bildet daher Geschichte in dem Sinn, dass sich in der Geschichte das Ziel des Menschen in einer die Menschheit selbst transzendierenden Größe findet, nach dem die Menschheit und die Religion strebt. Religion ist der Vorausgriff auf das Ganze und das Absolute, durch das Geschichte erst werden und sich entwickeln kann. Dabei kommt es zu einem Zusammenspiel von Religion als „Anschauung und Gefühl“ und unmittelbarem Selbstbewusstsein, das sich in der Religion ausdrückt. Geschichte wird, weil sich der Mensch in seinem Selbstbewusstsein seine Freiheit betätigt und sich in diesem bewusst-freiheitlichen Handeln auf die Wirklichkeit bezieht und Geschichte schafft. Das, was das Christentum begründet, ist nicht die Schule, die Jesus hinterlassen hat, sondern der Geist der Religion und damit der Geist der Geschichte, den er gelebt hat. „Religion ist nach Schleiermacher“ – so C. König – „nicht rein formal bestimmt, sondern sie besitzt einen spezifischen Inhalt. Es ist der eine Inhalt des unmittelbaren religiösen Selbstbewusstseins, der sich als Bewusstseinserweiterung und -erhebung gegenüber dem unmittelbaren

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Ebd. 247.

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sinnlichen Selbstbewusstsein erweist […]“.53 Die geschichtliche Kontinuität der Religion wird hier durch eine bewusstseinsimmanente Kontinuität ersetzt, da sich das Christentum und die Zugehörigkeit dazu nicht durch die Schule eines Religionsstifters erschließen, sondern durch das Bewusstsein des religiösen Geistes (vgl. RüR I 246), das das Christentum durch die kritische Reflexion nicht in ein Gerüst der geschichtlichen Gefangenschaft verengt. Das Christentum ist „im höchsten Maße unendlich gebildetes Bewusstsein“.54 In der zweiten Auflage seines Werkes Der christliche Glaube zeigt F. Schleiermacher in den Prolegomena die historische Verbindung von Judentum und Christentum auf, beschreibt diese jedoch auch im Zusammenhang mit dem Heidentum. Der Mensch trägt in sich eine religiöse Anlage, die sich im Gefühl ausdrückt. Die schleiermachersche Glaubenslehre beruht darauf, dass alle Empfindungen und Anschauungen in der Religion auf das Gefühl zurückgeführt werden können, da im Gefühl der Mensch die Größe Gottes erfährt.55 Diese religiöse Anlage kann aber nur im Konkreten, in einer konkreten Religion gelebt werden, denn das Allgemeine bedarf der individuellen Konkretion. Religion ist dem Menschen damit etwas zutiefst Innerliches, in dem sich sein Selbstverständnis ausdrückt: Religion ist also „Anschauung und Gefühl“. N. Slenczka interpretiert seinen Vorgänger an der Berliner Universität: „Mit dem Begriff des Gefühls gibt Schleiermacher wieder, dass wir in solchen Momenten innerlich ergriffen, berührt und so verändert werden; mit dem Begriff der Anschauung hebt Schleiermacher darauf ab, dass hier nicht wir tätig werden, dass ein Mensch diese Erfahrung nicht herstellen oder festhalten kann, so dass sie durch eine dämliche Bemerkung eines Mitwanderers wie ein Nebelhauch verfliegt: Unverfügbar ist eine solche Erfahrung, durch die sich im Einzelnen das Ganze vermittelt und manifestiert“.56

53 Ebd. 149 (Hervorhebung im Original). Den Inhalt des unmittelbaren Bewusstseins beschreibt der Autor als „Gesetztsein-des-Individualseins-im-Ganzen-zum-Werdendurch-das-Unendliche“ (252; Hervorhebung im Original). Damit ist die Interaktion von Bewusstsein und Individualität in der Religion ausgedrückt, die teleologisch ausgerichtet ist auf und durch das Unendliche. 54 Ebd. 434 (Hervorhebung im Original). C. König interpretiert F. Schleiermacher so, dass die christliche Religion ein Bildungshandeln Gottes vermittelt, das dazu befähigt, die Erlösungsbedürftigkeit als Abhängigkeit vom Unendlichen im religiösen Bewusstsein zu erfassen. Vgl. auch E. HERMS, „Welt - Kirche - Bibel. Zum hermeneutischen Zentrum und Fundament von Schleiermachers Verständnis der Christentums- und Sozialgeschichte“, in: S. B. CHAPMAN – C. HELMER – C. LANDMESSER (Hgg.), Biblischer Text und theologische Theoriebildung (= BThST 44), Neukirchen-Vluyn 2001, 105-134, 128-130. 55 Zur näheren Bestimmung des Gefühls im Bezug zum Bewusstsein vgl. F. SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube, §§ 3-5. 56 N. S LENCZKA, „Gott über die Religion“, 158. Zum vorhergehenden vgl. ebd. 151-154.

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In „Gefühl und Anschauung“ wird das Individuelle auf das Universale transparent. Das eigene Gefühl erschließt sich das Universum und in der Anschauung wird dieses Universum für den Menschen konkret und verständlich. Darin setzt sich für F. Schleiermacher das Christentum sowohl vom Judentum als auch vom Heidentum wesentlich ab. Umgekehrt bedarf es von Seiten des Judentums und des Heidentums eines wesentlichen Schritts, um in den Geist des Christentums einzutreten.57 Das Christentum steht damit zwar in historischer Verbindung zu Judentum und Heidentum, aber es ist kein innerreligiöser Fortschritt des Christentums in sich: „Wenn wir sonach annehmen müssen, daß die christliche Frömmigkeit, wie sie sich gleich anfangs gestaltet, nicht aus der jüdischen weder damaliger noch früherer Zeit zu begreifen ist: so kann man auch das Christentum auf keine Weise als eine Umbildung oder erneuernde Fortsetzung des Judentums ansehen“.58 Judentum und Heidentum brauchen beide in gleicher Weise das Bewusstsein von Jesus Christus, um in die christliche Religion übertreten zu können. Eine lineare Hinordnung auf das Christentum ist für das Denken Schleiermachers nicht möglich. Schleiermacher kennt keine natürliche Religion, die allen Menschen gemein wäre, da die verschiedenen Religionen vielmehr Ausdruck unterschiedlicher Frömmigkeit sind. Im Heidentum kann Schleiermacher zwar eine ästhetische Frömmigkeit ausmachen, die als eine Vorstufe für die absolute Religion im Monotheismus gelten kann, die jedoch nicht auf derselben Stufe wie der Monotheismus im Christentum steht. Aber das Heidentum ist damit dem Christentum nahe. Dagegen haben das Christentum und das Judentum den Monotheismus als gemeinsames Erbe,59 auch wenn 57

P. E. CAPEZ, „Friedrich Schleiermacher on the Old Testament“, HTR 102 (2009) 297326, hier 301: „Whereas conversion to Christianity required that Gentiles abandon their idolatrous worship, it required that Jews relinquish the Mosaic legislation. Accordingly, the step from Judaism to Christianity was as much a transition to another religion as the step from paganism to Christianity“; [in Folge: P. E. CAPEZ, „Schleiermacher on the Old Testament“]. Capez zieht in seiner Schleiermacherinterpretation sogar den Schluss, dass es für das Judentum ein größerer Schritt in das Christentum hinein ist als für das Heidentum, da sie das Gesetz überschreiten müssen. 58 F. SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube, § 12,2. Damit ist auch eine neue Sicht auf die Einheit bzw. Unterschiedenheit der biblischen Religionen gegeben. Vgl. dazu H.-W. SCHÜTTE, „Christlicher Glaube und Altes Testament bei Friedrich Schleiermacher“, in: D. RÖSSER – G. VOIGT – F. WINTZER (Hgg.), Fides et communicatio, FS für Martin DOERNE, Göttingen 1970, 291-310, 294: „Die Einheit einer biblischen Religion wird also abgelöst durch die beiden auf unterschiedliche Erfahrungen beruhenden Gestalten des Gottesverhältnisses. Altes Testament und Neues Testament sind dementsprechend als die Urkunden zu verstehen, in denen sich Judentum und Christentum als jeweils eigentümliche Religionsgestalten darstellen“ ; [in Folge: H.-W. SCHÜTTE, „Christlicher Glaube“]. 59 Vgl. G. SANS, „Frömmigkeit als unmittelbares Wissen von Gott. Hegel und

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dieser monotheistische Glaube nicht die Verbindung beider Religionen ist. Im Verständnis Schleiermachers haben damit Judentum und Heidentum dasselbe Verhältnis zum Christentum und stehen auf derselben Vorstufe des Christentums. Möchte das Heidentum im Christentum integriert werden, so gelangt es nicht über den Monotheismus des Judentums in das Christentum, sondern hat aufgrund der eigenen monotheistischen Grundstruktur einen direkten Zugang zum Christentum, da „das hellenische und römische Heidenthum auf mancherlei Weise monotheistisch vorbereitet“ sind wie das Judentum in seinem monotheistischen Glauben (§ 12,1). Darum unterscheiden sich Judentum und Heidentum nicht wesentlich in ihrer Beziehung zum Christentum. Der Monotheismus des Christentums hat aber weder den jüdischen noch den heidnischen Monotheismus zur Voraussetzung für den eigenen Glauben. Vielmehr sieht Schleiermacher das Christentum als die einzige teleologische Religion (vgl. § 11). Da F. Schleiermacher das Judentum und das Heidentum auf dieselbe vorreligiöse Stufe zum Christentum stellt, wertet er auch deren Schriften qualitativ gleich. Dass die heidnischen Schriften für das Christentum keine Bedeutung haben, ist offensichtlich; jedoch werden die jüdischen Schriften mit dieser Sicht der vorreligiösen Bezugnahme religionsgeschichtlich als vorchristlich abgewertet. Im Judentum ist die Religion nicht ausgerichtet auf das Ganze und auf seine Vollendung, sondern an ein Land und an ein bestimmtes Volk gebunden, womit der jüdische Monotheismus in der Partikularität verfangen ist und nicht zielgerichtet sein kann. F. Schleiermacher sieht dagegen das Christentum als „in der That die vollkommenste unter den am meisten entwikkelten Religionsformen“ an (§ 8,4). Natürlich Schleiermacher“, ZThK 113 (2016) 156-170, hier 166; [in Folge: „Wissen von Gott“]. Siehe auch N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 63: Schleiermacher weist sogar auf das Band mit dem Judentum durch die Geburt Jesu hin, denn „[diese] Geburt in Israel ist nach Schleiermacher darin begründet, dass der universale Erlöser im Kontext einer monotheistischen Religion geboren werden musste – sachlich also der alttestamentliche Monotheismus die unverzichtbare Voraussetzung der christlichen Kirche“. Auch H.-W. SCHÜTTE, „Christlicher Glaube“, 306: „Das Judentum hat indes trotz seiner Berührungen mit dem Heidentum eine Sonderstellung. Es hat den Gedanken des Monotheismus ausgebildet und von ihm her sind die Anfänge eines ethischen Bewußtseins der Religion zu datieren. Daß Religion und Ethos im Monotheismus verschmelzen, gehört trotz der Grenzen zu den Vorzügen des Alten Testaments. Darin schuf es die Voraussetzung für das Auftreten Jesu. Die schleiermachersche Beurteilung des Alten Testaments ist also eigentümlich doppelsinnig, insofern es dem Heidentum gegenüber sowohl gleichrangig als auch ungleichartig ist“. N. SLENCZKA, „Das Alte Testament als Problem des Kanonbegriffs“, in: R. BARTH – U. BARTH – C.-D. OSTHÖVENER (Hgg.), Christentum und Judentum. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Halle, März 2009 (= SchlA 24), Berlin  – New York 2010, 267-287, hier 283; [in Folge: N. SLENCZKA, „Problem des Kanonbegriffs].

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besteht eine sachliche Abhängigkeit des Christentums vom Judentum. Aber das Christentum sieht der Berliner Philosoph und Theologe frei von Gesetz, losgelöst von einem konkreten Land und ausgedehnt auf alle Völker, womit es frei ist und sich auf ein Ziel ausrichten kann, das die Erlösung des Menschen ist.60 Das Christentum übernimmt aus dem Judentum die Rede von Gott, begründet sie aber im Glauben an Jesus von Nazareth inhaltlich neu, womit der Begriff Gottes im christlichen Glauben einen neuen – und für Schleiermacher definitiven – Ausdruck gewinnt. Es ist das christlich-fromme Selbstbewusstsein, das im christlichen Glauben erfahren wird und das den jüdischen und heidnischen Monotheismus neu definiert.61 Der Überschritt von allen Religionen in das Christentum schafft infolgedessen einen neuen Menschen, der die Erlösung in Jesus Christus erfährt. Was für den Christen daher als Norm gelten kann, entscheidet sich darin, was den neuen Menschen und sein Bewusstsein bewirkt. Damit steht das Christentum aber in einem antithetischen Gegenüber zum Judentum und zum Heidentum, weil das Bewusstsein des Menschen die neue Religiosität ausspricht und nicht mehr ein gemeinsames geschichtliches oder kulturelles Erbe.62 F. Schleiermacher geht also davon aus, dass eine Religion nicht allein rein geschichtlich erklärt werden kann, sondern dass damit auch die Entwicklung des menschlichen Geistes verbunden ist. In der religionsphilosophischen Betrachtung des Christentums tritt für ihn dann die eigentliche Idee des Religiösen erst in der Christentumsgeschichte völlig klar auf. Auch wenn das Christentum sich vom Judentum absetzt, hat es dennoch die volle Integrität des Judentums anzuerkennen, jedoch im 60

Vgl. F. SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube, § 12,3: „Daher ist die Regel aufzustellen, daß für den christlichen Gebrauch fast alles Übrige im Alten Testament nur Hülle dieser Weissagung ist, und dasjenige den wenigsten Wert hat, was am bestimmtesten jüdisch ist. So daß wir nur diejenigen unserer frommen Erregungen mit einiger Genauigkeit in alttestamentlichen Stellen können wiedergegeben finden, welche mehr allgemeiner Natur sind und nicht sehr eigentümlich christlich ausgebildet; die es aber sind, für die werden alttestamentlichen Sprüche kein geeigneter Ausdruck sein, wenn wir nicht einiges daraus hinwegdenken und anderes hineinlegen“. Siehe dazu auch P. E. CAPEZ, „Schleiermacher on the Old Testament“, 302: „And while the teleological character of Judaism is expressed in the form of obedience to law, in Christianity it assumes the form of exhortations indicating how moral action springs forth from the consciousness of redemption“. 61 Vgl. N. S LENCZKA, „Problem des Kanonbegriffs“ 284: „Genau diese Reformulierung der Lehre von dem einen Gott oder von der Schöpfung aus den Mitteln des christlichfrommen Selbstbewußtseins (und nicht als Erbe eines konstitutiv jüdischen frommen Selbstbewußtseins) nimmt Schleiermacher in seiner Glaubenslehre vor; denn genau hier gilt die Einsicht, daß alle Sätze der Dogmatik auch dann, wenn sie mit Sätzen übereinstimmen, die anderen Quellen entspringen, sich in ihrem Recht dadurch ausweisen müssen, daß sie als genuiner Ausdruck des christlich frommen Selbstbewußtseins gelten können“. 62 Vgl. dazu H.-W. SCHÜTTE, „Christlicher Glaube“, 295.

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Wissen darum, dass das Judentum an die Synagoge gebunden bleibt und sich nicht an die Kirche binden kann. Dass nun alttestamentliche Schriften im Neuen Testament zu finden sind, ist damit zu begründen, dass das Neue Testament sich auf diese beruft und sich auf diese stützt. Auch hier gilt jedoch, dass diese Schrifttexte im Kontext des Neuen Testaments nicht mehr den ursprünglichen Sinn behalten, sondern teleologisch gelesen werden müssen. In dieser Argumentationslinie sind daher für F. Schleiermacher nur die Texte inhaltlich bedeutend, die wirklich messianische Weissagung enthalten und sich direkt auf die Erlösungstat des Gottes Jesu Christi beziehen. F. Schleiermacher unterstreicht in § 132,2, dass selbst die prophetischen Texte mehr auf das Gesetz hinzielen als auf das christliche Bewusstsein: „Ja auch in den prophetischen Schriften bezieht sich das meiste auf die gesetzliche Verfassung und auf die Verhältnisse des Volkes als solches; und der Geist, aus welchem sie hervorgehen, ist kein anderer als der Gemeingeist des Volkes, also nicht der christliche, welcher als der eine die Scheidewand zwischen diesem Volk und den andern aufheben sollte“.63 Es ist also nur das für christliche Theologie und Glauben anzunehmen, was der christlichen Frömmigkeit voll und ganz entspricht und worin sich diese darstellen kann. Die Religion des Christentums hält im Unterschied zum Judentum nicht an einem festen und starren Gesetz fest, sondern sieht das Ganze teleologisch auf eine Einheit bezogen und das Konkrete ausgehend vom Ganzen interpretiert. Aber dazu braucht es das „Gefühl und die Anschauung“ des Universalen, denn die Frömmigkeit ist ein konkretes Gefühl des Ganzen. Religion kommt aus dem Gefühl und wird nicht durch eine offenbarungstheologisch fundierte Geschichte begründet. Das bedeutet aber, dass das Alte Testament dem Neuen nicht notwendig vorausgehen muss, und dass das Judentum dem Christentum nicht konstitutiv voraus ist. Religion ist dort begründet und vollendet, wo der Mensch dem Gefühl des Ganzen begegnet. 1.2.3.

Das christlich-fromme Bewusstsein

In der Glaubenslehre wird Gott als das absolut Transzendente zur Welt gedacht (§ 36). Im Bewusstsein aber erfährt der Mensch Gott und kann sich Begriffe von ihm machen. „Indem Schleiermacher die Gottesbeziehung in den Aufbau der religiösen Subjektivität integriert, legt er die Definitionskompetenz für den Begriff ‚Gott‘ mittels transzendentaler Selbstinterpretation in das Bewußtsein des religiösen 63

P. E. CAPEZ, „Friedrich Schleiermacher on the Old Testament“, 300 weist darauf hin, dass für Schleiermacher der Glaube an Jesus Christus nicht die Prophetie unbedingt benötigt, sondern dass die urkirchliche Berufung auf die Prophetie von Schleiermacher als ein innerjüdischer Konflikt des 1. Jhds. gesehen werden kann.

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Individuums“, kommentiert K. Beckmann.64 Der Begriff Gottes im Selbstbewusstsein ist für den Menschen der transzendentale Fluchtpunkt seiner Frömmigkeit. Aus diesem Selbstbewusstsein erfährt und bedenkt der Mensch die Welt und die Religion, weshalb Schleiermacher in § 3 schreiben kann: „Die Frömmigkeit, welche die Basis aller kirchlichen Gemeinschaften ausmacht, ist rein für sich betrachtet weder ein Wissen noch ein Thun, sondern eine Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewußtseins“.65 Es ist gerade das christlich-fromme Selbstbewusstsein, in dem F. Schleiermacher die absolute Transzendenz Gottes in der Immanenz des Bewusstseins verortet und zusammenführt,66 denn im Wesen der Frömmigkeit erfährt sich der Mensch abhängig vom Absoluten und in dieser Abhängigkeit wird er sich seiner Gottesbeziehung bewusst (vgl. § 4,1),67 da „das Gefühl und die Anschauung“ in ihm der Beziehung zu Gott als schlechthinnig abhängig entstehen lässt. Damit ist die Abhängigkeit einer genauen Bestimmung und Objektivierung entzogen, aber gerade darin liegt das Bewusstsein der Beziehung zu Gott, was Schleiermacher dann ein „Sich-seiner-selbst-als-in-Beziehung-mit-Gott-bewußt-Sein“

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K. BECKMANN, Die fremde Wurzel, 62. Als erste Annäherung an das christlich-fromme Selbstbewusstsein kann gelten: N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 42: „Dass Jesus Christus der Grund und der Inhalt des christlich-frommen Bewusstseins ist, hat im 19. Jahrhundert niemand klarer herausgestellt als Friedrich Schleiermacher. Wem die Terminologie nicht passt, der mag sich an den fraglichen Stellen ‚Glauben an Jesus Christus‘ einsetzen“. 66 Vgl. O. BAYER, „Zweierlei Freiheit. Reformatorisches und neuzeitliches Verständnis. Eine notwendige Unterscheidung“, Zeitzeichen 13 (2012) 16-19, 18-19: „Ist das Gottesbewusstsein aber immer schon in das Selbstbewusstsein eingesperrt, dann kann nur noch von Gottes Immanenz die Rede sein. Schleiermacher kann nicht mehr sagen, dass mich Gott anredet und auf diese Weise auf mich zukommt. Weil Gott, in meinem unmittelbaren religiösen Bewusstsein mitgesetzt, immer schon da ist, kann er nicht zu mir kommen“; [in Folge: O. BAYER, „Zweierlei Freiheit“]. 67 Vgl. K. BECKMANN, Die fremde Wurzel, 63-64. Auch F. WAGNER, „Theologie im Banne des religiös-frommen Bewußtseins“, in: J. DIERKEN – C. POLKE (Hgg.), Christentum in der Moderne. Ausgewählte Aufsätze (= DiM 9), Tübingen 2014, 259-280, 269-270; [in Folge: F. WAGNER, „Theologie im Banne“]. Zur Reflexivität von Gottesund Selbstbewusstsein im schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl vgl. auch T. PRÖPPER, „Schleiermachers Bestimmung des Christentums und der Erlösung. Zur Problematik der transzendental-anthropologischen Hermeneutik der Glaubenslehre“, ThQ 168 (1988) 193-214, 201: „Indem dieses Gefühl [der absoluten Abhängigkeit; Anm. d. Verf.] sich ausspricht, entsteht die ursprüngliche Vorstellung Gottes. Und sie wird notwendig in dem Maße, als es sich selber klar wird: Klares Selbstbewußtsein ist eo ipso Gottesbewusstsein“; [in Folge: T. PRÖPPER, „Schleiermachers Bestimmung des Christentums“]. Vgl. dazu auch K. BARTH, Die protestantische Theologie, 407-408. Zum schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl siehe U. GLATZ, Religion und Frömmigkeit bei Friedrich Schleiermacher. Theorie der Glaubenskonstitution (= FSy 39), Stuttgart 2010, 294-296; [in Folge: U. GLATZ, Religion und Frömmigkeit]; W. GRÄB, Humanität und Christentumsgeschichte. Eine Untersuchung zum Geschichtsbegriff im Spätwerk Schleiermachers (= GTA 14), Göttingen 1989, 76-82. 65

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(§ 4,4) bezeichnet.68 Der Gottesbegriff ist nicht ein vorgegebener Begriff, der der christlichen Frömmigkeit implementiert wird, sondern er muss im eigenen Bewusstsein der Abhängigkeit erfahren werden. Der Mensch findet diese Abhängigkeit vorgebildet und beispielhaft in Jesus Christus verwirklicht, denn in ihm ist die absolute Zusammenführung und Zusammenfügung von göttlichem und menschlichem Willen gegeben, womit im Bewusstsein Jesu die Bestimmung des Menschen und der Schöpfung teleologisch vollendet ist, „wenn Jesus der Erlöser sein soll, d.h. der eigentliche Anfangspunkt stetiger und lebendiger also ungehemmter Hervorrufung des Gottesbewußtseins“ (§ 22,2). Für F. Schleiermacher ist für die Beurteilung des Alten Testaments das christliche-fromme Bewusstsein leitend, das erst im Neuen Testament seinen wahren und eigentlichen Ausdruck findet. Im Alten Testament tritt dem Christen dagegen ein fremdes Bewusstsein entgegen. Für F. Schleiermacher vermögen nicht einmal die Psalmen oder die Propheten die Partikularität des Judentums zu überwinden und dem Menschen die eigentliche Abhängigkeit als Gottesbeziehung zu erschließen. Der Christ „hat es hier […] mit einer Frömmigkeit zu tun, die partikular konzentriert ist, die die Heilsgemeinschaft exklusiv auf ein Volk und seine Geschichte limitiert und […] Gott als Exekutor des Gesetzes der Vergeltung konzipiert“.69 Frömmigkeit ist im Sinne F. Schleiermachers vielmehr der Vollzug des Religiösen, in dem im Konkreten das Universale erfahren wird, indem die Frömmigkeit die eigene Partikularität auf das Ganze hin weitet, nämlich auf die Erlösung durch Jesus Christus. Im Christentum ist die Frömmigkeit als absolute Abhängigkeit teleologisch ausgerichtet auf die durch Jesus von Nazareth vollbrachte Erlösung.70 Da sich der Mensch in dieser Frömmigkeit radikal abhängig von Gott fühlt, kann diese Abhängigkeit nicht anders als in der Beziehung zu Gott aufgehoben sein; dieser Abhängigkeit muss sich der Mensch bewusst werden.71 Darum lässt 68

Vgl. K. CRAMER, „Die subjektivitätstheoretischen Prämissen von Schleiermachers Bestimmung des religiösen Bewußtseins“, in: D. LANGE (Hg.), Friedrich Schleiermacher, 1768-1834. Theologe, Philosoph, Pädagoge, Göttingen 1985, 129-162, hier 136. Zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Beitrag von K. Cramer siehe U. BARTH, „Die subjektivitätstheoretischen Prämissen der ‚Glaubenslehre‘. Eine Replik auf K. Cramers Schleiermacher-Studie“, in: DERS., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 329-351. 69 N. S LENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 62 70 F. SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube, § 11 Lehrsatz: „Das Christenthum ist eine der teleologischen Richtung der Frömmigkeit angehörige monotheistische Glaubensweise, und unterscheidet sich von anderen solchen wesentlich dadurch, daß alles in derselben bezogen wird auf die durch Jesum von Nazareth vollbrachte Erlösung“. 71 Vgl. N. SLENCZKA, „Gott über die Religion“, 167-168, hier 168: „Frömmigkeit ist ein Gefühl, ein unmittelbares Wissen um mich selbst. Es ist aber unterschieden gegen andere

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sich im Christentum – so F. Schleiermacher und N. Slenczka unisono – ein selektiver Gebrauch der Psalmen und Propheten feststellen: Es wird nur das ausgewählt, das dem christlich-frommen Bewusstsein nicht fremdelt und nicht an das Gesetz bindet. Das fromme Bewusstsein ist also unmittelbar und durch nichts gebunden oder verpflichtet. Nichts Endliches vermag das fromme Selbstbewusstsein zu binden, sondern es ist einzig in seiner „eigene[n] schlechthinnige[n] Abhängigkeit“ zu erfahren.72 Die Frömmigkeit, die sich in Objektivität und Vorgängigkeit voll und ganz gegenüber dem Wissen und Tun – also im reinen Erfahren – absetzt, findet sich im Selbstbewusstsein wieder, weshalb sich auch das christlich-fromme Selbstbewusstsein in der Religion ausdrücken muss. Es ist zwar ursprünglicher als die Religion, bedarf aber ihrer, denn nur darin kommt das Universale im Konkreten zum Ausdruck.73 Das christlich-fromme Selbstbewusstsein ist die persönliche Einwirkung Christi auf das Bewusstsein des Menschen. Das ist es, was den Glauben im Menschen bewirkt und hält. In seinem Selbstbewusstsein erfährt der Gläubige, was Glaube bedeutet, wenn sich in ihm durch die Wirkung der Verkündigung der Lehre und Taten Christi das Ganze, also Gott, eröffnet. F. Schleiermacher beschreibt in § 127,2 seiner Glaubenslehre ausführlich, dass durch das Medium der Verkündigung die Einwirkung Christi auf den Glaubenden gegeben ist, wobei das christlich-fromme Selbstbewusstsein Ort dieser Einwirkung ist und zum Kriterium und zur Norm des Glaubens wird. Damit leistet F. Schleiermacher natürlich auch eine Neugewichtung des reformatorischen Schriftprinzips. Die Schrift ist als objektive, vorgängige Größe nicht mehr das Korrektiv gegenüber der Frömmigkeit und kann nicht mehr als Norm für Theologie und Bekenntnis verstanden werden, sondern ist dem christlich-frommen Selbstbewusstsein nachgeordnet und dadurch bestimmt.

Gefühle als Wissen um die eigene Abhängigkeit, und zwar um die schlechthinnige Abhängigkeit“ (Hervorhebung im Original). Siehe auch die warnende Stimme F. WAGNER, „Theologie im Banne“, 260. 72 G. SANS, „Wissen von Gott“, 164. Vgl. dazu F. SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube, § 132,3 und N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 61-62. 73 Vgl. DERS., „Gott über die Religion“, 160: „Religion ist damit gerade nicht das sklavische Übernehmen fremder Gedanken oder das sklavische Hängen am Bibeltext oder Dogma, sondern Religion ist das Ergriffensein vom Universum und nur so möglich, dass ich, zunächst geleitet möglicherweise von einem anderen, dann selbst zu jemandem werde, dem sich das Universum erschließt [...]“. Siehe auch W. GRÄB, „Die Lehre der Kirche und die Symbolsprachen der gelebten Religion“, in: U. BARTH – C. DANZ – W. GRÄB – F. W. GRAF (Hgg.), Aufgeklärte Religion und Ihre Probleme. Schleiermacher – Troeltsch – Tillich (= TBT 165), Berlin – Boston 2013, 137-154, 139; U. BARTH, „Religionstheorie der ,Reden‘“, 266.

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1.2.4.

Die Bedeutung des Neuen Testaments und die Deutung des Alten Testaments

F. Schleiermacher ist nicht blind für die gemeinsamen Traditionen von Judentum und Christentum, bewertet jedoch das gemeinsame Erbe differenziert. Denn es ist gerade das fromme Selbstbewusstsein, das er nicht an eine bestimmte Metaphysik oder sittliche Moral gebunden wissen wollte, weil die Frömmigkeit kein religiöses Wissen ist.74 Frömmigkeit ist das „Gefühl und die Anschauung“ des Glaubens, dass der Mensch in der absoluten Abhängigkeit zu Gott steht. Jesus von Nazareth ist der, der dem Menschen mit seinem Evangelium der Erlösung die Botschaft von dieser Abhängigkeit geschichtlich erfahren lässt und diese im Menschen stärkt. Das Wort Gottes ist Verkündigung dieser Abhängigkeit und darin wahr, weil es inspiriertes Wort Gottes ist.75 Die Schrift verkündet diese Unmittelbarkeit und bringt sie zum Ausdruck. Schleiermacher unterstreicht daher in § 27,3, dass die Schrift alleine sprechen soll und nicht ein durch die Kirche vermitteltes Wort ist. Die Kirche wird damit in der Glaubenslehre Schleiermachers als Medium der Schrift verstanden, womit die Schrift der reformatorischen Tradition folgend einen Vorrang zur Kirche hat. Die Kirche gibt zwar Zeugnis von der Wahrheit der Schrift und erhält gerade darin Lebendigkeit und Leben, aber nur die Verkündigung der Schrift bewahrt die Kirche in unmittelbarer Abhängigkeit mit Christus und versetzt den Glaubenden in unmittelbare Beziehung mit ihm. Die Kirche ist und lebt demnach vom Vollzug der Schriftverkündigung, die das Evangelium Christi kundtut.76 Es ist Sinn der Verkündigung durch 74 H.-W. SCHÜTTE, „Christlicher Glaube“, 296: „Dementsprechend [der Vergewisserung des Glaubens auf seinen Grund; Anm. d. Verf.] ist das Verhältnis des Christentums zum Judentum nicht im Modus eines Begründungsverhältnisses zu erörtern, sondern im Blick auf die Art und Weise, wie sich in ihnen das unmittelbare Selbstbewußtsein reflektiert“. 75 Vgl. N. SLENCZKA, „Gott über die Religion“, 172. N. Slenczka weist in seiner Schleiermacherinterpretation darauf hin, dass Schleiermacher die Behandlung des Wortes Gottes in den Prolegomena der Glaubenslehre durchführt. Damit stellt er die Schrift dem Dogma gegenüber. Somit ist Dogma und Schrift Formalprinzip des Glaubens, das auch parallelisiert werden kann mit Gesetz und Evangelium, denn als Formalprinzip ist es nicht objektiv vorausgehend. Schleiermacher behandelt aber zudem das Wort Gottes in der Ekklesiologie, also der materialen Dogmatik, und bindet damit die Schrift an den lebendigen Vollzug der Kirche, an ihre Verkündigung. Vgl. auch DERS., „Problem des Kanonbegriffs“ 268-270. J. LAUSTER, Prinzip und Methode, 50 kommentiert diesen Schritt als „Verbannung in die zweite Reihe“. Weiter heißt es in 53, dass es eine „gewaltige Reduktion“ wäre, wollte man das Wesen des christlich-frommen Selbstbewusstseins einzig aus der Schrift erweisen. Der Glaube muss der Schrift vorgängig sein. 76 F. SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube, § 127,2-3: „Jetzt ist die Schrift ein besonderes, weil die unveränderte Aufbewahrung derselben auf eine eigenthümliche Weise die Identität unseres und des ursprünglichen Zeugnisses von Christo verbürgt.

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die Kirche, „dieselbe innere Erfahrung in anderen hervorzurufen“ (§ 14,1), um den Anderen das Zeugnis der geschichtlichen Verkündigung nahezubringen, die im Bewusstsein wirken soll. Daher gelten die neutestamentlichen Schriften als Norm für die Kirche, da sie die erste historische Gestalt dieser Abhängigkeit des Menschen von Gott darstellen und ins Wort fassen. Die Schrift ist also zuerst Verkündigung und darin Norm, denn es kann nur das als Norm gelten, was das christlich-fromme Selbstbewusstsein zum Ausdruck bringt und worin sich dieses wiedererkennt. Damit der Gläubige die Abhängigkeit begreifen kann, bedarf er aber des Glaubens an Jesus Christus, der allem religiösen Tun voraus ist. In § 128 unterstreicht F. Schleiermacher, dass „[d]as Ansehen der heiligen Schrift […] nicht den Glauben begründen [kann], vielmehr muß dieser schon vorausgesetzt werden um der heiligen Schrift ein besonderes Ansehen einzuräumen“. Der Glaube wird durch die Verkündigung zwar bestärkt, findet aber nicht seinen Grund darin. Im christlich-frommen Selbstbewusstsein sieht sich der Mensch zurückverwiesen auf das Bewusstsein Christi, das die absolute und reinste Abhängigkeit von Gott ist. Auf dies bezieht sich der Glaube, der sich im eigenen Bewusstsein begründet erfährt, und der durch die Schriften des neuen Testaments verkündet wird.77 Es ist die Erlösungstat Christi, die im christlich-frommen Bewusstsein zum Durchbruch kommen soll und die gerade darin das Bewusstsein des Christen konstituiert. Die gesamte christliche Lehre muss also im christlich-frommen Selbstbewusstsein ihre Begründung finden. Dies trifft dann auch auf die Schriften des Alten Bundes zu. N. Slenczka folgert daraus: „Der Prozess der Rezeption, der sich damit positiv oder negativ vollzieht, hat sein Kriterium am christlich frommen Selbstbewusstsein und ist damit in der Weise strukturiert wie die Aneignung der kanonischen Schriften des NT durch die Kirche. Das Alte Testament, so die These Schleiermachers, ist nicht und war nie Ausdruck eines christlich frommen Selbstbewusstseins und wird daher faktisch über kurz oder lang seine kanonische Bedeutung verlieren […]“.78

Aber sie wäre doch nur ein todter Besitz, wenn diese Aufbewahrung nicht eine sich immer erneuernde Selbstthätigkeit der Kirche wäre, die sich zugleich in dem lebendigen auf die Schrift zurükkgehenden oder mit derselben in Sinn und Geist übereinstimmenden Zeugniß von Christo kund giebt. […] Besteht ferner die profetische Thätigkeit Christi in seiner Selbstdarstellung und in seine Aufforderung für das Reich Gottes: so ist die heilige Schrift, sofern sie ihrer Abfassung und Aufbewahrung nach als Werk der Kirche die unmittelbarste Vergegenwärtigung Christi ist, auch das feststehende Abbild seiner profetischen Thätigkeit“. Vgl. N. SLENCZKA, „Problem des Kanonbegriffs“ 270. 77 Vgl. ebd. 272. 78 DERS., Vom Alten Testament und vom Neuen, 65. Dies unterstreicht auch P. E. CAPEZ, „Schleiermacher on the Old Testament“, 300-301.

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Das christlich-fromme Selbstbewusstsein muss sich in biblischen Texten wiederfinden können, wenn diese für das Selbstbewusstsein konstitutiv sein sollen. Die Verkündigung der Kirche kann dagegen nur das aussprechen, was der Gläubige in seinem Selbstbewusstsein schon für sich und in sich erfahren hat. Schrift als Wort Gottes wird selbst Teil dieser Verkündigung des inneren Bewusstseins, da sie die erste auf Jesus zurückgehende Darstellung ist, die sich im christlich-frommen Selbstbewusstsein erfährt. Wenn die neutestamentlichen Schriften aber nur ein Ausdruck der innerlich bewussten Erfahrung der Abhängigkeit von Gott sind, die sich in der Erlösungstat Christi niederschlägt, dann dürfen sich diese Schriften des Neuen Testaments einzig auf das Bewusstsein Christi beziehen, ohne dabei außer- oder vorchristliche Einflüsse in sich aufzunehmen (vgl. § 129,2). Neutestamentliche Schriften müssen möglichst in Reinform die Aussagen dessen sein, was die Erlösung im christlich-frommen Bewusstsein wirkt. Damit ist dann das Kriterium gegeben, womit biblische Schriften als kanonisch bezeichnet werden können: Kanonisch ist die Schrift, die möglichst nah am apostolischen Ursprung ist und ohne eine außerchristliche Verunreinigung das Selbstbewusstsein Christi zum Ausdruck bringt.79 In den alttestamentlichen Schriften erkennt F. Schleiermacher dagegen nicht dieselbe Inspiration durch den Geist Gottes, da sich in diesen Schriften das christlich-fromme Selbstbewusstsein nicht in derselben Weise wiederfindet wie in den neutestamentlichen. Das Alte Testament ist nicht Ausdruck der Erlösungstat Christi, die die Beziehung und Abhängigkeit zu Gott begründet und auf die sich das Bewusstsein des Glaubenden stützt. In ihm kommt ein anderes, ein jüdisches Selbstbewusstsein zum Ausdruck, das dem christlichen nicht entspricht. Vielmehr sieht F. Schleiermacher im Judentum das Religiöse mit dem Politischen vermengt, das dann auch das Selbstbewusstsein trübt. Diese Vorstellung des jüdischen Selbstbewusstseins steht diametral dem Verständnis F. Schleiermachers vom christlich-frommen Bewusstsein entgegen, der die „existentielle Haltung des Einzelnen zur Ganzheit des Seins“ zu ergründen sucht.80 Gerade der Messiasglaube als die Form der Unterwerfung des Volkes unter das Gesetz unterstreicht die Partikularität des Judentums in seiner Veräußerlichung durch Gesetz, Land und Volk als Unterschied zur 79

Vgl. N. SLENCZKA, „Problem des Kanonbegriffs“ 277: „Schleiermacher macht Ernst mit der Grundeinsicht, daß der Glaube an Christus den Kanon konstituiert und nicht umgekehrt: Das fromme Selbstbewußtsein besteht und entsteht auch außer der Schrift, erkennt in der Schrift sich selbst wieder und erkennt die so als Zeugnis des christliche frommen Bewußtseins identifizierten Schriften als kanonisch an“. 80 K. BECKMANN, Die fremde Wurzel, 36. K. Beckmann unterstreicht auch, dass sich für Schleiermacher die Bindung an das Politische im Tun-Ergehenszusammenhang niederschlägt, das einer „Synthese mit dem Universum“ entgegensteht. Ebd. 37.

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Universalität der Innerlichkeit im Christentum. Gerade das politisch Partikulare bindet den Menschen an das Konkrete und lässt ihn nicht offen sein für das Ganze des Universums. Trotz der kritischen Haltung gegenüber der partikularen Sichtweise auf das Judentum fordert F. Schleiermacher hinsichtlich der alttestamentlichen Bezugsstellen im Neuen Testament in § 132,3: „Nur gehört es freilich um deswillen zur geschichtlichen Treue und Vollständigkeit, daß dasjenige auch aufbewahrt werde, worauf sich Christus und seine ersten Verkündiger berufen haben. Dies trifft aber fast nur die prophetischen Schriften und die Psalmen; und dadurch rechtfertigt sich die Praxis, diese dem Neuen Testament als Anhang beizufügen“.81 Dem Berliner Theologen des 19. Jahrhunderts geht es um die direkte und unmittelbare Verbindung des Glaubenden mit Christus im frommen Selbstbewusstsein. Darum lehnt er auch jede Theologie ab, die mit Hilfe der dicta probantia arbeitet, also einen dogmatischen Satz mit einem biblischen Satz beweisen möchte. Für F. Schleiermacher ist für sein Verständnis von Theologie grundlegend, dass „eine Lehre nicht deshalb zum Christenthum gehören [solle], weil sie in der Schrift enthalten ist, da sie doch vielmehr nur deshalb in der Schrift enthalten ist, weil sie zum Christenthum gehört“ (§ 128,3). Das Alte Testament könne demnach nur im Kanon der Schrift stehen, wenn es sich auf die Unmittelbarkeit Jesu bezieht. Ohne jeglichen Bezug zum christlich-frommen Bewusstsein verliert es aber eine konstitutive Größe im Schriftenkanon und stellt für F. Schleiermacher nur einen Abweg dieser Unmittelbarkeit dar, die den Glauben daran hindert, die Größe der Botschaft und Erlösung Jesu Christi zu erahnen. 1.2.5.

Die Christozentrik im Denken F. Schleiermachers

Das Wesen des Christentums ist nach F. Schleiermacher durch die Christologie bestimmt und drückt sich in ihr aus. In dieser „enthusiastische[n] Christusbeziehung“82 des Denkens des Berliner 81

Vgl. dazu auch N. SLENCZKA, „Problem des Kanonbegriffs“, 281: „Er [der Leser der Psalmen; Anm. d. Verf.] – so Schleiermacher! – hat mit einer Frömmigkeit zu tun, die partikular konzentriert ist, die die Heilsgemeinschaft exklusiv auf ein Volk und seine Geschichte limitiert und [...] Gott als Exekutor des Gesetzes der Vergeltung konzipiert“. N. Slenczka ist aber aufmerksam dafür, welche Folge diese Charakterisierung des Judentums und des Alten Testaments durch Schleiermacher mit sich bringen kann, wenn er in seinem Aufsatz „Problem des Kanonbegriffs“, 285 schreibt: „Selbstverständlich ist die schleiermachersche Charakterisierung des jüdisch frommen Selbstbewußtseins und damit seine Haltung gegenüber dem AT auch getragen von Stereotypien [sic!], die man heute unter dem Label ‚Antijudaismus‘ rubrizieren würde“. 82 K. BECKMANN, Die fremde Wurzel, 51. Siehe auch U. GLATZ, Religion und Frömmigkeit, 308-309; M. JUNKER, Das Urbild des Gottesbewusstseins. Zur Entwicklung der Religionstheorie und Christologie Schleiermachers von der ersten zur zweiten

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Philosophen und Theologen kommt seine herrnhutische Prägung zum Durchbruch, auch wenn er sich später ob der strikt und einengend empfundenen Pietät von der Brüdergemeinde losgesagt hat. „Das Christentum als von Jesus, der ,urbildlichen‘ Norm,“ – so K. Beckmann – „initiierte geschichtliche Größe ist der Dogmatik [und gesamten Theologie nach F. Schleiermacher; Anm. d. Verf.] vorgegeben. Bei dem christlichen Rekurs auf Christus handelt es sich für Schleiermacher um geschichtlich vermittelte konkrete Erfahrung und nicht um Spekulation […]“.83 Die Lehre von Jesus Christus als Erlöser wird hierbei so stark von der bewusstseinstheoretischen Abhängigkeit des Endlichen vom Unendlichen her gedacht, dass die christologische Rede bei F. Schleiermacher selbst auf das neutestamentliche Zeugnis verzichten kann, da sein gesamtes System teleologisch auf Jesus Christus ausgerichtet ist: „Das Christenthum ist eine eigentümliche Gestaltung der Frömmigkeit Auflage der Glaubenslehre (= SchlA 8), Berlin – New York 1990, 99-101; [in Folge: M. JUNKER, Urbild des Gottesbewusstseins]. R. BERNHARD, „Schleiermachers christologische Fassung der ‚Absolutheit‘ des Christentums“, in: R. BARTH – U. BARTH – C.-D. OSTHÖVENER (Hgg.), Christentum und Judentum. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Halle, März 2009 (= SchlA 24), Berlin – New York 2012, 325-343. 83 K. BECKMANN, Die fremde Wurzel, 91. Zur Darstellung der Christologie und der Akzentverschiebung von der ersten zur zweiten Auflage der GL F. Schleiermachers siehe H. GERDES, „Anmerkungen zur Christologie der Glaubenslehre Schleiermachers“, NZSTh 25 (1983) 112-125; [in Folge: H. GERDES, „Anmerkungen zur Christologie“]. Vgl. auch D. LANGE, Historischer Jesus, 31-32. D. Lange unterstreicht dabei, dass Jesus als Erlöser bereits in RüR nicht nur ideal, sondern historisch als solcher zu verstehen ist, weil sich nur so die universale Erlösung konkretisieren lässt und damit unüberbietbar ist. Damit stellt sich der Autor – wie in seiner ganzen Schleiermacherinterpretation – gegen die schon von F. C. Baur und D. F. Strauß geäußerte Kritik an F. Schleiermacher, eine Christusidee zu propagieren, anstatt Interesse am historischen Jesus zu haben. Zum Jesusbild und zur Christologie in den Vorlesungen F. Schleiermachers zum Leben Jesu siehe ebd. 83-131. B. Dahlke unterstreicht zwar, dass der Berliner Gelehrte Interesse am historischen Jesus hat, aber „[g]anz abzuweisen ist der im Hintergrund stehende Vorwurf [der fehlenden historischen Betrachtung Jesu; Anm. d. Verf.] indes nicht, ist Schleiermachers Entwurf doch eher geschichtsbezogen statt eigentlich geschichtsgebunden. […] [D]er ,historische Jesus‘ hat eine schwankende Stellung“. B. DAHLKE, „Die Christologie in Schleiermachers Glaubenslehre“, Cath(M) 70 (2016) 278-299, 287; [in Folge, B. DAHLKE, „Christologie Schleiermachers“]. Ebenso vgl. D. SCHLENKE, Geist und Gemeinschaft, 198-200, besonders 292, wo die Autorin F. Schleiermacher gegen F. C. Baur verteidigt, wenn sie schreibt: „Baurs Kritik verkennt, daß Schleiermachers gesamtes dogmatisches Verfahren auf der durch es selber uneinholbaren Voraussetzung des christlichen Erlösungsbewußtseins beruht, das sich seinerseits als positiv bestimmtes frommes Bewußtsein der vorausliegenden Faktizität der geschichtlich vermittelten Wirkung der Person Jesu grundlegend verdankt weiß […]“. Die Autorin bleibt in ihrer Argumentation aber schuldig zu erklären, wie F. Schleiermacher aufgrund der „geschichtlich vermittelten Wirkung der Person Jesu“ einen geschichtsenthobenen Neueinsatz des absoluten Bewusstseins denken kann, und somit Jesu Gottesbewusstsein aus dem geschichtlichen Zusammenhang auf einen reinen „Vorläufer-Zusammenhang“ reduziert. Siehe auch M. JUNKER, Urbild des Gottesbewußtseins, 133-150.

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in ihrer teleologischen Richtung, welche Gestaltung sich dadurch von allen andern unterscheidet, daß alles einzelne in ihr bezogen wird auf das Bewußtsein der Erlösung durch die Person Jesu von Nazareth“ (GL § 18). Das, was Jesus Christus in seinem göttlichen Bewusstsein er-lebt, ist das Korrelat zum partikular menschlichen Bewusstsein, so „daß die Christologie von ihrer besonderen biblischen Kontinuität ,losgerissen‘ und an die Parameter einer sich transzendental auslegenden Religiosität“ gebunden wird.84 F. Schleiermacher versucht in seiner Theologie die Christologie insbesondere mit der johanneischen Christologie auszuweisen, wobei ihm der Satz „und das Wort ist Fleisch geworden“ (Joh 1,14) als Anker der gesamten Christologie gilt. Die Fleischwerdung des Logos bezeichnet als Menschwerdung keinen individuellen Menschen, sondern die Menschheit an sich und sein Werden in der Geschichte: Christologie kann daher bei Schleiermacher als konzentrierte und universalisierte Anthropologie verstanden werden. Das Selbstbewusstsein Jesu ist dabei der Ausgang des menschlichen Bewusstseins aus seiner selbstverfangenen Verstrickung in ein irdisches und sinnliches Selbstbewusstsein. Darum ist die Fleischwerdung des Logos nicht nur die Menschwerdung des Erlösers, „sondern ineins damit die geistige Menschwerdung des Menschen überhaupt […]“, sodass „alles höhere kulturelle Leben […] sich bei hinreichender Selbstreflexion im Geist Christi und seiner Gemeinde wiedererkennen [wird], eben weil es dabei letztlich um jenes Allgemeine geht […]“.85 Es ist der Christusbezug, der die geschichtliche Vergewisserung des Religiösen ausmacht und durch das 84

K. BECKMANN, Die fremde Wurzel, 94. P. E. Capez stimmt K. Beckmann in seinem Urteil über F. Schleiermacher zu, kritisiert jedoch an seiner Argumentation, dass er der Auslegung des Alten Testaments durch das Neue Testament eine äußerliche Kriteriologie auflege. Wenn das Alte Testament christologisch interpretiert werden muss, so bedarf dies einer biblisch inhärenten Herangehensweise („internal criticism“), ansonsten würde K. Beckmann sich denselben Vorwurf zuziehen, den er F. Schleiermacher mache. Vgl. P. E. CAPEZ, „Schleiermacher on the Old Testament“, 298-299 und 322: „The irony here is that Beckmann has tacitly accepted Schleiermacher’s neo-Marcionite formulation of the basic issue: either the OT is not strictly speaking a Christian book, in which case the church should hand it back to the synagogue, or the true meaning of the OT consists in its prophetic witness to Jesus as Israel’s messiah, in which case the Jews’ claim to it is invalidated by their lack of faith in its christological referent“. 85 U. BARTH, „Jesus-Bild und Geschichtsdeutung. Schleiermacher und die spekulative Christologie“, in: C. DANZ (Hg.), Schelling und die historische Theologie des 19. Jahrhunderts, Tübingen 2013, 45-62, 56. Siehe die konzise und prägnante Auslegung des Autors auch zu F. Schleiermachers Weihnachtsfeier: ebd. 53-58. Zum Verhältnis von Christologie und Geschichte siehe die detaillierte Darstellung W. GRÄB, Humanität und Christentumsgeschichte, 63-155, hier 150: „Dennoch bleibt das christologische Geschichtsprinzip an sich selbst betrachtet unhintergehbar. Es ermöglicht die Entfaltung der in ihm begründeten Geschichtsauffassung gerade dadurch, daß es die geschichtliche Selbstauslegung und Selbstdurchsetzung christlicher Frömmigkeit in ihrem Zustandekommen beschreibbar macht“.

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Wissen der Erlösung in Jesus Christus verdeutlicht. Das Wesen des Christentums ist nicht aus einer Schrift und nicht aus dem Neuen Testament zu deduzieren; Schriften sind keine Offenbarungstexte, die eine heilsgeschichtliche Kontinuität begründen, sondern sind und bleiben Medien und Ausdruck des religiösen Selbstbewusstseins (vgl. GL § 129). Das Bewusstsein Gottes, selbst das Wissen der göttlichen Eigenschaften, ist einzig und allein in Jesus Christus zu ergründen (vgl. GL § 109,4). Das religiöse Tun des Menschen ist daher geprägt vom teleologischen Charakter der Erlösung durch das Bewusstsein Christi und nicht durch eine menschliche Selbsttätigkeit, weshalb alles in der Religion und im Glauben auf Jesus Christus bezogen werden muss, was zeigt, „that his life is the pure, creative act that establishes fellowship between us and God“.86 Erlösung besteht demnach darin, dass der Mensch eine „religiöse Persönlichkeit erlange“ (GL § 127,1), indem das menschliche Bewusstsein eine stetige Teilnahme am Gottesbewusstsein Jesu Christi einnimmt, denn erst in der Teilnahme daran wird das religiöse Bewusstsein des Menschen in die eigentliche Größe überführt. Man darf dahinter wohl die Abwehr jeglicher Werkgerechtigkeit sehen, mit der sich der Mensch selbst Erlösung schaffen wolle. F. Schleiermacher setzt dagegen die Konzentration auf die Tat Jesu Christi, der mit seinem absoluten Bewusstsein die Einheit im Menschen aus altem und neuem Menschen als Rechtfertigung setzt. Es ist einzig das Tun Jesu Christi, das die Gegenwart Gottes ausdrückt und dadurch Gott in ihm anwesend sein lässt (vgl. GL § 96,3), da sich sein absolutes Bewusstsein dadurch auszeichnet, dass es nicht vom sinnlichen Bewusstsein niedergehalten und überlagert wird.87 Die christozentrische Ausrichtung der gesamten Glaubenslehre und des Religionsverständnisses88 F. Schleiermachers führt dazu, dass er eine partikulare Systematik vorlegt, indem alles auf 86

K. W. HECTOR, „Actualism and Incarnation. The High Christology of Friedrich Schleiermacher“, IJST 8 (2006) 307-322, 310. Der Autor folgert daraus, dass Gottes Sein reine Aktualität ist und dass, wenn Jesus Christus durch sein Handeln die Darstellung Gottes in der Welt sein soll, ebenfalls reine Aktualität sein muss, was seine Gottheit ausmacht. Der Autor unterstreicht, „that ,perfect God-consciousness‘ can be equated with ,divinity‘ precisely because Christ’s God-consciousness is the human organ through which God’s activity becomes incarnate. The important thing about Christ, then, is not his God-consciousness per se, but the fact that this consciousness is the means through which God’s being is incarnated.“; vgl. ebd. 311-312, hier 312. 87 Vgl. B. FERDEK, „Christologie in der Sicht Schleiermachers“, in: L. MIODOŃSKI – S. SCHMIDT (Hgg.), System und Subversion. Friedrich Schleiermacher und Henrik Steffens, Berlin – Boston 2018, 208-213, 208-209. Der Autor unterstreicht in seinem Beitrag, dass F. Schleiermacher den chalcedonischen Begriff „Natur“ durch „Bewusstsein“ ersetzt, um die Christologie für eine Philosophie nach R. Descartes anschlussfähig zu halten. 88 Vgl. N. SLENCZKA, „Schleiermacher heute – ein Plädoyer“, in: S. GROSSE (Hg.), Schleiermacher kontrovers, Leipzig 2019, 15-39, 18-25.

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das Bewusstsein Jesu Christi rückgeführt und eingeschränkt wird. Jedoch liegt gerade in dieser Partikularität die Universalität verschlossen, wovon jedes menschliche Bewusstsein und die Erlösung abhängen. Entwickelt sich Geschichte aus der Religion, so verklärt sich die Sünde des Menschen im Bewusstsein Jesu Christi; anders ausgedrückt bedeutet dies, dass die ganze Person Jesu zur Funktion der Aktivität Gottes wird, in der sich darstellt, dass Jesus Christus wahrer Gott und wahrer Mensch ist. In dieser Funktionalität der Person Jesu Christi versucht der „protestantische Kirchenvater“ die Errungenschaften der jungen historischen Rückfragen an die biblischen Texte in die christologischen Aussagen zu integrieren und das biblische Jesusbild mit dem Christusbild des Lebens zusammenzuführen; damit schafft er eine „Integrationschristologie“, die versucht, das Leben des modernen Gläubigen an den geschichtlichen Ursprung zurückzubinden.89 Die chalcedonische Formulierung, um Gottheit und Menschheit in Jesus Christus darzustellen, wird bei F. Schleiermacher jedoch nicht mehr in ihrem ontologischen Sinn verstanden, sondern sie wird mehr zur Funktion umgedeutet, um darin die Liebe Gottes darzustellen (vgl. GL § 166,2). 1.3.

Adolf von Harnack: Das Alte Vorgeschichte des Christentums

Testament

als

Adolf von Harnacks Einstellung zum Alten Testament wird oft mit den bekannten Zeilen aus seiner grundlegenden Schrift über den Häresiarchen Marcion wiedergegeben: „das AT im 2. Jahrhundert zu verwerfen, war ein Fehler, den die große Kirche mit Recht abgelehnt hat; es im 16. Jahrhundert beizubehalten, war ein Schicksal, dem sich die Reformation noch nicht zu entziehen vermochte; es aber seit dem 19. Jahrhundert als kanonische Urkunde im Protestantismus noch zu konservieren, ist die Folge einer religiösen und kirchlichen Lähmung“.90 89

H. GERDES, „Anmerkungen zur Christologie“, 123. A. V. HARNACK, Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott; eine Monographie zur Geschichte der Grundlegung der katholischen Kirche (= Bibliothek klassischer Texte), unveränd. reprograph. Nachdruck der zweiten, verb. und verm. Aufl. von 1924, Darmstadt 1996, 217; [in Folge: A. V. HARNACK, Marcion]. Weiter schreibt A. v. Harnack ebd. 218: „Das AT hat die Christenheit in einen tragischen Konflikt gebracht: er war im 2. Jahrhundert und bis auf weiteres nicht so zu lösen, wie ihn M[arcion] gelöst hat, sondern wie die Kirche ihn löste“. Fast schon entschuldigend verteidigt er Luther, da zu seiner Zeit die Einheit von Altem und Neuem Testament durch die Allegorie noch größeres Gewicht besaß als die Siebenzahl der Sakramente. Der Reformator war in diesem Punkt „noch religiös gebunden“. Vgl. dazu ebd. 219-220. Die zeitgenössische Kirche fordert A. v. Harnack auf, tabula rasa zu machen, damit das Alte Testament nicht denselben Stellenwert habe wie das Neue Testament. Vgl. dazu ebd. 222-223. Adolf v.

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Es ist nicht das Ansinnen A. v. Harnacks, das Alte Testament aus der Bibel zu verbannen. Darin setzt er sich klar und deutlich von Marcion ab.91 Sein Vorschlag geht vielmehr dahin, dass das Alte Testament als apokryphe Schrift betrachtet werden soll. Diesen Schritt, den M. Luther noch nicht gehen konnte, gelte es nun zu vollziehen. Dennoch hebt der Berliner Dogmenhistoriker hervor, dass es das Verdienst des Reformators ist, die paulinisch-marcionitische Unterscheidung von Gesetz und Evangelium wieder in den theologischen Diskurs gebracht zu haben. A. v. Harnack versteht sich darin voll und ganz in der Linie des Reformators M. Luther, den er seinerseits durch die kirchliche Tradition noch gebunden sah. 1.3.1.

A. v. Harnack uns sein Marcionbild

A. von Harnack hat sich in seinem ganzen akademischen Leben, beginnend mit seiner Studienzeit bis hin zu seinen letzten Werken, immer wieder mit Marcion und seiner Epoche auseinandergesetzt und hegte große Sympathien für „seinen Marcion“, den er für den bedeutendsten Christen zwischen Paulus und Augustinus hielt.92 Dabei Harnack war seinerseits vertraut mit den Schriften Schleiermachers. So wundert es nicht, dass sich gerade die Ablehnung des Alten Testaments in einem ähnlichen Dictum auch bei Schleiermacher findet: „Der dogmatischen Adhibition des alten Testaments verdanken wir doch entsetzlich viel Übles in unserer Theologie. Und wenn man den Marcion richtig verstanden und nicht verketzert hätte, so wäre unsere Lehre von Gott viel reiner geblieben. Dies halte ich für die nothwendig aufs allerstärkst zu sagen, und für mich ist es eine Gewissenssache […]“. F. SCHLEIERMACHER, Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen, Bd. 4, W. DILTHEY (Hg.), Berlin 1863, 396, zitiert nach K. BECKMANN, Die fremde Wurzel, 16. Vgl. J. LAUSTER, Prinzip und Methode, 203-205. 91 A. V. HARNACK, Marcion, 223: Marcion „mußte das AT als ein falsches, widergöttliches Buch verwerfen, um das Evangelium rein behalten zu können; von ‚verwerfen‘ ist aber heute nicht die Rede, vielmehr wird dieses Buch erst dann in seiner Eigenart und Bedeutung (die Propheten) allüberall gewürdigt und geschätzt werden, wenn ihm die kanonische Autorität, die ihm nicht gebührt, entzogen ist“ (Hervorhebungen im Original). A. v. Harnack sieht Marcion als Religionsstifter, der eine Linie von den Propheten über Jesus bis zu Paulus in seiner Person zum Abschluss brachte. Vgl. dazu E. MÜHLENBERG, „Adolf von Harnack – Marcion und die Frage nach dem Stellenwert des Alten Testaments“, in: R. BARTH – U. BARTH – C.-D. O STHÖVENER (Hgg.), Christentum und Judentum. Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Halle, März 2009 (= SchlA 24), Berlin – Boston 2012, 574-591, hier 584 und R. BUCHHOLZ, „‚Zu diesem Kanon darf das AT nicht gestellt werden‘. Marginalien zu einer These Harnacks“, ZKTh 131 (2009) 26-46, hier 27; [in Folge: R. BUCHHOLZ, „Marginalien“]. 92 Vgl. dazu die werkgenetische Analyse des Marcionbildes bei W. KINZIG, Harnack, Marcion und das Judentum, 43-108 und DERS., „Ein Ketzer und sein Konstrukteur. Harnacks Marcion“, in: G. MAY – K. GRESCHAT (Hgg.), Marcion und seine kirchengeschichtliche Wirkung = Marcion and his impact on church history. Vorträge der Internationalen Fachkonferenz zu Marcion, gehalten vom 15.-18. August 2001 in Mainz (= TU 150), 2002, 253-274, 254-259.264-265; [in Folge: W. KINZIG, „Ein Ketzer

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unterstreicht v. Harnack, dass es ihm nicht um die gnostische Lehre, sondern um die soteriologische Ausrichtung des Häresiarchen ging, der nach der harnackschen Interpretation weder von der hellenistischen noch der jüdischen Denk- und Glaubenswelt beeinflusst und einzig an der evangeliengemäßen Ausrichtung des Lebens interessiert war. Der Berliner Dogmenhistoriker hebt dabei mehr das Reformatorische Marcions als das Historische heraus, wobei das Reformatorische nicht auf eine theologische Lehre zurückzuführen sei, sondern auf den Grund einer Glaubensgewissheit.93 Dabei ist es der Häresiarch Marcion, der nach den dogmenhistorischen Studien den Anstoß für die Kanonbildung in der Frühkirche gegeben habe und dem damit eine kirchenkonstituierende Begründung zukam.94 Darum ist es für v. Harnack die Stunde des Protestantismus, das marcionitische Anliegen durchzuführen: Die Rückführung der christlichen Botschaft auf das reine Evangelium, das „die Ausschließlichkeit des Evangeliums als Objekt der Religion [begründet]: es bringt Erlösung, und an diese durch eine unermeßliche und unvergleichliche Güte herbeigeführte Erlösung reicht kein anderes Werk heran […]. Die Erlösung erlöst so vollkommen, daß von dem gegeben Alten schlechthin nichts übrig bleibt; sie macht bis zum letzten Grund der Dinge hin alles neu; also ist alles, was bisher bestanden hat, verderblich und nichtig; denn die Erlösung ist Erlösung nicht nur von der Welt, sondern auch von ihrem Schöpfer und Herrn“.95

Die Neuheit Marcions besteht für v. Harnack darin, dass er keine Kosmologie wie die Gnostiker und kein theologisches System wie im und sein Konstrukteur“]. A. v. Harnack schreibt selbst im Vorwort zur ersten Auflage seines Marcionbuches: „Er [Marcion; Anm. d. Verf.] ist daher in der Kirchengeschichte meine erste Liebe gewesen, und diese Neigung und Verehrung ist in dem halben Jahrhundert, das ich mit ihm durchlebt habe, selbst durch Augustin nicht geschwächt worden“. A. V. HARNACK, Marcion, VI. 93 Bereits in seinem Erstlingswerk über Marcion aus dem Jahr 1870 stilisiert v. Harnack Marcion zum Reformator, der das Ursprüngliche des Christentums sucht. Vgl. DERS., Marcion. Der moderne Gläubige des 2. Jahrhunderts, der erste Reformator. Die Dorpater Preisschrift (1870). Kritische Edition des handschriftlichen Exemplars mit einem Anhang (= TU 149), Berlin 2003, 130-132. 94 Dagegen sieht v. Harnack in seiner kleinen Schrift zum Neuen Testament für die Herausbildung des neutestamentlichen Kanons die römische Kirche verantwortlich. DERS., Die Entstehung des Neuen Testaments und die wichtigsten Folgen der neuen Schöpfung (= Beiträge zur Einleitung in das Neue Testament 6), Leipzig 1914, 70-71. 95 DERS., Marcion, 95-96 (Hervorhebungen im Original). Immer wieder vergleicht A. v. Harnack Marcion mit M. Luther und unterstreicht, dass beide ein ähnliches Anliegen geleitet hat und damit beiden der Titel Reformator zukomme. Vgl. ebd. 27.42.198.218.225 sowie DERS., Neue Studien zu Marcion (= TU 44,4), Leipzig 1923, 24; [in Folge: A. V. HARNACK, Neue Studien]. DERS., Lehrbuch der Dogmengeschichte. Band I: Die Entstehung des kirchlichen Dogmas, reprogr. Nachdr. der vierten, neu durchgearb. und verm. Aufl., Tübingen 1909-1910, Darmstadt 2015, 305; [in Folge: A. V. HARNACK, Lehrbuch I]. Vgl. zum harnackschen Vergleich Marcions mit Luther mit weiteren Belegstellen auch W. KINZIG, „Ein Ketzer und sein Konstrukteur“, 271.

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Frühkatholizismus aufstellen wollte, sondern Religion als Hingabe an den guten Gott verstand. Darum ist Marcion für A. v. Harnack „ein Religionsstifter; […] denn der Apostel Paulus hat keinen überzeugteren Schüler als ihn gehabt, und von keinem anderen Gott wollte M. wissen als von dem, der in dem Gekreuzigten erschienen ist“, indem er „die Religion der Innerlichkeit bis zur äußersten Konsequenz vollendet“ hat.96 Daher interpretiert A. v. Harnack mit Marcion die „Schrift“ formal als das „Evangelium“, wie es Paulus gepredigt hat, die in sich und nicht in der Interpretation des Alten Testaments ihre materiale Fülle besitzt. Harnack sieht in der systematischen Theologie eine Überformung des evangeliumsgemäßen Gottesbegriffs, auf den sich bereits Marcion bezog und ihn als die Neuheit des Evangeliums auswies.97 In der Botschaft des Evangeliums, so wie es Marcion verkündet, sieht der Berliner Kirchenhistoriker den wahren Glauben, der sich in der Botschaft Jesu in einer absolut neuen Qualität gezeigt hat. A. v. Harnack sieht die Leistung Marcions darin, dass er Religion als innere Hingabe an den Gott der Liebe und der Barmherzigkeit definiert und eine Verinnerlichung als Vereinfachung98 des Gotteswissens sieht. Aufgabe des Kirchenhistorikers ist demnach, wie der Reformator Luther das ursprüngliche Evangelium zu suchen und zu finden und nicht die Geschichtszusammenhänge herauszuarbeiten, in denen und 96

A. V. HARNACK, Marcion, 1 und 5 (Hervorhebung im Original). An anderer Stelle spricht der Berliner Dogmenhistoriker davon, dass Marcion „Kirchenschöpfer“ sei, indem er mit seinem Schriftkanon das Alte Testament ersetzte (vgl. ebd. 72) und darin zugleich der Schöpfer des christlichen Schriftkanons wurde (ebd. 151-152). Dabei kam Marcion das Verdienst zu, dass er die biblische Theologie ordnete und soteriologisch ausbaute und damit von einer synkretistischen Kosmologie absetzte: „Endlich, die verstreuten Gemeinden durch dieses Verständnis des Christentums zu einer geschlossenen Einheit, zu einer tatsächlichen Kirche zusammenzuschließen und dadurch vor Zerfließen in die Zeitströmungen und in den Judaismus zu bewahren, hat ebenfalls M[arcion] als einzelner mit bewunderungswürdiger Energie zuerst unternommen“ (ebd. 211-212; Hervorhebungen im Original). K.-H. Menke kommentiert solche Stilisierungen Marcions durch v. Harnack: „Harnacks Marcion-Monographie ist nicht nur ein Dokument historischer Forschung, sondern mindestens ebenso ein Dokument konfessioneller Interessen“. Vgl. K.-H. MENKE, Spielarten des Marcionismus in der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts. 525. Sitzung vom 2. Februar 2011 in Düsseldorf (= Vorträge der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste, Geisteswissenschaften G 429), Paderborn 2011, 11; [in Folge: K.-H. MENKE, Spielarten des Marcionismus]. 97 A. V. HARNACK, „Die Neuheit des Evangeliums nach Marcion“, in: DERS., Aus der Werkstatt des Vollendeten. Als Abschluss seiner Reden und Aufsätze, A. V. HARNACK (Hg.), Gießen 1930, 128-143, 143; [in Folge: A. V. HARNACK, „Die Neuheit des Evangeliums“]. Nach v. Harnack wollte Jesus im Gegensatz zur Entwicklung des Katholizismus eine „praktische Religion“ und keine „weitschichtige ,Lehre‘“, da es ihm „ausschließlich auf das Reich Gottes und wiederum auf die ,Gerechtigkeit‘ vor Gott ankam“. DERS., Marcion, 7. Siehe dazu auch DERS., Lehrbuch I, 309. 98 Vgl. DERS., Marcion, 18-19. Siehe auch DERS., „Die Neuheit des Evangeliums“, 134-136.

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durch die das Ursprüngliche durch eine theologische Lehre verdeckt wird, weil sich das wahre Christentum nicht in einem geschichtlichen Zusammenhang zeigt, sondern das „wahre Christentum […] daher objektiv biblische Theologie und nichts anderes [ist]“.99 A. v. Harnack ist daher gerade als Kirchen- und Dogmenhistoriker Theologe, indem er versucht, seine Theologie historisch zu begründen und zu ergründen, wobei mit der historischen Methode in theologischen Fragen Konklusionen gezogen werden, die theologische Präliminarien voraussetzen und daher durch diese bereits bestimmt sind.100 Somit ist für A. v. Harnack die lebenslange Beschäftigung mit Marcion nicht nur aus einer wissenschaftlichen Begeisterung heraus zu verstehen, sondern kann auch als eine Schärfung seines theologischen und systematischen Urteilens gelesen werden. Seine Bewunderung für Marcion lässt A. v. Harnack unverhohlen in seiner Replik auf Kritik an der ersten Auflage seines Marcionbuches erkennen, indem er sich auch einen Marcion für die Moderne wünscht: „Aber der Wunsch, es möge doch auch unter uns gottsuchende Marcioniten geben, entsprang und entspringt lediglich der Einsicht, wie seltsam und minderwertig zahlreiche Gruppen von Gottsuchern heute unter uns sind und wie hoffnungslos irreführend ihre Wege! Ihnen gegenüber ist der Marcionitismus eine höchst wertvolle Erscheinung – nicht als

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DERS., Marcion, 142 (Hervorhebung im Original). Siehe auch DERS., „Die Bedeutung der Reformation innerhalb der allgemeinen Religionsgeschichte“, in: K. NOWAK (Hg.), Adolf von Harnack als Zeitgenosse. Teil 1: Der Theologe und Historiker, Berlin – New York 1996, 273-304, 300-302; [in Folge: A. V. HARNACK, „Bedeutung der Reformation“]. DERS., „Das Christentum und die Geschichte“, in: K. NOWAK (Hg.), Adolf von Harnack als Zeitgenosse. Teil 1: Der Theologe und Historiker, Berlin – New York 1996, 880-899, 885-887. 100 Vgl. J. JANTSCH, Die Entstehung des Christentums bei Adolf von Harnack und Eduard Meyer (= Habelts Dissertationsdrucke Heft 28), Bonn 1990, 85: „Harnack fällt also Wertureile in seiner Funktion als Kirchenhistoriker. Er ist sich dessen bewußt und bejaht […] ein solches Vorgehen. Dies impliziert aber auch, daß seine Werturteile von anderen nicht akzeptiert werden müssen. Den Absolutheitsanspruch des Christentums kann er nicht widerspruchsfrei darlegen. Hier kann nur die Zustimmung von Menschen erwartet werden, die die Voraussetzungen des Wertenden teilen, die also auch Christen sind“ ; [in Folge: J. JANTSCH, Entstehung des Christentums]. Trotz dieses hermeneutischen Wissens vertritt A. v. Harnack den Anspruch: „Das Ziel der Geschichtsforschung ist, das subjektive Element ganz auszuschalten und einen großen Bau von strengster Objektivität zu erreichen […]“. A. V. HARNACK, „Was hat die Historie an fester Erkenntnis zur Deutung des Weltgeschehens zu bieten?“, in: K. NOWAK (Hg.), Adolf von Harnack als Zeitgenosse. Teil 1: Der Theologe und Historiker, Berlin – New York 1996, 948-972, 950. Vgl. dazu auch T. RENDTORFF, „Adolf von Harnack und die Theologie. Vermittlung zwischen Religionskultur und Wissenschaftskultur“, in: K. NOWAK – O. G. OEXLE (Hgg.), Adolf von Harnack. Theologe, Historiker, Wissenschaftspolitiker (= VMPIG 161), Göttingen 2001, 397-417, 400-403.

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,Prinzipienlehre‘, sondern als religiöse Weltanschauung und -beurteilung, und als Lehre von der Erlösung durch den Glauben“.101

Auch wenn man heute nicht mehr von einem starren Dualismus bei Marcion sprechen kann, so bleibt doch zu fragen, ob nicht A. v. Harnack mit seinen Marcionstudien ein Bild des Häresiarchen geprägt hat, das ihn von seiner Umwelt im zweiten Jahrhundert bewusst durch eine überzogene Kontrastierung abzusetzen versuchte, um damit das Neue der Evangelienbotschaft herausstellen zu können, das dem Prinzip sola gratia und sola fide entspricht und jeglicher Werkgerechtigkeit entgegensteht, oder wie C. Dohmen es sagt, „dass vor allem Harnacks Rekonstruktion Markion zum Markionisten gemacht hat“.102 Beim harnackschen Marcion ist seine gesamte Theologie und Praxis auf den alleinigen Glauben und die Soteriologie konzentriert und einzig von dort nimmt seine Kanontheologie ihren Anfang. Es ist bei A. v. Harnack die Soteriologie, die die Christologie bestimmt und die ihm vom „fremden Gott“ sprechen lässt, mit dem der zu erlösende Mensch durch Jesus Christus bekannt gemacht werden muss.103 Aber er bleibt immer der „fremde Gott“, da er sich nicht und niemals in der Menschheit Jesu offenbarte. Damit ist aber Jesus Christus als Erlöser nicht nur der Arzt des Menschen, sondern bleibt auch als Mittler den Menschen und der Welt „fremd“. Marcion kennt keine Brücke von der Schöpfung zur Erlösung; es gibt keine Kontinuität von Schöpfung und Neuschöpfung, sondern zwischen Erde und Himmel besteht eine ontologische Diskontinuität, die der Berliner 101

A. V. HARNACK, Neue Studien, 24. Natürlich wurde A. v. Harnack mit seinem Werk über Marcion der Vorwurf gemacht, dass er einen zumindest latenten Marcionismus vertrete. Darauf entgegnet der Dogmenhistoriker mit dem ersten Artikel des Glaubensbekenntnisses, jedoch ohne den Zusatz Gottes als Schöpfer. Vgl. ebd. 24 und DERS., Marcion, 235. Siehe dazu und zur Marcion-Affinität v. Harnacks auch W. KINZIG, „Ein Ketzer und sein Konstrukteur“, 272-273. Doch bleibt bei allem harnackschen Enthusiasmus mit G. May kritisch zurückzufragen: „Harnacks Gabe, Geschichte so zu schreiben, als wäre er ihr Zeitgenosse, als gäbe es zwischen dem zweiten und dem 20. Jahrhundert kein ernstes Verstehenshindernis, birgt freilich Gefahren in sich: sie ist ständig durch Anachronismus und Projektion bedroht“. G. MAY, „Marcion ohne Harnack“, in: DERS. – K. GRESCHAT (Hgg.), Marcion und seine kirchengeschichtliche Wirkung = Marcion and his impact on church history. Vorträge der Internationalen Fachkonferenz zu Marcion, gehalten vom 15.-18. August 2001 in Mainz (= TU 150), 2002, 1-7, 6. 102 C. DOHMEN, „Hermeneutik des Alten Testaments“, 154. 103 Vgl. K-H. MENKE, Spielarten des Marcionismus, 18: „Im Unterschied zu Marcion spricht Harnack nicht von zwei Göttern, einerseits dem der Schöpfung bzw. des Gesetzes und andererseits dem des Evangeliums. Wenn man aber bedenkt, […] dass Marcion seinen Dualismus eher existenziell als metaphysisch verstanden wissen wollte, ist die Konvergenz zwischen Harnack und Marcion größer als sie vordergründig scheint. Ich [K.-H. Menke; Anm. d. Verf.] sehe diese Konvergenz vor allem in Harnacks dualistischer Verhältnisbestimmung von innerer Herrschaft Gottes (Evangelium) und äußerer Herrschaft (Gesetz)“ (Hervorhebung im Original).

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Dogmenhistoriker immer wieder hervorhebt und unterstreicht.104 In diese Diskontinuität gehört ebenso hinein, dass der Mittler Jesus in der Interpretation A. v. Harnacks doketistisch in der Welt erschienen sei. Seine Menschheit hat für die Erlösung und für die Annahme des Evangeliums keinerlei Bedeutung, weil sich der Sohn des fremden und erlösenden Gottes „sich von seinem Vater nur durch den Namen“ unterscheidet.105 1.3.2.

Die geschichtliche Entwicklung der Religion

Der Theologe A. v. Harnack versteht sich als Historiker. Er ist der Überzeugung, dass die ganze Wirklichkeit nur geschichtlich begriffen werden kann. Als Historiker sieht A. v. Harnack Religion als eine Entwicklung, wobei Entwicklung immer als eine Weiter- und Aufwärts-Entwicklung aufgefasst wird. Infolge des deutschen Historismus des 19. Jahrhunderts wird Geschichte in Stufen eingeteilt, die jedoch in sich abgeschlossen sind und die vorausgehende geschichtliche Stufe immer übertreffen. Diese Sicht der Religionsgeschichte kennt das qualitative Überschreiten des Vorangegangenen durch das Nachfolgende, jedoch in einer teleologischen Ausrichtung aller religionsgeschichtlichen Erscheinungen auf das Christentum hin, denn für A. v. Harnack kann die christliche Religion als die Überbietung aller Religionsformen gesehen werden, zu der alle religionsgeschichtlichen Entwicklungen hinstreben. Das Neue Testament entwickelt sich aus dem Alten und überschreitet somit das Alte Testament.106 Da es sich hierbei um ein qualitatives Überschreiten handelt, kann das Vorangehende nicht mehr Norm, also wesentliche Begründung für das Folgende sein und auf dieses einwirken. A. v. Harnack kontrastiert das Judentum vom Christentum in markanter Weise, da in Letzterer die Botschaft von Gott und vom Guten, die sich in der wahren Gottes- und Nächstenliebe konkretisiert, erreicht ist. Zwar ist das Christentum auch eingebettet in ein progressives Voranschreiten der Religion, aber laut A. v. Harnack „besitzt es einen unveränderlichen Kern, das Evangelium, der in geschichtlich sich wandelnden Formen tradiert wird“.107 Die Botschaft Jesu vom Reich Gottes ist dieser Kern, der das Wesen des Christentums 104

Vgl. A. V. HARNACK, Marcion, 118-120. Ebd. 123 (Hervorhebung im Original). 106 A. V. HARNACK, Marcion, 223: „Zu diesem [christlichen; Anm. d. Verf.] Kanon darf das AT nicht gestellt werden; denn was christlich ist, kann man aus ihm nicht ersehen. […] [D]enn Jesus selbst hat in seinem feierlichsten Wort seinen Jüngern gesagt, daß vorab alle Gotteserkenntnis durch ihn gehe, und der wissenschaftliche Gesichtspunkt, die Urkunden der Vorgeschichte des Christentums mit seinen eigenen auf einer Fläche zu verbinden, ist kein religiöser, sondern ein profaner“. 107 J. JANTSCH, Die Entstehung des Christentums, 33. 105

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ausmacht. A. v. Harnack fordert aber auch hierbei, dass der Kern der Botschaft Jesu erst noch von den Schalen einer jüdischen Prägung befreit werden müsse, um in der teleologischen Reinform erscheinen zu können.108 Wenn man aber an diesen Kern der Predigt Jesu gelangt, dann ist das Wesen des Christentums und damit das Wesen aller Religion gefunden. Diesen Schritt hat Paulus vollzogen, indem er die Botschaft Jesu „in die universale Religion verwandelt“ hat.109 Das Christentum ist daher selbst nicht mehr überbietbar, denn es ist nun die eine Idee des Religiösen in ihm, die zu sich selbst gekommen ist. Die Endstufe dieser Entwicklung sieht A. v. Harnack in der Reformation gegeben, die ihrerseits nochmals den Katholizismus übertrifft, indem der Reformator M. Luther die Religion zu sich selbst, zum Kern und Wesen, zurückgeführt hat, wobei A. v. Harnack hier die Eigenschaften der Aufklärung auf die Christentumsgeschichte übertragen hat, nämlich das Gewiss-werden-seiner-Selbst.110 Der Übergang vom Judentum in das Christentum kann als eine Reinigung verstanden werden, die alles abwirft und geschichtlich hinter sich lässt, was der universalen und neuen Botschaft Jesu widerspricht. Die Geschichte des Christentums kann im Sinne von A. v. Harnack als eine Geschichte der Vergeistigung gelesen werden,111 die sich mehr und 108

Vgl. A. V. HARNACK, Das Wesen des Christentums. Sechzehn Vorlesungen vor Studierenden aller Fakultäten im Wintersemester 1899/1900 an der Universität Berlin gehalten von Adolf v. Harnack, C.-D. O STHÖVENER (Hg.), dritte, erneut. durchges. Aufl., Tübingen 2012, 39-40; [in Folge: A. V. HARNACK, Das Wesen des Christentums]. Dazu auch J. JANTSCH, Entstehung des Christentums, 50 und 87-88. Zum Verständnis der Gottesliebe als Inhalt des Evangeliums siehe auch ebd. 97-99. 109 A. V. HARNACK, Das Wesen des Christentums, 105. A. v. Harnack versteht Universalität in Bezug auf das Christentum nicht nur so, dass das Evangelium – also die Beziehung des Menschen/der Seele zu Gott – nicht mehr an ein bestimmtes Volk gebunden ist, sondern dass es sich auf das ganze Leben bezieht und alle positiven Eigenschaften aller Religionen in sich vereinigt. Darum ist das Christentum für A. v. Harnack die absolute Religion. Vgl. hierzu ebd. 40. Auch D ERS., „Die religionsgeschichtliche Bedeutung der Reformation Luthers“, in: K. NOWAK (Hg.), Adolf von Harnack als Zeitgenosse. Teil 1: Der Theologe und Historiker, Berlin – New York 1996, 329-343, 341. Vgl. dazu auch K. H. NEUFELD, Adolf von Harnack. Theologie als Suche nach der Kirche: „tertium genus ecclesiae“ (= KKTS 41), Paderborn 1977, 161162; [in Folge: K. H. NEUFELD, Adolf von Harnack]. J. JANTSCH, Entstehung des Christentums, 83-85. 110 Vgl. A. V. HARNACK, Das Wesen des Christentums, 151-169. Für A. v. Harnack ist die „Reformation des 16. Jahrhunderts die größte und segensreichste Bewegung gewesen“, und ist als Reformation auch Revolution. Dazu auch DERS., Marcion, 221222. 111 Vgl. T. RENDTORFF, „‚Wesen des Christentums‘ und Welt der Religionen. Beobachtungen zu Harnacks Stellung im Diskurs über Theologie und Religionswissenschaft“, in: K. NOWAK (Hg.), Adolf von Harnack. Christentum, Wissenschaft und Gesellschaft. Wissenschaftliches Symposion aus Anlass des 150. Geburtstages (= VMPIG 204), Göttingen 2003, 259-274, 267; [in Folge: T. RENDTORFF,

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mehr von den Bindungen an das Partikulare und exklusiv Begrenzende trennt. Paulus wollte noch an den hebräischen Schriften festhalten, doch bereits in der Predigt der reinen Gottes- und Nächstenliebe tritt das Christentum in Konflikt zum Gesetz des Judentums, das es zu überwinden galt, weshalb das Alte Testament als Vorgeschichte des Evangeliums Jesu bezeichnet werden muss. Das Christentum setzt sich vom Judentum ab, da dieses nicht die Gottesidee in die Universalität der Gottesliebe zu überführen vermag. Die Gemeinden und Synagogen des Judentums sind zwar die formale Voraussetzung für die Botschaft des Christentums und waren für das Urchristentum stützende Kraft in der Verbreitung des Evangeliums, wurden aber durch eine neue geschichtliche Stufe im Christentum überschritten. Das Christentum konnte sich daher im 2. Jahrhundert getrost vom Judentum lossagen – besonders mit dem Ziel, den religionshistorischen Schritt hin zum eigentlich Christlichen zu tun. Dieser Vorgang kann auch als der Überschritt des Partikularen der Vorgeschichte in das Universale des Christlichen beschrieben werden.112 Der Berliner Dogmenhistoriker hat mit seinem Lehrbuch der Dogmengeschichte ein Standartwerk hinterlassen, in dem er minutiös die Entwicklung des kirchlichen Dogmas von seinen Ursprüngen an nachverfolgt und darstellt. V. Harnack weist gleich zu Beginn darauf hin, dass das junge Christentum im Judentum seine Voraussetzung sieht und in Jesus Christus die Erfüllung der Verheißung angenommen hat. Jedoch hat das Christentum die Partikularität und die politischen Verflechtungen des Jüdischen überwunden, indem es sich mit dem griechischen Geist assimiliert hat und gerade damit im hellenistischen Raum große Erfolge in der Verkündigung des Glaubens erzielen konnte. Die Dogmengeschichte ist daher nicht auf eine biblische

„Wesen und Welt“]. Siehe dazu A. V. HARNACK, Das Wesen des Christentums, 151-158. Vgl. zum Stichwort Vergeistigung auch K.-H. MENKE, Spielarten des Marcionismus, 19: „Harnack will sich aller räumlichen und zeitlichen Vorstellungen von der Gottesherrschaft entledigen; er bezeichnet sie als Relikte des Judentums, die es zu beseitigen gilt. Für ihn ist entscheidend, dass die Gottesherrschaft im Inneren des je Einzelnen ankommt, und zwar nicht irgendwann, sondern jetzt“. 112 Vgl. ebd. 219-221. Vgl. N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 59: „Und genau dies ist die Prämisse der These, dass das AT zwar zur Vorgeschichte des Christentums unverzichtbar gehört, dieses Ergebnis (das Christentum) aber dazu bestimmt ist, sich im Laufe einer Entwicklung seiner selbst bewusst zu werden und sich von diesen partikularen Voraussetzungen abzulösen: Dieser Zeitpunkt der Verselbstständigung des universalen religiösen Gedankens von seiner partikular gebundenen Vorgeschichte sei – dies ist die Diagnose A. v. Harnacks, eigentlich schon in der Reformation, sicher aber in seiner Gegenwart gekommen“. Siehe dazu auch W. KINZIG, Harnack, Marcion und das Judentum, 164-171. W. Kinzig weist besonders auf die strukturellen Vorgaben des Judentums hin, deren sich das junge Christentum in ihrer Missionstätigkeit bedienen konnte, sich aber dennoch später davon absetzte.

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Theologie begründet, sondern steht primär unter dem Vorzeichen des Kerygmas: „Nicht die ,biblische Theologie‘ […] ist die Voraussetzung der Dogmengeschichte […], sondern die Voraussetzungen sind in gewissen Grundgedanken, besser Motiven des Evangeliums (in dem Kerygma von Jesus Christus und in der evangelischen Ethik und Zukunftspredigt), in dem jeder Deutung fähigen, in Hinblick auf Christus und die evangelische Geschichte zu interpretierenden Alten Testament und in dem griechischen Geiste gegeben“.113

Das Evangelium ist aber seinem Inhalt und seiner Form nach eine „apokalyptisch-eschatologische Botschaft“114, womit sich die christliche Botschaft auf das Individuelle und Geistige als das Religiöse bezieht, das den Gläubigen auf die Erlösung durch Jesus Christus verweist. Darum sieht A. v. Harnack das Christentum zwar im Judentum begründet und anerkennt dessen Einwirkungen, aber er sieht es zugleich immer auch als dessen Schlussentwicklung, das den religiösen Kern zur Weltreligion machte, wobei sich aber das Christliche vom Jüdischen absetzte: „Und dennoch wäre es der grösste Irrthum, in der christlichen Kirche nur den so zu sagen von selbst entstandenen Abschluss der jüdisch-synagogalen Entwicklung und Propaganda zu sehen. Diese ist vielmehr verkümmert“.115 Das Christentum zeichnet sich für den Berliner Gelehrten gerade dadurch 113

A. V. HARNACK, Lehrbuch I, 58 (Hervorhebung im Original). Weiter schreibt v. Harnack, dass das Alte Testament immer „auf Christus und seine universale Gemeinde bezogen, die entscheidende Urkunde geblieben [ist], und es hat ziemlich lange gedauert, bis christliche Schriften dieselbe Autorität erhielten, und demgemäss einzelne Lehren und Sprüche aus apostolischen Schriften auf die Bildung kirchlicher Lehren Einfluss gewannen“ (ebd. 60). Interessant ist dabei jedoch, dass es in Bezug auf das Alte Testament nicht um die Schriften an sich geht, sondern um deren Auslegung, die in der Verkündigung der jungen Kirche präsent war und dadurch auch die theologische Spekulation in die Kirche Einzug fand (vgl. ebd. 64, besonders aber 111-121). Zur Einordnung der harnackschen Geschichtstheologie und ihren Voraussetzungen siehe K. H. NEUFELD, Adolf von Harnack, 75-80. Siehe auch K. NOWAK, „Bürgerliche Bildungsreligion? Zur Stellung Adolf von Harnacks in der protestantischen Frömmigkeitsgeschichte der Moderne“, ZKG 99 (1988) 326-353, 328-333; [in Folge: K. NOWAK, „Bürgerliche Bildungsreligion“]. 114 A. V. HARNACK, Lehrbuch I, 67. V. Harnack unterstreicht in seinem Lehrbuch zwar den eschatologischen Aspekt des Evangeliums, führt diesen Gedanken jedoch in Das Wesen des Christentums nicht weiter aus. 115 Ebd. 132. Vgl. zu der Sicht v. Harnacks auf das Judentum auch S. LUKAS-KLEIN, Das ist (christliche) Religion. Zur Konstruktion von Judentum, Katholizismus und Protestantismus in Adolf von Harnacks Vorlesungen über „Das Wesen des Christentums“, (= Forum Christen und Juden 13), Berlin 2014, 26-32, die dabei auch die positiven Bezugspunkte besonders der Wesensschrift v. Harnacks herausarbeitet, doch zudem klarstellt: „Wie ähnlich sich der christliche und der jüdische Glauben an manchen Stellen auch sein mögen – so wird das Christentum in den Vorlesungen doch immer ungleich besser dargestellt“ (30); [in Folge: S. LUKAS-KLEIN, Das ist (christliche) Religion].

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aus, dass es das Partikulare und Politische überwunden hat und damit eine neue Form der Religiosität bildete. Somit kommt er zu dem Schluss: „So ist Israel eigentlich zu allen Zeiten die Afterkirche gewesen; in Wahrheit steht das ,ältere‘ Volk dem ,jüngeren‘ (dem Volk der Christen) auch nicht zeitlich voran; denn die Kirche ist zwar erst in der letzten Zeit erschienen; sie ist aber von Anfang an von Gott vorhergesehen und geschaffen“.116 Hinzu kommt ein Geschichtsverständnis, das von einem Fortschrittsoptimismus geprägt ist, bei dem das geschichtlich Nachfolgende das Vorhergehende ablöst und übersteigt. So zeichnet v. Harnack die Entwicklung vom Judentum über den Katholizismus hin zum Protestantismus nach, worin sich die religiöse Entwicklung des Menschen abbildet, die wie ein aufwärtssteigender Prozess zu verstehen ist und sich im Christentum, darin aber erst im Protestantismus, vollendet. Die Reformation ist für ihn der vorläufige Höhepunkt der Religiosität, weil nur in ihr die menschliche religiöse Haltung dem Kern am nächsten kommt und von keiner Schale wie einem kirchlichen Lehrgebäude oder einem rechtlichen Korsett überlagert ist.117 So stellt er zusammenfassend die These auf, indem er die Bedeutung der Reformation für die allgemeine Religionsgeschichte bedenkt: „Die Reformation bedeutet einen epochemachenden Umschwung in der Religionsgeschichte überhaupt; denn Luther hat das, was man bisher für das Wesen der Religion hielt, als vorübergehende oder sekundäre oder gar als bedenkliche Erscheinung betrachtet, und er hat das, was bisher als abgeleitete Wirkung der Religion galt, als ihr Wesen beurteilt, oder doch den Anstoß zu solchen Beurteilungen gegeben“.118 116

A. V. HARNACK, Lehrbuch I, 198 (Hervorhebung im Original). Zur Absetzung des Christentums vom Judentum siehe auch S. LUKAS-KLEIN, Das ist (christliche) Religion, 70-73 und 133-149, wobei sie in letzterem Abschnitt besonders auf die systematischen Voraussetzungen einer antisemitischen Einstellung v. Harnacks eingeht. Zum problematischen Verhältnis von A. v. Harnack zu H. S. Chamberlain siehe mit einer Einführung in die Korrespondenz W. KINZIG, Harnack, Marcion und das Judentum, 207297 und DERS., „Harnack, Houston Stewart Chamberlain, and the First World War“, ZNThG 22 (2015) 190-230; [in Folge: W. KINZIG, „Harnack, Houston Stewart Chamberlain“]. Dabei arbeitet der W. Kinzig heraus, dass v. Harnack den Ansichten H. S. Chamberlains in vielen Punkten nahe stand, dass er jedoch dessen Antisemitismus klar ablehnte. 117 Vgl. S. LUKAS-KLEIN, Das ist (christliche) Religion, 80: „Moderner Protestantismus = konservativer Protestantismus minus kirchliche Lehrfixierung = Evangelium. Kurz: Moderner Protestantismus = Evangelium“. 118 A. V. HARNACK, „Bedeutung der Reformation“, 277 (Hervorhebung im Original). Vgl. dazu auch DERS., Das Wesen des Christentums, 151-158, wo er den Protestantismus nicht nur als Reformation (in Bezug zur Heilslehre), sondern auch als Revolution (in Bezug zur Kirche als Institution) charakterisiert, auf die die ganze Christentumsgeschichte hinzielt. Siehe dazu auch die Ausführungen S. LUKAS-KLEIN, Das ist (christliche) Religion, 5462, besonders aber 116-131.

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Die historische Bewertung der Reformation zeigt auf, dass die Reformation die eigentliche Religion herausgebildet hat, indem sie den Religionsbegriff von allem Älteren absetzte und ihn einzig auf die Rechtfertigungsgnade gründete.119 Es geht in der historischen Bewertung der Geschichte nicht darum, einen geschichtsgenetischen Verlauf nachzuverfolgen, sondern ein religiöses Phänomen systematisch in den Rahmen der gesamten Theologie einzubinden, um darin dann eine „Gesamtdeutung der Geschichte [mit] ihre[m] auf kulturellen Fortschritt angelegten Richtungssinn“ leisten zu können.120 1.3.3.

Die Normativität aus der Universalität des Christentums

Um die Haltung A. v. Harnacks zum Alten Testament richtig verstehen zu können, ist es wichtig zu beachten, dass er die Kanonizität von biblischen Schriften mit ihrer Normativität verbindet. Kanonisch ist eine Schrift anzusehen, weil sie normativ für das Kirchenverständnis ist. Auch wenn eine Schrift nicht in diesem Sinne normativ ist, kann sie dennoch eine erbauliche und nützliche Schrift sein.121 Für das 119

Vgl. A. V. HARNACK, „Über das Verhältnis der Kirchengeschichte zur Universalgeschichte“, in: DERS., Aus Wissenschaft und Leben, II, Gießen 1911, 41-62, 43-46 und DERS., „Bedeutung der Reformation“, 286-290 und 300. 120 Vgl. dazu A. V. SCHELIHA, „Symmetrie und Asymmetrie der Wissenschaftskulturen. Theologie – Religionswissenschaft – Kulturwissenschaft um 1900. Adolf von Harnacks Position im wissenschaftlichen Diskurs“, in: K. NOWAK – O. G. OEXLE – T. RENDTORFF – K.-V. SELGE (Hgg.), Adolf von Harnack. Christentum, Wissenschaft und Gesellschaft. Wissenschaftliches Symposion aus Anlass des 150. Geburtstages (= VMPIG 204), Göttingen 2003, 163-187, 169-171 und 179-184 (Zitat 183; Hervorhebung im Original). Dabei zeigt der Autor auf, dass A. v. Harnack die Frage nach der historisch-arbeitenden Theologie an der Frage entwickelt, inwieweit es eine eigene religionswissenschaftliche Fakultät geben kann, oder ob eine theologische Fakultät diese Fragen mitbehandeln müsse. Vgl. dazu auch T. RENDTORFF, „Wesen und Welt“, 269: „Harnacks Verhältnis zur Religionsgeschichte ist an demselben Maßstab orientiert wie sein Verständnis der Theologie: Sie wird daran gemessen, ob und wie sie zur Förderung der religiösen Kultur der Gegenwart beizutragen vermag“. Siehe auch J. JANTSCH, Entstehung des Christentums, 34-36. 121 Vgl. N. S LENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 56: „‚Kanonizität‘ im Sinne Harnacks bedeutet also, dass ein Text oder ein Textkorpus die Basis einer Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Christentums darstellt; seine Wertschätzung des NT ist dabei durchaus vorbehaltlich: Es lässt sich eben faktisch eine bessere Urkunde nicht schaffen, die Kirche ist mit dieser Frage immer wieder auf das Korpus der neutestamentlichen Schrift verwiesen“. Dennoch muss auf eine Konsequenz seiner Unterscheidung hingewiesen werden: „Es unterliegt keinem Zweifel, daß Harnack einen historischen Antijudaismus vertreten hat, insofern er einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Judentum des Zweiten Tempels und dem frühen Christentum sah, der für ihn in dem theologischen Gegensatz zwischen Altem Testament und Evangelium grundgelegt war“. W. KINZIG, Harnack, Marcion und das Judentum. Nebst einer kommentierten Edition des Briefwechsels Adolf von Harnacks mit Houston Stewart Chamberlain (= AKThG 13, Leipzig 2004, 155; [in Folge: W. KINZIG, Harnack, Marcion und das

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Christentum sind aber einzig Jesus Christus und die Schriften, die von ihm Zeugnis geben, normativ für das Verständnis des Christlichen und der Kirche. A. v. Harnack kommt damit zu dem Schluss, dass alttestamentliche Schriften nicht kanonisch sein können, weil sie nicht normativ sind, und dass sie damit lediglich in einem historischen Bezug zum Christentum stehen. Auch wenn die alttestamentlichen Schriften nicht normativ sind, so kann er sie – trotz ihrer Entgegensetzung als Gesetz zum Evangelium und anders als Marcion – als Offenbarung Gottes verstehen, wenngleich eine dem Christentum vorgängige Offenbarung. Demnach sind für den Berliner Dogmenhistoriker die Texte im Alten Testament bedeutsam, in denen durch die alttestamentliche Partikularität die Universalität des christlichen Bewusstseins durchschimmert. Diesen Anspruch findet er aber nur in den Psalmen und den Propheten ansatzweise gegeben. Alles andere kann der protestantische Dogmenhistoriker nur als „Sophismen“ abtun.122 Das Sophistische besteht darin, dass alles mit dem Gedanken des Gesetzes durchzogen ist. Psalmen und Propheten können daher nur als erbauliche Literatur angesehen werden, da selbst in diesen Worten des Alten Testaments Schatten des Gesetzes zu finden sind, was das Alte Testament qualitativ unter dem Evangelium stehen lässt. A. v. Harnack lehnt es folglich ab, dass die Predigt Jesu nur unter dem Vorzeichen des Alten Testaments verstanden werden kann. Das Evangelium Christi ist von einer neuartigen Universalität, die das Gesetz des Judentums nicht nur übersteigt, sondern auch ohne Bedeutung sein lässt,123 da diese Bindung des Gesetzes das Volk Israel in der Partikularität verhaftet sein lässt. Adolf v. Harnack versteht das Alte Testament somit von der Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments her. Von der Universalität des Christlichen her interpretiert er die Partikularität des Alten Judentum]. In ebd. 204-205 relativiert W. Kinzig jedoch seine Aussage über den „Antijudaismus“ A. v. Harnacks, da seine Einstellung zum Judentum durch die MarcionStudien geprägt war und dem der Vorwurf des „Antijudaismus“ im heutigen Verständnis nicht gerecht wird. Auch R. BUCHHOLZ, „Marginalien“, 27 weist darauf hin, dass sich keine Verbindung von seiner Entkanonisierung des Alten Testaments zu einem Antisemitismus ergibt. 122 Vgl. A. V. HARNACK, Marcion, 217. 123 Vgl. W. KINZIG, Harnack, Marcion und das Judentum, 160-162. W. Kinzig weist aber auch nach, dass A. v. Harnack zwischen dem palästinischen und hellenistischen Judentum unterscheidet. Das hellenistische sei zwar dem Universalismus des Christentums näher gestanden, ist aber vom Exklusivismus des palästinischen Judentums zurückgedrängt worden. Weiterhin zeigt W. Kinzig in seiner Studie, dass A. v. Harnack nie einen persönlichen oder freundschaftlichen Zugang zum Judentum oder Juden in seiner Umgebung gefunden hat. Einem „völkischen Antisemitismus“ im Kaiserreich und den Jahren der Weimarer Republik stand er aber äußerst kritisch gegenüber. Siehe dazu ebd. 183-196.

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Testaments. In seiner Paulus-Interpretation geht er jedoch nicht so weit, dass die Universalität des Christentums auch Israel umfasst. Er erkennt dabei die Verbindungen des Christentums zum Alten Testaments, lehnt aber eine eschatologische Rettung „ganz Israels“, wie in Röm 11,26 beschrieben, ab, weil das Christentum eine vom Judentum völlig unabhängige und losgelöste Religion ist. A. v. Harnacks Interpretation folgt damit einer „heilsgeschichtlichen Relativierung“.124 Die Religionsgeschichte wird bei ihm ausgehend vom Selbstverständnis des Christentums interpretiert, denn „die Universalität des Religiösen ist aber erst in Jesus von Nazareth erfasst und wird im Laufe der Christentumsgeschichte ausgearbeitet“.125 Exkurs: L. Baeck und seine Kritik an A. v. Harnack: Konstruktion als Projektion Mit seiner Vorlesungsreihe von 1899/1900 Das Wesen des Christentums hat A. v. Harnack Theologiegeschichte geschrieben und viele Generationen von Theologen und theologisch Interessierten geprägt. Der Berliner Gelehrte versucht hier als objektiv arbeitender Historiker das Wesen des Christentums als das Ursprüngliche der christlichen Religion herauszuarbeiten, indem er das Christentum gereinigt von allen Hellenisierungsprozessen und durch die Bibelkritik geläutert darstellt und so den Kern des Evangeliums von allen Schalen, zu denen auch jede Judaisierung gehört, befreit. Dabei fungiert das Judentum stets als Negativfolie, um Jesus in seiner Urgestalt in Wort und Tat zu ergründen, wie er sich darin vom Judentum absetzte.126 Leo Baeck setzt sich mit der Vorlesungsreihe kritisch auseinander und wirft dem Dogmenhistoriker vor, eine Apologie des Kultur124

Vgl. ebd. 198-201, hier 200. N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 60. 126 Vgl. zu den antijudaistischen Stereotypen in Das Wesen des Christentums M. STÖHR, „Leo Baeck und der Protestantismus“, in: K. KRIENER – M. OBITZ – J. M. SCHMIDT (Hgg.), „Die Gemeinde als Ort von Theologie“, FS für Jürgen SEIM (= SVRKG 158), Bonn 2002, 139-155, 139-145; W. HOMOLKA, Jüdische Identität in der modernen Welt. Leo Baeck und der deutsche Protestantismus, übers. v. S. DENZEL und S. NAUMANN, Gütersloh 1994, 51-52; [in Folge: W. HOMOLKA, Jüdische Identität in der modernen Welt]. Ein Grundproblem der harnackschen Darstellung des Judentums dürfte wohl darin bestehen, dass er sich in seinen Überlegungen zu stark an die Bibelforschungen J. Wellhausens bindet und diese übernimmt. – Dagegen macht W. Homolka auch darauf aufmerksam, dass A. v. Harnack mit seinen Vorlesungen an „alle Hörer der Fakultäten“ es vielen Juden erleichterte, zum Christentum zu konvertieren, da sich das Judentum an der Jahrhundertwende in einer „akademischen Engführung“ wiederfand und viele Juden in der protestantischen Theologie geistige Anknüpfungspunkte fanden. Zugleich kam es aber auch zur Gründung jüdisch-wissenschaftlicher Gesellschaften, die die jüdische Theologie aus der Engführung bloßer Rabbinerausbildung herausführen wollten. Vgl. DERS., Leo Baeck. Jüdisches Denken. Perspektiven für heute (= Herder Spektrum 5728), Freiburg – Basel – Wien 2006, 83-84; [in Folge: W. HOMOLKA, Leo Baeck]. 125

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protestantismus entworfen zu haben, da er mit Werturteilen über das Judentum das Wesen des Christentums profilieren möchte und damit eine Konstruktion der Christentumsgeschichte erarbeite. Dabei interpretiere er aber das Ursprüngliche von der Gegenwart her, indem er zeitgenössische Urteile und Erkenntnisse in die Zeit Jesu rückprojiziere.127 Dabei erkennt der Oppelner Rabbiner, dass v. Harnack im Christentum drei Größen des Glaubens ausmacht: das Reich Gottes, den Wert der Menschenseele und die Gerechtigkeit aus Liebe, wobei alles andere vom Historiker als nicht wesentlich abgetan werde.128 Dies gipfelt in den Satz der Vorlesungen, dass der Inhalt des Evangeliums nicht Jesus, sondern einzig Gott sei, und dass Jesus die reinste Erscheinung dieses Gottes und der Weg zu ihm sei.129 Dem stellt L. Baeck entgegen, dass aus dem Glauben an Gott der Glaube an den Menschen folgt: der Glaube an den Menschen als Abbild Gottes, der Glaube an den Menschen als der Nächste und der Glaube an die Menschheit.130 Es ist der Glaube an Gott, der den Glauben und die Sorge an den Nächsten einschließt. L. Baeck sieht darin eine grobe Verkürzung der Botschaft des Evangeliums, die einem Historiker, aber auch einem der Vernunft verpflichteten Theologen, niemals gerecht werden kann, da in der harnackschen Geschichtskonstruktion „der Wunsch der Vater des Glaubens sei“, wobei das als ursprünglich

127

Vgl. L. BAECK, „Harnack’s Vorlesung über das Wesen des Christenthums“, MGWJ 45 (1901) 97-120, 97-99: „Leider drängt sich bei der Lectüre […] das Bedauern auf, einer Atopie, einem Widerspruch zwischen Benennung und Inhalt gegenüberzustehen. Der absichtvolle Plan [der Darstellung des Wesens des Christentums; Anm. d. Verf.] und die methodische Ausführung stehen in scharfem Gegensatz zueinander: ein Werk von rein apologetischem Gepräge tritt mit dem Anspruch, reine Geschichte zu bieten, vor uns hin. […] Wenn der Historiker vom Standpunkt der Gegenwart aus etwas als unwesentlich ansieht, so kann es doch in der Zeit, die er beschreibt, ein sehr wirksames und bedeutungsvolles Element gewesen sein“; [in Folge: L. BAECK, „Harnack’s Vorlesungen“]. Der Vorwurf, mehr Apologet als Historiker zu sein, wird dann auch im Urteil weitergeführt, dass v. Harnack stärker als Homiletiker denn als Exeget argumentiert. Vgl. ebd. 104-105. Vgl. dazu auch K-H. MINZ, „Erschwindelte Identität. Leo Baecks Kritik am protestantischen Antijudaismus“, EvK 30 (1997) 36-37, 36. Zu weiteren jüdischen Reaktionen auf A. v. Harnacks Das Wesen des Christentums siehe W. HOMOLKA, Jüdische Identität in der modernen Welt, 55-61 und DERS., Leo Baeck, 88. 128 Vgl. A. V. HARNACK, Das Wesen des Christentums, 38-51; L. BAECK, „Harnack’s Vorlesungen“, 98. 129 Vgl. A. V. HARNACK, Das Wesen des Christentums, 85. 130 Vgl. L. BAECK, Das Wesen des Judentums, A. H. FRIEDLANDER – B. KLAPPERT (Hgg.; = Leo Baeck Werke 1), Gütersloh 1998, 115, detailliert ausgearbeitet dann in 178-276; [in Folge: L. BAECK, Das Wesen des Judentums]. Nach seiner ersten Entgegnung auf A. v. Harnack schrieb der Oppelner Rabbiner 1905 Das Wesen des Judentums, das er 1926 nochmals überarbeitete und stark erweiterte. Das Werk gehört bis heute zu den Standartwerken jüdischer Wissenschaft.

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erscheine, was v. Harnack als ursprünglich ansieht.131 Die Geschichtskonstruktion verkommt damit zur Geschichtsprojektion. L. Baeck bedauert, dass in dieser apologetischen Geschichtsbetrachtung, die mehr die Anschauung der Gegenwart rechtfertigen möchte, der Reichtum des Evangeliums verwischt wird, obwohl im Evangelium das Wesen des Christentums begründet liege. Für den Juden L. Baeck ist klar, dass sich das Wesen des Christentums nicht wie bei v. Harnack durch einen geschichtsevolutiven Bruch erklären lässt, da das Evangelium keine aus der Geschichte herausgehobene Größe ist, sondern sich aus der lebendigen Geschichte des Volkes Israels herauskristallisiert, in der Jesus lebte. Anhand der Entwicklung des Judentums versucht er darzustellen, dass sich die Entwicklung einer Religion nicht durch Trennung erklären lässt, sondern durch Nuancierungen in der Geschichte.132 „[E]ine recht schauerliche Vorstellung“ attestiert der Rabbiner dem Berliner Dogmenhistoriker bei allen Fragen zum Judentum zur Zeit Jesu, die nichts als „freie phantastische Ausmalung um der Herstellung eines dunklen Hintergrundes willen“ ist.133 Der Vorwurf zielt darauf, dass v. Harnack nur ein strenges Pharisäerbild des Judentums konstruiere, das die Bedeutung der Propheten oder der Psalmen überzeichne. Das Problem bei der harnackschen Evangelienbetrachtung ist, dass er religionsgeschichtlich die sittlichen Ansichten Jesu mit den gesetzlichen Vorstellungen der Pharisäer auf eine Ebene stellt, und damit zwei zu unterscheidende Wirklichkeiten miteinander vermengt, um in deren Folge Jesus von allen institutionellen Verbindungen freizusprechen. Daher kann der Rabbiner nur urteilen: „Wer wie Herr H. urteilt, der weiss von einem grossen Gebiete des damaligen jüdischen Geisteslebens nichts oder er zwingt sich, nichts davon zu sehen. […] [W]as in keiner anderen Wissenschaft einer wagen würde, das scheint, an der Geschichte des Judenthums begangen, straflos und

131

DERS., „Harnack’s Vorlesungen“, 99. Dabei zitiert L. Baeck T. Ziegler, der auf A. Ritschl reagiert. L. Baeck fragt pointiert: „Aber wenn Herr H. behaupten will, dass diese von ihm übergeordnete Anschauung [Jesu und des Reiches Gottes; Anm. d. Verf.] ausschliesslich Jesu geistiges Eigenthum gewesen sei, ist es ihm da nicht passiert, dass er – sit venia verbo – sich selbst mit Jesus verwechselt hat“? 132 Vgl. DERS., Das Wesen des Judentums, 37: „Das Wesen eines geschichtlichen Ganzen feststellen, bedeutet, seine Geschichte als Geschichte eines Problems erfassen, in allen seinen Zeitaltern dieses Problem verfolgen und so eine Einheit in der geschichtlichen Entwicklung erkennen. […] Damit gewinnt der Begriff der Entwicklung auch seinen eigenen Sinn. Entwicklung bedeutet nun nicht mehr die bloße Linie des Fortgangs, eines Aufstieges oder Abstieges, das post hoc, ergo propter hoc, sondern sie bedeutet nun die immer neue Akzentuierung und Nuancierung, die immer neue Verpersönlichung dieses Grundproblems“ (Hervorhebung im Original). 133 Vgl. DERS., „Harnack’s Vorlesungen“, 105.

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erlaubt zu sein“.134 In seinem Buch Das Wesen des Judentums argumentiert der Rabbiner dafür, dass das Judentum keine Gesetzesreligion sei, sondern eine Religion des Sittlichen, das sich in der Tat der Liebe ausdrückt, wenn er schreibt: „Das Judentum ist nicht nur ethisch, sondern die Ethik macht sein Prinzip, sein Wesen aus“.135 In diesem ethischen Prinzip sieht der Rabbiner aber die Grundlage gegeben, dass das Judentum einen universalen Anspruch in sich trägt, der sich in der Kontinuität der geschichtlichen Entwicklung zeigt, so dass alles, was A. v. Harnack als das eigentümlich Christliche ausmacht, auf den jüdischen Monotheismus zurückgeführt werden müsse, da darin Leben und Religion miteinander verbunden sind. Christentum und Islam sind für L. Baeck auf das Judentum bezogen, da sie nur im und aus dem Judentum ihre universale Begründung als wirkliche Weltreligion erhalten.136 Damit setzt sich der Oppelner Rabbiner dezidiert von v. Harnack ab, der zwischen den Religionen aufgrund ihres scheinbar unterschiedlichen Wesens keine Kontinuität erkennen wollte, wohingegen L. Baeck hervorhebt, dass selbst die Veränderungen im Christentum einzig und allein aus der historischen Totalität des Judentums heraus zu verstehen sind, insofern jedes System der Entwicklung immer nur aus seiner Geschichte heraus begriffen werden kann.137 L. Baeck sieht als Grundproblem für das Wesen des Christentums, dass v. Harnack methodisch so argumentiert, dass das historische Jesusbild gezwungenermaßen das Jesusbild des liberalen Kulturprotestantismus werden musste. Der Rabbiner weist dem Historiker jedoch nach, dass alle positiven Bilder, die das Wesen des Evangeliums und damit des Christentums ausmachen sollen, ebenfalls in der 134

Ebd. 110-111. Im Gegensatz zu v. Harnack vertritt L. Baeck ein positives Pharisäerbild, das er auch aus dem Neuen Testament heraus erklärt. Vgl. seine Studie „Die Pharisäer“, in: DERS., Nach der Schoa – Warum sind Juden in der Welt? Schriften aus der Nachkriegszeit, A. H. FRIEDLANDER – B KLAPPERT (Hg.; = Leo Baeck Werke 5), Gütersloh 2002, 367-410; [in Folge: L. BAECK, Nach der Schoa]. 135 DERS., Das Wesen des Judentums, 87 (Hervorhebung im Original). Vgl. P. JANSEN, „Die Antwort blieb aus. Leo Backs ‚Wesen des Judentums‘ als Reaktion auf Adolf von Harnacks ,Wesen des Christentums‘“, Jud 57 (2001) 94-119, 109; [in Folge: P. JANSEN, „Die Antwort blieb aus“]. R. Jansen sieht darin die Nähe L. Baecks zur Philosophie Kants, die seine Sicht auf das Judentum mitprägte. Siehe auch W. HOMOLKA, Leo Back, 92. Vgl. zu Gemeinsamkeiten zwischen L. Baeck und A. v. Harnack in Bezug auf die ethischen Dimensionen der Religion ebd. 114-115. 136 Vgl. DERS., Jüdische Identität in der modernen Welt, 65-68 und S. SCHREINER, „Leo Baeck und das Neue Testament. Anmerkungen zur Methodologie seiner neutestamentlichen Studien“, in: EVANGELISCHE AKADEMIE BADEN – EVANGELISCHE AKADEMIE BERLIN-BRANDENBURG (Hgg.), Leo Baeck - zwischen Geheimnis und Gebot. Auf dem Weg zu einem progressiven Judentum der Moderne (= Herrenalber Forum 19), Karlsruhe 1997, 192-221, 197-198; [in Folge: S. SCHREINER, „Leo Baeck und das Neue Testament“]. 137 Vgl. L. BAECK Das Wesen des Judentums, 53.

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jüdischen Tradition der Schriften und des Talmuds enthalten sind, und somit nicht das Neue des Reiches Gottes im Gegensatz zum Judentum darstellen können. Das Neue der Verkündigung Jesu ist damit nicht durch Absetzung vom Judentum zu verstehen, sondern es ist die jüdische Art und Weise, die Jesus lebte, und die er in seiner jüdischen Lern- und Lehrumwelt erfahren und gelernt hat, die sein Evangelium erklären.138 Dabei ist die Gottesvorstellung L. Baecks nicht durch eine Entgegensetzung geprägt, sondern durch ein Paradox. Er stellt Gott als den Gott der Liebe dar, der als der Gerechte auch der Richter ist, indem er im Gegensatz zu A. v. Harnack versucht, die Gegensätze in Gott nicht durch Trennung, sondern in der Synthese zu verstehen.139 Erklärte A. v. Harnack das Judentum als starre Gesetzesreligion, die keine Dimension des Sozialen und der Liebe kennt, so hebt der Oppelner Rabbiner immer wieder die soziale Dimension der Liebe des Judentums heraus.140 Christlicher Glaube schließt somit die jüdische Identität in sich ein und kann nicht losgelöst von ihr bestehen. L. Baeck arbeitet in seinen Studien zum Christentum und zum Neuen Testament immer wieder heraus, dass sich beide Religionen nicht voneinander trennen lassen, sondern dass das Christentum trotz aller geschichtlichen Absetzungen auf das Judentum bezogen bleibt: „Es gibt eine Geschichte des Judentums“ – so der Rabbiner – „auch in der Kirche. Das Judentum hat sein bleibendes Leben drinnen und draußen. Es kann bekämpft werden, und es kann zurückgedrängt werden, aber es wird doch hier wie dort immer wieder zu neuem

138 So urteilt L. Baeck: „Die meisten Darsteller des Lebens Jesu unterlassen es, darauf hinzuweisen, dass Jesus in jedem seiner Züge durchaus ein echt jüdischer Charakter ist, dass ein Mann wie er nur auf dem Boden des Judenthums, nur dort und nirgend anders, erwachsen konnte. Jesus ist eine echt jüdische Persönlichkeit […]. Er war ein Jude unter Juden. […] Diesen Mutterboden der Persönlichkeit Jesu hat Harnack nicht in den Blick genommen“. DERS., „Harnack’s Vorlesungen“, 118 (Hervorhebung im Original). Die Kritik L. Baecks an A. v. Harnack nimmt fast schon prophetisch die Kritik K. Barths an der historisch-kritischen Methode und A. Schweizers an der Leben-Jesu-Forschung vorweg, indem er auf die fehlende Kritik der Kritik und eine unhistorische Rückprojektion hinweist. 139 Vgl. DERS., Das Wesen des Judentums, 170: „Die dritte große Paradoxie der Religion tritt hervor: daß Gott, dessen Wesen die unendliche Liebe ist, doch auch in der eifervollen Gerechtigkeit den bestimmten Ausdruck findet“ (Hervorhebung im Original). Der Rabbiner konzentriert in diesem einen Satz den Glauben an Gott. Eine Trennung zwischen Gerechtigkeit und Liebe, wie v. Harnack sie als die antipodischen Gottesbilder von Altem und Neuem Testament darstellt, wird dem biblischen Gottesbild nicht gerecht, da sich beide Bilder in beiden Testamenten finden. 140 Vgl. R. JANSEN, „Die Antwort blieb aus“, 111: „So ist das Judentum Versöhnungsreligion. Zwischen Gott und dem Menschen braucht es keinen Mittler, keinen Erlöser und kein Sakrament. Der Mensch ist aufgerufen und fähig, mit Gottes Hilfe immer wieder den Weg der Versöhnung zu gehen“.

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Leben“.141 Der religionsevolutionistische Ansatz A. v. Harnack besteht also nicht in einem historisch-kritischen Denken, sondern in einer Absetzung Jesu von seinem historischen Ursprung und einer antithetischen Argumentationsweise, indem er Jesus das Positive und Neue, den jüdischen Pharisäern dagegen das Starre und Konventionelle zuspricht. Argumentiert der Berliner Dogmenhistoriker mit Hilfe einer starren Diskontinuität, so unterstreicht der Berliner Rabbi und jüdische Theologe die starke Kontinuität zwischen den Religionen. So erstaunt es umso mehr, mit welchen Worten der Jude L. Baeck das Christentum zu würdigen weiß, indem er die historischen Tatsachen und deren Bezüge zum Judentum nicht durch Ablehnung, sondern durch geistige Wertschätzung ausdrückt, wenn er schreibt: Das Bedeutungsvolle des Christentums ist, „dass damals die Zeit erfüllt war, und die erfüllte Zeit brauchte die gottgesandte Persönlichkeit. Für das Heidentum war der Tag gekommen, da es Israels Lehre in sich aufzunehmen beginnen konnte, und Gott die Seinen dazu erstehen lassen. Gegen den Stifter des Christenthums hegt das Judenthum schon deshalb nur Liebe und Ehrerbietung. […] Aber fern liegt es zumal dem jüdischen Theologen, eine Religion, die eine gewaltige weltgeschichtliche Sendung erfüllt hat und noch erfüllt, einen Glauben, der die Gemüther von Millionen beseligt, getröstet und aufgerichtet hat, etwa nicht anzuerkennen oder gar zu verletzen und herabzusetzten“.142

Exkurs Ende

141 L. BAECK, „Aus Drei Jahrtausenden. Wissenschaftliche Untersuchungen und Abhandlungen zur Geschichte des jüdischen Glaubens“, in: A. H. FRIEDLANDER – B. K LAPPERT (Hg.), Aus Drei Jahrtausenden. Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte (= Leo Baeck Werke 4), Gütersloh 2000, 27-399, 147. In 130-147 geht der Rabbiner Baeck den Spuren des Jüdischen im Christentum nach und zeigt die unterschiedlichen Verweise auf. W. Homolka unterstreicht dabei, dass L. Baeck Jesus immer als Juden gesehen hat. Vgl. W. HOMOLKA, Leo Baeck, 80-82. 142 L. BAECK, „Harnack’s Vorlesungen“, 119. Für den Rabbiner kann daher das Evangelium nur aus dem jüdischen Geist heraus verstanden werden, da dies der Geist Jesu und seiner Verkündigung war. Paulus war es dann, der das Christentum aus der jüdischen Geisteswelt herausgeführt habe, indem er die theozentrische (vgl. A. v. Harnack!) Verkündigung durch eine christozentrische Evangelisierung ersetzt hat. Vgl. dazu S. SCHREINER, „Leo Baeck und das Neue Testament“, 200-204.210-217. Dabei ist bei L. Baeck auch eine Entwicklung in seinem Paulusbild festzustellen. Übernimmt er in Auseinandersetzung mit A. v. Harnack dessen negatives Paulusbild, so entwickelt er in seiner Beschäftigung mit dem Apostel ein immer positiveres Bild, so dass er nach einer phantastisch-romantischen Deutung in seinem letzten Aufsatz über den Apostel „Der Glaube des Paulus“ (in: L. BAECK, Nach der Schoa, 420-446) vom Juden Paulus referieren kann. – Gerade aufgrund dieser Sympathie des Juden L. Baeck zum Christentum wäre eine Auseinandersetzung zwischen ihm und A. v. Harnack für den vorherrschenden Antijudaismus in der christlichen Theologie des 19./20. Jahrhunderts hilfreich gewesen, auf den sich aber der Berliner Dogmenhistoriker nicht einließ, obwohl beide in derselben Stadt lehrten. Vgl. dazu R. JANSEN, „Die Antwort blieb aus“, 112-119.

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1.4.

Rudolf Bultmann: Präsentische Gnade im Neuen Testament

1.4.1.

Geschichte und Kerygma

Als einer der bedeutendsten Theologen der protestantischen Theologie des 20. Jahrhunderts bezieht sich R. Bultmann in seinem Denken auch auf den Zusammenhang von Altem und Neuem Testament. Für Bultmann sind biblische Texte keine historischen Quellenberichte, sondern Verkündigung. Darum hat eine historische Einordnung und Zuordnung der einzelnen biblischen Corpora keinen Sinn. R. Bultmann beschreibt das Verhältnis von Altem und Neuem Testament wie folgt: „[…] jene Betrachtungsweise, die nach dem Verhältnis der neutestamentlichen zur alttestamentlichen Religion fragt, [ist] überhaupt nicht theologisch relevant. Sie fragt von außen her, indem sie Beides, die alt- und neutestamentliche Religion, als historische Phänomene in den Blick nimmt und von höherer Warte aus ihr Verhältnis bestimmt. […] Sie fragt nicht, ob das Wort des Alten Testaments von der Kirche verkündigt und von mir als an mich gerichtetes gläubig gehört werden muß, so daß es meinen Glauben mitkonstituiert. Sie sucht hinter dem Alten Testament eine vergangene Epoche der Geschichte der Religion, die sie rekonstruiert“.143

Der Marburger Exeget möchte zeigen, inwiefern historische Texte einen Bezug zum gegenwärtigen Glaubensvollzug haben können; sein Anliegen ist, eine Brücke über den „garstig breiten Graben“ (G. E. Lessing) zu finden, der die Texte in ihrer Entstehung und dem heutigen Hören trennt. R. Bultmann unterscheidet daher in seinem Lösungsansatz zwischen Geschichte und Historie. Sinn ereignet sich für den protestantischen Exegeten in der Geschichte und nicht an ihr vorbei, denn „das eigentliche Wesen der Geschichte ist der Wirkzusammenhang, in dem der Mensch steht“.144 Der Mensch muss der Geschichte als historisches Faktum begegnen, um nicht der Verobjektivierung preisgegeben zu sein. Der Mensch braucht nach R Bultmann den inneren Bezug zur Geschichte, oder anders gesagt: Geschichte muss lebensrelevant sein, um bedeutungsrelevant werden zu können. R. Bultmann möchte die historische Befragung der Schrift durch die geschichtliche Befragung erweitert wissen, da er das Handeln Gottes rein in der Geschichte wahrnimmt und nur darin der existentiale Bezug Gottes zum Glaubenden gegeben ist. Der Niederschlag des 143

R. BULTMANN, „Die Bedeutung des Alten Testaments für den christlichen Glauben“, in: DERS., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze I, Tübingen 71972, 313-336, hier 317 (Hervorhebung im Original); [in Folge: R. BULTMANN, „Bedeutung des Alten Testaments“]. Siehe auch J. LAUSTER, Prinzip und Methode, 281-282. 144 B.-B. KIM, Die Zuordnung von Altem und Neuem Testament dargestellt an der Hermeneutik Rudolf Bultmanns (= Schriftenreihe Theos 113), Hamburg 2013, 113; [in Folge: B.-B. KIM, Zuordnung von Altem und Neuem Testament].

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existentialen Gottesbezuges findet sich besonders in den Schriften des Neuen Testaments, denn sie sind Ausdruck der Heilstaten Gottes am Menschen und in seinem Leben. Auslegung der Schrift bedeutet dann das Wort so zu verstehen, wie sich der Mensch im Glauben aus diesem Wort heraus versteht.145 „Wenn ich wissen will“ – so R. Bultmann – „was Christentum ist, so muß ich mich mit dem auseinandersetzten, was in der Geschichte mit dem Anspruch begegnet, christlich zu sein, – vom Neuen Testament an“.146 Der große protestantische Exeget versucht daher die biblischen Texte auf ihre lebens- und glaubensrelevanten Bezüge hin zu untersuchen und existential zu interpretieren. Besonders das Neue Testament zeichnet sich durch den Charakter der Verkündigung aus. Einer theologisch bedeutungslosen historischen Verhältnisbestimmung von Altem und Neuem Testament stellt er daher die existentiale Interpretation entgegen. Mit dieser Erschließung biblischer Texte ist für R. Bultmann der Schlüssel zum Verständnis von Theologie gegeben. In dieser Interpretation kann dann auch das Alte Testament von Bedeutung sein, denn es stellt die existentiale Bedingung menschlichen Lebens unter dem Gesetz dar. Das Alte Testament hat seinen Wert darin, dass es die existentielle Notwendigkeit der Gnade Gottes aufzeigt, die durch das Evangelium vom Gesetz befreit. Diese existentielle Notwendigkeit der Gnade bedarf aber einer Verdeutlichung in der Verkündigung. Das Kerygma hat als Ziel den Glauben des Menschen, als Ausgangspunkt den Ort, an dem die Gnade gewirkt wurde: das Kreuz Christi. Darum muss christlicher Glaube, wenn er existentiell bedeutsam sein will, sich dem Paradox stellen, dass sich die christliche Hoffnung in ihrer eschatologischen Dimension historisch begründen lassen muss. Daher kommt der Marburger Exeget zu dem Ergebnis: „Es ist eben die Paradoxie, daß ein historisches Ereignis das eschatologische Ereignis ist: Jesu Kommen und Gehen, sein Kreuz! Sollte ich [R. Bultmann; Anm. d. Verf.] auch sagen: seine Auferstehung? Nein! Denn seine Auferstehung ist kein historisches Ereignis. Als historisches Ereignis kann nur der Glaube der ersten Jünger an seine Auferstehung bezeichnet werden“.147 R. Bultmann stellt 145

Siehe dazu ebd. 115-119 und W. SCHMITHALS, „Gottes Wort verstehen – Rudolf Bultmann und die hermeneutische Theologie“, in: R. K. WÜSTENBERG – J. SCHRÖTER (Hgg.), „Nimm und lies!“. Theologische Quereinstiege für Neugierige, Gütersloh 2008, 196-214, hier 206-207; [in Folge: W. SCHMITHALS, „Gottes Wort verstehen“]. 146 Vgl. R. BULTMANN, „Das Befremdliche des christlichen Glaubens“, in: DERS., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, III, Tübingen 31965, 197-212, 200-201, hier 201. 147 Ebd. 204 (Hervorhebung im Original). Vgl. auch DERS., Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen

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den existentialen Glauben unter das sola crux, in dem das Heil des Glaubens ausgesprochen ist. Denn das Kreuz als historisches Ereignis ist als eschatologisches Ereignis immer präsent und vermag als rechtfertigende Gnade den existentialen Glauben zu begründen. Aufgrund der eschatologischen Gegenwärtigkeit des Kreuzes Christi ist die Verkündigung der Vollzug des historischen Ereignisses, das damit und darin den Menschen angeht. Denn: „Christus ist das eschatologische Ereignis nicht als eine Gestalt der Vergangenheit […], sondern als der Christus praesens. Und in der Tat wird er gegenwärtig in dem Wort, das ihn verkündet, und in den Sakramenten, sofern die Sakramente nicht als Mittel angesehen werden, die übernatürliche Kräfte eingießen, sondern sofern durch sie Tod und Auferstehung Christi gegenwärtige Ereignisse für den Empfänger werden, d. h. sofern sie verbum visibile sind“.148

In der Vergewisserung der Rechtfertigung durch das Kreuz Christi, das durch das Kerygma je neu vergegenwärtigt wird, erfährt sich der Mensch als Gerechtfertigter in seiner Existenz. Der Mensch braucht nicht eine Religions- oder Christentumsgeschichte, sondern er bedarf einzig der immer wieder neu zu geschehenden Aktualisierung durch das Kerygma, das ihm die Rechtfertigung als Offenbarung erschließt.149 Verkündigung (= BEvTh 96), zweite Aufl. als Nachdruck der 1941 erschien. Fassung, München 1985, 57-63; [in Folge: R. BULTMANN, Neues Testament und Mythologie]; DERS., Geschichte und Eschatologie, zweite, verb. Aufl., Tübingen 1964, 42 (Hervorhebung im Original); [in Folge: R. BULTMANN, Geschichte und Eschatologie]. J. Ratzinger kritisiert im Ansatz von R. Bultmann, dass dieser den Glauben gegenüber der Geschichte überbewertet und es zu einer Dominanz des Wortes über das Ereignis kommt. Vgl. J. RATZINGER, „Zum Problem der Entmythologisierung des Neuen Testaments“, in: DERS., Glaube in Schrift und Tradition. Zur Theologischen Prinzipienlehre, Bd. 2 (= JRGS 9,2), G. L. MÜLLER (Hg.), Freiburg – Basel – Wien 2016, 735-751, besonders 743; [in Folge: J. RATZINGER, „Zum Problem der Entmythologisierung“]. Siehe auch P V. D. OSTEN-SACKEN, „Rückzug ins Wesen und aus der Geschichte. Antijudaismus bei Adolf von Harnack und Rudolf Bultmann“, WPKG 67 (1978) 106-122, 114-116 und K. HAMMANN, Bultmann und seine Zeit. Biographische und theologische Konstellationen, Tübingen 2016, 217; [in Folge: K. HAMMANN, Rudolf Bultmann und seine Zeit]. Zur Eschatologie bei R. Bultmann siehe K. W. MÜLLER, „Rudolf Bultmann und die Heilsgeschichte“, in: J. FREY – S. KRAUTER – H. LICHTENBERGER (Hgg.), Heil und Geschichte. Die Geschichtsbezogenheit des Heils und das Problem der Heilsgeschichte in der biblischen Tradition und in der theologischen Deutung (= WUNT 248), Tübingen 2009, 693-723, 705-710; [in Folge: K. W. MÜLLER, „Rudolf Bultmann und die Heilsgeschichte“]. Ebenso J. LAUSTER, Prinzip und Methode, 285-286. 148 R. BULTMANN, „Geschichte und Eschatologie“, 105. Vgl. auch DERS., Geschichte und Eschatologie, 180-181: „Jesus Christus ist eschatologisches Ereignis nicht als ein Faktum der Vergangenheit, sondern als der jeweils hier und jetzt in der Verkündigung Anredende“ (hier 181). 149 Vgl. DERS., Theologische Enzyklopädie, E. JÜNGEL – K. W. MÜLLER (Hgg.), Tübingen 1984, 74-75: „Wie so jeder stets für sich von vorne im Christentum anfangen muß, so gibt es auch keine Geschichte des Christentums, innerhalb der menschlichen

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Durch das Kerygma soll das Kreuzesereignis im Leben und im Glauben des Menschen gegenwärtig werden und darin seine wahre Bedeutung zeigen. 1.4.2.

Entmythologisierung als Programm

Der Gläubige kann oft mit den biblischen Bildern nichts anfangen und diese nicht auf seinen Lebensvollzug beziehen, weshalb die Notwendigkeit der Gnade entschlüsselt werden muss. In dieser Hinsicht ist auch das bekannte Programm der Entmythologisierung Bultmanns zu verstehen. Alle Glaubenssätze müssen vom mythologischen Mantel befreit werden, von dem sie durch das geschriebene Wort der Bibel umhüllt sind. Das Irrationale muss aus der Bibel und der Religion entfernt werden, damit die Heilsgnade dem Menschen auch vernünftig erscheint. Nur dann kann das Wort Gottes den Menschen direkt ansprechen. Alles, was die rettende Gnade verdeckt, muss abgetragen werden, denn weder das neutestamentliche, noch weniger das alttestamentliche Weltbild entsprechen dem Weltbild der Moderne. Die Moderne ist durch die Wissenschaft so geprägt, dass sie alles in ihrem Zusammenhang erklären kann. Das mythologische Weltbild zeichnet sich dadurch aus, dass die göttliche Heilswelt und sein Himmel innerkosmisch und räumlich gedacht werden, und „[s]ofern es nun mythologische Rede ist, ist es für den Menschen von heute unglaubhaft, weil für ihn das mythische Weltbild vergangen ist“.150 Für den Geistesgeschichte etwa, als Entwicklungs- oder Problemgeschichte, in der es von Stufe zu Stufe, von Lösung zu Lösung ginge; sondern jedes Geschlecht hat das gleiche ursprüngliche Verhältnis zur Offenbarung“; [in Folge: R. BULTMANN: Theologische Enzyklopädie]. Siehe auch DERS., „Der Begriff des Wortes Gottes im Neuen Testament“, in: Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, I, Tübingen 71972, 268-293, 288-289. 150 DERS., Neues Testament und Mythologie, 14. Für den Marburger Exegeten ist es „sinnlos“ und „unmöglich“, das mythische Weltbild anzunehmen, da es weder christlich, sondern jüdisch-apokalyptisch und gnostisch, und nicht der geschichtlichen Situation entsprechend ist. Siehe auch DERS., „Die christliche Hoffnung und das Problem der Entmythologisierung“, in: DERS., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, III, Tübingen 31965, 81-90, 84-85; [in Folge: R. BULTMANN, „Die christliche Hoffnung“]. Zu den Begriffen „Mythos“ und „Entmythologisierung“ siehe J. RATZINGER, „Zum Problem der Entmythologisierung“, 735-739, der dabei R. Bultmann auch gegen überzogene Kritik in Schutz nimmt, dass es bei der Entmythologisierung nicht um „Subtraktion, sondern um Interpretation“ geht (738); dazu A. LINDEMANN, „Jesus Christus und die Mythologie. Bultmanns Mythos-Verständnis und seine Evangelienauslegung“, ETL 91 (2015) 365-391, 363-391; [in Folge: A. LINDEMANN, „Bultmanns Mythos-Verständnis]. Vgl. auch K. HAMMANN, Rudolf Bultmann und seine Zeit, 217-221 (= DERS., „Neues Testament und Mythologie“, 911-914). Für F. Wittekind zielt die Entmythologisierung einzig auf die christologische Verkündigung. Vgl. F. WITTEKIND, „Jesus Christus als Person verstehen. Zur Auseinandersetzung Bultmanns und Hirschs über die hermeneutischen Implikationen der Christologie“, in: M. PIETSCH – D. SCHMID (Hgg.), Geist und Buchstabe. Interpretations- und Transformationsprozesse

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Marburger Exegeten ist ein Mythos eine Form wissenschaftlichen Redens, die jedoch an eine bestimmte Zeit gebunden ist und ein geschichtlich determiniertes Weltbild ausdrückt. In Verteidigung des Entmythologisierungsprogramms R. Bultmanns folgert D. W. Congdon: „Negatively, demythologizing criticizes the tendency of mythical speech to slide into a mode of scientific speech that constructs a worldview and turns God into an object within the world. Positively, demythologizing is the interpretation and repetition of myth’s truth within a new time and place. If myth is an objectifying thinking insofar as it represents God through an inappropriate mode of analogical speech, then demythologizing pursues a nonobjectifying God-talk that represents God through an appropriate mode of analogical speech […]“.151

Mythologisches Reden ist nicht nur vergangen, es macht vielmehr das christliche Kerygma unverständlich. Dagegen argumentiert der Marburger Theologe, dass sich Theologie und christlicher Glaube das naturwissenschaftliche Weltbild aneignen sollen, dem auch das Verständnis von Sühnetod und Auferstehung Jesu unterworfen seien.152 Mit der Entmythologisierung geht es R. Bultmann nicht einfach darum, die großen Hoffnungsbilder des Glaubens mit einem Federstrich für obsolet zu erklären, sondern er stellt auch die Frage, „ob mit der Erledigung der mythologischen Vorstellungen das letzte Wort gesprochen ist oder ob in ihnen ein bleibender Sinn Ausdruck gefunden hat; ob ihnen eine Anschauung, ja ein Wissen, vom Wesen der menschlichen Existenz zugrunde liegt, das vielleicht nicht das einzig mögliche Verständnis menschlicher Existenz wäre“.153 Hinter jedem mythologischen wie hinter dem modernen naturwissenschaftlichen Weltbild steht die Frage nach dem Sinn der Geschichte. Es ist die Begrifflichkeit und Ausdrucksweise, die zu unterscheiden und zu ändern ist, um damit dem Kerygma zum Durchbruch in die existentielle Dimension des Menschen zu verhelfen. Der Weg dazu geht nur über die Entmythologisierung, da nach R. Bultmann die Mystik nur eine Flucht ist, die das Verhältnis zwischen Gott und Mensch nicht richtig

innerhalb des Christentums, FS für Günter MECKENSTOCK, Berlin 2013, 479-518, 496499; P.-G. KLUMBIES, „Mythos und Entmythologisierung“, in: C. LANDMESSER (Hg.), Bultmann Handbuch, Tübingen 2017, 383-389. 151 D. W. CONGDON, „Demystifying the Program of Demythologizing. Rudolf Bultmann’s Theological Hermeneutics“, HTR 110 (2017) 1-23, 16; [in Folge: D. W. CONGDON, „Demystifying the Program of Demythologizing“]. 152 Vgl. R. BULTMANN, „Die christliche Hoffnung“, 83-84: „Diese mythologische Vorstellungsweise ist dem modernen Menschen fremd geworden, dessen Denken durch die Wissenschaft bestimmt ist – einerlei ob und wie weit er selbst aktiv an wissenschaftlicher Forschung teilnimmt und ihre Methode versteht“ (Hervorhebung im Original). Zu Tod und Auferstehung Jesu vgl. DERS., Neues Testament und Mythologie, 19-20. 153 R. BULTMANN, „Die christliche Hoffnung“, 85.

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fassen kann.154 Der Sinn, der hinter allen Weltbildern aber gesucht werden soll, ist der eschatologische Gott, der in der historischen Gegenwart das Leben zur Fülle bringt. Die Entmythologisierung sucht also die Wahrheit hinter den biblischen Bildern, die nicht mehr mythologisch, sondern anthropologisch, sprich existential gepredigt werden müssen. R. Bultmann insistiert darauf, dass der biblische Gottesbegriff kein theoretischer Gedanke ist, sondern sich am konkreten Leben des Menschen ausweisen muss. „Und darum also handelt es sich,“ – so R. Bultmann – „ob dem Menschen im Neuen Testament ein Verständnis seiner selbst entgegengebracht wird, das eine echte Entscheidungsfrage für ihn bedeutet“.155 Somit meint Entmythologisierung, dass die apokalyptischen und gnostischen Bilder, selbst wenn sie eschatologisch ausgerichtet sind, die Gegenwart und das Jetzt des Menschen kennzeichnen und ausweisen müssen. Nur so hat die neutestamentliche Botschaft einen Sinn, weil Jesus Christus bereits dieses Ereignis ist und historisch verwirklicht hat. Das Kriterium der Entmythologisierung der biblischen Aussagen und der Glaubensaussagen ist damit „im existentiellen Selbstverständnis des

154 Vgl. DERS., Theologische Enzyklopädie, 115-129, hier 129: „Mystik ist also die Verknüpfung des Gottesgedankens mit der Vorstellung, daß Gott vom Menschen gehabt werden kann in einer Zuständlichkeit, bzw. das Bewußtsein, ihn so zu haben […]. Ihr Fehler ist die Verkennung der Geschichtlichkeit des Menschen und deshalb schließlich auch ein Fehler im Gottesgedanken selbst: er ist nur formal richtig. […] Denn wie ,der Mensch‘ nichts Formales ist, sondern jeweils der bestimmte Mensch in einer konkreten geschichtlichen Situation, so ist auch sein Jenseits nur das, was ihn ins Diesseits weist […]. Ein Jenseits ist immer sein konkretes Jenseits; es ist nicht das Bestimmungslose, sondern das Unverfügbare, das über ihn Verfügende, ihn Beschenkende […]. Gerade das, was die Mystik zur Mystik macht, kann man nicht übernehmen, ohne den Glauben preiszugeben“. Zur Mystik siehe auch DERS., „Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung“, in: DERS., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, I, Tübingen 71972, 1-25, 24. Eingehender wird der Mystikbegriff bei R. Bultmann behandelt bei B. JASPERT, Karl Barth und Rudolf Bultmann. Anfragen, Nordhausen 2014, 43-117. 155 R. BULTMANN, Neues Testament und Mythologie, 29; vgl. auch ebd. 22 und DERS., „Jesus Christus und die Mythologie“, in: DERS., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, IV, Tübingen 21967, 141-189, 156-162; [in Folge: R. BULTMANN, „Jesus Christus und die Mythologie“]. Siehe auch B. JASPERT, „Existenz-Mythos-Theologie. Fünfzig Jahre nach Rudolf Bultmanns Entmythologisierungsprogramm“, NZSTh 34 (1992) 125-148, 135-137; D. W. Congdon unterstreicht in seinem Beitrag, dass es R. Bultmann mit der Entmythologisierung darum geht, die Bedeutung der göttlichen Offenbarung für das persönliche Leben und den Glauben als Anforderung herauszustellen, insofern der Glaube eine Entscheidung zum ska,ndalon der Offenbarung Gottes im Kreuz Christi ist. Vgl. D. W. CONGDON, „Demystifying the Program of Demythologizing“, 7-11. Siehe auch A. LINDEMANN, „Bultmanns Mythos-Verständnis“, 383-384.

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Menschen“156 gegeben, der in seiner jeweiligen Situation die Aussagen adaptieren muss, wenn sie für ihn im Kerygma annehmbar sein sollen. Will die Botschaft des Evangeliums dem modernen Menschen verständlich sein, dann muss sie auch seinem Weltverständnis zugänglich werden. Nur dort, wo sich das Evangelium wirklich im Leben des Menschen nicht nur spiegeln, sondern wiederfinden kann, geschieht Verkündigung und wird die rechtfertigende Gnade erfahrbar.157 Der Maßstab der Kritik ist somit die Existenz, in der das Verhältnis Gottes zum Menschen zum Ausdruck kommt: „Aber es fragt sich, welches der Maßstab und die dadurch gegebene Grenze der Kritik ist; der Maßstab kann nur die eigene Intention des Neuen Testaments selbst sein […]“.158 Der Maßstab des Neuen Testaments ist der, dass das Gottesverhältnis an den Menschen und die Person Jesu Christi gebunden ist. Darum ist es Aufgabe von Theologie und Exegese, mit Hilfe der Entmythologisierung die Verkündigung Jesu ausfindig zu machen und sie auf ihre existentiale Relevanz hin zu befragen. Die Verkündigung Jesu ist im Neuen Testament in der Verkündigung der Person Jesu zu finden. Das Gottesverhältnis in Jesus Christus wird also dort rein und von mythischen Aspekten geläutert gefunden, wo der Glaube durch die Verkündigung der Person Jesu aufgebaut und gestärkt wird und so die Offenbarung Gottes zur Bestimmung der menschlichen und geschichtlichen Existenz wird. Der Sinn der Entmythologisierung liegt darin, jeden Mythos in biblischen Texten auf den existentialen Kern hin zu befragen. R. Bultmann unterscheidet sich insofern von A. v. Harnack, als er die existentiale Bedeutung der Gnade in der Verkündigung Jesu verstanden wissen will und die Verkündigung nicht noch einmal der liberalen Kritik unterzieht, um den Kern von der Schale 156

R. BULTMANN, „Zum Problem der Entmythologisierung“, in: DERS., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, IV, Tübingen 21967, 128-137, 135. Auch DERS., Geschichte und Eschatologie, 158. Vgl. dazu auch C. LANDMESSER, „Geschichte und Eschatologie. Rudolf Bultmanns Gifford Lectures aus dem Jahr 1955“, ETL 91 (2015) 461-479, 465-466: „Geschichte als Geschichtlichkeit wird zu einer anthropologischen Kategorie, insofern die Geschichte nur dann angemessen betrachtet wird, wenn sie von der Existenzweise des Menschen handelt […]. Echte Geschichte aus Distanz gibt es dann nicht mehr. Nur über seine eigene Geschichtlichkeit hat ein Mensch einen unverstellten Zugang zur Geschichte“ (Hervorhebung im Original). 157 Eine erhellende Nachzeichnung der Entstehung des Entmythologisierungsprinzips bietet K. HAMMANN, „Rudolf Bultmann. Neues Testament und Mythologie (1941)“, in: O. WISCHMEYER (Hg.), Handbuch der Bibelhermeneutiken. Von Origenes bis zur Gegenwart, Boston 2016, 905-920; [in Folge: K. HAMMANN, „Neues Testament und Mythologie“]; B.-B. KIM, Zuordnung von Altem und Neuem Testament, 127-149 sowie W. SCHMITHALS, „Gottes Wort verstehen“, 207-212. Wichtig ist zu beachten, dass Entmythologisierung bei R. Bultmann nicht die Eliminierung des Mythos und damit der Texte des Neuen Testaments meint, sondern im Gegenteil deren existentiale, also lebensdienliche Interpretation. Siehe auch J. LAUSTER, Prinzip und Methode, 291-292. 158 R. BULTMANN, „Bedeutung des Alten Testaments“, 315. Vgl. N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 72.

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zu trennen. Darum gehen bei R. Bultmann die historisch-kritische Exegese und die systematische Interpretation Hand in Hand, die „das Verstehen der in den neutestamentlichen Texten zur Sprache kommenden Wahrheit des christlichen Glaubens und das (neue) Sichselbst-verstehen-Können des glaubenden Menschen“ aufzeigen.159 1.4.3.

Glauben in der Gegenwart

Das Alte Testament trägt dagegen in sich die Hoffnung der Gnade, die aber noch ausständig ist, denn Gnade ist immer präsentisch und nicht ein Wissen des Vergangenen. Konkret schreibt R. Bultmann: „Die Botschaft von der vergebenden Gnade Gottes in Jesus Christus ist kein geschichtlicher Bericht über ein vergangenes Ereignis, sondern sie ist das verkündigende Wort der Kirche, das jetzt jeden unmittelbar als Gottes Wort anredet, und in dem Jesus Christus als das ‚Wort‘ gegenwärtig ist. [… Der Einzelne] soll nicht Gnadenerweise Gottes, die in geschichtlichen Ereignissen der Vergangenheit vorliegen, anschauen, und daraus den Schluss ziehen, dass Gott gnädig ist und also auch wohl für ihn gnädig sein wird, sondern Gottes Gnade begegnet ihm direkt im verkündigten Wort“.160

Gnade ist präsentisch durch das Kerygma161 der Kirche. In dem Moment, in dem die Kirche das Wort Gottes verkündigt, ereignet sich die Gnade Gottes. Das Alte Testament spricht zwar auch von dieser Hoffnung, die aber nur für das jüdische Volk Offenbarung ist, die einzig durch die Bindung an dieses bestimmte Volk empfangen werden kann. Dagegen erfährt sich das Christentum als Empfänger der Gnade durch Christus, die durch die Mitteilung im Kerygma der Kirche nicht mehr an ein einziges Volk gebunden ist. „Was sich hier vollzieht, ist zwar einerseits eine radikale Unterscheidung von Christentum und Judentum, dabei aber eine Rückübereignung des AT an das Judentum unter dem Vorzeichen, dass es diesem und nicht dem Christentum direkt anredendes Wort Gottes – und zwar Evangelium! – ist“.162 159

K. HAMMANN, „Neues Testament und Mythologie“, 915-916. R. BULTMANN, „Bedeutung des Alten Testaments“, 332-333. 161 Zu Begriff Kerygma siehe: J. LAUSTER, Prinzip und Methode, 283-286. R. Bultmann versteht unter Kerygma konkret das Wort Gottes als direkte Anrede, wobei dem Menschen darin das Heilsereignis gegenwärtig wird. Das Kerygma ist aber nicht eine sekundäre Kategorie des Heils, sondern ist selbst Teil davon, da Heil mitgeteilt und verkündet werden muss. Das Kerygma steht dem Menschen jedoch nicht gegenüber, sondern wirkt direkt an ihm und bringt damit den Glauben hervor, da es durch Gottes Handeln ein eschatologisches Ereignis ist. 162 N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 74-75. R. Bultmann unterstreicht in seinem Beitrag „Bedeutung des Alten Testaments“, 326, dass im Alten Testament das Volk Israel Gnade erfährt, denn auch „im Alten Testament [ist] das Sein unter dem Gesetz schon als ein Sein unter der Gnade verstanden. Denn Gottes Gnade ist es, die das Volk berufen und ihm das Gesetz gegeben hat, durch das es am Leben bleibe. Das Gesetz als solches ist ein Erweis der Gnade Gottes, und deshalb besteht schon für das Alte Testament 160

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R. Bultmann geht davon aus, dass das Alte Testament Zeugnis der Gnade für das Volk Israel ist, jedoch ist es gerade dadurch vom Neuen zu unterscheiden, dass diese Gnade speziell nur für dieses Volk bestimmt ist. Darum kann sich das Neue Testament die hebräische Schrift nicht aneignen, da es die Kategorie des Volkes mit der Universalität der Gnade durch das Kerygma übersteigt.163 Das Kerygma der Kirche hat eine Wirkung auf das Leben des Menschen. Durch das Kerygma tritt ihm Jesus Christus gegenüber, insofern dadurch sein Leben durch das Ereignis des Kerygmas, also durch die Vergegenwärtigung des Christusereignisses, verändert wird. Das Kerygma hat somit existentiale Bedeutung. Darum möchte R. Bultmann über die rein historische Untersuchung der Schrift hinausgehen, da er die theologische Relevanz der Schrift für das Leben sucht.164 N. Slenczka erklärt im Anschluss an R. Bultmann die existentiale Bedeutung des Kerygmas als religiösen Ausdruck des

das Problem, daß das Sein unter dem Gesetz als unter der Gnade Gottes stets das Sein unter dem Gesetz als Gesetz, d.h. als unter der bloßen Forderung, zu überwinden hat“ (Hervorhebung im Original). Der Gnadenerweis im Alten Testament unterscheidet sich aber wesentlich von dem Jesu Christi im neutestamentlichen Evangelium. Darum ist das Alte Testament nicht mehr Offenbarungsgeschichte für das Christentum, da es einzig Ansprache an das jüdische Volk ist. Vgl. dazu ebd. 326-327. Für R. Bultmann ist aber mit dem Gegensatz von Gesetz und Gnade nicht eine Trennung zwischen Altem und Neuem Testament gegeben, denn unter „allen Umständen ist für das Alte Testament auch das Gesetz Gnade, weil es in den Zusammenhang der Erwählung des Volkes und des Bundesschlusses mit ihm gehört. Auch die Hoffnung auf Vergebung ist nicht das Neue des Neuen Testamentes – denn im AT gibt es ebenfalls neben dem Bewusstsein der Sünde die rückhaltlose Hoffnung auf den Vergebungswillen Gottes, der dann erfahren wird, wenn sich eine individuelle oder kollektive Notlage, die als Strafe Gottes erfahren und gedeutet wird, wendet“ (ebd. 73). – Zum Verhältnis R. Bultmanns zum Judentum siehe K. HAMMANN, Rudolf Bultmann und seine Zeit, 41-76; DERS., „Bultmann und das Judentum“, in: C. LANDMESSER (Hg.), Bultmann Handbuch, Tübingen 2017, 161-167. 163 Vgl. N. S LENCZKA, Tod Gottes, 103. DERS., Vom Alten Testament und vom Neuen, 7677: „Das Argument [Bultmanns der präsentischen Gnade; Anm.. d. Verf.] ist dem Schleiermachers und auch dem Harnacks verwandt: Das gegenwärtige fromme Selbstbewusstsein ist unfähig zur Aneignung der alttestamentlichen Texte genau aus dem Grund, dass ihnen das Bewusstsein der Universalität des Liebenswillens Gottes bzw. der Bedingungslosigkeit des Angenommenseins des Menschen eklatant fehlt“. 164 Siehe dazu U. H. J. KÖRTNER, „Dogmatik als konsequente Exegese. Zur Relevanz der Exegese für die Systematische Theologie im Anschluss an Rudolf Bultmann“, in: C. CLAUSSEN – M. ÖHLER (Hgg.), Exegese und Dogmatik (= BThST 107), NeukirchenVluyn 2010, 73-102, hier 77: „Bultmanns theologisches Programm stellt freilich nicht nur einen gängigen Begriff von Systematischer Theologie in Frage, sondern auch das Selbstverständnis der Exegese. Was Bultmann will und tatsächlich auf beispielhafte Weise betrieben hat, ist eine theologische Exegese der biblischen Texte, d. h. ihre Interpretation als Heilige Schrift“ (Hervorhebung im Original); [in Folge: U. H. J. KÖRTNER, „Dogmatik als konsequente Exegese“]. Beachte dazu auch B.-B. KIM, Zuordnung von Altem und Neuen Testament, 147-149.

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Selbstverständnisses.165 Religion ist damit ein Medium, um das eigene Selbstverständnis besser zu begreifen. Der Glaubende erfährt sich durch das Kerygma als gerechtfertigt, weil ihm nicht eine historische Botschaft begegnet, sondern eine reale Zusage geschieht, die ihn in seinem Selbstverständnis trifft, weil „das Christusereignis bzw. dessen Zentrum nach Bultmann eben gerade kein historisches, vergangenes Ereignis ist, sondern sich je in dem Moment ereignet, in dem der Mensch im Wort der Vergebung die Kraft Gottes als Grund des Glaubens erfährt“.166 Das Selbstverständnis des Christen liegt also darin, dass er die Erlösung im Kerygma der Kirche findet, das ihm gegenübertritt. Damit ist also auch das Verhältnis von Gesetz und Evangelium bezeichnet und existential gedeutet, insofern sich biblisch das ausdrückt, was der Mensch in seinem Leben existential als Spannung der Erlösungsbedürftigkeit und Erlösung erfährt. Biblische Texte können somit als „heilige Schriften“ interpretiert werden, wenn sie eben diesen existentialen Anspruch an den Leser oder Ausleger stellen. Dadurch, dass R. Bultmann die Antithese von Gesetz und Evangelium existential deutet, überträgt er diese Antithese auch auf die Beziehung des Judentums zum Christentum. Der Berliner Systematiker Slenczka weist aber darauf hin, dass dies bei R. Bultmann nicht als ein Antijudaismus gewertet werden könne, denn das Verhältnis von Gesetz und Evangelium gilt nicht partikular, sondern allgemeinspezifisch, denn „[d]ie Haltungen des christlichen Glaubens einerseits und alle alternativen Möglichkeiten eines (religiösen) Selbstverständnisses müssen verstanden werden als jedem Menschen zugängliche Lebenshaltungen“.167 Der eschatologische Zuspruch Gottes ist kein historischer Akt, auf den man erinnernd zurückblicken kann. Die Offenbarung Gottes in Jesus Christus ereignet sich in der Existenz des Menschen, wobei die Offenbarung und der Glaube geradezu zum Krisenmoment des Christentums und des Menschen werden.168 Zu wenig wäre es, wenn das Christentum den Menschen nur mit einer heilsgeschichtlichen Hülle umgeben und nicht auf die direkte und konkrete Lösung der menschlichen Vergangenheit in der Sünde reagieren würde.

165

Vgl. N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 467: „Eine existentiale Interpretation zielt darauf ab, die gegenständlichen religiösen Aussagen als Ausdruck eines Selbstverständnisses zu verstehen, das den eigentlichen Gehalt dieser Aussagen ausmacht; Religionen sind Ausdruck eines Selbstverständnisses und Medien, durch die sich dieses Selbstverständnis erschließt und bei anderen geweckt wird […]“. 166 DERS., Tod Gottes, 102. Vgl. auch DERS., „Die Christologie als Reflex des frommen Selbstbewusstseins“, in J. SCHRÖTER (Hg.), Jesus Christus (= TdT 9), Tübingen 2014, 181-241, hier 219-221; [in Folge: N. SLENCZKA, „Christologie als Reflex“]. 167 Vgl. DERS., Vom Alten Testament und vom Neuen, 468. 168 Vgl. B.-B. KIM, Zuordnung von Alten und Neuen Testament, 229-230.

85

1.4.4.

Das Alte Testament als Vorbereitung des christlichen Seinsverständnisses

Eine heilsgeschichtliche Lektüre des Alten Testaments lehnt R. Bultmann auch deshalb ab, da für ihn kein heilsgeschichtlicher Zusammenhang im Schema Verheißung-Erfüllung in den Schriften gegeben ist. Dort, wo das Neue Testament mit Schriftzitaten arbeitet, nimmt es keine Verheißung auf, sondern entfaltet „einfach das israelitisch-jüdische Bild der Zukunftshoffnung“.169 Darum braucht auch die christliche Tradition keine Allegorie, um diese Zukunftshoffnung Israels christlich interpretieren zu können. Jede Allegorie interpretiert nämlich die Texte damit gegen sie selbst und stellt den allegorischen Sinn gegen den eigentlichen Literalsinn. Deshalb stellt R. Bultmann lakonisch fest: „Jede Allegorese ist Spielerei oder Unfug“.170 Erst von der Erfüllung, die christliche Allegorie in die alttestamentlichen Texte hineinliest, werden diese Texte ex eventu zu Weissagungstexten. Wenn christliche Theologie von Weissagungen im Alten Testament spricht, dann ist dies eine sekundäre Deutung, die nichts mit dem Ursprungssinn gemein hat. Das ist für R. Bultmann mehr ein polemischer Akt und ein Umschiffen von Problemen, die sich in der urchristlichen Mission ergaben, als eine aufrichtige Auseinandersetzung mit den Texten des Volkes Israel. Mit dieser Auslegung alttestamentlicher Texte wird mehr in den Willen Gottes hineininterpretiert als ursprünglich gemeint sein kann und jeglicher Willkür Tür und Tor geöffnet.171 Wenn alttestamentliche Schriften wirklich als Weissagung verstanden werden können, dann nicht durch die christliche Interpretation, sondern einzig durch das Gesamt der Geschichte, in dem diese Texte stehen. In der Geschichte bekommen diese Schriften ihren Sinn aber nur für das Volk Israel. Weissagungstexte zielen im Gegensatz zu den neutestamentlichen Texten konkret auf das Volk Israel als Adressat und müssen in einem zweiten Schritt auf dieses Volk hin ausgelegt werden. Das in den 169

R. BULTMANN, „Bedeutung des Alten Testaments“, 335. Ebd. 335. In seinem Beitrag „Weissagung und Erfüllung“ unterstreicht Bultmann dagegen, dass das Urchristentum die Allegorie gebraucht, um konkrete Wahrheiten in Jesus Christus als erfüllt erkennen zu können, die im Alten Testament vorausgesagt sind. Dabei unterscheidet sich das Urchristentum mit seiner Allegorese von der jüdischen wie bei Philo, der mit der Deutungsmethode allgemeine Wahrheiten aus dem Alten Testament herauslesen zu können meinte. Vgl. R. BULTMANN, „Weissagung und Erfüllung“, in: DERS., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze II, Tübingen 1968, 162-186, hier 162-163. Jedoch ist mit der historisch-kritischen Methode, die das Alte Testament als geschichtliches Dokument sieht, die Allegorie obsolet geworden. Einzig eine eschatologische Allegorie kann im Neuen Testament gewahrt werden, jedoch nur unter dem Vorzeichen, „daß der Prophet nicht an die Vorgänge gedacht hat, in denen das Neue Testament die Erfüllung findet […]“. R. BULTMANN, „Bedeutung des Alten Testaments“, 165. 171 Vgl. ebd. 167-168. 170

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neutestamentlichen Schriften bezeugte Christusereignis hat dagegen direkte existentiale und keine allegorische Bedeutung, weil es den Menschen konkret angeht und innerlich betrifft. Das Kerygma ist in seiner konkreten Botschaft der Kirche allgemeinmenschlich, trifft aber den individuellen Menschen und hat eine existentielle Konsequenz: Das existentiale Kerygma wird zum existentiellen Glauben.172 Die Glaubenserfahrung wird zwar mit der Erinnerung an Jesus von Nazareth verdeutlicht, aber das Zentrum ist und bleibt die existentiale Erfahrung der Erlösung. Die neutestamentlichen Schriften sind damit nicht Historien-, sondern Erfahrungsberichte, und die gesamte Theologie ist in einen lebenspraktischen Bezug gesetzt. Der Schrift kann damit nicht neutral begegnet werden, sondern es geht dann um den Glauben im Vollzug der Schrift: Schriftauslegung ist Selbstauslegung.173 Immer, wenn die Schrift gelesen wird, ereignet sich das Gelesene im Inneren des Menschen. Das, was Christen mit den Schriften des Neuen Testaments erfahren, das gilt auch für das Judentum und seine Schriften. Das Alte Testament ist damit zwar eine Schrift – Evangelium – für das jüdische Volk, das in Verbindung zum Christentum steht. Aber R. Bultmann unterstreicht, dass es dabei nicht um eine historische Betrachtungsweise gehen kann, ebensowenig um eine heilsgeschichtliche, sondern um eine rein theologische, denn die existentiale Zusage der Schriften ist im Judentum und im Christentum wesentlich verschieden. In den alttestamentlichen Schriften erfährt der Mensch im Glauben an Jesus Christus seine Erlösungsbedürftigkeit, die ihm durch die Verkündigung des Evangeliums zugesprochen wird, wohingegen das Judentum in denselben Schriften die eigene Rechtfertigung erkennt. Der Marburger Exeget weist darauf hin, „daß das Evangelium nur gepredigt werden kann, wenn der Mensch unter dem Gesetz steht. Gewiß ist Christus des Gesetzes Ende; aber gerade deshalb, damit er als des Gesetzes Ende verstanden werden kann […], muß auch jeder, der von Christus hört, vom Gesetz gehört haben“.174 Das Evangelium braucht das Gesetz, um 172

Vgl. N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 473: „Wenn das Handeln Gottes eigentlich nur einen heilsgeschichtlichen Rahmen um die Menschheitsgeschichte betrifft und nicht wesentlich und nachvollziehbar mit dem Selbstverständnis des Menschen, das immer nur individuell sein kann, zu tun hat, verliert das Christentum seine Relevanz […]“. 173 Vgl. U. H. J. KÖRTNER, „Dogmatik als konsequente Exegese“, 78-80. 174 R. BULTMANN, „Bedeutung des Alten Testaments“, 319. Weiter heißt es bei R. Bultmann: „die Freiheit vom Gesetz bedeutet nicht, daß der Mensch aus der göttlichen Forderung entlassen wäre, daß er nicht mehr unter dem ‚Du sollst‘ stünde, sondern daß dieses ‚Du sollst‘ begründet ist durch ein ‚Du kannst‘, ‚Du bist‘. Vom Gesetz ist der Mensch befreit als einem Gesetz, dessen Erfüllung ihn erst der Gnade versichern soll, aber nicht, sofern es gerade durch die Gnade neu begründet wird“, 319-320. Beachte dazu auch B.-B. KIM, Zuordnung von Altem und Neuem Testament, 237-244.

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existentiell verstanden werden zu können. Dabei muss diese existentielle Erfahrung der Erlösungsbedürftigkeit, wie sie im Alten Testament ausgedrückt ist, nicht das konkrete Alte Testament sein. „Das Vorverständnis für das Evangelium, das unter dem Alten Testament erwächst, kann ebensogut unter anderen geschichtlichen Verkörperungen des göttlichen Gesetzes erwachsen, überall da, wo sich ein Mensch gebunden und begrenzt weiß durch die konkreten oder die allgemeinen sittlichen Forderungen […]“.175 Das Alte Testament wird bei R. Bultmann zu einem Bild der Geschichte, aus der der Mensch durch das Evangelium herausgeführt wird. Als Bild ist das Alte Testament für das Christentum zwar wertvoll, aber nicht konstitutiv bzw. existential. Das Alte Testament kann daher vom Christentum nicht als Offenbarung angesehen werden, wie das jüdische Volk es als Offenbarung für sich ansieht. Dass das Alte Testament Bedeutung für das Christentum hat, liegt demnach nur darin, „[d]aß das Alte Testament nur soweit [in den Kanon; Anm. d. Verf.] aufgenommen wird, als es wirklich Verheißung ist, d.h. als es wirklich das christliche Seinsverständnis vorbereitet. Soweit, mag man sagen, redet Christus schon im Alten Testament“.176 1.4.5.

Das Neue im Glauben

Für R. Bultmann ist Glauben als Verstehen aufzufassen: eine Einstellung, die sich auf seine Arbeit als Exeget auswirkt. Als neutestamentlicher Exeget folgt er systematischen Grundannahmen, die aus dem Verstehen kommen.177 Der Mensch strebt danach, dass er aufgrund seiner existentialen Struktur sich selber verstehen muss, um nicht der Aporie der Wirklichkeit und des Selbst zu verfallen, in der für ihn alles als eine Frage zurückbleibt. „Dabei trifft Bultmann“ – so H. v. Sass – „die folgenreiche Differenz zwischen dem Verstehen von Neuem und dem Neuverstehen von dadurch Altem, zwischen dem Verstehen von Unbekanntem, das zuvor nicht verstanden war, und einem neuen Verstehen von zuvor Vertrautem, das nun anders, neu oder besser

175

R. BULTMANN, „Bedeutung des Alten Testaments“, 321. Ebd. 336. Gerade in der Kulturgeschichte hat laut R. Bultmann das Alte Testament große Auswirkung und Bedeutung für das Christentum, ohne die das Christentum in Kunst und Geschichte nicht zu denken wäre. Vgl. R. BULTMANN, „Die Bedeutung der alttestamentlich-jüdischen Tradition für das christliche Abendland“, in: DERS., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze II, Tübingen 1968, 236-245, hier 236-239. 177 Vgl. E. JÜNGEL, Glauben und Verstehen. Zum Theologiebegriff Rudolf Bultmanns (= SHAW.PH 1985,1), Heidelberg 1985, 9-10; [in Folge: E. JÜNGEL, Glauben und Verstehen]. Vgl. zu Glauben und Verstehen auch H. WEDER, „Glauben und Verstehen“, in: C. LANDMESSER (Hg.), Bultmann Handbuch, Tübingen 2017, 219-229. 176

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verstanden wird“.178 R. Bultmann arbeitet bei dieser Differenz besonders das „Neuverstehen von dadurch Altem“ heraus. Im Letzten geht es dem protestantischen Exegeten darum, wie sich der Mensch durch die rechtfertigende Gnade selbst versteht, die als „existentielles Verstehen meiner selbst“ aufzufassen ist.179 Die Ausführungen erinnern dabei an M. Luthers Bestimmung des Menschen als simul iustus et peccator, derzufolge der Mensch trotz seiner Verfallenheit in die Schuld der Gerechtfertigte ist. Es ist das Kerygma des Evangeliums, das zu einem „Neuverstehen von dadurch Altem“ führt, weil sich der Mensch, indem er die Rechtfertigung sola fide annimmt, durch die Botschaft des Evangeliums als der neue Mensch versteht.180 Darin besteht das Neue des Neuen, dass das Alte in einem neuen Licht geglaubt und verstanden wird, aber dadurch den Anspruch in sich trägt, über das Verstehensobjekt hinauszugehen. Glaube und Verstehen stehen in einem reziproken Verhältnis zueinander, insofern im Glauben das Selbst durch den Gottesbegriff und im Verstehen Gott durch das existentiale Selbstverständnis geklärt wird. Da für R. Bultmann aber eine Rede über Gott unmöglich ist, muss die Gottesrede im Glauben als Aussage Gottes erscheinen,181 weshalb Glaube und Verstehen auf das Kerygma angewiesen sind. Nur mit dem Kerygma der Christus178

H. V. SASS, Gott als Ereignis des Seins. Versuch einer hermeneutischen OntoTheologie (= HUTh 62), Tübingen 2013, 222; [in Folge.: H. V. SASS, Gott als Ereignis des Seins]. 179 Vgl. R. BULTMANN, Theologie des Neuen Testaments (UTB 630), durchges. und erg. von Otto MERK, Tübingen 91984, 587: „Das Wichtigste aber ist jene Grundeinsicht, daß die theologischen Gedanken des NT die Entfaltung des Glaubens selbst sind, erwachsend aus dem im Glauben geschenkten neuen Verstehen von Gott, Welt und Mensch, – oder, wie auch formuliert werden kann: aus dem neuen Selbstverständnis“ (Hervorhebung im Original); [in Folge: R. BULTMANN, Theologie des Neuen Testaments]. Vgl. dazu H. V. SASS, Gott als Ereignis des Seins, 222-223: „Denn wenn der Primat des Verstehens ernst genommen wird, wenn zudem dieser Primat auf das Selbstverständnis übergeht und wenn demnach gilt, dass man sich selbst schon immer irgendwie verstanden hat, kann es auf dem Terrain des Selbstverständnisses gar kein Neuverstehen im substanziellontologischen Sinn geben; denn ein neues Sich-selbst-Verstehen ist nicht die Entdeckung von zuvor vollkommenen Unbekanntem, sondern ein neues Verstehen dessen, von dem wir meinten, es längst verstanden zu haben. Das Selbstverständnis ist demnach nur in einem modal-hermeneutischen Rahmen möglich“. Siehe zum Verstehen auch D. KORSCH, Religionsbegriff und Gottesglaube. Dialektische Theologie als Hermeneutik der Religion, Tübingen 2005, 188-191; [in Folge: D. KORSCH, Religionsbegriff und Gottesglaube]; E. JÜNGEL, Glauben und Verstehen, 19-21, sowie K. HAMMANN, Rudolf Bultmann und seine Zeit, 222 und J. LAUSTER, Prinzip und Methode, 290-291. 180 Vgl. D. KORSCH, Religionsbegriff und Gottesglaube, 187. 181 Vgl. R. BULTMANN, „Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?“, in: DERS., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, Tübingen 71972, 26-37, 28; [in Folge: R. BULTMANN, „Welchen Sinn hat es“]. W. Hudson charakterisiert daher die Glaubensexistenz bei Bultmann phänomenologisch. Vgl. W. HUDSON, „Theology and historicism“, Thesis Eleven 116 (2013) 19-39, 24: „Bultmann attempted to provide a phenomenology of existence in faith, for which faith was a response to the illusion shattering crisis of hearing the Word of God“ (Hervorhebung im Original).

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botschaft ist die Garantie gesetzt, dass die Gottesrede von Gott selbst initiiert sei und Gott nicht zu einem Gegenstand des Verstehens verkomme. Gott ist die Wirklichkeit der Rechtfertigung und nicht die Wirkung der Rechtfertigung.182 Christliche Theologie reflektiert das Selbstverständnis des Menschen und wie er sich durch die Rechtfertigung in seiner Existenz neu versteht. Dies wird aber nicht darin ausgesagt, dass Theologie und Verkündigung etwas über Jesus Christus aussagen, sondern dass er selbst verkündet werden muss. Hier deutet sich bei R. Bultmann die Verschiebung von der Christologie zur Soteriologie an, indem primär das zum charakterbildenden Grund der Theologie wird, was der gläubige Mensch erfahren kann.183 In der Tat Gottes geschieht Offenbarung, weil der Mensch nur von den Wirkungen der Offenbarung und der Gottestat sprechen und glauben kann. „Offenbarung erschließt dem Menschen“ – so J. Lauster zu R. Bultmann – „eine innere Überzeugung und Gewißheit; durch die direkte Anrede des Kerygma eröffnet Gott dem Menschen ein neues Verstehen seiner selbst, es handelt sich also um ein Ereignis, das den Menschen trifft“.184 In diesem Sinn unterscheidet R. Bultmann in seinem Artikel „pisteu,w ktl“ den alttestamentlichen Glauben als ein Für-wahr-Halten vom neutestamentlichen Glauben als eine Übereignung des Kerygmas der Christusbotschaft in das eigene Leben hinein, wie es die Wortverbindung pi,stij eivj ausdrückt. Übereignung als Annahme des Kerygmas macht die neue Haltung der neutestamentlichen Heilsbotschaft aus, indem christlicher Glaube auf das Heilsgeschehen Gottes zurückblickt und nicht hoffend auf das ausgerichtet ist, was Gottes Heilshandeln bringen soll, denn „Christus ist Gottes eschatologische Tat, neben welcher andere den Glauben fordernde oder gründende Taten keinen Platz mehr haben. Wartet der Fromme des AT auf Grund der erfahrenen Taten Gottes auf sein ferneres Tun, so wartet der Fromme des NT nur noch darauf, daß das Heil, welches Gott schon gewirkt hat, voll zur Erscheinung komme. Christus ist Gottes letzte Tat, 182

Siehe R. BULTMANN, „Jesus Christus und die Mythologie“, 162. Vgl. H. V. SASS, Gott als Ereignis des Seins, 226: „Es ist eine folgenreiche Täuschung, für derartige Wirkungen stets nach einer personalen Ursache zu fahnden. Gott ist nicht die metaphysische UrSache des für den Menschen erfahrbaren Heils, sondern die für den Menschen heilsame Wirklichkeit eben dieser Wirkung“. Siehe auch E. JÜNGEL, Glauben und Verstehen, 2324. 183 Vgl. R. BULTMANN, „Welchen Sinn hat es“, 35-37. R. Bultmann kommentierend K.-H. MENKE, Das unterscheidend Christliche, 315: „Die Bedeutung des Christusereignisses besteht nicht in einem ,Was‘, sondern in einem ,Dass‘; sie ist gleichsam der Katalysator der Ek-sistenzialität der Existenz, des ,Über-sich-selbst-hinaus-Seins‘, das den Menschen befähigt, statt aus der Vergangenheit aus der Zukunft zu leben“. 184 J. LAUSTER, Prinzip und Methode, 284.

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die auch die Zukunft mit umfaßt […]“.185 Glauben als Annahme des Kerygmas bedeutet für R. Bultmann damit Christ-Sein und In-derWahrheit-Stehen, das ein Neu-Verstehen der menschlichen Existenz im Glauben und aus dem Glauben heißt. Menschliche Existenz versteht sich nicht von dem historischen Faktum Jesus Christus her, sondern vom Neuwerden im Jetzt durch die im Kerygma vermittelte Gnade. „Durch Jesus Christus“ – führt R. Bultmann aus – „ist also die Geschichte geteilt; er ist die Wende der Äonen, die kri,sij. Der neue Äon ist angebrochen, d.h. die Möglichkeit ist gegeben, im Glauben an ihn nicht von etwas Vergangenem, sondern von der Vergangenheit als solcher loszukommen, in jedem Jetzt neu zu beginnen, den Anspruch der Liebesforderung zu hören und zu erfüllen“.186 Das Neue im Glauben lässt sich damit nicht zeitlich einordnen, sondern es ereignet sich geschichtlich je neu, indem menschliche Existenz der Historie entrissen ist und wirklich geschichtlich wird, also glaubend wird. Zwischenbilanz Grundanliegen von F. Schleiermacher, A. v. Harnack und R. Bultmann, mit dem sich auch N. Slenczka identifiziert, ist, dass sie den christlichen Glauben nicht als Opposition zur Moderne verstanden wissen möchten, sondern ihn mit den Ansprüchen der Vernunft versöhnen wollen. Christlicher Glaube ist nicht unvernünftig und kann sich der Herausforderung der Moderne stellen, die in der historischen Forschung und Rückfrage ihren Ausdruck findet. Ist mit dem Kulturprotestantismus das reformatorische Schriftprinzip und die damit verbundene Inspirationslehre aufgegeben worden, so musste ein neues Verständnis des Glaubens und der biblischen Schriften gefunden werden. Es kann als Leistung dieser Epoche angesehen werden, dass sie die Theologie aus dem Korsett und der Partikularität einer Schultheologie befreit hat, um damit der universalen Botschaft des Glaubens den Dialog mit der Moderne zu ermöglichen. Öffneten sie damit die Theologie für die Weite der Vernunft, so engten sie jedoch die Sicht auf die Einheit der christlichen Bibel ein und übertrugen die Vorstellung von Partikularität und Universalität auf die ReligionsVgl. DERS., Art: pisteu,w ktl., in: ThWNT VI, 174-230, 218, 7-13; siehe auch ebd. 209,4-13: „pi,stij ist hier [im Christentum; Anm. d. Verf.] verstanden als die Annahme des christlichen Kerygma und damit als der Heilsglaube, der sich Gottes in Christus gewirktes Heilswerk anerkennend zu eigen macht. […] [D]er primäre Sinn von pisteu,ein im spezifisch christlichen Sprachgebrauch ist: Annahme des Kerygma von Christus […]. Dieser Sprachgebrauch erklärt sich daher, daß es sich zunächst um Missionsterminologie handelt […]“ (Hervorhebung im Original). Vgl. dazu auch E. JÜNGEL, Glauben und Verstehen, 32-34. 186 R. BULTMANN, Theologische Enzyklopädie, 135. Vgl. dazu auch K. W. MÜLLER, „Rudolf Bultmann und die Heilsgeschichte“, 697-699. 185

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geschichte. Altes und Neues Testament, Judentum und Christentum stehen nicht mehr in einer geschichtlichen Einheit, sondern erfahren eine Interpretation, die im Christentum mit seiner Botschaft einen absoluten Neueinsatz des Religiösen sieht, insofern es die vorangehende Geschichte übersteigt. Offenbarungsgeschichtliches Denken wird hier durch ein religionsevolutives Denken abgelöst, das auch durch den aufkommenden Positivismus des 19. Jahrhunderts geprägt ist, indem darin nicht mehr nach dem Gesamtzusammenhang der Geschichte, sondern nach dem historischen Ereignis und dessen Bedeutung gefragt wird. Im Anschluss an reformatorische Theologie ist es ein Grundanliegen der drei behandelten Vertreter des Kulturprotestantismus, dass sie die Unmittelbarkeit des christlichen Glaubens herausstellen wollen. Die Christusbeziehung kann nicht geprägt sein von einer Vermittlung durch die Kirche und deren Sakramente, ebenso wenig wie sie schon im Alten Testament vorgezeichnet sein kann. Vielmehr begegnet der Gläubige im Evangelium direkt Jesus Christus und seiner erlösenden Botschaft. Das christlich-fromme Bewusstsein, das Wesen des Christentums oder das Kerygma der Kirche ist damit nichts anderes als die absolute Vergegenwärtigung des erlösenden Zuspruchs der Rechtfertigung. Das Evangelium der Rechtfertigung besteht nicht in einer Werkgerechtigkeit, sondern ist die absolute und neue Christusbeziehung des Einzelnen. Der einzelne Mensch steht im Angesicht Christi und wird von seinem Evangelium gerechtfertigt. Daher muss es mit dem Evangelium Jesu Christi zu einem Neueinsatz der Religionsgeschichte kommen, da sich die Rechtfertigung nicht einfach auf eine ganze Religion oder Religionsgeschichte bezieht, sondern im Zuspruch der Erlösung für den Einzelnen, das die Trennung des Neuen Testaments vom Alten Testament nach sich zieht. Auch wenn viele Gedanken von N. Slenczka in den dargestellten Ansätzen zu finden sind, so muss doch davor gewarnt werden, eine direkte Gedankenlinie von F. Schleiermacher, A. v. Harnack oder R. Bultmann zum Systematiker des 21. Jahrhunderts zu ziehen. Die drei großen protestantischen Theologen sind gewiss für ihn Gesprächspartner, doch N. Slenczka zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er ihre Gedanken wahrnimmt und adaptiert. In seinen Überlegungen ist er immer auch darauf bedacht, seine Überlegungen vor dem Anspruch seiner Zeit zu rechtfertigen.

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2.

Bibelhermeneutische Voraussetzungen Notger Slenczkas

2.1.

Rezeptionshermeneutik und Intertextualität

Grundlegende Arbeitsweise moderner Exegese ist die historischkritische Methode, die neutral und soweit wie möglich ohne hermeneutische Voraussetzungen an die Texte heranzugehen und den Sinn der Texte in ihrem Ursprung zu finden versucht. Somit ist die leitende Frage der historisch-kritischen Methode die Autorenintention. Daneben wird aber seit einigen Jahrzehnten die Methode der Rezeptionshermeneutik wieder stark gemacht, die die Intention nicht nur am Ursprung sucht, sondern den gesamten Entwicklungsprozess eines Textes mitbeachten möchte, wobei der Rezipient in das Verstehen des Textes miteinbezogen wird.187 Das Verstehen eines Textes beschränkt sich dabei nicht mehr auf die Suche nach einem bestimmten Sinn. Vielmehr tritt eine Sinnpluralität auf und es kommt bei der Rezeptionsästhetik zu einem Zusammenspiel von „intentio auctoris, intentio operis, intentio lectoris“, wobei die Rezeption die „sinnkonstitutive Funktion des Interpreten“ mitbedenkt und die „These der eindeutigen Bestimmtheit von Texten […] damit zugunsten einer produktiven Unbestimmtheit verabschiedet [wird]“.188 Der Text wird im Verständnis der Rezeptionsästhetik nicht mehr einzig in der Sicht des Verfassers gelesen, sondern im Gesamthorizont seiner Interpreten. Damit bringt diese Auslegungsmethode eine Sinnpluralität mit sich, die durch die unterschiedlichen Interpreten bedingt ist. Jeder Interpret und jede Gruppe ist geprägt von eigenen Verstehensvoraussetzungen und -horizonten, die in die Auslegung der Texte einfließen. Interessanterweise zählt N. Slenczka eine kirchliche Auslegung, wie er sie im katholischen Verständnis ausmacht, nicht in den Bereich der Rezeptionshermeneutik, nach der es die Hierarchie der Kirche ist, die

187

Vgl. N. SLENCZKA, „Historizität und normative Autorität der Schrift“, in: C. LANDMESSER – E.E. POPKES (Hgg.), Verbindlichkeit und Pluralität Die Schrift in der Praxis des Glaubens (= Veröffentlichungen der Rudolf-Bultmann-Gesellschaft für Hermeneutische Theologie e.V., Leipzig 2015), 13-36, hier 25; „Der historische Umgang mit dem Text ist der Versuch, den Text dem willkürlichen Verfügen des gegenwärtigen Lesers zu entziehen und so nach dem immanenten Sinn des Textes bzw. der Intention des Autors zu fragen. Die rezeptionsästhetische Frage nach dem Sinn des Textes hingegen rechnet mit der Normativität der gegenwärtigen Wirkung“; [in Folge: N. SLENCZKA, „Historizität und normative Autorität“]. Zum Thema der Rezeption vgl. C. DANZ, Art.: Rezeption. IV. Systematisch-theologisch, in: LBH, 502-503 mit weiterführender Literatur; [in Folge: C. DANZ, „Rezeption“]. 188 Ebd. 502 (Hervorhebung im Original). Siehe auch O. WISCHMEYER, Hermeneutik des Neuen Testaments. Ein Lehrbuch (= NET 8), Tübingen – Basel 2006, 105, 154-156; [in Folge: O. WISCHMEYER, Hermeneutik des Neuen Testaments].

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den Sinn der Texte autoritativ festlegt. Slenczka folgt hierin M. Luther, der die Autorität des Papstes über die Schrift ablehnte. Die Rezeptionshermeneutik ist aber insofern umstritten, dass diese Auslegung den Texten und ihrem Literalsinn nicht gerecht wird. Einer der gravierendsten Einwände resultiert für den Berliner Theologen demnach aus dem jüdisch-christlichen Dialog: „Der Bund Gottes mit Israel besteht fort, und diesen ursprünglichen Bundespartner gibt es auch in der Gegenwart, nämlich das gegenwärtige Judentum und sein Anspruch, in ganz besonderer Weise Gegenstand des Handelns Gottes im Alten Testament und Adressat der alttestamentlichen Verheißung zu sein“.189 Christliche Theologien versuchen bisweilen die Bedeutung des Judentums und des ungekündigten Bundes in einem israelsensiblen Denken dahingehend auszulegen, dass die Heiden durch Jesus Christus in den ungekündigten Bund aufgenommen sind. Doch diese Lesart des Bundes Christi, aber besonders die Behauptung, dass die Heiden Zugang zum Bund Gottes mit Israel haben, lehnt N. Slenczka strikt ab. „Diese Position […] ist respektlos gegenüber dem Judentum und daher nicht akzeptabel“.190 Es entspricht nicht den Texten, dass sie hermeneutisch gegen ihren ursprünglichen Sinn gelesen werden. Das Christentum kann nicht einfach exegetisch das alttestamentliche Gesetz überspringen und in einer christlichen Interpretation den Anspruch auf den Bund erheben. Die Kanonizität von Texten unterstreicht dies nochmals, denn die alttestamentlichen Schriften sind kanonische Schriften des Judentums und damit zunächst der christlichen Interpretation entzogen, da der Kanon eine Begrenzung des Sinns ist, indem er einzelne Texte von der Interpretation durch weitere Texte und fremde Gruppen ausschließt. Aber diese Begrenzung gilt für N. Slenczka nicht nur für die Texte an sich, sondern ist auch auf die Ausleger auszuweiten. Der hebräische Kanon verlangt daher eine jüdische Auslegung, denn durch die Kanonisierung von Texten ist der Entstehungsprozess endgültig abgeschlossen und einer klar definierten Glaubensgemeinschaft zugeschrieben. Dieser Glaubensgemeinschaft kommt es als Adressat dieses Kanons zu, ihn legitim auszulegen. Der Text des Alten Testaments ist somit primär für das Judentum bestimmt, das in diesen Texten den Textsinn in ihrem Verstehenskontext auslegen muss. Als Ansprache an dieses konkrete Volk darf eine Rezeptionshermeneutik diese Schriften jedoch nicht in einen neuen Verstehenskontext übertragen. 189 N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 304. Vgl. auch DERS., „Rezeptionshermeneutik und Schriftprinzip. Bemerkungen zu einem ambivalenten Verhältnis“, in: M. WITTE – J. C. GERTZ (Hgg.), Hermeneutik des Alten Testaments (= VWGT 47), Leipzig 2017, 144-165, 146-150; [in Folge: N. SLENCZKA, „Rezeptionshermeneutik und Schriftprinzip“]. 190 Vgl. DERS., Vom Alten Testament und vom Neuen, 304.

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Eine weitere hermeneutische Methode unterstreicht N. Slenczkas Anliegen, die alttestamentlichen Schriften als hebräischen Kanon anzusehen. In der Vielfalt der Rezeptionshermeneutik spielt die Intertextualität eine wichtige Rolle, die sich den Texten in ihrer Zusammenstellung zuwendet. Dabei betont die Intertextualität auch die Bedeutung der historisch-kritischen Methode, der sich N. Slenczka verpflichtet fühlt. Ist für die Rezeptionshermeneutik besonders der synchrone Text das zu befragende Medium, so bezieht die Intertextualität auch den diachronen Text mit ein. „Intertextualität als historischer Methodenschritt“191 versucht also einen Einzeltext durch Hinzunahme anderer Texte zu erklären. Es geht dabei um die Frage, inwiefern andere Texte einen Text in seiner Entstehung und damit in seinem Sinn beeinflusst haben. In diesem Verständnis der Intertextualität kann das Neue Testament als Relecture des Alten Testaments gelesen werden. Damit stehen beide Testamente aber in einem engen, wenn nicht sogar einschließenden Zusammenhang: Das Jüngere ist so gesehen Relecture des Älteren. Die Frage nach dem Sinn der Texte wird damit auch im Zusammenhang einer Relecture gesehen, indem der Textsinn durch eine Zusammenschau der ganzen Entstehungsgeschichte gefunden werden soll: „Wie ein Wort seinen Sinn im Kontext eines Satzes und dieser seinen Sinn im strukturierten Zusammenhang eines Textes gewinnt, so haben ein Text und seine Worte ihren Sinn nicht in sich, sondern gewinnen ihn im Universum weiterer Texte. Der ‚Tod des Autors‘“ – so folgert N. Slenczka – „ist die Aufmerksamkeit auf dieser Unbestimmtheit des Sinnes im Schreiben“.192 Der Berliner Systematiker merkt hier zur „Intertextualität als historischer Methodenschritt“ kritisch an, dass damit die Rolle des Autors übergangen wird, denn die Relecture setze ein größeres Augenmerk auf den Leser als Produzent eines Textes. „Der Text steht in sich wandelnden Referenzräumen weiterer Texte und gewinnt so einen immer wieder neuen Sinn“.193 Damit ist jeder 191 Ebd. 236. Zur weiteren Vertiefung und Definition von Intertextualität siehe: O. WISCHMEYER, Hermeneutik des Neuen Testaments, 187-190. 192 N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 238. Für J. v. Oorschot zeigt für die Intertextualität, dass biblische Texte an sich eine Offenheit und Mehrdeutigkeit in sich haben, die durch die verschiedenen Kontextualisierungen dann im Kanon ihren Niederschlag finden. Vgl. J. V. OORSCHOT, „Kann Erinnerung normativ sein oder werden? Orientierungen eines Alttestamentlers in der Debatte zum biblischen Kanon“, in: C. LANDMESSER – A. KLEIN (Hgg.), Normative Erinnerung. Der biblische Kanon zwischen Tradition und Konstruktion, Leipzig 2014, 71-99, 77 [in Folge: J. V. OORSCHOT, „Kann Erinnerung normativ sein oder werden“]. 193 N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 238. N. Slenczka weist auch darauf hin, dass eine liturgische Intertextualität der Sonntagslesungen eigentlich nicht möglich ist, da jeder mit einem anderen Verstehenshorizont die Texte liest und diese durch die Kirche bereits vor-normiert sind: „Dass ausgerechnet die paar Lesungen des

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Aufwand umsonst, nach einem ursprünglichen Textsinn zu fragen. Der Sinn eines Textes wird durch das Lesen gebildet; selbst ein Autor unterliegt der Intertextualität, da ein Text nicht mehr Ausdruck seines Innersten ist, sondern der Niederschlag der Referenzräume, in denen er sich bewegt. Der Sinn eines Textes ist der Schnittpunkt von Referenzen, die erst im Lesen konstitutiv werden. Intertextualität erzeugt also eo ipso eine Sinnpluralität, die auch von der ursprünglichen Autorenintention abweichen kann, die nicht mehr normgebend sein muss. Der Sinn der Texte wird in der geschichtlich-kulturellen Bedingung des Textes erfragt und erforscht. N. Slenczka warnt aber davor, dass in dieser Pluralität der Sinne dem Alten Testament durch das „christliche Lesen“ ein christologischer Sinn „ein-gelesen“ wird, der als der ursprüngliche Sinn der Texte gelten soll, als ob das Lesen dem Text einen weiteren Sinn zufügen könnte, von dem der Autor des Textes noch nichts geahnt hat, so wie es die katholische sensus plenior-Lehre vertritt. So können Christen zwar in den Gottesknechtsliedern bei Jesaja den leidenden Jesus in seiner Passion erkennen; die historische Kritik fragt dagegen, ob dies auch dem Ursprungssinn entsprechen könne. Durch das Faktum der Sinnpluralität, die durch die unterschiedlichen Hermeneutiken entsteht, kann natürlich das Alte Testament als Hinweis auf das Christusereignis gelesen werden, denn „[d]er Sinn eines Textes stellt sich beim Lesen ein; die These, dass der Text seiner Interpretation voraus einen immanenten, normativen Sinn hat, ist hermeneutisch naiv“.194 Versucht die Rezeptionshermeneutik den aktuellen Leser in die Sinngenerierung einzubeziehen, so möchte die Intertextualitätshermeneutik mit Hilfe der historisch-kritischen Methode das geschichtlich-kulturelle Umfeld der Texte in der Entstehung miteinbeziehen und damit fragen, was ein Text dem damaligen Leser, der aus diesem Umfeld stammt, gesagt haben kann. N. Slenczka denkt die Intertextualität weiter. Er möchte die Intertextualität als historischen Methodenschritt, der die Texte nur aufeinander bezogen liest, fortführen. Sofern diese Hermeneutik dem protestantischen Formprinzip verpflichtet ist, kommt für ihn noch eine dritte Dimension der Intertextualität zum Tragen. Das Prinzip sola scriptura bestimmt hierbei die Interpretation. Mithilfe der Intertextualität versucht der Berliner Systematiker zum einen das Sonntags, oder dass die kanonischen Texte der zweiteiligen Bibel der wechselseitig dialogische Erschließungskontext der Einzelperikopen sind, ist kein Modell der Intertextualität, sondern eine (bestenfalls realitätsblinde, schlimmstenfalls herrschaftsförmige) Limitation der Intertextualität. Das ursprüngliche Programm einer Pragmatik der Intertextualität ist gerade die Gegeninstanz normativer Kontextvorgaben und kann zur Rechtfertigung solcher faktischen Normierungen des Lesens nur per nefas in Anspruch genommen werden“; ebd. 239-240. Zur Sinnpluralität von Texten vgl. ebd. 302. Vgl. auch DERS., „Rezeptionshermeneutik und Schriftprinzip“, 153 194 DERS., Vom Alten Testament und vom Neuen, 303.

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Gewicht der Schrift als Text im Umfeld anderer Texte zu wahren, aber auch den Leser als dritte Dimension miteinzubeziehen. Biblische Texte sollen vor allem intertextuell gelesen werden, wenn das Referenzobjekt der biblischen Texte das eigene Leben ist, das durch die Schrift gedeutet und gewandelt wird. Voraussetzung dafür ist, dass der Text einen Sinn ergibt, welcher den Texten ursprünglich ist. So kommt N. Slenczka in seinen Überlegungen zu folgendem Schluss: „Die Feststellung Luthers, dass die Schrift Gesetz und Evangelium sei oder enthalte, hebt eben nicht auf Autorenintentionen oder auf dem Wege historischer Forschung erhebbare Sinngehalte ab, sondern darauf, dass die Schrift in bestimmter Weise am gegenwärtigen Leser wirkt. Dass die Schrift sich selbst, nämlich als Evangelium, auslegt, lässt sich als Grundelement einer Texttheorie plausibilisieren und ist keine besondere Qualität eines in besonderer Weise vom Heiligen Geist erfüllten Textes. […] Im Kontakt mit dem Leser erweist sich die Schrift als ein Medium der Realpräsenz Christi, der sich einzeichnet in die Leiblichkeit und in die Weltbezüge des Lesers“.195

In dieser erweiterten Sicht der Intertextualität wird bedeutend, was der Text im Leser auslöst und bewirkt. Nicht mehr allein der Textsinn, der dem Leser gegenübersteht, soll gehoben werden, sondern auch der Textsinn, der den Leser und dessen Leben affektiv betrifft und ihn bestimmt, weil er ihm vorausgeht. M. Luther wollte die biblischen Texte so verstanden und gelesen wissen, dass sie eine Wirkung auf das Leben des Lesers haben. Darum insistiert der Reformator so sehr auf den Literalsinn, da gerade dieser das Eigentliche des Textes aussagt. Erst durch den Schrifttext wird das eigene Leben verstanden, weil das Lesen der Evangelien einen existentiellen Sinn bekommt. Der Leser eines Textes „wird damit in das Bewusstsein, bedingungslos mit diesem Leben Jesu eingeschrieben und er wird zum Glauben – zum Verstehen seiner selbst nicht aus dem vorfindlich Wahrnehmbaren seiner Biographie, sondern aus einer fremden Biographie aufgefordert. Er wird damit in das Bewusstsein, bedingungslos mit diesem Leben Jesu beschenkt zu sein, gestellt – eben: Bewusstsein der schlechthinnigen Abhängigkeit oder frommes Selbstbewusstsein: Unter diesem Stichwort geht es nicht um irgendwelche Gefühle des modernen Menschen, sondern darum, dass ein Mensch das eigene Leben unter dem Vorzeichen des Gegensatzes des Bewusstseins der Sünde und des Bewusstseins der Gnade versteht […]“.196

Wo das Wort eines Textes das ganze Leben betrifft, dort handelt das Wort Gottes. Hier kann der Leser dieses Wort Gottes verstehen. Das Wort der Schrift führt ihn durch seine Wirkung zum Verstehen und es

195 DERS., „Historizität und normative Autorität“, 24. Siehe auch F. STENGEL, Sola scriptura im Kontext, 115. 196 N. S LENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 247.

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hat die Kraft, das Leben von Innen heraus zu wandeln und der Hörer des Wortes hat die Kraft es im Leben umzusetzen. Die Intertextualität, die den Leser miteinbezieht, belebt den Menschen mit dem Geist der Buchstaben. In diesen Texten vermag der Leser sein Leben in der Flucht des christlich-frommen Selbstbewusstseins zu durchleuchten. Dieser Vorgang kann mit R. M. Rilke beschrieben werden, wie er ihn beim Betrachten einer Skulptur gemacht hat: „denn da ist keine Stelle, / die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern“.197 So hat jeder, der die Schrift liest, Texte, die ihn besonders ansprechen und die ihn in seinem Leben so im Innersten berühren, dass es zu einer Änderung in seinem Leben kommt. In ihnen findet er das wieder, was sich in seinem christlich-frommen Selbstbewusstsein vollzieht. Verstehen von biblischen Texten ist somit ein Vorgang, den der Glaube bereits im Inneren des Menschen vorbereitet hat und bewirkt. Im Verstehen der biblischen Texte, die das Leben des Lesers betreffen, versteht der Leser aber nicht nur den Sinn der biblischen Botschaft, sondern mehr und mehr wird das Verstehen des Wortes Gottes auch zu einem Verstehen seiner selbst. Der Mensch erkennt sich als der erlösungsbedürftige – unter dem Gesetz stehende – Mensch, der die Gerechtigkeit – das Evangelium Christi – zugesprochen bekommt.198 Es ist nicht mehr die Gemeinschaft, die im Glauben auf der Suche nach dem Sinn der biblischen Texte ist, sondern der einzelne Mensch erfährt den Sinn der Texte an sich: Das Evangelium vollzieht sich im Leben des Menschen, indem er sich mit seiner Erfahrung dem Wort aussetzt und sich vom Wort der Bibel, besonders aber vom Wort des Evangeliums deuten lässt: Die Pluralität der Rezeptionshermeneutik wird zur Individualität der Intertextualität. Die Erfahrung des Evangeliums im eigenen Leben ist dann auch die Haltung gegenüber anderen biblischen Texten, die schwer zugänglich sind, denn „[d]iese Texte [die einen Leser in seinem Leben ansprechen; Anm. d. Verf.] sind wichtiger als die anstößigen und haben eine höhere Überzeugungskraft und wohl auch einen höherwertigen normativen Anspruch“.199 Die intertextuelle Erfahrung im christlichen Selbstbewusstsein ist die angemessene Suche nach dem Sinn der Texte, denn alle anderen Hermeneutiken führen für N. Slenczka nicht zum

197 R. M. RILKE, „Archaïscher Torso Apollos“, in: DERS., Sämtliche Werke, Band 1. Gedichte, E. ZINN (Hg.), Frankfurt a. M. 1955, 557. 198 Vgl. N. S LENCZKA, „Historizität und normative Autorität“, 31: „Einen Text verstehen bedeutet damit: selbst zu sehen. Geleitet von dem Text sich selbst bzw. die einem selbst erschlossene Welt in ihm wiederzuerkennen – in diesem Sinne ist in der Tat, wie Platon formuliert, das Lernen ein Erinnern; und Bultmanns Begriff des Vorverständnisses bringt diesen Charakter des Verstehens als Bedingung des Verstehens auf den Begriff“. 199 DERS., Vom Alten Testament und vom Neuen, 313.

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Ziel.200 Damit relativiert der Berliner Systematiker aber seinen eigentlichen Ausganspunkt, das sola-scriptura-Prinzip, indem er den Akzent auf die Wirkung des Textes im Leser verlegt. Argumentiert er mit dem Schriftprinzip gegen die Normativität des Alten Testaments, da das Schriftprinzip dieser Schriften gerade die Zugehörigkeit zum Volk Israel ausdrücken, so wäre hier die Anfrage an N. Slenczka zu stellen, ob nicht gerade die intertextuelle Wirkung auf den Leser den alttestamentlichen Texten nicht doch einen höheren Rang als eine apokryphe und dekanonisierte Zuordnung zum Neuen Testament zusprechen müsste. 2.2.

Kanonisierung und Kanonverständnis

Mit der Aufklärung begann auch das Zeitalter der historischen Rückfrage. Nicht nur die biblischen Texte wurden mit einer langsam sich entwickelnden Methode untersucht, sondern auch das religionsgeschichtliche Interesse wuchs. Mit der historischen Methode und religionsgeschichtlichen Arbeiten wurde versucht zu klären, wann genau es zu einer Spaltung von Judentum und Christentum kam. Heutige Forschung kommt zu dem Schluss, dass ein eigenständiges Christentum erst ab dem 3. Jahrhundert als sich langsam zur eigenen Identität entwickelnden Religionsgemeinschaft angesehen werden kann.201 Wann es genau zu einer Trennung zwischen Judentum und Christentum gekommen ist, lässt sich heute nicht genau feststellen. Kann man bis 70 n. Chr. fest vom gemeinsamen Besuch des Tempelgottesdienstes ausgehen, so lässt sich dies für die Synagogengottesdiente heute nicht mehr nachweisen. Dabei ist mitzubedenken, dass die fertige Identitätsdifferenz erst im Nachhinein

200

Vgl. DERS., „Historizität und normative Autorität“, 36: „Damit ist die […] profilierte Alternative einer produktions- oder rezeptionsästhetischen Hermeneutik als Alternative obsolet. Die Grenzen einer Rezeption sind nicht die Grenzen der Autor- oder Textintention, sondern die Grenzen des schlüssigen – einleuchtenden, nachvollziehbaren, in Lebensvollzug übersetzbaren – Verständnisses seiner selbst, das die Texte generieren“. 201 Vgl. ebd. 89. Slenczka weiter: „Entscheidend ist die in allen diesen Forschungsimpulsen leitende These, dass das Verhältnis von Christentum und Judentum nicht von vornherein das Verhältnis zweier Religionsgemeinschaften war, sondern sich das Christentum über längere und entscheidende Zeiträume hinweg als Teil Israels verstanden hat und in einem entsprechend nichtexklusiven, vom Bewusstsein der Einheit getragenen Debattenzusammenhang mit dem zeitgenössischen Judentum stand“. In dieser Folge kann man auch erst ab dem 2. Jahrhundert von einem sich entwickelnden Schriftkanon des Christentums sprechen, da sich damit auch die Frage stellt, welche Texte als sinnstiftend gesehen werden können. Darum ist die Entstehung eines Kanons immer auch ein „Bewahrungsakt“ und eine „Schutzfunktion gegenüber Fehlerquellen“. Dazu W. KÜNNETH, Art.: Kanon, in: TRE 17, 562-570, hier 563; [in Folge: W. KÜNNETH, „Kanon“].

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des Trennungsprozesses zu fassen ist.202 Trotz einer unterschiedlichen Entwicklung werden im entstehenden Christentum die alttestamentlichen Schriften dennoch als Norm herangezogen, um Lehre und Leben zu interpretieren. Somit stellt sich die Frage, warum diese Schriften dann kanonisch sein können bzw. warum nicht. Mit den heutigen Einsichten der Forschung kann gesagt werden, dass es keine lineare Kanonisierung der hebräischen Schriften gab. Vielmehr begründen die Texte die Kanonizität im Zueinander. „Die Fixierung des Kanons ist die Definition der Texte, die in dieser Kommunikation einander wechselseitig in ihrem Sinn bestimmen“.203 Entscheidend ist die Frage, wann es im Judentum zu einem festen Kanon gekommen ist. Ist der jüdische Kanon im 1. Jahrhundert noch offen oder kann man schon von einem festen hebräischen Kanon ausgehen? Die Frage danach ist von Bedeutung, da sich daran zeigt, ob sich das Christentum auf einen fixen, vielleicht noch leicht variierenden Kanon oder vielmehr auf einen sich in Abgrenzung entstehenden, also noch nicht festgesetzten Kanon beziehen kann.204 In jede Kanonbildung spielen theologische Absichten hinein, da mit der Kanonbildung das Selbstverständnis einer Gemeinschaft abgegrenzt und definiert wird. Dies ist bei der Bildung des Pentateuchs gegeben und dies spiegelt sich wider in der Diskussion, ob das Alte Testament mit den Chronikbüchern oder dem Buch Maleachi endet, und zieht sich hinauf bis zur kanonischen Anordnung der Bücher bei M. Luther. Ein Text kann nämlich erst dann identitätsstiftend werden und wirken, wenn seine Genese zu einem Abschluss gekommen ist. Damit erreicht er erst seine autoritative und normierende Größe für eine Bezugsgruppe.205 N. Slenczka positioniert sich in der Debatte um die Datierung des hebräischen Kanons und plädiert für eine Frühdatierung des Kanons, der schon zur Zeit des Urchristentums relativ 202

Vgl. N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 93-94. N. Slenczka weist zu Recht darauf hin, dass die Frage nach dem Prozess der Trennung von Judentum und Christentum und damit die Frage nach der Kanonisierung der Texte wesentlich geprägt ist vom heutigen Verstehenshorizont und gegenwärtigen Interessen. 203 Ebd. 98. 204 Vgl. ebd. 94-100, 103 mit den entsprechenden Autoren- und Literaturhinweisen für die diese Sichtweise. Für eine Spätdatierung des Kanonabschlusses werden z.B. H. Gese, B. Childs, J. Sanders und A. Gunneweg angeführt. Nach ihnen ist der Prozess im 1. Jahrhundert noch offen, der im Judentum und im Christentum zu einem unterschiedlichen Abschluss kommt. Das Christentum stellt in diesem Prozess bewusst den alttestamentlichen Schriften die neutestamentlichen Schriften an die Seite, liest aber den ganzen Kanon auf ihren ekklesiologischen und christologischen Sinnhorizont hin. Ebenfalls für einen unabgeschlossenen jüdischen Kanon vor dem 1. Jahrhundert n. Chr. G. HENTSCHEL, „Ist die jüdische Bibel ein christliches Buch?“, in: C. BULTMANN – C.-P. MÄRZ – V. MAKRIDES (Hgg.), Heilige Schriften. Ursprung, Geltung und Gebrauch, Münster 2005, 31-40, 35-37. 205 Vgl. N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 101-103.

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abgeschlossen war.206 Natürlich sieht auch die Frühdatierung, dass zur Zeit der Entstehung der neutestamentlichen Schriften der hebräische Kanon noch nicht exakt in seiner heutigen Form gegeben war. Aber die ersten beiden Teile des Tanach – also Pentateuch und Propheten – gelten als fester Bezugsrahmen für die entstehenden christlichen Texte. Das Christentum sieht sich damit in seiner Entstehung und der Entwicklung des eigenen Schriftkanons einem bereits festen jüdischen Kanon gegenüber. „Die in der Kirche aufgestellten Listen verbindlicher Bücher, die seit dem zweiten Jahrhundert formuliert werden, hätten dann für das Neue Testament eine in anderem Sinne konstitutive Funktion als für das Alte, das in diesen Listen vorausgesetzt und nur bestätigt wird […]“.207 Dort aber, wo ein fester Textbestand gegeben ist, beziehen sich jüngere Texte auf diesen. Die neutestamentlichen Referenzen müssen daher weniger als Versuch der Anbindung der hebräischen Schriften an diese sein, als vielmehr die bewusste Kommentierung und die damit gegebene Fortschreibung. Es geht in der neutestamentlichen Kanonbildung nicht so sehr darum, dass ein bereits vorliegender Kanon nachgeahmt wird, sondern dass dieser Kanon ausgelegt wird, was G. Theißen als negative Definition von Kanon bezeichnet.208 206

Ebd. 105: „Das würde bedeuten, dass zur Zeit der Abfassung der neutestamentlichen Schriften bzw. der Kompilation der Evangelientraditionen bereits ein relativ abgeschlossenes Korpus als normativ geltender Schriften bestand“. Als Hinweis dienen 4 Esr 14,44 und Josephus, Contra Apionem 1,7,38, womit gezeigt sein soll, dass normative Schriften bereits um 90 fest bekannt waren und somit schon eine geraume Zeit früher festgelegt sein mussten. C. Dohmen und M. Oeming zeigen, dass bei der Datierung der Kanonizität der hebräischen Schriften Exegeten bei gleicher Quellenlage zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, die vom 2. Jahrhundert v. Chr. bis zum 2. Jahrhundert n. Chr. reichen. C. DOHMEN – M. OEMING, Biblischer Kanon, warum und wozu? Eine Kanontheologie (= QD 137), Freiburg – Basel – Wien 1992, 91-92; [in Folge: C. DOHMEN – M. OEMING, Biblischer Kanon]. Beide Autoren plädieren dagegen für einen kanonischen Prozess in den Schriften selber, der sich weit vor einer endgültigen Kanonisierung abspielt, indem diese Schriften sehr früh eine besondere Bedeutung für jüngere Schriften hatten. Einer äußeren – und damit endgültigen – Festlegung der Schriften, geht damit eine innere, sich wandelnde, aber mit theologischer Bedeutung versehenen Festschreibung voraus. Ebd. 93: „Gewiß ist unbestreitbar, daß dieser Prozeß [der inneren Festschreibung; Anm. d. Verf.] durch äußere Faktoren forciert wurde, insbesondere im 2. Jh. nach Chr., und zu einem definitiven Abschluß kam, so dass ‚kein Häkchen und kein Jota‘ mehr geändert werden durften. Aber die Wurzeln liegen mehr als ein Jahrtausend früher, und große und wesentliche Teile sowohl des Pentateuch-, des Propheten- als auch der Schriftenkanons lagen gleichsam ‚von Anfang an‘ längst fest“. Mit dem Bild einer über Jahrhunderte hin entstandenen Kathedrale unterstreichen beide Autoren aber, dass es dann doch die Letztgestalt eines Bauwerks ist, das heute fasziniert und wertvoll ist, was mutatis mutandis auch für den hebräischen Schriftkanon gelten soll; ebd. 97. 207 N. S LENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 107. 208 G. THEISSEN, „Wie wurden urchristliche Texte zur Heiligen Schrift? Kanonizität als

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Wie ist aber nun die Entstehung des christlichen Neuen Testaments und damit des genuin christlichen Kanons zu verstehen? Neutestamentliche Schriften werden in den Kanon aufgenommen, wenn sie dem Formkriterium der Apostolizität entsprechen. Dahinter steht die Annahme, dass die Apostel (zusammen mit Paulus) direkte Zeugen von Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi waren und damit in besonderer Weise die Gabe des Geistes besaßen. Zu diesem Formalkriterium kommt aber noch das Materialkriterium hinzu: Kanonisch ist im Neuen Testament eine Schrift dann, wenn durch sie das Evangelium Jesu Christi rein verkündigt wird.209 Mit der Frühdatierung der hebräischen Schrift steht für N. Slenczka fest, dass es einen „Kanon nur in der Unterschiedenheit zweier Textkorpora“ gibt.210 Das, worauf sich die Autoren neutestamentlicher Schriften beziehen, ist bereits ein fester normativer Bestand hebräischer Schriften, der durch die neu entstehenden Schriften vielmehr interpretiert als fortgeschrieben wird. Der langsam entstehende neutestamentliche Kanon definiert sich nicht mehr entsprechend den Kriterien der hebräischen Schriften, die mit dem festen Bestand des Tanach vorlagen, sondern folgt den eigenen Formkriterien in der Schaffung eines eigenen Kanons. Als Beleg dafür sieht N. Slenczka die Tatsache, dass die Grenze zwischen dem christlichen Alten und Neuen Testament nicht verwischt wird, sondern jeder Textkorpus für sich

literaturgeschichtliches Problem“, in: E.-M. BECKER – S. SCHOLZ – O. WISCHMEYER (Hgg.), Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion. Kanonisierungsprozesse religiöser Texte von der Antike bis zur Gegenwart. Ein Handbuch, Berlin – Boston 2012, 423-447., 423-424; [in Folge: G. THEISSEN, „Wie wurden urchristliche Texte zur Heiligen Schrift“]. Vgl. auch N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 108-109. 209 Vgl. ebd. 297-298. Prägnant zusammengefasst ist die These gegen eine Kanonizität des Alten Testaments aufgrund des christologischen Bezugs zu lesen in ebd. 298: „Kanonizität bedeutet, dass bestimmte Schriften normativen Rang haben, weil sie apostolisch sind, und apostolisch könnte man so übersetzen: Sie sind, auch wenn sie historisch nicht alle von Aposteln oder Apostelschülern stammen, doch ursprungsnahes Zeugnis vom Evangelium von Jesus Christus“. Vgl. auch ebd. 311-312. Für G. THEISSEN, „Wie wurden urchristliche Texte zur Heiligen Schrift“, 424 kommen zur Apostolizität noch der Transzendenzbezug und dem folgend der gottesdienstliche Gebrauch der Schriften hinzu, damit sie als kanonisch, d.h. als normative Basis gelten können. Gerade die Apostolizität der Schriften war für die ersten Generationen des Christentums Garant dafür, dass in diesen Schriften eine Unmittelbarkeit und Direktheit zur Offenbarung Gottes gegeben ist. „Da die ‚apostolische Präsenz‘ sich stets in ihrem Zeugnis aktualisiert, wird ihre Stimme identisch mit der Stimme des Deus revelatus, mit der Stimme des ‚Wortes Gottes‘ als Organ des Heiligen Geistes“; W. KÜNNETH, „Kanon“ 564. J. v. Oorschot fokussiert sein Kanonkriterium auf alttestamentliche Schriften und stellt neun Kriterien für die Kanonizität auf, die er anhand der Qumranforschung präzisiert. Diese sind jedoch weitaus allgemeiner gehalten, wie Autoritätsaussagen, Übersetzungen oder Anzahl der Manuskripte u.a. J. V. OORSCHOT, „Kann Erinnerung normativ sein oder werden“, 79-8. 210 N. S LENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 109.

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bleibt.211 Durch die Frühdatierung der hebräischen Schriften als Glaubenszeugnis für Israel will N. Slenczka hinreichend ausschließen, dass sie Zeugnis für Jesus Christus sein können und so auch von den ersten Christen nicht in diesem Sinne gelesen und verstanden wurden. Der Tanach war zwar Verstehensschlüssel für das Christusereignis, aber kein notwendiger Bezugspunkt für dessen Erklärung. Unterstützung findet seine These in der De-kanonisierung der neutestamentlichen Schriften durch die historisch-kritische Methode, für die der neutestamentliche Kanon eine spätere Folge ist. Der Kanon ist ein sekundärer Schritt, der der mündlichen Verkündigung folgt. Dem bleibt Rechnung zu tragen, dass vor dem schriftlichen Zeugnis das Wort Jesu und die Predigt der Apostel stehen und das Kanonische des Kanons zunächst eine Leerstelle bildet, die durch eine Kriteriologie gefüllt werden muss, die für das frühe Christentum auch nicht der beginnende Kanonisierungsprozess der Juden sein kann. Erst in einem zweiten Schritt wird die Autorität der Verkündigung auf die Texte übertragen, so dass diese Texte mit der Autorität Jesu und der Apostel das Evangelium bezeugen. Die Doppelstruktur von Wort Jesu und Verkündigung der Apostel schlägt sich dann im neutestamentlichen Kanon in der Doppelstruktur von Evangelium und Briefen nieder. Aber mit dieser Doppelstruktur ist im neutestamentlichen Kanon eine unabhängige Form gefunden, die kein Vorbild im hebräischen Kanon hat. Damit setzt sich das Neue Testament auch von den hebräischen Schriften formal ab, weil in ihnen die Konzentration auf eine Person gerichtet ist. Daraus kann gefolgert werden, dass sich das Neue Testament durch neue Literaturformen bewusst absetzt, um in der Verschriftlichung und Kanonisierung dieser Texte ein neues und eigenes Ziel erfüllen zu können.212 211 Vgl. ebd. 110. Dadurch, dass die hebräischen Texte als Kommentierungsgrundlage vorlagen, wurden sie vom Urchristentum als normative Texte angenommen und in Ehren gehalten. Diese frühchristliche Normativität der Schriften gilt solange, bis das Christentum selbst normative und damit identitätsstiftende Schriften hat. Diese frühe Normativität stellt N. Slenczka nicht in Frage (vgl. dazu ebd. 111), auch wenn er in früheren Schriften sich noch für eine christologische Sinnstiftung des Alten Testaments aussprechen konnte. Vgl. dazu DERS., Tod Gottes, 108: Das Alte Testament „behält in der isolierten Betrachtung, zu der der Historiker verpflichtet ist, seinen Sinn als Textkorpus, das vielfältigen Kontexten entstammt und zunächst die religiöse Identität das nachexilischen Judentums normiert und stabilisiert. Es erhält aber als Text der zunächst sich als Juden verstehenden christlichen Kirche und in der Einheit mit dem NT einen neuen Sinnhorizont, indem es über sich selbst hinaus ein Moment in der Grundbewegung des NT – der Predigt von Christus – wird. Dieser Prozess der Reinterpretation durch Rezeption ist als Verhältnis der wechselseitigen Identitätsstiftung zu deuten […]“. 212 Siehe dazu G. THEISSEN, „Wie wurden urchristliche Texte zur Heiligen Schrift“, 426427. Besonders zur Differenz des Formkriteriums zwischen hebräischen Schriften und Neuem Testament siehe ebd. 428-430, wo G. Theißen prägnant zusammenfasst: „Die

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Für das Urchristentum war Jesus Christus Ziel der alttestamentlichen Schriften und der Geschichte. In dieser Hinsicht kann sich das Urchristentum auf das Alte Testament beziehen und diese Schriften deuten, aber nicht als glaubensstiftend heranziehen. Jesus Christus ist in seiner Bedeutung eben nicht als Mitte der alttestamentlichen Schriften zu sehen, worauf diese Texte konsequent abzielen, sondern er wird nachträglich und von außen in die hebräischen Texte hineingelesen. N. Slenczka interpretiert dieses Voranschreiten vom Alten Testament zum Neuen als „Wegmodell“ mit der Implikation, dass das „hermeneutische prius zum Verständnis eines Weges […] das Spätere, nicht das Vorangestellte […]“ ist.213 Damit kann das Urchristentum die hebräischen Schriften christologisch lesen, da sie vom Ziel, von Christus her, diese Wegestrecke der Schriften interpretieren. Was Weissagung ist, erklärt sich schon wie bei R. Bultmann von der Erfüllung her und nicht umgekehrt, insofern die Weissagung für die Erfüllung bestimmend ist. In dieser Leserichtung entwickelt sich dann auch ein Verständnis für die Kanonizität der neutestamentlichen Schriften. Setzten sie sich formgeschichtlich von hebräischen Texten ab, so rekurrieren sie im Transzendenzbezug, im kultischen Gebrauch und in der Abgeschlossenheit als Sammlung auf das hebräische Verständnis von Kanonizität. Nimmt man noch die apostolische Dimension eines Kanonkriteriums hinzu, so kann in der christologischen Lesart des Kanons mit W. Künneth gefolgert werden: „In der apostolischen Perspektive des Kanons erschließt sich das christologisch-soteriologische und zugleich trinitarische Zentrum aller Schriftaussagen. In dieser damit durch die Schrift selbst gesetzten ‚Mitte‘ (dies ist recht verstanden und theologisch verantwortbar auch mit dem Begriff ‚Kanon im Kanon‘ gemeint) liegt der eigentliche wesenhafte Deuteschlüssel für die biblische Offenbarungsdimension“.214 Formen des Alten Testaments sind literaturgeschichtlich nicht ihr [der neutestamentlichen Schriften; Anm. d. Verf.] Modell. Die neutestamentlichen Schriften entstanden nicht, um eine erweiterte Ausgabe des Alten Testaments zu schaffen“. Siehe auch M. WOLTER, „Die Vielfalt der Schrift und die Einheit des Kanons“, in: M. WOLTER – J. BARTON (Hgg.), Die Einheit der Schrift und die Vielfalt des Kanons / The Unity of Scripture and the Diversity of Canon (= BZNW18), Berlin - New York 2003, 45-68, hier 51-52; [in Folge: M. WOLTER, „Vielfalt der Schrift“]. 213 N. S LENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 118-119, 300-301. 214 W. KÜNNETH, „Kanon“ 565. Folgert W. Künneth daraus, dass gerade diese christologische Mitte des Kanons Garant für die Einheit der Schrift ist, da auch das Alte Testament „nur in der Sicht der trinitarischen Offenbarung […] speziell von der Christusmitte des Neuen Testaments“ kanonisch gelesen werden kann. Dagegen sieht N. Slenczka in der christologischen Mitte gerade den Grund der Absetzung des Neuen Testaments von den hebräischen Schriften. Siehe N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 123-124. Kritisch sieht T. Söding das Konzept des Kanons im Kanon, das nur „in einer Sackgasse“ enden kann und „reduktionistisch“ wirkt. Siehe T. SÖDING, Einheit der Heiligen Schrift? Zur Theologie des biblischen Kanons (= QD 211), Freiburg – Basel – Wien 2005, 104-107, hier 107; [in Folge: T. SÖDING, Einheit der Heiligen Schrift?].

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Eine christologische Lesart der hebräischen Schriften dient also nicht dem Ziel, eine Einheit zwischen Altem und Neuem Testament zu konstruieren, sondern die Trennung zum damaligen Judentum zu verdeutlichen und gleichzeitig die Bedeutung der eigenen theologischen Schriften zu erheben. Damit haben die alttestamentlichen Schriften einen anderen historischen und theologischen Sinn und fallen somit aus dem Kanon der Christusverkündigung heraus.215 2.3.

Normativität biblischer Schriften

N. Slenczka weist immer wieder darauf hin, dass es bis in das 20. Jahrhundert hinein die gängige Vorstellung war, dass das Alte Testament Jesus Christus vorausverkündigt. Für M. Luther spricht in den Psalmen sogar Christus selbst, indem er durch König David redet. Wenn das Evangelium verkündet wird, wären für das Christentum somit auch die alttestamentlichen Schriften als normativ für das Christentum anzusehen. Der Berliner Systematiker möchte aber diesen klassischen Normbegriff überdenken. Bei der Frage nach der Normativität der biblischen Schriften geht es zunächst darum, welcher Grundsatz für den Kanon geltend ist. Welchen Gesetzmäßigkeiten folgt die Zusammenstellung unterschiedlicher Bücher? Ist der Kanon schon als Norm zu verstehen oder folgt dieser einer vorausgehenden Norm, gibt es also einen Kanon im Kanon? Dabei unterstreicht N. Slenczka, dass der Kanon im Kanon, also die Norm des Kanons nicht von außerhalb an die biblischen Bücher herangetragen werden kann, sondern dass dieser in ihnen zu finden sein muss.216 Wenn eine Sammlung von Büchern als feststehender Kanon angesehen werden soll, muss zuvor die Glaubenswahrheit geklärt sein, die den Kanon gegen andere Lehren abgrenzen soll. Erst wenn diese Voraussetzung gegeben ist, können Bücher als kanonische Schrift diese Wahrheit bezeugen. Die Norm des Glaubens bestimmt also den Kanon der 215 G. THEISSEN, „Wie wurden urchristliche Texte zur Heiligen Schrift“, 430-436. Im Unterschied zu N. Slenczka interpretiert G. Theißen das Neue Testament dann doch als Erfüllung alttestamentlicher Verheißung, da er versucht den Unterschied des Formkriteriums der Schriften und den gleichzeitig gegebenen Anschluss an die Kanonkriterien zu erklären. Es gibt den Unterschied, da das Urchristentum die prophetische Erwartung in Jesus erfüllt sieht und sich darin vom Judentum absetzt, aber diese Erfüllung mit Hilfe der ihnen bekannten Lesetechniken der Schriften auf Jesus hin lasen. In Jesus von Nazareth finden die alttestamentlichen Schriften ihre „textexterne Erfüllung“ und die neutestamentlichen Schriften haben in ihm ihre „textexterne Mitte“. Dazu DERS., „Wie wurden urchristliche Texte zur Heiligen Schrift“, 439-440.445-446. 216 N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 127-128. Kanon bedeutet in den ersten christlichen Jahrhunderten noch nicht einen festen Bestand von Büchern, sondern er ist vielmehr die Bestimmung einer Glaubensregel. Irenäus von Lyon bezeichnet die regula fidei als Kanon (Adv. Haer. I 1,10,1-3), der heilsgeschichtlich-trinitarisch verstanden wird.

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Schriften.217 Was aber das entscheidende Kriterium der Norm ist, steht für N. Slenczka immer wieder zur Debatte und wandelt sich. Waren am Anfang die regula fidei und das Amt für die Bildung der Glaubenswahrheiten führend, so zeigt die Geschichte, dass diese Normativität ihrerseits Veränderungen erfahren hat. Als Beispiel kann dafür die Reformation mit der Umstellung der biblischen Bücher oder F. Schleiermacher mit seinem Verständnis des christlich-frommen Selbstbewusstseins gelten. Werden biblische Schriften rezipiert, ist damit auch eine theologische Auswahl gegeben, womit man mit J. v. Oorschot schließen kann: „Rezeptionsvorgänge sind Selektionsvorgänge“.218 In der Reformation kommt es nochmals zu einer systematischen Neudefinition der Kanonizität als Sammlung von Büchern durch das sola-scriptura-Prinzip.219 Weil durch die Schrift das Evangelium Christi verkündet wird, sind alle Bekenntnisse und Verpflichtungen auf die Schriften rückgebunden, die einzig und allein das Evangelium verkünden. Die reformatorischen Bekenntnisschriften haben normierenden Charakter für die Gemeinschaften der Reformation, da sie selbst wiederum unter der Schrift stehen und diese bezeugen. Einzig die Schrift ist norma normans non normata, alle anderen Schriften, auf die sich die reformatorische Theologie und Praxis beziehen, sind norma normata per scripturam. Die norma normans non normata ist dabei aber nichts anderes als das Evangelium Jesu Christi, sowohl als genitivus subjectivus als auch objectivus gelesen. Die Bekenntnisschriften können daher als eine Zusammenfassung des Glaubens gesehen werden, der sich bereits in den Schriften ausdrückt und diese innerlich trägt. Sie weisen hin auf das Zentrum, das sie zur normans werden lässt. Von diesem Zentrum des Glaubens her sind alle weiteren Bekenntnisschriften der Reformation zu verstehen und

217 N. Slenczka weist zu Recht darauf hin, dass in dieser Hinsicht das Christentum nicht als Buchreligion angesehen werden kann. Bei einer Buchreligion ist es der Kanon der Schriften, der die Glaubenswahrheit bestimmt. Im Christentum ist jedoch die Glaubenswahrheit dem Schriftkanon voraus und normiert diesen. Ebd. 129. 218 J. V. OORSCHOT, „Kann Erinnerung normativ sein oder werden“, 86 (Hervorhebung im Original). Siehe dazu auch N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 130131. Darum plädiert J. v. Oorschot auch dafür, dass sich die normative Dimension eines Kanons nicht ohne die historische Betrachtung der Umstände ergibt, noch dass eine theologische Dignität einen Schriftkorpus Normativität verleiht. J. V. OORSCHOT, „Kann Erinnerung normativ sein oder werden“, 85-86. 219 Vgl. N. S LENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 131-132. Mit Luther kommt es zu einer Reduzierung der kanonischen Bücher auf die, die ein hebräisches Original haben. Die alttestamentlichen griechischen Bücher werden damit zu apokryphen Schriften. Zu diesem philologischen Kriterium kommen für neutestamentliche Bücher bei M. Luther noch inhaltliche Kriterien für die Kanonizität bzw. apokryphe Bestimmung der Bücher.

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wiederum auszulegen.220 Für die protestantische Theologie folgert N. Slenczka: Schriften sind dann als kanonisch anzusehen, wenn „sie das Evangelium von Jesus Christus proklamieren, bzw. dass sie die im Evangelium vorausgesetzte […] Situation des Sünders vor Gott erschließen (Gesetz) und beides – die Geschichte der Gemeinschaft der Glaubenden und die Gefährdung durch den Unglauben – in exemplarischen Historien mit der Absicht der Ermunterung und der Mahnung darstellen. […] Vielmehr sind die biblischen Texte normativ, indem sie Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus sind, das heißt: die Person Jesu von Nazareth als den Grund und Halt des verlorenen menschlichen Lebens wirksam zur Sprache bringen […]“.221

Biblische Texte sind normativ, da sie das Evangelium Jesu Christi verkünden. Die Verkündigung des Evangeliums, das, was R. Bultmann mit dem Kerygma der Kirche stark macht, ist Normativität der Kirche, der biblischen und bekennenden Texte. Es ist ein dynamisches Verständnis der Normativität, da es den Akzent auf die Verkündigung setzt. Die Normativität hat somit eine „performative Intention“222, da sie nicht nur erzählt, sondern in der Verkündigung den Inhalt realisiert. Dort, wo die Verkündigung die Gnade Christi erfahrbar macht, ist Normativität gegeben. Kanonisch sind darum die Texte und Bücher anzusehen, in denen die „performative Intention“ vorliegt und mit deren Verkündigung sich diese Normativität realisiert. Hierin ist auch der Stellenwert protestantischer Predigt zu sehen, denn diese ist Zuspruch 220

Vgl. DERS., Tod Gottes, 65-67, hier 66: „Die Schrift ist als Quelle dieses Evangeliums Gegenstand der Selbstverpflichtung: Dieses Evangelium findet sich nirgends anders als in der Schrift, und es ist zu verkündigen, wie es sich dort findet. Die Bekenntnisschriften sind ihrerseits ‚Zeugen‘ des Evangeliums, insofern der Schrift untergeordnet, und auf denselben Gegenstand wie diese bezogen (auf das ‚Evangelium von Jesus Christus‘)“. 221 DERS., Vom Alten Testament und vom Neuen, 132-133. (Hervorhebung im Original). Vgl. auch ebd. 298: „In der Mitte zwischen Altem und Neuem Testament steht Jesus Christus, die alttestamentlichen Schriften weisen auf ihn hin, und die neutestamentlichen verkündigen ihn. Das entspricht dem genannten inhaltlichen Kriterium der Kanonizität: Richtschnur in der Kirche sind Schriften, die Jesus von Nazareth als den Christus verkündigen“. Darum hat die Schrift Normativität, „[w]eil die Schrift selbst spricht, selbst ein Zentrum vermittelt, weil sie sich im Umgang mit dem Leser als Sakrament der Selbstmitteilung Gottes erweist wie kein anderes Buch“ (DERS., Tod Gottes, 63). C. Landmesser und A. Klein weisen darauf hin, dass jeder geschichtlich-kulturelle Hintergrund beachtet werden muss, wenn Texten Normativität zugesprochen wird. Normativität ist von der Identitätsstruktur der die Texte auslegenden Personen abhängig. Die Normativität von Texten kann aber nicht einfach gesetzt sein, sondern bedarf einer argumentativen Vergewisserung. Vgl. C. LANDMESSER – A. KLEIN, „Zur Einführung. Normative Erinnerung“, in: DIES. (Hgg.), Normative Erinnerung. Der biblische Kanon zwischen Tradition und Konstruktion, Leipzig 2014, 9-17, 10-11. 222 N. S LENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 134. Siehe auch J. FREITAG, „Wie ist die Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments als ‚Wort Gottes‘ zu verstehen?“, in: C. BULTMANN – C.-P. MÄRZ – V. MAKRIDES (Hgg.), Heilige Schriften. Ursprung, Geltung und Gebrauch, Münster 2005, 55-71, 65 [in Folge: J. FREITAG, „Wort Gottes verstehen“]. J. Freitag unterstreicht, dass das Neue Testament „nicht bloße Information [ist]. Es hat performativen Charakter“.

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des Evangeliums und kann nur so verstanden werden. Darum ist die „Schrift […] selbst Predigt und wirkt als Predigt“.223 In dieser Hinsicht ist auch das sola scriptura-Prinzip zu verstehen, denn es besagt, dass einzig das prinzipiell normativ ist, was vom Evangelium Christi getragen ist. N. Slenczka sieht sich in seiner Interpretation der Normativität biblischer Schriften und dem, was als sola scriptura-Prinzip gilt, durch M. Luther bestätigt. Der Reformator und der Berliner Systematiker sind sich bewusst, dass eine Regel klar definiert sein will, wenn sie nicht in Willkür ausarten soll. Darum gilt für die „performative Intention“ normativer Texte: „Nur dann, wenn die Schrift keiner Interpretation bedarf, wenn sie sich selbst erklärt, nur dann steht sie als Richterin und Norm jeder menschlichen Auslegung gegenüber“.224 Die Schrift muss sich also selbst auslegen, wenn es sich um einen „performativen“ Text handeln soll. Das protestantische Schriftprinzip ist letztlich eine Konsequenz der Performativität der Schrift, aus der heraus M. Luther das Schriftprinzip als normgebend begründet: „Sag‘ einmal – wenn du kannst – nach welchem Kriterium wird denn der Streit entschieden, wenn die Stellungnahmen zweier Kirchenväter einander widersprechen? Hier muss die Entscheidung nach dem Urteil der Schrift fallen, und dies ist nur möglich, wenn wir der Schrift den ersten Platz einräumen in allem was [sonst auch] den Vätern zugeschrieben wird, d.h.: dass sie selbst durch sich im höchsten Maße gewiss, im höchsten Maße leichtverständlich, im höchsten Maße klar, Deuterin ihrer selbst (sui ipsius interpres), Beweisgrund der Behauptungen aller Menschen, richtend und erleuchtend, wie geschrieben steht in Ps. 119, [130]: ‚Die Erklärung – oder, wie es im Hebräischen eigentlich heißt: das Offene oder das Tor – deiner Worte erleuchtet und gibt Verstand den Unmündigen‘. Hier weist der Geist eindeutig die Erleuchtung [dem Wort] zu und lehrt, dass Einsicht allein durch die Worte Gottes gegeben wird, wie durch ein offenes Tor oder (wie sie sagen) ein erstes Prinzip, von dem man anfangen muss, um zum Licht und zur Einsicht zu kommen“.225

M. Luther konzentriert alle Lehre auf die Schrift, denn die Schrift ist die Norm und somit keiner Auslegung mehr bedürftig. Er kann sich 223

N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 136. Ebd. 140. 225 M. LUTHER, WA 7,97,19-35, zitiert nach N. S LENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 141 (Hervorhebung bei N. Slenczka). Vgl. auch DERS., Tod Gottes, 46-47. Vgl. des Weiteren C. MARKSCHIES, „Sola scriptura“, 394: „Schrift verbürgt vermittels des Heiligen Geistes ihre eigene Autorität, die Begegnung mit ihren Texten überwindet Zweifel und ermöglicht angemessene Auslegung auch aus sich selbst heraus“. Entgegen der hier zitierten Stelle M. Luthers weist F. STENGEL, Sola scriptura im Kontext, 25-26, 37 darauf hin, dass das Scriptura sacra sui ipsius interpretes hier nicht als „abgeschlossenes Programm“ verstanden sein kann, sondern dass es dies erst 400 Jahr später bei Karl Holl wird. Insgesamt ist gerade das 19. Jahrhundert als Jahrhundert der Konfessionalisierung des Christentums anzusehen, in dem die theologischen Formalprinzipien zu Konfessionsprinzipien deklariert wurden. 224

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dabei auf die Tradition der Kirche berufen, denn seit den Kirchenvätern wird die Schrift als Argument herangezogen. N. Slenczka weist in seiner Auslegung zum oben genannten Lutherzitat darauf hin, dass der zitierte Ps 119,130 von M. Luther bewusst für den Verweis auf das Wort Gottes gewählt ist, denn er verbindet das Wort mit der offenen Tür – bis hin zur Selbstbezeichnung Jesu, er sei die Tür (vgl. Joh 10 oder Lk 11,9). Das Wort ist als solches Wort Gottes, da es „zum Licht und zur Einsicht“ führt.226 Der normative Text ist klar und deutlich durch sich selbst, weil die Schrift Norm ist, darum ist sie auch klar und deutlich und lädt zum Eintreten ein. Die Normativität bestimmt damit das reformatorische Prinzip und unterstreicht, dass nicht der Buchstabe die Norm ist, sondern der durch den Buchstaben vermittelte Geist als die Gerechtigkeit Gottes, welche durch das Lesen und die Verkündigung den Glaubenden zuteil wird. Dass dies kein Automatismus ist, unterstreicht der Hinweis im Lutherzitat, dass das Wort Gottes „Tür“ ist, durch die der Leser bzw. der Glaubende eintreten muss. Daraus schließt Slenczka weiter: „Der Text schafft Glaube. […] Die efficacia der Schrift erschließt den hermeneutischen Schlüssel, unter dem sie zu lesen ist, und ist der Sinn der Behauptung von deren Klarheit. Die Schrift ist klar, weil sie sich selbst wirksam erschließt. Und weil sie solches wirkt, hat sie Autorität, ist sie Norm, und ist sie Wort Gottes“.227 Die Wirkung der Schrift, der Glaube, ist der Ausweis der Normativität biblischer Schriften. Der Geist Gottes wirkt in den Schriften, indem er durch das Lesen der Schrift Glauben bewirkt. Nur darin besteht die Autorität der Schrift. Nicht in sich ist die Schrift Norm, sondern aus sich heraus, in ihrer Wirkung. Damit wird zurecht die Schrift als norma normans non normata verstanden. Hierbei 226

Vgl. N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 142-145. In den darauffolgenden Seiten (145-150) erläutert N. Slenczka, dass M. Luther die Klarheit und das zum „Licht und Einsicht“-Kommen biographisch rückgebunden ist. Er erfährt im Leben die Selbstauslegung der Schrift, wenn sie ihm deutlich macht, dass das Evangelium die Erlösung vom Gesetz (als Zeugnis des erlösungsbedürftigen Menschen) ist, also die Zusage Gottes und seiner Gerechtigkeit. Durch die geöffnete Tür der Gerechtigkeit tritt M. Luther coram Deo. „Das recht verstandene Evangelium wird zum hermeneutischen Schlüssel für die Schrift, und folglich zeigt die Schrift insgesamt ein anderes Gesicht. Sie erschließt sich insgesamt auf das Zentrum hin, das Luther an der einen Textstelle [Röm 1,17; Anm. d. Verf.] verstanden hat; sie erweist sich insgesamt und in ihren Teilen als Zeugnis für den schenkenden Gott, in diesem Sinne: für das Evangelium. […] Der schenkende Gott und der empfangende Mensch werden zum Schlüssel der Schrift“ (149; Hervorhebung im Original). Vgl. auch DERS., Tod Gottes, 49-50, 53-55 und DERS., „Schrift als Norm und Richtschnur“, 62-65. 227 DERS., Vom Alten Testament und vom Neuen, 151 (Hervorhebung im Original). Vgl. dazu auch die weiteren Ausführungen zum Wort Gottes als „primum principium“ der Schrift und deren Entfaltung in der lutherischen Orthodoxie: ebd. 151-159. Vgl. auch DERS., Tod Gottes, 47: „Die Schrift ist klar – das ist nicht Ausgangspunkt, sondern das ist eine theologische Schlussfolgerung: Sie ist Norm und Richtschnur, also muss sie klar sein und sich selbst auslegen“.

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unterstreicht N. Slenczka, dass alle Bekenntnisschriften als „Konsens“ der Mitte und des Zentrums der Schrift zu verstehen sind, auf das hin sich Kirche und Theologie verpflichtet weiß.228 Dabei ist der Konsens aber nicht von außen an die Schrift herangetragen, sondern das Zentrum findet sich in den Schriften selbst. Die Schrift erschließt sich erst durch dieses Zentrum und wird damit zur norma, die durch das Zentrum, also durch das Evangelium, non normata, aber damit auch normans ist, indem sie zum Glauben an das Evangelium verpflichtet und diesen Glauben stützt. In der Schrift erkennt der Glaubende die Zusage der Rechtfertigung, die das ganze Leben betrifft und verändert. Das Evangelium, das Quelle der Schrift ist, wird zur Richtschnur des Lebens und des Glaubens. Damit ist das Evangelium normativ, da es durch die Verkündigung der Schrift performativ bindend verbindlich wird und sich auf das Zentrum des Glaubens ausrichtet.229 N. Slenczka sieht diese performative Kraft des Evangeliums auch darin gegeben, dass sich aufgrund dieser Glaubensüberzeugung im jungen Christentum eine eigene Glaubenslehre gebildet hat. Mit dem Entstehen der Glaubenslehre ist aber auch das Moment gegeben, sich dessen bewusst zu werden, ob die bisherigen Bezugnahmen auf die hebräischen Schriften zu Recht oder zu Unrecht geschehen sind. Es ist die performative Bewusstwerdung des Christusglaubens, der die (fließende, aber definitive) Schnittstelle in die Geschichte des Christentums einzieht, mit der sich das Christentum von den hebräischen Schriften, die als Altes Testament nicht in das Neue Testament integriert, sondern neben das Neue Testament gestellt werden, lossagt. Was die reformatorische Theologie mit fachspezifischer Terminologie der Kanonizität als Normativität ausgedrückt hat, ist bereits im frühen Christentum mit der Entwicklung 228

Vgl. ebd. 82-86. Vgl. ebd. 89: „Das Bekenntnis formuliert die Einsicht in dieses Zentrum [des Evangeliums; Anm. d. Verf.]. Ihm zuzustimmen heißt: in dieser Formulierung den eigenen Glauben und seinen Ursprung zu erkennen. Die Zustimmung bedeutet, dass man von daher und auf dieses Zentrum hin die Schrift liest und auslegt und so immer wieder erfährt und zeigt, dass die Schrift sich auf dieses Zentrum hin als Einheit erschließt. […] Es heißt schließlich, dadurch zu erfassen und zu realisieren, dass dieses Zentrum nicht nur die Schrift, sondern eben auch unser Leben auf ein Zentrum hin orientiert; dass sich also von dieser Mitte her nicht nur die Schrift verstehen und lesen läßt, sondern daß diese Mitte der Schrift ein Zentrum des eigenen Lebensvollzuges anbietet, von dem her ein Mensch sein Leben verstehen und bestehen kann“. O. Wischmeyer stimmt mit N. Slenczka darin überein, dass alle neutestamentlichen Schriften das eine Evangelium als verbindende Größe haben, und dass dieses eine Evangelium bindend ist und somit dieselbe Funktion hat, wie die Normativität, weil darin die Suffizienz der neutestamentlichen Schriften gewahrt wird. Im Gegensatz zu N. Slenczka sieht sie aber diese Normativität rückgebunden an die regula fidei und an das Alte Testament als feststehende Schriften, die die Authentizität der Schriften bezeugen. Vgl. dazu O. WISCHMEYER, Hermeneutik des Neuen Testaments, 69-72. 229

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der Christologie und einer eigenen Gotteslehre vollzogen. Die Reformation hat demnach dem Kind nur seinen Namen gegeben, nachdem es den Kinderschuhen bereits entwachsen war und ein eigenständiges Leben und bewusstes Leben hatte.230

230

Vgl. dazu N. SLENCZKA, „Einwände und Antwortversuche“, 83-84; [https://www.theologie.hu-berlin.de/de/professuren/professuren/st/AT/texte-zur-debatteseit-2017-2/slenczka-antworten-gesamt/view; zuletzt abgerufen 25.03.2019; in Folge.: N. SLENCZKA, „Einwände und Antwortversuche“].

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3.

Bedeutung des jüdisch-christlichen Dialogs

Juden und Christen teilen den Glauben an den einen Gott, der sich in der je eigenen Ausprägung gemeinsamer Schriften niederschlägt. Wenn Juden und Christen gemeinsam im Gespräch sind, dann muss der wissenschaftliche Austausch über die heiligen Schriften einen wichtigen Stellenwert haben. Besonders in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich Arbeitsgruppen gebildet, die die Schrecknisse der Vergangenheit aufarbeiten wollen, aber auch den Blick in die gemeinsame theologische Zukunft wagen. N. Slenczka ist Mitglied im „Gemeinsamer Ausschuss Kirche und Judentum der EKD, VELKD und UEK“, der sich um die Beziehungen zwischen Judentum und Christentum bemüht, um im gemeinsamen Dialog den religionsgeschichtlichen Stellenwert der jeweiligen Religion darzustellen. Im Anschluss an die „Neue Israel-Theologie“ fasst der Berliner Theologe die Anliegen des theologischen Verhältnisses von Judentum und Christentum in drei Thesen zusammen: „zunächst in der These, dass die traditionelle Theologie vor dem Zeiten Weltkrieg das Verhältnis von Judentum und Christentum als Gegensatz bestimmt hat, und dass dieser religiöse Gegensatz eine der Wurzeln des weltanschaulichen Antisemitismus und damit eine der Voraussetzungen des Versuches zur Vernichtung des europäischen Judentums darstellt; zweitens in der These, dass angesichts dessen die christliche Theologie und die Kirchen die Aufgabe haben, zu einem nichtexklusiven Verhältnis zum Judentum zu finden. In der Frage, wie dieses nichtexklusive Verhältnis zu bestimmen sei, gehen die Meinungen auseinander. Im Zentrum steht aber in allen Spielarten der ‚Neuen Israel-Theologie‘ die – nun dritte – These, dass der Bund Gottes mit dem jüdischen Volk nicht etwa, wie (angeblich) die bisherige christliche Tradition behauptet, durch einen neuen Bundesschluss Gottes abgelöst und für ungültig erklärt sei, sondern weiter besteht und weiterhin Gültigkeit hat“.231

Treten sich heute Juden und Christen als zwei Religionsgemeinschaften gegenüber, so war das Verständnis im 1. Jahrhundert noch ein anderes. Die Jünger Jesu hatten nicht das Verständnis, mit ihrem Glauben an Jesus Christus in eine neue Religion eingetreten zu sein. Christsein bedeutete für sie keinen Gegensatz zum Judesein und die Schriften Israels blieben für sie damit der Rahmen, um Gottes Handeln in Jesus Christus zu deuten.232 So ist der ständige Rückverweis der 231

DERS., Vom Alten Testament und vom Neuen, 439. Vgl. dazu auch DERS., Tod Gottes, 114-116. Vgl. zu den entsprechenden Thesen die Abschnitte aus den Studien der EKD, Christen und Juden I-III: zu These I: 62-64; zu These II: 67-107; zu These III: 126-172; DERS., „Die Kirche und das Alte Testament. Das Neue Testament als Wahrheitsraum des Alten. Eingangsstatement zur Podiumsdiskussion in Köln, 11.06.2015“, Zeitzeichen 16 (2015) 14-17, hier 16; [in Folge: N. SLENCZKA, „Neues Testament als Wahrheitsraum“]. 232 Vgl. DERS., Vom Alten Testament und vom Neuen, 441: „Das Christentum ist

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neutestamentlichen Schriften nicht verwunderlich, denn es ist der religiöse Lebensraum der ersten Christengemeinden. Dies schlägt sich auch in der Apostelgeschichte in den Reden von Petrus oder Paulus nieder. Erst langsam entwickelte sich eine Trennung von Judentum und Christentum, das aber mehr als eine innerjüdische Auseinandersetzung gesehen werden muss als eine direkte Konfrontation zweier Religionen. Damit entstand natürlich die Frage nach dem Schriftbezug, da sich Juden und Christen auf dieselben Schriften als Heilige Schriften verwiesen wussten. Dass diese Frage auch heute noch von Gewicht ist, zeigt der christlich-jüdische Dialog. Dabei wendet sich N. Slenczka gegen eine „christlich-theologische Vereinnahmung“ des Alten Testaments233 und möchte anstelle einer Theologie des Alten Testaments wieder die Religionsgeschichte Israels in der Exegese stark machen. Mit R. Rendtorff geht der Berliner Theologe N. Slenczka davon aus, dass die Kanonisierung des Alten Testaments bereits ein Ergebnis des nachexilischen Judentums ist, das vor der Entstehung des Christentums relativ abgeschlossen sei.234 Das Judentum habe seinen eigenen, abgeschlossenen Kanon, der nicht offengehalten wird, um durch das Neue Testament und eine christliche Theologie des Alten Testaments erweitert, bestätigt oder erfüllt zu werden; somit muss es als eigenständige Größe gesehen werden, als hebräische Schrift, die von einer eigenständigen Religion zusammengestellt wurde und damit vom christlichen Alten Testament zu unterscheiden sei.235 Damit kann aber nicht, wie z.B. im canonical approach,236 angenommen werden, dass ursprünglich keine neue Religion neben dem Judentum, sondern es ist ein Teil des Judentums, eine unter den vielen jüdischen Sekten des ersten Jahrhunderts […]“. 233 Ebd. 69. Unstrittig bleibt dabei natürlich, dass es einen religionsgeschichtlichen Zusammenhang von Altem und Neuem Testament gibt. Vgl. ebd. 75. 234 Natürlich hat die neuere Forschung gezeigt, dass die Frage einer festen Zuschreibung der Bücher Hohelied, Kohelet und Ester erst mit dem 3. Jahrhundert im rabbinischen Judentum geklärt war. Aber der Kernbestand des Tanach wird in den Augen N. Slenczkas und R. Rendtorffs kanonisch früh datiert. Siehe R. RENDTORFF, Theologie des Alten Testaments. Ein kanonischer Entwurf, Bd. I, Neukirchen-Vluyn 1999 und DERS., Theologie des Alten Testaments. Ein kanonischer Entwurf, Bd. II, Neukirchen-Vluyn 2001; [in Folge: R. RENDTORFF. Theologie des Alten Testaments, Bd. 1 und 2]. 235 Vgl. zur Aufnahme von R. Rendtorffs Gedanken bei N. Slenczka: Tod Gottes, 98-100. 236 Vgl. zur Bewertung des canonical approach: DERS., Vom Alten Testament und vom Neuen, 66-69 und DERS., Tod Gottes, 95-97. N. Slenczka spricht sich gegen den canonical approach von B. Childs aus, da dieser die Kirche als Subjekt sowohl des Alten als auch Neuen Testaments sieht. Darum sieht sich der canonical approach auch dem Vorwurf ausgesetzt, er würde die Schriften des Judentums „christlich-theologisch vereinnahmen“. Vgl. zur Frühdatierung und canonical approach U. BECKER, „Neue Einsichten und Konzepte zur christologischen Deutung des Alten Testaments“, KuD 62 (2016) 95-114, hier 104-106; [in Folge: U. BECKER, „Einsichten und Konzepte“]. U. Becker unterstreicht, dass der canonical approach von einer Frühdatierung des hebräischen Kanons ausgehen muss, hält diese Frühdatierung in Gegensatz zu

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die Kirche einen wesentlichen Einfluss auf die Kanonisierung alttestamentlicher Schriften hatte. Judentum und Christentum sind zwei voneinander getrennte, nicht in Konkurrenz stehende Subjekte der Kanonisierung der Texte, die sich in den hebräischen Schriften und im Alten Testament wiederfinden. Nur mit dieser Unterscheidung und der völligen Unabhängigkeit der hebräischen Bibel vom Neuen Testament sei – so N. Slenczka – ein aufrichtiger Dialog mit dem Judentum zu führen, da die hebräische Bibel eine eigenständige Größe ist.237 Im Hinblick auf einen religionsgeschichtlichen Ansatz in der Exegese folgert N. Slenczka damit: „Der biblische Kanon der Christenheit stellt damit eine relativ spröde und problembeladene Einheit aus zwei Texten dar, deren erster durch den zweiten, möglicherweise sogar gegen seinen ursprünglichen Sinn, gelesen und interpretiert wird, der aber historisch betrachtet einen eigenen Sinn als Identitätsurkunde des Judentums zwischen 150 vor und 70 nach Christus hat“.238

Die religionsgeschichtliche Theologie, der N. Slenczka folgen möchte, sieht in den alttestamentlichen Schriften nicht mehr einen Text, der das Neue Testament vorbereitet, sondern vielmehr die Urkunde des Volkes Israel. Damit können aber diese Schriften für das Christentum nicht identitätsstiftend sein, sondern müssen zur Vorgeschichte des Christentums gezählt werden. Die hebräische Bibel ist historisch gesehen die Urkunde des Volkes Israel und nicht die Urkunde der entstehenden Kirche, und der hebräische Kanon „spricht zu anderen von einem anderen Gott“.239 Als Urkunde des Volkes Israel sind diese Texte sinnstiftend und werden damit für diese Gemeinschaft normativ, da sich in ihnen ihr Selbstverständnis ausspricht. Wenn aber eine Textsammlung diesen kulturellen Status der Identitätsstiftung erreicht hat, dann ist sie einer weiteren Fortschreibung oder Erweiterung durch neue sinnerweiternde Texte entzogen.240 N. Slenczka aber nicht für haltbar. C. Dohmen sieht die Kanonische Exegese – bei allen Unterschieden – auch nahe am Ansatz des sensus plenior, da beide Hermeneutiken den Kanon als sinnkonstituierende Größe annehmen. Vgl. C. DOHMEN, „Hermeneutik des Alten Testaments“, in: C. DOHMEN – G. STEMBERGER (Hgg.), Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments (= KStTh 1,2), zweite, überarb. Aufl., Stuttgart 2019, 142-233, 194-195; [in Folge: C. DOHMEN, „Hermeneutik des Alten Testaments“]. 237 Vgl. N. S LENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 70: „Der Kanon hat eben eine doppelte Wirkungsgeschichte in zwei religiösen Gruppierungen aus sich herausgesetzt […]“. 238 Ebd. 70-71. 239 Ebd. 76. 240 Ebd. 108: „Die Texte werden zu Instanzen, die der Gemeinde gegenüberstehen, und nicht in dem Bewusstsein tradiert, dass sie der Gemeinde entspringen; sie sind ‚vorgegeben‘ […]“. Vgl. auch J. ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen (= Beck’sche Reihe 1307),

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Diesen theologischen Standpunkt vertreten auch die evangelischen Landeskirchen in ihren Dokumenten und Schriften. Sie bekennen, dass Gott einen unkündbaren Bund mit seinem Volk Israel eingegangen ist. Dennoch sprechen aber Synodalerklärungen davon, dass neben dem Judentum auch die Christen in den einen Bund Gottes, wie er in den hebräischen Schriften verkündet wird, eingebunden sind. Darin erkennt N. Slenczka einen Gegensatz zu einer israelsensiblen Theologie und zur Religionsgeschichte Israels.241 Die Synodalerklärung der Rheinischen Kirche versucht in ihren Grundartikeln – also in der Erklärung, wie sie sich als Kirche versteht – das Verhältnis Gottes zu seinem Volk Israel aufzunehmen, zugleich aber nicht vom Prinzip solus Christus abzuweichen. In diesem Verständnis bekennt die Synodalerklärung von 1980: „Wir glauben an die bleibende Erwählung des jüdischen Volkes als Gottes Volk und erkennen, dass die Kirche durch Jesus Christus in den Bund Gottes mit seinem Volk hineingenommen ist“.242 Das Neue, das Jesus Christus nach diesem Synodalbeschluss bringt, ist kein neuer Bund, sondern er bestätigt den gegebenen Bund Gottes mit seinem Volk und weitet ihn auf alle Völker aus. N. Slenczka kritisiert dabei, dass in diesem Bekenntnis ein theologischer Widerspruch festgeschrieben wurde: Einerseits bekennt die Erklärung die Treue Gottes zu seinem Volk Israel, gleichzeitig aber schreibt sie fest, dass einzig in Jesus Christus die Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde gegeben sei.243 Die Treue Gottes zu Israel kann nicht mit einer München 72013, 103-129, besonders 125-129 [in Folge: J. ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis]. „Der Kanon verkörpert in diesen Situationen konkurrierender Ordnungen und Ansprüche den Anspruch der besten oder der einzig wahren Tradition. Wer sich ihr anschließt, bekehrt und bekennt sich zugleich zu einer normativen Selbstdefinition, zu einer Identität, die im Einklang steht mit den Geboten der Vernunft oder der Offenbarung. Die Phänomene ‚Kanon‘ und ‚Konversion‘ gehören zusammen“ (126). In seiner Darstellung der Entwicklung des Kanonbegriffs weist der Ägyptologe nach, dass es dabei zum Bedeutungswandel des Richtigen zum Sakrosankten gekommen ist. Das Richtige wird heilig und ist damit festgeschrieben und kann damit gerade die Frage beantworten, was eine Gruppe zusammenhält und von innen heraus konstituiert. 241 Vgl. N. S LENCZKA, „Durch Jesus in den Sinaibund? Zur Änderung des Grundartikels der rheinischen Kirche“, LM 34 (1995) 17-20; [in Folge: N. SLENCZKA, „Durch Jesus in den Sinaibund“]. DERS., Vom Alten Testament und vom Neuen, 444. Siehe auch R. GRÄSSER, Der Alte Bund im Neuen. Exegetische Studien zur Israelfrage im Neuen Testament (= WUNT 35), Tübingen 1985, 271-289); [in Folge: R. GRÄSSER, Der Alte Bund im Neuen]. Dabei unterstreicht der Autor, dass dem Synodalbeschluss eine lebhafte Debatte vorausging und er stellt sich gegen Tendenzen christlicher Theologien, „denen es um eine jüdische Theologie des Christentums geht, um derentwillen sie auch Abstriche an der Wahrheit des Evangeliums in Kauf nehmen“ (273), und weist auf das Dilemma des Synodalbeschlusses hin, auf das auch N. Slenczka aufmerksam macht. 242 K. KRIENER – J. M. SCHMIDT (Hgg.), Gottes Treue – Hoffnung von Christen und Juden. Die Auseinandersetzung um die Ergänzung des Grundartikels der Kirchenordnung der Evangelischen Kirche im Rheinland, Neukirchen-Vluyn 1998, 55, zitiert nach N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 445. 243 DERS., „Durch Jesus in den Sinaibund“, 18.

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christologischen Hermeneutik bewertet werden. Entweder ist diese christologische Vereinnahmung Israels mit einem doppelten Bund oder durch eine Identifizierung des Bundes Gottes mit Israel und demjenigen der Christen zu überbrücken. N. Slenczka sieht in diesem Bekenntnis und in der Grundartikelerklärung von 1996 der Rheinischen Landessynode gravierende Probleme in der Interpretation des Verhältnisses von Judentum und Christentum. Die Eingliederung der Christen durch Jesus Christus in den einen Bund Gottes wird dem Judentum und dem Christentum nicht gerecht. Zum einen wird damit der Bund des Judentums theologisch neu bewertet, wie es jüdische Theologie niemals verstehen kann, denn es kann keine Erweiterung des Bundes durch einen Messias geben, den das Judentum nicht anerkennt. Andererseits wird Jesus Christus mit dieser theologischen Annahme zum Mittler in einen vorgegebenen Bund und ist damit nicht mehr Heilsmittler des neuen Bundes (vgl. 1 Tim 2,6). Er wird zum Medium, durch das die Kirche aus den Völkern dem Bund mit Israel eingegliedert wird.244 Der Berliner Theologe N. Slenczka ist in seinem Denken sehr sensibel im Gespräch christlicher Theologie mit dem Judentum. Er möchte daher jegliche Vereinnahmung des Judentums und seiner Theologie durch das Christentum vermeiden. Somit ist es verständlich, dass er sich auch gegen eine Theologie wendet, die – umgekehrt zur Erklärung der Rheinischen Landessynode, aber gerade in dieser Umkehrung theologisch ebenso abzulehnen – den Bund Israels in den Bund mit Jesus Christus überführt sehen möchte. Aus Respekt vor dem Judentum und seines Selbstverständnisses kann und darf dies theologisch nicht angedacht werden, obwohl dies durch die Jahrhunderte der Kirchengeschichte immer wieder geschehen ist. Es ist also jede Form einer Substitutionstheorie abzulehnen. Gott hat seinen Bund mit dem Volk Israel geschlossen und diesen niemals 244 Ebd. 18: „Die Person Christi wird hier [in der Ergänzung der Grundsatzerklärung; Anm. d. Verf.] eben nicht als der einzige Weg zum Vater bekannt, der den geborenen Juden und den Heiden gemeinsam ist. Jesus von Nazareth erscheint vielmehr als das Medium, durch das die Kirche aus den Heiden mit dem Volk Gottes, also den Juden verbunden ist. Es legt sich der Verdacht nahe, daß die Bedeutung Jesu darauf reduziert werden soll, daß er den Nichtjuden Anteil an dem Heil und an dem Bund gewährt, in dem die Juden als Volk Gottes ohnehin, qua Geburt, stehen. An die Stelle des ‚Grundes, der gelegt ist, Jesus Christus‘ (1. Korinther 3,11) tritt in dieser Auslegung des Grundartikelzusatzes Israel bzw. der Heilsbund Gottes mit dem jüdischen Volk als der ‚Grund‘, auf dem der Heidenchrist steht und in den er – durch Christus – eingefügt wird“ (Hervorhebung im Original). Vgl. DERS., Vom Alten Testament und vom Neuen, 452. Hier bezeichnet Slenczka die Erklärung von 1996 als „ebenso antijudaistisch […] wie die bisherige kirchliche Tradition“. Vgl. auch DERS., „Römer 9-11 und die Frage nach der Identität Israels“, in F. WILK – J.R. WAGNER – F. SCHLERITT (Hgg.), Between Gospel and election. Explorations in the interpretation of Romans 9-11 (= WUNT 257), Tübingen 2010, 463-477, hier 463-465; [in Folge: N. SLENCZKA, „Römer 9-11“].

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aufgekündigt. Israel ist und bleibt Bundespartner Gottes. Das, was Christen als Altes Testament bezeichnen, also die hebräischen Schriften, sprechen von diesem einen Bund Gottes mit seinem Volk Israel. Christliche Theologie muss daher anerkennen, dass diese Schriften keine allgemeine, alle Menschen betreffende Anrede sind: Sie sind Rede Gottes an sein auserwähltes Volk Israel. Somit kann das Volk Israel nicht „christologisch qualifiziert“ werden. Es ist nicht die christologische Interpretation des Bundes, der das Verhältnis von Judentum und Christentum beschreibt, sondern der Bund Gottes an sich. N. Slenczka unterstreicht diesen Gedankengang mit einem Zitat des jüdischen Historikers Hans-Joachim Schoeps: „Dieses Urteil, dass Jesus nicht der Messias, d.h. der von den Juden erwartete Messias gewesen ist, kann auch heute […] nicht revidiert werden. […] Da ja der Gottesbund mit Israel vor Einbruch der messianischen Zeit nicht zu einem Menschheitsbund ausgeweitet werden kann, soll Israel nicht aufhören, das eine, von Gott auserwählte Volk zu sein. Die Kirche ist nach ihrem eigenen Bewußtsein der ‚neue Bund‘, und ich sehe nicht, was das Judentum abhalten könnte, die Möglichkeit besonderer Bundesschlüsse Gottes mit der Welt außerhalb Israels zuzugeben und somit das Christentum wie freilich auch den Islam als gottgewirkte Veranstaltungen anzuerkennen. In die Heilsökonomie Gottes haben wir keinen Einblick und daher sind uns auch alle näheren Aussagen verwehrt. Aber was Kirche und Islam über die ihnen zuteil gewordene Wahrheit aussagen, kann auch von den Juden mit Ehrfurcht vor dem unerforschlichen Geheimnis der Wege Gottes angehört werden“.245

Der Bund Gottes mit Israel ist durch das Christentum nicht aufgehoben, sondern er besteht zusammen mit dem Bund Gottes in Jesus Christus fort. Das Christentum steht für N. Slenczka in Anlehnung an H.-J. Schoeps zwar in einem Bund mit Gott, ist aber nicht in den einen Bund Gottes mit Israel durch Jesus Christus eingefügt, denn dies würde Israel seine einzigartige Erwählung nehmen. „Insofern halte ich [N. Slenczka; Anm. d. Verf.] die kirchlichen Positionen, die von einer Teilhabe der Christen an dem Bund sprechen, in dem das jüdische Volk sich zu Gott gestellt sieht, als einen hochproblematischen Akt der religiösen Enteignung, der im Blick auf das Anliegen der neueren Israeltheologie als ein schlichtes Eigentor bewertet werden muss“.246 Das Christentum

245

H.-J. SCHOEPS, „Jüdische Theologie“, in: G. G. MURRAS, Textbuch II, Bern – Tübingen 1961, 487-515, hier 512, zitiert nach N. SLENCZKA, Tod Gottes, 116. DERS., Vom Alten Testament und vom Neuen, 185. 246 DERS., Tod Gottes, 119. Siehe auch DERS., Vom Alten Testament und vom Neuen, 457: „Eine solche Selbsteinladung in den Bund – denn darum geht es auch dann, wenn sich die Christen durch Christus in diesen Bund eingeladen wähnen – eine solche Selbsteinladung ist eben implizit eine Negation des Sonderverhältnisses, in dem sich das Judentum zu Gott sieht, ist somit ungewollt eine Bestreitung des jüdischen Selbstverständnisses“.

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kann sich nicht von sich aus theologisch in den Bund Gottes mit Israel integrieren und diesen für sich beanspruchen. Das Christentum muss lernen, das Judentum aus seinem eigenen Selbstverständnis her zu sehen und zu verstehen. Der Bundespartner Gottes ist das Volk Israel. Die Mitte des Alten Testaments ist damit nicht einfach nur Gott, sondern der Gott, der in der Geschichte an seinem auserwählten Volk Israel handelt und zu diesem Volk in den Schriften spricht, denn „Gott ist definiert durch sein bestimmtes Volk“.247 In diesem Sinn ist es zu verstehen, wenn N. Slenczka von der Partikularität des Alten Testaments spricht. Er meint dies nicht abwertend, sondern möchte damit die besondere Stellung des Volkes Israel unterstreichen. Weil Gott sich dieses bestimmte Volk auserwählt hat, hat er sich auch eine Begrenzung gegeben. Das aber macht die Besonderheit der Erwählung aus, die nicht gekündigt und nicht durch eine christliche Substitutionstheorie ersetzt werden kann und darf.248 Das aber bedeutet, „dass das Alte Testament – zunächst einmal! – nicht zur Kirche spricht. Die Verheißungen des Alten Testaments gelten zunächst nicht der Kirche, sondern dem Volk Israel, in dessen ungekündigter Kontinuität das gegenwärtige Judentum steht“.249 247

Ebd. 315. Siehe auch R. GRÄSSER, Der Alte Bund im Neuen, 129: „Die Geschichte und die in ihrem Mittelpunkt stehende diaqh/kai tw/n pate,rwn bilden danach den Grund für die Heilsgewißheit. […] Ihr Empfang setzt Zugehörigkeit zum Volke Israel voraus“ (Hervorhebung im Original). Der Autor weist auch darauf hin, dass sich Jesus in seiner Verkündigung von der Israelitischen Bundesvorstellung absetzt und die Gottesherrschaft vollkommen an seine Person bindet. 248 Vgl. N. S LENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 316. N. Slenczka bestreitet natürlich nicht, dass das Alte Testament auch universale Züge kennt, wie sie in den Psalmen mit der Völkerwallfahrt oder der Verheißung der Propheten gegeben ist. Vgl. auch ebd. 427: „Neben der politischen Einheit des Volkes Israel unter einem König stand immer die prophetische Kritik, die von einer Gemeinschaft mit Gott sprach, die nicht an spezifische politische, geographische oder ethnische Kriterien gebunden ist, sondern an alle Menschen geltende sittliche Kriterien, insbesondere an ein Verhältnis dem Nächsten gegenüber […]“. 249 Ebd. 185. Hier hat sich die Sicht von N. Slenczka weiterentwickelt. In seinem Beitrag „Das Verhältnis des Alten und Neuen Testaments“ sah er das Alte Testament noch als „Grundlage christlicher Identität“. Vgl. dazu DERS., Tod Gottes, 108: „In dieser Beziehung der wechselseitigen Kommunikation mit den Texten des NT bzw. der dort erschlossenen Wirklichkeit Christi ist das AT die Grundlage christlicher Identität. Diese Aussage ist sinnvoll nur, wenn das Verhältnis von ‚christlicher Identität‘ (Glaube) und bipolarer Schrift (AT und NT) nicht als Nebeneinander zweier Größen, sondern unter der Voraussetzung einer wesensmäßigen Verwiesenheit beider – des Glaubens auf die Schrift und umgekehrt – gesehen wird“. So fragt auch F.-W. Marquart: „Gelten die Verheißungen, die Gott an Israel gerichtet hat – und die er an Israel gerichtet hat auch dann, wenn sie die übrige Menschheit mitbetreffen – wirklich unvermittelt, direkt und unkompliziert wirklich auch uns“? F.-W. MARQUARDT, Was dürfen wir hoffen, 163. Auch dürfte mit N. Slenczka und O. Marquadt an ein ähnlich klingendes Wort erinnert sein: F. BAUMGÄRTEL, „Der dissensus im Verständnis des Alten Testaments“, EvT (1954) 298-313, 312: „Es ist unmöglich heute, an der Tatsache vorbeizukommen, daß das

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Christliche Theologie muss daher nach N. Slenczka einsehen, dass Judentum und Christentum zwei verschiedene Religionen sind, auch wenn sich Judentum und Christentum auf ein gemeinsames Zeugnis des einen Gottes beziehen. Dazu gehört auch, dass Juden und Christen die Texte, in denen Gott sein Volk Israel anspricht, hermeneutisch unterschiedlich lesen. „Es gibt keinen schärferen Gegensatz als den einer gegensätzlichen Lesart von ausdrücklichem Gemeinsamen“.250 Alle Versuche, diesen Gegensatz auch irgendwie theologisch erklären zu wollen, laufen ins Leere und argumentieren an der Sache vorbei. „Diese Behauptung einer Integration der Heiden in den Bund Gottes mit Israel bzw. dem gegenwärtigen Judentum ist entgegen der unbestritten guten Absicht faktisch antijudaistisch: Sie bestreitet das Selbstverständnis Israels bzw. des Judentums, in einem Sonderverhältnis zu Gott zu stehen“.251 Auch rein christologisch gesehen kann christliche Theologie gar nicht darauf bestehen, dass die Völker durch Jesus Christus am einen Bund Gottes mit Israel Anteil bekommen, denn dies würde die zentrale Bedeutung Jesu Christi und seiner Erlösung schmälern. In der Person Jesu Christi ist die Gnade der Erlösung vermittelt und nicht die Einfügung in einen Bund, der nicht von Jesus Christus begründet ist.252 Diese Einsicht hat dann aber auch Auswirkungen auf das Verständnis und die Kanonizität der Schriften, die zum einen den einen, ungekündigten Bund Gottes mit seinem Volk geschichtlich auslegen und zum anderen von dem erlösenden Bund in Jesus Christus sprechen. Der christlich-jüdische Dialog veranlasst N. Slenczka zu einem nüchternen Urteil im Verhältnis von Judentum und Christentum. Das Gemeinsame von beiden Religionen, wie das Bekenntnis zu dem einem Gott, die gemeinsamen Schriften und die Zusage des Bundes, wird Alte Testament zunächst einmal ein Zeugnis einer ,Religion‘ ist, daß diese Religion eine nichtchristliche Religion ist und daß sie in ihrem Selbstverständnis mit dem Evangelium zunächst einmal nichts zu tun hat, dieses Selbstverständnis an sich also für den christlichen Glauben keinerlei Bedeutung hat“ (Hervorhebung im Original). 250 N. SLENCZKA, Tod Gottes, 120. Der Berliner Theologe stellt sich auch strikt dagegen, diesen Gegensatz von Judentum und Christentum theologisch aufheben zu wollen. Ebd. 121: „Ein Beseitigen der Antithese, des Widerspruchs, des Streites, der religiösen oder weltanschaulichen Gegnerschaft ist nicht nur im Verhältnis von Juden und Christen nicht möglich. Dieser Versuch ist darüber hinaus nicht einmal eine sinnvolle Aufgabenstellung, sondern er beruht auf derselben Überzeugung wie die großen totalitären Illusionen – dass es um der Einheit einer Gesellschaft willen nur eine von allen geteilte Wahrheit geben dürfe“. 251 DERS., Vom Alten Testament und vom Neuen, 186. Wie bereits erwähnt, sieht N. Slenczka in dieser Hinsicht das Alte Testament einer Partikularität. Damit möchte er die Bedeutung des Bundes Gottes mit dem Volk Israel nicht schmälern – im Gegenteil: damit möchte er die Sonderstellung und einmalige Erwählung Israels unterstreichen. Vgl. zur Partikularität des Judentums auch ebd. 304-305. 252 Ebd. 187, 443.

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gerade in einem aufrichtigen Dialog zum Trennenden, denn „es hat im Verhältnis der ersten Jesusanhänger zum Hauptstrom des Judentums wie im daraus hervorgegangenen Verhältnis der Kirche zum Judentum diese Gemeinsamkeit immer nur gegeben unter der Voraussetzung unterschiedlicher und gegensätzlicher Deutungen“.253 Das Gemeinsame wird von Juden und Christen bekannt, aber unterschiedlich interpretiert, da sie es aus ihrem jeweiligen und unterschiedlichen Kontext heraus interpretieren. N. Slenczka zieht hierbei folgende Bilanz: „Beide kommen zu unvereinbaren Deutungen derselben Schrift, indem sie die jeweils eigene Identität darin finden und begründen. […] Gerade weil sich viele Juden und Christen darin einig sind, dass sie über dasselbe reden, über denselben Gott und dieselbe Schrift und dieselbe Bundesgeschichte, gerade deshalb sind sie durch einen so scharfen Konflikt getrennt – denn sie deuten diesen Gott und diese Schrift und diese Bundesgeschichte gegensätzlich“.254

Bei allem Gegensätzen plädiert N. Slenczka aber nicht dafür, dass der jüdisch-christliche Dialog nach einer einheitlichen und verbindenden Grundlage suchen müsste. Im Gegenteil: Es zeigt sich, dass dies nur gelänge, indem die eigene religiöse Identität aufgegeben würde. Es wird kein Friede unter den Religionen oder in der Menschheit herrschen, wenn alle auf eine „Einheitswahrheit“ verpflichtet wären. N. Slenczka überträgt in seinen Überlegungen das Verständnis einer pluralistischen Gesellschaft auf den Bereich der Religion. Auch hier ist ein Pluralismus überlebensfähig und der Menschheit dienlich.255 Darum fordert der Berliner Theologe, dass die „Antithetik“ von Judentum und Christentum offen zum Tragen kommen solle. Denn darin steckt dann der eigene Wahrheitsanspruch und der Respekt vor dem Anderen: „Es kann die dem jüdischen Selbstverständnis widersprechenden Aussagen der Christen nur geben, sofern sich die Christen in eine liebevolle Gemeinschaft mit eben dem Judentum gestellt sehen, dem sie widersprechen“, wie sie N. Slenczka auch in Röm 9-11 ausgeführt findet.256 So können die Worte N. Slenczkas auch eine mahnende und

253

Ebd. 458. Ebd. 459. 255 Ebd. 460: „Wer glaubt, er müsse als Voraussetzung eines friedlichen Zusammenlebens die weltanschaulichen und religiösen Gegensätze versöhnen, der übernimmt sich nicht nur und überfordert die religiös Überzeugten, […] sondern er hat vor allem nicht begriffen, was (religiöser) Pluralismus ist: nämlich nicht das Zusammenleben des Kompatiblen, sondern das friedliche Zusammenleben unvereinbarer Überzeugungen“. 256 Ebd. 461. Vgl. auch DERS., „Durch Jesus in den Sinaibund“, 20: „Ich bin allerdings der begründbaren Meinung, daß man sich das Verständnis dieses Textes [Röm 9-11; Anm. d. Verf.] völlig verstellt, wenn man nicht sieht, daß der Apostel gerade beides festhält: die bleibende Erwählung Israels und das Wissen darum, daß es am Glauben an Christus vorbei kein Heil gibt – auch für Israel nicht“ (Hervorhebung im Original). 254

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gutgemeinte Erinnerung im christlich-jüdischen Dialog sein, wenn er schreibt: „Das Erfassen der Differenzbestimmungen und die gleichzeitige Wahrnehmung der Verpflichtung, den andern in seinem Anderssein zu lieben, ist hier eine Alternative, die innerhalb der deutschen Kirchen einen schlechten Ruf hat, die aber das Judentum als die Position wahrnehmen und achten sollte, die seiner Existenz besser tut als die Umarmung durch den ‚großgewordenen Bruder‘“.257

Für den Theologen, der sich der reformatorischen Prinzipien verpflichtet weiß, bleibt das solus Christus von zentraler Bedeutung, das er gerade auch als Gegensatz zum Judentum verstanden wissen will. Darum plädiert N. Slenczka für einen Dialog, der die Unterschiede auch klar und deutlich ausspricht. Dies ist aber nicht als ein theologischer Antisemitismus zu verstehen, sondern als theologische Konsequenz, die sich der gegenseitigen Aufrichtigkeit verpflichtet weiß.258

257

DERS., Vom Alten Testament und vom Neuen, 463. Vgl. DERS., Tod Gottes, 122: „Man kann also nicht gegenüber dem Judentum das ‚solus Christus‘ sachgemäß zur Geltung bringen, ohne zugleich über den damit markierten religiösen Gegensatz hinweg den jüdischen Gesprächspartner zu lieben, und zwar in seiner religiösen Andersheit, in seinem Widerspruch gegenüber meinen Wahrheitsüberzeugungen, zu lieben […]“. Vgl. auch ebd. 160-162.

258

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4.

Christologische Prämissen für Notger Slenczkas These

N. Slenczka zieht aus seinen biblischen und theologiegeschichtlichen Voraussetzungen den richtigen Schluss, dass die Kanonizität des Alten Testaments damit zusammenhängt, inwieweit es das Evangelium Christi verkündigt. Die ersten Christen nahmen das Alte Testament als Verstehensschlüssel für das Verständnis Jesu Christi, aber das Alte Testament bekommt nur insofern einen christologischen Sinn, als es von Christus her gelesen wird; nicht an sich haben die alttestamentlichen Schriften einen christologischen Sinn, sondern erst durch den Bezug dieser Schriften auf Jesus Christus. Das, was in den alttestamentlichen Schriften christologisch gemeint sei, wird vom erfahrenen und faktischen Christusgeschehen aus interpretiert. Durch die Übertragung alttestamentlicher Begriffe und Hoheitstitel auf Jesus von Nazareth wird er durch ebendiese Begriffe gedeutet, da gerade das Alte Testament in der Christologie das semantische Feld der Interpretation ist. Aber N. Slenczka weist darauf hin, dass die Interpretation nicht einseitig und einlinig ist. Die Prädikationen werden durch die Applikation auf Jesus neu verstanden und erhalten einen neuen Inhalt, indem sich das junge Christentum bewusst vom ursprünglichen Begriffsinhalt absetzt und ihr Neuverständnis als Relecture sieht.259 Die Normativität der Schrift ist damit nicht durch die Schrift selbst gegeben, weil sie in einem religionsgeschichtlichen Zusammenhang steht oder sich auf normativ-kanonische Schriften stützen kann, sondern es kommt zu einer Normverschiebung weg von den Schriften hin zur Person Jesus von Nazareth und seiner Verkündigung. 4.1.

Christologie als Deutung Gottes

Der Berliner Systematiker möchte sich mit seiner Sicht des Alten Testaments von einer Theologie absetzten, die in den alttestamentlichen Schriften einen genuin christologischen Sinn sieht. Diese theologischen Modelle, die die Kanonizität des Alten Testaments christologisch begründen, gehen oft von einer linearen Entwicklung vom Alten zum Neuen Testament aus. Es ist aber nicht angebracht, „das Alte Testament als theologisches Reservoir“ zu nehmen, um daraus theologische Begriffe auf Jesus hin oder von ihm her zu lesen.260 Die 259

Vgl. DERS., Vom Alten Testament und vom Neuen, 160, 252-253; DERS., „Christologie als Reflex“, 181-183. 260 Vgl. DERS., Vom Alten Testament und vom Neuen, 162-164, hier 164. N. Slenczka spricht sogar davon, dass es diesen Modellen primär nicht um den jüdisch-christlichen

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christologischen Dogmen wurden selbstverständlich im Verstehenshorizont des Alten Testaments erarbeitet, doch muss damit noch keine Geltung des Alten Testaments für die ganze Kirchengeschichte ausgesagt werden, besonders wenn man bedenkt, dass es für die christologische Dogmenentwicklung auch hellenistische Einflüsse gab. Aber dabei gilt: „Und die gegenwärtige Bezugnahme auf Jesus Christus als endgültigen Erlöser formuliert sich weder mit hellenistischen noch mit alttestamentlichen Kategorien, sondern füllt diese, wenn sie die Begriffe des ‚Herrn‘ oder des ‚Messias‘ oder des ‚Sohnes Gottes‘ verwendet, mit noch einmal neuen semantischen Gehalten, die eine funktionale, nicht eine materiale Äquivalenz zu den neutestamentlichen oder hellenistischen Begriffen haben: Sie bringen Jesus Christus als unüberbietbaren Grund und Ursprung menschlichen Heils zur Sprache“.261

Die frühe Kirche hat sich also nicht material, sondern formal an das Alte Testament gebunden gefühlt. Natürlich kann diesen Texten eine „Christustransparenz“ zugesprochen werden, die aber nicht eine Dimension des Textes selbst sein kann, sondern die Lesevoraussetzung insgesamt, mit der Christen die Schriften lesen.262 Die zugrundeliegende Erfahrung war für die Jünger nicht, dass dieser Jesus von Nazareth in seinem Leben, seinem Sterben und seinem Auferstehen vollkommen den alttestamentlichen Verheißungen entsprochen hätte, sondern dass sein Leben eine Auswirkung auf ihr Leben hatte. In der Begegnung mit dem Mann aus Nazareth, den sie als ihren Messias bekennen, erfahren sie das Heil. Die „soteriologische Perspektive“ bestimmt das Zeugnis Jesu durch seine Jünger und der ersten Christen.263 In seinem Handeln und in seinem Wort wird ihnen das zugesprochen, was sie bisher in der Verheißung Gottes zu finden glaubten. Jesus von Nazareth verkündet natürlich keinen anderen Gott als den Gott Abrahams, aber er wird für die Jünger in einer neuen Weise erfahrbar. N. Slenczka weist in einer Auslegung zu Phil 2,6-11 darauf hin, dass sich gerade in der Erniedrigung Jesu die Identität Gottes ausdrückt. In der Kenosis zeigt sich Gott in seiner Identität, womit nur noch in Jesus Christus von Gott richtig gesprochen werden kann. Die Kenosis ist „Manifestation Gottes“, weil sich Gott im Gegenteil dessen, also „kontrafaktisch“, zeigt und identifizierbar wird, was eigentlich seinem göttlichen Wesen entspricht. Gott offenbart sich in verborgener Weise Dialog geht, sondern einzig um die Legitimierung, das Alte Testament christologisch zu lesen. 261 Ebd. 164. 262 Ebd. 165: „Denn es ist eben in der Tat etwas anderes, ob wir die christliche Deutung des Alten Testaments als Deutung betrachten oder als Erschließung des ursprünglichen Sinnes der Texte“. 263 Vgl. DERS., „Christologie als Reflex“, 184.

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in der Kenose des Logos, der aber gleichzeitig Gottes Identität offenbart: „Und diese Christologie definiert eben nicht nur den Menschen Jesus von Nazareth als Ort der Selbstmanifestation der Gottheit, sondern umgekehrt die Gottheit durch die Person und das Geschick Jesu von Nazareth […]“.264 Die „kontrafaktische“ Offenbarung der Gottheit durch Jesus von Nazareth stiftet gerade in ihrer Gegensätzlichkeit Identität. Die offenbarte Gottheit ist nicht eine unbekannte Größe, sondern sie wird nun identifiziert mit dem Vater Jesu Christi. Gott bleibt mit Jesus von Nazareth nicht mehr ein semantisches Feld einer Kultur, sondern bringt ein neues Bewusstsein von dem Gott, der sich mit dem vollkommen Erniedrigten identifiziert. Christologie kommt natürlich nicht ohne Begriffe aus. Darum bleiben die Begriffe Gott und Mensch in Jesus Christus aufeinander bezogen und müssen sich gegenseitig erhellen bzw. auslegen. Dabei erhalten die Begriffe, die die Christologie aus dem Alten Testament aufnimmt, eine neue Bedeutung, ohne sich davon vollkommen loszusprechen.265 Die „kontrafaktische“ Definition Gottes durch Jesus von Nazareth ist deshalb für N. Slenczka von großer Bedeutung, da die Wesensoffenbarung Gottes an den Menschen Jesus von Nazareth gebunden ist. In ihm zeigt sich eine neue Beziehung von Gott und Mensch. Das, was an Jesus von Nazareth durch die „kontrafaktische“ 264

Ebd. 188. Zur Auslegung von Phil 2,6-11 vgl. ebd. 184-188. Diese „kontrafaktische Definition“ Christi hat aber auch Bedeutung für den Christen, der durch diesen Ausweis bestimmt wird. Der Mensch, der durch die Kenose in Christus ist, hat eine neue Identität. Siehe auch DERS., „Entzweiung und Versöhnung. Das Phänomen des Gewissens und der Erlösung in Shakespeares ‚King Richard III.‘ als Hintergrund eines Verständnisses der ‚imputativen Rechtfertigung‘ bei Luther“, KuD 50 (2004) 289-319, hier 314; [in Folge: N. SLENCZKA, „Entzweiung und Versöhnung]. P. Galles interpretiert diesen Ansatz in Folge von P. Tillich als „existentiell-soteriologische Perspektive“, die alles Reden über Mensch und Gott christologisch umfängt, um das dialektische Ja und Nein Gottes im Bezug zur Schöpfung ausdrücken zu können, wobei die Dialektik erst durch die Soteriologie gelöst werden kann. Vgl. P. GALLES, Situation und Botschaft. Die soteriologische Vermittlung von Anthropologie und Christologie in den offenen Denkformen von Paul Tillich und Walter Kasper (= TillRes 3), Berlin – Boston 2012, 3537; [in Folge: P. GALLES, Situation und Botschaft]. 265 Vgl. N. SLENCZKA, „Christologie als Reflex“, 190-191. N. Slenczka weist hierbei auf die Gefahr hin, dass die Semantik der ursprünglichen Begriffe nicht „unter Vorbehalt“ der alttestamentlichen Semantik auf Gott und Jesus von Nazareth übertragen werden dürfen. Aber ebenso wenig kann eine christologische Neubestimmung das Band der Kontinuität abschneiden, denn „es muss unbeschadet der Neubestimmung weiterhin verständlich bleiben, dass die Rede von Christus eine Rede von demselben Sacherhalt ist, der außerchristologisch als ‚Gott‘ und als ‚Mensch‘ bezeichnet wird“. Aber gerade in diesem Aussprechen ist auch der Mensch in die Gottesrede miteingeschlossen. In Jesus Christus werden die Worte „Gott“ und „Mensch“ Begriffe, die „über ihren natürlichen Gebrauch hinaus ihr Gegenteil einschließen und miteinbeziehen“. DERS., „Problemgeschichte der Christologie“, in: E. GRÄB-SCHMIDT – R. PREUL (Hgg.), Christologie (= MJTh 23), Leipzig 2011, 59-111, hier 72; [in Folge: N. SLENCZKA, „Problemgeschichte Christologie“].

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Beziehung zu Gott als seinen Vater neu ausgesagt ist, betrifft somit nicht nur seine Person, sondern auch den Menschen, der sein Leben von seinem ergreifen lässt.266 N. Slenczka weist darauf hin, dass in den ersten Jahrhunderten die Trinitätslehre durch die christologische Neubestimmung Gottes erklärbar und annehmbar wurde, weil gerade dadurch das alttestamentliche mit dem philosophischen Gottesbild vereint werden konnte.267 In Jesus von Nazareth klärt sich der alttestamentliche Gottesbegriff, der mit dem kosmologischen Ansatz der griechischen Philosophie christologisch weitergeführt wurde. Die Wesensgleichheit Jesu von Nazareth mit Gott, wie im Glaubensbekenntnis von Konstantinopel bekannt (vgl. DH 150), ist die Bedingung für die Vereinigung, da dieser Jesus von Nazareth damit als Gott und Schöpfungsmittler verstanden wird. Die Rede von Jesus von Nazareth als Menschen mit den Momenten von Geburt, Tod und Auferweckung wahrt die „Kontinuität des Gottesbegriffs[;] [s]ie halten aber zugleich fest, dass man es in der Person Jesu mit einer heilsamen Neubestimmung eben dieses Gottes zu tun hat: Die Abkünftigkeit, die im Gottesverhältnis Jesu Christi ausgesagt ist, gehört als ursprüngliches Selbstverständnis zu eben diesem Gott“.268 Diese christologische Neubestimmung des Verhältnisses von Gott und Mensch kommt noch einmal in der Definition der hypostatischen Union auf dem Konzil von Chalcedon (DH 300-303) zum Ausdruck, die besagt, dass in der Person Jesus von Nazareth die göttliche und menschliche Natur eine Einheit sind. N. Slenczka interpretiert aufgrund der hypostatischen Union die Einheit von Gott und Mensch wie folgt: „Mit den gegen eine Vermischung der Naturen abgrenzenden Negativwendungen (unvermischt, unverändert) wird die semantische Kontinuität des vor- und außerchristologischen Begriffes Gottes und des 266 Vgl. DERS., „Christologie als Reflex“, 203: „Darüber hinaus zielt aber diese Selbstentäußerung Gottes in der Person Jesu von Nazareth nicht allein auf den Menschen Jesus von Nazareth, sondern durch ihn auf alle Menschen, die an der der Selbsterniedrigung Gottes zu den Menschen korrespondierenden Erhöhung des Menschen zur Rechten Gottes teilhaben […]“. Siehe auch F. NÜSSEL, „‚Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir‘ (Gal 2,20a). Dogmatische Überlegungen zur Rede vom ‚Sein in Christus‘“, ZThK 99 (2002) 480-502, 499-502 [in Folge: F. NÜSSEL, „Sein in Christus“]. 267 N. SLENCZKA, „Christologie als Reflex“, 194: „Die Ausbildung des trinitarischen Bekenntnisses ist das Ergebnis der Relektüre des Gottesbegriffes im Ausgang von der Geschichte des Jesus von Nazareth“. 268 Ebd. 195. C. Danz weist darauf hin, dass es zu einen der grundlegenden Einsichten M. Luthers gehört, dass Gott und der Glaube gleich ursprünglich sind, so dass der Glaube die Artikulation Gottes in der Geschichte ist, die in Jesus Christus zugänglich geworden ist. Darum muss Gott offenbarungstheologisch durch Jesus Christus erschlossen werden. Siehe C. DANZ, Grundprobleme der Christologie (= UTB 3911), Tübingen 2013, 210212; [in Folge: C. DANZ, Grundprobleme der Christologie]. Siehe auch N. SLENCZKA, „Neues Testament als Wahrheitsraum“, 15.

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Menschen festgehalten; mit den gegen eine Trennung abgrenzenden Negativwendungen (ungetrennt und ungeteilt) wird ausgeschlossen, dass die beiden Naturen durch die Verbindung in einer Person nicht affiziert wären und dass sie durch das, was mit der Person geschieht, nicht affiziert würden; damit wird dem Anliegen der christlogischen Neubestimmung des Begriffs des Menschen und des Begriffs Gottes Rechnung getragen“.269

Die semantische Neubestimmung Gottes und des Menschen durch die christologische Interpretation möchte in der Kontinuität der Begriffe das Neue im Ereignis Jesu von Nazareth zum Ausdruck bringen. Durch die biblischen Aussagen über Jesus von Nazareth kommt es nicht nur zu einer Neubestimmung im Verhältnis Gottes zum Menschen, sondern auch zu einer Neubestimmung des Gottes- und Menschenbegriffs im Glauben. Dort, wo von Jesus Christus als Mensch gesprochen und geglaubt wird, wird sein Gottsein nicht ausgeschlossen, sondern gerade eingeschlossen und umgekehrt. Die Idiomenkommunikation ist die semantische Neubestimmung Gottes in Jesus Christus, da in ihm die Begriffe „Gott“ und „Mensch“ eine Neudefinition in ihrer gegenseitigen Verschränkung erfahren.270 4.2.

Vorordnung der Soteriologie vor die Christologie

In Folge der Interpretation der communicatio idiomatum durch M. Luther schließt N. Slenczka: „Es ist Grundaussage der lutherischen Christologie, dass in der Person Jesu der Schlüssel zum Verständnis der Schöpfung als Werk und Wirkungsmedium eines liebenden Vaters gegeben ist – der allmächtige Schöpfer definiert sich in der Person Jesu als der dem Menschen zugewandte Gott und als der liebende Vater […]“.271 Die Zuwendung Gottes in Jesus von Nazareth ist die 269

DERS., „Christologie als Reflex“, 199. Vgl. auch DERS., „Problemgeschichte der Christologie“, 72-73. 270 Ebd. 73. Siehe auch die Ausführungen von C. Danz zum Verhältnis des Selbstverständnisses des Menschen im Glauben an Jesus Christus, wobei er den Schwerpunkt auf die Christologie als Zentrum der Theologie setzt: C. DANZ, Christologische Grundprobleme, 213: „In der christologischen Deutung Jesu als Christus – und das heißt als Offenbarung Gottes – werden sowohl die Unableitbarkeit des SichVerstehens aus der Geschichte als auch die bleibende Bezogenheit des Glaubens auf die Geschichte zum Gegenstand der religiösen Reflexion. Und schließlich repräsentiert der Glaube sich im Christusbild die Notwendigkeit des individuellen Vollzugs des Glaubens. Ein Sich-Verstehen des Menschen ist nur als personaler Vollzug möglich und allein in diesem Vollzug wirklich. Indem der Glaube im Christusbild sich selbst beschreibt, repräsentiert er für sich nicht nur seine Gebundenheit an die Geschichte sowie seine Unableitbarkeit aus ihr, sondern auch die Notwendigkeit und Unvertretbarkeit des individuellen Glaubensvollzugs. Zugleich repräsentiert der Glaube im Christusbild die bleibende Notwendigkeit menschlicher Selbstdeutung“. 271 N. SLENCZKA, „Christologie als Reflex“, 203. Vgl. zur Idiomenkommunikation auch DERS., „Religiöse Verbindlichkeit im Horizont pluralistischer Religionstheorie“, in:

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Offenbarung Gottes, der in der Erniedrigung dem Menschen Anteil gibt am göttlichen Leben. Im Menschen Jesus von Nazareth zeigt sich Gott als der Gott, der am Menschen handelt und im Menschen Jesus von Nazareth zeigt sich der Mensch als der Mensch, der beschenkt ist mit der Selbstmitteilung Gottes.272 Die christologische Erfahrung erschließt also dem Menschen die neue Gottesbeziehung in der gleichzeitigen Unbegreiflichkeit Gottes. N. Slenczka nimmt in seinem christologischen Beitrag in der Reihe „Themen der Theologie“ ein Zitat von Melanchton auf, um die „soteriologische Pointe der Christologie“273 herauszustellen. Melanchton schreibt in seinen „Loci communes“ von 1521 in Bezug auf die Heilswirkungen Christi: „Nam ex his proprie Christus cognoscitur, soquidem hoc est Christum cognoscere beneficia eius cognoscere, non, quod isti docent, eius naturas, modos incarnationis contueri./Denn daraus [aus seinen Heilswirkungen] wird eigentlich Christus erkannt, so daß Christus erkennen heißt: seine Wohltaten erkennen, nicht, was jene [die scholastischen Theologen] lehren, seine Naturen, die Arten und Weisen der Inkarnation betrachten“.274 Der frühe reformatorische Theologe will sich hier von den scholastischen Theologen („isti“) absetzen. Die scholastische Theologie hat sich laut Melanchton zu sehr darauf konzentriert, die hypostatische Union der menschlichen und göttlichen Naturen Jesu Christi („naturas“) zu erklären, anstatt auf die Heilswirkungen („beneficia“) Jesu einzugehen. In einer späteren Auflage (1559) der „Loci communes“ behandelt der Theologe zwar wieder die Konzilien mit den ontologischen Aussagen über die Trinität und über die Person Jesu Christi, aber nur noch unter dem Vorzeichen der Soteriologie.275 G. HÖVER (Hg.), Verbindlichkeit unter den Bedingungen der Pluralität (= Schriftenreihe THEOS 34), Hamburg 1999, 131-165, hier 154-159; [in Folge: N. SLENCZKA, „Religiöse Verbindlichkeit“]. Der Autor unterstreicht dabei, dass bei M. Luther gerade im Abendmahlsstreit mit Zwingli die absolute Verbindung von Gottheit und Menschheit gewahrt ist. Durch die hypostatische Union sind nun Aussagen über Gott möglich, die zuvor nur Gott eigentümlich, für den Menschen aber unzugänglich waren. Was die Menschheit Christi prägt wird nach lutherischer Christologie in die Transzendenz Gottes eingeschrieben. N. Slenczka weist darauf hin, dass die Soteriologie die Transzendenz Gottes „prägt“, da Soteriologie nicht eine rein sprachliche Aussage über Gott ist, sondern ein Vollzug in re. Das Wesen Gottes ändere sich aber nicht in sich – Gott bleibt auch für M. Luther der Deus absconditus –, sondern insofern sich Gott in Jesus von Nazareth und seinem Leben und Tod selbst definiert. Gott ist in Jesus Christus der zugleich Ferne und Nahe. Einen kurzen Abriss der Idiomenkommunikationslehre in der protestantischen Theologie bietet auch F. NÜSSEL, „Sein in Christus“, 491-497. 272 Vgl. N. SLENCZKA, „Christologie als Reflex“, 204. 273 Ebd. 206. Siehe auch die Verortung der soteriologischen Priorität bei M. Luther: DERS., „Christus“, in: A. BEUTEL (Hg.), Luther Handbuch, dritte, neu bearb. und erw. Aufl., Tübingen 2017, 428-439, 428-429; [in Folge: N. SLENCZKA, „Christus“]. 274 Ph. MELANCHTON, Loci communes, Introducito 22, zitiert nach: N. S LENCZKA, „Christologie als Reflex“, 206-207 (Hervorhebung bei N. Slenczka). 275 Vgl. ebd. 207.

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Damit schlägt Melanchton einen Weg ein, der in der protestantischen Theologie Schule machen soll. Es geht darum, die Soteriologie der Christologie vorzuordnen. Dies hat natürlich zur Folge, dass die Christologie nicht mehr als das Fundament und – oder anders gesprochen – die transzendentale Begründung der Soteriologie ist. Es ist damit genau umgekehrt: Die Soteriologie bestimmt die Gotteslehre und die Christologie.276 Dazu braucht die Soteriologie aber ein neues Fundament, auf dem es aufbauen und bestehen kann. Der Grund, der nun alles zusammenhält, ist Gott, der im Handeln Jesu von Nazareth erfahrbar wird. In Jesu Handeln – und fortgeführt im Geist der Kirche – begegnet Gott dem Menschen, von dem der Mensch im christlichfrommen Bewusstsein direkt abhängig ist. N. Slenczka sieht nicht nur die Christologie, sondern dann auch die Trinitätslehre durch die Soteriologie bestimmt, da es ein Wechselspiel der trinitarischen Personen ist, die im Selbstbewusstsein mit dem Gläubigen in Beziehung stehen. „Die Trinitätslehre ist eine Funktion der soteriologischen konzentrierten Christologie – und das ist dasselbe wie: Die Trinitätslehre ist die Zusammenfassung der Erfahrung, dass im Einflussbereich des Geistes Christi es zu einer Neubestimmung der menschlichen Selbsterfahrung in dem Sinne kommt, dass ein Mensch sich in allen Lebensbezügen dankbar als schlechthin abhängig und darin als eins mit Gott erfährt. Die christologischen und pneumatologischen Doktrinen haben ihr Recht so weit, wie sie diese soteriologische Erfahrung reflektieren und zusammenfassen; dann sind sie aber auch unverzichtbar. Die Christologie

276 Vgl. ebd. 207: „In den – calvinistischen wie lutherischen – Dogmatiken des 17. Jhs. wird die Lehre von der Person Christi als eigenständiges Kapitel geführt und als Entfaltung des dem Werk Christi und seiner Heilsbedeutung zugrundeliegenden Personseins Jesu gefasst […]; durch den Ausweis des ‚usus practicus/Praktischen Gebrauch‘ und durch die folgenden Lehrstücke der Ämter und der ‚status Christi/Stände Christi‘, schließlich durch das gleich folgende Lehrstück von der ‚gratia applicatrix spiritus sancti/der zueignenden Gnade des Heiligen Geistes‘ bleibt diese Darstellung auch noch in der monographischen Verselbständigung der Christologie (seit Chemnitz‘ De duabus naturis/Über die zwei Naturen, 1560) soteriologisch angebunden“. N. Slenczka folgt darin F. Schleiermacher, der in Der christliche Glaube § 92,3 festhält, dass das Kriterium der Christologie in der Wirkung Christi im Einzelnen ist. Dazu auch DERS., „Problemgeschichte der Christologie“ 79-80. Als Vorwegnahme kann auch direkt gesehen werden P. TILLICH, Systematische Theologie I-II, C. DANZ (Hg.), 92017, 444: „Christologie ist eine Funktion der Soteriologie. Das Problem der Soteriologie schafft die christologische Frage und weist in die Richtung, in der die christologische Antwort gegeben werden muß. Denn es ist die Funktion Christi, das Neue Sein zu bringen und damit die Erlösung vom alten Sein, nämlich von Entfremdung und Selbstzerstörung“; [in Folge: P. TILLICH, Systematische Theologie]. Tillich versteht seine Christologie als Soteriologie, die das Ziel hat, den Menschen mit Gott zu verbinden. Die Christologie ist in seinem Ansatz auf die Soteriologie beschränkt, bildet aber dennoch in dieser Beschränkung die Mitte seiner systematischen Theologie. Vgl. dazu P. GALLES, Situation und Botschaft, 33-35.

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ist Reflex der Soteriologie. Die Trinitätslehre fügt diesem Ausdruck des frommen Selbstbewusstseins nichts hinzu“.277

Es geht der reformatorischen Theologie darum, die existentielle Bedeutung des Glaubens herauszustreichen und nicht den Glauben auf spekulativen Reflexionen zu begründen. An die Stelle der spekulativen Reflexion tritt die Wirkung der Soteriologie, die sich im Handeln Jesu von Nazareth und des Geistes in der Kirche ausdrückt. Durch die Soteriologie ist der Glaubende hineingenommen in die Bestimmung Jesu Christi und erfährt in der Aussprache Christi seine Neubestimmung. Mit dem Prinzip sola scriptura hatte die reformatorische Theologie ein Instrument entfaltet, das ihr half, sich von der spekulativen Scholastik loszusagen und sich rein auf das Jesusbild der Schrift zu konzentrieren. Die dogmenkritische Haltung der Aufklärung verstärkte dieses Ansinnen noch und verhalf der Theologie, sich in neuer und bisher unbekannter Weise in den historischen Texten zu verankern. Der neue Blick der Theologie hing damit nicht mehr an der spekulativen Ontologie, sondern konzentrierte sich auf das Leben Jesu und seine Bedeutung für das menschliche Leben.278 Die reformatorische Theologie will mit dem Rückgriff auf das historische Jesusbild den Glauben plausibel machen und durch die Schrift selbst begründet sehen. F. Schleiermacher kommt laut N. Slenczka eine wesentliche Rolle in der Vermittlung dieses Anspruches zu, indem er die von den frühen Reformatoren begründete Überzeugung der Soteriologie zur Geltung brachte. „Schleiermacher fasst den Menschen Jesus von Nazareth als die vollkommene und insoweit urbildliche Realisierung des menschlichen Gottesbewusstseins und betrachtet die Evangelien als Zeugnisse der historischen Realisation dieses Urbildes des Menschseins“.279 Gerade damit wird aber die Christologie dem 277

N. SLENCZKA, „Das Dogma als Ausdruck des religiösen Selbstverständnisses. Trinitätslehre bei Schleiermacher, Troeltsch und Tillich“, in: U. BARTH – C. DANZ – W. GRÄB – F. W. GRAF (Hgg.), Aufgeklärte Religion und ihre Probleme: Schleiermacher - Troeltsch - Tillich (= TBT 165), Berlin – Boston 2013, 661-684, hier 675; [in Folge.: N. SLENCZKA, „Dogma als Ausdruck“]. Siehe C. DANZ, Grundprobleme der Christologie, 2013, 172-180, der weitere Ansatzpunkte für ein Zusammendenken der gegenseitigen Begründung von Christologie und Trinitätslehre vorstellt. 278 Vgl. N. S LENCZKA, „Christologie als Reflex“, 210: „Im Hintergrund der Rückgriffe auf den Lebensvollzug Jesu steht häufig ein soteriologisches Konzept, das intensiver an der exemplarischen Bedeutung des Werkes Christi als Stellvertretung des Menschen vor Gott orientierten – reformatorischen und vorreformatorischen Christologien, die dazu tendierten, die Christologie als Rede von der einer Wirkung vorausgehenden Ursache zu konzipieren. Der irdische Lebensvollzug Christi wird nun zum orientierenden Exemplar des menschlichen Lebensvollzuges, und das Heil wird interpretiert als Teilgabe am Gottesverhältnis und am Leben Jesu, häufig unter Inanspruchnahme des Begriffs der Nachfolge“. 279 Ebd. 210.

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christlich-frommen Selbstbewusstsein nachgeordnet und ist somit der erste Reflex dieses Selbstbewusstseins, da die urbildliche Realisierung des Gottesbewusstseins als die Erlösung zu verstehen ist. Für den protestantischen Philosophen und Theologen des 19. Jahrhunderts ist in seiner Glaubenslehre nicht mehr das Dogma der Inkarnation das Grunddatum der Lehre über Jesus von Nazareth, er sieht in ihm vielmehr das ursprüngliche und höchste Gottesverhältnis des Menschseins in Jesus von Nazareth gegeben, welches sich im christlich-frommen Selbstbewusstsein jedes Menschen abbildet. Darin ist die soteriologische Pointe gesetzt, dass sich der Mensch im Bewusstsein als erlöst erfährt und das Wissen um die Erlösung im Glauben auf den Gott-Menschen Jesus Christus überträgt.280 Mit Schleiermachers „Glaubenslehre“ ist nun die Soteriologie zum Urquell der Christologie geworden, da sich in der Erfahrung des Heils das christlich-fromme Selbstbewusstsein begründet findet und sich als angenommen erfährt, was biblisch gesprochen die Gotteskindschaft 280

Vgl. F. WITTEKIND, „Soteriologische Christologie als wahrheitstheoretische Darstellung des Selbstverhältnisses im Glauben“, in: R. BARTH – A. KUBIK – A. V. SCHELIHA (Hgg.), Erleben und Deuten. Dogmatische Reflexionen im Anschluss an Ulrich Barth, FS für Ulrich BARTH, Tübingen 2015, 235-253, 245: „Die unmittelbare Wirkung – traditionell gesprochen – der Erlösung in Jesus Christus ist die Versöhnung im Glauben. Dass im Ereignis der Gewissheit der Wahrheit des Selbst im Glauben eine Versöhnung des Selbst mit sich selbst geschieht, ist der Kern der hier ausgesprochenen Deutung des christlichen Erlösungsglaubens“ (Hervorhebung im Original); [in Folge: F. WITTEKIND, „Soteriologische Christologie“]. Indem also die Versöhnung mit sich selbst nur in der im Selbst Jesu Christi möglich ist, ist also Versöhnung mit Gott gegeben. P. Galles versucht diesen Gedanken mit Hilfe des Symbolbegriffs bei P. Tillich zu erklären, wenn er schreibt: In „der Soteriologie ist das Symbol das ‚Medium‘ der Vermittlung von Christologie und Anthropologie. Von daher muß es fähig sein, sowohl die christologische als auch die anthropologische Seite darzustellen“. P. GALLES, Situation und Botschaft, 196. Vgl. auch N. SLENCZKA, „Christologie als Reflex“, 211-212. N. Slenczka unterstreicht, dass es sich bei diesem Gedanken des Urbildes des Gottesverhältnisses um eine logische Interpretation der Zwei-Naturen-Lehre handelt, denn „[w]o die vollkommene Kräftigkeit des frommen Bewusstseins ist, da und nur da ist Gott“. Dabei ist aber zu beachten, dass für F. Schleiermacher das absolute Bewusstsein Jesu von Nazareth in seinem absoluten Gottesverhältnis nicht als Projektion des Menschen oder der Gemeinde gesehen werden kann. Damit versucht er auch den kommenden Argumenten der Religionskritik der Aufklärung aus dem Weg zu gehen. Vgl. dazu auch ebd. 232-233: „Es ist dem Glaubenden wesentlich, sich selbst nicht als Ursprung dessen zu wissen, worauf er sich als auf [sic!] den Grund seiner selbst bezieht und wovon er sich abhängig weiß. In der Bezugnahme auf Jesus von Nazareth bezieht sich der Glaubende auf diese Person als Grund und Ursprung seiner selbst – genau dies spricht er in dem Bekenntnis aus, dass dieser ‚der Herr‘ oder ‚Gottes Sohn‘ oder ‚das Wort‘ oder ‚eins mit dem Vater‘ sei. […] Zugleich aber vergisst der Glaubende in diesen Aussagen sich selbst; er setzt diesen Überschuss an Wirklichkeit, aber er setzt ihn ‚sich voraus‘. […] Diese Selbstvergessenheit verweist auf die Unableitbarkeit der religiösen Erfahrung, die nicht von einem Subjekt oder einer Gruppe von Subjekten generiert wird, die sich vielmehr einstellt. Dieser Unverfügbarkeit trägt das fromme Subjekt Rechnung, indem es alles, was an ihm selbst ist, als extern konstituiert und als verdankt ausspricht“.

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meint. Der Mensch erfährt in seinem Selbstbewusstsein die Erlösungstat Jesu, da ihm in diesem Selbstbewusstsein sein Gottesverhältnis als die Erlösung zugesprochen ist. Für F. Schleiermacher ist damit das reformatorische Prinzip sola fide am klarsten zum Ausdruck gebracht. In der soteriologischen Tat Christi stellt sich das Gottesverhältnis dar, in dem der Mensch sein Heil findet. Für N. Slenczka äußert sich darin die Grundstruktur des christlichen Glaubens, wenn er schreibt: „Diese Grundfigur setzt voraus, dass der Glaube nicht als Bezugnahme auf den exklusiven stellvertretenden Gesetzesgehorsam Jesu gefasst wird, sondern dass das Gottesverhältnis Jesu selbst als durch das Evangelium strukturiert und somit als werkfreier Glaube verstanden wird, in dem die eigentliche und ursprüngliche Bestimmung des Menschen realisiert ist. Entsprechend ist der Glaube an Christus nicht die Substitution des eigentlich Gott entsprechenden Gesetzesgehorsams (den Christus allein leistet, den aber eigentlich der Mensch schuldet), sondern der Glaube ist das Eintreten in das ursprüngliche, in der Person Jesu realisierte Gottesverhältnis selbst“.281

F. Schleiermacher schafft mit seiner Konzeption der soteriologischen Vorordnung eine Neubestimmung des christlichen Lebens. Das Heil ist nicht mehr ein Werk, das Gott durch Jesus Christus am Menschen tut. Vielmehr ist Heil nun als Teilhabe am Gottesverhältnis zu erfahren, das der Mensch in seinem Selbstbewusstsein grundgelegt findet. Christliches Leben ist damit direkte – existentielle – Teilhabe am Leben Christi. In der soteriologisch zentrierten Perspektive und zusammen mit den Gedanken von R. Bultmann, dass die biblischen Texte nicht historische Gegebenheiten beschreiben wollen, sondern eine existentiale Bedeutung nach- bzw. vorzeichnen, erkennt man in den Geschichten über Jesus von Nazareth die lebensrelevante Bedeutung der Geschichte Jesu selber. „Die Aufmerksamkeit auf die untrennbare Verbindung der Rede von einem Gegenstand mit dem Ausdruck der Erfahrung einer Wirkung, den dieser Sachverhalt auf das Selbstverständnis des Menschen hat, impliziert, dass sich religiöse Rede nicht in der wie immer feststellbaren Übereinstimmung ihrer gegenständlichen Aussagen mit den entsprechenden Sachverhalten bewahrheitet, sondern in der Angemessenheit und Nachvollziehbarkeit der Selbstdeutung, in der der religiös Bewegte reflektiert, was er von diesen Gegenständen her empfangen haben will. Die christliche Rede über Jesus von Nazareth ist Rede des Glaubenden über das im Umgang mit dieser Person bzw. im Hören der Überlieferung von ihr ausgelöste Selbstverständnis; dies bringt der Glaubende in Aussagen über diese Person zur Sprache“.282

281 282

Ebd. 212-213. Siehe auch F. WITTEKIND, „Soteriologische Christologie“, 248-249. N. SLENCZKA, „Christologie als Reflex“, 221.

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Glaube ist Wahrnehmung, dass sich die Zusage des direkten Heils, wie es in den neutestamentlichen Schriften ausgedrückt ist, realisiert hat. Das Neue in Jesus Christus ist, dass das menschliche Leben sich nach dem frommen Selbstbewusstsein orientiert, da sich darin die existentiale Bedeutung der Verkündigung niederschlägt. Der existentielle Nachvollzug der existentialen Bedeutung ist Kriterium für oder gegen die biblischen Schriften, denn es „handelt sich bei diesen [biblischen; Anm. d. Verf.] Aussagen um das Aussprechen einer in der Begegnung mit Jesus von Nazareth ausgelösten soteriologischen Erfahrung, die als befreiende Deutung gegenwärtiger Existenz sich erschließt und überzeugt“.283 Die soteriologische Vorordnung vor die Christologie bringt auch eine Neubestimmung des Wahrheitsgehalts der Schriften mit sich. Dort ist die Schrift wahr, wo sich die befreiende Erlösung, die der Mensch in seinem frommen Bewusstsein erfährt, niedergeschlagen hat. An der Soteriologie müssen sich also die Christologie und die Schriften messen lassen, wenn sie Ausdruck der Erlösungstat Christi sein wollen. Dort, wo der Mensch die befreiende Erfahrung seiner Existenz gemacht hat, kann dann auch etwas über Jesus Christus ausgesagt werden. Die Wirkung leitet damit die Bestimmung. Christlicher Glaube verdankt sich hiernach nicht einer ontologischen Spekulation, sondern der Erfahrung der Erlösung. Darum ist Glaube durch die Martyria gekennzeichnet. In einer Reflexion über die fundamentaltheologische Option einer Theologie des Neuen Testaments durch F. Hahn versucht seinerseits auch N. Slenczka, die Heilswirkung einer Offenbarungstheologie – wie schon bei Schleiermacher – als vorgeordnet zu erweisen. F. Hahn bestimmt neutestamentliche Theologie als Theologie der Offenbarung Gottes. Dabei kann aber das Offenbarungswissen nicht einfach aus den Schriften des Neuen Testaments herausdestilliert werden. Die fundamentaltheologische Option besteht gerade darin, dass Offenbarung den Schriften vorausgehend sein muss, um sich in ihnen aussagen zu können.284 Aufgrund dieser Option ist zuerst nach der 283

Ebd. 222. Vgl. DERS., „Systematische Bemerkungen über die Aufgabe und den Ansatz einer Theologie des Neuen Testaments am Beispiel des Entwurfs von Ferdinand Hahn“, in: C. BREYTENBACH – J. FREY (Hgg.), Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments (= WUNT 205), Tübingen 2007, 275-286, hier 278-279 [in Folge: N. SLENCZKA, „Systematische Bemerkung“]: „Das Begründungsverhältnis zwischen einer Theologie des NT und einer Fundamentaltheologie bzw. gegenwärtig geltender Lehre ist nicht einsinnig, sondern wie eine Bestimmung des Zentrums der Theologie des NT eine fundamentaltheologische Option darstellt, so ist auch anzunehmen, daß in einem erschließenden Zugriff auf die Einheit des NT fundamentaltheologische Optionen verborgen oder vorausgesetzt werden“. Siehe auch T. SÖDING, Einheit der Heiligen Schrift?, 144-148, der in F. Hahn einen Entwurf für die Einheit beider Testamente erkennt, da das Offenbarungshandeln Gottes in Jesus Christus die „eschatologische Dimension des Alten Testaments stark gemacht wird“ (146-147). 284

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Soteriologie zu fragen, die sich in der Martyria niederschlägt und erst in einem zweiten, reflexiven Schritt als Christologie verstanden werden kann. In der existentiellen Erfahrung der Soteriologie öffnet sich dem Glauben die existentiale Bedeutung des Evangeliums in der Martyria und im Kerygma. N. Slenczka sieht darin eine Bestätigung einer „existentiell-soteriologischen Perspektive“, der er sich anschließt: „Diese Martyria weist dabei in der Tat über sich hinaus – aber doch nicht auf dasjenige, was eine Christologie oder eine Lehre von der Selbstoffenbarung Gottes zum gegenständlichen Korrelat haben könnte; vielmehr verweist die Martyria zunächst auf sein ‚Woher‘ dieser soteriologischen Erfahrung und in diesem Sinne auf die Kraft Gottes, die im Evangelium erfahren wird. Das ‚Woher‘ der Erfahrung ist als solches aussagbar nur aufgrund und unter der Voraussetzung dieser Erfahrung selbst. Der Glaube, der an einem Geschehen oder mit einer Person eine soteriologische Erfahrung macht, bezeichnet daraufhin dieses Ereignis bzw. diese Person als (Ort der) du,namis qeou/, und so gewinnt korrelativ die Person Jesu von Nazareth für denjenigen, der diese Erfahrung gemacht hat, eine bestimmte Bedeutung als Ursprung dieser Erfahrung. Genau dies schlägt sich als ‚Martyria‘ nieder. Das bedeutet aber, daß diese Martyria niemals erst Rede über Christus und dann Rede über dessen Heilswirkung ist, sondern es legt sich doch die Annahme nahe, daß die Martyria in dem Sinne bekennende Rede über Christus bzw. Gott ist, daß sie ihn als Grund der Heilswirkung resp. als Grund des Glaubens thematisiert. In diesem Sinne ist dann aber die Christologie bzw. die bekennende Rede von Christus sachlich nicht Rede über die ‚gegenständliche‘ Voraussetzung der Heilserfahrung, sondern Niederschlag der gemachten Heilserfahrung und nur auf der Grundlage der Heilserfahrung möglich: Die biblische Rede von Christus ist Niederschlag und Ausdruck der Heilserfahrung, nicht Beschreibung ihrer gegenständlichen Voraussetzung: Der Mensch kann nicht anders von dem sprechen, was er erfahren hat, als daß er denjenigen, an dem ihm diese Erfahrung geworden ist, als Gottessohn oder Messias oder Menschensohn bezeichnet“.285

Die Christologie kann somit immer nur rückblickend entfaltet werden. Was die Erfahrung der Soteriologie als die Erfahrung der Werke Christi ausdrückt, lässt erst das Bekenntnis zu Jesus als dem Christus formulieren. Das fromme Selbstbewusstsein setzt dies voraus und verliert sich in dieser je größeren Wirklichkeit des Glaubens, um in der Erfahrung des Gottesverhältnisses geborgen zu sein. Die neutestamentlichen Schriften sind für sich wiederum nur Reflex dieser Erfahrung des Heilsereignisses, das sich in der Martyria ausgedrückt

285

N. SLENCZKA, „Systematische Bemerkung“ 283-284 (Hervorhebungen im Original). P. GALLES, Situation und Botschaft, 162 fasst den Sachverhalt der Beziehung Offenbarung zusammen: „Es gibt keine Offenbarung ohne unbedingtes Betroffensein und umgekehrt“.

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hat.286 Gerade darin wird mit dem Neuen Testament etwas Neues gesetzt, das sich vom Alten absetzt, da in diesen Schriften eine absolute Heilserfahrung reflektiert wird und damit zum Bekenntnis und zur Lehre wird. Die Soteriologie prägt die Christologie und die Transzendenz Gottes, da gerade durch die Soteriologie und ihre neutestamentlichen Bekundungen im Kerygma Aussagen über Gott selber gemacht werden können. Die Soteriologie „als Medium der Gotteserfahrung“ ist Aussage Gottes über sich selbst in der Welt und am Menschen und „prägt die Identität der Transzendenz, die in anderen Kontexten ohne genau diese endlichen Prädikate des Menschen Jesus von Nazareth nicht dieselben wären“.287 Diese endliche Prädikation durch die Soteriologie begrenzt Gott nicht in seiner Universalität; im Gegenteil: Gerade die Soteriologie vermag die Universalität des Handelns Gottes in Jesus Christus auszudrücken, da sich Gott in Jesus Christus an den Menschen bindet und sich für ihn erfahrbar macht. Soteriologie wendet den partikular erscheinenden Deus absconditus in den universalen Deus revelatus. Im Glauben weiß sich der Mensch mit Jesus Christus verbunden, da im Glauben dessen Wirkungen erfahren werden. Da er aber wiederum ein Reflex des christlichen Selbstbewusstseins ist, geschieht die Erlösungstat Christi im Bewusstsein des Menschen. Es ist ja das Selbstbewusstsein, das sich mit dem Bewusstsein Christi vereinigt und darin Erlösung erfährt. Soteriologie als Erlösungstat vollzieht sich nicht an sich, sondern im frommen Selbstbewusstsein des Glaubenden, worauf sich Christologie, analog zum Glauben und Selbstbewusstsein, immer wieder zurückgebunden erfährt. Mit einem Wort P. Tillichs kann der Gedanke zusammengefasst werden: „Das letzte Kriterium der Christologie ist selbst existentiell. Es ist soteriologisch, d. h. durch die Frage nach der Erlösung bestimmt: ‚Je Größeres wir über Christus aussagen, desto größer ist die Erlösung, die wir von ihm erwarten können‘“.288 286 Vgl. ebd. 286: „Für die Gestaltung einer Theologie des NT legt es sich nahe, angesichts der nach meinem Eindruck bleibend gültigen Alternative eines offenbarungstheologischen und eines ‚anthropologischen‘ Ansatzes so zu verfahren, daß die Soteriologie nicht als Dimension des Offenbarungshandelns Gottes und als Folgebestimmung der Christologie zu stehen kommt, sondern genau umgekehrt die neutestamentliche Rede von der Offenbarung Gottes und die Christologie insgesamt als Folgebestimmung und Ausdruck einer vorausgesetzten Heilserfahrung gefaßt wird, die freilich ohne diese gegenständliche Dimension nicht zutreffend zum Ausdruck gebracht werden kann. Denn der Glaube spricht sich nur über Gegenstände aus. Aber erst die Theologie wird seiner ansichtig“ (Hervorhebung im Original). 287 N. S LENCZKA, „Religiöse Verbindlichkeit“, 159. 288 P. TILLICH, Systematische Theologie, 440. N. Slenczka veranschaulicht diesen reflexiven Zusammenhang von Soteriologie und Christologie am Beispiel von Schuld und Erlösung. Erlösung geschieht im Bewusstsein, worin dann die Schuld überwunden wird. Vgl. N. SLENCZKA, „Problemgeschichte der Christologie“, 90-91.

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5.

Das nicht-normative Alte Testament und das Neue des Neuen Testaments

N. Slenczka bekundet, dass seine These von der apokryphen Bedeutung des Alten Testaments für ihn selbst ein Lernprozess war, der ihn über Jahre begleitet hat. Ging er ursprünglich davon aus, dass das Alte Testament für das Christentum kanonische Geltung für das Christentum hat, ist er davon langsam abgerückt. In seinem Buch Vom Alten Testament und vom Neuen plädiert er für eine nicht-normative Sicht des Alten Testaments. Er begründet diese Sicht auch mit dem Argument des Respekts vor dem Judentum. Eine christliche Deutung dürfe das Alte Testament nicht dem Judentum entreißen. In seinem Buch Der Tod Gottes und das Leben des Menschen aus dem Jahr 2003 konnte der Berliner Systematiker dem Alten Testament noch einen anderen Stellenwert zuschreiben: „Ich halte die zuweilen vertretene Ansicht, dass das Alte Testament dem Judentum ‚gehört‘ und vom Christentum verfremdend angeeignet ist, für falsch. Historisch haben wir es nämlich damit zu tun, dass der genaue Sinn und die Absicht der alttestamentlichen Texte im Kontext des Spätjudentums strittig wird, und zwar innerhalb des Judentums: zwischen der jüdischen Sekte der Anhänger Jesu einerseits und dem wiederum vielfältigen und hinsichtlich der Deutung des Alten Testaments ebenfalls uneinigen Hauptstrom der jüdischen Tradition andererseits. Beide Strömungen (eben nicht nur die auf Jesus von Nazareth sich berufende) lesen die alttestamentlichen Texte unter unterschiedlichen Vorgaben und mit unterschiedlichen hermeneutischen Schlüsseln; der Anspruch einer Kontinuität zwischen dem entstehenden Christentum und dem Volk Israel (als der religiösen Größe, der die alttestamentlichen Texte entstammen) ist in dieser Situation nicht von geringerem Recht als der Anspruch einer Kontinuität zwischen dem Volk Israel und dem nachbiblischen Judentum. […] Das Christentum ist ursprünglich eine innerjüdische Sekte – das ist richtig. Das bedeutet dann aber eben auch, dass sich das Christentum von Anfang an und vor wie nach seiner Trennung vom übrigen Judentum als die Wahrheit und die eigentliche Gestalt des im Alten Testament vorgezeichneten Gottesverhältnisses – in diesem Sinne als das ‚wahre‘ Judentum – verstanden hat“.289

Nun geht es N. Slenczka nicht darum, das Alte Testament aus der Bibel zu entfernen – nichts liegt im ferner!290 Die alttestamentlichen Schriften 289 DERS., Tod Gottes, 18-19. Vgl. seinen Beitrag „Vom Verhältnis des Alten und Neuen Testaments“, in: Ebd. 90-109. 290 Vgl. DERS., Vom Alten Testament und vom Neuen, 317: „Ich habe das [die Entfernung des Alten Testaments aus der christlichen Bibel; Anm. d. Verf.] nie gefordert, und Schleiermacher und Harnack und Bultmann übrigens auch nicht. Dass sich dieses Gerücht, ich hätte gefordert, das Alte Testament ‚aus dem Kanon zu verbannen‘, hartnäckig hält, ist eine der großen Blödheiten dieser Debatte“. Noch deutlicher äußert

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sind nach wie vor für den protestantischen Theologen wertvolle Texte, die im Gottesdienst, aber auch privat gelesen werden dürfen, sollen und müssen. Denn es sind die Schriften Jesu und der jüdische Kanon ist die Sprachwelt der Jünger, die darin erste Deuteschlüssel für das Christusereignis gefunden haben.291 5.1.

Die Bedeutung der Kanonizität und Normativität für das Alte Testament292

Die alttestamentlichen Schriften können für das Christentum normativ sein, wenn sie als Verheißung wirklich in der christologischen Erfüllung ihr Ziel haben und damit als Vorgeschichte des Christentums auch identitätsstiftend sind. Wenn sich das Christentum jedoch als eine vom Judentum getrennte Religionsgemeinschaft versteht, dann ist die christologische Auslegung der Abrahamsverheißung und der Bund Gottes mit dem Volk Israel mehr als problematisch und das Alte Testament einzig die Urkunde Israels. N. Slenczka sieht das Verhältnis von Judentum und Christentum strikt getrennt; dies müsse schon aus Respekt vor dem Judentum so gesehen werden.293 Das Christentum sich N. Slenczka über seine Kritiker, die seine These verurteilen, aber dabei nicht bemerken, dass diese jener Bultmanns sehr ähnlich sei. Über Letztere habe sich allerdings niemand mokiert. Dazu ebd. 331: „Hier wird über einen Text der Stab gebrochen, den manche der Ketzerrichter nicht gelesen haben“. Zudem DERS., „Differenz tut Not. Systematische Erwägungen über das Alte Testament“, Zeitzeichen 16 (2015) 8-12, hier 8; [in Folge: N. SLENCZKA, „Differenz tut Not“]. Auch theologisch wendet sich N. Slenczka strikt gegen einen theologischen Antisemitismus. Vgl. DERS., „Durch Jesus in den Sinaibund“, 20: „Wenn es überhaupt einer genuin christlich-theologischen Begründung für die Ablehnung des Antisemitismus bedarf (und diese Ablehnung nicht schon aus allgemeinethischen Erwägungen und aufgrund der bodenlosen Dummheit der einschlägigen Rassentheorien auch ohne Zuhilfenahme des Christentums ausweisbar ist), dann ist in der Tat dieses Vertrauen des Paulus [in Röm 9-11; Anf. d. Verf.], daß Gott sein Volk in den in Christus geschlossenen Bund zurückführen werde, der geeignetste biblische Anhaltspunkt“. 291 Vgl. DERS., Vom Alten Testament und vom Neuen, 295.305-307. 292 In der Debatte und in der Diskussion kam es offenbar zu einer Unklarheit, die durch eine Kritik an Slenczkas Position der „Dekanonisierung“ eingebracht wurde. Darunter wurde verstanden, dass N. Slenczka das Alte Testament aus dem Kanon der Bibel verbannen möchte. Dagegen hat sich der Berliner Systematiker verwehrt. Wenn er beim Alten Testament von einem nicht mehr zuzustehenden kanonischen Rang spricht, meint er damit, dass es keine normative Bedeutung für das Christentum haben kann. In der Debatte war es um diese Begriffsbestimmung oft unklar, auf was sich N. Slenczka oder seine Kritiker genau beziehen. So wäre es erstrebenswert gewesen, von Anfang an eine terminologische Richtigstellung der Begriffe gehabt zu haben. Vgl. ebd. 85 (Fußnote 88) und DERS., „Differenz tut Not“, 8. 293 Vgl. DERS., Vom Alten Testament und vom Neuen, 83: „Gerade um des Respektes vor dem Selbstverständnis des Judentums willen identifiziert sich die Kirche aber nicht mit dem Judentum in der Weise, wie Paulus das für die Kirche seiner Zeit in Anspruch nimmt: mit der Behauptung, dass die Erwählungsgeschichte Gottes mit seinem Volk über das

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versteht sich von Anfang an einzig von Jesus Christus und seiner Erlösung her. Im christlich-frommen Selbstbewusstsein erfährt es die absolut neue Zusage der Erlösung. Hinzu kommt der Anspruch der christologischen Interpretation der Normativität des Kanons, denn normativ sind nur die Schriften, die dem Menschen das Evangelium Jesu Christi als Erlösung zusprechen. Diesem Anspruch müssen sich auch die alttestamentlichen Schriften stellen und unter diesem Gesichtspunkt kanonisch beurteilt werden.294 Das Alte Testament ist Ansprache Gottes an sein auserwähltes Volk Israel, und darum wendet sich Gott mit diesen Schriften nicht an die Kirche. Es ist Wort Gottes an ein bestimmtes Volk und setzt nicht allgemein die Menschheit aller Zeiten als Adressaten voraus. Die alttestamentlichen Schriften sind vielmehr die Erzählung der Geschichte Gottes mit seinem auserwählten Volk. Das stellt die Partikularität dieser Schriften, und zugleich die Einmaligkeit der Erwählung des Volkes durch Gott dar. Dies muss sich das Christentum in all seinen theologischen, liturgischen und pastoralen Vollzügen bewusstmachen. Denn in der Begegnung mit Jesus Christus durch das christlich-fromme Selbstbewusstsein erschließt sich für Christen das Alte Testament vollkommen neu. In das Neue kommt aber auch der Übergang von der Partikularität zur Universalität. „Die im Alten Testament auf das partikulare Volk Israel beschränkte Zugehörigkeit zu Gott bzw. zum Reich Gottes wird bei Jesus und seinen Jüngern entschränkt und universalisiert“.295 Von Christus aus zeigt sich daher, wer der Gott ist, der sich im Alten Testament offenbart. Das ist die Normativität der performativen Intention biblischer Texte. Das Evangelium Christi ist inhaltlich Norm der Verkündigung, weil das Evangelium den Verkündigungstexten vorgängig und inhärent ist. N. Slenczka möchte den Sinn nicht von außen an die Texte herangetragen wissen, um den performativen Charakter zu wahren. Die Texte interpretieren in der Performation den Leser und sprechen ihm das Evangelium zu. Das ist Sinn und Zweck aller biblischen Worte: Zuspruch der Gnade und Gerechtigkeit Gottes, derer der Mensch absolut bedarf. Somit steht die Normativität von Texten ausschließlich unter dem Vorzeichen, dass in ihnen dieser Zuspruch der Rechtfertigung zum Tragen kommt und Jesus Christus Mitte und Judenchristentum in der Kirche aus Juden und Heiden sich fortsetze und (vorläufig) nicht in der Geschichte des Teils des Judentums, das nicht zum Glauben an Christus gekommen ist“. 294 Mit Schleiermacher zieht N. Slenczka die Konsequenz, „dass alles in dieser Religionsform [des Christentums; Anm. d. Verf.] bezogen ist auf die in Jesus von Nazareth vollbrachte Erlösung (GL2 § 11). Genau dies ist eben dann der Grund, aber auch die Grenze der kanonischen Geltung und die Mitte der biblischen Schriften […]“. Ebd. 137 (Hervorhebungen im Original). Vgl. auch ebd. 158-159. 295 Ebd. 427.

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Zentrum ist.296 Darum werden Christusprädikate nicht vom Alten Testament aus verstanden, sondern erfahren ihre Bedeutung erst vom Glauben an Jesus Christus. Wenn es aber gerade ein Ergebnis des jüdisch-christlichen Dialogs ist, dass das Alte Testament nicht christologisch vereinnahmt werden darf, muss dies auch in der theologischen Bewertung des Alten Testaments berücksichtigt werden. Die Kirche kann sich daher nicht in direkter christologischer Kontinuität zum Volk Israel verstehen: „Denn nun steht die Brücke einer Einheit von Kirche und ‚Israel nach dem Geist‘, unter deren Vorzeichen das AT als Zeugnis der Kirche und als Anrede an die Kirche gelesen wurde, unter dem Verdacht der Bestreitung des religiösen Selbstverständnisses Israels; damit bleiben einer Kirche, in deren gegenwärtigem Bewusstsein sich diese Option durchsetzt, eigentlich nur die Verhältnisbestimmungen Schleiermachers, Harnacks und Bultmanns übrig. […] Vielleicht ist es im Blick darauf durchaus wohlgetan, wenigstens darüber nachzudenken, ob nicht die Feststellung Harnacks – dass die Texte des AT zwar selektiv Wertschätzung und auch religiösen Gebrauch, nicht aber kanonischen Rang verdienen – lediglich die Art und Weise ratifiziert, in der wir mit den Texten im kirchlichen Gebrauch faktisch umgehen“.297

N. Slenczka weist immer wieder darauf hin, dass diese These, die er theologisch begründet, längst in den christlichen Kirchen „faktisch“ gelebt wird und ein „nicht kanonischer Rang“ der alttestamentlichen Schriften gegeben ist. Weil viele Texte aus dem ersten Teil der Bibel den Menschen fremd sind, behandeln sie diese faktisch gesehen nicht mit derselben Wertigkeit wie das Neue Testament.298 Der Berliner Systematiker ist damit aber weit entfernt, das Alte Testament einfach aus dem christlichen Kanon zu verbannen. Mit 296

Vgl. N. SLENCZKA, „Historizität und normative Autorität“, 33: „Normative Autorität gewinnt ein Text, wenn er ‚einleuchtet‘, d.h. sich erschließt als möglicher Ausdruck der Selbst- und Welterfahrung des Lesers“. 297 DERS., Vom Alten Testament und vom Neuen, 83-84 (Hervorhebung durch den Verfasser). Anders ausgedrückt ebd. 208: „Das Neue Testament ist der hermeneutische Schlüssel für das Alte Testament und niemals umgekehrt“. Vgl. auch ebd. 216: „Das Neue Testament ist in diesem Sinne nichts anderes als das Ergebnis dieses Prozesses [der Begegnung mit der Person Jesu; Anm. d. Verf.], es ist das christologisch angeeignete Alte Testament und insofern der hermeneutische Schlüssel für die Lektüre des Alten Testaments. Auf diese Weise erschließt sich der Christenheit über Jahrhunderte hin das Alte Testament als Zeugnis für das Evangelium von Jesus Christus“. 298 Vgl. ebd. 84: „Es ist faktisch so, dass wir den Texten des AT in unserer Frömmigkeitspraxis einen minderen Rang im Vergleich zu den Texten des NT zuerkennen – die üblichen Zuordnungsschemata reflektieren lediglich dieses deutliche ‚Fremdeln‘ des frommen Selbstbewusstseins“. Vgl. auch ebd. 306. In ähnlicher Weise argumentiert J. v. Oorschot, der bei der Kanonizität alttestamentlicher Texte zwischen ihrem „Selbstanspruch“ und dem „Umgang“ mit ihnen unterscheidet, wobei einzelne Schriftzitate dabei nochmals eine Ausnahme bilden und ein Sonderfall sind. Die Normativität der Texte entscheidet sich demnach an der „faktischen Rezeption“. J. .V . OORSCHOT, „Kann Erinnerung normativ sein oder werden“, 84.

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M. Luther kann er sogar sagen, dass manche Stellen des Alten Testaments positiven Wert für das Christentum haben können. Der Reformator bewertet das Gesetz, besonders die Zehn Gebote des Alten Testaments, als lex naturalis, die nicht von Christus gegeben ist und nur für das Volk Israel gilt, aber für Christen in ihrem Herzen und Gewissen verbindlich sein kann, denn durch das Gesetz wird der Mensch an seine Erlösungsbedürftigkeit erinnert.299 Das Christentum kann auf die alttestamentlichen Schriften zurückgreifen und braucht sie nicht wie Markion aus der Bibel herausreißen, denn: „Das bedeutet zunächst, dass die Kirche schon darum auf das Alte Testament niemals Verzicht leisten kann, weil es zu den Voraussetzungen und damit auch zu den Voraussetzungen des Verständnisses aller wesentlichen Texte und Vollzüge des christlichen Glaubens gehört“.300 Aspekte des christlichen Selbstverständnisses sind bereits in den alttestamentlichen Schriften ausgedrückt, auch wenn sich das Wesen des Christentums in Jesus Christus konstituiert. Der Vater Jesu Christi ist der Schöpfer der Welt, so wie ihn das Alte Testament beschreibt. Aber bei aller Rückbindung des christlichen Glaubens muss daran festgehalten werden, dass sich diese Glaubensaussagen einzig durch das christlich-fromme Selbstbewusstsein einstellen, denn das Christentum könnte auch an Gott den Schöpfer glauben, wenn es das Alte Testament nicht gäbe, da diese Glaubenseinsicht aber dem Selbstbewusstsein entspringt. F. Schleiermacher steht dafür Pate, dass der christliche Glaube als Reflex des frommen Selbstbewusstseins zu verstehen ist. Im Selbstbewusstsein erfährt der Mensch seine Abhängigkeit als Gottesbeziehung, die ihren Ausdruck in den biblischen Schriften findet. Vor der Wahrheit des Alten Testaments steht noch einmal das Fundament des christlich-frommen Selbstbewusstseins, das sich aber als Grundlage des Glaubens in den Texten des Alten Testaments nicht wiedererkennt.301 299

N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 216. Vgl. zum Verhältnis der lex naturalis bei Luther ebd. 195-196. Dahinter steht auch die Verhältnisbestimmung, die bereits M. Luther in Eine Unterrichtung, wie sich die Christen in Mosen sollen schicken (1525) einführt. Vgl. auch in dieser Studie A 1.1.1. 300 N. S LENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 197. Vgl. auch ebd. 213: „Es wäre zunächst zuzugestehen, dass es sich [beim Alten Testament; Anm. d. Verf.] um ein Textkorpus handelt, das nicht Zeugnis von Christus ist, sondern Ausdruck einer dem Auftreten Jesu von Nazareth vorausgehenden und von seiner Person nicht bestimmten Gotteserfahrung“. 301 Vgl. ebd. 197. Vgl. auch ebd. 208: „Das Alte Testament und seine kanonische Geltung steht unter dem Vorbehalt einer Aneignung als Ausdruck des christlich-frommen Bewusstseins. […] Faktisch und theologisch wurde in der bisherigen Christentumsgeschichte niemals das Neue Testament in gleicher Weise wie das Alte als ‚Quelle und Norm‘ der christlichen Theologie angesehen; nie wurde die im Neuen Testament bezeugte Verkündigung Jesu Christi unter der Prämisse des Alten Testaments

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N. Slenczka unterscheidet wie M. Luther zwischen kanonischen und apokryphen Schriften. Kanonische Schriften im Sinne der Normativität sind diejenigen Schriften, in denen sich das Evangelium Christi ausdrückt; apokryphe Schriften sind dagegen jene, welche durch das Neue Testament auf ihre christologische Bedeutung erst befragt werden müssen, da sie nicht aus sich selbst von Christus reden und sein Evangelium verkünden und somit den Christgläubigen nicht direkt ansprechen.302 Das Alte Testament ist nicht Quelle für die Theologie des Christentums – und damit nicht kanonisch normativ –, weil es auf andere Weise das menschliche Selbstverständnis ausdrückt, wie der Mensch sich vor Gott erfährt. Es hat also keine glaubensbegründende und keine christologische oder ekklesiologische Bedeutung, sondern ist vielmehr die anthropologische Vorbereitung des Menschen coram Deo. Diese Einsicht verlangt auch das respektvolle Gegenüber von Christentum und Judentum. Denn nur in der nicht normativen Lesart des Alten Testaments kann vermieden werden, dass es christologisch gelesen oder vereinnahmt wird. Die Nicht-Normativität der hebräischen Schriften ist dann die vorchristliche Rede der menschlichen Gotteserfahrung, auf die das Christentum nicht verzichten kann, wenn es die Botschaft vom Evangelium Christi zum Leuchten bringen will.303 5.2.

Vorchristliche Gotteserfahrung

In jüngerer Vergangenheit hat christliche Theologie zu einem bewussten und neuen Umgang mit den Texten des Alten Testaments gefunden, wobei dies auch zu Neubewertungen des Verhältnisses von Altem und Neuem Testament führte.304 Die Einsicht neuerer Exegese gelesen, sondern immer das Alte Testament unter der Prämisse des Evangeliums von Christus […]“. 302 Vgl. ebd. 209: „Die alttestamentlichen Texte sind als Ausdruck eines in einer spezifischen Geschichte sich manifestierenden, grundsätzlich aber allen Menschen gemeinsamen Angewiesenseins auf das Evangelium von Christus zu verstehen und sind als ‚Platzhalter‘ dieses vorchristlichen Selbstverständnisses, als Gegenüber zum Neuen Testament relevant, aber nicht einzigartig“. Vgl. auch ebd. 329: „Wenn es also so ist, dass das Alte Testament nicht das Evangelium von Jesus Christus verkündigt, sondern die vorchristliche Gotteserfahrung in Worte fasst, dann hat es eine geringere normative Funktion in der Kirche […]“. 303 Vgl. ebd. 484. Hier bleibt natürlich zu fragen, ob dies nicht auch eine einseitige Vereinnahmung ist, wenn die alttestamentlichen Schriften als Kontrastfolie gesehen werden, vor deren Hintergrund sich das Evangelium als Erlösung des Menschen abhebt und sich der in Christus lebende Mensch durch das Evangelium anders versteht. 304 Vgl. ebd. 171-175. Als gegenwärtigen Vertreter nennt N. Slenczka F. CRÜSEMANN, Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen. Die neue Sicht der christlichen Bibel, Gütersloh 2011; [in Folge: F. CRÜSEMANN, Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen], denn ihm geht es darum, „das Neue Testament und den dort erhobenen Anspruch als eine im Alten Testament eröffnete Möglichkeit zu lesen und das Neue Testament bzw.

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zeigt, dass der historische Sinn alttestamentlicher Texte nicht das Evangelium Christi ist. In der Frage nach der Kanonizität des Alten Testaments geht es ja um die Frage, inwiefern die Verkündigung des Evangeliums in den neutestamentlichen Texten den Schriften des Alten Testaments entspricht. Das Volk Israel erfährt Gottes geschichtliches Handeln im Exodus oder im Exil als Retter. Damit erschließt sich die Identität Gottes durch die Geschichte und wird sprachlich gefasst. Wo sich aber die Sprachtraditionen trennen, steht die Frage nach dem Subjekt dieser Schriften auf dem Spiel. Bleibt Gott als Handelnder wirklich derselbe, gerade wenn sich der Glaube im Neuen Testament nicht von den Texten des Exodus oder der Befreiung aus dem Exil her verstehen, sondern vom Evangelium Jesu Christi und seiner Person? Darum ist es für N. Slenczka problematisch, die Identität Gottes als Bezugspunkt für die Einheit beider Testamente heranzuziehen. Das Christentum könnte zwar die sprachlich formulierte Identität Gottes, wie sie sich in den hebräischen Schriften niederschlägt, in sich aufnehmen, wird aber für sich das Konstitutive in den neutestamentlichen Schriften in Jesus Christus beanspruchen, da sich das Christentum aus dem Glauben an Jesus Christus begründet versteht. Das Judentum kann seinerseits jedoch nicht jenen Anspruch in sein Gottesverständnis aufnehmen, den Jesus in der Verkündigung seines Evangeliums aufstellt: Es kann nicht dem Evangelium folgen und Jesus Christus als den Literalsinn seiner Schriften anerkennen.305 In der vorneuzeitlichen protestantischen Lehre wurde die Kanonizität des Alten Testaments noch damit begründet, dass Jesus Christus der Literalsinn dieser Texte sei. So konnten diese Schriften des Alten Testaments als Prophetien verstanden werden und damit das Verhältnis von Gesetz und Evangelium bestimmen.306

das Gottesverhältnis der Kirche unter dieser Bedingung zu reformulieren“, 173. N. Slenczka sieht den Versuch F. Crüsemanns, das Alte Testament als „Wahrheitsraum“ des Neuen zu sehen, sehr skeptisch, da die Verfasser der neutestamentlichen Schriften als Juden überzeugt waren, dass auch Juden in Jesus den Christus erkennen können. Gegen den Versuch des Ausgleichs der Testamente spreche auch die Judenmission der ersten Christen. Wenn das Alte Testament nach F. Crüsemann nicht mehr christlogisch gelesen werden kann, „[d]ann wird in aller Selbstverständlichkeit das Neue Testament unter die hermeneutische Prämisse des nicht-christologisch verstandenen Alten Testaments gestellt. Damit ist aber implizit auch gesagt: Das Alte Testament ist nicht Zeugnis von Christus“, N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 174. Somit könne das Christentum dem Alten Testament den Rang der apokryphen Schriften zusprechen, denn es steht dann unter dem „kritischen Vorbehalt des Evangeliums von Jesus Christus“, ebd. 175. 305 Vgl. ebd. 177-178. 306 Vgl. ebd. 181: „Das Alte Testament ist gerade darin Verkündigung Christi, dass es auf Christus hinweist – als überführendes Gesetz zu ihm hintreibt, oder als ankündigende Predigt den Kommenden präfiguriert. […] Im christlichen Umgang mit dem Alten Testament definiert die Erfüllung den Sinn der Texte, nicht umgekehrt […]“.

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Gegen diese Position, die de facto eine Vereinnahmung des Alten Testaments ist, möchte sich N. Slenczka stellen. Das Alte Testament ist kein Vorausweis auf Jesus Christus, sondern es sind Schriften, die durch Menschen entstanden und kanonisiert wurden, die nicht an Jesus Christus glaubten. Der Literalsinn kann nicht christologisch gelesen werden, sondern erhält, wenn überhaupt, nur durch die Deutungsgeschichte der Kirche einen christologischen Sinn. Die christologische Rezeption ist der Moment, in dem der christologische Sinn durch das christlich-fromme Selbstbewusstsein an alttestamentliche Texte herantritt. So stellt N. Slenczka fest: „Das Verhältnis von Altem und Neuem Testament gibt, wenn man damit ernst macht, dass das Alte Testament zunächst nicht von Christus spricht, das Modell und das Urbild dafür ab, dass sich die Begegnung mit der Person Jesu immer vor dem Hintergrund einer bereits bestehenden Gottesbegegnung und als deren Aufnahme und Veränderung vollzieht“.307 Das Christentum kann sich in jeder Kultur und zu allen Zeiten immer wieder neu aussprechen, wenn es dabei eine Gotteserfahrung vorfindet, die zum Ausdruck bringt, was F. Schleiermacher mit dem christlich-frommen Selbstbewusstsein erklärt, dass der Mensch der absoluten Anhängigkeit Gottes bedarf, die in den Glauben an Jesus Christus hinein transformiert werden kann. Mit diesem Verständnis, dass das Fundament des eigenen Glaubens Jesus Christus ist, tritt das Christentum in neue Kulturkreise ein. Im Verständnis des christlich-frommen Selbstbewusstseins ist das Christentum in der Lage, vorchristliche Gotteserfahrungen aufzunehmen und zu transformieren. Es gilt für jeden Kulturkreis dasselbe, was für die Beziehung des Selbstbewusstseins zum Alten Testament gilt: Es kann das aufgenommen werden, was dem Selbstbewusstsein nicht widerspricht bzw. worin sich das Selbstbewusstsein in seiner Abhängigkeit als Gottesbeziehung ausgedrückt findet. N. Slenczka zeigt auf, dass vor allem die Begegnung mit der griechischen Kultur eine solche Neuinterpretation der alttestamentlichen Gotteserfahrung mit sich bringt, indem es zu einer stillen Universalisierung alttestamentlicher Bilder kommt.308 Die unterschiedlichen Gotteserfahrungen, denen das Christentum begegnet, werden nicht in den Glauben implementiert, sondern christologisch uminterpretiert und weitergedacht. Es war vielleicht die Kraft des Christentums, die die unterschiedlichen Geistesströmungen der Kultur aufnehmen und durch eine Neuinterpretation theologisch fruchtbar machen konnten.309 So 307

Ebd. 205. Ebd. 204. 309 N. Slenczka nennt als Beispiele die Neudeutung der Psalmen durch Paulus, des Sonntags durch die Christen oder die Gedanken über das Leiden in Gott, das aus der 308

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verstanden es patristische Theologen, ihre oftmals vorchristliche Bildung mit dem Christentum zusammenzudenken. Aber dabei sahen sie auch das Alte Testament nur insofern als normativ an, als sie darin ihre vorchristliche Gotteserfahrung wiederfanden. Sie stellten damit ihre vorchristliche philosophische Bildung auf eine Ebene mit dem Alten Testament und interpretierten beides durch ihre Gotteserfahrung in Jesus Christus neu.310 In der Verkündigung Jesu Christi bezieht sich das Christentum immer wieder auf eine gegebene Gotteserfahrung. Dies zeigt sich im Verhältnis vom Alten und Neuen Testament. Das Christentum greift besonders auf die Texte zurück, die nicht explizit auf das Volk Israel bezogen sind. Diese vorchristliche Gotteserfahrung kann aber nicht exklusiv auf das Alte Testament beschränkt sein und bleiben, „sondern […] es [gibt] viele Modi der Thematisierung des Selbstverständnisses des Menschen außerhalb von Christus […], die in derselben Weise wie das Alte Testament Ausdruck menschlicher Gotteserfahrung und Bezugspunkt der neu bestimmenden Kraft der Christusbotschaft (des von Jesus von Nazareth ausgehenden Impulses) sind und sein können“.311 Für N. Slenczka bleiben also Ausdruck und Bezugspunkt einer vorchristlichen Gotteserfahrung nicht auf das Alte Testament beschränkt, sondern große Werke der Weltliteratur oder der Philosophen können ebenfalls diese Funktion übernehmen, denn auch griechischen Philosophie übernommen wird. Auch könne man noch aristotelische oder neuplatonische Weiterführungen im Christentum finden. Vgl. ebd. 205-206, hier: „Es wird aber nun in der beschriebenen Weise die in der Jesusverkündigung vorausgesetzte Gotteserfahrung mit der griechischen Rede von Gott identifiziert und mit ihrer Hilfe zur Sprache gebracht; und umgekehrt wird – analog zum urchristlichen Umgang mit dem Alten Testament – die philosophisch-kosmologische Rede von Gott und damit die vorausgesetzte Gotteserfahrung christologisch neu bestimmt“. Weiter ebd. 308: „Diesen Kosmosgrund identifiziert die griechische Theologie ganz umstandslos mit dem Gott des Alten Testaments, aber eben zu Lasten des Gottes des Alten Testaments. Diese Theologen, Origenes wäre ein weiters Beispiel, lesen in das Alte Testament die Gotteserfahrung der griechischen Philosophie hinein“. In einem schönen Bild drückt Basilius der Große die Reinigung und Umdeutung der Religionen in seinem Kommentar zu Jes 9,10 aus, wenn er dazu Am 7,14 hinzuzieht, der in der LXX-Übersetzung den Maulbeerfeigenzüchter als „kni,zwn ska,m in“ übersetzt. Basilius schreibt über das Aufritzen der Maulbeerfeige, die dadurch erst genießbar wird: „Sykomore ist ein Baum, der sehr viele Früchte trägt, aber sie schmecken nach nichts, außer man ritzt sie sorgfältig und lässt ihren Saft abfließen, wodurch sie wohlschmeckend werden. Deshalb glauben wir, ist (die Sykomore) ein Symbol für die Gesamtheit der Heiden: sie bildet eine Fülle, ist aber gleichsam fade. Das kommt vom Leben in den heidnischen Gewohnheiten. Wenn man es fertig bringt, sie durch den Logos zu ritzen, wandelt sie sich, wird schmackhaft und brauchbar“. BASILIUS VON CAESAREA, In Is 9, 228 (PG 30,516 D / 517 A). 310 Vgl. N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 309 (Hervorhebung im Original). Vgl. auch DERS., „Ein vorchristliches Buch“, Rotary Magazin 15.06.2015 [https://rotary.de/kultur/ein-vorchristliches-buch-a-7610.html; zuletzt abgerufen am 20.092018]. 311 DERS., Vom Alten Testament und vom Neuen, 206. Vgl. auch ebd. 212.

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in diesen Texten wird die Erfahrung des Menschen vor Gott ausgedrückt, die er ohne das Christusereignis erlebt. Kriterium für diese vorchristliche Darstellung der Gotteserfahrung ist, inwiefern der Mensch sich darin selbst als erlösungsbedürftig erfährt, indem er sich in diesen Texten existentiell an- und ausgesprochen erkennt. Hier steht N. Slenczka konsequent zu seiner Hermeneutik einer Intertextualität, die den Leser mit dem zu lesenden Text verbindet. In den Texten liest der Mensch, was er in seinem christlich-frommen Bewusstsein ausgedrückt findet und worin er sich mit seiner Lebens- und Glaubenserfahrung wiederfindet: „Da werden Texte Hilfe zur Lebensdeutung“.312 Im Letzten ist es die Lebenserfahrung jedes Menschen, die ihn bedrückt und suchen lässt, nämlich die Frage nach Tod und Erlösung. Die Antwort auf die existentielle Erfahrung des Menschen vor Gott ist dann Jesus Christus, der die Antwort auf die existentiellen Fragen aller Zeiten ist. Um jedoch Antwort auf diese Lebensfragen sein zu können, bedarf es der Frage danach. Der Mensch muss sich als erlösungsbedürftig erfahren, um die Zusage des Evangeliums als Antwort verstehen zu können. Immer wieder braucht er die Erfahrung seiner Unvollkommenheit, die für ihn im Alten Testament oder in der großen Weltliteratur ausgedrückt ist. Das Alte Testament ist damit „Platzhalter“ einer solchen vorchristlichen Gotteserfahrung.313 Aber gerade in dieser Funktion muss es nicht normativ sein, da es durch andere Texte ersetzt werden kann. Wer eine Normativität des Alten Testaments behauptet, der gesteht damit implizit zu, dass das Alte Testament explizit das Evangelium Christi verkündet und nicht nur den Ort, wo sich der Mensch in seinem Selbstverständnis wiederfinden kann. 5.3.

Bibeltheologische Problemstellungen

Die Einsichten aus dem christlich-jüdischen Dialog und die theologieund bibelhermeneutischen Überlegungen zur nicht-normativen Sicht des Alten Testaments können nicht für sich alleine stehen, sondern müssen auch in der Theologie bedacht werden. Für N. Slenczka ist 312

Ebd. 321. Vgl. ebd. 309. Vgl. auch 322: Das Alte Testament „ist Platzhalter der für die Begegnung mit Jesus Christus unverzichtbaren vorchristlichen Lebenserfahrung, und es gibt Worte und Vorstellungen, diese Lebenserfahrung als Gotteserfahrung auf den Begriff zu bringen. Dafür ist es da; dafür ist es wichtig in der Kirche“. Siehe des Weiteren ebd. 329. Der Begriff der „vorchristlichen Gotteserfahrung“ hat vielmals Kritik hervorgerufen, da eine „vorchristliche Gotteserfahrung“ leicht pejorativ klingen und das Verständnis der Überbietung des Alten durch das Neue Testament ausdrücken könne. Darum schlägt N. Slenczka in einer späteren Stellungnahme vor, dass anstatt von „vorchristlich“ auch von „außerchristlicher Gotteserfahrung“ gesprochen werden soll, und dass der Begriff „Platzhalter“ von Anfang an nicht abwertend gemeint gewesen sei. Vgl. DERS., „Neues Testament als Wahrheitsraum“, 16. 313

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seine These auch als Aufforderung zu verstehen, die Israeltheologie des Apostels Paulus in Röm 9-11 und die New perspective on Paul zu überdenken. Auch wenn sich protestantische Theologie dem sola scriptura verpflichtet weiß, bedeutet das nicht, dass biblische Texte keine Weiterentwicklung durch eine Neuinterpretation erfahren dürfen. 5.3.1.

Die christozentrische Interpretation von Röm 9-11

In Röm 9-11 stellt Paulus eine konzise Israeltheologie vor. Er verbindet die Verheißung Gottes an sein auserwähltes Volk Israel mit der Verheißung Jesu an seine Jünger. Paulus beschreibt hier seine eigene persönliche Erfahrung als Jude und überträgt sie auf das ganze jüdische Volk. Der Völkerapostel ist „dem Fleisch nach Jude“ (Röm 9,3). Das begründet auch seine religiöse Identität (Röm 11,1), denn das Judentum ist seine geschichtliche Identität. Seinem kulturellen und religiösen Ursprung fühlt sich Paulus stets verpflichtet und hegt eine große Wertschätzung gegenüber dem Volk Israel. Als Volk Gottes ist und bleibt Israel ausgezeichnet mit den notae „Sohnschaft, Herrlichkeit, Bundesordnung, Gesetz, Gottesdienst und Verheißung“ (Röm 9,4). Weil Gott sich sein Volk erwählt hat, lässt er es nicht in Untreue fallen. Paulus sieht sich in dieser Verheißung, selbst dann noch, als er zum Glauben an Jesus Christus gekommen ist. N. Slenczka folgert daraus: „Für Paulus sind also zunächst die aus dem Abstammungszusammenhang des Judentums stammenden Christen die Fortsetzung des Heilshandelns Gottes mit seinem erwählten Volk und damit der Beweis dafür, dass Gott an seiner Erwählung festhält. Weil Juden zum Glauben an Christus kommen, so wird man Paulus – ganz unabhängig davon, ob man ihm darin folgt oder nicht – zusammenfassen müssen, ist die Feststellung unmöglich, dass Gottes Heilshandeln mit seinem Volk an ein Ende gekommen ist. […] Paulus ist nie Christ geworden, sondern hat sich Zeit seines Lebens als Jude verstanden“.314

Paulus interpretiert die Verheißung Gottes gerade dahingehend, dass sie darauf abzielt, den Glauben an Jesus Christus zu finden (vgl. Röm 10). N. Slenczka sieht diese Haltung als „zwei Begriffe des Judeseins“, die sich dann explizit in Röm 11 auftun;315 er unterscheidet zwischen den Juden, die durch Gnade zum Glauben an Jesus als den Messias kommen, und denen, die in der Verstockung ausharren (vgl. Röm 11,411). Die Abstammung von Abraham ist „zwar die faktische, aber nicht 314

DERS., Vom Alten Testament und vom Neuen, 80. In DERS., „Römer 9-11“, 465-469 weist der Autor darauf hin, dass es eine geschichtliche Konstante in jedem Leben gibt, die einem Subjekt die eigene Identität bewusst werden lässt. Identität entsteht, wo Geschichte durch Erinnerung bewusst wird und sich das Subjekt als Konstante in dieser Erinnerung erfährt. Bei bleibender Identität des Subjekts kann es aber durch geschichtliche Erfahrungen zu einer Weiterentwicklung der Persönlichkeit kommen. 315 Vgl. DERS., Vom Alten Testament und vom Neuen, 80.

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die hinreichende Bedingung der Zugehörigkeit zum erwählten Volk Israel“.316 Die hinreichende und in diesem Sinne auch notwendige Bedingung ist das Anerkennen der Christusverheißung an Abraham (vgl. Röm 4) und die Erwählung zum Glauben an Christus (Röm 8,28). Paulus bezieht sich in Röm 9-11 also nicht auf alle Juden, sondern gerade auf jene, welche wie er sich in dieser Glaubensgemeinschaft mit Abraham auf den Messias Jesus Christus verwiesen wissen. Für Paulus wird den Juden das Heil nicht an Jesus Christus vorbei gegeben, sondern in Röm 9-11 möchte er gerade in mehreren Anläufen aufzeigen, dass das Volk Israel einmal zum Glauben an Jesus Christus kommt, der Glaube, der bereits die Verheißung an Abraham war.317 Paulus fasst das Bekenntnis zu Christus nicht als Bruch mit der Verheißung Gottes auf, sondern sieht in diesem Bekenntnis das Eigentliche des Judeseins. Nach dem Völkerapostel ist derjenige wirklich Jude, der an Christus glaubt, und er ist der Überzeugung, dass das Judentum heilsgeschichtlich im Christentum weiterbesteht. „Für ihn sind die Judenchristen nicht zu einer anderen Religion übergewechselt, sondern in ihnen, in der Kirche aus Juden und Heiden, manifestiert sich die Kontinuität der Erwählungsgeschichte Gottes mit einem Volk“.318 Die Heiden werden also nicht durch Jesus Christus in 316

Ebd. 81. Vgl. DERS., „Durch Jesus in den Sinaibund“, 20. Auch DERS., „Römer 9-11“, 474: „Es ist die Verheißung bzw. die Erwählung, die im Rahmen des leiblichen Abstammungszusammenhanges der Erzväternachfahren Israel als Gegenstand des Wohlgefallens Gottes konstituiert. Israel im Sinne der Heilsgemeinschaft ist nicht einfach die Schar der leiblichen Nachfahren des Abraham, sondern sind innerhalb dieser Nachfahren diejenigen, die von Gott erwählt sind und der Verheißung glauben. Dabei versteht er diese Erwählung und diesen Glauben christologisch: Bereits Abraham glaubt nicht einfach, sondern er glaubt der Sohnesverheißung, die Paulus christologisch als Verheißung Jesu Christi versteht“. 318 DERS., Vom Alten Testament und vom Neuen, 441. In ebd. 77-78 weist Slenczka darauf hin, dass diese herausgearbeiteten Positionen von Röm 9-11 im christlich-jüdischen Dialog sehr problematisch sein können, und dass gerade in diesem Bereich diese Bibelstelle nicht unbedingt kirchenbindende Lehre sein müsse. Dieser Hinweis ist wichtig zu beachten, denn die Interpretation N. Slenczkas sieht in Röm 9-11 „ein Konzept jüdischer Identität, das sein Zentrum im Christusbekenntnis hat, und [Paulus, Anm. d. Verf.] eignet sich von daher deutend die Geschichte seines Abstammungszusammenhangs an: Seit Abraham ist immer schon die Gemeinschaft der […] an Christus Glaubenden das wahre Israel innerhalb der Abstammungsgemeinschaft; und dieses wahre Israel ist umfangreicher als die auf Abraham zurückgehende Abstammungsgemeinschaft“ (ebd. 82), weiter dazu auch 112-113. Für Slenczka ist die Frage nach der Zugehörigkeit zum Volk Israel, wie sie Paulus formuliert, die Frage nach dem „‚Wesen‘ Israels und [dem] Konstitutionsgrund seines Gottesverhältnisses“ als „innerjüdische Identitätskrise“. Aber die neutestamentlichen Schriften lassen keinen „nichtexklusiven Perspektivendualismus oder -pluralismus“ erkennen. Vgl. auch ebd. 319-320. Siehe auch D. HANGER, „Another look at ‚the parting of the ways‘“, in: M. F. BIRD – J. MASTON (eds.), Earliest Christian History. History, Literature, and Theology. 317

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den Bund Gottes mit Israel einfach eingegliedert, vielmehr ist die Eingliederung der Heiden in den Heilsbund der Glaube an Jesus Christus. Aufgrund des Glaubens wird der Mensch gerechtfertigt, nicht aufgrund seiner Abstammung. Zudem fasst Paulus das Heilshandeln Gottes als eine Einheit der Heilsgeschichte auf. Darum spricht auch Röm 11,2 davon, dass Gott sein Volk nicht verstoßen hat. Er führt sein Volk in die Kirche Christi. Ausgehend von dieser Deutung des Judeseins kann der Apostel die Geschichte Israels als seine Geschichte im Glauben an Jesus Christus lesen und interpretieren. Paulus versteht die Verheißung von Anfang an christologisch vorausbestimmt. Daher kann er zu Recht das Alte Testament als wesentliche Vorgeschichte des Glaubens an Jesus Christus lesen. Das Christentum ist kein Bruch mit dem Judentum, vielmehr versucht für N. Slenczka gerade Röm 9-11, die Frage nach dem Kriterium des Judeseins im Zentrum des Christusereignisses und im Glauben daran zu verorten (vgl. Röm 9,7-11).319 Die theologische Konsequenz daraus ist, dass Paulus einen Bogen des Zugewandtseins von Juden und Kirche spannt, das ohne Überheblichkeit auskommt. Paulus fordert ein positives Verhältnis zum Judentum gerade aus seiner biographischen Überzeugung heraus, denn im Judentum ist das Handeln Gottes erkennbar. Es ist auch Handeln Gottes, dass ganz Israel noch nicht zu Christus gefunden hat (vgl. Röm 9,6-29.11,6). Aber es ist dasselbe Handeln Gottes, das sowohl Israel als auch die Heiden zum Heil führen wird – auf welchem Weg, bleibt offen.320 Für Paulus steht aber fest, dass die Zugehörigkeit zu Gott einzig über Jesus Christus gegeben ist. Aber die „Existenz des nicht an Christus glaubenden Judentums bis zum Ende der Zeiten ist der heilsgeschichtliche Wille Gottes.“321 Der Berliner Systematiker erkennt klar und deutlich die Sprengkraft, die diese Auslegung von Röm 9-11 für den jüdischchristlichen Dialog mit sich bringt. In dieser Sichtweise des eigenen Essays from the Tyndale Fellowship in Honor of Martin Hengel (= WUN 320), Tübingen 2012, 381-427, 411: „Obviously the Jewish Christians were inclined to see as much continuity with their former faith as possible. In their thinking Christianity did not involve a parting of the ways, not a separation from their Jewish faith, but rather the movment toward the goal of their Jewish faith“ (Hervorhebung im Original); [in Folge: D. HANGER, „Another look“]. 319 Vgl. N. SLENCZKA, „Römer 9-11“, 474-475. 320 Vgl. ebd. 462: Es gilt, „dass diejenigen, die das Bewusstsein der eigenen Heilsteilhabe unter Verwerfung des Judentums formulieren, selbst aus diesem ‚Heilsstand‘ herausfallen: Wer die gegenwärtige Heilsverweigerung des Judentums diesem als Vergehen zurechnet und das Judentum auf dieser Basis abwertet, vertritt faktisch eine synergetische Position. Und wer das Verhältnis zu Israel auf der Basis einer endgültigen Verwerfung formulieren würde, würde das Vertrauen auf das durch Güte und Bundestreue bestimmte Handeln Gottes in der Geschichte verweigern“. 321 Ebd. 462. Zum ganzen Absatz vgl. ebd. 461-462.

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Judeseins des Briefautors, die er auf ganz Israel überträgt, muss das Judentum Jesus Christus als den Messias anerkennen, wenn es im Glauben an den ungekündigten Bund bleiben will. In dieser Auslegung durch N. Slenczka stimmt es dann auch: „Diese These allein bestreitet das Selbstverständnis des nichtchristlichen Judentums radikal, und in diesem Sinne ist Röm 9-11 nicht Teil der Lösung im Verhältnis von Juden und Christen, sondern das Fundament des Problems“.322 5.3.2.

New perspective on Paul

N. Slenczka positioniert sich kritisch gegenüber der New perspective on Paul.323 Dabei unterstreicht er aber, dass die Thesen dieser Paulusinterpretation nicht neu sind, sondern bereits im 19. und im 20. Jahrhundert ihre Vorläufer etwa in K. Barth hatten. Eine neue Sicht auf die Theologie des Paulus geht davon aus, dass die Rechtfertigungslehre beim Apostel nicht im Zentrum steht, sondern eine Nebenrolle spielt, denn es geht ihm vielmehr um die Rechtfertigung der Heidenmission, damit die Heiden nicht zuerst am Judentum durch die Bundeszeichen Anteil erhalten müssen, um zum Glauben an Jesus Christus zu gelangen. Der Bund Gottes ist nicht an das Gesetz und die Beschneidung gebunden, sondern laut der new perspective ist er allem Tun und Gesetzesgehorsam vorausgehend. Die untrennbare Verbindung von Bund und Gesetz sei dann erst durch das palästinische Judentum gekommen. Bedenkt man dies alles, so unterstreicht die Neue Lesart, dass M. Luther ein anderes Verständnis von der Rechtfertigung hatte als Paulus in seinen Briefen. Für N. Slenczka ist dies aber kein Widerspruch, denn dies ist bereits wiederum gängige Einsicht protestantischer Theologie, dass sich die Rechtfertigungslehre nicht eins zu eins aus den paulinischen Schriften begründen lässt. Um dennoch den Heidenchristen den Zugang zum Heil zu ermöglichen, entwickelt Paulus das theologische Konzept, dass alles Heil nur in Jesus Christus gegeben ist. Darum geht es ihm nicht um die Entgegensetzung von Gesetz/Werk zu Evangelium/Erlösung als vielmehr um die Frage nach der Erlösung durch Teilhabe am Gesetz oder an Jesus Christus. 322

Ebd. 476. Vgl. auch DERS., Vom Alten Testament und vom Neuen, 82: „Die Geschichte Israels ist die Geschichte der Kirche, weil diese – und eben nicht das jeweilige Judentum – das ‚wahre Israel‘ ist. Das AT steht von der skizzierten Identitätskonzeption her unter der Perspektive des ‚mea res agitur‘“. 323 Vgl. DERS., „Die neue Paulusperspektive und die Lutherische Theologie“, LuJ 80 (2013) 184-196; [in Folge: N. SLENCZKA, „Neue Paulusperspektive“], DERS., Vom Alten Testament und vom Neuen, 474-477; I. BENDIK, Paulus in neuer Sicht? Eine kritische Einführung in die „New Perspective on Paul“, Judentum und Christentum 18, Stuttgart 2010; J. SCHRÖTER, „‚The New Perspective on Paul‘ – Eine Anfrage an die lutherische Paulusdeutung?“, LuJ 80 (2013) 142-158; [in Folge: J. SCHRÖTER, „Anfrage an die lutherische Paulusdeutung“]; S. SCHREIBER, „Paulus und die Tradition. Zur Hermeneutik der ‚Rechtfertigung‘ in neuer Perspektive“, ThRv 105 (2009) 92-97.

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Die Kritik am Gesetz und an der Werkgerechtigkeit ist somit nur dort gegeben und berechtigt, wo diese getrennt von Jesus Christus gesehen wird und sich damit eine Begrenzung für ein bestimmtes Volk einstellt. Positives Anliegen der new perspective on Paul ist es, das Judentum nicht mehr unter dem Stereotyp von Gesetz und Werkgerechtigkeit zu sehen und zu definieren, sondern es anhand paulinischer Theologie in einen heilsgeschichtlichen Zusammenhang zu führen. Für Paulus ist die Verheißung und damit die Erlösung nicht mehr im Bund gegeben, sondern für Juden und Heidenchristen im Glauben an Jesus Christus, der das Heil eschatologisch vollenden wird. Beschneidung und Gesetz sind deshalb hinlänglich, da Paulus sie als dem Bund nachgeordnet sieht und die Rechtfertigung als Gabe Gottes an alle Völker annimmt, die im Glauben gegeben wird. Darum setzt Paulus den Akzent auf die Universalität des Heils und nicht auf die Bindung an ein bestimmtes Volk unter bestimmten Voraussetzungen. Mit Christus ist für Juden und Heiden eine neue Heilszeit eingetreten, die alle bisherigen Heilsbestimmungen hinter sich lässt. N. Slenczka kritisiert an der new perspective on Paul, dass sie teilweise die These vertritt, dass gegenwärtige Theologie nur den Anspruch des Apostels zu wiederholen habe, ohne aber in eine kritische Reflexion mit seiner Theologie einzutreten. M. Luther hat jedoch gerade dies versucht und im Gegensatz zur Neuen Paulusperspektive die paulinische Theologie weitergedacht. Damit kommt dem Reformator die Größe zu, dass er Paulus nicht mehr heilsgeschichtlich deutet, sondern seine Theologie in die individuelle Existenz verlegt. „Insofern ist in der Tat die lutherische Paulusrezeption individualistisch und nicht an corporate identities orientiert – aber genau dies gibt dieser Paulusrezeption gegenwartsorientierende Kraft“.324 Diese „gegenwartsorientierende Kraft“ der Rechtfertigungslehre nach M. Luther unterscheidet das Christentum vom Judentum, da keine heilsgeschichtliche Kontinuität vorliegt, wie sie die new perspective on Paul lesen möchte. Mit Christus erfährt der Mensch eine neue, aber schöpfungstheologisch ursprüngliche Bestimmung, die nur in Jesus Christus gegeben ist und die sich vom Bisherigen absetzt. Der in Christus Gerechtfertigte kann sich nicht mehr dem jüdischen Volk und seinem Bund zugehörig fühlen und wissen, denn er ist neugeschaffen, indem seine Identität von der Identität Christi umfangen ist. Mit J. Schröter kann daher gefolgert werden: „Die Begründung einer gemeinsamen Identität von Heiden und Juden in Christus kann heute nicht mehr die theologische Pointe der Rechtfertigungsaussagen des 324 Vgl. N. S LENCZKA, „Neue Paulusperspektive“, 195. Wenige Zeilen zuvor schreibt N. Slenczka: „Luthers hier nur angedeutete Interpretation des Paulus geht möglicherweise weit über die ursprünglichen Intentionen des Paulus hinaus – aber das ist nicht das Schlechteste, was man über diese Interpretation sagen kann“ (ebd. 193).

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Paulus sein und war es natürlich auch zu Augustins und Luthers Zeiten nicht mehr“.325 5.4.

Das Neue im Neuen Testament

In der Debatte um die Normativität des Alten Testaments rekurriert N. Slenczka immer wieder darauf, dass mit dem Christentum etwas Neues in der Geschichte beginnt, das es wesentlich vom Judentum absetzt. Dahinter steht die Frage, ob sich das Neue aus dem Alten heraus entwickelt, oder ob es durch einen Bruch mit der Vorgeschichte entsteht. Dies hätte zur Folge, dass sich das Neue qualitativ dem Vorausgegangenen überlegen fühlen könnte. Vielmehr ist es gerade das Selbstverständnis und Selbstbewusstsein, das die geschichtliche Entwicklung in sich aufnimmt und erklärt und in geschichtlicher Fortführung erweitert. „Das gegenwärtige Bewusstsein kommt von dieser Geschichte auf die kanonischen Texte zurück, findet in ihnen die Ursprünge seiner selbst und liest sie als Ursprung seiner selbst. […] In diesem Sinne erkennt sie sich in den Texten wieder“.326 Die Bedeutung der Schrift wird im Christentum eben nicht mehr als die Frage von außen an den biblischen Text herangetragen, sondern die Bedeutung eines Textes erschließt sich durch das Wirken des Geistes im Inneren. Das christliche Selbstbewusstsein wird zum Ort der Wahrheit des Gotteswortes und die Entwicklung des Neuen ist damit nicht ein historischer Sprung der Geschichte, sondern eine Entwicklung im Selbstverständnis, wie das Wort Gottes im Bewusstsein des Menschen verstanden werden kann, wenn mit historisch-kritischer Herangehensweise an den Text der Sinn dieser Texte rein äußerlich nicht mehr zu vermitteln ist. „Erst im Laufe der Geschichte wird es sich seiner Besonderheit bewusst, bezieht sich vom Ergebnis dieser Geschichte, dem gegenwärtigen 325

J. SCHRÖTER, „Anfrage an die lutherische Paulusdeutung“, 158. N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 261. Die dahinterstehende Hermeneutik findet N. Slenczka bei F. Schleiermacher. Für Schleiermacher bringt das Neue des Christentums einen semantischen Zuwachs in die Religion und individualisiert die Sprachwelt. Darum geht es Schleiermacher auch immer und das fromme Selbstbewusstsein. N. Slenczka parallelisiert diesen neuen semantischen Zuwachs mit der „nova lingua spiritus sancti“ des Evangeliums, wie Luther ihn bestimmt. Vgl. ebd. 275. Das Neue, das hier mit der christologisch konzentrierten „nova lingua spiritus sancti“ erklärt werden soll, entzieht sich nun jeder historischen Erforschung, denn es ist mit Schleiermacher gesprochen das Neue im Selbstbewusstsein. Vgl. auch DERS., „Christus“, 437-438. Siehe dazu P. E. CAPEZ, „Schleiermacher on the Old Testament“, 310-311 erklärt die Absetzung des Christentums vom Judentum mit der absoluten Christozentrik Schleiermacher, hier 311: „But Schleiermacher’s theology is christocentric in a much stronger sense on account of his conviction that redemption from sin is mediated through Jesus alone. Schleiermacher affirmed that Jesus, by virtue of his incomparable relation to God, quite simply is the new element that cannot be explained by any historical antecedents“. 326

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Selbstverständnis, auf die Texte zurück und erkennt das Ergebnis dieser Wirkungsgeschichte darin wieder. Das gegenwärtige Bewusstsein, ein gegenüber dem Judentum Besonderes oder Neues zu sein, leitet damit den Blick auf die Texte“.327

5.4.1.

Die Neubegründung der Existenz des Glaubenden

Christen machen mit dem Christusereignis eine neue religiöse Erfahrung, die ihr Selbstverständnis prägt. Das Neue ist nicht Bruch mit dem Alten, sondern versteht sich reflexiv zum Alten und wertet es von diesem Selbstbewusstsein her. Im christlich-frommen Selbstbewusstsein erkennt nun der Christ das, was ihn vom Judentum absetzt, ohne sich dabei von den Wurzeln zu trennen. Das Neue ist somit eine „Gegenwärtige Erfahrung“, eine „existentielle Kategorie“, denn „[d]as ‚Neue‘ im Unterschied zum ‚Alten‘ ist möglicherweise, jedenfalls bei M. Luther, der Reflex der Durchbrechung eines bisherigen Selbstverständnisses, das sich biographisch niederschlägt“.328 Dieses „existentielle“ Verständnis hat für den Berliner Systematiker zur Folge, dass sich mit dieser Erfahrung des Neuen ein veränderter Deuterahmen einstellt. Für Christen ist das Christusereignis die existentielle Wende, denn in ihm erlangen sie die Rechtfertigung des eigenen Lebens und können so alles vom Zentrum Jesus Christus her beurteilen. Das Christentum ist nicht bloße Transformation eines gegebenen Verständnisses, sondern es setzt mit ihm etwas Neues ein, das sich aus seinem herkommenden Selbstverständnis auf das Vorausgehende verwiesen weiß, wenn auch nicht von diesem begründet. Hier spielt noch einmal die Polarität von Gesetz und Evangelium herein. Im Gesetz erfährt sich der Mensch als erlösungsbedürftig und sieht sich unter dem Gesetz als Sünder, der des Zuspruches Gottes bedarf. Das Evangelium als Zuspruch Gottes in der performativen Intention des Evangeliums hebt sich vom Gesetz ab, insofern der gerechtfertigte Mensch sich im Licht des Evangeliums in seiner neuen Existenz durch Glauben gerechtfertigt erfährt. Dagegen jedoch bleibt er unter dem Gesetz, wenn er für sich selbst in Anspruch nimmt, die Rechtfertigung leisten zu können. Dem entgehen zu können, muss der Mensch seiner Werkgerechtigkeit im Kreuz Christi sterben, um in das Werk der Erlösung eingebunden zu sein. Rechtfertigung ist damit der Anspruch sola gratia, dass er nicht mehr von sich selbst abhängig ist, sondern sich im Glauben in der Gegenwart Christi an Christus übergibt. Im Glauben ist der Mensch mehr und mehr außer sich und seiner selbst, aber damit 327

N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 261. Ebd. 263. Siehe. auch ebd. 268-269. Hier führt Slenczka noch die Unterscheidung von Geschichte und Lebensgeschichte ein, um zu zeigen, dass natürlich geschichtliche Verläufe zu unterscheiden sind von Lebensgeschichte, die durch bestimmte existentielle Ereignisse vollkommen neu bestimmt werden kann. 328

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innerlicher in Jesus Christus. Der im Glauben gerechtfertigte Mensch ist der mit Christus Verbundene, der in eine neue Bestimmung eingetreten ist, die sein neues Mensch-Sein ausmacht. Dieses neue Sein wird gesetzt, insofern der Mensch im Kreuz Christi mitstirbt und zugleich die contritio, das Kreuzesgeschehen, in sich vergegenwärtigt. Die biblischen Worte sind in diesem Verständnis der Niederschlag dieser Erfahrung als Vergewisserung dieser Rechtfertigung.329 N. Slenczka hat in seinem Beitrag aus dem Jahr 2013 diese existentielle Wende am Beispiel des Apostels Paulus verdeutlicht. Paulus bricht mit alttestamentlichen Vorstellungen und interpretiert alttestamentliche Bilder neu. Der Kyrios-Titel wird von ihm auf Jesus von Nazareth übertragen (1 Kor 12,10; Phil 2,5-11; Röm 10,9); Christus wird als der vorgestellt, durch den Gott alles erschaffen hat (vgl. Kol 1,16) und er ist der Herr, d.h. er ist Gott. In Jesus Christus tritt der Gott entgegen, den bereits die Schriften Israels bezeugt haben. Paulus macht diese Erfahrung, die für ihn aber zugleich Anlass für eine völlige Neuinterpretation ist. „Dieser Eindruck einer radikalen Reformulierung stellt sich bei Paulus ein, weil dieser den Bruch im Verständnis Gottes und seines Willens biographisch reflektiert, das ‚alte‘ und das ihm erschlossene ‚neue‘ Verständnis einander gegenüberstellt“.330 Für den Apostel ist das Christusereignis das absolut Neue, das er in seinem Leben erfährt und das einen Bruch mit dem Vorherigen bedeutet (vgl. Phil 3,3-11; 2 Kor 3,1). In 2 Kor 5,14-17 unterscheidet der Völkerapostel zwischen dem äußeren und dem inneren Menschen. Weil durch Tod und Auferstehung Jesu Christi alles neu geschaffen ist, darum ist der Glaubende in Christus: Er ist eine neue Schöpfung und eine neue Existenz. Es ist „der Anspruch, dass er [Paulus; Anm. d. Verf.] bzw. die Christen insgesamt ihre Identität nicht in sich selber haben, sondern dass der Lebensvollzug Christi die Identität der Christen ist: Sie sind Christus, und das Leben Christi ist – gegen die Vorfindlichkeit – ihr Leben“.331 Die Begegnung 329 Siehe F. NÜSSEL, „Sein in Christus“, 485-491. F. Nüssel unterstreicht aber dabei, dass das Eins-Sein mit Christus die Differenz Mensch-Christus wahrt und nicht von einer Verschmelzung der beiden Naturen bei Osiander ausgegangen werden darf, denn Christus ist in sich gerecht, der Mensch jedoch nur außerhalb seines Ichs in Christus. Siehe auch N. SLENCZKA, „Gestalt der Selbstdeutung“, 103-104. 330 DERS., Vom Alten Testament und vom Neuen, 191. 331 DERS., „Entzweiung und Versöhnung“, 313. Ebenfalls dort zu lesen: „Die neue Existenz der Christen ist somit nicht ihr Eigentum[,] sondern sie haben diese neue Existenz in der Zu- und Aneignung des Todes und der Auferstehung Jesu von Nazareth; dies so, dass mit der Aneignung dieser Existenz Jesu – und eben nicht mehr das vorfindliche Leben der Christen – ihre Identität darstellt“. P. Tillich versucht diesen Gedanken im Allgemeinen mit dem Begriff der Teilhabe Gottes an der Existenz auszudrücken, indem Gott „den Zwiespalt von Essenz und Existenz überwindet“ und damit das neue Sein schafft. Das, was sich eigentlich entgegensteht, wird im neuen Sein

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mit dem „Lebensvollzug Christi“ ist Hinein-nahme in Tod und Auferstehung Jesu und Heraus-nahme aus dem Gesetz und kommt zu einer regelrechten Entäußerung des Menschen in seinem sündhaften Lebensvollzug, indem er sich in den erniedrigenden Lebensvollzug Christi hineingibt. Er wird neue Schöpfung und erfährt sich in einem neuen Zustand. In dem Bewusstsein des neuen Menschen ist aber auch eine Verinnerlichung der Erfahrung gegeben. Der „Lebensvollzug Christi“ bleibt nicht mehr kategorial äußerlich, sondern vollzieht einen Wandel des Wesens im Menschen. Nur in diesem verinnerlichten Verständnis der christlichen Identität kann es zu einem Verständnis kommen, das sich von der bisherigen Gotteserfahrung absetzt. Es ist genau die Verinnerlichung des „Lebensvollzuges Christi“, die den Menschen die unmittelbare Beziehung zu Christus schenkt. In der Entäußerung seiner selbst findet der Mensch seine Verinnerlichung, da er sich vom „Lebensvollzug Christi“ dem Gesetz als der Erlösungsbedürftigkeit entziehen lässt und sich damit selbst gegeben wird. Nach protestantischem Verständnis ist dies aber in vollkommener Unmittelbarkeit gegeben. Die Rechtfertigung bedarf keiner Vermittlung, sondern im Glauben erfährt der Mensch diesen Zuspruch als seinen Anspruch. N. Slenczka entfaltet den Gedanken der direkten Rechtfertigung wie folgt: „Es geht dann nicht darum, dass der Glaubende mit Christus gleichsam physisch verbunden wird und Christus, wie auch immer, gegenständlich im Glaubenden präsent ist, sondern es geht in der Tat ‚nur‘ darum, dass der Glaubende unter einem neuen, und zwar kontrafaktischen, Urteil steht (Zuspruch), sich daraufhin selbst neu versteht (Glaube) und damit den Anspruch erhebt, von seinen Mitmenschen von dieser Identität Christi her, die seine eigene und der Grund seines Selbstverständnisses ist, beurteilt zu werden“.332

Die Reformation sieht in dieser existentiellen Neuheit der Identität das Wirken der Rechtfertigung. Das Neue besteht darin, dass es zu einer wechselseitigen Identifikation des Menschen mit Christus und Christi heilsgeschichtlich durch Gottes Teilhabe verbunden, was damit das eigentliche Ziel der ganzen Geschichte ist. Siehe P. TILLICH, „Das neue Sein“, 230. 332 N. S LENCZKA, „Entzweiung und Versöhnung“, 314. N. Slenczka zitiert dazu M. Luther: „Das Hauptstück und Grund des Evangelium ist, daß du Christus, ehe du ihn als Exempel faßt, aufnimmst und erkennst als eine Gabe und ein Geschenk, das dir von Gott gegeben und dein eigen sei, so daß, wenn du ihm zusiehst oder hörst, daß er etwas tut oder leidet, daß du nicht daran zweifelst, er selbst Christus mit solchem Tun und Leiden sei dein, worauf du dich nicht weniger verlassen sollst, als hättest du es selbst getan, ja als wärest du derselbe Christus“. M. Luther, WA 10,1,1,11,12-18, zitiert nach N. SLENCZKA, „Entzweiung und Versöhnung“, 314-315. Mit einem Wort P. Tillichs kann auch gesagt werden, dass das Neuwerden des Menschen eine völlige „Einigung des Essentiellen mit dem Existentiellen“ ist; P. TILLICH, „Das neue Sein“, 226. P. Tillich sieht das Neue nicht als Wiederherstellung eines alten Zustands, sondern das Erreichen des Eigentlich-Wesentlichen.

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mit dem Menschen kommt: die Präsenz Christi im Glaubenden. Nur darin kann sich der Christ als neue Geschichte verstehen und im Glauben die Annahme des Zuspruchs einer neuen Identität empfangen. Nach reformatorischer Lehre ist der Mensch aber simul iustus et peccator. Diesem Zustand begegnet der Christ jedoch gerade durch sein neues Verhältnis zu Gott, da er in direktem Verhältnis zu Christus steht: „und die alte Identität bleibt bestehen darin, dass sie zum Inhalt des Selbstbewusstseins Jesu wird, der das Geschick – das meint nicht: die Sündenstrafe, sondern die der Bestimmung des Menschen widersprechende Identität des Sünders – trägt und darin den Konflikt der Unfähigkeit zur Identität mit sich selbst durchleidet“.333 Durch den Zuspruch der Rechtfertigung ist das Evangelium in das Selbstbewusstsein des Menschen aufgenommen und damit gerechtfertigt, wobei die Kenosis Christi die alte Identität des Menschen in sein eigenes Selbstbewusstsein integriert und damit wandelt. Es kommt zu einem Tausch der Identitäten im unmittelbaren christlich-frommen Selbstbewusstsein, indem in Jesus Christus ein neues Sein geschaffen wird. Im Glauben übergibt der Mensch sein Ich in das Ich Christi und erfährt sich darin gerechtfertigt, dass nun seine Sünden im Kreuz Christi gebrochen werden. Das Evangelium ist dann das Wort, das erklärt und verdeutlicht, was in dieser Identität des Menschen mit Christus geschieht und was dieses neue Selbstverständnis im Glauben meint.334 Was christologisch mit der communicatio idiomatum in Bezug auf Gottheit-Menschheit Jesu ausgesagt wird, wird nun auf das Verhältnis Jesu Christi zum Glaubenden übertragen, das jedoch nicht ontologisch gegeben ist, sondern gnadenhaft geschenkt wird. Der Mensch übergibt seine alte Menschheit in das Bewusstsein Christi, der durch seine Kenosis im Bewusstsein des Menschen den neuen Menschen schafft. 5.4.2.

Christologische Neuinterpretation des Vorgegebenen

Das Neue Testament ist durchzogen von einer christologischen und ekklesiologischen Neuinterpretation. Für neutestamentliche Autoren erschließt sich der Sinn der Schrift und der Geschichte ausgehend von Jesus Christus, in dem die Gottesbegegnung eine Neubestimmung erfährt. Der Gott, dem der Mensch begegnet, ist der Gott Jesu Christi. „Die Begegnung mit Christus setzt eine vorausgehende Erfahrung Gottes voraus und erschließt – als Antwort – die Wahrheit der ‚Frage‘ und damit der vorausgehenden Gottes- und Selbsterfahrung“; somit gilt für das Alte Testament: „die vorchristliche Erfahrung Gottes wird christologisch neu und, nach Einsicht der ersten Christen aus dem 333

N. SLENCZKA, „Entzweiung und Versöhnung“, 317. Vgl. ebd. 318 und DERS., „Gestalt der Selbstdeutung“, 114-115, DERS., „Christus“, 429-431; sowie P. TILLICH, „Das neue Sein“, 231-232. 334

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Judentum: nun erst angemessen verstanden und aus der Perspektive der Begegnung mit Christus reformuliert“.335 Es ist eine Grundannahme der Theologiegeschichte, dass sich die Christologie der frühen Kirche nur mit dem Alten Testament denken und verstehen lässt. Das Alte Testament bietet das Sprachfeld, denn nur damit konnten die ersten Christen bekennen, dass Jesus der Christus, der Herr, ist (vgl. 1 Kor 12,3; Röm 10,9). Es bleibt aber nicht dabei, dass das frühe Judentum einfach nur die messianischen Begriffe und Vorstellungen übernimmt, sondern dass „alle diese auf das Alte Testament gegründeten Vorstellungen […] um ein neues Zentrum gruppiert [werden], nämlich um die Person Jesus von Nazareth“.336 Das Neue im Christentum ist, dass es zu einer soteriologischchristologischen Neuinterpretation und Konzentration vorgefundener Vorstellungsinhalte kommt. Es ist nicht ein völliger Neueinsatz in der Geschichte, den es mit Schleiermacher so auch nicht geben kann. Aber es ist eine Integration und Neudeutung des vorgegebenen Gedanken-, Glaubens-, und Sprachguts. Geschichte kennt keine evolutionären Sprünge oder Leerstellen. Das Spätere steht in einer historischen Verbindung, auch wenn ein geschichtliches Novum eintritt. Das Christentum bleibt in dieser Geschichtstransformation nicht einzig auf das damalige Judentum beschränkt. Durch die Missionstätigkeit kommt es schnell in den Raum der griechisch-römischen Philosophie und nimmt die Denkanstöße wiederum in das eigene Denken auf. Das Urchristentum erkennt im Gott der Philosophen den Gott Jesu Christi, womit sich die alttestamentliche Gottesrede schnell mit der philosophischen Spekulation verbindet. Ausgehend von dieser Reflexion werden dann auch alttestamentliche Bilder neu verstanden und interpretiert. Es kommt zu einer Reinterpretation alttestamentlicher Bilder auf dem Boden einer neuen Metaphysik, die die genommenen Bilder aber wesentlich umdeutet. P. Tillich versucht dies mit dem 335 N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 200. Vgl. auch ebd. 327: „Es ist eine völlig neue Rede von Gott, die Paulus mit der Rede Israels identifiziert: Nun erst habe er verstanden, wer da im Alten Testament spricht – und das heißt für ihn: Die nicht glaubenden Juden verstehen es bis dato nicht (2 Kor 3,12-18)“. F. Wagner formuliert noch konkreter, dass der Bezug auf das Alte Testament es verhindert, den „spezifisch neuen und revolutionären Gehalt zu explizieren“, den das Christentum mit der Trinitätslehre und Christologie erarbeitet hat, so dass nur eine „halbherzige Reform“ des Neuen durch das Neue Testament übrigbleibt. Auch DERS., „Einwände und Antwortversuche“, 88. Vgl. F. WAGNER, „Zwischen Autoritätsanspruch und Krise des Schriftprinzips“, in: J. DIERKEN – C. POLKE (Hgg.), Christentum in der Moderne. Ausgewählte Aufsätze (= DiM 9), Tübingen 2014, 483-504, 501-502. 336 N. S LENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 319. Die „Neujustierung“ alttestamentlicher Glaubensinhalte beschreibt N. Slenczka hier anhand des Philipperhymnus (Phil 2,6-11) und an der Schöpfungslehre, dass alles in und durch Christus geschaffen ist (vgl. Kol 1,15-20). Beides ist für den jüdischen Glauben absolut neu, aber damit auch unannehmbar.

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Begriff der Erlösung zu erklären, von der es in der gesamten Geschichte immer und überall Spuren gibt, die aber nur und einzig in Jesus Christus zur Vollendung kommt. „Wir fragen jetzt noch einmal, was der spezielle Charakter der Erlösung durch Jesus als den Christus im Verhältnis zu den erlösenden Kräften ist, die überall in der Geschichte erscheinen. Die Antwort kann nicht lauten, daß der Christus im Gegensatz zu ihnen steht, sondern sie muß lauten, daß er ihr Kriterium ist“.337 Für Paulus ist das Neue des Neuen Testaments biographischexistentiell begründet. Er sieht sein Leben neu geschaffen und aus dieser neuen Situation heraus möchte er sein Verständnis des Alten Testaments wissen. Dies gelingt ihm gerade darin, dass er das Neue zum einen mit einer christlichen Apokalyptik interpretiert, die in der Tradition des Vorangegangenen bleibt, sich aber dabei positiv von diesem Vorangegangenen absetzt.338 Das Alte Testament wird zum Kontrapunkt des Neuen, weil sich im Neuen die existentielle Umformung qualitativ ausdrückt. Aus der existentiellen Umdeutung der Erfahrung – mit Schleiermacher: im christlich-frommen Selbstbewusstsein – kann der Christ diese Erfahrung dann auch im Alten Testament angesprochen sehen. Da er eine existentielle Erfahrung gemacht hat, kann er damit die vorangegangene Geschichte deuten. Hier wird offenkundig, dass N. Slenczka das Verhältnis von „Altem“ und „Neuem“, damit aber auch das Verhältnis von Altem und Neuem Testament insgesamt, von der soteriologisch-christologischen Erfahrung her interpretiert, die sich im Christusereignis niederschlägt. Hier folgt er seinem christologischen Grundverständnis, dass „[d]ie Christologie (n.b.: nicht die Person Jesu!) […] Reflex der Soteriologie oder der Reflex ihrer Wirkungsgeschichte [ist]. […] Nur so, in diesem Zusammenspiel von existentiell Neuem und dem bisherigen Selbst- und Welt-Missverständnis manifestiert sich Jesus von Nazareth als Ursprung der Erlösung ([F. Schleiermacher; Anm. d. Verf.] Glaubenslehre2 § 11)“.339 Was Paulus im Ursprung des Christentums erfahren hat, zieht sich durch die ganze Kirchengeschichte über 337 P. TILLICH, Systematische Theologie, 460. Zum Gedanken der Reinterpretation siehe N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 201-204, 328 und P. TILLICH, Systematische Theologie, 404-405. 338 Vgl. N. S LENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 251. In Folge der Darstellung des Apostel Paulus merkt hier der evangelische Theologe auch selbstkritisch an: „Es scheint mir im deutschen Protestantismus das Bewusstsein dafür verloren gegangen zu sein, dass das Christentum etwas ‚Neues‘ im Feld der Religionen ist“. 339 Ebd. 264. Entsprechend aus der menschlichen Perspektive gesehen P. GALLES, Situation und Botschaft, 197: „Christus ist die Verwirklichung des soteriologischen Paradoxons, welches darin besteht, den unannehmbaren Menschen anzunehmen. Der Mensch hat gegenüber Gott keine Verdienste und kann – gut lutherisch – nichts zur Überbrückung der fundamentalen Kluft zu Gott beitragen“.

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M. Luther und Schleiermacher, von A. v. Harnack bis hinein in die Gegenwart. In Jesus Christus ist das christlich-fromme Selbstbewusstsein dermaßen grundlegend, dass es zu einem wesentlichen, nicht rein historischen Novum kommt. Der Mensch ist im christlichfrommen Bewusstsein neu geschaffen und trägt in sich eine neue Identität. Die Neuheit drückt sich darin aus, dass das, was für die existentielle Erfahrung gilt, auch auf das Politische übertragen wird. Das Volk Israel ist an die Verheißung des Landes gebunden und geht mit seinem Gott durch die Geschichte. Die Jünger legen dagegen die persönliche Umdeutung ihres Glaubens durch Jesus Christus auf das Verhältnis Gottes zu allen Menschen aus. Die Verheißung, die Jesus gibt, ist die Universalisierung des Liebesgebotes, das nicht mehr an ein Gesetz, an eine Volkszugehörigkeit oder an ein Land gebunden ist, sondern an die Erfahrung der Erlösung durch Jesus Christus. N. Slenczka folgert darum mit A. Ritschl: „Das Reich Gottes ist die Vergemeinschaftung aller Menschen ungeachtet ihrer Unterschiede aus dem Motiv der Liebe […]“.340 Die Besonderheit der Erwählung des Volkes Israel ist, dass sich Gott partikular an jenes bindet und ihm treu bleibt. In dieser Partikularität erfährt sich das Volk Israel auf seinen Gott bezogen, womit es im Christentum in der christologischen Neuheit zu einer Umkehr kommt: Die Liebe Christi ist universal für alle Menschen, da das Reich Gottes, sein Evangelium, an alle Menschen gerichtet ist. Diese Universalität kann jedoch nur in der Partikularität der konkreten Situation gelebt werden. Darum kommt es hier bei N. Slenczka zu einem Zusammendenken von Universalität und Partikularität im Konkreten. Das bedeutet somit aber auch eine „radikale Säkularisierung“ des Konkreten, denn „nach dem Willen Gottes, wenn man so davon sprechen will, sind aber diese natürlichen [konkreten; Anm. d. Verf.] Ordnungen ausschließlich Mittel zum Zweck des Reiches Gottes: der universalen Menschheitsgemeinschaft als Liebensgemeinschaft aller Menschen. Und entsprechend ist der Zweck des Handelns Gottes auch nicht das Volk Israel oder dessen Existenz in einem bestimmten geographischen Raum, sondern auch dieses Volk kann höchstens als ein Moment einer heilsgeschichtlichen Bewegung in Betracht kommen, die auf die ganze Menschheit zielt“.341

Die Universalität des Konkreten im christlich-frommen Selbstbewusstsein ist die Veränderung vom Alten zum Neuen Testament. Darin liegt die Legitimation des Neuen im Christentum, worin sich dann auch die Mitte des Neuen Testaments auftut. Das Neue und die Mitte in der normativen Schrift der Christen ist nicht Christus, „sondern Christus als Fundament menschlicher Existenz: der ‚Christus 340 341

N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 427. Ebd. 329.

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pro me‘, das Evangelium“.342 Aber aus dem „Christus pro me“ folgt dann im Leben des Menschen, dass er sich versteht wie „Ich bin (wie) Christus“. Mit M. Luther interpretiert N. Slenczka das Neue des Evangeliums dahingehend, dass es nicht eine heilsgeschichtlich neue Epoche eröffnet, sondern dass es zu einer individuellen und existentiellen Neuschaffung des Menschen in Jesus Christus durch die Rechtfertigung kommt. Das Christusereignis zeigt sich im konkreten Leben. Der Mensch wird von Jesus Christus ergriffen und lebt neu (vgl. Gal 2,20). Hier ist der Mensch vom Gesetz losgesagt und steht nur noch unter der Gnade des Evangeliums. Der Ort des Zuspruchs ist das christlich-fromme Selbstbewusstsein, worin der Mensch sich als gerechtfertigt und neu bestimmt erfährt. Dem Protestanten N. Slenczka geht es dabei nicht um eine physische oder mystische Neubewertung des Menschen, sondern um eine Neubewertung im Glauben des Selbstbewusstseins. Hier nimmt der Mensch im Glauben an das Evangelium seine ursprünglich kontrafaktische Neubestimmung in Jesus Christus an.343 Das Evangelium Christi ist das allumfassend Neue des Christentums, an dem sich alles zu messen hat, das aber zugleich die begründende Funktion im Glauben hat, da sich das Neue, also die erfahrene Erlösung durch Jesus Christus, in dieser Mitte, dem Evangelium, konkretisiert. Denn hier übereignet sich die eigene Existenz in die Existenz Christi und der Mensch lebt durch den Bezug auf das andere seiner selbst: Er lebt aus Gnade, nicht aus Gesetz; aus Gerechtigkeit, nicht aus Schuld. Die soteriologische Christologie N. Slenczkas unterstreicht das Neuwerden des Menschen im Glauben:

342 DERS., Tod Gottes, 17. Siehe dazu auch F. WITTEKIND, „Soteriologische Christologie“, 246-247. 343 Vgl. N. SLENCZKA, „Neue Paulusperspektive“, 192-194. N. Slenczka greift hierbei auf M. Luthers Galaterkommentar 1535 WA 40,1; 280,25-281,20, 285 zurück. Vgl. auch N. SLENCZKA, „Entzweiung und Versöhnung“, 317. Dazu auch DERS., „Problemgeschichte der Christologie“, 102-105 und DERS., „Gestalt der Selbstdeutung“ 115. Zur Auslegung von Gal 2,20a bei Luther siehe auch F. NÜSSEL, „Sein in Christus“ 487-491. F. Nüssel weist aber auch darauf hin, dass das Sein in Christus keiner dogmatisch-christologischen Vorgabe folgen dürfe, sondern der Mensch muss sich dessen im Wissen des Unterschieds und Einsseins mit Christus selbst bewusst sein. Vgl. ebd. 501-502. Siehe dazu auch F. WITTEKIND, „Soteriologische Christologie“, 242-244. Der Autor weist darauf hin, dass Erlösung durch Jesus Christus darin besteht, die „Selbstbeziehung des Bewusstseins zu Ende“ zu bringen und dass Jesus Christus „in der Versöhnung die Wahrheit dieses Selbst [des Menschen; Anm. d. Verf.] im Bilde des Anderen schenkt und dass er in der Wiedergeburt die Zueignung dieses Anderen als Wahrheit des Selbst im Geschehen des Glaubens ermöglicht“ (243). F. Wittekind versteht Erlösung als Prozess der Darstellung des trinitarischen Werkes im Glauben, „und zwar als Klärung des gegenseitigen Implikationsverhältnisses der verschiedenen Absolutheitsmerkmale [der trinitarischen Personen; Anm. d. Verf.], mit Hilfe derer der Glaube sich im Prozess seines Geschehens selbst zu verstehen versucht“ (244).

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„Indem ein Mensch in der beschriebenen Weise auf den auf Aneignung zielenden Zuspruch hin die Person Jesu von Nazareth als Grund und Ursprung der eigenen Identität ergreift, prädiziert er nicht begleitend, sondern mit eben diesem Akt die Person Jesu von Nazareth als Gott“.344

344

N. SLENCZKA, „Problemgeschichte der Christologie“, 109. Vgl. auch F. WITTEKIND, „Soteriologische Christologie“, 247: „Durch den Bezug auf die in Jesus Christus gesetzte Wahrheit des Selbst wird im Vollzug des Glaubens das Selbst selbst als das von Christus eingesetzte und im Bild Christi konstituierte Selbst erkannt und hinsichtlich seiner Wirklichkeit als gewiss vollzogen“.

159

6.

Das Neue des Neuen und die reformatorische Freiheit

6.1.

Das reformatorische Freiheitsbewusstsein

Als protestantischer Systematiker stellt sich N. Slenczka der Herausforderung, die Reformation inhaltlich zu bewerten. Wenn mit M. Luther nicht nur eine innerkirchliche Umwälzung aufgrund von Missverhältnissen gegeben sein sollte, sondern eine epochenbezeichnende Wende im Verhältnis des Abendlandes zu sich selbst, dann bedarf dieser epochenwendende Zeitraum der reflexiven Vergewisserung. Für N. Slenczka ist mit G. W. F. Hegel der entscheidende Schritt der Reformation getan, als sich das Ich seiner Freiheit und Autonomie bewusst wurde: „Die Freiheit macht sich dabei erst negativ geltend als Widerspruch gegen den Anspruch der anstaltlichen Kirche auf Herrschaft über das individuelle Gewissen; aber in diesem Widerspruch lebt eben das Prinzip der Reformation: die Überzeugung von der Autonomie des Subjekts, das der Ort der Verwirklichung der Einheit von Gott und Mensch ist“.345 Gemeint ist 345

N. SLENCZKA, „Der Freiheitsgehalt des Glaubensbegriffs als Zentrum protestantischer Dogmatik“, in: J. DIERKEN – A. VON SCHELIHA (Hgg.), Freiheit und Menschenwürde. Studien zum Beitrag des Protestantismus (= RPT 16), Tübingen 2005, 49-64, 49; [in Folge: N. SLENCZKA, „Der Freiheitsgehalt des Glaubensbegriffs“]. Siehe auch U. H. J. KÖRTNER, „Das Evangelium Freiheit“, 112: „Tatsächlich war die Reformation in vielfältiger Hinsicht eine Befreiungsbewegung, in der es um die Freiheit von klerikaler Bevormundung ebenso ging wie um politische und soziale Freiheiten. Die Aufklärung wertete die Reformation trotz aller Kritik als eine Entwicklungsstufe auf dem Weg zur Freiheit des Geistes und aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit des Menschen“. I. Dalferth setzt in diesem Duktus noch einen weiteren Schwerpunkt, indem er die Reformation nicht nur als ein geschichtliches Ereignis gedeutet wissen will, sondern sie auch als eine geistesgeschichtliche und geistliche Revolution ansieht Vgl. dazu I. U. DALFERTH, „Creative Grace: The Spiritual Revolution of the Reformation“, NZSTh 59 (2017) 548-571, 551: „From a theological point of view the Reformation is of interest not merely as a historical event, but as a spiritual event. Even its historical importance depends on its spiritual significance. It changed the course of history by opening up a new understanding of God and human existence before God that altered our outlook on the world, on God, and on ourselves. One misses the point of the Protestant Reformation if one ignores its religious significance, and one misses the point of its religious significance if one reduces it to its historical impact on church reform […]“; [in Folge: I. U. DALFERTH, „Creative Grace“]. Für den Autor besteht die geistliche Revolution nicht so sehr in der Unterscheidung katholisch-protestantisch als in der Unterscheidung SchöpferGeschöpf, die in der Reformation bewusst wird (553). In dieser Unterscheidung erhält der Mensch seine eigentliche Stellung in der Welt, indem damit die absolute Abhängigkeit des Menschen von Gott ausgesagt ist (563-565). Siehe auch U. BEUTTLER, Reformatorische Freiheit, Erlangen 2018, 24-25; [in Folge: U. BEUTTLER, Reformatorische Freiheit]. Ebenso U. H. J. KÖRTNER, Luthers Provokation für die Gegenwart. Christsein – Bibel – Politik, Leipzig 2018, 39-57, besonders 44-45; [in Folge: U. H. J. KÖRTNER, Luthers Provokation]; C. A. D. AU – T. SCHLAG, Frei glauben.

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damit die Subjektivierung des Glaubens, der nicht mehr an die Institution der Kirche gebunden und vermittelt bleibt, sondern sich mit der Reformation individuell vollziehen muss. Der Mensch als Individuum erfährt sich im Glauben nun auf sich gestellt und muss sich aufgrund der Rechtfertigung selbst für den Glauben rechtfertigen, indem er selbst dem solus Christus gegenübersteht. Die Leistung der Reformation kann demnach als eine subjektive Verinnerlichung einer veräußerten Objektivierung gelten: Glauben in Freiheit ist Freiheit des Glaubens als Zentrum reformatorischer Theologie.346 Die Rechtfertigung durch das Evangelium bedeutet das NeuWerden des glaubenden Menschen. Freiheit ist daher als Befreiung durch den Zuspruch der rettenden und unverfügbaren Gnade zu denken, die dem Menschen zwar äußerlich gegeben wird, aber im Glauben innerlich erst zum Tragen und somit aktual wird. Darum wird nach reformatorischem Verständnis das extra nos der rechtfertigenden Gnade herausgestrichen, weil nur damit ein wirkliches und Reformatorische Anstöße zu einer protestantischen Lebenskultur, Göttingen, 2017, 5157; [in Folge: C. A. D. AU – T. SCHLAG, Frei glauben]; U. H. J. KÖRTNER, „Zur Freiheit berufen. Potenziale der Reformation“, EZW Materialdienst 81 (2018) 43-49, 43-44; [in Folge: U. H. J. KÖRTNER, „Zur Freiheit berufen“]; E. GRÄB-SCHMIDT, „Freiheit als Freiwerden. Phänomenologische Bestimmungen der neuzeitlichen Freiheit in reformatorischer Sicht“, in: T. SÖDING – B. OBERDORFER (Hgg.), Kontroverse Freiheit. Die Impulse der Ökumene (= QD 284), Freiburg – Basel – Wien 2017, 16-32. Dennoch darf nicht übersehen werden, dass N. Slenczka davor warnt, ein bestimmtes Wesen der Reformation theologisch herausdestillieren zu wollen. Gerade im Umfeld des 500jährigen Reformationsjubiläums kritisiert er das Unterfangen, auch der EKD, eine monolithische Beschreibung der Reformation vorlegen zu wollen, dabei von Anfang an gegebene Pluralität der Reformation zu übergehen. Siehe dazu N. SLENCZKA, „Reformation und Selbsterkenntnis. Systematische Erwägungen zum Gegenstand des Reformationsjubiläums“, GlLern 30 (2015) 17-42; [in Folge: N. SLENCZKA, „Reformation und Selbsterkenntnis“]. 346 N. Slenczka ist aufmerksam für die unterschiedlichen Strömungen und Momente der Glaubenserfahrung des Reformators, so dass er auch darauf hinweist, dass zum Freiheitsmoment des reformatorischen Glaubens auch die Unfreiheit der Anfechtungserfahrungen hinzugedacht werden müssen. Darin drücke sich auch eine unterschiedliche Lutherrezeption aus, wie sie besonders während des ersten Weltkrieges einsetzte. Vgl. dazu DERS., „Der Freiheitsgehalt des Glaubensbegriffs“, 52-55, DERS., „Neuzeitliche Freiheit oder ursprüngliche Bindung? Zu einem Paradigmenwechsel in der Reformations- und Lutherdeutung“, in: DERS. – W. SPARN (Hgg.), Luthers Erben. Studien zur Rezeptionsgeschichte der reformatorischen Theologie Luthers, FS für Jörg BAUR, Tübingen 2005, 205-244, 210-232 und DERS., „Freiheit von sich selbst – Freiheit im Dienst. Zu Luthers Freiheitsschrift“, in: C. AXT-PISCALAR – M. LASOGGA (Hgg.), Dimensionen christlicher Freiheit. Beiträge zur Gegenwartsbedeutung der Theologie Luthers, Leipzig 2015, 81-118; [in Folge: N. SLENCZKA, „Freiheit von sich selbst“]. F. Schleiermacher beschreibt die Unmittelbarkeit des Glaubens und der Freiheit christologisch, indem nach reformatorischer Lehre das Verhältnis des Einzelnen zur Kirche durch die Unmittelbarkeit zu Christus, nach katholischer Lehre jedoch das Verhältnis des Einzelnen zu Christus durch das Verhältnis zur Kirche bestimmt ist. Vgl. F. SCHLEIERMACHER, GL § 24 Leitsatz.

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existentielles Neuverstehen des Menschen möglich ist. Innerlich kann der Mensch sich nicht von der Vergangenheit lösen oder sich davon entschulden. Soll der Christ nach Paulus wirkliche Neu-Schöpfung sein, so kann dies nicht in einer Aktualisierung des Alten bestehen, sondern in einer absoluten Aktualität des Neubeginns. Erst darin ist dann Freiheit gegeben, insofern sich der Mensch vom alten Menschen losreißt und sich als die neue Schöpfung in Christus gesetzt weiß. Das extra nos der reformatorischen Freiheit ist dann das intra nos des Glaubens. Die rein äußerliche Tat Gottes ist eine zutiefst verinnerlichte und vergeistigte Haltung des Menschen, der sich in der Passivität auf den Zuspruch Gottes zurückgeworfen erfährt.347 Der Mensch soll ein anderer werden, weil er sich von der Gnade angesprochen weiß, durch die ihm die Verdienste Jesu zugeeignet werden. Christliche Existenz und damit freiheitliche Existenz ist das durch den performativen Zuspruch des Evangeliums veränderte Leben, das jeglicher Vermittlung entbehrt und sein Zentrum in der Subjektivität des Hörenden hat.348 Die Freiheit des Glaubens besteht nun darin, dass sich die eigene Existenz dem Zuspruch nicht kategorial, sondern existentiell aneignet. Der Glaube vermittelt damit aktuelle Freiheit, denn „die Freiheit gehört also zur neuen, kontrafaktischen Identität des Christen“.349 Der 347

Vgl. dazu I. U. DALFERTH, „Creative Grace“, 553-554. Zur Passivität siehe ebd. 565568 und N. SLENCZKA, „Fides creatrix divinitatis“, 175-176; hierbei unterstreicht N. Slenczka die Lutherdeutung, dass in der reinen Passivität des Glaubens das Schaffen der „unverursachten Ursache“ und der „höchsten Verwirklichung“ Gottes im Gläubigen (!) gegeben ist. Darum kann M. Luther in seinem Galaterkommentar Gottesprädikate auf den Glauben übertragen und Gottesprädikate als vom Glauben geschaffen verstehen. Des Weiteren U. BEUTTLER, Reformatorische Freiheit, 50: „Die kreative Passivität des Menschen aus dem Glauben heraus führt aus einem Sich‐neu‐Verstehen in ein Neuwerden und Neusein hinüber, das ein Neuhandeln aus sich heraussetzt“. 348 Vgl. hierzu N. SLENCZKA, „Der Freiheitsgehalt des Glaubensbegriffs“, 58: „Die Evangelien sind streng genommen nicht bloßer Bericht, sondern Berichte, die in eins ein Urteil über den Leser darstellen: im Berichten (und nicht in einem zweiten Akt) wird das Berichtete dem Hörer und Leser zugesprochen; zugleich steht damit dies lesende Subjekt unter der Zumutung, diese fremde Biographie als eigene anzueignen, sich kontrafaktisch durch die und mit der Biographie einer fremden Person zu identifizieren; und der sachgemäße Gebrauch der Evangelien ist genau diese Übernahme des im Evangelium ergehenden Zuspruchs in ein Selbsturteil […]“. 349 Ebd. 60. N. Slenczka unterstreicht in seinen theologischen Interpretationen der Reformation diese Neuheit des Freiheitsbegriffs, hebt aber zugleich hervor, dass damit nicht der neuzeitlich-transzendentale Freiheitsbegriff eingeschlossen ist, wenngleich es zwischen reformatorischem und neuzeitlichem Freiheitsglauben und -denken Anknüpfungspunkte gibt. Vgl. dazu ebd. 60-64. Ebenso warnt er vor einer Rückprojektierung des modernen Freiheitsbegriffs in seinen unterschiedlichen Ausprägungen auf den Reformator U. BEUTTLER, Reformatorische Freiheit, 33-36. O. Bayer unterstreicht in seinem Beitrag ebenfalls die Differenz zwischen reformatorischem und neuzeitlichem Freiheitsbegriff. O. BAYER, „Zweierlei Freiheit“, 16-19; ebenso U. H. J. KÖRTNER, Luthers Provokation, 42. Dagegen findet sich eine

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reformatorische Christ weiß sich im Glauben befreit und kann sich in diesem Glauben der Rechtfertigungsgnade vergewissern. Der neue freiheitliche Aspekt der Reformation liegt somit darin, dass sich der performative Zuspruch des Evangeliums in einen aktuellen Vollzug des Menschen übersetzt. Reformatorische Freiheit kann daher parallel gesetzt werden zum Glauben: der gerechtfertigte Christ ist so frei oder unfrei, wie er glaubt oder nicht glaubt. Der Begriff der Freiheit ist daher im reformatorischen Sinn primär in der Rechtfertigung und nicht in einem kirchlichen oder politischen Freiheitsdenken zu suchen. Der freie Mensch ist eine neue Schöpfung, weil er sich im Glauben als neuer Mensch verstehen kann, der den alten Menschen hinter sich lässt und durch die kontrafaktische Übereignung an Jesus Christus neu zu leben lernt. Freiheit ist Befreiung aus dem Unglauben, der den Menschen in die Sünde verstrickt und damit seinen Willen fesselt.350 Der neue Mensch und das freie christliche Leben sind daher nicht Momente einer Freiheitsgeschichte als Heilsgeschichte, sondern der christozentrische Moment der soteriologische Erfahrung, die das eigene Seinsverständnis ändert, denn die „Christologie ist der Reflex der Soteriologie“.351 Zusammenführung beider Freiheitsbegriffe bei S. KJELDGAARD-PEDERSEN, „Freiheit als reformatorischer Kernbegriff?“, in: V. LEPPIN – M. HAUGER – M. BEYER (Hgg.), Herausforderung Reformation. Reformationsgeschichte zwischen theologischer Deutung und historischer Forschung (= Evangelische Impulse 7), Göttingen 2016, 107-130, 108130. – Zum Glauben vgl. auch D. WENDEBOURG, „Freiheit des Glaubens – Freiheit der Welt“, in: I. U. DALFERTH (Hg.), Reformation und Säkularisierung. Zur Kontroverse um die Genese der Moderne aus dem Geist der Reformation, Tübingen 2017, 57-89, 66-71. 350 Vgl. N. SLENCZKA, „Buße ohne Gnade. Die Folgen des Verlustes der christlichen Sühnetheologie“, in: M. HÜTTENHOFF – W. KRAUS – K. MEYER (Hgg.), „…mein Blut für Euch“. Theologische Perspektiven zum Verständnis des Todes Jesu heute (= BThS 38), Göttingen 2018, 217-244, 231-232; U. H. J. KÖRTNER, „Das Evangelium der Freiheit. Reformatorische Theologie für das 21. Jahrhundert“, in: S. J. LEDERHILGER (Hg.), „Es muss sich etwas ändern“. Zeit der Reformen – Anstöße der Reformation (Schriften der Katholischen Privat-Universität Linz 3), Regensburg 2017, 107-126, 114-115 und DERS., Luthers Provokation, 44-45; DERS., „Zur Freiheit berufen“, 45. J. Dierken geht in seinem Freiheitsverständnis über N. Slenczka hinaus, da er den Freiheitsbegriff, der für ihn auch zum Kern Protestantischer Theologie gehört, aber von jeglichem Supranaturalismus lösen möchte. Darum lautet seine Freiheitsdefinition, „dass gerade der individuelle menschliche Freiheitsvollzug das göttliche Leben im Diesseits der Welt ist – wobei diese individuelle, endliche Freiheit Selbstbewußtsein und Selbstdurchsichtigkeit gewinnt in einer differenzgeleiteten religiösen Reflexion auf den Gottesgedanken“. Diesen Freiheitsbegriff bezeichnet er als „protestantisch-pantheistischen“ Freiheitsbegriff. J. DIERKEN, „Protestantisch-pantheistischer Geist. Individuelles religiöses Selbstbewußtsein als göttliches Freiheitsleben im Diesseits der Welt“, in: A. VON SCHELIHA – M. SCHRÖDER (Hgg.), Das protestantische Prinzip. Historische und systematische Studien zum Protestantismusbegriff, Stuttgart 1998, 219-248, 221 (Hervorhebungen im Original). 351 N. SLENCZKA, „Dogma als Ausdruck“, 675. Auch DERS., „Christologie als Reflex“, 221-223. Gegen eine Ablehnung einer heilsgeschichtlichen Christologie wendet sich aus bibelhermeneutischen Überlegungen A. SIERSZYN, Christologische Hermeneutik, 55: „Historisch-säkulare Betrachtung der biblischen Heilsgeschichte ist damit nicht nur ein

163

6.2.

Das Selbstverständnis des Christen

Der Mensch steht als Gerechtfertigter coram Deo. Der aus Glauben gerufene Mensch ist dazu bestimmt, dass er im Anspruch Gottes die Vergebung sola fide erhält und sich somit in der Gottesgemeinschaft weiß. Es bleibt jedoch die Frage offen, wie sich diese Gemeinschaft, insbesondere die Wirkung dieses Geschehens im Menschen zeigt und wie sich der Mensch dazu verhält. Die protestantischen drei solae352 sind daher unter dem Gesichtspunkt zu verstehen, inwiefern sie dem grundlegenden solus Christus als Fundamentalprinzip nicht widersprechen und wie sich der Mensch in das Verhältnis dazu setzt und sich darin selbst versteht. N. Slenczka sieht in Bezug auf das Kreuzesgeschehen plurale Interpretationsbegriffe als Ausdruck eines Selbstverständnisses, das sich jedoch immer neu aktualisieren muss. Mit seinen Worten formuliert: Es gibt die hermeneutische Aufgabe, „das Kreuz Christi so auszulegen, dass darin ein jeweils gegenwärtiges vorthematisches Selbstverständnis sich zu Sprache und damit zu ausdrücklichem Verständnis gebracht findet und zugleich in einer Weise durch das Kreuz bestimmt findet, die den Namen ,Erlösung‘ verdient. Die klassischen Deutungen – Todesverfallenheit und Auferstehung; Gesetz und Evangelium; Zorn und Gnade; Sünde und Sühne – sind Angebote eines Selbstverständnisses, das durch die Bezugnahme auf das Kreuz einerseits über sich selbst aufgeklärt wird, andererseits befreiend neubestimmt wird“.353 Wechsel der Perspektive im Sinne ,sachlicher‘ und objektiver‘ [sic!] Sichtweise, sondern eine schwer wiegende Umwertung und Neuherstellung, welche das Wunder der Inkarnation und der Heilsgeschichte zerstört“ (Hervorhebung im Original). 352 Vgl. dazu in prägnanter Kürze: C. A. D. AU – T. SCHLAG, Frei glauben, 2017, 25-50. 353 N. SLENCZKA, „‚Nondum considerasti quanti ponderis sit peccatum – Du hast noch nicht ermessen, welches Gewicht die Sünde hat‘. Die Bedeutung des Kreuzes für das Selbstverständnis des Menschen“, KuD 62 (2016) 160-182, 164; [in Folge: N. SLENCZKA, „Die Bedeutung des Kreuzes“]. Zur staurologischen Interpretation des Lebens und Staurozentrik in der Theologie Luthers siehe auch DERS., „Gestalt der Selbstdeutung“, 99-116, besonders 100-103. Für M. Luther ist das Kreuz Christi Ausgangspunkt der Theologie und nicht das Schöpfungswerk, da im Kreuz die Werkgerechtigkeit überwunden ist und durch das Kreuz der Mensch neue Schöpfung wird, indem es im Leben zu einem Nachvollzug durch die contritio als Tod in das Leben und Sterben Christi kommt: „Dieser Tod in der contritio ist darum heilsam, weil dieses Ich, das sich auf platte und subtile Weise zu behaupten sucht im Verhältnis von Gott und Mensch die eigentliche Crux darstellt; es ist das Ich, das im eigenen Werk den Grund seines Heils sucht und damit gerade nicht will und so Gott sein will […]. Der theologus crucis versteht die Vernichtungserfahrung der contritio als Nachvollzug des Kreuzes Christi, in dem das Ich aufhört, eine Crux zu sein, indem es sein Ende akzeptiert und beginnt, Gottes Wirken zu erwarten […]“ (103). Zusammenfassend kann es heißen: „Das Kreuz Christi ist das Modell des Lebens des Menschen“ (112). Die Staurozentrik darf dabei aber nicht gegenständlich verstanden werden, sondern als Indikator dafür, wie N. Slenczka in seinem Beitrag herausarbeitet, dass es durch die Kreuzeserfahrung zu einem Neuverständnis des Sünders im Bewusstsein kommt. Vgl. auch C. A. D. AU –

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Dabei unterstreicht der Autor, dass das plurale Selbstverständnis des Christen die Bedeutung des Kreuzes nicht mindert. Die Frage hinter allen staurologischen und soteriologischen Konzeptionen bleibt aber die, wie das Kreuzesereignis oder die Christustat den Christen betreffen. Es ist das neue Selbstverständnis des Christen, der sich die Identität Christi und seines Kreuzes aneignet und damit Genugtuung und Erlösung erfährt. Das sola gratia und die damit gegebene Rechtfertigung müssen sich demnach im Selbstverständnis des Christen aktualisieren. „Alle theologischen Begriffe wie ,Rechtfertigung‘, die ,particulae exclusivae‘ etc. weisen hin auf diesen Vorgang: die Übernahme einer zugesprochenen fremden Identität in ein Selbsturteil. […] Das bedeutet: Der Bezugnahme auf die Subjektivität Jesu als des Ortes des Austrags des Gegensatzes von Gott und Sünde entspricht eine Deutung des (,subjektiven‘) Rechtfertigungs- bzw. Versöhnungsvorgangs, dem jede ,Gegenständlichkeit‘ im Sinne einer Vermittlung von Gnadengaben oder einer wunderbaren Veränderung der Seelensubstanz abgeht“.354

Rechtfertigung meint für N. Slenczka im lutherischen Sinn die Veränderung des Selbstverständnisses durch den performativen Zuspruch des Lebens Jesu. Der Christ versteht sich in seinem Selbstverständnis neu, ohne dass es dazu eines konkret historisch greifbaren Ereignisses oder einer hypostasierten Gnadenvermittlung bedürfe, denn es ist das Wort des Evangeliums, das die Wirklichkeit des Glaubenden verändert. Die Wirklichkeit der Veränderung ist aber nichts anderes als die Subjektivität, die jedoch nicht realpräsentisch verwandelt wird, sondern einer existentialen Neubestimmung unterzogen wird. Es ist das innere Vernehmen des Zuspruches durch das Wort der Verkündigung, das einzig in der Subjektivität Wirklichkeit wird und ist. Der Zuspruch der Rechtfertigung kann keine äußere Macht und Größe sein, sondern bildet sich im Gewissen des

T. SCHLAG, Frei glauben, 32-36. N. Slenczka sieht gerade in der mittelalterlichen Bußlehre die wichtigste Kulturleistung des Christentums, aus der die Reformation den wichtigen Stellenwert der Selbsterkenntnis des Menschen vor Gott zieht. Die Reformation löst die contritio als Selbsterkenntnis von der Institution und vom Sakrament und lässt sie zum ständigen Lebensvollzug werden, was dann die moderne Subjektivität begründet. Vgl. N. SLENCZKA, „Emotionales Selbstbewusstsein – theologische Implikationen eines phänomenologischen Ansatzes“, in: C. DANANI – U. PERONE – S RICHTER (Hgg.), Die Irritation der Religion. Zum Spannungsverhältnis von Philosophie und Theologie (= RCR 22), Göttingen 2017, 34-43, 36-41. Siehe diesen Gedankengang auch in DERS., „Reformation und Selbsterkenntnis“, 26-35. 354 DERS., „Die Bedeutung des Kreuzes“, 180. Auch DERS., „Entzweiung und Versöhnung“, 314-316. Vgl. U. BEUTTLER, Reformatorische Freiheit, 46: „Freiheit des Menschen von der inneren Freiheit der Seele, man kann auch sagen, des Gewissens her, ist kein Zustand, sondern ein Ereignis“.

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Menschen, womit eine äußerste Verinnerlichung des Gnadenzuspruchs gegeben ist.355 N. Slenczka arbeitet in einem Beitrag über das Gewissen das Selbstverständnis des Menschen aus reformatorischer Sicht heraus.356 Dabei gehört das Gewissen zu den vorprädikativen Momenten des menschlichen Wissens, die den Menschen selbst bezeichnen und charakterisieren, ohne dass genau ausgesagt und gewusst wird, was das Gewissen ist. Es ist die Instanz, in dem sich das Bewusstsein des Ich unvermittelt spiegelt und zugleich ausspricht, weshalb „man es im Gewissen offensichtlich mit dem Vorgang der Objektivierung oder Entfremdung des wertenden Selbstverständnisses zu tun hat: Ich bin es selbst, der nun aber mir gegenübertritt und mit fremder Stimme zu sprechen beginnt. […] [U]nd dies genau ist derjenige Phänomengehalt, den

355 Vgl. N. SLENCZKA, „Selbständigkeit und Kommunikation. Das Evangelium als Neubestimmung der Wirklichkeit“, in: C. DANZ – J.-H. TÜCK (Hgg.), Martin Luther im Widerstreit der Konfessionen. Historische und theologische Perspektiven, Freiburg – Basel – Wien 2017, 245-263, 245-250; [in Folge: N. SLENCZKA, „Selbständigkeit und Kommunikation“]. A. Sierszyn sieht dagegen in der Verinnerlichung und Vergeistigung der Glaubensaussagen und des christlichen Selbstverständnisses ein „fundamentales Konfliktpotential“, da hiermit die biblische Seinsordnung und Erkenntnisordnung nichts miteinander zu tun hätten. „Für christlich-abendländisches Denken im Sinne inkarnatorischer Theologie und Christologie bedeutet aggressive oder gar exklusive Aufspaltung der Wirklichkeit zu Lasten ganzheitlicher Betrachtung grundsätzlich eine Minderung schöpfungsadäquaten Verstehens“. Vgl. A. SIERSZYN, Christologische Hermeneutik, 39-40. Auch O. Bayer wendet sich gegen eine reine Innerlichkeit und Gottunmittelbarkeit, die er bei M. Luther nicht gegeben sieht, sondern der Reformator bezog sich gerade in seiner Freiheit auf Schrift, Tradition und Bekenntnisse. Vgl. O. BAYER, „Zweierlei Freiheit“, 18. 356 N. SLENCZKA, „Gewissen und Gott. Überlegungen zur Phänomenologie der Gewissenserfahrung und ihre Darstellung in der Rede vom Jüngsten Gericht“, in: S. SCHAEDE – T. MOOS (Hgg.), Das Gewissen (= RuA 24), Tübingen 2015, 236-283, 235283; [in Folge: N. SLENCZKA, „Gewissen und Gott“]. Siehe dazu den die Thematik erhellenden Beitrag DERS., „‚Sich schämen‘. Zum Sinn und theologischen Ertrag einer Phänomenologie negativer emotionaler Selbstverhältnisse“, in: C. RICHTER – B. DRESSLER – J. LAUSTER (Hgg.), Dogmatik im Diskurs. Mit Dietrich Korsch im Gespräch, Leipzig 2014, 241-261, 248-261; [in Folge: N. SLENCZKA, „Sich schämen“] und die thematische Vorarbeit DERS., „Quid sum miser tunc dicturus? Gewissen und Personenidentität“, Trigon 10 (2012) 169-182, 169-182. Das Thema des Selbstverständnisses, wie es im Beitrag über das Gewissen ausgearbeitet ist, findet sich auch in seinem eucharistischen Artikel DERS., „Neubestimmte Wirklichkeit. Zum systematischen Zentrum der Lehre Luthers von der Gegenwart Christi unter Brot und Wein“, in: D. KORSCH (Hg.), Die Gegenwart Jesu Christi im Abendmahl, Leipzig 2005, 79-98, 92-98 und DERS., „In ipsa fide Christus adest – ‚im Glauben selbst ist Christus da‘ (Luther) als Grundlage einer evangelischen Lehre vom Abendmahl und von der Realpräsenz Christi“, in: H. LÖHR (Hg.), Abendmahl (= TdT 3), Tübingen 2012, 137-193, 169-175. Vgl. auch E. GRÄB-SCHMIDT, „Freiheit und Selbsterkenntnis. Zur Bedeutung der Buße in der Anthropologie Luthers“, ThLZ 143 (2018) 571-588. Dabei beschreibt die Autorin einen ähnlichen Vorgang wie N. Slenczka, dass es mit dem reformatorischen Verständnis der Buße zu einem neuen innerlichen Bewusstsein der Freiheit kommt.

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die Tradition in der Rede vom Gewissen als ,Stimme Gottes‘ oder als Ruf des Selbst zu sich selbst [...]“ benennt.357

Gewissen ist die Instanz des Ich, von dem ich mich nicht trennen kann und dem das Ich unterworfen ist, weil es der innerste Moment des menschlichen Bewusstseins und seine Freiheit ist. Darum gilt, wie U. Beuttler prägnant formuliert: „Im Gewissen ist der Protestant, was er ist: frei“.358 Das Ich identifiziert sich mit dem Gewissen, weil sich darin das Ich selbst ausspricht. Im Anschluss an M. Luther versteht der Berliner Systematiker das Gotteswort und das Gottesurteil im Gewissen nicht als ein Ankommen einer extrinsezistischen Macht, sondern das „Urteil Gottes findet im Urteil des Menschen über sich selbst statt, ein unverfügbares, unentrinnbares Urteil, das unbeschadet dessen ein Selbsturteil ist“.359 Gericht und Hölle sind Vollzugsmomente des 357

N. SLENCZKA, „Gewissen und Gott“, 245-246. Vgl. auch DERS., „Gericht“, in: C. BREYTENBACH (Hg.), Der Römerbrief als Vermächtnis an die Kirche. Rezeptionsgeschichten aus zwei Jahrtausenden, Neukirchen-Vluyn 2012, 161-176, 165 und 167: „Unser Gewissen sind wir, und wir sind zugleich sein Gegenstand. Im Gewissen sind wir auf uns selbst bezogen. Das Gewissen ist – insbesondere im Griechischen und im Lateinischen: sunei,dhsij resp. conscientia: Mitwissen – ein Wissen um sich selbst“; „Das Gewissen ist uns also gleichsam vorgegeben, funktioniert ohne unseren Willen und meistens gar gegen unseren Willen. Dennoch ist, wie gesagt, das Gewissen nicht einfach eine fremde Stimme in uns, etwa die Stimme Gottes, auch dann nicht, wenn ein Mensch unter seinem Gewissen leidet. Das Gewissen ist immer unser Urteil, eine Instanz, von der wir uns nicht letztlich unterscheiden können“ (Hervorhebung im Original); [in Folge: N. SLENCZKA, „Gericht“]. 358 U. BEUTTLER, Reformatorische Freiheit, 36. Siehe auch N. SLENCZKA, „Freiheit von sich selbst“, 93. 359 DERS., „Gewissen und Gott“, 252. Der Autor arbeitet dabei immer wieder heraus, dass für M. Luther die reale Möglichkeit der Hölle oder des reinigenden Feuers ein seelischer Zustand sind, von dem die Loslösung Erlösung meint. Es kommt dabei zu einer Doppelung von Hölle und Fegefeuer im eigenen Gewissen und im „gegenständliche[n] Fegefeuer und Höllenfeuer“. N. Slenczka spricht hierbei von einer „Gewichtsverschiebung“, da sich das zu erwartende Gericht bereits in der gegenwärtigen Verzweiflung zeigt, da gerade diese Verzweiflung die Sünde ist, deren Folge das Gericht bewerten soll. Vgl. ebd. 253-254: Die traditionelle Gegenständlichkeit des Gerichts wird bei M. Luther nicht bestritten, „aber eben unter dem Vorzeichen, dass der eigentliche Gehalt der traditionellen Aussagen die innere Erfahrung sei und eben diese innere Erfahrung das zu bewältigende Problem des Menschen darstelle. Denn das so verstandene Fegefeuer und die so verstandene Hölle ist […] Gegenwart, nicht Zukunft“ (254). Eine Interpretation, die Gericht-Hölle-Fegefeuer gegenständlich und eschatologisch interpretiert, beurteilt N. Slenczka dagegen wie folgt: „Die harmlose Lesart kastriert die Aussagen und vermittelt sie mit dem Set gegenständlicher weltanschaulicher Überzeugungen des christlichen Glaubens – dann erscheint eben im Gewissen das künftige, aber noch ausstehende Urteil Gottes, es schattet sich das künftige Geschehen in der Gegenwart ab, und der innere Gerichtshof ist der Vorschein der Situation des Endgerichts. Das würde sich möglicherweise in der Deutung niederschlagen, dass man es im Phänomen des Gewissens mit dem Verhältnis von Gottes Gericht und dem verurteilten Sünder zu tun hat“ (ebd. 259-260). Dabei bleibt aber bei M. Luther und auch bei der Interpretation durch N. Slenczka offen, was dann der ontologische und gnoseologische

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Gewissens, in dem die menschliche Persönlichkeit zu sich selbst kommt und mit sich selbst eins wird. Mit M. Luther und dessen Erfahrungen der Verzweiflung kommt es zur „Existentialisierung“ des Gerichts im Gewissen als das Zur-Einheit-Kommen-des-Menschen-mit-sich-selbst, das nichts anders ist als die „Beschreibung der Erfahrung des Gewissens“.360 N. Slenczka unterstreicht, dass es mit M. Luthers Verständnis von Hölle und Fegefeuer zu einer „existentialen Deutung“ eschatologischer Aussagen kommt, worin das Zukünftige in der Gegenwart des Gewissens realisiert wird und sich damit existential vollzieht, was prädikativ mit Gericht-Hölle-Fegefeuer ausgedrückt wird.361 Der Mensch versteht sich im Gewissen selbst und sein religiöser Bezug zu Gott ist nicht durch gegenständliche und zeitlich ausstehende Kategorien zu erklären.362 Gott und die Rechtfertigungsgnade sind dann der Ausbruch des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit im Leiden mit sich selbst hinein in die Erlösung des Ausgeglichenseins mit sich selbst. Darin besteht dann Kontinuität, insofern sich der Mensch im Bewusstsein selbst als er selbst erkennen und betrachten kann. Das Neuverständnis des Menschen in seinem Bewusstsein kann jedoch die Vergangenheit nicht einfach auslöschen, sondern bleibt Teil der eigenen Identität. Gericht meint daher die Vergewisserung des negativen Verhältnisses in der Vergangenheit, der der Mensch nicht entfliehen kann.363 Dieses Verhältnis des Menschen zu sich selbst ist aber nicht der geschichtliche Kerker des Menschen, in dem er und sein Bewusstsein gefangen sind und bleiben. Gerade durch die Rechtfertigungsgnade im Zuspruch des Evangeliums erfährt der Mensch die Befreiung im Bewusstsein als Erlösung. Erlösung meint hierbei das Sich-neu-Verstehen des Menschen im christlich-frommen Bewusstsein, das ihn durch das Wort Gottes und das Wirken des Geistes Unterschied zwischen einem „gegenständliche[n] Gericht am Ende der Zeiten“ und der „Gegenwartssituation“ eines „bestimmte[n] Selbstverhältnis[ses] des Menschen“ besteht (ebd. 259). Vgl. auch DERS., „Entzweiung und Versöhnung“, 308-309 und DERS., „‚Allein durch den Glauben‘. Antwort auf die Frage eines mittelalterlichen Mönchs oder Angebot zum Umgang mit einem Problem jedes Menschen?“, in: C. BULTMANN – V. LEPPIN – A. LINDNER (Hgg.), Luther und das monastische Erbe (= SMHR 39), Tübingen 2007, 201-315, 308-309; [in Folge: N. SLENCZKA, „Allein durch den Glauben“]. 360 DERS., „Gewissen und Gott“, 254. 361 Vgl. DERS., „Selbständigkeit und Kommunikation“, 254-257. 362 So interpretiert N. Slenczka Gericht oder Hölle, die Frage nach dem gerechten Gott als Bilder, so „dass diese Bilder und Chiffren Verräumlichungen und Vergegenständlichungen der Situation sind, die der Mensch an sich selbst erfährt und die – jedenfalls nach Luther – die immer schon verdeckte, aber zuweilen auch explizit aufbrechende Grundproblematik menschlicher Existenz ist […]“. DERS., „Gewissen und Gott“, 260. 363 Vgl. ebd. 276-277.

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eine neue Qualität des Lebens schenkt und eröffnet, denn „[d]em, was wir mit ,Gott‘ meinen, begegnen wir nicht, wenn wir außerhalb von uns suchen, sondern uns von den Worten der Tradition auf uns selbst weisen lassen […]“.364 Der Mensch ist damit in seinem Leben durch die Gottesbegegnung in Jesus Christus getroffen. „Christologie als Reflex der Soteriologie“ meint daher nichts anderes als den Ausdruck der rechtfertigenden Erfahrung. Ausgangsunkt des Glaubens für das neue Selbstverständnis des Menschen ist nicht die ontologische Fundierung der Theologie, sondern deren wirklichkeitsmächtige Kraft für das menschliche Leben. Auf die Christologie übertragen gilt daher: „Damit würde der Wahrheitsanspruch der Jesusüberlieferung nicht darin bestehen, dass die Hoheitsaussagen die in der Person Jesu präsente Wirklichkeit oder das Selbstverständnis Jesu als historisch zugängliche Gegebenheit korrekt oder wenigstens angemessen wiedergeben, sondern die Wahrheit der Aussagen entscheidet sich daran, ob die soteriologische Erfahrung, deren Niederschlag die Hoheitsaussagen sind, authentisch und ob sie existentiell nachvollziehbar ist“.365

Weil der Mensch Jesus Christus in den biblischen Erzählungen begegnen kann und davon angesprochen wird, begegnet er darin seinem eigenen Bewusstsein der Erlösung. Der Wahrheitsgehalt dieser Aussagen und der Erlösung liegt nicht im historischen und ontologischen Faktum Jesus von Nazareth, sondern in der Erfahrung und im Verstehen seiner Selbst durch die Gnade. Jesus ist der Christus, weil er den Menschen durch sein Leben und sein Evangelium auf den Gottessohn im eigenen Ich verweist und der glaubende Mensch 364

Siehe ebd. 278-280, hier 280; DERS., „Allein durch den Glauben“, 309-312 und DERS., „Gericht“, 176: „Die christliche Verkündigung ist das Angebot einer neuen Identität – und Glauben heißt: Sich in dem Leiden unter sich selbst neu verstehen. Nicht mehr nur Sünder zu sein und unter sich zu leiden, sondern zugleich sich als gerecht zu wissen“. Zum Verständnis von simul iustus et peccator siehe U. H. J. KÖRTNER, Luthers Provokation, 86-93. Vgl. zur Erlösung als Neuverstehen den Abschnitt dieser Studie A-I-5.4.1. 365 N. S LENCZKA, „Christologie als Reflex“, 221-222 und DERS., „Die Bedeutung des historischen Jesus aus systematisch-theologischer Sicht“, in: P. METZGER (Hg.), Die Konfession Jesu (= BenshH 112), Göttingen 2012, 68-82, 81; [in Folge: N. SLENCZKA, „Die Bedeutung des historischen Jesus“]. Vgl. hierzu auch die Ausführungen in dieser Studie A 4.2. So auch C. DANZ, Grundprobleme der Christologie, 240, insofern Christologie, die „als „Vollzüge der Selbstdarstellung des Sich-Verstehens des Menschen in seinem Selbstverhältnis“ beschreiben muss. In diesem Sinne spricht auch H.-M. Barth davon, dass die Soteriologie die Ontologie bestimmen muss und plädiert ausgehend davon für eine met-a-theistische Theologie, die trinitarisch begründet sein soll. Damit vermöge christliche Theologie ein metaphysisches Denken zu überwinden, das die Gottheit Gottes nicht wahren würde. Dabei wäre aber die Trinitätslehre die Art und Weise, wie ein Gläubiger das Wirken Gottes verstehen könnte. Vgl. dazu H.-M. BARTH, Authentisch glauben. Impulse zu einem neuen Selbstverständnis des Christentums, Gütersloh 2010, 122-123; [in Folge: H.-M. BARTH, Authentisch glauben].

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„Christus in sich“ nicht nur trägt, sondern auch ist. Christologie erschließt sich aus der Anthropologie und Geschichte versteht sich aus der Individualgeschichte. Heilsgeschichte ist nicht mehr die christologisch zentrierte Sicht der Weltgeschichte, sondern die reflexive Wahrnehmung des eigenen Lebens, das angesprochen ist von der Botschaft Jesu Christi und damit den eigenen Lebensvollzug verändert. Glaube hat daher das Korrelat Gott als Bestimmung des Verstehens seiner selbst, weil darin erst Gott verstanden werden kann.366 366

Vgl. N. SLENCZKA, „Fides creatrix divinitatis“, 180: „die theologische Aussage, dass Gott die bonitas ipse, das summum et perfectum bonum ist, oder das Bekenntnis, dass Christus der Sohn Gottes ist, wird übersetzt in eine Lebenshaltung, die diesen Aussagen entspricht, nämlich in das Bewusstsein der Angewiesenheit in der Erwartung, alles zu erhalten; bzw. auf Christus als den Grund des eignen Lebens zu vertrauen“ (Hervorhebungen im Original). Siehe auch DERS., „Christologie als Reflex“, 227: „Die Verkündigung der Auferstehung Jesu ist Objektivation der Erfahrung seiner Gegenwart in der Deutung des eigenen Lebens“. Vgl. dazu auch DERS., „Gestalt der Selbstdeutung“, 106-109. J. Ratzinger sieht in der mit M. Luther beginnenden Betonung des individuellen Selbstverständnisses als Heilsmoment den Grundzug der Diskontinuität in der Geschichte gesetzt, denn es „wird nun das pro me, die letztlich diskontinuierliche Betroffenheit des Einzelnen bestimmend und die Verantwortung der christlichen Ordnung bewusst an die Welt, zu den Fürsten zurückgetragen um [sic!] gerade so die Ungeschichtlichkeit der Kirche, die nicht selbst eine eigene Geschichte bilden und in ihrer Kontinuität Heil vermitteln kann, herauszustellen“. J. RATZINGER, „Heil und Geschichte“, in: DERS., Glaube in Schrift und Tradition. Zur Theologischen Prinzipienlehre, Bd. 1 (= JRGS 9,1), G. L. MÜLLER (Hg.), Freiburg – Basel – Wien 2016, 522-546, 528; [in Folge: J. RATZINGER, „Heil und Geschichte“]. Darin sieht N. Slenczka auch die Ablehnung der Ontologie gegeben, die zur Entsubstantialisierung führt, da bei den Reformatoren die Ontologie als die Grundlegung der Kontinuität gesehen wird. Zur Begriffsklärung der Entsubstantialisierung: In seinem Aufsatz „Flucht aus den theologischen Loci“ geht der N. Slenczka darauf ein, dass moderne systematische Theologie verneine, sich auf das zu beziehen, „was dem Glauben vorausgeht, ihn begründet, von ihm unabhängiger Ursprung ist“, sondern beim „religiösen Ausdruck gläubigen Selbstverständnisses“ ansetzt, worin „eine Entsubstanzialisierung der Aussagen des frommen Subjekts [liegt], die sich in einer deutungstheoretischen Hermeneutik niederschlägt“ (N. SLENCZKA, „Flucht aus den theologischen Loci“, 45 und 46). Damit ist dem metaphysischen Prinzip der Wirklichkeit Gottes und seiner Offenbarung eine Absage erteilt, weil bei der Entsubstantialisierung der Theologie eine theologische Aussage nicht mehr das meint, auf das es sich bezieht, sondern Ausdruck des Ergriffen-Seins einer Wirklichkeit ist (Vgl. P. BUKOWSKI, „Wer ist Jesus Christus für uns heute?“, in: DERS., Theologie in Kontakt. Reden von Gott in der Welt, Göttingen 2017, 11-26, 17 und F. WAGNER, „Systemtheorie und Subjektivität. Ein Beitrag zur interdisziplinären theologischen Forschung“, in: J. DIERKEN – C. POLKE (Hgg.), Christentum in der Moderne. Ausgewählte Aufsätze (= DiM 9), Tübingen 2014, 161-192, 162). Entsubstantialisierung meint, „daß der Bedeutungsgehalt […] theologischer Begriffe strikt auf die Funktion hin verstanden wird, den sie im Vollzug der religiösen Selbstdeutung humaner Subjekte für dieselben zu erfüllen vermögen“ (W. GRÄB, Lebensgeschichten – Lebensentwürfe – Sinndeutungen. Eine praktische Theologie gelebter Religion, zweite, durchges. Aufl., Gütersloh 2000, 214. Siehe kritisch zu W. Gräb: M. MEYER-BLANCK, „Religion ohne Kirche – religionslose Kirche? Zu Wilhelm Gräbs Praktischer Theologie“, ThR 66 (2001) 131-135, DERS., „Religion mit

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Substanz! Zu Wilhelm Gräbs Bestimmung der Religion in der Mediengesellschaft“, Evang. Theol. 63 (2001) 468-479. Die exemplarische Durchführung einer entsubstantialisierten Theologie zeigt W. Gräb in seiner praktisch-theologischen Arbeit W. GRÄB, Sinn fürs Unendliche. Religion in der Mediengesellschaft, Gütersloh 2002. Vgl. auch C. WALTHER, „Voraussetzungen in der theologischen Frage nach der Wirklichkeit“, NZSTh 8 (1966) 311-326, 315. Entsubstantialisierung kann somit auch als stete Neukontextualisierung religiöser Begriffen und deren Funktionen verstanden werden. Auf den Gottesgedanken angewendet kann mit F. Wagner gesagt werden: „Und da die menschliche Denkart einzig und allein über eine auf raum-zeitliche Entitäten begrenzte Erkenntnis verfügt, kann Gott bloß als Gedanke gedacht, aber niemals in seiner Realität erkannt werden“ (F. WAGNER, „Christentum und Moderne“, in: J. DIERKEN – C. POLKE (Hgg.), Christentum in der Moderne. Ausgewählte Aufsätze (= DiM 9), Tübingen 2014, 72-91, 81; [in Folge: F. WAGNER, „Christentum und Moderne“]. Vgl. zu F. Wagner den erhellenden Beitrag U. BARTH, „Die Umformungskrise des modernen Protestantismus. Beobachtungen zur Christentumstheorie Falk Wagners“, in: DERS., Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 167-199. Vgl. dazu auch N. SLENCZKA, „‚Sich schämen“, 258. Vertrat der Autor in seiner Dissertationsschrift (N. SLENCZKA, Realpräsenz und Ontologie: Untersuchung der ontologischen Grundlagen der Transsignifikationslehre (= FSÖTh 66), Göttingen 1993) noch die Gültigkeit einer Substanzontologie, die er gegen den transzendentalen Idealismus zu verteidigen versuchte, so ist im Beitrag „Sich schämen“ der Bruch mit dem substanzontologischen Denken schriftlich fixiert, wozu N. Slenczka in seinem theologischen Nachdenken gelangt ist). Kennzeichen der Entsubstantialisierung einer Religion und Theologie ist es, dass sie nicht mehr nach den großen und geschichtlichen Zusammenhängen des Glaubens und deren absoluter Geltung für die Geschichte fragt, sondern „als in sich stimmiger Prozeß der Realisierung selbstbestimmender Subjektivität erfaßt werden kann“ (F. WAGNER, „Einleitende Bemerkungen zur Theologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“, in: C. DANZ – M. MURRMANN-KAHL (Hgg.), Zur Revolutionierung des Gottesgedankens. Texte zu einer modernen philosophischen Theologie, Tübingen 2014, 121-133, 126). Das theologische Denken kann zwar re-konstruiert werden, es kann aber selbst keine konstitutive Konstruktion der Gegenwart bilden. Da die Re-konstruktion durch das Subjekt des theologischen Denkens getätigt wird, kommt es zur Selbstdarstellung des Subjekts in der Re-konstruktion. Das Subjekt kann daher nur das reflexiv erfassen, was es als konstitutiv für das eigene Selbst erkennen kann. Für eine entsubstantialisierte Theologie ist der Gedanke einer einheitlichen Wahrnehmung der Wirklichkeit überkommen und nicht mehr realitätstauglich, weil die Pluralisierung der Theologie in unterschiedlichste Theologien eine Pluralisierung der Wirklichkeit bedeutet. Doch F. Wagner warnt hierbei, dass damit auch der Gottesgedanke zu einer Illusion verkommen kann (F. WAGNER, „Christentum und Moderne“, 82-83). Gegen eine Entsubstantialisierung stehen mit ihrem Ansatz pars pro toto: P. STEKELER-WEITHOFER, „Was ist...wirklich? Zur Notwendigkeit von Metaphysik in der Gegenwart“, in: C. ERHARD – D. MEISSNER – J. NOLLER (Hgg.), Wozu Metaphysik? Historischsystematische Perspektiven, Freiburg – München 2017, 39-68, 42: „Die ontische Grundfrage kritischer Metaphysik ist nun zunächst, was es überhaupt gibt. Die ontologische Grundfrage fragt nach dem Sinn von Sein, also nach der Bedeutung der Rede von (wirklicher) Existenz, nicht etwa danach, wozu etwas in der Welt ist oder was der Sinn unseres Lebens sein mag“ (Hervorhebungen im Original); J. RATZINGER, Theologische Prinzipienlehre. Bausteine zur Fundamentaltheologie, München 22005, 167-168; Vgl. C. SCHWÖBEL, „Die Unverzichtbarkeit der Frage nach dem Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens in der Dogmatik“, in: H. DEUSER – D. KORSCH (Hgg.), Systematische Theologie heute. Zur Selbstverständigung einer Disziplin (= VWGTh 23), Gütersloh 2004, 102-118; K.-H. MENKE, Macht die Wahrheit

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6.3.

Glaube und Wirklichkeit

Versteht sich der Mensch neu, dann ist der Glaube die Wirklichkeit, in der sich dieses Neuverstehen konkretisiert. Im Glauben begreift sich der Mensch von der Rechtfertigung erneuert und ist sich kontrafaktisch seiner neuen Identität bewusst.367 Dabei muss aber unterstrichen werden, dass der „fröhliche Tausch“, der zum neuen Selbstverständnis wird, nicht gegenständlich zu denken ist, sondern einzig und allein durch den Glauben bewirkt wird. Die Geschichte Jesu betrifft den Menschen aufgrund des Glaubens, nicht aufgrund seiner Faktizität.368 Weil es aber kein gegenständliches Neuverstehen aus dem Glauben heraus geben kann, muss das Sich-neu-Verstehen als ein Selbstverständnis erklärt werden, das sich selbst deutet und aus dem Glauben heraus neu versteht, ohne dabei auf eine metaphysische Größe zurückgreifen zu müssen. Der Glaube ist ein aneignender Glaube, in dem sich der Mensch von der Person Jesu Christi neu versteht und sich

frei oder die Freiheit wahr? Eine Streitschrift, Regensburg 2017 (siehe auch die Entgegnung auf K.-H. Menke mit der Darstellung der Gegenposition: M. STRIET, Ernstfall Freiheit. Arbeiten an der Schleifung der Bastionen, Freiburg – Basel – Wien 2018. T. Schärtl gelingt es, die Kontroverse zwischen K.-H. Menke und M. Striet in einen größeren und geistesgeschichtlichen Kontext zu verorten und aufzuzeigen, welche theologischen und philosophischen Probleme hinter der Debatte stehen, was schon in seinem Titel deutlich wird: T. SCHÄRTL, „Theologie – Metaphysik – Realismus. Ein Kommentar zu einer aktuellen Debatte“, ThPh 93 (2018) 321-365. Vgl. dazu auch G. BRÜNTRUP, „Was ist Wahrheit? Theologie braucht Philosophie – aber welche?“, HerKorr 72,6 (2018) 44-46); B. P. GÖCKE, „Keine Freiheitstheorie ohne Metaphysik. Zur Debatte um die ‚Theologie der Freiheit‘“, HerKorr 72 (2018) 30-33; aus philosophischer Perspektive heraus argumentiert für die Voraussetzung einer Metaphysik R. SPAEMANN, „Funktionale Religionsbegründung und Religion“, in: DERS., Philosophische Essays (= Reclams Universal-Bibliothek 7961), erweit. Ausgabe, Stuttgart 1994, 209-231, 222: „Religion löst nicht eine anderweitig zu erklärende Frage, warum letzten Endes alles ist, wie es ist, sie läßt diese Frage überhaupt erst entstehen. Die Welt im Ganzen als kontingentes Faktum sehen, das setzt die Antizipation eines Sinnes schon voraus, der dieses Faktum übergreift. Es ist schwer zu sehen, welche ,innerweltliche Funktion‘ diese Transzendenz der Welt als Ganzes haben sollte, außer jener, in der Welt selbst deren Sinn zu vergegenwärtigen“ (Hervorhebung im Original); „Eine Zivilisation ohne Metaphysik ist nicht imstande, ihre Religion sich intellektuell anzueignen“ (ebd. 226). 367 Vgl. zum Begriff der Rechtfertigung H.-M. BARTH, Authentisch glauben, 159-174. Dabei versucht der Autor Rechtfertigung und personale Identität aufeinander zu beziehen und sie aus einer christologischen Engführung zu befreien. 368 Vgl. N. S LENCZKA, „Gestalt der Selbstdeutung“, 114-115: „Der Glaube ergreift eben Christus nicht wie einen Gegenstand, sondern so, dass er die Person Jesu mit sich selbst identifiziert; er hört im Evangelium, dass das Leben dieser Person sein Leben ist und versteht sich selbst daraufhin nicht mehr als Sünder, sondern als Jesus von Nazareth“. Zum Glauben siehe auch DERS., „Fides creatrix divinitatis“, 171-195. Vgl. auch DERS., „Selbständigkeit und Kommunikation“, 261-263, hier 263: „Nach reformatorischem Verständnis ist aber der Mensch verändert, indem sein Selbstverständnis verändert ist“ (Hervorhebung im Original).

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von ihm her in seiner Wirklichkeit verändern lässt.369 In seinem Beitrag „Fides creatrix divinitatis“ geht N. Slenczka einem Gedanken der lutherischen Galatervorlesung nach, in dem der Reformator die Wirklichkeit Gottes an den Glauben des Menschen bindet.370 Indem es im Glauben zu einem Neuverstehen kommt, erfährt sich der Mensch in eine Passivität hineingenommen, in der er in sich Gottes Gottheit erfährt, gerade weil er durch die Rechtfertigungsgnade sich selbst nicht als Gott anerkennt, sondern das Werk an sich nur erfährt. Durch das Wirken der Rechtfertigung im Menschen kann der Mensch die Erfahrung seiner Werklosigkeit auf die Gegenwart Gottes in sich hin aussagen. „Die Wendung ,fides creatrix divinitatis in nobis‘ wäre von daher“ – so N. Slenczka – „so zu verstehen, daß in diesem vorprädikativen Vorzeichen nicht nur ein vorprädikativer Begriff von Gott präfiguriert ist (der auf eine möglicherweise anderwärts subsistierende Wirklichkeit Gottes verweise), sondern so, dass die divinitas und damit Gott selbst gegenwärtig ist. […] Durch den Glauben wird Gott dort, wo er zuvor nicht war“.371

Glaube konkretisiert damit das Neuverstehen, indem Glaube kein hypostasierter Akt ist, sondern einen aktiven Lebensvollzug beschreibt, der die Wirklichkeit Gottes eröffnet und verwirklichend bezeichnet. Es ist die Vermittlung der Wirklichkeit im Bewusstsein des Menschen und im Glauben durch die Person Jesu Christi extra se, jedoch nicht die Begründung aufgrund einer äußeren und gegenständlichen Wirklichkeit. Der Akzent liegt hierbei aber darauf, dass der Glaube ein innerlicher Akt ist, in dem er Gott schafft. „Gott schaffen“ beschreibt daher nicht den Akt des Schaffens, sondern das Schaffen aufgrund der absoluten Abhängigkeit, worin sich der Gläubige seiner Existenz bewusst wird. Daher gilt: „Der Glaube schafft also gleichsam hinterrücks und im Widerspruch gegen sich selbst; nur indem er sich als reine Passivität und reines Leersein weiß, ist er höchste Kreativität und setzt in dieser Passivität den Inbegriff aller Wirklichkeit mit“.372 Der Glaube ist angewiesen auf den Gottesbegriff im Menschen, weil nur in ihm die 369 Mit der finnischen Lutherforschung weist der Berliner Systematiker darauf hin, dass das mere passive der Rechtfertigung als rein äußerliches Geschehen eine innerliche Wirklichkeit durch das In-Sein-in-Christus im Glaubenden mit setzt. Vgl. DERS., „Die Anthropologie Martin Luthers. Selbstverständnis und Selbstmissverständnis in unfreier Freiheit“, in: E. GRÄB-SCHMIDT – R. PREUL (Hgg.), Anthropologie (= MJTh 29), Leipzig 2017, 85-116, 99-103, hier 101: „Die Gegenwart der Person Jesu im Glauben realisiert sich somit dadurch, dass ein Mensch sich eine fremde Person zueignet, indem er sich durch sie neu und anders versteht. […] [Die Gegenwart Christi im Glaubenden besteht darin], dass der Glaubende Christus mit sich selbst identifiziert und umgekehrt: die eigene Existenz (Sünde) durch Christus angeeignet und getragen weiß […]“ (Hervorhebungen im Original). 370 Vgl. zu Folgendem besonders DERS., „Fides creatrix divinitatis“, 184-195. 371 Ebd. 186 (Hervorhebungen im Original). 372 Ebd. 187.

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Erfahrung der eigenen Nichtigkeit durchbrochen wird durch das Bewusstsein der Abhängigkeit. Das Schaffen Gottes durch den Glauben im Menschen ist die theologisch-reflexive Formulierung des mere passive. Der Gläubige ist der von Gott Angesprochene, da der Glaube das Bewusstsein schafft, auf dieses Wort Gottes und damit auf Gott selbst angewiesen zu sein. Das substantielle Sein Gottes ist zwar nicht vom Glauben geschaffen, aber es gehört so zum Glauben, dass dieser diese Wirklichkeit als seinen Grund vorausweiß und erfährt und damit das Sein Gottes wesentlich auf den Glauben bezieht. Im Glauben geht es nicht darum, ob dem Begriff Gott eine ontologische Wirklichkeit entspricht, sondern ob das Korrelat des neuen Selbstverständnisses diesem Gottesbegriff kompatibel ist. In N. Slenczkas Worten: „Die These des Christentums ist strenggenommen nicht die, dass ein Gott existiert oder dass Christus der Sohn Gottes oder die Schrift Wort Gottes ist. Sondern die These ist die, dass in dieser Selbsterschlossenheit – im Bewusstsein der Bedürftigkeit – der Mensch so zu sich kommt, dass er sich im neuen Verständnis seiner selbst wiedererkennt als der, der er zu sein bestimmt war: Dass ein Mensch in der Verkündigung von Jesus von Nazareth ins der Bedürftigkeit bewusste Empfangen gestellt wird, dass wiederum dieses Empfangen die angesichts der Bedürftigkeit plausible Gestalt gelingenden Menschseins ist, und dass der Mensch sich nicht angemessen darstellen kann, wenn er nicht zum Begriff Gott bzw. zu den in ihm versammelten semantischen Gehalten greift – darum geht es im christlichen Glauben, und dies ist Gegenstand der Verantwortung dieses Glaubens in der Situation der Strittigkeit seiner Aussagen. Insofern erfolgt die Verifikation der christlichen Rede über Gott nicht dadurch, dass man nachweist, dass dem Begriff etwas entspricht, sondern dadurch, dass in einer unverfügbaren Erfahrung unter der Verkündigung der Mensch zu sich selbst kommt einerseits, und diese Selbsterschlossenheit nur aussprechen kann, indem er nach den Begriffen greift, die ihm die Tradition vorgibt und deren semantischen Gehalt ihm die intentionale Struktur seiner Erfahrung so erschließt, dass er in dieser Erfahrung das Vermeinte der Begriffe wiedererkennt“.373

6.4.

Geschichte als Kontextualisierung

Hat Glaube mit Gott und seiner Wahrheit zu tun, dann drängt sich die Frage auf, inwiefern sich die Wahrheit Gottes im Glauben und in der Theologie darstellt. Die Wahrheit ist nicht an sich zu erfassen, sondern unterliegt immer der historischen Kontingenz, in der sich jeder befindet, der sich auf die Suche nach ihr begibt. Gibt es keine Wahrheit an sich, so gibt es auch keine Theologie oder Geschichte an sich, sondern alle Wirklichkeit, auf die sich der Mensch in seinem Denken

373

Ebd. 194.

174

bezieht, ist kontextualisiert.374 Darum betrachtet der Historiker die Geschichte mit dem hermeneutischen Mittel der Differenzierung und verfolgt nicht das Anliegen der absoluten Eindeutigkeit. Geschichte zeigt sich dem Betrachter einzig aus dem Blickwinkel des eigenen Kontextes und des gewesenen Kontextes, weil Geschichte nicht abgeschlossen, vielmehr immer offen ist. Nicht eine metaphysische Größe garantiert den Sinnanspruch der Geschichte, sondern die doppelte Kontextualisierung als Zusammenschau des Vergangenen und des Gegenwärtigen schafft durch die Bezugnahme auf die offene Geschichte deren Sinndeutung. Somit geht es in der Geschichte nicht um Norm und festgesetzte Faktizitäten. Für die Bewertung von Geschichte ist dagegen die Funktion ausschlaggebend, durch die sie konstituiert wird.375 Es ist der geschichtliche Kontext, der die Wahrheit bestimmt und ihr den Ausdruck verschafft: Geschichte und Wahrheit gibt es, weil es den Kontext dazu gibt. Nicht erst die geschichtliche und historische Betrachtung ist als Kontextualisierung zu verstehen, sondern bereits das geschichtliche Ereignis ist Kontext, weil es immer relativ auf den Augenblick und die Rezeption ist. Ein geschichtliches Wirken Gottes kann daher nicht positiv auf ein konkretes Ziel gedeutet werden. Gerade M. Luthers Rede vom Deus absconditus376 möchte unterstreichen, dass Gottes Wirken in der Geschichte sich nicht auf einzelne zu analysierende Fakten zu beschränken ist, sondern dass die Gesamtgeschichte der Kontext des Wirkens Gottes und das Wirken Gottes den Kontext der Gesamtgeschichte bildet. Gottes Wirken muss 374

Vgl. DERS., „Kontext und Theologie. Ein kritischer Versuch zum Programm einer ‚kontextuellen Theologie‘“, NZSTh 35 (1993) 303-331, 304; [in Folge: N. SLENCZKA, „Kontext und Theologie“]. 375 Analog zur Geschichte entwickelt N. Slenczka diesen Gedanken am Beispiel der Befreiungstheologie Lateinamerikas. Theologie hat ihren Wert und ihre Bedeutung nicht aufgrund von metaphysischen Vorannahmen, sondern aufgrund ihrer soziopolitischen und -kulturellen Funktionen. Vgl. ebd. 314-317, hier 317: „Es ist somit die ,Situation der Abhängigkeit‘ (Croatto), der ,Kontext‘, das Engagement in einer bestimmten sozialen Wirklichkeit, die die Art der Rede von Gott diktieren und legitimieren, indem sie die Perspektive bereitstellen, unter der die biblischen Texte und christlichen Traditionen gelesen und unter der die theologischen Begriffe mit Bedeutung gefüllt werden. Die Rede über Gott bzw. die Aussagen der kirchlichen Tradition bezeichnen also keine eigenständige, in irgendeiner Weise transzendente und als solche den jeweiligen ,Kontexten‘ vorgegebene Wirklichkeit, sondern sie gewinnen Realität nur dann, wenn ihr Signifikat im Zusammenhang des politischen Engagements für die Befreiung identifiziert ist […]“. 376 Zum Deus absconditus siehe U. H. J. KÖRTNER, Luthers Provokation, 30-38. Der Autor weist darauf hin, dass bei M. Luther die Lehre vom verborgenen Gott streng christologisch begründet ist und dass es ein „paradoxes Ineinander von Enthüllung und Verhüllung“ darstellt. Dabei darf die Verborgenheit jedoch nicht negativ verstanden werden, sondern ist „assertorisch, d.h. das Amen des Glaubens auf die Zusage (promissio) des Evangeliums“, denn die Verborgenheit Gottes bedeutet nicht seine Abwesenheit.

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daher immer relativ gesehen und bewertet werden, weil das Normative kontextuell zu bestimmen ist. „Das Faktische ist, auch wenn es von Gott Gewirktes ist, nicht ohne weiters normativ“.377 Das Alte Testament und seine Geschichte kann daher zwar Offenbarung Gottes sein, aber es trägt damit noch keine normative Sinndimension in sich. Geschichtlich normativ ist für das Christentum erst dann eine Schrift, wenn sie unter dem „christologischen Vorbehalt“378 steht, der zugleich den kontextuellen Rahmen der Interpretation bildet. Geschichte kann daher als die Zueignung der Geschichte Jesu verstanden werden, indem sie der Kontext des eigenen Lebens wird, insofern der Mensch seine eigene Geschichte durch den Glauben der Geschichte Jesu kontextualisiert. Nicht die Faktizität der Geschichte lässt die Beziehung entstehen, sondern die gegenseitige und kontrafaktische Kontextualisierung, wobei die Geschichte Jesu zur eigenen Geschichte wird. Die gegenseitige Kontextualisierung bildet schließlich die Wirklichkeit, in der Geschichte verstanden und angenommen wird.

377 378

N. SLENCZKA, Tod Gottes, 178. Ebd. 178.

176

7.

Provocatio: Die These der Dekanonisierung des Alten Testaments

N. Slenczka hat mit seinen Ausführungen provoziert und eine These erarbeitet, an der nach christlichem Verständnis viele und wesentliche Fragen hängen, die jedoch immer wieder bedacht sein wollen. Es muss nochmals unterstrichen werden, dass der Berliner Systematiker N. Slenczka das Alte Testament nicht außerhalb der christlichen Bibel wissen will, da es auch weiterhin ein wichtiges Buch in christlicher Theologie und in christlichen Gottesdiensten bleiben soll. Was er dagegen verändern möchte, ist die theologische Bewertung dieser Schriften. Gelten sie im bisherigen und allgemeinen Verständnis als kanonische Schriften, so möchte N. Slenczka diese Schriften den apokryphen Schriften zuordnen, also den Schriften, die nicht normative Geltung und Funktion für die Theologie haben und die durch die normativen Schriften interpretiert werden müssen.379 Das Alte Testament muss als apokryphe Schrift – im protestantischen Sinne verstanden – dann unter dem Vorzeichen des Evangeliums gelesen und verstanden werden, ohne dass es aber durch einen christologischen Sinn vereinnahmt wird. Damit ist die Schwierigkeit aufgezeigt, die der Anspruch einer nicht-normativen Bedeutung alttestamentlicher Schriften mit sich bringt. In einer Theologie nach Auschwitz und im Verständnis des christlich-jüdischen Dialogs ist es für N. Slenczka nicht mehr annehmbar, die alttestamentlichen Schriften christologisch zu vereinnahmen und als einen christlichen Identitätstext zu lesen. Sein Engagement für den christlichen-jüdischen Dialog lässt ihn also zu seiner Folgerung der Dekanonisierung des Alten Testaments kommen. Wenn diese Schriften Ansprache und Identitätsschriften für das Volk Israel sind, in denen sich sein religiöses Selbstverständnis ausdrückt, dann können sie nicht durch hermeneutische Rezeption neu interpretiert und ausgelegt werden, womit sie einen neuen und ihrem ursprünglichen Sinn widersprechende Bedeutung bekämen. N. Slenczka sieht das Alte Testament als hebräische Schriften und damit natürlich als religionsgeschichtliche Voraussetzung des Christentums, von der sich aber das Evangelium als die Rechtfertigung im Glauben absetzt. Es geht nicht darum, das Neue Testament dem Alten mit Begriffen wie Evangelium und Gesetz, mit all ihren positiven und negativen Konnotationen, entgegenzusetzen. Was für die Christen das Evangelium in Jesus Christus ist, das erfahren die Juden auch in ihrem Gesetz: Die Zusage der Identität im Bund mit Gott. Nur ist der Bund Gottes in den hebräischen Schriften und im Neuen Testament 379

Vgl. N. SLENCZKA, „Wer braucht das Alte Testament“, Christ und Welt in der Zeit 18 (2015) 3; [in Folge: N. SLENCZKA, „Wer braucht das Alte Testament“].

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unterschiedlich begründet: Bindet sich Gott durch das Gesetz an sein Volk, so wird den Christen in Jesus Christus der Bund ausgelegt und zugesprochen. Das Kriterium, das für eine normativ zu wertende Schrift spricht, ist, dass Jesus Christus als Evangelium der Rechtfertigung verkündigt wird. Das ist ein unterschiedliches Verständnis zur jüdischen Theologie, das trotz des Bekenntnisses zum selben Gott nicht übergangen werden kann. Theologisch muss eingesehen werden, dass es im Neuen Testament zu einer neuen Interpretation Gottes kommt, da das Judentum die Zuwendung Gottes anders erfährt als das Christentum. Sehen die Juden im Exodusbericht Gott als den Retter aus allem Elend an ihrer Seite, so machen Christen diese Erfahrung in der Person Jesu von Nazareth, der sie in eine neue Identität hineinnimmt. Es ist aber der Respekt vor dem Judentum, der N. Slenczka zu dieser für das Christentum herausfordernden These nochmals ermutigt, denn niemand könne vom Judentum verlangen, dass es die Nähe Gottes und seinen Bund in Jesus Christus erfahre. Das Judentum findet die Mitte seiner Schriften in dem Bund Gottes, der für sie Verheißung für das gelobte Land ist, an den die Gebote es binden. Insgesamt geht es N. Slenczka darum, das Alte Testament nicht gegen den eigentlichen historischen Sinn zu lesen und zu interpretieren und es damit gegen das Verständnis des Judentums zu stellen. Es bedarf des theologischen Verständnisses, dass das Alte Testament historisch-kritisch gesehen einfach nicht von Jesus Christus und seinem Evangelium spricht. N. Slenczka unterstreicht, dass er in seiner Argumentation für eine apokryphe Stellung des Alten Testaments dem faktischen Gebrauch dieser Texte im Christentum folgt. Das, was er theologisch begründet, wird in Theologie und Kirche bereits durch eine selektive Auswahl alttestamentlicher Texte gelebt, da sich das Christentum instinktiv mit den Texten identifiziert, in denen das Evangelium Jesu Christi zum Ausdruck kommt. Im Rückgriff auf F. Schleiermacher sieht er im christlich-frommen Bewusstsein den Ort, wo sich die Erfahrung des Evangeliums Christi innerlich und ohne äußere Vermittlung ausdrückt. Die Schrift wird dabei nur noch als Ausdruck der religiösen Erfahrung im Bewusstsein gesehen. Das, was der Mensch in seinem Inneren als Erlösung durch Jesus Christus erfährt, schlägt sich in den heiligen Schriften nieder. Die christologische Unmittelbarkeit der Erlösung ist für F. Schleiermacher der articulus stantis et cadentis ecclesiae. So liegt es nahe, dass F. Schleiermacher den Schriftkanon christologisch begründet. N. Slenczka versteht sich und sein theologisches Denken stark von seinem Berliner Vorgänger beeinflusst. So verwundert es nicht, dass er in Folge F. Schleiermachers seinen Kanonbegriff

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christologisch begründet, wenn nicht sogar christologisch zentriert.380 In seiner christozentrischen Lesart kann er dann die Gleichung aufstellen, dass jene Schriften kanonisch anzusehen sind, die auch als normativ zu gelten haben, weil sie das Evangelium Jesu Christi verkünden und damit das Wesen des Christlichen ausmachen, indem sie die rechtfertigende Erlösung bezeugen.381 Die Reformation hat für N. Slenczka einen theologischen Neueinsatz gebracht, der „ein neues Verständnis der Wirklichkeit [impliziert], die wir alle kennen, nicht nur, sondern ein neues Verständnis dessen, was wir eigentlich meinen, wenn wir ,Wirklichkeit‘ sagen. Mit der Reformation etabliert sich ein neues Verständnis dessen, was der Begriff ,Wirklichkeit‘ meint“.382 380

U. Barth kann sogar sagen: „Wenn Slenczka für seine Forderung, das Alte Testament unter die Apokryphen zu verweisen, sich auf Schleiermacher beruft, so will er offenkundig „schleiermacherianischer“ sein als dieser selbst. Analoges ließe sich auch von seinem Rekurs auf Harnack sagen“. Siehe U. BARTH, „Symbolisches Kapital. Gegen eine christliche Relativierung des Alten Testaments“, Zeitzeichen 16 (2015) 12-15, 14; [in Folge: U. BARTH, „Symbolisches Kapital“]. U. Barth weist darauf hin, dass F. Schleiermacher in § 11 Lehrsatz aus Der christliche Glaube sehr wohl erkennt, dass das Christentum auf der Erlösung in Jesus von Nazareth begründet ist, aber damit eine unter anderen teleologischen Richtungen der Frömmigkeit des Monotheismus ist. 381 Auf das christologische Kanonverständnis N. Slenczkas macht auch der Wiener Alttestamentler L. Schwienhorst-Schönberger aufmerksam. Siehe L. SCHWIENHORSTSCHÖNBERGER, „Christentum ohne Altes Testament? Theologen diskutieren wieder über den biblischen Kanon“, HerKorr 70 (2016) 26-30, 28; [in Folge: L. SCHWIENHORSTSCHÖNBERGER, „Christentum ohne Altes Testament“], sowie F. HAUSCHILDT, „Ertrag einer Debatte. Neues von Notger Slenczka zum Verhältnis von Altem und Neuem Testament“, Zeitzeichen 19 (2018) 17-19, 18, der in der Christozentrik einen „Eckpunkt der Slenczka’schen Überlegungen“ sieht; [in Folge: F. HAUSCHILDT, „Ertrag einer Debatte“]. Zum christologischen Kanonverständnis siehe J. LAUSTER, Prinzip und Methode, 57-58. Eine christologische Konzentration kann auch damit angenommen werden, dass F. Schleiermacher sehr wohl unbefangen mit alttestamentlichen Texten umging, solange damit nicht das christliche Erlösungsgeschehen betroffen war. N. Slenczka folgt dabei aber der Barmer Theologischen Erklärung, der er sich verpflichtet fühlt, die Jesus Christus als Zentrum von Schrift und Theologie sieht. Zur Interpretation der Barmer Theologischen Erklärung siehe N. SLENCZKA, „Die Vereinbarkeit der Barmer Theologischen Erklärung mit Grundüberzeugungen der Lutherischen Kirche und Theologie“, KuD 57 (2011) 346-359. Dies unterstreicht er nochmals 2018 in einer Reaktion auf C. Markschies, der sich indirekt in einer Kleinschrift zum Christlichjüdischen Dialog im Reformationsjubiläum 2017 mit N. Slenczkas These auseinandersetzt. DERS., „Einwände und Antwortversuche“, 50 und 52: „Nie darf die Christusoffenbarung unter dem hermeneutischen Vorzeichen und Kriterium einer nichtchristologischen Rede von Gott gelesen werden, sondern nur umgekehrt. In diese Richtung gehen übrigens auch die Reformulierungen der Vermittlung der Anliegen einer natürlichen Theologie mit einer ,Offenbarungstheologie‘, die Eberhard Jüngel in den Texten seines Aufsatzbandes 'Entsprechungen' vorgelegt hat“; „Das Evangelium von Christus ist die hermeneutische Prämisse und der Grund der Legitimität jeder außerchristlichen ,Gotteserfahrung‘“. 382 N. SLENCZKA, „Selbständigkeit und Kommunikation“, 245. Diese „neue Wirklichkeit“

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N. Slenczka folgt der Überzeugung, dass es die Funktion des Evangeliums ist, die rechtfertigende Gnade des Evangeliums Jesu Christi im individuellen Bewusstsein darzustellen. Das Evangelium Jesu Christi erschließt sich daher nur im Neuen Testament, da es selbst nicht vorgängig und in vorneutestamentlichen Schriften enthalten sein kann. Es erscheint erst durch den historischen Aufweis sekundär als das rechtfertigende Evangelium: Was das Evangelium Christi ist, lässt sich also nicht wissen, ohne dass es durch ein bewusstseinsimmanentes Ergriffensein erfahren wird. Aus dieser Erfahrung heraus lässt sich dann die Funktion der evangeliengemäßen Rechtfertigung beschreiben und rückblickend als solche definieren. Das Normative ist daher die Überzeugungsgewissheit des Evangeliums Jesu Christi. Das junge Christentum konnte sich somit in dieser Überzeugungsgewissheit von der anfänglichen Bindung an die Schriften des Judentums lösen, da es zu einem Prozess des Bewusstwerdens des Eigentlichen der Worte Jesu kam. Die nachträgliche Re-konstruktion der Erfahrung aus dem Ursprung der Verkündigung Jesu ist die Ablösung vom vorausgehenden Wort Gottes in den Schriften Israels. Das Selbstverständnis des Menschen ist durch den Anspruch der Rechtfertigung in der Gegenwart verändert. Es ist die Bestimmung des Glaubens im Jetzt, der sich N. Slenczka stellt und die er aufweisen möchte. In seinem Bewusstsein begegnet der Gläubige dem sich offenbarenden Gott und tritt dort mit ihm in Gemeinschaft. Damit kommt es aber zu einer eschatologischen Diskontinuität, die sich von der Zukunft absetzt, insofern die Vergangenheit einzig im Bewusstwerden des eigenen Anspruchs aufgehoben ist.383 Die Verinnerlichung des Glaubens in der Subjektivität reduziert somit die Heilsgeschichte auf einen Heilsmoment. So wie es an den Beispielen von Fegefeuer und Hölle zu einer „Verexistenzialisierung“ des Endgerichts kommt und die Eschatologie in das Bewusstsein verlegt wird, so ist die Offenbarung der Vergangenheit und die Verheißung der Zukunft in der Gegenwart eingeschlossen. Heilsgeschichte wird von N. Slenczka daher als Individualgeschichte verstanden, in der sich der Gläubige selbst neu versteht. Was hier für den einzelnen Christen gilt, kann analog auch für das Christentum gedacht werden: Das kann auch mit H.-M. Barth als Projektion und damit als „Projektion des Glaubens“ verstanden werden. In diesem Verständnis liegt die Wirklichkeit des Glaubens nicht außerhalb, sondern im Vollzug des Glaubens, womit dieser aber gegen einen Projektionsvorwurf gestärkt wird. Damit möchte H.-M. Barth den Glauben vor einem sacrificium intellectus und einem salto mortale in die Metaphysik bewahren. Vgl. H.-M. BARTH, Authentisch glauben, 30-36. 383 Gegen eine Verinnerlichung des Glaubens und der Erlösung wendet sich u.a. E. Zenger, der im Alten Testament den „heilsame[n] Stachel“ dagegen erkennt. Gerade in diesen Schriften sei der geschichtlich-soziale Zusammenhang und Fundierung des Heils herausgestellt. Vgl. E. ZENGER, Das Erste Testament, 194-195.

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Christentum versteht sich selbst neu, indem es sich aus dem Evangelium Christi heraus versteht, das einzig in ihm verkündet werden kann. Die Wirklichkeit des christlichen Neuverständnisses ist im Verstehen des Eigenen gegeben. Ist die Wirklichkeit des Glaubens in der Subjektivität gegeben, so muss hier von einer Subjektivierung der Eschatologie und der Geschichte gesprochen werden. Es ist das neue Selbstverständnis im Bewusstsein der Subjektivität, das Abschied nimmt vom Gedanken der Heilsgeschichte, die die Kontinuität384 der Offenbarung durch die Geschichte hindurch erhalten kann, denn „der Begriff des Jüngsten Gerichts fasst den bereits gegenwärtigen Zustand eines Menschen zusammen“.385 Das Neue des Neuen führt zur Selbstdeutung des Glaubenden im Licht des Christus pro me.386 In diesem Sinn kann N. Slenczka nur von einer nicht-kanonischen Geltung der alttestamentlichen Schriften ausgehen, da er ihnen aufgrund der fehlenden christologischen Bezeugungskraft keine normative Geltung zuschreiben kann. In der Diskussion um diese These der Nicht-Kanonizität der alttestamentlichen Schriften wurde oft von einer Dekanonisierung der alttestamentlichen Schriften gesprochen, einem Begriff, der von seiner Bedeutung her irreführend ist und in der Diskussion manche Vorurteile begünstigt hat. Die Nicht-Kanonizität ist keine Dekanonisierung in dem Sinne, dass damit die alttestamentlichen 384

N. SLENCZKA, „Die Bedeutung des historischen Jesus“, 68: . „Nicht in der ausweisbaren Kontinuität der Verkündigung des Auferstandenen zum Lebensvollzug und vielleicht zum Selbstverständnis Jesu verifiziert sich die Verkündigung der Kirche, sondern darin, dass über der Aussage, dass ausgerechnet der Gekreuzigte der Auferstandene ist, dem Menschen ein Licht über sich selbst aufgeht, so dass er die eigene Existenz als Manifestation des Kreuzes erkennt und als getragen vom Auferstehungsleben neu versteht“. Vgl. auch ebd. 81: „Die Einsicht, dass der Irdische der Auferstandene ist, entspringt der unverfügbaren Evidenz des Selbstdeutungsangebotes, das im Lebensweg Jesu liegt. Die später […] entworfene Rechtfertigungstheologie des Paulus entfaltet die Person Jesu von Nazareth und ihr Kreuz als Erschließung der Problematik der condition humaine und als Angebot des deutenden Umganges mit dieser Problematik […]“. 385 N. S LENCZKA, „Gewissen“, 255 (Hervorhebung durch den Verfasser). Siehe auch DERS., „Allein durch den Glauben“, 301-309. Zur Ablehnung der Heilsgeschichte siehe DERS., Vom Alten Testament und vom Neuen, 83: Die slenczkasche Sicht des Alten Testaments „gilt umso mehr, als die Entfremdung des christlichen Glaubens von seiner Vorgeschichte nicht nur darin begründet liegt, dass die gegenwärtige Kirche […] nicht mehr fähig ist, die heilsgeschichtliche Kontinuität zwischen der im AT und der im NT dokumentierten Ereignisfolge so wie Paulus und so wie die vorneuzeitlichen Theologen der Alten Kirche zu konzipieren“. 386 Gegen die Verinnerlichung und für die Externität des schöpferischen Gotteswortes in lutherischer Theologie plädiert O. BAYER, „Zweierlei Freiheit“, 19: „Die Antwort kann für lutherische Theologie auch heute nicht fraglich sein und wird sich in einem ,Lob der Äußerlichkeit‘ (Wannenwetsch) artikulieren. Zu widerstehen ist dem neuzeitlichen Narziss: seiner incurvatio in seipsum, seiner Zurückbiegung auf sich selbst, seiner Selbstreflexibilität – wie denn für maßgebende Formen neuzeitlicher Subjektivität die Tendenz kennzeichnend ist, ihre Vorgaben in sich selbst hineinzunehmen oder sie immer schon in sich vorzufinden“.

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Schriften aus der Bibel ausgestoßen werden sollen und somit der Berliner Systematiker mit der Nicht-Kanonizität dem Beispiel Marcions folgen wolle, das Alte Testament aus dem Buch der Bibel zu verbannen. Der Begriff der Dekanonisierung kann rein sprachlich dahingehend verstanden werden, darunter vorschnell eine Entkanonisierung anzunehmen; jedoch zeigt die aufmerksame Lektüre der Schriften N. Slenczkas, dass er dem Alten Testament einen wichtigen Platz in der christlichen Bibel zuspricht, wenn er in diesen Texten das vorchristliche Glaubensbewusstsein versprachlicht findet. Darum kann keine Ent-kanonisierung der alttestamentlichen Texte gemeint sein, sehr wohl aber eine Dekanonisierung. Der Begriff meint theologiehermeneutisch den Gegensatz zu Kanon, der einen feststehenden und normativen Rang einnimmt. Die Dekanonisierung dieser Schriften des Kanons sprengt dieses Verständnis und kann auf alle biblischen Schriften angewendet werden. Dekanonisierung ist der Vorgang, in dem mit der historisch-kritischen Methode der Anspruch der Kanonizität als Normativität der Texte untersucht wird. Dekanonische Kritik ist also ein Programm der Literaturgeschichte, mit einer Abgrenzung zu strikt normativen Texten, indem sie historisch-kritisch nach deren Ursprung fragt und den Kanon im Zusammenhang mit seiner Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte alt- und neutestamentlicher Texte her erforscht.387 N. Slenczka fühlt sich einer Dekanonisierung verpflichtet, da diese Methode im Anschluss an die historisch-kritische Methode den Sinnzuwachs der Kanonisierung, der den Texten von einer Rezeptionsgemeinschaft oder einzelnen Rezipienten zugesprochen wird, kritisch hinterfragt und gerade damit neue Potentiale der Texte eröffnet. Ein wichtiges Potential der Dekanonisierung der alttestamentlichen Texte ist für ihn die Tatsache, dass diese Texte keinen genuin christologischen Sinn haben und damit nicht normativ sein können, sondern Identitätstexte nur des Judentums sind. Es ist daher sinnvoll von der Nicht-Normativität der alttestamentlichen Texte zu sprechen. Damit bleibt gewahrt, dass die Dekanonisierung keine Abschaffung des Alten Testaments ist, sondern auch neutestamentliche Texte von diesem Konzept betroffen sind. Die Nicht-Normativität von Texten ist mit dem fehlenden Zeugnis für das Evangelium Christi verbunden, das auch bei neutestamentlichen Texten der Fall sein kann. In diesem Sinn sieht auch M. Luther den Jakobusbrief, den Hebräerbrief oder die Offenbarung des Johannes als apokryphe Schriften, da in ihnen nichtnormativ von Jesus Christus gesprochen wird. In diese Tradition reiht sich N. Slenczka bewusst ein und bleibt damit eine provokative Anfrage an christliche Theologie und ihr Verständnis der Heiligen Schrift. 387

Siehe dazu O. WISCHMEYER, Hermeneutik des Neuen Testaments, 75-80.

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B REVOCATIO: ENTGEGNUNGEN ZU UND KRITIK AN NOTGER SLENCZKAS THESE DER DEKANONISIERUNG DES ALTEN TESTAMENTS N. Slenczka hat seinen Beitrag „Die Kirche und das Alte Testament“ aus dem Jahr 2013 für eine „binnentheologische“ Diskussion konzipiert. Ob er wusste, welche Diskussion seine These lostreten würde, bleibt zu fragen. Es war zunächst nicht der Beitrag von 2013, der die Welle der Diskussion entfacht hat, sondern ein Beitrag von Friedhelm Pieper in seiner Funktion als Präsident des „Deutschen Koordinierungsrats der Gesellschaften für Christlich-jüdische Zusammenarbeit“ (DKR) brachte die These der „Entfernung“ des Alten Testaments in die breite Diskussion, wobei er ein „merkwürdiges Schweigen um einen handfesten theologischen Skandal im gegenwärtigen deutschen Protestantismus“ ausmachte.388 Mit dem 388

F. PIEPER, „Theologieprofessor will das Alte Testament aus der Heiligen Schrift verbannen. Professor Dr. Slenczka empfiehlt Kehrtwende zurück in den deutschen Kulturprotestantismus“, EpdD 47 (23/2015) 15-19, 15; [in Folge: F. PIEPER, „Theologieprofessor und Altes Testament“]. In einer weiteren Stellungnahme „Streit um den christlichen Kanon. Zur Auseinandersetzung mit Professor Dr. Notger Slenczka“, Deutsches Pfarrerblatt 115 (2015) 289-292, hier zitiert nach der überarbeiteten Version: EpdD 48 (7/2016) 4-9 wirft er N. Slenczka vor, mit seiner These der Dekanonisierung des Alten Testaments „einen Grundkonsens christlicher Theologie“ zu verlassen (4); [in Folge: F. PIEPER, „Streit um den christlichen Kanon“]. F. Pieper zeigt sich auch fassungslos, dass die Redaktion des MJTh den Beitrag Slenczkas abgedruckt hat. Dies brachte ihm jedoch in der weiteren Diskussion den Vorwurf der Zensur ein. In einem Brief vom 18.03.2015 an F. Pieper macht N. Slenczka deutlich, dass er sich von der Kritik Piepers oft falsch verstanden fühlt. Vgl. dazu N. SLENCZKA, „Antwort auf die Stellungnahme des Ev. Präsidenten des Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Pfarrer Friedhelm Pieper“, 18.03.2015 [https://www.theologie.hu-berlin.de/de/professuren/professuren/st/slenczkaantwortpiepe r18-03-2015.pdf; zuletzt abgerufen 19.02.2018; in Folge: N. SLENCZKA, „Antwort auf die Stellungnahme“]. In diesem Brief zeigt sich, dass die Debatte gerade zwischen N. Slenczka und F. Pieper anfangs nicht rein wissenschaftlich ausgetragen wurde, sondern dass es auch auf persönlicher Ebene viele Vorurteile und Vorwürfe gab. In einer weiteren Reaktion beschuldigt N. Slenczka den DKR nach der Veröffentlichung des Beitrags von F. Pieper „Theologieprofessor und Altes Testament“, „dass der – der von mir an sich geschätzte Koordinierungsrat – offenbar ein gestörtes Verhältnis zur Freiheit der Wissenschaft unterhält“, denn die „wissenschaftliche Theologie ist eine Gestalt der teilnehmenden Selbstkritik der Kirche und ein wesentliches Element der Pluralismusfähigkeit des deutschen Protestantismus“; N. SLENCZKA, „Skandalisierung und Wissenschaft“, EpdD 47 (23/2015) 20-21, 20 (Hervorhebung im Original). Darauf lies sich der DKR auf eine Stellungnahme ein: KOORDINIERUNGSRAT DER GESELLSCHAFT FÜR CHRISTLICH-JÜDISCHE ZUSAMMENARBEIT, „Stellungnahme des Deutschen Koordinierungsrats der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (DKR)“, EpdD 47 (23/2015) 22-24. Weitaus nüchterner betrachtet F. Hartenstein in einer ersten Reaktion die These von N. Slenczka. In seinem Beitrag hält F. Hartenstein fest: „Aus etwas weiterem Blickwinkel kann man sagen, Slenczka legt mit seiner Frage nach der Bedeutung des Alten Testaments den Finger auf das Grundproblem neuzeitlicher

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Hermeneutik, die Frage nämlich, wie theologische Wissenschaft angesichts der Ergebnisse historischer Kritik die Einheit ihrer Disziplinen und ihre Funktion als kritisches (In-) Gegenüber zur Kirche in jeder Generation neu zu bestimmen hat und derzeit bestimmt“ (Hervorhebung im Original); F. HARTENSTEIN, „Zur Bedeutung des Alten Testaments für die evangelische Kirche. Eine Auseinandersetzung mit den Thesen von Notger Slenczka“, ThLZ 140 (2015) 738-751; wieder aufgenommen und in Folge zitiert in: F. HARTENSTEIN, Die bleibende Bedeutung des Alten Testaments. Studien zur Relevanz des ersten Kanonteils für Theologie und Kirche (= BThST 165), Göttingen – Bristol 2016, 55-78, hier 57-58; [in Folge: F. HARTENSTEIN, Die bleibende Bedeutung]. Auf den Beitrag F. Hartensteins reagiert N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen. 250-276. – In der gesamten Debatte kritisiert N. Slenczka (zu Recht), dass zwei Jahre lang sein Text von 2013 bekannt war, aber bis dahin keine einzige wissenschaftliche Entgegnung unternommen wurde. In scharfem Ton wirft N. Slenczka seinen Kollegen, insbesondere C. Markschies, vor, dass sie sich „der offenen Diskussion […] ausdrücklich entziehe[n] und damit dem Austausch von Argumenten ausweich[en]. Sie verweigern sich damit der Dialogizität und der Begründungspflicht, die für die Wissenschaft wesentlich sind, und setzten stattdessen meinem Text im papalen Gestus altkirchlicher Ketzerjäger völlig unbegründete Behauptungen entgegen“. Zu dieser Kritik DERS., „Öffentliche Antwort auf die Stellungnahme der Fakultätskollegen Markschies, Breytenbach, Gräb, Schneider, Schröter“, EpdD 47 (23/2015) 26; [in Folge: N. SLENCZKA, „Öffentliche Antwort“]. In einer weiteren Stellungnahme – mit dem programmatischen Titel „18 Fragen an die Verächter der wissenschaftlichen Diskussion unter den Theologen“ in Anlehnung an die „15 Fragen an die Verächter der Diskussion“ A. v. Harnacks – reagiert er direkt auch auf C. Markschies, der „nicht im Ansatz das Format seines bedeutenden Vorgängers [A. v. Harnacks; Anm. d. Verf.]“ hat, der mit seinen anderen Kollegen die wissenschaftliche Diskussion um seine These meidet. Dazu DERS., „18 Fragen an die Verächter der Wissenschaftlichen Diskussion unter den Berliner Theologen“, EpdD 47 (23/2015) 27-29. In den „18 Fragen“ pointiert Slenczka seine Position und hält sie der Anfrage seiner Fakultätskollegen entgegen, indem er seine Fragen auf die Themen „Sinn und Mitte des Alten Testaments“, „Hermeneutik des Alten Testaments“, „Normativität“, „Apokryphe Bedeutung“ und „Luther/Protestantismus und Judentum“ zuspitzt. Gegen die Kritik von C. Markschies verteidigt W. Härle N. Slenczka, auch wenn er die These N. Slenczkas ablehnt. Die Dekanonisierungsthese müsse diskutiert werden und könne nicht wie von C. Markschies ins Lächerliche gezogen werden, da sie auch die Grundlagen der Kultur betreffen. Vgl. W. HÄRLE, „Was ist die Heilige Schrift“, Rotary Magazin [https://rotary.de/kultur/was-ist-die-heilige-schrift-a7609.html; zuletzt abgerufen am 20.09.2018]. In der Diskussion um die These von N. Slenczka positionierten sich auch Bischöfe und Kirchentagspräsidenten der EKD gegen den Berliner Theologen Slenczka. Die Zusammenfassung deren Stellungnahmen ist nachzulesen EpdD 47 (23/2015) 46-49; dazu siehe auch den Standpunkt vom 25.04.2015 für das Alte Testament durch REFORMIERTER BUND E.V., „Beschluss der Hauptversammlung des Reformierten Bundes“, EpdD 47 (23/2015) 41-42. Um die Spannungen in der Diskussion um N. Slenczka erahnen zu können, reicht es die Beiträge in der FAZ zu lesen: R. BINGENER, „Der Gott des Gemetzels“, Frankfurter Allgemeinen Zeitung (21.04.2015) [http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/berlin-professor-fordertabschaffung-des-alten-testaments-13549027.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0; [zuletzt abgerufen am 27.03.2018]; F. W. GRAF, „Streit um das Alte Testament. Hiobs Botschaft“, Frankfurter Allgemeine Zeitung (27.04.2015) [http://www.faz.net/aktuell/ feuilleton/debatten/kann-man-das-alte-testament-einfach-streichen-13558589.html; zuletzt abgerufen am 19.02.2018; in Folge: F. W. GRAF, „Hiobs Botschaft“]. F. W. Graf, der mit vielen Beteiligten der Diskussion ins Gericht geht, wirft N. Slenczka „konventionelle und ahistorische Referate“ zu F. Schleiermacher, A. v. Harnack und

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R. Bultmann vor, die zu einer „eigensinnigen Konsequenzenmacherei“ führen. F. Pieper wird von ihm als „kirchlichen Möchtegern-Ajatollah aus der hessischen Provinz“ bezeichnet, der auf Zensur in der Wissenschaft aus ist, und M. Brumlik sei kein „Held der Differenzierungskraft“, der mit seiner Vorahnung eines neu aufkommenden Antijudaismus keine „theologische Differenzierungskraft“ erkennen lasse. Weiter weist er auch darauf hin, dass bei der Erklärung der Berliner Professoren gerade die beiden Alttestamentler der Fakultät nicht unterzeichnet haben. Zu einer Versachlichung der Debatte rät in seinem Beitrag R. LEONHARD, „Viel Lärm um nichts“, 13-15, wobei er Parallelen der These Slenczkas bei anderen protestantischen Theologen ausmacht und seine These zum Alten Testament als natürliche theologische Differenz beider Kanonteile ausweist, wie sie heute allgemein in protestantischer Theologie vertreten wird. A. Deeg seinerseits tritt als starker Kritiker Slenczkas auf und macht bei Slenczka ein Decrescendo seiner These seit 2013 aus, so dass er eigentlich eingestehen müsse, dass seine These ein „theologischer Irrtum“ war. Vgl. A. DEEG, „Die zwei-eine Bibel. Der Dialog der Testamente und die offene christliche Identität“, Zeitzeichen 16 (2015) 41-43, 41; [in Folge: A. DEEG, „Zwei-eine Bibel“]. Weitere Beiträge in der Diskussion sind: K. MÜLLER, „7 Leitsätze samt Erläuterungen zur bleibenden Relevanz der Hebräischen Bibel für die christliche Kirche. ‚Herausgerufen‘ – um nicht zu sagen ‚provozieren‘ – durch Notger Slenczkas ‚Überlegungen zu der These, dass das AT in der Tat, wie Harnack vorgeschlagen hat, eine kanonische Geltung in der Kirche nicht haben sollte‘“, EpdD 48 (8/2016) 26-27; [in Folge: K. MÜLLER, „7 Leitsätze“]; H. LISS, „An der Sache vorbei. Eine jüdische Sichtweise zum Streit um Notger Slenczka und das Alte Testament“, EpdD 48 (8/2016) 7-9; [in Folge: H. LISS, „An der Sache vorbei“]; M. BRUMLIK, „Antijudaismus in neuem Gewand? Ein Berliner Theologieprofessor möchte die Hebräische Bibel aus dem christlichen Kanon entfernen“, EpdD 47 (23/2015) 30-32 [in Folge: M. BRUMLIK, „Antijudaismus in neuem Gewand“] und U. BARTH, „Symbolisches Kapital“, 12-15; G. HOLTZ, „Braucht die evangelische Kirche noch das Alte Testament? – Prof. Gudrun Holtz nimmt Stellung zum Berliner AT-Streit“, Arbeit und Besinnung 13 (2015) 22-25; [in Folge, G. HOLTZ, „Evangelische Kirche und Altes Testament“]. Mit „Kopfschütteln“ über die Erarbeitung „des Wesens des Christentums an einem Berliner Schreibtisch“ äußert sich A. DEEG, „Kanones und Kanon“, 269-284 und K. SCHMID, „Christentum ohne Altes Testament?“, IKaZ 45 (2016) 591-604 [in Folge: K. SCHMID, „Christentum ohne Altes Testament“]. K. Schmid kann sich selbst bei theologisch schlüssigen Argumenten nicht vorstellen, dass das Christentum dem Alte Testament nicht mehr den Stellenwert zuspricht, den es die 2000 Jahre hindurch hatte. Ein Christentum ohne Altes Testament ist nicht zu denken, denn mit ihm ist es gewachsen (siehe ebd. 593). M. OEMING, „Der Kampf um das Alte Testament. Ein Plädoyer für das Alte Testament als notwendigen Bestandteil des christlichen Kanons“, in: M. WITTE – J. C. GERTZ (Hgg.), Hermeneutik des Alten Testaments (= VWGT 47), Leipzig 2017, 1-40, 13-26 ordnet die These N. Slenczkas sechs unterschiedlichen Typen der „Angreifer“ auf das Alte Testament zu. Dabei unterscheidet er folgende Typen: (1) säkulare Aufklärung bzw. atheistische Religionskritik, (2) Kritik am Staat Israel, (3) feministische Theologie, (4) psychologische Kritik, (5) Systematische Theologie und (6) Stimmen mancher Kirchenleitungen in Verkündigung und Predigt; [in Folge: M. OEMING, „Der Kampf um das Alte Testament“]. M. Oeming sieht N. Slenczka zwar nicht direkt in einem dieser sechs Typen verortet, doch hält er seine These mit F. Hartenstein für „unoriginell“ (ebd. 22). Weitere kritische Beiträge sind: J.-H. TÜCK, „Christentum ohne Wurzel? Warum das Alte Testament nicht aus dem christlichen Kanon herausgenommen werden darf“, StZ 234 (2016) 43-55, 49; [in Folge: J.-H. TÜCK, „Christentum ohne Wurzel“]; L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Einleuchtend. Führt das christlich-religiöse Bewusstsein zur Herabstufung des Alten Testaments?“, in: M. WITTE – J. C. GERTZ (Hgg.), Hermeneutik des Alten Testaments (= VWGT 47), Leipzig 2017, 41-55, 41-45,

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Beitrag entstand eine Diskussion in theologischen Zeitschriften und Feuilletons, die neben Beiträgen christlicher Theologen auch jüdische Stimmen zu Wort kommen ließen. N. Slenczka bedauerte dabei aber, dass „das Interesse […] vielmehr motiviert [war] durch die verzerrte Darstellung [s]einer These als Ausdruck eines neuen Antijudaismus oder Antisemitismus in der protestantischen Theologie“.389 Dabei ist der dabei besonders auf die Vorordnung des christlich-frommen Bewusstseins vor dem Zeugnis der Schrift bei N. Slenczka eingeht; [in Folge: L. SCHWIENHORSTSCHÖNBERGER, „Einleuchtend“]; DERS., „Marcion on the Elbe. A Defense of the Old Testament as Christian Scripture“, First Things, 12/2018 [https://www.firstthings.com/ article/2018/12/marcion-on-the-elbe; zuletzt abgerufen am 10.12.2018]. C. MARKSCHIES, Kirche und Judentum. „Das Alte Testament war die Bibel des Jesus von Nazareth“, Deutschlandradio, 23.08.2015, [http://www.deutschlandfunkkultur.de/ kircheund-judentum-das-alte-testament-war-die-bibel-des.1278.de.html?dram:article_id =329068; zuletzt abgerufen am 28.04.2018]. T. KLATT, Nicht ohne das Alte Testament?, Deutschlandfunk, 16.12.2015, [http://www.deutschlandfunk.de/die-thesen-des-berlinertheologen-notger-slenczka-nicht.886.de.html?dram:article_id=339892; zuletzt abgerufen am 28.04.2018]. C. DIPPEL, Zank ums Testament, Deutschlandfunk, 28.09.2016, [http://www.deutschlandfunk.de/bibel-zank-ums-testament.886.de.html?dram:article_id =366931; zuletzt abgerufen am 27.04.2018]. G. BEYRODT, Christlich-jüdische Leitkultur. Falsch verbunden, Deutschlandfunk, 16.12.2016, [http://www.deutschlandfunk.de/ christlich-juedische-leitkultur-falsch-verbunden.886.de.html?dram:article_id=374511; zuletzt abgerufen am 27.04.2018]. C. DIPPEL, Das zersägte Testament, Deutschlandfunk, 13.12.2017, [http://www.deutschlandfunk.de/die-bibel-das-zersaegte-testament.2540. de.html?dram:article_id=401652; zuletzt abgerufen am 27.4.2018]. Seinerseits hat N. Slenczka seinen Gedankengang nochmals in für die breite Öffentlichkeit dargelegt in N. SLENCZKA, „Altes Testament verkündigt nicht Jesus von Nazareth“, 34-36. Seine Erfahrungen in der Diskussion um seinen wissenschaftlichen Beitrag verarbeitet N. Slenczka auch in einer Predigt am Sonntag Kantate 2015, worin er Hiob 3 auslegt und auf die „dunklen Stunden“ der Diskussion um seinen Beitrag und seine Person anspielt: DERS., Vom Alten Testament und vom Neuen, 400-405. Ebenfalls sieht er in Teilen der Diskussion einen „Häretikerprozess“ um seine Person. Dass selbst Kirchenobere vor einer Verurteilung seiner Position nicht das Gespräch gesucht haben, „ist vermutlich der Medialisierung der Öffentlichkeit geschuldet“ (ebd. 8). J. DOCHHORN, „Die Kirche und das Alte Testament. Ein Debattenbeitrag mit Fokus auf dem Corpus Paulinum“, ZNT 20 (2017) 60-76; [in Folge: J. DOCHHORN, „Das Alte Testament und die Kirche“]. J. Dochhorn sieht im jüdisch-christlichen Dialog den „archimedischen Punkt“ der Argumentation N. Slenczkas. 389 N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 293. Neben dem Beitrag von Friedhelm Pieper „Streit um den christlichen Kanon“ muss auch die Stellungnahme der Berliner Fakultätskollegen von N. Slenczka genannt werden, die mit ihrer scharfen Stellungnahme zu einer „verzerrten Darstellung“ der These beigetragen haben dürften. Vgl. C. BREYTENBACH u.a., „Stellungnahme zu den Äußerungen von Professor Dr. N. Slenczka zum Alten Testament“, EpdD 47 (23/2015) 25. Dass diese Stellungnahme der fünf Fakultätskollegen N. Slenczkas veröffentlicht wurde, dürfte auch damit zusammenhängen, dass ein Judaist mit der Rückgabe seiner Honorarprofessur drohte, worauf M. WEYER-MENKHOFF, „Das Alte Testament zu Berlin – eine Passionsgeschichte?“, EpdD 48 (8/2016) 10-16, 10 hinweist; [in Folge: M. WEYERMENKHOFF, „Das Alte Testament zu Berlin“]. N. Slenczka entgegnet der Stellungnahme der fünf Professoren seinerseits wiederum „mit Kopfschütteln, aber auch mit fassungsloser Erheiterung“. Er kritisiert dabei, dass seine „Position neben diejenige des

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die Diskussion – so wie N. Slenczka sie sieht und wie ihm unwidersprochen Recht gegeben werden muss – eine der wichtigsten Diskussionen in der christlichen Theologie der Gegenwart.390 Im Folgenden wird die entstandene Diskussion um N. Slenczkas These der dekanonisierten, also nicht normativen Bedeutung des Alten Testaments zu sammeln und darzustellen und miteinander in das Gespräch zu bringen. Dabei sollen nicht die einzelnen großen Lösungsansätze nachgezeichnet werden, sondern deren Einzelargumente synthetisch und systematisch erschlossen werden.391 Wie N. Slenczka geht es den hier genannten Theologen um die Selbstvergewisserung des christlichen Glaubens. Der christliche Schriftkanon ist keine Entscheidung der Kirche wie ein Deus ex machina, sondern ein theologischer Prozess, bei dem sich die junge Kirche des Evangeliums Christi bewusst wurde, sich aber gleichzeitig zu dem Gott Jesus Christi bekannte, der sich in der Geschichte offenbart hat und in den hebräischen Schriften bezeugt wird. Dieses Zeugnis des einen Gottes gehört wesentlich zum Christentum und bildet ebenfalls Norm und Fundament für christliche Theologie, da sich im Bekenntnis zu dem einen Gott die eine Geschichte von der Schöpfung bis zur Erlösung widerspiegelt. Beiträge aus Exegese und systematischer Theologie treten in Diskussion mit N. Slenczka und konkretisieren das Bemühen, die Einheit der christlichen Bibel zu begründen. antisemischen, in den 12 Jahren der NS-Diktatur lehrenden Alttestamentlers Johannes Hempel gestellt“ wird. Der Darstellung seiner These „wird nichts als eine Sammlung völlig unbegründeter Behauptungen entgegengestellt“. Siehe hierzu N. SLENCZKA, „Öffentliche Antwort“, 26. In einem Interview 2015 gesteht N. Slenczka zu, dass er in seinen Referaten deutlichere „Distanzsignale“ gegen den Antisemitismusvorwurf in Bezug zu A. v. Harnack und R. Bultmann hätte setzen sollen, um mit diesem Vorwurf das eigentliche Thema nicht zu belasten. Siehe DERS., „Wer braucht das Alte Testament“, 3. 390 DERS., „Differenz tut Not“, 12. 391 In der Kritik an N. Slenczka spielen einzelne Argumente immer wieder auch an G. von Rads Standardwerk Theologie des Alten Testaments an, der darin viele Argumente für die Einheit beider Testamente unter Berücksichtigung der historisch-kritischen Methode vorweggenommen hat. M. Oeming erkennt bei v. Rad vier Modelle, die miteinander kombiniert die Einheit der Schrift denken wollen: das verheißungsgeschichtliche, das überlieferungsgeschichtliche, das heilsgeschichtliche und das sprachgeschichtliche Modell. Siehe dazu M. OEMING, Das Alte Testament als Teil des christlichen Kanons? Studien zu gesamtbiblischen Theologien der Gegenwart, Zürich 32001, 51-62 und die Kritik an den Methoden: 87-106; [in Folge: M. OEMING, Das Alte Testament als Teil des christlichen Kanons?]. Ebenfalls kritisch zu G. v. Rads traditionsgeschichtlichem Modell B. S. CHILDS, Die Theologie der einen Bibel. Hauptthemen, II, übers. von C. OEMING und M. OEMING, Freiburg – Basel – Wien 1996, 445-446; [in Folge: B. S. CHILDS, Theologie der einen Bibel 2]. Zum Konzept der „Biblischen Theologie“ siehe auch H. HÜBNER – B. JASPERT (Hgg.), Biblische Theologie. Entwürfe der Gegenwart (= BThST 38), Neukirchen-Vluyn 1999 und F.-L. HOSSFELD (Hg.), Wieviel Systematik erlaubt die Schrift? Auf der Suche nach einer gesamtbiblischen Theologie (= QD 185), Freiburg – Basel – Wien 2001.

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1.

Das Zeugnis des einen Wortes Gottes

Für das Urchristentum war zwischen den Schriften des Judentums und den Schriften, die sich langsam aus ihrem Glaubensbewusstsein heraus entwickelten und im Neuen Testament gesammelt sind, kein Gegensatz auszumachen. Alle diese Schriften sind Zeugnis des Wortes Gottes, in dem sich die Geschichte Gottes mit den Menschen ausdrückt und niederschlägt. Diese Ansicht bestreitet N. Slenczka nicht, möchte aber die Gewichtung und die systematische Entscheidung für die hebräischen Schriften überdenken. Dabei macht er immer wieder die Eigenständigkeit der Schriften Israels stark, worauf auch die Kritiker seiner These eingegangen sind. 1.1.

Partikularität und Universalität

Das Alte Testament wird in seiner Gestalt der hebräischen Schriften von N. Slenczka als Schriften für das Volk Israel angesehen. Er bindet diese Schriften direkt an das Volk des Alten Bundes und sieht sie als direkte Ansprache für dieses Volk. Damit beschränkt und begrenzt er die hebräischen Schriften auf das Gottesvolk und spricht davon, dass diese Schriften eine Form von Partikularität in der Begrenzung ausdrücken und einer universalen Sicht des Christentums gegenüberstehen. Aber gerade in dieser Partikularität sieht er die Besonderheit und Würde der Schriften für das Volk Israel, da sich darin die besondere Erwählung des alttestamentlichen Gottesvolkes durch den Bundesgott manifestiert. Diese Sicht und Einschätzung der alttestamentlichen Schriften hat in der Diskussion großen Widerspruch hervorgerufen.392 Gegen 392

Vgl. F. PIEPER, „Theologieprofessor und Altes Testament“, 16-17. M. WEYERMENKHOFF, „Altes Testament zu Berlin“, 10 weist darauf hin, dass das „Partikulare“ theologisch oft in einem abwertenden Sinn missverstanden wird, was jedoch von Slenczka nicht beabsichtigt sein könne. Vgl. auch J. EBACH, „,Sola Scriptura‘ – Zwei Testamente – siebzig Gesichter“, 3-5 [http://www.reformiert-info.de/14267-0-8-1.html; zuletzt abgerufen am 23.02.3018; in Folge: J. EBACH, „Zwei Testamente – siebzig Gesichter“]. Auch K. Wengst stellt sich gegen eine Sicht von Partikularität und Universalität, mit der jeweils das Alte und Neue Testament beschrieben werden. Er bezeichnet diese Sicht rein als „Klischee“. Vgl. K. WENGST, „Die Einzigkeit Gottes und die Einzigkeit jedes Menschen – das eine Volk und die Vielfalt der Völker. Biblisches in der Spannung von Universalität und Partikularität“, [http://www.imdialog.org. uaccess.univie.ac.at/bp2015/02/04.html; zuletzt abgerufen am 26.02.2018; in Folge: K. WENGST, „Einzigkeit Gottes und Einzigkeit jedes Menschen“]. Der Widerspruch ist auch schon bei L. BAECK, Das Wesen des Judentums, 94-97 in seiner Entgegnung auf A. v. Harnack benannt. Natürlich kennt das Jüdische die Partikularität der Erwählung Gottes, aber gerade diese Partikularität bezieht sich auf die Universalität: „Aus dieser Gewissheit [der Erwählung; Anm. d. Verf.] ist dann die Idee von dem weltgeschichtlichen Berufe, von der Mission Israels erwachsen, von der Verantwortlichkeit, die es vor Gott

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N. Slenczka wird argumentiert, dass das Gottesverhältnis und -verständnis, das die hebräischen Schriften ausdrücken, von Anfang an nicht auf eine Begrenzung für ein bestimmtes Volk abzielen, sondern dass der Bund Gottes mit seinem Volk eingebettet ist in eine schöpfungstheologische Perspektive, die die ganze Menschheitsgeschichte umfasst. Die heiligen Schriften Israels beginnen nicht mit der Erwählung des Volkes Israel, sondern mit dem universalen Bild des Menschen im Allgemeinen. Die biblische Schöpfungserzählung berichtet von der Erschaffung des Menschen (mda), erst in einem zweiten Schritt kommt es zu einer individuellen Differenzierung. Damit wird deutlich, dass sich „die universale Perspektive […] einer partikularen Geschichte [verdankt]“.393 Es ist der Mensch an sich, der in der Gottebenbildlichkeit geschaffen ist, womit allen Menschen diese universale schöpfungstheologische Grundaussage zugesprochen ist, die es universal zu achten gilt. Mit dieser schöpfungstheologischen Grundaussage wird aber nicht nur das Universale im Partikularen ausgesagt, sondern es wird in den ersten Zeilen der hebräischen Schriften eine Grundaussage des Evangeliums und der Verkündigung Jesu Christi vorweggenommen. Die universale Aussage über den Menschen verdichtet sich in der konkreten Zuwendung Jesu zu den Armen, Sündern und Ausgestoßenen; Jesus lebt das, was er in den Schriften seines Glaubens liest und was er den Seinen als Auftrag hinterlässt (vgl. Joh 15,12). Die Schriften Israels machen mit dem Schöpfungsbericht eine Aussage, die weit über den Raum des einen und den Menschen hat. […] Der Glaubensgedanke von der Menschheit, der religiöse Universalismus, wird so hier ein Grundlegendes, Wesentliches der Religion, er wird zum Prinzip der geschichtlichen religiösen Aufgabe. […] Dieser universalistische Zug, der Charakter der Weltreligion, ist der israelitischen Religion nie ein Zufälliges, Hinzugekommenes gewesen“ (95-96; Hervorhebung im Original). – N. Slenczka hat seine These der Partikularität im Rahmen von „Selbsteinwänden“ nochmals versucht zu erklären, insofern er nochmals unterstreicht, dass er Partikularität nicht pejorativ verstanden wissen will, sondern als Gegensatz zur „(in Christus begründete[n]) Bedingungslosigkeit des Gottesverhältnisses“ (siehe N. SLENCZKA, „Einwände und Antwortversuche“, 71-75, hier 74). J. Dochhorn vermutet, dass N. Slenczka mit „partikular“ wohl eher „gewaltbesetzte“ Texte meint, wenn er auf die Fluchpsalmen rekurriert (vgl. J. DOCHHORN, „Das Alte Testament und die Kirche“, 62). 393 J. EBACH, „Zwei Testamente – siebzig Gesichter“, 4. J. Ebach spricht hier sogar von einer „fundamentaldemokratischen“ Option der Schrift und weist darauf hin, dass die ganze Schrift Israels vom Anfang bis zum Ende immer wieder diese Universalisierungen im Partikularen kennt. Als Beispiel führt er Hiob, Jeremia als Prophet für die Völker (Jer 1,6) und Jona an. Zugleich gibt es zu diesen Beispielen eine zentripetale und zentrifugale Verschränkung im Verständnis Israels, was sich in der Völkerwallfahrt nach Jerusalem und der Sendung Israels zu den Völkern ausdrückt. Siehe auch M. OEMING, „Vom Eigenwert des Alten Testaments als Wort Gottes. Zur wechselseitigen Befruchtung der christlichen und jüdischen Exegese des Alten Testaments“, in: K. LEHMANN – R. ROTHENBUSCH (Hgg.), Gottes Wort in Menschenwort. Die eine Bibel als Fundament der Theologie (= QD 266), Freiburg – Basel – Wien 2014, 305-336, 308; [in Folge: M. OEMING, „Eigenwert des Alten Testaments“]

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Volkes hinausgeht und für das Christentum allein schon durch die Tat Jesu bleibende Bedeutung hat. Im Zeugnis des Volkes Israel wird die Zusage Gottes für alle Menschen offenbar, da im Partikularen des Volkes Israel das Universale für die gesamte Menschheit zum Ausdruck gebracht wird. Soll das Prädikat „Partikularismus“ auf das Volk Israel angewendet werden, so muss von einem „funktionalen Partikularismus“394 gesprochen werden. In diesem „funktionalen Partikularismus“ ist Israel stellvertretend für alle Völker in das Handeln Gottes einbezogen und bereits dem geschichtlichen Bundeshandeln Gottes verpflichtet, mit dem Gott mit allen Völkern in Beziehung treten möchte. Weil Israel die Verheißung lebt, kann sie universalisiert werden. Die Partikularität ist aber dabei bereits aufgebrochen, weil der Funktionsbegriff die Partikularität von Beginn an darauf ausrichtet, dass es zu einem Überschritt in die Universalität kommt. Die Partikularität Israels ist dazu bestimmt, über sich hinauszugehen und zu wirken, aus dem Alten Testament in das Neue Testament hineinzuströmen und durch das Heilshandeln und die Verkündigung des Juden Jesus von Nazareth für die Völker vorbereitet zu werden. Es ist die Stärke der alttestamentlichen Schriften, dass sie in ihrer Partikularität eine existentielle Universalität zum Ausdruck bringen und nicht eine vergeistigte Allkosmos-Lehre. Das, was diese Schriften für den Menschen und vom Menschen sagen, ist in seiner Konkretheit allgemein und in seiner Allgemeinheit im Menschen konkret. Die Grundaussagen über den Menschen folgen nicht dem Schema einer platonischen Idee, die es in der konkreten Existenz nie geben kann. Das, was auf den Einzelnen und auf das eine Volk Israel hin gelesen wird, kann auch auf das Ganze hin ausgelegt werden, denn allen Völkern „wird zugemutet, aber auch zugetraut, an dieser Beziehungsgeschichte [Gottes mit Israel; Anm. d. Verf.] zu erkennen, wer Gott ist und wie er ist und was er will“.395 Darum bekennt das Volk Israel in Dtn 6,4-6, 394

Der Autor dieser Studie verdankt den Begriff „funktionaler Partikularismus“ Prof. Dr. L. Schwienhorst-Schönberger, der diesen Begriff in einem Seminar im Sommersemester 2019 an der Katholischen Fakultät der Universität Wien erwähnte. 395 M. LOERBROKS, „A Blessing in Disguise? Thesen zum Aufsatz von Notger Slenczka, Die Kirche und das Alte Testament“, Texte & Kontexte 39 (2016) 32-38, 32-33; [in Folge: M. LOERBROKS, „Blessing in Disguise“]. Der Autor macht auch deutlich, dass Theologie in der Vergangenheit zu sehr vom Allgemeinen auf das Besondere geschlossen, damit aber das große Ganze aus dem Blick verloren hat. Siehe auch K. SCHMID, „Christentum ohne Altes Testament“, 601. Vgl. auch G. THEISSEN, „Der Eigenwert des Alten Testaments. Überlegungen eines Neutestamentlers aus reformierter Tradition“, in: M. OEMING – W. BOËS (Hgg.), Alttestamentliche Wissenschaft und kirchliche Praxis, FS für Jürgen KEGLER (= BVB 18), Berlin 2009, 15-27, 18-19; [in Folge: G. THEISSEN, „Eigenwert des Alten Testaments“]. Für den Neutestamentler Theißen hat das Alte Testament gerade darin seinen Eigenwert, weil es das „monotheistische Grunddokument der Menschheit“ ist und diesen im Gegensatz zur Vielgötterei bezeugt.

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dass JHWH der einzige und wahre Gott ist, den der Mensch mit ganzem Herzen bekennen soll. Die Universalität Gottes ergibt sich aus seiner Exklusivität, indem er jeglichem Polytheismus entgegensteht und andere Götter übersteigt. Das ist Grundlage dafür, dass sich das Bekenntnis zum einen und einzigen Gott universalisieren kann und nicht auf ein Volk beschränkt bleibt, da sich die Universalität in der Exklusivität und die Exklusivität in der Universalität ausdrückt. Das, was die hebräischen Schriften aussagen und als Geschichte Gottes mit den Menschen beschreiben, gilt nicht nur für ein bestimmtes Volk, sondern Menschen aller Generationen können sich darin wiederfinden und in diesen Texten einen Spiegel ihrer persönlichen Gotteserfahrung sehen, auch wenn sie nicht zu diesem Volk Israel gehören. Wenn das Alte Testament in Bezug zum Neuen Testament in seinem Eigenwert geachtet werden soll, kann es zugleich aber auch in einer komplementären Einheit zum Neuen Testament verstanden werden. Themen wie Schöpfung, Bund, Verheißung und Treue werden im Neuen Testament im Bezug zum Alten Testament immer wieder aufgenommen, wobei die theologische Grundlegung für diese Themen im Alten Testament zu finden ist.396 Gerade in diesen Themen muss das Neue Testament durch das Alte Testament ergänzt und vervollständigt werden, denn damit wird ein flaches Verheißungs-Erfüllungs-Schema aufgebrochen und dem Alten Testament jene theologische Bedeutung zugesprochen, welche ihm zukommen muss. Ein Verständnis von Korrelation kann das Eigenständige des Alten Testaments wahren und auf einen größeren und neuen Kontext hin lesen. 396

Vgl. M. OEMING, Das Alte Testament als Teil des christlichen Kanons?, 36. Der Autor weist aber auch darauf hin, dass diese Komplementarität nicht für alle Themen gelten kann, da das Neue Testament nicht an sich heilswirkend ist, sondern einzig Jesus Christus. Darum „weitet sich Biblische Theologie aus zu dem hochkomplexen Vollzug christlicher Wahrheitsfindung auf der Grundlage eines kritischen Gesprächs der nur künstlich getrennten Disziplinen [sic!] Altes Testament, Neues Testament und Dogmatik“ (38). Vgl. auch J. LAUSTER, „Händels Auferstehung. Die affirmative Genealogie des Christentums und das Alte Testament“, in: M. WITTE – J. C. GERTZ (Hgg.), Hermeneutik des Alten Testaments (= VWGT 47), Leipzig 2017, 133-143, 137; [in Folge: J. LAUSTER, „Händels Auferstehung“]. J Lauster unterstreicht, dass sich mit der Kanonisierung des Alten Testaments das Christentum bewusst in den theologischen „Traditionszusammenhang“ stellt, der „grundlegende Themen christlicher Lebenserfahrungen“ begründet. So schließt er: „Sie [die alttestamentliche Vorstellungswelt; Anm. d. Verf.] ist der für uns verifizierbare entscheidende Anfangsimpuls. Eine Systematische Theologie oder eine Dogmatik im Geist des Christentums ist darum ohne den alttestamentlichen Anfang nicht durchführbar“. Vgl. auch PÄPSTLICHE BIBELKOMMISSION, Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel, 24. Mai 2001 (= VApS 152), Bonn 2001, Nr. 26: „Im Neuen Testament leitet sich die Überzeugung, dass alles, was existiert, Werk Gottes ist, unmittelbar aus dem Alten Testament ab. Sie scheint so fest verankert, dass sie keines Beweises bedarf und die Rede von der Schöpfung in den Evangelien wenig begegnet“; [in Folge: PBK, Das jüdische Volk].

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Es bleibt zu fragen, ob das Argument einer universalen Partikularität die These N. Slenczkas wirklich trifft. Der Berliner Systematiker würde dem zustimmen, dass Menschen ihre konkrete Lebenssituation auch in den hebräischen Schriften ausgedrückt finden können. Vielmehr sieht er jedoch die Partikularität darin gegeben, dass die hebräischen Schriften als Identitätsbezug nur für das Volk Israel bestimmt sind. Nicht die allgemeinmenschliche Erfahrung bestreitet er in den Texten, jedoch eine allgemeine Identitätsurkunde dieser Schriften für das Judentum und das Christentum. Problematisch sind diese Texte, da sich in ihnen nicht immer die Universalität der Gottesliebe ausdrückt. Slenczka weist in einem Antwortbrief an F. Pieper darauf hin, dass es diese Texte natürlich auch im Neuen Testament gibt: „Wir haben mit diesen Texten dieselben Probleme – und das sind wir auch nicht bereit zu ändern und zu behaupten, daß Gott an einem Teil der Menschheit positiv und an einem anderen bestenfalls negativ interessiert ist. Das ist mit unserem Gottesbild nicht vereinbar, sagen wir dann – und genau das ist es, was ich im Anschluß an Harnack beschrieben habe: Es arbeitet sich im Laufe der Christentumsgeschichte ein Verständnis des Zentrums des christlichen Glaubens aus – und dazu gehört unserer Meinung nach, daß Gott seine Zuwendung unabhängig von der Zugehörigkeit zu einem Volk oder einer Hautfarbe oder einem Geschlecht oder einer sexuellen Orientierung setzt. Und wir sagen dann etwas wie: […] [‚]das (und nicht jenes) entspricht dem von Jesus Christus ausgegangenen Impuls‘. Und diesen Impuls spüren wir bzw. das Evangelium von Jesus Christus hören wir in den Texten, darauf beziehen wir uns, wenn wir von der Universalität der Liebe Gottes sprechen“.397

N. Slenczka versteht die Universalität des Evangeliums entsprechend der Verkündigung des Evangeliums im Anschluss an R. Bultmann. Nicht das geschriebene Wort des Evangeliums ist der Impuls Jesu Christi, sondern das, was die Schriften der Evangelien und der anderen neutestamentlichen Schriften bezeugen. Darum kann es auch zu einer Bedeutungsverschiebung bei den Texten kommen, in denen der Anspruch auf die universale Gottesliebe partikular erscheint und mit denen auch Christen Probleme haben. Das Evangelium hinter dem Evangelium ist für N. Slenczka Maß und Norm der Universalität der Gottesliebe. Er hat in seinen Beiträgen immer wieder unterstrichen, dass im Alten Testament Texte mit universaler Bedeutung zu finden sind. Jedoch muss dabei beachtet werden, dass diese Texte das Universale anvisieren, um die Partikularität damit erklären zu können. Dabei geht er jedoch von einem unterschiedlichen Verständnis von Universalität aus. Das, was für das Christentum biblisch universal zu verstehen ist, ist im Zuspruch des Evangeliums ausgedrückt, das aber 397

N. SLENCZKA, „Antwort auf die Stellungnahme“, 5-6 (im Original in Hervorhebung).

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über einen anthropologischen Universalismus, wie in der Schöpfungserzählung beschrieben, hinausgeht. A. Feldtkeller stellt den deutlichen Zusammenhang von Partikularität und Universalität dar und versucht ihn im kulturgeschichtlichen Zusammenhang zu erklären. Für ihn haben die hebräischen Schriften universalen Charakter, der von Anfang an in der kompositorischen Zusammenstellung enthalten sei. Es sei das große Verdienst der Redaktoren der alttestamentlichen Schriften, dass sie „eine der frühesten und umfassendsten Visionen von einer Menschheit entwickelt […] haben, in der es mehr Verbindendes als Trennendes gibt“.398 Entgegen N. Slenczka geht A. Feldtkeller von einer universalen Konzeption des Alten Testaments aus, in der natürlich auch Partikularität begründende Texte eingearbeitet sind. Ebenso ist das Neue Testament zu verstehen, das zu einer Universalität der Gottesliebe für alle Menschen kommen möchte, indem es ebenfalls partikulare Züge kennt – etwa wenn Jesus im Matthäusevangelium zunächst seine Sendung auf das Haus Israel begrenzt wissen will (Mt 15,24). Der Anspruch der Universalität bleibt an sich immer abstrakt und kann nicht beschrieben werden, wenn er nicht an ein konkretes geschichtliches Beispiel gebunden ist. Für A. Feldtkeller ist damit auch in den partikular erscheinenden Passagen des Alten Testaments bereits der Samen der Universalität gesät, der in der Geschichte Gottes mit den Menschen in den unterschiedlichen Räumen zu wachsen beginnt, da der „Geist, der Jesus auferweckt hat und in Heidinnen wirkt, […] die, die ihm nachfolgen, aus einer Partikularität Gottes in eine Universalität [versetzt], daß ihnen wie Paulus (Apg 9) Hören und Sehen oder wie Petrus (Apg 10) der Appetit vergeht oder wie Jesus selbst die Spucke wegbleibt (Mt 15)“.399 Die Texte, die in den hebräischen Schriften auf den ersten Blick als partikular zu bezeichnen sind, sind vielmehr Texte, die dem jüdischen Volk im interkulturellen Prozess helfen, die eigene Identität im kulturellen Miteinander zu behaupten und im Schaffen neuer kultureller Räume diese eigene Identität fruchtbar zu machen. Aber gerade damit sind die partikular erscheinenden Texte auf Universalität hin ausgelegt. Eine Trennung in partikulare und universale Texte kann es nicht geben, weil sie in diesem kulturräumlichen Überschritt auch die Heiden angehen, die sich von diesen Texten ansprechen lassen und angesprochen werden. Im Übertritt von einem kulturellen Raum in den anderen erfährt auch erst die Botschaft des Evangeliums eine formale Universalität, die ihrer materialen 398

A. FELDTKELLER, „Vom Reichtum der ganzen Bibel. Die Zusammengehörigkeit von Altem und Neuem Testament aus der Perspektive Interkultureller Theologie“, ThLZ 140 (2016) 752-765, 759; [in Folge: A. FELDTKELLER, „Reichtum der ganzen Bibel“]. 399 M. WEYER-MENKHOFF, „Das Alte Testament zu Berlin“, 11. Siehe auch A. FELDTKELLER, „Reichtum der ganzen Bibel“, 758-261.

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Universalität entspricht. Das Evangelium Jesu Christi ist in sich universal für alle Menschen, Juden wie Heiden, muss aber den partikulären Kulturraum Israels durch die Predigt der Apostel überschreiten und sich neue kulturelle Räume erschließen. Das Handeln Gottes ist im Alten Testament oft an Einzelpersonen gebunden, die damit einen kulturellen Raum für andere schaffen. Partikularität und Universalität dürfen daher im biblischen Sinn nicht quantitativ gedeutet werden, sondern stellen eine qualitative Kategorie des Handelns, also eine qualitative Geschichtsfunktion dar, in der das Handeln und Wirken Gottes in der Geschichte und in der Welt ausgedrückt werden sollen. „Partikularität ist doch ein typisches Strukturmerkmal des prototypischen Handelns Gottes. Streiche ich dieses, verliere ich auch die eschatologische Universalität des Heils. Partikularität ist kein Defizit, sondern die uns Menschen allein mögliche Weise, Universalität zu lernen“.400 Was Gott am Einzelnen handelt, das soll für alle gelten; was Gott im Bund Abraham zuspricht, das soll sich auf all seine Nachkommen beziehen (vgl. Gen 15,5-6; 17,1). Selbst wenn man wie N. Slenczka Partikularität dem Volk Israel und Universalität dem Christentum zusprechen will, bedeutet das keineswegs eine strikte Entgegensetzung beider Begriffe. Partikularität und Universalität, wie sie sowohl im Alten als auch im Neuen Testament gegeben sind, schließen sich gegenseitig nicht aus, sondern nehmen den Wirklichkeitsanspruch der Texte an und übersetzen ihn in den Horizont des Glaubens, indem gerade eine theologische Spannung beider Begriffe erarbeitet wird. Der Apostel Paulus folgt in Röm 9-11 einer solchen positiven Partikularität des Volkes Israel, die einer Universalität des Christentums nicht entgegensteht, sondern mit ihr in Verbindung steht. Paulus hält daran fest, dass Gott seine Verheißungen zu seinem Volk hält, da Israel das Volk Gottes ist und bleibt und sich durch diese Zusage von den anderen Völkern unterscheidet. Wie schon das Alte Testament hält das Neue Testament – und auch Paulus – dabei an der Unterscheidung von Volk und Völkern fest. Dort, wo das Neue Testament von Volk spricht, ist immer das Volk Israel gemeint, das sich von den Völkern unterscheidet (vgl. Lk 2,30-32; Apg 10,2; 26,23; Röm 15,10). Paulus bekennt als Jude aber, dass er den Gott Israels nicht nur an das Volk Israel gebunden sieht, sondern ihn auch als den Gott für die Völker (vgl. Röm 3,29) preisen kann. Der Völkerapostel sieht in Röm 1,16; 2,9.10 ein „te prw/ton“ zu Gunsten des Volkes Israel,401 400

M. WEYER-MENKHOFF, „Das Alte Testament zu Berlin“, 14. Weyer-Menkhoff weist auch darauf hin, dass das Verhältnis von partikular-universal nicht evolutiv gedacht werden darf. Gottes partikulares Handeln ist „höchst partikular, ungerecht, sub contrario, aufs höchste wandelbar – und meint doch alle“. Der Begriff der Entwicklung ist dagegen ein Begriff der „Ideologiekiste der Aufklärung“. 401 Siehe dazu K. WENGST, „Einzigkeit Gottes und Einzigkeit jedes Menschen“.

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wobei die messianische Verkündigung des Apostels die Völker dem Volk Israel unterschiedslos gegenüberstehen lässt (Röm 3,22; 10,12). Der Apostel Paulus vermag in seiner theologischen Bewertung „dieser doppelten Vergleichgültigung des Unterschieds zwischen Juden und Nichtjuden, zwischen ‚dem Volk‘ und ‚den Völkern‘“ an der theologischen Bedeutung und Verheißung Israels festzuhalten. Es ist ein Moment der Messianität Jesu, für diese Treue Gottes zu seinem Volk einzustehen, denn die „Partikularität Israels wird von Paulus nicht in eine Universalität aufgehoben. Vielmehr ist Gott ‚im Gesalbten Jesus‘ auch Gott für die Völker gerade als Israels Gott und in seiner bleibenden Bezogenheit auf Israel“.402 Das Volk Israel bleibt geliebt um der Väter willen (Röm 11,28). Damit kann sich das Christentum als Teil des alleinigen neuen Volkes Gottes verstehen, indem es der Universalisierung des Volk-Gottes-Gedankens aus dem Alten Testament folgt. Das Christentum hat mit Paulus die Erwählung des Volkes Israel zu achten und darin ein Gegenüber zu sehen, indem gerade darin die eigene Verheißung in Jesus Christus zum Tragen kommt. K. Wengst unterstreicht dabei, dass sich diese Spannung selbst eschatologisch nicht auflösen wird, sondern dass sich die Messianität Jesu durch seine Auferstehung darin erfüllt, dass Gott alles in allem sein wird (1 Kor 15,28) und alle Völker den Gott des Volkes als ihren Gott erkennen werden.403 Der Apostel Paulus will in seiner Theologie also nie die Partikularität des Volkes Israel im universalen Christentum aufgehen sehen, sondern er vertritt ein spannungsvolles Verhältnis von Volk und Völkern, die verbunden sind durch den Glauben an den einen Gott. Selbst wenn man von einer reinen Universalität des Christentums sprechen will, bedarf diese Universalität der Partikularität des Volkes Israels, um sich immer wieder des Glaubens an den einen Gott zu vergewissern. Partikularität und Universalität stehen in einer theologischen Spannung, die sich gegenseitig bedingt und in der sich die theologische Bedeutung des Gottes für Israel und des Gottes für alle Völker ausdrückt, ohne dass dabei der eigentliche theologische Grundgehalt der Aussage über die je eigene Gottesbeziehung aufgehoben ist.

402

Ebd. Ebd.; K. Wengst weist auch auf die Stelle Apk 21,3 hin, in der im neuen Jerusalem von Völkern gesprochen wird, die auf die Stimme Gottes hören. Den in vielen Handschriften überlieferten Singular von Volk erklärt K. Wengst mit einer nachträglichen christlichen Interpretation, die das Christentum als einziges und alleiniges Volk Gottes verstehen möchte.

403

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1.2.

Das Fremde des Wortes Gottes

Mit dem Begriff des „Fremdelns“ vieler Christen mit dem Alten Testament hat N. Slenczka viel Kritik auf sich gezogen. In seiner Entgegnung auf F. Pieper gestand er jedoch ein, dass der Begriff des „Fremdelns“ von ihm falsch gewählt war und leicht missverstanden werden konnte, weshalb er ihn in weiteren Veröffentlichungen zum Thema des Alten Testaments nicht mehr wiederhole.404 Wenn man im Alten oder Neuen Testament auf Texte stößt, die dem eigenen Glaubensverständnis fremd erscheinen, so kann die Lösung des Fremden nicht darin bestehen, sie aus dem Text heraus zu isolieren. Ein erster Schritt ist die Kontextualisierung des Fremden, um es aus dem größeren Zusammenhang heraus zu verstehen. Es braucht einen hermeneutischen Ansatz, der klar zwischen einer moralischen Wertung und einer theologischen Bedeutung biblischer Stellen unterscheidet. Dazu gehört, dass nach dem konkreten historischen Sinn gesucht wird, um im Dunkel des Fremden und Unverständlichen den Mehrwert dieser Stellen für den Glauben zu finden, der teilweise in verborgener Form in diesen Stellen enthalten sein kann. Neben der historischen Rückfrage an diese Stellen muss jedoch immer auch der Gesamtkontext der Bibel als Hl. Schrift bedacht werden.405 Es ist gerade die Dialektik der Schrift, 404 N. SLENCZKA, „Antwort auf die Stellungnahme“. Mit diesem Verweis distanziert sich N. Slenczka auch von Marcion in aller Deutlichkeit, der gerade mit seinem Dualismus von Schöpfung und Erlösung den Weg dafür frei gemacht hat, dass das Dunkle und der Zorn in die hebräischen Texte hineingelesen wurden. Trotz der Distanzierung greift C. Markschies den Begriff „Fremdeln“ im Jahr 2019 wieder mehrmals auf und spielt auf unsachliche und unwissenschaftliche Art und Weise auf N. Slenczka an. N. Slenczka mit dem „Fremdeln“ mit antisemitischen Vorgängen in der Gesellschaft in Verbindung zu bringen, entbehrt jeglicher Grundlage und muss allein schon mit dem Engagement N. Slenczkas für das jüdische Leben in Deutschland zurückgewiesen werden. Vgl. hierzu die Texte und die Reaktion: DERS., „Zu neuersten Äußerungen von Christoph Markschies“ [https://www.theologie.hu-berlin.de/de/professuren/professuren/st/AT/ neueste-entwicklungen; zuletzt abgerufen am 22.01.2020]. – Zu den für den modernen Bibelleser als „fremd und dunkel“ erscheinenden Begriffen wie „Gottes Zorn“, „Gewalt“, „Sühne“ und „Opfer“ u.a. siehe die erhellende Monographie von B. JANOWSKI, Ein Gott, der straft und tötet? Zwölf Fragen zum Gottesbild des Alten Testaments, NeukirchenVluyn 22014, besonders 319-344, in der er die „heißen Begriffe“ durchdekliniert, sie bibeltheologisch erklärt und in ein „helles und freundliches“ Licht rückt, um ihre eigentliche theologische Bedeutung herauszustellen; [in Folge: B. JANOWSKI, Ein Gott, der straft und tötet?]. G. Theißen unterstreicht die „Lebensfreude vor Gott“ im Alten Testament, die die unterschiedlichen Heilskonzeptionen zusammenfassen, und dabei teilweise über das Neue Testament hinausgehen. Das „Fremde“ im Alten Testament ist einzig die Kehrseite der Freude. Darin kann das Neue Testament vom Alten lernen (vgl. G. THEISSEN, „Eigenwert des Alten Testaments“, 24-26). 405 F. Hartenstein fordert daher zu Recht, dass beide Kanonteile einer „Neubewertung“ unterzogen werden müssen, wenn die Sprache vom Fremden und Dunklen aufkommt. F. HARTENSTEIN, Die bleibende Bedeutung des Alten Testaments, 3-4, hier 4: „Eine heutige Kanonhermeneutik sollte gerade darin ,(gesamt-)biblisch‘ sein, dass sie beide

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die sich in widersprüchlichen und anstößigen Textstellen ausdrückt, die aber darin die Gottesfrage für den Menschen von heute offen halten und teilweise auch durch ein erstes Unverständnis – oder Fremdeln – die Möglichkeit bieten, tiefer in das Geheimnis Gottes vorzudringen. Im Anstößigen und Unverständlichen – gerade alttestamentlicher Texte – finden sich viele Leser biblischer Schriften wieder, indem sie darin die scheinbar unlösbare und provokante Frage nach Gott im Blick auf die Wirklichkeit ausgedrückt finden. Wie kann Theologie und christliche Verkündigung von der Liebe Gottes und seinem Evangelium in Jesus Christus sprechen, wenn die Wirklichkeit von Leid und Ungerechtigkeit gezeichnet ist? Natürlich ist die Theodizeefrage auch eingeschrieben in das Evangelium. Doch deutlicher tritt sie in den schwierigen Stellen der Schrift auf, die zu einer Auseinandersetzung mit Gott und der Wirklichkeit drängen. Schriftauslegung kann als Wirklichkeitsauslegung verstanden werden, insofern sich in ihr die Geschichte Gottes mit den Menschen niederschlägt, die immer wieder im Licht des Glaubens in die Zeit hinein gelesen werden kann. F. Hartenstein plädiert in seiner Auseinandersetzung mit N. Slenczka dafür, das Schriftprinzip nicht nur als das principium protestantischer Theologie zu verstehen, sondern auch als initium des Textverständnisses. Als initium kann das Schriftprinzip gerade für fremde Texte eine Verstehenshilfe sein, da es den Leser dazu führt, sich historisch und hermeneutisch mit den fremden Texten auseinanderzusetzen und damit nach dem Sinn für heute zu fragen.406 Der Leser muss beginnen, dem Fremden in den Texten zu begegnen, um verstehen zu können, denn nicht selten drückt sich in diesen „fremdelnden Stellen“ ein kultur- und zeitbedingtes Fragezeichen aus. Das Schriftprinzip als initium einer Textinterpretation kann hermeneutisches und kulturgeschichtliches Wissen miteinbeziehen, um die Texte richtig einordnen zu können, ohne sie als fremd verwerfen zu müssen. Mit biblischen Schriften ist zu allen Zeiten eine Weltdeutung verbunden, die sich je neu der Aufgabe zu stellen hat, anhand der Teile des christlichen Kanons in ihrem durch die historisch-kritische Forschung besonders profilierten ,Eigenwert‘ herausstellt: Nicht, um das eine vom anderen zu separieren, sondern im Gegenteil, um Altes und Neues Testament in ihrer literar- wie kanonhistorisch unaufhebbaren Wechselseitigkeit vom Standpunkt deutender christlicher Gemeinschaften aus in ihrer Fülle zu verstehen“ (Hervorhebung im Original). Zur Definition „fremder und schwieriger Texte“ siehe ebd. 84-86. 406 Vgl. ebd. 62-69, sowie DERS., „Weshalb braucht die christliche Theologie eine Theologie des Alten Testaments?“, in: E. GRÄB-SCHMIDT – R. PREUL (Hgg.), Das Alte Testament in der Theologie (= MJTh 25), Leipzig 2013, 19-47, wieder aufgenommen und zitiert nach: F. Hartenstein, Die bleibende Bedeutung des Alten Testaments, 15-53, hier 35-37. Siehe auch A. BEHRENS, „Das Alte Testament als Gottes Wort an Christen. Exegese des Alten Testaments in der Perspektive eines erneuerten Schriftprinzips“, LuThK 39 (2015) 201-226, 219; [in Folge: A. BEHRENS, „Altes Testament als Gottes Wort“].

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biblisch bezeugten Gegenwart Gottes die Zeichen der Zeit zu ergründen. Gerade das Fremde des Verstehens hilft das Eigene besser zu erfassen und durch das Fremde erleuchten zu lassen. Wenn Christen schwer verständliche Texte des Alten Testaments von Jesus Christus und seinem Evangelium her lesen, dann werden sie auch erkennen, dass sie in diesen Texten einer Herausforderung begegnen, die das Evangelium Jesu Christi besser und tiefer verstehen lässt; um mit A. Behrens zu sprechen: Das Alte Testament hat „zu einem Verständnis Gottes, des Menschseins und der Welt […] Wesentliches zu sagen. Insofern ist es relevant und normativ für Christen“.407 A. Behrens geht es nicht darum, das Alte Testament an sich als Verkündigung des Evangeliums darzustellen, aber er unterstreicht, dass mit alttestamentlichen Worten Jesus Christus bezeugt werden kann. Das Fremde in den alttestamentlichen Schriften kann dann auch für das Verständnis des Christusgeheimnisses zu einer Vertiefung führen, das zu einem initium der Wirklichkeitserkenntnis wird. Theologie muss sich dem Fremden und Anstößigen aussetzen, um zum rechten Verstehen kommen zu können. In Anlehnung an M. Luther weist N. Slenczka auf „oratio, meditatio, tentatio, Gebet, Bibelbetrachtung und Anfechtung, [als] die drei Grundvoraussetzungen der Theologie“ hin, mit denen das theologische Verstehen als initium wachsen kann.408 In seinen Schriften zum Alten Testament streift N. Slenczka aber nicht die Möglichkeit, dass das Fremde in den alttestamentlichen Texten im Sinne der tentatio gelesen werden kann. Es ist gerade das Unbekannte, das herausfordert und nach dem methodischen Dreischritt zur contemplatio zu führen vermag. Das Fremde hat im Alten und im Neuen Testament seinen Platz und auch seine Bedeutung, indem es die eigenen Überzeugungen immer wieder rückbindet an die Schrift und an das Evangelium, das dann nicht mehr nur initium, sondern wirklich zum principium christlicher Theologie wird. Die Fremdheit biblischer Texte ist und bleibt Herausforderung beim Lesen der Bibel. Die Kirchenväter sahen in diesen Stellen die Aufforderung, die Bibelstellen nochmals und genauer zu bedenken und ihnen ein intensiveres Studium zu widmen, um zum Grund der Glaubensaussage in diesen Stellen zu gelangen.409 Fremdelnde Texte sollen nicht zur Flucht zwingen, sondern wollen zum genaueren Lesen und Verstehen auffordern, aus dem sich dann ein „diskursiver und (selbst-)kritischer Verstehensprozess, der das Fremde

407

Ebd. 219. N. SLENCZKA, „Schrift als Norm und Richtschnur“, 67. 409 Vgl. die Hinweise auf die Kirchenväter bei M. FIEDROWICZ, Theologie der Kirchenväter. Grundlagen frühchristlicher Glaubensreflexion, Freiburg – Basel – Wien 2007, 148-150; [in Folge: M. FIEDROWICZ, Theologie der Kirchenväter]. 408

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in der eigenen Identität als Herausforderung zu einem neuen Selbstverständnis wahrnimmt“, einstellt.410 Viele der Kritiker N. Slenczkas weisen darauf hin, dass das „Fremdeln“ mit den alttestamentlichen Texten zwar stimme, aber nicht zu einer Abkehr von diesen Texten führen müsse. Das Alte Testament ist voll von Texten, die Gewalt und Krieg beschreiben und die den gläubigen Menschen des 21. Jahrhunderts mehr als abstoßen. Aber nicht nur im Alten Testament finden sich Texte, die dieses Gefühl im Menschen hervorrufen. Auch im Neuen Testament gibt es viele Textstellen, die für den modernen Menschen auf den ersten Blick in dieselbe Kategorie des „Fremden“ gehören, mit der N. Slenczka die alttestamentlich-fremden Texte beschreibt, die aber dennoch als Fundament des Glaubens und der Weltdeutung angesehen werden.411 Wenn sich der Berliner Theologe auf die historisch-kritische Methode stützt und damit die Texte heute anschlussfähig machen will, muss geklärt sein, wie der „garstig breite Graben“ von 2000 Jahren Geschichte zwischen dem Evangelium Jesu Christi und der Gegenwart überbrückt werden kann, um die alten Texte als bekannte und für den Glauben bedeutende Texte annehmen zu können. Es drängt sich die Frage auf, ob nicht auch das Kerygma der Kirche in dieser Zeit verfremdet worden sein könnte. Auch das Kerygma muss sich der Anfrage stellen, ob es nicht dem Ergebnis der historisch-kritischen Methode fremd ist bzw. ob nicht ein unvermittelter Sprung vom historischen Ereignis und historischen Sinn in das Kerygma der Kirche 410

M. PIETSCH, „Fremde Gott“, 14. In dieser Richtung argumentiert auch M. OEMING, „Der Kampf um das Alte Testament“, 28, wenn er schreibt, dass die alttestamentlichen Texte eine „anthropologische Nähe“ ausdrücken. Doch hier würde N. Slenczka nicht widersprechen, was auch die Aufnahme seiner (durchaus fruchtbringenden) Predigten über alttestamentliche Texte in seinem Band zeigt. Vgl. N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 337-417. 411 Vgl. F. PIEPER, „Theologieprofessor und Altes Testament“, 17. H. LISS, „An der Sache vorbei“, 8 führt gegen „christliches Fremdeln“ an, dass selbst jüdische Schriftausleger mit den Schriften „fremdeln“, diese Texte aber in ihrer Auslegung transformieren. In diesem Zusammenhang führt die Autorin an, dass in der gesamten Diskussion ein Bild vom Judentum entsteht oder bedient wird, dass mehr eine „Projektion ist, die mit dem Judentum in seinem Selbstverständnis nichts zu tun hat“. Zu einer Versachlichung ruft auch F. W. GRAF, „Hiobs Botschaft“ auf, wenn er schreibt: „So kann man mit beiden Testamenten nur sehr kritisch [im Hinblick auf das Fremde; Anm. d. Verf.], in radikaler Historisierung umgehen, was ihre selektive religiöse Inanspruchnahme nicht ausschließt. Aber die Kunst prägnanter Unterscheidung und die Offenheit für geschichtliches Denken scheinen derzeit nicht zu den Stärken mancher Kirchenfunktionäre, christlichen Universitätstheologen und jüdischen Intellektuellen zu gehören“. M. Pietsch gesteht zwar zu, dass in weiten Teilen von Theologie und Kirche der Eindruck „einer religiösen Differenz zwischen Altem und Neuem Testament“ herrscht, weshalb diese Schriften nicht als unkanonisch gelten müssten. Er weist darauf hin, dass F. Schleiermacher die Entfernung des Alten Testaments für legitim hielt, aber nicht für nötig erachtete. Vgl. M. PIETSCH, „Der fremde Gott. Das Alte Testament und das Wesen des Christentums“, KuI 31 (2016) 3-22, 6 [in Folge: M. PIETSCH, „Fremde Gott“].

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geschieht. N. Slenczka unterstreicht, dass man mit R. Bultmann biblische Texte in zweifacher Weise lesen könne. Zum einen liegen dem Leser die biblischen Texte als Stadien einer Religions-, Geistesund Kulturgeschichte vor. Hierbei können diese Texte historisch analysiert und auf ihre Rezeption und Wirkungsgeschichte hin befragt werden. Zum anderen aber zielt ein Text auf das Hören der Gemeinde, der ihr dann das Selbstverständnis erschießt.412 Mit R. Bultmann ist dies als die geschichtliche Betrachtung biblischer Texte zu sehen. Dennoch bleibt hier offen, wie Bultmann genau den historischen und geschichtlichen Zusammenhang sieht und miteinander vermittelt wissen will. Oftmals wird R. Bultmann vorgeworfen, dass er den geschichtlichen Sinn nur im Glauben ankommend versteht und damit vom historischen Sinn trennt. Um die Einheit von historischer und geschichtlicher Sinnebene zu wahren, muss die geschichtliche Befragung der Texte an deren historischen Sinn gebunden bleiben, der das Kerygma der Urkirche geprägt und getragen hat. Der Anspruch des bultmannschen Kerygmas hat in sich die Kraft, fremd wirkende Texte in das Kerygma zu integrieren und für den Glauben bedeutend werden zu lassen, wenn im Kerygma auch der historische Bezug zum Tragen kommt. Der geschichtliche Charakter des Evangeliums hat seine Bedeutung darin, dass er den Glauben wecken und stärken soll, aber das Kerygma ist selbst in seiner Annahme wiederum historisch verankert. Damit steht das Kerygma als geschichtliches Ereignis in Kontinuität zum historischen Faktum, von dem es nicht befreit werden muss. Altes und Neues Testament bezeugen auf ihre je eigene Art und Weise, dass Gott geschichtlich handelt, indem er gerade historisch in seinem Bund mit Israel und in seinem Wirken durch Jesus Christus begreifbar wird. Nur dann kann das Kerygma der Kirche glaubens- und lebensrelevant sein, wenn es sich auch der historischen Implikationen bewusst ist.413 412

Vgl. N. SLENCZKA, „Differenz tut Not“, 9-10. C. Markschies argumentiert dahingehend, dass in protestantischen Theologie bereits bei M. Luther einen „Hochmut der Theologen“ ausmacht werden kann, der mit Hilfe des Schriftprinzips versucht, nur noch den Teil der Schrift akzeptieren zu wollen, der „die reformatorische Theologie besonders gut argumentativ zu unterlegen“ versteht. Vgl. C. MARKSCHIES, „Sola scriptura“, 401-402. 413 Vgl. M LOERBROKS, „Blessing in Disguise“, 34. Auch W.-R. SCHMIDT, „Fundamente berührt. Warum eine evolutionär ausgerichtete Theologie nötig ist“, Zeitzeichen 16 (2015) 45-47, 47 kritisiert N. Slenczka und seine Bultmann-Interpretation. Er schreibt, dass N. Slenczka mit R. Bultmann nach einem übergeschichtlichen Wort Gottes fragt, das zwar religionsgeschichtlich interessiert ist, jedoch die Historizität für den Glauben als irrelevant ansieht. „Es ist eben alles ‚vergangene Geschichte‘ […]. Glauben ist ein heutiges Ereignis und habe nichts mit einem vergangenen, historischen Ereignis zu tun“. In diese Richtung geht auch die Kritik von K. MÜLLER, „7 Leitsätze“, 26: Die ganze Debatte „geht letztlich um die Debatte über christliche Identität, über das Verhältnis des

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Der Verstehensprozess fremder Texte verbindet den Leser mit den Texten historisch und geschichtlich, fordert ihn aber heraus, da er damit dem Text nicht mehr rein objektiv gegenüber steht. Im Lesen und Verstehen läuft ein hermeneutischer Rezeptionsvorgang ab, der den Leser in eine „Textwirkungshermeneutik“ einfügt414 und ihn in die Pflicht nimmt, den Sinn der Texte im Rezeptionsakt zu erschließen. Der Leser steht dem Fremden gegenüber, vermag aber im Rezeptionsprozess das Fremde in die Einheit der Schrift und des evangeliumsgemäßen Glaubens zu integrieren, da sich dadurch ein Sinn erschließt, der über den rein historischen Sinn hinausweist und das Fremde oder das schwer Verständliche in den Gesamtzusammenhang des Glaubens aufnimmt. 1.3.

Das eine Wort Gottes im Zeugnis von Judentum und Christentum

F. Pieper zeigt sich in seinem ersten Beitrag zu N. Slenczka „fassungslos“, dass der evangelische Theologe davon sprechen könne, dass die alttestamentlichen Schriften einen „anderen Gott“ verkündigen, da sie nicht zum Christentum sprächen.415 Gerade der christlich-jüdische Dialog verständigt sich dagegen darauf, dass das verkündigenden Jesus zum verkündigten Christus, über das Verhältnis einer Jesulogie zur Christologie, einer Christologie von unten bzw. von oben. Hier sind fundamentale theologische Entscheidungen impliziert: Für mich gehört Jesus von Nazareth nicht wie bei Bultmann zu den Voraussetzungen und Vorstufen der christlichen Verkündigung, sondern zu ihrem Wesenskern dazu“ (Hervorhebung im Original). 414 H. ASSEL, „So schwer wie nötig! So schwierig wie möglich? – Hermeneutik einst und jetzt. Was Bibeltexte fremd belässt und was sie unnötig schwierig macht“, VF 58 (2013) 82-110, 95. In die Richtung der „Textwirkungshermeneutik“ argumentiert auch U. H. J. KÖRTNER, Der inspirierte Leser. Zentrale Aspekte biblischer Hermeneutik, Göttingen 1994, 88-113, indem er die Rezeptionsästhetik mit dem vierfachen Schriftsinn zusammendenkt; [in Folge: U. H. J. KÖRTNER, Der inspirierte Leser]. 415 F. PIEPER, „Theologieprofessor und Altes Testament“, 17-18. Mit F. Hartenstein weist F. Pieper darauf hin, dass es für M. Luther selbstverständlich war, mit der ganzen Christentumsgeschichte zu glauben, dass sich in den Texten des Alten und Neuen Testaments ein und derselbe Gott ausspreche. Wenn sich N. Slenczka also immer wieder auf den Reformator und seine Theologie beruft, bleibt die unausgesprochene Frage, warum er ihm nicht darin folgen wollte. Gegen den Vorwurf des „anderen Gottes“ verwehrt sich N. Slenczka: „Ich habe von ‚dem fremden Gott‘ gesprochen, um das Problem zu kennzeichnen, das mit dem historischen Umfang mit dem AT auftritt und habe das nicht als meine These, sondern als das Problem apostrophiert, vor dem die genannten Positionen sich gestellt sehen. […] Nein, ich bin nicht der Meinung, daß im AT ein fremder Gott spricht. Ich höre da, wenn ich es als Christ lese, den Gott zu mir sprechen, der sich in Jesus Christus offenbart. Da bin ich ganz auf der Seite Bultmanns. Aber er [Gott; Anm. d. Verf.] spricht anders als in Jesus Christus“. N. SLENCZKA, „Antwort auf die Stellungnahme“. J. Kegler sieht im Glauben an den einen Gott das „wohl gewichtigste theologische Argument“ für die Einheit der Schrift. Vgl. J. K EGLER, „Die Bedeutung des Alten Testaments für den christlichen Glauben“, LuThK 39 (2015) 227244, 231.

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eine Wort Gottes von zwei Religionsgemeinschaften unterschiedlich interpretiert werden kann. Aber in der unterschiedlichen Interpretation sei dennoch das eine Zeugnis für diesen Gott und sein Wort gegeben. Für das Christentum ist das Zeugnis für den einen Gott nicht nur durch das Bekenntnis Jesu gegeben, der den Gott der Juden als seinen Vater ansprach (vgl. Mt 6,9; Gal 4,6), es ist auch die Kontinuität und Identität der Offenbarung, die dieses gemeinsame Zeugnis verlangt. Das Neue Testament kennt keine neuen Schöpfungserzählungen, sondern setzt die theologischen Überzeugungen der hebräischen Schriften für das Verständnis dessen voraus, was in Jesus Christus fortgeführt wird.416 Erst mit den Schriften Israels kann auch die Christologie verstanden werden, da sich in ihnen der theologische Grundgehalt von Schuld und Erlösung andeutet und ausspricht. Paulus formuliert das erste Bekenntnis für die Auferstehung mit alttestamentlichen Worten und Bezügen (vgl. 1 Kor 15,3-5). In diesem Sinne ist F. Crüsemann Recht zu geben, wenn er schreibt: „Nur weil das Alte Testament vorgegeben ist, kann überhaupt von Christus geredet werden, nur weil und wenn es geltendes Gotteswort ist, hat das, was mit Jesus geschieht, etwas mit Gott und Gottes Wahrheit zu tun“.417 M. Weyer-Menkhoff geht sogar 416

Vgl. B. S. CHILDS, Theologie der einen Bibel 2, 60-67. F. CRÜSEMANN, „Ist der Satz ‚Das Alte Testament ist der Schlüssel für das Neue‘ umkehrbar?“, JK 77 (2017) 11-13, 11; [in Folge: F. CRÜSEMANN, „Schlüssel für das Neue“]. In diesem Sinne dürfte auch B. S. Childs zu interpretieren sein, der in der Kontinuität von Altem und Neuem Testament eine theologische Verwiesenheit des Neuen auf das Alte sieht. Gerade weil sich die Verfasser in Kontinuität zum Alten Testament sehen, können sie in ihrer Entwicklung besonders der Christologie auf das alttestamentliche Gottesbild zurückgreifen. Vgl. B. S. CHILDS, Theologie der einen Bibel 2, 26-29. G. HOLTZ, „Evangelische Kirche und Altes Testament“, 22 spricht sogar von einem Mehrwert des Alten Testaments gegenüber dem Neuen. Das Neue Testament ist christologisch konzentriert und braucht vieles gar nicht zu schreiben, da es im Alten Testament theologisch ausgearbeitet ist und sich die neutestamentliche Theologie darauf beziehen kann. Wichtig für das Verständnis der ersten christlichen Generationen, aber auch für die christliche Theologie insgesamt ist in diesem Zusammenhang C. DOHMEN – C. OEMING, Biblischer Kanon, 106-107: „Diese Durchdringung von Freiheit neuer religiöser Erfahrung und schriftgelehrter Rückbindung an Vorstellungen und Sprache der bewährten Tradition ist ein Fundamentalprinzip der Theologie des Neuen Testaments. Geprägte Fortschreibung erweist sich sogar als Fundamentalprinzip von Theologie überhaupt“ (Hervorhebung im Original). Siehe auch S. FELBER, „Zur Autorität des Alten Testaments“, in: C. HERRMANN – E. HAHN (Hgg.), Festhalten am Bekenntnis der Hoffnung, FS für Reinhard SLENCZKA, Erlangen 2001, 25-40. S. Felber spricht davon, dass der Bezug auf die Schriften bei Jesus nicht nur als „Akkommodation ad hominem“ war, sondern dass die Worte der Schrift die Worte waren, mit denen er lebte und starb. Es geht bei einer christlichen Lektüre der alttestamentlichen Texte auch darum zu zeigen, ob man dem Gott Jesu Christi, den Gott des Alten Bundes, glaubt, der durch die Propheten gesprochen hat. In Jesus Christus wurde seinen Jüngern die Schrift und der Glaube ein zweites Mal geschenkt, das für die Jünger eine „geistgewirkte und heilsnotwendige Bewegung“ war. Es ist auch nicht zu unterschätzen, dass gerade der sog. third quest der Leben-Jesu-Forschung Jesus wieder als Jude sieht und beschreibt und sich damit von 417

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so weit, dass das Neue Testament, abgesehen von der Offenbarung des Johannes, nichts anderes sei als die Auslegung des Alten Testaments.418 Das Neue Testament spricht von theologischen Themen und Inhalten, die im Alten Testament zu finden sind. Die ersten Christen nahmen für sich sogar in Anspruch, dass sie als autoritative Exegeten der Schrift arbeiteten, dabei kontrovers mit der Schrift umgingen und sich damit von einer bisherigen Schrifthermeneutik absetzten. Das zeigt sich auch darin, dass zentrale Begriffe wie Gnade, Wahrheit, Gerechtigkeit, Bund, Menschensohn oder Christus ohne das Alte Testament für das Christentum nicht zu denken sind, aber in christlicher Deutung eine Bedeutungserweiterung erhielten.419 Christliche Theologie übernimmt die hebräischen Worte mit ihren Inhalten und übersetzt sie im Neuen Testament in das Griechische. Diese wesentlich theologische Bedeutung der hebräischen Schriften drückt sich auch darin aus, dass das neutestamentliche Griechisch für hebräische Schlüsselbegriffe auch Neologismen oder Transkriptionen wie o`lokau,twma, avkrobusti,a, R. Bultmann absetzt, der Jesus Christus einzig aus dem Kerygma der Urkirche verstanden wissen wollte. Vgl. G. S. OEGEMA, „Der historische Jesus und das Judentum“, in: U. H. J. KÖRTNER (Hg.), Jesus im 21. Jahrhundert. Bultmanns Jesusbuch und die heutige Jesusforschung, Neukirchen-Vluyn 2002, 61-90, 73-75; [in Folge: G. S. OEGEMA, „Jesus und das Judentum“] und E. ZENGER, Das Erste Testament. Die jüdische Bibel und die Christen (= Topos-Taschenbücher 760), unveränd. Nachdr. der vierten Aufl., Kevelaer 2011, 19; [in Folge, E. ZENGER, Das Erste Testament]. G. Theißen unterstreicht, dass Jesus voll und ganz in der Bibel Israels lebte, auch wenn er sie nicht ständig zitiert. Darum ist es ein nicht haltbares Vorurteil, alle hebräischen Zitate dem Frühchristentum zuzusprechen. Vgl. G. THEISSEN, „Eigenwert des Alten Testaments“, 16. Siehe auch M. BLUM, „Juden und Christen beten den gleichen Gott an“, in: R. KAMPLING – M. WEINRICH (Hgg.), Dabru emet – redet Wahrheit. Eine jüdische Herausforderung zum Dialog mit den Christen, Gütersloh 2003, 58-66. Dabei hebt der Autor bei der ersten Aussage von Dabru emet – redet Wahrheit die Kontinuität hervor, dass der Gott Israels der Gott der Christen bleibt, wobei das Neue des Christentums dann darin besteht, dass der Gott Israels der Gott der Christen ist. In der Spannung von Bleiben und Sein muss dann auch das abba-Wort Jesu verstanden werden, das gerade nicht ein Trennendes zwischen einem alten und einem neuen Gottesbild aufbaut, sondern im Verhältnis von bleibendem Anspruch des gemeinsamen Glaubens in der Neuformulierung der Gottesbeziehung ist. T. Söding unterstreicht, dass selbst hellenistische Begrifflichkeit nur das Evangelium zu verkünden vermag, da es „auf das Koordinatensystem schriftgemäßer Gottesrede projiziert und dort in ihrem Ort wie ihrer neuen Bedeutung bestimmt werden“ kann. T. SÖDING, „Heilige Schriften für Israel und die Kirche. Die Sicht des ‚Alten Testamentes‘ bei Paulus“, MThZ 46 (1995) 159-181, 175; [in Folge: T. SÖDING, „Heilige Schriften“]. 418 M. WEYER-MENKHOFF, „Altes Testament zu Berlin“, 10-12. 419 J. SCHRÖTER, „Im Horizont der Schriften Israels. Die Bibel Alten und Neuen Testaments als Grundlage christlicher Tradition und Kirche“, EpdD 47 (23/2015) 43-44, 43; [in Folge: J. SCHRÖTER, „Im Horizont der Schriften Israels“]. M. OEMING, „Eigenwert des Alten Testaments“, 307. Dies hält dagegen N. Slenczka für ein „schwaches Argument“ gegen seine Position, „gerade weil und indem sie Christus von ihnen [den alttestamentlichen Schriften; Anm. d. Verf.] her lesen“. Siehe DERS., Vom Alten Testament und vom Neuen, 160.

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yeudoprofh,thj oder pa,sca, satana/j, sa,bbaton oder abba findet. Am deutlichsten zeigt sich dieser Rezeptionsvorgang an der Übertragung des Gottesnamens JHWH mit ku,rioj.420 Dabei kommt es aber nicht zu einer Absetzung im Inhalt, sondern zu einer weiteren Fortführung und zu einem Weiterdenken, wobei der alttestamentliche Inhalt Voraussetzung für dieses Verstehen ist. Hat das Christentum in den ersten Jahrhunderten mit philosophischen Begriffen die Wirklichkeit Jesu Christi auszusagen versucht, so hat es dabei aber nie von den alttestamentlichen Schriften abgelassen, sondern alle christologischsoteriologischen Aussagen auf dem Hintergrund dieser Schriften entwickelt. Diese „ontologische Tiefenstruktur“421 des Christentums, die sich aus dem Alten und Neuen Testament heraus entwickelt, ist rückgebunden an die Identität und die Einzigkeit Gottes, weil sich gerade die ontologischen Aussagen über Jesus Christus nur in Beziehung zu seiner Präexistenz aussagen lassen, da sich in ihm die Geschichte Gottes mit den Menschen erklärt. Die Einheit und Einzigkeit Gottes ist die Fundamentalstruktur der Verkündigung Jesu Christi, die sich in der Verkündigung der Apostel und der jungen Kirche weiterträgt. Die kanonischen Schriften Israels sind die kanonischen Schriften dieser Verkündigung. Weil das junge Christentum an dem Glauben der Einheit und Einzigkeit Gottes, wie Jesus ihn verkündet und sich mit ihm eins weiß, festhält, ist die Entstehung der zweieinen Bibel 420 Vgl. J. SCHRÖTER, „Das Alte Testament im Urchristentum“, in: E. GRÄB-S CHMIDT – R. PREUL (Hgg.), Das Alte Testament in der Theologie (= MJTh 25), Leipzig 2013, 5081, 69-70; [in Folge: J. SCHRÖTER, „Altes Testament im Urchristentum“]. J. Schröter weist auch darauf hin, dass das neutestamentliche Griechisch oft versucht das Hebräische nachzuahmen, warum man auch von „Semitismen“ und „Biblizismen“ im entstehenden christlichen Kanon sprechen kann. Es ist dann hierbei E. Zenger zuzustimmen, wenn er schreibt: „Die beiden Testamente lassen sich nicht auseinander dividieren. Sie sind durch ihre Sprache und durch ihre Botschaft so sehr verschränkt, daß die Schläge gegen das eine immer auch das andere treffen. Und wer das Problem mit ,Läuterungen‘ oder ,Streichungen‘ bestimmter Teile des ,Alten Testaments‘ lösen will, muß es dann schon wie Markion machen: Dann muß munter im Neuen Testament mitbeschnitten werden“. E. ZENGER, Das Erste Testament, 44. Auch T. SÖDING, Einheit der Heiligen Schrift?, 255-256. F. Hartenstein möchte im gemeinsamen jüdisch-christlichen Sprachfeld, besonders im Kyrios-Titel Jesu die Verschränkung beider Testamente begründet sehen, die gegen die markionitische Option steht, da der Schöpfergott und Jesus Christus eine „doppelte Mitte“ beider Testamente eröffnet: „Man kann also von einer ,doppelten Mitte‘ der christlichen Bibel sprechen, die stereoskopisch (wie in einem synthetischen Parallelismus membrorum) den Schöpfergott und den Erlöser Jesus Christus übereinander blendet“. Vgl. F. HARTENSTEIN, Die bleibende Bedeutung des Alten Testaments, 124-125, hier 125 (Hervorhebung im Original) und M. WITTE, Jesus Christus im Alten Testament. Eine biblisch-theologische Skizze (= SEThV 4), Wien 2013, 22-25; [in Folge: M. WITTE, Jesus Christus im Alten Testament]. C. Dohmen weist darauf hin, dass die Urkirche „durch die Christusverkündigung die Autorität der Bibel Israels als Wort Gottes geradezu festgeschrieben hat“. Vgl. C. DOHMEN, „Hermeneutik des Alten Testaments“, 146. 421 M. OEMING, „Biblische Theologie“, 85.

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nicht eine künstliche Zusammenstellung, sondern die notwendige Genese aus der Verkündigung und dem Glauben selbst. Das Neue Testament ist Heilige Schrift und kanonisch, weil es nicht nur aus dem Glauben, sondern im Glauben der Schriften Israels steht und damit in Einheit bleibt.422 Allein schon die theologiehistorische Verbindung vom Alten zum Neuen Testament kann nicht als Bruch, sondern als gemeinsames Bekenntnis gelesen werden, welches die Tradition als Moment der Schriftwerdung nicht nur voraussetzt, sondern im Entstehen der Schrift und der beiden Kanones als innerlich verbindend darstellt. Auch wenn das Christentum und das Judentum Begriffe unterschiedlich auslegen, bildet der Glaube an den einen und einzigen Gott für diese Begriffe die gemeinsame Referenz und stellt den Leser vor die Entscheidung, die nochmals durch eine dogmatische Größe beeinflusst ist: „Entweder akzeptiert er [der Leser beider Testamente; Anm. d. Verf.] den Anspruch des Gottes, von dem die Bibel spricht, und er überlässt sich dem Anspruch und der Gnade dieses Gottes – oder die Bibel wird ihm nur oberflächlich und allenfalls selektiv etwas zu sagen haben“.423 Aber nicht nur theologische Konzepte und Begriffe werden im Neuen Testament und in christlicher Theologie fortgeführt. Das Gottesbild des Neuen Testaments ist das Bild des Gottes Israels. Jesus verkündet in seinem Evangelium keinen anderen Gott als den Gott der hebräischen Schriften. Wenn das Neue Testament im Gegensatz zum Alten einen neuen Aspekt des Gottesverständnisses wie den Geist 422

Vgl. C. DOHMEN, Dohmen, C., „‚Libri Veteris Testamenti integri in praeconio evangelico assumpti‘ (Vat. II DV 16). Der erste und größte Teil der christlichen Bibel in katholischer Sicht“, JBTh 31 (2018) 67-84, 71-72. C. Dohmen weist auch darauf hin, dass die Vorstellung der zweieinen Bibel keine Erfindung der christlichen Kirche sei, sondern bereits im hebräischen Kanon aus der Einheit von Tora und Propheten stammt, wobei viele Weisheitsschriften zu den Propheten gerechnet wurden. Vgl. DERS., „Der erste und größte Teil der christlichen Bibel“, 72-73. 423 M. GERHARDS, Protoevangelium. Zur Frage der kanonischen Geltung des Alten Testaments und seiner christologischen Auslegung (= SBS 237), Stuttgart 2017, 25; [in Folge: M. GERHARDS, Protoevangelium]. Siehe auch zum Buch M. Gerhards‘ die Replik N. SLENCZKA, „Einwände und Antwortversuche“, 4-33. Darauf antwortete M. Gerhards mit einem Schreiben, das auf der Homepage von N. Slenczka veröffentlicht ist: M. GERHARDS, „Zu Kritik und Anfragen von Notker Slenczka an mein Buch ‚Protoevangelium‘“; [https://www.theologie.hu-berlin.de/de/professuren/professuren/ st/AT/texte-zur-debatte-seit-2017-2/gerhards/view; zuletzt eingesehen am 25.03.2019; in Folge: M. GERHARDS, „Zu Kritik und Anfragen“]. Die Lösung, die alttestamentlichen Texte der Weltliteratur als vorchristliche Gotteserfahrung zuzuordnen, sieht M. Gerhard kritisch, da sehr schnell deutlich wird, dass die Weltliteratur oftmals aktueller und bedeutender erscheint als biblische Texte. Vgl. ebd. 23. Gegen die Kanonisierung großer Weltliteratur, selbst wenn sie Jesus Christus näher sind als alttestamentliche Schriften, macht N. Slenczka geltend, dass es um eine unüberbietbare Ursprungsnähe zu Jesus von Nazareth geht, die den kanonischen Faktor ausmacht und die der Weltliteratur nicht zukommt. Siehe N. SLENCZKA., „Wer braucht das Alte Testament“, 3.

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einführt, dann ist dies nicht als Absetzung zu verstehen, sondern aus dem Glauben heraus, dass dieser Geist Gottes vom Gott Israels gesandt ist. Es ist die in den ersten Generationen einsetzende philosophischtheologische Reflexion, die die Verkündigung Jesu tiefer durchdringt und neu erschließt. Das Neue Testament verkündet den Geist des Gottes Israels, der die Menschen an den Juden Jesus glauben lässt (vgl. Röm 8,14-16). Dieser Glaube ist mit den Worten und Inhalten ausgelegt, die sich auf den Gott Israels beziehen. Gerade die Bindung des Neuen an das Alte Testament verhilft diesem Glauben an Jesus von Nazareth dazu, dass es der Glaube an das Wort Gottes bleibt.424 Der Bezug der neutestamentlichen Schriften auf die hebräischen Schriften ist kein nachträglicher Autorisierungsvorgang, der das neu Entstandene nachträglich durch Zitate und Verweise plausibilisieren möchte, sondern dieser Anspruch kommt aus dem Leben Jesu selbst. Mit der third quest wurde in der Exegese der Anspruch erhoben, die Person Jesus von Nazareth und sein Leben nicht in Absetzung, sondern in Beziehung zum Judentum zu lesen und zu verstehen, zu dem er als erstes gesandt ist (vgl. Mt 15,24).425 Erst in einem zweiten Schritt wird 424 Vgl. M. WEYER-MENKHOFF, „Altes Testament zu Berlin“, 11. Er erinnert in Anspielung an M. Luther: „Das NT ist nur ein Spickzettel für geistvergessene oder geistbesoffene Leute, so 1522 auf der Wartburg Junker Jörg alias Martin L. Geistvergessen meint Leute, die sich an die Nähe, Worte und Taten Jesu erinnern lassen müssen. Geistbesoffen: Leute, die so fromm und charismatisch sind, daß sie ‚vor Andacht schmatzen‘ (Luther); diese würden durch das geschriebene Wort, so sie es denn läsen, wieder recht nüchtern werden. […] Das AT ist für Jesus wie für das NT von grundlegender, nicht geschichtszufälliger Wesentlichkeit“. 425 Siehe dazu u.a. W. STEGEMANN, Jesus und seine Zeit (= BE(S) 10), Stuttgart 2010, 153-295. M. WEYER-MENKHOFF, „Das Alte Testament zu Berlin“, 11: „Das Neue des NT ist nicht ein Was, sondern ein Wie: Wie der Gott Israels uns Menschen nahe kommt, nämlich in einer Weise, von der das AT nicht einmal zu träumen wagt, Gott wird Mensch, mehr noch, und typisch partikular, Gott wird Jude“. Gerade das Verständnis Jesu Christi mit Hilfe der jüdischen Schriften muss als das Verbindende gesehen werden, auch wenn das christliche Verständnis von Gottes Wort über das des Judentums hinausgeht. Für das Judentum ist vor allem Gottes Wort in der Erfahrung der Weisung Gottes gegeben, die Geschichte schafft und prophetisch wirkt. Das christliche Verständnis des Wortes Gottes ist in der Person Jesu von Nazareth grundgelegt, der die Offenbarung und Offenbarkeit des Wortes Gottes ist und sich darin auf die Schriften Israels bezieht. Vgl. dazu J. FREITAG, „Wort Gottes verstehen?“, 57. In diesem Zusammenhang ist auch die christologische Frage zu stellen, inwiefern sich Jesus selber als Messias verstanden hat und dahingehend in Beziehung zu den hebräischen Schriften stand, oder ob die neutestamentliche Christologie erst eine Gemeindebildung war. Dieser Frage stellt sich M. HENGEL, „Zur historischen Rückfrage nach Jesus von Nazareth. Überlegungen nach der Fertigstellung eines Jesusbuches“, in: P. KUHN (Hg.), Gespräch über Jesus. Papst Benedikt XVI. im Dialog mit Martin Hengel, Peter Stuhlmacher und seinen Schülern in Castelgandolfo 2008, Tübingen 2010, 1-29. Ist Jesus als ein jüdischer Rabbi zu verstehen, der eine Jüngerschule um sich sammelte und damit dem Beispiel der Propheten folgte, oder hat er sich selber als Sohn Gottes und als der Messias verstanden, wie es die Evangelien im Petrusbekenntnis Mk 8,7; 16,16 darstellen. M. Hengel weist darauf hin,

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diese Verkündigung auf die nicht-jüdischen Völker in der Verkündigung der ersten christlichen Generationen übertragen. Die Verkündigung über die Grenzen Israels hinaus setzt sich dann aber nicht vom Alten Testament ab, sondern bleibt stets gekoppelt an das, wovon es seinen Ausgang nahm und was es interpretiert. Fragt heute alttestamentliche Theologie immer wieder nach der Mitte der biblischen Schriften oder nach einer biblischen Theologie, so ist sie gerade im Glauben an den einen Gott zu finden, der das Alte Testament mit dem Neuen Testament verbindet, ohne das jeweils Eigene vom jüdischen und christlichen Glauben auszuschließen. Der hermeneutische Schlüssel für die Einheit von Altem und Neuem Testament ist der Glaube an diesen einen Gott, indem dieser Glaube im Gegensatz zu einer rein historischen Hermeneutik eine theologische Hermeneutik einführt, die die Pluralität dieses Glaubens in der Einheit der Schriften zu umfangen weiß. Eine theologische Hermeneutik vermag dann Offenbarung und Geschichte, wie sie in allen biblischen Schriften bezeugt wird, im Glauben an den einen Gott Jesu Christi zu ergründen. Christliche Theologie ist daher auf das Alte Testament angewiesen, da erst im spannungsreichen Zueinander von Altem und Neuem Testament die Offenbarung Gottes mit der konkreten Geschichte verbunden ist.426 dass man dieses Bekenntnis „weder im Detail historisierend rekonstruieren noch ihn einfach hyperkritisch als ‚Gemeindebildung‘ eliminieren kann“ (28-29). Es muss sich bei dem Messiasbekenntnis um ein vorösterliches Bewusstsein handeln, wenn man die Passionserzählungen ernst nehmen möchte. Der Messiasbezug ist Anklage und Todesurteil für Jesus, der nicht von Pilatus, Kajaphas oder Hannas stammen kann, wie wenn sie die Erfinder der Christologie wären. „Der Anstoß dazu [zum Messiasverständnis Jesu; Anm. d. Verf.] muss letztlich im Wirken und Verhalten Jesu selbst liegen“ (22). Das Schicksal Jesu entscheidet sich daran, dass er sich selbst als der Messias verstand und das Petrusbekenntnis diesem Selbstverständnis Ausdruck verlieh. Das unterstreicht auch die Einsicht, dass diese frühe Christologie „in ihren Grundbestandteilen jüdischen Charakter“ hat. DERS., „Das früheste Christentum als eine jüdische messianische und universalistische Bewegung“, in: DERS., Judaica, Hellenistica et Christiana. Kleine Schriften II (= WUNT 109), Tübingen 1999, 200-218, 209; [in Folge: M. H ENGEL, „Das früheste Christentum“]. Dass „die ‚hohe‘ Christologie des Urchristentums keine Infragestellung, sondern eine spezifische Weiterentwicklung und Modifikation des jüdischen Monotheismus darstellt“, dies aber keine Relativierung bedeuten dürfe, darauf weist hin: J. SCHRÖTER, „Altes Testament im Urchristentum“, 55. Siehe auch E. K. BROADHEAD, Jewish ways of following Jesus. Redrawing the religious map of antiquity (= WUNT 266), Tübingen 2010, 62-79; [in Folge: E. K. BROADHEAD, Jewish ways of following Jesus]. Der Autor macht aber auch darauf aufmerksam, dass Jesus durch sein galiläisches Leben nicht durch ein streng rabbinisches Leben oder einen strengen Tempelkult geprägt war. Dennoch gelte: „As a consequence, all description of the historical figure of Jesus must begin and end with his profile as a Jewish prophetic figure“ (79). 426 Vgl. F. HARTENSTEIN, Die bleibende Bedeutung des Alten Testaments, 15-17. H.-J. FABRY, „Ein Gott – zwei Testamente – drei Kanones. Kanon-theologische Überlegungen zu Einheit und Vielfalt biblischer Theologie“, in: R. BOSCHKI – A. GERHARDS (Hgg.), Erinnerungskultur in der pluralen Gesellschaft. Neue Perspektiven für den christlich-

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Die neutestamentlichen Schriften konstruieren keinen künstlichen Gegensatz zu den Schriften Israels. „Das Christliche trägt von Anfang an“ – wie A. Deeg schreibt – „und bleibend die Signatur des Jüdischen, ist eingeschrieben in eine Geschichte, die zugleich die Geschichte einer anderen Religion ist“; das Alte Testament ist „konstitutiv für christliche Identität“.427 In der konstitutiven Bedeutung liegt dann auch das gemeinsame Zeugnis für den einen Gott. Dieses ist konstitutiv für das Christentum, obwohl es sich darin zugleich beheimatet und davon abgesetzt erfährt, insofern das Bekenntnis des Wortes Gottes das Verbindende und zugleich das Trennende ist. Jedoch kann diese Spannung nicht dadurch gelöst werden, dass das Alte Testament in seiner Normativität abgewertet wird. Die Spannung des Wortes Gottes muss im gemeinsamen Zeugnis eschatologisch aufgelöst werden. Darum ist A. Deeg zuzustimmen, dass „das jüdische ‚Nein‘ zu Jesus als dem Christus‘ […] ein beständiger Teil christlicher Identität [ist], der mit dem christlichen ‚Ja‘ in Spannung steht“.428 Aber diese Spannung des gemeinsamen Zeugnisses kann auch hilfreich sein, insofern sie immer wieder von Neuem die Frage offen hält, was das Wort Gottes bedeutet und wie Jesus als der Christus im Wort Gottes und als Wort Gottes verstanden werden kann. Dies drückt sich dadurch aus, dass das jüdischen Dialog (= SJCh), Paderborn 2010, 113-128, 114-115, der die Spannung von Pluralität im Monotheismus als genuin ansieht, wenn er schreibt: „Das wirklich Schwierige am Monotheismus ist die Notwendigkeit, Gegensätzliches zusammen denken zu können. Das ganze Alte Testament gibt Zeugnis für diesen Kampf im Menschen um die Frage nach dem einen Gott oder den vielen Göttern. […] Im Wissen um diese Problematik lassen sich beide Testamente zusammensehen, da die Bibel selbst bereits mit der Ambivalenz des Gottesbildes gerungen hat“ (115); [in Folge: H.-J. FABRY, „Ein Gott – zwei Testamente – drei Kanones“]. Dagegen argumentiert E. Brocke, da für die Autorin die jüdischen Schriften der Rahmen für eine Gesellschaftsordnung sind, und damit eine „Kettenfunktion“ erfüllen, die die Generationen in dieser Gesellschaft miteinander verbindet. Wer nicht in dieser Ordnung steht, für den müssen dann zu Recht diese Schriften fremd sein, da es eine fremde Geschichte ist. Vgl. E. BROCKE, „Auch Aneignung ist Ablehnung. Eine jüdische Stimme zum christlichen Diskurs über das ‚Alte Testament‘“, KuI 31 (2016) 23-32. 427 A. DEEG, „Zwei-eine Bibel“, 43. Siehe auch F. HARTENSTEIN, Die bleibende Bedeutung des Alten Testaments, 63: „Für die implizite Grammatik und Semantik des altkirchlichen Kanons ist die Identität des Gottes des Alten wie des Neuen Testaments als des einen Schöpfers der Welt und der Menschen entscheidend, der zugleich als Gott Israels und Vater Jesu Christi galt“ (Hervorhebung im Original). Siehe auch J. SCHRÖTER, „Im Horizont der Schriften Israels“, 43-44, worin er das Christentum als „spezifische Fortsetzung der Geschichte Gottes mit Israel“ bezeichnet. Vgl. auch E. ZENGER, Das Erste Testament, 147-148. Darum kann auch C. Dohmen von einer Korrelation beider Testamente sprechen, die sich gegenseitig nichts nehmen, sondern in der das Alte Testament als Fundament des Neuen gesehen wird und damit eine besondere Bedeutung bekommt. Vgl. C. DOHMEN, „Text und Kon-Text“, 11-28, 14-20. Ebenfalls für die Korrelation argumentiert M. GERHARDS, Protoevangelium, 100. 428 A. DEEG, „Zwei-eine Bibel“, 43. Zu dieser Spannung gehört dann auch, dass Altes und Neues Testament den „‚Wahrheitsraum‘ des christlichen Glaubens“ bilden. Siehe dazu M. PIETSCH, „Fremde Gott“, 15-16.

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eine Wort Gottes im Neuen Testament in Jesus Christus eschatologisch konkretisiert ist (vgl. Hebr 1,1-3), wobei das Alte Testament eine Vielfalt des Redens Gottes kennt. Diese Spannung von Einheit und Vielheit bedeutet aber keinen gegenseitigen Ausschluss, sondern verstärkt den Anspruch des Wortes Gottes, ein Wort für alle Menschen zu sein. Was von Anfang an für den Menschen in der Schöpfung bestimmt ist, das ist das Wort Gottes in seiner Selbstmitteilung. Darum könnte auch ein christlich-frommes Selbstbewusstsein das Alte Testament lesen, wenn die Schrift nicht nur Folge, sondern auch Ursache des frommen Selbstbewusstseins wäre. Die Spannung der Einheit beider Testamente, die bereits in den Ursprüngen des christlichen Glaubens bestand, das Bewusstsein und den menschlichen Geist geprägt hat, ist kein Widerspruch zum christlich-frommen Bewusstsein, wenn es nicht nur als Reflex eines christozentrischen Impulses gelesen würde.429 Die alttestamentlichen Schriften sind dem christlichen Bewusstsein nicht nur vorgängig, sondern ihm auch von Anfang an eingeschrieben, womit es teleologisch gesehen zu seiner Identität gehört. Dies hat dann nicht nur Bedeutung für den christlichen Kanon der Schrift, sondern muss sich auch in christlicher Theologie ausdrücken, insofern sie nämlich die Schrift als das Zeugnis der Offenbarung und damit als ihre Quelle versteht. Sieht F. Schleiermacher das religiöse Bewusstsein einzig in der Erlösungstat Christi begründet, dann ist christliche Theologie zu Recht eine christozentrische Theologie. Aber als christologische Theologie muss sie dabei für eine theozentrische Christologie sensibel sein und bleiben, die das Heilshandeln Gottes nicht nur in Jesus Christus wahrnimmt, sondern sein Offenbaren auch in den alttestamentlichen Schriften akzeptiert.430 Es muss der theologische Zusammenhang beider Testamente immer im Blickpunkt stehen, da die Einheit der christlichen 429 K. Schmid macht auf die Implikationen des christlichen-frommen Bewusstseins aufmerksam: Vgl. K. SCHMID, „Christentum ohne Altes Testament“, 601: „So gesehen ist das Neue Testament bei Slenczka nur norma normata und nicht norma normans. Damit aber wird die Behauptung seiner alleinigen Kanonizität obsolet, denn diese ist ja nur Folge und nicht Ursache des frommen christlichen Bewusstseins. Um es zugespitzt zu sagen: Das Neue Testament dient so nur noch zur Selbstbespiegelung des frommen Individuums, das nun selbst ,kanonisch‘ geworden ist, dies jedoch nicht offenlegt, sondern dazu dem Neuen Testament einen Mantel exklusiver Pseudo-Kanonizität umlegt“. 430 Vgl. auch U. SCHNELLE, Einführung in die neutestamentliche Exegese (= UTB Theologie 1253), durchges. und erw. Auflage, Göttingen 82014, 205: „Die Einheit des zweigeteilten christlichen Kanons lässt sich deshalb nur von einer christozentrischen Theologie und einer theozentrischen Christologie her entwerfen. Christozentrische Theologie bedeutet, dass Gottes im Alten Testament einsetzendes Heilshandeln im Christusgeschehen seine Erfüllung findet. Theozentrische Christologie heißt, dass der von Jesus Christus bezeugte Gott kein anderer ist als der im Alten Testament sich bereits offenbarende“.

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Bibel „nicht einfach aus dem Gedanken einer historischen Kontinuität zwischen Israel und der Kirche [entsteht], sondern […] vor allem eine theologische Kontinuität“ ist.431 Selbst eine christozentrische Begründung des Schriftkanons wie bei F. Schleiermacher kann eine theologische Bestätigung der christologischen Gründe nicht ausschließen, da sich eine Christologie erst im Rahmen der Theologie entfalten kann, indem im Neuen Testament eine christologische Bestätigung des einen Gottes gegeben ist, den Jesus als seinen abba anspricht, der sich im Alten Testament theologisch offenbart hat. Die Dekanonisierung des Alten Testaments im Sinne von N. Slenczka hilft nicht dem gemeinsamen Zeugnis, sondern nimmt ihm die Kraft. Das Judentum hat von einer dekanonisierten Funktion des Alten Testaments nichts zu fürchten, aber dem Christentum wird damit die Beziehungsgrundlage des gemeinsamen Zeugnisses und der Theologie entzogen, denn durch eine normative Entleerung des Alten Testament kann es nicht mehr Glaubensgrundlage für das Christentum sein. Es bleibt auch zu fragen, welchen Stellenwert das Alte Testament in der wissenschaftlichen Theologie haben wird. Theologie als reflektierte und vernünftige Betrachtung des Glaubens und des zu Glaubenden, das sich im Wort Gottes ausdrückt, braucht sich nicht auf eine Schrift zu beziehen, die ihr faktisch fremd ist. Das gemeinsame Zeugnis für das eine Wort Gottes ist der Grund dafür, dass das Christentum legitim an einer wissenschaftlichen Reflexion des Alten Testaments festhält und diese als eigenständiges Fach im wissenschaftlichen Kanon behält. Ansonsten bleibt die Konsequenz zu ziehen, das Alte Testament religionswissenschaftlich zu betrachten und zu behandeln.432 Eine rein religionswissenschaftliche Deutung des Alten Testaments hätte jedoch für das Christentum fatale Folgen, da es eines seiner stärksten Argumente in einer Zeit pluraler religiöser Sprache verlieren würde. Das jüdisch-christliche Gottesbild 431

B. JANOWSKI, Ein Gott, der straft und tötet?, 22 (Hervorhebung im Original). Der Begriff der Bestätigung ist hier nicht so zu verstehen, dass damit das Bestätigte als überholt verstanden werden muss, sondern dass es seine bleibende Bedeutung hat, um die Bestätigung gerade in seinem Wert und seiner Berechtigung zu halten. Mit B. Janowski kann dies auch anders ausgedrückt werden als „Analogie von Erfahrungen im Alten und im Neuen Testament, […] um in ihren Licht die Gegenwart zu deuten und zu bestehen“ (ebd. 24; Hervorhebung im Original). Gegen eine solche „theologische Kontinuität“ zwischen Judentum und Christentum argumentiert J. NEUSNER, Jews and Christians. The myth of a common tradition, Binghamton, 2001, 1, denn: „The two faiths [Judaism and Christianity; Anm. d. Verf.] stand for different people talking about different things to different people“; [in Folge: J. NEUSNER, Jews and Christians]. 432 Vgl. M. BRUMLIK, „Antijudaismus in neuem Gewand“, 32. Siehe auch K. MÜLLER, „7 Thesen“, 27. Müller sieht in der nicht-kanonischen Geltung des Alten Testaments und ohne ein gemeinsames Zeugnis des Wortes Gottes auch einen erheblichen Schaden für den christlich-jüdischen Dialog, da ohne das konstitutive Alte Testament die gemeinsame Gesprächsgrundlage fehle.

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und -verständnis kann immer nur in Kontinuität bezeugt werden, wenn es nicht zu einem Zerrbild dessen werden möchte, was es eigentlich ausdrücken will. Eine plurale Gesellschaft ist auf dieses gemeinsame Zeugnis angewiesen, da sich darin die geschichtliche und kulturelle Grundlage der westlichen Gesellschaft widerspiegelt. Das, was M. Loerbroks für die evangelische Kirche folgert, gilt mutatis mutandis für alle christlichen Konfessionen: „Die Kirche ist schon lange keine Lerngemeinschaft mehr, wenn sie es denn je war, sondern Gefühlsgemeinschaft. Der Versuch, den Gott Israels durch allerlei selbstgemachte Gottesbilder zu ersetzen, rächt sich darin, daß er gelingt. Und weil wir es entweder nie gelernt oder schon lange vergessen haben, dem Gott Israels und seinem Volk die Ehre zu geben, die beiden gebührt, tragen wir auch wenig bis gar nicht zur erhellenden Aufklärung der Völkerwelt bei“.433

Das Christentum, wie es sich gerade in der westlichen Welt zeigt, kann und muss vom Judentum und seinen Schriften lernen. Es war nicht nur ein Lernprozess der ersten Christengemeinden, was eigentlich gemeint sei, wenn Jesus in seiner Verkündigung von Gesetz und Propheten sprach, oder was der Titel Messias-Christus meint, sondern es bleibt ein Lernen über alle Generationen hinweg. Denn im Lernen erschließt sich erst die Welt und der Glaube, die eine Antwort verlangen.434 Glaube tritt immer von außen an den Menschen heran und dieser Glaube muss erfahren werden. Wenn es seit der Aufklärung zu einer Krise des Schriftprinzips gekommen ist, dann muss neu bedacht werden, ob nicht gerade in einem neuen Verständnis die Verschriftlichung einer Gotteserfahrung, wie sie sich in den Schriften des Alten und Neuen Testaments kundtut, das extra nos des Glaubens zum Ausdruck kommt. Das bedeutet natürlich noch nicht, dass allein damit schon das Alte Testament normativen Charakter für das Neue habe, aber es muss bedacht werden, ob nicht gerade im Alten Testament das extra nos für das Neue Testament Gestalt gewinnt. In ihm tritt das extra nos der Zusage Gottes gegenüber, die sich im Neuen Testament 433

M. LOERBROKS, „Blessing in Disguise“, 38. Ähnlich schreibt auch K. BUTTING, „Stachel im Fleisch“, 3. Jedoch überspannt sie die Kritik an N. Slenczka, wenn sie schreibt, dass das „bürgerliche fromme Selbstbewusstsein […] alles aus[grenzt]“ und „sich selbst ins Zentrum stellt“ und nur Ausdruck der „europäischen Kolonialgeschichte und die Verabsolutierung der eigenen Kultur“ sei. E. Zenger plädiert ebenfalls für ein gegenseitiges Lernen von Juden und Christen, das aber nicht „schulmeisterlich und besserwisserisch belehrt“. Dazu E. ZENGER, Das Erste Testament, 157. 434 Dabei ist zu beachten, dass der Messias- bzw. Christustitel zwar durch das Alte Testament zu verstehen ist, aber nicht notwendig aus dem Alten Testament auf Jesus zu übertragen ist. Es bleibt eine Offenbarung des Vaters, dass der Sohn der Messias ist (vgl. Mt 16,16-18). Siehe dazu auch C. DOHMEN, „Das Alte Testament nicht kennen heißt das Christentum nicht kennen“, in: C. DOHMEN – F. MUSSNER (Hgg.), Nur die halbe Wahrheit? Für die Einheit der ganzen Bibel, Freiburg – Basel – Wien 1993, 16-74, 3839; [in Folge: C. DOHMEN, „Das Alte Testament nicht kennen“].

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im Glauben an Jesus Christus konkretisiert und sich durch die Verkündigung an den Menschen entfalten kann (Röm 10,14-17). Es ist die Erfahrung, die bereits die Emmausjünger (vgl. Lk 24,17-27) gemacht haben, dass das verbum extra nos, das zugesprochen wird, den Glauben verstehen lässt. Die Auslegung der Tora und der Propheten lässt sie Jesus als den Christus erkennen. Der Bezug Jesu auf die für ihn heiligen Schriften gibt ihnen den Glauben, der ihnen durch Jesus Christus zugesprochen wird, und erschließt ihnen den Zugang zu den Texten. Jeder Text hat in sich die Offenheit für eine hermeneutische Interpretation, die neue Referenzräume aufbrechen lässt, wobei sich aber diese Räume auch immer überschneiden. Im Überschneiden der alt- und neutestamentlichen Texte durch eine Hermeneutik der Kontinuität drückt sich nichts weniger als der Anspruch eines dynamischen Offenbarungsverständnisses aus, das nicht starr in sich steht, sondern im extra nos das Überschreiten von Grenzen und Räumen durch die Offenbarung selbst andeutet. Das Neue Testament bezeugt die Größe, die außerhalb ihrer selbst liegt, da es „nicht eine offenbarungstheologisch in sich selbst abgeschlossene Größe [ist]. Die Grundstruktur des Neuen Testaments ist aus dem Alten Testament übernommen“.435 Diese Grundstruktur besteht darin, dass die Schriften ein ihnen vorausliegendes Ereignis aufnehmen und in menschliche Sprache übersetzen, aber damit Gottes Offenbarung bezeugen, die einmündet in die Person Jesus Christus. Es ist A. Schüle Recht zu geben, wenn er schreibt, dass es „nicht nur eines wie auch immer gearteten Erlebens [bedarf], das zu religiöser Gewissheit gerinnt, sondern, reformatorisch gesprochen, des testimonium externum, des äußerlichen Zeugnisses der Schrift“.436 Der Auferstandene gibt den Jüngern das testimonium externum für die Tora und die Propheten und bezeugt damit seine Verbundenheit mit diesen Texten. Die Jünger werden mit diesem testimonium externum, das zur fides interna wird, wiederum Zeugen für die ausgelegten Schriften und ihren Ausleger. Damit treten sie in einen Dialog mit den hebräischen Schriften ein,437 in dem sie sie nicht für obsolet oder überholt erfahren, sondern 435

K. SCHMID, „Christentum ohne Altes Testament“, 594. A. SCHÜLE, „Das Alte Testament und der verstehende Glaube. Holzwege und Wegmarken in der Debatte um den christlichen Kanon“, KuD 62 (2016) 191-211, 208; [in Folge: A. SCHÜLE, „Altes Testament und der verstehende Glaube“]. Vgl. auch A. BEHRENS, „Altes Testament als Gottes Wort“, 209-210. In Analogie zur ZweiNaturen-Lehre macht A. Behrens dann deutlich, dass das „extra nos“ auch nur als Gotteswort in Menschenwort gegeben sein kann und in Analogie zur christologischen Grundaussage der zwei Naturen gesetzt werden muss. Siehe auch F. HARTENSTEIN, Die bleibende Bedeutung des Alten Testaments, 32-34, besonders zum Zeugnis 208-213. 437 Vgl. E. ZENGER, „Heilige Schrift der Juden und der Christen“, in: DERS. (Hg.), Einleitung in das Alte Testament (= KStTh 1,1), sechste, durchg. Aufl., Stuttgart 2006, 436

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als Bereicherung kennen lernen. Christliche Bibelhermeneutik muss diesen Dialog weiterführen und darf nicht dem Neuen Testament eine Überbewertung gegenüber dem Alten Testament einräumen, was einer faktischen Vereinnahmung des Alten Testaments durch die christliche Theologie gleichkommen würde. Nur als zwei gleichwertige Teile können beide Testamente die Einheit der christlichen Bibel begründen, die in sich die Pluralität biblischer Theologien erlaubt. Gerade auf den Zusammenhang von legitimer Pluralität in der Einheit der Schrift und dem einen Zeugnis des Gotteswortes für das geschichtliche Offenbarungshandeln Gottes macht T. Söding aufmerksam und sieht im Zeugnis der pluralen Einheit die Garantie der Kanonizität der Schriften. Der Plural der Theolgien und die Einheit einer biblischen Theologie bedingen sich gegenseitig, denn – so T. Söding – dies kann „das Kennzeichen Gottes im Alten und Neuen Testament [sein], in der Geschichte zu handeln und auf diese Weise seine Einheit zu offenbaren. Also ist die Vielstimmigkeit der biblischen Theologien, sofern sie die Geschichtlichkeit des Offenbarungshandelns des einen Gottes bezeugen, die Bedingung der Möglichkeit einer Biblischen Theologie, die auf die Einheit der Schrift abhebt und die Schrift als geschichtliches Glaubenszeugnis versteht. Umgekehrt ist aber die Einheit, sofern sie offenbarungstheologisch begründet ist, immer zugleich die Bedingung der Möglichkeit vielfältiger Theologien in der Heiligen Schrift“. 438

Nur in dieser Gleichwertigkeit kann auch der Anspruch gehalten werden, dass die hebräischen Schriften Offenbarung Gottes an Israel sind, weshalb „die Glaubensgeschichte Israels nicht nur die – durch Christus überholte – Vorgeschichte, sondern die – in Christus bejahte (2 Kor 1,20) – Verheißungsgeschichte Israels, von der die Kirche aller Zeit lebt“, ist.439 Darin begründet sich die Einheit von Altem und Neuem Testament, weil es den einen Gott gibt und sich dieser Gott in der Geschichte offenbart, die nicht erst mit Jesus Christus beginnt, sondern in ihm – aus christlicher Perspektive – ihren Höhepunkt erreicht. Das Zeugnis zu diesem einen Gott, dem sich Judentum und Christentum verpflichtet wissen, ist Fundament der kanonischen Einheit von Altem und Neuem Testament.

20; [in Folge: E. ZENGER, „Heilige Schrift“]. Siehe auch DERS., Das Erste Testament, 20. Hier weist der Alttestamentler darauf hin, dass der Dialog mit den jüdischen Schriften ein „kennen und lieben lernen“ sein muss, um die Verwurzelung Jesu darin verstehen zu können. 438 T. SÖDING, Einheit der Heiligen Schrift?, 74-75. J. A. Sanders plädiert dagegen für einen „monotheizing pluralism“, bei dem „names and rubrics are not important“. Vielmehr geht es darum, „the reality of God“ zu erkennen, die sich darin ausdrückt: „The heart of the biblical message is not so much that we should believe in God but that God believes in us“. J. A. SANDERS, From sacred story to sacred text. Canon as paradigm, Philadelphia 1987, 57; [in Folge: J. A. SANDERS, From Sacred Story to Sacred Text]. 439 T. SÖDING, Einheit der Heiligen Schrift?, 46.

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2.

440

„The parting of the ways“ – Judentum und Christentum440

Stellvertretend für die Auseinandersetzung der Diskussion um „the parting of the ways“ können J. D. G. Dunn und T. Nicklas genannt werden. J. D. G. Dunn hat 1991 mit seinem Buch „The partings of the ways“ die Debatte in die breite – vorwiegend angelsächsische – Diskussion gebracht und geht von einer frühen Trennung von Judentum und Christentum aus, wobei er bereits in seinem Buchtitel den Plural „partings“ verwendet und damit andeutet, dass es nicht das eine Auseinandergehen von Judentum und Christentum gab, sondern dass es sich in mehreren Schritten vollzogen haben muss. Vgl. dazu J. D. G. DUNN, The partings of the ways between Christianity and Judaism and their Significance for the Character of Christianity, London 32006, sowie den Sammelband mit weiteren Beiträgen verschiedener Verfasser: DERS. (Hg.), Jews and Christians. The parting of the ways, A.D. 70 to 135 (= WUNT 66), Tübingen 1992. T. Nicklas konzentriert sich dagegen nicht auf die strikten Trennungslinien, wie sie sich im Barnabasbrief oder in der klaren Bezeichnung bei Ignatius von Antiochien abzeichnen, sondern versucht die gemeinsamen Bezüge auf die Traditionen Israels herauszuarbeiten, wobei er von einer längeren gemeinsamen Tradition von Judentum und Christentum ausgeht als bisher angenommen. Siehe dazu T. NICKLAS, Jews and Christians? Secondcentury „Christian“ perspectives on the „Parting of the Ways“ (= Annual Deichmann Lectures 2013), Tübingen 2014, 61-62: „speaking about the relation of ,Judaism‘ and ,Christanity‘ in the second century CE is somewhat difficult, or even more: it is in danger of taking over a simplifying anachronism. […] [I]n fact what we can see until today is a multifaceted mosaïqu of groups struggling for truth and trying to define their identities against others“; [in Folge: T. NICKLAS, Jews and Christians?]. M. Hengel plädiert in einem Beitrag dafür, dass das Christentum aus dem Judentum erwachsen ist, weniger um einen gegenseitigen Austausch von Judentum und Christentum zu verneinen, als einen pagan-gnostischen Einfluss auf das Christentum auszuschließen. Was als paganer Einfluss oder im Neuen Testament als hellenistisch gewertet wird, ist als jüdischer Einfluss zu sehen, der in sich hellenistische Elemente aufgenommen hat. Darum ist „die Einbeziehung der frühchristlichen Geschichte in eine Darstellung der Geschichte des antiken Judentums eine wesentliche Bereicherung“ (M. HENGEL, „Das früheste Christentum“, 217). Gegen eine gemeinsame Geschichte steht mit seiner Schrift J. NEUSNER, Jews and Christians, die er gleich mit dem ersten Satz im Vorwort zur Ausgabe von 2002 beschreibt: „The thesis of this book is that Judaism and Christianity do not form a common tradition […]“ (XI). Das Alte Testament korrespondiert in keiner Weise mit der mündlichen (!) Tora und beide schriftlichen Größen schließen sich für J. Neusner gegenseitig aus und sind „a myth in the bad old sense: a lie“ (LIII). Wie im Folgenden gezeigt wird, haben aber gerade die rabbinische Tora (Verschriftlichung) und das Alte Testament einen gemeinsamen Weg der Entstehung zurückgelegt, selbst wenn nicht übersehen werden darf, dass das rabbinische Judentum dem hebräischen Kanon und das Christentum dem LXX-Kanon folgen und es zu gegenseitigen Absetzungsversuchen kam. Dies zeigt D. Boyarin auf, indem Judentum und Christentum besonders im 2. und 3. Jahrhundert mit gegenseitigem Häresievorwurf und mit dem Konzept der apostolischen Sukzession ihre Orthodoxie rechtfertigen wollten. In einem zweiten Teil wird herausgearbeitet, dass es eine ursprünglich gemeinsame Logostheologie war, die mit dem 4. Jahrhundert zum Trennungsmerkmal beider Religionen wurde, bevor in einem dritten Abschnitt die Differenzen beider Religionen herausgearbeitet werden. Vgl. D. BOYARIN, Abgrenzungen. Die Aufspaltung des Judäo-Christentums (= ANTZ 10), übers. v. G. PALMER, Dortmund 2009. Siehe auch E. K. BROADHEAD, Jewish ways of following Jesus, 354-371, der darin die unterschiedlichen Ansätze der „partings“ kurz vorstellt.

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2.1.

Die Entstehung des Judentums aus dem Christentum

N. Slenczka unterstreicht in seiner Argumentation der Dekanonisierung des Alten Testaments die Bedeutung einer „Theologie nach Auschwitz“, die das Judentum nicht enteignen darf, indem eine israelvergessene Theologie dem Judentum die eigenen Schriften christologisch entreiße. Hinter der Theorie der Enteignung des Judentums durch das Christentum steht die überkommene Vorstellung von Mutter- und Tochterreligion.441 Doch „[h]eute begreift man“ – wie J.-H. Tück es beschreibt – „die hebräische Bibel als das Textkorpus des einen Gottesvolkes und geht davon aus, dass es mit dem Auftreten Jesu in der Auslegungsgemeinschaft dieses Gottesvolkes zu einem Interpretationskonflikt mit doppeltem Ausgang gekommen ist“.442 In dieser Sicht der unterschiedlichen Lesart der hebräischen Schriften sind 441

Vgl. D. BOYARIN, „Introduction. When Christians Were Jews. On Judeo-Christian Origins“, in: ID., Dying for God. Martyrdom and the making of Christianity and Judaism, Standford 1999, 1-21, 1-2; [in Folge: D. BOYARIN, „When Christians Were Jews“]. 442 Vgl. J.-H. TÜCK, „Christentum ohne Wurzel“, 49. Das unterstreicht auch L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Die Rückkehr Markions“, IKaZ 44 (2015) 286-302, 295, wenn er schreibt: „Judentum und Christentum haben eine gemeinsame Wurzel. Das heutige, rabbinisch geprägte Judentum hat sich unter anderem auch in der kritischen Auseinandersetzung mit dem frühen Christentum gebildet“; [in Folge: L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Rückkehr Markions“]. Vgl. auch DERS., „Das gespaltene Gottesvolk“, Rotary Magazin 15.06.2018 [https://rotary.de/kultur/dasgespaltene-gottesvolk-a-7611.html; zuletzt abgerufen am 20.09.2018; in Folge: L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Das gespaltene Gottesvolk“]. Vgl. auch P. SCHÄFER, Jesus im Talmud, zweite, durchges. Aufl., Tübingen 2010, 4-5. So fragt auch G. S. Oegema, „ob es überhaupt möglich ist, im ersten Jahrhundert n.Chr., besonders am Anfang des zweiten Drittels, die Begriffe ‚christlich‘ und ‚jüdisch‘ zu verwenden, denn beide Begriffe lassen sich für diese Periode kaum definieren. Und wenn dies problematisch ist, wie kann man dann in den Evangelien zwischen ‚jüdisch‘ und ‚christlich‘, ‚jüdisch-christlich‘ und ‚heiden-christlich‘ oder auch ‚palästinisch‘ und ‚hellenistisch‘ unterscheiden, und die Begriffe anwenden für historisch-kritische Rekonstruktionen der verschiedenen Traditions- und Redaktionsstufen“? G. S. OEGEMA, „Jesus und das Judentum“, 85. Darum überschreibt M. Hilton die Einleitung zu seiner Studie auch mit „Judentum und Christentum – zwei Schwester-Religionen“. Siehe M. HILTON, „Wie es sich christelt, so jüdelt es sich“. 2000 Jahr christlicher Einfluss auf das jüdische Leben, Berlin 2001, 15-27; [in Folge: M. HILTON, Wie es sich christelt, so jüdelt es sich]. D. Boyarin beschreibt die beiden Schwestern als Zwillinge: D. BOYARIN, „When Christians Were Jews“, 2-6, wobei der Autor diese Beschreibung selber wieder relativiert (8). Siehe auch P. SCHÄFER, The Jewish Jesus. How Judaism and Christianity shaped each other, Princeton 2012, 234-235; [in Folge: P. SCHÄFER, The Jewish Jesus]. Ebenfalls N. LOHFINK, „Eine Bibel – zwei Testamente“, in: C. DOHMEN – T. SÖDING (Hgg.), Eine Bibel – zwei Testamente. Positionen Biblischer Theologie, Paderborn 1995, 71-81, 74, der für das Judentum und seine Schriften als „Anfangsgeschichte“ und als gegenwärtige „Passionsgeschichte“ für das Christentum versteht; [in Folge: N. LOHFINK, „Eine Bibel“]. – Gegen diese Sicht des doppelten Ausgangs argumentiert N. Slenczka, dass der christlich-jüdische Dialog zu dem Ergebnis gekommen sei, dass der Bund Gottes mit Israel ungekündigt ist, und zwar zu den Bedingungen, wie das Judentum dies heute verstehe, also das Judentum als einziger Bundespartner Gottes. N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 46.

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weniger die hebräischen Schriften bzw. die christlich gelesenen alttestamentlichen Schriften der Anstoß der Trennung, als vielmehr der Glaube im Neuen Testament, die alttestamentlichen Schriften auf Jesus Christus hin lesen zu können, und dessen völlige Ablehnung im rabbinischen Schrifttum. Die hebräischen Schriften in ihrer unterschiedlichen Überlieferungsgestalt können nicht einzig als Schriften für das rabbinische Judentum gesehen werden, sondern sie sind die eine Schrift für das Volk Gottes Israel. In diesem Volk kam es aber zu einer innerreligiösen Auseinandersetzung der Interpretation dieser Schriften, bei der sich dann das rabbinische Judentum vom Christentum absetzte. Es geht in der Auseinandersetzung also darum, ob Jesus von Nazareth der Messias, also der Christus ist, denn: „Aus dieser (jüdischen) Antwort ist das Christentum entstanden. Oder anders gesagt: Das ist die Antwort des christlichen Glaubens“.443 P. Schäfer spricht in seinem Buch Die Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums sogar von „möglichen Rückwirkungen des entstehenden und sich dogmatisch entfaltenden Christentums auf das rabbinische Judentum“.444 Demnach 443

L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Rückkehr Markions“ 296. Siehe auch M. HENGEL, „Das früheste Christentum“, 208-209, der die unterschiedlichen Antworten auf die Frage nach Jesus als den Messias mit dem alttestamentlichen Bild des Geschwisterstreits in Verbindung bringt. Das Neue Testament selbst kannte noch nicht das Christentums als eigene Größe neben dem Volk und den Völkern, da diese Unterscheidung erst mit den Apologeten des zweiten Jahrhunderts aufkam. M. Gerhards weist auch darauf hin, dass es nach neuestem Forschungsstand nicht sicher ist, das rabbinische Judentum eindeutig als direkte Fortsetzung des alttestamentlichen Volkes Israel zu sehen, und er fragt, wovon sich dann das Christentum abgesetzt hat. Vgl. M. GERHARDS, Protoevangelium, 43. 444 P. SCHÄFER, Die Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums. Fünf Vorlesungen zur Entstehung des rabbinischen Judentums (= Tria corda 6), Tübingen 2010, VIII; [in Folge: P. SCHÄFER, Die Geburt des Judentums]. Siehe auch M. HILTON, Wie es sich christelt, so jüdelt es sich, 16. Mit anderen Worten nimmt bereits H. Gese diese These voraus, wenn er schreibt: „das Alte Testament entsteht durch das Neue Testament; das Neue Testament bildet den Abschluß eines Traditionsprozesses, der wesentlich eine Einheit, ein Kontinuum ist“. Siehe dazu H. GESE, „Erwägungen zur Einheit der biblischen Theologie“, in: DERS., Vom Sinai zum Zion. Alttestamentliche Beiträge zur biblischen Theologie (= BEvTh 64), München 1974, 11-30, 14; [in Folge: H. GESE, „Erwägungen zur Einheit“]. M. Hilton macht diese gemeinsame Entwicklung von Judentum und Christentum auch an den religiösen Festen deutlich und zeigt, dass viele christliche Feste und Bräuche älter sind als die jüdischen. M. Hilton geht im Unterschied zu P. Schäfer jedoch weniger davon aus, dass sich das rabbinische Judentum in Absetzung zum Christentum profiliert hat, sondern „dass die Beziehung zwischen Judentum und Christentum im Kern eine Beziehung zwischen Juden und Christen ist, zwischen den Familien, den Menschen und den Gemeinden, die der einen oder anderen Religion angehörten und sie pflegten“, das zur gegenseitigen Beeinflussung führte; M. HILTON, Wie es sich christelt, so jüdelt es sich, 19. So untersucht er auch die Beeinflussung von jüdischen Festen durch das Christentum, wie Weihnachten und Chanukka, Karneval/Fastnacht und Purim, Abendmahl und Pessach oder Pfingsten und

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gibt es eine Auswirkung des christlichen Selbstverständnisses auf das Selbstverständnis des Judentums, insofern sich dieses bewusst durch eine Abgrenzung vom Christentum profilieren wollte. P. Schäfer macht dies an einigen Talmud-Texten fest, indem er diese als eine bewusste Komposition gegen eine christliche Lehre interpretiert. Gegen eine christliche Trinitätslehre versuchen Talmud und Midrasch die Einzigkeit Gottes zu beweisen und alles andere als Häresie abzutun. Gerade der Häresievorwurf von Talmud- oder Midraschtexten weist darauf hin, dass sich das junge Christentum in einem lebendigen Bezug zum Judentum und umgekehrt befand, da sich das rabbinische Judentum mit seinen Texten mehr und mehr vor einer inhaltlichen Vereinnahmung und Interpretation der eigenen Texte und religiösen Traditionen „wegen ihrer christlichen Usurpation“ schützen wollte, weshalb auch in dieser Hinsicht „von der Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums“ gesprochen werden kann.445 Rabbinische Schawuot. Siehe dazu ebd. 29-80. Siehe auch G. STEMBERGER, „Das Judentum in frührabbinischer Zeit. Zu neuen Entwicklungen in der Forschung“, HZ 300 (2015) 1-32, 14-17; [in Folge: G. STEMBERGER, „Judentum in frührabbinischer Zeit“]. – Kritisch gegenüber einer Spätdatierung, wie im „the parting of the ways“ angenommen, äußert sich D. HANGER, „Another look“, 381-427. Für ihn ist das Konzept „a gross simplificaton. It cannot tell the whole story. […] The challenge of identifying the differences is complicated by the fact that first-century Judaism was hardly monolithic, and itself undergoing a process of development, while nascent Christianity was in a process of selfdiscovery and increasing articulation in theology“ (383). D. Hanger argumentiert, dass schon vor 70. n. Chr. von Judentum und Christentum gesprochen werden kann, was sich im Christentum im frühen Kerygma festmachen lässt (387). Dagegen siehe A. D. CROWN, „Judaism and Christianity. The parting of the ways“, in: A. J. AVERY-PECK – D. HARRINGTON – J. NEUSNER (eds.), When Judaism and Christianity began. Essays in memory of Anthony J. Saldrini (= JSJ.S 2), Leiden 2004, 545-562, 551: „It should be stressed that it was not the teachings recorded in the Gospels that caused any definitive breach between Judaism and Christianity. Judaism was not a monolithic ideology allied to a monolithic law. It was as heterogeneous in its ideas as was primitive Christianity. Almost every teaching of the Gospels would have been known elsewhere in Judaism among one or other of its so-called philosophies“; [in Folge: A. D. CROWN, „Judaism and Christianity“]. Gegen eine monolithische und statische Größe des Judentums und eine starre Aufteilung in Religion, Sekten und Häretiker in den ersten Jahrhunderten argumentiert P. SCHÄFER, The Jewish Jesus, 2-5. Dagegen stellt sich – in seiner Argumentation gegen H. Geses Traditionsprozess – E. Zenger, für den der hebräische Kanon nicht als Reaktion auf den christlichen Kanon entstanden ist. Siehe dazu E. ZENGER, Das Erste Testament, 132-139. Ebenfalls gegen die These der Entstehung des rabbinischen Judentums aus dem Christentum argumentiert H. FRANKEMÖLLE, „Die Entstehung des Christentums aus dem Judentum. Historische, theologische und hermeneutische Aspekte“, in: DERS., Jüdische Wurzeln christlicher Theologie. Studien zum biblischen Kontext neutestamentlicher Texte (= BBB 116), Bodenheim 1998, 11-43. 445 P. SCHÄFER, Die Geburt des Judentums, X-XI. Wichtig ist zu beachten, dass P. Schäfer den Zeitraum des gemeinsamen Austausches von Judentum und Christentum von 70. n. Chr. bis ins 7. Jahrhundert setzt, in dem Mischna, Midraschim und der Jerusalemer und Babylonische Talmud entstanden sind. Dafür spricht auch, dass die Auslegung des Midrasch „Rabbi Simalai und die Häretiker“ gegen den Trinitätsglauben des

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Texte versuchen mit Hilfe von Parodie neutestamentliche Texte und daraus entstehende Glaubensüberzeugungen zu entkräften und wollen damit zeigen, dass Jesus von Nazareth nicht der Messias ist. Es geht dem rabbinischen Judentum in diesen Entgegnungen darum, dass sich das Christentum in seiner Glaubensüberzeugung nicht auf das Verständnis der hebräischen Schriften stützen könne und nicht in Kontinuität dazu stehe. Andererseits zeigt dies aber, wenn man die lange Entstehung der rabbinischen Auslegungen bis ins 7. Jahrhundert hinein bedenkt, dass sich das junge Christentum nicht nur bis Ende des 1. Jahrhunderts an die hebräischen Schriften als identitätsstiftende Größe gebunden fühlte, sondern dass es sich durchgehend und parallel zur Entwicklung des neutestamentlichen Kanons auf diese Schriften bezogen wusste; andernfalls hätten sich rabbinische Texte nicht bis ins 7. Jahrhundert mit der „christlichen Usurpation“ beschäftigen müssen. Das Christentum hielt vehement daran fest, dass Jesus der Messias sei, von dem die hebräischen Schriften sprechen. Dabei unterscheidet sich aber dieses Bekenntnis von allen politischen Messiasvorstellungen, die keine bleibende Wirkung zeigten. Im Gegensatz zum Bar KokhbaAufstand und den damit verbundenen politischen Interessen hatte die christliche Messiasvorstellung Bestand.446 Die von P. Schäfer ausgewerteten jüdischen Texte lassen eine langsame Trennung von Judentum und Christum erkennen, was gegen eine frühe Trennung spricht, wie sie N. Slenczka favorisiert, um auch eine frühe Trennung des Christentums von den hebräischen Schriften fordern zu können. Im Unterschied zu „the parting of the ways“ geht er davon aus, dass sich das frühe Christentum bereits seiner rein christozentrischen Identitätsbegründung bewusst geworden sei und sich damit vom Judentum wesentlich absetzte und unterschied. Auch von Seiten des rabbinischen Judentums ist die These der Frühdatierung nicht tragfähig. Wurde über lange Zeit angenommen, dass der rabbinische Schriftkanon bereits am Ende des 1. Jahrhunderts auf der Synode von Jabne abgeschlossen worden sei, so muss heute dieses Datum als eine Konstruktion des 19. Jahrhunderts

Christentums argumentiert und dabei auf Anspielungen bei Irenäus von Lyon und Gregor von Nazianz eingeht. Vgl. ebd. 33-63. Der Jerusalemer Talmud ist in seiner Entgegnung auf das Christentum zurückhaltender, da das palästinische Judentum unter römischer und byzantinischer Herrschaft mit wachsender Präsenz des Christentums lebte; das babylonische Judentum dagegen stand unter persischer Herrschaft, in der die Christen in einer prekären Situation lebten und das babylonische Judentum weitaus kräftiger gegen das Christentum argumentieren konnte. Vgl. ebd. 1-3, 97 und DERS., The Jewish Jesus, 214-215. 446 Vgl. DERS., Die Geburt des Judentums, 25-27. Siehe auch J. NEUSNER, Jews and Christians, 47-64, der die Messiasfrage im vierten Jahrhundert untersucht und u.a. in dieser Frage die unterschiedliche und unzusammenhängende Geschichte von Judentum und Christentum erklärt.

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gesehen werden.447 Das rabbinische Judentum kannte im ersten und zweiten Jahrhundert keinen Kanon, da das rabbinische Judentum in diesem frühen Stadium nach der Tempelzerstörung noch nicht bestand und demnach in der Pluralität von jüdischen Gruppen und Gruppierungen keine autoritative Gewalt vorhanden war. Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, warum sich die ersten christlichen Generationen auf die hebräischen Schriften bezogen und diese auch als identitätsstiftend ansahen. Als Gegenargument wird jedoch oft angeführt, dass es gerade im Messiasglauben zwischen dem Judentum und dem Christentum einen Unterschied gab, durch den sich das Christentum früh von den hebräischen Schriften absetzte, da es den Messias nicht mehr erwarten musste, sondern schon als gekommen glaubte. Der Rabbiner M. Hilton macht in seiner Studie darauf aufmerksam, dass es aber in der jüdischen Tradition zur Zeit Jesu und im jungen rabbinischen Judentum keine einheitlichen und verbindlichen Messiasvorstellungen gab, sondern dass sie diese aus dem Christentum übernahmen.448 Die hebräischen Schriften sprechen zwar von einer friedvollen Zukunft, verbinden diese aber nicht explizit mit dem Kommen des Messias, der eine eschatologische Herrschaft errichtet; selbst messianische Bewegungen wie die von Bar Kokhba entstehen in nachchristlicher Zeit. Erst mit Moses Maimonides wird im Mittelalter die Messiasvorstellung zum zwölften der dreizehn Glaubenssätze im Judentum. Das, was in den hebräischen Schriften oft als Messiasglaube dargestellt wird, darf als eine Reinterpretation der hebräischen Texte angesehen werden. M. Hilton schrieb dazu: „Der griechische Begriff maschiach, cristo,j (christos) findet sich zum ersten Mal bei Paulus. Die Evangelien fügten mit ihren Zitaten der hebräischen Propheten die Vorstellung hinzu, es handle sich um die Erfüllung einer älteren Verheißung. So unterstützten sie die Annahme, der Ursprung dieser Lehre stamme nicht aus ihrer eigenen Zeit, sondern aus der Bibel. Es waren Matthäus und Lukas, die eine unauflösliche Verbindung zwischen Messiasglauben und Israel herstellten. Und mit der Zeit wurde 447

Dass der hebräische Kanon ein Produkt der „Synode von Jabne“ sei, weist u. a. G. Stemberger zurück, indem er zeigt, dass dies eine Konstruktion von H. Graetz im 19. Jahrhundert war. Vgl. dazu G. STEMBERGER, „Jabne und der Kanon“, JBTh 3 (1988) 163-174 und DERS., „Judentum in frührabbinischer Zeit“, 14, wo er auch darauf hinweist, dass man im rabbinischen Judentum den Begriff „Kanon“ nicht kannte, sondern den Begriff mit Inspirationsbegriffen umschrieb. Siehe dazu auch M. ARNETH, „Zur ‚Kanonisierung‘ der Hebräischen Bibel“, VF 60 (2015) 42-51, 44: Die Synode von Jabne muss verstanden werden „als ein nicht tragfähiges Konstrukt. Der Geschichte zur [hebräischen; Anm. d. Verf.] Kanonbildung fehlt damit der greifbare Endpunkt“. – Für einen geschlossenen Kanon zu Ende des 1. Jahrhunderts argumentiert dagegen G. MAIER, „Der Abschluß des jüdischen Kanons und das Lehrhaus von Jabne“, in: DERS. (Hg.), Der Kanon der Bibel, Gießen 1990, 1-24. 448 Siehe dazu M. HILTON, Wie es sich christelt, so jüdelt es sich, 81-105. Vgl. auch H.-J. FABRY, „Ein Gott – zwei Testamente – drei Kanones“, 117.

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dies zu einer allgemein anerkannten Tatsache in Hinblick auf die jüdische Religion. Was die Bibeltexte tatsächlich zeigen, ist jedoch kein Messias, sondern nur die Ideologie, die solch eine Vorstellung möglich machte – eine Ideologie der Hoffnung“.449

Die jüdische Vorstellung des kommenden Messias ist erst mit den Talmudim gegeben, die jedoch im Rahmen einer christlichen Präsenz ausgearbeitet wurden. Daraus ergibt sich die Frage, warum Matthäus und Lukas die christliche Messiasvorstellung als eine Reinterpretation in hebräische Texte hineinlesen sollten, wenn es eine genuin christliche Vorstellung sei. Wenn der christliche Glaube an den Messias wirklich eine neue Einsicht wäre, dann hätte das Christentum diese auch ohne direkte Rückbindung an die hebräischen Schriften entwickeln können. Anscheinend war aber Paulus und den Evangelisten eine Bezugnahme auf die hebräischen Schriften so wichtig und für ihre Identität wesentlich, dass sie den Glauben an den eschatologischen Messias nicht verstanden wissen wollten als etwas, das sich vom bisherigen jüdisch perspektivierten Glaubenshorizont absetzt, sondern gerade als in dieser Theologie verankert. M. Hilton bringt in seinem Buch Wie es sich christelt, so jüdelt es sich Beispiele aus der Antike bis zur Gegenwart, wie christliches Leben das Judentum beeinflusst hat und wie beide Religionen miteinander bis in das 6. Jahrhundert im gegenseitigen Austausch wuchsen. Dieser Befund spricht aber auch dafür, dass das Christentum mit der Entstehung seines Kanons Einfluss genommen hat auf den endgültigen rabbinischen Kanon. Folgte das Christentum der LXX in der Anzahl der Bücher, so muss angenommen werden, dass aus diesem Grund das Judentum den LXX-Kanon ablehnte,450 um sich mit dem Masoretentext als Schriftkanon dagegen zu behaupten und abzugrenzen. Damit ist ein gemeinsamer Bezug von Judentum und Christentum auf die hebräischen Schriften mindestens bis in das vierte Jahrhundert gegeben, in dem sich erst ein fester christlicher Kanon herausgebildet hat. Die 449

M. HILTON, Wie es sich christelt, so jüdelt es sich, 90. Es war die Messiasfrage das Disputationsthema schlechthin zwischen Juden und Christen, so dass damit das Christentum weiter auf das Judentum einwirkte. H. Milton schreibt für das Mittelalter: „Der Messiasglaube wurde im mittelalterlichen Judentum durch die Dispute und Streitgespräche mit Christen lebendig erhalten. Das Christentum prägte also weiterhin den jüdischen Glauben“; ebd. 98. Vgl. auch P. SCHÄFER, The Jewish Jesus, 223-226, 232, hier 223-224: „Of course there exists no uniform expectation of the Messiah in the Jewish tradition. […] We can nevertheless safely assume that the Davidic Messiah had become the major messianic figure in the rabbinic period – as evidenced, for example, by the Eighteen Benedictions prayer or the Bar Kokhba revolt, the second major Jewish uprising against Rome in the first half of the second century (132 – 135 C.E.)“. 450 Vgl. M. HILTON, Wie es sich christelt, so jüdelt es sich, 116, 266-268. Der Rabbiner weist auch darauf hin, dass sich die Ablehnung der LXX darin ausdrückt, dass sich in der Mischna und im Babylonischen Talmud Stellen finden, die das Griechisch verbieten und damit die LXX, da dies die Sprache der Christen sei.

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Christen setzten sich also nicht von den Schriften ab und sahen sie auch nicht als Schriften an, die einzig das rabbinische Judentum ansprachen. Das Wort Gottes in den hebräischen Schriften blieb über das erste Jahrhundert hinaus in Form der LXX auch Ansprache an das Christentum. N. Slenczka sieht dagegen in den neutestamentlichen Schriften eine christologische Neuwertung des Lebens gegeben, die für das Judentum nicht annehmbar war.451 Aber selbst das neue christologische Verständnis des Christentums bedeutet noch keine Distanz zum Judentum, da es – wie P. Schäfer und M. Hilton ausführlich zeigen – in der Entwicklung des rabbinischen Judentums einen Austausch zum entstehenden Christentum gab. In diesem Sinn muss dann auch Mt 10,5-7 gelesen werden, wo Jesus seine Jünger sendet, um den verlorenen Schafen Israels als ersten das Reich Gottes zu verkünden. Die Mission wirkt zuerst im jüdischen Raum, bevor dann das Heidenchristentum mehr und mehr an Bedeutung gewinnt. Gerade dies kann als neutestamentlicher Hinweis gelesen werden, dass sich die ersten Christen noch im Austausch mit dem Judentum befanden und dass sie sich mit ihrer Predigt vom kommenden Reich nicht vom jüdischen Glauben absetzen wollten, sondern auf offene Ohren trafen und gerade unter Verweis auf die hebräischen Schriften das kommende Reich predigten. Das langsame Auseinandertreten von Judentum und Christentum lässt eine gewisse ,Durchlässigkeit‘ beider religiösen Größen annehmen. Es ist somit unwahrscheinlich, dass sich das Christentum ab dem zweiten Jahrhundert nur noch auf seine eigenen neutestamentlichen Schriften bezog. Für das Christentum blieb der jüdische Glaube und seine Schriften Bezugspunkt. So wurden Christen nicht als Christen verstanden, sondern als eine „jüdische Sekte“, die sich erst langsam als eigenständige Religion aus dem Judentum herauslöste und für die das Alte Testament der Verstehensschlüssel für das Christusereignis blieb. Nur auf diesem Hintergrund wird und bleibt die Verkündigung Jesu und seiner Jünger verstehbar. Jesu Rede und Handeln spricht aus dem jüdischen Glauben heraus und bezieht sich auf die Tora, den Tempel und auf den Bund. So wurde es für die Verkündigung der Jünger dann zum Kriterium des Glaubens.452 451 In dieser Perspektive argumentiert auch D. Hanger, der von der „the marks of newness“ spricht, die eine Beziehung von Judentum und Christentum über das erste Jahrhundert hinaus ausschließen. Siehe D. HANGER, „Another look“, 391-410. 452 Vgl. A. D. CROWN, „Judaism and Christianity“, 553-555 und K. KOCH, „Der doppelte Ausgang des Alten Testaments in Judentum und Christentum“, JBTh 6 (1991) 215-242, 217; [in Folge: K. KOCH, „Doppelter Ausgang“]. So kann auch C. Dohmen den ersten Teil der zwei-einen christlichen Bibel als die Urkunde christlicher Verkündigung beschreiben. Vgl. C. DOHMEN, „Text und Kon-Text“, 20-23. Ebenfalls unterstreicht C. Dohmen, dass bis in das zweite Jahrhundert hinein nicht von einer „Grenzziehung“ zwischen Christentum und Judentum gesprochen werden kann, gerade wenn wie bei

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Mit diesem Befund ist ein weiteres Thema angesprochen, das auch N. Slenczka ein Anliegen ist. Wenn es in den ersten Jahrhunderten keine strikte Trennung von rabbinischem Judentum und Christentum gab, sondern eine gegenseitige Bereicherung – auch wenn natürlich bereits am Ende des ersten Jahrhunderts Schriften wie der Barnabasbrief entstanden sind, die das Trennende zwischen Judentum und Christentum hervorheben –, so ist damit die Substitutionstheorie, die Ersetzung des Judentums als Volk Gottes durch die Kirche als neues Volk Gottes, strikt abzulehnen. Dort, wo sich die Wege gegabelt haben, bleibt es bis heute ein Gegenüber; das Christentum muss sich dieser Trennung der Wege immer bewusst bleiben, um sich selbst richtig zu verstehen und einzuschätzen. Es bleibt im Judentum und in den alttestamentlichen Schriften verwurzelt und kann nur in dieser Verwurzelung den Weg in die Zukunft gehen, wie auch Paulus in seinem Bild vom Ölbaum und den Zweigen mahnt, dass die Wurzel die Zweige trägt (Röm 11,18).453 2.2.

Das eine Volk Gottes aus Juden und Christen

Die Entstehung des rabbinischen Judentums und des Christentums kann nicht voneinander getrennt werden. Beide bedingen sich gegenseitig in ihrer Abgrenzung der Lesart der Schriften, die das gemeinsame Zeugnis des Glaubens an den einen Gott sind. Nicht die Schriften des Alten Testaments als hebräische Schriften oder die Schriften des Neuen Testaments als Absetzung dazu waren der Grund für die Entstehung zweier verschiedener Religionen. Es war die unterschiedliche Interpretation der Schriften auf Jesus von Nazareth hin, die zu einem Auseinandertreten beider Religionen führte. Das eine Gottesvolk ist durch die Lesart der Schriften unterschieden, nicht aber durch die

N. Slenczka eine Religionsgemeinschaft durch die Schriften identitätsstiftend begründet sein soll. Vgl. DERS., „Zwischen Markionismus und Markion. Auf der Suche nach der christlichen Bibel. Aktualität einer scheinbar zeitlosen Frage“, BZ 61 (2017) 182-202, 195-196; [in Folge: C. DOHMEN., „Markionismus und Markion“]. 453 Vgl. M. HENGEL, „Das früheste Christentum“, 204: „Die Verwurzelung des Urchristentums im Judentum wird auch an der grundlegenden Bedeutung der jüdischen heiligen Schriften für die neue endzeitlich-messianische Bewegung sichtbar. Sie betrifft deren Gottesdienst, aber auch die Ausgestaltung der Lehre in allen Bereichen von der Christologie bis zur Ethik“ (Hervorhebung im Original). Die starke Hervorhebung der Verwurzelung des Christentums im Judentum widerspricht nicht einer Rückwirkung des Christentums auf das Judentum, vor allem wenn man bedenkt, dass die Sendung der Jünger primär an das Volk Israel gerichtet ist und Paulus dem Judentum einen „heilsgeschichtlichen Vorrang“ einräumt. Vgl. ebd. 205-207. Gegen eine Substitutionstheorie spricht auch der Bestand eines Judenchristentums, das bis über das 4. Jahrhundert hinaus im Judentum verwurzelt war, aber Jesus als den Messias bekannte. Vgl. dazu E. K. BROADHEAD, Jewish ways of following Jesus, 375-391.

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Ersetzung der einen durch die andere.454 Judentum und Christentum verstehen sich als das Volk Gottes in der jeweils eigenen theologischen Differenzierung des Volk-Begriffs. Bei bleibender Unterschiedenheit ist es das Bekenntnis zum einen und einzigen Gott, das sie miteinander unverbunden verbindet. Der springende Punkt für die Entfernung des rabbinischen Judentums von der christlichen Kirche war der Glaube der jungen Kirche, wie er im Petrusbekenntnis Mt 16,16 ausgesprochen ist. So kam es letztlich auch zu einer unterschiedlichen Anordnung des hebräischen Tanach und des christlichen Alten Testaments. Diese Entscheidung beider Glaubensgemeinschaften spricht jedoch nicht dagegen, dass sich die Kirche wie das rabbinische Judentum als „Israel Gottes“ (Gal 6,16) verstehen. Markion konnte im 2. Jahrhundert die Einheit beider Testamente und damit die Einheit des Gottesvolkes theologisch nicht erklären. So blieb ihm nur die Option, das eine vom anderen dadurch abzuheben, indem er die hebräischen Schriften diskreditierte und sie dem Schöpfergott, dem Gott der Materie und des Bösen, zusprach. Damit aber negierte er das historische Faktum, dass sich Christentum und rabbinisches Judentum auf den einen Gott beziehen und sich von ihm in sein Volk gerufen wissen. Dagegen wandte sich die frühe Kirche und hielt an der Einheit mit den Schriften Israels fest und unterstrich damit die bleibende Verwiesenheit auf den Gott, der sich in diesen Texten offenbarte. Wenn sich die Kirche als „Volk Gottes“ verstehen will, dann kann sie dies nur in der theologischen Verwiesenheit auf den Gott, der sein Volk ruft und es in seiner Verheißung halten will. Spricht Paulus von den „Gemeinden Christi in Judäa“ (Gal 1,22), dann ist damit nicht die spezifisch christliche Gemeinde gemeint, sondern die „Kirche Gottes“ (Gal 1,13), wie sie sich durch das Christusereignis konstituiert 454

Vgl. L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Das gespaltene Gottesvolk“: „Juden lesen den Tanak im Lichte der mündlichen Tora, der rabbinischen Tradition, Christen lesen das Alte Testament im Lichte Jesu Christi. Exegetisch-literaturwissenschaftlich gesehen sind beide Lesarten möglich. Das Alte Testament weist ein Sinnpotenzial auf, das in unterschiedliche Richtungen entfaltet werden kann“. Daraus folgt eine legitime und erweiterte Interpretation des Volkes Gottes, wie es B. S. CHILDS, Theologie der einen Bibel 2, 121 formuliert: „Das Wesen des Gottesvolkes ist so beschaffen, daß man sich seiner Wirklichkeit nur von verschiedenen Perspektiven her nähern kann, von denen keine vollständig oder exklusiv wäre“. M. Gerhard entwickelt diesen Gedanken aus den alttestamentlichen Texten, die die „eigene Angelegenheit“ der christlichen Lesart entfalten. Darum können sich Christen auf die „erzählte Welt des Alten Testaments einlassen, weil sie historisch ein Recht darauf haben, sich als Israel im Sinne des Gottesvolkes zu verstehen; wo das Bekenntnis zu Jesus als dem Christus geteilt wird, besteht dieses Recht auch theologisch […]“. M. GERHARDS, Protoevangelium, 84. Zum Volk-Gottes-Begriff siehe auch die Studie T. CZOPF, Neues Volk Gottes? Zur Geschichte und Problematik eines Begriffs (= MThS.S 78), St. Ottilien 2016; [in Folge: T. CZOPF, Neues Volk Gottes?]. Darin geht der Autor dem Begriff systematisch nach und arbeitet deren dogmatische Relevanz heraus.

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hat. Das Christentum aus den Völkern als „Volk Gottes“ kann sich als Teil dessen verstehen, da es durch Jesus Christus mit Gott versöhnt worden ist (vgl. 2 Kor 5,18-19). Es ist das Handeln Gottes selbst, das das Volk immer wieder neu konstituiert und zusammenführt. Die neutestamentlichen Schriften greifen dabei auf das Verständnis des vorhandenen Begriffes zurück. Die apostolische Kirche versteht sich nicht als ein Gegenvolk oder als Ersetzung zum Volk Israel, sondern weiß sich in dieses Volk hineingenommen. T. Czopf wertet den biblischen Befund zum Volk-Gottes-Begriff wie folgt aus: „Wenn die Ersetzung Israels im Heilsplan Gottes, wie es den Schriften der Bibel zu entnehmen ist, nicht vorgesehen ist, und wenn durch das Bekenntnis zur Kontinuität zum AT ein weiteres Gottesvolk neben Israel auch keine Option darstellt, dann wird die Kirche ihr Gottesvolk-Sein nur mit Israel zusammen verstehen und verwirklichen können.“ „Gott sucht sich kein ,neues Volk‘, er will aber sein Volk in ,Neues‘ hineinführen. Dieses von Gott geschenkte ,Neue‘ soll unablässig durch Umkehr und Glauben eingeholt werden“.455

In diesem Sinne hat das Alte Testament sehr wohl eine normative Kraft für das Christentum, da die Kirche nicht anders kann, als sich als Teil des Volkes Gottes zu wähnen, zu dem sich auch Jesus von Nazareth gezählt hat. Es ist die theozentrische Ausrichtung der Kirche, die durch Jesus Christus vermittelt ist, indem es dabei zu einem Weiterdenken dessen kommt, was Volk Gottes bedeutet und indem der Volk-Begriff seine rein politische Konnotation, aber niemals seine theologische Bedeutung, verliert und besonders in paulinischer Theologie ekklesiologisch und sakramententheologisch, also christologisch, weitergeführt wird.456 Auch bei unterschiedlichen theologischen 455

Ebd. 82 und 423 (Hervorhebung im Original). Vgl. auch H. FRANKEMÖLLE, „Die ‚Kirche Gottes in Christus‘. Zum Verhältnis von Christentum und Judentum als Anfrage an christliches Selbstverständnis“, in: J. ERNST – S. LEIMGRUBER (Hgg.), Surrexit Dominus vere. Die Gegenwart des Auferstandenen in seiner Kirche, FS für Johannes Joachim DEGENHARDT, Paderborn 1995, 381-394,385-386; [in Folge: H. FRANKEMÖLLE, „Kirche Gottes in Christus“]. N. Slenczka argumentiert in einer Antwort auf die Ausführungen von M. Gerhards zum Anspruch des Christentums, sich als Volk Gottes zu verstehen, mit der genealogischen Kontinuität des Alten Testaments zum Judentum. Das Christentum ist für ihn mit Paulus Volk Gottes rein aus Glauben und damit dem Geiste nach, und nicht durch ein Handeln oder eine Bestimmung Gottes, die in ein Abstammungsverhältnis hineinführt. Beide Kontinuitätsbehauptungen schließen sich für ihn aus. Dabei argumentiert aber der Berliner Theologe aus dem Verhältnis und der Sicht der Gegenwart zwischen Judentum und Christentum, woraus seine Einschätzung auch in der theologischen Grundüberzeugung des nie gekündigten Bundes folgt, die auch gegen die des Paulus in Röm 9-11 stehe. Dabei argumentiert er gegen die in der Kirchengeschichte oftmals vorgetragene Substitutionstheorie und der Sichtweise, die Kirche allein sei das Volk Gottes und damit die Erbin Israels. Vgl. N. SLENCZKA, „Einwände und Antwortversuche“, 10-15. 456 Vgl. T. SÖDING, Einheit der Heiligen Schrift?, 204-224. B. S. Childs weist darauf hin,

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Entwicklungen müssen sich rabbinisches Judentum und Christentum im gegenseitigen Respekt auf diese Schriften beziehen und anerkennen, dass diese Texte für die Identität beider Religionen unaufgebbar sind. Dazu gehört dann auch, diese „Differenz in gegenseitigem Respekt auszuhalten“.457 Alles, was in diesen Texten ausgesagt wird, bezieht sich auf das Bekenntnis des einen Gottes, dem dann auch die Vorstellung von dem einem Volk Gottes entspricht, da die „Einheit der Schrift […] ein Postulat des christlichen Glaubens [ist], das auch der Einheit des Gottes und seines Volkes abgeleitet wird“.458 Die Einheit Gottes und seines Volkes ist keineswegs eine Wirklichkeit, die von Anfang an die alles verbindende Größe der hebräischen Schriften ist; zu groß und eindeutig ist in den Schriften der Entstehungsprozess hin zum Monotheismus nachzuvollziehen. Aber im Unterschied zu philosophischen Systemen ist der eine Gott Israels der Gott, der nicht statisch in sich selbst verharrt, sondern in die Geschichte mit seinem Volk Israel eintritt und der sich für sein Volk anrufbar macht und damit eine Zukunft erschließt: er ist der Eine, der „hyha rfa hyha“ (Ex 3,14), er ist der wahre Gott, der bei sich ist, indem er bei seinem Volk ist, und in seiner Einzigkeit seine Einheit miteinschließt, indem er demjenigen, der seinen Namen anruft, Zukunft eröffnet.459 An diese Einheit und dass die Theozentrik der Verkündigung Jesu in synoptischer Tradition in der apokalyptischen Vision des Hereinbrechens des Gottesreiches besteht, und weniger als erinnernde Tradition gesehen wird. Vgl. B. S. CHILDS, Theologie der einen Bibel 2, 107110. So sieht auch C. Dohmen in der Theozentrik der zweieinen Bibel die „wichtigste Intention“ gegeben. Vgl. C. DOHMEN, „Der eine Gott in der Zweiheit der einen christlichen Bibel“, in: I. MÜLLNER – L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER – R. SCORALICK (Hgg.), Gottes Name(n). Zum Gedenken an Erich Zenger (= HBS 71), Freiburg – Basel – Wien 2012, 52-66, 61; [in Folge: C. DOHMEN, „Der eine Gott“]. Wenn nun die paulinische Theologie die christologische Theozentrik aufnimmt und ekklesiologisch und sakramental ausrichtet, dann muss der eschatologische Gehalt unterstrichen werden, der das Zusammensein von Judentum und Christentum nochmals in eine geschichtstheologische Spannung versetzt. Sieht sich das Judentum als Volk Gottes anamnetisch begründet, so ist es das Christentum durch die hereinbrechende und zukünftige Gottesherrschaft. Aber gerade der „Zwischenraum“ von Anamnesis und Eschatologie ist der Ort des einen Gottesvolkes in der Geschichte, in dem sich Heilsgeschichte ereignet. 457 M. GERHARDS, Protoevangelium, 54. Siehe auch K. KOCH, „Doppelter Ausgang“, 219, der unterstreicht, dass sich Judentum und Christentum von Anfang an in Kontinuität zum erwählten Israel sahen. 458 T. SÖDING, Einheit der Heiligen Schrift?, 156. F. Crüsemann schreibt dem Volk Israel immer eine Sonderstellung zu, auch wenn die Völker zum Volk Gottes dazukommen. Israel bleibt Erbe und erwählt. Siehe F. CRÜSEMANN, Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen, 200-204. 459 T. SÖDING, Einheit der Heiligen Schrift?, 156-164. Siehe auch G. F ISCHER – D. MARKL, Das Buch Exodus (= NSK-AT 2), Stuttgart 2009, 54-55. In diesem Kommentar wird die Namensoffenbarung mit „Ich werde sein, wer immer ich sein

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Einzigkeit Gottes bindet sich das Neue Testament. Paulus verkündet auf dem Areopag diesen biblischen Glauben an Gott (Apg 17,16-34) und verbindet ihn mit dem Christusereignis, indem er diesen Gottesglauben mit dem Gedanken des universalen Gottes zusammenführt, der nicht als Gegensatz zur Zeit und zum Werden zu denken ist, sondern eine eschatologische Neubestimmung von Zeit und Raum bringt.460 Darin kann Paulus das Einzigkeitsbekenntnis in Dtn 6,4 in 1 Kor 8,6 auf Gott den Vater und seinen präexistenten Sohn hin lesen, ohne damit die Einheit Gottes zu sprengen. Der Gott, den er verkündet, ist der eine Gott und der eine Herr (ku,rioj). In den johanneischen Schriften wird die Einheit und Einzigkeit Gottes von Vater und Sohn verbunden durch den Begriff der avga,ph. Die Liebe ist das Verbindende zwischen Vater und Sohn und konstituiert die Einheit im Geist, denn erst „diese Pneumatologie ermöglicht im Johannesevangelium, die Einheit Gottes radikal theologisch und soteriologisch zu denken, wie diese dem Begriff der Agape entspricht“.461 Johannes entwickelt eine Theologie der Einheit, die nicht nur die innergöttliche Einheit in der Unterscheidung von Vater-Sohn-Geist beschreibt, sondern den Menschen in der Liebe Anteil an der Einheit Gottes gibt (vgl. Joh 17,21). Diese Einheit Gottes spiegelt sich in der Einheit des Gottesvolkes, das diesen Gott bekennt, der sich seines Volkes annimmt und mit ihm in einen Bund eintritt (vgl. Ex 6,7). Das theologische Prius der Erwählung des Volkes Israel drückt sich in seiner politisch-sozialen Struktur aus,462 indem Gott sich um sein Volk sorgt, das er in der Einheit halten und führen möchte. Selbst dann, wenn das Volk aus der werde“ übersetzt, um damit das zukünftige Sein Gottes, seine Freiheit und Unverfügbarkeit zum Ausdruck zu bringen. Zur Einzigkeit und Einheit Gottes, wie sie in Ex 3,14; 34 gegeben ist, muss natürlich auch die innerschriftliche Entmythologisierung mitbedacht werden, indem sich der jahwistische Monotheismus dezidiert vom Götzenkult absetzt, wie es sich in Jes 40,18; 43,10-11 niederschlägt; auch die weisheitliche Vorstellung zeigt, dass die weisheitliche Offenbarung Gottes seine Einheit und Einzigkeit voraussetzt und gerade in der Weisheit – die selbst nicht Gott ist – kommuniziert. Siehe auch B. S. CHILDS, Theologie der einen Bibel 2, 18-20, der unterstreicht, dass der Inhalt des Namens Gottes aus seinem Tun (Ex 3,14) resultiert. Vgl. auch T. SÖDING, Einheit der Heiligen Schrift?, 164-170. 460 Vgl. ebd. 172-177, hier 177: „Daraus [aus der gesamten Areopagrede; Anm. d. Verf.] aber folgt, dass die Einheit Gottes, die indirekt das zentrale Thema der gesamten Rede ist, nicht etwa als reduzierte oder selektierte Vielfalt zu deuten ist, sondern als jene Fülle, die sich in der Weite der Schöpfung und der Unbeirrbarkeit seines in der Auferstehung Jesu kulminierenden Heilswillens ereignet“. 461 Ebd. 185. 462 Vgl. E. ZENGER, „Heilige Schrift“, 19-20. Hierbei unterstreicht der Alttestamentler, dass das einzig Verbindende der alttestamentlichen Texte nicht die Christologie, sondern einzig die Theologie ist. Vgl. auch DERS., Das Erste Testament, 117, 190-192. Siehe auch T. SÖDING, Einheit der Heiligen Schrift?, 188-189 und B. S. CHILDS, Theologie der einen Bibel 2, 101-104.

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Treue des einen Gottes durch seine Untreue ausbricht, hält Gott sein Volk in der Einheit (Jer 30,22), indem er es immer wieder sammelt und zusammenführt (Jes 56,8). Das Neue Testament nimmt mit dem Glauben an die Einheit Gottes auch die Vorstellung der Einheit des Gottesvolkes auf, wobei dies nun nicht mehr eindimensional ,Gott und ein Volk‘ gedacht werden kann, sondern mehrdimensional als das Verhältnis von Israel und Kirche zu Gott. Das, was nun im Neuen Testament die Einheit des Volkes für die Völker begründet, ist für Paulus die Taufe (Gal 3,26-28), die in ihrer Wirkung die Gemeinschaft und das Heil schafft und die Einheit in Jesus Christus begründet. Paulus versteht also das Volk Gottes nicht rein politisch auf das Volk Israel begrenzt, sondern theologisch durch den Glauben konstituiert. Das Volk Gottes stammt für ihn aus der Abrahamsverheißung und aus dem Abrahamsglauben. Spricht Paulus in Gal 3 von der Taufe, dann meint er auch den Glauben Abrahams, der in das Volk Gottes einführt.463 Für die Völker gilt daher die Haltung „in Christus“, die sie in die Abrahamsverheißung hineinnimmt, und worin sich der universale Anspruch der Einheit des Gottesvolkes in allen Nationen in der Einzigkeit des ku,rioj ausdrückt. Nur in der Einheit und in deren Bezug auf die Einzigkeit Christi kann Paulus in Röm 12,4-5 die Kirche, die in ihrer Einheit die Vielfalt der Charismen stärken kann (vgl. 1 Kor 12,613), als den Leib Christi und damit als Teil des einen Gottesvolkes verstehen. Diese Einheit muss sich aber auch im Zueinander von Juden und Heiden ausdrücken. Hält Paulus an der unwiderruflichen Treue Gottes zu seiner Verheißung fest, gilt zuerst den Juden das Heil Gottes (Röm 2,9-10), denn in Abraham ist das Volk Gottes ein für allemal begründet. So kann der Alttestamentler D. Böhler sagen: „Seither ist für jeden einzelnen Angehörigen des Gottesvolkes, sei er als Jude geborenes Kind Abrahams, sei er als Völkerchrist per adoptionem hineingetauft, Gottes Volk eine vorgegebene Größe, in die der einzelne 463

T. SÖDING, Einheit der Heiligen Schrift?, 204. Zum Folgenden siehe ebd. 204-224 und H. SEEBASS, „Über die innere Einheit von Altem und Neuem Testament“, in: C. DOHMEN – T. SÖDING (Hgg.), Eine Bibel – zwei Testamente. Positionen Biblischer Theologie (= UTB 1893), Paderborn 1995, 131-142, 135. Dagegen steht F. CRÜSEMANN, Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen, 211-212. F. Crüsemann sieht den Begriff Volk Gottes für das Christentum nur als eine Metapher, denn andernfalls würde der Begriff „Volk Gottes“ eine neue Bestimmung erhalten, die seiner ursprünglichen nicht mehr entspräche. Dezidiert gegen die Einbeziehung des Christentums in den Volk-GottesBegriff steht J. HAUSMANN, „‚Ihr sollt mein Volk sein, und ich will euer Gott sein‘ – Die Rede vom Volk Gottes als biblische Kategorie“, in: H. HÜBNER – B. JASPERT (Hgg.), Biblische Theologie. Entwürfe der Gegenwart (= BThST 38), Neukirchen-Vluyn 1999, 105-123, besonders 122. Die Kategorie Volk-Gottes solle nur auf Israel angewendet werden, denn ansonsten bestünde die Gefahr, dass Israel seinen Eigenwert verliere. Für das Christentum ist die Vokabel einzig eine eschatologische „Hoffnungsaussage“. Gegen die Vorstellung des einen Gottesvolkes stellt sich auch R. GRÄSSER, Der Alte Bund im Neuen, 285, der dies als „theologisches Wunschdenken“ bezeichnet.

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eingefügt wird“.464 Die Spannung zwischen Israel und den Heiden, zwischen Israel und Kirche – so realistisch ist Paulus in Röm 11 – wird zwar weiterbestehen, aber in der Einheit Gottes erfüllt sein, wenn Gott alles in allem ist (1 Kor 15,28). Kann theologisch von dem einen Volk Gottes gesprochen werden, so darf dies aber nur im Wissen um die bleibende Differenz von Judentum und Kirche geschehen: Die Kirche ersetzt nicht das Volk Israel, ist aber wesentlich auf dieses Volk im Glauben an den einen Gott bezogen (vgl. Röm 15,19). In Eph 4,3 gewinnt diese Sicht der Einheit von Juden und Heiden nochmals eine pneumatologische Konkretion, indem im Geist Juden und Heiden Zugang zum Vater haben, da der Geist die Einheit Gottes und der Kirche bewirkt (Eph 4,13). Gehen Altes und Neues Testament von der Einheit Gottes und des Volkes aus, so hat diese Perspektive auch Auswirkungen auf das Verständnis der Einheit der Schrift, wenn diese als Identitätsurkunde des Glaubens gesehen wird, in der sich die Einheit nicht als menschliches, sondern als theologisches Postulat ausweist. Es ist der Ruf Gottes an sein Volk, der für alle Menschen bestimmt ist. Somit ist die Einheit der Schrift wie die Einheit und Einzigkeit Gottes und seines Volkes nur theologisch zu rechtfertigen, oder – wie T. Söding es formuliert: „Das Gottesvolk verbindet nichts als seine Erwählung; aber diese Erwählung ist das einzige Band der Einheit, das unzerreißbar ist“.465 Das Gotteswort im Menschenwort (1 Thess 2,13) wird zum Zeugnis der Offenbarung Gottes und zur Manifestation des Zieles, alles in Gott zu vereinen. Gott offenbart sich geschichtlich, weshalb die biblischen Texte diese geschichtliche Grundstruktur theologischer Offenbarung aufnehmen und in ihrer unterschiedlichen Art und Weise erzählen müssen. Die Einheit der biblischen Schriften ist aber als eine Einheit in Spannung zu verstehen, die in Kontinuität bei gleichzeitiger Diskontinuität die geschichtliche Dimension des theologischen Gottesglaubens unterstreicht, da sich darin die Spannung des Gottes der bleibenden Verheißung und des Gottes der eschatologischen

464

D. BÖHLER, „Durften die Christen Israel gegen die Kirche austauschen?“, in: J. ARNOLD (Hg.), Sind Religionen austauschbar? Philosophisch-theologische Positionen aus christlicher Sicht (= FTS 67), Münster 2011, 1-25, 22; [in Folge: D. BÖHLER, „Israel gegen die Kirche?“]. 465 T. SÖDING, Einheit der Heiligen Schrift?, 226. Auf den geschichtlichen Charakter der Erwählung aller Völker machte schon der Rabbiner L. Baeck 1926 aufmerksam, indem er die Erwählung Israels nicht nur auf das Volk Israels verstanden wissen will, sondern als universalen Auftrag für die ganze Menschheit sieht: „dem einen Gott kann nur die eine Religion entsprechen, zu der alle Menschen berufen sind, und die darum ihre geschichtliche Erfüllung erst dann gefunden haben kann, wenn sich alle Menschen in ihr vereinen“ (Hervorhebung im Original); L. BAECK, Das Wesen des Judentums, 96.

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Neuschöpfung ausdrückt.466 Die Einheit des Gottesvolkes aus Judentum und Christentum kann keine politische Zuordnung beider geschichtlichen Größen sein, sondern ist wiederum eine theologische Aussage über die Einzigkeit Gottes, die sich im einen Gottesvolk abbildet und für das Christentum eine ekklesiologische Konsequenz in theozentrischer Deutung nach sich zieht. Darum ist H. Frankemölle zuzustimmen, wenn er schreibt: „Vor allem der ekklesiologische Begriff ,Volk Gottes‘ […] betont die Einheit von erstem und zweitem Teil der Bibel, von AT und NT“.467 2.3.

Die LXX als hermeneutischer Zwischenschritt

In der Forschung wird vermehrt danach gefragt, welche Version der Schriften dem jungen Christentum zur Verfügung stand. Benutzten sie

466

B. S. Childs beschreibt in seiner allgemeinen Darlegung einer Biblischen Theologie die Verbindung von Altem und Neuem Testament nicht als eine geradlinige Entwicklung, die stringent auf das Zeugnis Jesu Christi zuläuft, sondern als unterschiedliche Zeugnisse Jesu Christi – als Herz Biblischer Theologie – zu unterschiedlichen Zeiten für unterschiedliche Menschen, um dadurch das Moment der Diskontinuität gegenüber einer allzu starken christologischen Harmonisierung des Alten Testaments zu entgehen und den Eigenwert dieser Schriften zu wahren. Vgl. B. S. CHILDS, Die Theologie der einen Bibel. Grundstrukturen, I, übers. C. OEMING und M. OEMING, Freiburg – Basel – Wien 1994, 111-113; [in Folge: B. S. CHILDS, Theologie der einen Bibel 1]. K. Wengst unterstreicht die bleibende Trennung vom Volk Israel und den Völkern, da die Völker nicht durch die Beschneidung in das Volk Israel eintreten. Richtig sieht er, dass das eine Volk Gottes eben nicht als Einheitsvolk gesehen werden darf, sondern dass das Volk Gottes sich an und durch die Einheit und Einzigkeit Gottes konstituiert und in der Verheißung des Abrahamsglaubens steht. Dies entspricht dann auch der Sicht Pauli, wie er sie in seiner Israeltheologie in Röm 9-11 vorlegt. So fordert der neutestamentliche Exeget, dass die Kirche völlig darauf verzichten solle, den Volk-Gottes-Begriff auf sich zu beziehen. Vgl. K. WENGST, „Einzigkeit Gottes und Einzigkeit jedes Menschen“. Dagegen stellt E. Peterson der Synagoge die Ekklesia gegenüber, indem er dem „fleischlichen Israel“ das „geistige Israel“ der Kirche gegenüberstellt, die dann das „wahre Israel“ sei, das sich Gott auserwählt habe. Vgl. E. PETERSON, „Die Kirche aus Juden und Heiden“, in: DERS., Theologische Traktate (= Ausgewählte Schriften I), B. NICHTWEISS (Hg.), Würzburg 1994, 141-174, 149-152. Das heute eine solche Auslegung von Röm 9-11 als reine Entgegensetzungen von Fleisch/Geist, Gesetz/Logos usw. nicht mehr haltbar ist, ist unbestritten, gerade wenn man sich einer israelsensiblen Theologie nach Auschwitz verpflichtet weiß. E. Peterson veröffentlichte diesen Beitrag 1933, wo jedoch bereits das Drama des 20. Jahrhunderts ansatzweise zu erahnen gewesen wäre. 467H. FRANKEMÖLLE, „Kirche Gottes in Christus“, 389; siehe auch ebd. 390-391. Vgl. dazu auch T. CZOPF, Neues Volk Gottes?, 442-447, hier 443: „Demnach bilden Israel und die Kirche gemeinsam das eine Volk Gottes aus ,Juden und Heiden‘, ausgerichtet auf die ,Völker‘. Israel als ,Urzelle‘ des Gottesvolkes wird in der Kirche durch Heiden ,erweitert‘, nicht ersetzt. Die Mitte dieses endzeitlichen, erweiterten und ,universalisierten‘ Volkes Gottes ist immer noch Israel, Gottes berufenes und geheiligtes Volk, der ,edle Stamm‘, auf den die wilden Triebe aus den ,Nationen‘ aufgepfropft werden“.

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die hebräisch-aramäische Version der Schriften oder die LXX468, die dann für Augustinus (vgl. De doct. chr. II 8,13) im Gegensatz zu Hieronymus der authentisch-inspirierte Text der alttestamentlichen Schriften war. Das Konzil von Trient hielt an der Vulgataübersetzung des Hieronymus fest, der für seine Übersetzung auf die LXX und die hebräischen Texte zurückgriff, und hat damit indirekt auch den hebräischen Kanon festgeschrieben. Die Forschung der letzten Jahrzehnte unterstreicht, dass die ersten Christen den Schriften nicht primär in ihrer hebräischen Version, sondern in der LXX-Übersetzung folgten, da die Autoren der neutestamentlichen Texte, trotz ihrer teilweisen Kenntnis der hebräisch-aramäischen Sprache, Griechisch schrieben.469 Dennoch behielten die hebräischen Schriften eine bleibende Bedeutung im Christentum, worauf auch die genauere und am Hebräischen nähere Übersetzung von Schriftzitaten im Neuen Testament hinweisen.470 In der Entstehung des jüdischen Kanons wird 468 Zur Entstehung der LXX siehe B. G. WRIGHT, The Letter of Aristeas. „Aristeas to Philocrates“ or „On the translation of the Law of the Jews“ (= CEJL 8), Berlin – Boston 2015. Entgegen der LXX-Version des Westens kennt die östliche Orthodoxie noch einen erweiterten LXX-Kanon, der noch den Jeremiasbrief beinhaltet. Vgl. T. SÖDING, Einheit der Heiligen Schrift?, 258. Besonders hervorzuheben ist der Sammelband zur LXXForschung: W. KRAUS, – S. KREUZER, – M. MEISER, – M. SIGISMUND (Hgg.), Die Septuaginta – Text, Wirkung, Rezeption. 4. Internationale Fachtagung veranstaltet von Septuaginta Deutsch (LXX.D), Wuppertal 19.-22. Juli 2012 (= WUNT 325), Tübingen 2014; E. BONS, „Die Septuaginta in der neueren Exegese. Forschungsgeschichtlicher Hintergrund, theologische Akzente, gesamtbiblische Perspektiven“, VF 60 (2015) 29-42; [in Folge, E. BONS, „Die Septuaginta in neuerer Exegese“]. Für die jüdische LXX siehe M. HENGEL, „Die Septuaginta als ‚christliche Schriftensammlung‘ und das Problem ihres Kanons“, in: W. PANNENBERG – T. SCHNEIDER (Hgg.), Verbindliches Zeugnis I. Kanon – Schrift – Tradition (= Dialog der Kirchen 7), Göttingen 1992, 11-127, 82-100; [in Folge: M. HENGEL, „Die Septuaginta als christliche Schriftensammlung“]; T. NICKLAS, „The development of the christian Bible“, in: K. FINSTERBUSCH – A. LANGE (eds.), What is Bible? (= CBET 67), Leuven – Walpole, 2012, 393-426, 400-403; [in Folge: T. NICKLAS, „The development of the christian Bible“]. 469 Vgl. J. SCHRÖTER, „Altes Testament im Urchristentum“, 57-68, hier 67: „Festhalten lässt sich demnach, dass im Urchristentum griechische Übersetzungen der Schriften Israels als autoritativ vorausgesetzt wurden. […] Ein unmittelbarer Rückgriff auf den hebräischen Text ist dagegen für die urchristlichen Autoren nicht anzunehmen. In vielen Fällen dürfte dies schon aufgrund fehlender Sprachkenntnisse auszuschließen sein“. Vgl. auch E. BONS, „Die Septuaginta in neuerer Forschung“, 40; H.-J. FABRY, „Der Beitrag der Septuaginta-Codizes zur Kanonfrage. Kanon-theologische Überlegungen zu Einheit und Vielheit biblischer Theologie“, in: S. KREUZER – M. MEISER – M. SIGISMUND (Hgg.), Die Septuaginta – Entstehung, Sprache, Geschichte. 3. Internationale Fachtagung veranstaltet von Septuaginta Deutsch (LXX.D), Wuppertal 22.-25. Juli 2010 (= WUNT 286), Tübingen 2012, 582-599, 582; [in Folge: H.-J. FABRY, „Der Beitrag der Septuaginta-Codizes“]. Auch M. HENGEL, „Die Septuaginta als christliche Schriftensammlung“, 37. Aus jüdischer Perspektive erinnert an diesen Sachverhalt H. LISS, „An der Sache vorbei“, 9. 470 Hier verfolgt T. Söding eine andere Auffassung als J. Schröter, der für einen expliziten Rückgriff auf die LXX plädiert, wobei T. Söding auch die LXX als primären Bezugstext

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zwar von Beginn an auf die hebräischen Schriften zurückgegriffen, wobei der hebräische Kanon eine „frühjüdische Redaktionsarbeit [ist], die in ihrer letzten Phase parallel zur Bildung des christlichen Kanons beider Testamente abgelaufen ist“.471 Die LXX verliert demnach für das rabbinische Judentum mehr und mehr an Bedeutung, wenn selbst in der oftmals griechischsprachigen Diaspora im Synagogengottesdienst der hebräische Schrifttext vorgetragen wurde und erst die Auslegung dazu in der entsprechenden Sprache erfolgte. Dies kann als ein Versuch der Absetzung gegenüber dem Christentum und dessen Verwendung der griechischen Schriften gewertet werden, unterstreicht aber mehr noch die enorme Bedeutung der Schriften Israels für das Christentum. Dies zeigt auch die Tatsache, dass die gängige Textversion der LXX christlich geprägt und ausgearbeitet ist, sich aber damit in eine Überlieferungspluralität einfügt, die auch für den Masoretentext gegeben ist.472 Die LXX und ihre Entstehung ist ein Zeugnis für die des Christentums sieht, jedoch mit Korrekturen an der LXX-Version durch revidierte Übersetzungen in den Zitaten. Siehe dazu T. SÖDING, Einheit der Heiligen Schrift?, 260262. Insgesamt unterstreicht er die Bedeutung der LXX auch für heutige christliche und alttestamentliche Theologie, wenn er schreibt: „Die Vernachlässigung der Biblia Graeca Veteris Testamenti ist ein empfindlicher Mangel zahlreicher biblischer und alttestamentlicher Theologien. Das Alte Testament der Christenheit ist nicht mit dem masoretischen Text deckungsgleich“. Ebd. 262. Diese Mahnung zur Zusammenschau beider Kanones kann auch als Mahnung gelesen werden, die sich nur auf den LXX-Text beziehen möchte, dabei aber die unübersehbare Abhängigkeit der LXX von der hebräischen Version übersieht, so wie es H. Gese formuliert hat: „Eine christliche Theologie darf den masoretischen Kanon niemals gutheißen; denn der Kontinuität zum Neuen Testament wird hier in bedeutendem Maße Abbruch getan“. Vgl. H. GESE, „Erwägungen zur Einheit“, 16-17. 471 T. SÖDING, Einheit der Heiligen Schrift?, 256-257. Dabei ist aber auf das zu achten, was die neuere LXX-Forschung zusammen mit der Qumranforschung herausgearbeitet hat, nämlich dass die quantitativen Unterschiede der LXX zum Masoretentext nicht durch die LXX eingeführt wurden, sondern dass es einen unterschiedlichen hebräischen Text zum Masoretentext gibt, der auch in Qumran bezeugt ist. Damit kann die LXX nicht als eine Depravation des Originaltextes gewertet werden, sondern ist vielmehr ein Zeugnis für die Textpluralität, die es bereits zur Entstehungszeit des Masoretentextes gab. Vgl. E. BONS, „Die Septuaginta in neuerer Forschung“, 34. M. Hengel geht davon aus, dass es im 4.-5. Jahrhundert noch keinen festen Kanon gab, da sich die drei großen Codices in griechischer Sprache – Vaticanus, Sinaiticus und Alexandrinus – noch grundlegend in der Zusammenstellung und im Umfang unterscheiden. Vgl. M. HENGEL, „Die Septuaginta als christliche Schriftensammlung“, 65-68. Siehe auch H.-J. FABRY, „Ein Gott – zwei Testamente – drei Kanones“, 124-125. H.-J. Fabry erklärt die Unterschiede damit, dass der Masoretentext bewusst die prä-LXX Textzeugnissse aufnimmt, um sich gegen eine hellenistisch-philosophische und christologische Deutung der Texte zu stellen. 472 Vgl. F CRÜSEMANN, Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen, 147-150. F. Crüsemann sieht in diesem Auseinandertreten der Sprachformen der Schrift das Krisenpotential zwischen Judentum und Christentum vorgezeichnet, wenn er schreibt: „Die Rolle der Septuaginta im Christentum ist vom rabbinischen Judentum aus gesehen geradezu ein Symbol des Scheiterns einer positiven Beziehung und gehört in den Beginn der offenen oder versteckten vom Christentum ausgehenden Gewaltgeschichte“ (150)

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Entstehung des alttestamentlichen Kanons, der nicht rein christlich zu verstehen ist, sondern aus und im Dialog mit dem Judentum, und sich einfügt in eine Textgeschichte, die heute nicht mehr unilateral allein vom Judentum oder Christentum aus gelesen werden kann. Indem sich die Konzentration des Christentums auf die LXX in den breiten Überlieferungsstrom des Masoretentextes einfügt, wird eine weitaus größere Bindung des Christentums an die hebräischen Schriften in ihrer griechischen Form deutlich, als dies bisher angenommen wurde, weil gerade der christliche Kanon in Folge der LXX den Masoretentext beeinflusst und sich der Masoretentext des rabbinischen Judentums bewusst gegen eine sich etablierende christlich-heilsgeschichtliche Anordnung der Bücher wendet und eine Tora-zentrierte Anordnung der Bücher vorlegt.473 Somit muss auch davon ausgegangen werden, dass selbst das rabbinische Judentum seine Schriften alleine für sich reklamierte und mit einem festen Kanon dem wachsenden Christentum gegenüberstand. Man kann gerade mit der neueren LXX- und Qumranforschung darauf schließen, dass es einen Grundstock an hebräischen Schriften gab, die in hebräischer und griechischer Sprache vorlagen, die sich aber dann erst im Laufe der ersten Jahrhunderte zu den jeweiligen Kanones entwickelt haben, indem mit dem Kanonprozess auch ein Interpretationsprozess dieser Schriften einherging. Daher zieht H.-J. Fabry den Schluss: Es zeigt sich, „dass die Geschehnisse im Umkreis der Entstehung der jüdischen wie auch der christlichen Bibel wesentlich komplizierter waren, als sie gemeinhin dargestellt werden. Das komplexe Spiel zwischen der Hebräischen Bibel, der Septuaginta und dem Masoretischen Text (Tanakh) lässt Überlegungen wie ,Die Christen haben den Juden die Bibel weggenommen‘ banal erscheinen. Ganz sicher haben die frühen Christen die ihnen vorliegenden Bücher sehr ernst genommen, genauestens analysiert und in ihr solche untrüglichen Hinweise auf ihren Herrn Jesus gesehen […]“.474

Der Bezug von Judentum und Christentum auf die Schriften in ihrer jeweiligen Form muss dann aber auch davor hüten, in überzogener Weise vom „Neuen des Neuen Testaments“ zu sprechen, da das Neue des Christentums nicht ohne das Neue des Alten Testaments zu denken und zu verstehen ist, da gerade die doppelte Interpretation derselben Schriften schon ein Verweis darauf ist, dass sich der Sinn dieser oder: „Eine Hochschätzung des fremden ersten Teils der christlichen Bibel scheint leichter zu ertragen, wenn es sich dabei um eine eigene, vom offiziellen Judentum abgelehnte Form [wie der LXX; Anm. d. Verf.] handelt, in der zudem eine Kontinuität zum altkirchlichen Antijudaismus neu theologiefähig werden könnte“ (151). Diese Aussagen können und dürfen nicht gegen N. Slenczka gelesen werden, da der Berliner Systematiker seine These der Dekanonisierung an keiner Stelle mit der LXX oder anderen Argumenten belegt, die F. Crüsemann für den christlichen Antijudaismus anführt. 473 Vgl. H.-J. FABRY, „Der Beitrag der Septuaginta-Codizes“, 594-596. 474 Ebd. 599.

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Schriften nicht rein univok aussagen lässt. Selbst wenn die LXX bereits als Interpretation der hebräischen Schriften gesehen wird, so spiegelt sich in diesem Vorgang die Sinndimension der ursprünglichen Texte, die eine doppelte Lesung der Texte erlaubt. Bei allen Gemeinsamkeiten zwischen den entstehenden Kanones des Judentums und des Christentums muss daran festgehalten werden, dass beide Kanones ihre eigene Entwicklung im Gegeneinander und Zueinander durchlaufen haben. Die Kanonentwicklung und die Kanonabschlüsse legen somit Zeugnis davon ab, dass die hebräischen Schriften auf zwei Wegen rezipiert wurden. Das Alte Testament ist nicht einfach die christliche Adaption des jüdischen Kanons, wie er sich in der Gestalt des Tanach darstellt, sondern muss als eine eigene kanonische Leistung des Christentums gesehen werden. Wenn die LXX nach neueren Forschungen mehr und mehr als christliche Größe wahrgenommen wird, dann ist ausgesagt, dass die alttestamentlichen Schriften genuin christlich sind, da hinter dem Kanonprozess eine explizite Entscheidung für die hebräischen Schriften in Form der LXX steht, die sich auch darin ausdrückt, dass die Tanach-Struktur in eine heilsgeschichtliche Perspektive, wie sie sich in der Anordnung vom Pentateuch über die Geschichts-, Weisheit- und Prophetenbücher ausdrückt, überführt wird.475 Darum muss im christlich-jüdischen Dialog deutlich werden, dass das Alte Testament keine Vereinnahmung der hebräischen Schriften ist, sondern als ein durch theologische Rezeption gebildetes „Vetus Testamentum in Novo receptum“, welches zu unterscheiden ist vom „Vetus Testamentum per se“.476 Die 475

Siehe dazu die Aufstellung des Tanach und des Alten Testaments in E. ZENGER, „Heilige Schrift“, 30. J. A. Sanders unterstreicht, dass gerade die heilsgeschichtliche Perspektive besonders der Tora im Neuen Testament eine wesentlich wichtigere Rolle spielt als das Gesetz. Dies muss christliche Theologie auch im Zusammendenken von Altem und Neuem Testament immer wieder bekräftigen. Vgl. J. A. SANDERS, From Sacred Story to Sacred Text, 44-45. 476 H. HÜBNER, „Warum Biblische Theologie?“, in: DERS. – B. JASPERT (Hgg.), Biblische Theologie. Entwürfe der Gegenwart (= BThST 38), Neukirchen-Vluyn 1999, 9-39. 28; [in Folge: H. HÜBNER, „Warum Biblische Theologie?“]. H. Hübner weist darauf hin, dass in selektiv erscheinender Zitation alttestamentlicher Schriften die neutestamentlichen Autoren immer das gesamte Alte Testament im Blick hatten, sich die Zitationen jedoch an Predigt und Katechese orientierten. Gerade bei diesem Aspekt muss auch darauf hingewiesen werden, dass der Moment der Kanonbildung ein ekklesiologisch konstitutives Moment ist. Nicht nur die Kirche bildet autoritativ den Kanon, auch der Kanon wirkt auf die Kirchenbildung und auf das Kirchenverständnis, indem sich die Kirche von den Schriften definiert weiß. In diesem Zusammenhang ist dann ein erweitertes Verständnis von Inspiration möglich, indem Kanonbildung und Kirchenbildung zusammengedacht werden, da es der Geist Gottes ist, der die Einheit der Kirche und die Einheit der Testamente bewirkt. Siehe dazu T. SÖDING, „Entwürfe Biblischer Theologie in der Gegenwart. Eine neutestamentliche Standortbestimmung“, in: H. HÜBNER – B. JASPERT (Hgg.), Biblische Theologie. Entwürfe der Gegenwart

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hebräischen Schriften werden nicht nur in den christlichen Kanon übernommen, da es der religiös-kulturelle Lebensraum Jesu und seiner Jünger war, sondern auch aus einer dezidierten Entscheidung für die Theologie und Verheißung dieser Schriften, die damit mehr sind als der religionsgeschichtliche Horizont, nämlich die normative und bindende Größe an die theologische Selbstaussage Gottes in der Geschichte und in Jesus Christus.

(= BThST 38), Neukirchen-Vluyn 1999, 41-103, 59-60; [in Folge: T. SÖDING, „Entwürfe Biblischer Theologie“]. Siehe auch M. REISER, Die Autorität der Heiligen Schrift im Wandel der Zeiten. Studien zur Geschichte der biblischen Exegese und Hermeneutik, Fohren-Linden 2016, 47 [in Folge: M. REISER, Autorität der Heiligen Schrift].

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3.

Hermeneutische Anfragen an N. Slenczka

Mit der Dekanonisierung der alttestamentlichen Schriften kündigt N. Slenczka auch die Heilskontinuität von Judentum und Christentum auf. Dies darf nicht so verstanden werden, dass das Heil dem jüdischen Volk mit dem Christusereignis abgesprochen wird, sondern es lässt sich mit der Heilszusage, wie sie in Jesus Christus verkündet wird, nicht mehr vereinen: Dem Judentum ist das Heil durch die Tora, dem Christentum durch Jesus Christus gegeben. Damit verbunden ist die Frage nach der Auslegung der Schriften. Wenn keine Kontinuität im Heilsgeschehen angenommen werden kann, dann ist es auch sinnlos, nach einer Kontinuität in der Schriftauslegung zu fragen, die dieses Heil bezeugt. N. Slenczka arbeitet und argumentiert mit Hilfe der historischkritischen Methode und stützt seine Arbeiten darauf. Es ist der historische Sinn, der beide Testamente der jeweiligen Religion zuordnet und den Eigenwert der Schriften für Judentum und Christentum herausarbeitet.477 Aber mit A. Schüle kann in dieser Hinsicht auch kritisch angemerkt werden, „dass der historischen Rekonstruktion der Texte, also der Rückwärtsbewegung, kein Verständnis der Traditionsentwicklung nach vorne entspricht“.478 Eine 477

Für einen der Verteidiger der These Slenczkas, R. Leonhard, hängt bereits am Votum der historisch-kritischen Methode eine unterschiedliche Wertung der beiden Kanonteile. Dies sei auch „weitgehender Konsens in der systematisch-theologischen Bibelhermeneutik des neueren deutschsprachigen Protestantismus“, denn wer „die theologische Priorität des Neuen Testaments bestreitet, steht in der Gefahr, das Proprium des Christentums zu verfehlen“. Vgl. R. LEONHARD, „Viel Lärm um nichts“, 14-15. Dem entgegnet wiederum F. Pieper mit dem Argument, dass das Urchristentum die Schriften Israels als „zuverlässige und authentische Kunde von Gott“ und als „durchgehenden Bezugspunkt ihrer theologischen Deutungsarbeit“ verstanden hat. Darum gilt: „Das Neue Testament selbst schreibt die normative Geltung des Alten Testaments für die christliche Kirche und deren Theologie fest. Wer heute ‚Priorität des Neuen Testaments!‘ ruft, dem ruft das Neue Testament zu: ‚normative Geltung des Alten Testaments!‘“. F. PIEPER, „Das Neue Testament setzt die normative Geltung des Alten Testaments voraus. Widerspruch zu Professor Dr. Rochus Leonhardt, ‚Viel Lärm um nichts‘“, EpdD 48 (7/2016) 21-22, 21. – Auf einen wichtigen Punkt weist H.-J. Kraus hin, der eine nicht zu unterschätzende geschichtliche Verbindung aufzeigt. Natürlich war das alttestamentliche Wort zuerst ein „verbum alienum“, das aber zum „verbum concretissimus“ wurde, von dem das Christentum in seiner Geschichte immer wieder als Gericht und Gnade getroffen wird, das „klare Weisung“ gibt. Kirche ist analog dem Volk Israel in der Geschichte immer wieder bedroht und „wacht […] zu neuem Hören auf. Abraham, Mose und Daniel wurden der Bekennenden Kirche zu Vorbildern, zu Typoi der eigenen Situation“. Vgl. H.-J. KRAUS, „Das Alte Testament in der ‚Bekennenden Kirche‘“, KuI 1 (1986) 26-46, 37; [in Folge: H.-J. KRAUS, „Bekennende Kirche“]. Für M. Gerhards ist es „aus hermeneutischer und literaturwissenschaftlicher Sicht eine so veraltete Position“, anzunehmen, dass allein der historische Autorensinn der normative Sinn sein soll. Er plädiert dafür, dass Texte einen Sinn entfalten können, der vom Autor gar nicht in Betracht gezogen wurde. Siehe M. GERHARDS, Protoevangelium, 92-94. 478 A. SCHÜLE, „Alte Testament und der verstehende Glaube“, 198. A. Schüle sieht hier

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Wissenschaft, die sich mit den biblischen Texten beschäftigt, muss historisch-kritische Untersuchungen durchführen, um den Ursprung der Texte zu erhellen. Aber sie darf dabei nicht übersehen, dass jeder Text, sobald er der Schreibfeder des Autors entronnen ist, in einer Rezeptionskontinuität und Wirkungshermeneutik steht. Dort, wo Theologen sich einzig auf die historisch-kritische Methode beschränken, verschließen sie das Verstehen biblischer Texte auf einen abgegrenzten historischen Zeitraum. Hier drängt sich die Frage auf, ob im Alten Testament nur von einem statischen Sinn ausgegangen werden kann, der zwar historisch ist, aber keiner weiteren Rezeption unterliegt. Diese Anfrage muss auch an N. Slenczka gestellt werden, wie und womit genau festgestellt werden soll, dass ein Text einzig und allein einen historisch-statischen Sinn hat, der jeder weiteren Fortschreibung entzogen ist. Bei einer historischen Texteingrenzung wird aber übersehen, dass Texte der Reflexion unterworfen sind und durch Reflexion weitergegeben werden und damit Medium religiöser Überlieferung und religiösen Wissens werden. Folgt man dieser Überlegung, dann wird deutlich, dass religiöse Texte als historische Texte auch eine „relevante Metaebene“ haben.479 3.1.

Die Neukontextualisierung der hebräischen Schriften

Seit Beginn ihres Glaubensweges waren die hebräischen Schriften auch für das Christentum die Heiligen Schriften. Mit den ersten Zusammenstellungen dieser mit den Schriften des Neuen Testaments kommt es zu einer doppelten Neukontextualisierung. Der entscheidende neue Kontext ist die Erfahrung von Tod und Auferstehung Jesu Christi. Mit den vorgegebenen Heiligen Schriften ist den ersten Anhängern Jesu das Verständnis gegeben, dass mit diesem Ereignis die besonders die hermeneutischen Weichenstellungen ab den 19. Jahrhundert kritisch, wenn er pointiert auf ein Dictum A. v. Harnacks anspielt: „Das Alte Testament im 2. Jahrhundert zu verwerfen, war ein Fehler, den die große Kirche mit Recht abgelehnt hat; es im 16. Jahrhundert in eine gesamtbiblische Hermeneutik von Gesetz und Evangelium einzubinden, gehörte offenbar zur Identität reformatorischer Theologie; es aber seit dem 19. Jahrhundert dem Verdacht mangelnder Kanonizität auszusetzen, ist die Folge einer Krise des modernen Liberalismus“. Siehe auch M. OEMING, „Der Kampf um das Alte Testament“, 7, der es prägnant auf den Punkt bringt: „Die Hermeneutik des Alten Testaments führt direkt und unmittelbar in die Hermeneutik des Neuen Testaments“. Ähnlich auch DERS., Das Alte Testament als Teil des christlichen Kanons?, 241: „Die Folge einer Abschaffung des Alten Testaments wäre eine religiöse und kirchliche Lähmung und Erstarrung“. 479 Siehe A. SCHÜLE, „Altes Testament und der verstehende Glaube“, 204. C. Dohmen weist darauf hin, dass biblische Texte als Bücher wahrgenommen und als solche unabhängig vom Glauben mit den „Einsichten der Literaturwissenschaften“ untersucht werden müssen, um zu einem tieferen Verständnis der Texte zu gelangen. Vgl. C. DOHMEN, Die Bibel und ihre Auslegung (= Beck’sche Reihe 2099), München 32006, 8-9; [in Folge: C. DOHMEN, Bibel und Auslegung].

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endgültige eschatologische Erlösungstat Gottes eintritt. Ohne die Schriften des Judentums wäre das Ereignis von Tod und Auferstehung Jesu nicht deutbar, da sich Jesus selbst mit seiner Verkündigung und seiner Tat eben in diesem Horizont verstand. Die Verkündigung des Neuen Testaments setzt grundlegend bei Tod und Auferstehung Jesu Christi an und nimmt in diesem Ereignis seinen Ausgangspunkt, zu dessen Verkündigung es dann das Alte Testament einbezieht. Dennoch ist das sprachliche und geistige Vokabular des Alten Testaments in der christologischen Verkündigung nicht nur ein Rückgriff auf Vorliegendes, sondern deutet darauf hin, dass sich das Christusereignis auf dieselbe göttliche Wirklichkeit und Gottes geschichtliches Handeln bezieht, wie es im Alten Testament zum Ausdruck kommt. Die Beziehung beider Testamente auf das Faktum Gottes rechtfertigt die sprachliche und theologische Verbindung beider Testamente.480 Es geht mit dem Verweis auf die hebräischen Schriften nicht darum, dass das Christusereignis irgendwie gegenüber anderen Philosophien oder Denkströmungen abgegrenzt und als Religion definiert wird, sondern dass es vom Ursprung der Geschichte Gottes her erschlossen wird, indem es das Christusereignis auf die Quelle aller biblischen Worte zurückführt. Darum muss mit F. Hartenstein daran festgehalten werden, dass „die biblischen Texte des späteren ersten Kanonteils ab der frühchristlichen Rezeption dem Christentum unhintergehbar vor- und aufgegeben [sind]: historisch wie hermeneutisch“.481 Die Kanonbildung482 mit den hebräischen Schriften als Altes Testament ist 480 Vgl. dazu B. S. CHILDS, Theologie der einen Bibel 2, 161 und F. CRÜSEMANN, Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen, 261-275. Zur Pluralität und unterschiedlichen Hermeneutiken alttestamentlicher Schriftbezüge im Neuen Testament siehe A. BEHRENS, Das Alte Testament verstehen. Die Hermeneutik des ersten Teils der christlichen Bibel (= Einführungen in das Alte Testament 1), Göttingen 2013, 33-41; [in Folge: A. BEHRENS, Das Alte Testament verstehen]. M. Witte unterstreicht dabei, dass das Neue Testament drei Methoden des Schriftgebrauchs kennt, die allegorische, die typologische und die eschatologische. Vgl. M. WITTE, Jesus Christus im Alten Testament, 9-16. Gegen die Position der Normativität des Alten Testaments aufgrund des faktischen Rückgriffs – egal ob allegorisch, wörtlich oder eschatologisch – siehe N. SLENCZKA, „Einwände und Antwortversuche“, 85. 481 F. HARTENSTEIN, Die bleibende Bedeutung des Alten Testaments, 62-63 (Hervorhebung im Original). Siehe auch ebd. 17-18. Siehe auch T. SÖDING, Einheit der Heiligen Schrift?, 343-345. 482 Zum Kanon des Alten Testaments siehe: Ebd. 295-325; P. BRANDT, Endgestalten des Kanons. Das Arrangement der Schriften Israels in der jüdischen und christlichen Bibel (= BBB 131), Berlin 2001; J. MAIER, Studien zur jüdischen Bibel und ihrer Geschichte (= SJ 28), Berlin 2004; A. HAHN, Canon Hebraeorum – canon ecclesiae. Zur deuterokanonischen Frage im Rahmen der Begründung alttestamentlicher Schriftkanonizität in neuerer römisch-katholischer Dogmatik (= STB 2), Wien 2009, besonders 179-256; zum hebräischen Kanon siehe E. BOSSHARD-NEPUSTIL, Schriftwerdung der Hebräischen Bibel. Thematisierungen der Schriftlichkeit biblischer

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also nicht eine bewusste Entscheidung für eine bestimmte Anzahl von Schriften, sondern die logische Weiterführung des Deutehorizonts in einem neuen Kontext. Die Schriften des wachsenden Christentums werden im Kontext sowohl der hebräischen als auch der neu entstehenden Schriften verstanden, indem in Bezug auf das Christusereignis eine wechselseitige Kontextualisierung erfolgt. Die Neukontextualisierung hängt wesentlich damit zusammen, dass man auch bei biblischen Texten zwischen der Intention des Autors und der Bedeutung des Textes unterscheiden kann und muss. Nicht die einzelne Autorenintention lässt einen Text normativ sein, sondern der Text in seinem Kontext zu anderen Texten, der über die Autorenintention hinausgehen kann. Darum kann christliche Theologie nicht einzig beim diachronen Text stehen bleiben, denn es waren nicht die historischen Urtexte, die in die Rezeption des Judentums oder des Christentums eingegangen sind, sondern der synchrone Text, der in seiner Rezeption auch eine Redaktion erfahren hat.483 Verbunden mit dem Inspirationsverständnis können diese Texte als Identitätsurkunde für Judentum und Christentum gelten, da sie sich auf die Rezeption alttestamentlicher Schriften in den neutestamentlichen beziehen. Die langsame Bildung des Kanons der neutestamentlichen Schriften lässt in ihrem Entstehen keine Abstoßung und Gegenüberstellung erkennen, sondern das gemeinsame Erbe wird fortgeführt und in einen neuen Lebens-, Glaubens- und Kulturkontext eingeschrieben. Dahinter steht die Grundüberzeugung, dass die Inspiration der Schrift in den hebräischen und neutestamentlichen Schriften dieselbe Quelle hat. Aufgrund dieser einen Quelle und mit Gott als auctor (Urheber!) können all diese Schriften den einen Gott bekennen und von ihm zeugen. In dieser Hinsicht muss auch das Relationsmodell gelesen Texte im Rahmen ihrer Literaturgeschichte (= ATANT 106), Zürich 2015; K. SCHMID – J. SCHRÖTER, Die Entstehung der Bibel, 70-286. Zum neutestamentlichen Kanon siehe H. V. LIPS, Der neutestamentliche Kanon. Seine Geschichte und Bedeutung (= Züricher Grundrisse zur Bibel), Zürich 2004, darin besonders 25-29, 48-76 und T. NICKLAS, „The development of the christian Bible“, 393-426; K. SCHMID – J. SCHRÖTER, Die Entstehung der Bibel, 287-356. Zum gesamtchristlichen Kanon siehe: B. JANOWSKI, „Die kontrastive Einheit der Schrift. Zur Hermeneutik des biblischen Kanons“, in: G. THOMAS – A. SCHÜLE (Hgg.), Gegenwart des lebendigen Christus, FS für Michael WELKER, Leipzig 2007, 77-93. 483 Vgl. L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Was heißt heute, die Bibel sei inspiriertes Wort Gottes?“, in: T. SÖDING (Hg.), Geist im Buchstaben? Neue Ansätze in der Exegese (= QD 225), Freiburg – Basel – Wien 2007, 35-50, 38-39; [in Folge: L. SCHWIENHORSTSCHÖNBERGER, „Was heißt heute“]. Der Autor weist auch darauf hin, dass letztlich die intentio auctoris normativ sei, der aber nach christlichem Verständnis Gott selbst ist. Thomas v. Aquin schreibt es kurz und prägnant: „Auctor sacrae Scripturae Deus est“. Vgl. S. th. q. 1 a. 10. Um dabei im Deutschen weitere Missverständnisse zu vermeiden, muss auf den Unterschied zwischen auctor und scriptor im Lateinischen aufmerksam gemacht werden. Im Deutschen sind die Begriffe mit Urheber und Autor wiederzugeben.

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werden, das Altes und Neues Testament zusammen denkt, indem es die Rückbindung des Neuen an das Alte Testament unterstreicht. Gerade darin drückt sich der Anspruch aus, wenn von der Offenbarung Gottes als geschichtliches Handeln ausgegangen wird, da es eben kein statisches Verkünden einer Wahrheit ist, die einmal in einem Text niedergeschrieben wurde, sondern als geschichtliches Handeln einen Bezug und eine Bedeutung für die Geschichte hat: „Offenbarung, so könnte man sagen, ist nicht in erster Linie Text, sondern neuer Kontext“.484 Die biblischen Schriften stehen also nicht einzig für ein historisches Ereignis, sondern bezeugen ein Ereignis und setzten dieses Ereignis mit der Geschichte in Beziehung. Dies darf natürlich nicht so gelesen werden, dass das Alte Testament in sich unabgeschlossen und unvollständig wäre und erst im Neuen Testament seine Fülle erhielte. Vielmehr muss die thematische Verknüpfung als ein gegenseitiges Erklären gewertet werden, indem das Neue Testament durch das Alte erklärt und damit in einer Kontinuität gelesen wird, ohne dass dabei der hermeneutische Schlüssel der Überbietung des einen über das andere regiert. Alle biblischen Texte tragen eine Offenheit in sich, die eine Neukontextualisierung erlaubt, womit biblische Texte erst ihre eigentliche Gegenwartsrelevanz ausweisen können. Eine Neukontextualisierung ist schon allein damit gegeben, dass das religiöse Bewusstsein Jesu im Judentum verankert war, womit sich die Frage nach der religiösen Identität des Christentums bereits bei Jesus selbst andeutete. Es kann zwar gesagt werden, dass mit Jesus von Nazareth etwas Neues beginnt, das sich aber nicht vom Gegebenen absetzt. Einen absoluten Geschichtssprung kann es nicht geben, sondern auch das Neue bleibt immer in Kontinuität mit dem Vorhergehenden. M. Pietsch folgert damit treffend: „Gegen dieses Konzept [des absoluten Neueinsatzes in der Geschichte; Anm. d. Verf.], das dem Begriff des religiösen Genies verwandt ist, wird man einwenden müssen, dass es konsequent geschichtlichem Verstehen widerspricht. Selbst in religiösen Umbruchsituationen, wie in der klassischen Unheilsprophetie des alten Israel oder in der reformatorischen Bewegung, wirken traditionelle Denkmuster fort. Sie werden teils umgebildet und neu adaptiert, teils gegen Missdeutungen geschützt und erinnert. Tradition und Innovation bleiben konstitutiv aufeinander bezogen. Gleiches trifft für die frühchristlichen Identitätskonstruktionen zu, die ihr

484

Vgl. R. VODERHOLZER, „‚Die Heilige Schrift wächst irgendwie mit den Lesern‘ (Gregor der Große). Dogmatik und Rezeptionsästhetik“, MThZ 56 (2005) 162-175, wieder aufgenommen und zitiert nach: DERS., Offenbarung, Tradition und Schriftauslegung. Bausteine zu einer christlichen Bibelhermeneutik, Regensburg 2013, 151-169, hier 161; [in Folge: R. VODERHOLZER, Offenbarung, Tradition und Schriftauslegung].

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Selbstverständnis nur im Wahrheitsraum der heiligen Schriften des Judentums explizieren konnten“.485

Alles, was in den ersten christlichen Generationen aus dem Alten Testament auf Jesus Christus hin übertragen und auf ihn hin ausgelegt wurde, bekommt ein neues Sinnpotential, aber damit ist nie eine Abtrennung des eigentlichen und ursprünglichen Gedankens gegeben. In der Neukontextualisierung der Schriften Israels durch das Christentum kommt es zu einem Zusammen-Lesen der vorgegebenen Heiligen Schriften Israels und der neu entstandenen Schriften der Christen. Nicht mehr allein die hebräischen Schriften werden als Heilige Schrift gesehen, sondern die Verbindung dieser mit denen des Neuen Testaments wird nun die Heilige Schrift des Christentums 485

M. PIETSCH, „Fremde Gott“, 10-11. Vgl. dazu auch den Beitrag von R. HECKL, „Das Alte Testament – Grundlage christlicher Identität. Von der Entstehung der autoritativen Literatur des Judentums zu einer Hermeneutik des Alten Testaments“, ThLZ 143 (2018) 437-452. Darin zeichnet der Autor die Entstehung des hebräischen Kanons nach und stellt die Entstehung der christlichen Gemeinden mit ihrem neutestamentlichen Kanon in Parallele dazu. Gerade der normative Bezug auf die hebräischen Schriften ist Identitätsstiftung für das sich entwickelnde Christentum im ersten und zweiten Jahrhundert, womit die hebräischen Schriften nicht nur wichtige Bezugsgrößen sind, sondern zur DNA des Christentums gehören: „Der Zusammenhang von alttestamentlichen und neutestamentlichen Schriften hat sich zusammen mit der christlichen Identität herausgebildet. Zusammen mit der Formierung des Christentums entstand ein umfangreicherer Grundlagentext. […]“ (ebd. 450). „Wie sich das Judentum durch die Geschichte hindurch trotz aller Polemik immer ein differenziertes Verhältnis zu den Samaritanern bewahrt hat, so ist sich das Christentum immer seines besonderen Verhältnisses zu Israel bewusst gewesen, und unsere Bibel aus Altem und Neuem Testament zeugt weiter von einem kontroversen Prozess von Identifikation und Abgrenzung. Sie hat maßgeblich zur Herausbildung der christlichen Identität beigetragen. Würde man die Normativität des Alten Testaments bestreiten und allein die Schriften des Neuen Testaments für normativ halten, würde das die christliche Identität selbst in Frage stellen“ (ebd. 452). N. Slenczka reagiert auf den Beitrag R. Heckls und weist darauf hin, dass aus der Faktizität der jüdischen Kanonentstehung einerseits und andererseits die Wertschätzung und der Gebrauch der hebräischen Schriften durch das junge Christentum keine Normativität abgleitet werden kann. Vgl. dazu die Einwände veröffentlicht in der PDF-Datei N. SLENCZKA, „Einwände und Antwortversuche“, 77-89, hier 77 [https://www.theologie.hu-berlin.de/de/professuren/professuren/st/AT/texte-zur-debatteseit-2017-2/slenczka-antworten-gesamt/view; zuletzt abgerufen am 22.03.2019]. Gegen die von Heckl vorgetragene These, die Identitätsbildung des Christentums in den Kanonisierungsprozess der hebräischen Schriften einzuschreiben, bringt N. Slenczka die Argumente an, dass der dreigliedrige Textkorpus eine andere Einheit bilde als das „zweiteilige Buch“ der Christen, und dass hebräische Schriften alle vor der Scheidelinie Jesus Christus im Jahre 0 und alle christlichen Schriften nach dem Jahre 0 entstanden sind (80). Dagegen kann jedoch darauf hingewiesen werden, dass gerade die alttestamentlichen Zitate im Neuen Testament jene Einheit in dem – besser gesprochen – zweieinigen Buch der Bibel erschließen, so wie auch im dreigliedrigen Tanach die Verknüpfung durch semantische Zusammenhänge und Verweise dargestellt werden. Ebenso kann die Identität einer religiösen Gruppe durch Texte bestätigt werden, die ihrem Gründer vorausliegen, insofern sich in ihnen das Gottesverhältnis ausspricht, auf das im Christentum Jesus mit seiner Botschaft rekurriert (was auch N. Slenczka niemals bestritten hat).

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genannt. Diese Verbindung ist eine wesentliche Neukontextualisierung der hebräischen Schriften, die aus dem Kulturkreis Israels erwächst, wohingegen sich das Judentum gegen die Rezeption der LXX wendet. Darum entsteht das Alte Testament aus der LXX erst im Entstehen des Neuen Testaments und bildet damit die korrelierende Einheit aus dem Entstehungsprozess heraus.486 Eine der historischen Methode verpflichtete Theologie kann diesen Vorgang der Neukontextualisierung nicht einfach übergehen; es gilt vielmehr den neuen Kontext der Heiligen Schriften zu ergreifen, der für F. Hartenstein ein „eigenes Sinnuniversum“ bildet: „Die zweiteilige christliche Bibel bildete ein eigenes Sinnuniversum, in dem die christologisch perspektivierten Lesarten des Alten Testaments eine wechselseitige Dynamik der Wahrnehmung beider Kanonteile hervorrief: Das im Licht des Neuen Testaments gelesene Alte Testament erschien – im Vergleich mit antik-jüdischen Lesarten – in einem neuen Licht, wie umgekehrt die neutestamentlichen Texte nur in ständigem Bezug auf alttestamentliche Themen und Inhalte überhaupt voll verständlich wurden (und werden)“.487

Die Neukontextualisierung der Schriften erfolgt also nicht einlinig, dass nur die hebräischen Schriften in einen Neuen Kontext gestellt werden. Auch die christlichen Schriften werden im Zuge der langsamen Kanonbildung in den Kontext der Heiligen Schriften aufgenommen und gewinnen somit die Bedeutung als kanonische Schriften. Der christliche Kanon kann damit nur im Zueinander und im Kontext der christlichen und jüdischen heiligen Schriften verstanden und gelesen werden. Mit diesem Verständnis einer Neukontextualisierung lässt sich auch erklären und beschreiben, wie der Überschritt des jungen Christentums in die hellenistische Welt gedeutet werden kann. N. Slenczka interpretiert die Hellenisierung488 des jungen Christentums als einen radikalen Paradigmenwechsel. Der Überschritt in die hellenistische Welt bringe mit sich, dass nicht mehr Judenchristen die christliche Gottesidee in Jesus Christus interpretieren, sondern hellenistisch 486

Vgl. M. OEMING, „Der Kampf um das Alte Testament“, 26: „Vor allem hat das ,Alte Testament‘ einen Kontext, den es im Judentum überhaupt nicht hat, nämlich das Neue Testament. Das Alte Testament ist Teil des christlichen Kanons aus Altem plus Neuem Testament. Wir können das Alte Testament den Juden daher nicht zurückgeben. Sie werden es nicht wollen“. 487 F. HARTENSTEIN, Die bleibende Bedeutung des Alten Testaments, 64. 488 Zur Hellenisierung siehe G. ESSEN, „Hellenisierung des Christentums? Zur Problematik und Überwindung einer polarisierenden Deutungsfigur“, ThPh 87 (2012) 117, Zitat 7. Dabei unterstreicht der Dogmatiker, dass es im Christentum nur zu einer bestimmten Richtung der hellenistischen Philosophie kam, so dass es nicht zu einer hellenistischen Überfrachtung der biblischen Botschaft kam. Auch hielten die christlichen Denker an der genuin biblischen Botschaft z. B. der Schöpfung fest, weshalb G. Essen auch nicht von einer Synthese oder Symbiose sprechen möchte.

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gebildete Heidenchristen.489 Aber diese Neukontextualisierung in der hellenistischen Welt muss nicht notwendig einen neuen Interpretationsrahmen in das Christentum einfügen. Weil sich das Christentum nicht evolutionsgeschichtlich aus dem Judentum verstehen lässt, kann auch der Überschritt in die hellenistische Welt nicht einfach als ein Paradigmenwechsel angesehen werden, der eine neue philosophisch-theologische Matrix in das Christentum einfügt. Es kommt natürlich zu einer Anreicherung der theologischen Konzepte. Aber dies stellt keinen Bruch mit der vorhergehenden Kontextualisierung dar, da die Neukontextualisierung der Schriften durch heilige Schriften in der Glaubensgemeinschaft eine kanonische Festschreibung ist, die ein philosophischer Kulturkreis nicht leisten kann. Würde man mit N. Slenczka die Neukontextualisierung des Christentums in der hellenistischen Welt als das Moment der Christentumsgeschichte werten, an dem es zum Bruch mit der Normativität des Alten Testaments kommt, so müsste in Folge davon ausgegangen werden, dass es mit jeder weiteren Entwicklung als Neukontextualisierung – wie zum Beispiel dann in der Reformation oder der Aufklärung – zu einer neuen Wertung der Normativität kommen würde. N. Slenczka folgt zum Teil A. v. Harnack in seiner Bestimmung des Judentums als Vorgeschichte des Christentums. In diesem Verständnis bleibt aber offen, warum die Normativität des Neuen Testaments als die Zusage der Rechtfertigung im Glauben geschichtlich nicht nochmals weiter modifiziert werden könnte, sei es durch geschichtliche Ereignisse, sei es durch gesellschaftliche Bestimmung. Die Neukontextualisierung bezieht auch die Sprache mit ein, da es ohne Sprache kein Denken und Verstehen gibt. Wenn neutestamentliche Begriffe und Sprache in den Blick genommen werden, ist dieser Sprachraum an die aramäisch-hebräische Sprache gebunden, obwohl es griechisch geschrieben ist. Es darf nicht übersehen werden, dass die griechische Überlieferung oftmals ein Übersetzungsversuch alttestamentlicher Begriffe sein will und sein muss. Auch kann davon ausgegangen werden, dass die meisten Autoren der neutestamentlichen Schriften, selbst wenn wie bei Paulus wohl ihre Muttersprache Griechisch war, die hebräisch-aramäische Sprache verstanden und davon beeinflusst waren und sie daher ein „deutlich semitisierendes Griechisch“ verwendet haben.490 Der hebräisch-aramäische Sprach489

Vgl. N. SLENCZKA, „Neues Testament als Wahrheitsraum“, 15. Vgl. dazu den Beitrag K. WENGST, „Hebräisch für Neutestamentler. Ein Plädoyer“, in: H. R. BALZ – K. SCHIFFNER – K. WENGST – W. ZAGER (Hgg.), Fragmentarisches Wörterbuch. Beiträge zur biblischen Exegese und christlichen Theologie, FS für Horst BALZ, Stuttgart 2007, 177-187, 178-179; [in Folge: K. WENGST, „Hebräisch für Neutestamentler“]. 490

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raum ist in den Denkraum der neutestamentlichen Autoren miteinzubeziehen, denn besonders in der Sprache bindet sich das Neue Testament an die hebräischen Schriften und verbindet sich mit ihnen. U. Wengst bringt in seinem Beitrag mehrere Beispiele aus dem Neuen Testament, die alttestamentliche Zitationen enthalten, diese aber nicht nach der LXX wiedergeben, sondern sie neu und näher am hebräischen Original übersetzten.491 Diese semantische Verknüpfung beider Testamente drückt sich im Geschriebenen aus, aber auch darin, dass neutestamentliche Texte, besonders die Evangelien, als Auslegung und Weiterführung der hebräischen Schriften und des hebräischen Referenzraumes gesehen werden können. F. Crüsemann versucht in seinem Ansatz dagegen den Weg einer einlinigen Kontextualisierung zu gehen. Nicht das Alte Testament wird im Neuen neu kontextualisiert, sondern das Neue Testament findet erst im Alten Testament seinen Wahrheitsraum, denn nur in diesem hermeneutischen Verhältnis sieht er die richtige Zuordnung von Altem und Neuem Testament schriftgemäß und nicht durch eine dogmatische Vorentscheidung gegeben. Alle anderen theologischen Zuordnungsversuche tragen einen latenten Antijudaismus in sich, der laut F. Crüsemann die Kirchengeschichte ab dem 2. Jahrhundert bis hinein in die Gegenwart prägt.492 Der Leser des Neuen Testaments wird schon von den ersten Zeilen an mit dem Stammbaum Jesu (vgl. Mt 1) in den Erzählraum der hebräischen Schriften geführt und muss sich in diesen Raum hineinversetzen lassen. Nicht das Alte Testament wird nun vom Neuen aus verstanden, sondern das Neue ist im Verstehen des Alten Testaments erschlossen, denn nur im Wahrheitsraum des Alten Testaments kann sich die Botschaft des Neuen voll entfalten, da es darin die theologische Autorität erkennt. Das Neue Testament wird nicht mehr als ein neues Verstehen gewertet, sondern als ein Mit-verstehen des Alten Testaments.493 F. Crüsemann möchte das Verhältnis der alttestamentlichen und neutestamentlichen Schriften in dem Maß bestimmen, wie es sich in den Schriften selbst gegeben ist, weshalb auf das geachtet werden muss, was das Neue Testament aus dem Alten voraussetzt, denn das „Alte ist der Raum, in dem sich das Neue mit allen seinen Wahrheiten 491

Ebd. 180-185. Als Beispiele führt er Sach 12,10 in Joh 19,37; Dan 7,22 in Apk 20,4 an. Vgl. F. CRÜSEMANN, Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen, 151; 189190. Siehe zu F. Crüsemann C. DOHMEN, „Hermeneutik des Alten Testaments“, 207-208. 493 Vgl. J. EBACH, „Zwei Testamente – siebzig Gesichter“, 2-3. Einen ähnlichen Vorschlag unterbreitet auch T. Veerkamp, um der Versuchung des Kulturprotestantismus des 19. und 20. Jahrhunderts zu entgehen. Das Alte Testament soll nicht mehr auf das Neue hin ausgelegt werden, sondern das Neue soll von den großen Erzählungen des Alten her gehört und verstanden werden, da die gesamte Jesusgeschichte in der großen Israelgeschichte wurzele. Vgl. T. VEERKAMP, „Die Einheit der Schrift“, JK 77 (2016) 20-23. 492

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bewegt“.494 Die Adressaten der Botschaft Jesu konnten nicht anders als sich auf das zu beziehen, was sie kannten, und was Jesus in seiner Predigt lehrte und bestätigte. Ihm ging es dabei nicht um eine der Schriften Israels, sondern um deren rechte Auslegung, wie es der Anspruch eines Juden ist.495 F. Crüsemann möchte mit seinen Schriften dafür einstehen, dass es im Urchristentum nicht zu einer Neuinterpretation der Schriften Israels kam. Für ihn ist es nicht haltbar zu behaupten, dass die ersten Christen das Christusereignis zuerst ohne 494

F. CRÜSEMANN, „Schlüssel für das Neue“, 11. Für eine geraffte Darstellung und kritische Würdigung der Position F. Crüsemanns siehe A. BEHRENS, Das Alte Testament verstehen, 158-169. 495 Vgl. M. OEMING, „Eigenwert des Alten Testaments“, 312. K. Wengst plädiert dafür, dass man davon abkommen sollte, die markinischen Seligpreisungen als Antithesen zu lesen, sondern dass man geläufige neutestamentliche Wendungen wie in den Antithesen Mt 5,21-48 auf dem Hintergrund rabbinischer Exegese und Auslegung interpretieren muss. Es bestimmt nicht mehr eine Antithese den Text („ich aber sage euch“) und das de, wird nicht adversativ interpretiert, sondern stattdessen als Weiterführung gelesen. K. Wengst sieht in Mt 5,21-48 mehr eine Auslegung zur Tora als eine Entgegensetzung zum Gesetz. Siehe K. WENGST, „Hebräisch für Neutestamentler“, 182-185. Siehe auch E. ZENGER, Das erste Testament, 128. Unglücklicherweise beschreibt die Päpstliche Bibelkommission in ihrer Studie zur Interpretation der Bibel in der Kirche die Bergpredigt als Antithese. Vgl. PÄPSTLICHE BIBELKOMMISSION, Die Interpretation der Bibel in der Kirche, 23. April 1993 (= VApS 115), fünfte, korrig. Aufl., Bonn 2017, 92; [in Folge: PBK, Die Interpretation der Bibel]. Dezidiert setzt sich mit dem Neuen Testament als Kommentar auseinander H. FRANKEMÖLLE, „Das Neue Testament als Kommentar? Möglichkeiten und Grenzen einer hermeneutischen These aus der Sicht eines Neutestamentlers“, in: F.-L. HOSSFELD (Hg.), Wieviel Systematik erlaubt die Schrift? Auf der Suche nach einer gesamtbiblischen Theologie (= QD 185), Freiburg – Basel – Wien 2001, 200-278, der jedoch das Neue Testament nicht als Kommentar zum Alten wertet, da die Kategorie des Kommentars zu uneindeutig ist; [in Folge: H. FRANKEMÖLLE, „Das Neue Testament als Kommentar“]. Siehe auch H. HÜBNER, „Warum Biblische Theologie?“, 13; ebenso K. SCHMID, „Die Schrift als Text und Kommentar verstehen. Theologische Konsequenzen der neuesten literaturgeschichtlichen Forschung an der hebräischen Bibel“, JBTh 31 (2018) 46-63. K. Schmid zeigt in seinem Beitrag anhand von Toratexten und Prophetentexten auf, dass bereits die hebräischen Schriften Kommentierungen vorausgehender biblischer Schriften sind und kommt zu einem Ergebnis: „Besonders im Bereich der legislativen Materialien der Hebräischen Bibel ist diese Zuordnung von Text und Kommentar von entscheidender Bedeutung: Biblisch gesehen ist nicht das Gesetz an sich normativ, sondern das Gesetz und seine Auslegung. Mit anderen Worten: Die Dynamik der Auslegung ist bereits selbst im Kanon verankert und weist so auch über diesen hinaus“ (ebd. 55; Hervorhebung im Original). – Für eine Einheit der Schrift, aber als Überbietung des Alten durch das Neue, plädiert nicht ohne eine gewisse Polemik K. KOCH, „Doppelter Ausgang“, 215: „Der Christ hingegen – sofern er nicht einer besonderen Spezies neutestamentlicher Exegeten angehört, die das Christuskerygma von jedem göttlichen Vorher und Nachher isolieren –, der normale, einigermaßen gebildete Christ also, sieht das Alte Testament als Dokumentation einer Dialektik von verpflichtenden Geboten Gottes auf der einen und von Gnade verheißender messianischer Erwartung auf der anderen Seite; beide Aspekte gehören zusammen als Voraussetzung für den Glauben an Jesus Christus, der unsere Rechtfertigung vor Gott schafft; deshalb findet für den Christen das Alte Testament nicht nur seine Fortsetzung, sondern auch seine Überbietung im christlichen Neuen Testament“.

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einen Schriftzusammenhang erfahren und dann erst aus dieser Erfahrung heraus die Bilder und Begriffe der heiligen Schrift auf Jesus Christus ausgelegt hätten. Vielmehr ist dagegen der primäre Schritt das Verständnis der Schriften für das Erfassen des Christusereignisses. F. Crüsemann kontextualisiert damit das Christusereignis im Rahmen der Schriften Israels, ohne die es gar nicht zu dem Verstehen und Glauben an Jesus Christus kommen hätte können. Es darf eben nicht zu einer Verwechslung von Heilszugang und Heil an sich kommen. Er sieht in Jesus Christus den Zugang zum Heil gegeben, das die hebräischen Schriften in der Verheißung Gottes enthalten, weshalb es zu keiner „kategorial veränderte[n] Sichtweise“ kommen kann, die „ein Bruch mit der alttestamentlich-jüdischen Tradition“ wäre. „Gerade das angeblich Neue versteht sich als Erfahrung mit den gleichen Texten und demselben Gott“.496 F. Crüsemann fordert daher, dass sich christliche Theologie am Alten Testament auszurichten habe und seinen Wahrheitsraum im Alten Testament suchen muss. Auch er möchte das Neue Testament und die christliche Theologie im Alten Testament kontextualisieren und von dort her denken. Gemein ist ihm dabei mit N. Slenczka, dass dies aus dem Anspruch heraus geschehen muss, dass nur so das Wort und die Verheißung Gottes für Israel seinen Wert und seine respektvolle und wertschätzende Bedeutung weiterhin haben können.

496

F. CRÜSEMANN, „Schlüssel für das Neue“, 12. Natürlich erkennt auch F. Crüsemann, dass es in einem bestimmten Rahmen zu einem neuen Verständnis kommen kann, das allein schon an den neuen geschichtlich-kulturellen Umständen liegt. Dennoch plädiert er für den Wahrheitsraum des Alten Testaments, da es das „Grundproblem ist, dass die alttestamentlichen Texte um Entscheidendes verkürzt, die neutestamentlichen Texte jedoch noch stärker reduziert wahrgenommen werden“, wenn das Neue Testament die sinnerhellende Größe ist. „Bei ihnen wird von dogmatischen Mustern aus vieles nicht oder nur sehr vereinfacht wahr- und dann vor allem theologisch nicht ernstgenommen. Diese Schieflage bestätigt ein Schwarz-Weiß-Bild, wie es dem herabstufenden Schema von Verheißung und Erfüllung immer zugrunde gelegen hat seit seiner Erfindung im 2. Jh. n. Chr. Und das geschieht wahrscheinlich teilweise gegen die Intention des Verfassers“. DERS., Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen, 328. In ähnlicher Weise versucht R. Rendtorff eine christliche Theologie des Alten Testaments nicht von Themen oder einer Theologie des Neuen Testaments zu entwickeln, sondern die Themen des Alten Testaments an sich für christliche Theologie fruchtbar zu machen. Siehe dazu R. RENDTORFF, Theologie des Alten Testaments, Bd. I und II. Daher muss auch aus christlicher Sicht strikt die theologische Anschauung zurückgewiesen werden, dass das Alte Testament ohne das Neue Testament unvollständig wäre und nur eine Sammlung von historischen Berichten sei, wie zu lesen ist bei M. ASTIKA, „The relationship between Old and New Testament. A study on temporary debate of methodology of the Old Testament theology“, Journal Jaffray 11 (2013) 129-149, 130, wenn auch im Laufe des Beitrags diese Extremposition wieder relativiert wird.

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3.2.

Hermeneutik und Sinnpluralität

Biblische Schriften sind theologisch gesehen nicht das Wort Gottes an sich, sondern Zeugnis davon. Es ist nicht Gott, der sich in ihnen direkt ausspricht, sondern die Texte bezeugen in ihrer Entstehung die Begegnung und die Erfahrung der Menschen mit dem in der Geschichte handelnden Gott. Die Entstehung der biblischen Texte – besonders der alttestamentlichen – nimmt daher eine Vielzahl an Gotteserfahrungen auf und verschriftlicht sie, ein Vorgang, der mit J. Lauster treffend als „spezifischer Sinnbildungsprozess“ verstanden werden kann.497 Die Verschriftlichung biblischer Texte hängt daher zutiefst mit Erlebniserfahrung und Erlebnisdeutung zusammen, indem die Schrift zum Medium dieses Zusammenhangs wird. Die Bibel als Medium garantiert die Verbindung der Gotteserfahrung mit späteren Generationen, indem die Deutung der Gotteserfahrung „in den Dienst der Erinnerung gestellt“ wird.498 Die Erinnerung dient dann aber weniger dem Gedächtnis des rein historischen Ereignisses, sondern mehr und mehr der Deutung der lesenden Gegenwart. Die Kanonisierung der biblischen Texte nimmt die einzelnen Texte aus ihrem spezifischen Ursprungskontext, ohne sie aber vollkommen daraus zu lösen, und versetzt die Texte in einen transhistorischen Bezug zur Geschichte. Als transhistorisches Ereignis leistet die Kanonisierung eine Neukontextualisierung der biblischen Texte, sodass diese Schriften nicht nur als einmal ergangenes Wort Gottes verstanden werden können, sondern dass sie darin ihre theologische Relevanz und damit ihre geschichtliche Bedeutung erlangen. Erst die autoritative Kanonisierung öffnet die Texte durch eine gezielte Dekontextualisierung aus ihrem eigentlichen Ursprung für eine Neukontextualisierung im Kanon: Kanonisierung ist Dekon-

497

J. LAUSTER, Zwischen Entzauberung und Remythisierung. Zum Verhältnis von Bibel und Dogma (= ThLZ.F 21), Leipzig 2008, 41; [in Folge: J. LAUSTER, Zwischen Entzauberung und Remythisierung]. Fortgeführt und treffend kann die hermeneutische Pluralität aus einer Reflexionsgeschichte beschrieben werden: „Fortschreitende theologische Reflexion misst den Texten ein wachsendes Sinnpotenzial zu“. A. BEHRENS, Das Alte Testament verstehen, 150. Dies unterstreicht auch C. Dohmen, wenn er schreibt, dass biblische Hermeneutik immer literarische Hermeneutik ist, und dass es eine reine Buch-hermeneutik nicht geben kann, da der Sinn immer auch durch die Fortschreibung gestaltet ist. Vgl. C. DOHMEN, „Hermeneutik des Alten Testaments“, 143. 498 J. LAUSTER, Zwischen Entzauberung und Remythisierung, 42. J. Lauster verbindet den Begriff „Erinnerung“ mit einem zweifachen Verständnis von Ursprung. Zum einen ist damit der Ursprungsprozess der Schriftentwicklung gemeint, der auch gemeinschaftsbildend wird und als Kanonisierungsprozess umschrieben werden kann. Zum anderen geht die „Ursprungserinnerung“ darüber hinaus und hinein in die Transzendenzerfahrung, in der Gott geschichtlich erfahrbar wird und sich im Christusereignis konzentriert. Siehe ebd. 50-51. Vgl. auch J. ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis, 51-52.

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textualisierung mit dem Gewinn der Neukontextualisierung durch die Einbettung in eine theologische Geschichte.499 Wird in den biblischen Wissenschaften nach der „Mitte der Schrift“ gesucht, so kann eine Mitte nicht gefunden werden, wenn nicht die Dekontextualisierung der Texte mitbedacht wird. Jedoch zeigt sich sehr schnell, dass sich schon die alttestamentlichen Texte nicht auf eine spezifische Mitte festlegen lassen. Dies wäre nur dann möglich, wenn eine Dekontextualisierung der Schriften den Sinn nicht noch einmal neu kontextualisiert, sondern ihn festschreibt und in ihrer Diversität uniformiert. Die alttestamentlichen Texte bringen aber eine Themenfülle hervor, die einer solchen Uniformierung entgegensteht und verhindert, dass sie in einer Mitte zusammengezogen werden könnte. Eine Theologie der „Mitte des Alten Testaments“ reduziert letztendlich den Sinn und die Bedeutung der Schriften, lässt diesen nur noch von einem konkreten Kontext aus verstehen und verschließt damit die Schriften in sich selbst, in ein von außen an die Texte herangetragenes Schema. Eine solche Theologie kann nicht die Pluralität der theologisch-philosophischen sowie lebens- und glaubensrelevanten Hintergründe einfangen, vor dem die unterschiedlichen Texte entstanden sind. Wenn von der „Mitte der Schrift“ gesprochen werden will, so ist sie nur im Gottesglauben zu finden, der sich in der Pluralität der Erzählungen ausdrückt.500 Dagegen möchte eine Neukontextualisierung der Schriften den Sinn und die Bedeutung in ihrer Fülle und Diversität ernst nehmen, indem die Schriften nicht nur Texte der Vergangenheit sind, sondern als Glaubenstexte in Beziehung zur Gegenwart stehen. In der Bedeutung 499

Vgl. E. BALLHORN, „Das historische und das kanonische Paradigma in der Exegese. Ein Essay“, in: DERS. – G. STEINS (Hgg.), Der Bibelkanon in der Bibelauslegung. Methodenreflexionen und Beispielexegesen, Stuttgart 2007, 9-30, 13. E. Ballhorn erkennt natürlich die Spannung, die sich aus der Dekontextualisierung ergibt, indem der Autor der Rezeptionsgemeinschaft als geschichtliche Größe gegenübergestellt wird. Um dem zu entgehen und beide Größen miteinander zu verbinden, kennt er „das Phänomen der Sukzession als Lesegemeinschaft“. In dieser Sukzession kann die Sinnpluralität biblischer Texte erfahren und gedeutet werden. Vgl. ebd. 22. 500 Vgl. J. LAUSTER, „Schriftauslegung als Erfahrungserhellung“, in: F. NÜSSEL (Hg.), Schriftauslegung (= TdT 8), Tübingen 2014, 179-206, 204: Die Mitte der Schrift „ist nichts anderes als eine von konfessionellen Interessen geleitete Komplexitätsreduktion, die letztlich die Erfahrungsvielfalt immer nur einseitig verkürzen kann. Die Suche nach einer Auslegungsmitte der Schrift unterläuft bereits das pluralisierende Moment, das dem Kanonisierungsprozess selbst innewohnt. Es lässt sich an diesem Beispiel zeigen, wie wichtig die Exegese für die Systematische Theologie in ihrer eigenen Urteilsbildung ist. Denn exegetisch lässt sich nicht eine Mitte der Schrift ermitteln, sondern es können viel mehr unterschiedliche Motive religiöser Erfahrungsverarbeitung herausgearbeitet werden, die dann auch für eine systematische Entfaltung höchst aufschlussreich sind“. – So warnt auch B. S. Childs davor, die „Verschiedenartigkeit“ und „Intensität“ des alttestamentlichen Gottesverständnisses „durch moderne systematische Kategorien zu verflachen“. Vgl. B. S. CHILDS, Theologie der einen Bibel 2, 18.

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für die Gegenwart kommt es dann zu einer Ausdifferenzierung der Sinnpluralität und nicht zu einer Pluralität der Sinne. Es kann in biblischen Texten ein Sinn angenommen werden, der sich in unterschiedlichen Gegenwartsdeutungen ausdrückt,501 dabei aber nicht in eine Willkür an Sinnerschließungen verfällt. Durch die kanonische Neukontextualisierung in einer diachronen und synchronen Textbetrachtung ist die Sinnpluralität umgrenzt und damit jener Auslegung entzogen, die die Texte gegen sich selbst interpretieren würde. Der Textsinn hat in sich das Potential, das sich nicht hypostasierend verengen und auf eine Deutung einschränken lässt. Die unterschiedliche Lesart der Heiligen Schriften als Schriften für das rabbinische Judentum und für das Christentum muss sich daher nicht widersprechen. Im Gegenteil – die unterschiedliche und legitime Interpretation derselben Schriften bezeugt das Sinnpotential, das in den Texten enthalten ist. Es reicht nicht, rein historisch-kritisch an Texte heranzugehen und einzig mit dieser Methode die Texte zu befragen. Die historisch-kritische Methode hat selbst nur den Anspruch, die historischen Umstände auszuleuchten und damit einen Beitrag für das Gesamtverstehen von Texten zu erhalten. Besonders die Literaturwissenschaft weist darauf hin, dass es kein vom Kontext des eigenen Verstehens unabhängiges Lesen von Texten gibt. Das rabbinische Judentum liest dieselben Texte wie das Christentum, nur dass es diese in der Ablehnung Jesu von Nazareth als Messias liest, während das Christentum sie als Bestätigung für Jesus als den Christus auffasst. L. Schwienhorst-Schönberger ist zuzustimmen, wenn er schreibt, dass „[b]eide [Lesarten; Anm. d. Verf.] […] viel voneinander lernen [können]. Es ist aber theologisch nicht korrekt zu behaupten, dass die christliche Deutung des Alten Testaments notwendigerweise durch die jüdische Deutung hindurchgehen muss. Denn die jüdische Deutung ist nicht ursprünglicher als die christliche“.502 Bedenkt man, dass es eine parallele Entwicklung beider Kanones und einen größeren Einfluss des 501 So sieht C. Dohmen in der „Verschiedenheit der Auslegung“ und in den „verschiedenen Schriftsinnen“ ein zentrales Anliegen gegeben: „Es geht um die Relevanz der Aussagen der Schrift für das konkrete Leben der Gläubigen. Über die rein historische Information im Sinne von ,dies oder das war so oder so‘ hinaus wird nach der historischen Bedeutung der Texte für die Gläubigen unterschiedlicher Epochen gefragt“. C. DOHMEN, „Vom vielfachen Schriftsinn – Möglichkeiten und Grenzen neuerer Zugänge zu biblischen Texten“, in: T. STERNBERG (Hg.), Neue Formen der Schriftauslegung? (= QD 140), Freiburg – Basel – Wien 1992, 13-74, 25; [in Folge: C. DOHMEN, „Vom vielfachen Schriftsinn“]. 502 L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Rückkehr Markions“ 297. Der Wiener Exeget unterstreicht dabei auch, dass beide Lesarten „historisch gesehen nebeneinander, miteinander und gegeneinander entstanden sind“. Dagegen stellt sich H. LISS, „An der Sache vorbei“, 8, da rabbinisch-jüdische Bibelauslegung sich nicht auf den LXX-Text bezieht, sondern auf hebräisch-aramäischen Text. Die LXX sei zwar im mediterranen Judentum entstanden, spiele aber im rabbinischen Judentum keine Rolle.

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Christentums auf das rabbinische Judentum gegeben hat als bisher angenommen wurde, so muss eine christliche Interpretation der alttestamentlichen Schriften nicht erst durch eine jüdische Auslegung „gereinigt oder verifiziert“ werden. Ein „hermeneutischer Monismus“, der für einen Text nur eine bestimmte Lesart anerkennen will, ist theologisch wie literaturwissenschaftlich nicht haltbar und auch nicht angebracht. Selbst die historisch-kritische Methode hat redaktionsgeschichtlich gezeigt, dass sich der Textsinn erst in einem Netz erkennen lässt, in dem mehrere Akteure wie Autor, Leser, Gemeinschaft und Fortschreibung miteinander verbunden sind.503 Spricht man einem biblischen Text über seinen historischen Sinn hinaus eine weitere Bedeutungsperspektive zu, dann ist dies nicht als eine Entfremdung zu werten, sondern ein theologischer Prozess, der in den Schriften selbst bereits grundgelegt ist und den Text mit dem Leser zusammenbringen möchte. Der Kanon der Schrift muss interpretiert werden, aber mit jedem Einsatz von Interpretation gibt es auch ein Mehr an Sinnpotentialen. Jede Schrift der christlichen Bibel hat dem Menschen heute etwas zu sagen, wenn er auf diese Schrift hört.504 Der Schriftkanon wurde kanonisch geschlossen, um sich zugleich für eine Sinnpluralität zu 503 Siehe dazu A. BEHRENS, „Altes Testament als Gottes Wort“, 220-222, der so weit geht zu behaupten, dass „es den einen historischen Sinn biblischer Texte nicht gibt“ (Hervorhebung im Original). In Folge dessen spricht A. Deeg auch davon, dass es den einen Kanon der zwei-einen Bibel gibt, der sich aber immer wieder in einzelne Kanones aufteilt, da selbst eine Perikopenzusammenstellung einen kanonischen Anspruch besäße. So können unterschiedliche Gruppen verschiedene Kanones kreieren, die aber immer an den einen Kanon rückgebunden sind. Damit argumentiert er gegen N. Slenczka, der den selektiven Gebrauch der alttestamentlichen Schriften anspricht und darauf hinweist, dass Theologie und Liturgie immer mit Altem und Neuem Testament selektiv umgehen, dies aber kein Argument gegen die Nicht-Kanoniziät des Alten Testaments sei. Vgl. A. DEEG, „Kanones und Kanon“, 276-279, ausgehend vom Neuen Testament plädiert er in Rückgriff auf die Kirchenväter für eine Sinnpluralität aufgrund der Offenheit der Texte. Siehe auch U. LUZ, Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments, Neukirchen-Vluyn 2014, 511-512; [in Folge: U. LUZ, Theologische Hermeneutik], sowie U. H. J. KÖRTNER, Der inspirierte Leser 104-108. C. Dohmen weist darauf hin, dass bei einer legitimen Pluralität die Auslegung jedoch nicht der intentio operis völlig widersprechen kann. Um dies zu verdeutlichen, führt er die Unterscheidung von U. Eco benutzen und interpretieren ein. Vgl. C. DOHMEN, Bibel und Auslegung, 39-42. 504 Vgl. dazu F. HARTENSTEIN, Die bleibende Bedeutung des Alten Testaments, 69-71, der zugleich auch unterstreicht, dass die Sinnpluralität natürlich auch „kanonisch begrenzt“ ist: „Neben der Vorgegebenheit der zweiteiligen Bibel in ihren Abschlussgestalten steht wie gesagt sofort die Aufgabe ihrer Auslegung – und hier gibt es eine Verbindung von Genese und Geltung, bei der durch die immense Rezeptionsgeschichte der biblischen Texte ein unauslotbares ‚Mehr‘ an (freilich ‚kanonisch begrenzten‘) Sinnmöglichkeiten freigesetzt wird“ (Hervorhebung im Original). F. Hartenstein kann von der „Vorgegebenheit“ der biblischen Schriften sprechen, da er im Gegensatz zu N. Slenczka einem praktisch-funktionalen Kanonverständnis folgt, das einen Kanon in einer Religion annimmt und mit diesem dann hermeneutisch arbeitet.

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öffnen. Es war daher ein Glücksfall für Kirche und Theologie, den Versuch Marcions, die legitime Sinnpluralität der biblischen Texte durch seinen selektiven Kanon zu begrenzen, zurückzuweisen. Damit hat sich die junge Kirche zum eigentlichen Sinn der Texte bekannt, indem sie einen künstlichen und am Reisbrett aufgezogenen Sinn im Kanon ablehnte und sich zur Sinnkontinuität der Texte bekannte, die die Texte in sich und für den Leser tragen. Selbst der Rekurs N. Slenczkas auf die Schrift als sui ipsius interpretes und deren claritas bei M. Luther können nicht für einen Sinnmonismus der Schrift herangezogen werden. Der Leser und Ausleger biblischer Schriften begegnet ihnen immer mit einem kultur- und zeitbedingt begrenzten Verstehen. Doch auch wenn das Verstehen begrenzt ist, bleibt es offen für neue Verstehenskontexte, die die Texte gerade durch das kultur- und zeitbedingte Verstehen eröffnen und damit den Verstehens- und Sinnhorizont weiten. Die Schrift an sich hat nicht „die Möglichkeit einer Textverweistechnik, als könne man den Sinn, der gleichsam dasteht, dem Leser einfach andemonstrieren“.505 Um den Sinn der Schrift verstehen zu können, braucht es ein kontinuierliches Lesen und – auch in Folge von N. Slenczka – ein Einverleiblichen der Texte. Aber dieser Vorgang beschränkt sich nicht auf einen statischen Sinn, sondern ist in den Kontexten der Leser aufgehoben, der in seinem Lesen und seinem Verstehen den Sinn mitkonstituiert. Es wäre natürlich ein Trugschluss anzunehmen, dass damit das Sinnpotential der Schrift in ein Unendliches erweitert wäre. Auch wenn man von der Sinnpluralität der Schrift ausgehen muss, ist und bleibt die Pluralität an den Leser bzw. die Rezeptionsgemeinschaft gebunden, da es gerade die Gemeinschaft ist, die durch ihre Rezeption die Schriften in einem Kanon zusammenstellt und sie damit in den Raum der Pluralität versetzt. Die Rezeptionsgemeinschaft steht also in einem direkten Bezug zu den Texten, denn die Texte sind die Grundlage für die Reflexion und die daraus folgende Rezeption. Aber die Rezeption ist wiederum an den Text gebunden, da durch die Reflexion auf die Texte 505

M. MOXTER, „Schrift als Grund und Grenze von Interpretation“, ZThK 105 (2008) 146-169, 151; [in Folge: M. MOXTER, „Schrift als Grund und Grenze“]. M. Moxter sieht die Prinzipien der Schrift als sui ipsius interpretes und die claritas nicht forensisch, sondern als „Inbegriffe einer Interpretation“, durch die sich der Sinn durch ein ständiges Nachfragen am Text erschließen lässt. Vgl. dazu auch F. HARTENSTEIN, Die bleibende Bedeutung des Alten Testaments, 137-140. Siehe auch A. BEHRENS, Das Alte Testament verstehen, 150. Darauf weist auch M. Oeming hin, dass der christliche Kanon keine „philosophia perennis“ ist, der endgültige Wahrheiten präsentiert, sondern vielmehr Ausdruck der polyphonen und widersprüchlichen Wirklichkeit. Der Kanon zeigt damit etwas vom „tiefsten Geheimnis“ des Menschen und vom „Mysterium Gottes“. Vgl. M. OEMING, „Biblische Theologie als Dauerreflexion im Raum des Kanons“, in: C. DOHMEN – T. SÖDING (Hgg.), Eine Bibel – zwei Testamente. Positionen Biblischer Theologie, Paderborn 1995, 83-95, 90.

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eine Übertragung in unendliche Sinnräume unmöglich wird. Sie ermöglicht zwar eine weitere Rezeption, beschränkt sie aber zugleich insofern, als die Reflexion wiederum in einer Gemeinschaft stattfindet.506 Der Text stößt die Reflexion an und fordert zur Interpretation heraus, wobei jede Interpretation ein Rezeptionsvorgang ist, der auf die Sinnpluralität der Schriften zurückreicht. Darum muss die Sinnpluralität auch im Zusammenhang mit der Rezeptionsästhetik gedacht werden, da erst in diesem Vorgang die historischen Texte auch heute zum Leser sprechen und sein Leben berühren können, und so auch der Leser bei der Sinnerschließung mitwirkt. In der Pluralität der Sinne kommen die Offenheit der Texte und der Rezipienten zusammen. Das Zusammenspiel von Text und Rezipient ist demnach von enormer Bedeutung, da damit die eine gegenseitige Sinnbegrenzung gegeben ist, die nicht in die Extreme einer reinen intentio auctoris vel recipientis verfällt.507 Möchte N. Slenczka den ursprünglichen Sinn als normativen Sinn lesen, der durch die Intertextualität auch für den Leser heute von Belang sein soll, so schöpft diese Hermeneutik nicht die Sinnressource der Texte voll und ganz aus, da er an der Klarheit der Schrift festhält und sie dadurch begrenzt sieht. Die Sinnerschließung der Texte aus sich selbst heraus ist kein Garant dafür, dass damit der eine und einzige – historisch verifizierbare – Sinn gefunden wird, da die Sinnerschließung ihrerseits nochmals einer kritischen Überprüfung bedarf.508 Natürlich kann die Sinnpluralität den Text gegen sich selbst interpretieren, aber gerade daher muss die Rezeptionsästhetik im Zusammenspiel von Text und Leser diachron und synchron gedacht werden, indem der Text in seiner Entstehung und in seiner Wirkung in den Blick genommen wird. Jede biblische Hermeneutik muss ihren Ausgangspunkt beim Text nehmen und die Hermeneutik vom Text bestimmen lassen, da der zu interpretierende Text der Rezeption vorausliegt. Selbst wenn sich die Rezeption auf einen Kanon bezieht, bleibt die Textstruktur die Grundlage des Kanons und ist Referenz506

Vgl. M. MOXTER, „Schrift als Grund und Grenze“, 165. M. Moxter spricht an dieser Stelle von einer sich selbst auslegenden Schrift, aber nur insofern die Schrift durch die Selbstauslegung Grund für Interpretation ist. F. Hartenstein spricht auch davon, dass es keine „beliebige Mehrstimmigkeit“ alttestamentlicher Texte gibt, da die Texte jeweils in einer kanonischen Gestalt vorgegeben sind und in ihrem Entstehen als „Kette von Neuinterpretationen“ geworden sind, in denen „theologische Unterscheidungen und Urteile sichtbar werden“. F. HARTENSTEIN, Die bleibende Bedeutung des Alten Testaments, 150-151 (Hervorhebung im Original). Siehe auch L. SCHWIENHORSTSCHÖNBERGER, „‚Eines hat Gott gesagt, zweierlei habe ich gehört‘ (Ps 62,12). Sinnoffenheit als Kriterium einer biblischen Theologie“, JBTh 25 (2010), 45-61 und DERS., „Einheit statt Eindeutigkeit“, 413-414. 507 Vgl. R. VODERHOLZER, Offenbarung, Tradition und Schriftauslegung, 152-154. 508 Vgl. L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Einleuchtend“, 48-50.

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objekt der Rezeption. Darum hat der Ursprungstext Bedeutung für den Rezipienten, wie umgekehrt der Rezipient Bedeutung für den Text hat. In der diachronen und synchronen Verschränkung von Text und Rezipient ist es legitim, von einer Sinnpluralität biblischer Texte zu sprechen, die über den Ursprungssinn hinausgeht, aber im Ursprung verankert bleibt. Der Ursprung biblischer Texte ist aber nichts anderes als der sich in der Geschichte offenbarende Gott, den die biblischen Texte bezeugen und von dem sie den Rezipienten erzählen. Die Begrenzung und Abgrenzung der Sinnpluralität durch die Rezeptionshermeneutik ist demnach der Glaube an diesen einen heilsgeschichtlich handelnden Gott. Für das Christentum ist damit die Grenze der Sinnpluralität im heilsgeschichtlichen und eschatologischen Ereignis Jesus Christus gegeben, der als Wort Gottes (vgl. Joh 1,1-3) „ein für allemal“ (Röm 6,10; Hebr 7,27) diesen Glauben an Gott definitiv offenbart hat. Christliche Sinnpluralität hat sich daher „immer [… am] Horizont der eschatologischen Neukontextualisierung durch das Christusereignis“ zu orientieren.509 Die Sinnpluralität muss im Christusereignis der biblischen Texte umfangen sein, um auch für das Christentum sinn- und identitätsstiftende Bedeutung zu bekommen, sich aber damit in die legitime Pluralität einer jüdischen und christlichen Auslegung einfügen. Eine christologische Interpretation ist hermeneutisch rückgebunden an eine theologische Auslegung biblischer Texte, so wie Christologie immer auch auf eine Theologie rückverweist, wenn sie nicht in einen Christomonismus verfallen will. Im gegenseitigen Zueinander von Theologie und Christologie ist die Möglichkeit der Pluralität vorgezeichnet, die nicht in Willkür verfließt, sondern gerade durch die Grenzen von Theologie und Christologie bestimmt ist. Die daraus entstehende Sinnpluralität der Biblischen Theologien ist damit kein Argument gegen eine Kanonizität, sondern vielmehr Grundlage dafür.510 Sinnpluralität der christlichen Bibel ist daher eine theologisch-christologische Sinnpluralität und in den Grenzen dieser Pole auszulegen, da sich innerhalb dieser Grenzen die pneumatische511 Schriftauslegung bewegt. 509

R. VODERHOLZER, Offenbarung, Tradition und Schriftauslegung, 162. Vgl. T. SÖDING, „Entwürfe Biblischer Theologie“, 69-70. 511 M. Zimmermann weist in seiner Studie auf den Verstehensunterschied zwischen geistigem und geistlichem Schriftsinn hin, da dem Deutschen eine Ableitung vom sensus spiritualis fehlt bzw. missverständlich ist. Aber geistig kann einseitig „geistphilosophisch, rationalistisch, intellektualistisch, esoterisch“, sowie geistlich „als klerikal und als erbaulich“ aufgefasst werden. Daher plädiert er für die Bezeichnung des pneumatischen Schriftsinns, da dieser Begriff die philosophisch-theologische, sowie emotionale Dimension umfasst. Auch wenn die Literatur meist vom geistigen Schriftsinn spricht, wird in dieser Studie der Terminus pneumatischer Schriftsinn verwendet, um die originären und philosophisch-theologischen Horizonte einzufangen. Vgl. 510

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Zur theologisch-christologischen Sinnpluralität biblischer Texte gehört die Spannung, die sich aus der Pluralität ergibt. Es gehört zur Sinnpluralität, dass das Judentum sein Nein zu Jesus als dem Christus sagt und damit dem christlichen Ja gegenübersteht. Aber diese Spannung muss ob der legitimen Pluralität ausgehalten werden, wenn gerade auch in einem erneuerten Schriftverständnis die „orts- und zeitgebundene[…] Interpretationsgemeinschaft“ hinzugedacht werden soll.512 Die Sinnpluralität der Texte erweitert damit auch das Verständnis von Kanonizität, die damit nicht mehr rein statisch betrachtet wird, sondern eben gerade in der Pluralität auf die Interpretationsgemeinschaft ausgerichtet ist und für sie Bedeutung erlangt. Gerade diese Spannung verweist nochmals auf den Erinnerungsursprung der Gotteserfahrung, die als Offenbarung Gottes in den biblischen Schriften bezeugt wird. Das jüdische Nein und das christliche Ja zu Jesus als dem Messias zeigen, dass es in den Texten das Potential unterschiedlicher Wirklichkeitsdeutungen gibt, die beide jedoch am Bekenntnis zu dem einen Gott festhalten. Diese Spannung kommt nochmals darin zum Ausdruck, dass gerade das Sinnpotential auf die zukünftige Gegenwart hin ausgerichtet ist, indem es die Gegenwart mit dem zu deutenden Ursprung verbindet. A. Deeg weist darauf hin, dass diese Spannung zur christlichen Identität gehört, aber gerade damit das Christusgeheimnis offengehalten wird und die Offenbarung Gottes nicht zu einem statischen Monolith oder zu einer theologischen Hybris des Schon-alles-Wissens verkommt.513 Diese Spannung der Zeitverschränkung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kann nur eschatologisch aufgehoben werden. Wird nun das Alte Testament aus dem Kanon weggenommen und ihm keine normativ-kanonische Bedeutung mehr zugesprochen, dann fällt auch die eschatologische Präsenz des Christentums und damit die Verantwortung für den Aufbau des Reiches Gottes in dieser Welt, da sich mit dem Alten Testament der theologisch zu deutende Ursprung auflöst. In der Spannung, die sich aus der Sinnpluralität des biblischen Kanons ergibt, erhebt das Christentum den Anspruch, mit der Zeit und der Geschichte eben nicht abgeschlossen zu haben, sondern Geschichte M. ZIMMERMANN, Schriftsinn und theologisches Verstehen. Die heutige hermeneutische Frage im Ausgang von Origenes, Münster 2017, 72-75; [in Folge: M. ZIMMERMANN, Schriftsinn und theologisches Verstehen] 512 Vgl. F. HARTENSTEIN, Die bleibende Bedeutung des Alten Testaments, 35-36, Zitat 36 (Hervorhebung im Original). C. Dohmen liest aus der sich stets verändernden Orts- und Zeitgebundenheit der Auslegung, den vierfachen Schriftsinn zu einem vielfachen Schriftsinn erweitert. Vgl. C. DOHMEN, „Vom vielfachen Schriftsinn“, 38-64. R. Voderholzer hebt dagegen in seiner Studie zum geistigen Sinn der Schrift hervor, dass im Ansatz von Dohmen die christologische Fundamentalhermeneutik für die Auslegungsmethoden fehlt. Vgl. R. VODERHOLZER, Die Einheit der Schrift, 477-479. 513 Vgl. A. DEEG, „Kanones und Kanon“, 281-282.

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als Heilsgeschichte zu lesen und zu erhoffen. Die Sinnpluralität der Schrift widerspricht nicht ihrer Einheit, sondern ist geradezu ihre Voraussetzung. Denn nur in dieser Sinnpluralität kann Theologie und Christologie zusammengedacht werden, worin der christliche Kanon seine Identität und Mitte findet. Die Offenbarung des Reiches Gottes, das sich in Jesus Christus eschatologisch zeigt, hat im Alten und Neuen Testament eine unterschiedliche Ausprägung erfahren, die aber in einer spannungsvollen Einheit zusammengedacht werden kann und muss. 3.3.

Der christologische Sinn des Alten Testaments

In der gegenwärtigen Theologie gehört es zur Grundüberzeugung aufrichtigen wissenschaftlichen Arbeitens, dass die historisch-kritische Methode unverzichtbar ist. Die vorwiegende Suche nach dem diachronen Sinn der einzelnen Schriften kann viel erklären und bringt wertvolle Hinweise für eine vernünftige Rede von Gott. N. Slenczka fühlt sich dieser Methode voll und ganz verpflichtet. Wenn die historisch-kritische Methode aber auch auf die hebräischen Schriften angewendet wird, dann kann für den Berliner Theologen christliche Theologie diese Schriften nicht länger auf das Neue Testament oder auf Jesus Christus hin auslegen. Der diachrone Sinn an sich widerspricht einem christologischen Verstehen der Texte. Wenn aber die hebräischen Schriften nichts über Jesus Christus oder auf Jesus Christus hin zu sagen und zu verkünden haben, dann sind sie wirklich dem Christentum fremd und bedeutungslos. Es lohnt sich jedoch die Überlegung, ob die historisch-kritische Methode tatsächlich die einzige legitime Möglichkeit der Schriftinterpretation ist. Es ist eine notwendige Anfrage auch an N. Slenczka, der die alttestamentlichen Texte als jüdische Texte gelesen wissen will. Muss sich christliche Theologie diesen Texten mit einer rabbinischen Hermeneutik oder einzig mit der historisch-kritischen Methode nähern?514 Werden die 514

So bemerkt M. GERHARDS, Protoevangelium, 30 kritisch: „Wenn die Bibel wieder als die eine Heilige Schrift wahrgenommen werden soll, aus der die Kirche lebt, dann kann die historische Kritik, bei deren Anwendung sich teilweise kirchenkritische Tendenzen bemerkbar machen, nicht als das Maß aller Dinge gelten. Vielmehr sind ihre Grenzen und Nebenwirkungen und damit ihre Ergänzungsbedürftigkeit anzuerkennen“. Dabei kritisiert er an den Thesen N. Slenczkas, dass es ihm eigentlich nicht um den historischen Jesus ginge, sondern dass er die historisch-kritische Methode als argumentationstheoretischen Zwischenschritt einfüge, um einzig nach dem Selbstverständnis zu fragen, das Jesus auslöste. Darum bezweifelte N. Slenczka auch, dass Jesus von Nazareth die christologischen Titel auf sich bezogen habe, da ihm nur die eine soteriologische Bedeutung Jesu interessiere, die der Mensch in seinem Selbstverständnis mit ihm mache. M. Gerhards fasst zusammen: „Die religiöse Wahrheitsfrage hängt allein daran, ob diese soteriologische Erfahrung eine auch heute noch überzeugende befreiende Existenzdeutung anbietet“. Siehe ebd. 64-65. Vgl. L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER,

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hebräischen Schriften in jüdisch-rabbinischer Tradition gelesen, so gehören diese Texte zwar einzig dem jüdischen Volk, aber damit können sie nicht als Zeugnis einer vorchristlichen Gotteserfahrung als Ausdruck der Erlösungsbedürftigkeit des Glaubenden gewertet werden, wie N. Slenczka sie verstanden wissen will, da sie als jüdische Schriften evangeliumsähnlichen Charakter für das Judentum haben. Eine rein konsequente jüdisch-rabbinische Lesart eignet die Schriften voll und ganz dem Judentum zu, da Gott in ihnen einzig zu seinem Volk spreche und Identität stiftete. Als Glaubensurkunde einzig für dieses Volk besitzt sie ausschließenden Charakter. Werden die Texte auch vom Christentum mit dieser Hermeneutik gelesen und verstanden, so wäre eine Vereinnahmung dieser Texte für eine vorchristliche Gotteserfahrung eine Entwertung. Zum einen enteignet diese Sichtweise die Schriften dem Judentum gegenüber und verkürzt deren Sinnpotential als religiöse Schriften zu rein kulturellen Platzhaltern. Aber auch eine rein historisch-kritische Leseart kann die alttestamentlichen Texte nicht in Kontinuität zum Neuen Testament betrachten, da diese Methode nicht nach einer Synchronie der Texte fragen kann. M. Luther wollte sich dem Literalsinn zuwenden und mit ersten Ansätzen einer historischen Methode und unter Ablehnung der Allegorie nach dem diachronen Sinn fragen, dabei aber gleichzeitig an der Bedeutung des Alten Testaments festhalten. Der Berliner Systematiker N. Slenczka beginnt in seiner Begründung der hermeneutischen Voraussetzungen mit der Reformation und nimmt die reformatorischen Prinzipien als ein Standbein seiner Argumentation. Dabei übergeht er jedoch die gesamte Geschichte der Bibelauslegung vom Ursprung des Christentums bis zur Reformation, in der M. Luther noch verhaftet war und die er anfangs auch lehrte. Es ist nicht damit getan, Jahrhunderte theologischen Denkens damit abzutun, dass dieses heilsgeschichtliche Denken heute im 21. Jahrhundert theologisch nicht mehr möglich sei. So darf und muss wieder neu gefragt werden, inwiefern eine christologische Lesart des Alten Testaments legitim ist, ohne dabei in einen naiven und gefährlichen Antijudaismus zu verfallen. „Eine christologische Interpretation des AT vermag durchaus“ – wie J.-H. Tück schreibt – „Sinnpotentiale freizulegen, die in diesem selbst angelegt sind. Insofern ist eine solche Auslegung historisch und intellektuell redlich, zumal sie von den Autoren des Neuen Testaments selbst vertreten wird“.515 Die Christen der Urkirche „Rückkehr Markions“, 287. J. Dochhorn fragt, wie und warum es so sicher sein soll, dass die „Christusentdeckungen im Alten Testament“ durch die frühen Christen nicht doch im Recht seien. Vgl. J. DOCHHORN, „Das Alte Testament und die Kirche“, 64-65. 515 J.-H. TÜCK, „Christentum ohne Wurzel“, 52. Von der christologischen Interpretation der Schriften muss eine christologische Bestimmung des Kanons streng unterschieden

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werden. L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Christentum ohne Altes Testament“, 29-30 unterstreicht, dass bei N. Slenczka problematisch anzumerken sei, dass er „den Kanon rein christologisch bestimmt. Damit kehrt er das Verhältnis von Altem und Neuem Testament historisch und hermeneutisch in problematischer Weise um. Er bestimmt das Verhältnis von Altem und Neuem Testament einseitig, allein aus der Perspektive des Neuen Testaments. […] Eine christologisch-inhaltliche Bestimmung des Kanons, wie Slenczka sie vornimmt, ist etwas anderes als eine christologische Lektüre der Schrift […]“. Die christologische Konzentration des Kanonbegriffs zeigt sich auch in N. SLENCZKA, „Antwort auf die Stellungnahme“: „Aber daß man das AT nichtchristologisch liest und es dennoch als kanonisch betrachtet – das verstehe ich nicht! Das ist auch nicht der Sinn und die Prämisse, unter der die Kirche die Kanonizität dieses Teils der Bibel anerkannt hat. Genau das ist das Problem, auf das ich hinweise“. Zur Legitimität der christologischen Auslegung des Alten Testaments vgl. M. GERHARDS, Protoevangelium, 177-178. Auch M. Oeming verweist in seiner Dissertation auf den Nutzen der christologischen Auslegung, um die unitas scripturae zu erklären, warnt aber zugleich vor vorschnellen Harmonisierungen der christologischen Interpretation. Siehe dazu M. OEMING, Das Alte Testament als Teil des christlichen Kanons?, 24-29. In seiner Kritik am „verheißungsgeschichtlichen Modell“ G. v. Rads und dessen Weiterentwicklung stellt es sich jedoch gegen eine christologische Auslegung des Alten Testaments mit den Worten: „Wer einmal vom Baum der historischen Erkenntnis gegessen hat, dem gehen die Augen auf, und er muß erkennen, wie nackt er ist. Er ist aus dem christologischen Paradies vertrieben und muß sich mit vielleicht spärlichen historischkritischen Fellen bedecken. Der Weg ins Paradies ist ihm aber für ewig verschlossen. Die Verstehenskategorien des Neuen Testaments sind zeitbedingt und können heute wenigstens zum Teil nicht mehr übernommen werden, außer um den Preis eines sacrificium intellectus. Zu solchem Opfer sind aber offensichtlich immer noch sehr viele Theologien bereit“ (ebd. 111). M. WEYER-MENKHOFF, „Das Alte Testament zu Berlin“, 11 möchte die christologische Schriftinterpretation lieber als christlichen Konstruktivismus lesen. Mit dem Gedanken des Konstruktivismus möchte er zum einen wahren, dass das Alte Testament kein Wort von Jesus Christus spricht, aber auch zugestehen, dass durch die Kraft des Geistes das Alte Testament auf Christus ausgelegt werden kann. A. Behrens unterstreicht aber, dass dem Literalsinn immer der Vorzug gegeben werden soll, damit Exegese nicht zur Eisegese wird, auch wenn im Hinblick auf das Alte Testament gilt, dass die vielen Worte in dem einem Wort Jesu Christi zusammengefasst, und diese in einem gegenseitigen Verstehenszusammenhang verklammert sind (vgl. Hebr 1,1). A. BEHRENS, „Altes Testament als Gottes Wort“, 216-217. Siehe auch die kleine Studie zum Verhältnis Jesus Christus-Altes Testament: M. WITTE, Jesus Christus im Alten Testament. Eine hermeneutische Lücke ist bei M. Witte zu konstatieren, da er nicht auf das Verhältnis von Religionsgeschichte zu den biblischen Theologien eingeht und sich damit den Vorwurf einfangen könnte, das Alte Testament nur als „Stichwortgeber“ zu sehen. Vgl. zur Kritik an M. Witte: F. HARTENSTEIN, Die bleibende Bedeutung des Alten Testaments, 157. N. Slenczka argumentiert dagegen, dass der christologische Sinn dem Selbstverständnis widerspricht und folgert: „In diesem Sinne ist diese [christologische; Anm. d. Verf.] Deutung antijudaistisch – obwohl ich diesen Vorwurf nicht schätze, denn er unterstellt immer irgendwie Böswilligkeit“. N. SLENCZKA, „Wer braucht das Alte Testament“, 3. Ebenfalls gegen eine christologische Interpretation des Alten Testaments argumentiert U. LUZ, Theologische Hermeneutik, 513, 541-544. Dabei unterstreicht er, dass „Jesus Christus […] nicht die Mitte des Alten Testaments“ ist (541), sondern einzig die christliche Relecture Jesus Christus in das Alte Testament versetzt. Dagegen hebt U. Luz den „riesigen Sinnüberschuss“ (542) des Alten Testaments hervor, der gerade nicht wegen Jesus Christus gegeben ist, sondern die Voraussetzung für die „kleine Meta-Erzählung“ von Jesus Christus ist, der selbst nicht in

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sahen die hebräischen Schriften auch als ihre Schriften an und lasen sie auf Grund ihrer Glaubenserfahrung auf Jesus Christus hin. Diese christologische Lesart ist für sie nicht ein zweiter Schritt einer Interpretation, der auf eine erste jüdische Lesart folgt, sondern der „durch das Christusereignis veränderte situative Kontext der Rezipienten veränderte den Sinn der ihnen bekannten ‚Heiligen Schriften‘. […] Nicht erst das Neue Testament, sondern bereits das Alte Testament spricht, wenngleich in verborgener Weise, von Jesus Christus“.516 Die christologische Lektüre der alttestamentlichen Schriften offenbart den verborgenen Sinn jedoch nicht automatisch. Wie die Emmausperikope (Lk 24,25-27) zeigt, bedarf es der Sinnerschließung. Die Schriften werden durch die Begegnung mit Jesus und durch seine Auslegung, also durch sein Wort, erschlossen. In der Auslegung der Schriften durch Jesus Christus wird ihr Sinn für die ersten Christen offenbar. Jesus Christus, nicht das Neue Testament, ist Deuteschlüssel für das Alte Testament und mit dem Alten Testament wird dann das Handeln Jesu verständlich. Von Beginn an brauchte das Christusereignis ein Erschließungsgeschehen. Nicht allein die beneficia Jesu begründen den Glauben der Jünger an Jesus als den Christus, sondern die Tatsache, dass sich dieser Jesus von Nazareth in seinem Leben und Wirken als der erweist, den die Schriften Israels als den Messias erwarten. Schrifthermeneutik bedarf darum immer auch der theologischen Hermeneutik. Die christologische Deutung der alttestamentlichen Schriften und die Bezugnahme neutestamentlicher Schriften auf alttestamentliche Begriffe ist kein sekundäres Phänomen, sondern primäres Potential. Es sind nicht nur die neutestamentlichen Schriften – gerade dieses Faktum negiert N. Slenczka und anerkennt es ja auch für die ersten Christengenerationen –, sondern Jesus selbst argumentiert mit den Worten und dem Glauben der Bibel Israels; das ist die Grundthese seiner Argumentation mit den Pharisäern und Schriftgelehrten, worin sich aber auch sein eigenes Wesen als Sohn des Vaters zeigt und erhellt. Das Bekenntnis zu Jesus dem Christus ist ohne einer „großen Meta-Erzählung“ verkündet werden kann (543). Des Weiteren ist eine christologische Auslegung eine Verengung, da sie die Texte in eine messianische Verengung führt, die selbst einer jüdischen Auslegung nicht gerecht wird (543). Zu „kleinen Meta-Erzählungen“ als partikulare und persönliche „Identitäts-Diskurse“, die nicht verallgemeinert werden können, sondern unterschiedliche Antworten auf die Lebensfragen der Menschen sind, ohne eine allgemeine Wahrheit zu sein, siehe ebd. 99-147. 516 L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Rückkehr Markions“, 291. Dafür und für eine christologische Lesart des Alten Testaments plädiert auch M. LOERBROKS, „Blessing in Disguise“, 36-37. Er bezeichnet eine christologische Interpretation mit einem Wort von H. U. v Balthasar sogar als „formale Christologie“ und „judenfreundliche[n] Marcionismus“, da er sehr wohl sieht, dass nicht jeder Satz und jedes Wort als eine Verheißung auf Jesus Christus gelesen werden darf. In der christologischen Auslegung des Alten Testaments bedarf es der Textauswahl.

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das Alte Testament und dessen christologische Dimension nicht zu denken. Das Potential im christologischen Bezug der alttestamentlichen Texte besteht darin, zu glauben, dass in Jesus der Christus gekommen ist, und dass es zur Messianität Jesu gehört, sich auf die alttestamentlichen Schriften zu beziehen, die der messianischen Hoffnung Ausdruck verleihen.517 Hierbei darf aber nicht übersehen werden, dass eine christologische Auslegung des Alten Testaments auch zu einem überzogenen und schematischen Verständnis umschlagen kann, wodurch das Alte Testament in einer anderen Weise nicht mehr als eigenständige Größe wahrgenommen, und so wiederum das Volk Israel enteignet wird. Die christologische Auslegung in extremis geht davon aus, dass dem Alten Testament ein pneumatischer Sinn innewohnt, der einzig auf Jesus Christus hin auszulegen ist. Es ist fraglich, ob der von U. Becker eingeschlagene Weg einer christologischen Exegese auch im christlichjüdischen Dialog weiterführend ist, wenn er schreibt, dass „die urchristliche Gemeinde und darauf aufbauend die neutestamentlichen Schriften lediglich das freigelegt haben, was das Alte Testament immer schon intendiert hat“.518 Der Autor übergeht hierbei die Bedeutung der 517

Siehe M. GERHARDS, Protoevangelium, 72. Gegen die christologische Hermeneutik, wie sie M. Gerhards in seinem Buch vorlegt, siehe N. SLENCZKA, „Einwände und Antwortversuche“, 24-29. In einer Antwort auf die Einwände N. Slenczkas unterstreicht M. Gerhards die Bedeutung der christologischen Auslegung des Alten Testaments mit dem Hinweis, dass dies auch aus dem Selbstverständnis Jesu als Messias oder leidender Gottesknecht selbst folgen muss. Siehe M. GERHARDS, „Zu Kritik und Anfragen“, 5-7: „Wo aber der Glaube besteht, dass Jesus tatsächlich der Christus ist, der in den alttestamentlichen Texten vorausverkündigt wurde, gelten die alttestamentlichen Texte als heilsgeschichtliche Vorstufe des Kommens Jesu. Schon deshalb wird man sie als ,kanonisch‘ bezeichnen müssen.“ (6). Problematisch ist hierbei jedoch der Rede der „heilsgeschichtlichen Vorstufe“. Wenn ein heilsgeschichtlicher Ansatz auch für die Exegese fruchtbar gemacht werden soll, so ist die eine Heilsgeschichte zu suchen, die nicht erst mit dem Christusereignis einsetzt, sondern in der Offenbarung Gottes grundgelegt ist. Vgl. auch zur christologischen Exegese A. SCHÜLE, „Altes Testament und der verstehende Glaube“, 209: „Das Alte Testament als Medium von Deutung ist integraler Bestandteil dieser Relation, und gerade weil dies so ist, erscheint die Vorstellung, dass sich das Christentum gegenüber dem Alten Testament emanzipieren könne oder emanzipieren solle, wenig plausibel. Es geht eben nicht um die Emanzipation, sondern im Gegenteil um mancipatio, um das In-die-Hand-Nehmen der Schriften des Alten Testaments“ (Hervorhebung im Original). Vgl. auch J. LAUSTER, „Händels Auferstehung“, 139-140, der kurz und prägnant feststellt: „Die Christologie des Neuen Testaments ist die fortgesetzte Verarbeitung alttestamentlicher Gotteserfahrung. […] Das Alte Testament kennt keine Christologie, aber es wird im Neuen Testament christologisch weitergeschrieben als Spezifizierung, als personale und soteriologische Zuspitzung alttestamentlicher Artikulationen der Präsenz Gottes in der Welt“. 518 U. BECKER, „Einsichten und Konzepte“, 96. In die Richtung von U. Becker scheint auch A. Sierszyn zu argumentieren, wenn er von der rein „personalen Christusmitte“ aller biblischen Schriften ausgeht. Siehe dazu A. SIERSZYN, Christologische Hermeneutik. Eine Studie über historisch-kritische, kanonische und biblische Theologie mit besonderer

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Rezeption und die damit legitim gegebene Sinnpluralität, die durch die Rezeptionsgemeinschaften entsteht, und harmonisiert die Kontinuität und Diskontinuität, die zwischen beiden Testamenten besteht. Es muss unterschieden werden, dass das Christusereignis „immer schon“ in der Offenbarungsabsicht Gottes gegeben ist. Die biblischen Schriften sind als historisches Zeugnis aber nicht mit dieser Absicht identisch. Die Intention der alttestamentlichen Schriften auf das Christusereignis ist im pneumatischen Sinn der Schrift aufgrund der Sinnpluralität gegeben, aber es ist eben nicht die einzige Ausrichtung dieser Texte. Einen christologischen Totalsinn des Alten Testaments kann es nicht geben, wenn sich Bibelhermeneutik und systematische Theologie dem diachronen und synchronen Text verpflichtet wissen und in der Zusammenschau beider den Textsinn zu erschließen versuchen. Auch kommt es einer Überforderung der Texte gleich, wenn der pneumatische Sinn als das Mysterium des Textes bezeichnet wird.519 J. Becker argumentiert für den christologischen Schriftsinn, dass dieser einzig aus dem Dogma des Christusmysteriums zu erschließen sei, da es selbst die „Inspirationslehre und Inerranz nur um des ChristusMysteriums willen“ gibt.520 Ist es nun das Anliegen J. Beckers, dass Theologie vom synchronen Bibeltext auszugehen hat, um Exegese und Dogmatik mit Hilfe des christologischen Sinnes zusammenzuführen, dann besteht eine ähnliche Gefahr, der analog die historisch-kritische Methode teilweise unterlegen ist. Wird sich nur noch dem diachronen oder synchronen Sinn der Texte zugewandt, ohne den jeweils anderen mitzubedenken, dann verliert eine solche Hermeneutik die Sinnpluralität der Texte und engt sie auf eine vorgegebene heuristische Vorannahme ein. Auch der christologische Sinn muss sich einer diachronen Textinterpretation stellen und mit dem synchronen Text zusammendenken lassen, wenn damit die Einheit der Schrift aufgezeigt Berücksichtigung der philosophischen Hermeneutik von Hans-Georg Gadamer (= STB 3), Wien 2010, 111-112; [in Folge: A. SIERSZYN, Christologische Hermeneutik]. 519 Vgl. J. BECKER, „Christologische Deutung“, 20: „Im Sinne dieser Glaubensbotschaft [realen Christusverkündigung des Alten Testaments; Anm. d. Verf.] wird weder etwas hineininterpretiert noch etwas herausgelesen, das nicht real darin enthalten ist. Glaubensbotschaft bedeutet freilich zugleich, daß es sich um ein Mysterium handelt, das der rationalen Auslegung nicht zugänglich ist und auch nicht zugänglich sein kann“. 520 Ebd., 23. In ähnliche Richtung, nur ohne das christologische Gewicht wie J. Becker, argumentiert N. Lohfink, der das Neue Testament den „Hagiographen“ des Alten Testaments nennt, da es damit das Alte Testament in seinem Sinngefüge nochmals veränderte, wobei das „Christusfaktum“ niemals überstiegen wird, damit aber dann der Offenbarungsprozess zu Ende kommt. Erst in der Einheit der Schrift ist dann die volle Irrtumslosigkeit der Schrift ausgesagt, indem das Gesamtgefüge der Schrift die Irrtumslosigkeit der einzelnen Schriften begründet und sie auf das Christusereignis hin bezieht. Vgl. N. LOHFINK, „Über die Irrtumslosigkeit und die Einheit der Schrift“, in: DERS., Studien zur biblischen Theologie (= SBAB 16), Stuttgart 1993, 13-39, 26-29; [in Folge: N. LOHFINK, „Irrtumslosigkeit und Einheit“].

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werden soll. Ein Verstehensschritt für eine christologische Interpretation der alttestamentlichen Schriften wird von C. Dohmen als „doppelte Leseweise“ der Texte vorgestellt. Der christologische Sinn der Schrift stellt sich legitim ein, wenn wir „das Alte Testament zum einen/zuerst rein und unvermischt, ohne christologische Bezüge, als Bibel Israels lesen und zum anderen/danach durch Rückverweise und Zitate im Neuen Testament als ersten Teil der christlichen Bibel lesen, gelangen wir zum wirklichen Verstehen der Heiligen Schrift im Christentum, das immer zwischen diesen beiden Leseweisen ausgespannt bleibt. Einzig die immer neue ,Wiederholung‘ des Alten Testaments kann die Bibel für Christen zur ,Seele der Theologie‘ […] werden lassen. […] Denn die doppelte Leseweise bedeutet ja nicht, dass der erste Teil der christlichen Bibel in freier Wahl entweder als Bibel Israels, d. h. ohne irgendeinen christologischen Bezug, gelesen werden kann oder, wie es das Neue Testament darlegt, als auf Christus hin gedeutete Urkunde des Glaubens. Beide Leseweisen gehören komplementär zusammen, was die Zweiteilung der Einheit der Schrift im Christentum unterstreicht und als Editionsprinzip fordert, so dass bei jeder einzelnen Verstehens- und Zugangsweise, die im Christentum gewählt wird, die je andere als Korrektiv im Hintergrund stehen bleibt“.521

Diese „doppelte Leseweise“ hat die Stärke, dass sie die diachrone und synchrone Hermeneutik zusammendenken kann und dass die christologische Interpretation des Alten Testaments nicht als eine vorschnelle und unüberlegte Vereinnahmung der Texte erscheint. Jedoch darf dabei nicht übersehen werden, dass eine christliche Lektüre des Alten Testaments nie eine vorösterliche, wenn nicht sogar eine vorjesuanische Lektüre sein kann. Wenn Christen das Alte Testament lesen, dann lesen sie es immer vor dem Horizont der Offenbarung Gottes in Jesus Christus und ohne die Verpflichtung auf das Gesetz wie das rabbinische Judentum. Das Christusereignis ist die gültige und bleibende Voraussetzung des Christentums, ohne die es kein Lesen und

521

C. DOHMEN, „Hermeneutik des Alten Testaments“, 230. Siehe auch DERS., „Das Alte Testament nicht kennen“, 51-56. Darum argumentiert B. Janowski dafür, dass die christologische Interpretation eine mögliche Interpretation ist, da das Christusbekenntnis sich nicht aus den Schriften destillieren lässt, sondern aus dem Glauben an ihn heraus entsteht. Vgl. B. JANOWSKI, Ein Gott, der straft und tötet?, 27. Kritisch muss jedoch an die „doppelte Leserichtung“ angefragt werden, wie das Alte Testament „rein und unvermischt und ohne christologische Bezüge“ gelesen werden kann. Ist dieser Ansatz dann nicht auch nahe am „vorchristlichen Verständnis“ des Alten Testaments, wie N. Slenczka es sieht? Ist eine christliche Lektüre dieser Schriften als christologie-freie Lektüre überhaupt möglich, wenn Christsein bedeutet, mit der ganzen Existenz in das Heilsmysterium Christi hineingenommen zu sein bzw. können Christen biblische Texte ohne das österliche Licht lesen? Auch kann eine „doppelte Leserichtung“ des Alten Testaments zu der Annahme eines „zweifachen Heilsweges“ von Judentum und Christentum führen, das in C-4.2. dieser Studie thematisiert wird.

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Verstehen biblischer Texte geben kann.522 Eine Lektüre des Alten Testaments muss für Christen anstatt einer methodisch „doppelten Leseweise“ eine theologisch „gleichzeitige Leseweise“ sein. Weil Christen das Alte Testament christologisch lesen, müssen sie es gleichzeitig auch theologisch lesen und in der Gleichzeitigkeit die jüdische Lesart mitbedenken. Dies hat natürlich zur Folge, dass eine christliche Lektüre des Alten Testaments nur im Bewusstsein geschehen kann, dass das Christentum mit dem Judentum zusammen das Volk Gottes ist und dass im Hinblick auf die Entstehung beider Kanones beide Lesarten legitim sind. Hinzu kommt auch für die christliche Lektüre, dass das „rein und unvermischt“ im chalcedonischen Dogma verbunden ist mit dem „ungetrennt und ungeteilt“. Es ist gerade der Gottmensch Jesus Christus, in dem jüdische und christliche Lesart verbunden ist, weil er als Jude die alttestamentlichen Texte auf seine Person hin liest und versteht. Damit muss sich aber das Christentum bei einer christologischen Lektüre mehr und mehr das ontologische Judesein Jesu bewusst machen und in die christologische Theologie aufnehmen. In diesem Sinn kann auch die christologische Auslegung des Alten Testaments in den christlichjüdischen Dialog eingeführt werden, da damit der Ursprungssinn in die rezeptionshermeneutische Sinnpluralität eingebettet erscheint. In der christologischen Deutung des Alten Testaments bleibt das Hauptkriterium des Evangeliums das Neue Testament. Von hier aus kann von einer „Mitte der Schrift“ gesprochen werden, die sich auch auf das Alte Testament bezieht. Christologische Schriftinterpretation sieht in Hinblick auf das Alte und Neue Testament diese Mitte aber als „exzentrische Mitte“, die alles auf Jesus Christus hin auslegt, womit unwiderruflich auch die Einheit beider Testamente angenommen werden muss, denn alle Texte werden von dieser hermeneutischen Mitte aus gelesen.523 Für A. Behrens gibt die Leseschule des Neuen Testaments bei allen berechtigten Vorbehalten diese Leserichtung vor. Selbst M. Luther sah die Einheit der Schrift christologisch begründet, da Christus das Wort Gottes ist, der im Gesetz und im Evangelium spricht. Natürlich wendet sich der Reformator gegen den pneumatischen Sinn und will den Literalsinn als christologischen Sinn verstanden wissen, denn „der sensus literalis erschließt sich für ihn vom christologischen Gesamtsinn der Schrift her. Die normative Autorität des Alten Testaments steht mithin unter einem ‚christologischen 522

Vgl. PBK, Das jüdische Volk, Nr. 22. Das Dokument sieht die jüdische und die christliche Lesart des Alten Testaments als zwei legitime und mögliche Weisen des Lesens. Aber es lehnt für das Christentum die rein jüdische Lesart ab, weil Christen die Voraussetzungen übernehmen können, die eine rein jüdische Lektüre bedürfe. 523 A. BEHRENS, „Altes Testament als Gottes Wort“, 218. Vgl. auch M. G ERHARDS, Protoevangelium, 41.

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Vorbehalt‘ oder anders gesagt: sie erschließt sich vom neutestamentlichen Christusgeschehen her“.524 Hierin kann N. Slenczka dem Reformator aufgrund der Erkenntnisse der historischkritischen Methode nicht mehr folgen und bricht damit mit die christologisch begründete Einheit der Schrift und ihrer kanonischen Normativität. Der christologische Sinn der Schrift möchte aber die Texte des Alten Testaments nicht vereinnahmen, sondern zu ihrer eigentlichen Mitte führen. Einen christologischen Sinn, der in jedem alttestamentlichen Wort einen Vorverweis auf Jesus Christus sieht, kann nicht begründet und im christlich-jüdischen Dialog nicht hilfreich sein, weil es den theologischen Sinn dieser Schriften nicht beachtet. Aber in dem Sinne, dass Jesus Christus der Exeget seines Vaters ist (vgl. Joh 1,18), kann das Alte Testament von Christen christologisch gelesen und verstanden werden, da der christlogische Sinn den theologischen Sinn der Schriften aufzeigt und zum Christentum sprechen lässt. Christologie und Theologie dürfen in der christologischen Interpretation der Schriften nicht voneinander getrennt werden, sondern bilden eine gegenseitige Ausrichtung und Richtschnur für das Verständnis beider Testamente, da in beiden Testamenten die eine Geschichte Gottes mit den Menschen zum Ausdruck kommt. Offenbarungsgeschichte ist theologische Geschichte, die durch das Ja Gottes in Jesus Christus definitiv bestätigt ist (vgl. 2 Kor 1,20). Die Theologie ist der cantus firmus in der Einheit beider Testamente, indem der theologische cantus seinen lebendigen und geschichtlichen Ausdruck in der Christologie findet. Damit wird Jesus Christus die „exzentrische Mitte“ der Schrift, wenn sich eine christologische Interpretation des Alten Testaments gleichzeitig theologisch rechtfertigen lässt. Eine christologisch-theologische Interpretation lässt dann auch die Einheit beider Testamente als begründet erscheinen, da gerade in dieser Sicht beide Testamente nicht gegeneinander gelesen werden, sondern aufeinander zu, indem sie im trinitarischen Gott ihre eigentliche Mitte und Quelle finden, die sie bezeugen und auslegen. Die christologisch-theologische Auslegung der Schrift verlangt daher auch ein geklärtes Verständnis der Inspiration biblischer Texte, indem darin die pneumatologische Grundlegung einer christologisch-theologischen Auslegung gegeben ist.

524

M. PIETSCH, „Fremde Gott“, 6.

262

4.

Das Neue des Neuen Testaments

N. Slenczka verweist in seinen Arbeiten zum Neuen Testament immer wieder auf das Neue des Neuen Testaments. Der Zuspruch des Evangeliums schafft ein neues Verständnis des Menschen coram Deo und ein neues Verhältnis des Menschen ad Deum und versetzt ihn damit in den gerechtfertigten Zustand der Gnade, der erst in Jesus Christus offenbar werden konnte. Das Alte Testament ist hier ein Ausdruck für die vorchristliche Erfahrung der Erlösungsbedürftigkeit, die dem Menschen in Jesus Christus zugesprochen wird. Wo ein Neues so verstanden wird, ist es zugleich immer auch ein Bruch mit dem Vorhergehenden. In einem Beitrag unterstreicht F. W. Graf dagegen, dass das junge Christentum zwar in einer Spannung zu den hebräischen Schriften stand, diese Spannung aber als Kontinuität in gleichzeitiger Diskontinuität zum Judentum lebte, oder wie es B. S. Childs ausdrückt: „Das absolut Neue des Evangeliums wird vermittels des Alten Testaments ausgedrückt. […] Trotz der Zentralität dieses einfachen christlichen Bekenntnisses ist das Wesen dieser Beziehung komplex […].“525 Obwohl das Neue Testament und das Evangelium Christi ein 525

B. S. CHILDS, Theologie der einen Bibel 2, 132. Siehe auch F. W. GRAF, „Hiobs Botschaft“: „Doch welche Modelle der Zuordnung der beiden Testamente christliche Theologen auch immer entwickelten – sie standen fortwährend unter dem Zwang, die Identität des Christlichen durch Bezug auf den jüdischen Ursprung und zugleich durch dessen Negation zu betonen. Das Neue Testament ist in seinen Bildern, Gleichnissen, Motiven und Zitaten ohne das Alte Testament nicht verständlich. Aber es soll zugleich etwas ganz Eigenständiges, Neues sein“. K. Koch gibt in seinem Beitrag „Doppelter Ausgang“, 219-220 zu bedenken, dass alttestamentliche Zitate oftmals willkürlich gewählt wurden, und damit mehr das Moment der Diskontinuität herausgearbeitet werden muss. Zum Neuen des Neuen Testaments aus exegetischer Sicht siehe F. Crüsemann, Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen, 152-191, der dabei sehr schön deutlich macht, dass das Neue des Neuen Testaments Spuren aufnimmt, die im Alten grundgelegt sind und eschatologisch konkretisiert werden, aber das Neue niemals als Absetzung zum Alten zu sehen sei. Dagegen steht P. Weß entschieden für eine Relativierung des Alten Testaments ein, da es mit Jesus und seiner Verkündigung zu einer Freiwilligkeit und persönlichen Entscheidung gekommen sei. Doch die Argumentation ist wenig überzeugend, da er mit Hilfe von Entgegensetzungen arbeitet und dabei dem Gesetz nicht die Freiheit, sondern das Gewissen gegenübersetzt. Für P. Weß gilt, dass der „letzte Maßstab für das Leben nach dem Willen Gottes […] nicht mehr das Gesetz [ist], sondern das persönliche (Ur-)Gewissen, das im Normalfall durch eine entsprechende Umgebung geweckt werden muss“. Exegetisch versucht er zu argumentieren, dass Jesus Christus die Verheißung des Neuen Bundes erfüllt hat, weil „er sich über einzelne Gesetze des Alten Bundes hinweggesetzt hat“, sowie dass die „Ärgernis erregenden Taten Jesu“ einfach mehr wiegen als „diese später formulierten Sätze“ wie Mt 5,17. Wenn auf die Freiwilligkeit des Glaubens mit Joh 6,67 hingewiesen wird, dann folgert Weß daraus: „Das setzt voraus, dass diese Menschen selbst erkennen und entscheiden können, was dem Willen Gottes entspricht“. Daraus die Aufnahme der Heiden in die Kirche zu rechtfertigen und damit die Begrenzung des Alten Testaments und des Gesetzes zu begründen, ist theologisch problematisch, da sie alte Argumentationsmuster aufnimmt,

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neues Verständnis des Menschen im Glauben verkünden, sind sie ohne das Alte Testament gar nicht als das Neue zu verstehen und zu werten; die innere Logik des Neuen Testaments ist und bleibt im geschichtlichen Verlauf und in der Logik und Konsequenz des Alten begründet. 4.1.

Das Neue als Zueinander von Altem und Neuem Testament

Die Apostel und ersten Jünger haben in der Begegnung mit Jesus Christus eine Veränderung in ihrem Leben erfahren, die für sie nicht im Widerspruch zu ihrem Glauben an den einen Gott JHWH stand. Im Gegenteil: In diesem Glauben konnten sie nun JHWH als abba ansprechen und erwarteten in Jesus Christus das anbrechende Reich Gottes. Das junge Christentum vertrat in den Ursprüngen einen starken Parusieglauben, der auf eine baldige Vollendung des Gottesreiches abhob. Eine Frage ist hierbei, ob sich dieser Glaube vollkommen von der bisherigen Glaubens- und Lebenswelt der Anhänger Jesu abhob oder ob nicht eine Verbindung zum bisherigen Glauben bestehen blieb. Die Frage wird nochmals drängender, wenn man bedenkt, dass sich bereits in der Verkündigung des Apostels Paulus eine Abkehr von einem radikalen Parusieglauben zu einer Verzögerung der Parusie erkennen lässt (vgl. 1 Thess und 2 Thess) und damit bereits ein Nachdenken über das Neue des Christentums einsetzt. Die Frage der Kontinuität zur jüdischen Glaubenswelt und deren Schriften wird von N. Slenczka negativ beantwortet, da das Neue im Neuen Testament die christologische Verwandlung der eigenen Identität die soteriologische Tat durch Jesus Christus gelesen wird. Aber die christologische Neubestimmung kann auch anders gelesen werden: „Im Neuen Testament wird die im Alten Testament bezeugte Geschichte zu Ende erzählt“.526 Jesus sieht sich selbst und seine Verkündigung nicht als Bruch mit seinem eigenen Glauben. Er ist vielmehr gekommen, den Willen des Vaters zu erfüllen (Joh 4,34; 5,30; 6,38-40). Wenn sich Jesus im Johannesevangelium auf den Willen des Vaters bezieht, so bezieht er sich auf den, der für ihn der Gott ist, wie ihn die jüdischen Schriften vorstellen. Jesus sieht sich nicht als ein Reformjude, der sich mit seiner Verkündigung vom pharisäischen Judentum absetzten die dem Alten Testament – und der Argumentation N. Slenczkas – nicht gerecht werden. Vgl. P. WESS, „Das Neue des Neuen Testaments“, CIG 78 (2015) 420. 526 L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Rückkehr Markions“ 291. Auch DERS., „Christentum ohne Altes Testament“, 30. R. Voderholzer spricht davon, dass das Neue des Neuen Testaments „nicht nur Evolution, sondern Mutation“ ist. „Christus webt etwas Neues“ aus den Fäden, die im Alten Testament bereitliegen. Damit wendet er sich gegen die Sicht, dass das Neue des Neuen Testaments ein „Produkt einer Vergeistigung sei“. R. VODERHOLZER, Die Einheit der Schrift, 317.

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möchte. Er bringt keinen Bruch in die Religion. Bei allem Tun, Sprechen und Handeln Jesu, wie es die Evangelien berichten, ist keine Trennung zu erkennen, sondern die Bedeutung der Kontinuität wird unterstrichen. Gerade der Bezug auf alttestamentliche Titel und deren Übertragung zeigt eine notwendige Kontinuität auf, da sie in dieser Übertragung auf Jesus von Nazareth für den Glauben wesentlich werden. Die Heilstat von Tod und Auferstehung gibt diesen Titeln eine religiöse Bedeutung und wird inhaltlich verständlich, da sie von den Anhängern Jesu mit seiner Verkündigung zusammengelesen wird. Die alttestamentlichen Titel werden also in einer zweifachen Performation gebraucht, worin sich dann ihre Bedeutung zeigt: in der direkten Zusprache und damit Glaubensaussprache dieser Titel auf Jesus als den Christus durch Petrus (vgl. Mt 16,13-23; Lk 9,18-21) und der Verbindung dieses Titels mit dem Ereignis von Tod und Auferstehung. Darin realisiert sich wirklich, was die Titel im Bekenntnis meinen und bezeichnen. Wenn die Evangelien das Ereignis von Tod und Auferstehung mit alttestamentlichen Begriffen deuten, dann erhält dadurch das geschichtliche Ereignis seine Glaubensrelevanz, da in dieser Deutung der Sinn erschlossen wird und sich einfügt in den Glauben an den einen Schöpfergott. Ohne diese Verbindung alttestamentlicher Begriffe mit dem geschichtlichen Ereignis können weder die Begriffe noch das Ereignis von Bedeutung für den Glauben der Jünger sein, da sie sich gegenseitig erklären. In dieser Hinsicht kann auch der Gedanke von H. Gese gelesen werden, der sich gegen eine Aufteilung unterschiedlicher Theologien in der Schrift stellt und dagegen von einer Theologie im Traditionsprozess spricht, wobei sich dann das Neue Testament immer wieder in seinem Rückbezug auf das Alte Testament verstehen muss, indem es den alttestamentlichen Traditionsprozess zu Ende führt.527 Die Tatsache, dass sich der Glaube an Jesus Christus mit alttestamentlichen Begriffen auszudrücken versucht, weist darauf hin, dass sich dieser Glaube einer Rezeption verdankt, die aus einer bestimmten Glaubenserfahrung hervorkommt. Wenn N. Slenczka alttestamentliche Schriften als Ausdruck einer vorchristlichen Gotteserfahrung beschreibt, dann kann dem zugestimmt werden. Als Ausdruck dieser Erfahrungen sind sie aber nicht durch eine neue 527 Vgl. H. GESE, „Erwägungen zur Einheit“, 17. Siehe auch A. SCHÜLE, „Altes Testament und der verstehende Glaube“, 205. Beim traditionsgeschichtlichen Modell H. Geses bleibt zu fragen, inwiefern dann in der Kontinuität die Diskontinuität beider Testamente zu denken ist, da die christliche Bibel in Altes und Neues Testament geteilt bleibt und gerade nicht als ein einziges Testament betrachtet wird und ein unterschiedliches Bekenntnis zu den alttestamentlichen Schriften kennt. Vgl. dazu auch B. S. CHILDS, Theologie der einen Bibel 1, 100-101 und C. DOHMEN, „Hermeneutik des Alten Testaments“, 206-207.

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Erfahrung überwunden, sondern mit ihrem Ausdruck der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen in den neuen Glauben mit hineingenommen. Alttestamentliche Texte beschreiben nicht nur den Zustand des Menschen, der auf den Zuspruch der Rechtfertigung wartet, sondern sie unterstreichen immer auch, dass die Erlösung und die Befreiung von Gott abhängen und an Gott gebunden sind. In dieser theozentrischen Sicht kommt es zur Reflexion und Relecture der Schriften auf Jesus Christus hin. Es ist die existentielle Erfahrung der Anhänger Jesu nach Tod und Auferstehung, der ihren Glauben als wahr erweist, insofern „es sich bei diesem Glauben eben nicht allein um Bewusstseins- oder Erlebniszustände handelt, sondern um ein Deutungs- und Erschließungsgeschehen. Anders gesagt: Beim Glauben geht es um einen Erkenntnisgewinn vor dem Hintergrund bereits für wahr erachteter Traditionen“.528 Dieser Hintergrund ist die vorchristliche Gotteserfahrung, wie sie sich im Alten Testament ausdrückt. Darum ist es eine logische Folge, wenn die neutestamentlichen Glaubenstexte zur Hermeneutik der Intertextualität greifen und in der Verschränkung und Verbindung mit alttestamentlichen Texten das Geschehen Jesu Christi ausdrücken, da es für sie keinen Widerspruch, sondern der Erkenntnisgewinn zum vorchristlichen Glauben ist, der sie an die alttestamentlichen Texte rückbindet. Dies ist auch vor dem Hintergrund zu denken, dass die meisten Autoren der neutestamentlichen Schriften Judenchristen bzw. in der jüdischen Tradition beheimatet waren und in diesem Kontext dachten und ihren Glauben verstanden.529 Christen verstehen sich durch das Evangelium neu, aber nicht abgesetzt vom Alten Testament. Durch die Verkündigung des Evangeliums sehen sie sich in einem neuen Verstehenszusammenhang. A. Feldtkeller beschreibt den Übergang nicht nur als eine soteriologisch bestimmte Ontologie, die die Christen im Glauben an Jesus Christus erfahren, sondern auch als kulturellen Überschritt und Neubeginn. Jedoch kann hierbei nicht davon ausgegangen werden, dass der kulturelle Überschritt hinein in das Neue zu einer Abgrenzung führt.530 Das Evangelium ist als das Neue das Verbindende mit dem Glauben, wie er sich in den jüdischen Schriften ausdrückt. Das Neue Testament schafft neu und lässt Grenzen überschreiten, aber nicht um zu trennen. 528

A. SCHÜLE, „Altes Testament und der verstehende Glaube“ 205. Zur Intertextualität siehe auch H. FRANKEMÖLLE, „Das Neue Testament als Kommentar“, 254-262. 530 A. FELDTKELLER, „Reichtum der ganzen Bibel“, 752 unterstreicht das Moment der Kontinuität der Botschaft Jesu und des ganzen Neuen Testaments mit dem Konzept der Transkulturalität. „Zwar sind im Neuen Testament auch Aussagen zu finden, in denen spätere antijüdische Tendenzen christlicher Theologie bereits angelegt sind, aber es gibt im Neuen Testament keinen einzigen Beleg für eine Transkulturation unter Ausschluss von jüdischer Kultur, jüdischen Menschen und jüdischem Glauben“. 529

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Dies kann sogar im Sinne R. Bultmanns so interpretiert werden, dass im christlichen Leben das Kerygma der Kirche zum Klingen kommt, das aber allein nicht zu einer Absetzung gegenüber dem Judentum und dessen Schriften gelesen werden muss. Mit A. Feldtkeller kann die neue Lebenssituation und das neue Lebensverständnis der Christen gerade umgekehrt gelesen werden: „Die großen Gedanken einer Überwindung von Grenzen zwischen Menschen sind im Neuen Testament niemals so gedacht, dass Dritte sich verbünden und dabei zugleich eine neue Grenze gegenüber dem Judentum aufrichten würden – sondern immer als eine Brücke, die vom Judentum aus zu anderen Menschen geschlagen wird“.531 Das Neue des Neuen Testaments ist nicht ein Absetzen, sondern ein Schritt in der Entwicklung aus dem Kulturraum des Judentums heraus. A. Feldtkeller weist darauf hin, dass das Judentum nicht erst durch das Christentum mit neuen kulturellen Welten in Berührung kam. Jede Kultur und Religion kommt mit Kulturen der jeweiligen Zeit und Umwelt in Berührung und in einen Austausch. Interkulturelle und transkulturelle Begegnung bedeuten keine Aufgabe der eigenen Glaubenspraxis. Wenn es mit der Verkündigung des Evangeliums Christi zu einem neuen Verständnis des eigenen Lebens und der Heiligen Schriften kommt, dann bedeutet das nicht eine Entgegensetzung von Gesetz und Evangelium oder von hebräischen und christlichen Schriften. Für den Schritt einer religiösen Inter- bzw. Transkulturation ist der erste Lebensraum Bedingung dafür, um in den anderen Raum einzutreten. Wenn sich die ersten Christen durch das Verständnis des Evangeliums Christi als in Jesus Christus neu geschaffen fühlen, bleiben sie dennoch auf die „alttestamentlichen Schriften auch dadurch bezogen, dass bereits das Alte Testament einen weiten Horizont von Interkulturalität und Transkulturalität aufspannt, der ganz ähnlich wie im Neuen Testament in einzelnen Handlungssträngen bereits exemplarisch zur Verwirklichung kommt, während seine vollständige Einlösung im Alten wie im Neuen Testament von der Zukunft erwartet wird“.532

531

Ebd. 752. Zu Recht darf das Handeln Jesu mit „Vollmacht“ (Mk 1,22) als ein unüberbietbares neues Schaffen gesehen werden, aber es ist niemals ein Handeln, das das Vorausgehende für obsolet erklärt. Darin eine „Kontinuität und Überraschung“ zu sehen, die das Lesen des Alten und Neuen Testaments nur „spannend macht“, unterstreicht M. LOERBROKS, „Blessing in Disguise“, 36. 532 A. FELDTKELLER, „Reichtum der ganzen Bibel“, 758. In ähnlicher Weise argumentiert T. Söding, wenn er den Akzent auf das zeitliche Zueinander von Vergangenheit und Gegenwart legt. Vgl. T. SÖDING, „Heilige Schriften“, 178-179: „Die Vergangenheit, die durch die Heiligen Schriften bezeugt und erschlossen wird, ist freilich theologisch qualifiziert: durch die Offenbarung Gottes in der Geschichte Israel [sic!]. Deshalb sind die Heiligen Schriften – als Dokumente der Vergangenheit Israels – für die Christen normativ (1 Kor 4,6). Verstehen kann dies freilich nur, wer ,zum Kyrios umkehrt‘ (2 Kor 3,16)“.

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Jesus kann sein Evangelium nur auf dem Fundament seines jüdischen Glaubens verkündigen und in diesem Glauben den Willen seines Vaters, den Vater der Heiligen Schriften Israels, erfüllen. Die alttestamentlichen Schriften sind damit notwendige Bezugspunkte für den Glauben an das Evangelium, das die neutestamentlichen Schriften bezeugen und das im Glauben zugesprochen werden soll. Die neutestamentlichen Schriften tragen in ihrem Verständnis des Menschen als Glaubenden das Potential, in ihrer Neuheit die Brücke zu dem neuen kulturellen Raum der hellenistischen Welt zu schlagen. In diesem Zueinander des Neuen und des Alten bleiben aber Neues und Altes Testament aufeinander verwiesen. Nochmals A. Feldtkeller: „Die christliche Gestalt des Kanons ergänzt das Portfolio biblischer Transkulturations-Erzählungen im Raum der jüdisch-christlichen Diaspora. Dies ist jedoch nur die eine Seite der Medaille. Nach der anderen Seite hin würde im Bereich der christlichen biblischen Erzählungen eine viel größere Lücke klaffen, wenn man mit dem Gedanken spielen würde, das Neue Testament ohne das Alte Testament zu lesen“.533

Das Zueinander von Judentum und Christentum, von Altem und Neuen Testament ist im Transkulturationsprozess gerade die Bedingung der Möglichkeit, dass der Glaube an den einen Gott, wie er sich von den ersten Zeilen der Heiligen Schriften kundtut, nicht auf ein bestimmtes Volk und einen bestimmten Ausschnitt der Geschichte fixiert ist und damit politisch determiniert wäre, sondern dass Glaube eine theologische Größe ist. In diesem Zueinander trägt das Wort Gottes die Kraft in sich, über die Grenzen des eigenen Kulturkreises hinauszugehen. Gewiss, dieses Zueinander steht durch die Auseinandersetzung der unterschiedlichen Interpretationen in Spannung, das gemeinsam zu interpretierende und in neue Kulturräume zu transportierende Wort Gottes ist dasselbe. Die Spannung der Interpretation zerstört nicht den theologischen Glauben, sondern ist damit immer auch Anfrage, ob es das Wort Gottes ist, das das Zentrum der Verkündigung bildet. Nur das gegenseitige Zueinander wird dem Wort Gottes gerecht und kann es als performatives Wort weitergeben, indem es die neuen Kulturräume schafft und wandelt. Konnten bereits mit der LXX die Heiligen Schriften aus dem jüdischen Raum in die hellenistische Welt gelangen, so war es nur eine logische Folge, dass mit dem Neuen Testament die performative Kraft des Wortes Gottes noch weiter in die hellenistische Welt eintrat. Es kommt nicht von ungefähr, dass die erste christliche Mission im außerjüdischen Bereich gerade die Diasporagebiete des Judentums erreichte und sich dort verankern konnte. Das Neue des Neuen Testaments ist somit nicht die Absetzung, sondern das Zueinander von Altem und Neuem Testament 533

A. FELDTKELLER, „Reichtum der ganzen Bibel“, 762.

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in der performativen Kraft der Verkündigung. Dadurch erhält die eine Schrift ihren performativen Charakter und wird zum Kanon für die Hörer. Darum ist N. Lohfink zuzustimmen, wenn er schreibt: „Indem der Text gelesen und gehört wird, realisiert sich der Kern der im Kanon gegründeten Wahrheit“.534 Es geht bei der Einheit beider Testamente nicht nur darum, ob sie in sich wahr ist, sondern dass die Einheit sich in ihrer Performation als wahr erweist, weil die Schrift als Kanon den Menschen angeht und anspricht. Die performative Kraft des Wortes Gottes drückt sich nicht nur im Überschreiten der Kulturräume aus, sondern in der Bedingung dafür, dass das Wort Gottes neu gelesen und neu interpretiert wird. In der Auferweckung Jesu durch den Geist Gottes erweist sich das Wort Gottes als wirkmächtig. Jedoch kann die neue Wirkmacht Gottes nicht getrennt werden von der Wirkmacht, die Gott durch die Schöpfung und in seinem Bund mit dem Volk Israel geschlossen hat. Was Gott spricht, das wirkt er. Darum kann „[d]ieses Neue, eine anscheinende universale Nähe Gottes, […] solange spiritualistisch und abstrakt gefährdet [sein], solange es ohne Israels Glaubenszeugnis von Gott verstanden wird“.535 Die Auferweckung Jesu kann also nicht getrennt gesehen werden von dem, was im Alten Testament auf das Wirken des Wortes Gottes zurückgeführt wird. Wenn Paulus und die Offenbarung des Johannes davon sprechen, dass es durch die Auferstehung Jesu zu einer eschatologischen Neuschöpfung kommt (vgl. Röm 6,1-14; 1 Kor 15,35-58; Offb 21,1-8), dann ist dies logisch und notwendig an die Schöpfung Gottes gebunden, in die die Lebensgeschichte Jesu eingewoben ist. Wenn die Auferstehung Jesu im Neuen Testament als eine Neuschöpfung verstanden wird, dann ist sie implizit ein Zeugnis für das, was das Alte Testament ins Wort fasst und woran christliche Verkündigung notwendig anschließt. Die Verkündigung Jesu und das Auferstehungsereignis ersetzen nicht Gott und die Verheißung Israels. Was im Neuen Testament in christologischer Konzentration aufkommt und zur Sprache gebracht wird, ist einzig und allein das Zeugnis, das im Neuen Testament „eschatologisch zur Sprache gesetzt“ ist.536 Im Evangelium Jesu Christi wird nicht ein neues Gotteswort verkündet, sondern jenes Wort Gottes, das sich in den hebräischen Schriften in definitiver und eschatologischer Weise formuliert. Jesus Christus als das neue Wort Gottes kann nur darin das eschatologische Wort sein, weil es die bereits in der Geschichte gesprochenen Gottesworte nicht auflöst, aber in sich versammelt und damit 534 N. LOHFINK, „Eine Bibel“, 72. Der Kern im Kanon könnte mit H. Gese auch als das Alte Testament im Neuen Testament gelesen werden, ohne dass man es einfach „subtrahieren“ könnte. Vgl. H. GESE, „Erwägungen zur Einheit“, 30. 535 M. WEYER-MENKHOFF, „Das Alte Testament zu Berlin“, 12. 536 G. HOLTZ, „Evangelische Kirche und Altes Testament“, 24.

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bestätigt.537 Wenn das Wort Gottes in Jesus Christus die Bestätigung aller vorausgegangenen Worte ist, dann muss dieses eine Wort Gottes für die zuvor gesprochenen Worte offen sein. Nur darin erweist es sich als eschatologisch, da es als das letzte und neueste zugleich das erste Wort einschließt und sich damit als die endgültige Offenbarung Gottes zeigt. Wenn von der Einheit beider Testamente in Kategorien der Relation und Korrelation gesprochen wird, so kann dies nur in einer offenbarungs-geschichtlichen Weise geschehen, indem die Erfüllung das innere Wesen der Verheißung aufnimmt, die Verheißung also der Kern der Erfüllung ist, die geschichtlich ihre Bestätigung in der Offenbarung Gottes findet. Nur in diesem inneren und äußeren Zueinander beider Testamente kann die geschichtliche Dimension der Offenbarung Gottes in Jesus Christus gedacht werden, da Gott seinen Worten nicht die Bedeutung nimmt, sondern sie in Jesus Christus zum Verstehen bringt. 4.2.

Die Offenheit des Neuen Testaments

Das Neue Testament ist als Glaubensbuch kein in sich geschlossenes Buch, das nur für einen bestimmten Zirkel von Lesern zugänglich ist. Es ist ein Buch, das als Verkündigung von Natur aus offen ist und in sich auch eine Offenheit für die Schriften Israels birgt. Dabei wird keine einzige von ihnen in den christlichen Schriften für obsolet erklärt oder mit einem christlichen Zusatz versehen, sondern es kommt zu einer Bestätigung dessen, was das eine Volk Gottes als Offenbarung Gottes glaubt. Es war gerade die LXX, die die hebräischen Schriften für das Christentum als normativ zur Geltung brachte. Natürlich kam es damit zu einer Umstellung der Anordnung der Schriften, indem aus der dreigliedrigen Struktur von Tora-Propheten-Schriften eine viergliedrige Struktur mit Gesetz-Geschichte-Weisheit-Prophetie herausgestellt wurde, womit sich eine geschichtstheologische Anordnung ergab, da das Christentum die heilsgeschichtliche Fortführung der Schriften in Jesus Christus erkannte. Die hebräischen Schriften haben ihre heilsgeschichtliche Bedeutung darin, dass sie das Heilsgeschehen Gottes in Jesus Christus als die eschatologische Bestätigung der 537

Vgl. H. HÜBNER, „Warum Biblische Theologie?“, 14-17. Der Autor spricht sogar davon, dass das alttestamentliche Wort Gottes „durch das Evangelium Jesu Christi als das neue Wort Gottes relativiert worden [ist]“ (Hervorhebung im Original) (15). Er meint damit nicht eine abwertende Relativierung, sondern möchte damit vielmehr die geschichtliche Dimension Gottes unterstreichen, der sich in der Geschichte ausspricht und darum geschichtlich ein gesprochenes Wort durch sein neues Wort „aufhebt“, indem es im neuen mitaufgenommen ist. Vgl. ebd. 16: „Kraft des geschichtlichen Gefüges von altem und neuem Wort Gottes relativiert das neue Wort Gottes das alte Wort Gottes; denn Gott selbst stellt sein altes Wort in Beziehung, also in Relation, zu seinem neuen“ (Hervorhebung im Original).

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Torazentrierung des Gottesglaubens Israels ausweisen. Darauf deutet dann auch die Anordnung der neutestamentlichen Schriften in ihrer Viergliedrigkeit von Evangelium-Apostelgeschichte-Briefe-Offenbarung hin, indem die letzten drei Schrifteinheiten auf das viergliedrige Evangelium zentriert sind. In dieser Spiegelung der hebräischen Schriften in Form der LXX bindet sich das junge Christentum bewusst an die LXX-Schriften und deren Inhalt.538 Die Fülle des Neuen (vgl. Gal 4,4-6) besteht nicht darin, dass es zu einer qualitativen Überbietung des Vorangehenden kommt, sondern die Fülle des Neuen in Jesus Christus besteht darin, dass das christliche Alte Testament den Akzent auf die Tora setzt und sich damit zu der Einzigkeit und Einheit Gottes bekennt und darin mit den hebräischen Schriften „in einem inneren theologischen Zusammenhang“ steht.539 Das Neue und die Offenheit des Neuen Testaments erweist sich in der Konkretion der Verheißung und der Treue Gottes, mit der sich Gott seinem Volk Israel zugewendet hat und sich als der eine Gott in Jesus Christus erweist. Die urchristliche Hermeneutik geht von einer theologischen und heilsgeschichtlichen Einheit, nicht aber von einer Trennung und Absetzung aus. Erst Marcion hat mit seinem selektiven Kanon und einem dualistischen Gottesbild eine Trennung zwischen Christentum und Judentum eingeführt, damit aber die Schriften seines Kanons in ein starres und forensisches System gezwängt, das der Offenbarung Gottes, der sich in der Einheit der Geschichte und der Schöpfung zeigt, nicht mehr entsprechen konnte. Im expliziten Bezug auf die Schriften Israels weitet das Christentum dagegen seinen Horizont des Verstehens Gottes und gewinnt die Überzeugung, dass sich die Botschaft Jesu in die eine Geschichte Gottes in der Schöpfung mit den Menschen einfügt und nur daraus verstanden werden kann. Die Verwurzelung des Christentums im Judentum ist, wie J.-H. Tück deutlich macht, nicht nur ein religionsgeschichtlicher Aspekt des Christentums, sondern hat Auswirkungen auf die gesamte christliche Theologie und lässt sie offen 538

Vgl. B. JANOWSKI, Die rettende Gerechtigkeit (= BTAT 2), Neukirchen-Vluyn 1999, 258-259; [in Folge: B. JANOWSKI, Die rettende Gerechtigkeit]. Zum Neuen Testament vgl. A. WUCHERPFENNIG, „Monotheismus und Schriftlichkeit. Neutestamentliche Überlegungen zum islamischen Vorwurf der Verfälschung der Schrift“, in: T. GÜZELMANSUR (Hg.), Das koranische Motiv der Schriftfälschung ('taḥrīf’) durch Juden und Christen. Islamische Deutungen und christliche Reaktionen (= CIBEDOSchriftenreihe 3), Regensburg 2014, 177-212, 186: „Wenn das Neue Testament die jüdische Schrift des Alten Testaments in seiner Anordnung gewissermaßen mimetisch reorganisiert, lässt sich bereits erkennen, dass die christliche Heilige Schrift von Anfang an auf die jüdische Schrift bezogen ist“; [in Folge: A. WUCHERPFENNIG, „Monotheismus und Schriftlichkeit“]. 539 B. JANOWSKI, Die rettende Gerechtigkeit, 259. U. Luz beschreibt die Bibel Israels als „grundlegende Bedeutung für die christliche Identität, dass die Christen aller Zeiten sich von dieser ganz besonderen Enzyklopädie nie emanzipieren konnten und durften, ohne ihre Identität zu verlieren“. Vgl. U. LUZ, Theologische Hermeneutik, 415.

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sein auf die heilsgeschichtliche Perspektive, die das Neue Testament für die Offenbarung Gottes in der Geschichte aufreißt: „Würde man das AT aus dem Kanon streichen und auf das Niveau apokrypher Schriften absenken, liefe das nicht nur auf eine Verkürzung der biblischen Überlieferung hinaus, sondern auch auf eine problematische Entjudaisierung und Entwurzelung des Christentums. Eine solche Amputation aber kann niemand wollen. Gerade aus christologischen Gründen ist der alttestamentliche Hintergrund gegenwärtig zu halten, wenn man das Judesein Jesu nicht nur als quantité négligeable, sondern mit den Evangelien als heilsgeschichtlich bedeutsam einstuft“.540

Jesus hat mit seiner Verkündigung den hebräischen Schriften nicht widersprochen noch wollte er sie im Sinne einer Erfüllung abschaffen, die Neues versprechen würde. Das Gesetz, die Weisheitsbücher und die Propheten sind der Lebensraum Jesu sowie der spirituelle Horizont seiner Verkündigung als Jude. Er macht nicht neu, sondern er erfüllt das Wort Gottes, indem er den tiefen Sinn dieser Schriften den Menschen näherbringen will: das Bekenntnis des einen Gottes (Mk 12,29; Dtn 6,4) in der Gottes- und Nächstenliebe (Mk 12,29-31; Lev 19,18). Würde man die alttestamentlichen Schriften nur noch als apokryphe Schriften behandeln, wäre dies keine respektvolle Haltung gegenüber dem Judentum, sondern käme einem „Bärendienst“ gleich. Gerade die Tatsache der jüdischen und christlichen Lesart derselben Schriften zeigt deren Tiefe und Potential, dem einen und wahren Gott zu begegnen. Ohne das Alte Testament bleibt das Neue Testament unverständlich, da die theologische Einheit beider Testamente auch deren Sinngehalt von Anfang an geprägt hat: Das Alte Testament ist der Charakter des Neuen. Darum bleiben Altes und Neues Testament auf den einen und einzigen Gott bezogen und können nur von ihm her verstanden werden. Die Offenheit beider Testamente auf diesen Gott lässt sie aber auch füreinander offen und zugewandt sein. Eine christliche Theologie, die die hebräischen Schriften als in sich und für das Judentum abgeschlossene Schriften liest, schließt somit auch den Kanon des Neuen Testaments in sich ab. Die Verkündigung Jesu im Evangelium des Reiches Gottes ist keine abgeschlossene Tatsache, sondern bezieht sich auf die eschatologische Verwirklichung durch die endgültige Heilstat Gottes in Jesus Christus. Natürlich können Kreuz und Auferstehung Jesu Christi nicht aus den alttestamentlichen 540 J.-H. TÜCK, „Christentum ohne Wurzel“, 52 (Hervorhebung im Original). E. Zenger beschreibt das Alte Testament mit dem Bild des „Janus-Gesicht[es]“, da es einerseits in sich geschlossen, andererseits gerade auf die Fortführung im Neuen Testament hin offen ist, da Gott „immer für ,eine Überraschung gut ist‘“. Siehe E. ZENGER, Das Erste Testament, 140-144. T. Söding spricht von der Offenheit des Alten Testaments, da das Christentum das Gewicht der Propheten als Schlussteil gelegt habe. Er weist aber zugleich darauf hin, dass diese Offenheit nicht bedeutet, das Alte Testament nur als „das Vorläufige“ zu sehen. Siehe dazu T. SÖDING, Einheit der Heiligen Schrift?, 272-273.

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Schriften deduziert werden, aber dennoch ist von der Verbindung beider Testamente eine innere Logik der Offenbarung Gottes zu erkennen, indem sich Gott in Jesus Christus zum Heil der Menschen nochmals neu ausspricht, ohne seine bereits ergangenen Verheißungen zu widerrufen. Die Offenheit der christlichen Theologie und des christlichen Glaubens auf die eschatologische Erfüllung ist angewiesen auf das Zeugnis des Nicht-abgeschlossen-Seins um Gottes und um des Menschen willen. Die Dekanonisierung des Alten Testaments verschließt auch das Sinnpotential des Neuen Testaments und beschneidet gerade darin die Normativität des Neuen Testaments für Theologie und Glaube, denn die Normativität des Evangeliums unterstreicht die notwendige Offenheit von Theologie und Glaube für das Wort Gottes und sein Wirken in der Geschichte.

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5.

Die christologisch-theologische Auslegung von Röm 9-11

Für N. Slenczka ist die Israeltheologie, wie in Röm 9-11 dargestellt, kein Lösungsansatz im christlich-jüdischen Dialog. Er interpretiert dabei den Paulustext dahingehend, dass der Völkerapostel das Judesein nicht ohne ein Christsein denken kann, womit der Geltungsanspruch des ungekündigten Bundes Gottes mit seinem Volk Israel aufgehoben wäre (vgl. 5.3.1). Dagegen muss gefragt werden, ob Paulus wirklich das Heil für das Volk Israel an das Christsein bindet oder die Heilsfrage rein christologisch zu beantworten versucht. Wenn das eine Volk Gottes sich gegründet sieht auf das Zeugnis des einen und einzigen Gottes, dann muss dies die Identität von Juden und Christen mitbestimmen, ohne dass eine Trennung durch das Volk Gottes geht. Paulus geht vom einen Volk Gottes aus und weiß Jesus Christus auch zu den Juden gesandt, da er der Messias des Gottesvolkes ist. In Röm 9-11 artikuliert er eine Soteriologie, die den Eigenwert des Judentums akzeptiert, andererseits aber das Volk Israel in einer spannungsvollen Beziehung zur universalen Erlösung in und durch Jesus Christus versteht. Die paulinische Israeltheologie muss daher immer von der Rechtfertigungstheologie her gesehen und gewertet werden, wenn Paulus immer wieder darauf zurückkommt, dass es die Gnade Gottes ist, die den Glauben wirkt.541 Die gesamte Israeltheologie ist eingebettet in das Nachdenken über die Gerechtigkeit Gottes und die Rechtfertigung aller Glaubenden (vgl. Röm 3,20-8,39), weshalb Paulus notwendigerweise die Frage nach der Rechtfertigung Israels ansprechen muss, die für ihn in das Finale mündet: „Ganz Israel wird 541

T. Söding weist darauf hin, dass die These, Röm 9-11 als Exkurs zu betrachten, hinfällig ist, da sie aus einer individualisierten Sicht protestantischer Rechtfertigungslehre kommt, die die Rechtfertigung des Einzelnen hervorheben möchte. Dagegen muss eine Israeltheologie von Anfang an eingebunden sein in die Rechtfertigungstheologie, da es in Röm um eine „Theologie der Gerechtigkeit Gottes“ geht, weshalb Paulus auch „zur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Israels Stellung nehmen und das Leben nach dem Gesetz im Verhältnis zum Leben nach dem Glauben beschreiben“ muss. Vgl. T. SÖDING, „Erwählung – Verstockung – Errettung. Zur Dialektik der paulinischen Israeltheologie in Röm 9-11“, IKaZ 39 (2010) 382-417, 383384; [in Folge: T. SÖDING, „Erwählung-Verstockung-Errettung“]. Vgl. auch zur Grundlage der Rechtfertigung M. THEOBALD, Der Römerbrief (= EdF 294), Darmstadt 2000, 213 und zur Originalität der Kapitel im ganzen Brief ebd. 261-262; [in Folge: M. THEOBALD, Der Römerbrief]. M. Theobald möchte Röm 9-11 jedoch nicht primär in den Dimensionen der Zeit lesen, sondern der Zusammenklang von der „Zuverlässigkeit des Wortes Gottes“, „Israels Nein als geschichtlicher Anlass des Themas“ und „die Glaubwürdigkeit des Evangeliums als theologisches Thema“, wobei das Evangelium das Verbindende der drei Themenkreise ist; vgl. ebd. 260-261. Zur genauen exegetischen Gliederung von Röm 9-11 siehe P. T. GADENZ, Called from the Jews and from the Gentiles. Pauline ecclesiology in Romans 9-11 (= WUNT 267), Tübingen 2009, 15-41; [in Folge: P. T. GADENZ, Called from the Jews and from the Gentils].

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gerettet werden“ (Röm 11,26). Im gesamten Römerbrief entwickelt der Apostel eine zutiefst israelfreundliche Theologie der Erwählung und setzt sich damit auch von eigenen israelfeindlichen Tendenzen wie in 1 Thess 2,14-16 ab, worin er den Unterschied zwischen Juden und Christen hervorhebt; oder von Gal 4,21-31 mit seiner Argumentation gegen Beschneidung und Gesetz, wogegen er in Röm 7,12.14 feststellt, dass das Gesetz gut und geistlich sei. Im Brief an die Römer geht es dem Apostel nicht mehr um die „Abwehr eines christlichen Nomismus“, sondern um „eine heilsgeschichtliche Sicht der Rechtfertigung“, die die Gerechtigkeit Gottes ausdrückt und damit die Möglichkeit für eine soteriologische Rede für das eine Volk Gottes eröffnet, indem gerade Röm 9-11 auf die Erwählung Israels, seine Rettung und die Verstockung in der Ablehnung Jesu eingeht.542 Erwählung, Verstockung und Rettung ist das spannungsvolle Mysterium, dem sich christliche Theologie immer aussetzen muss, um eine adäquate Theologie der Rechtfertigung im christlich-jüdischen Dialog zu erarbeiten. Paulus schreibt in Röm 9-11 als Jude, der zum Glauben an Jesus Christus gekommen ist und von Jesus Christus aus seine Argumentation bestimmen lässt. In Röm 9,1-5 bietet Paulus den Problemaufriss, indem er sich selbst und Jesus mit Israel „im Fleisch“ verbunden fühlt und dem Volk Israel die notae der Erwählung zuspricht (Röm 9,4-5), gleichzeitig aber bekennt, dass der Heilswille Gottes an Jesus Christus gebunden ist. Die Verstockung der Juden im Nein zu Jesus Christus schmerzt den Apostel (Röm 9,2-3). Bereits in den ersten Zeilen seiner Israeltheologie argumentiert Paulus jedoch nicht rein christologisch, sondern auch theologisch, da es um die Erwählung und die Verheißungen durch Gott geht. Es ist die Theo-logik, die die Dialektik der heilsgeschichtlichen Einheit erscheinen lässt, da gerade in einer theozentrischen Perspektive alles auf die bleibende Gültigkeit des Wortes Gottes konzentriert wird, 542

Vgl. T. SÖDING, „Erwählung-Verstockung-Errettung“, 387-388. Hier muss auch die Frage nach dem „Ziel des Gesetzes in Christus“ (Röm 10,4) beachtet werden. Die paulinische Gesetzesdialektik in Röm darf jedoch nicht dahin interpretiert werden, dass Christus das Gesetz erst vollende und damit die Tora defizitär wäre. Dagegen steht Jesus als Jude, wie auch Paulus im Gesetz, für das er „eiferte“. So kann te,loj no,mou als „Endziel“ interpretiert werden, das das Gesetz nicht einfach ablöst, sondern die innere Kraft – für Paulus dann christologisch – zum Ende bringt. Vgl. M. THEOBALD, Der Römerbrief, 215-219. Vgl. J. A. SANDERS, From Sacred Story to Sacred Text, 50-51, der te,loj als „completion, fulfillment, and sense of them [all chapters of the Torah; Anm. d. Verf.]“ sieht. Dabei möchte er aber das Gesetz als jüdische Rechtfertigung verstanden wissen. Weiter zu Paulus und Gesetz siehe ebd. 115-123. N. Baumert sieht im te,loj no,mou die neue Stufe der Offenbarung Gottes und Christus ist nicht das Ziel oder Ende, sondern „Höhepunkt“ bzw. „Hochform“ des Gesetzes, womit eine christologische positive Steigerung des Gesetzes gegeben ist. Vgl. N. BAUMERT, Christus – Hochform von „Gesetz“. Übersetzung und Auslegung des Römerbriefes (= Paulus neu gelesen), Würzburg 2012 208-213; [in Folge: N. BAUMERT, Christus – Hochform von Gesetz].

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das sich nicht mehr auf die „Kinder des Fleisches“ bezieht, sondern auf die „Kinder der Verheißung“ (Röm 9,8), die für ihn wiederum christologisch geweitet ist. Besonders in Röm 9,6-29 geht er darauf ein, dass die Gerechtigkeit Gottes zunächst nicht an die Ablehnung Jesu Christi gebunden ist, da Gottes Wort im Bund nicht „hinfällig geworden ist“ (Röm 9,6a); vielmehr ist das Wort Gottes, das Israel gegeben und anvertraut ist (Röm 3,2), Garant für die bleibende Erwählung, wenn Gott seinem Wort nicht selbst untreu werden möchte. Was Gott einmal ausgesprochen hat, bleibt bestehen, hat seinen gültigen Wert und Gott wendet sich davon nicht ab: „Positiv gewendet, will Paulus zuerst nachweisen, dass er mit seiner christologischen Rechtfertigungslehre an der Verheißungstreue Gottes in der Geschichte Israels festhält“.543 Die Erwählung Gottes – hier bleibt sich Paulus treu, dass keine Werke rechtfertigen – ist eine Erwählung durch den Glauben, was Paulus an den Beispielen Ismaels und Isaaks sowie Esaus und Jakobs verdeutlicht (Röm 9,6-13). Die Verheißung Gottes besteht nach Paulus nicht in der Geburt, sondern der Glaube inkarniert die Verheißung und Erwählung Israels durch Gott: alles hängt am Glauben an Gott, der das Erbarmen gibt (Röm 9,16). Im Glauben ist die Verheißung angenommen und im Glauben konstituiert sich das Volk der Erwählung, die in Röm 9,22-29 eschatologisch geweitet wird, indem Paulus auch den Heiden zusammen mit dem „Rest Israels“ als Judenchristen die Erwählung zuschreibt. Die Logik der Erwählung Gottes besteht nach Paulus im universalen Heilswillen, der sich im Glauben konkretisiert und nicht durch äußere Zuschreibungen an ein bestimmtes Volk, insofern die Gnade Gottes der Garant für die ganze Heilsgeschichte ist (Röm 9,15). Röm 9,30-32 unterstreicht nochmals, dass die Gerechtigkeit Gottes aus Glauben und nicht aus Werken gegeben ist. Zugleich führt Paulus nun zur theologischen Gerechtigkeit Gottes einen christologischen Argumentationsstrang ein (vgl. Röm 10,1-21), indem der Glaube an das Bekenntnis zu Jesus Christus als den Herrn gebunden wird (Röm 10,9), was zur Ablehnung und Verstockung der Juden führt. Die Verstockung wird von Paulus jedoch nicht als ein gänzlicher Abfall vom Glauben verstanden, sondern es ist der abgelehnte Glaube an den „Stein des Anstoßes“, da mit ihm der Glaube an das Heil durch die Tora in Frage gestellt würde (Röm 9,32b-33). Hier lässt der Apostel die Spannung entstehen, der er sich in Röm 11 zuwendet und die er zu einer Lösung führen muss. T. Söding kommentiert dazu: „Dadurch bereitet er [Paulus; Anm. d. Verf.] die Dialektik von Verstockung und Erwählung vor, die er in Röm 11 ausführen wird. Die 543

T. SÖDING, „Erwählung-Verstockung-Errettung“, 391. Paulus argumentiert daher gerade nicht eschatologisch, sondern geschichtlich und weist damit die Verheißung als eine gegenwärtige Gabe und Gnade aus. Vgl. dazu N. BAUMERT, Christus – Hochform von Gesetz, 177-178.

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Glaubensgerechtigkeit gibt es als solche nicht ohne den Widerspruch zum Evangelium, die Kehrseite der Zustimmung. Das ist nicht nur der Wahlfreiheit des Menschen geschuldet, Ja und Nein sagen zu können, sondern setzt noch tiefer an: Das, was das Evangelium zu einem Gegenstand des Glaubens macht, ist gerade das Anstößige, das Kritische und Paradoxale, ohne das Gott nicht derjenige wäre, der sein Wort sagte. Deshalb gibt es kein Ja ohne ein Nein – und kein Nein, das nicht durch das Ja Gottes in ein neues Licht gestellt würde“.544

Paulus stellt sich dem Ärgernis, dass der Glaube an Jesus Christus der Glaube an das Heil sei. Aber gerade darin besteht für ihn die Gerechtigkeit Gottes, da er Erbarmen und Gnade gibt. Es ist nicht nur der „Eifer für Gott“, sondern es bedarf auch der „Einsicht“ (Röm 10,2) des Glaubens, die die christologische Dimension der Gerechtigkeit Gottes anerkennen lässt, die sich im Kreuz Christi offenbart. Wenn Paulus über den „Eifer für Gott“ spricht, dann schwingt seine eigene Biographie mit, die vor seiner Hinwendung zum Glauben an Jesus Christus auch durch den „Eifer für Gott“ gekennzeichnet war. Dieser „Eifer“ war nicht ohne Erkenntnis, denn Paulus wusste, wogegen er ankämpfte und eiferte (vgl. Röm 10,19). Doch dieser „Eifer für Gott“ gelangt nicht zur Anerkenntnis im Glauben, dass Gott in Jesus Christus das Heil bezeugt und offenbart hat (Röm 10,3). Aber gerade diese Einsicht des Kreuzes führt zur Verstockung und Ablehnung des Evangeliums (vgl. 1 Kor 1,18-25; Gal 3,13). Trotz dieser Ablehnung des Kreuzes Christi bittet Paulus Gott, dass die, die Jesus Christus und sein Evangelium ablehnen, gerettet werden (Röm 10,1), da der „Eifer für Gott“ in sich nicht negativ ist, sondern bewusst an der Tora und damit an der Erwählung festhalten will. Obwohl Paulus eine starke und explizite Christologie vertritt, hält er an der Theologie fest und sieht darin die Hoffnung für Israel gegeben. Die paulinische Soteriologie ist damit theologisch fundiert, aber „christologisch angewendet“.545 Es ist die Theologie der Verheißung und Erwählung, die für Paulus zur christologischen Bezeugung führt und über Israel hinausgeht, wie Paulus mit LXX-Zitaten in Röm 9,30-10,21 zu begründen versucht, indem er sie auf die Annahme des Zeugnisses der Christus-Predigt durch die Heiden und die Ablehnung durch Teile Israels anwendet. Gerade diese Paradoxie der Erwählung durch Glauben, die notwendigerweise über Israel hinausgehen muss, und damit die theologische Kategorie des Heils in die christologische Begründung einschließt, soll Israel auf das eigene Heil eifersüchtig machen, das ihm in der Verheißung und Erwählung gegeben ist (vgl. Röm 10,16-21). 544 T. SÖDING, „Erwählung-Verstockung-Errettung“, 393. Vgl. M. THEOBALD, Der Römerbrief, 215. Die Verstockung nimmt „die Form der Suche nach der eigenen [der Juden; Anm. d. Verf.] Gerechtigkeit an, ist ,Gegenentwurf‘ gegen das Evangelium […]“. 545 Vgl. T. SÖDING, „Erwählung-Verstockung-Errettung“, 395.

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Röm 11 kann als das Herzstück der Israeltheologie des Apostels in Röm 9-11 bezeichnet werden, das in den Satz mündet: „ganz Israel wird gerettet werden“ (Röm 11,26). Dabei greift Paulus das Bild des „Restes“ auf (Röm 11,5) und verbindet die Vergangenheit des Volkes Israel mit der Gegenwart, um damit die heilvolle Zukunft zu beschreiben. Es ist wiederum die Gnade Gottes, also die theologische Dimension der Argumentation, die den Rest stellvertretend für das Volk Israel im Glauben stehen lässt. Weil es in der Geschichte Israels immer diesen „heiligen Rest“ im Glauben gab, stand Gott in seiner Treue zur Verheißung und Erwählung. Es ist der „Rest“, der das Zeichen der bleibenden Erwählung und Rettung und damit Hoffnungszeichen für ganz Israel ist: die Juden, die ihr Ja zu Jesus Christus sagen können, stehen stellvertretend für die Rettung ganz Israels ein – das möchte Paulus mit dem „Rest“ ausdrücken. Die andere Seite der Medaille des „Restes“ ist die Verstockung derer, die ihr Nein zu Jesus Christus sagen.546 Die Verstockung als theologisches Motiv birgt jedoch in sich bereits die Hoffnung auf Rettung für ganz Israel, da in der Verstockung wiederum Theologie und Christologie ineinander verschränkt sind, insofern es Gott selbst ist, der sein Volk vor der Verstockung nicht zurückhält, da biblisch gesehen diese Haltung in Erlösung aufgehoben werden soll. Paulus interpretiert die Verstockung der Juden mit der Kategorie der Rechtfertigung durch die Gnade, da die Verstockung des Volkes Gott handeln lässt. Die Verstockung ist ein Zeichen für die bleibende Erwählung und die Verheißung, da es Gott selbst sein wird, der Israel aus der Verstockung befreit und hineinführt in das Heil. Das Erlösungshandeln Gottes wird aber in Jesus Christus konkret und ist in Jesus Christus geweitet, da die Heiden bereits zu diesem Heil gelangt sind (vgl. Röm 11,11-15). Paulus hält an einer theologischen und christologischen Begründung des Heils fest, das sich in der Zusage und im Vertrauen ausspricht, dass sowohl Juden als auch Heiden zum Heil berufen sind. Die Verstockung der Juden hat zur Folge, dass sich die Heiden dem Heil zuwenden; sie wird schon als Stellvertretung dafür gesehen, den 546 Dabei ist es wichtig, mit T. Söding darauf hinzuweisen, dass „Verstockung“ bei Paulus nicht moralisch gemeint, sondern ein soteriologischer Begriff ist: Vgl. ebd. 399-400: „In der Bibel ist ,Verstockung‘ kein moralischer Begriff, der ein Charakterproblem oder ein unreifes Verhalten anzeigt, sondern ein soteriologischer, der unter einem bestimmten Aspekt erfasst, dass Gottes Heil durch Gottes Gericht erfolgt. Gott führt in die Krise – nicht aus Willkür, sondern um die Konsequenzen eines verfehlten Lebens oder einer falschen Entscheidung zu zeigen. Die Verstockungsthematik ist immer mit dem Gericht, zuweilen mit der Strafe Gottes verbunden. Aber es ist Gott, der handelt – und weil er der Gott Israels ist, der Vater Jesu, zielt sein Handeln zwar auf eine Verurteilung, eine Bestrafung und Distanzierung, hat aber als Ziel die Aussöhnung, die Versöhnung, die Vergebung und Annäherung“. Vgl. M. THEOBALD, Der Römerbrief, 272-273. Siehe auch den Beitrag W. SCHENK, Art.: pwro,w und pw,rwsij, in: EWNT 32011, 487-488.

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Heiden den Zugang dazu zu ermöglichen. Den Juden in der Verstockung ist das Heil nicht abhandengekommen, sondern sie bleiben in der Erwählung (Röm 11,1) und weiten die Erwählung und Verheißung soteriologisch für die Heiden, denn gerade die Verstockung bedeutet Heil und Versöhnung für die Heiden (vgl. Röm 11,11-15). Wie der „Rest“ stellvertretend die Erwählung hält, so ist das theologische Nein der Juden zu Jesus Christus die stellvertretende Möglichkeitsbedingung für die Universalisierung des Heils, weshalb die Verstockung nicht das Ziel des Handelns Gottes sein kann. Das Nein Israels lässt die Heiden das Heil erreichen, weswegen durch diese Stellvertretung das Heil am Ende auch das Nein umfangen und in das endgültige Ja zu Gott verwandeln wird. Darum darf die jüdische Wurzel nicht vergessen werden, aus der das Heil stammt und in das die Heiden hineingenommen sind (Röm 11,16-24). Die Heiden, die zum Glauben gekommen sind und damit in der Heilszusage stehen, stehen in einer besonderen Verbindung zum Volk Israel, das trotz des Neins zu Jesus Christus die „heilige Erstlingsgabe“ (Röm 11,16) ist. Es ist die Heiligung als Universalisierung, die durch die „Erstlingsgabe“ geleistet wird und mit dem Begriff der Stellvertretung auf den Punkt gebracht ist: Weil es die „Erstlingsgabe“ gibt, hat das Ganze Teil an der Heilsverheißung Gottes, ohne dass damit bereits das Wie der Verheißung ausgesagt ist.547 Greift Paulus dann nochmals auf das Bild der Wurzel und der wilden Zweige, die durch die Wurzel veredelt werden, zurück (Röm 11,16b-24), so nimmt er damit auch den Gedanken der Heiligung wie den der „Erstlingsgabe“ auf. Die theologische Deutung möchte damit ausdrücken, dass Gottes Verheißung und Erwählung von Anfang an Bestand hat und bleibt, und dass das Heil in Jesus Christus nicht von der Wurzel losgelöst werden kann, sondern dass der Glaube aus Gnade, nicht aus Werken (Röm 11,6), in die Verheißung einschließt. Die Heidenchristen müssen sich immer bewusst sein, dass sie durch Glaube und Taufe (vgl. Röm 6) am Ölbaum teilhaben, diese Teilhabe aber niemals die bereits 547

Vgl. T. SÖDING, „Erwählung-Verstockung-Errettung“, 404: „die Weihe des Erstlings, mag er noch so klein und unscheinbar sein, heiligt die ganze Fülle. Heiligung heißt: Verbindung mit Gott, Prägung durch ihn, Partizipation an ihm. Das Bild knüpft an die Rede vom heiligen Rest und seine implizite Heilsuniversalität an. Wenn das Erste geheiligt wird, dann das Ganze“. Hier ist wiederum die Stellvertretung und das Zueinander von Theologie und Christologie angesprochen. P. T. Gadenz legt die Struktur der Stellvertretung einseitig für das Judentum aus, indem die Heidenchristen keine Bedeutung für die Rettung Israels haben. Vgl. P. T. GADENZ, Called from the Jews and from the Gentils, 315: „While Israel’s hardening serves the salvation for the nations, the nations‘ coming to faith does not per se serve the salvation of hardened Israel. Neither does the nations‘ provoking Israel to jealousy serve the salvation of some from Israel in history (v. 14) nor does the entrance of the full number of the nations bring about the salvation of all Israel in the eschaton (vv. 25-26). The Gentil-Christians as Gentils thus do not have a function in favor of the salvation of Israel“.

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ergangene Erwählung und Verheißung für das Volk Israel ablöst oder beendet.548 Stirbt die Wurzel, so stirbt der ganze Ölbaum; wird die Erwählung Israels und deren Verheißung durch eine christliche Substitutionstheologie ersetzt, so stirbt die theologische Wirkung des Heils: nur in Verbindung mit der theologischen Erwählung Israels ist das Heil in Jesus Christus zu beschreiben und zu verstehen. In der Verbindung der Erwählung Israels mit der Vollendung des Heils in Jesus Christus steht für Paulus das Mysterium der Rettung Israels (Röm 11,26), das die logische Folgerung der Erwählung Gottes ist, in die auch die Heiden hineingenommen sind. Die Erfüllung des Mysteriums ist an die Fülle der Heiden (Röm 11,25) gebunden, die „eine eschatologische Vorstellung [ist], die nicht aus dem mühsamen Addieren, sondern dem Überfluss der Vollendung lebt“.549 Mit der Vollendung wird Israel voll und ganz in das Heil hineingenommen, das Paulus christologisch versteht. Die Vollendung greift dabei wieder die drei Zeitdimensionen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf, indem das Heil rückgebunden ist an den Glauben Abrahams, der die Verheißung begründet. Dabei verdeutlicht Paulus das Heil mit dem hoffnungstheologischen LXX-Zitat aus Jes 50,20-21, das vom Kommen des Retters vom Zion spricht. Aus seiner Glaubensüberzeugung heraus sieht er den Retter in Jesus Christus gekommen, der aber als Jude in der dreidimensionalen Zeitachse des Judentums steht, da er als Jude der Vergangenheit angehört (vgl. Röm 1,3-4; 9,5; 15,1-11), als eschatologischer Heilsbringer aber auch die Gegenwart Israels erhellen kann. In diesem Heilsbringer wird dann auch das Nein der Juden zu Jesus Christus umgewandelt, da er die „Gottlosigkeit von Jakob entfernen wird“ (Röm 11,26 = Jes 59,20LXX; Jer 31-33-34LXX; Jes 27,9LXX). Gott bleibt bei seinem Bund mit Israel und wird ihn eschatologisch vollenden, selbst wenn ganz Israel Jesus Christus in der Gegenwart nicht anerkennt. Darin besteht das Mysterium der Rettung Israels, das für Paulus kein innerhistorisches Geschehen ist, sondern das Ereignis der Parusie, „die Einleitung der Heilsvollendung, in der es 548

Die Zweige, die aufgrund des Nicht-glauben-Könnens an Jesus Christus aus dem Baum gehauen werden, sind dennoch nicht vom Heil getrennt. Paulus hält in der theologischen Deutung des Bildes die Möglichkeit offen, dass diese Zweige wiederum in den Baum eingepfropft werden können und damit Anteil am Saft der Wurzel bekommen (vgl. Röm 11,23-24). Zur genauen Analyse des Ölbaumgleichnisses siehe W. KELLER, Gottes Treue – Israels Heil. Röm 11, 25-27 – die These vom „Sonderweg“ in der Diskussion (= SBB 40), Stuttgart 1998, 197-215; [in Folge: W. KELLER, Gottes Treue – Israels Heil]. 549 T. SÖDING, „Erwählung-Verstockung-Errettung“, 408. Zum Begriff des Mysteriums in Röm 11,25 siehe W. KELLER, Gottes Treue – Israels Heil, 83-87. Mysterium möchte hier die absolute Tat Gottes beschreiben, die noch nicht offenbar ist, sich aber eschatologisch ereignen wird, indem es gerade in der „Rettung ganz Israels“ offenbar wird.

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keine Rettung der Glaubenden ohne eine Rettung Israels gibt. Paulus bleibt im Rahmen der Prophetie, den er allerdings apokalyptisch bis zum Ende der Geschichte und Aufbruch des Gottesreiches ausdehnt und christologisch konkretisiert“.550 Es ist das Erbarmen Gottes, dass sich auf Juden und Heiden bezieht und jeweils durch den Ungehorsam des anderen den Glauben stärkt, das in das eschatologische Heil führt (Röm 11,30-31). Es ist das gnadenhafte Erbarmen Gottes, das jedes jüdische oder heidnische Nein umfängt und in das Ja des Heils verwandelt. Auch wenn Paulus diese Umwandlung des Nein in das Ja christologisch denkt (vgl. 2 Kor 1,20), so bleibt es doch das Mysterium der Errettung Gottes, das Gott in Treue zu seiner Erwählung und Verheißung wirkt. In Röm 9-11 argumentiert Paulus christologisch-theologisch, indem er die bleibende Erwählung und Verheißung Israels immer theologischgnadenhaft begründet, den theologischen Glauben aber christologisch weiterführt und konkretisiert. Dies zeigt sich in der Anordnung der Kapitel, in der Röm 9 und 11 theologisch argumentieren, Röm 10 mit dem Evangelium aber eine christologische Linie verfolgt. Gerade weil das entscheidende Kapitel 11 eine theozentrische Problemlösung anbietet, indem der Parusiechristus in Röm 11,26b-27 im Namen Gottes handelt, kann eine rein christologische Heilszusage an Israel immer nur eine christologisch-theologische Errettung sein, die den bleibenden Wert der Erwählung Israels wahrt und dialektisch zu integrieren versteht.551 Die Christologie bestätigt für Paulus das, was die Theologie in der Verheißung zugesagt hat. Diese Verbindung von Theologie und Christologie ist und bleibt bei Paulus das Mysterium der Rettung und wird in der Spannung offengehalten, bis sie in der eschatologischen Vollendung aufgelöst wird. Bis dahin sieht Paulus die 550

T. SÖDING, „Erwählung-Verstockung-Errettung“, 411. Siehe auch T. SÖDING, „Heilige Schriften“, 166 und W. KELLER, Gottes Treue – Israels Heil, 278-280, der unterstreicht, dass die Parusie alle Verstockung und Unglauben löst. 551 Vgl. M. THEOBALD, Der Römerbrief, 263-265. Daraus folgt ebd. 270-271: „Was in der Gegenwart also nicht deckungsgleich ist, das vorfindliche Israel und die ,Erwählung‘ (11,7) bzw. der ,Rest‘ (11,5), das wird […] in der eschatologischen Zukunft von Gott zur Deckungsgleichheit gebracht. […] Israel ist in Röm 9-11 auch ein eschatologischer Begriff; d.h., nicht der gegenwärtige Zustand des Gottesvolkes sagt abschließend etwas über Israel aus, sondern entscheidend ist, was Gott in der Treue zu seinem erwählenden Wort in der Zukunft mit Israel vorhat“ (Hervorhebung im Original). Siehe auch T. SÖDING, „Heilige Schriften“, 168: Paulus „rekurriert auf die Theozentrik Jesu Christi und die Universalität seiner Heilsherrschaft; vor allem begründet er die Mission unter den Heiden in der Herrschaft des Auferweckten, der inmitten der Völker Gott verherrlicht“. Dagegen interpretiert N. Baumert die Errettung Israels nicht als ein rein eschatologisches Ereignis, sondern als einen Prozess, der „schon im Gange ist und sich in dieser Geschichte entfaltet“. Vgl. N. BAUMERT, Christus – Hochform des Gesetzes, 196.200-201.225-226, hier 235. N. Baumert unterstreicht den geschichtlichen Prozess stark, um die Verheißung an Israel herauszustellen und die Interpretation von Röm 9-11 rein theozentrisch zu erklären.

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Spannung in der Stellvertretung des gleichzeitigen Ja und Nein der Juden zu Jesus Christus, indem gerade in dieser Gleichzeitigkeit die Erwählung und Verheißung an Israel Bestand hat, da im Ja und Nein Christologie und Theologie verbunden sind, auf deren Hintergrund sich Paulus als Jude zu Jesus Christus bekennt und darin das Heil und die Rettung für ganz Israel erhofft. Es sind die Dimensionen von gemeinsamer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die Israel und Christentum miteinander verbinden. Abraham ist der gemeinsame Beginn der Glaubensgeschichte, die sich in den Schriften des Alten und des Neuen Testaments niederschlägt; die Zukunft ist die gemeinsame Wallfahrt zum Zion, zu der alle eingeladen sind, selbst wenn sie in der Gegenwart nicht Ja zu Jesus Christus sagen können; die Gegenwart ist die Stellvertretung im Ja und Nein zu Jesus Christus, die den Platz im Heil für den jeweils anderen freihält und begründet, indem Jesus Christus für das Volk Israel eine „diakonische Funktion“552 einnimmt, da er für die Treue Gottes zu Israel einsteht, indem diese Treue durch ihn bestätigt wird, und das Volk Israel ohne das Bekenntnis zu ihm von Gott geliebt bleibt (Röm 11,28b). Paulus leistet in seiner Israeltheologie nicht einer christozentrischen Rechtfertigungslehre Vorschub, sondern entwickelt seine Gedanken aus dem Glauben an den einen Gott heraus. Die Theozentrik ist die Matrix der paulinischen Christologie und Soteriologie. Aber gerade darin kann der Apostel die dialektische Spannung von Erwählung, Verstockung und Heil aushalten, da es für ihn das Faktum der Offenbarung Gottes ist, das in der eschatologischen Vollendung Judentum und Christentum das Heil zuspricht. Daher folgert M. Theobald treffend: „Denn gerade angesichts solcher von Gott selbst heraufbeschworenen Krise Israels bewährt sich, was es heißt, die Freiheit Gottes sei mit seiner Treue, seiner Beständigkeit und Wahrheit, im Kreuz Jesu zusammenzudenken. Nur so vermag Paulus in seinem Ringen um die Glaubwürdigkeit des Wortes Gottes diesem für die von der Zukunft erwartete, aber von Gott selbst in der eschatologischen Rettung ganz Israels zu leistende Theodizee theologisch den Raum freizuhalten. Nichts anderes strebt Paulus in Röm 911 an“.553 552

K. WENGST, „Einzigkeit Gottes und Einzigkeit jedes Menschen“. M. THEOBALD, Der Römerbrief, 285. W. Keller spricht daher von einem „Sonderweg“ Israels zum Heil, den er aber als „ureigenen“ Weg verstanden wissen will. Es ist kein identischer Weg wie der Weg der Christen, da die Erwählung Gottes weiter Bestand hat, aber die Erwählung Israels nicht ohne Christus gedacht werden kann. Vgl. W. KELLER, Gottes Treue – Israels Heil, 281-285, hier 283-285: „,Ganz Israel‘ wird nicht aufgrund der Erwählung unabhängig von Christus gerettet. Vielmehr realisiert sich die Verheißung Gottes für Israel und seine Erwählung in der Überwindung des Unglaubens und in der Zuwendung eschatologischen Heils durch den zu Gericht und Heilsvollendung kommenden erhöhten Herrn. Im Grunde ist dies der eigentliche Heilsweg, der ,Normalweg‘ überhaupt: Gott macht durch Christus seine am Anfang gegebene 553

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Wenn N. Slenczka davon spricht, dass Röm 9-11 „Fundament des Problems“ im christlich-jüdischen Dialog ist, so kommt dies davon, dass er die paulinische Israeltheologie rein christozentrisch liest. Werden die Zeilen über das Mysterium der Rettung Israels nach dem Selbstverständnis des Apostels jedoch christologisch-theologisch gelesen und verstanden, so steckt in diesen Kapiteln ein immenses Potential für den christlich-jüdischen Dialog und für das Zueinander von Altem und Neuem Testament. Judentum und Christentum, Altes und Neues Testament, stehen nicht nur nebeneinander, sondern bedingen sich auch gegenseitig in der Stellvertretung der Erwählung und des Glaubens. Spielt für Paulus die Verstockung Israels eine wesentliche Rolle, um das Mysterium der Errettung Israels zu erklären, so kann und darf diese Dialektik von Ja und Nein, Israel und Heiden, Verwerfung und Errettung nur theologisch ergründet werden, die für Paulus jedoch ihre christologische Explikation hat. So ist es nicht verwunderlich, dass der „Traktat über die Errettung Israels“ einen hymnischen Rahmen hat (vgl. Röm 9,5 und 11 33-36), so dass das ganze Nachdenken über das Mysterium im Gebet zu Gott eingefangen ist, um damit „Gott völlige Freiheit zu gewähren“.554

Verheißung wahr. Wenn man so will: Der Weg der Heiden, der Weg der Kirche ist demgegenüber ein zusätzlicher Heilsweg. Das Heil, das Gott von Anfang an den Vätern zugesichert hat und das er in Christus allen, die in ihnen erwählt sind, also ,ganz Israel‘ zuwendet, wird zusätzlich auch denen aus den Heiden zuteil, die an den Christus glauben. […] Israel geht also einen eigenständigen Weg, der hauptsächlich für die Anteilhabe am Heil ist, wobei doch Christus auch für Israel der alleinige Heilsmittler ist. Es ist der Weg des Erwählt-Seins, welches die Heilsverheißung impliziert, die von Gott in Christus eingelöst wird. Um es auf den Punkt zu bringen: Israels Weg zum Heil ist ein ureigener Weg, es ist der Weg in Christus besiegelter Erwählung“ (Hervorhebung im Original). Problematisch muss jedoch gesehen werden, wenn W. Keller dann weiter davon spricht, dass Christus den Bund mit Israel vollendet und die Kirche durch das Christusereignis in diesen Bund „hineingenommen“ ist. Hier bleibt die Frage – wie sie auch N. Slenczka stellt – ob dann der Bund mit Israel defizitär ist, wenn er erst durch Christus vollendet werden muss und wie dann noch die universale Heilsmittlerschaft Jesu Christi gedacht werden kann. 554 B. S. CHILDS, Theologie der einen Bibel 2, 127. Vgl. auch M. THEOBALD, Der Römerbrief, 263. Siehe auch E. LOHSE, „Gottes Gnadenwahl und das Geschick Israels“, in: DERS., Rechenschaft vom Evangelium. Exegetische Studien zum Römerbrief (= BZNW 150), Berlin – New York 2007, 29-42, 31-32. Vgl. auch N. BAUMERT, Christus – Hochform von Gesetz, 244-247, der darauf hinweist, dass der hymnische Abschluss nichts anderes besagen möchte, als „dass die Initiative immer bei Gott liegt! Niemand gibt Gott etwas, was er dann zurückgeben würde“ (246). Dies gelte dann auch für das Geheimnis der Rettung von Juden und Heiden.

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6.

Zum Antijudaismusvorwurf gegen Notger Slenczka

Das Christentum befand sich in seinen Ursprüngen auf den ersten Blick in einem Dilemma. Jesus von Nazareth war Jude, lebte und betete als Jude, seine Jünger waren Juden und der jüdische Glaube war ihre religiöse und kulturelle Lebenswelt. Aber bereits Apg 15 zeigt deutlich, dass sich der Glaube an Jesus als den Christus nicht auf Juden beschränkte, sondern dass sich von Anfang an auch Heiden diesem Glauben anschlossen, ohne davor jedoch den jüdischen Glauben angenommen zu haben. Als sich die junge Kirche dazu entschloss, dass es nicht notwendig sei, die Beschneidung zu empfangen, setzte sie sich damit von einem wichtigen Bundeszeichen des Judentums ab. In den ersten Generationen christlicher Theologie wurde darum immer wieder versucht, diesen Grundsatz des Nicht-Jude-sein-Müssens, um zum christlichen Glauben hintreten zu können, zu rechtfertigen. Dass es dabei auch zu antijudaistischen Stereotypen kam, zeigt allein schon die Geschichte der Substitutionstheorie, die darauf hinausläuft, dass das Neue Testament das Alte und die Kirche die Synagoge ersetze.555 Es überrascht nicht, dass N. Slenczka mit seiner Argumentation und seiner These zum Alten Testament schnell mit dem Etikett des Antijudaismus versehen wurde. F. Pieper warf ihm das in seiner Stellungnahme als ersten Kritikpunkt vor. Da sich N. Slenczka dezidiert in die Tradition des deutschen Protestantismus des 19. und 20. Jahrhunderts stelle, könne seine „Abhandlung nicht anders gewertet [werden] als eben so, dass sie eine Neuauflage des protestantischen Antijudaismus darstellt“.556 Vor allem sein expliziter Bezug auf Schleiermacher und A. v. Harnack muss die Problemstelle des 555 F. W. GRAF, „Hiobs Botschaft“, kommentiert dieses Dilemma wie folgt: „Ihre [der christlichen Theologen der ersten Jahrhunderte; Anm. d. Verf.] Zuordnung von Altem und Neuem Testament lief deshalb fortwährend auf Überbietung des Alten durch das Neue hinaus. Allen Christentümern sind konstitutiv Elemente von Negation des Jüdischen oder Antijudaismus eingestiftet“. Siehe dazu auch R. GRÄSSER, Der Alte Bund im Neuen, 132133. Gegen diese Sichtweise stellt sich K. Schmid, der darauf hinweist, dass das Christentum nie versucht hat, das Alte Testament zu überbieten. Vielmehr kam es zu einer Zuordnung. Er sieht dies darin bestätigt, dass erst auf dem Konzil von Trient die Kanonfrage entschieden wurde und man sich mit der LXX-Fassung vom protestantischen Kanon absetzte, der der hebräischen Bibel folgte. K. SCHMID, „Christentum ohne Altes Testament“, 595. – Zur geschichtlichen Einordnung des christlichen Antijudaismus siehe: T. NICKLAS, Jews and Christians?, 67-85, der der patristischen Spur nachgeht, die den Bund Gottes mit Israel für aufgehoben ansehen und damit in einen latenten oder offenen Antijudaismus fallen; des Weiteren J. MAIER, Juden als Sündenböcke. Geschichte des Antijudaismus (= Geschichte 132), Wien 2016; J. CONNELLY, Juden – vom Feind zum Bruder. Wie die Katholische Kirche zu einer neuen Einstellung zu den Juden gelangte, übers. v. I. E. MORGAN, Paderborn 2016; sowie den Sammelband D. WENDEBOURG – A. STEGMANN – M. OHST (Hgg.), Protestantismus, Antijudaismus, Antisemitismus. Konvergenzen und Konfrontationen in ihren Kontexten, Tübingen 2017. 556 F. PIEPER, „Theologieprofessor und Altes Testament“, 16.

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Antijudaismus immer wieder benennen, denn gerade bei Schleiermacher sei ein Hang gegeben, der vom Antijudaismus in Antisemitismus umschlagen kann. Auch H.-J. Kraus sieht in F. Schleiermacher und A. v. Harnack „Zuflüsse zu einem großen Strom antisemitischer und germanisch-deutscher Ideologien“, da sie die „systematischen und historischen Kategorien zur Ausstoßung des Alten Testaments“ lieferten.557 Darum ist die Kritik an N. Slenczka hierin laut und verständlich, dass er sich nicht genügend gegen diese theologische Tradition im Protestantismus absetzt.558 Dagegen verteidigt M. WeyerMenkhoff den Berliner Systematiker mit den Worten: „Dass es dabei nicht um antisemitische oder besser: antijudaistische, antijüdische Motive gehen kann, ist bei der Seriosität des im jüdischchristlichen Dialog engagierten Kollegen Slenczka allerdings von vornherein klar. Im Gegenteil, möchte er einer unseligen Tradition der Vereinnahmung des Judentums durch Christen entgegentreten. Wenn man ihm trotzdem juden- oder christenfeindliche Absichten unterstellt, hat man entweder nicht richtig gelesen oder verstanden, oder aber, das scheint für fünf Berliner Universitätskollegen zuzutreffen, wird hier eine Gelegenheit genutzt, um eine ganz andere Rechnung mit einem Kollegen zu begleichen, die mit der Sache selbst nichts zu tun hat“?559 557

H.-J KRAUS, „Bekennende Kirche“, 29 (Hervorhebung im Original). F. PIEPER, „Streit um christlichen Kanon“, 7. 559 M. WEYER-MENKHOFF, „Das Alte Testament zu Berlin“, 10. Weiter schreibt der Autor: „Die meisten im Frühjahr [2015; Anm. d. Verf.] publizierten Kritiken an Slenczka sind ein Skandal, die mehr über die Verweigerung zu denken oder böse Absichten offenbaren als über Slenczkas Aufsatz. Gerade wenn man wie ich seinen Folgerungen nicht zustimmt und wie er im christlich-jüdischen Verhältnis engagiert ist, darf die Liebe zu den Juden kein Grund sein, in Überempfindlichkeit Unschuldige des ‚Antijudaismus‘ zu zeihen [sic!]. Damit tut man der Sache keinen Dienst und redet falsch Zeugnis wider seinen Nächsten“ (14). Auch K. MÜLLER, „7 Thesen“, 27 verteidigt N. Slenczka gegen den Antijudaismus und bescheinigt ihm, dass er explizit die „geistliche Wertigkeit und Würdigkeit des Gottesvolkes Israel anerkennt“; des Weiteren ist in dieser Reihe zu nennen U. BARTH, „Symbolisches Kapital“, 12, wobei er zugesteht, dass N. Slenczka in manchen Formulierungen Anhaltspunkte für den Antijudaismusvorwurf bietet. Ebenso wie U. Barth wertet es M. PIETSCH, „Fremde Gott“, 7. Er erkennt zwar in N. Slenczkas These „antijüdische Stereotypen“, ist aber insgesamt auf ein „erneuertes Selbstverständnis des Christentums im Angesicht des Judentums“ ausgerichtet. Vom Verdacht des Antijudaismus spricht auch frei K. SCHMID, „Christentum ohne Altes Testament“, 593, wobei er es für problematisch hält, das Judentum als Stammesreligion zu bezeichnen. Daher beurteilt M. OEMING, „Der Kampf um das Alte Testament“, 23 diese Bezeichnung als „peinliche Fehlleistung“ und geht dem Begriff historisch auf die Spur. Vgl. auch L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Das gespaltene Gottesvolk“: „Der von Notger Slenczka unterbreitete Vorschlag […] kann mit dem Antisemitismus oder Antijudaismus eine Verbindung eingehen. […] Ich kann jedoch nicht erkennen, dass die von Slenczka aufgestellte These in irgendeiner Weise antijudaistisch motiviert ist. Zwar gibt es die eine oder andere kritische Äußerung Slenczkas zu Texten des Alten Testaments und zu Aspekten des alttestamentlichen Gottesbildes, diese Äußerungen aber als antijudaistisch zu qualifizieren, geht an der Sache vorbei. […] Man macht es sich zu 558

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Es ist ein Faktum der Geschichte, dass aus dem Christentum ein kirchlicher Antijudaismus erwachsen ist. Doch liegt dies weder in einer Konsequenz des Glaubens an Jesus von Nazareth als den Christus, noch in der Zusammenstellung der neutestamentlichen Schriften. Dies hätte N. Slenczka in seinen Ausführungen zum Alten Testament und zum Kanonverständnis deutlich herausarbeiten können, um damit auch der unbegründeten Kritik Wind aus den Segeln zu nehmen und die Diskussion auf emotional weniger belastete Felder zu führen. Der Antijudaismusvorwurf vermengt dabei zwei Ebenen, die von N. Slenczka in seinen Schriften klar unterschieden werden. Das Alte Testament kann nicht mit dem Judentum gleichgesetzt werden, so dass die Forderung der Dekanonisierung nicht zugleich eine Ablehnung des Judentums bedeutet, auch wenn der Schritt dazu nicht mehr weit ist. Das Alte Testament in seiner kanonisierten Form ist eine christliche Sammlung, die von der rabbinischen Sammlung unterschieden werden muss, selbst wenn sie auf dieselben Schriften zurückgreift. Gleichwohl kann ihm in der Diskussion vorgehalten werden, dass er sich in seinen Beiträgen zum Alten Testament zumindest kritisch mit dem Göttinger Philosophie- und Theologiehistoriker E. Hirsch hätte auseinandersetzen können. In einem Beitrag in der Zeitschrift Kirchliche Zeitgeschichte wertet N. Slenczka E. Hirsch als „fähigsten unter den deutschchristlichen Theologen“ und verteidigt ihn, da er 1933/34 nicht die gräulichen Schreckenstaten der Nationalsozialisten hätte erahnen können. N. Slenczka möchte damit aber nicht den Antisemitismus E. Hirschs rechtfertigen, sondern sein Anliegen ist es, ihn in die geschichtliche Stunde einzuordnen.560 E. Hirsch vertrat als leicht, Slenczka Antijudaismus vorzuwerfen und im Gestus moralischer Entrüstung seine These für diskussionsunwürdig zu erklären“. Vgl. auch F. HAUSCHILDT, „Ertrag einer Debatte“, 18. – Von Jüdischer Seite nehmen N. Slenczka vor dem Vorwurf des Antijudaismus in Schutz: H. LISS, „An der Sache vorbei“, 7; M. BRUMLIK, „Antijudaismus in neuem Gewand“, 31 und DERS., „Eine Aussage gegen das Judentum“, 26.04.2015 [http://www.deutschlandfunkkultur.de/ein-gespraech-mit-prof-micha-brumli k-eine-aussage-gegen-das.1278.de.html?dram:article_id=318187; zuletzt abgerufen am 22.02.2018]. 560 Siehe N. SLENCZKA, „Das ‚Ende der Neuzeit‘ als volksmissionarische Chance? Bemerkungen zum volksmissionarischen Anliegen der Glaubensbewegung ‚Deutsche Christen‘ in der Hannoverschen Landeskirche in den Jahren 1933/34“, KZG 11 (1998) 255-317, 256; [in Folge: N. SLENCZKA, „Ende der Neuzeit“]. Zur Frage der Schuld schreibt N. Slenczka ebd. 259: „Und wenn, wie im Anschluß an Hirsch hervorgehoben, die objektive Verantwortlichkeit nicht mit dem begrenzten Wissensstand der jeweiligen Gegenwart abgestreift werden kann, so ist doch die zurechenbare subjektive Schuld an die Qualität der Motive gebunden, die das Handeln in der jeweiligen Gegenwart leitet, ohne daß dadurch das Handeln oder gar seine Folgen gerechtfertigt würden“. Zur Aufgabe des Historikers, der nicht ein Knecht der „identitätsstiftenden Erinnerungen“ als „Siegergeschichten“ sein darf, schreibt der Berliner Systematiker: „Identitätsstiftende Erinnerung hat kein Interesse an Differenzierungen, sondern an der Eindeutigkeit, die

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ein Eiferer der „Deutschen Christen“,561 dass das Alte Testament für Christen nicht mehr von Bedeutung sein könne und dürfe. Mit diesem und anderen Argumenten versuchten die „Deutschen Christen“ ihre politische Stellung zu verbessern und die protestantische Kirche aus der Marginalisierung herauszuführen. Für M. Brumlik ähneln sich die Argumente von E. Hirsch und N. Slenczka zum Alten Testament zu sehr, weshalb M. Brumlik dem Berliner Systematiker „ein[en] Mangel an historischer Reflexion“ unterstellt, auch wenn ihm kein „(klassischer) Antijudaismus vorzuhalten ist“.562 N. Slenczkas Reden von der Partikularität der Stammesreligion mit fehlendem Zeugnis für die Universalität gleicht den Argumenten E. Hirschs. M. Brumlik macht in der Theologie E. Hirschs die gleichen Grundlagen wie im Protestantismus des 19. Jahrhunderts aus, die ihn zu einem politischen Antisemiten werden ließen. In der geschichtlich gefährlichen Zeit von 1936 argumentiert E. Hirsch, dass die alttestamentliche Offenbarung keinerlei Bedeutung für Christen habe, wenn sie nicht durch das Neue Testament vermittelt ist. Der Theologiehistoriker argumentiert vor dem Hintergrund einer politischen Souveränitätslehre und von einer spekulativen Geschichtsphilosophie herkommend und verbindet dies mit der lutherischen Rechtfertigungslehre. Auf diesem geistesgeschichtlichen Hintergrund bestimmt er somit ein Volk als eine bestimmte Gruppe, die sich abgrenzt und die diese Abgrenzung im Gesetz sichtbar macht, wobei der Logos die rassische Einheit des Volkes bestimmt. Dies kann dann auch auf das Christentum übertragen werden. Mit den „Deutschen Christen“ geht es E. Hirsch darum, das Volkstum mit dem Christentum wieder zu verbinden, wie es zur Zeit Luthers gegeben war. Es geht ihm also um eine Stärkung der Kirche durch das Volk und des Volkes durch die Kirche, da im Nationalen das einen fraglosen Konsens ermöglicht. Der Historiker aber, wenn er wirklich Historiker ist und nicht Ideologe, ist interessiert an der unabgeschlossenen Geschichte. An der offenen Situation, die sich darstellte, als damals Entscheidungen getroffen wurden. Wer so fragt, wird der Vielschichtigkeit der Phänomene und der Motive ansichtig, die jede Entscheidung prägen“. DERS., Tod Gottes, 164. Bedenkt man diese geschichtshermeneutische Aussage N. Slenczkas, so ist umso mehr davor zu warnen, ihn mit einem Antisemitismus- oder Antijudaismusvorwurf zu begegnen. Seine Beiträge und Forschungen zeichnen ein hohes Maß an Differenzierungskraft aus, mit der er die unterschiedlichen historischen Epochen bewertet. 561 Zu den „Deutschen Christen“ vgl. K. MEIER, Der evangelische Kirchenkampf. Der Kampf um die „Reichskirche“, Bd. I, Göttingen 1976, 85-90; [in Folge: K. MEIER, Der evangelische Kirchenkampf]; N. SLENCZKA, Tod Gottes, 163-180, K. HERBERT, Der Kirchenkampf. Historie oder bleibendes Erbe?, Frankfurt a. M. 1985, 32-51; [in Folge: K. HERBERT, Der Kirchenkampf] und O. BLASCHKE, Die Kirchen und der Nationalsozialismus (= Reclams Universal-Bibliothek 19211), Stuttgart 2014, 98-109; [in Folge: O. BLASCHKE, Kirchen und Nationalsozialismus]. 562 M. BRUMLIK, „Notger Slenczka und Emanuel Hirsch“, JK 77 (2016) 36-38, 36; [in Folge: M. BRUMLIK, „Slenczka und Hirsch“].

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Religiöse gegeben ist.563 Was die Folge dieser geistesgeschichtlichen Bestimmung ist, wenn sie ins Politische gewendet wird, ist in den Jahren des Nationalsozialismus in Deutschland unschwer zu erkennen. So wollte E. Hirsch nachweisen, dass Jesus nichtjüdischen Blutes war, und dass seitens der Juden versucht wurde, jedes andere Gesetz zu verurteilen, um die eigene Rasse zu stärken und zu bewahren.564 Wenn sich E. Hirsch auf das Alte Testament bezieht, dann kann er darin immer nur ein humanes Zeugnis sehen, das als solches nur die Identität des Judentums stiften kann, nicht aber das christliche. Das christliche Gottesbild ist dagegen die „Emanzipation der Menschen von einer metaphysisch verstandenen Geschichte“.565 Ähnlich wie auch F. Schleiermacher und A. v. Harnack sieht E. Hirsch im durch die Aufklärung geläuterten Christentum die monotheistische Gottesidee zur Vollendung geführt, da erst hier die Freiheit des Menschen mit dem Gottesgedanken versöhnt sei und der Menschen zum politischen Handeln befähigt werde. Im Nationalsozialismus ist für E. Hirsch die Zeit gekommen, in der sich die Gottesidee des Christentums voll und ganz durchsetzen kann. Damit lehnt er eine heilsgeschichtliche Identifikation des Gottes des Volkes Israel mit dem Gott der Christen ab und treibt mit seiner religionsgeschichtlichen Sicht des Christentums einen Keil zwischen beide Testamente. Er argumentiert für die Option der „Deutschen Christen“, alles Jüdische aus dem Christentum zu 563 Darauf, dass sich unter den „Deutschgläubigen“, die die Religion im Nationalen sahen, nicht nur Mitglieder der Deutschen Christen fanden, sondern auch der Bekennenden Kirche und der Katholiken, weist O. BLASCHKE, Kirchen und Nationalsozialismus, 98 hin. Siehe auch N. SLENCZKA, „Ende der Neuzeit“, 277-285 und M. BRUMLIK, „Slenczka und Hirsch“, 37. Zur Theologie E. Hirschs siehe die beiden erhellenden Beiträge W. SCHOTTROFF, „Theologie und Politik bei Emanuel Hirsch. Zur Einordnung seines Verständnisses des Alten Testaments (Teil 1)“, KuI 2 (1987) 24-49 und DERS., „Theologie und Politik bei Emanuel Hirsch. Zur Einordnung seines Verständnisses des Alten Testaments (Teil 2)“, KuI 2 (1987) 137-158. W. Schottroff weist darauf hin, dass E. Hirsch in seiner monarchistischen und national-konservativen Gesinnung die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg als „traumatischen Schock“ erlebt hat, der seine Ressentiments zur Weimarer Republik begünstigte. Dagegen wollte er theologisch die Wiederbegründung eines deutschen Staates durch den christlichen Geist unterstützen. Zur Verbindung von Theologie und Politik bei E. Hirsch siehe H. ASSEL, „Emanuel Hirsch. Völkischpolitischer Theologe der Luther-Renaissance“, in: M. GAILUS – C. VOLLNHALS (Hgg.), Für ein artgemäßes Christentum der Tat. Völkische Theologen im „Dritten Reich“ (= Berichte und Studien 71), Göttingen 2016, 43-67. Eine ausgewogene Darstellung mit historischem Problembewusstsein versucht auch F. HARTENSTEIN, Die bleibende Bedeutung des Alten Testaments, 27-32. 564 Dass Jesus nichtjüdischer Abstammung war, ist ein Argument der Auseinandersetzung zwischen Judentum und Christentum, wonach Jesus Sohn des römischen Soldaten Pantera gewesen sein sollte. Vgl. zu diesem Hinweis M. OEMING, „Eigenwert des Alten Testaments“, 316 und M. HILTON, Wie es sich christelt, so jüdelt es sich, 225. Erstaunlich ist, dass E. Hirsch ein jüdisches Argument gegen das Christentum aufnimmt, um damit gegen das Judentum zu sprechen. 565 Siehe dazu M. BRUMLIK, „Slenczka und Hirsch“, 37-38.

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entfernen. Diese „zweite Reformation“, die am 13. November 1933 in der Sportpalastrede ihren ideologischen Ausdruck fand, rief den reinen und heroischen Jesus aus.566 Darum war für ihn die urchristliche Entscheidung, das Alte Testament in den Kanon aufzunehmen, ein Fehler, der nur damit zu rechtfertigen ist, dass das Alte Testament der negative Gegenpol zum Neuen sei, der nicht einmal durch eine christologische Exegese überwunden werden könne, die E. Hirsch uneingeschränkt ablehnt. Gerade deshalb wäre es wünschenswert und angemessen gewesen, dass sich N. Slenczka dezidiert mit den Schriften und Thesen E. Hirschs in seinen Beiträgen zum Alten Testament geäußert und Stellung bezogen hätte. Damit hätte er zeigen können, dass er und E. Hirsch von denselben theologiegeschichtlichen Quellen wie F. Schleiermacher beeinflusst sind, er jedoch im Gegensatz zu E. Hirsch den nie glückenden Sprung von einer theologischen Argumentation in ein rein politisches und völkisch-nationales Handeln und Denken vermieden hat. Damit hätte N. Slenczka auch unserer Zeit einen großen Dienst erwiesen, da der Religions- und Freiheitsbegriff E. Hirschs dem Alten und dem Neuen Testament widerspricht. Der Antijudaismusvorwurf kann N. Slenczka und seine Beiträge zum Alten Testament nicht treffen, zu klar und deutlich hat er sich öffentlich davon distanziert und abgesetzt.567 Zu groß ist zudem sein Ansehen im christlich-jüdischen Dialog. Aber die Vorwürfe und Debatten um den Antijudaismus müssen einmal mehr Mahnung an christliche und jüdische Theologie sein, wie sie in Worten von M. Brumlik ausgedrückt sind: „Da aber Glaubensgemeinschaften, ihre Texte und ihre Mitglieder nicht sinnvoll voneinander zu trennen sind, bedeutet der Ausschluss alttestamentlicher Texte aus dem Kanon am Ende doch nichts anderes als

566

Vgl. K. MEIER, Der evangelische Kirchenkampf, 122-145, besonders 134-135, K. HERBERT, Der Kirchenkampf, 85-89; F. HARTENSTEIN, Die bleibende Bedeutung des Alten Testaments, 29-31 und O. BLASCHKE, Kirchen und Nationalsozialismus, 102-107. 567 Vgl. N. S LENCZKA, Tod Gottes, 111: „Es besteht in der Evangelischen Theologie in Deutschland ein sehr weitgehender Konsens darüber, dass angesichts der deutschen Untaten in Auschwitz und an anderen Vernichtungsstätten die christliche Theologie verpflichtet sei, ihr Verhältnis zum Judentum zu überdenken und neu zu bestimmen – anstelle des angeblich traditionellen Antijudaismus eine Theologie zu betreiben, deren konstitutives Moment ein positives, nichtexklusives Verhältnis zum Judentum sei. Wer wie ich vielen der sehr unterschiedlichen Vorschläge dieser sog. Israeltheologie kritisch gegenübersteht, gerät sehr leicht in den Verdacht, von antijudaistischen Vorurteilen oder Schlimmerem motiviert zu sein. Das führt dazu, dass bei einem solchen Thema von vornherein jedes Wort auf der Goldwaage liegt [...]“. N. Slenczka ist sich bewusst, dass über das Leid der Juden kein Streit bestehen kann. Darüber aber, wie mit dieser Einsicht umzugehen sei, darf es eine Meinungsvielfalt geben. Siehe ebd. 111. Auch DERS., „Wer braucht das Alte Testament“, 3.

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die Aufkündigung einer nach dem Holocaust langsam gewachsenen mitund zwischenmenschlichen Gemeinschaft von Juden und Christen als Religionen, die durch persönliche Freundschaften oder Beteuerungen bürgerlichen Respekts nicht zu ersetzen sind“568

568

M. BRUMLIK, „Antijudaismus in neuem Gewand“, 32.

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7.

Die Rückkehr Marcions?

L. Schwienhorst-Schönberger überschreibt seinen Beitrag zu N. Slenczka mit „Die Rückkehr Marcions“.569 Dabei weist der Alttestamentler auf Leerstellen und offene Fragen in der gegenwärtigen Theologie, insbesondere in der Exegese hin, die die exegetische Hermeneutik und die Verhältnisbestimmung von Judentum und Christentum in der Theologie nach Auschwitz betreffen.570 Kann das Alte Testament im Sinne der Kontinuität so gelesen werden, dass Altes und Neues Testament in einer wechselseitigen Beziehung stehen, die es erlaubt, bestehende Diskontinuität nicht auszulöschen, wohl aber in den theologischen Diskurs zu integrieren? Auf einen ersten Blick lassen sich viele Passagen von N. Slenczka als eine „Rehabilitation Marcions“ verstehen. Liest man N. Slenczka jedoch genauer – und dies ist auch das Anliegen L. Schwienhorst-Schönbergers –, dann erscheinen mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten zum Häresiarchen des Urchristentums. Was beide vereint, ist die Tatsache, dass sie mit ihrer Theologie provozieren und provozieren wollen, damit aber nur die Konsequenz und die Stringenz ihres Denkens herausstellen. Daher finden sich Ähnlichkeiten in ihrer Hermeneutik wie die Ablehnung der Allegorie und Orientierung am historischen Schriftsinn. Jedoch wäre es anachronistisch, eine direkte Verbindung zwischen Denkern aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert und dem dritten Jahrtausend zu ziehen. Bei allen Ähnlichkeiten überwiegen die Unterschiede, die der Lauf der Geschichte der Theologie eingeschrieben hat. Die Ablehnung der Schriften, die für das Christentum zum Alten Testament wurden, erfolgt bei Marcion571 und N. Slenczka aus unterschiedlichen Vorentscheidungen und in unterschiedlicher Gewichtung. Der pontische Theologe lehnt die hebräischen Schriften 569

Vgl. L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Rückkehr Marcions“, 286. Ebenfalls findet sich die Anspielung auf Marcion in dem Beitrag DERS., „Marcion on the Elbs“. Als einen eindeutigen Hinweis auf eine marcionitische Theologie bei N. Slenczka kann gelesen werden, insofern als Grundproblem „die Frage nach der Aneignung eines Textes [gelten kann], dessen ursprünglicher, historisch feststellbarer Sinn für die ihn kanonisierende Trägergemeinde in keiner Weise als Zeugnis für Christus bzw. den Glauben der Gemeinde an ihn verstanden werden kann: er spricht zu anderen von einem anderen Gott“. N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 76 (Hervorhebung durch den Verfasser). Wünschenswert wäre es gewesen, wenn N. Slenczka den Ausdruck „eines anderen Gottes“ konkretisiert hätte, der aus dem Zusammenhang des Beitrags und auch aus seinen weiteren Schriften nicht eindeutig erklärbar ist. Es wäre jedoch überzogen, ihm damit eine völlige Trennung vom Gott des Alten und des Neuen Testaments zu unterstellen. Vielmehr deutet sich hier die christozentrische Begründung des christlichen Selbstverständnisses an, das eine theologisch offene Flanke hat. 570 Vgl. L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Rückkehr Marcions“, 287-288. 571 Zu Marcion und seiner bibelhermeneutischen Theologie siehe den Exkurs in dieser Studie in C 1.

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grundlegend ab, da in ihnen der Schöpfergott spricht und nicht die Botschaft des Evangeliums verkündet wird. Hingegen trennt der Berliner Systematiker das Gottesbild nicht in vor- und nachchristlich auf, als ob der Gott Jesu Christi ein anderer Gott als der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs wäre. Er hält vielmehr an dem Bekenntnis zu dem einen Gott fest und unterstreicht damit auch die Verantwortung des Christentums gegenüber dem Judentum in der Theologie. Jedoch können die Schriften des Alten Testaments als Ausdruck und Zeugnis der Offenbarung Gottes nicht auf den Adressaten Christentum hin gelesen werden. Es sind vorchristliche Schriften, in denen sich das vorchristliche Verständnis des Menschen ausdrückt. Der Unterschied liegt darin, dass das, was für das Christentum das Neue Testament ist, für das Judentum der hebräische Schriftkanon ist; dies ist eine Parallelstellung der Schriften, jedoch keine Ablehnung derselben. Hat Marcion die hebräischen Schriften und zusätzliche dazu neutestamentliche Bücher vollkommen abgelehnt, hält N. Slenczka am reformatorischen Kanon des Neuen Testaments fest und unterstreicht, dass das Alte Testament zum Buch der Bibel gehört, auch wenn er ihm einen nicht-normativen Status zuschreibt. Der Gedanke, das Alte Testament als nicht-normativ anzusehen, findet sich jedoch bereits bei A. v. Harnack, der mit der NichtNormativität der Schriften diese nur als Anhang an das Neue Testament verstand. Die Sympathie v. Harnacks für Marcion, auf den er sich in seiner Bewertung des Alten Testaments stützt, liegt darin, dass er ihn als „ersten Reformator“ sieht, da er in seinem gekürzten Kanon das reformatorische Erbe der Rechtfertigung bereits vorgezeichnet sieht. Die Soteriologie ist das Interesse Marcions, weshalb er das ursprüngliche Evangelium sucht, da Jesus Christus mit seiner Botschaft der soteriologische Mittler des Erlösergottes sei. Einen ähnlichen Akzent sieht auch N. Slenczka im Reformator M. Luther gegeben, insofern mit der reformatorischen Rechtfertigungslehre die Soteriologie in das christologische Zentrum gestellt wird, von dem aus sich die ganze Theologie konzipieren lässt. Kann man ein ähnliches Interesse von Marcion und N. Slenczka an der Soteriologie erkennen, so ist die innere Begründung dafür unterschiedlich. Der Schiffsbauer aus Pontus hat ein dezidiert theologisches Interesse an der Soteriologie. Jesus Christus ist nicht das Heil, sondern nur der Mittler dieses Heils. Der Berliner Theologe dagegen orientiert seine Soteriologie in Folge Schleiermachers christozentrisch, wobei Jesus Christus nicht nur als ein Mittler verstanden wird, sondern das Wesen der Soteriologie darstellt. Daraus ergibt sich für N. Slenczka die Verhältnisbestimmung von Altem und Neuem Testament sowie von Judentum und Christentum. Die Wasserscheide ist die Christozentrik, durch die sich das Verhältnis der alttestamentlichen Schriften verändert hat, wenn es nicht zu einer 292

christlichen Vereinnahmung fremder Texte kommen soll. Dies bedeutet für ihn nicht eine Abwertung des Judentums, sondern eine Neubewertung der Schriften, die das Christentum als Altes Testament bezeichnet. Marcion bricht dagegen jede Brücke zum Judentum ab und konzentriert sich auf seine eigene theologische Idee, die er in seinem Evangelium gegeben sieht. Es gibt keine Brücke zwischen Judentum und Christentum, die die beiden entstehenden Textcorpora miteinander verbinden würde. N. Slenczka sieht bei allen Unterschieden auch das Verbindende, weil das gegensätzliche Verhältnis von Christentum und Judentum vom Gemeinsamen her zu bestimmen ist, insofern „zwischen dem Judentum einerseits und dem Christentum andererseits ein religiöser Gegensatz waltet, der im Selbstverständnis beider Religionsgemeinschaften begründet und insoweit unüberbrückbar ist. […] Die beiden Religionsgemeinschaften gemeinsamen Traditionen und Texte begrenzen diese Differenz nicht etwa, sondern lassen sie gerade in ihrer ganzen Schärfe heraustreten. Christen wie Juden beziehen sich auf die alttestamentlichen Gebote und Verheißungen, sind sich im Falle des Christentums auch völlig bewusst, dass sie denselben Gott verehren – aber sie beziehen sich eben auf diese identischen Traditionen und auf den einen Gott unter unterschiedlichen und unvereinbaren hermeneutischen Prämissen und fällen unterschiedliche und unvereinbare Urteile über sie.“572

Damit ist dem Berliner Theologen kein Marcionismus573 vorzuwerfen, da er die Gemeinsamkeiten anerkennt, obwohl der hermeneutische Bezugsrahmen auf Traditionen und Texten differenziert ist. Vielmehr sieht er es als theologische Herausforderung an, Widersprüche auszuhalten und sie als Ausgangspunkt für neue theologische Reflexionen zu nutzen. „Ich halte es für einen Abweg, wenn die protestantischen Kirchen versuchen, die Differenzen und den wechselseitigen Widerspruch in den Aussagen des Christentums und des Judentums über Gott, den Menschen und sein Heil zu beseitigen. Der Widerspruch und das Anderssein des Anderen ist vielmehr zu akzeptieren. Das Christentum lernt nur dann, mit dieser Situation umzugehen, wenn es sich daran erinnert, dass der Streit um die Wahrheit Gottes und die Pluralität von einander widersprechenden Aussagen über Gott nicht ein Unglücksfall der Geschichte ist, der zugunsten einer Harmonie der Gleichgesinnten zu überwinden ist, sondern der Normalfall der Kirchengeschichte und ein Wesensmerkmal der christlichen Kirchen selbst. Es gibt, von Anfang an, den christlichen Glauben nur im Widerspruch und in der Anfechtung. Die Schriften des NT sind praktisch alle Streitschriften. Die Vielfalt der Wahrheits572

N. SLENCZKA, Tod Gottes, 160. Auch wäre der Begriff Marcionismus irreführend, da es zur Zeit Marcions kein kanonisches Altes Testament in Verbindung mit dem Neuen Testament als Einheit gab, das er aus einem Kanon hätte verbannen können. Vgl. dazu C. DOHMEN, „Hermeneutik des Alten Testaments“, 153. 573

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überzeugungen und der Streit um die Wahrheit – wohlmerkt: der argumentative, in Wort und Schrift sich vollziehende Streit – ist ein Wesensmerkmal des Christentums. Und es gibt das Christentum, von Anfang an, nur in der ständigen Auseinandersetzung mit dem älteren Bruder, dem Judentum“.574

Das Christentum hat in der Moderne keine Hegemonie der Religiosität, sodass es das Alte Testament vereinnahmen könnte. Es ist von der Entstehung an als Gegenposition gesetzt, die für N. Slenczka nicht harmonisiert oder marcionitisch tabuisiert werden darf. Der Unterschied zeigt sich aber deutlich im neuen Selbstverständnis des Christen, das er in seiner Subjektivität erfährt und in der er das Eigentliche des Glaubens versteht. Dabei ist bei N. Slenczka auf eine Leerstelle hinzuweisen, die auch Marcion nicht überwunden hat. Die Rolle der Offenbarung und das Selbstverständnis Jesu als Messias werden nicht geklärt und bei N. Slenczka mit Verweis auf die historisch-kritische Methode übersprungen. So folgert M. Gerhards zu Recht, was sich aus einer entsubstantialisierten Theologie und Christologie ergeben kann: „Wenn es nicht darum geht, ob Jesus von Nazareth tatsächlich der Messias ist, von dem schon alttestamentliche Texte gesprochen haben, wenn es nur um religiöse oder soteriologische Erfahrungen geht, die sich auch heute noch als befreiende Deutung der eigenen Existenz bewähren, dann bedarf es des Alten Testaments als der heilsgeschichtlichen Vorstufe des Kommens Jesu nicht“.575

Im theologischen Ansatz N. Slenczkas geht es um das Nachdenken des gläubigen Menschen über sich selbst, wie er sich als Gerechtfertigter gegenüber der Kirche und den biblischen Schriften zu verstehen hat. Dabei wird aber nicht thematisiert, inwiefern sich auch die Offenbarung Gottes gegenüber dem Menschen verhält. Hier tritt die Frage auf, ob es wirklich eine „Rückkehr in die verlorene transzendentale Unschuld“ mit dem Preis der „Unredlichkeit“576 ist, einen Offenbarungsbegriff anzunehmen, der personal-kommunikativ ist, und der nicht nur das Neuverständnis des Menschen bewirkt, sondern auch als objektive Wirklichkeit wahr- und angenommen werden kann. Ähnlich wie L. Baeck577 die Frage an A. v. Harnack gestellt hat, muss auch an N. Slenczka die Frage gestellt sein, ob seine historische Rückfrage nicht vielmehr eine historische Konstruktion ist, die anachronistisch aus den Überlegungen besonders F. Schleiermachers

574

N. SLENCZKA, Tod Gottes,161. M. GERHARDS, Protoevangelium, 66. Vgl. auch die Entgegnung auf die Einwände M. Gerhards: N. SLENCZKA, „Einwände und Antwortversuche“, 15-19. 576 N. S LENCZKA, „Flucht“, 47. 577 Siehe dazu den Exkurs in dieser Studie in Kapitel A 1.3. 575

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ein Wissen in die Historizität Jesu rückprojizieren.578 Die Suche nach dem Ursprung und die Rückfrage nach dem Evangelium Christi kann nicht dadurch überbrückt werden, dass sämtliche Traditionsstränge des biblischen Zeugnisses aus dem Verständnis der Neuzeit herausgelesen werden, sondern es bedarf des Hineindenkens und auch des Vertrauens in die Zeugnisse, denen der Mensch von heute begegnet. Gerade ein neues Selbstverständnis des Christseins kann bedeuten, „sich zunächst von weltanschaulichen und philosophischen Voreingenommenheiten möglichst frei[zu]machen, auch von der Frage, ob und welches Maß an transzendentaler Unschuld man sich heute noch erlauben kann. Ein solches Sich-Freimachen kann ein Akt von meta,noia im religiösen Sinne sein“.579 Ein Neuverständnis des christlichen Selbstverständnisses kann daher nicht bedeuten, dass damit das kirchliche Bekenntnis übersprungen wird, sondern dass auch das frühchristliche Bekenntnis in seiner Historizität ernst genommen und nicht rein in einer verinnerlichten Form gelesen wird. Bei N. Slenczka wird deutlich, dass Glauben in der eigenen Existenz erfahrbar sein muss; Glaube kann nicht bedeuten, dass er ein psychologisches Rückversetzen in eine Vergangenheit ist, wie wenn der Glaube in ein Schauspiel der Lebensjahre Jesu und der jungen Kirche versetzen würde. Jedoch fallen im Glauben Synchronie und Diachronie zusammen, so dass es zu einer Vergegenwärtigung des kirchlichen Bekenntnisses kommt, das der Mensch im Glauben erfahren kann. Die Wirklichkeit des Glaubens an Jesus als den Christus kann nicht aus einer Erfahrung heraus kommen, sondern die Erfahrung setzt das Vertrauen in die Wirklichkeit voraus, die sich in ihr kundtut. Der Christ muss im Heute das Bekenntnis zu Jesus Christus leben und kann nicht das Bekenntnis der Schrift für sich selbst sprechen lassen, als ob dieses nichts mit seinem Leben zu tun hätte. Jedoch wird gerade mit diesem Bekenntnis im Leben ein Glauben ausgesprochen, der eine Übereignung des eigenen Lebens in die Wirklichkeit jenes Bekenntnisses darstellt, das durch das kirchliche Kerygma garantiert wird.

578

So deutet auch M. Gerhards an, „dass Slenczkas christologischer Ansatz insofern an den Quellen scheitert, als er mit einer sehr gekünstelten und unannehmbaren Rekonstruktion des historischen Hintergrundes des neutestamentlichen Osterzeugnisses verbunden ist […]“. M. GERHARDS, Protoevangelium, 67-68. 579 Ebd. 69.

295

8.

Revocatio: Der Verlust des Alten Testaments

In der Auseinandersetzung mit N. Slenczka wurde überwiegend für die Einheit von Altem und Neuem Testament plädiert und unterstrichen, dass diese Einheit grundlegend für christliche Theologie sei. Dabei geht es nicht darum, die alttestamentlichen Schriften als rein christliche Schriften auszuweisen, sondern auch deren eigene kulturellgeschichtliche Prägung wahrzunehmen und sie mit dem Wissen zu lesen, dass es Schriften sind, die auch vom Judentum als Glaubenstexte gelesen und ausgelegt werden. Die alttestamentlichen Schriften sind damit Urkunde für den Glauben, wie er im Judentum und Christentum gelebt und bekannt wird; beide Religionen erkennen in diesen Texten, dass sich darin ihre Identität als Volk Gottes gründet und dass sie in ihrem Glauben an dieses Gotteswort rückgebunden sind. Judentum und Christentum stehen zusammen in der Gemeinschaft des Volkes Gottes, da es der Glaube an Gottes Wort ist, der sie in dieser Gemeinschaft bei gleichzeitiger Differenz und Spannung verbindet. Dem Christentum ist die Spannung im unterschiedlichen Bekenntnis und in der Auslegung des Wortes Gottes notwendig eingezeichnet, da es die Mahnung und Erinnerung an die Verheißung und an den Bund Gottes ist, die er in seine Schöpfung eingeschrieben und seinem Volk Israel zugesprochen hat. Die Spannung ist der Rückverweis auf das theologische Bekenntnis des einen Gottes, der der Gott Jesu Christi ist, und der sich geschichtlich offenbart hat. Alle Argumente für die Einheit der Schrift müssen daher die legitime Pluralität im Bekenntnis und in der Auslegung sowie ihre Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte mitbeachten.580 Es ist die theologische Mitte, die in der Einheit von Altem und Neuem Testament gesucht werden muss, die für das Christentum aber nur als eine christologisch-theologische Mitte zu verstehen und zu begründen ist. Jedes Testament für sich ist geprägt von unterschiedlichen theologischen Strängen, die aber in ihrer Gesamtheit das Zeugnis für die Offenbarung Gottes bilden. Die Texte der Schrift tragen in sich eine 580

Vgl. T. SÖDING, Einheit der Heiligen Schrift?, 155. Der Neutestamentler stellt klar, dass die Einheit der Schrift nicht nur mit theologischen oder philosophischen Argumenten bedacht werden könne, die ein in sich geschlossenes System der Einheit postulieren. Vielmehr muss die Einheit der Schrift ihr selbst entsprechen und dem Postulat der Einheit Gottes und der Einheit des Gottesvolkes. Vgl. auch M. WOLTER, „Vielfalt der Schriften“, 59-69, der in seinem Beitrag das Moment der innerbiblischen Spannung stark macht, darin aber gerade die Größe des Kanons erkennt, da damit der Kanon nicht an eine einheitliche Theologie gebunden sei: „Es ist demgegenüber gerade der Wille zur Einheit, der den Kanon auszeichnet, und umgekehrt die Vielfalt, die die Rezeption des Kanons als Schrift bestimmt“ (69) (Hervorhebungen im Original). Darum ist auch B. S. CHILDS, Theologie der einen Bibel 2, 120 zuzustimmen, wenn er schreibt: „Der Kanon ist keine bloße äußere Hülle, die abgelehnt oder korrigiert werden könnte, sondern ein Glaubenszeugnis, das es zu verstehen gilt“.

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Sinnpluralität, die es erlaubt, unterschiedliche Themen, Bilder und Vorstellung der Offenbarungsgeschichte darzustellen. Die Annahme einer Sinnpluralität verlangt aber zugleich, dass die einzelnen Sinnbilder in der Einheit des gesamten Schriftzeugnisses gelesen werden müssen und nicht isoliert für sich absolut gesetzt werden können. Die gesamte Einheit bildet das Zeugnis der Offenbarungsgeschichte und nicht das Einzelne. Im Gesamt dieses Zeugnisses muss auch die Einheit von Altem und Neuem Testament verortet werden, denn in dieser Einheit bleiben die Legitimität und die Notwendigkeit der einzelnen Bilder gewahrt. Altes und Neues Testament können an der Wahrheit teilhaben, die sich in den biblischen Texten ausdrückt, denn die Einheit beider Testamente bezieht sich auf jene Wahrheit, die „Gott um unseres Heiles willen in heiligen Schriften aufgezeichnet haben wollte“ (DV 7),581 da es im Letzten um die Frage nach der Geschichte des Menschen und nach dem Sinn und Ziel der Schöpfung geht. Biblische Texte sprechen von der Erfahrung, dass der Wirklichkeit ein Sinn eingeschrieben ist, der eine Antwort auf die Frage geben möchte, „was die Welt im Innersten zusammenhält“ (J. W. v. Goethe). Die Einheit von Altem und Neuem Testament ist darum nicht nur kulturgeschichtlich, sondern auch theologisch ein Beispiel dafür, dass Menschen in der Geschichte auf einen Sinn angewiesen und gerade damit auf Geschichte ausgerichtet sind. Dort, wo der Mensch in der Geschichte nach dem Sinn fragt, stößt er auf die Frage nach Gott und seinem Verhältnis zu dieser Geschichte. Die biblischen Texte zeichnen ein Gottesbild, das zeigt, dass dieser eine und wahre Gott nicht vollkommen geschichts-transzendent ist, sondern in der Geschichte an seinem Volk handelt und seine Transzendenz nochmals übersteigt, indem er selbst in Jesus Christus in die Geschichte eintritt. Das Christentum reiht sich in den Geschichtsrahmen ein, den die alttestamentlichen Schriften eröffnen, und sieht darin auch seine eigene Geschichte vorgezeichnet und bestimmt.582 Darum werden diese Schriften von Judentum und Christentum als Sinntexte gelesen und verstanden, die ihr Bekenntnis prägen. Das Christentum konkretisiert diesen Sinn und die Wahrheit noch einmal personal und erkennt in Jesus Christus das Wort Gottes (vgl. Hebr 1,1-3). Dieses Wort darf aber nicht als ein Gegen-Wort zum Wort Gottes in den alttestamentlichen Texten 581

Vgl. T. SÖDING, Einheit der Heiligen Schrift?, 230. Vgl. A. DEEG, „Kanones und Kanon“, 281: „Sobald ‚wir‘ als Christenmenschen ‚unsere‘ Geschichte mit Gott erzählen, sind wir darauf angewiesen, uns in die Geschichte Israels hineinzuerzählen und zu wissen: Das ist auch unsere Geschichte – und bleibt zugleich eine fremde Geschichte und ein Gegenüber“. Vgl. auch A. WUCHERPFENNIG, „Monotheismus und Schriftlichkeit“, 186-187. Hier spricht der Autor davon, dass die christliche Heilige Schrift eine Schrift ist, die „a priori im Gespräch mit einer anderen Heiligen Schrift steht“ und damit eine „ständige Bezugsgröße“ für sie darstellt. 582

297

gelesen werden, sondern es ist das Wort, das alle von Gott gesprochenen Worte in sich aufnimmt und für sie offen bleibt. Jesus Christus steht mit seinem Evangelium in der offenen Kontinuität zu den Schriften, die er ausgelegt (vgl. Lk 4,16-30) und mit denen er gebetet hat. Die Verkündigung Jesu und sein Evangelium finden ihren semantischen, aber auch geistlichen Raum in den Schriften des Volkes Israel und sind in dieser Verbindung Teil der einen Offenbarung. Dass das Alte Testament nicht zum Christentum spreche, da es nicht das Evangelium Christi verkünde, kann nicht als Argument gegen die Einheit von Altem und Neuem Testament vorgetragen werden, da Gottes Offenbarungshandeln nicht erst mit Jesus Christus beginnt. Evangelium bedeutet nichts anderes als die Offenbarung Gottes an die Menschen, die die Gnadenzeit anbrechen und konkret werden lässt (vgl. Jes 54,1-17), die zwar für das Christentum in unüberbietbarer Weise in Jesus von Nazareth gegeben ist, aber ihr Wirken bereits in den hebräischen Schriften bekundet. Das Neue Testament ist nicht eine Erfüllung dessen, was im Alten Testament angekündigt wurde; es ist vielmehr die Bestätigung des einen Gottes, der das eine Gottesvolk erwählt hat, um an ihm sein geschichtliches Handeln zu vollziehen, „sodass zusammen mit der Verwurzelung Jesu und des Christentums in der Geschichte des Gottesvolkes Israel die eschatologische Neuheit des Christusgeschehens präzise bestimmt und allein auf Gottes Gnadenhandeln zurückgeführt werden kann“.583 Die Rückbindung des Neuen Testaments an das Alte und die theologische Verankerung des Christusereignisses in der Verheißung Gottes ist für das Christentum auch ein Schutz vor einem „Christomonismus“,584 da in der irreversiblen Abfolge vom Alten zum Neuen Testament die Verwurzelung des Christentums im Judentum zum Ausdruck kommt (vgl. Röm 11,18). Die Lesart des Alten Testaments kann einen christologischen Sinn für diese Texte annehmen, doch darf der christologische Sinn nicht in eine christozentrische Auslegung der Texte umschlagen. Denn wenn das Alte Testament rein christozentrisch ausgelegt wird, dann verliert die christologische Schriftinterpretation ihre Grundlage. Die Sinnpluralität, auf der eine christologische Auslegung gründet, ist verankert im theologischen Sinn der Texte, der die Pluralität begründet. Eine christologische Schriftauslegung ist immer von einem theologischen Schriftsinn umfangen, da es die eine Offenbarung Gottes ist, die sich in 583

T. SÖDING, Einheit der Heiligen Schrift?, 290. Vgl. E. ZENGER, Das Erste Testament, 198-199. Dass das Alte Testament das Christentum davor bewahrt, in einen Christomonismus zu verfallen, entspricht dem Johanneswort, dass das Heil von den Juden komme (Joh 4,22), das „keine Marginalie, sondern ein essential der Christologie, resultierend aus der Theozentrik Jesu Christi selbst“ sei. Vgl. auch T. SÖDING, Einheit der Heiligen Schrift?, 288.

584

298

den Schriften niederschlägt. Es gibt keine Offenbarung Jesu Christi, die parallel zur Offenbarung Gottes im Alten Testament zu verstehen wäre.585 Christologische Schriftauslegung weist darum immer auf den theologischen Sinn zurück und lässt sich mit ihm zusammendenken. Diese christliche Schriftauslegung ist als christologisch-theologische Schriftauslegung zu verstehen und vermag damit den Eigenwert der alttestamentlichen Schriften zu achten und zu wahren. Die Wertschätzung der hebräischen Schriften zeigt sich auch in der Anordnung des Alten Testaments. Das christliche Alte Testament folgt zwar dem LXX-Kanon und strukturiert die Schriften in einem heilsgeschichtlichen Kontext, dennoch ist der Grundzug und Charakter der hebräischen Schrift zu erahnen. Kein Buch des LXX-Kanons wird weggelassen oder durch eine andere Schrift ersetzt, sondern alle Schriften werden als Zeugnis für das Wort Gottes gewahrt. Hinzu kommt, dass das junge Christentum den wachsenden Kanon nicht so arrangiert, dass es das Neue Testament einfach den vorliegenden Schriften hinzufügt, sondern sie in einem eigenen Teil beistellt und damit den Eigenwert der später alttestamentlich genannten Schriften wahrte. Die neutestamentlichen Schriften mussten erst als normative Schriften anerkannt werden und solange das nicht der Fall war, blieben die Schriften Israels die normativen und gültigen Schriften auch für das junge Christentum. „Das Christentum schuf so im 2. Jh. n.Chr. eine religionsgeschichtliche Singularität,“ – wie K. Schmid beschreibt – „einen Doppelkanon heiliger Schriften, dessen Teile in einem dialogischen Verhältnis zueinander wahrgenommen wurden“.586 Die Forschungsergebnisse zu „the parting of the ways“ zeigen demgegenüber, dass es von Seiten des rabbinischen Judentums zu einer bewussten Abgrenzung vom Christentum kam, insofern die LXXVersion der hebräischen Schriften für die rabbinische Endredaktion keine Rolle mehr spielte. Im Christentum ist dagegen eine theologische Wertschätzung der Schriften Israels zu beobachten, da diese Bücher zur Heilsgeschichte Israels gehören, die einfließen in die eschatologisch geoffenbarte Geschichte Gottes in Jesus Christus. In der Verbindung des Glaubens an den Sohn Gottes mit dem Glauben an den einen und einzigen Gott des Volkes Israel trägt das Christentum die Garantie in sich, dass es eine geschichtliche Religion bleibt, in der sich Gott selbst offenbart und dem Menschen gegenübertritt.587 Es ist der eine Gott, der 585

Vgl. J. LAUSTER, „Händels Auferstehung“, 134: „Das Alte Testament ist Teil einer Offenbarungsgeschichte, in die auch wir uns im Gefolge der christlichen Tradition einstellen. In dieser geschichtstheologischen Perspektive ist das Alte Testament eine unerlässliche Quelle des christlichen Selbstverständnisses“. 586 K. SCHMID, „Christentum ohne Altes Testament“, 595. 587 Vgl. T. SÖDING, Einheit der Heiligen Schrift?, 342: „Die Christusverkündigung wird zur Gnosis, wenn ihr die Rückbindung an die Schrift fehlt“.

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in den Schriften spricht und der durch Jesus Christus sein Reden endgültig bestätigt (vgl. Hebr 1,1-3). Das bedeutet keine Ersetzung des Wortes Gottes im Alten Testament, sondern der Glaube an seine Treue und Verheißung soll damit unterstrichen und vertieft werden. Die Schriftzitate im Neuen Testament sind nicht Beiwerk, sondern wesentliche Argumente in der Ergründung des Christusgeheimnisses. Damit sind das Alte und das Neue Testament nicht als ein Nebeneinander zweier Schriftcorpora zu werten, sondern sind vielmehr die logische Konsequenz der Offenbarung Gottes. Die Einheit der Heiligen Schrift aus Altem und Neuem Testament ist eine theologische Einheit, die nicht von außen an den christlichen Schriftkanon herangetragen wird, sondern die sich in den Schriften selber finden muss, indem theologisch die Verwiesenheit beider Testamente auf das jeweils andere reflektiert und der innere Zusammenhang durch das Wort Gottes bedacht werden. Die Kanonentstehung kann daher auch als ein geschichtstheologisches Werk betrachtet werden, indem zu den klassischen Kanonkriterien das Kriterium der Geschichte hinzugedacht wird. Keine Schrift im Alten oder Neuen Testament vertritt einen Geschichtsgnostizismus, sondern alle Schriften lassen sich einfügen in eine geschichtstheologische Perspektive, die mit der Schöpfung anhebt und fortdauert bis zur Vollendung im himmlischen Jerusalem. Die daraus resultierende Spannung zwischen den Testamenten führt zur Einheit, in der die Hinweise dafür grundgelegt sind und weitergedacht werden müssen, um sie als korrelierende Einheit zu verstehen.588 Damit ist das Alte Testament mehr als nur ein geschichtlicher Vorspann zum Neuen Testament. Es hat ein theologisches Gewicht für christliche Theologie, da durch das Alte Testament deutlich wird, was das Neue Testament für christliche Theologie bedeutet. Im Miteinander und Zueinander zum Alten versteht sich das Neue Testament als theologische Schrift, in der das Evangelium Jesu Christi dargelegt wird. Christliche Theologie muss sich als Theologie an den Gottesglauben Israels gebunden wissen, denn: „Die Beibehaltung des Alten Testaments ist viel mehr als nur eine Geste der Verbundenheit mit Israel, viel mehr als ein Bekenntnis zur Treue Gottes, sie ist Bedingung der Möglichkeit christlicher Theologie. […] Das 588

Vgl. ebd. 387-389. Siehe auch ebd. 396-397: „Im Lichte des Neuen Testaments erweist sich dann das Alte Testament nicht als dialektisches Gegenüber des Neuen Testaments und nicht als praeparatio evangelii, sondern als Zeugnis des Evangeliums, als Dokument der Erwählung Israels wie seiner Geschichte mit Gott, in der die Christenheit wurzelt (Röm11,18), als Urkunde einer Hoffnung auf endgültiges Heil für Juden und Heiden, das aufgrund der Gnadenfülle Gottes die Grenzen von Raum und Zeit sprengt […]. Umgekehrt erweist sich im Lichte des Alten Testaments das Christusgeschehen als Aufgipfelung der gnädigen Selbstmitteilung Gottes in der Geschichte zum Heile Israels und der Völker, als unerwartete, alle Grenzen sprengende Realisierung seines Heilswillens“.

300

Alte Testament liefert nicht nur stimmungsvolle Sprachbilder, nicht nur ornamentale Illustrationen […], es ist schon gar nicht als bloß dunkle Folie für das Christentum gedacht, sondern es ist im Sein Gottes gegründete ,Heimat‘. Die Vorstellung von dem der Welt radikal transzendenten und dennoch der Welt radikal zugewandten einen Gott verdankt die Kirche exklusiv dem Alten Testament“.589

In der „Heimat“ des Alten Testaments ist christlicher Theologie auch ein Fundament bereitet, das es ihr ermöglicht, sich stets als geschichtliche Wissenschaft zu verstehen und gerade als geschichtliche Wissenschaft historische Rückfragen an biblische Texte zu stellen. Das Alte Testament ist ein historisches und ein geschichtliches Buch, das von der Offenbarung Gottes zeugt. Marcion hat mit der Ablehnung der hebräischen Schriften die geschichtliche Dimension aus seinem Schriftkanon verbannt, indem er mit seinem Evangelium einen rein historischen Kanon schaffen wollte. Aber gerade die Verbannung der geschichtlichen Dimension aus seinem Kanon trennt seine Theologie von der Erlösung in der Geschichte und lässt sie als eine Form der Gnosis erscheinen. Die Rückbindung der frühen Kirche an die hebräischen Schriften in Form der LXX als ihr Altes Testament ist die „Heimat“ für das Nachdenken über den Gott, der sich geschichtlich mitteilt und dem sich christliche Theologie geschichtlich und historisch verantworten muss. Diese Rückbindung deutet aber auch an, dass es einen Unterschied zwischen dem Wort Gottes und der Heiligen Schrift gibt. Der transzendente Gott wirkt in der Geschichte und offenbart sich in ihr, aber er ist nicht die Geschichte. Diese offenbarungstheologische Differenz von Wort Gottes und Geschichte und Schrift ist Frucht des Alten Testaments und Grundvoraussetzung für das christliche Offenbarungsverständnis. Weil die Schriften nicht das Wort Gottes sind, sondern es bezeugen, kann und muss Theologie diese Schriften nach ihrem Sinn befragen und für heute auslegen und damit die geschichtliche Dimension in ihrer theologischen Tiefe ergründen. Theologie sucht nach dem Kern im Zeugnis der Schriften, den sie als Offenbarung auszeichnen kann und der in der Reflexion ausgefaltet wird. Allein hier zeigt sich, dass der neutestamentliche Kanon nicht eine Erfindung des jungen Christentums ist, sondern in der theologischen Entwicklung des Schriftzeugnisses bedacht werden muss. Kanonbildung ist eine Antwort auf Tradition und Reflexion; der 589

M. OEMING, Das Alte Testament als Teil des christlichen Kanon?, 265. Auf die theologische Gewichtung der Frage nach der Einheit der Schrift macht auch R. Voderholzer aufmerksam. Er unterstreicht, dass die Kanonbildung an sich schon eine theologische Größe darstellt, da die theologische Entscheidung für die Einheit der Kanonbildung voraus liegt und die Kanonbildung damit als eine theologische Reflexion gewertet werden kann. Vgl. R. VODERHOLZER, Die Einheit der Schrift, 71-72.

301

neutestamentliche Kanon ist eine Reflexion und ein Weitertragen der Tradition des zum Alten Testament gewordenen Kanons. Eine historische Rückfrage an die Schriften ist daher erlaubt und geboten, da die Schrift nicht die Selbstaussage Gottes ist, die sich dem theologischen Fragen im Letzten durch ihre Transzendenz entziehen würde. Würden sich das Christentum und seine Theologie der Dekanonisierung des Alten Testaments anschließen, bürge das die Gefahr in sich, sich von der Geschichtlichkeit loszusagen und einem Schriftdoketismus zu verfallen. Aufgabe einer Theologie des Wortes Gottes wird es sein, die Geschichtlichkeit der Schriften zu bedenken und darin Grund und Voraussetzung für die Normativität biblischer Texte zu suchen. Die Normativität des Neuen Testaments hängt dann aber auch an der Normativität des Alten Testaments, wenn Normativität eine offenbarungstheologische Größe sein soll und nicht durch das christlich-fromme Bewusstsein begründet wird. Weiß sich christliche Theologie in der Schrift begründet und sieht sie sich im Dienst der Offenbarung (vgl. DV 24), die in der Schrift bezeugt ist, dann steht sie in der Tradition der ganzen heilsgeschichtlichen Offenbarung und nicht nur eines Impulses im menschlichen Bewusstsein. Da beide Testamente nicht das Wort Gottes an sich sind, sondern es bezeugen, weisen sie über sich hinaus auf die Wirklichkeit Gottes, die ihr die innerliche Begründung als Offenbarungsschrift gibt. Es ist die theologische Ausrichtung von Altem und Neuem Testament auf den Glauben an den einen und einzigen Gott, der die Einheit begründet. In dieser theologischen Verwiesenheit ist Kontinuität und Diskontinuität aufgehoben in einem kontrastiven, erklärenden und bekräftigenden Zueinander, das sich in der Sinnpluralität der biblischen Texte erweist, indem die Sinnpluralität nochmals vom Kanon des Glaubens und der Schriften selbst umfangen und damit begrenzt ist. Dekanonisiert das Christentum das Alte Testament, so dekanonisiert es damit auch das eigene Offenbarungsverständnis in der personalen Zuwendung Gottes zur Welt und zur Geschichte: „Mit dem Verlust des Alten Testaments verlieren die Christen nahezu alles“.590

590

J. ASSMANN, „Dann wird die Kirche zur Sekte“, Zeit – Christ&Welt, 29.04.2018, 4. Vgl. K. SCHMID, „Christentum ohne Altes Testament“, 593: „Ein Christentum ohne Altes Testament wäre allerdings nicht mehr dasselbe Christentum, es wäre wohl auch nicht mehr unser Christentum. Es wäre ein anderes Christentum. Vielleicht aber würde es tatsächlich sogar nicht mehr als Christentum wahrgenommen werden“; in dieselbe Richtung argumentiert C. DOHMEN, „Die Zweiteilung der Heiligen Schrift als Schlüssel zu ihrem Verständnis? Eine Problemskizze“, in: C. DOHMEN – F. MUSSNER (Hgg.), Nur die halbe Wahrheit? Für die Einheit der ganzen Bibel, Freiburg – Basel – Wien 1993, 915, 11: „Die Einheit der Bibel aufzugeben impliziert folglich für den Christen immer eine Selbstverleugnung, weil er dadurch seine Geschichte, die sein Selbstverständnis prägende Kraft der Wurzel, aufgibt“ (Hervorhebung im Original).

302

C INVOCATIO: DAS ZUEINANDER VON ALTEM UND NEUEM TESTAMENT IN DER SAKRAMENTALITÄT DER SCHRIFT Die Auseinandersetzung mit der Dekanonisierungsthese von N. Slenczka hat ein breites Spektrum theologischer Argumente für die Normativität des Alten Testaments in der einen christlichen Bibel vor Augen geführt. Dabei ging es um den Versuch, die Argumente des Berliner Theologen zu entkräften und unberücksichtigte Themen zu benennen. Die Einheit der christlichen Bibel kann und darf nicht einzig mit dem geschichtlichen Kontinuitätsargument begründet werden, sondern es bedarf auch der theologischen Vergewisserung dieser Einheit, die jedoch im Alten und im Neuen Testament gleichermaßen Gültigkeit beanspruchen muss. Das rein geschichtliche Argument muss mit einem heilsgeschichtlichen Verständnis der Geschichte geweitet werden. Das folgende Kapitel möchte eine systematische Antwort auf N. Slenczka bieten. Dabei läuft der Gedankengang auf die Sakramentalität der einen christlichen Bibel hinaus, insofern sie als bezeichnendes Zeugnis der bezeichneten Offenbarung Gottes gilt. Altes und Neues Testament bezeugen die Selbstmitteilung Gottes, auf die sich das Volk Gottes im Glauben bezieht. Biblische Texte sind als religiöse Texte zu verstehen und verlangen eine exegetische Hermeneutik, die diesem Charakter nicht nur literaturwissenschaftlich, sondern auch theologisch entspricht. Die Theologie, die sich in den biblischen Texten ausdrückt, begründet die Einheit von Altem und Neuem Testament. Darauf muss eine theologische Exegese achten und dies berücksichtigen. Der Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen ist die Neubewertung der Beziehung der Kirche zum Judentum, wie sie das II. Vatikanische Konzil in Nostra Aetate 4 beschrieben hat. Hinzu kommen die grundlegenden Aussagen der dogmatischen Konstitution Dei Verbum 12 zur Schrifthermeneutik. Daraus soll schließlich ein Ansatz theologischer Bibelhermeneutik entwickelt werden, der dem Eigenstand des Alten Testaments sowie einem christlichen Verständnis dessen gerecht werden kann. Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte kann nur als Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus gedacht werden, sodass die Einheit der christlichen Bibel in Jesus Christus ihren Dreh- und Angelpunkt findet. Die christologische Verankerung der Bibel hat somit einen heilsgeschichtlichen Aspekt, der in seiner theologischen Bedeutung bedacht und zur Sprache gebracht werden muss.

303

1.

Die Weichenstellungen des II. Vatikanums für eine israelsensible Bibelhermeneutik

Das II. Vatikanische Konzil ist nicht nur ein vergangenes Ereignis, sondern mit seinen Texten bleibende Ermutigung, Mahnung und Herausforderung für das Leben der Kirche. Die Konzilsväter blickten nicht nur auf das I. Vatikanum zurück, um es fortzuführen oder zu ergänzen, sondern eröffneten der Kirche und der Theologie den Blick auf den Horizont, von dem her ein Sprechen und Denken mit der Moderne, aber auch mit der eigenen Tradition wiederbelebt werden kann. Der innovative Charakter der Konzilstexte besteht vielleicht gerade darin, dass sie im zähen Ringen entstanden sind und unterschiedliche Positionen vereinen wollen. Dabei sind sie mehr als Kompromissformeln; sie sind Ausdruck der Sendung der Kirche und der Theologie. Die beiden Texte Nostra aetate und Dei Verbum gehörten zu den meistbeachtesten Veröffentlichungen des Konzils und bedeuten eine Weichenstellung im Leben der Kirche, die auch für eine israelsensible christliche Bibelhermeneutik von Bedeutung ist. Im Folgenden wird der synchrone Endtext für die Analyse herangezogen, so wie es T. Söding für Dei Verbum erklärt: „Es gibt einen Primat der Synchronie vor der Diachronie. Zwar sind alle Arbeiten zur Entstehungsgeschichte der Konzilstexte von großer heuristischer Bedeutung. Gerade am Beispiel von Dei Verbum spiegeln sich in ihnen die Lernprozesse, die das Konzil selbst durchlaufen hat; kein Kommentar verzichtet darauf, die verschiedenen Phasen der Genese zu dokumentieren. Aber der Blick auf die Quellen (die dokumentierten und die nicht dokumentierten) darf den Blick auf den kanonischen Endtext nicht trüben. Er spricht für sich. Die ,Literarkritik‘ dient dazu, den vorliegenden Text besser zu verstehen, nicht mehr und nicht weniger“.591

591

T. SÖDING, „Die Zeit für Gottes Wort. Die Offenbarungskonstitution des Konzils und die Hermeneutik der Reform“, ThRv 108 (2012) 443-458, 448; [in Folge: T. SÖDING, „Die Zeit für Gottes Wort“]. A. Grillmeier fordert dagegen, dass das von ihm kommentierte dritte Kapitel nicht einzig vom Endtext her interpretiert werden dürfe, sondern dass es die diachrone Untersuchung zum Verständnis brauche. A. GRILLMEIER, Art., Kommentar zur Dogmatischen Konstitution ‚Dei Verbum‘ über die Göttliche Offenbarung (Kap. III), in: LThK.E2 2, 528-557, 557; [in Folge: A. GRILLMEIER, „Dei Verbum“]. Wenn in der vorliegenden Arbeit die Textgenese nicht nachkonstruiert wird, so soll damit nicht der diachrone Anspruch übergangen werden, sondern soll durch die Vorarbeit der großen Kommentatoren impliziert sein. So auch in Bezug auf Dei Verbum R. BIERINGER, „Biblical Revelation and Exegetical Interpretation According to Dei Verbum 12“, in: M. LAMBERIGTS – L. KENIS (eds.), Vatican II and its legacy (= BEThL 166), Leuven 2002, 25-58, 28, der jedoch in seinem Beitrag erst eine synchrone Inhaltsanalyse bietet, bevor er eine diachrone Textanalyse erarbeitet; [in Folge: R. BIERINGER, „Biblical Revelation“].

304

1.1.

Nostra aetate und das Verhältnis zwischen Judentum und Christentum

1.1.1.

Christlicher Antijudaismus

Die Erklärung Nostra aetate über die Beziehung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen gehört zu den wegweisenden Errungenschaften der konziliaren Beratungen. Besondere Wertschätzung erfährt dabei Nr. 4 über das Verhältnis der Kirche zum Judentum. Das Konzil musste sich der Herausforderung stellen, dass das Judentum im ungekündigten Bund Gottes steht (vgl. Röm 9,4; 11,29), zugleich aber der Glaube an den universellen Heilswillen Gottes in dem einen Mittler Jesus Christus (vgl. 1 Tim 2,4-5) Geltung beansprucht. Diese Spannung führte in der Geschichte des Christentums nicht selten zu einem latenten oder offensichtlichen Antijudaismus.592 Bereits im Neuen Testament lassen sich neben dem positiven Bezug und dem Hinweis auf die Bedeutung des Judentums (vgl. Mt 10,6 oder Joh 4,22) auch Stellen finden, die nach einer Trennung von Judentum und Christentum nicht mehr als innerreligiöse Auseinandersetzung verstanden werden konnten, sondern in einen antijudaistischen Duktus überführt wurden. Neben den Antijudaismen, die im Neuen Testament auszumachen sind, kommt es vor allem bei den Kirchenvätern zu antijudaistischen Ausfällen.593 So begegnet im ersten Jahrhundert der Barnabasbrief als erstes antijudaistisches Zeugnis und im zweiten Jahrhundert bei Meliton von Sardes der Vorwurf, dass die Juden in Jesus Christus Gott getötet hätten.594 Der Vorwurf des Gottesmordes in 592

Siehe zu antijudaistischen Schriften vom 1.-20. Jahrhundert die detaillierten Studien H. SCHRECKENBERG, Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte und ihr literarisches und historisches Umfeld (1.-11. Jh.) (=EHS 172), dritte, erweit. Aufl., Frankfurt a. M. – New York 1995; [in Folge: H. SCHRECKENBERG, Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte]; DERS., Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte (11.-13. Jh.): mit einer Ikonographie des Judenthemas bis zum 4. Laterankonzil (= EHS 335), zweite, veränd. Aufl., Frankfurt a. M. – New York 1991; DERS., Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte und ihr literarisches und historisches Umfeld (13.-20. Jh.) (= EHS 497), Frankfurt a. M. – New York 1994; M. H. JUNG, Christen und Juden: die Geschichte ihrer Beziehungen, Darmstadt 2008; [in Folge, M. H. JUNG, Christen und Juden]. 593 Siehe auch den Durchgang durch die Patristik bei D. NIRENBERG, Anti-Judaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens, München 2015, 97-143 [in Folge: D. NIRENBERG: Anti-Judaismus]; auf die unterschiedlichen Genera der AdversusIudaeos-Schriften geht ein: M. C. ALBL, „Ancient Christian Authors on Jews and Judaism“, in: R. ROUKEMA – H. AMIRAV (eds.), The „New Testament“ as a polemical tool. Studies in ancient Christian anti-Jewish rhetoric and beliefs (= StUNT 118), Göttingen 2018, 15-56, 18-21; [in Folge: M. C. A LBL, „Ancient Christian Authors“]. 594 Vgl. dazu A. RENZ, Die katholische Kirche und der interreligiöse Dialog. 50 Jahre „Nostra aetate“. Vorgeschichte, Kommentar, Rezeption, Stuttgart 2014, 22-24; [in Folge:

305

Jesus Christus bildet eines der Stereotypen des Judenhasses im Christentum und zieht sich hinauf bis in die jüngste Gegenwart.595 Eine gängige Argumentation war, dass aufgrund des Gottesmordes das Volk Israel als Strafe in die Diaspora zerstreut wurde und die Kirche den Platz Israels als neues Israel einnahm, was die Substitutionstheorie begründete. Die Kirchenväter schrieben in Auseinandersetzung mit dem Judentum in einer Zeit des Auseinandertretens der beiden Religionen und in einer Phase der Identitätskonsolidierung. Die Adversus-Iudaeos-Texte sind daher eine leidvolle und Unheil nach sich ziehende Textgattung, „für die es historische und psychologische Erklärungen, aber letztlich weder theologisch noch moralisch eine Rechtfertigung geben kann“.596 Ging es anfangs noch um den argumentativen Dialog, den Glauben an Jesus Christus zu rechtfertigen, so wandten sich die Vätertexte sehr schnell antijudaistischen Polemiken und Invektiven zu. Die Folge war, dass sich antijudaistische Maßnahmen bis in konziliare Bestimmungen des IV. Lateranense597 hineinzogen und nicht selten zu blutigen Pogromen führten. So tränkte auch im Mittelalter das Blut unzähliger Juden das Gewand der Kirche, als im Zuge von Verfolgungen, Zwangsmissionen oder den Kreuzzügen Christgläubige das Schwert gegen Juden erhoben. Zwar entwickelte sich im Mittelalter die „doppelte Schutzherrschaft“598 gegenüber den Juden, die sich bis in die Neuzeit hielt, dies bedeutete aber in der Realität keinen vollkommenen Schutz für jüdische Gläubige, da es mit

A. RENZ, Die katholische Kirche und der interreligiöse Dialog]. Der Autor erinnert jedoch auch daran: „Natürlich war das Beziehungsgeflecht zwischen Juden und Christen in den ersten Jahrhunderten und auch später komplexer, als allein die Adversus-JudaeosTexte nahe legen: Rhetorik und Realität sind zu unterscheiden, neben Konfrontation gab es immer auch Koexistenz und wechselseitige Beeinflussungen […]“ (26). Siehe auch M. C. ALBL, „Ancient Christian Authors“, 41-45. 595 Erinnert sei an dieser Stelle an die Schändung der Ausstellung „Gegen das Vergessen“ des Künstlers L. Toscano auf der Wiener Ringstraße. Ein Ausstellungsobjekt wurde mit der Aufschrift „Jesus = 6 Millionen“ geschändet, die eine Anspielung auf die Gottesmordtheorie ist. Vgl. dazu J.-H. TÜCK, „Die Fragile Autorität der Opfer. Der Angriff auf die ,Schau gegen das Vergessen‘ verstört, vereint aber im Widerstand“, IKaZ 47 (2019) 448-449. 596 A. RENZ, Die katholische Kirche und der interreligiöse Dialog, 26. 597 Vgl. dazu M. LEWY, „Vom Vierten Laterankonzil zum Zweiten Vatikanum. Katholische Haltungen gegenüber dem Judentum im Lauf von 800 Jahren“, FrRu 23 (2016) 163-176. 598 Die „doppelte Schutzherrschaft“ besagt, dass das Judentum einen heilsgeschichtlichen Stellenwert hat, da es das Volk des Alten Bundes und Zeuge des Todes Christi ist, andererseits aber als verstoßen galt, weil es Jesus nicht als den Christus anerkannte. Daher leitete sich der doppelte Schutz durch die kirchliche Hierarchie ab: Christen sollten vor dem Einfluss der Juden bewahrt werden, die Juden aber sollten Schutz wegen ihrer heilsgeschichtlichen Stellung erfahren. Vgl. dazu A. RENZ, Die katholische Kirche und der interreligiöse Dialog, 31-35.

306

diesem Instrument auch zu rechtlichen Unterdrückungen und Gängelungen kam. Ist christlicher Antijudaismus von einem politischen Antisemitismus, der begrifflich im 19. Jahrhundert entstand,599 zu unterscheiden, so muss das Christentum in Erinnerung behalten, dass auch der christliche Antijudaismus den politischen Antisemitismus gefördert und nicht verhindert hat, so dass es mit dem Nationalsozialismus zu der grausamsten Vernichtungsaktion gegen das von Gott zuerst erwählte Volk kommen konnte.600 Weil das Christentum an den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs glaubt, der der Gott Jesu Christi ist, ist es innerlich verpflichtet, sich der historischen Schuld zu stellen und alle theologische und humane Kraft zu investieren, sodass Antijudaismus und Antisemitismus im Ansatz erstickt wird.

599

Vgl. J. MAIER, Juden als Sündenböcke: Geschichte des Antijudaismus (= Geschichte 132), Wien 2016, 9-10; [in Folge: J. MAIER, Juden als Sündenböcke]. Der Begriff Antisemitismus führt sich zurück auf W. Marr, der ihn 1879 in der Hetzschrift „Der Sieg des Judentums über das Germanentum“ einführte, wobei das Adjektiv antisemitisch schon 1873 belegt ist. Vgl. dazu auch M. H. JUNG, Christen und Juden, 194-196. Der Autor weist darauf hin, dass Antijudaismus, als Wort erst in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden, seinen Vorläufer in den „adversus-Iudaeos“Formulierungen hat, Antisemitismus dagegen politisch und rassentheoretisch in der Entstehung orientiert war. Aber mahnend fügt er an: „Die Differenzierung nimmt allerdings apologetische Züge an, wenn die Verbindungslinien geleugnet oder der Antijudaismus als die harmlosere Form dargestellt wird“. 600 Mit dem christlichen Antijudaismus allein kann nicht der abwegige Wahn des Nationalsozialismus erklärt werden, sondern es laufen im Nationalsozialismus auch säkulare Strömungen aus Kultur und Wissenschaft ein. Vgl. dazu R. SIEBENROCK, „Theologischer Kommentar zur Erklärung über die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen. Nostra aetate“, HThKVatII/3, 591-693, 619-621; [in Folge: R. SIEBENROCK, „Theologischer Kommentar“]; D. NIRENBERG, Anti-Judaismus; Der amerikanische Historiker Nirenberg geht dabei auch auf antijudaistische Strömungen in vorchristlicher Zeit ein, wie auch J. MAIER, Juden als Sündenböcke, 48-50. Siehe auch B. WITTE, Moses und Homer. Griechen, Juden, Deutsche. Eine andere Geschichte der deutschen Kultur, Berlin – Boston 2018; A. RENZ, Die katholische Kirche und der interreligiöse Dialog, 35-36: „Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Phänomenen dürfte darin liegen, dass die christliche Judenfeindschaft zumindest der Theorie nach nie auf eine physische Eliminierung des jüdischen Volkes zielte, sondern die Überwindung des Judentums am Ende der Geschichte sah, während der nationalsozialistische Antisemitismus auf die vollständige Vernichtung des jüdischen Volkes zielte und Auschwitz schuf. […] So notwendig, sinnvoll und erhellend die Differenzierung zwischen christlichem Antijudaismus und rassistischem Antisemitismus deshalb ist, so darf doch nicht die geschichtliche und ideologische Abhängigkeit und gegenseitige Durchdringung beider Phänomene Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts verschwiegen und verwischt werden […]“.

307

1.1.2.

Grundzüge von Nostra aetate

„Indem sie das Mysterium der Kirche untersucht, gedenkt diese Heilige Synode des Bandes, durch das das Volk des Neuen Bundes mit dem Stamm Abrahams geistlich verbunden ist“ (NA 4,1) – damit ist das Selbstverständnis der Kirche bleibend mit dem Judentum verbunden. Es geht nicht um das Band eines vergangenen Volkes, sondern um den Stamm Abrahams, mit dem es verbunden ist. Das Präsens der Aussage stellt die Kirche in einen fortdauernden Bezug, worin sich die Überzeugung ausdrückt, dass Gott nicht nur in der Kirche, sondern auch im gegenwärtigen Judentum handelt: Die Kirche muss auf das Judentum bezogen bleiben. Dies kommt auch im Titel zum Ausdruck, in dem das Konzil von habitudo spricht, das als „innerliche Haltung“ zu übersetzen und verstehen ist. Es geht den Konzilsvätern nicht um eine äußerliche Verbindung, sondern um eine innerliche und theologische Haltung, die die Kirche nicht nur gegenüber dem Judentum einnehmen muss, denn – wie J.-H. Tück prägnant formuliert: „Der faktische Pluralismus der Religionen wird als Tatsache anerkannt“.601 Die Erklärung Nostra aetate hat wie viele andere Dokumente des II. Vatikanums eine verwundene und wechselhafte Entstehungsgeschichte hinter sich.602 Nach einem jähen – politischen und kirchenpolitischen603 – Ringen, ob die Beziehung zum Judentum in das Ökumenismusdekret oder in das Schema De Ecclesia aufgenommen werden sollte oder als eigenständiges Dokument verabschiedet werden könnte, wurde es schließlich in die Erklärung über die Beziehung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen eingefügt.604 Dabei darf der synchrone 601

J.-H. TÜCK, „Das Konzil und die Juden. 50 Jahre Nostra Aetate – Vermächtnis und Auftrag“, IKaZ 44 (2015) 303-320, 308; [in Folge: J.-H. TÜCK „Das Konzil und die Juden“]. 602 Vgl. zur Entstehung von Nostra aetate J. OESTERREICHER, Art.: Kommentierende Einleitung, in: LThK.E2 2, 405-478; [in Folge: J. OESTERREICHER, „Kommentierende Einleitung“]. R. SIEBENROCK, „Theologischer Kommentar“, besonders 633-643; H. H. HENRIX, „Nostra Aetate – Eine Genese voller Spannungen und eine Besiegelung kirchlicher Neubestimmung“, in: S. SCHREIBER – T. SCHUMACHER (Hgg.), Antijudaismen in der Exegese? Eine Diskussion 50 Jahre nach Nostra Aetate, Freiburg – Basel – Wien 2015, 11-40; A. RENZ, Die katholische Kirche und der interreligiöse Dialog, 93-160, zur Vorgeschichte und Anfängen des Dialogs mit dem Judentum ebd. 58-91. Die wörtlichen Zitate folgen: P. HÜNERMANN (Hg.), Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils. Konstitutionen, Dekrete, Erklärungen. Lateinisch-deutsche Studienausgabe, HThKVatII/1, Sonderausg. Freiburg – Basel – Wien 2009, 355-362; [in Folge: P. HÜNERMANN, Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils]; Zitation nach NA. 603 Über die „Wardi-Affäre“, die „Oktoberkrise“, den „arabischen Kampf“ und Antisemitismen informiert J. OESTERREICHER, „Kommentierende Einleitung“, 426-429; 448-450; 458-464 und 467-470. Allgemein zu den Krisen siehe R. SIEBENROCK, „Theologischer Kommentar“, 639-643. 604 Vgl. dazu J. OESTERREICHER, „Kommentierende Einleitung“, 450-453.

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Endtext nicht als eine Abwertung der Thematik aufgefasst, sondern kann und muss aus der Anordnung der Erklärung verstanden werden, auch wenn mehr konzilsstrategische als theologische Argumente für diese Eingliederung plädiert haben. Schreiten die Konstitution über die Kirche LG 14-16 und die Pastoralkonstitution GS 92 in der Frage der Hinordnung des gläubigen Menschen auf das Christusmysterium in der Kirche konzentrisch voran, so ist die Beziehung zu den nichtchristlichen Religionen klimaktisch angelegt: Der Höhepunkt und der inhaltliche Gipfel der behandelten Religionen bildet das Judentum, dem sich das Konzil im Glauben am engsten verbunden fühlt.605 Die Beziehung der Kirche zum Judentum nimmt in der Erklärung eine besondere Stellung ein und wird als eine der bedeutendsten Abschnitte konziliarer Texte gewertet, ist aber aus dem Gesamtgefüge heraus zu verstehen. So setzt der Eingang der Erklärung an, dass die Kirche der immer enger werdenden Verbindung der Völker dienen will, indem sie die Beziehung zu den nichtchristlichen Religionen bedenkt und das alle Menschen Verbindende herausstellt (NA 1,1). Dies bietet den hermeneutischen Deuteschlüssel der Erklärung, da sich hier die Kirche zum Dialog mit den Religionen öffnet, weil es der Transzendenzbezug ist, der allen gemein ist.606 Dabei ist allen Völkern 605 U. Lievenbrück gibt auch den Hinweis auf die konzentrische Ausrichtung von LG 1416 und GS 92 und versteht die Anordnung in NA ebenfalls konzentrisch, nur in „umgekehrter Denkrichtung“. Vgl. U. LIEVENBRÜCK, „Ein Rückblick auf Nostra Aetate. Kommentierende Darstellung eines viel kritisierten und viel gerühmten Konzilstextes“, in: S. SCHREIBER – T. SCHUMACHER (Hgg.), Antijudaismen in der Exegese? Eine Diskussion 50 Jahre nach Nostra Aetate, Freiburg – Basel – Wien 2015, 41-75, 52; [in Folge: U. LIEVENBRÜCK: „Ein Rückblick“]. Gegen eine konzentrische Ausrichtung von NA spricht jedoch, dass NA 5 nicht mit dem Christentum schließt, sondern mit der universalen Brüderlichkeit, die wiederum theologisch begründet wird und damit das Anliegen von NA 1 des Zusammenwachsens aller Völker aufnimmt. Zudem darf nicht vergessen werden, dass die Keimzelle für NA eine Erklärung zum Verhältnis von Kirchen und Judentum war und sich die Erweiterung auf andere nichtchristliche Religion erst in der Diskussion ergab. Für eine klimaktische Anordnung der Erklärung spricht auch die Überzeugung, dass das Christentum zum Judentum in einer innigeren und dichteren Beziehung steht als mit anderen Religionen. Die klimaktische Anordnung stellt dann nämlich die besondere Stellung des Judentums heraus, auch wenn der ursprünglich eigenständige Text über das Judentum in die Erklärung der Beziehung zu den nichtchristlichen Religionen eingefügt wurde. Dennoch bleibt zu fragen, ob die Beziehung zum Judentum nicht eher im Rahmen der Ekklesiologie oder der Ökumene hätte behandelt werden sollen, weil das Judentum sich im Gegensatz zu den anderen nichtchristlichen Religionen in einer Beziehung zum Christentum befindet, die über den Transzendenzbezug hinausgeht. Das Band ist im Glauben Abrahams und in den gemeinsamen Schriften grundgelegt. Vgl. dazu J.-H. TÜCK, „Das Konzil und die Juden“, 312. Dem Zusammenhang von Judentum und Ökumene wird heute in gewisser Weise lehramtlich dadurch Rechnung getragen, dass die Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum dem Päpstlichen Rat für die Förderung der Einheit der Christen zugeordnet ist. 606 Vgl. A. RENZ, Die katholische Kirche und der interreligiöse Dialog, 130.

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der Ursprung und das Ziel gleich, den das Konzil schöpfungstheologisch und eschatologisch, also heilsgeschichtlich, in Gott sieht (NA 1,2). Das menschliche Ringen wird schließlich mit der Frage nach der menschlichen Existenz als Aufgabe und Anfrage an Religionen gestellt (NA 1,3). Dabei geht die Erklärung rein theologisch vor und gibt keine spezifisch christlichen Erklärungen, insofern keine christologischen oder pneumatologischen Einspielungen in die Einleitung aufgenommen sind. Wurde in Nr. 1 die theologische Wertschätzung der Völker und ihrer Religionen zum Ausdruck gebracht, so kontrastiert Nr. 2 in positiver Diktion die hinduistischen und buddhistischen Traditionen mit dem christologischen Anspruch der Heilsvermittlung. Durch die pneumatologische Anspielung an die lo,goi spermatikoi.-Lehre607 mahnt die Versammlung zu einem wertschätzenden Miteinander, um das Wahre und Gute in den anderen Religionen zu fördern, das sich in der Ausrichtung auf die Transzendenz ausdrückt. In nuce kann hier bereits von einem inklusivistischen Religions- und Heilsverständnis ausgegangen werden. Damit wird den nichtchristlichen Religionen Wahrheit zugesprochen, auch wenn das Konzil strikt an der personalen Wahrheit in Jesus Christus festhält, sie aber theozentrisch auf die Religionen ausweitet, da alle Wahrheit von Gott komme. Die Haltung eines inklusiven Dialoges zu den anderen Religionen verlangt gerade, an der Heilsmittlerschaft Christi festzuhalten.608 Die Beziehung zum Islam setzt in Nr. 3 damit ein, dass das Konzil Hochachtung und Wertschätzung ihm gegenüber ausdrückt, wobei eine Diktion verwendet wird, die dem Koran verwandt ist, wenn es Gott als den Einzigen, Lebendigen und Barmherzigen beschreibt, der sich in seiner Offenbarung den Menschen zuwendet. Als Neuerung darf gesehen werden, dass NA 3 „cum æstimatione“ von der muslimischen Religion spricht und damit einen Kontrapunkt in der Haltung gegenüber den bisher abwertenden und abschätzigen Qualifizierungen des Islams setzt. In dieser Nummer wird der Islam als monotheistische Religion anerkannt, weil er gleich dem Christentum den einen Gott anbetet („unicum Deum adorant“),609 auch wenn dabei wiederum nicht der 607

Vgl. dazu R. SIEBENROCK, „Theologischer Kommentar“, 601-602, der darauf hinweist, dass die Annahme der lo,goi spermatikoi.-Lehre auch eine selbstrelativierende Auswirkung für das Christentum hat. Die pneumato-logische Ausrichtung muss jedoch vor dem Hintergrund von AG 3; 4; 9 gelesen werden. Ebenso gilt es GS 22 hinzu zu lesen, dass es der Logos Christus ist, der sich in seiner Inkarnation gleichsam mit allen Menschen vereinigt hat. 608 Vgl. ebd. 657-658 und A. RENZ, Die katholische Kirche und der interreligiöse Dialog, 137.175-178. 609 Die Anbetung und das Bekenntnis des einen Gottes besagt jedoch nicht, dass damit ein und derselbe Gott von Christen und Muslimen angebetet wird. Vgl. H. H OPING, Jesus

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Unterschied im Glauben an Jesus Christus verschwiegen und die muslimische Verehrung Jesu als Prophet und jene Mariens erwähnt werden. Dagegen wird im Abschnitt über die Muslime nicht darauf eingegangen, inwiefern sich Christen und Muslime auf einem gemeinsamen Weg des Heils befinden. Gelegenheit dazu hätte die Erwähnung des Korans als Heiliger Schrift der Muslime und deren Offenbarungsverständnis gegeben, was aber in der Erklärung ausfällt. Trotz aller Unterschiede ruft das Konzil beide Religionen auf, sich für Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit in der Welt einzusetzen.610 Als letzte Religionsgemeinschaft wird in der Erklärung das Judentum behandelt. Dabei setzt sich NA 4 bereits durch eine formale und materiale Ausführlichkeit von den vorhergehenden Abschnitten ab. Somit weist das Konzil darauf hin, dass sich die Kirche dem Judentum nicht nur am nächsten fühlt, sondern in ihm eine „geistliche Verbindung“ („spiritualiter coniunctus est“) hat. Damit ist die Klimax der Erklärung erreicht, die nicht nur formal und material, sondern wesentlich und theologisch zu verstehen ist. Die Kirche sieht sich mit dem Judentum als einer „nährende[n] Wurzel“ verbunden, mehr noch: Die Kirche anerkennt, dass sich die Anfänge des eigenen Glaubens bei den Patriarchen, bei Mose und den Propheten finden.611 Durch diese heilsgeschichtliche Verbindung, die in NA 1-3 bisher fehlte, unterstreicht das Konzil die besondere Bedeutung des Judentums für das Christentum, da sich beide auf ein reiches gemeinsames geistliches Erbe berufen können („magnum sit patrimonium spirituale Christianis et Iudaeis commune“). Der letzte Abschnitt NA 5 rekurriert auf die zentrale Aussage, dass Gott die Liebe ist und dass daraus die zwischenmenschliche Haltung zu ziehen ist (1 Joh 4,8). Aus ihr ist die Begegnung der Menschen zueinander als Ebenbilder Gottes zu verstehen. Gottes- und Nächstenaus Galiläa, 383: „Denn es heißt, dass Muslime mit uns den einzigen Gott verehren. Es wird aber nicht gesagt, dass sie denselben Gott bekennen oder zum selben Gott beten“. 610 In dieser Zielsetzung dürfte auch der Grund liegen, weshalb NA 3 weder Mohammed, den Koran oder die fünf Säulen explizit erwähnt. Vgl. dazu U. LIEVENBRÜCK, „Ein Rückblick“, 54: „Angesichts der Textgeschichte kann und soll auch gar nicht bestritten werden, dass der Konzilstext konfliktträchtige Aspekte ausklammert […]. Eine Bewertung dieses Sachverhalts hat freilich den gegebenen, engen Rahmen wie auch die bereits thematisierte irenische Intention der Erklärung zu berücksichtigen, was die benannten Auslassungen begründbar erscheinen lässt […]“. 611 Die theologische Grundsatzstudie der Unterkommission für den Jüdischen Problemkreis des Einheitssekretariats folgert dies sogar für die Kirche. Vgl. J. OESTERREICHER, „Kommentierende Einleitung“, 417: „Man könne daher ohne Übertreibung sagen, daß das Israel der Patriarchen und Propheten die Kirche im Werden sei, die Kirche aber das erfüllte, im Blut Christi erneuerte und über den gesamten Erdkreis verbreitete Israel. So wie das Israel des Advents den Mutterboden der Kirche bildete, so stelle die Kirche das durch Christi Wort gewandelte und im Feuer des Heiligen Geistes geläuterte Israel dar“.

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liebe bedingen einander, woraus der Einsatz für Gleichheit und Gerechtigkeit zwischen den Menschen und unter allen Völkern herrührt. Der Abschluss der Erklärung gibt damit nochmals die theologische Ausrichtung des gesamten Dokuments wieder. 1.1.3.

Nostra aetate 4: Wegweisung und Herausforderung

Das Konzil hebt in NA 4,1 hervor, dass das Geheimnis der Kirche („mysterium Ecclesiae“) ohne das Band zum „Stamme Abrahams“ nicht zu verstehen ist. Die Kirche und die Söhne Abrahams sind im Glauben heilsgeschichtlich verbunden und haben somit dieselbe theologische Verantwortung. NA 4 kann somit als eine theologische Ergänzung zum christologischen Kirchenbegriff in LG betrachtet werden. Die Kirche ist in die Glaubensverheißung Abrahams eingeschlossen und muss sich von ihm her mitverstehen, weshalb sie auf das Judentum wesentlich bezogen ist: Gott hat als erstes zu seinem Volk Israel gesprochen. Wenn der Konzilstext Kategorien von „ersterzweiter“, „alt-neu“ etc. einführt, so ist dies jedoch zeitlich zu verstehen und nicht wesentlich. In allen Abschnitten kommt – teils explizit, teils implizit – die Absage an ein Verständnis zum Tragen, nach dem die Kirche das Volk Israel ersetzen und an seine Stelle treten würde. In Rückgriff auf das Ölbaumgleichnis aus Röm 11,17-24 verweist die Erklärung daher auf die bleibende Bedeutung des Judentums für die Kirche: Der Ölbaum nährte nicht nur, sondern er nährt („nutriri“; Präsens!) fortwährend die Kirche, und zwar so, „dass sie geistlich verdörrt und abstirbt, wenn sie sich von der eigenen Wurzel des Ölbaums abschneidet“.612 Die Erklärung geht zwar in N 4,4 darauf ein, dass ein Großteil des Judentums zur Zeit Jesu das Evangelium nicht angenommen habe. Daraus wird aber in dem konziliaren Dokument keine Substitutionstheorie613 abgeleitet, sondern mit Röm 11,28-29 die bleibende Erwählung der Söhne Israels hervorgehoben. Die Juden sind und bleiben von Gott geliebt („carissimi manent“). Darin liegt auch die Begründung und die logische Konsequenz, dass es keine Judenmission mehr geben darf, was jedoch im Konzilstext so explizit keine Erwähnung findet.614 Das Judentum hat eine bleibende heilsge612

A. RENZ, Die katholische Kirche und der interreligiöse Dialog, 150. Vgl. dazu U. LIEVENBRÜCK, „Ein Rückblick“, 58-63. Zum Begriff des „Neuen Gottesvolkes“, das substitutiv verstanden werden kann vgl. ebd. 60-62. 614 U. Lievenbrück weist mit NA 4,8 hin, dass die Kirche das Kreuzesmysterium als Quell des universalen Heils verkünden muss. Der Begriff „annunciare“ wird in AG in Verbindung mit der Mission verwendet, der in NA 4,8 mit „praedicare“ verbunden wird, der in AG der häufigste Terminus für die Mission ist. So folgert die Autorin: „Es ist also nicht nur zu konstatieren, dass eine explizite Abkehr von der Judenmission unterbleibt, 613

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schichtliche Bedeutung, was sich auch in der katechetischen Darstellung und Predigt zeigen muss (vgl. NA 4,6). Daraus ist dann aber auch die logische Konsequenz zu ziehen, wie es der Konzilstext in NA 4,6-7 tut, dass von keiner Gottesmord-Theorie mehr zu sprechen ist und dass jeglicher Antisemitismus einer biblischen und theologischen Grundlage entbehrt. Es ist das gemeinsame Erbe, dass alle Verunglimpfungen und jeden Angriff auf alle Menschen, insbesondere aber auf Juden, aus dem Glauben an das Evangelium keine Begründung haben. Wäre eine eindeutigere Formulierung gegen jede Form des Antisemitismus und Antijudaismus wünschenswert gewesen, so dürfte dieses Ausbleiben den politischen Umständen der Entstehungsgeschichte der Erklärung geschuldet sein, wenn besonders Konzilsteilnehmer aus den arabischen Ländern davor warnten, dass der Text zum Judentum als politische Stellungnahme zum Staat Israel verstanden werden könnte und damit den arabischen Christen Repressalien drohten. Das Konzil führt auch die eschatologische Perspektive ein, derzufolge mit den Propheten und den Aposteln der Tag Gottes erwartet wird, an dem alle Völker in das Heil Gottes kommen sollen. Explizit spricht das Dokument aber nicht davon, ob der Heilsweg der Juden der Anerkennung Jesu als Messias bedarf oder ob von einem eigenen Heilsweg des Judentums auszugehen ist. Jedoch kann die Anrufung des Herrn („populi omnes una voce Dominum invocabunt“) in NA 4,4 als ein Hinweis auf den Kyrios-Titel für Christus verstanden werden. Das Konzil unterlässt es aber strikt, das Heil der Juden an ein Hineintreten in die Kirche zu binden, wie dies in einer früheren Textfassung noch ausgesprochen war.615 Dennoch ist die Frage der Bedeutung Jesu Christi für das Judentum offen, auch wenn jegliche Form einer Substitutionstheorie abgelehnt wird. Daher ist zu klären, wie das Konzil die Formulierungen in NA 4,2 versteht, wenn es von der nährenden „Wurzel des guten Ölbaums“ spricht, in dem die Heiden eingepfropft sind, sogleich aber anfügt, dass Christus durch sein Kreuz Juden und Heiden versöhnt und vereinigt hat. Wenn nun das Judentum auch in der Vereinigung mit den Heiden in Jesus Christus ist, stellt sich die Frage, ob der Konzilstext mit dieser Verbindung der neutestamentlichen Textstellen Jesus Christus für das Judentum in einer unbeschriebenen sondern mehr noch: Der Schlussabschnitt von NA [4,8; Anm. d. Verf.] leistet auch keine terminologische Abgrenzung der Haltung der ecclesia praedicans den Juden gegenüber von jener Haltung, mit der die Kirche in missionarischer Absicht anderen Menschen begegnet“. Vgl. ebd. 69-70, Zitat 70. Zur Frage der Judenmission siehe auch H. H. HENRIX, „Weichenstellungen in katholischen Positionen – von ‚Nostra Aetate‘ bis zu Papst Benedikt XVI.“, in: H. FRANKEMÖLLE – J. WOHLMUTH (Hgg.), Das Heil der Anderen. Problemfeld „Judenmission“ (= QD 238), Freiburg – Basel – Wien 2010, 1835. 615 Vgl. U. LIEVENBRÜCK, „Ein Rückblick“, 59-60.

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Weise als heilsrelevant versteht, insbesondere wenn das Jude-Sein Jesu hervorgehoben wird.616 Dafür spricht auch der Hinweis in NA 4,8, dass es Lehre der Kirche war und ist, dass Jesus Christus aus Liebe für alle Menschen den Tod auf sich genommen hat und das Heil für alle Menschen will. In dieses christologische Heil versteht die Erklärung also auch die Juden eingeschlossen, weil in Jesus Christus das universale concretum gegeben ist, aus dem alle Gnaden hervorgehen. Wie sich alle biblischen Zeugnisse aus der Quelle der Offenbarung Gottes speisen, so speist sich die Heilsverheißung aus der Quelle Jesu Christi. Es bleibt aber hier nur eine vage Vermutung, ob der Text erlaubt, eine theologisch-christologische Parallele zwischen Offenbarung und Heil zu ziehen und damit eine schon präsentische Heilsbedeutung Jesu Christi für das Judentum ableiten zu können. NA gibt darauf keine eindeutige Antwort, was aber dahingehend interpretiert werden muss, dass die Frage des Heilsweges eine eschatologische Frage ist, die unter dem eschatologischen Vorbehalt keine exakt-dogmatischen Aussagen erlaubt, sondern gerade in dieser offenen Frage den gegenseitigen Austausch und die Verantwortung füreinander stärkt. Somit wird im Konzilstext NA 4 die Spannung deutlich, in der sich christliche Theologie zu bewegen hat, was aber auch ein Moment der gegenseitigen Beziehung zwischen Judentum und Christentum ist: Die bleibende Erwählung des Volkes Israel durch Jesus Christus und die Heilsuniversalität Jesu Christi haben Geltung und müssen miteinander verbunden werden. Mit Nostra aetate 4 ist die grundlegende Haltung für die Theologie beschrieben. Der Konzilstext unterstreicht die fundamentale Kategorie, dass Jesus als Jude geboren und gelebt hat und in seinem Judesein auf die bleibende und gültige Bedeutung des Bundes seines Vaters mit dem ersterwählten Volk Israel hinweist. Christliche Theologie darf und kann diese Grundüberzeugung historischer und biblischer Tatsache nicht zurücklassen, sondern muss ihr Denken daran orientieren. Die Beziehung zum Judentum ist für das Christentum nicht akzidentiell zu denken, sondern als wesentlich zu verstehen. Das Judentum als der „ältere Bruder im Glauben“ gibt mit seinen Schriften, auf die sich auch der „jüngere Bruder“ im Christentum bezieht, einen Verstehenshorizont für die neutestamentliche Botschaft. Darum fordert das Konzil in NA 4 616

Vgl. W. KASPER, Katholische Kirche. Wesen, Wirklichkeit, Sendung, Freiburg – Basel – Wien 2011, 423: Jesus Christus „ist nach christlicher Überzeugung der eine und universale Mittler des Heils. Die positiven Aussagen in Röm 9-11 über die bleibende Gültigkeit des Abrahambundes dürfen darum nicht isoliert werden von anderen Aussagen des Römerbriefs, die von der universalen Heilsbedeutung Jesu Christi sprechen, durch die das mosaische Gesetz seine Heilsbedeutung verloren hat (bes. Röm 3,21-31) […]. Damit wird den Juden selbstverständlich ebenso wenig wie den Nichtgetauften unter den Heiden die Heilsmöglichkeit abgesprochen“; [in Folge: W. KASPER, Katholische Kirche].

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dazu auf, das gemeinsame Erbe durch biblische und theologische Studien und im gemeinsamen Gespräch zu fördern. Die gemeinsame Verantwortung für das Wort Gottes verpflichtet auch zum gemeinsamen Bedenken dieser Schriften, damit durch sie der geschichtliche Weg zu dem einen und einzigen Gott Jesu Christi gefunden werden kann. Das Christentum kann sich nach NA 4 nicht mehr von der „nährenden Wurzel“ trennen, ohne die eigene Lebendigkeit im Glauben zu verlieren. Somit ist in Bezug auf das Judentum in NA 4, aber auch auf die anderen Religionen mit A. Renz zu bilanzieren: „So kurz der Text ist, so universal ist sein Blickwinkel und so weitsichtig sein Programm“.617 Exkurs: Die antimarcionitische Entscheidung der frühen Kirche bei Irenäus von Lyon und Tertullian: die regula veritatis/fidei 1.

Marcion von Diskontinuität

Sinope

und

seine

Theologie

der

Marcion von Sinope gilt als der Erzhäretiker – für Irenäus von Lyon sogar als „Erstgeborener Satans“ (Adv. haer. III 3,4)618 – des zweiten Jahrhunderts, der mit seiner Theologie und seiner Zusammenstellung eines Schriftenkanons für weitreichende theologische Auseinandersetzungen im jungen Christentum gesorgt hat, die bis in die Gegenwart nicht an Bedeutung verloren haben und in unterschiedlichen Schattierungen auftreten.619 Da von Marcion selbst nichts überliefert 617

A. RENZ, Die katholische Kirche und der interreligiöse Dialog, 157. IRENÄUS VON LYON, Adversus Haereses – Gegen die Häresien, (= FC 8,1-5), übers. und eingel. v. N. BROX, Freiburg – Basel – Wien 1993-2001; [in Folge: IRENÄUS, Adv. haer.]. – Wird im Folgenden vom Alten Testament gesprochen, so ist damit nicht die kanonische Form des Alten Testaments gemeint, sondern es werden damit die Schriften Israels bezeichnet, die den Christen im zweiten Jahrhundert vorlagen, ohne dass damit auch schon die feste jüdische Bibel als Tanach gemeint sei, die sich ebenfalls noch im Kanonisierungsprozess befand. 619 Bei keiner Darstellung des Lebens Marcions kann an den Schriften A. v. Harnacks vorübergegangen werden. Die akribische Zusammenschau seines Evangeliums und die Analysen haben seit ihrer Entstehung das Bild Marcions geprägt, müssen aber nach neueren Forschungsergebnissen auch weitergeführt bzw. revidiert werden. So warnt S. Moll davor, dass das harnacksche Marcionbild zu sehr von einer anachronistischen Sicht des Dogmenhistorikers geprägt ist und aufgebrochen werden muss. Vgl. dazu S. MOLL, „Marcion. A New Perspective on his Life, Theology, and Impact“, ExpT 121 (2010) 281-286, 286: „The contrast between these two Gods [from the Old Testament and from the New Testament; Anm. d. Verf.] forms the very centre of Marcion’s theology. Harnack realised this contrast between the Old and the New Testament in Marcion’s thought, but he reinterpreted it into the Pauline/Lutheran distinction of Law and Grace. However, Marcion does not think in such abstract theological terms, he simply believes

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ist, stützen sich alle Rekonstruktionen auf die Häresiologen, die sich aufgrund seiner Lehre teils polemisch mit ihm auseinandersetzten, woraus dennoch sein Schriftkanon und seine Antithesen zu rekonstruieren sind.620 Dabei arbeiten sie sehr genau die Positionen Marcions heraus, da sie ihn ausgehend von seinen eigenen Widersprüchen in seiner Theologie widerlegen wollen (vgl. Adv. Marc. IV 43,9).621 Die Leistung Marcions war, dass er aus einem bestimmten theologischen Interesse in einer Zeit, in der sich christliche Gemeinden in two different Gods“; auch B. ALAND, „Marcion – Versuch einer Neuinterpretation“, in: Was ist Gnosis? Studien zum frühen Christentum, zu Marcion und zur kaiserzeitlichen Philosophie (= WUNT 239), Tübingen 2009, 291-317, 294; [in Folge: B. A LAND, „Versuch einer Neuinterpretation“]. Dass die historische Gestalt nicht erst von A. v. Harnack einer Interpretation unterworfen war, zeichnet J. M. Lieu in ihrer Studie nach: „What is evident in all this is that the Marcion who is met on the pages of his various opponents is a Marcion constructed by the rhetoric of each author. […] Sensitivity to the strategies in use may encourage appropriate caution – a hermeneutic of suspicion – but it will not thereby ensure that the ,real Marcion‘ can be recovered. The Marcion who can be uncovered and described will necessarily be Irenäus‘ Marcion, Tertullian’s Marcion, Ephraem’s Marcion…“; J. M. LIEU, Marcion and the Making of a Heretic. God and scripture in the second century, New York 2015, 9. Ähnlich formuliert C. DOHMEN, „Markionismus und Markion“, 189. – K.-H. Menke zeichnet mehrere unterschiedliche Interpretationen Marcions im 20. Jahrhundert nach, die sich auf die Lehre Marcions beziehen und die er „Spielarten des Markionismus“ bezeichnet. Vgl. K.-H. MENKE, „Spielarten des Marcionismus“. – Grundlegend und mit weiterführender Literatur bleibt der Beitrag  ALAND, Art.: Marcion (ca. 85-160)/Marcioniten, TRE 22, 89-101; [in Folge: . ALAND, „Marcion/Marcioniten“]; siehe auch G. MAY, Art.: Markion/Markioniten, RGG4 5, 834-836; [in Folge: G. MAY, „Markion/Markioniten“]. Zur den verschiedenen Überlieferungen des Lebens Marcions siehe S. MOLL, „Three against Tertullian. The second tradition about Marcion’s life“, JThS 59 (2008) 169-180; D. SCHLEYER, „Einleitung“, in: TERTULLIAN, De praescriptione haereticorum – Vom prinzipiellen Einspruch gegen die Häretiker (= FC 42), übers. und eingel. v. D. SCHLEYER, Turnhout 2002, 10-227, 40-58; [in Folge: D. SCHLEYER, „Einleitung“]. Siehe auch V. LUKAS, „Einleitung“, in: TERTULLIANUS, Adversus Marcionem I – Gegen Markion I (= FC 63,1), übers. und eingel. v. V. LUKAS, Freiburg – Basel – Wien 2015, 747, 7-16; [in Folge: V. LUKAS, „Einleitung“]. 620 Als wichtigster Textzeuge gilt TERTULLIAN, Adversus Marcionem – Gegen Markion (= FC 63,1-4), übers. und eingel. v. V. LUKAS, Freiburg – Basel – Wien 2015-2017; [in Folge: TERTULLIAN, Adv. Marc.]. Zu Adv. Marc. IV siehe den Kommentar M. VINZENT, Tertullian’s preface to Marcion’s Gospel (= StPatrS 5), Leuven 2016, 267-347; [in Folge: M. VINZENT, Tertullian’s preface]. Daneben muss für die marcionitische Rekonstruktion IRENÄUS, Adv. haer herangezogen werden. Zu weiteren patristischen Textzeugen siehe B. ALAND, „Marcion/Marcioniten“, 100. 621 M. Klinghardt erkennt in diesem Vorgehen der Häresiologen einen methodologischen Fehlschluss, da sie Marcions Irrlehren auf das verfälschte Evangelium zurückführen, obwohl Marcion das verfälschte Evangelium aus seinen Irrlehren erarbeitet. Vgl. M. K LINGHARDT, Das älteste Evangelium und die Entstehung der kanonischen Evangelien (= TANT 60/1-2), Tübingen 2015, 40; [in Folge: M. KLINGHARDT, Das älteste Evangelium]. Des Weiteren ist für Klinghardt die Überlieferung Marcions durch seine Häresiarchen äußerst widersprüchlich. Vgl. dazu ebd. 55-60. Siehe auch DERS., „Markion vs. Lukas. Plädoyer für die Wiederaufnahme eines alten Falles“, NTS 52 (2006) 484-513, 486-487; [in Folge: M. K LINGHARDT, „Markion vs. Lukas“].

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und Denker frei auf unterschiedliche Schriftzeugnisse bezogen, einen ersten, in sich geschlossenen Schriftkanon zusammenstellte, wobei das kanonische des marcionitischen Kanons seine Theologie und Philologie war.622 Er kannte zwar die hebräischen Schriften, die später Eingang in die kanonische Gestalt des Alten Testaments fanden, nahm sie aber aus theologischen Gründen nicht in seinen Kanon auf. Zugleich tilgte er auch fast alle Zitate und Anspielungen auf diese Schriften in seinem Kanon. So ist das Urteil Tertullians zu verstehen, dass Marcion das Lukasevangelium „zernagt“ und „getilgt“ (Adv. Marc. I 1,5; IV 6,2) und dabei seine Häresien nicht rein spekulativ, sondern bibeltheologisch begründet hat. Damit gilt Marcion als Katalysator für den Kanonisierungsprozess der christlichen Bibel.623 Mit Irenäus Adv. haer. III 11,9 und U. Schmid kann davon ausgegangen werden, dass es zwar zur Zeit des Marcion bereits die „Vier-Evangelien-Sammlung“ gab, er sich aber bewusst für Lukas entschieden hat, „weil er es [das Lukasevangelium; Anm. d. Verf.] als das paulinische Evangelium erkannt hat“.624 Marcion sah demnach neben der paulinischen Rechtfertigungslehre in der Abendmahlsparadosis des Lukas die größte Nähe zu Paulus, dem er sein theologisches Fundament verdankte und in dessen Schriften er die größte Nähe zum jesuanischen Ursprung der Verkündigung erkannte. Marcion war geprägt und geplagt von der Frage nach dem Übel und dem Bösen in der Welt, wofür er eine theologische Erklärung suchte. Aus der Theodizeefrage heraus kommt seine Verbindung des Bösen mit dem Schöpfergott, dem Gott des Alten Testaments, dem er den Gott der Erlösung, den Gott Jesu Christi, entgegensetzt. Aber der Gott des Alten Testaments ist nicht nur der „böse Schöpfer“, sondern auch

622 Vgl. C. MARKSCHIES, Kaiserzeitliche christliche Theologie und ihre Institutionen. Prolegomena zu einer Geschichte der antiken christlichen Theologie, Tübingen 2007, 253: „Der Theologe [Marcion; Anm. d. Verf.] wollte mit philologischen Mitteln eine in seinen Augen zuverlässige Textedition herstellen und griff dabei recht energisch zu den Mitteln radikaler Emendationen, weil er den zu bearbeitenden Text offenbar für ziemlich korrupt hielt. […] Markion wollte keinen normativen ,Kanon‘ urchristlicher Schriften im Sinne eines religiösen Textcorpus schaffen, kein Neues Testament neben das Alte stellen, sondern einen Text revidieren und als literarisches Corpus edieren, der in seinen Augen eine solche Revision nötig hatte“. 623 Vgl. C. DOHMEN, „Der eine Gott“, 56-57. Der Autor weist darauf hin, dass der Blick auf die Kanonisierung nicht allein auf das Neue Testament gerichtet werden darf, sondern dass die eine Bibel aus Altem und Neuem Testament in ihrer Entstehung betrachtet werden muss. 624 U. SCHMID, „Marcions Evangelium und die neutestamentlichen Evangelien. Rückfragen zur Geschichte und Kanonisierung der Evangelienüberlieferung“, in: G. MAY – K. GRESCHAT – M. MEISER (Hgg.), Marcion und seine kirchengeschichtliche Wirkung = Marcion and his impact on church history. Vorträge der Internationalen Fachkonferenz zu Marcion, gehalten vom 15.-18. August 2001 in Mainz, Berlin – Boston 2002, 67-77, 74.

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Gesetzgeber und gerechter Richter.625 Dabei darf Marcion aber nicht, wie es Tertullian im Anschluss an Jes 45,7 und Lk 6,43 tat, eine dualistische Götterlehre unterstellt werden, „als ob Markion zwei gleichrangige Götter vorbringt“.626 Irenäus hebt dagegen in Adv. haer. III 25,3 hervor, dass beide Götter in einer Verbindung miteinander stehen müssen, denn ansonsten würden sie sich gegenseitig das GottSein absprechen, indem sie gegenseitig göttlicher Attribute entbehren. Marcion geht es also nicht um eine Trennung von Schöpfungs- und Erlösungsordnung, sondern um eine Konkretisierung des Heils in Jesus Christus, den er aber vom Schöpfer trennt (vgl. Adv. Marc. IV 6,1-3). „Wenn das aber so ist,“ – folgert B. Aland – „dann sind Schöpfung und Erlösung auch für Marcion Stufen, scharf voneinander abgehobene Stufen, um die Fülle der Gottheit in ihrer letzten und höchsten Offenbarung angemessen zum Ausdruck bringen zu können“.627 625

Die Besonderheit und Geschlossenheit des marcionitischen Gesetzesverständnisses zeigt: W. A. LÖHR, „Die Auslegung des Gesetzes bei Markion, den Gnostikern und den Manichäern“, in: G. SCHÖLLGEN – C. SCHOLTEN (Hgg.), Stimuli. Exegese und ihre Hermeneutik in Antike und Christentum, FS für Ernst DASSMANN (= JAC 23), Münster 1996, 77-95, 80: „Die markionitische Interpretation des Gesetzes zeigt eine eindrucksvolle Konsequenz und Geschlossenheit. Sie konnte der sich im zweiten Jahrhundert formierenden großkirchlichen Orthodoxie deshalb so gefährlich werden, weil sie die Schwierigkeiten, die z.B. Heidnische oder philosophisch vorgebildete Leser mit dem Gesetz haben konnten, auf den radikalen Begriff brachte“; [in Folge: W. A. LÖHR, „Auslegung des Gesetzes“]. Siehe zur ptolemäischen Interpretation des Gesetzes, das dem des Marcion nahe steht, ebd. 80-84. 626 TERTULLIAN, Adv. Marc. I 6,1; in IV,6,1-2 spricht er dann von der daraus folgenden Opposition von Altem und Neuem Testament und von Jesus Christus, der nichts mit den Propheten zu tun hat. P. G. Verweijs sieht ebenfalls einen „tiefen Gegensatz“ zwischen den beiden Göttern Marcions. Er macht den Gegensatz so stark, da er daraus Marcions Lehre von Gesetz und Evangelium erklären will, die nicht biblisch und apostolisch verstanden werden könne, sondern nur aus dem „tiefen Gegensatz“ diese Lehre zu erklären sei. Es scheint, dass Verweijs damit das marcionitische Gottesbild überzieht. Vgl. P. G. VERWEIJS, Evangelium und neues Gesetz in der ältesten Christenheit bis auf Marcion (= STRT 5), Utrecht 1960, 249-250; [in Folge: P. G. VERWEIJS, Evangelium und neues Gesetz]. Siehe dazu auch mit weiteren Hinweisen aus Adv. Marc. W. A. LÖHR, „Auslegung des Gesetzes“, 78-80. 627 B. ALAND, „Sünde und Erlösung bei Marcion und die Konsequenz für die sog. beiden Götter Marcions“, in: G. MAY – K. GRESCHAT – M. MEISER (Hgg.), Marcion und seine kirchengeschichtliche Wirkung = Marcion and his impact on church history. Vorträge der Internationalen Fachkonferenz zu Marcion, gehalten vom 15.-18. August 2001 in Mainz, Berlin – Boston 2002, 147-157, 156; [in Folge: B. A LAND, „Sünde und Erlösung“]. S. Moll führt die Unterscheidung zwischen dem „bösen und guten Gott“ aufgrund von Affekten ein, wobei der „gute Gott“ des Neuen Testaments der „Trotz“ zum „bösen Gott“ des Alten Testaments ist. Damit wird die theologische Sicht des Neuen Testaments aus einer Negation des Alten Testaments gezogen und nicht aus einer paulinischen Prägung Marcions. S. Moll erklärt dabei aber nicht worin gerade die Affektivität des „Trotzes“ besteht. Vgl. S. MOLL, The Arch-Heretic Marcion (= WUNT 250), Tübingen 2010, 75-76.134; [in Folge: S. MOLL, The Arch-Heretic]. – Für eine paulinisch-lukanische Hermeneutik Marcions, die zwischen Marcion und den beiden

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Vorschnell kann die Lehre der beiden Götter auf ein gnostisches Weltbild zurückgeführt werden, das von einem intellektuellen, aber auch materiellen Dualismus ausgeht. Marcion dürfte zwar das gnostische Gedankensystem seiner Zeit gekannt haben und durch seinen Lehrer Kerdon damit vertraut gemacht worden sein, aber er implementiert nicht den starren Dualismus der Gnosis in seine Theologie, auch wenn Elemente und Schattierungen eines dualistischen Systems bei ihm festzustellen sind, die es erlauben, „bei Marcion von einer erheblich ,modifizierten‘ Gnosis oder zumindest von einer Häresie mit starken gnostischen Einflüssen zu sprechen“.628 Vielmehr versteht Marcion die beiden Götter als zwei Arten, wie sich Gott zur Welt und zum Menschen verhält. Ebenso wenig dürfen Schöpfung und Gesetz als dualistische Antipoden zum Evangelium der Erlösung verstanden werden. Diese Sicht unterstreicht zwar Tertullian in Adv. Marc. I 19,4; V 19, wenn er schreibt, dass die Trennung von Gesetz und Evangelium das eigentliche Werk Marcions sei, und diese in keiner Beziehung zueinander stünden. Schöpfung und Gesetz werden bei Marcion vielmehr als Verständnis und Haltung des Menschen neutestamentlichen Autoren geradezu eine „Affinität“ entstehen lässt, argumentiert dagegen P.-G. K LUMBIES, „Marcion als Paulus- und Lukasinterpret“, in: M. LANG (Hg.), Ein neues Geschlecht? Entwicklung des frühchristlichen Selbstbewusstseins, FS für Wilhelm PRATSCHER (= StUNT 105), Göttingen 2014, 101-121, 106; [in Folge: P.-G. KLUMBIES, „Paulus- und Lukasinterpret“]. Dabei unterstreicht Klumbies, dass bei allen drei Autoren der Gottesgedanke die zentrale Rolle in ihrem theologischen Denken spielt. Dabei übernimmt Marcion eine „retrospektive Interpretation“, die bei Paulus noch christologisch bestimmt war, bei Marcion enggeführt wird, um mit Paulus gegen das Alte Testament und das Judentum zu argumentieren (109). 628 D. SCHLEYER, „Einleitung“, 48. Zu Markion und Kerdon siehe den Beitrag G. MAY, „Markion und der Gnostiker Kerdon“, in: K. GRESCHAT – M. MEISER (Hgg.), Markion. Gesammelte Aufsätze (= VIEG 68), Mainz 2005, 63-73. Dabei weist der Autor darauf hin, dass die Quellenlage für die Lehre Kerdons spärlich ist und sich in der Darstellung bei IRENÄUS, Adv. haer. I 27,2-4 findet. Dabei dürfte es sich ausgehend von der Lehre Marcions um eine Rückprojektion auf Kerdon handeln. Das Anliegen des Irenäus ist es jedoch, Marcion und Kerdon in eine successio haereticorum des Simon Magus zu stellen. Auch ist bei TERTULLIAN, Adv. Marc. I 2,3; 22,10; III 21,1; IV 17,11 nicht mehr über die Lehre Kerdons zu finden, als was bei Irenäus schon dargelegt ist. Auch für P. G. Verweijs finden sich viele Parallelen der Lehre Marcions zur Gnosis, wobei er in seiner Untersuchung auch immer wieder auf die gravierenden Unterschiede beider Systeme hinweist. Vgl. P. G. VERWEIJS, Evangelium und neues Gesetz, 292-349, das sich zusammenfassen lässt in dem Satz: „Marcion zeigt das Lebensgefühl und die Lebenshaltung eines Gnostikers, aber in seinem Wesen ist er kein Gnostiker“ (344). Siehe auch die Gegenüberstellung Markions mit Gnostikern bezüglich der Gesetzesauslegung: W. A. LÖHR, „Auslegung des Gesetzes“, 80-93. – B. Aland sieht bei Marcion bei aller Nähe zur Gnosis auch die Unterschiede, gar eine „antignostische Tendenz“, da er Erlösung als Befreiung von der Welthaftigkeit und damit von der Schöpfung versteht und dies biblisch, nicht mythologisch begründet. Vgl. B. A LAND, „Versuch einer Neuinterpretation“, 305-307. – Die neuere Marcionforschung rückt Marcion wieder näher an die Gnosis als A. v. Harnack dies getan hat, für den Marcion eine extreme Paulusinterpretation vorgelegt hat.

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angesehen, der sich durch eine Art der Werkgerechtigkeit die Erlösung selbst zuspricht, denn nur das Evangelium Jesu Christi, der vom „fremden Gott“ vom Himmel gesandt und nicht aus Maria geboren wurde, schenkt die vergebende Liebe, die sich der Mensch nicht selbst erwirken kann und die ihm durch das Evangelium zugesprochen wird. Die Sünde darf dabei nicht dem „bösen Gott“ zugesprochen werden, als ob der Mensch von diesem Gott korrumpiert wäre. Es ist der Mensch als Sünder, der sich zum Gesetz und Evangelium verhält und vom Evangelium, also vom „fremden und guten Gott“, erlöst wird, indem der Mensch im und durch das Evangelium erst richtig erkennt, was Sünde ist.629 Diese Erlösung kann aber nicht bewiesen werden, sondern ist einzig im Glauben anzunehmen. Die Folge davon ist, dass das Erlösungshandeln Jesu Christi von der Geschichte getrennt ist und keine biblische bzw. theologische Kontinuität in der Offenbarung Gottes gedacht werden kann, was sich in der absoluten Absage an den Gott der Schöpfung und des Gesetzes ausdrückt.630 Der „fremde Gott“ steht in keiner geschichtlichen oder biblischen Kontinuität, da er nicht mit den Kategorien der Schöpfung beschrieben oder erfasst werden kann: Er ist in einer anderen Welt und er wird in der Schöpfung nicht sichtbar (Adv. Marc. I 14,2; 15,1-2). Marcion, als Schiffsbesitzer und Kaufmann wohlhabend, gehörte zunächst der Gemeinde in Rom an, die er auch finanziell unterstützte. Um 144/145 kam es jedoch zum Bruch mit der römischen Gemeinde. Marcion gründete seine eigene Kirche, wobei er nun vollends seine Lehre mit einer streng moralischen Ausrichtung entwickelte.631 Dabei ging es ihm weniger um eine eigene Lehre, als darum, die Wahrheit, die er in den zehn paulinischen Schriften und seinem Evangelium gefunden hatte, der ganzen Gemeinde vorzulegen. Dieses Anliegen hebt ihn auch von den Gnostikern ab, die neben den orthodoxen Schriften Geheimschriften verbreiteten und darin den Weg zur Erlösung sahen. Marcion suchte das reine Evangelium und den reinen Glauben an Jesus Christus ohne jüdische Elemente. Mit seinen Anhängern übernahm er zwar viel aus dem Leben der römischen Gemeinde, ist aber der 629

Vgl. B. ALAND, „Sünde und Erlösung“, 147-148. Definitorisch heißt es dann in 152: „Unglaube ist daher die genaue Definition für Sünde bei Marcion“. Von hieraus ist auch verständlich, warum Marcion von einem „fremden Gott“ spricht, da dieser nicht aus der Schöpfung erkannt werden kann. Die Sünde gehört zur Existenz des geschaffenen Menschen. Würde er über diese Schöpfung, der er angehört, Gott erkennen, so wäre der Erlöser-Gott nicht der reine, von Liebe gekennzeichnete Gott, da menschliche Erkenntnis diese Klarheit aufgrund des Geschaffenseins nicht rein erkennen könne und Schattierungen in das Gottesbild projektieren würde. Der „fremde Gott“ ist dem Menschen fern und unzugänglich und bedarf daher des Boten Jesus Christus. 630 Vgl. B. ALAND, „Marcion/Marcioniten“, 93. 631 Vgl. dazu G. MAY, „Markions Bruch mit der römischen Gemeinde“, in: K. GRESCHAT – M. MEISER (Hgg.), Markion. Gesammelte Aufsätze (= VIEG 68), Mainz 2005, 75-83.

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Überzeugung, der eigentlichen Wahrheit des Evangeliums und damit der Erlösung zu folgen. Aufgabe des Menschen ist es nach Marcion, sich gänzlich vom Gesetz zu lösen; Erlösung bedeutet, sich von der Welt zu lösen. Mit Paulus hält Marcion alle Menschen für völlig der Sünde ausgeliefert (vgl. Röm 3,23; 5,12-19), wobei er hierbei die paulinische Sündenlehre, wonach der Mensch aufgrund seines Geschöpf-Seins in die Sünde verstrickt ist, radikalisiert. Das ganze Leben seiner Gemeinde war ausgerichtet auf eine geistige und körperliche Haltung gegenüber dem Schöpfergott, was sich auch in der Ablehnung der Sexualität spiegelt, die als Auftrag durch den Schöpfer gesehen wurde und den Menschen von der Erlösung entfernt. Die strenge Askese der marcionitischen Gemeinde ist als Versuch zu verstehen, sich von der Schöpfung und dem Gesetz zu lösen und sich damit auch in Diskontinuität zur eigenen Geschichte zu setzen. Das Leben der marcionitischen Gemeinde war zwar von einem kirchlichen Leben geprägt, wie die orthodoxe Kirche es auch lebte, aber sie betonte dabei die Absetzung von der Schöpfung und ihrem Gott und den die Schöpfung und Gesetz bezeugenden Schriften, um sich ganz der neuen Ordnung der Erlösung einzufügen und aus der Unvollkommenheit der eigenen Geschöpflichkeit, die sich in der Sünde und der Nichterfüllbarkeit des Gesetzes zeigt, zu befreien.632 Konsequent denkt Marcion die Haltung des sündigen Menschen gegenüber dem Evangelium durch. Da sich der Mensch nichts von der Erlösung selbst zueignen kann, besteht die Erlösung als Auferstehung auch in einer absoluten Neuschöpfung. Es gibt keine ontologische Kontinuität zwischen geschaffenem Leib und auferstandener Seele (vgl. Irenäus Adv. haer. I 27,3). Als „böser Gott“ ist er der Gott des Gesetzes und der alttestamentlichen Schriften, als „guter Gott“ ist er der „fremde Gott“, der Jesus Christus als Erlöser schickt, der wiederum als Bote des Evangeliums und als Mensch erscheint. Wenn der „fremde Gott“ für Marcion nicht aus der Schöpfung zu erkennen ist, braucht es die absolute Botschaft und Offenbarung Gottes durch den Boten, der 632 Vgl. K.-H. MENKE, „Spielarten des Marcionismus“, 15: „Der Gläubige ist – wie Marcion im Anschluss an Paulus betont – zwar noch in dieser Welt, aber nicht mehr von dieser Welt. Und eben das beweist er durch seine Loslösung von leiblichen und innerweltlichen Bedürfnissen“. Zur marcionitischen Ethik siehe auch P. G. VERWEIJS, Evangelium und neues Gesetz, 267-273. Dass sich dieses asketische Erlösungssystem jedoch nicht lange halten konnte, kommentiert G. May lakonisch: „Allmählich verlor der Markionitismus sein intellektuelles Niveau. Die bloße Weltverneinung genügte nicht als Grundlage einer Kirche, und es fehlte an schöpferischen Impulsen“. G. MAY, „Markion/Markioniten“, 836. – W. A. Löhr zeigt in einem kurzen Federstrich auf, dass sich Marcion und seine Gemeinde in der antinomistischen Haltung im Zirkel der petitio principii befindet: „Jesus ist kein markionitischer, gnostischer oder manichäischer Antinomist. Und schließlich kann gerade eine antinomistische Theologie, die vom Pathos der Gesetzesfreiheit lebt, des Gesetzes als eines polemischen Bezugspunktes nicht entbehren“. W. A. LÖHR, „Auslegung des Gesetzes“, 95.

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zwar in die Schöpfung eintritt, sich aber nicht mit ihr identifiziert. Gottes Offenbarung ist daher ein Geschehen, das dem Menschen äußerlich in Jesus Christus gegenübertritt und das dieser nur im Glauben annehmen kann. Auch wenn die marcionitische Offenbarung und Christologie doketistisch erscheinen, muss doch unterstrichen werden, dass sich der „fremde Gott“ durch seinen Boten auf die Welt der Schöpfung einlässt und ihn nicht vor dem Kreuzestod bewahrt, sondern darin den Preis der Lösung von der Schöpfung gibt (vgl. Adv. Marc. II 27,2). Damit sprengt Marcion wieder das philosophische Denksystem der Gnosis und räumt seinem bibeltheologischen Denken den Primat ein, auch wenn er in der Offenbarung Gottes durch den Boten Jesus Christus einen geschichtlichen Neueinsatz eröffnet. Jesus Christus steht für Marcion im Zentrum seiner Theologie und seines Handelns. Er sucht nicht eine Verheißung in schriftlichen Quellen für den Boten des „fremden Gottes“, sondern die Schriften sollen explizit vom Boten der Erlösung sprechen. Das ist für ihn kanonisch und besitzt Autorität, was Christus eindeutig als Erlöser ausweist und bekennt.633 Sein Offenbarungsdenken überträgt Marcion auf die biblischen Schriften, trennt und teilt sie zum Schöpfergott und zum Erlösergott zugehörend auf. Die biblische Diskontinuität wird von ihm auch auf das Judentum und das Christentum übertragen, indem er die hebräischen Texte dem Judentum zuspricht, die darin im Gesetz dem Schöpfergott anhangen. Er möchte das Alte Testament nicht durch seinen Kanon ersetzen, da der Mensch, der dem Gesetz folgt, das Evangelium der Erlösung nicht aufnehmen kann. Alles, was einen positiven Bezug zu dem Gott des Gesetzes und dem „bösen Schöpfer“ hat, sieht er daher als eine Verunreinigung der Christengemeinden an; selbst die Apostel, besonders Petrus, hätten mit ihrer Verkündigung das reine Evangelium verunstaltet und es zu sehr in Bezug zur Schöpfung gesetzt und die Botschaft der reinen Liebe verdeckt. Somit kann er auch eine allegorische Auslegung des Alten Testaments nur ablehnen und es aufgrund einer wörtlichen Auslegung nur als eine Schrift des Judentums verstehen (vgl. Adv. Marc. III 6,2).634 In der Ablehnung der Allegorie ist auch ein wesentliches Merkmal gegeben, worin sich Marcion von der valentinischen Gnosis unterscheidet und absetzt, die das gesamte Alte Testament unter gnostischen Gesichtspunkten allegorisch auslegte und dort ihre Einführung in die Geheimlehre ansetzte. Der Schiffsreeder aus Pontus dagegen möchte die biblischen 633

Vgl. C. DOHMEN, „Markionismus und Markion“, 189-191. Vgl. S. MOLL, The Arch-Heretic, 78-83. „Marcion did not understand the Old Testament in the light of the New, he interpreted the New Testament in the light of the Old“ (82; Hervorhebung im Original). Die Interpretation muss aber als ein Akt der Absetzung verstanden werden, indem das Alte Testament als Verdunkelung des reinen Evangeliums erscheint.

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Texte als öffentliche Texte verstanden wissen, da sie das Angebot der Erlösung für alle Menschen sind und damit offen und ohne Geheimlehre verstanden werden müssen, entgegen den Valentinianern, die meinen, die Schrift korrigieren zu müssen.635 Letztlich hält Marcion somit am wörtlichen Maßstab der Schrift fest, was zur Folge hat, dass er das, was er mit einer wörtlichen Exegese nicht erklären kann, aus seinem Schriftkanon streicht. Marcion arbeitet als Exeget und nicht als Systematiker, weshalb seine Exegese der hebräischen Schriften auch seine Theologie bestimmt. Somit ist es in seiner Theologie nur konsequent, wenn er alle genuin christlichen Schriften, die sich positiv auf den „bösen Schöpfergott“ und dessen Schriftzeugnisse beziehen, selektiert und die verbleibenden Schriften reinigt, so dass er nur noch einen Schriftenkanon von einem gekürzten Lukas-Evangelium und zehn Paulusbriefen kennt.636 Tertullian berichtet, dass die Antithesen einen Zusatz zu den biblischen Texten darstellen und als Leseschlüssel für seinen Schriftkanon gelten können, indem durch sie das Gesetz vom Evangelium getrennt werde (vgl. Adv. Marc. IV 1,1). Dabei reinigt er die übernommenen Schriften, die seinem theologischen Denken nach die kanonischen Texte zu sehr an das Gesetz und an die Schöpfung binden, um das reine Evangelium des „fremden Gottes“ in der Verkündigung nahe zu bringen. Auffallend ist dabei, dass Marcion keinen systematischen Anspruch auf seine Redaktion erhebt. Er 635 Vgl. TERTULLIAN, De praescriptione haereticorum - Vom prinzipiellen Einspruch gegen die Häretiker (= FC 42), übers. und eingel. v. SCHLEYER, Dietrich, Turnhout 2002, 30,11; 37; [in Folge: TERTULLIAN, praescr.] Vgl. zu praescr. G. D. DUNN, „Tertullian’s Scriptural Exegesis in de praescriptione haereticorum“, JECS 14 (2006) 141-155; [in Folge: G. D. DUNN, „Tertullian’s Scriptural Exegesis“]; besonders den Kommentar zu praescr. M. VINZENT, Tertullian’s Preface, 36-254. 636 Vgl. zum marcionitischen Kanon A. V. Harnack, Marcion, 177*-255*; U. SCHMID, Marcion und sein Apostolos. Rekonstruktion und historische Einordnung der marcionitischen Paulusbriefausgabe (= ANTT 25), Berlin – New York 2012, 284-308; [in Folge: U. SCHMID, Marcion und sein Apostolos]. Auch J. D. BEDUHN, The First New Testament. Marcion’s Scriptural Canon, Salem 2013, 63-259; K. BACKHAUS, „Markion und die Apostelgeschichte. Ein Beitrag zum Werden des Kanons“, in: M. LABAHN (Hg.), Spurensuche zur Einleitung in das Neue Testament. Eine Festschrift im Dialog mit Udo Schnelle (= FRLANT 271), Göttingen – Bristol 2017, 213-228; [in Folge: K. BACKHAUS, „Markion und die Apostelgeschichte“]. Oft wird dennoch auf eine Doppelstruktur des marcionitischen Kanons hingewiesen, indem den biblischen Schriften die Antithesen Marcions beigefügt werden, in denen er thematische Gegensätze von Altem und Neuem Testament behandelt. Umstritten ist dabei, ob die Antithesen das systematische und gedankliche Fundament für die marcionitische Gemeinschaft war oder nicht. Vgl. dazu S. MOLL, The Arch-Heretic, 107-120. U. Schmid weist auch darauf hin, dass die Ablehnung der Allegorie nicht aus den marcionitischen Antithesen abgeleitet werden kann, da es in der Antike eine gängige Methode war, die Gegenposition wörtlich zu nehmen und dadurch zu desavouieren. Gleichzeitig kannten aber die Autoren dieser Epoche die Allegorie und praktizierten diese auch. Vgl. U. SCHMID, Marcion und sein Apostolos, 257-258.

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intendiert lediglich, dass die Zusammenstellung frei sei von Judaismen und Bezügen zur Schöpfung oder zu einer Schöpfungsmittlerschaft Christi. Richtmaß ist für ihn der Anspruch des einen und reinen Evangeliums, von dem Paulus in Gal 1,6-11 spricht und das er als das eine und wahre Evangelium ansieht. Der Anspruch Marcions ist dabei, Lukas theologisch besser verstehen und Paulus allein durch paulinische Schriften interpretieren zu wollen.637 Da er die Selbstwidersprüche in ihren Schriften herausnimmt, demonstriert er die Überlegenheit des Erlösergottes gegenüber dem Schöpfergott, weil sich in ihm die absolute Güte ausdrückt, die nur in Freiheit und im Glauben angenommen werden kann. Das theologische Anliegen Marcions ist es daher nicht, etwas Neues schaffen zu wollen, sondern den geschichtlichen Ursprung wiederzufinden, den er in den ersten Generationen der nachapostolischen Zeit als verdeckt und verzerrt empfindet. Sein biblisches Anliegen der Kontinuität mit der ursprünglichen Verkündigung des Evangeliums hat er aber um den Preis der absoluten Diskontinuität erkauft. Ein besonderes Problem stellt im marcionitischen Kanon die Übernahme des Lukasevangeliums dar. Damit ist die Frage verbunden, ob Marcion als Auslöser für die Kanonisierung eines christlichen Kanons angesehen werden muss oder ob sich das Christentum im Übergang von der apostolischen Zeit als eine konstituierte und anfanghaft konsolidierte Gemeinschaft entwickelt hat. Hat Marcion auf eine lukanische Version des Evangeliums zurückgegriffen, so wie A. v. Harnack mit Irenäus ausgeht, oder ist das Lukasevangelium eine antimarcionitische Redaktion, wie sie von M. Klinghardt stark gemacht wird? Es bleibt aber dann zu fragen, worauf Marcion zurückgegriffen hat bzw. ob sein Text der ursprüngliche Text ist oder ob er selbst eine Redaktion eines ursprünglichen Evangelientextes vorgenommen hat. M. Klinghardt vertritt im Anschluss an A. Ritschl und F. C. Baur die These, dass das lukanische Doppelwerk als eine antimarcionitische Redaktion zu lesen ist. Dies sieht er bereits bei Tertullian vorgezeichnet, wenn er schreibt: „Die von Tertullian mitgeteilte Kritik der Marcioniten am kanonischen Evangelium zielte auf die kanonische Bibelausgabe aus Altem und Neuem Testament. Sie setzt daher voraus, dass die Textdifferenzen zwischen Mcn [Marcion; Anm. d. Verf.] und Lk erweiternde Interpolationen darstellen, die 637

Vgl. die Interpretation Tertullians von Gal 6,14 durch 1 Kor 1,21 in Adv. Marc. V 5,4,14 und V 5,7. Siehe dazu auch U. SCHMID, Marcion und sein Apostolos, 259. Bedenkenswert bleibt auch die Bewertung M. Klinghardts bzgl. der Folge der marcionitischen Auseinandersetzung und Schriftinterpretation: „In der Auseinandersetzung mit Marcion hat die entstehende Kirche vor allem die Korrelation von Schrift und Theologie gelernt: Dass legitime Theologie nur als Schriftauslegung möglich ist, ist Marcions bleibendes Erbe“, M. KLINGHARDT, Das älteste Evangelium, 392 (Hervorhebung im Original).

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im Zuge der Komposition der zweiteiligen Bibel an dem älteren Evangelium vorgenommen wurden, das Marcion und seine Anhänger benutzten. Diese Deutung von Tert. 4,4,4 setzt also die Mcn-Priorität vor Lk voraus. Für sie spricht zunächst, dass sie den zentralen Text, an dem sich die These der marcionitischen Interpolationskritik festmacht, besser erklärt als diese“.638

Die Lukaspriorität ist demnach ein Argument der Häresiologen gegen Marcion, um gegen eine marcionitische Schriftsammlung zu argumentieren, die dem kanonischen Evangelium voraus liege. Besonders der Beginn, die Kindheitserzählung und der Schluss des Lukasevangeliums, aber auch die besondere Wertschätzung des Judentums, sollen diese These stützen.639 Die lukanische Redaktion habe demnach das Evangelium und die Apostelgeschichte mit Lukas namentlich identifiziert und es autoritativ gegen Häresiarchen abgesichert (vgl. Lk 1,1: „schon viele haben es unternommen“). Auffällig ist für M. Klinghardt, dass bei Tertullian viele alttestamentliche Zitate fehlen, die er eigentlich erwähnen müsste, wenn er gegen eine Reinigung seitens Marcion argumentieren würde.640 Geht man von einer Marcionpriorität aus, dann hätte dies nicht nur Folgen für eine Neubewertung der Zwei-Quellen-Theorie, sondern es müsste auch darüber nachgedacht werden, wie die ersten Christen mit den hebräischen Schriften umgingen. Kennt das Lukasevangelium eine Vielzahl von Verankerungen und Verzahnungen mit den hebräischen Schriften und führt sie als Autoritätsbeweis an, um sich damit auch bewusst in die Kontinuität des Heilshandelns Gottes zu stellen, so fehlen diese bei Marcion bzw. bei der vorkanonischen Version, die 638

M. KLINGHARDT, Das älteste Evangelium, 139. Gegen die These von M. Klinghardt, die er bereits in seinem Beitrag „Markion vs. Lukas: Plädoyer für die Wiederaufnahme eines alten Falles“, NTS 52 (2006) 484-513 darstellte, argumentieren für die Lukaspriorität C. M. HAYS, „Marcion vs. Luke. A Response to the Plädoyer of Matthias Klinghardt“, ZNW (2008) 213-232; F. WATSON, „Reception as Corruption. Tertullian and Marcion in Quest of the True Gospel“, in: J. HØGENHAVEN – J. TANG NIELSEN – H. OMERZU (eds.), Rewriting and Reception in and of the Bible (= WUNT 396), Tübingen 2018, 271-287. Siehe auch gegen eine antimarcionitische Ausrichtung der Evangelienprologe, jedoch mit einer Spätdatierung der Prologe im 4. Jahrhundert: J. REGUL, Die antimarcionitischen Evangelienprologe (= AGLB 6), Freiburg i. Br. 1969, zusammenfassend 75-94,266-267. 639 Vgl. M. KLINGHARDT, Das älteste Evangelium, 142-174. Vgl. auch die Zusammenfassung der Studie ebd. 351-392, die in dem Satz zusammenzufassen ist: „Lk ist literarisch direkt von Mcn abhängig“ (357) (Hervorhebung im Original). B. Aland geht dagegen davon aus, dass es eine Lukas-Priorität gibt, auf die Marcion zurückgreift, wenn sie schreibt, dass Marcion von Paulus (Gal 1,6-7) erfährt, dass er ein schriftliches Evangelium habe, das Marcion in seiner Ursprünglichen Form haben wollte; offen bleibt für B. Aland, warum Marcion sich dabei nur auf das Lukas-Evangelium stützt. Vgl. B. A LAND, „Marcion/Marcioniten“, 91-92. 640 Vgl. M. KLINGHARDT, Das älteste Evangelium, 149-159. Siehe auch DERS., „Markion vs. Lukas“, 499-508.

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Marcion benützt, vollkommen. Es stellt sich dann die Frage, ob dies nur aus der marcionitischen Theologie heraus zu erklären ist oder ob sich darin nicht doch auch eine Absetzung des jungen Christentums vom Judentum erkennen lässt. Dagegen macht K. Backhaus eine Lukas-Priorität stark, sowohl das Evangelium als auch die Apostelgeschichte betreffend. Bereits Tertullian geht von einer Lukaspriorität aus, indem er Lukas in die Reihe der Apostelschüler einreiht und davon eine synchrone Kontinuität des Lukasevangeliums mit der Ursprungszeit Jesu ableitet. Marcion könne dies dagegen für „sein Evangelium“ nicht beanspruchen, da aufgrund fehlender Autorenangabe die Historizität nicht festgemacht werden könne (Adv. Marc. IV 2,2-3). Anhand der Apostelgeschichte zeigt K. Backhaus auf, dass dem lukanischen Werk jegliche theologische Auseinandersetzung mit der marcionitischen Theologie fehlt. Wäre das Evangelium und die Apostelgeschichte eine antimarcionitische Redaktion, so müssten sich dezidierte Anspielung auf die Trennung in einen Schöpfer- und Erlösergott, auf eine voneinander getrennte Sünden- und Gnadentheologie oder eine Auseinandersetzung mit der marcionitischen Christologie und Eschatologie finden. Auch bleibt in der Darstellung M. Klinghardts offen, warum eine antimarcionitische Schrift nicht die apokryphen Schriften rezipiert hat und sich kein Hinweis auf diese Schriften findet, die auch in einer antimarcionitischen Lesart bewertet werden könnten. Selbst die starke Kontinuität zum Judentum spricht nicht gegen eine Redaktion eines marcionitischen Evangeliums, da sich auch bei Lukas Diskontinuitäten zum Judentum finden lassen, die einer antimarcionitischen Ausrichtung nicht dienlich wären.641 Auch vermeidet Lukas semitische Ausdrücke und interessiert sich wenig für kultische Fragen. Doch gerade daraus hätte eine lukanische Redaktion von Marcion Potential schlagen können. Irenäus und Tertullian sehen in der Verbindung von Evangelium und Apostelgeschichte unter dem einen Autor Lukas bereits das Argument gegen die marcionitischen Anfragen, indem sie eine heilsgeschichtliche Perspektive von der JesusZeit über die apostolische Generation in die Zeit der Gegenwart einführen. „Abermals dient das Opus Lucanum“ – so K. Backhaus – „der Herkunftsmimesis, doch in heilsgeschichtlicher Rochade wird der einstige Zielpunkt – Paulus – jetzt zum Ausgangspunkt: Sein Evangelium ist apostolisch ausgerichtet und eingebunden“.642 Argumentiert Marcion in seiner Theologie, sei es Christologie, 641

Vgl. K. BACKHAUS, „Markion und die Apostelgeschichte“, 224-225. Auch Tertullian argumentiert mit einer theologischen Kontinuität, die er als Altersbeweis versteht, indem der Lüge die Wahrheit vorausgehen muss. Vgl. Adv. Marc. IV 4,1-3 und TERTULLIAN, praescr. 30,9-12; 31,1-4; 38,6. 642 K. BACKHAUS, „Markion und die Apostelgeschichte“, 226.

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Soteriologie, Ethik oder Eschatologie, rein in der Kategorie der Diskontinuität, so unterstreichen die Häresiologen die Kontinuität der Heilsgeschichte, indem sie die Schriften an die Ursprungszeit und an Jesus rückbinden. Um das heilsgeschichtliche Argument stark zu machen, müssen die biblischen Schriften, besonders die Evangelien in einer solchen Form etabliert sein, so dass dieses Argument verstanden und weiter gegen Marcion tradiert werden kann. Spricht Irenäus in Adv. haer. III 11,8 bereits die Viergestalt der Evangelien an, die vom einen und selben Geist Gottes gegeben seien, so müssen die vier Evangelien schon vor Irenäus in einer frühen kanonischen Form vorgelegen und als solche akzeptiert gewesen sein. Der Bischof von Lyon schreibt sein drittes Buch während des Pontifikats des Eleutheros (vgl. Adv. haer. III 3,3), das um 175-189 anzusetzen ist,643 so dass zu Marcion ein Abstand von nur rund drei Jahrzehnten gegeben ist. Es ist fraglich, ob dieser Abstand ausreicht, um in einer antimarcionitischen Redaktion die vier Evangelien zu etablieren. So ist weiterhin von der Lukaspriorität auszugehen, auch wenn der Ansatz von M. Klinghardt interessante und bedenkenswerte Anstöße für die kanonische Diskussion bietet.644 Marcion reinigt die Paulusbriefe und das Lukasevangelium, da er sich in einer direkten Linie dieser Theologen sieht und sie zu ihrer Ursprungsgestalt zurückführen möchte. Sieht er besonders bei Lukas die Zentrierung auf den transzendenten Gott gegeben, die seinem theologischen Denken des „fremden Gottes“ nahesteht, so schlägt jedoch seine Theologie durch eine Engführung der paulinischen Christologie von Ablehnung in Abgrenzung um, die bei Paulus nicht in der Form zu finden und zu begründen ist wie bei Marcion, was darauf hinweisen dürfte, dass Marcion seine theologische Hermeneutik teilweise mit der philosophischen Hermeneutik der Gnosis anreicherte. Argumentiert Paulus theologisch mit den Begriffen Gesetz und Gnade, Schöpfung und Erlösung, um sie in eine christologische Spannung zu versetzen, so überspannt Marcion den Bogen und gleitet mit seinem Denken in die Entgegensetzung der Begriffe; aus einer christologischsoteriologischen Spannung wird eine christozentrische Spaltung, wobei Gesetz und Schöpfung als Kontrastfolie angesehen werden können. Ähnliches lässt sich auch an seiner bibeltheologischen Hermeneutik erkennen, wenn er die Allegorie des Paulus wörtlich auffasst und die allegorische Diskontinuität des Apostels als geschichtliche Diskontinuität wertet und damit das Alte Testament geschichtlich ablehnen 643 Vgl. N. BROX, „Einführung in Adversus Haereses“, in: IRENÄUS VON LYON, Epideixis, Adversus haereses – Darlegung der apostolischen Verkündigung, Gegen die Häresien (= FC 8,1), übers. und eingel. v. N. BROX, Freiburg – New York 1993, 101; [in Folge: N. BROX, „Einführung“]. 644 Vgl. zur Kritik an einer marcionitischen Priorität auch S. MOLL, The Arch-Heretic, 89102.

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muss, da es ihm nicht gelingt, die allegorisch-typologische Kontinuität in der paulinischen Exegese aufzunehmen und in sein theologisches Denken zu integrieren.645 2.

Irenäus von Lyon und die regula veritatis

Irenäus von Lyon verfolgt mit seinem Werk Adversus haereses das Anliegen, die Wahrheit des Glaubens darzustellen und gegen die Anfragen der Gnosis zu verteidigen. Dabei greift er auf die Bibel als grundlegende Autorität zurück, da sie für ihn die volle Wahrheit enthält. Es ist wohl nicht übertrieben, wenn N. Brox schreibt: „Der Streit um die Wahrheit führte zum Streit um die Bibel“.646 Die Erkenntnis der Wahrheit ist für Irenäus nicht den Gnostikern vorbehalten; im Gegenteil: Er sieht die Wahrheit für alle zugänglich, da die Wahrheit aufgrund des geschichtlichen Handelns Gottes von Beginn der Schöpfung an evident ist und sich auf das Heil des Menschen bezieht.647 Dass die Frage nach der Wahrheit auch streng an eine Schrifthermeneutik gebunden ist, ist Irenäus bewusst, weshalb er in seinem Werk grundlegende Auslegungskriterien aufnimmt. Für ihn sind alle biblischen Schriften Wort Gottes und enthalten die Wahrheit, da sie in der Kirche ausgelegt werden, die Garant für die treue Überlieferung ist (vgl. Adv. haer. V 20,1-2). Sie sind in ihrer Harmonie Zeugnis für den einen Gott, da die Schrift „Richtschnur der Wahrheit selbst und das in aller Klarheit vorliegende Zeugnis von Gott“ (Adv. haer. II 28,1) ist. Die Wahrheit findet sich in allen biblischen Schriften, da alle Schriften „als Richtschnur (Kanon) die Wahrheit selbst“ sind (vgl. Adv. haer. I 9,4.10,1; II 28,1).648 Die Wahrheit in den Schriften hat dann aber auch Konsequenzen für die Auslegung, da die regula veritatis den inneren Zusammenhang der Schriften wahrt (Adv. haer. I 8,1). Der Exeget muss sich deshalb an die Schriften halten und sie in der Einheit und Kontinuität ihrer Tradition verstehen.

645

Vgl. P.-G. KLUMBIES, „Paulus- und Lukasinterpret“, 112-113: „Der ,reine‘ Gottesbegriff, der den Vater Jesu Christi ungebrochen als den Gott der Liebe feiert, ist um den Preis erkauft, dass die innere Spannung im Gottesbegriff extrapoliert und in das Zerrbild des dem Vater Jesu Christi feindselig gegenüber stehenden Gottes Israels ausgelagert wird“. Siehe auch B. ALAND, „Marcion/Marcioniten“, 93. Zur paulinischen Allegorie siehe U. SCHMID, Marcion und sein Apostolos, 259-260. 646 N. BROX, „Die biblische Hermeneutik des Irenäus“, ZAC 2 (1998) 26-48, 26; [in Folge: N. BROX, „Biblische Hermeneutik“]. 647 Vgl. N. BROX, „Einführung“, 101-117, 102-103. N. Brox spricht von „FormalPrinzipien“, die Irenäus entwickelt, um die Wahrheit zu erfassen, da „Gott und seine Mitteilbarkeit […] für ihn ein Datum, kein Problem“ sind. 648 Zum Kanonbegriff bei Irenäus vgl. H. OHME, Kanon ekklesiastikos. Die Bedeutung des altkirchlichen Kanonbegriffs (= AKG 67), Berlin – New York 1998, 61-77; [in Folge: H. OHME, Kanon ekklesiastikos].

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Ursprung der Schrift ist Gott und seine Wahrheit, die in der Kirche verkündet wird (vgl. Adv. haer. IV 26,2). Für den antignostischen Theologen ist und bleibt die Schrift an die Kirche gebunden (vgl. Adv. haer. III 4,1), da die Kirche die regula veritatis (Adv. haer. I 9,4) für die Schriftauslegung ist (Adv. haer. II 28,1). Interessant ist dabei, dass Irenäus die Allegorie ablehnt, da die Schrift an sich bereits wahr sei (vgl. Adv. haer. V 35,2). Dagegen ist die Allegorie ein Instrument der Willkür, da sie über die Wahrheit Gottes hinausgeht. Schwierige oder unverständliche Stellen der Schrift können nicht durch eine exegetische zweite Deutung gelöst werden (vgl. Adv. haer. II 10,1), da diese nur zu einer anderen Gottesvorstellung und Wahrheit führt als sie in den biblischen Worten dargestellt ist. Es ist die regula veritatis als Inbegriff der geoffenbarten Wahrheit, die der Verkündigung und der Schriftauslegung ihre Autorität gibt, ohne durch einen hermeneutischen Kunstgriff, wie bei der Allegorie, diesen Anspruch herauszuarbeiten. Die Schrift ist in Verbindung mit der regula veritatis das Zeugnis der Offenbarung und braucht nicht erst in einem gnostischen Erkenntnisvorgang entschlüsselt, ja entzaubert werden. Irenäus entwickelt damit eine erste kanonische Schriftauslegung, wenn er davon spricht, dass das „deutlich Gesagte“ die schwierigen Stellen auflöst (Adv. haer. II 28,1-3).649 Die Wahrheit der Schrift ist daher suffizient und als solche im Literalsinn zu erkennen, insofern er sich auf die Heilsbedeutung des Menschen bezieht. Was für den Menschen und sein Heil nicht notwendig ist, kann und braucht der Mensch nicht in der Schrift zu erfragen (vgl. Adv. haer. II 27,1-3). Damit setzt Irenäus die Suffizienz der Schrift in Beziehung zur regula veritatis, die sich beide gegenseitig bedingen und stützen. Die Auslegung der Schrift ist an sich selbst und an die regula veritatis gebunden, die durch die Tradition der Kirche vermittelt wird (Adv. haer. III 4,1; IV 26,5). In der Verankerung der Schriftauslegung in der Einheit der Tradition mit der Kirche und der Schrift gelangt der Exeget zur „wahren Gnosis“, die für Irenäus der eigentlichen Schriftauslegung nochmals vorausliegt.650 Obwohl Irenäus die Schrift für suffizient hält, setzt er dennoch die Tradition der Kirche und die 649 Dass Irenäus bei aller Ablehnung der Allegorie selbst allegorisch arbeitet, zeigt N. BROX, „Biblische Hermeneutik“, 31-33 und weist nach, dass Irenäus vom Ziel der Allegorie her denkt. Entspricht eine Allegorie der Wahrheit, so ist sie legitim; abgelehnt werden muss sie, wenn sie die Lehre der Gnostiker stützt: „Man wird sich das so erklären müssen, daß Irenäus die Allegorese akzeptiert, wenn sie in der Kirche entworfen wird bzw. aus seiner eigenen Hand stammt, denn dann ist durch die richtige Umgebung der richtige Sinn gesichert und darf als konkurrenzlos wie der Literalsinn gelten, nur muß man damit sachgemäß umgehen“ (33). 650 Vgl. N. BROX, „Biblische Hermeneutik“, 37-40. Vgl. auch DERS., „Einführung“, 106, wo der Autor die Tradition als „wirklich entscheidende Instanz in der Theologie des Irenäus“ bezeichnet.

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regula veritatis als Bedingung des rechten Schriftverständnisses voraus. Erst damit ist volle Erkenntnis der Wahrheit möglich: „Die wahre Gnosis (Erkenntnis) ist die Lehre der Apostel und der Glaube der Kirche in seiner Gesamtheit seit alters her auf dem ganzen Erdkreis; das unterscheidende Kennzeichen des Leibes Christi liegt in der Aufeinanderfolge der Bischöfe, denen die Apostel die jeweiligen Ortskirche übertragen haben. Dieses Bewahren gibt es bei uns bis heute, ohne daß dabei Schriften gefälscht werden; in vollem Umfang wird ausgelegt, nichts hinzugefügt und nichts weggelassen; hier werden die Schriften unverfälscht gelesen und entsprechend erklärt, legitim und genau, ohne Risiko und ohne Blasphemie; vor allem aber gibt es hier das Geschenk der Liebe, das wertvoller ist als Gnosis, rühmlicher als Prophetie und alle anderen Charismen überragt“.651

Bleibt auf den ersten Blick offen, was neben der regula veritatis die konkrete Bedingung der Schriftauslegung ist und welchen Mehrwert sie der eigentlichen Suffizienz der Schrift bringt, so zeigt sich dies in der Harmonie der Evangelien, wenn sogar die Häretiker mit den Evangelien ihre Irrlehren zu beweisen versuchen (vgl. Adv. haer. III 11,7). Die Bedingung der Schrift durch Tradition und regula veritatis ist der Gedanke der Kontinuität des Ursprungs der Verkündigung bis in die Gegenwart, die durch die apostolische Nachfolge garantiert wird. Die Gnostiker finden in ihrer Auslegung zu einer anderen Wahrheit, die nicht vom Glauben der Kirche und der Tradition gedeckt ist. Damit stehen sie aber nicht mehr in der Harmonie der Wahrheit und der Kontinuität der Geschichte. „Schrift und Glaubensregel“ – so N. Brox – „sind durch ihre gleiche Herkunft als Wort Gottes durch Moses, als Wort Christi durch die Apostel und als Predigt der kirchlichen Presbyter miteinander ein und dasselbe“.652 Die Schrift ist bei Irenäus also nicht eine starre, sondern eine geschichtliche Größe, die durch die Überlieferung in der Erinnerung ihren Lebensgeist bekommt. In der lebendigen Verkündigung der Kirche bleibt der Jesus-Ursprung lebendig und wird zum tragenden Element der Auslegung, wobei Irenäus die lebendige Verkündigung nicht nur mit der apostolischen Nachfolge verbindet, sondern in eins setzt: Die Kirche kann nur das apostolische Kerygma verkünden.653 Wird von Irenäus in 651

Adv. haer. IV 33,8. Vgl. auch A. BENGSCH, Heilsgeschichte und Heilswissen. Eine Untersuchung zur Struktur und Entfaltung des theologischen Denkens im Werk „Adversus haereses“ des Hl. Irenäus von Lyon (= EThSt 3), Leipzig 1957, 59; [in Folge, A. BENGSCH, Heilsgeschichte und Heilswissen]. Danach ist die Glaubensregel Norm der Schriftauslegung, insofern die Glaubensregel die Zusammenfassung der wichtigsten Schriftaussagen ist und die Grundlehren des Evangeliums aufnimmt (vgl. Adv. haer. III 11,7). 652 N. BROX, „Biblische Hermeneutik“, 39. 653 Vgl. K. BACKHAUS, „Markion und die Apostelgeschichte“, 226-227: „Markion hatte die Paulusbriefe, allen voran Gal, vertieft durch das (paulinische) evuange,lion, als

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Auseinandersetzung mit den Gnostikern das Moment der Tradition stark gemacht, dann ist dies nicht anders als in der Kontinuität vom Anfang der Schöpfung her zu verstehen (vgl. Adv. haer. II 9,1), da in der Kontinuität der Geschichte die Kontinuität der Verkündigung offenbar wird. Jedoch wird erst in der Kontinuität der Verkündigung, die das apostolische Kerygma zum Inhalt hat, die gesamte heilsgeschichtliche Kontinuität verständlich, indem darin die Bedeutung der Geschichte als Ort des Heils für den Menschen sichtbar wird, da die apostolische Tradition durch das Wirken des Hl. Geistes die volle Wahrheit beinhaltet (vgl. Adv. haer. III 3,1). Da Irenäus die Tradition als geschichtliche Kontinuität versteht, kann er die Entwicklung vom Alten zum Neuen Testament in seinen heilsgeschichtlichen Gesamtentwurf integrieren und ihr einen Platz im Gesamtentwurf der Geschichte zuweisen. Die Einheit der Schrift steht in direktem Bezug zur Wahrheit, da sich die Wahrheit als hermeneutisches Prinzip in der einen Schrift aus Altem und Neuem Testament niederschlägt und zeigt, dass es ein Gott ist, der die Schöpfung und Erlösung wirkt und in beiden Testamenten als dieser bezeugt wird. Aufgrund der Einheit von Welt und Geschichte, von Schöpfung und Erlösung ist bei Irenäus nicht nur eine geschichtliche, sondern auch eine ontologische Kontinuität Gottes in Jesus Christus, aber auch des Menschen in seiner Erlösung auszumachen, da Christus als neuer Adam die Entwicklung der Menschen in sich zusammenfasste (vgl. III 21,10). In der avnakefalai,wsij/recapitulatio ist die ganze Geschichte und damit auch die ganze Wahrheit umfangen, da Christus darin „den Anfang mit dem Ende [verband] und […] Herr beider (Testamente) [ist]“ (Adv. haer. IV 34,4). Die recapitulatio, die er mit der Adam-Christus-Typologie verbindet (vgl. Adv. haer. III 21,10; V 16,3.19,1.23,2) und worin er nicht nur den einzelnen Menschen, Referenzbasis benutzt. Irenäus verortet die Briefe wie die Evangelien im Gedächtnisgemälde der Apg und rekontextualisiert so die Bezugstexte in der verbindlichen apostolischen Herkunftsmimesis. Mit dem neuen Kontext legt er die Verstehensprämissen ihrer Lektüre fest. Apg bestimmt, was aus Evangelium und Apostolikon notwendig werden muss. Der Jesus-Bios schwebt nicht (wie bei Markion) im literarisch freien Raum, sondern mündet geradezu natürlich in die apostolische Verkündigung. Die Briefliteratur wird nicht (wie bei Markion) mit unmittelbarem Urteil ausgelegt, sondern in der durch Apg ausgerichteten Perspektive. Die acta apostolorum werden zur praeambula fidei“. D. Wyra unterstreicht, dass die ganze Theologie des Irenäus auf die Verkündigung und damit auf das Heil der Menschen ausgerichtet ist. Vgl. D. WYRA, „Kosmos und Heilsgeschichte bei Irenäus von Lyon“, in: DERS. (Hg.), Die Weltlichkeit des Glaubens in der Alten Kirche, FS für Ulrich WICKERT (= BZNW 85), Berlin – New York 1997, 443-480, 450. Vgl. dazu auch A. BENGSCH, Heilsgeschichte und Heilswissen, 62-74. A. Bengsch unterstreicht dabei, dass nur über die apostolische Verkündigung die Oikonomia Gottes zu erkennen ist, indem die Apostel in die ganze Wahrheit eingeführt sein müssen, da nur darin eine wahrheitsmäßige Betrachtung der Geschichte möglich sei, in der Christus die Mitte bilde.

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sondern die ganze Menschheit verstanden wissen will,654 ist für ihn die gedankliche Bedingung, die Einheit zweier unterschiedlicher Bereiche zu denken und zusammenzuführen, indem die Inkarnation des Wortes Gottes in Jesus Christus die Voraussetzung dafür ist, da in ihm Gott und Mensch ein Fleisch werden (vgl. Adv. haer. I 10,3). Jesus Christus ist die recapitulatio der Geschichte, da er die Geschichte bereits in sich aufgehoben hat, in dieser Aufhebung aber die Einheit dieser Geschichte durchschreiten kann. Protologie und Eschatologie stehen einander nicht mehr wie bei Marcion oder den Gnostikern als Kontrastfolien gegenüber, sondern bilden die eine Heilsgeschichte, in der die Einheit beider Testamente eingeschrieben ist, da, indem sie christologisch verankert ist, gerade in dieser Einheit die Wahrheit Gottes liegt.655 Die 654

Vgl. zur Adam-Christustypologie mit weiteren Angaben: T. ONUKI, „Rekapitulation und Heilsgeschichte bei Irenäus“, in: Heil und Erlösung. Studien zum Neuen Testament und zur Gnosis (= WUNT 165), Tübingen 2004, 331-385, 332-337; [in Folge: T. ONUKI, „Rekapitulation und Heilsgeschichte“]. 655 K. Greschat argumentiert gegen eine heilsgeschichtliche Interpretation der recapitulatio, in der es eine geschichtliche Entwicklung Gottes geben würde; er sieht darin die Wiederherstellung des prälapsaren Zustandes der Schöpfung. Nicht Gott entfaltet sich in der Geschichte, sondern der Mensch, indem sie Irenäus dahingehend interpretiert, dass dieser den Menschen von seiner Vollendung als Abbild Gottes her versteht. Vgl. K. GRESCHAT, „Selbstentfaltung Gottes in der Geschichte bei Irenäus von Lyon“, in: M. DELGADO – V. LEPPIN (Hgg.), Gott in der Geschichte. Zum Ringen um das Verständnis von Heil und Unheil in der Geschichte des Christentums (= StCRKG 18), Fribourg 2013, 71-84, 78-82. – Wenn sich nun aber in Christus als inkarniertes Wort Gottes (nur) der Mensch geschichtlich entwickelt, bleibt dagegen zu fragen, ob nicht gerade damit der Gedanke der recapitulatio aufgehoben wird, da die Vereinigung von Gott und Mensch in Jesus Christus getrennt wird. Heilsgeschichtliches Entwickeln in der recapitulatio kann aber auch so verstanden werden, dass es ein Entwickeln in der Einheit von Gott und Mensch ist, worauf auch die pädagogische Theologie Irenäus hinweisen würde. Ebenfalls bliebe ohne einen heilsgeschichtlichen Durchgang Gottes in Jesus Christus offen, wie Adv. haer. III 16,6 zu verstehen sei, dass Jesus Christus die ganze Heilsordnung durchschritten und alles in sich zusammengefasst habe. Natürlich geht Irenäus von der Präexistenz des Sohnes Gottes aus, der schon im Voraus alles in sich erfasst hat, aber er setzt gerade für die recapitulatio die Inkarnation, also den Eintritt in die Geschichte und das Mitgehen mit der Geschichte voraus, indem Jesus Christus alle menschlichen Lebensalter durchlebt (vgl. Adv. haer. II 22,4; III 18,7). In der recapitulatio geht es also nicht um eine Rückbindung und -führung der Eschatologie in die Protologie, sondern in den einheitlichen Bezug beider Größen, die damit Strukturprinzip der Wirklichkeit sind, indem Geschichte gerade als Entwicklung verstanden wird und den Menschen zu seiner endgültigen Gottebenbildlichkeit führt. Vgl. dazu auch T. ONUKI, „Rekapitulation und Heilsgeschichte“, 344-345: „Der Gedanke der linear vorwärts strebenden Heilsgeschichte bildet tatsächlich […] den Horizont, auf dem erst der antithetische Rückblick vom Ende her auf den Anfang den Sinn bekommt, innerhalb der ungebrochenen Kontinuität der Heilsgeschichte im Ganzen die endzeitliche Neuheit – also ein Diskontinuitätsmoment der Inkarnation zum Ausdruck zu bringen“ (Hervorhebung im Original). Als „Kernfrage heilsgeschichtlicher Betrachtung“ bezeichnet A. Bengsch das Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität. Vgl. A. BENGSCH, Heilsgeschichte und Heilswissen, 55. In ebd. 96-105 unterstreicht

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Einheit der Wahrheit, wie sie in der Einheit beider Testamente ausgedrückt ist, erkauft Irenäus jedoch um den Preis, dass er das Alte Testament nur von Jesus Christus her entschlüsselt und darin den geschichtlichen Sinn eröffnet sieht (vgl. Adv. haer. IV 26,1). Die Offenbarung Gottes im Alten Testament wird für Irenäus also auch erst über die apostolische Verkündigung des Jesusereignisses erkennbar. Marcion musste das Alte Testament auch deshalb ablehnen, da ihm der Schlüssel dazu verborgen blieb, weil er sich außerhalb der Kirche und damit der regula veritatis befand und ihm somit das lebendige Christuszeugnis fehlte. Suchte Marcion mit seiner Lehre und seinen Schriften die Wahrheit des Jesus-Wortes in seinem Ursprung zu finden und in einer diachronen Theologie die Wahrheit zu bewahren, so geht Irenäus einen genau umgekehrten Weg. Die ursprüngliche Wahrheit ist für ihn zu allen Zeiten gegeben, da er ein synchrones Wahrheitsverständnis vertritt. In Jesus Christus ist die ganze Geschichte zur Einheit zusammengefasst, worin sich die eine und ganze Wahrheit abbildet und damit zu allen Zeiten gegenwärtig ist. Die Verbindung der Zeit zum Ursprung des Jesus-Wortes über die Tradition und die Kirche in der successio lässt den Ursprung überall dort gegenwärtig sein, wo gemäß der regula veritatis nach dem Heil des Menschen gefragt und gesucht wird. Die Wahrheit in der Einheit ist bei Irenäus die oivkonomi,a, in der die Wahrheit das Heil der Menschen wird und als solche erkannt werden kann (vgl. Adv. haer. II 16,3; IV 11,3). Die Schrift als Einheit ist diese regula veritats (u.a. Adv. haer. II 28,1; III 15,1; IV 35,4), indem sie gegenüber der Wahrheit die kritische Funktion der geschichtlichen Vergegenwärtigung ist und indem die regula veritatis das Auslegungsprinzip der Schrift bildet.656 Die regula veritatis ist damit Strukturprinzip des Glaubens, indem sie sich in Einheit und Kontinuität ausdrückt: Wahrheit, Einheit und Kontinuität sind die Prinzipien der wirklichen Gottes- und Welterkenntnis für den Menschen. In dieser Einheit erkennt der Mensch, dass die ganze Schöpfung Gottes Eigentum ist (vgl. Adv. haer. II 2,2; III 11,2; IV 20,2.30,3; V 18,13.19,1), die er in Jesus Christus zum Ziel der Erlösung führen will. In dieser Einheit ist dann auch die Schrift zu erfassen und auszulegen.

A. Bengsch auch das Moment der Diskontinuität, charakterisiert sie aber als ein „relative Diskontinuität“, da sie keinen Bruch darstellt. Heilsgeschichte dürfe daher nicht so verstanden werden, dass sie sich aus einer „naturgesetzlichen Konsequenz“ ableiten ließe, sondern ständiges Wachsen der Fülle der Zeit sei. 656 Hier bleibt dennoch kritisch zu fragen, ob sich Irenäus damit nicht in einem hermeneutischen Zirkel befindet und einer petitio principii anhängt, da die regula veritatis Auslegungsprinzip der Schrift ist, gleichzeitig aber in der Schrift enthalten sein soll. In Adv. haer. II 27,1-2 ist die regula veritatis das Formalprinzip für die Suche und Erkenntnis der Wahrheit, die jedoch in der regula gefunden werden soll.

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Irenäus gelingt es mit seinem heilsgeschichtlichen Ansatz im Gegensatz zu Marcion, Schrift und Verkündigung gegenwartsrelevant bleiben zu lassen. Marcion verirrt sich in eine „forensische“ Betrachtung und Erkenntnis der Schrift, da er nur zurück zum Ursprung will; Irenäus dagegen kann durch die apostolische Tradition als Garant der Wahrheit die Gegenwart mit dem Ursprung verbunden wissen, der durch die Verkündigung der Kirche den Strom der Geschichte zur Heilsgeschichte ausweist und somit das lebendige Christuszeugnis als Zentrum und Mitte der Geschichte bildet. Ist bei Marcion die Geschichte auf ein historisches Datum reduziert, das den Bruch beider Testamente mit sich bringt, so sieht Irenäus die Geschichte und damit auch die biblischen Schriften als eine Einheit, in der das Handeln Gottes zum Heil der Menschen erfahrbar wird. 3.

Tertullian und die regula fidei

Tertullian ist mit seinem Werk Adversus Marcionem der Hauptzeuge für die Lehre Marcions und seiner Schriften. So nimmt es nicht Wunder, dass er durch alle fünf Bücher seiner marcionitischen Entgegnung die Einheit von Altem und Neuem Testament unterstreicht. Tertullian geht dabei soweit, dass er in einer Kommentierung zu Lk 5,31 in Adv. Marc. IV 11,1-2 dem jüdischen Gesetz sogar eine Heilsmöglichkeit zuspricht, die Marcion niemals hätte formulieren können.657 Trennt Marcion das Gesetz vom Evangelium und damit die beiden Testamente, so argumentiert und plädiert der Jurist und Theologe mit Schriftzitaten und -kommentaren für deren Einheit. Der Gott, von dem Marcion behauptet, er würde nicht zur Erlösung führen, ist für Tertullian der Gott, der gerecht und zugleich gnädig ist, da er derselbe ist, der das Gesetz und das Evangelium gegeben hat. Gerade die Textpassagen, die Marcion für seine Theologie reklamieren möchte, stellt Tertullian in den Gesamtzusammenhang der Schrift und kontextualisiert sie mit alttestamentlichen Stellen.658 Er verfolgt dabei die Methode, dass er die alttestamentlichen Stellen, die Marcion aus seinen Schriften streicht oder abwertet, positiv als argumenta a minori ad maius herausstellt; das Neue Testament kann auf diese Stellen rekurrieren, da sie bereits einen positiven Wert in sich haben, der in den neutestamentlichen Verarbeitungen nur noch positiv weitergeführt werden muss. Tertullian gelingt dies, indem er einen christologischen Deuteschlüssel auf die 657

Vgl. T. SCHMELLER, „2 Kor 3,1-4,6 bei Markion und Tertullian“, in: T. SCHMELLER (Hg.), Neutestamentliche Exegese im 21. Jahrhundert. Grenzüberschreitungen, FS für Joachim GNILKA, Freiburg – Basel – Wien 2008, 154-169, 157-158; [in Folge: T. SCHMELLER, „Markion und Tertullian“]. 658 Vgl. z.B. Adv. Marc. V 11,4, worin Tertullian 2 Kor 3,6 exegetisch mit Joel 3,1 und Dtn 32,29 erklärt, indem er Schlüsselworte in anderen Stellen aufweist und damit die Bibelstellen in Zusammenhang setzt.

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ganze Schrift anwendet.659 Damit bekennt Tertullian zwar denselben Gott in den beiden Bünden, jedoch kann man auch aus seinen exegetischen Abschnitten herauslesen, dass das maius beim Evangelium liegt, ohne dass er dabei aber in eine marcionitische Entgegenstellung beider Bünde verfallen würde. Tertullian legt das Gewicht auf das Evangelium, da in ihm Jesus Christus bezeugt wird, auf den wiederum alle Schriften des Alten Testaments vorausweisen. Die Einheit der Schrift ist bei Tertullian christologisch begründet, was sich in einer christologischen Deutung des Alten Testaments für das Christentum ausdrückt (vgl. Adv. Marc. III 5-7.12-14). Jesus Christus ist der reformator der Schöpfung (Adv. Marc. II 29,3; V 17,1), da er als der Messias das Verbindende beider Testamente ist und nicht das Trennende wie bei Marcion. Im Gegensatz zu Irenäus gelingt dies Tertullian jedoch nur, indem er die alttestamentlichen Texte allegorisch auslegt. Die Allegorie hilft Tertullian auch, Jesus nicht nur als den milden und guten Messias darzustellen, sondern ihn auch als den Richter und als dem Gesetz verbunden auszuweisen (Adv. Marc. IV 9,9). In der allegorischen Deutung des Alten Testaments begründet Tertullian auch die Einheit beider Testamente, da durch diese Auslegung Jesus Christus „in Präfigurationen und als Wort Gottes immer schon gegenwärtig“ war.660 Aus dieser christologischen Allgegenwart kann der Jurist aus Karthago die ganze Schöpfungsordnung durchschreiten und damit die ganze Geschichte als eine kohärente Geschichte erfassen (vgl. Adv. Marc. V 17,1). Jesus ist nicht nur der Christus der Erlösung, sondern der gerechte Richter und Befreier in der Schöpfungs-, Sünden- und Erlösungsordnung. Tertullian verfolgt in der Verteidigung des Glaubens einen antiphilosophischen Ansatz, da er gerade in der Philosophie als Weisheit der Welt die Wurzel aller Häresien erkennt, die das Christentum verändern würde, da sie mehr durch die Rede als durch die Wahrheit überzeuge (vgl. praescr. 7; Adv. Marc. V 19,7).661 Dahinter steht die Vorstellung des Theologen, dass die Offenbarung Gottes im Alten Testament älter und damit auch allen Philosophien und Häresien zeitlich vorgängig und ihnen damit überlegen ist. Wenn philosophische Sätze mit dem Glauben übereinstimmen, dann nur deshalb, weil die 659

Vgl. T. SCHMELLER, „Markion und Tertullian“, 160, der unterstreicht, „dass Tertullian nicht von einer ungebrochenen Kontinuität zwischen den beiden Bünden ausgeht. Der neue Bund ist nicht einfach eine Fortsetzung des alten, das Evangelium Christi nicht einfach eine Erneuerung und Ausweitung des Gesetzes […]. Vielmehr ist nur durch Christus das AT zu seinem eigentlichen Sinn gekommen. Die Heilsgeschichte Israels geht nicht im zeitgenössischen Judentum weiter, das sich dem Christusereignis verweigert und deshalb seine eigene heilige Schrift falsch versteht. Die Fortsetzung der Heilsgeschichte ist vielmehr das Christentum, die Kirche, die den richtigen Zugang zum AT hat“. 660 V. LUKAS, „Einleitung“, 28. 661 Zur Ablehnung der Philosophie vgl. D. SCHLEYER, „Einleitung“, 65-78.

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Philosophen von der Wahrheit der Offenbarung berührt sind. Dagegen darf die Haltung Tertullians gegenüber der Philosophie nicht absolut negativ verstanden werden, da er auch den philosophischen Anweg zur Offenbarung über die natürliche Gotteserkenntnis kennt. Die Aufteilung in die beiden Götter Marcions entspricht nicht dem Menschen und seinem Erkennen, da die Schöpfung vor aller menschlichen Erkenntnis bereits abgeschlossen ist. Der Mensch als Schöpfung kann Gott erkennen, selbst wenn er nicht im Bund mit ihm steht, denn „vor der Prophetie war die Seele des Menschen. Das Bewusstsein von Gott nämlich ist von Anbeginn eine Gabe der Seele“ (Adv. Marc. I 10,3). Das Wissen um die Existenz Gottes, das dem Menschen innerlich ist, widerspricht der marcionitischen Trennung beider Götter. In Adv. Marc. I 16,2 argumentiert Tertullian gegen Marcion mit „allgemein anerkannte[n] Anschauungen und wohlbegründete[n] Beweisgänge[n]“, indem er dabei bewusst auf philosophische Kategorien zurückgreift.662 So braucht auch jede Auslegung der Schrift eine „logische Ordnung der Worte“ (praescr. 9,2), die in der „rationalen Methode“ besteht (praescr. 9,6). Demnach soll in der Schrift nur nach dem gesucht werden, was zuvor im Glauben angenommen wurde, womit der Glaube und die Offenbarungswahrheit die Methode der Schriftauslegung werden. Besonders in der Schrifthermeneutik zeigt sich die rhetorische und juristische Bildung und Ausbildung des afrikanischen Theologen, weil für ihn Schriftauslegung als Glaubensapologetik betrieben wird und sich somit auf das Wesentliche beschränken muss.663 Diese Methode gibt der Schrift eine Einzigkeit 662

Vgl. ebd. 81: „Die sensus communes sind natürlich die communes notiones der Stoa, die die Grundlage des consensus omnium, der Übereinstimmung aller Menschen bilden“. So macht D. Schleyer in Adv. Marc. I 3,7.16,2-4 einen stoischen Einfluss auf Tertullian aus, den er gegen Marcion einsetzt. Dazu gehöre auch die Rede von Gott als summum magnum. Siehe dazu auch E. P. MEIJERING, „Bemerkungen zu Tertullians Polemik gegen Marcion (Adversus Marcionem 1,1-25)“, VigChr 30 (1976) 81-108, 83-89. Dagegen plädiert C. Moreschini dafür, dass die Rede vom summum magnum kein stoischer, sondern eine mittel-platonische Beeinflussung war, da die Stoa nie so stark das Christentum beeinflusst hat wie der Mittel-Platonismus. Tertullian argumentiere mit dem mittel-platonischen Begriff summum magnum nicht nur, um die Einzigkeit Gottes zu beweisen, sondern auch, um die Unmöglichkeit eines Modalismus aufzuzeigen. Vgl. C. MORESCHINI, „Tertullian’s Adversus Marcionem and Middleplatonisme“, ZAC 21 (2017) 140-163, 150-157. Zusammenfassend: „Tertullian also turned to Middle Platonism, but with the mediation of the Greek apologists; he used doctrines of Platonic origin that had previously been christianised by Justin, who had hypostatised the first God’s rationality, which was still within the Father“ (157). 663 Vgl. J. SPEIGL, „Tertullian als Exeget“, in: G. SCHÖLLGEN – C. SCHOLTEN (Hgg.), Stimuli. Exegese und ihre Hermeneutik in Antike und Christentum, FS für Ernst DASSMANN (= JAC 23), Münster 1996, 161-176, 171-173. Weiter 176: „Für alle seine Ziele stand ihm aus guter Kenntnis die Bibel zur Verfügung, die ihm vor allem das

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und Eindeutigkeit (praescr. 9,4). Der Glaube beruht aber auf der regula fidei (praescr. 13,1), die von Jesus Christus eingesetzt wurde (praescr. 13,6) und die die Einheit und Einzigkeit Gottes als Wesenseigenschaften Gottes bezeugt. Die regula fidei als Glaube an den einen Gott bildet die „rationale Methode“ der Schriftauslegung: „Der Glaube hat als Grundlage eine Regel; er hat sein Gesetz und besitzt das Heil durch die Befolgung des Gesetzes“ (praescr. 14,4); daraus folgt: „Nichts gegen die Glaubensregel zu wissen, heißt, alles zu wissen“ (praescr. 14,5).664 Die regula fidei ist bei Tertullian die durch Christus ergangene Offenbarung des einen Gottes, in der der Mensch sein Heil und alle Erkenntnis der Welt findet. Die regula fidei steht aber nicht alleine für sich, sondern muss zusammen mit dem ordo rerum (praescr. 19) gesehen werden, der der Schrift in der Auseinandersetzung mit den Häretikern ihren Platz zuweist. Jeder, der in diesem Glauben steht, hat demnach das Vorrecht der Schriftinterpretation, da die Wahrheit des Glaubens und der Lehre erst die Wahrheit der Schrift garantiert. Da aber die Wahrheit der Schrift aus der Wahrheit des Glaubens kommt, die wiederum an der Wahrheit der Schrift hängt, ist das zweite Element des ordo rerum die Tradition.665 Eine Schriftauslegung muss daher den Weg der Überlieferung von Christus über die Apostel zu den apostolischen Gemeinden nachverfolgen, indem für Tertullian gerade die Apostel für die Wahrheit der Überlieferung bürgen, da diese sie voll und ganz weitergegeben haben (vgl. praescr. 21,7; 27,1). Durch diese offene und volle Übergabe und Weitergabe der Lehre Jesu aber (vgl. praescr. 26,211) sind die Apostel Garanten der Wahrheit (vgl. praescr. 5,4). Tertullian – so D. Schleyer treffend – betrachtet „die eine apostolische Überlieferung derselben von Christus empfangenen Offenbarung als Beweismittel der neuen Autorität der christlichen Offenbarung war“; [in Folge: J. SPEIGL, „Tertullian als Exeget“]. 664 Vgl. zur regula fidei G. D. DUNN, „Tertullian’s Scriptural Exegesis“, 147-149. G. D. Dunn dürfte Tertullian richtig interpretieren, wenn er darauf hinweist, dass die wichtigere Frage nicht ist, wer die richtige Interpretation der Schrift hat, „but the more fundamental question of who had the true faith that is expressed in the Scriptures“ (149). Dunn folgert daraus auch, dass Tertullian unterschiedliche Hermeneutiken der Schriftauslegung kennt und anwendet, um in der jeweiligen Auseinandersetzung die Wahrheit des Christentums herauszustellen (ebd. 155). Siehe auch H. OHME, Kanon ekklesiastikos, 78-121. H. Ohme weist darauf hin, dass Tertullian zwar meist von regula fidei spricht, die fides aber in der veritas verankert ist und aus ihr die Begründung zieht. Dabei geht Tertullian in seinem Verständnis der veritas über Irenäus hinaus, insofern die veritas Auswirkungen auf die lex und disciplina hat. Vgl. ebd. 92-96. Zusammenfassend lässt sich somit formulieren: „Während die regula fidei die normativen Glaubensinhalte des 1. und 2. Artikels [von praescr. 13; Anm. d. Verf.] umfaßt, scheint die regula veritatis das Gesamt des Normativen für Glaube und Leben der Christen und die Ordnung der Kirche zu umfassen. Tertullian scheint auch in diesem Sinne von dem omnis ordo regulae als dem Gesamt des Maßgeblichen in der Kirche reden zu können“ (ebd. 118). 665 Vgl. zur Tradition D. SCHLEYER, „Einleitung“152-158.

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konstitutiv für das Wesen der Apostolizität und hebt diese als Prinzip der Einheit der Kirche hervor, die auf der eiusdem sacramenti una traditio beruht, auf der ,einen Überlieferung derselben heilsnotwendigen Lehre‘“ (praescr. 20,9).666 Jede wahre Schriftauslegung muss sich daher in die apostolische Tradition einfügen und aus der Einheit mit den Aposteln heraus die Wahrheit erkennen, die dann die beiden Glieder des ordo rerum bilden. Damit stellt sich Tertullian gegen Marcion, für den die Überlieferung der Apostel bereits eine Verfälschung des reinen Evangeliums war (vgl. praescr. 22-24). Die Tradition ist für Tertullian deshalb wahr, weil sie der Apostolizität entspricht, „da sie zweifelslos das besitzt, was die Gemeinden von den Aposteln, die Apostel von Christus, Christus von Gott empfingen“ (praescr. 21,4). Schriftauslegung ist damit an die Überlieferung gebunden und wird selbst ein Teil der Überlieferung. Die Einheit der Apostolizität, die auf die Gemeinden übergeht, wird Richtmaß der Exegese: Schriftauslegung hat ihren originären Ort in den Gemeinden, die durch die apostolische Tradition und die regula fidei die Wahrheit und die Einheit der Schrift garantieren. Für Tertullian ist dies die Grundlegung seines Denkens gegen die Häretiker und auch gegen Marcion. Doch muss dabei festgehalten werden, dass der Rekurs auf die regula fidei und die Apostolizität als Garant für die Wahrheit von Tertullian axiomatisch eingeführt sind. Regula fidei und die apostolische Tradition bilden in ihrer Einheit den Strom der Wahrheit, der die Quelle für die Gemeinden ist. Sind die beiden Größen zwar axiomatisch aus dem Wirken des Hl. Geistes abgeleitet und von Christus selbst begründet, so sind sie aber keine von außen an die Schrift herangetragene Klammer für deren Einheit, sondern immanentes Prinzip der einen Schrift. Hat Tertullian die antimarcionitische Weichenstellung der frühen Kirche mit vorbereitet und die Einheit beider Testamente verteidigt, so liegt doch eine schwere Hypothek auf seinem Denken. Seine Argumente gegen Marcion sind zugleich getragen von den Argumenten gegen die Juden, auch wenn er seine Schrift wohl für die christliche Gemeinde verfasst hat. In seinem Werk Adversus Iudaeos667 argumentiert Tertullian für die Ablösung Israels und der Synagoge durch die Kirche „als einen radikalen Enterbungsprozeß“.668 Das, was 666

Ebd. 97. Vgl. auch J. SPEIGL, „Tertullian als Exeget“, 165-166. TERTULLIAN, Adversus Iudaeos – Gegen die Juden (= FC 75), übers. und eingel. von R. HAUSES, Turnhout 2007; [in Folge: TERTULLIAN, Adv. Iud.]. Als „Gelegenheitsschrift wie alle seine Werke“ wird Adv. Iud. charakterisiert bei H. SCHRECKENBERG, Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte, 216. Insgesamt zu Adv. Iud. ebd. 216-225. 668 R. HAUSES, „Einleitung“, in: TERTULLIAN, Adversus Iudaeos – Gegen die Juden (= FC 75), übers. und eingl. v. R. HAUSES, Turnhout 2007, 9-159, 9. [in Folge: R. HAUSES, „Einleitung“].

667

338

bis zum Christusereignis für das Volk Israel galt, ist in der Wandlung des Gesetzes (vgl. Adv. Iud. 2) zum Evangelium auf die Kirche übergegangen, indem es innerhalb der Kirche einen heilsgeschichtlichen Fortschritt gibt (vgl. Adv. Iud. 1,8). Die Grenzen zwischen christlicher Apologetik und antijudaistischen Traktaten sind zwar fließend, jedoch sind diese Traktate das Zündholz, das den Flächenbrand antijudaistischer Polemiken entfacht hat. Bei Tertullian bricht das Problem der Kontinuität und der Diskontinuität auf. Einerseits sieht er das wachsende Christentum in der Kontinuität der Schriften des Judentums, markiert dies aber durch eine straffe Abgrenzung und eine Abwertung des erwählten Volkes (vgl. Adv. Iud 2,2.7-11). Um die Antithesen des Marcion zu überwinden, konstruiert Tertullian die Antithese zum Judentum, „ohne jedoch den dualistischen Gottesbegriff aufzunehmen“;669 für ihn ist die eine Offenbarung bereits im Alten Testament und die eine Heilsordnung geschichtlich gegeben. In seiner Argumentation möchte Tertullian zwar die Kongruenz beider Testamente sichern und dem Neue Testament durch die Verheißung im Alten Testament Dignität aufgrund des Altersbeweises zusprechen, um damit das Christusereignis in seiner unüberbietbaren Einzigkeit zu erweisen. Mit den alttestamentlichen Schriften argumentiert er aber zugleich gegen das Judentum und verbindet seine theologische Argumentation mit dem historischen und heilsgeschichtlichen Urteil, dass das Christentum als alleinigen Träger der Offenbarung gelten lässt (vgl. Adv. Iud. 1,3-6). Die jüdischen Gesetze und der Kult670 werden mit einer Vergeistigung der Begriffe kontrastiert (Adv. Iud. 3,7), um damit die Übertragung des Alten in das Neue zu plausibilisieren. Tertullian arbeitet hierbei jedoch nicht mit Antithesen, sondern geht davon aus, dass es ein ewiges Gesetz Gottes gibt. Zudem kann die alttestamentliche Prophetie in Adv. Iud. 13 direkt auf Jesus Christus hin gelesen werden, wobei er in 13,28 die prophetische Ankündigung der Zerstreuung des Judentums damit begründet, dass es Jesus nicht als den Messias anerkennt. Der Traktat Adv. Iud. bleibt das negative Vorzeichen vor der Leistung Tertullians, den Gedanken der einen Offenbarung in der Heilsgeschichte stark und die regula fidei als theologisches Prinzip einer christlichen Hermeneutik fruchtbar gemacht zu haben.

669

Ebd. 46. Vgl. ebd. 120: „Tertullian präsentiert in Adversus Iudaeos ein Verständnis des jüdischen Gesetzes, das sich nicht auf die gesamte Tora bezieht, sondern das jüdische Gesetz als Kombination aus Dekalog und Zeremonialgesetzgebung versteht“. 670

339

4.

Von der regula veritatis/fidei zur norma normans non normata

Es waren die Wirren und Verwirrungen des zweiten Jahrhunderts, die die christliche Theologie herausforderten, den Grund und die Begründung des christlichen Glaubens zu bedenken. Standen die ersten Häresiologen dafür ein, dass der Glaube alleiniger Maßstab sei und nicht mit einer Philosophie verbunden werden könne, griffen sie dennoch immer wieder auf philosophische Begrifflichkeiten oder Gedanken zurück, um die wahre Philosophie des Glaubens zu stärken.671 Dabei galt es, die Vielfalt der Kontinuität gegen die Pluralität der Diskontinuität stark zu machen und Theologie und Schriftauslegung darin zu begründen, da es der Glaube der Kirche ist, der von Anfang an in der Wahrheit steht und der in der Tradition der Kirche weitergegeben wird. Die Wahrheit der Kirche kann nichts anderes sein als „die Wahrheit des Evangeliums“ (Gal 2,5.14), aus der sich die Verkündigung der Apostel speist. Jede Häresie ist der Wahrheit nachgeordnet, da sie die Wahrheit voraussetzt, um von ihr abweichen zu können oder sie zu spalten. Die Wahrheit ist nicht nur ursprünglicher und älter als die Häresien, sondern wirkt auch kontinuierlich in der Tradition, in der apostolischen Sukzession und in der regula veritatis/fidei.672 Um das Glaubensgut zu bewahren, ist dessen Vermittlung an die regula veritatis/fidei gebunden, da sich die frühe Kirche darin an den Offenbarungsursprung in Gott rückgebunden weiß. Parallel zu der Entwicklung dieser die Katholizität ausdrückenden Größen kommt es zu einer Konsolidierung der kirchlichen Strukturen und zur Festigung des Schriftkanons, was natürlich zu einer „Domestizierung“ der geoffenbarten Wahrheit führt. Zur Wahrung des christlichen Glaubens und des Offenbarungsgutes werden diese immer mehr festgeschrieben und fixiert. Voraussetzung aber für die Verschriftlichung des Evangeliums und der apostolischen Verkündigung bleibt die Aussagbarkeit der Glaubenswahrheit, wie sie in der regula veritatis/fidei überliefert ist, die durch ihre Prägnanz und Eindeutigkeit die „Wahrheit des Evangeliums“ ausdrückt.673 671

Vgl. C. ANDRESEN – A. M. RITTER, „Die Anfänge christlicher Lehrentwicklung“, in: C. ANDRESEN – A. M. RITTER – E. MÜHLENBERG – M. A. SCHMIDT – K. WESSEL (Hgg.), Die christlichen Lehrentwicklungen bis zum Ende des Spätmittelalters (= HDThG 1), Neuausgabe d. durchges. Wiederaufl., Göttingen 2011, 1-97, 52-53; [in Folge: C. ANDRESEN – A. M. RITTER, „Christliche Lehrentwicklung“]. 672 Vgl. zur Tradition und Apostolizität M. FIEDROWICZ¸ Theologie der Kirchenväter, 4496, und zur regula veritatis/fidei ebd. 188-195. Weitere Quelle der Kirchenväter finden sich bei DERS., Handbuch der Patristik, 66-141.260-264. 673 Vgl. M. FIEDROWICZ, Theologie der Kirchenväter, 192: „Christlicher Glaube überschreitet und durchbricht den Raum bloß symbolischer Erkenntnis, wie sie anderen

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Die Vorgänge in den ersten Jahrhunderten waren damit von einer bewussten Entscheidung der jungen Kirche zu Gunsten der Kriterien des Christlichen geprägt, was einen festgelegten Schriftkanon und definierte Grundaussagen des Glaubens verlangte.674 Wusste sich das junge Christentum der Tradition und dem apostolischen Erbe verpflichtet – denn nur darin sei die Wahrheit zu finden –, so blieb es nicht in der Tradition stehen, sondern entwickelte und führte das Erbe weiter. Gerade die Bewahrung des Jesus-Ursprungs forderte zu einem Voranschreiten heraus und zu einer Entscheidung und Unterscheidung der Kriterien. Das Krisenmoment der häretischen Anfragen war und ist immer auch Entwicklungsmoment der lebendigen Kirche. War die regula veritatis/fidei die Grundlegung für die Schriftauslegung und für die Bewertung biblischer Schriften, so trat der sich verfestigende Schriftkanon an deren Seite und entwickelte sich zur weiteren norma normans. Es ist und bleibt das Christuszeugnis, wie es in der Viergestalt der Evangelien gegeben ist und in der apostolischen Tradition vermittelt wird, die Grundgestalt der regula veritatis/fidei und verbindet sich mit den alttestamentlichen Schriften. Diese Verbindung bildet den einen Kanon, der zur norma normans normata wird. Nicht allein das Evangelium bildet diese norma, sondern die bewusste Entscheidung der Einheit von Altem und Neuem Testament wird zur Norm christlicher Unterscheidung, indem das Christuszeugnis als norma non normata beide Größen zusammenführt und davor bewahrt, die Schrift als Steinbruch für Häresien zu gebrauchen.675 Neben den klassischen Kanonisierungskriterien spielte die Öffentlichkeit der Offenbarung und der Tradition eine prägende Rolle. Im Gegensatz zu gnostischen Überlieferungen und Schriften bestand die wachsende Kirche auf die Öffentlichkeit und Erkennbarkeit der Wahrheit. Die norma normans normata bringt also ihr Kriterium nicht aus sich selbst heraus, sondern es ist das Stehen in der regula veritatis/fidei als Garant Religionen eigen ist, in denen das Unsagbare nur in Gleichnissen Ausdruck findet, die sich vielfach variieren und durch andere Symbole ersetzen lassen. Diese haben für das Denken nie regulative, sondern stets nur illustrative Funktion. Die Rede von einem ,Kanon der Wahrheit‘ zeigt demgegenüber, dass deren Ausdrucksgestalt keinem kaleidoskopartigen Wandel unterworfen ist, sondern unverwechselbare Prägnanz und Konturenschärfe besitzt. Die universale Verbindlichkeit der Glaubensregel gründet darin, dass ihre Aussagen die einfachen Realitäten des göttlichen Heilshandelns selbst benennen, noch ohne diese in die verschiedenen Stufen differenzierender Reflexion zu übertragen, deren stärkere Variabilität eine geringere Normativität zur Folge hat“. 674 A. v. Harnack sieht den christlichen Schriftkanon als Reaktion auf Markion gegeben, wogegen F. v. Campenhausen zumindest hinsichtlich des Alten Testaments davon spricht, dass sich der christliche Kanon selbst durchgesetzt hat. Dagegen muss beachtet werden, dass es sich beim entstehenden Alten Testament um eine Entscheidung handelt, die, wenn nicht gerade mit autoritativem Charakter, doch bewusst von der Kirche geleistet wurde. Siehe dazu den Abschnitt A-II-2 dieser Studie. 675 Vgl. M. FIEDROWICZ, Theologie der Kirchenväter, 185-187.

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für das Bleiben im Christus-Ursprung, das ihr die Normfunktion zukommen lässt. Von der Kirche wird der Schrift als Einheit in ihrem Wachsen und in ihrer Festigung diese Normfunktion zuerkannt, da in ihr die Wahrheit niedergeschrieben ist, die mündlich überliefert wird. Dabei besteht kein Gegensatz zwischen mündlicher und verschriftlichter Wahrheit. In diesem Prozess kommt es zu einer Wechselwirkung von Kirche als lebendiger Tradition und einem sich festlegenden Schriftkanon, der wiederum der Tradition verpflichtet ist.676 Es ist aber nicht so, dass die Schrift als norma normans die regula veritatis/fidei einfach ablöst, da es gerade die regula veritatis/fidei in ihrer lebendigen Verkündigung ist, die „die trinitarischen und geschichtlich-christologischen Aspekte und Konsequenzen des christlichen Glaubens, und zwar in der Weise des späteren ,Apostolikums‘“ hervorhebt und gegenüber der Schrift geltend macht.677 Die Schrift muss in ihrer Einheit als heilsgeschichtliche Einheit verstanden werden, da sie nie getrennt von der Tradition der regula veritatis/fidei war und sein kann. Geht die regula veritatis/fidei diachron dem werdenden Schriftkanon voraus, so ist sie synchron nicht über den Schriftkanon zu stellen, da wiederum die regula veritatis/fidei in Kontinuität zur norma normans non normata steht, insofern beide Strukturelemente des Glaubens sind und aus der apostolischen Bezeugung des Christus-Ursprungs kommen und Garant für die Offenbarungswirklichkeit sind, aus der sich dann die ersten Glaubensformeln und -bekenntnisse entwickeln konnten. Die Schrift als norma normans non normata kann daher nicht von der Tradition als norma normans getrennt werden. Der Fundamentaltheologe P. Hofmann fasst den Gedanken zusammen: „Die Schrift, die zwei-eine Bibel, ist norma normans, weil sie den Rahmen sinnvoller Traditionsbildung vorgibt, aber auch normata, weil sie innerhalb der von ihr gelenkten Tradition geformt worden ist und als Schrift immer 676

Vgl. C. ANDRESEN – A. M. RITTER, „Christliche Lehrentwicklung“, 84: Der Kirche „gilt bereits die Bibel als stets von der lebendigen Verkündigung begleitet, wie sie der Kirche schon bei ihrem Entstehen ,eingestiftet‘ war. In diesem Sinne läßt sich sagen, daß die Kirche immer zugleich aus der Tradition lebe“. Hierzu ist auch wichtig, den Hinweis von K. Beyschlag zu bedenken, dass die regula veritatis/fidei und die zweieine Bibel „letztlich nur zwei Seiten einer Norm, d. h. der überlieferten christlichen Wahrheit selbst“ sind. Vgl. K. BEYSCHLAG, Grundriss der Dogmengeschichte. Gott und Welt, I, Darmstadt 1982, 154; [in Folge: K. BEYSCHLAG, Grundriss der Dogmengeschichte]. Damit ist auch das Urteil A. v. Harnacks aufgehoben, der die regula veritatis/fidei, die Schrift und die apostolische Sukzession als drei voneinander getrennte Normen ansah und damit einen Abfall von der geistinspirierten Kirche der ersten Generationen erkannte. 677 C. ANDRESEN – A. M. RITTER, „Christliche Lehrentwicklung“, 84. Wichtig ist auch der Hinweis, dass die „,Glaubensregel‘ […] indes mit keiner Bekenntnisformel als solcher identisch [ist], sondern meint das Wesentliche der kirchlichen Lehre im Ganzen“ (85; Hervorhebung im Original). Vgl. dazu auch K. BEYSCHLAG, Grundriss der Dogmengeschichte, 153 und H. OHME, Kanon ekklesiastikos, 64-65.

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wieder neu entdeckt wird. Die Tradition steht ihrem Prinzip der Schrift nicht äußerlich gegenüber, sondern aktualisiert es gerade dadurch, daß sie es tradiert und dabei ausdrücklich als Schrift tradiert. In diesem Sinn ist sie die kanonbildende und kanonlesende kirchliche Vernunft, weil sie auf das Wort hört und es deutend hört. ,Tradition‘ verweist so auf das eigentliche und theologisch einzig legitime Subjekt der Schriftlektüre. Darum muß Tradition im theologischen Sinne normativ (bzw. präskriptiv) verstanden werden als die Weise, wie die Kirche – nicht das Einzelsubjekt! – die Schrift in eben dem Geist liest, in dem sie verfaßt worden ist“.678

Damit ist aber die Offenbarungswirklichkeit in ihrer Vielfalt erkannt, ohne in eine sektiererische Pluralität zu verfallen. Jede christliche Entwicklung in der wachsenden Kirche muss nun daran Richtmaß nehmen, inwiefern sie ein Ausdruck der Vielfalt der einen Wahrheit ist, die die regula veritatis/fidei und das Schriftzeugnis vorlegen. Die Zusammenstellung der einen Schrift aus Altem und Neuem Testament bezeugt diese innere Kohärenz der regula veritatis/fidei in ihrer Vielheit, da alttestamentliche Theologie und neutestamentliche Christologie in Kontinuität harmonieren können. Schöpfung und Erlösung und Geschichte als Heilsgeschichte wurden den gnostischen Irrlehren als Ausweis der einen Offenbarungswirklichkeit entgegengehalten, um ihre auf Diskontinuität begründete Pluralität durch die Kontinuität der Vielfalt zu widerlegen. Exkurs Ende

678

P. HOFMANN, Die Bibel ist die Erste Theologie, 276 (Hervorhebung im Original). Bei der Konsolidierung des Schriftkanons ist ein Zusammenspiel der Schrift Als norma normans non normata mit Tradition als regula veritatis/fidei zu erkennen, die sich gegenseitig durchdringen. Die Anschauung der Schrift als norma normans non normata ist wohl mit der Konkordienformel der Epitome Nr. 1 und 3, nach der die Schrift „Richter, Regel und Richtschnur“ aller Lehren sei (vgl. I. DINGEL u.a. (Hgg.), Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, vollständ. Neuedition, Göttingen 2014, 1216-1217), als vorbiblisches Prinzip in die Theologie getreten. Aber Ph. Melanchton vertrat bereits 1519 in seiner 15. Baccalaureatsthese: „Catholicum praeter articulos, quorum testis est scriptura, non est necesse alios credere“. Damit formulierte er das sola scriptura-Prinzip. Vgl. P. MELANCHTON, Reformatorische Schriften, R. STUPPERICH (Hg.; = Melanchtons Werke 1), Gütersloh 21983, 24. Die Rede von der Schrift als norma normans non normata ist auch in katholischer Theologie aufgenommen, wenn DV 21 davon spricht, dass sich alle Lehre und Verkündigung aus der Schrift ableiten lassen müsse, da die Kirche unter dem Wort Gottes stehe (DV 10). Zwar kennen auch die Kirchenväter die Schrift als „Richtschnur und Regel“, sehen sie aber in direktem Bezug zur Tradition, die für sie der Schrift nicht nachgeordnet ist. „Regel und Richtschnur“ bezogen sie vielmehr auf außerkirchliche-philosophische Lehren, die sich an der Schrift zu messen hatten (vgl. M. FIEDROWICZ, Theologie der Kirchenväter, 9296). So bleibt es Aufgabe für katholische Theologie zu fragen, in welchem kritischen Verhältnis nun die Schrift zur Tradition steht und wie eine Vorordnung der Schrift vor Kirche und Tradition zu denken ist, wenn DV 10 davon spricht, dass sich alle drei Größen durchdringen. Ein Blick auf den wachsenden Schriftkanon und die Rolle der regula veritatis/fidei könnten eine Brücke zu einem vertieften und ökumenischen Verständnis der Schrift als norma normans non normata im Bezug zur Tradition sein.

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1.1.4.

Nostra aetate 4: Bruch oder Tradition?

Mit Joseph Ratzinger als Konzilsperitus auf dem Stuhl Petri hat die Frage nach einer angemessenen Konzilshermeneutik wieder an Aktualität gewonnen. Der Papst unternimmt mit seiner Weihnachtsansprache 2005 an die Mitglieder der römischen Kurie den Versuch, die Lehrtradition des Konzils und seiner Texte nicht einseitig als reine Tradition oder reinen Bruch zu erklären, sondern Kontinuität und Diskontinuität der Lehrentwicklung in Spannung zu sehen, indem er eine „Hermeneutik der Reform“679 vorschlägt. Damit ist das Anliegen ausgesprochen, das Konzil nicht als Wasserscheide einer vorund nachkonziliaren Kirche zu sehen und zu verstehen, bei der entweder die Zeit vor oder nach dem Konzil abgelehnt und als zu überwinden dargestellt wird. Dabei ist aber hervorzuheben, dass Benedikt XVI. der Diskontinuität nicht eine reine Kontinuität entgegensetzt (wie er oft fälschlicherweise von verschiedenen Seiten zitiert wird680), sondern die Hermeneutik der Reform verlangt. Der Theologenpapst geht von einem dynamischen Traditionsprozess aus, der nicht einfach die Wiederholung der Geschichte verlangt, sondern auch Entwicklung kennt. Die Frage von Kontinuität und Diskontinuität lässt sich auch an NA 4 nachzeichnen. So plädiert R. Siebenrock dafür, NA 4 als Bruch mit der vorausgehenden Lehrtradition der Kirche zu sehen, wenn er schreibt: 679 Zu einer ersten Einordnung siehe W. KASPER, „Volk Gottes – Leib Christi – Communio im Hl. Geist. Zur Ekklesiologie im Ausgang vom Zweiten Vatikanischen Konzil“, in: J.-H. TÜCK (Hg.), Erinnerung an die Zukunft. Das Zweite Vatikanische Konzil, Freiburg – Basel – Wien 2012, 221-241, 221-226; [in Folge: W. KASPER, „Ekklesiologie im Ausgang“]. J. KNOP, „Hermeneutik der Reform – Reform der Hermeneutik. Über Fortschritt und Erneuerung in kirchlicher Überlieferung“, IKaZ 46 (2017) 255-267, 258-260; G. ROUTHIER, „Die Hermeneutik der Reform als Aufgabe für die Theologie (Teil II)“, ThG 56 (2013) 44-56, 48-54; [in Folge: G. ROUTHIER, „Die Hermeneutik der Reform II“]. K. KOCH, „Das Zweite Vatikanische Konzil zwischen Innovation und Tradition. Die Hermeneutik der Reform zwischen der Hermeneutik bruchhafter Diskontinuität und der Hermeneutik ungeschichtlicher Kontinuität“, in: O. HORN – S. WIEDNHOFER (Hgg.), Das Zweite Vatikanische Konzil. Die Hermeneutik der Reform, Augsburg 2012, 21-50, besonders 38-45; [in Folge: K. KOCH, „Innovation und Tradition“]. C. THEOBALD, „‚L’herméneutique de réforme‘. Implique-t-elle une réforme de l’herméneutique?“, RSR 100 (2012) 65-84, besonders 75-83. 680 Vgl. dazu mit Beispielen K. KOCH, „Innovation und Tradition“, 26-30 oder B. GHERARDINI, Das zweite vatikanische Konzil. Ein ausstehender Diskurs, Mülheim 2010, 233, der in nicht immer unpolemischer Weise mit seinem Buch Vertreter der strengen Kontinuitätstheorie ist und einen bruchlosen Neueinsatz ablehnt und damit auch ein Vertreter der Hermeneutik des Bruches ist (ebd. 73; siehe als Beispiele für polemische Beschreibungen einer Konzilsinterpretation: ebd. 68: „ein Christentum neuen Schlages“; 69: „wildwüchsigen Ökumenismus“; 70: „Geist des Possibilismus“).

344

„Ich bin der Überzeugung, dass es nicht möglich ist, Nostra Aetate 4 […] in Kontinuität mit der gängigen ,vorkonziliaren‘ Lehrtradition und Praxis der katholischen Kirche zu interpretieren […]. Vielmehr sehe ich in der neuen Theologie des Judentums einen Bruch mit einer Tradition der theologischen Verachtung, die in den frühesten Anfängen der christlichen Tradition beginnt, bis heute ihre Auswirkungen zeitigt, aber vom Konzil entschieden und mit klaren Worten zurückgewiesen wird; und mit dieser Entschiedenheit eine neue Beziehung zwischen der Katholischen Kirche und dem Judentum grundlegt, die heute als neuer Beginn bezeichnet werden muss“.681

Wenn NA 4 als Bruch mit der Tradition gesehen wird, dann wird damit auch die Frage nach dem Geschichtsverhältnis gestellt. Kann es zu einem geschichtlichen Neueinsatz kommen, insofern die Geschichte aus einzelnen und unterschiedlichen Versatzstücken addiert wahrgenommen werden kann, oder ist die Geschichte als eine linear voranschreitende Größe zu werten? Die Vertreter, die für einen Bruch in den Konzilstexten plädieren, negieren nicht, dass sich das Konzil und seine Texte in einem geschichtlichen Netz befinden, von dem sie getragen werden, vielmehr geht es in der Rede vom Bruch um die Frage einer angemessenen Konzilshermeneutik. Entgegen einer Hermeneutik des Bruchs und einer Interpretation ex negativo sieht J.-H. Tück in NA 4 eine Hermeneutik der Reform gegeben, indem „der Bruch mit der antijudaistischen Lehrtradition auf der tieferen Grundlage der antimarkionitischen Grundentscheidung der Alten Kirche erfolgt ist“, die einen „Paradigmenwechsel von einer 681 R. SIEBENROCK, „Nie mehr als verworfen ansehen... Nostra Aetate 4 als hermeneutischer Angelpunkt jeder Konzilsinterpretation“, in: S. SCHREIBER – T. SCHUMACHER (Hgg.), Antijudaismen in der Exegese? Eine Diskussion 50 Jahre nach Nostra Aetate, Freiburg – Basel – Wien 2015, 115-131, 117; [in Folge: R. SIEBENROCK, „Nie mehr als verworfen ansehen…“]. Da R. Siebenrock NA 4 als Bruch sieht, kann er insgesamt NA als „die Areoparkrede der Kirche zu Beginn einer neuen Epoche“ beschreiben. DERS., „Theologischer Kommentar“, 599; DERS., „‚Das Geheimnis der Kirche skrupulant erforschend...‘. Die Entdeckung des Mysteriums Israels im Kontext der Wahrnehmung der Pluralität der Religion im Zweiten Vatikanischen Konzil inmitten einer hoch konfliktiven Welt“, IKaZ 39 (2010) 428-439, 428, worin der Autor NA 4 einen „prinzipielle[n] Anfang, eine ,arche‘“ nennt; [in Folge: R. SIEBENROCK, „Entdeckung des Mysteriums Israels“]. Siehe auch seinen Beitrag zur Konzilshermeneutik, worin er im Hinblick auf NA 4 für eine „Hermeneutik der Wandlung“ anstatt einer „Hermeneutik der Reform“ plädiert: DERS., „‚Siehe, ich mache alles neu!‘ – ‚Hermeneutik der Wandlung‘. Von der rechten Weise, das Zweite Vatikanische Konzil zu realisieren“, in: C. BÖTTIGHEIMER (Hg.), Zweites Vatikanisches Konzil. Programmatik, Rezeption, Vision (= QD 261), Freiburg – Basel – Wien 2014, 101-139. Als „neu[e] Theologie“ und „Anfang eines Weges“ wird das Konzil beschrieben von E. GALAVOTTI, „Forderungen nach einer theologischen Erneuerung seit dem Konzil“, Conc(D) 55 (2019) 334-341, Zitate 339. Aber auch in integralistischen Kreisen, besonders um Bischof Lefebvre, wird vom Konzil als Bruch mit der Tradition gesprochen. Die Hintergründe dazu leuchtet aus R. ROUTHIER, „Die Hermeneutik der Reform als Aufgabe für die Theologie (Teil I)“, ThG 55 (2012) 253-268, 254-267 und DERS., „Die Hermeneutik der Reform II“, 44-48.

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defensiven Haltung der Abgrenzung hin zu einer dialogischen Öffnung“ vollzieht.682 NA ist wie in der frühen Kirche ein Bekenntnis zu Israel. Hatte Marcion von Sinope einen Gegensatz zwischen den beiden Bundesordnungen aufrichten wollen, so war dies im Grunde nichts anderes als ein Gegensatz zwischen Judentum und Christentum: „Markions Antinomismus“ – so J.-H. Tück – „war letztlich ein Antijudaismus. Indem sich die Kirche gegen ihn stellte, hat sie das Erbe Israels und seine bleibende Bedeutung für die Kirche verteidigt“.683 Weil sich die Kirche zum Judentum bekannt hat, blieb sie an der Wurzel, die sie nährt und Lebenskraft gibt. Die antimarcionitische Entscheidung der frühen Kirche folgte aus dem Inkarnationsglauben, dass Jesus, das Wort Gottes, als Jude Fleisch wurde und in der Verheißung Israels lebte und wirkte. Mit NA 4 hat das Konzil und damit die Kirche jedem Antijudaismus und Antisemitismus eine Absage erteilt. Natürlich wäre es erstrebenswert und geboten gewesen, auch die Schuld der Kirche in ihren Gliedern zu beschreiben, wie es erst im Jahr 2000 in der großen Vergebungsbitte durch Johannes Paul II. getan wurde. Diese für den christlich-jüdischen Dialog wichtige und neue Entwicklung ab der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts steht dennoch in der Kontinuität der grundlegenden christlichen Überzeugung, „dass nämlich das Alte Testament aus dem Kanon der Heiligen Schriften nicht ausgeschieden werden kann, dass die Bundesgeschichte des Volkes Israels von bleibender Bedeutung für das Selbstverständnis der Kirche ist. Die antimarkionitische Grundentscheidung der Alten Kirche, dass Gott […] der eine Urheber der beiden Testamente ist und dass der Zusammenhang der Heilsgeschichte nicht auseinandergerissen werden darf, ist der Boden, auf dem der Durchbruch zur theologischen Anerkennung des nachbiblischen Bundesvolkes steht“.684

Die theologische Grundaussage, dass Gott Ursprung und Ziel der einen Heilsgeschichte ist, wie sie in den biblischen Texten bezeugt wird, ist Grundlage für NA 4. Damit ist zu verstehen, dass die Erklärung die Beziehung zum Judentum einzig mit biblischen Zitaten untermauert. Das Fehlen von Väterzitaten oder von Rekursen auf päpstliche Äußerungen wird oft als Argument für einen Bruch angeführt, weil damit eine Leerstelle der gesamten kirchlichen Lehrtradition angezeigt sei. Jedoch spricht der Schriftgebrauch eher für die bleibende Kontinuität in einem Neueinsatz der gegenseitigen Beziehungen. Der christlich-jüdische Dialog ist kein nachträglich zum Christentum hinzugekommenes Element, sondern ist genuin und wesentlich aus der Schrift gegeben: Es ist ein ur-biblisches Thema und eine originäre 682

J.-H. TÜCK, „Das Konzil und die Juden“, 305 und 308. Ebd. 310-311 (Hervorhebung im Original). 684 Ebd. 315. 683

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Aufgabe für die Kirche. Der Bezug auf das Judentum ist bibeltheologisch fundiert, ist doch bereits das Werden des biblischen Kanons eine Frühform des christlich-jüdischen Dialogs, auch wenn dieser Bezug zu Antijudaismen geführt hat. Bezieht man die „antimarkionitische Grundentscheidung“ und den Dialog als urbiblisches Element in die Überlegungen der Hermeneutik mit ein, so kann angenommen werden, dass der Grund für das Fehlen von Väterund Lehrzitaten darin liegt, dass damit der Dialog und die Rezeption beim Judentum als abrahamitische Tradition erleichtert werden soll; andererseits aber wird mit der Schrift schon ein Moment der Tradition rezipiert, insofern sich der biblische Kanon der Tradition verdankt.685 Das Argument der fehlenden Hinweise aus der Lehrtradition greift auch dahingehend zu kurz, da Schrift und Tradition, die sich in der Lehrtradition niederschlagen, nicht als zwei konkurrierende Zeugnisse der Offenbarung angesehen werden können (vgl. DV 9). Vielmehr bezeugen sie gemeinsam und auf ihre je eigene Art und Weise den Glauben an die Verheißung Gottes, wobei der Schrift eine besondere Stellung zukommt, da sie norma normans non normata ist. Was durch die Tradition ausgesagt sein soll, kann nur gesagt werden, insofern es nicht der Schrift als Norm widerspricht. Anders ausgedrückt: Was bereits durch Schriftzitate beschrieben ist, braucht keine weiteren Argumente a forteriori; Argumente und Hinweise aus der Tradition und der Lehrentscheidung der Kirche wären dann als stützende und explizierende Argumente zu werten. Warum in NA 4 nur biblische Zeugnisse aufgenommen wurden, darüber lässt sich spekulieren. Ein Grund dürfte in der bereits erwähnten Rezeptionsermöglichung für das Judentum liegen. Die Redaktoren der Erklärung hätten sehr wohl auf lehramtliche Aussagen zurückgreifen können, so wie J. Isaac sein Memorandum für Papst Johannes XXIII. mit einem lehramtlichen Zeugnis unterstützte, was zum Keim der Erklärung wurde. J. Isaac verwies auf den Katechismus des Trienter Konzils, dass die Schuld aller Sünder den Tod Christi gebracht habe.686 Den Bezug auf den Katechismus des Trienter Konzils nimmt das II. Vatikanum jedoch implizit auf, denn die „Vorstellung einer jüdischen Kollektivschuld (damals und mehr noch heute) wird vehement zurückgewiesen. Vielmehr werden die Aussagen des ,Catechismus Romanus‘, den Jules Isaac erwähnte, aufgegriffen“.687 685

Vgl. U. LIEVENBRÜCK, „Ein Rückblick“, 46. Vgl. dazu J. OESTERREICHER, „Kommentierende Einleitung“, 406-407. 687 R. SIEBENROCK, „Theologischer Kommentar“, 662. Neben dem impliziten Hinweis auf den „Catechismus Romanus“ kann auch das biblische Wort von der Wurzel, die die Kirche nährt, als eine implizite Aufnahme des Wortes Pius XI. gelesen werden, dass alle Christen im geistlichen Sinne Semiten seien. Weiter hätte im Text auch eine Anspielung 686

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Auch wenn NA 4 keine expliziten Hinweise aus der Lehrtradition aufnimmt, so ist die Tradition implizit dennoch gegeben, was für eine Hermeneutik der Reform spricht, die eine innovative Reform kennt und sich eben nicht gegen die vorausgehende Lehrtradition stellt, diese aber weiterführt. Gegen einen Bruch von NA 4 mit der Tradition der Kirche spricht auch die Tatsache, dass das Konzil keine abstufende Hermeneutik der einzelnen Dokumente festgelegt hat, auch wenn es die Unterscheidung in Konstitutionen, Dekreten und Erklärungen kennt;688 ebenso wenig lässt sich eine Abstufung der Dokumente in doktrineller, pastoraler und rechtlicher Hinsicht ausmachen. Die Unterscheidung ist mehr dem Anspruch des Konzils geschuldet, mit den Konstitutionen ad intra Ecclesiae und mit den Dekreten und Erklärungen ad extra Ecclesiae zu sprechen, was eine unterschiedliche Sprache und Form verlangt. Das bedeutet aber nicht, dass die einzelnen Dokumente damit aus dem Gesamtduktus des Konzils zu nehmen sind.689 So weist auch R. Siebenrock darauf hin, dass die Dokumente des Konzils in einer „unlösbaren Tiefenverbindung“ stehen.690 Die Dokumente des Konzils erklären sich nicht einzig aus sich selbst, sondern stehen damit in einer gegenseitigen Erschließung, weshalb eine Erklärung denselben lehramtlichen Stellenwert einnehmen kann wie eine Konstitution. Eine konziliare Hermeneutik kann nicht einfach in alt-neu, konservativprogressiv und Entsprechendes eingeteilt werden. Für die Interpretation braucht es das Hören auf die Polyphonie der Stimmen, die sich in diesen Texten ausdrücken.691 Es gilt der Primat der Synchronie bei der auf die Enzyklika Pius XI. „Mit brennender Sorge“ von 1937 gegeben werden können, in der die antisemitische Ideologie verurteilt wurde. Warum dies ausblieb, bleibt eine kritische Anfrage an die Redaktoren. Zur Ablehnung der Kollektivschuld siehe J. RATZINGER, „Die Vielfalt der Religionen und der Eine Bund“, in: DERS., Kirche – Zeichen unter den Völkern. Schriften zur Ekklesiologie und Ökumene, Bd. 2 (= JRGS 8,2), G. L. MÜLLER (Hg.), Freiburg – Basel – Wien 2010, 1078-1140, 1095-1097; [in Folge: J. RATZINGER, „Die Vielfalt der Religionen und der Eine Bund“]. 688 Vgl. dazu den Beitrag J.-H. TÜCK, „Die Verbindlichkeit des Konzils. Die Hermeneutik der Reform als Interpretationsschlüssel“, in: DERS. (Hg.), Erinnerung an die Zukunft. Das Zweite Vatikanische Konzil, Freiburg – Basel – Wien, zweite, aktual. und erw. Aufl. 2013, 94-113. 689 Vgl. dazu A. RENZ, Die katholische Kirche und der interreligiöse Dialog, 158-160. 690 R. SIEBENROCK, „Nie mehr als verworfen ansehen…“, 116. Hierbei bezieht sich der Autor darauf, dass mit der Erklärung der Religionsfreiheit erst der Bezug des Konzils zur Moderne möglich ist und hat „deshalb eine das ganze Konzil tragende Bedeutung, weil sie die notwendigen Bedingungen für Begegnung eröffnet“ (ebd.). Zum Folgenden siehe ebd. 119-125. 691 Vgl. dazu DERS., „Das Senfkorn des Konzils. Vorläufige Überlegungen auf dem Weg zu einem erneuerten Verständnis der Konzilserklärung ‚Nostra Aetate‘“, in: K. LEHMANN – G. WASSILOWSKY (Hgg.), Zweites Vatikanum. Vergessene Anstöße, gegenwärtige Fortschreibungen (= QD 207), Freiburg – Basel – Wien 2004, 154-184, 161-162, hier

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Interpretation der Konzilsdokumente. Wenn auch die diachrone Erklärung und Entstehungsgeschichte einen nicht unerheblichen Beitrag der Interpretation leisten, so ist es doch das Konzil, das einen endgültigen Text verabschiedet. W. Kasper weist darauf hin, dass NA 4 auf das gemeinsame Erbe von Judentum und Christentum zurückgreift, das das Konzil bereits in der Kirchenkonstitution festgeschrieben hat.692 Wenn aber die Texte in einem „interaktiven“ Geflecht stehen, dann gilt dies auch für das Verhältnis einzelner Abschnitte zum Gesamtkonzil sowie einzelner Abschnitte zum einzelnen Dokument. 1.1.5.

Fortschreibung von Nostra aetate 4

Die Bedeutung konziliarer Dokumente zeigt sich unter anderem in deren Rezeption und in der Fortschreibung ihrer Inhalte. Auch NA 4 hat einen Rezeptionsvorgang erfahren, der für eine Bibel- und Theologiehermeneutik wichtig wurde. In diesem Abschnitt soll daher in gebotener Kürze auf die wesentlichen weltkirchlichen Dokumente und Aussagen eingegangen werden, die der Fortschreibung von NA 4 dienen.693 Die Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum, am 22.10.1974 errichtet und dem Sekretariat zur Förderung der Einheit der 162: „Unsere Theologische Erkenntnislehre ist viel zu individualistisch. Sie müsste hingegen als ekklesiologischer Gesamtprozess unter Beteiligung aller Glaubenden und aller Fähigkeiten der Menschen entwickelt werden. Das Prinzip einer Konzilshermeneutik muss daher lauten: audiatur et altera pars“; [in Folge: R. SIEBENROCK, „Das Senfkorn des Konzils“]. 692 Vgl. W. KASPER, Katholische Kirche, 421 und DERS., „Ekklesiologie im Ausgang“, 229: „So kann sich seit der seit dem Konzil in Gang gekommene Dialog mit dem Judentum nicht allein auf das 4. Kapitel der Erklärung Nostra aetate stützen; was diese Erklärung konkret ausführt und anregt, ist bereits in den beiden dogmatischen Konstitutionen Lumen gentium und Dei Verbum grundgelegt […]“. 693 Da in Folge besonders die Dokumente und Station der Rezeption bedacht werden, die für das Thema der Arbeit relevant sind, sei für die Dokumentation einer breiten Rezeption verwiesen auf A. RENZ, „Die Stärkung des ‚geistlichen Bandes‘ mit den ‚älteren Brüdern‘. Die lehramtliche Rezeption von Nostra Aetate 4“, in: S. SCHREIBER – T. SCHUMACHER (Hgg.), Antijudaismen in der Exegese? Eine Diskussion 50 Jahre nach Nostra Aetate, Freiburg – Basel – Wien 2015, 76-114, 78-112; [in Folge: A. RENZ, „Die Stärkung des ,geistlichen Bandes‘“]; J. WOHLMUTH, An der Schwelle zum Heiligtum. Christliche Theologie im Gespräch mit jüdischem Denken (= SJCh), Paderborn 2007, 6785; [in Folge: J. WOHLMUTH, An der Schwelle zum Heiligtum]. Sämtliche Dokumente zur Beziehung Judentum-Christentum von 1945-2015 finden sich in: R. RENDTORFF – H. H. HENRIX (Hgg.), Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1945-1985, Bd. 1, München 21989; [in Folge: KuJ I]; H. H. HENRIX – W. KRAUS (Hgg.), Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1986-2000, Bd. 2, Paderborn – Gütersloh 20013; [in Folge: KuJ II]; H. H. HENRIX – R. BOSCHKI (Hgg.), Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 2000 bis heute, Bd. 3, [Digitale Version: https://www.nostra-aetate.unibonn.de/kirchliche-dokumente/online-publikation-die-kirchen-und-das-judentum/online -publikation-die-kirchen-und-das-judentum; zuletzt abgerufen am 10.11.2019; in Folge: KuJ III].

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Christen zugeordnet, veröffentlichte am 1.12.1974 „Richtlinien und Hinweise für die Durchführung der Konzilserklärung Nostra aetate, Artikel 4“.694 Dabei bezeichnet das Dokument NA 4 als Wendepunkt in der Beziehung zwischen Judentum und Christentum, nicht als Bruch und Neuanfang (48). Ziel des Konzilsdokuments soll demnach der Dialog und das gegenseitiges Verstehen sein (48). Indem sich das Dokument die Ziele des Konzils zu eigen macht, verurteilt es gleich in der Einleitung alle Formen des Antisemitismus und der Diskriminierung, ohne dass das Dokument ein Schuldbekenntnis kirchlicher Verfehlungen anspricht (49).695 Der Dialog zum Judentum wird von der Kommission mit einem eigenen Abschnitt gewürdigt, durch den auch ein besseres Verstehen der eignen Tradition gegeben werden soll (4950). In diesem Dialog muss christliche Verkündigung aber mit Respekt den Vorbehalten des Judentums gegenüber der christlichen Botschaft begegnen, der durch wissenschaftlichen Austausch und mit Gebet gefördert werden soll. Darum müssen besonders in der Liturgie die alttestamentlichen Texte mit Sorgfalt bedacht und ausgelegt werden, um den biblischen Reichtum besser bekannt zu machen (50-51), weil sich in den biblischen Texten die heilsgeschichtliche Bedeutung der Beziehung von Judentum und Christentum zeigt und bereits die alttestamentlichen inspirierten Texte Offenbarung Gottes sind (vgl. 5152). Dies bedeutet in der Auseinandersetzung des Christentums mit dem Judentum eine „Rückkehr der Christen zu den Quellen und Ursprüngen ihres Glaubens, der im Alten Bund gründet“ (53). In einer Ansprache an den Zentralrat der Juden in Deutschland im Jahr 1980696 prägte Papst Johannes Paul II. das Wort, dass der Dialog zwischen dem Gottesvolk des Alten und Neuen Bundes ein Dialog innerhalb der Kirche, gleichsam zwischen dem ersten und zweiten Teil der Bibel sei (75) und dass dies ein „lebendiges Erbe“ bedeute (74). Darum müssen sich die heutigen christlichen Kirchen dem heutigen Judentum zuwenden – ein Anliegen, das in den vorausgehenden Dokumenten und in NA 4 immer wieder als fehlend benannt wurde. 694 KOMMISSION FÜR DIE RELIGIÖSEN BEZIEHUNGEN ZUM JUDENTUM, Richtlinien und Hinweise für die Durchführung der Konzilserklärung „Nostra aetate“, Artikel 4 vom 1. Dezember 1074, AAS 45 (1975) 73-79, zitiert nach KuJ I, 48-53. 695 Zum Eingeständnis der Schuld katholischer Christen am Judentum siehe KOMMISSION FÜR DIE RELIGIÖSEN BEZIEHUNGEN ZU DEN JUDEN, „Wir erinnern: Eine Reflexion über die Schoa“ vom 16. März 1998, in: KuJ II, 110-119; sowie das Schuldbekenntnis Johannes Pauls II. am 1. Fastensonntag 2000, Text und Kommentar: INTERNATIONALE THEOLOGENKOMMISSION, Erinnern und Versöhnen. Die Kirche und die Verfehlungen in ihrer Vergangenheit, G. L. MÜLLER (Hg.) (= Neue Kriterien 2), dritte, erweit. Aufl., Einsiedeln 2000. 696 JOHANNES PAUL II., Ansprache an den Zentralrat der Juden in Deutschland und die Rabbinerkonferenz am 17. November 1980 in Mainz, AAS 73 (1981) 78-82, zitiert nach KuJ I, 74-77. Vgl. dazu A. RENZ, Die katholische Kirche und der interreligiöse Dialog, 184-185.

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Im Jahr 1985 veröffentlichte die Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum nochmals ein Dokument in Fortschreibung von NA 4: „Hinweise für eine richtige Darstellung von Juden und Judentum in der Predigt und in der Katechese der katholischen Kirche“.697 Hierin unterstreicht die Kommission die Bedeutung der „unverzichtbaren Gegenwart“ (94) des Judentums in der Predigt. Dabei geht es nicht um eine historische Verbindung zwischen zwei Religionen, sondern um die „lebendige Wirklichkeit, die zur Kirche in enger Beziehung steht“ (94), auch wenn das Alte Testament seinen „Eigenwert als Offenbarung“ behält (97). Dies dürfe aber nicht dazu führen, Judentum und Kirche als zwei verschiedene Heilswege darzustellen (95), da es nur die eine Heilsgeschichte gibt, in der die Einheit der biblischen Offenbarung bekannt wird, weshalb es in Predigt und Katechese zu keiner Entgegensetzung von Gesetz und Evangelium kommen darf. Dass für Papst Johannes Paul II. das Verhältnis zum Judentum eine besondere Bedeutung hatte, ist auch aus seiner Biographie heraus zu erklären, als er mit dem Leid der Juden während des Zweiten Weltkrieges direkt konfrontiert wurde. Wie ein roter Faden zieht sich daher die Wertschätzung und die Verpflichtung zum Dialog mit dem Judentum durch seine Ansprachen. 1986 sprach er in der römischen Synagoge den seither immer wieder zitierten Satz, die „jüdische Religion [… ist] für uns [die katholische Kirche; Anm. d. Verf.] nicht etwas ,Äußerliches‘, sondern gehört in gewisser Weise zum ,Inneren‘ unserer Religion. Ihr seid unsere bevorzugten Brüder und, so könnte man gewissermaßen sagen, unsere älteren Brüder“.698 Damit rezipiert der polnische Papst nicht nur NA 4 und die bisherigen Dokumente und Stellungnahmen, sondern vertieft deren Gedanken nochmals grundlegend, indem er den jüdisch-christlichen Dialog in das Innere des Mysterium Ecclesiae einschreibt und in der klimaktischen Anordnung von NA 4 dem Judentum den privilegierten Platz in der Beziehung zu anderen Religionen als „ältere Brüder“ zuspricht. Es besteht eine „Bindung“ zwischen der Kirche und dem Judentum. Somit ist die Kirche nicht nur auf den interreligiösen Dialog mit dem Judentum verpflichtet, sondern muss auch jüdische Theologie und deren Traditionen für ihr theologisches Denken miteinbeziehen und fruchtbar machen. Im Pontifikat von Johannes Paul II. wurde als Frucht des II. Vatikanums 1992 der Katechismus der Katholischen Kirche veröffentlicht, der in einem Buch das depositum fidei zusammenfassen 697

Den Text siehe in KuJ I, 92-103. JOHANNES PAUL II., Ansprache beim Besuch der Großen Synagoge Roms am 13. April 1986, AAS 78 (1986) 1117-1123, zitiert nach: KuJ I, 106-111, Zitat 109.

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und darlegen soll.699 Der Katechismus nimmt die Grundlinien des Konzils auf und schreibt das Alte Testament in das Herz des christlichen Glaubens. Der Alte Bund ist nie widerrufen und enthält das „Geheimnis unseres Heils“, denn es ist „wahres Wort Gottes“ (vgl. Nr. 121-123), weshalb Altes und Neues Testament eine Einheit bilden, die in der Auslegung berücksichtigt werden muss (Nr. 128-130). Der Hinweis von NA 4 auf das Judesein Jesu wird im Kapitel über die Mysterien des Lebens Jesu erweitert, indem Nr. 528 die Juden in die Sendung Jesu einschließt, insofern „die Heiden nur dann Jesus entdecken und ihn als Sohn Gottes und Heiland der Welt anbeten können, wenn sie sich an die Juden wenden und von ihnen die messianische Verheißung empfangen, wie sie im Alten Testament enthalten ist“. Damit ist nicht nur dem katholischen Glauben, sondern auch katholischer Theologie der Bezug auf das Judentum und deren Theologie in das Stammbuch geschrieben: Katholische Theologie kann keine Theologie am Judentum vorbei sein.700 Ebenfalls folgt der Katechismus dem Konzil, indem er der Gottesmordtheorie in Nr. 591 klar und deutlich eine Absage erteilt. Der Katechismustext sagt zwar, dass Jesus von den jüdischen Autoritäten angeklagt wurde, nimmt sie zugleich aber in Schutz, da sie aus Unwissenheit und Verstocktheit (vgl. Mk 3,5; Röm 11,25) handelten. Als wegweisende Dokumente der Rezeption von NA 4 müssen die beiden Dokumente der Päpstlichen Bibelkommission von 1993 und 2001 genannt werden.701 Das Dokument „Die Interpretation der Bibel in der Kirche“ sieht das Judentum als das „Ursprungsmilieu des Neuen 699 KATHOLISCHE KIRCHE, Katechismus der Katholischen Kirche, München 1993 [in Folge: KKK]. 700 Vgl. A. BUCKENMAIER, „Ein nie gekündigter Bund. Dogmatische Anmerkung zum Weg vom Zweiten Vatikanischen Konzil bis heute“, FrRu 23 (2016) 185-194, zitiert nach: [http://www.freiburger-rundbrief.de/de/?item=1503; zuletzt abgerufen am 17.09.2019]: „Christologie kann man nur entfalten, wenn man vom Jüdischen her denkt. Dieses Ergebnis ist in gewissem Sinn auch nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die wichtigsten christologischen Aussagen der Kirche, die Ausformulierung des Bekenntnisses zu Jesus von Nazareth als dem Christus und Sohn Gottes in den ersten Jahrzehnten nach seinem Tod, ausschließlich von gläubigen Juden formuliert wurden, die zudem überzeugt waren, damit das Judentum und seinen Monotheismus nicht zu verlassen“. 701 Vgl. PBK, Die Interpretation der Bibel, 47-48; PBK, Das jüdische Volk, Nr. 21-23. Dazu siehe C. DOHMEN (Hg.), In Gottes Volk eingebunden. Christlich-jüdische Blickpunkte zum Dokument der Päpstlichen Bibelkommission „Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel“, Stuttgart 2003 und H. H. H ENRIX, „Das Vatikandokument ‚Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel‘. Ein Text von Tragweite für Theologie und Dialog“, in: G. GELARDINI (Hg.), Kontexte der Schrift 1. Text, Ethik, Judentum und Christentum, Gesellschaft, FS für Ekkehard Wolfgang STEGEMANN, Kontexte der Schrift Bd. 1, Stuttgart 2005, 336-349, der in seinem Beitrag besonders auf das Messiasverständnis von Judentum und Christentum eingeht.

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Testaments und der entstehenden Kirche“. Dabei erwähnt das Schreiben die Bedeutung der LXX und das Vorbild jüdischer Exegese für die christliche Bibelauslegung. Die Bibelkommission sieht die jüdische Auslegungstradition als eine von vielen legitimen Methoden der Sinnerschließung biblischer Texte. Das Dokument „Das jüdische Volk und seine Heiligen Schriften in der christlichen Bibel“ bestimmt den christlichen Zugang im Blickwinkel der Kontinuität, wenn auch die Diskontinuität nicht verschwiegen wird, ohne damit in eine glättende Spiritualisierung zu verfallen, die Brüche oder Unterschiede vorschnell einebnet (vgl. Nr. 21). Das Dokument ist im Wissen um Gottes Treue und um die eine Heilsgeschichte zu lesen, insofern die eine Heilsgeschichte der Schlüssel zum Verständnis von jüdischer und christlicher Schrift ist. „Diese Kontinuität hat tiefe Wurzeln und zeigt sich auf verschiedenen Ebenen. So erscheinen im Christentum wie im Judentum Schrift und Überlieferung in vergleichbarer Weise miteinander verbunden. Jüdische Methoden der Schriftauslegung finden häufig im Neuen Testament Verwendung“ (Nr. 84). Für das Christentum bedeutet dies, dass Altes und Neues Testament in einer Kontinuität und Korrelation zueinander stehen, aus der sie nicht herausgenommen werden können, sondern in der sie ineinander verwoben sind. Grundlegend zeichnet sich das Dokument durch einen positiven und wertschätzenden Grundton aus, der selbst bei kontroversen Themen nicht verklingt, sondern das Verhältnis zum Judentum so beschreibt, dass eine Abwertung des Judentums von Seiten des Christentums theologisch nicht mehr möglich ist. Im Pontifikat Papst Benedikts XVI. kam es ebenfalls zu zahlreichen Begegnungen mit jüdischen Vertretern, bei denen der deutsche Papst an die Grundlagen und Überzeugungen von NA 4 erinnerte und diese vertiefte.702 Im Jahr 2008 setzt der deutsche Papst ein wichtiges Zeichen 702 Vgl. hierzu die Ansprachen und Grußadressen, die Benedikt XVI. Vertretern des jüdischen Lebens zukommen lies in KuJ III, K.I. 2005-2013. Waren es bei Johannes Paul II. große Worte und Gesten, so zeigt sich beim deutschen Papst eine theologische Tiefe, die jedoch nicht selten zu Un- oder Missverständnissen führte. Hierbei darf nicht die Textänderung der Karfreitagsfürbitte der außerordentlichen Form des römischen Ritus durch Benedikt XVI. übergangen werden, die bei vielen Kritikern als ein Rückfall hinter NA 4 verstanden wurde. Vgl. dazu mit weiterführender Literatur A. RENZ, Die katholische Kirche und der interreligiöse Dialog, 186-189 und DERS., „Die Stärkung des ,geistlichen Bandes‘“, 107-109. Auch wenn Benedikt XVI. in der Oration der Fürbitte auf Röm 11,25 Bezug nimmt und die Rettung damit als unabhängig von der Völkermission darstellt, wird das Fehlen des positiven Bezugs der Offenbarung Gottes an die Väter kritisiert. Selbst wenn bei theologischen Schriften und Ansprachen J. Ratzingers/Benedikts XVI. weitaus mehr die positive und israelsensible Theologie hervorsticht, ist bei der Fürbitte das Problem gegeben, dass in der Liturgie als locus theologicus eine Wegmarke hätte setzten können und müssen. Als Beispiel einer israelsensiblen Theologie aus der Feder J. Ratzingers kann gelten: J. RATZINGER, „Die Vielfalt der Religionen und der Eine Bund“, 1078-1140.

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für den christlich-jüdischen Dialog, der mit der Liturgie das Herz des kirchlichen Lebens betrifft. Er wies die Gottesdienstkongregation an, die Bischofskonferenzen zu unterrichten, dass aus Respekt vor dem jüdischen Glauben in der Liturgie und in den liturgischen Büchern das Tetragramm nicht mehr verwendet und durch „Gott“ oder „Herr“ ersetzt werden solle.703 Für diese Arbeit weitere wesentliche Aussagen finden sich in der Ansprache beim Besuch der römischen Synagoge am 17.01.2010, dem Vorabend der Gebetswoche um die Einheit der Christen.704 In dieser Ansprache geht Benedikt XVI. besonders auf die Bedeutung des Dekalogs als „Polarstern des Glaubens und der Moral des Gottesvolkes“ (Nr. 6) ein, der nicht nur für das Judentum bleibende Gültigkeit besitzt, sondern auch für das Christentum und die ganze Menschheit. Damit unterstreicht er zum einen explizit die bleibende Bedeutung des Judentums im Bund Gottes, andererseits implizit die universale Bedeutung und Aufgabe des jüdischen Glaubens für die ganze Menschheit. Zu einer weiteren Begegnung mit Vertretern jüdischen Glaubens kam es beim Besuch des Papstes in Deutschland im Jahr 2011.705 In seiner Ansprache erinnert Benedikt XVI. an die „innere Verwandtschaft mit dem Judentum“, was bedeutet, dass es „für Christen keinen Bruch im Heilsgeschehen geben“ kann. Das Christentum bleibt heilsgeschichtlich auf seine Wurzel verwiesen, was anders ausgedrückt bedeutet: Das Heil in Jesus Christus kann es nicht in Abkehr vom Alten Bund geben, sondern nur im Wissen darum, dass „das Heil […] nun einmal von den Juden [kommt] (Joh 4,22)“. Die Bergpredigt Jesu hebe daher das mosaische Gesetz nicht auf, sondern führt es in seiner Radikalität aus. Im zweiten Teil seiner Jesus-Trilogie kommt der Papst noch auf die Auslegung des ersten Teils der christlichen Bibel zu sprechen, wobei er folgert, dass es „als unsere heutige Aufgabe [anzusehen ist], dass diese beiden Weisen der Schriftlektüre – die christliche und die jüdische – miteinander in Dialog treten müssen, um Gottes Willen und Wort recht zu verstehen“. Einen wichtigen Beitrag in der Rezeption von NA 4 leistet Benedikt XVI. mit seinem nachsynodalen Schreiben Verbum Domini.706 Hebt die 703 Vgl. KONGREGATION FÜR DEN GOTTESDIENST UND DIE SAKRAMENTENORDNUNG, Brief an die Bischofskonferenzen zum „Namen Gottes“ vom 29. Juni 2008, zitiert nach KuJ III, K.I. – 29. Juni 2008 (zuletzt abgerufen am 11.09.2019). 704 BENEDIKT XVI., Ansprache beim Besuch der römischen Synagoge am 17. Januar 2010, zitiert nach KuJ III, K.I. – 17. Januar 2010 (zuletzt abgerufen am 11.09.2019). 705 DERS., Ansprache bei der Begegnung mit Vertretern der Jüdischen Gemeinschaft in Deutschland im Reichstagsgebäude zu Berlin am 22. September 2011, zitiert nach KuJ III, K.I. – 22. September 2011 (zuletzt abgerufen am 11.09.2019). 706 DERS., Nachsynodales Apostolisches Schreiben „Verbum Domini“ an die Bischöfe, den Klerus, die Personen gottgeweihten Lebens und an die christgläubigen Laien über das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche vom 30. September 2010 (= VApS 187), Bonn 2010; [in Folge: BENEDIKT XVI., Verbum Domini].

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Konzilserklärung die bleibende Bedeutung des Judentums für das Christentum und für das Verständnis der Kirche hervor, so berührt dies auch die Bibelauslegung. In Bezug auf die typologische Bibelauslegung unterstreicht der Theologenpapst in Nr. 41 des Schreibens, dass diese Auslegungsmethode erst möglich sei, da das Alte Testament einen „unerschöpflichen Sinngehalt“ hat, aus dem dann eine christologische Auslegung erfolgen kann, wobei „das Alte Testament seinen Offenbarungsgehalt behält“. Darum erhellt das Alte Testament die Lektüre des Neuen Testaments. Wichtig ist hierbei die implizite Rede davon, dass neutestamentliche Erfüllung einer alttestamentlichen Verheißung keine Überwindung oder Ablösung bedeutet, sondern dass auch in der Typologie die „innerliche Beziehung“ beider Testamente und damit beider Religionen in der einen Offenbarung bestehen bleibt. Als Ablehnung jeder Abwertung des Judentums und seiner heiligen Schriften darf Nr. 42 gelesen werden, in der die dunklen und unverständlichen Stellen des Alten Testaments aus dem kulturellen Kontext heraus erklärt werden, weil die biblische Offenbarung in der Geschichte verwurzelt ist und sich Schritt für Schritt durchsetzt. Durch diese heilsgeschichtliche Sichtweise der Offenbarung braucht es daher geeignete hermeneutische Herangehensweisen an die biblischen Texte, die das Licht Gottes zu Tage bringen. Ist Verbum Domini von hermeneutischen Fragen geleitet, die den jüdisch-christlichen Dialog betreffen, so legt Papst Benedikt XVI. in seinem Nachsynodalen Schreiben Ecclesia in Medio Oriente gleich im ersten Teil einen Abschnitt zum interreligiösen Dialog vor.707 Dabei widmet er die Nr. 20-22 dem Judentum und erinnert darin an die grundlegende und wesentliche Verbindung zwischen dem Judentum und dem Christentum, denn „[s]ie sind in einem kostbaren gemeinsamen spirituellem Erbe verankert“ (Nr. 20). In derselben Nummer erinnert der Papst an den gemeinsamen Glauben an den einen und einzigen Gott und an die gemeinsamen Schriften als Wort Gottes, die beide Religionen immer weiter zusammenführen sollen (vgl. Nr. 20). In absoluter Deutlichkeit stellt er das Judesein Jesu und Marias heraus, das er als „einzigartiges Gut, auf das alle Christen stolz sind und das sie dem auserwählten Volk verdanken“ (Nr. 20), bezeichnet; dagegen ist das Bekenntnis der Christen zu Jesus als dem Messias das Trennende. Je mehr die Christen das Mysterium der Inkarnation begreifen, umso mehr können sie in der Liebe zum einen und wahren Gott (vgl. Dtn 6,5) wachsen. Die Glaubenstradition und die Kultur 707

Vgl. BENEDIKT XVI., Nachsynodales Apostolisches Schreiben ECCLESIA IN MEDIO ORIENTE Seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. an die Patriarchen, die Bischöfe, den Klerus, die Personen geweihten Lebens und an die christgläubigen Laien über die Kirche im Nahen Osten, Gemeinschaft und Zeugnis vom 14. September 2012 (= VApS 192), Bonn 2012, Nr. 19-28.

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können dabei eine wertvolle Bereicherung sein, weshalb es immer die dankbare Erinnerung der Verwurzelung im Glaubensvolk Jesu braucht (vgl. Nr. 21). In seinem nachsynodalen Schreiben stellt der deutsche Papst aber auch fest: „Unentschuldbar und aufs schärfste zu verurteilen sind die unterschwelligen oder gewaltsamen Verfolgungen der Vergangenheit!“ (Nr. 22). Den Weg in die Zukunft sieht er nur in dem gemeinsamen Zeugnis, das Judentum und Christentum als jüdischchristliche Kultur der Welt anbieten können, weil beide Religionen unter dem einen Segen Gottes stehen (vgl. Nr. 22). Fünfzig Jahre nach der Konzilserklärung über die Beziehung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen hat die Kommission für die religiöse Beziehung zum Judentum eine Schrift veröffentlicht, in der sie grundlegende theologische Fragestellungen in Anschluss an NA 4 formuliert.708 Nach einem Durchgang des bisherigen Dialogs stellt das Dokument in Nr. 14 die bleibende Verwurzelung des Christentums im Judentum heraus, beschreibt dabei aber auch die Bedeutung Jesu als des Christus, zu dem sich das Christentum bekennt, der aber vom Judentum abgelehnt wird. Bei diesem Fundamentalunterschied sieht Nr. 15 Christentum und Judentum dennoch als Geschwisterreligionen, die trotz gemeinsamer Schriften unterschiedliche Wege einschlugen und zu einer christologischen und rabbinischen Lesart der Schriften gelangten (vgl. Nr. 16 und 31-32), woraus die besondere und einzigartige Beziehung beider Religionen resultiert (Nr. 20). Weil die Kirche als neues Volk Gottes Israel nicht ersetzt und ablöst (Nr. 23), sind beide Religionen auf das Heil in Gott ausgerichtet, das jeweils in Jesus Christus und der Tora gegenwärtig ist (Nr. 25-26). Darum können sich der Alte und der Neue Bund nicht kontrastierend gegenüberstehen, sondern sind aufeinander bezogen (Nr. 27). Das Judentum steht in der Treue Gottes, der sein Heil und seine Verheißung an seinem Volk erweisen wird. Die bleibende theologische Herausforderung sieht das Dokument in Nr. 35-39, wie die Wege von Christentum und Judentum aufgrund der Heilsuniversalität Jesu Christi in einen einzigen Heilsweg zusammengeführt werden können, ohne dass es jedoch eine eigene 708

Vgl. KOMMISSION FÜR DIE RELIGIÖSEN BEZIEHUNGEN ZUM JUDENTUM, „Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt“ (Röm 11,29). Reflexionen zu theologischen Fragestellungen in den katholisch-jüdischen Beziehungen aus Anlass des 50-jährigen Jubiläums von „Nostra aetate“ (Nr. 4) vom 10. Dezember 2015 (= VApS 203), Bonn 2016. Gleich im Vorwort des Dokuments wird darauf hingewiesen, dass es sich nicht um ein lehramtliches Schreiben handelt, sondern dass das Schreiben der theologischen Reflexion dienen soll (5). Siehe zu dem Dokument D. ANSORGE, „Gottes Treue zu Israel und die universale Heilsbedeutung Jesu Christi. Verhältnisbestimmungen von Judentum und Christentum“, in: G. AUGUSTIN – C. SCHALLER – S. ŚLEDZIEWSKI (Hgg.), Der dreifaltige Gott. Christlicher Glaube im säkularen Zeitalter, FS für Gerhard Kardinal MÜLLER, Freiburg – Basel – Wien 2017, 115-152, 123-136; [in Folge: D. ANSORGE, „Gottes Treue zu Israel“].

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Judenmission geben darf (vgl. Nr. 40-43). Dabei ist hervorzuheben, dass das Dokument den eschatologischen Vorbehalt nicht überspringt und die Frage des Heils und der Vollendung als eschatologisches Ereignis gelten lässt.709 Papst Franziskus stellt sich mit seinem Schreiben Evangelii gaudium710 bewusst in die Linie seiner Vorgänger auf dem Stuhl Petri und lässt in seiner Haltung gegenüber dem Judentum ebenfalls seine persönlichen Kontakte einfließen. In seinem Apostolischen Schreiben hebt er hervor, dass das Judentum für das Christentum keine „fremde Religion“ sein kann und darf (Nr. 247), weshalb die Beziehung von Dialog, Freundschaft und Zuneigung (Nr. 248) geprägt sein muss. Auch wenn die Kirche nicht davon lassen kann, Jesus als den Messias zu verkünden, lernt sie dennoch aus dem Weisheitsschatz des Judentums, der aus der Begegnung mit dem Wort Gottes entspringt und sich in den Schriften des Alten Testaments niederschlägt (Nr. 249). Die lehramtliche Rezeption von NA 4 zeigt, dass die besondere und einzigartige Beziehung von Judentum und Christentum nicht eine Marginalie des religiösen Dialogs ist, sondern die Herzmitte und ein Herzensanliegen von Glauben und Theologie sein muss. Es ist die Einzigkeit Gottes und das untrennbare Verhältnis von Altem und Neuem Testament, das diese Beziehung trägt und notwendig macht. Darum ist NA 4 und deren Rezeption nicht als eine Bestandsaufnahme, sondern stetige und bleibende Herausforderung zu diesem einzigartigen Dialog aufzufassen.711 709 Vgl. ebd. 135-136: „Vielleicht ist es gerade die Stärke des Dokumentes, hinsichtlich der endgültigen Beziehung zwischen Israel und Christus dem eschatologischen Handeln Gottes Raum zu geben. Man mag den Hinweis des Textes auf die Geheimnishaftigkeit der Vollendung als Defizit vermerken. Man kann aber auch dafür dankbar sein, dass die Kommission keine womöglich verfrühte Synthese vorlegt. Den verhängnisvollen Charakter theologischer Rollenzuschreibungen, die ein christologischer Exklusivismus fast zwangsläufig nach sich zieht, hat die jahrhundertelange Geschichte christlicher Judenfeindschaft zu Genüge erwiesen“. 710 Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium des Heiligen Vaters Papst F RANZISKUS an die Bischöfe, an die Priester und Diakone, an die Personen geweihten Lebens und an die christgläubigen Laien über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute. 24. November 2013 (= VApS 194), Bonn 2013, Nr. 247-249. 711 In der Intensivierung des christlich-jüdischen Dialogs kam es auch zu wertschätzenden Stellungnahmen seitens des Judentums. Als wegweisend seien erwähnt: NATIONAL JEWISH SCHOLARS PROJECT, „Dabru Emet“; Erklärung orthodoxer Rabbiner zum Christentum vom 3. Dezember 2015, Den Willen unseres Vaters im Himmel tun. Hin zu einer Partnerschaft zwischen Juden und Christen, Text und kommentierende Beiträge in: J. AHRENS – J. HEIL – K.-H. BLICKLE – D. BOLLAG (Hgg.), Hin zu einer Partnerschaft zwischen Juden und Christen. Die Erklärung orthodoxer Rabbiner zum Christentum, Berlin 2017; zu „Dabru Emet“ siehe auch: M. A. SIGNER, „Christliche und jüdische Rezeption von Dabru Emet“, in: R. SIEBENROCK – J.-H. TÜCK (Hgg.), Selig, die Frieden stiften. Assisi – Zeichen gegen Gewalt, Freiburg – Basel – Wien 2012, 185-201 und

357

1.1.6.

Bleibende Herausforderungen für eine biblische und theologische Hermeneutik

Nostra aetate 4 darf als innovative Reform in der Beziehung der Kirche zum Judentum verstanden werden. Es ist nicht nur ein theologischer Neueinsatz, sondern der christlich-jüdische Dialog muss vielmehr auch zum locus theologicus für christliche Theologie werden. Somit ergeben sich aus der Theologie und der Rezeption von NA 4 Konsequenzen für ein richtiges Verständnis und Verhältnis des untrennbaren Zusammenhangs von Altem und Neuem Testament. Das Lebensmysterium Jesu Christi ist aus und mit seinem Judesein zu verstehen, weshalb Kirche und Theologie jeglichen Antijudaismen absagen muss.712 Somit ist die Kirche Jesu Christi auf die sie tragende und nährende Wurzel bleibend verwiesen und muss sich daher auch mit den Schriften, die die nährende Wurzel bilden, auseinandersetzen und diese auslegen. Die Kirche löst das Gottesvolk Israel nicht ab, sondern bildet mit dem rabbinischen Judentum die heilsgeschichtliche Antwort auf das Wort Gottes, insofern Judentum und Christentum das eine Volk Gottes bilden.713 Wenn beide Religionen in dieser biblischen Wesenskategorie W. KASPER, Juden und Christen – das eine Volk Gottes, Freiburg – Basel – Wien, 2020, 101108; [in Folge: W. KASPER, Juden und Christen]; EUROPÄISCHE RABBINERKONFERENZ – RABBINICAL COUNCIL OF AMERICA (Hgg.), Zwischen Jerusalem und Rom. Die gemeinsame Welt und die respektierten Besonderheiten. Reflexionen über 50 Jahre Nostra Aetate (01.02.2017), Text in Übersetzung: [http://www.imdialog.org/dokumente/jeru_rom_ wortlaut.pdf; zuletzt abgerufen am 17.09.2019; in Folge.: EUROPÄISCHE RABBINERKONFERENZ, Zwischen Jerusalem und Rom]. 712 Papst Benedikt XVI. hat gezeigt, dass ein am Judensein Jesu orientiertes Denken nicht in die Sackgasse des Antijudaismus läuft. Das Judesein Jesu verpflichtet zum jüdischchristlichen Dialog. In seinen Jesus Büchern tritt er in ein theologisches Gespräch mit dem Rabbi J. Neusner und nimmt der fehlinterpretierten Stelle Mt 27,25 („sein Blut komme über uns und unsere Kinder“) ihre antijudaistische Ausrichtung, da das Blut Jesu nicht das Blut der Rache, sondern das Blut des Heils für alle sei. Vgl. J. RATZINGER, Jesus von Nazareth I-III, in: DERS., Jesus von Nazareth. Beiträge zur Christologie, Bd. 1 (= JRGS 6,1), G. L. MÜLLER (Hg.), Freiburg – Basel – Wien 2013, 557-558; [in Folge: J. RATZINGER, Jesus von Nazareth]. J. Neusner hebt hervor, dass diese Interpretation des Papstes in der jüdischen Welt auf positives Echo gestoßen ist. Vgl. J. NEUSNER, „Rabbi Jesus im Spannungsfeld von Theologie und Geschichtswissenschaft“, in: J.-H. TÜCK (Hg.), Passion aus Liebe. Das Jesus-Buch des Papstes in der Diskussion, Ostfildern 2011, 110-125, hier 113; „besondere Beachtung“ zu dieser Auslegung des Papstes schenkt auch die EUROPÄISCHE RABBINERKONFERENZ, Zwischen Jerusalem und Rom, 7. Zum Dialog Benedikts XVI. mit dem Rabbi J. Neusner siehe A. BUCKENMAIER, „Jesus – die Tora in Person. Anmerkungen zum ‚Gespräch‘ zwischen Jacob Neusner und Joseph Ratzinger“, in: J.-H. TÜCK (Hg.), Annäherungen an „Jesus von Nazareth“. Das Buch des Papstes in der Diskussion, Ostfildern 2007, 80-93. 713 Vgl. R. DAUSNER, „Das Volk Gottes und die messianische Zeit. Zur dogmatischen Herausforderung von Nostra Aetate 4 im 21. Jahrhundert“, in: R. BOSCHKI – J. WOHLMUTH (Hgg.), Nostra Aetate 4. Wendepunkt im Verhältnis von Kirche und Judentum-bleibende Herausforderung für die Theologie (= SJCh 30), Paderborn 2015,

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verstanden werden, ist auch jegliche Substitutionstheorie für obsolet zu erklären und aufzugeben. Das Judentum gehört zur Substanz des Christentums, ohne dass es von ihm vereinnahmt werden darf. Das Christentum kann sich nicht getrennt vom Judentum verstehen. Wie the parting of the ways zeigt, bilden Christentum und Judentum zwei getrennte, wenn auch zu unterscheidende Wege, da beide Religionen den einen Weg des Gottesvolkes gehen, auf dem es zu unterschiedlichen Rezeptionen alttestamentlicher Schriften kam. Dennoch gehen beide Religionen dem theologischen Heil entgegen, das sich für sie eschatologisch verwirklicht. Wenn sich das Christentum als „Söhne Abrahams im Glauben“ versteht, dann sind auch die biblischen Schriften, die von der Abrahamstradition und seiner Verheißung sprechen, Wegmarken auf diesem Weg. Eine israelsensible Theologie betrifft somit auch den Stellenwert des Alten Testaments, weil es die Schriften der „älteren Brüder“ sind. Wenn die Schriften und der Dialog mit dem Judentum nicht nur rein äußerlich, sondern im Inneren der Kirche verankert sind, und die Kirche darin ihr Geheimnis zu verstehen lernt, so muss sich dies im normativen und kanonischen Stellenwert des Alten Testaments zeigen. Die Bewertung des Alten Testaments ist daher als eine theologische Frage ausgewiesen. Darum ist jeder Angriff auf die Glaubenstradition, die mit diesen Schriften beginnt und auf die sich das Judentum bezieht, ein Angriff auf die „älteren Brüder“ der einen Familie Gottes, dem sich das Christentum mit aller Kraft theologisch und human entgegenstellen muss.714 Die Erklärung argumentiert in NA 4 strikt heilsgeschichtlich und sieht darin die theologische Grundlage nicht nur für die Beziehung der Kirche zum Judentum, sondern zu allen Religionen.715 Es ist der theologische Ursprung und das Ziel, das die gemeinsame Beziehung begründet. Schöpfung und Vollendung der Welt sind die beiden Pole, zwischen denen sich die Heilsgeschichte aufspannt und ausdifferenziert. Es gibt für die Konzilserklärung nur die eine Heilsgeschichte, auch wenn mitzudenken ist, dass Heilsgeschichte nicht bedeutet, dass es eine konsequente und stringente Entwicklung hin auf das Christusereignis als Höhepunkt der Heilsgeschichte geben würde. Mit einer solchen Annahme würde nur das Tor für eine Substitutionstheorie und einen triumphalistischen Kirchenbegriff geöffnet werden. Vielmehr muss die Heilsgeschichte in ihrer 83-99. Siehe zum Volk Gottes A. BUCKENMAIER – A. STÖTZEL – L. WEIMER, Die sieben Zeichen des Messias. Das eine Volk Gottes als Sakrament für die Welt, Regensburg 2012, 5658; [in Folge: A. BUCKENMAIER – A. STÖTZEL – L. WEIMER, Die sieben Zeichen des Messias]. 714 R. Siebenrock fasst es in einem Satz zusammen: „Das singuläre Verhältnis zu Israel ist keineswegs ein nur historisches“; R. SIEBENROCK, „Entdeckung des Mysteriums Israel“ 433. Vgl. auch U. LIEVENBRÜCK, „Ein Rückblick“, 72-73. 715 Vgl. R. SIEBENROCK, „Theologischer Kommentar“, 665.

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Kontinuität und Diskontinuität betrachtet werden, in der der christlichjüdische Dialog ein ständiges Ringen und Suchen nach der Verheißung des Lebens und der Wahrheit bleibt. Heilsgeschichte ist und bleibt für das Judentum wie für das Christentum der Weg der Umkehr, wie es die biblischen Texte von der Schöpfung an bis zur Vollendung hin bezeugen. Heilsgeschichte in Anschluss an NA bedeutet für das Christentum daher, sich in die kenotische Haltung Jesu Christi zu begeben, um in der Spannung von Ursprung und Ziel die eigene Geschichte theologisch fruchtbar zu machen. So kann mit R. Siebenrock gesagt werden: „Daher sehe ich [R. Siebenrock; Anm. d. Verf.] die theologische Leitidee des Textes in der Einheit der Heilsgeschichte auf dem Hintergrund einer kenotischpneumatologischen Christologie. Von dieser Sendung Christi her wird die Haltung der Kirche als Dienst der Anerkennung und der Liebe für alle Menschen bestimmt. So ist sie vom Geiste Christi durchdrungen“.716 Die Beziehung zum Judentum fordert die Kirche daher immer wieder heraus, ihren eigenen Ursprung vom Volk Israel her zu verstehen und dies nicht nur historisch, sondern in einer heilsgeschichtlichen Vergewisserung. Die Kirche ist christologisch von der Heilsgeschichte bestimmt und muss sich theologisch von der Geschichte Israels mitbestimmen und prägen lassen. Dabei kommt dem unscheinbar und selbstverständlich klingenden Hinweis des Judeseins Jesu ein enormes Gewicht zu und es wird bedeutungsvoll für die Christologie. Wenn Jesus ein Jude war, dann ist seine Menschheit streng antimarcionitisch zu verstehen und widersetzt sich einer Depotenzierung christologischer Aussagen. Wo Jesus nur noch als ein marcionitischer Mittler und Bote verstanden wird, dessen Menschheit keine Rolle spielt, dort ist auch sein Menschsein als Jude bedeutungslos und die jüdische Tradition für christliche Theologie nicht mehr vonnöten. Dies bedeutet eine Herausforderung für das Verhältnis zum Judentum, weil erst mit einer hohen Christologie die

716 Ebd. 666. Weiter erinnert der Autor daran, dass damit auch das Heil trinitarisch begründet und verstanden werden muss, wenn er schreibt: „Die heilsgeschichtliche Sicht verbietet es, Theozentrik, Christozentrik und Pneumatologie gegeneinander und gegen die Ekklesiologie auszuspielen, weil es sonst keine Grammatik gäbe, die geschichtlich realisierte und in der Schrift bezeugte Heilshoffnung für alle Menschen auszudrücken. Die Verschränkung von heilsgeschichtlicher Theozentrik und menschlicher Existenzsituation als Zugang zum Phänomen ,Religion‘ nach NA 1 ist nicht funktionalistisch enggeführt. Die christologische Tiefendimension des Konzils besagt, dass Anthropologie, Christologie und Theozentrik sich wechselseitig ergänzen und bedingen. Die als trinitarische Struktur aufzeigbare theologische Grammatik von Nostra aetate verlangt eine Verbindung einer Theologie Israels und jener der Religionen“ (ebd. 672). Siehe auch mit entsprechenden Formulierungen DERS., „Das Senfkorn des Konzils“, 175-177.

360

wahre Tiefe in der Beziehung zum Judentum gegeben ist. So gibt K.-H. Menke einen bedenkenswerten Hinweis: „Die Leugnung der Einzigkeit und Heilsuniversalität Christi bedeutet zugleich eine Leugnung der Einzigkeit und Heilsuniversalität Israels. Christlicher Antijudaismus – so lässt sich durchgängig zeigen – ist im 20. Jahrhundert immer dann manifest, wenn Jesu Menschsein nicht als Offenbarung Gottes, sondern als Medium zur Vermittlung des je Einzelnen in der unsichtbaren Gemeinschaft mit Gott missverstanden wurde“.717

Das Festhalten an der christologischen Aussage, dass der Gottessohn wahrer Gott und wahrer Mensch ist und als Jude geboren wurde, bewahrt christliche Theologie davor, in eine Entgegensetzung von Gesetz und Evangelium zu verfallen, da im Judesein Jesu die ontologische Verankerung sowohl in der Schrift des Volkes Israel als auch im Volk Israel selbst gegeben ist. Das bedeutet natürlich, dass die Frage nach dem Heil bestehen bleibt und in Spannung getragen und eschatologisch offengehalten werden muss. Aber in diese Spannung ist das Judesein Jesu eingeschrieben. Jesus hat sich nie von seiner jüdischen Herkunft losgesagt, vielmehr hat sich der Jude Jesus an den Gott der Tora gebunden gefühlt, aber er war nicht nur daran gebunden, sondern hat sie verkündet und gelebt. Die Botschaft Jesu ist Auslegung und Leben der Tora in existentieller Weise, die davon nicht dispensiert, sondern zum Gehorsam gegenüber Gott aufruft.718

717

Vgl. dazu K.-H. MENKE, „Marcion redivivus? Marcionitische Christologie und ihre Folgen in der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts“, in: G. AUGUSTIN – M. BRUN – E. KELLER – M. SCHULZE (Hgg.), „Christus, Gottes schöpferisches Wort“, FS für Christoph Kardinal SCHÖNBORN, Freiburg – Basel – Wien 2010, 537-567, 543-544, Zitat 543. Siehe auch DERS., Spielarten des Marcionismus, 18. 718 Vgl. dazu R. SIEBENROCK, „Entdeckung des Mysteriums Israel“, 436-437: „Diese spannungsreiche Differenz-Einheit wird dadurch nicht gelöst, indem für einen Heilsweg der Tora an Jesus Christus vorbei prinzipiell plädiert wird. Denn dadurch würde das geistliche Band aufgelöst werden. Allein darin, dass Jesus von Nazareth die vollendete Tora verkörpert, bleiben Judentum und Christentum miteinander unlöslich nicht nur historisch verbunden. Denn darin werden wir an den aktuellen Tora-Gehorsam des glaubenden Israels verwiesen. Christen aber wird die Hoffnung prägen, dass auch Israel einmal erkennen wird, dass dieser Jesus von Nazareth die Gestalt vollendeten Toragehorsams verkörpert. Bis zur Erkenntnis desselben bleibt den Jüngern Christi allein der Weg, zu einem Segen für Israel und alle Völker zu werden“.

361

1.2.

Dei Verbum Hermeneutik

und

der

1.2.1.

Grundzüge von Dei Verbum

Anstoß

zur

biblischen

Die Konstitution Dei Verbum719 über die göttliche Offenbarung nimmt das Thema der Offenbarung vom I. Vatikanum auf, führt es aber so weiter, dass „die Fortschreibung ein dramatischer Fortschritt […]“ ist und „dass die Neuerung nicht nur in der Integration neuer Beobachtungen und Ansätze, sondern v.a. in einem neuen Vorzeichen besteht, unter dem auch Altbekanntes neu arrangiert und dadurch neu adaptiert, akzentuiert und aktualisiert wird“.720 Lässt sich der Offenbarungsbegriff des I. Vatikanums mit dem Schlagwort „instruktionstheoretisches Offenbarungsmodell“ zusammenfassen, so entwickelt DV eine „kommunikations-dialogische Offenbarung als Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte“, denn „Subjekt und Inhalt der Offenbarung ist Gott selbst“.721 Im Hintergrund der Offenbarungskonstitution stehen die Bewegungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts,722 in denen die Bibel als dynamisches Wort Gottes seinen Ausdruck fand, wenn es in der lebendigen Liturgie der Kirche gefeiert wird und damit die kirchlichen Gemeinschaft verbindet: Es ist das Wort Gottes, das die Kirche aufbaut. Die Konstitution hat damit eine Offenbarungstheologie gezeichnet, die christologisch und heilsgeschichtlich ausgerichtet ist. Als dogmatische Konstitution ist sie nicht wie vorhergehende Konzilstexte über die göttliche Offenbarung ein definitorischer und verurteilender Text, sondern ein theologischer Text, der dazu einlädt, auf das Wort zu hören und es zu verkünden (vgl. 719

Zur Vorgeschichte und Textgeschichte der Konstitution siehe H. HOPING, „Theologischer Kommentar zur Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum“, HThKVatII 3, Sonderausgabe, Freiburg – Basel – Wien 2009, 695-831, 701-735; [in Folge: H. HOPING, „Theologischer Kommentar“]; J. RATZINGER, „Zur dogmatischen Konstitution über die Göttliche Offenbarung ‚DEI VERBUM‘“, in: DERS., Zur Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils: Formulierung – Vermittlung – Deutung, Bd. 2 (= JRGS 7,2), G. L. MÜLLER (Hg.), Freiburg – Basel – Wien 2012, 713791, 715-731. Die wörtlichen Zitate folgen: P. HÜNERMANN, Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils, 363-385; Zitation nach DV. 720 T. SÖDING, „Die Zeit für Gottes Wort“, 445. Nicht nur das I. Vatikanum fließt in das Dokument ein, sondern auch die beiden Bibelenzykliken Providentissimus Deus von 1893 und Divino afflante Spiritu von 1943 bilden wichtige Wegmarken zur Konstitution Dei Verbum. Zu den Bibelenzykliken siehe R. D. WITHERUP, Scripture. Dei Verbum (= Rediscovering Vatican II), New York 2006, 3-11; [in Folge: R. D. WITHERUP, Scripture]. B. KÖRNER, Die Bibel als Wort Gottes auslegen. Historisch-kritische Exegese und Dogmatik, Würzburg 2011, 38-41; [in Folge: B. KÖRNER, Die Bibel als Wort Gottes auslegen]. 721 H. HOPING, „Theologischer Kommentar“, 739. Auf die biblisch inspirierte und personale Sprache weist auch hin R. D. WITHERUP, Scripture, 45. 722 Vgl. dazu ebd. 11-15.

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DV 1). Darum ist der rote Faden die dialogische Gemeinschaft Gottes mit dem Menschen in der Kirche. Das Wort Gottes führt nicht zu einer Passivität ihm gegenüber, sondern fordert zur Aktivität heraus. Die Konstitution ist theologisch von nicht zu überschätzendem Wert, denn „Dei Verbum traut sich zu,“ – wie T. Söding sagt – „aufzuzeigen und zu präzisieren, was durch die Offenbarungskritik des 19. Jh.s zutiefst fraglich geworden, aber durch die Philosophie Kants, Fichtes und Hegels auch neu zu denken möglich geworden war; dass es Gottes Wort gibt; dass es gesagt und gehört wird; v.a.: dass es wahr ist“.723 Das Eingangskapitel der Konstitution unternimmt den Versuch aufzuzeigen, dass die Offenbarung Gottes nicht in Lehrsätzen zu finden ist, sondern dass die Selbstoffenbarung Gottes in seinem Wort Jesus Christus gegeben ist, indem sich Gott in ihm selbst aussagt und somit sich dem Menschen zugänglich macht, der der Hörer des Wortes ist (vgl. DV 2). Dabei kommt es zu einer Verpflichtung auf das Wort Gottes („religiose audiens et fidenter proclamans“; DV 1,1), weil das Verbum Dei nicht nur die bezeugte Offenbarung ist, sondern das Wort Gottes selbst in der Person des Sohnes. Als „Fülle der ganzen Offenbarung“ („plenitudo totius revelationis“; DV 2) drückt sich dies in Taten und Worten („gestis verbisque“; DV 2) Jesu geschichtlich und heilsgeschichtlich aus.724 Auch wenn die Offenbarung christologisch gelesen wird, so ist die heilsgeschichtliche Offenbarung Gottes von Anfang an gegeben, besonders wenn DV 3 sie als Wegbereitung für das Evangelium sieht („atque ita per saecula viam Evangelio praeparavit“). DV 4 bietet im Rückgriff auf die johanneische Inkarnationstheologie eine Theologie des Glaubens, die im Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes zum Heil führt,725 verbindet sie aber mit dem Gedanken der Kontinuität von der Offenbarung durch die Propheten bis hin zum 723

T. SÖDING, „Die Zeit für Gottes Wort“, 449. Vgl. R. BIERINGER, „Annoncer la vie éternelle (1 Jn 1,2). L’interprétation de la Bible dans les textes officiels de l’Église catholique romaine“, RTL 37 (2006) 489-512, 497502. 725 Vgl. T. SÖDING, „Die Zeit für Gottes Wort“, 450. Vgl. auch H. HOPING, „Theologischer Kommentar“, 744: „Jesus Christus ist die absolute Gegenwart Gottes, seine Selbstoffenbarung in Person (Karl Rahner), die wesenhafte Offenbarung (Romano Guardini). In der Einheit seines Seins ist er zugleich Offenbarer und Inhalt der Offenbarung“. Auf die Christozentrik weist auch hin J. RATZINGER, „Zur dogmatischen Konstitution über die Göttliche Offenbarung ‚DEI VERBUM‘“, in: DERS., Zur Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils: Formulierung – Vermittlung – Deutung, Bd. 2 (= JRGS 7,2), G. L. MÜLLER (Hg.), Freiburg – Basel – Wien 2012, 713-791, 737-734, der jedoch nicht von einer isolierten Christozentrik, sondern einer trinitarisch ausgerichteten Christozentrik sprechen will: „Wenn man dennoch von Christozentrik sprechen will, so ist sie jedenfalls ganz im ursprünglichen paulinischen Sinn verstanden: Christus steht in der Mitte als der Mittler, sein ,Ort‘ ist durch das vermittelnde ,per‘ gekennzeichnet; er umschließt uns in der Dimension des Pneuma, und unser Sein in ihm bedeutet zugleich unser Hingeführtsein auf den Vater […]“; [in Folge: J. RATZINGER, „Dei Verbum“]. Siehe auch R. D. WITHERUP, Scripture, 44-45. 724

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eschatologischen Christus. Jesus Christus als Dei Verbum ist somit Inhalt, der sich nicht nur offenbart, sondern sich für das Heil des Menschen dialogisch kundtut und mitteilt (vgl. DV 6,1). Die göttliche Offenbarung muss als Gabe Gottes verstanden werden, der der Mensch einzig in Freiheit und Glauben begegnen kann. So bezieht sich das Wort Gottes auf den Menschen und dessen Heil: „Was Gott zum Heil aller Völker geoffenbart hatte, das sollte, wie Er in seiner großen Güte fügte, auf ewig unversehrt fortdauern und allen Geschlechtern weitergegeben werden“ (DV 7,1). In diesem ekklesiologischen Abschnitt wird die Kirche nicht mehr als Wächterin des Wortes dargestellt, sondern sie ist hineingenommen in die Überlieferungszeugen Apostel-Kanon-apostolische Sukzession, insofern die Kirche durch die Verkündigung lebenspraktische Hilfe für die Aneignung des Wortes Gottes ist (DV 8). Die Schrift ist verbunden mit der Tradition, die beide „gleichsam [wie] ein Spiegel“ (DV 7,2) das Evangelium in die Gegenwart hineinscheinen lassen. Als Zeugnis der Offenbarungsquelle und gemeinsam als „heilige Hinterlassenschaft des Wortes Gottes“ (DV 10,1) sind sie theologisch auf den lebendigen Gott als Ursprung und Ziel ausgerichtet (DV 9), von dem her die Kirche alles empfängt. Es ist die Tradition, durch die „der Kirche der vollständige Kanon der Heiligen Bücher bekannt“ gemacht wird (Präsens; DV 8,4), was darauf hinweist, dass die Offenbarung Gottes zu allen Zeiten aktiv gehört werden will und muss, um Offenbarung Gottes zu sein. Die Offenbarung Gottes ist geschichtlich und nicht rein historisch; sie wirkt und ist kein vergangenes Ereignis. Auch die Tradition ist für den Glauben ein Lebensprinzip, denn „sie bedeutet“ – wie J. Ratzinger kommentiert – „im Letzten eine hermeneutische Grundentscheidung, derart, dass der Glaube nicht anders als in der geschichtlichen Kontinuität der Glaubenden anwesend ist, in ihr, nicht gegen sie gefunden werden muss […]“.726 In das Präsens der Offenbarung ist daher auch die Tradition aufzunehmen, weil sie in DV 8 nicht statisch, sondern dem Offenbarungsverständnis entsprechend dynamisch gedacht ist, da die Tradition mit dem Kanon der „Heiligen Bücher“ und dem Verstehen der „Heiligen Schriften“ verbunden ist. Auch wenn sie zu unterscheiden sind, bleiben sie dennoch miteinander verbunden (vgl. DV 10,3), wobei der Schrift gegenüber der Tradition ein Vorrang zugesprochen wird (vgl. DV 9), wie auch das kirchliche Lehramt unter dem Wort Gottes steht und ihm dient (DV 10,2). 726

J. RATZINGER, „Dei Verbum“, 753. Der Kommentator weist aber darauf hin, dass es das II. Vatikanum versäumt hat, im zweiten Kapitel einen traditionskritischen Satz einzufügen. Dahinter steht die Auseinandersetzung in der Konzilsaula, ob es ein evolutives Wachstum der Tradition gibt oder ob die Offenbarung mit der apostolischen Zeit abgeschlossen sei. Vgl. ebd. 756-762. Zur Tradition siehe auch R. D. WITHERUP, Scripture, 96-100.

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Wird im zweiten Kapitel über die Tradition und deren theologisches Verständnis gesprochen, so wendet sich das dritte Kapitel zunächst der Inspiration der Schrift zu, die Garant für die Wahrheit des Offenbarungszeugnisses als Heilswahrheit (DV 11) ist. War während der Diskussion der Streit über Inerranz und Suffizienz727 der Schrift entbrannt, so löst das dritte Kapitel die Frage, indem es die Schrift in Beziehung zum Heil setzt: Gott offenbart alles, was der Mensch zum Heil braucht. Die Inspiration der Schrift unterstreicht nochmals den Zeugnischarakter biblischer Texte, da sie in Menschenworten von dem Heil sprechen, das Gott für die Menschen bereiten will,728 weshalb es der sorgfältigen Erforschung der Schriften bedarf, um zu wissen, „was die Hagiographen wirklich deutlich zu machen beabsichtigten und [was] Gott durch ihre Worte kundzutun beschloss“ (DV 12,1). Entsprechend dem kommunikationstheoretischen Offenbarungsverständnis ist auch die Inspiration dynamisch-kommunikativ zu verstehen, indem die Autoren der biblischen Texte in das pneumatische Geschehen einbezogen sind und nicht allein die biblischen Worte. Wurde Inspiration bis in das 20. Jahrhundert als Real- oder Verbalinspiration verstanden, so entwickelt DV ein Inspirationsverständnis, das die ganze Offenbarungswahrheit betrifft, die von den biblischen Schriften bezeugt wird.729 Dies entspricht auch dem heilsgeschichtlichen Ansatz der Konstitution, weil sich die theologische Wahrheit nicht in einzelnen Abschnitten oder Testamenten zeigt. Vielmehr wird Geschichte als Heilsgeschichte zum Ort, an dem sich die Wahrheit Gottes kundtut und der Mensch darauf bezogen ist, indem der 727

Vgl. dazu N. LOHFINK, „Irrtumslosigkeit und Einheit“, 13-39 und A. GRILLMEIER, „Die Wahrheit der Heiligen Schrift und ihre Erschließung. Zum dritten Kapitel der Dogmatischen Konstitution ‚Dei Verbum‘ des Vaticanum II“, ThPh 41 (1966) 161-187, 162-179; [in Folge: A. GRILLMEIER, „Die Wahrheit der Heiligen Schrift“]. Siehe auch D. FARKASFALVY, „Inspiration and Interpretation“, in: M.L. LAMB – M. LEVERING (eds.), Vatican II. Renewal within tradition, Oxford – New York 2008, 77-100, 86-89; [in Folge: D. FARKASFALVY, „Inspiration and Interpretation“] L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Was heißt heute“, 35-50;. R. ROTHENBUSCH – K. RUHSTORFER (Hgg.), Eingegeben von Gott. Zur Inspiration der Bibel und ihrer Geltung heute (= QD 296), Freiburg – Basel – Wien 2019. 728 Vgl. A. GRILLMEIER, „Dei Verbum“, 545: „Das Wirken des Heiligen Geistes, das sich in der Inspiration der Schrift vollzieht, gilt der Erhaltung der Offenbarung in der Kirche und in der Welt. Um die ,divinitus revelata‘ ,ein für allemal‘ für die Menschen zu erhalten und fruchtbar zu machen, gibt es inspirierte Bücher […]. Inspiration und ihr Ergebnis, die inspirierten Bücher, gehören in den Bereich der Aneignung der Offenbarung und der Heilswirklichkeit Gottes, nicht zu geschichtlichen Konstituierung von Offenbarung und Heil“ (Hervorhebungen im Original). 729 Vgl. dazu H. HOPING, „Theologischer Kommentar“, 707-708. Zur Inspiration siehe R. D. WITHERUP, Scripture, 88-93; A. GRILLMEIER, „Dei Verbum“, 544-547 macht in DV 11 einen Weg der „Entmythologisierung“ und „Entpsychologisierung“ der Inspirationslehre aus, ohne konkrete und neue Formulierungen liefern zu können; C. DOHMEN, „Vom vielfachen Schriftsinn“, 31-38.

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Urheber („auctor“; DV 11,1) von Altem und Neuem Testament explizit genannt wird. Der Gott-Mensch-Bezug drückt sich darin aus, dass die Menschen wie Gott als „wahre Verfasser“ („veri auctores“; DV 11,1) biblischer Texte vorgestellt werden, durch die Gott das sagt, was er kundtun wollte. Das Wort der Schrift wird daher als Gotteswort im Menschenwort beschrieben (DV 12), weshalb der Exegese in diesem Abschnitt eine besondere Wertschätzung entgegengebracht wird. Die wissenschaftliche Exegese kann und muss sich dem biblischen Wort zuwenden, da Schrift und Tradition nicht die Quellen der Wahrheit sind, zugleich aber von der Offenbarungswahrheit auch nicht getrennt werden können.730 Sie stellen deren inspiriertes Zeugnis in der Heilsgeschichte dar, weil „Inspiration und Wahrheit der Schrift […] mit der menschlichen Begrenztheit der biblischen Schriftsteller zusammenzudenken“ ist.731 Die Kanonizität der biblischen Bücher muss somit auch aus dem Inspirationsgedanken heraus verstanden werden, der in der Tradition der Kanonentstehung wirkt.732 Nicht das einzelne Wort der Schrift oder der Ausspruch der Tradition ist wahr und somit irrtumslos, sondern beide Zeugnisse sind wahr, weil in ihnen und durch sie der Geist Christi in der Kirche und in der Geschichte wirkt. Da die gesamte Konstitution einer christologischen Ausrichtung folgt, endet das dritte Kapitel in DV 13 in einer kenotischen Beschreibung („wunderbare Herablassung“ – „admirabilis condescensio“) der sich geoffenbarten Wahrheit, indem es hörbares Gotteswort analog zum verfleischlichten Wort Gottes auslegt. War in den vorangegangenen Kapiteln immer wieder vom Heil der Menschen die Rede, für das sich Gott offenbart, so verankert und verwurzelt das vierte Kapitel von DV den Heilsplan Gottes in den Büchern des Alten Testaments, weil ihn Gott bereits darin als wahres Wort Gottes („verum Dei verbum“; DV 14) kundtut, weil „in denen [den Büchern des Alten Testaments; Anm. d. Verf.] schließlich das Mysterium unseres Heiles verborgen ist“ („latet mysterium salutis nostrae“; DV 15). Auffallend ist, dass das Konzil hier im Präsens spricht und nicht im Präteritum: Das Heilsgeheimnis ist auch heute 730

Die ersten drei Textschemata sehen Schrift und Tradition als Quelle der Offenbarung, was im Titel De fontibus revelationis zum Ausdruck kommt. Vgl. dazu H. HOPING, „Theologischer Kommentar“, 717-728. Siehe auch J. GNILKA, „Die biblische Exegese im Licht des Dekretes über die göttliche Offenbarung (Dei verbum)“, MThZ 36 (1985) 5-19, 6; [in Folge: J. GNILKA, „Biblische Exegese“]. Dabei unterstreicht der Neutestamentler, dass zwischen Schrift und Tradition nochmals ein Unterschied darin besteht, dass die Tradition nicht in dem Maße wie die Schrift als inspiriert gelten kann. 731 H. HOPING, „Theologischer Kommentar“, 771. 732 Vgl. ebd. 766: „Mit der Inspiration, indirekt aber auch durch Verweis auf den apostolischen Glauben, an den sich die Kirche gebunden weiß, werden Heiligkeit und Kanonizität der biblischen Bücher begründet. Aus der Inspiration der Heiligen Schrift ergibt sich ihre Normativität“.

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noch in den Schriften des Alten Testaments zu suchen und zu finden; das Christentum ist damit auf die alttestamentlichen Schriften verwiesen, auch wenn DV 15 allein von der christlichen Lesart des Alten Testaments ausgeht. Die christliche Schrift aus Altem und Neuem Testament wird in den folgenden Kapiteln nicht entwicklungsgeschichtlich, sondern heilsgeschichtlich charakterisiert (DV 14). Dabei beschreibt das Konzil die Beziehung beider Testamente mit einer christologischen Hermeneutik, weil Jesus Christus das Wort Gottes ist, von dem beide Testamente Zeugnis ablegen. Trotz dieser christologischen Ausrichtung der Einheit kommt in diesem Kapitel besonders die theologische Ausrichtung in Bezug zum Alten Testament zum Vorschein, weil es die Erkenntnis des einen und einzigen Gottes ist, die Israel bereits erfahren hat, die aber auch als universale Heilsverheißung für alle Völker dienen soll. Dabei überwindet die Offenbarungskonstitution ein substitutionstheoretisches Verständnis, nach dem der alte Bund durch den neuen Bund ersetzt wäre.733 Am Ende des Kapitels schließt DV 16 jedoch nochmals theologisch-christologisch, indem es die Einheit beider Testamente an den einen Urheber Gott bindet, dabei aber auch sagt, dass im Neuen Testament mit dem Evangelium die „vollständige Bedeutung“ beider Testamente gegeben ist.734 Wäre es erstrebenswert gewesen, das Neue Testament zusammen mit dem Alten Testament in einem Kapitel zu behandeln, um dadurch deren Einheit als christliche Schrift zu unterstreichen, so widmet sich das fünfte Kapitel nur den jüngsten Schriften der Bibel, denen eine geschichtliche Zuverlässigkeit735 der Überlieferung zugesprochen wird (DV 19). In Jesus Christus als Inhalt und Form der Offenbarung ist die „Fülle der Zeit“ gegeben, in der sich der Heilsplan Gottes verdichtet und wahrhaft kundtut und wofür die Kirche berufen ist: Zeugnis abzulegen. DV 18 unterstreicht dann nochmal die fundamentale Bedeutung der Evangelien, die bereits von der apostolischen Predigt geprägt sind und die davon reden, „was Jesus, der Sohn Gottes, als Er sein Leben unter den Menschen führte, zu deren ewigem Heil wirklich getan und gelehrt hat […]“ (DV 19). Das letzte Kapitel von DV thematisiert die Heilige Schrift im Leben der Kirche; sei es in der Liturgie, der Verkündigung, der Theologie oder im privaten Glaubensleben, alles soll bei der Schrift seinen Orientierungspunkt haben, was ein gründliches und sorgsames 733

Vgl. ebd. 777-779. H. Hoping bezeichnet den Hinweis auf Gott als Urheber und Inspirator in DV 16 als „antignostische[…] und antimanichäische[…] Formel“ (ebd. 781). Es dürfte aber noch zu ergänzen sein, dass dies auch eine „antimarcionitische Formel“ ist, gerade weil der Text beide Testamente mit Gott und Autor als äußere Klammer zusammenhält: „Deus igitur librorum utriusque Testamenti inspirator et auctor“. 735 Vgl. zu der Problematik um „historische Zuverlässigkeit“ der Evangelien ebd. 784-788. 734

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Bibelstudium erfordert (DV 24 und 25). Nur mit dem Wort Gottes kann die Kirche Sakrament des Heils (LG 1 und 48) sein, indem das Wort Gottes an die Kirche herantritt und die Kirche zu seinem Werkzeug macht. Da es eine Fundamentaldifferenz zwischen Wort Gottes und Kirche gibt, bedarf die Kirche immer des Wortes Gottes (vgl. DV 1), und es besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen dem fleischgewordenen Wort Gottes und dem hörbaren Wort Gottes (vgl. DV 24). Darum kennt die Liturgie der Kirche die Verehrung des Wortes Gottes, die der Verehrung der Eucharistie entspricht, wenn das Konzil von den beiden Tischen spricht, von denen die Kirche lebt (vgl. DV 21).736 Weil das Wort Gottes von so eminent wichtiger Bedeutung für das Leben der Kirche ist, braucht es die Erschließung des Wortes für die Kirche, wobei den Kirchenvätern und der Liturgie eine besondere Stellung zugesprochen wird und der Ort der Schriftauslegung die Kirche ist (vgl. DV 23). Das Studium der Heiligen Schrift als „Seele der Heiligen Theologie“ (DV 24) ist die Aufforderung dazu, dass sich die Kirche immer wieder der Lebenskraft durch das Wort Gottes vergewissert. 1.2.2.

Dei Verbum 12 als Grundlage für die Schriftauslegung

Stellt Dei Verbum im Ganzen eine theologische Erneuerung für das Verständnis von Offenbarung dar, so ist besonders DV 12 ein erheblicher Fortschritt für die Auslegung biblischer Texte in der Kirche und für die akademische Theologie katholischer Provenienz. Während katholische Exegese bis zur Zeit des Konzils protestantischer Exegese hinterher hinkte und ihr das innovative Feld überlies, so war mit DV 12 nun ein Neuaufbruch geschafft. Weil die Bibel Gotteswort in Menschenwort ist, braucht es die Interpretation der Texte. DV 12,1 spricht zunächst nur vom „Ausleger der Heiligen Schrift“ („interpres Sacrae Scripturae“), der sich der Aussageabsicht der Hagiographen zuwenden muss, um Gottes Aussageabsicht zu erfassen. Hinzu kommt die Aufgabe der Exegeten in DV 12,5, „auf ein tieferes Verstehen und Erklären des Sinnes der Heiligen Schrift hinzuarbeiten“, um damit das „Urteil der Kirche“ zu unterstützen,737 wobei es der ganzen Kirche als Dienerin des Wortes 736

Vgl. J RATZINGER, „Dei Verbum“ 790-791 zu DV 26: „Wort Gottes und Leib Christi, Wort und Sakrament gehören zusammen und sind die zweifach-eine Weise, in der der fleischgewordene Logos bei der Kirche ist und ihr Leben gibt“. Denn es muss die geistliche Grundabsicht sein: „Kirche aus dem Wort Gottes zu erneuern, das ihr wahres Lebensbrot ist“. 737 Vgl. N. LOHFINK, „Der weiße Fleck in Dei Verbum Artikel 12“, in: DERS., Studien zur biblischen Theologie (= SBAB 16), Stuttgart 1993, 78-96, 81-83; [in Folge: N. LOHFINK, „Der weiße Fleck“]. G. Steins spricht von einer „Re-Theologisierung“, denn die Arbeit

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zukommt, die Schrift auszulegen. Es wird vom Konzil zwischen Auslegern und Exegeten unterschieden, was nochmals als Hinweis gelesen werden muss, dass sich DV 12 auch der wissenschaftlichen Exegese zuwendet, die ihrerseits dem „Urteil der Kirche“ zuarbeitet. Dabei darf hier nicht missverstanden werden, dass mit „Urteil der Kirche“ („iudicium ecclesiae“) einzig ein „Urteil des Lehramtes“ („iudicium magisterii“) gemeint wäre. Es ist die ganze Kirche in ihrer Einheit, die das Urteil über eine Auslegung der Schrift spricht. Es wird aber keine bestimmte Auslegungsmethode festgeschrieben, weil dies dem Zueinander der unterschiedlichen Gruppen von Lehramt, Wissenschaft oder Gläubigen nicht entspräche, die in ihrem Leben mit der Schrift ex professo verschiedene Methoden anwenden müssen. Es ist die Kirche als Gottesvolk, dem die authentische Auslegung der Texte zukommt, zu dem ebenso das Lehramt wie die Exegeten mit dazu gehören.738 Die Herausforderung in DV 12 liegt darin, dass es der sorgfältigen Nachforschung der Texte bedarf, da sie sich auf das Heil des Menschen beziehen. Der Abschnitt des Konzilstextes hätte dies besonders hervorheben können, wenn er das von Augustinus zitierte Wort, dass ist laut DV 12 für die Exegeten nicht mit der historischen Arbeit getan, sondern es braucht auch die theologische Durchdringung des Historischen. Vgl. G. STEINS, „Leuchtende Worte! Die Fortschreibung von Dei Verbum in römischen Dokumenten zur Bibelauslegung“, BiLi 88 (2015) 177-195, 178; [in Folge: G. STEINS, „Leuchtende Worte“]. Siehe auch A. GRILLMEIER, „Dei Verbum“, 552. 738 Vgl. N. LOHFINK, „Der weiße Fleck“, 88-89. Daran erinnert auch der protestantische Exeget U. Luz in Rückgriff auf die Kirchenväter. Vgl. U. LUZ, „Die Bedeutung der Kirchenväter für die Auslegung der Bibel“, in: DERS., Theologische Aufsätze (= WUNT 414), Tübingen 2018, 275-297, 290-291: Die Kirchenväter erinnern daran, „dass hinter der Vielstimmigkeit der Bibel selbst und hinter den vielen Auslegungen der Bibel eine Interpretationsgemeinschaft steht, nämlich die Kirche, und dass auch wir selbst dieser Interpretations-gemeinschaft angehören. […] Dem gegenüber [gegenüber einer rein individuellen Auslegung der Schrift; Anm. d. Verf.] möchte ich betonen, dass Auslegen und Verstehen der Bibel ein gemeinschaftlicher Prozess ist und dass letztlich die Kirche, nicht das Individuum das Subjekt der Auslegung der Bibel ist. Ich möchte dadurch die Auslegung der Bibel weder begrenzen noch normieren. […] Als protestantischer Exeget möchte ich den biblischen Texten die Chance geben, alles zu sagen, was sie zu sagen haben, auch wenn sie es gegen uns selbst und gegen unsere Kirche sagen. […] Nicht Einzelne, sondern die ganze universale Kirche ist Trägerin der Auslegung der Bibel“. So auch K. BACKHAUS, „‚Die göttliche Worte wachsen mit dem Leser‘. Exegese und Rezeptionsästhetik“, in: E. GARHAMMER – H.-G. SCHÖTTLER (Hgg.), Predigt als offenes Kunstwerk. Homiletik und Rezeptionsästhetik, München 1998, 149-167, 151: Die Kirche ist „(sekundärer) Sitz im Leben“ der Fachexegese, die die Begründung für die exegetische Arbeit an den kanonischen Texten gibt; [in Folge: K. BACKHAUS, „Exegese und Rezeptionsästhetik“]. Somit ist die Fachexegese auf einen rezeptionsästhetischen Ansatz angewiesen. Siehe H. HOPING, „Theologischer Kommentar“, 774: „Wenn man dem kirchlichen Lehramt die Kompetenz zuspricht, in Fragen des Glaubens in letzter Instanz zu urteilen, dann ist die genannte Aufgabe verbindlicher Schriftauslegung in Verbindung mit dem hermeneutischen Prinzip zu sehen, dass über den Sinn der Schrift nicht unabhängig von der lebendigen Überlieferung der Kirche entschieden werden kann“.

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Gott „durch Menschen nach Menschenart gesprochen hat“ (vgl. De Civ. Dei XVII, 6, 2), vollständig widergegeben hätte. Gott redet „durch Menschen nach Menschenart“, „weil er, so redend, uns sucht“. Damit unterstreicht der Kirchenvater die Intentionalität der Offenbarung und des Schriftzeugnisses, das nicht in festgeschriebenen Lehren bestehen kann, sondern im lebendigen Dialog Gottes mit den Menschen.739 So drängt sich notwendigerweise die Frage nach dem Sinn der Schriften auf, gerade weil DV 11,1 von Gott und den menschlichen Schriftstellern als „veri auctores“ spricht,740 was mit der personaldialogischen Inspirationslehre von DV 11 zusammenhängt und die Hagiographen zu theologischen Schriftstellern macht.741 Als inspirierte Schreiber legen sie einen Sinn in die Texte, über den wissenschaftliche Exegese, aber auch Theologie und das Lehramt der Kirche nicht einfach hinweggehen können, da der Hagiograph diesen „in bestimmten Umständen je nach der Bedingung seiner Zeit und seiner Kultur mit Hilfe der zu jener Zeit verwendeten literarischen Gattungen“ ausgedrückt wissen wollte. Damit ist der Hinweis zu verstehen, dass die biblischen Schriften in dem Geist ausgelegt werden müssen, in dem sie 739

Vgl. T. SÖDING, „Die Seele der Theologie. Ihre Einheit aus dem Geist der Heiligen Schrift in Dei Verbum und bei Joseph Ratzinger“, IKaZ 35 (2006) 545-557, 548; [in Folge: T. SÖDING, „Die Seele der Theologie“]. 740 Vgl. A. GRILLMEIER, „Die Wahrheit der Heiligen Schrift“, 182-183: „Gottes Wort geht nicht bloß in die menschliche Formulierung ein, sondern die Mitteilungsabsicht Gottes spricht sich aus in der Mitteilungsabsicht der Hagiographen“. Somit kann und darf es keine Aufteilung in den Schriften geben, die Menschen- und Gotteswort voneinander „destillieren“ wollen. Kennt das Latein nur „auctor“, so muss im Deutschen unterschieden werden zwischen Gott als „Urheber“ einer Schrift und Mensch als „Schriftsteller“ einer Schrift. Vgl. dazu T. HIEKE, „Die doppelte Autorenschaft der Bibel nach Dei Verbum 12. Gotteswort in Menschenwort“, in: K. LEHMANN – R. ROTHENBUSCH (Hgg.), Gottes Wort in Menschenwort. Die eine Bibel als Fundament der Theologie (= QD 266), Freiburg – Basel – Wien 2014, 202-223, ebenso L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Was heißt heute“, 38-39 und D. FARKASFALVY, „Inspiration and Interpretation“, 83-85. 741 Vgl. S. PINTO, „Interpretare le scritture nella Chiesa (DV 12)“, Parole di vita 60 (2015) 36-42, 37: „L’autore sacro è guidato dallo Spirito Santo nel suo processo di composizione […]: da questo punto di vista il senso dell’agiografo è intrensicamente teologico […]“. Weiter führt der Autor aus, dass entsprechend der analogia fidei der Ausleger der Schrift Theologe sein muss: „Abbiamo già asserito che il senso dell’agiografo è in sé teologico; ora aggiungiamo che la ricerca dell’esegeta non può prescindere dalla lettura di fede personale: il senso spirituale della Bibbia, lungi dal significare lettura spiritualista, pone autore e interprete sul medesimo cammino di fede, in una sinergia feconda per un continuo approfondimento della rivelazione“ (ebd. 40). Damit kann Schriftauslegung gnadentheologisch geweitet werden, wenn der Theologe seine menschlichen Mittel und der Freiheit der Wissenschaft mit der Gnade zusammenführen („sinergia“) lässt. In diese Richtung scheint das Dokument Verbum Domini 29 zu gehen. Allgemein auf die Methode bezogen: R. BIERINGER, „Biblical Revelation“, 48: „Historical and pneumatical exegesis relate to one another like reason and faith. While the christological, ecclesial and theological aspects involve historical research, the historical methodologies should not be applied without faith“.

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geschrieben sind. Wenn es der Hl. Geist ist, der in der Inspiration wirkt und in diesem Geist die Schrift ausgelegt werden soll, dann wird Schriftauslegung allein aus ihrem Gegenstand heraus eine pneumatologische und somit theologische Arbeit. Der Konzilstext geht nicht direkt auf die Frage nach dem sensus plenior ein, ob in der Schrift ein Sinn zu finden ist, der dem Hagiographen noch unbekannt war, aber durch die Auslegung als von Gott geoffenbarter Sinn gefunden werden kann. DV 12,5 deutet diesen jedoch an, wenn im Konzilstext vom Inhalt der ganzen Schrift im Singular gesprochen wird („ad contentum“), und es daher nicht mehrere, voneinander unterschiedene und getrennte Inhalte geben kann. So kommentiert und fasst J. Gnilka die Problematik zusammen: Will DV 12,1 „besagen, daß zwischen der Absicht des heiligen Schriftstellers und den Absichten Gottes nochmals differenziert werden muß? Zumindest für manche Schriftstellen? Besagt der Text, daß die Intentionen Gottes über die Intentionen hinausgehen können, die der Schriftsteller bei der Niederschrift unmittelbar verfolgte? Oder um es exegetisch zu formulieren: Besagt der Text, daß der sensus historicus und der sensus theologicus nicht immer zusammenfallen, sondern der letzte den ersten übergreift und über ihn hinausgeht“?742

Der Text verbindet dagegen die Aussageabsicht des Hagiographen und die Aussageabsicht Gottes mit „et“, ermutigt aber gleichzeitig dazu, dass sich die exegetische Untersuchung zuerst dem historischen Sinn zuwenden soll. Historischer und theologischer Sinn stehen also nicht im Widerspruch zueinander, aber sie sind auch nicht deckungsgleich. „Demnach ist die Kundgabeabsicht Gottes nicht identisch mit der Aussageabsicht des Hagiographen […]“.743 Es bleibt an dieser Stelle der Konstitution offen, ob es zur Erforschung der beiden Aussageabsichten zwei zu unterscheidende Methoden oder eine Methode braucht. Dahinter steht die Diskussion um die allegorisch-typologische Auslegungstradition, die trotz ihres theologisch-hermeneutischen Potenzials nicht in den Konzilstext aufgenommen wurde, da den Konzilsvätern vielleicht der Schrecken übertriebener Allegorisierungen im Gedächtnis war. DV 12,2-3 bezieht sich jedoch direkt auf die Notwendigkeit historisch-kritischer Auslegung, was den Aussagesinn 742

J. GNILKA, „Biblische Exegese“, 7. Vgl. dazu auch A. GRILLMEIER, 183, für den das Konzil beide Lesarten ermöglicht, dass einerseits beide sensus aufeinander rückführbar sind und andererseits der sensus divinus über den sensus historicus hinausgeht. 743 L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Zwei antagonistische Modelle der Schriftauslegung in Dei Verbum?“, in: J.-H. Tück (Hg.), Erinnerung an die Zukunft. Das Zweite Vatikanische Konzil, Freiburg – Basel – Wien 2012, 449-461, 457; [in Folge: L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Zwei antagonistische Modelle“]. Der Wiener Alttestamentler sieht darin auch die Begründung dafür, dass das Konzil der patristischen Schrifthermeneutik weiterhin Gültigkeit zugesprochen hat. Die Erforschung und Anwendung beider Aussageabsichten wird von DV 12 aber nicht auf zwei Gruppen aufgeteilt, sondern kommt wesentlich dem interpres Sacrae Scripturae zu (vgl. ebd.).

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der Hagiographen aus DV 12,1 betrifft. Dagegen setzt DV 12,4 mit der Inspiration und der Einheit der Schrift ein, was N. Lohfink auf die Aussageabsicht Gottes hin verstanden wissen will.744 Dies kann als Hinweis gelesen werden, dass das Konzil zwischen den beiden sensus unterscheidet. Ist mit DV 12,1 die Unterscheidung von Aussageabsicht Gottes und jener der Hagiographen eingeführt, so bedarf es der entsprechenden Forschungsmethode, die mit DV 12 als historisch-kritische Methode ihre Berechtigung in katholischer Exegese erfährt. Das Konzil ermutigt die Exegeten, die unterschiedlichen Literarkritiken (so nennt DV 12,24 Form- und Gattungskritik sowie die Untersuchung von Zeit und Kultur) auf die biblischen Texte anzuwenden. Die rationale Kritik ist zusammen mit den theologischen Prinzipien genannt, die das Konzil mit „et“ („ad contentum et unitatem“) verbindet und die sich auf die Einheit der Schrift beziehen, die sich in der „Überlieferung der Kirche“ und der analogia fidei ausdrückt.745 Die Überlieferung der Kirche und 744

Vgl. N. LOHFINK, „Der weiße Fleck“, 86-87. Vgl. dazu A. STEINS, „Leuchtende Worte“, 179-180. J. Ratzinger wertete 1968 diese Zusammenfügung so, dass „das Ja zur historisch-kritischen Methode und das Ja zur Auslegung von der Überlieferung, vom Glauben der Kirche her, friedlich nebeneinander [stehen], aber in diesem doppelten Ja […] sich der Antagonismus zweier Grundeinstellungen [verbirgt], die in ihrem Ursprung wie in ihrer Zielrichtung einander durchaus gegenläufig sind. Der Konzilstext sieht als das Wesen des zweiten Weges das Verständnis der Schrift als eine innere Einheit an, in der eins das andere trägt, in ihm steht und so das Einzelne nur je vom Ganzen her gelesen und verstanden werden kann“. J. RATZINGER, „Die Bedeutung der Väter im Aufbau des Glaubens“, in: DERS., Glaube in Schrift und Tradition. Zur Theologischen Prinzipienlehre, Bd. 1 (= JRGS 9,1), G. L. MÜLLER (Hg.), Freiburg – Basel – Wien 2016, 498-521, 500-501. Diesen Antagonismus wird jedoch der spätere Kardinal in „Schriftauslegung im Widerstreit“ und dann der Papst in Verbum Domini nicht mehr so deutlich kennzeichnen, sondern den Akzent mehr auf die Korrelation setzen. Besonders deutlich tritt dies in seinen hermeneutischen Überlegungen zu den Jesusbüchern zu Tage: „Zum einen ist zu fragen, was die jeweiligen Autoren in ihrer Stunde mit ihrem Text sagen wollten – die historische Komponente der Exegese. Aber es reicht nicht aus, den Text in der Vergangenheit zu belassen und ihn so im Gewesenen abzulegen. Die zweite Frage des rechten Auslegens muss lauten: Ist das Gesagte wahr? Geht es mich an? Und wenn, wie? Bei einem Text wie dem biblischen, dessen letzter und tiefster Urheber nach unserem Glauben Gott selber ist, ist die Frage nach der Gegenwart des Vergangenen unweigerlich Teil der Auslegung selbst. Der Ernst der historischen Suche wird damit nicht eingeschränkt, sondern erhöht“. J. RATZINGER, Jesus von Nazareth, 42; auch ebd. 418. Zu den Jesusbüchern von J. Ratzinger und ihre Herausforderung für die Exegese siehe R. DEINES, „Can the ,Real’ Jesus be Identified with the Historical Jesus? Joseph Ratzinger’s (Pope Benedict XVI) Challenge to Biblical Scholarship“, in: C. OCHS – P. WATTS (eds.), Acts of God in history. Studies towards recovering a theological historiography (= WUNT 317), Tübingen, 2013, 351-406, besonders auch die weiteren bibliographischen Hinweise in 351-353; B. K ÖRNER, Die Bibel als Wort Gottes auslegen, 113-141. Den hermeneutischen Ansatz der Jesusbücher von J. Ratzinger kritisiert bei aller Wertschätzung N. Slenczka als „eine Kastration der Exegese“, um das „Verhältnis von Wahrheitsanspruch und historischer Exegese“ zu 745

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die analogia fidei sind hierbei nicht als eigenständige Methoden zu werten, sondern sie stellen vielmehr die hermeneutische Prämisse für die Einheit der Schrift dar, wie der Text mit „ratione habita – unter Berücksichtigung der Vernunft“ anzeigt. So werden darin Kriterien einer theologischen Hermeneutik dargestellt.746 Die Einheit der Schrift steht für DV damit im Zentrum, wobei historisch-kritische Exegese und theologische Hermeneutik die beiden Seiten und Herangehensweisen dieser Einheit darstellen. Die Gleichwertigkeit der Methoden stellt sich auch dar, wenn DV 12,5 davon spricht, dass der Sinn der Schrift nicht nur mit den Mitteln historischer Kritik zu finden ist, sondern mit nicht geringerer Sorgfalt durch die theologischen Prinzipien („non minus diligenter respiciendum est“). Das einleitende „sed“ in DV 12,5 ist jedoch nicht adversativ zu verstehen, sondern als die Ergänzung bezeichnende Verbindung. Damit ist eine symmetrische Gleichwertigkeit hergestellt, wie sie auch für die theologischen Prinzipien der kirchlichen Tradition und der Glaubensanalogie gelten. Das „et“ stellt eine Gleichzeitigkeit und Gleichwertigkeit der Prinzipien dar und ist nicht in die eine oder andere Richtung abwertend, wie es mit einem „veluti et“ wie in DV 21 als wertend und explikativ hätte ausgedrückt werden können. Das symmetrische Methodenspiel biblischer Exegese zwischen historischer Kritik und Überlieferung der Kirche wird damit aus der Arena des Ringkampfes geführt und deren Gleichwertigkeit anerkannt, um das Wort Gottes in der Einheit der Schrift zu ergründen und damit das Leben der Kirche zu unterstützen. Es ist dieses erweiterte Methodenspiel, das auch eine rein kritisch arbeitende Exegese aus einer Verengung747 herausführt und sie dem Anspruch der Bibel als Wort Gottes gerecht werden lässt. „Als theologische Disziplin“ – kommentiert H. Hoping – „hat sie [die Exegese; Anm. d. Verf.] es mit dem in der Schrift enthaltenen Wort Gottes zu tun und muss sich von daher von Grund auf als biblische Theologie verstehen“.748 Daher muss sich die Exegese auch dem sensus theologicus zuwenden und darf dies nicht allein systematischer oder spiritueller Theologie überermitteln. Vgl. N. SLENCZKA, „Historizität und normative Autorität“, 15-19, Zitate 15. Siehe auch DERS., „‚Wahrhaftig‘ auferstanden? Ein kritischer Dialog mit Joseph Ratzinger“, in: T. SÖDING (Hg.), Tod und Auferstehung Jesu. Theologische Antworten auf das Buch des Papstes (= ThKontr), Freiburg – Basel – Wien 2011, 179-201. Kritisch äußert sich gegen die Kritik N. Slenczkas M. GERHARDS, Protoevangelium, 86-88. 746 Vgl. T. MARSCHLER, „Analogia fidei. Anmerkungen zu einem Grundprinzip theologischer Schrifthermeneutik“, ThPh 87 (2012) 208-236, 216-219; [in Folge: T. MARSCHLER, „Analogia fidei“]. 747 So sieht auch A. Stock in DV 12 die hermeneutischen Kategorien, „die weniger auf Grenzziehung als auf Erweiterung der Denkräume zielen“. A. STOCK, Poetische Dogmatik. Gotteslehre. 2. Namen, Paderborn 2005, 167; [in Folge: A. STOCK, Namen]. 748 H. HOPING, „Theologischer Kommentar“, 772 (Hervorhebung im Original).

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antworten.749 Das Konzil hat damit ein Anliegen vorweggenommen, um das in biblischer und theologischer Hermeneutik immer noch gerungen wird. Hatte sich die biblische Exegese von einer dogmatischen dicta-probantia-Theologie befreit und fand die historischkritische Methode in der systematischen Theologie ihr Heimatrecht, so bleibt dennoch die Bestimmung ihres Zueinanders unklar, so dass die „Bewältigung des hermeneutischen Problems […] ein schwacher Punkt heutiger Exegese“ bleibt.750 Darum ist auch nach DV 12 ein ständiges Ringen der theologischen Disziplinen gegeben, wie sie sich in der Hermeneutik biblischer Texte positionieren. Wenn DV 12 die Schriftauslegung auf die Höhe der Zeit hebt, führt sie sie dennoch auch über sich hinaus: Biblische Hermeneutik braucht die aktuellen Methoden der Textkritik, muss sie aber an dem Text anwenden, der in sich und durch sich auf eine andere, also von der bezeichnenden auf die bezeichnete Ebene hinaus weist.751 Die biblische Hermeneutik liest die Texte nicht mehr nur als Erzählungen, sondern als Texte, die etwas aussagen wollen. Da biblische Texte religiöse und kanonische Texte sind, drücken sie die Heilsabsicht Gottes für den Menschen aus, die somit Inhalt der theologischen Exegese wird. Was sich als Gotteswort im Menschenwort kundtut, braucht eine erweiterte Hermeneutik, die dem Gedanken der Inspiration und der Historizität gerecht wird, so dass sich die Aussageabsicht und die Wahrheit nur in diesem Zueinander erschließen lässt. Die Wahrheit biblischer Texte lässt sich für das Konzil nicht identisch mit der historischen Aussage verstehen, aber auch nicht getrennt davon. Dahingehend ist der Satz in DV 12,5 zu lesen und auszulegen, dass biblische Texte in demselben Geist ausgelegt werden müssen, in dem sie geschrieben sind, denn es war der Glaube der Hagiographen, in dem sich der Geist der Inspiration ausdrückt. Da die Konstitution die Inspirationslehre in Nr. 11 mit der Tradition verbunden hat, ist die historisch-kritische Auslegung an die Einheit der ganzen Schrift, an die lebendige Überlieferung und an die Glaubensanalogie gebunden. Die historisch-kritische Methode ist in den Geist der Schriftwerdung 749 Vgl. A. GRILLMEIER, „Dei Verbum“, 552: „Weil alles unter dem salutis causa der inspirierten Schrift steht, ist jede historisch-kritisch erarbeitete biblische Aussage schon echter sensus pneumaticus. Der pneumatische Schriftsinn darf nicht von dem historisch festgestellten sensus auctoris getrennt werden“. 750 J. GNILKA, „Biblische Exegese“, 8. 751 Vgl. A. GRILLMEIER, „Die Wahrheit der Heiligen Schrift“, 185: „Alles, was an gesunder Methodik, auch im Fortschritt der Zeit, sich für die Deutung von Texten ergibt, darf auch auf die Heilige Schrift angewandt werden. Nur muß man sich immer dessen bewußt bleiben, daß es sich bei der Heiligen Schrift – ähnlich wie bei der Kirche – um eine ,realitas complexa‘ handelt, bei der man von der ,rationalen‘ Methodik hinweg, vom Inhalt her, eine metabasis eis allo genos vollziehen muß. Es geht um den sensus divinus – in menschlicher, mit menschlichen Mitteln zu analysierenden Sprache“.

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einbezogen und kann nicht mehr als eine der Bibel äußerliche Methode abgewertet werden. Andererseits ist damit auch ausgesagt, „daß der theologische Sinn der Schrift nur über ihren historischen Sinn erreichbar ist. Oder um es anders zu formulieren: Das Wort Gottes ist ganz eingebunden in das menschliche Wort des Hagiographen“.752 Historischer und theologischer Sinn sind somit nicht mehr zu trennen, auch wenn im Konzilstext offenbleibt, welchem von beiden die größere Sinnfülle zukommt. Doch wird das „et“ aus DV 12,1, das die Aussageabsicht der Hagiographen mit der Absicht Gottes verbindet, auch dahin interpretiert werden dürfen, dass historischer und theologischer Sinn nicht in einem asymmetrischen, sondern in einem symmetrischen Verhältnis zueinander stehen und dass es keine Praeposition des einen Sinns vor den anderen gibt. Historischer und theologischer Sinn stehen in einem gleichberechtigten Zueinander, gerade weil sie nicht identisch sind.753 1.2.3.

Fortschreibung von Dei Verbum

Im Jahr 1984 veröffentlichte die Päpstliche Bibelkommission das Dokument Bibel und Christologie.754 Darin legt die Kommission ein 752

J. GNILKA, „Biblische Exegese“, 9. Vgl. auch R. BIERINGER, „Biblical Revelation“, 32-33: „In Scripture the divine intention thus is not present parallel to or separate from the human author, but in and through the latter. […] Human words are the words in which the inexpressible expresses itself, the place where, what cannot be heard, can be listened to. In the Scriptures human words are God’s way of self-expression. But God’s word is always more and cannot be reduced to human words“. Vgl. auch B. KÖRNER, Die Bibel als Wort Gottes auslegen, 53. 753 Wenn C. Frevel darauf hinweist, dass DV 12 zwischen „Auslegern“ und „Exegeten“ unterscheidet, so zieht er den Schluss: „Auch wenn so kaum von den Konzilsvätern intendiert, legt sich über den Gebrauch von exegeta und interpres eine Differenz von Exegese und Auslegung nahe. Das Verständnis der Exegese als wissenschaftlicher Disziplin kann aber nur dann sinnvoll geführt werden, wenn die Auslegung nicht in der Exegese aufgeht, sondern es auch legitime und plurale Auslegung neben der Exegese oder über die Exegese hinaus geben kann, ja geben muss. D. h. Exegese und Auslegung sind nicht identisch und stehen auch nicht notwendig in denselben Kontexten“. C. FREVEL, „Vom bleibenden Recht des Textes vergangen zu sein. Wie tief gehen die Anfragen an die historisch-kritische Exegese?“, in: K. LEHMANN – R. ROTHENBUSCH (Hgg.), Gottes Wort in Menschenwort. Die eine Bibel als Fundament der Theologie (= QD 266), Freiburg – Basel – Wien 2014, 130-176, 154-155, Zitat 155 (Hervorhebung im Original); [in Folge: C. FREVEL, „Vom bleibenden Recht“]. Dem Autor ist zuzustimmen, dass Auslegung und Exegese nicht identisch sind; jedoch verbindet DV 12 die wissenschaftlichen mit den drei theologischen Auslegungskriterien mit dem gleichwertigen „et“, so dass es auch zwischen exegeta und interpres zu einer Gleichwertigkeit kommt. Auch darf nicht übersehen werden, dass DV 12,1 vom interpres spricht; DV 12,5 nennt die exegetae, denen hier das interpretare zukommt und nicht das investigare, was ihnen eigen wäre. 754 PÄPSTLICHE BIBELKOMMISSION, „Bibel und Christologie“, in: P.-G. MÜLLER (Hg.), Bibel und Christologie. Ein Dokument der Päpstlichen Bibelkommission, Stuttgart 1987, 17-198.

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gesamtbiblisches Christusbild vor. Das Dokument folgt dem Anspruch von Dei Verbum, dass die Offenbarung Gottes, wie sie im Alten und Neuen Testament gegeben ist, christologisch zentriert ist. Daher muss die Christologie auf das gesamte biblische Zeugnis hören, das mit unterschiedlichen Methoden untersucht werden kann. Dabei unterstreicht Bibel und Christologie, dass exegetische Methoden nicht im Widerspruch zum theologischen Konzept der Heilsgeschichte stehen, indem es die historischen und geschichtlichen Dimensionen des Lebens Jesu und des Glaubens an ihn heraushebt. Dei Verbum findet auch im Katechismus der Katholischen Kirche seine Fortschreibung,755 weil es das eine Wort Gottes ist, das die vielen Bücher der Bibel durchzieht und im Menschenwort ausgesprochen wird (KKK 102). Besonders die theologische Auslegung wird im Katechismus mit direktem Bezug auf DV 12 und der dort erwähnten Kriterien gewürdigt (vgl. KKK 110-114), wobei die Einheit der Schrift im Vordergrund steht, woraus sich die Abhandlung über den mehrfachen Schriftsinn ergibt (vgl. KKK 115-119). Entsprechend Dei Verbum versteht der Katechismus die Kirche als den Ort der Schriftauslegung. Das Dokument der Päpstlichen Bibelkommission Die Interpretation der Bibel in der Kirche von 1993 ist wie schon bei NA 4 eine Fortschreibung und Erweiterung von Dei Verbum, indem das ganze Dokument als ein Kommentar zu DV 13 und der Herablassung Gottes im biblischen Wort gelesen werden kann.756 Thematisch setzt das Dokument mit „Methoden und Zugänge für die Interpretation“ ein, wobei zugleich auf die historisch-kritische Methode eingegangen wird, die als „unerlässliche Methode für die wissenschaftliche Erforschung des Sinnes alter Texte“ bezeichnet wird (S. 32). Es wird der wissenschaftliche Stand in den methodischen Ausdifferenzierungen mit dem Ziel erwähnt, dass die Methode „in vorwiegend diachroner Weise 755

Vgl. dazu und zur kontroversen Auffassung und Kritik des KKK, die sich besonders an der Auslegung der Schrift entzündete: B. KÖRNER, Die Bibel als Wort Gottes auslegen, 66-78 und DERS., „Christus – das einzige Wort der Heiligen Schrift. Der vierfache Schriftsinn im Katechismus der Katholischen Kirche“, in: G. AUGUSTIN – M. BRUN – E. KELLER – M. SCHULZE (Hgg.), „Christus, Gottes schöpferisches Wort“, FS für Christoph Kardinal SCHÖNBORN, Freiburg – Basel – Wien 2010, 197-214, worin der Autor der Frage nach dem Fehlen der historisch-kritischen Methode im KKK nachgeht. 756 Vgl. dazu B. KÖRNER, Die Bibel als Wort Gottes auslegen, 60-66; G. STEINS, „Leuchtende Worte“, 181-183; R. KÜHSCHELM, „Nicht nur legitim, sondern unerlässlich... Die historisch-kritische Methode nach Dei Verbum 12 und den folgenden kirchlichen Dokumenten“, in: J.-H. Tück (Hg.), Erinnerung an die Zukunft. Das Zweite Vatikanische Konzil, Freiburg – Basel – Wien 2012, 462-476, 468-471; [in Folge: R. KÜHSCHELM, „Nicht nur legitim“]. Siehe auch die Ansprache von Papst Johannes Paul II. über die Interpretation der Bibel in der Kirche anlässlich der Hundertjahrfeier der Enzyklika Providentissimus Deus und der Fünfzigjahrfeier der Enzyklika Divino afflante Spiritu, abgedruckt in PKB, Die Interpretation der Bibel, 7-20.

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den Sinn [hervorheben soll], den die Verfasser und Redaktoren ausdrücken wollten“ (S. 39). Das Dokument sieht es als unabdingbare Aufgabe der Exegese an, die historische Kritik in das Methodenspektrum aufzunehmen, dabei jedoch den Sinn des Wortes Gottes für die Gegenwart nicht zu übergehen (vgl. S. 108-109). Dabei geht es über die Konzilskonstitution hinaus, indem es einen erweiterten Kanon der Interpretationsmethoden vorstellt (vgl. S. 30-63). Die Auslegungsmethoden können nicht festgeschrieben werden, sondern müssen sich immer an den Erfordernissen der Zeit orientieren, in der der Mensch auf das Wort Gottes hört. Damit wird in dem Dokument indirekt auf die Grundausrichtung der Offenbarungstheologie von Dei Verbum Bezug genommen, dass sich Gott zum Heil der Menschen kundtut. Daher stehen die Exegeten mit ihrer Forschung in Beziehung zur Kirche, die sacramentum salutis (vgl. LG 1; 8; 48) sein soll. Somit wird der immense Stellenwert historisch-kritischer Rückfrage an biblische Texte als notwendig für eine biblische Hermeneutik herausgestellt. Aber nicht nur die historisch-kritische Methode wird in dem Dokument gewürdigt, sondern auch der pneumatische Sinn (vgl. S. 84-86), der nicht notwendigerweise in allen Texte zu finden ist und besonders auf das Alte Testament hin gelesen wird, da im Neuen Testament der wörtliche Sinn bereits der pneumatische Sinn ist, wenn es im „Kontext des österlichen Mysteriums Christi gelesen“ wird. Dabei wird herausgestellt, dass der historische Sinn Grundlage des pneumatischen Sinns sein muss, der davor bewahrt, dass „subjektive Interpretationen“ den pneumatischen Sinn leiten. Dabei ist nicht nur die Tatsache wichtig, dass Altes und Neues Testament in einer untrennbaren Beziehung stehen (vgl. S. 91-94), sondern dass diese Beziehung aus der Einheit beider Testamente resultiert. Das Dokument hebt den Schatz von Dei Verbum, indem es eine theologische Hermeneutik entwickelt, in der historische und pneumatische Schriftauslegung verbunden und in das Leben der Kirche integriert sind. Wenn die Bibel als heilige Schrift ausgelegt wird, dann bezieht sich die Auslegung in ihrer Vielfalt auf die „mehrstimmige Symphonie“ (S. 96) der Sinne, die aber ihre Begrenzung durch die Rezeptionsgemeinschaft und den Glauben der Kirche erfährt, da sich die Auslegung der Schrift für das Dokument innerhalb dieser Grenzen vollzieht. Die Gemeinschaft der Kirche ist der Raum, in dem nach DV 25 das Wort Gottes in der Heiligen Schrift vertieft werden muss (vgl. S. 106-113). Wie bereits das vorausgegangene Dokument der PBK darf auch Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel als

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Weiterführung von DV gelesen werden.757 Thematisch nimmt es die Überzeugung auf, dass das christliche Alte Testament als jüdische Schrift einen eigenständigen theologischen Wert als Offenbarung Gottes hat. Somit steht es in der Einheit zum Neuen Testament und darf weder theologisch noch exegetisch eine Abwertung erfahren, denn das Neue Testament ist nur durch und in Einheit mit dem Alten Testament zu verstehen (vgl. Nr. 21 und 84). Das geschichtliche Faktum, dass das Alte Testament ein Kanon zweier Religionen ist, fordert eine theologische Exegese, wie es DV 12 aufweist. Nr. 65 sieht im Alten Testament und im Glauben Israels den monotheistischen Glauben gegeben, den das Neue Testament bekennt. Beide Testamente sind Offenbarungszeugnis. Das Christentum kann in den alttestamentlichen Schriften die Verheißung lesen und verstehen, da das Alte Testament einen bleibenden Bedeutungsüberschuss hat. So ist neben der historischen Lesart die jüdische und christliche Lesart als legitim anzusehen (vgl. Nr. 22). In Bezug auf das Verhältnis von Schrift und Tradition geht Nr. 9-10 über Dei Verbum hinaus, indem das Dokument nicht nur den christlichen Zusammenhang beider Größen erläutert, sondern auch auf die mündliche Tradition im Judentum, die ihre verschriftlichte Form in Mischna, Tosefta und Talmud hat, erwähnt. Gibt es im Verhältnis von Schrift und Tradition eine formale Übereinstimmung, wie Nr. 11 ausführt, so unterscheiden sie sich unter dem hermeneutischen Gesichtspunkt, dass es im Christentum durch die Tradition zu einer anderen Gewichtung der alttestamentlichen Bücher kam. Das Dokument hebt schließlich hervor, dass eine genuin christliche Interpretation des Alten Testaments legitim ist (Nr. 64). Als tiefgreifendste und ausführlichste Fortschreibung darf das nachsynodale Dokument Verbum Domini von Papst Benedikt XVI. vom 30. September 2010 gelten.758 Es schreibt in seinem ersten Teil die Hermeneutik von Dei Verbum fort, indem es das Wort Gottes konsequent christologisch auslegt und die Skizze einer „Christologie des Wortes“ entwirft (Nr. 11-13), die die Inspiration der Schrift in christologischer Analogie versteht (Nr. 19), was besonders in dem Abschnitt über den Zusammenhang von Wort und Liturgie deutlich wird (Nr. 52-71). Die Bibel ist Heilige Schrift und kündet die Wahrheit, weil sich Gottes Wort in Menschenworten ausdrückt. Dabei hebt das Dokument heraus, dass Exegese und Theologie gleichsam auf das Leben der Kirche bezogen sind, die den originären Ort der Auslegung 757

Vgl. dazu G. STEINS, „Leuchtende Worte“, 183-186: „In gewisser Weise verbindet also dieses Dokument von 2001 den Durchbruch von Nostra aetate in der Verhältnisbestimmung von Judentum und Christentum mit der Schrifttheologie von Dei Verbum“ (183). 758 Vgl. dazu R. KÜHSCHELM, „Nicht nur legitim“, 471-475; J. M. GRANADOS ROJAS, „La recepción de la Dei Verbum en la Verbum Domini“, CuTe(M) 39 (2012) 77-97.

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bildet. Dies verlangt die Schrift selbst, ist sie doch im Raum der Kirche entstanden und der Kirche übergeben (Nr. 29). In diesem Raum aber hat die historisch-kritische Methode nicht nur ein sekundär zugestandenes Heimatrecht, sondern gehört aufgrund der Geschichtlichkeit des Glaubens wesentlich zum Methodenkanon der Theologie.759 Wissenschaftliche Exegese darf nicht als Gegensatz zur Theologie bzw. lectio divina (vgl. Nr. 46) verstanden werden, insofern Erstere einer säkularisierten Hermeneutik folgt und Zweitere in eine reine Spiritualisierung (Nr. 35) oder einen Fundamentalismus (Nr. 44) abgleiten würde. Das Dokument antwortet damit auf DV 12, dass die historisch-kritisch Methode und die Kriterien des Glaubens in einer „gegenseitigen Abhängigkeit“ (Nr. 35) stehen müssen. Es ist erst die Verbindung beider hermeneutischer Zugänge zur Schrift, die die Auslegung zu einer theologischen Auslegung werden lässt, und durch die es – mit der Enzyklika Fides et ratio gesprochen – zu einer fruchtbaren Verbindung von Glaube und Vernunft kommt (Nr. 36). Auch wird dabei hervorgehoben, dass das Wort Gottes in die Heilsgeschichte eingebettet und die Geschichte der Ort des Wirkens des Wortes ist: „Es gibt nämlich in der Heilsgeschichte keine Trennung zwischen dem, was Gott sagt, und dem, was er wirkt“ (Nr. 53; Hervorhebung im Original). Der Bibelwissenschaftler M. Reiser merkt zu den Ausführungen von Verbum Domini an: „Damit ist die Inspiriertheit der Schrift ernst genommen und der ,weiße Fleck‘ in Dei Verbum 12 ausgefüllt“.760 In dieser theologischen Perspektive ist dann auch der geistige Schriftsinn zu deuten, der zur Einheit von Altem und Neuem Testament führt und die innere Einheit der Schrift aufzeigt (vgl. Nr. 39-41). In dieser Einheit spielt jedoch auch der Zusammenhang von Geist und Buchstaben eine gewichtige Rolle. Der reine Buchstabe muss auf die geistige Bedeutung überschritten werden, weil in diesem Überschritt das Wort der Schrift für das Leben prägend wird. Die Transzendierung ist aber nicht nur in dem geistigen Sinn zu verstehen, sondern in das Wort Gottes selbst hinein, der den Lebensraum des Glaubens bildet (vgl. Nr. 38). Das christologische Dogma der Inkarnation verlangt den 759 Vgl. dazu B. PITRE, „Verbum Domini and Historical-Critical Exegesis“, in: S. CARL (Hg.), Verbum Domini and the complementarity of exegesis and theology, Grand Rapids 2015, 26-40. Zu Verbum Domini muss mitgelesen werden: Papst BENEDIKT XVI., Begegnung mit Vertretern aus der Welt der Kultur. Ansprache von Papst Benedikt XVI., Paris im Collège des Bernardins, 12. September 2008, http://www.vatican.va/content/ benedict-xvi/de/speeches/2008/september/documents/hf_ben-xvi_spe_20080912_parigi -cultura.html [zuletzt abgerufen am 25.03.2020]. In dieser Ansprache nimmt der Theologenpapst die Grundlinien von Verbum Domini vorweg und skizziert vor dem Hintergrund von DV 12 eine Bibelhermeneutik, in der historisches Forschen und kirchliche Auslegung zusammen zur Gemeinschaft mit Gott in seinem Wort führen. 760 M. REISER, Autorität der Schrift, 223.

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Zusammenhang von historischer Rückfrage und theologischer Auslegung im Leben der Kirche; wenn Joh 1,14 eine „Grunddimension“ des Glaubens ist, dann ist Heilsgeschichte wirkliche Geschichte, die der historischen Rückfrage bedarf. Die historische Methode ist demnach nicht einzig auf Geschichte als Historie bezogen, sondern hat auch ihren Wert für die Heilsgeschichte, die untrennbar von der Historie ist (vgl. Nr. 32). Aus der christologischen Grundentscheidung einer Worttheologie spricht Verbum Domini in Nr. 56 von der „Sakramentalität des Wortes“.761 Dabei verweist das Dokument immer wieder auf die Analogie: zum christologischen Dogma und zur Eucharistielehre. Die Analogie wird hierbei zur performativen Selbstkundgabe Gottes in und durch das Wort, so dass die analogia entis in einer Wechselbeziehung zur analogia fidei steht.762 Dies entspricht dem heilsgeschichtlichen und dialogischen Offenbarungsverständnis von Dei Verbum, indem es nicht um decreta der Mitteilung geht, sondern um das Kundtun des „Geheimnisses des Willens Gottes“ („sacramentum voluntatis suae“; DV 2,1; vgl. Eph 1,9): Gottes Selbstoffenbarung spricht sich im Wort aus und das Wort Gottes ist Vergegenwärtigung Gottes bei gleichzeitiger Unterschiedenheit zum Menschenwort, das das Gotteswort ver-lautet und hörbar macht. Weil das Wort Gottes Fleisch geworden ist, ist das Wort Gottes sakramental-performativ und im Glauben zu vernehmen, indem in Jesus Christus göttliches Offenbaren und menschliches Hören zusammenkommen.763 Die Sakramentalität des Wortes ist die Einlösung von DV 12, insofern darin die Aussageabsicht des Hagiographen und die Aussageabsicht Gottes zusammengeführt und zusammengehalten werden, indem Jesus Christus durch die Verkündigung des Wortes in Analogie zur 761 Vgl. G. LORIZIO, „Die Sakramentalität des Wortes von ‚Dei Verbum‘ zu ‚Verbum Domini‘“, in: E. HERMS – L. ŽÁK (Hgg.), Sakrament und Wort im Grund und Gegenstand des Glaubens. Theologische Studien zur römisch-katholischen und evangelischlutherischen Lehre, Tübingen 2011, 110-139, 110-111, der darauf hinweist, dass im lateinischen Text „ad qualitatem scacramentalem Verbi“ steht. „Es muß festgehalten werden, daß es sich hier um einen Genitivus subjektivus handelt, so daß die Sakramentalität als ein Ausdruck des Wortes und als seine Verwirklichung erscheint. Das bedeutet, daß Sakrament und Wort nicht als Wirklichkeiten aufgefaßt werden, die einander gegenüberstehen oder die nur äußerlich zueinander in Beziehung treten, sondern als Elemente, die sich in der Offenbarungsdynamik gegenseitig bedingen und durchdringen (coimplicarsi)“; [in Folge: G. LORIZIO, „Die Sakramentalität des Wortes Gottes“]. 762 Vgl. ebd. 111. 763 Vgl. dazu BENEDIKT XVI., Verbum Domini, 56: „Der Glaube erkennt also das Wort Gottes, indem er die Gesten und Worte annimmt, durch die Gott selbst sich uns zeigt. Der sakramentale Horizont der Offenbarung zeigt daher die heilsgeschichtliche Weise an, in der das Wort Gottes in Zeit und Raum eintritt und zum Gesprächspartner des Menschen wird, der aufgerufen ist, sein Geschenk im Glauben an-zunehmen“.

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Eucharistie „wahrhaft, wirklich und substanzhaft“ (vgl. DH 1651) gegenwärtig wird. Verbum Domini versteht Sakramentalität als die Wirksamkeit des Wortes, die die Gegenwart Gottes in der Geschichte bezeichnet. Im Jahr 2014 veröffentlichte die PBK das Schreiben Inspiration und Wahrheit der heiligen Schrift.764 Darin wird in Anschluss an Dei Verbum die Wahrheit nicht als eine theoretische Größe vorgestellt, sondern sie ist die dialogische Bezugnahme des Menschen auf Gott: Gott ist die Wahrheit, von der die biblischen Schriften künden, denn sie ist „die lebendige Beziehung zu Gott und im Neuen Testament zu Gott durch seinen Sohn Jesus“ (Nr. 52; vgl. auch 103). In dieser Beziehung ist die Inspiration der Schriften zu denken, die von der Wahrheit Gottes abhängt (Nr. 5), weshalb alle biblischen Schriften die Wahrheit auf ihre eigne Art bezeugen und deshalb den biblischen Kanon bilden. Aber es besteht ein Unterschied zwischen Offenbarung und Inspiration, wenngleich sie prozessual aufeinander bezogen sind (Nr. 7; vgl. Nr. 6364). Für das christliche Verständnis ist jedoch zentral, dass die Offenbarung in Jesus Christus ihren höchsten Ausdruck findet (vgl. 8-9): „Behaupten, dass die Schrift als Ganze inspiriert ist, heißt anerkennen, dass sie einen Kanon darstellt, d.h. ein Gesamt von Schriften, die für den Glauben normativ sind und von der Kirche angenommen wurden. Die inspirierte Schrift ist der Ort einer unüberbietbaren Offenbarung, die mit einer Person, mit Jesus Christus, identifiziert wird; durch ihre Worte und Taten ,erfüllt‘ diese Person und ,macht sie vollkommen‘ die Traditionen des Alten Testaments, indem sie den Vater in vollem Maße offenbart.“ (Nr. 57).

Das ganze Dokument unterstreicht, dass das Alte Testament in seinem Eigenwert geachtet werden muss und es zu keiner christologischen Vereinnahmung kommen darf, sondern dass in der Wahrheit Jesu Christi der theologische Wert gewahrt ist. Darum braucht es die Einheit der Schrift in ihrem Kanon, um die ganze Wahrheit zu erfassen (Nr. 103). Von hier aus erklärt sich dann die Sicht auf die Geschichte als Heilsgeschichte, insofern Gott als Subjekt der Geschichte gesehen wird und biblische Geschichten deshalb „von Theologie bestimmte Erzählungen“ sind (Nr. 104). Daher sind die historischen Fakten, die 764

PÄPSTLICHE BIBELKOMMISSION, Inspiration und Wahrheit der Heiligen Schrift. Das Wort, das von Gott kommt und von Gott spricht, um die Welt zu retten vom 22. Februar 2014 (= VApS 196), Bonn 2014. Vgl. dazu G. STEINS, „Leuchtende Worte“, 190-193; R. ROTHENBUSCH, „Inspiration und theologische Schrifthermeneutik. Überlegungen im Anschluss an das Dokument der Bibelkommission zur ‚Inspiration und Wahrheit der Heiligen Schrift‘ (2014)“, in: DERS. – K. RUHSTORFER (Hgg.), Eingegeben von Gott. Zur Inspiration der Bibel und ihrer Geltung heute (= QD 296), Freiburg – Basel – Wien 2019, 100-135; [in Folge: R. ROTHENBUSCH, „Inspiration und theologische Schrifthermeneutik“].

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die Schriften überliefern, immer auch ein „theologischer Kommentar“, womit historischer Sinn und theologische Aussage im Neuen Testament darauf zielen, dass Jesus der Christus ist (vgl. Nr. 123). Das jüngste päpstliche Dokument, das zentrale Themen von Dei Verbum aufnimmt, ist das Motu Proprio „Aperuit illis“ von Papst Franziskus vom 30. September 2019, der sein Schreiben ausdrücklich auf Dei Verbum und Verbum Domini bezieht (Nr. 2).765 Mit dem Schreiben führt der Papst den „Sonntag des Wortes Gottes“ ein, um dessen zentrale Stellung und Wirken im christlichen Glauben herauszustellen, denn die Inspiration wirkt und zielt auf „die Heilsfinalität, die geistliche Dimension und das Inkarnationsprinzip für die Heilige Schrift“ (Nr. 9). Nr. 1 unterstreicht zugleich, dass Schrift und Glaube nur in der Beziehung zu Jesus Christus zu verstehen sind. Hat sich DV 12 besonders den Auslegern der Schrift und Kapitel VI allgemein dem Wort Gottes im Leben der Kirche gewidmet, so hebt das Motu proprio hervor: „Die Bibel ist das Buch des Gottesvolkes […]. Das Wort Gottes vereint die Gläubigen und macht sie zu einem Volk“ (Nr. 4). Das eine Volk hört auf die Botschaft der einen Schrift, die in ihrer Gesamtheit von Jesus Christus spricht, und nicht nur auf einzelne Teile davon (Nr. 7). Nr. 10 unterstreicht nochmals die Inspiration der Schriften und deren christozentrische Ausrichtung, führt aber die Wirkung der Inspiration nicht auf die Schrift eng, sondern erweitert sie auf die ganze Rezeptionsgemeinschaft. Gerade weil das Schreiben Jesus Christus als die Vollendung der Offenbarung nennt, Altes und Neues Testament als inspiriertes und prophetisches Wort versteht (Nr. 12), ist es äußerst unglücklich und theologisch falsch, den Zusammenhang von Schrift und Tradition so zu beschreiben, „dass sie gemeinsam die alleinige Quelle der Offenbarung sind“ (Nr. 11). Auch wenn das päpstliche Dokument immer wieder alttestamentliche Beispiele anführt, wäre eine Erwähnung der Bedeutung der Schrift im Judentum wünschenswert gewesen, da auch die „älteren Brüder“ im Volk Gottes in den biblischen Schriften den Glauben an den einen und wahren Gott bezeugen. 1.2.4.

Bleibende Herausforderung für eine biblische und theologische Hermeneutik

Für die Konstitution Dei Verbum ist fundamental, dass die Wahrheit als Heilswahrheit verstanden wird, auf die sich auch die Wahrheit 765

FRANZISKUS, Apostolisches Schreiben in Form eines ‚Motu Proprio‘ des Heiligen Vaters Papst Franziskus „Aperuit illis“ zur Einführung des Sonntags des Wortes Gottes vom 30. September 2019; [http://w2.vatican.va/content/francesco/de/motu_proprio/ documents/papa-francesco-motu-proprio-20190930_aperuit-illis.html; zuletzt abgerufen am 08.10.2019].

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biblischer Texte bezieht (vgl. DV 1; 8; 11; 12). Der Konzilstext stützt sich dabei auf das geschichtliche Faktum der Inkarnation, dass Gott Fleisch geworden ist (Joh 1,14), womit die historische Frage bereits biblisch und theologisch verankert ist. Dazu folgert T. Söding: Die historische Frage „kann nicht vom Lehramt beantwortet werden, sondern nur von der Exegese qua Bibelwissenschaft“.766 Damit kommt der theologischen Wissenschaft eine Bedeutung zu, die sie im katholischen Bereich bis zum Konzil lange eingebüßt hatte. Mit der Konstitution ist aber auch der Zwiespalt zwischen biblischer Wissenschaft und Dogmatik überwunden, wenn es die exegetische Fachexpertise braucht, um die historische Glaubwürdigkeit zu ergründen, die die Wahrheit als Heilswahrheit für den Hörer des Wortes darstellt. Die Folge davon muss sein, dass sich Exegese und systematische Theologie in ihrer bleibenden Eigenständigkeit perichoretisch unterstützen. Exegese, insbesondere historisch-kritisch arbeitende Exegese, ist keine a-theologische, und systematische Theologie keine schriftlose Wissenschaft, denn beide Wissenschaften stehen auf dem Fundament des Glaubens, für den sie Rede und Antwort stehen wollen (vgl. 1 Petr 3,15).767 Wenn aber Geschichte der Ort der Wahrheit ist und die Inspiration sich darauf bezieht, so sind auch die alttestamentlichen Schriften in diesem Inspirationsverständnis zu verstehen, womit ihnen dieselbe Würde wie den neutestamentlichen zukommt. Die Texte des Neuen Testaments sind nicht kanonisch und normativ, weil sie die Geschichte Jesu dem Literalsinn nacherzählen, sondern weil sie inspirierte Schriften sind, die das Evangelium bezeugen. Entsprechendes hat dann auch von den alttestamentlichen Texten zu gelten. Diese perichoretische Entsprechung der verschiedenen Methoden, wie sie DV 12 entwirft, folgt aus der theologischen Annahme, dass die historisch-kritische Methode nicht ein Antipode der „lebendigen Überlieferung“ oder der analogia fidei ist; vielmehr entfaltet die historische Methode das wissenschaftliche Potential von Tradition und Glaube, da sie die Bedeutung Letzterer für den Schriftkanon herausstellt. Entsprechend dazu zeigt dieses Ineinander und Zueinander der Methoden, dass Historizität, Geschichte und Heilsgeschichte nicht allein für sich untersucht werden können, sondern dass auch sie nur in einem Offensein zueinander verstanden werden. Die Symmetrie der Methoden erschließt sich also aus der Symmetrie des sensus historicus 766

T. SÖDING, „Die Zeit für Gottes Wort“, 451. Vgl. ebd. 452: „Mithin ist die hermeneutische Konsequenz eine prinzipielle Öffnung des geschriebenen Wortes für das lebendige Wort Gottes. Das aber heißt, die Bibel von dem her zu interpretieren, von dem her und auf den hin sie geschrieben ist: Gott, der sein Wort gibt. Mithin ist die Konsequenz einer biblischen Inspirationslehre ein exegetisches Interesse an Theologie und ein theologisches Interesse an Exegese“. 767

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und des sensus theologicus. Das bedeutet jedoch nicht eine Parallelstellung der Methoden oder der sensus als Trennung, sondern deren Gleichzeitigkeit in bleibender Unterscheidung und Untrennbarkeit. Diese symmetrische Betrachtung erlaubt es dann auch, die (oftmals künstliche) Diastase von Synchronie und Diachronie zusammenzuhalten. Da es aber nach Dei Verbum bei der Schriftauslegung nicht mehr einzig um den Sinn der Texte gehen kann, sondern darum, was die Schriften für das Heil der Menschen bezeugen, wird der wahre Sinn nicht in einem sensus historicus oder einem sensus theologicus zu beschreiben sein; letztendlich geht es eschatologisch und mit A. Grillmeier gesprochen um den „sensus salutaris“.768 Die Heilsabsicht der Offenbarung und die damit verbundene Inspirationslehre sind Grund dafür, dass biblische Texte religiöse Texte sind und damit eine rein historische Auslegung ihnen nicht gerecht wird. Religiöse Texte weisen über sich selbst hinaus und tragen einen Verweischarakter in sich, weil sie Narrative des Glaubens und Niederschlag religiöser Erfahrungen sind. Somit beziehen sich diese Texte auf die Wirklichkeit des Lebens und des Glaubens vom historischen Faktum bis zur Eschatologie, wie es das mittelalterliche Distichon „Littera gesta docet…“ ausdrückt.769 Dei Verbum versteht die Bibel als Zeugnis für das Wort Gottes, das christologisch ausgerichtet ist, da der Sohn das vom Vater gesprochene Wort ist (vgl. Hebr 1,1-2). Diese christologische Konzentration muss aber immer wieder theologisch umfangen werden, da sie erst die Sinnpluralität und christologische Interpretation der Schriften ermöglicht, die sich heilsgeschichtlich erschließen. J. Reikerstorfer weist darauf hin, dass sich das veränderte Offenbarungsverständnis vor allem darauf bezieht, 768

A. GRILLMEIER, „Die Wahrheit der Heiligen Schrift“, 184. „Littera gesta docet, | quid credas allegoria, | moralis quid agas, | quo tendas anagogia“. Vgl. zu dem Distichon: H. D. LUBAC, Typologie, Allegorie, geistiger Sinn. Studien zur Geschichte der christlichen Schriftauslegung (= ThRom 23), übers. v. R. VODERHOLZER, zweite, durchg. Aufl. Einsiedeln 2007, 319-341; [in Folge: H. D. LUBAC, Typologie, Allegorie, geistiger Sinn]. R. VODERHOLZER, „Der geistige Sinn der Schrift. Frühkirchliche Lehre mit neuer Aktualität“, wieder aufgenommen und hier zitiert nach: DERS. Offenbarung, Tradition und Schriftauslegung, 119-150, 139-142; C. DOHMEN, „Vom vielfachen Schriftsinn“, 16-27; L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Wiederentdeckung des geistigen Schriftverständnisses. Zur Bedeutung der Kirchenväterhermeneutik“, ThGl 101 (2011) 402-425, 407-408; [in Folge: L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Wiederentdeckung des geistigen Schriftverständnisses“]; DERS., „Der vierfache Schriftsinn – ein Einblick und ein Ausblick“, JBTh 31 (2016) 175-202, 181-191; M. REISER, „Allegorese und Metaphorik. Vorüberlegungen zu einer Erneuerung der Väterhermeneutik“, mit Erweiterungen wieder aufgenommen und hier zitiert nach: DERS., Bibelkritik und Auslegung der Heiligen Schrift. Beiträge zur Geschichte der biblischen Exegese und Hermeneutik (= WUNT 217), Tübingen 2011, 139-144, der dafür plädiert, im Anschluss an das Distichon nicht von den vier sensus zu sprechen, als ob es vier Schriftsinne getrennt voneinander gäbe, sondern besser von den vier intelligentiae; [in Folge: M. REISER, Bibelkritik und Auslegung]. 769

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dass es von einer formalen zu einer bezeugenden Offenbarungskategorie kommt, in der das Heil des Menschen in die Offenbarung Gottes eingeschrieben ist. Der Akzent liegt auf der geschichtlichen Immanenz des Heilswortes Gottes, das in der Geschichte bewirkt, was es beschreibt.770 Weil es ein vielfältiges Methodenspektrum der Interpretation gibt, kann die Einheit der Schrift gewahrt werden und auch aus ihr selbst begründet und ergründet werden. Das Christentum liest die biblischen Schriften als Offenbarungszeugnis rein christologisch und deshalb zugleich auch theologisch. Wie der biblische Kanon an sich nicht durch eine autoritative und äußere Größe geformt wurde, sondern durch die Rezeptionsmöglichkeit aufgrund der Sinnpluralität in den Grenzen einer religiösen Gemeinschaft und als Zeugnis der Offenbarung, so ist auch die Einheit von Altem und Neuem Testament nur in diesem Licht als Offenbarungszeugnis zu lesen und zu verstehen. „Das ,utriusque Testamenti‘ [DV 16; Anm. d. Verf.]“ – so A. Stock – „hält im Schrifttum Gottes eine konstitutive Bindung fest. Es ist nicht homogen, es gibt ein Altes und ein Neues Testament, zwei Bünde, zusammengebunden in ein Konvolut. Die Offenbarung des Einen ist prinzipiell gefaltet, lesbar nur im Zu- und Gegeneinander dieser beiden Teile“.771 1.3.

Zusammenführung von Nostra aetate 4 und Dei Verbum 12

Sind Nostra aetate und Dei Verbum von ihrem Genus und ihrer Ausrichtung zu unterscheiden, so ebnen beide Dokumente den Weg für das Verständnis der Einheit der Schrift. Der bleibende Zusammenhang von Altem und Neuem Testament ist Grundlage für die Argumentationskette in beiden Schriften. Die heilsgeschichtliche Sichtweise 770

Vgl. J. REIKERSTORFER, „Der Wandel im Offenbarungsverständnis. Vatikanum I – Vatikanum II – weiterführende Perspektiven“, in: J.-H. Tück (Hgg.), Erinnerung an die Zukunft. Das Zweite Vatikanische Konzil, aktual. und erw. Aufl., Freiburg – Basel – Wien 22013, 545-558,549-553. 771 A. STOCK, Namen, 166. Mit diesem Hinweis A. Stocks kann auf dem ausgemachten Widerspruch zwischen DV 14 und 15 begegnet werden, indem die Offenbarung Gottes in beiden Testamenten erkannt werden muss. DV 14 spricht vom „unvergänglichen Wert“ des Alten Testaments, DV 15 sieht es als Vorbereitung für „die Ankunft Christi, des Erlösers von allem, und des messianischen Reiches“. Dabei muss aber die christologische Grundausrichtung der Konstitution beachtet werden. Der „unvergängliche Wert“ kann auch dahin verstanden werden, das Christentum mit dem Neuen Testament an die Absolutheit Jesu Christi zu erinnern und zu mahnen, dass die Kirche nicht das messianische Reich ist. Dies muss im Licht des ersten Kapitels gelesen werden, das von der Heilsgeschichte handelt, der diese Spannung von DV 14 und 15 eingeschrieben ist. Heilsgeschichte ist nicht eine linear-evolutive Entwicklung, sondern das Ringen des Menschen mit Gott in der Geschichte. Somit kann das Alte Testament den „unvergänglichen Wert“ haben, auch wenn es auf den Messias hinweist, denn darin zeigt sich das Ringen Gottes um den Menschen nochmals und endgültig.

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spielt eine entscheidende Rolle, um das Verhältnis nicht nur der einzelnen biblischen Bücher, sondern auch der ganzen christlichen Bibel auszuloten. Die Heilsgeschichte bezieht sich aber nicht einzig auf das post Christum natum, sondern spannt sich zwischen „Ursprung und Ziel“ auf. Weil es nur die eine Heilsgeschichte gibt, muss in dieser Spannung die historische Frage eine wesentliche Rolle spielen. Heilsgeschichte kann nicht getrennt von der Historie gleich einer historia pura gedacht werden, sondern sie hat ihre Verwirklichung darin. Gott offenbart sich nicht über der Geschichte, sondern in ihr, und er durchzieht mit seiner Offenbarung diese heilsgeschichtliche Zeit. Offenbarung und Heilsgeschichte sind keine Gegensätze, sondern bilden eine untrennbare Einheit. Altes und Neues Testament stehen in dieser Verbindung. Die Einheit der Testamente weitet erst die Auslegungsmöglichkeit, da über den Buchstaben hinaus nach einer weiteren legitimen Sinndimension und der heilsgeschichtlichen Wirkung gefragt werden kann. Es gilt damit der Primat der Einheit vor der Pluralität, da sich die Pluralität erst in der Spannung der einen Offenbarung in der einen Heilsgeschichte zwischen den Polen von Ursprung und Ziel und zwischen Altem und Neuem Testament verwirklichen kann. Die Einheit ermöglicht aber nicht nur die Pluralität, sondern fordert sie sogar, was sich an der Gleichwertigkeit der hermeneutischen Auslegungsmethoden zeigen lässt. H. Hoping verdeutlicht dies in seinem Kommentar zu Dei Verbum am Beispiel der Kirchenväter: „Die Kirchenväter verstanden sich als Interpreten der Schriften beider Testamente und noch bis ins Mittelalter bestand das theologische Schrifttum vor allem aus Schriftkommentaren. Bei der Schrifthermeneutik spielte der geistliche Schriftsinn […] die entscheidende Rolle. Da sich die Einheit beider Testamente wie auch ihre innere Einheit nicht empirisch, etwa literarkritisch, aufweisen lässt, kann eine Exegese des Alten und Neuen Testaments, die ihrer Aufgabe gerecht werden will, sich nicht in philologischer und historischer Kritik erschöpfen, sondern muss sich zugleich der biblischen Theologie öffnen, die zur Grundvoraussetzung die Einheit der Heilsgeschichte beider Testamente hat“.772

Die Einheit von Offenbarung und Heilsgeschichte und von Altem und Neuem Testament kann nicht rein historisch-kritisch erfasst werden, sondern es braucht dazu den pneumatischen Schriftsinn, der die Sinnpluralität von Texten einfangen kann. Es ist der eine Gott, der sich dem Judentum und dem Christentum offenbart hat und zu ihrem Heil wirkt. Da es die eine Offenbarung Gottes ist, kann christliche Offenbarung nicht außerhalb des Judentums gedacht werden. Christliche Schriftauslegung legt nicht nur die alttestamentlichen Schriften als Offenbarungszeugnis aus, sondern sieht darin den 772

H. HOPING, „Theologischer Kommentar“, 782.

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Niederschlag der Offenbarung, die auch das Evangelium beschreibt. Die Erforschung der Aussageabsicht Gottes und jener der Hagiographen unterstreicht daher nochmals, dass sich das Handeln Gottes auf den Menschen bezieht, und zwar in der Zweipoligkeit von Gnade und Erwählung, von Gnade und Freiheit. Die heilsgeschichtliche Dimension wird vom Konzil auch dadurch hervorgehoben, dass es das Gottesvolk auf das Wort Gottes zurückverweist, von dem es wie vom Sakrament lebt. Das Volk Gottes ist auf das Wort Gottes angewiesen, da es die sakramentale Gegenwart Gottes in der Geschichte ist, die es aus dem incurvatum in seipsum herausführt und immer wieder neu auf die sie tragende Wirklichkeit der Offenbarung verweist. Es ist die eine Heilsgeschichte, auf die die analogia fidei verweist und an die sie rückbindet. Das Zeichen der einen Bibel aus Altem und Neuem Testament kann als Sakrament der Heilsgeschichte gedeutet werden, da sich aus der Inspiration nicht nur die Offenbarungsgeschichte Gottes zeigt, sondern auch verwirklicht und als Glaubensurkunde fungiert. Diese Sakramentalität der Heilsgeschichte muss jedoch in strenger Analogie zum Ur-Sakrament Jesus Christus gedeutet werden, der die Offenbarung Gottes an sich ist. Geschichte als Heilsgeschichte steht offen für den Transzendenzbezug, denn: „Gott hat sich selbst mitgeteilt. Die Geschichte weist über die Geschichte hinaus, versteht sich selbst als Medium der Begegnung von Transzendenz und Immanenz“.773 Dies unterstreicht nochmals, dass Heilsgeschichte nicht von der Geschichte getrennt werden kann, sondern der immanente Bezug für die Öffnung zur Transzendenz notwendige Voraussetzung ist. Das Schriftzeugnis, besonders auch die Evangelien, ist nicht deckungsgleich und identisch mit der Person und dem Leben Jesu Christi, aber in ihrer unähnlichen Ähnlichkeit verwirklichen sie die Gegenwart der Offenbarung. Darum stehen biblische Texte nicht für sich selbst, sondern weisen als religiöse Texte über sich selbst hinaus, weil sie in ihrem Formgehalt den Materialgehalt der Offenbarung beschreiben.

773

R. VODERHOLZER, „Geleitwort des Übersetzers“, in: H. D. LUBAC, Die göttliche Offenbarung. Kommentar zum Vorwort und zum ersten Kapitel der dogmatischen Konstitution „Dei verbum“ des Zweiten Vatikanischen Konzils (= ThRom 26), aus dem Franz. übersetzt von R. VODERHOLZER, Einsiedeln 2001, IX-XXV, XVIII.

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2.

Historische und pneumatische Auslegung der Schrift

2.1.

Die historisch-kritische Grenzen

Methode:

Anliegen

und

Die historisch-kritische Methode ist eine Errungenschaft des Humanismus,774 die in der Aufklärung zum Tragen kam und die nicht nur in der Theologie „einen Glanzpunkt der theologischen Wissenschaft [dar]stellt“,775 sondern in allen Geisteswissenschaften nicht mehr wegzudenken ist, wobei für die Theologie mit T. Hieke gesprochen gilt: „Die vornehmste Aufgabe der Exegese ist es, das Verstehen des biblischen Textes auf allen Ebenen zu fördern“,776 indem 774 Vgl. dazu M. REISER, Bibelkritik und Auslegung, 1-38 und DERS., Bibelkritik und Auslegung, 220-237. Dabei weist der Autor das Vorurteil zurück, dass es eine direkte Linie von der Reformation zur kritischen Exegese gäbe. Vielmehr hat die Kritik ihren Anfang im Milieu katholischer Gelehrter genommen. 775 M. OEMING, Biblische Hermeneutik. Eine Einführung, Darmstadt 1998, 31; [in Folge: M. OEMING, Biblische Hermeneutik]. 776 T. HIEKE, „Zum Verhältnis von biblischer Auslegung und historischer Rückfrage“, IKaZ 39 (2010) 264-274, 270; [in Folge: T. HIEKE, „Biblische Auslegung“]. So schreibt der Neutestamentler J. Gnilka 1985: „Es muß aber gegenüber allem Unbehagen und gegenüber neuen Methoden […] nachdrücklich gesagt werden, daß die historischkritische Methode Ausgangspunkt, Basis und Fundament jeder ernstzunehmenden und seriösen Exegese bleiben muß, auch in Zukunft“. J. GNILKA, „Biblische Exegese“, 12. R. Hoppe spricht davon, dass es der Methode nicht um eine Bewertung biblischer Texte geht, sondern sie will nachvollziehbar machen, warum ein Text so ist, wie er ist. R. HOPPE, „‚Keine Prophetie ist Sache eigenwilliger Schriftauslegung‘ (2 Petr 1,20b). Zur Begründung, Zielsetzung und zum Ertrag der historisch-kritischen Exegese“, in: T. SÖDING (Hg.), Geist im Buchstaben? Neue Ansätze in der Exegese (= QD 225), Freiburg – Basel – Wien 2007, 51-67, 52-54; [in Folge: R. HOPPE, „Begründung und Zielsetzung“]. – Da an dieser Stelle keine Geschichte der historisch-kritischen Exegese gegeben werden soll, sei dazu auf folgende Beiträge verwiesen: J. VERMEYLEN, Art.: Historico-critique, Exégèse, in: DEB3 596-602; G. EBELING, „Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode für die protestantische Theologie und Kirche“, ZThK 47 (1950) 1-46, 25-46; [in Folge: G. EBELING, „Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode“]. K. LEHMANN, „Der hermeneutische Horizont der historisch-kritischen Exegese“, in: J. SCHREINER (Hg.), Einführung in die Methoden der biblischen Exegese, Würzburg 1971, 40-80; [in Folge: K. LEHMANN, „Der hermeneutische Horizont“]; H. G. REVENTLOW, „Die Entstehung der historisch-kritischen Bibelexegese auf dem Hintergrund von Aufklärung und neuzeitlicher Rationalität“, in: H. RIEDLINGER – H. STRASBURGER (Hgg.), Die historisch-kritische Methode und die heutige Suche nach einem lebendigen Verständnis der Bibel, München 1985, 35-53; M. OEMING, Biblische Hermeneutik, 31-46; M. REISER, „Die Prinzipien der biblischen Hermeneutik und ihr Wandel unter dem Einfluss der Aufklärung“, in: M. MAYORDOMO-MARÍN (Hg.), Die prägende Kraft der Texte. Hermeneutik und Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments (ein Symposium zu Ehren von Ulrich Luz) (= SBB 199), Stuttgart 2005, 65-102, 65-79.89100; [in Folge: M. REISER, „Prinzipien der biblischen Hermeneutik“]. U. WILCKENS, Kritik der Bibelkritik. Wie die Bibel wieder zur Heiligen Schrift werden kann,

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die Kontingenz biblischer Texte aufgezeigt wird. Damit verbunden ist auch das Wissen darum, dass das „Theologietreiben als solches der Geschichtlichkeit der Existenz unterworfen ist“,777 was sich in jeder Hermeneutik ausdrückt und bedacht werden muss. Theologie ist immer zeitgebunden, insofern sie sich nicht selbst aus der Zeit nehmen kann. Das bedeutet jedoch umgekehrt, dass sich eine der historischen Kritik verpflichtete Theologie selbst wiederum geschichtlich kontingent verstehen muss. Erst in der Erschließung dieser Hintergründe kann von einem Verstehen der Texte gesprochen werden, weil Texte heute nur verstanden werden, wenn auch gefragt wird, wie sie damals intendiert waren. Das Spektrum historisch-kritischer Methode778 kann und darf nicht als eine a-theologische Methode bezeichnet und verstanden werden, Neukirchen-Vluyn 2012, 15-115; [in Folge: U. WILKENS, Kritik der Bibelkritik]. A. SIERSZYN, Christologische Hermeneutik, 17-37; M. KONRAD, „Die historischkritische Exegese und das reformatorische Schriftprinzip. Eine Reflexion über die Bedeutung der Exegese des Neuen Testaments in der Theologie“, ZNT 20 (2017) 105125; [in Folge: M. KONRAD, „Die historisch-kritische Exegese“]. Aus transzendentalontologischer Perspektive S. MÜLLER, Die historisch-kritische Methode in den Geistesund Kulturwissenschaften, Würzburg 2010, 23-44; [in Folge, S. MÜLLER, Die historischkritische Methode]. Einen kurzen Überblick mit weiterführender Literatur über die katholische Entwicklung der historisch-kritischen Methode bietet T. SÖDING, „Echte Lektion. Die Neubewertung der historisch-kritischen Bibelexegese im und seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil“, in: B. OBERDORFER – O. SCHUEGRAF (Hgg.), Reform im Katholizismus. Traditionstreue und Veränderung in der römisch-katholischen Theologie und Kirche (= ÖR.B 119), Leipzig 2018, 349-362. M. Reiser unterstreicht entgegen der meisten Darstellungen, dass die historische Kritik nicht erst im 18. Jahrhundert beginnt, sondern bereits bei den ersten Schriftauslegern, besonders aber bei Origenes und Kelsos zu finden ist. Vgl. dazu am Beispiel der Jesusforschung M. REISER, Kritische Geschichte der Jesusforschung. Von Kelsos und Origenes bis heute (= SBS 235), Stuttgart 2015, 11151; [in Folge: M. REISER, Kritische Geschichte der Jesusforschung]. Bzgl. der Hermeneutik DERS., Bibelkritik und Auslegung, 260-273. 777 G. EBELING, „Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode“, 10. Zu G. Ebelings berühmtem und immer noch gültigem Aufsatz siehe S. VOLLENWEIDER, „Die historischkritische Methode – Erfolgsmodell mit Schattenseiten. Überlegungen im Anschluss an Gerhard Ebeling“, ZThK 114 (2017) 243-259, 243-249; [in Folge: S. VOLLENWEIDER, „Die historisch-kritische Methode“]. Zu G. Ebelings Schriftprinzip als hermeneutisches Prinzip vgl. J. LAUSTER, Prinzip und Methode, 295-308. 778 Dass nicht von der historischen Methode gesprochen werden kann, darauf weist bereits hin: K. LEHMANN, „Der hermeneutische Horizont“, 40-41. Wird von der Methode im Singular gesprochen, so muss doch die Vielfalt an Zugängen und Arbeitsweisen mitbedacht werden, die sich in der kritischen Methode ihr Heimatrecht erarbeitet haben. So ist – und so ist auch der Singular in vorliegender Arbeit verstanden – angemessener von einem „Ensemble“ oder einer „Polyphonie“ der Methoden zu sprechen. Vgl. dazu die Darstellung unterschiedlicher Hermeneutiken bei G. THEISSEN, Polyphones Verstehen. Entwürfe zur Bibelhermeneutik (= BVB 23), Berlin 22015, 21-135.197-209, der seinen Ausgang beim vierfachen Schriftsinn nimmt, ihn aber von der menschlichen Sprache her entwickelt (27); [in Folge: G. THEISSEN, Polyphones Verstehen]. S. VOLLENWEIDER, „Die historisch-kritische Methode“, 250 gibt jedoch zu bedenken, dass nicht selten mit der Pluralisierung die historische Methode „an Profil verloren hat“.

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auch wenn ihr Ansatz und ihre Geburtsstunde in einem a-theologischen Milieu liegen. Vielmehr ist sie theologisch zu werten, wenn sie die literarischen Zeugnisse in der horizontalen und vertikalen Verankerung der Offenbarung Gottes, also in Synchronie und Diachronie, auslegt und zu den literarischen Methoden eine theologische Systematik hinzudenkt. B. Körner weist darauf hin, dass DV 12 von interpres Sacrae Scripturae spricht, womit den Exegeten „nicht nur eine historische und philologische, sondern auch eine auf dem Glauben aufbauende theologische Aufgabe gestellt“ ist.779 Die historische Kritik hat in der Vertiefung ihrer Methode einen Wandel vollzogen und ist gerade deshalb theologisch, da sie auf die Geschichtlichkeit der Offenbarung Gottes aufmerksam macht und den Fundamentalismen unterschiedlichster Couleur in das Bewusstsein ruft, dass Schrift und Tradition nicht die Quelle, sondern bezeugende Medien der Offenbarung sind. „Die theologische Relevanz der historisch-kritischen Exegese“ – so R. Voderholzer in seiner Studie – „gründet im geschichtlichen Charakter der Offenbarung. Das bedeutet umgekehrt, daß die historische Kritik ihren Anspruch auf theologische Relevanz verliert, wo sie den historischen Charakter der Selbstmitteilung Gottes nicht mehr voraussetzt oder ihn gar ausdrücklich oder implizit leugnet“.780 Theologisch ist die historisch-kritische Methode gerade dann, wenn sie in ihrem Arbeiten auf die Dimensionen biblischer Texte hinweist, die außerhalb ihrer Hermeneutik stehen, von denen sie sich

779

B. KÖRNER, Die Bibel als Wort Gottes auslegen, 161; siehe auch besonders ebd. 201204. Vgl. auch L. SCHENKE, „Erwägungen über die theologische Aufgabe der historischkritischen Exegese“, in: J. J. DEGENHARDT – E. BECK – E. SITARZ (Hgg.), Die Freude an Gott – unsere Kraft, FS für Otto Bernhard KOCH, Stuttgart 1991, 228-238; [in Folge: L. SCHENKE, „Erwägungen über die theologische Aufgabe“]. T. SÖDING, „Exegetische und systematische Theologie im Dialog über den Schriftsinn“, ThPh 80 (2005) 490-516, 506-507; [in Folge: T. SÖDING, „Exegetische und systematische Theologie“]. K. Backhaus möchte dagegen die historisch-kritische Methode bis heute a-theologisch verstehen. Vgl. entsprechende Hinweise K. BACKHAUS, „Aufgegeben? Historische Kritik als Kapitulation und Kapital von Theologie“, ZThK 114 (2017) 260-288, 261-262; 263; 266; 274-275: pars pro toto darf als Beispiel gelten: „Historische Kritik entstand buchstäblich im theologischen Exil. Die Ent-Theologisierung gehört zu ihrer Geburtsstunde: Sie war geboren, nicht getauft. Und als sie sich pubertär zur ,höheren Kritik‘ entwickelte, sollte sie sich auch der inneren Bindungen an das kirchliche Elternhaus weithin entschlagen“; [in Folge: K. BACKHAUS, „Aufgegeben?“]. Die Beispiele des Neutestamentlers dürfen jedoch nicht dahingehend missverstanden werden, als ob K. Backhaus sich der historischen Kritik entledigen möchten; im Gegenteil: aus dem problemsensiblen Verstehen der Kritik entwickelt er in seinem Beitrag auch ein Plädoyer für die historische Kritik (ebd. 275-285). Siehe auch T. SÖDING, „Historische Kritik“, 199-205.207-210.214-217.222-231. Die historische Kritik ist für T. Söding theologisch, weil „sie sich mit ihren spezifischen Möglichkeiten in den Dienst, [sic!] des Evangeliums stellt“ (ebd. 227). 780 R. VODERHOLZER, Die Einheit der Schrift, 475.

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aber auch nicht völlig absetzen kann:781 Der theologische Charakter besteht im Hinweis auf die Pluralität der religiösen Dimensionen biblischer Texte. Wenn eine Methode nichts anderes sein kann als der der Disziplin entsprechende Bezug zu einem Objekt, so muss dies für die Theologie der geschichtliche Zugang zu den Texten sein, denn es ist die Geschichte, in der sich Gottes Wort offenbart. Dem biblischen Glauben „ist es wesentlich, dass er sich auf wirklich historische Geschichte bezieht. Er erzählt nicht Geschichten als Symbole für übergeschichtliche Wahrheiten, sondern er gründet auf Geschichte, die sich auf dem Boden dieser Erde zugetragen hat“.782 Weil sich der ewige Gott selbst in seinem Wort geschichtlich ausspricht, braucht es auch die Untersuchung des geschichtlichen Netzes, in das sich Gottes Wort gibt, womit biblische Texte dem Hörer oft einmal fremd erscheinen und sich dem Leser entziehen, denn nur damit kann in einen Dialog mit den Texten getreten werden.783 Die Fremdheit der Texte ist jedoch nicht so zu verstehen, dass sie damit nichts mehr zu sagen haben, sondern dass gerade so das Bemühen um historische Erklärung gestärkt wird. Am tiefsten jedoch drückt sich die „geschichtliche Verstrickung“ Gottes in der Inkarnation aus, weshalb die geschichtliche und theologische Dimension zugleich und immer auch eine christologische Dimension darstellt. Die historisch-kritische Methode ist nicht deshalb notwendig, weil damit Offenbarung nur geschichtlich verstanden werden soll, sondern weil sich in der Geschichte Fakten der Offenbarung finden und die Offenbarungsgeschichte nicht als reine Fiktion verstanden werden kann.784 781

Vgl. S. MÜLLER, Die historisch-kritische Methode, 28: „Die historisch-kritische Methode in geisteswissenschaftlicher Perspektive kann nur hermeneutisch, d.h. mit dem legitimen Vorurteil operieren, menschliche Kultur sei offen für eine prinzipielle (metaphysische) Wesensbestimmung, also eine solche, die mit einer historisch vermittelten Antizipation größtmöglicher Freiheit rechnet […]“ (Hervorhebung im Original). So forderte bereits G. EBELING, „Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode“, 33: Die kritische Methode muss „aus dieser fälschlichen Verkümmerung zu einer bloß handwerklichen Technik befreit und so verstanden [werden], daß sie das Ganze des hermeneutischen Prozesses in sich beschließt“. 782 J. RATZINGER, Jesus von Nazareth, 132. 783 Vgl. M. KONRAD, „Die historisch-kritische Exegese“ 107-108; F. HAHN, „Der Ertrag der historisch-kritischen Bibelauslegung für den Glauben und die Kirche“, in: A. RAFFELT (Hg.), Begegnung mit Jesus? Was die historisch-kritische Methode leistet (= FAkS 1), Düsseldorf 1991, 67-84, 71; [in Folge: F. HAHN, „Historisch-kritische Bibelauslegung“]. J. GNILKA, „Biblische Exegese“, 12: „Mit dieser Fremdheit ist hier nicht die vergangene Epoche gemeint, in der die Texte entstanden sind, sondern der neue, bisher noch nicht gehörte Anspruch, der sich bei der Beschäftigung mit den Texten gegenüber einem von konventionellen Regeln bestimmten christlichen und kirchlichen Leben zur Geltung bringen kann und will“. Apg 2,37 ist ein biblisches Beispiel dafür, dass Gottes Wort einen Hörer auch direkt betreffen kann. 784 Vgl. F. HAHN, „Historisch-kritische Bibelauslegung“, 71-72; L. SCHWIENHORST-

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Indem die historisch-kritische Methode durch Vergleiche und unter Berücksichtigung historischer Kontexte und Kontextualitäten arbeitet, wobei es auch zu Plausibilitätsurteilen785 kommen kann, stärkt sie das Bewusstsein und das Wissen um Kontingenz. Jeder biblische Text ist nicht nur von seinem sprachlichen, kulturellen oder religiösen Umfeld geprägt, sondern auch von der Stelle und dem Zusammenhang der Bibel selbst, in dem er sich befindet, worin sich wiederum ein geschichtlicher Zusammenhang und Prozess spiegelt. Dieses Bewusstsein der Geschichtlichkeit lässt damit neue und vor der kritischen Methode oftmals vernachlässigte Wirklichkeiten der Schrift in das Zentrum der Untersuchung treten. T. Söding sieht deshalb die Aufgabe der historischen Kritik darin, dem Leser die „Möglichkeit zu verschaffen, den ursprünglichen Sinn der biblischen Texte“ zu verstehen.786 Die historisch-kritische Methode wagt damit den Sprung über den „garstig breiten Graben“ zu einem bis dahin ungeahnten Reichtum, den die Bibel in ihrer Symphonie erkennen lässt. Es werden damit einzelne Stimmen hörbar, die bis dahin durch den Gesamtklang der Schrift übertönt wurden, obwohl auch sie zu diesem Klang beitragen. Bildlich gesprochen hat die Theologie mit der historischen Kritik auf neue Weise gelernt, die Partitur des Wortes Gottes zu lesen. Wenn die historische Kritik die Stimme eines Einzeltextes hervorhebt, dann weist sie damit implizit auch auf den Ermöglichungsgrund biblischer Texte hin. Die Methode arbeitet somit immer wieder neu die Fundamentaldifferenz von Wort Gottes und Schrift heraus, die erst die Sinnpluralität biblischer Worte ermöglicht, die dann ausgelegt und gedeutet werden können. Die historische Kritik hat damit die SCHÖNBERGER, „‚Damit die Bibel nicht ein Wort der Vergangenheit bleibt‘ – Historische Kritik und geistige Schriftauslegung“, in: K. LEHMANN – R. ROTHENBUSCH (Hgg.), Gottes Wort in Menschenwort. Die eine Bibel als Fundament der Theologie (= QD 266), Freiburg – Basel – Wien 2014, 177-201, 194; [in Folge: L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Historische Kritik und geistige Schriftauslegung“]. Vgl. auch S. MÜLLER, Die historischkritische Methode, 70-79, hier 70: „Inkarnatorisches Denken rechnet damit, mit der Sprache den authentischen Selbstausdruck der Wahrheit prinzipiell vergegenwärtigen zu können. In biblischer Diktion: ,Und das Wort ist Fleisch geworden‘ (Joh 1,14)“. Siehe dazu auch G. EBELING, „Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode“, 13, der das historische Faktum mit der Offenbarung verbindet: Die Bindung des Christentums an einen historischen Ursprung „schreibt diesem historischen Ursprung für die gesamte geschichtliche Erscheinung des Christentums schlechthin ein für allemal bleibende, normative, absolute Bedeutung zu. Das heißt: Dem historischen Ursprung des Christentums wird Offenbarungscharakter zugesprochen. Er ist damit der Relativität und Vergänglichkeit allen geschichtlichen Geschehens entzogen“. Aus philosophischer Sicht siehe P. HENRICI, Aufbrüche christlichen Denkens (= Kriterien 48), Einsiedeln 1978, 27-35, 33: „Wie jedes Faktum den Horizont seiner Möglichkeit schlechthin eröffnet, so würde die Wirklichkeit des ,absoluten Faktums‘ die Möglichkeit des Faktums überhaupt eröffnen“. 785 Vgl. T. HIEKE, „Biblische Auslegung“, 270-271. 786 Vgl. T. SÖDING, „Historische Kritik“, 217-222, hier 217 (Hervorhebung im Original). Siehe auch U. LUZ, Theologische Hermeneutik, 137.

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wesentliche Aufgabe, die immer und je größere Unähnlichkeit des Gotteswortes zum Menschenwort herauszuarbeiten und damit zu zeigen, dass in dieser Unähnlichkeit im Bezug zur Ähnlichkeit des biblischen Wortes der Raum für theologisches Denken und für die theologische Tradition eröffnet ist. Das Menschenwort ist nicht identisch und deckungsgleich mit dem Wort Gottes, auch wenn das Gotteswort im Menschenwort gesprochen wird. Somit ist der Exegese methodologisch eine hermeneutische Kritik eingeschrieben, die sie immer wieder ekklesiologisch und theologisch zu verwirklichen hat. Historische Kritik ist demnach und zugleich immer auch Traditionskritik, wenn ein Verständnis von Tradition die Fundamentaldifferenz von Offenbarung und Bezeugung verwischt. Tritt die historische Methode kritisch gegenüber Ekklesiologie und Theologie auf,787 trägt sie auch ein selbstrelativierendes Moment in sich. Wenn die Schrift in dem Geist ausgelegt werden soll, in dem sie geschrieben ist, so kann sich auch die historische Kritik dem nicht neutral zuwenden, sondern erfährt sich in diesem Geist als inspirierte Auslegerin; dies und die Methodenvielfalt ist dann immer wieder selbstrelativierend, indem sie ihre eigenen Voraussetzungen und Ansprüche reflexiv in das historische Bewusstsein einzeichnet und befragt, wodurch die Auslegung erst ein kritisches Moment in der Kirche sein kann. Der Ausgangspunkt der historischen Kritik ist selbst relativ, weil es den außergeschichtlichen Standpunkt der Gegenwart nicht geben kann.788 Kritische Auslegung trägt implizit den Anspruch in sich, dass sie sich nicht als letztes Wort über Gottes Wort versteht, sondern die historische Schattierung des Wortes Gottes untersucht. Von ihrem Ansatz her versteht sich die historische Kritik direkt auf den Text bezogen. Sie fragt, was der Text in seiner Entstehung und in seiner Wirkung bedeutet, aber sie sucht nicht einen Sinn oder eine dogmatische Wahrheit, die hinter dem Text verborgen ist. Es ist ihre hermeneutische Voraussetzung, dass sie sich nur auf das Phänomen des Textes bezieht und nicht auf eine metaphysische Wirklichkeit hinter

787 Vgl. dazu K. LEHMANN, „Der hermeneutische Horizont“, 73-74; G. THEISSEN, Polyphones Verstehen, 71-75; J. KÜGLER, „Entweihung der Schrift? Die bleibende Provokation der historisch-kritischen Bibelwissenschaft“, ThPQ 157 (2009) 146-153, 148-150; [in Folge: J. KÜGLER, „Entweihung der Schrift?“]. 788 Vgl. F. HAHN, „Bedeutung der historisch-kritischen Bibelauslegung“ 70. Diese reflexive Struktur ist angebracht, weil: „Bibelkritik erweist sich immer als Kritik innerhalb eines weltanschaulichen Systems, das sich der historischen Denkart sowie einem daraus resultierenden Methodenpluralismus zu öffnen hat“. S. MÜLLER, Die historisch-kritische Methode, 54. Siehe auch K. BACKHAUS, „Aufgegeben?“, 278-281 und G. EBELING, „Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode“, 27-28, der die Sachkritik auch auf die eigene Methode bezogen wissen möchte.

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dem Text.789 Ein Text soll erklärt werden, damit es zu einem richtigen historischen Verstehen kommen kann, denn das entspricht dem Denken im Angesicht der kritischen Vernunft, dass die Bibel eine geschichtliche Wahrheit präsentiert, die sich in der Pluralität an Erfahrungs- und Glaubenszugängen zur Gottesfrage zeigt und auf eine übergeschichtliche Wahrheit verweist. Das Entscheidende für die historisch-kritische Methode ist die Wahrheit, die sich in der Botschaft des historischen Wortes ausdrückt und die aufgrund der Glaubwürdigkeit des historischen Wortes ihre Wirkung hat.790 Wenn sich historische Kritik auf „Epiphänomene“ bezieht, dann muss sie aber auch die „Metaphänomene“ mitbedenken bzw. auf diese ausgerichtet bleiben, denn eine „exegetische Hermeneutik,“ – wie K. Backhaus überspitzt formuliert – „die das lesende Subjekt, sein Lektüreanliegen, seine Lebens- und Glaubensgeschichte buchstäblich ausklammert, das ,Mea res agitur‘ des Bibellesers faktisch als fachfremde Laiengrille behandelt, muss nicht mehr aufgegeben werden. Sie hat sich bereits selbst aufgegeben“.791 Werden Metaphänomene nicht mitbedacht und die Epiphänomene als alleingültig betrachtet, dann verfällt die historische Kritik ihrerseits wiederum in einen 789

Vgl. dazu K. BACKHAUS, „Aufgegeben?“, 266-269. Der Exeget zeichnet nach, dass die historische Kritik in der Exegese nur Epiphänomen der Wahrheitsfrage ist, da sie dogmatische Voraussetzungen hat, die sie in ihrem Ansatz aufnimmt und damit agiert: „Historische Kritik wird erst als Epiphänomen eines systematischen Denkansatzes relevant“ (268). Zu der nicht gegebenen Voraussetzungslosigkeit siehe auch W. KASPER, „Prolegomena zur Erneuerung der geistlichen Schriftauslegung“, in: H. FRANKEMÖLLE – K. KERTELGE (Hgg.), Vom Urchristentum zu Jesus, FS für Joachim GNILKA, Freiburg – Basel – Wien 1989, 508-526, 511-512; [in Folge: W. KASPER, „Prolegomena zur Erneuerung“]. Bereits E. Troeltsch sprach davon, dass eine historische Methode auf „historischem Gebiet nur Wahrscheinlichkeitsurteile gibt“ und sich der Definitivität entzieht. Vgl. E. TROELTSCH, „Über historische und dogmatische Methode in der Theologie“, in: DERS., Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik (= Gesammelte Schriften 2), Darmstadt 2016, 729-753, 731-732; [in Folge: E. TROELTSCH, „Historische und dogmatische Methode“]. Somit ist die historische Methode auf Analogie und Korrelation angewiesen, was aber für E. Troeltsch immer dem Historiker zukommt und damit „eine Herausschälung irgend eines nicht der Historie angehörenden Kerns unmöglich ist“ (ebd. 737). – Kritisch mit dem Bezug der historischen Kritik zur Wahrheitsfrage setzt sich auseinander L. SCHWIENHORSTSCHÖNBERGER, „Zwei antagonistische Modelle“, 459: Die historisch-kritische Exegese „hat uns sehr viele Wahrheiten über die Heilige Schrift mitgeteilt. […] Gleichwohl bleibt bei diesem ,Wissen über‘ ein gewisses Unbehagen. Man fühlt sich auf unangenehme Weise an ein instruktionstheoretisches Offenbarungsverständnis erinnert, welches die Offenbarung Gottes primär oder gar ausschließlich als Mitteilungen ,geoffenbarter Wahrheiten‘ versteht“. Zur Kritik auf L. Schwienhorst-Schönberger siehe: C. FREVEL, „Vom bleibenden Recht“, 150-152, der für ein „relationales Wahrheitsverständnis“ plädiert, bei dem auch die historisch-kritische Methode in das personal-dialogische Wahrheits- und Offenbarungsverständnis eingebunden ist. 790 Vgl. L. SCHENKE, „Erwägungen über die theologische Aufgabe“, 236; M. KONRAD, „Die historisch-kritische Exegese“, 112-116. 791 K. BACKHAUS, „Aufgegeben?“, 273.

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Dogmatismus, von dem sie sich ursprünglich lossagen wollte. Die hermeneutischen Voraussetzungen einer jeden Methode müssen offen zu Tage liegen und benannt sein. Wenn die historische Kritik das „Mea res agitur“ mitbedenkt, trägt sie wesentlich dazu bei, dass falsche Auffassungen und falsche Auslegungen der Schrift relativiert werden können. Sie „erdet“ damit Theologie und Spiritualität und bewahrt sie vor einer „spirituellen Gnosis“, die die Geschichte und das Konkrete hinter sich lassen möchte, indem falsche Subjektivismen von der Auslegung durch den Anspruch des historisch Objektiven ferngehalten werden. Die Stärken der historisch-kritischen Methode weisen aber ebenso auf die Grenzen derselben hin.792 Die Methode ist auch dahingehend immer wieder relativ, da sie durch eine Redundanz793 auf das rein Historische die Einholung des Sinns und der Bedeutung biblischer Texte für die Gegenwart und für den Glauben nicht leisten kann.794 So ist die Methode zwar unabdingbar für das richtige Verstehen der Texte, aber sie kann nicht zu einem vollkommenen Verstehen beitragen, weil sie sich von ihrem methodologischen Anspruch her nur auf einen begrenzten Teil beschränkt. Sie nimmt in bewusster Distanzierung zu den Texten nur das „Damals“ in den Blick, weil dieses „Nur-Damals“ für das „Heute“ von Bedeutung ist, selbst wenn sie darum weiß, dass es 792

Wird H. U. v. Balthasar oft als einer der großen Kritiker der historisch-kritischen Methode bezeichnet, so muss beachtet werden, dass er bei aller Kritik deren Legitimation benennt. Ihm geht es darum, dass die Methode nicht aus dem „christozentrischen Raum als dem Proprium“, das Theologie zu behandeln hat, herausfällt. Vgl. dazu J. SCHELHAS Christozentrische Schriftauslegung. Hans Urs von Balthasar und Karl Barth im Vergleich, Freiburg – Basel – Wien 2012, 205-213; [in Folge: J. SCHELHAS, Christozentrische Schriftauslegung]. 793 Vgl. K. BACKHAUS, „Aufgegeben?“, 274-275; J. RATZINGER, Jesus von Nazareth, 133-134. 794 Vgl. C. DOHMEN, „Vom vielfachen Schriftsinn“, 55: „Die historisch-kritische Methode kann und darf diesen Sprung in die Gegenwartsbedeutung nicht tun, vielmehr soll und kann sie einen Text so weit aufbereiten, daß er für eine verantwortungsvolle Auslegung auf die Gegenwart hin bereit ist. Dies wiederum bedeutet nicht, daß jede aktualisierende Auslegung nur von den Ergebnissen der historisch-kritischen Methode ihren Ausgang nehmen dürfte; sie sollte sich aber einer Übereinstimmung mit dem, was im Text angelegt ist, vergewissern“. Mit scharfen Worten kritisiert M. REISER, „Prinzipien der biblischen Hermeneutik“, 95-96 den fehlenden Gegenwartsbezug: „Die Exegese wird zur Fachwissenschaft für Spezialisten und zum Selbstzweck. Sie droht mehr und mehr zu einer antiquarischen Wissenschaft zu werden, die aus der Bibel ein Museum macht. Bereits jetzt ist sie faktisch weithin zur Religionswissenschaft geworden. Für die Aktualisierung der biblischen Botschaft, die einst das eigentliche Ziel der Exegese war […], leistet sie – jedenfalls aus sich heraus – nichts“. Zum Glauben siehe R. HOPPE, „Begründung und Zielsetzung“, 67: „Es ist einzuräumen, dass nicht der methodische Zugang zum Bibeltext Glauben bewirken kann. Diesen Anspruch darf die historische Methode nicht erheben. Das freilich kann kein methodischer Zugang zu Texten einer vergangenen Epoche leisten. Eine Methode kann nie den Glauben hervorrufen“ (Hervorhebung im Original).

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das „reine Damals“ nicht gibt bzw. dass es nicht zu finden ist.795 Die Konzentration auf das „Damals“ bringt, dem eigenen Anspruch gemäß, mit sich, dass zwar traditionsgeschichtlich nach einer Sinnpluralität gefragt werden kann, aber dies nicht im Duktus eines heilsgeschichtlichen Durchschreitens einer Gotteserfahrung durch die Geschichte angenommen werden kann. Die historische Kritik ist daher aufgrund ihrer selbstgewählten Hermeneutik immer retrospektiv und kann sich aus ihrer Methodik nicht prospektiv ausrichten. Selbst wenn sie im besten Sinne theologisch verstanden ist, fehlt ihr die eschatologische Öffnung auf die Vollendung hin.796 Mit der historischen Interpretation ist daher die Grenze des theologischen Verstehens gegeben.797 M. Blondel sieht in der historischen Kritik die Gefahr gegeben, dass es gleich dem Nestorianismus zu einer rein äußeren und unverbundenen Zusammenstellung von Einzelergebnissen kommt. Geht es dem französischen Philosophen um die existentielle Dimension des Glaubens, so sieht er die Grenze der historisch-kritischen Methode darin, dass sie nicht zum Konkreten des Lebens als Tathandlung und damit zum Bestimmenden des Lebens und Glaubens gelangt. Aufgrund ihrer Methode kann sie nicht zur inneren Verbindung der Geschichte mit dem Glauben gelangen; der existentielle Ausgleich gelingt nur über den subjektiven Interpretationsrahmen, in dem der Exeget arbeitet und den er dann auf die historischen Ergebnisse überträgt, ohne dass es dazu eine historischkritische Plausibilisierung geben kann. Es muss jedoch hinzugefügt werden, dass auch für M. Blondel deshalb die historische Dimension keine Bedeutung mehr hat. Sein Anliegen ist es vielmehr, das, was die historische Kritik herausarbeitet, in der existentiellen Tat zum Ausdruck zu bringen und dadurch in die Wirklichkeit zu gelangen, die 795

Vgl. C. FREVEL, „Vom bleibenden Recht“, 161-167. Vgl. L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „‚Keine rein akademische Angelegenheit‘. Zum Verhältnis von Erklären und Verstehen in den Jesus-Büchern von Joseph Ratzinger / Benedikt XVI.“, in: J.-H. Tück (Hg.), Der Theologenpapst. Eine kritische Würdigung Benedikts XVI., Freiburg – Basel – Wien 22013, 184-206, 191-193. Eine rein retrospektive Betrachtung gelangt nur zu „geoffenbarten Wahrheiten“, wogegen ein eschatologisch ausgerichtetes Verständnis die Offenbarung als „offenbarend“ offenhält und die dialogische Dimension hervortreten lässt, dass das Offenbarungsgeschehen nicht theoretisch, sondern personal ist. 797 Vgl. in Anschluss an M. Blondel B. KÖRNER, Die Bibel als Wort Gottes auslegen, 43: „Die Methode der historischen Forschung kann per se jene theologischen Dimensionen gerade nicht erfassen, um die es im Glauben geht“. Zu Folgendem siehe ebd. 44-50 und 173-174. Zur exegetischen Methode bei M. Blondel informiert R. V IRGOULAY, „Exégèse, théologie et philosophie. Dans la réflexion christologique“, RSR 88 (2000) 561-578 und J. GREISCH, „Schiffbruch mit beteiligtem Zuschauer. ‚Geschichte‘ und ‚Dogma‘ als hermeneutisches Problem“, in: P. REIFENBERG – A. E. V. HOOFF (Hgg.), Tradition. Dynamik von Bewegtheit und ständiger Bewegung. 100 Jahre Maurice Blondels „Histoire et dogme“ (1904-2004), Würzburg 2005, 196-220, besonders 200-216. 796

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das rein Historische übersteigt. Dies erklärt auch die Reserve der historischen Kritik vor den konziliaren Aussagen der Christologie, weil sie aus der methodologischen Vorentscheidung heraus nicht zu erweisen sind. Entsprechendes gilt für die Einheit beider Testamente, insofern die historische Kritik die Einheit aufgrund der Inspiration nicht erfassen kann und dies auch nicht beabsichtigt. Daraus folgt aber, dass für die historisch-kritische Exegese Geschichte als Heilsgeschichte keine zu fassende Größe ist.798 Als Hermeneutik ist die historische Methode dem Anspruch verpflichtet, möglichst genau und nah an den Ursprung von Texten zu gelangen und sie aus dem historischen Zusammenhang zu ergründen. Jedes historische Faktum ist daher bereits ein gedeutetes Faktum, insofern es in einem Beziehungsgeschehen verankert ist. Damit ist verbunden, dass jede Methode von Voraussetzungen geprägt ist, von denen sie sich nicht lösen kann. Der Anspruch, historisch-kritisch zu arbeiten, ist eine solche Voraussetzung, die wiederum als historisches Faktum in einem Deutungszusammenhang – oder hermeneutischen Zirkel – steht, aus dem nicht herausgetreten werden kann und auch nicht herausgetreten werden muss. Aber es braucht die Selbstvergewisserung der Weite und der Grenze der Vorentscheidungen, um damit dem eigenen Anspruch gerecht werden zu können und um den Standort der Texte bestimmen zu können. Dies drückt sich in dem Methodenpluralismus der historischen Kritik aus, der ihr immer wieder neu zu einer Vertiefung des eigenen Anspruchs einer größtmöglichen Objektivierung verhilft.799

798 Dies hat bereits G. Ebeling in seinem wegweisenden Aufsatz für die protestantische Theologie gesehen, indem er die historische Kritik als Konsequenz des protestantischen Rechtfertigungsglaubens sah. Die Kritik lässt das sola fide bewusst hervortreten, da die historische Kritik zu einer entsubstantialisierten Theologie führt und damit zeigt, dass die Rechtfertigung sola fide angenommen werden muss, insofern der Glaube der Anfechtbarkeit des Historischen ausgeliefert ist. Vgl. G. EBELING, „Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode“, 41-43. Es bleibt jedoch zu fragen, inwiefern ein solcher Ansatz die Tür zum Fideismus öffnet, wenn das sola fide entsubstantialisiert verstanden wird. 799 Vgl. M. KONRAD, „Die historische-kritische Exegese“, 106-107. Siehe auch M. REISER, Kritische Geschichte der Jesusforschung, 143. Der Exeget plädiert dafür, mit unterschiedlichen Methoden strikt die Quellen und Zeugnisse ohne eine metaphysische Vorentscheidung zu betrachten. Zu einer möglichen Bewältigung des hermeneutischen Zirkels kann eine kritische Position gegenüber der historischen Kritik sein, die aus ihr selbst erwächst. Von einer Kritik der Kritik spricht J. RATZINGER, „Schriftauslegung im Widerstreit. Zur Frage nach Grundlagen und Weg der Exegese heute“, in: D ERS., Glaube in Schrift und Tradition. Zur Theologischen Prinzipienlehre, Bd. 2 (= JRGS 9,2), G. L. MÜLLER (Hg.), Freiburg – Basel – Wien 2016, 790-819, 797; [in Folge: J. RATZINGER, „Schriftauslegung im Widerstreit“].

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2.2.

Die pneumatische Auslegung: eine alte Hermeneutik für die Gegenwart

Die pneumatische Schriftauslegung800 ist auf der Überzeugung begründet, dass die christliche Bibel eine Einheit aus Altem und Neuem Testament bildet, die aus dem Kanonisierungsprozess selbst stammt, insofern alle Schriften im Glauben an den einen Gott wurzeln.801 Für 800 Unter pneumatischer Schriftauslegung wird hier die Zusammenfassung von Allegorie, Typologie und Anagogie verstanden, insofern sich pneumatisch auf den Sinn, allegorisch, typologisch und anagogisch auf das Verstehen bezieht. Der eine pneumatische Sinn drückt sich in einem dreifachen Verstehen aus, so dass die Rede vom dreifachen Schriftsinn irreführend sein kann. Vgl. M. REISER, Bibelkritik und Auslegung, 140-144. Gegen eine Aufteilung der teils entgegengesetzten Darstellungen der Methoden plädiert auch J. PANAGOPOULOS, „Christologie und Schriftauslegung bei den griechischen Kirchenvätern“, ZThK 89 (1992) 41-58, 42; [in Folge: J. PANAGOPOULOS, „Christologie und Schriftauslegung“]. Weiter charakterisiert er die pneumatische Schriftauslegung der Kirchenväter: „die biblische Hermeneutik der Kirchenväter bedingt und beinhaltet die Problematik der theologischen Erkenntnis und der christlichen Wahrheit überhaupt“ (ebd. 43-44; Hervorhebung im Original). M. FIEDROWICZ, Theologie der Kirchenväter, 134-187. Auch Origenes spricht zwar in seiner Hermeneutik von einer Dreigliederung; er versteht sie aber aus der Einheit des Menschen, der aus Geist, Seele und Leib besteht und die Schrift sich auf den Menschen und seine Rettung bezieht. Vgl. ORIGENES, De principiis, IV 2,4 (die Arbeit folgt der Ausgabe und Übersetzung: ORIGENES, Vier Bücher von den Prinzipien, H. GÖRGEMANNS – H. KARPP (Hgg., = TzF 24), Darmstadt 31992; [in Folge: ORIGENES, De principiis]). Zum trichotomischen Sinnverständnis bei Origenes siehe H. D. LUBAC, Geist aus der Geschichte. Das Schriftverständnis des Origenes, übers. v. H. U. V. BALTHASAR, Einsiedeln 1968, 182-200; [in Folge: H. D. LUBAC, Geist aus der Geschichte]. Der französische Theologe zeichnet nach, dass nicht klar entschieden werden kann, ob Origenes die Trichotomie aus der biblischen Anthropologie oder dem (Neu-)Platonismus nimmt. Origenes hält jedoch die Trichotomie nicht konsequent durch, sondern sieht Seele und Geist als eine geistige Einheit, so dass im Gesamten bei Origenes eine Dichotomie festzustellen ist. Zu De principiis, IV 1-3, worin Origenes seine Schrifthermeneutik ausarbeitet, siehe: M. ZIMMERMANN, Schriftsinn und biblisches Verstehen, 36-176 und das grundlegende Werk zu Origenes: H. D. LUBAC, Geist aus der Geschichte. Zu d. Lubacs Origenesdeutung siehe R. VODERHOLZER, Die Einheit der Schrift, 271-339. – Zur allgemeinen Hinführung siehe die Textsammlung M. FIEDROWICZ, Prinzipien der Schriftauslegung in der Alten Kirche (= TC 10), Bern – New York 1998, besonders die Einleitung IX-XX; [in Folge: M. FIEDROWICZ, Prinzipien der Schriftauslegung]; DERS., Theologie der Kirchenväter, 97-105.114-133. Zu weiteren Quellentexte der Kirchenväter zur Schrifthermeneutik siehe M. FIEDROWICZ, Handbuch der Patristik. Quellentexte zur Theologie der Kirchenväter, Freiburg – Basel – Wien 2010, 142-259. Über die pneumatische Schriftauslegung informieren H. D. LUBAC, Typologie, Allegorie, geistiger Sinn, 7-92; DERS., Geist aus der Geschichte, 169-232; R. VODERHOLZER, Offenbarung, Tradition und Schriftauslegung, 119-150. Zur Geschichte der pneumatischen Auslegung siehe: M. REISER, „Prinzipien der biblischen Hermeneutik“, 79-88. Eine systematische Reflexion bietet S. MÜLLER, Kritik und Theologie. Christliche Glaubens- und Schrifthermeneutik nach Richard Simon (16381712) (= MThS.S 66), St. Ottilien 2004, 445-466; [in Folge: S. MÜLLER , Kritik und Theologie]. 801 Vgl. P. STUHLMACHER, „‚Aus Glauben zum Glauben‘ – Zur geistlichen Schriftauslegung“, in: DERS., Biblische Theologie und Evangelium. Gesammelte Aufsätze

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die pneumatische Hermeneutik ist die Grundannahme leitend, dass sich biblische Texte in der wörtlichen Lektüre nicht erschöpfen,802 sondern dass der Buchstabe Träger eines Sinnes ist, wiewohl beide Größen nicht voneinander zu trennen sind. In dieser Verbindung von Geist und Buchstaben muss auch die Einheit der ganzen Schrift interpretiert werden, in der sich die unterschiedlichen Gattungen und Formen biblischer Texte auf die sie alle verbindende theologische Größe beziehen. Somit lässt sich die pneumatische Hermeneutik und der pneumatische Sinn auf die Schrift selbst zurückführen. H. d. Lubac hat in seiner Studie über die christliche Schriftauslegung gezeigt, dass der pneumatische Sinn den Geist und die Methode des Neuen Testaments bildet, der aber bereits im Alten Testament, besonders bei den Propheten, grundgelegt ist. Nimmt das Neue Testament den pneumatischen Ansatz des Alten Testaments an, so übersteigt es diesen jedoch, ohne sich davon zu lösen. Das Pneumatische besteht im Transzendieren des Gegebenen, was sich auf den Buchstaben und die (= WUNT 146), Tübingen 2002, 215-232, 217-218; [in Folge: P. STUHLMACHER, „Aus Glauben zum Glauben“]. Dabei warnt der Autor, die Kanonisierungsprozesse der unterschiedlichen Kanones als unzusammenhängende Abstraktion zu sehen. Siehe auch. M. REISER, Bibelkritik und Auslegung, 137, der vom „Axiom der harmonischen Einheit von Altem und Neuem Testament, konstituiert durch den Geist“ spricht; L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Wiederentdeckung des geistigen Schriftverständnisses“, 402-425, 404-407. Nochmals mit Einbezug der menschlichen Vernunft: DERS., „Der offenkundige und der verborgene Sinn“, KatBl 135 (2010) 86-91, 87: „Die Schrift entspringt nicht der Genialität literarisch begabter Dichter, sondern der Sensibilität einer dem Göttlichen gegenüber geöffneten Vernunft. Vor dem Sprechen und vor dem Schreiben kommt das Hören“; [in Folge: L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Der offenkundige und der verborgene Sinn“]. Ähnlich äußert sich auch M. HENGEL, „Historische Rückfrage“ 8. U. Wilckens entwirft aus dem trinitarischen Glauben und der Theologie der Bibel eine Hermeneutik der Schrift als Heilige Schrift. Vgl. U. WILCKENS, Kritik der Bibelkritik, 116-148. Das Auseinanderfallen der Einheit der Schrift, die für die pneumatische Hermeneutik grundlegend ist, sieht R. Voderholzer in der Neuzeit nicht in der historisch-kritischen Methode gegeben, sondern: „Der Zerfall der Einheit der Schrift dürfte also nicht so sehr die Entdeckung des Spannungsreichtums innerhalb der beiden Testamente [durch die historisch-kritische Methode; Anm. d. Verf.] herbeigeführt haben als vielmehr die Zerstörung des Offenbarungsbegriffes durch den neuzeitlichen Deismus, der eine Selbstmitteilung Gottes unter den Bedingungen menschlicher Sprache und Geschichte a priori ausschließt, die Lehre vom Gotteswort im Menschenwort als bloß mythologische Redeweise qualifiziert und den christlichen Glauben auf die Grundsätze einer Vernunftreligion reduziert“. R. VODERHOLZER, Die Einheit der Schrift, 91. Siehe dazu auch M. REISER, Bibelkritik und Auslegung, 10. 802 In der wörtlichen Lektüre sieht Origenes den Grund, dass einerseits die Juden Jesus nicht als Christus anerkennen können, und andererseits die Häretiker den alttestamentlichen Gott als Demiurgen verstanden. Vgl. ORIGENES, De principiis, IV 2,1. Zum Buch IV von De principiis, in dem Origenes seine Schrifthermeneutik ausarbeitet, siehe: M. ZIMMERMANN, Schriftsinn und biblisches Verstehen, 36-176. Damit drängt sich die lohnenswerte Frage auf, ob, begonnen beim Barnabasbrief, nicht eine wörtliche Lektüre der ganzen Schrift zu Antijudaismen beigetragen hat bzw. ob die pneumatische Hermeneutik davor bewahren könnte, indem sie die wörtliche Lektüre in einen pneumatischen Sinn überführt, der gerade eine Pluralität des Verstehens eröffnet.

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Geschichte anwenden lässt, indem der Buchstabe in Geist und Geschichte in Heilsgeschichte überführt werden. Die pneumatische Hermeneutik ist somit kein dogmatisches Paradigma, das rein äußerlich an der Schrift angewendet wird. Sie ist vielmehr eine genuin biblische Hermeneutik und die Konsequenz aus dem Verständnis der einen Bibel.803 Die biblische Einheit stellt keinen monolithischen Block dar, sondern eröffnet eine Polysemie, die durch die Polyphonie der Texte umfangen ist.804 Die Polyphonie kann als die Begrenzung der Polysemie verstanden werden, sodass die biblische Mehrdeutigkeit nicht in einer Beliebigkeit verklingt. Die eine Schrift „verweist in der Vielstimmigkeit der Worte auf das eine Wort Gottes und in der Fülle der Personen auf die eine Person Jesu Christi, aber auch in der einen Weltzeit auf die Fülle der Zeiten (Mk 1,15 parr.; Gal 4,4) und im Bekenntnis des einen Gottes auf die Vielstimmigkeit der Glaubenszeugnisse“.805 Die Einheit der Schrift ermöglicht eine mehrdimensionale Auslegung, insofern diese Einheit nicht eine Vereindeutigung des Sinnes bietet, sondern ein Zusammenklingen unterschiedlicher Textzeugnisse, die darin die Größe des Bezeugten verstehbar machen. Pneumatische Hermeneutik versucht daher die theologische Offenbarung in Jesus Christus in die geschichtliche Wirklichkeit auszulegen und damit Geschichte nicht nur zu verstehen, sondern auch zu deuten. Biblische Hermeneutik erfolgt vor dem Horizont biblischer Zeugnisse, wobei es im Erschließen der Texte zu Horizonterweiterungen kommen kann. H.-G. Gadamer äußert sich 803 Vgl. H. D. LUBAC, Typologie, Allegorie, geistiger Sinn, 38-49. Dabei stellt der Autor jedoch heraus, dass der geistige Sinn erst mit dem Neuen Testament gänzlich zum Durchbruch kommt, weil es der Gabe des Geistes bedarf, der „das Faktum Christi als vollendet voraus[setzt]“ (42). Ist die Diskontinuität christologisch begründet, so muss dagegen die Kontinuität im pneumatischen Verständnis theologisch begründet sein. 804 Wichtig ist dabei zu erinnern, dass die Polysemie von der Pluralität der Methoden unterschieden werden muss, weil sich die Polysemie auf den Textsinn bezieht. Die Methoden können dagegen als unterschiedliche Herangehensweisen und Aktualisierungen des Textsinns verstanden werden. Vgl. dazu R. VODERHOLZER, Die Einheit der Schrift, 477-479. Dass die Polysemie nicht erst der christlichen Allegorisierung der Bibel geschuldet ist, zeigt sich am Beispiel rabbinischer Hermeneutik, die zwar eine Fixierung auf den Text kennt, jedoch davon ausgehend eine Pluralität der Auslegung zulässt. Vgl. dazu G. STEMBERGER, „Hermeneutik der jüdischen Bibel“, in: C. DOHMEN – G. STEMBERGER, Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments (= KStTh 1,2), zweite, überarb. Aufl., Stuttgart 2019, 29-141, 82-91, hier 87 und 89: „Der Text ist somit von Gott gegebenes Material, an dem man seinen Erfindungsreichtum im Entdecken sprachlicher Möglichkeiten erproben kann, um so Antwort auf seine Fragen zu erhalten“. „Dass ein Bibeltext eine Vielzahl legitimer Bedeutungen haben kann, leitet sich direkt aus dem Verständnis der Schrift als einer einmaligen und vollständigen Mitteilung Gottes für alle Zeiten ab“; [in Folge: G. STEMBERGER, „Hermeneutik der jüdischen Bibel“]. 805 T. SÖDING, „Exegetische und systematische Theologie“, 499.

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diesbezüglich: „Wer keinen Horizont hat, ist ein Mensch, der nicht weit genug sieht und deshalb das ihm Naheliegende überschätzt. Umgekehrt heißt Horizont haben: Nicht-auf-das-Nächste Eingeschränktsein, sondern über es Hinaussehenkönnen“.806 In seinem hermeneutischen Ansatz weist der Philosoph darauf hin, dass es somit die Fragen nach dem Horizont braucht. Auf die biblische Hermeneutik übertragen, kann dies bedeuten, dass sich die Fragen der Auslegung nicht nur auf die Historie beschränken dürfen, sondern dass besonders nach der pneumatischen Dimension gefragt werden muss. Die Bibel ist ein gewachsenes Buch, dessen Entstehung sich über Jahrhunderte erstreckt und in dem es zu teils widersprüchlichen Aussagen und Sachverhalten kommt. Jedoch darf die Bibel nicht fundamentalistisch als ein historisches Buch missverstanden werden. „Es geht nicht darum,“ so L. Schwienhorst-Schönberger treffend – „durch Harmonisierungen der Widersprüche einen biblischen Einheitsbrei herzustellen, sondern die Ebene der Widersprüche in der Suche nach der zugrunde liegenden res, der ,Sache‘, zu durchbrechen“.807 Pneumatische Schriftauslegung denkt von Gott und der Inspiration der Schrift her, weshalb sie eine genuin theologische

806 H.-G. GADAMER, Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Gesammelte Werke I, Tübingen 61990, 307; [in Folge: H.-G. GADAMER, Wahrheit und Methode]. Zu Gadamer siehe J. GRONDIN, Hermeneutik (= UTB Philosophie 3202), Göttingen 2009, 50-67; [in Folge: J. GRONDIN, Hermeneutik]. T. TOPS, „Transforming Historical Objectivism into Historical Hermeneutics. From ‚Historical Illness‘ to Properly Lived Historicality“, NZSTh 61 (2019) 490-515, 507-514; [in Folge: T. TOPS, „Transforming Historical Objectivism“]. Kritisch mit dem Ansatz von Gadamer setzt sich auseinander: K. MÜLLER, „Herbst der Hermeneutik? Eine philosophische Debatte von theologischer Brisanz“, in: E. GARHAMMER – H.-G. SCHÖTTLER (Hgg.), Predigt als offenes Kunstwerk. Homiletik und Rezeptionsästhetik, München 1998, 137-148, 143-145. 807 L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Die Einheit der Schrift ist ihr geistiger Sinn“, BiKi 63 (2008) 179-183, 182; [in Folge: L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Die Einheit der Schrift“]. Vgl. zur Kritik daran: M. THEOBALD, „Offen-dialogisch-(selbst)kritisch. Die grundlegende Bedeutung historisch-kritischen Arbeitens für die theologische Auslegung des Neuen Testaments“, BiKi 63 (2008) 240-245. Der Neutestamentler unterstreicht in seinem Beitrag die Pluralität des biblischen Kanons, die der Kanon selbst begründet und möchte damit zeigen, dass die Einheit der Schrift als res nicht in ihr selbst zu finden sei. Dabei übergeht er aber den Gedanken von L. Schwienhorst-Schönberger, dass bei ihm Einheit eben nicht Eindeutigkeit meint, sondern dass auch er von einer legitimen Pluralität der Schrift ausgeht. M. Theobald argumentiert nur auf der historischen Ebene und verfehlt damit gerade das Argument von L. SchwienhorstSchönberger, der die Einheit nicht in der literarischen Dimension der Texte, sondern in ihrer pneumatischen Dimension erkennt, die aber nicht von ihrer literarischen Dimension getrennt werden kann. Damit folgt der Alttestamentler nicht nur neueren Ansätzen der Literaturwissenschaft, sondern es darf dahinter auch der Gedanke Origenes‘ erkannt werden, dass die literarische Gestalt als „Hülle des Geistlichen“ (to. swmatiko.n tw/n grafw/n) vom Geist „zu etwas Nützlichem“ (ouvk avnwfele.j) gemacht wird, das sich auf den Nutzen der Leser bezieht. Vgl. ORIGENES, De principiis, IV 2,8.

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Hermeneutik808 ist und mit der Gottfähigkeit des Menschen (capax Dei) rechnet. Die Schrift erweist ihre Einheit, die in ihrer Inspiration grundgelegt ist, jedoch nicht aus sich selbst heraus, sondern muss in diesem Sinn ausgelegt werden. Darum fordert Origenes in seiner Grundlegung einer Schrifthermeneutik, dass die Schrift nur kata. pneu/ma ausgelegt werden darf, wobei die Auslegung und der Ausleger ebenso von diesem Geist erfasst sein müssen.809 Die pneumatische Hermeneutik nimmt daher den Text in seiner Gestalt und in seinem Ausdruck ernst. Sie konzentriert sich nicht nur auf die verba, sondern durch die pneumatologische Gleichgestaltung auch auf die res. Darum braucht es nicht nur das Hineindenken in den Text, sondern auch die geistgeleitete Erschließung der Texte, die die tragende Wirklichkeit für die historische res ist. Den Vertretern der pneumatischen Hermeneutik war jedoch immer bewusst, dass das Portal in die res immer das historische Faktum und das geschriebene Wort ist. Pneumatische Schrifthermeneutik verbindet im Unterschied zur historischen Kritik das Faktum mit dem Gedanken der Transzendenz. Versucht die historische Methode den Sinn der Schrift in der Geschichte ausfindig zu machen, so hegt die pneumatische Auslegung das Ansinnen, die Bedeutung biblischer Texte im geschichtlichen Faktum zu finden, das nicht nur für sich alleine steht, sondern in einer heilsgeschichtlichen Verbindung, sodass das Einzelne vom Ganzen betroffen ist und darauf bezogen bleibt. Die verba sind mit der res verbunden und können nur im Zueinander erklärt werden, denn die biblischen Schriften zielen auf das Leben der Menschen als „gelebte

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Pneumatische Hermeneutik muss davon geprägt sein, dass in ihr eine theologische Erfahrung das analogatum princeps ist. Vgl. dazu L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Kontemplatives Schriftverständnis. Zur Wechselbeziehung von kontemplativer Übung und Schriftverständnis“, Studies in Spirituality 17 (2007) 115-125, 118-120. Für eine dezidiert theologische Hermeneutik und deren Aufgaben plädiert auf evangelischer Seite U. LUZ, Theologische Hermeneutik, 1-28. Weiter nennt der Neutestamentler die pneumatische Auslegung der Kirchenväter als Versuch, die „Ganzheitlichkeit des Verstehens, die Einheit von Exegese und Applikation, die Offenheit des Sinns der Texte und die Verbindung von Bibelauslegung, Glauben und Kirche“ wahrzunehmen und ihr gerecht zu werden (ebd. 468). Dabei ist für U. Luz die Beschäftigung mit der altkirchlichen Schrifthermeneutik keine „antiquarische Spielerei“, vielmehr „eine große Herausforderung“ (ebd. 511). Die „Ganzheitlichkeit des Verstehens“ führt bei Augustinus zu nichts anderem als zur Gottes- und Nächstenliebe. Die Auslegung der Schrift will zum Genießen der Liebe anleiten. Der Ausdruck des Genießens der Liebe findet sich bei AUGUSTINUS, Die christliche Bildung – De doctrina christiana (= Reclams Universal-Bibliothek 18165), Stuttgart 2013, I, XXXV.39.84-XXXVII.41.89. Zu Augustinus siehe F. BRUCKMANN, Die Schrift als Zeuge analoger Gottrede. Studien zu Lyotard, Derrida und Augustinus, Freiburg – Basel – Wien 2008, 309-456, besonders 349-372; [in Folge: F. BRUCKMANN, Die Schrift als Zeuge]. 809 Vgl. ORIGENES, De principiis, IV 2,3.

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Wirklichkeit“810. Das historische Faktum, das in den verba verständlich wird, ist das Medium der res, die nur durch geschichtliche Vermittlung vernehmbar werden kann, auch wenn die res als geistige Wirklichkeit damit nicht an die verba gebunden ist bzw. immer auch größer gedacht werden muss, weil das historische Moment immer nur einen durch die Geschichte eingeschränkten Bereich der ganzen Wirklichkeit vermitteln kann. „Der Grund dafür“ – so legt M. Blondel dar – „ist leicht einzusehen. Die wirkliche Geschichte ist aus menschlichen Schicksalen gemacht, das menschliche Leben ist Metaphysik im Vollzug. Wer meint, Geschichtswissenschaft unabhängig von jeder Leitidee zu betreiben, oder auch nur annimmt, dass eine im engeren Sinn des Wortes […] ,positive‘ Feststellung der Innenraum der Geschichte sein könne, der Ort, wo sie hergestellt wird [cuisine], lässt sich in seiner vorgeblichen, aber nicht möglichen Neutralität von vorgefassten Meinungen beherrschen“.811

Pneumatische Schriftauslegung versucht dagegen dem „Vollzug der Metaphysik des Lebens“ zu folgen und ihn in der Auslegung verstehbar zu machen. Sie kann daher auch als eine transzendentale Hermeneutik verstanden werden, indem sie die Schrift nicht einzig auf ihre historischen Abläufe hin befragt, sondern auch einen Sinn in deren Voraussetzungen und Bedingungen erkennen möchte und deren transzendenten Bezug als Zeugnis in die Hermeneutik einschließt. Grundlegend ist das Verständnis der Inspiration aller biblischen Texte durch den Geist Gottes. Dabei bilden der historische und der pneumatische Sinn nicht einen Widerspruch, sondern sie sind die Grundlage für das richtige Verstehen biblischer Texte, denn besonders die neutestamentlichen Autoren verstanden ihr Schreiben als die geistgewirkte Erinnerung an Jesus Christus.812 Da sie ihre Schriften selbst als diese Erinnerung verstanden, konnten sie die Texte als Zeugnis für Jesus Christus lesen und auslegen. Daraus folgert 810

M. BLONDEL, Geschichte und Dogma, Regensburg 2011, 46; [in Folge: M. BLONDEL, Geschichte und Dogma]. 811 Ebd. 47. Vgl. dazu S. MÜLLER, Die historische Methode, 57: „Das originäre gnoseologische Korrelat nicht nur biblischer, sondern überhaupt aller religiösen Kritik aus historischer Perspektive kann nur Geschichte als vom transzendentalen Standpunkt aus betrachtete sein“. 812 Vgl. zum jüdischen und christlichen Inspirationsverständnis P. STUHLMACHER, „Vom Glauben zum Glauben“, 220: „Der entscheidende Unterschied zwischen ihnen [den Christen; Anm. d. Verf.] und den jüdischen Auslegern bestand nur darin, daß diese den Geist als die Weisheit verstanden haben, die der von Gott durch Mose am Sinai ausgehenden schriftlichen und mündlichen Lehrtradition innewohnt, die Christuszeugen aber im Heiligen Geist die Kraft und Weisheit des einen Gottes gesehen haben, der seinen Sohn Jesus Christus in die Welt gesandt, dem Kreuzestod preisgegeben und von den Toten auferweckt hat. Um Tora, Propheten und Schriften auslegen zu können, mußten die Schriftgelehrten an der Mose beseelenden Weisheit teilhaben, die Verfasser des Neuen Testaments dagegen an dem Geist, der von Christus und der apostolischen Glaubensüberlieferung ausging“.

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P. Stuhlmacher: „Damit wird die ganze Auslegung der Schrift unter den Vorbehalt, aber auch unter die Verheißung gestellt, daß nur Gott selbst durch Christus kraft des Heiligen Geistes das Verständnis des biblischen Zeugnisses eröffnen kann, es aber auch eröffnen will, wo man sich zu ihm im Glauben bekennt“.813 Der Glaube an den einen und wahren Gott, wie ihn beide Testamente bezeugen, ist damit der Bezugspunkt einer pneumatischen Auslegung der Schrift. Versteht sich biblische Hermeneutik als monotheistische Auslegung, so kann sie christlich nur christologische Hermeneutik sein, da sich das Wort Gottes in Jesus Christus geschichtlich offenbart. In dieser Perspektive ist dann auch der Zusammenhang von Buchstabe und Geist (2 Kor 3,16) zu sehen, der sich nicht auf Äußerlichkeit und Innerlichkeit bezieht, sondern die geistvermittelte Christusunmittelbarkeit erschließt. Der Buchstabe tötet, wenn in ihm nicht die Gegenwart des geistgewirkten Wortes Gottes erfahren wird. Darum darf der tötende Buchstabe nicht mit dem Alten Testament gleichgesetzt werden, denn auch der Buchstabe des Neuen Testaments tötet, wenn ihm der lebendig machende Geist fehlt, der das Wort Gottes in der Schrift verfleischlicht. Damit zeigt sich, „daß es christlich nur noch pneumatische Schriftdeutung geben kann, solche also, die die (alte) Schrift (graphē) auf die Menschwerdung des gesamten göttlichen Wortes hin, und was es nach der Menschwerdung an Schrift geben wird, von dort her liest, und die zudem das Gelesene aus dem Pneuma Christi zu deuten sucht“.814 Legen die neutestamentlichen Schriften den einen Gott „gemäß der Schrift“ und „so, wie geschrieben steht“ (also alttestamentlich) aus, so wird die Auslegung der einen christlichen Schrift „gemäß dem Glauben“ (Röm 12,6: avnalogi,a th/j pi,stewj) geleitet, indem Schriftwerdung und Schriftauslegung ein trinitarisches 813

P. STUHLMACHER, „Aus Glauben zum Glauben“, 221 (Hervorhebung im Original). Vgl. auch H. D. LUBAC, Typologie, Allegorie, geistiger Sinn, 17-30, für den sich der pneumatische Sinn der Schrift einzig auf Jesus Christus bezieht. Siehe auch R. VODERHOLZER, Die Einheit der Schrift, 235-270. Dabei zeichnet der Autor nach, dass es bereits eine eigene Teleologie des Schriftverständnisses in den neutestamentlichen Schriften gibt, die alle auf das eschatologische Heilsereignis in Jesus Christus zielen. 814 H. U. V. BALTHASAR, Theodramatik. Die Personen des Spiels. Der Mensch in Gott (= TD 2,1), Einsiedeln 1976, 101-102 (Hervorhebungen im Original). Zum schrifthermeneutischen Ansatz v. Balthasars siehe B. KÖRNER, Die Bibel als Wort Gottes auslegen, 97-113; besonders J. SCHELHAS, Christozentrische Schriftauslegung, 75-248 und 407-423. Der Autor schreibt zu v. Balthasars Schrifthermeneutik: „Der Weg selbst [einer wissenschaftlichen Schriftauslegung; Anm. d. Verf.] ist christozentrisch strukturiert. Christozentrik ist nach von Balthasar das formal hermeneutische Strukturprinzip wissenschaftlicher Schriftauslegung in der christlichen Theologie. Die Bibel christozentrisch auslegen bedeutet demzufolge mehr als nur eine Methode der Schriftauslegung neben anderen konsequent zur Anwendung zu bringen. Christozentrik bezeichnet die geistige Form der Schriftauslegung schlechthin“ (ebd. 129; Hervorhebung im Original). Zu 2 Kor 3,16 siehe auch R. VODERHOLZER, Die Einheit der Schrift, 240248.

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Geschehen sind. Es ist der Geist Gottes, der in diesen Glauben des inkarnierten Wortes Gottes einführt. Indem im Glauben das zum Inhalt kommt, was die Schriften bezeichnen, stehen in der pneumatischen Schriftauslegung Schrift und Glaube in einem wechselseitigen Verhältnis. Darum ist biblische Hermeneutik immer ein Hören auf das, was der Text sagt und was er zum Ausdruck bringen will. „Wer einen Text verstehen will, erklärt sich bereit, sich von ihm etwas sagen zu lassen. Nur so werden wir empfänglich für Andersheit und bleiben wir wirklich hörende“.815 Darin ist auch das Ziel der Auslegung beschrieben, insofern diese Hermeneutik auf die Begegnung von Gott und Mensch im Glauben ausgerichtet ist. Hat die historische Kritik philosophische, so die pneumatische Hermeneutik theologische Voraussetzungen, die sie sich bewusst machen und zugleich auch immer kritisch reflektieren muss; fällt ein kritisches Hinterfragen aus, so kann eine pneumatische Hermeneutik schnell eine fideistische Schlagseite bekommen, was zu nichts anderem führt, als zu einer dictaprobantia-Theologie im neuen Gewand. Eine pneumatische Schriftauslegung fragt daher nach der Theologie, die in den Schriften vorgestellt wird. Hierbei ist es notwendig, mit den Methoden der historischen Kritik eine Untersuchung der Schriften und der Testamente vorzunehmen, um die unterschiedlichen theologischen Konzepte herauszuarbeiten. Pneumatischer Schriftauslegung kommt nicht die Aufgabe zu, die Theologien zu bewerten, sondern sie miteinander in einen Dialog treten zu lassen. Die analogia fidei stellt hierbei die Möglichkeit dar, in Verbindung der regula fidei den Hintergrund für dieses Gespräch zu schaffen.816 Die Schrift begründet also nicht den Glaubensinhalt der Offenbarung, sondern ist selbst durch ihn geprägt. Schriftauslegung kann dies dann darin deutlich machen, dass sie sich auf diesen Glaubensinhalt einlässt und in die Auslegung integriert.817 Dies bewahrt 815

A. SIERSZYN, Christologische Hermeneutik, 50. M. Reiser spricht in Bezug zur Allegorie von „bekenntnishafte[r] Setzung“ als hermeneutische Methode, weil sie nicht aus den Texten selbst zu erschließen ist, sondern aus dem Anspruch des Glaubens, im Text einen Sinn zu finden. Vgl. M. REISER, Bibelkritik und Auslegung, 137. 816 Die Interpretation der analogia fidei als regula fidei findet sich in der Bibelenzyklika Providentissimus Deus, DH 3283: „In ceteris analogia fidei sequenda est, et doctrina catholica, qualis ex auctoritate Ecclesiae accepta, tamquam summa norma est adhibenda…“. Siehe dazu B. GERTZ, Glaubenswelt als Analogie. Die theologische Analogie-Lehre Erich Przywaras und ihr Ort in der Auseinandersetzung um die analogia fidei, Düsseldorf 1969, 87-98; [in Folge: B. GERTZ, Glaubenswelt als Analogie]. 817 Vgl. L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Wiederentdeckung des geistigen Schriftverständnisses“, 405.417-425. Dahinter steht eine Kirchenväterhermeneutik, die wie folgt beschrieben werden kann: „Die Interpretationsrichtung verlief demzufolge [nach der Wahrheitserkenntnis gemäß der regula fidei; Anm. d. Verf.] nicht vom Schrifttext zur Glaubenswahrheit, sondern umgekehrt von dieser im Credo bekannten,

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die pneumatische Schrifthermeneutik auch vor einem gefährlichen Subjektivismus, wofür die teils überschwänglichen Allegorisierungen ohne jegliche historische oder offenbarungstheologische Rückbindung Beispiel sind. Pneumatische Schriftauslegung geht von der Inspiration der Texte aus, die sich auf den Leser und Ausleger erstreckt, und orientiert sich an der analogia fidei, die nicht ein festgeschriebenes und extrinsezistisches Gesetz der Vergangenheit, sondern den lebendigen Glauben der Kirche darstellt, der eine theologische Grundausrichtung hat. Die Orientierung daran bietet die Möglichkeit, Exegese vor Eisegese zu schützen sowie vor einem hermeneutischen Gnostizismus, dem die historische und glaubensgemäße Erdung fehlt. Biblische Schriftauslegung muss im Glauben an Jesus Christus wurzeln, der als Wort Gottes das Gotteswort offenbart, und in dieser Offenbarung den geschichtlichen Kontext der Schrift und ihrer Auslegung darstellt. Pneumatische Schrifthermeneutik ermöglicht ein aggiornamento biblischer Texte nicht als toter Buchstabe, sondern als lebendiges und geistdurchwirktes Geschehen. Die Verheutigung der Bibel besteht jedoch nicht darin, dass das Geschriebene für obsolet erklärt wird, sondern vielmehr in dessen Aktualisierung.818 Die Aktualisierung soll einen Dialog zwischen Text und Leser schaffen, insofern es zu einer adaequatio scripturae et vitae kommt. Biblische Texte sind somit nicht rein als historischer Tatsachenbericht zu lesen, sondern sie bergen einen lebensdienlichen Schatz,819 der für die geschichtliche Bedeutung des Jetzt belangvoll ist und existentielle Bedeutung hat.820 Geist und liturgisch-sakramental vollzogenen und im christlichen Leben praktizierten Wahrheit zum Verständnis der biblischen Worte“ (M. FIEDROWICZ, Theologie der Kirchenväter, 119). T. Söding wertet den Ansatz in der Enzyklika Deus caritas est als „Musterfall kirchlicher Schriftauslegung“, „die nicht verdoppeln, vereinfachen oder verbessern will, was die Bibliker zu sagen haben, sondern vom neutestamentlichen Schrifttext ausgeht, ihn auf Jesus Christus zurückbezieht in den Horizont des Alten Testaments stellt und mit Hilfe der kirchlichen Tradition auf die Gegenwart bezieht, um so seinen Sinn zu erschließen“ (T. SÖDING, „Die Seele der Theologie“, 545-557, hier 546). Ein weiteres Beispiel aus dem anglophonen Sprachraum ist G. A. ANDERSON, Christian doctrine and the Old Testament. Theology in the service of biblical exegesis, Grand Rapids, Michigan 2017. 818 Vgl. in Bezug auf die Allegorie M. REISER, Bibelkritik und Auslegung, 136: „Die Allegorese ist somit eine logische Konsequenz aus der Überzeugung, dass ein vormals ergangenes und aufgeschriebenes Wort oder ein früheres Geschehen von aktueller Bedeutung ist […]“. Auch M. FIEDROWICZ, Theologie der Kirchenväter, 104-105; DERS., Prinzipien der Schriftauslegung, XX. Darin unterstreicht der Patrologe, dass mit einer aktualisierenden Hermeneutik „die Exegeten der Alten Kirche zu ernstzunehmenden Gesprächspartnern in der hermeneutischen Diskussion der Gegenwart werden“, da sich darin bereits die Einbeziehung des Kontextes ausdrückt. 819 Vgl. H. D. LUBAC, Typologie, Allegorie, geistiger Sinn, 27: „Das Wort Gottes, das lebendige und wirksame Wort, erhält seine wahre Vollendung und die Fülle seiner Bedeutung nur durch die Umwandlung, die es im Menschen bewirkt, der es aufnimmt“. 820 Vgl. W. KASPER, „Prolegomena zur Erneuerung“, 517-518.524.

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Buchstabe beziehen sich auf den Menschen und sein Heil, das ihm durch die Geschichten der Bibel erzählt werden soll. Für das Christentum ist das Heil in Jesus Christus vermittelt (vgl. 1 Tim 2,4), weshalb biblische Texte die christologische Fundierung des Heils bezeugen müssen. In der steten Aktualisierung des theologischen Gehalts biblischer Texte durch die pneumatische Hermeneutik wird nicht nachträglich ein christologischer Sinn eingeführt, sondern er wird pneumatologisch offenbar gemacht. Weil biblische Texte intentional sind, ist ihre christologische Lesart als pneumatische Explikation zu verstehen, die den theologischen Sinngehalt geschichtlich vermittelt. Es ist die pneumatologische Wirkung, die nicht nur in den Texten wirkt, sondern durch den Vorgang der Offenbarung dem Lesen und Verstehen der Texte bereits voraus liegt und den Offenbarungsdialog performativ begründet. Damit zeigt sich aber, dass die pneumatische Schrifthermeneutik gleich der historischen Kritik nicht voraussetzungsfrei, sondern durch eine dogmatische Vorentscheidung geprägt ist. Gleich der urkirchlichen regula fidei kann für die pneumatische Schriftauslegung die christologische Grundentscheidung der unio hypostatica gelten, dass Menschheit und Gottheit, Zeit und Ewigkeit sowie Geist und Buchstaben verbunden sind. Die pneumatische Hermeneutik, wie sie die Kirchenväter vertraten, bildete sich nicht nur parallel, sondern bedingt durch die christologische Lehrentwicklung heraus.821 Sahen die Kirchenväter in der hypostatischen Union eine Analogie für das Verhältnis von Gottes- und Menschenwort, so muss die christologische Perspektive theologisch geweitet werden, um die pneumatische 821

Vgl. J. PANAGOPOULOS, „Christologie und Schriftauslegung“, 44: Es ist festzuhalten, „daß, je fester und konkreter die Christologie in ihrer Gestalt und ihrem Gehalt mit der Zeit wird, desto klarer und bewußter auch die hermeneutischen Prinzipien der Bibelauslegung aufgefaßt und formuliert werden. Gerade diese innere Verflechtung von Christologie und Bibelauslegung verleiht der patristischen Hermeneutik ihre Relevanz“ (Hervorhebung im Original). Weiter 57: „Die Hermeneutik hat dann im Lichte des Dogmas von Chalcedon alle herkömmlichen Alternativen ad acta zu legen, die die neuzeitliche konfessionell geprägte Theologie plagen. Im Lichte der Inkarnation wird jede Spannung zwischen Jesus der Geschichte und Christus des Glaubens, zwischen Geschichte und Eschatologie, Gestalt und Gehalt, historisch-kritischer Forschung und glaubender Bibelauslegung, zwischen Verstehen und Glauben radikal überwunden. Alles Menschliche, Materielle, Geschichtliche bewahrt seine volle Geltung, Eigenart und Funktion, zugleich wird es aber transparent für eine genauso reale, jedoch geistige Dimension des Seins, das sowohl das Menschliche, Geschichtliche, als auch das Geistige, Göttliche in einer geistigen Vereinigung ohne Vermischung umfaßt: omnia divina et omnia humana“. Siehe dazu auch M. FIEDROWICZ, Theologie der Kirchenväter, 125-131, 130: „Die patristische Schriftauslegung war letztlich eine Meditation über Christus“; M. HEALY, „Behind, in Front of... or Through the Text? The Christological Analogy and the Lost World of Biblical Truth“, in: C.G. BARTHOLOMEW – S.C. EVANS – M. HEALY – M. RAE (eds.), „Behind“ the text. History and Biblical Interpretation (= SHS 4), Carlisle 2003, 181-195, besonders 190-193.

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Hermeneutik ihrerseits nicht wieder in einen hermeneutischen Monismus rückzuführen, der seinerseits für die Vielfalt der Bibel taub wäre. Den möglichen Vorwurf einer petitio principii wehrt B. Körner ab, indem er herausstellt, dass diese von der Christologie her gelesene Hermeneutik ein Denkmodell ist, „das zwar von der altkirchlichen Christologie inspiriert ist, aber nicht mit Hilfe des christologischen Dogmas begründet wird. Es geht darum, dass die Heilige Schrift – in Analogie zum christologischen Dogma – Gottes Wort in menschlichen Worten ist. Die Rechtfertigung für die Anwendung dieses Modells liegt nicht im Inhalt des Dogmas, sondern darin, dass dieses Modell es ermöglicht, die Geschichtlichkeit der biblischen Aussagen mit ihrer Geltung als Wort Gottes verbunden zu denken“.822

In diesem Sinn ist die pneumatische Hermeneutik als theologische Exegese zu bewerten. Sie darf nicht mit einer spirituellen Auslegung der Schrift verwechselt werden, die ihrerseits nur eine Dimension der Pluralität der Möglichkeiten ist. Die pneumatische Auslegung will von ihrem genuinen Anspruch theologisch sein, indem sie sich immer die eigenen Voraussetzungen bewusst macht, die im Offenbarungswort begründet liegen. Die Grunddimension der pneumatischen Hermeneutik ist aber die Wahrheit Gottes selbst, der sich in Jesus Christus offenbart und durch den Geist in der Geschichte wirkt. Darum ist die Matrix der pneumatischen Hermeneutik nicht einzig die Schrift als Zeugnis, sondern auch die Geschichte, in der der bezeugte Gott zum Heil der Menschen wirkt. Die Schrift wird als geschichtliche Größe verstanden, die den literarischen Kontext mit dem pneumatischen verbindet und beide Dimensionen in ihrer wechselseitigen Beziehung zueinander ausdrückt.823 Eine pneumatische Hermeneutik darf nicht dazu verleiten, dass es zu einer „Patchwork-Exegese in radikal postmoderner Beliebigkeit […]“824 kommt, bei der unter dem Stichwort der Geistesführung Einschreibungen in den biblischen Text vorgenommen werden, die der rationalen Kritik nicht standhalten können bzw. ihr völlig widersprechen. Bei der pneumatischen Schrifthermeneutik darf die Pneumatologie auch nicht falsch gefasst werden, als ob sie einen sensus perennis aus den biblischen Texten generieren könne. Der biblische Autor und seine Theologie müssen auch in dieser Form der Auslegung ernst genommen werden. Der Kanon der einen Bibel hält an der Pluralität fest; dies zeigt sich auch im Neuen Testament, das das eine Evangelium Jesu in der vierfachen Gestalt der Evangelien kennt. Einzelne Theologien dürfen nicht isoliert und voneinander abgegrenzt 822

B. KÖRNER, Die Bibel als Wort Gottes auslegen, 172-173 (Hervorhebungen im Original). 823 Vgl. J. PANAGOPOULOS, „Christologie und Geschichte“, 53-54. 824 J. KÜGLER, „Entweihung der Schrift?“, 152.

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werden, um daraus einen normativen Einheitssinn der Schrift zu schaffen. Die Pneumatologie ist nicht nur Garant der Einheit der Schrift, sondern ist auch das Merkmal der Differenz, insofern der Geist aus der personalen Unterscheidung von Vater und Sohn hervorgeht und diese Unterscheidung bestehen lässt. 2.3.

Das Gespräch von pneumatischer und historischer Schriftauslegung

2.3.1. Pneumatisch-kritische Hermeneutik Christliche Hermeneutik trägt in sich die Spannung von geschichtlicher Offenbarung Gottes in Jesus Christus und historisch-vernunftgeleiteter Rechtfertigung. Wie jedoch diese Spannung in eine hermeneutische Methode überführt werden soll, daran scheiden sich die Geister. In der Verbindung der historisch-kritischen Methode mit der pneumatischen Schriftauslegung kann christliche Hermeneutik auf diese Spannung reagieren. Wurde seit dem Aufblühen der historischen Kritik oft ein Gegensatz zwischen historisch und dogmatisch konstruiert, so muss dies für eine sachdienliche und theologische Hermeneutik überwunden werden, denn „der Gegensatz zu historisch ist nicht dogmatisch, sondern unhistorisch“.825 Historische und pneumatische Hermeneutik stehen nicht in einem Gegensatz zueinander, denn „[a]lle theologische Exegese“ – so F. Overbeck – „ist allegorisch, verschämt oder ,unverschämt‘“.826 Es soll also an dieser Stelle gezeigt werden, dass 825

M. REISER, Kritische Geschichte der Jesusforschung, 145. Auch wenn der Autor die liberal-historische Methode scharf kritisiert, so hebt er dennoch deren Verdienst hervor, dass in den unterschiedlichen und widerspruchsvollen Jesusbildern „ein Körnchen Wahrheit enthalten [ist], und jedes dieser Körnchen ist uns kostbar, weil es die Wahrheit des Gottessohnes ist. Die Lumpen des Galiläers gehören ebenso zu ihm wie die Prachtgewänder der Liturgie“ (151). Daher plädiert der Exeget für eine erneuerte Jesusforschung, die den historischen Jesus und den Christus des Glaubens sowie Kritik und Wahrheit unterscheidet, aber nicht trennt (vgl. ebd. 152-201). 826 F. OVERBECK, Kirchenlexicon (= Werke und Nachlaß Bd. 4), B. V. REIBNITZ (Hg.), Stuttgart – Weimar 1995, 9, zitiert nach: M. REISER, Bibelkritik und Auslegung, 120. Die Grundlage dafür ist, was L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Einheit statt Eindeutigkeit“, 415 beschreibt: „Die Heilige Schrift will nicht informieren, sie will transformieren“. W. Kasper sieht im Literalsinn bereits eine „Symbolwirklichkeit“ gegeben, die einer theo-logischen Hermeneutik bedarf: „Es ist also der Literalsinn der biblischen Quellen selbst, der mehr besagen will als das, was historisch-kritisch faßbar ist. Im historisch-kritisch Faßbaren ist ein ,Überschuß‘ und ein ,Mehrwert‘ gegeben, den man als Symbolwirklichkeit beschreiben kann“. Exegeten müssen daher fragen, „wie Gott in menschlicher Sprache zu Wort kommt und wie solche theo-logischen Aussagen methodologisch sachgerecht ausgelegt werden können. […] Eine spezifisch theologische Schriftauslegung ist also vonnöten“. W. KASPER, „Prolegomena zur Erneuerung“, 513514. Zur Bedeutung des Literalsinns bei den Kirchenvätern kann pars pro toto Origenes gelten, der eine Textstelle erst spiritualiter auslegt, nachdem sie simpliciter betrachtet worden war. Vgl. dazu H. D. LUBAC, Geist aus der Geschichte, 115-167.

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eine historisch-hermeneutische Methode von ihrem methodologischen Ansatz her auf eine Erweiterung zielt, da sie für sich allein nicht den Reichtum der Schrift ausschöpfen kann. Jede Methode ist auf eine Korrelation und Ergänzung angelegt, um der Ganzheit der Texte zu entsprechen, auf die eine Methode bezogen ist. Diese Hermeneutik bildet einen „dritten Weg“,827 um die Wahrheit zu erkennen und zu verstehen. Es braucht die Vermittlung, dass der Leser biblischer Texte objektiv und zugleich subjektiv auf die Texte bezogen ist; als religiöse Texte interessieren sie den Leser, indem ihm diese Texte einerseits gegenüberstehen und er sich von ihnen befragen lässt, andererseits aber der Glaube ein Moment der Überlieferung dieser Texte ist. Der Gläubige steht in der Geschichte, die die biblischen Texte beschreiben, aber er ist zugleich auf sie transzendental zurückgeworfen, insofern diese Geschichte seine Heilsgeschichte bildet. Biblische Texte sind daher in dieser Spannung zu lesen, womit sie teils direkt, teils aber erst in ihrer heilsgeschichtlichen Wirkung verstehen lassen, weshalb es eine Hermeneutik braucht, die nicht autoritativ festlegt, was geschrieben ist, sondern die „gemäß der Schrift und des Glaubens“ den geschichtlichen Sinnreichtum erschließt.828 Dies bedeutet, zum hermeneutischen auch den theologischen Maßstab hinzuzudenken, wenn biblische Texte nicht nur literarische Zeugnisse sein sollen, sondern als Heilige Schrift und Glaubensschrift verstanden werden.829 Einen kühnen Versuch der Vermittlung von historischem und pneumatischem Verstehen der Schrift hat der Oratorianer R. Simon vorgelegt. S. Müller charakterisiert den Ansatz wie folgt: „Die biblischen Texte selbst also bekunden die Geschichtlichkeit des christlichen Glaubens und geben Aufschluss über den Primat der ekklesialen Vermittlung vor aller Schriftwerdung. Simon bedenkt – modern gesprochen – die produktions- und rezeptionsästhetische 827

Vgl. S. MÜLLER, „Kritik und Theologie. Christliche Glaubens- und Schrifthermeneutik nach Richard Simon (1638-1712)“, MThZ 56 (2005) 212-224, 112, der die von R. Simon erarbeitete Hermeneutik als „dritten Weg“, als aurea mediocritas zwischen „Gefühl“ und „vermeintlich ewigen Vernunftwahrheiten“ bezeichnet; [in Folge: S. MÜLLER, „Kritik und Theologie“]. Einen ähnlichen und bedenkenswerten Versuch des Ausgleichs von Exegese und Dogmatik legt B. KÖRNER, Die Bibel als Wort Gottes auslegen, 229-259 vor. 828 Darin sieht P. Stuhlmacher die „unerledigten hermeneutischen Fragen“. P. STUHLMACHER, „Aus Glauben zum Glauben“, 216. Siehe auch L. SCHWIENHORSTSCHÖNBERGER, „Der offenkundige und der verborgene Sinn“, 90. 829 Vgl. J. RATZINGER, „Schriftauslegung im Widerstreit“, 810-812. Siehe auch B. KÖRNER, Die Bibel als Wort Gottes auslegen, 147-148, hier 148: „Daraus folgt, dass die historischen und literarischen Methoden, die für die Auslegung religionsgeschichtlicher Dokumente angemessen sind, im Blick auf die Bibel als Wort Gottes weder die einzigen noch die angemessensten sind. Für die Auslegung der Bibel als Wort Gottes bedarf es einer genuin theologischen Methode“ (Hervorhebung im Original).

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Dimension der Glaubenszeugnisse […]“.830 Hinter der Auffassung R. Simons steht die Überzeugung, dass die reine Vernunft die Offenbarungswahrheit nicht ausschöpfen kann, so wie B. Pascal sagen wird: „Le cœur a ses raisons que la raison ne connaît pas“, wobei für R. Simon Glaube und Vernunft Zugang zur Wahrheit haben. Aber die Gründe, auf die sich der Glaube und das Herz beziehen, können nicht außerhalb der historischen Wirklichkeit bestehen, wenn das Christentum nicht in eine Phantasterei oder einem Bibelpositivismus abgleiten soll und dem rationalen Anspruch standhalten will. Die Wahrheit Gottes bezieht sich auf Glauben und Vernunft und ist durch die religiöse Erfahrung vermittelt. Darum kann R. Simon auch zwischen den Bereichen unterscheiden, die einerseits Glaube und Theologie, und andererseits die Kritik betreffen. Sind Glaube und Theologie vom Dogma und den Vätern geprägt, so die Kritik von literarischen Fragen. Es ist die vom Glauben geweitete Vernunft, die transzendental erkennt, worauf und wie sie sich auf die Wahrheit beziehen kann. Darum plädiert R. Simon für eine historische Betrachtung der Bibel, die jedoch ihren Ort in „der Kirche als angenommener Wahrheitstradition“ hat und die die Kritik anerkennt und gelten lässt.831 Die historische Kritik ist für den Oratorianer Simon Textkritik und bezieht sich damit nur auf die textliche Gestalt der Bibel. Die Theologie bezieht sich auf die Offenbarung und untersucht diese auf theologische Implikationen. Er unterscheidet dabei zwischen der Rationalität der Kritik und der des Glaubens, die beide zwar zu unterscheiden, aber nicht zu trennen sind. Beide Größen sind vernünftig und stehen in „d[er] Kirche als hermeneutischer Rahmen“, womit „letztlich beide [Kritik und Theologie; Anm. d. Verf.] auf die personale Offenbarung Gottes und deren historische Glaubenszeugnisse zu beziehen [sind]. Die geschichtliche Offenbarung selbst ist der angemessene Verstehenshorizont für Kritik und Theologie […]“.832 Beide Herangehensweisen müssen sich somit bewusst sein, auf was sie sich beziehen. Für das ständige Voranschreiten in der historischen Rückfrage biblischer Texte sowie für die theologische Betrachtung bildet die Kirche den Wahrheitsraum, der sich aber analog zu LG 8 nicht auf die sichtbare Kirche beschränken kann. Historiker, Archäologen, Philosophen oder geistige Führer anderer Religionen 830 S. MÜLLER, „Kritik und Theologie“, 213. Zu R. Simon und sein Leben siehe DERS., Kritik und Theologie, 33-155 und M. REISER, Bibelkritik und Auslegung, 185-217. 831 S. MÜLLER, „Kritik und Theologie“, 215. Zum Verhältnis und Zusammenhang von Kritik und Theologie vgl. DERS., Kritik und Theologie, 219-233. R. Simon sieht in der Kritik nicht die Dekonstruktion, sondern vielmehr eine Vertiefung der Tradition und der schwer verständlichen Bibelstellen gegeben. Siehe dazu auch M. REISER, Autorität der Schrift, 57-59 und DERS., Bibelkritik und Auslegung, 200-204. 832 S. MÜLLER, Kritik und Theologie, 228 und 231.

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können ebenso zur Erhellung biblischer Texte beitragen, wenn sie an der res der biblischen Texte orientiert sind. Darum muss der historische Sinn der Schrift auf den pneumatischen Sinn hinaus-gelesen werden, der „auf die Wahrheit der christlichen Religion verweist, die sich nicht in der faktischen Kenntnis ihrer Geschichte erschöpft […]. Die geistige Auslegung der Apostel und Kirchenväter erweist sich als im Licht des Christusereignisses geschehende Weitung der Faktizität der Geschichte hin auf diese Vollzüge [von Glaube, Hoffnung und Liebe; Anm. d. Verf.] und gerade so als das dem historischen Anspruch des Christentums adäquate Formalobjekt, da erst hier die theologische Valenz des Buchstabens, die Sinnfülle der Heilsgeschichte, erschlossen werden kann: Die gewährende Liebe Gottes […]. Der allegorische Sinn bezeugt […], dass der Geschichte ein Bedeutungsgehalt zukommen kann, der ihre faktisch-empirische Verifikation übersteigt, aber dies, ohne die historische Tragfähigkeit und Seriosität zu schmälern“.833

Die Entsprechung von historischer und pneumatischer Hermeneutik zeigt die je größere Wirklichkeit der Offenbarung Gottes und garantiert damit, dass trotz einer christologisch-pneumatologischen Lesart des Alten Testaments die Theozentrik der gesamten Schrift und ihre Geschichtlichkeit gewahrt bleiben. Ist die Theozentrik des Gottes Abrahams, Isaaks, Jakobs und des Gottes Jesu das eine Ziel der Schrift, so ist Jesus Christus Garant der Einheit für dieses Bekenntnis, das durch die Inspiration der Texte selbst vollzogen ist. Offenbarung Gottes bedeutet nicht nur ein Sich-Zeigen oder Sich-Kundtun Gottes, sondern mit der Offenbarung Gottes ist auch die das Sein verändernde Wirklichkeit Gottes gemeint, indem Offenbarung nicht mehr extrinsezistisch-instruktionstheoretisch oder intrinsezistisch-emotional, sondern personal gedacht wird. Dies entspricht auch dem Inspirationsverständnis biblischer Texte, das nicht verbal, sondern ebenso personal gedacht ist. Biblische Texte sind inspiriert, da sie als religiöse Texte aus der Erfahrung mit dem einen und einzigen Gott stammen, der sich in Jesus Christus kundgemacht hat. Die Erfahrung des Glaubens ist nicht einfach eine Aneinanderreihung von Ereignissen, sondern das Zusammenspiel von Gottesgeist und Menschengeist, oder anders ausgedrückt: das Zusammenspiel von Gottes schöpferischem Willen und menschlicher Freiheit. Darum ist die biblische Hermeneutik mit der ontologischen Frage verbunden und entscheidet sich an ihr. Der Buchstabe und das geschichtliche Faktum stehen nicht für sich. S. Müller formuliert dazu treffend: „Weil Gott nicht die Namen der 833

DERS., „Kritik und Theologie“, 217-218. Dazu weist der Autor in seiner Dissertation hin, dass für R. Simon die Allegorese nicht die Voraussetzung für den Glaubenssinn, sondern umgekehrt „der bereits vorhandene lebendige Glaube der Kirche die Voraussetzung für die nachträglich beweisende Kraft der Allegorese ist […]“. DERS., Kritik und Theologie, 223.

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Dinge, sondern die Dinge selbst geschaffen hat […]; insofern übersteigt dieses Sein der Schöpfung Buchstaben und Grammatik […]“.834 Eine Zusammenschau kritischer und pneumatischer Hermeneutik setzt Wahrheit voraus und widerspricht ihrem Ansatz nach einer entsubstantialisierten Theologie, weil das geschaffene Sein die Ermöglichung von Heilsgeschichte ist und darin den Geist Gottes und die Gegenwart Gottes erfahren kann.835 Sind die Texte in dieser Erfahrung und damit in diesem Glauben geschrieben, so müssen sie im Glauben an die personale Selbstmitteilung Gottes und im Wissen um deren historische Kontingenz gelesen werden, da sich die Personalität der Offenbarung nur im aktuellen Hören bzw. Lesen der Schrift erschließen kann, indem Hörer und Leser in die Inspiration mit hineingenommen sind. Weil das Wort Gottes als Ermöglichung der Wahrnehmung immer das je größere Wort ist und bleiben muss, ist die Relativität und die historische Bedingtheit der Texte und des Verstehens mitzudenken. Daher ergibt sich ein mitlaufender Sinnüberschuss der Texte, der nicht allein historisch erklärt werden kann, sondern im pneumatischen Verstehen auf den Glauben und die personale Beziehung zu Gott zurückverweist. Zugleich muss diese Erfahrung der historischen Kritik als Ideologiekritik unterzogen werden, um die religiöse Erfahrung als Transzendenzerfahrung von einer Immanenzerfahrung unterscheiden zu können, die Gott als Projektionsfläche für das Unvermögen der Welterschließung nimmt.836 Eine pneumatische Hermeneutik kann nicht darüber hinweggehen, dass sich die menschliche Erfahrung in der Sprache erschließt. Diese pneumatisch-kritische Hermeneutik bedeutet jedoch eine Relativierung der historisch-kritischen Methode im Sinne G. Ebelings, der eine Ablehnung „aller vorfindlichen Sicherungen der Vergegenwärtigung, seien es ontologischer, sakramentaler oder hierarchischer Art, als auch positiv das Verständnis der Vergegenwärtigung im Sinne echt geschichtlicher, personaler Begegnung“ vertritt.837 Der protestantische Theologe verfolgt in seinem streng historischen Ansatz das berechtigte Anliegen, einen „Offenbarungs834

DERS., Kritik und Theologie, 245. Vgl. dazu F. MARTIN, „Spiritual Understanding of Scripture“, in: C. SCOTT (ed.), Verbum Domini and the Complementarity of Exegesis and Theology, Grand Rapids 2015, 12-25, 20-21: „I wish to suggest that the modern study of history can be integrated with a biblical understanding only if the transcendent dimension of time is restored“. Die Gefahr eines fehlenden Transzendenzbezuges wird beschrieben ebd. 21: „Just as physics reduces the material universe to the ,superior‘ language of mathematics, so critical history reduces the mystery of human temporal existence to the ,superior‘ viewpoint of a certain understanding of causality and the attainability of knowledge of the past: both are prisoners of the loss of transcendence“. 836 Vgl. G. THEISSEN, „Bibelhermeneutik als Religionshermeneutik“, 296-298. 837 G. EBELING, „Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode“, 42. 835

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doketismus“ zu vermeiden, der auf einem opus operatum beruht, weil das Offenbarungswort wirklich gehört werden muss. Im Gegensatz zur historischen Kritik verbindet eine pneumatische Hermeneutik das ex opere operato mit dem ex opere operantis, weil das gehörte Gotteswort durch den Inspirationsgedanken als Ansprache pro me aufgenommen wird und dadurch in diesem Geist ausgelegt werden kann. Wie die pneumatische Hermeneutik relativierend auf die historische Kritik wirken kann, so gilt dies auch umgekehrt für die pneumatische Auslegungskunst, die in der historischen Kritik ein heilsames Korrektiv findet, denn „[d]er ,Geist‘, in dem die Heilige Schrift ,geschrieben wurde‘, ist nicht evident“,838 sondern muss in allen Sinndimensionen gesucht werden. Es wird methodisch darauf geachtet werden müssen, dass eine pneumatische Hermeneutik nicht der Vorwand ist, spätere Glaubensüberzeugungen in biblischen Texten begründet zu sehen, weil eine Bibelstelle vom historischen und kanonischen Kontext isoliert wurde. Der historischen Kritik kommt die Aufgabe zu, dass sie die pneumatische Hermeneutik immer wieder dekonstruiert, um ihre pneumatologische Voraussetzung aufzuzeigen, die durch eine falsche Vorentscheidung in der pneumatischen Hermeneutik verdeckt oder verzerrt werden kann. Wenn sich Gottes Wort im Menschenwort ausspricht, dann bleibt dazwischen eine zu wahrende Differenz, die nicht übersprungen werden darf. Die Bedeutung des menschlichen Bibelwortes hat seine Begründung im Gotteswort, das im Menschenwort unter Beibehaltung der Differenz erscheinen will.839 Wenn DV 12,5 die historisch-kritische Methode mit der analogia fidei verbunden wissen will, so muss pneumatische Exegese einer analogia historiae entsprechen,840 um den Bedeutungsreichtum der Schrift zu erschließen. Schriftauslegung darf ebenso wenig widervernünftig und widergeschichtlich sein, wie sie nicht wider-pneumatisch sein kann. Pneumatische und historische Hermeneutik relativieren sich daher immer auch gegenseitig, indem der pneumatische Ansatz vor einem

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T. SÖDING, „Exegetische und systematische Theologie“, 502. Vgl. F. BRUCKMANN, Die Schrift als Zeuge, 249. Der Autor argumentiert hier mit Derrida, dass es keinen kausalen Zusammenhang zwischen Bezeichneten und Bezeichnendem gibt, sondern einzig eine „Strukturanalogie“ besteht. 840 Bei der analogia historiae könnte die Versuchung bestehen, dies in Verbindung mit E. Troeltschs Analogieverständnis in der historischen Methode zu bringen. Jedoch darf nicht übersehen werden, dass er von einer rein historischen Analogie in der Historie ausgeht und dabei jeden transhistorischen Einfluss ablehnt und eine religionsgeschichtliche Theologie erarbeiten will, was der (alten) dogmatischen Arbeitsweise gegenübersteht. Vgl. E. TROELTSCH, „Historische und dogmatische Methode“, 737-739. Dabei konstruiert E. Troeltsch aber denselben Gegensatz von Historie und Dogma, den er der dogmatischen Methode vorwirft, nur vom historischen Standpunkt aus.

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„Schriftfundamentalismus“841 und der kritische Ansatz vor einem „Schriftdoketismus“ bewahren. Dies darf und muss im Sinne P. Ricœurs als Hermeneutik des Vertrauens und des Argwohns verstanden werden. Texte müssen so ausgelegt werden, dass sie zum einen den Sinn zu erfassen suchen, der verstanden werden will, und zum anderen ideologiekritisch hinterfragt sind.842 Die gegenseitige Relativierung liest sowohl das Alte als auch das Neue Testament in dem Geist und in dem geschichtlichen Kontext, in denen sie geschrieben sind. Damit wird der Text als solcher angenommen, gleichzeitig aber auch auf das sich darin ausdrückende Zeugnis der Offenbarung überschritten und als ein theologischer Text ausgewiesen. Die Offenbarung Gottes wird also als eine gegenwärtige Entzogenheit gelesen und verstanden. Die gegenseitige Relativierung hebt hervor, dass Theologie im Ganzen und Schriftauslegung im Besonderen immer sekundär zur Offenbarung sind, aber Gott darin das Geschenk seiner selbst macht. Vertrauen und Argwohn in der Hermeneutik führen dann aber zu dem, was P. Ricœur in seinem letzten Werk als Anerkennung ausdeutet.843 In der Auslegung der Offenbarungszeugnisse kann sich der Glaubende als das geliebte Gegenüber von Gott anerkennen. Wenn Theologie eine pneumatisch-kritische Hermeneutik auf die Dimensionen eines Textes bezieht und darin das Zeugnis der Offenbarung als Wahrheit auslegt, bleibt dennoch die Frage, ob einer der beiden hermeneutischen Größen eine leitende Rolle zugestanden werden kann. Der Wiener Alttestamentler L. SchwienhorstSchönberger plädiert in seinem Ansatz für folgende Lösung: „Das hieße dann allerdings hinsichtlich der Bestimmung des Verhältnisses von historisch-kritischer und traditioneller Hermeneutik, dass die Fragen und Ergebnisse der historischen Forschung in das traditionelle Modell

841 Vgl. M. OEMING, Biblische Hermeneutik, 150-163; S. ZIMMER, Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben? Klärung eines Konflikts, Göttingen 2007, 23-28; [in Folge: S. ZIMMER, Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben?]. 842 Vgl. J. GRONDIN, Hermeneutik, 85-93. Zur Hermeneutik P. Ricœurs siehe: G. THEISSEN, „Das Verschwinden des hermeneutischen Konflikts. Zur Rezeption von Paul Ricœur in der deutschsprachigen theologischen Hermeneutik“, Evang. Theol. 73 (2013) 258-272. Weiterführend siehe U. H. J KÖRTNER, „Hermeneutik der Transzendenz und des Unverständnisses“, in: DERS., Arbeit am Kanon. Studien zur Bibelhermeneutik, Leipzig 2015, 215-249. 843 Zum Begriff der Anerkennung vgl. P. RICŒUR, Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, übers. v. U. BOKELMANN – B. HEBER-SCHÄRER, Frankfurt a. M. 2006. Siehe dazu den Tagungsband S. ORTH – P. REIFENBERG (Hgg.), Hermeneutik der Anerkennung. Philosophische und theologische Anknüpfungen an Paul Ricœur, Freiburg – Basel – Wien 2018. Zu P. Ricœur und Bibel siehe M. OEMING, „Paul Ricœur als Ausleger des Alten Testaments – unter besonderer Berücksichtigung seiner Interpretation des Buches Hiob“, Evang. Theol. 73 (2013) 245-257.

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der Bibelhermeneutik zu integrieren sind, nicht umgekehrt“.844 Der alttestamentliche Exeget plädiert für ein erweitertes Verständnis der Auslegung biblischer Texte, da sie von ihrem Ansatz her die historische Dimension bedenken, aber dann nochmals in diesem Wissen überschreiten kann. Pneumatisch kann eine Bibelstelle erst erschlossen werden, wenn der historische Kontext zuvor geklärt ist, um damit nicht in Phantasterei abzukommen.845 Die historisch-kritische Hermeneutik kennt zwar ebenfalls eine Polyvalenz von Texten und anerkennt damit eine Sinnpluralität,846 die sie mit ihrer Arbeitsweise kenntlich macht, kann sie aber nicht miteinander verbinden oder in ein Zusammenspiel führen, weil sie diese Polyvalenz und Pluralität einzig in der historischen Dimension verankert sieht. Es ist die pneumatische Hermeneutik, die die „Polyphonie als Symphonie“847 zusammendenkt und die Widersprüche auf der historischen Ebene in einen theologischen Zusammenhang heben kann, in dem die Widersprüche zwar nicht aufgelöst werden, aber der Aussagegehalt gehoben wird.848 844

L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Wiederentdeckung des geistigen Schriftverständnisses“, 422; auch DERS., „Zwei antagonistische Modelle“, 527. In ähnlicher Weise argumentiert auch A. SIERSZYN, Christologische Hermeneutik, 132-136. Gegen den Ansatz von L. Schwienhorst-Schönberger argumentiert C. Frevel, der den „sensus litteralis zum Ausgangs- und Bezugspunkt aller weiteren Textsinne“ gemacht wissen möchte, damit die historisch-kritische Methode ihre Eigenständigkeit bewahren kann. „Es wird hier der Eindruck erweckt, als sei dieser Sinn a) unabhängig von dem historischen Sinn bzw. den historischen Textsinnen und b) einer und nicht viele, was aber doch gerade das Beharren auf Polysemie und Vieldeutigkeit durchkreuzt. […] Zum anderen erscheint der normative Sinn vollkommen abgelöst vom Literalsinn“. C. FREVEL, „Vom bleibenden Recht“, 154 und 172 (Hervorhebung im Original). In diesem Ansatz ist die mehrfache Sinndimension nur im Literalsinn zu finden, was jedoch bedeutet, die sensus-plenior-These zu stützen, nach der ein pneumatischer Sinn im Literalsinn enthalten ist, der dem Autor jedoch zur Abfassungszeit nicht bewusst war. 845 Für B. Körner ist der Literalsinn nicht Bezugspunkt, aber Ausganspunkt der Schriftauslegung, „wenn ich die Frage beantworten will, was Gott uns sagen will, dann muss ich notwendigerweise auch und zuerst die Frage beantworten, was die biblischen Verfasser sagen wollten“. B. KÖRNER, Die Bibel als Wort Gottes auslegen, 150-151, sowie 186-192. Vgl. dazu auch M. REISER, Autorität der Heiligen Schrift, 241-242. Dass eine pneumatische Hermeneutik dem Text nicht sein Recht, vergangen zu sein, nimmt, kann auch mit H.-G. GADAMER, Wahrheit und Methode, 401 gezeigt werden: „Einen Text verstehen, heißt immer schon: ihn auf uns selbst anwenden und wissen, daß ein Text, auch wenn er immer anders verstanden werden muß, doch derselbe Text ist, der sich uns jeweils anders darstellt“. Siehe auch R. ROTHENBUSCH, „Inspiration und theologische Hermeneutik“, 123-126. 846 Vgl. C. FREVEL, „Vom bleibenden Recht“, 167-169. 847 Vgl. L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Die Einheit der Schrift“, 180-181. 848 Vgl. DERS., „Wiederentdeckung des geistigen Schriftverständnisses“, 406-407. Auf diesen Sachverhalt verwies bereits ORIGENES, De principiis, IV 3,5: „Da nun aber, wie den Lesern klar sein wird, der durchgehende Zusammenhang des Wortsinnes unmöglich, der des Hauptsinnes […] aber nicht unmöglich, sondern vielmehr wahr ist, muß man ernstlich danach streben, den ganzen (geistigen) Sinn zu erfassen. Dazu ist die Aussage

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Dies darf jedoch nicht als eine äußerliche Harmonisierung gedeutet werden, die problematische Textstellen durch Glättung oder Spiritualisierung entschärft. Beide Testamente kennen Stellen, die schwer zu lesen und noch schwerer anzunehmen sind. Gerade in diesen Fällen muss Exegese auf den Reichtum der historischen Methode zurückgreifen und die Entstehungsumstände dieser Abschnitte klären. Pneumatische Hermeneutik lässt der Geschichte ihr bleibendes Recht, Geschichte zu sein, erkennt aber die theologische Wahrheit in einer historisch teils widersprüchlichen Geschichte. Pneumatisch-kritische Hermeneutik wird daher so zu verstehen sein, dass es keine zweifache Auslegung der Texte ist, aber eine Auslegung in zwei Schritten, die von Anfang an mitbedenkt, dass der Text als inspiriertes Wort Gottes historische und pneumatische Bedeutung hat; insbesondere die pneumatologische Dimension dieser Texte verlangt deren historische Betrachtung, weil es der Geist ist, der die Unterscheidung lehrt (vgl. 1 Thess 5,19-21).849 Eine Zusammenführung der pneumatischen und kritischen Hermeneutik ermöglicht somit, die Pluralität der Texte und des Sinnes anzunehmen, und sie auf die Wahrheit der Offenbarung zu beziehen. Die Pluralität und Ausdrucksgestalten der Wahrheit weisen auf die eine Wahrheit zurück,850 die pneumatisch-christologisch fundiert ist. Mit der durch die Schrift bezeugten Wahrheit ist biblischer Hermeneutik die Gretchenfrage gestellt, ob sie das Offenbarungszeugnis einzig in der historischen Vergewisserung und damit in der geschichtlichen Kontingenz oder in einer die reine Historizität übersteigenden, aber

des im Wortlaut Unmöglichen nach ihrem geistigen Sinn mit dem, was nicht allein möglich, sondern sogar geschichtlich wahr ist, zu verbinden, indem man dieses zusammen mit dem wörtlich Ungeschichtlichen übertragen auslegt. Denn wir sind gegenüber der ganzen göttlichen Schrift der Ansicht, daß sie an jeder Stelle den geistigen, aber nicht an jeder Stelle den leiblichen Sinn hat; in vielen Fällen erweist sich ja der leibliche Sinn als unmöglich“. 849 Vgl. M. OEMING, „Das Alte Testament als inspiriertes Wort Gottes? Protestantische Perspektiven“, in: R. ROTHENBUSCH – K. RUHSTORFER (Hgg.), Eingegeben von Gott. Zur Inspiration der Bibel und ihrer Geltung heute (= QD 296), Freiburg – Basel – Wien 2019, 52-99, 92-95; [in Folge: M. OEMING, „Das Alte Testament als inspiriertes Wort?“]. 850 Vgl. L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Historische Kritik und geistliche Schriftauslegung“, 185: „Die Tradition vertrat die Ansicht, dass die eine Wahrheit in der Vielfalt und im Reichtum ihrer Stimmen vernehmbar sei. Die eine Wahrheit artikuliert sich in der Vielfalt ihrer Stimmen. Die Tradition bemühte sich um eine reflektierte Vermittlung von Einheit und Vielheit. Die Einheit der Schrift steht nicht im Widerspruch zu den vielen Büchern der Heiligen Schrift, sondern drückt sich in ihnen aus“ (Hervorhebung im Original). Zum Begriff der Wahrheit siehe W. KASPER, „Das Wahrheitsverständnis der Theologie“, in: DERS., Theologie und Kirche, Bd II, Mainz 1987, 28-50; [in Folge: W. KASPER, „Das Wahrheitsverständnis der Theologie“]; M. ENDERS – J. SZAIF (Hgg.), Die Geschichte des philosophischen Begriffs der Wahrheit, Berlin 2006, besonders den Abschnitt über den biblischen Wahrheitsbegriff 49-64.

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nicht weglassenden Dimension erkennen kann.851 Schriftauslegung ist unweigerlich mit der Wahrheitsfrage verbunden, die sich erst mit einer Hermeneutik entschlüsseln lässt, die sich auch vom Licht dieser Wahrheit den Weg leuchten lässt. „Das ,Licht der Wahrheit‘ ist allerdings“ – so L. Schwienhorst-Schönberger – „nicht mit einer fixen Idee oder einem Konzept zu verwechseln, das sich jemand ausdenkt und mit dessen Hilfe er sich die Bibel nach seinem eigenen Geschmack zurechtlegt. Sie ist vielmehr jenes Licht, das – theologisch gesprochen – aus der Begegnung mit dem lebendigen Gott zu leuchten beginnt. […] In diesem Licht ist die Bibel zu lesen“.852 Zu diesem Licht gehört die Gotteserfahrung, die der Literalsinn beschreibt, den es mit der historischen Kritik zu untersuchen gilt; aber zu diesem Licht gehört auch die pneumatische Dimension, in der das Licht der Wahrheit aufleuchtet. Von diesem Licht der Wahrheit spricht die prophetische Botschaft des Alten Testaments und auf dieses Licht wartet das eine Volk Gottes. Das Christentum sieht in Jesus Christus dieses Licht erschienen und lässt sich darum von diesem Licht leiten. Damit ist aber nicht die alttestamentliche Hoffnung nach dem Licht abgegolten und aufgegeben. Vielmehr muss das Christentum verstehen, dass es immer noch in der Hoffnung auf dieses Licht aus ist, auch wenn es ihm schon jetzt leuchtet. Das Licht der Wahrheit initiiert den ständigen Prozess der Schriftauslegung, damit die Bibel kein toter Buchstabe, sondern lebendiges Wort Gottes bleibt: „Aus der Dynamik dieser Sinnerschließung nährt sich jener Prozess des Lesens der Heiligen Schrift, der zu einem immer tieferen Verstehen dieser Wahrheit führt. In den damit eröffneten Horizont sind alle weiteren Elemente exegetischer Methodik einzuzeichnen. Dazu gehört selbstverständlich auch die historische Kritik“.853 Die Aufgabe biblischer Hermeneutik besteht nicht so sehr darin, einen diachronen oder synchronen Ansatz zu verfolgen, sondern pneumatische und historisch-kritische Hermeneutik zu verbinden, um das vergangene Wort als gegenwärtiges Wort zu verstehen, das nicht einfach nur appliziert wird, sondern das Präsens der Offenbarung 851

Vgl. S. MÜLLER, Die historisch-kritische Methode, 58: „Garstig und breit wird der Graben in Wahrheit nur dann, wenn er nicht durch eine Vorentscheidung gewissermaßen apriori geschlossen werden kann, durch das legitime Vor-Urteil nämlich, dass wahrhaft humane (= theistische) Freiheit als solche – egal in welcher historischen Epoche und (Un)Gunst – die reale Präsenz Gottes in der Geschichte vollgültig repräsentieren kann […], weil Er schon längst ,Generationen um Generationen einen ewigen Bund‘ geknüpft hat (vgl. Gen 17,7)“. Die pneumatisch-kritische Hermeneutik kann ein solches legitimes Vorurteil darstellen, weil die Bundestreue Gottes als Bezugsobjekt die transzendentale Voraussetzung für eine Glaubensgeschichte ist und damit auch als Bezugssubjekt verstanden wird. 852 L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Historische Kritik und geistliche Schriftauslegung“, 178. 853 Ebd. 178.

418

Gottes ist. Dabei darf es nicht zu dem Missverständnis kommen, dass eine solche Verbindung gleich einer Addition einen neuen Schriftsinn generieren würde. Ziel dieses Ansatzes muss die symmetrische Erschließung der biblischen Texte sein, die die unterschiedlichen Dimensionen des einen Textes erkennt und sich gleichermaßen auf die Offenbarungswahrheit bezieht. Vergangenheit und Gegenwart der Gotteserfahrungen, und damit auch die Eigenständigkeit und gültige Bedeutung des Volkes Israel für das Christentum, bleiben damit gewahrt und vergegenwärtigen je das neu, was Gott auf Menschenart zum Heil der Menschen mitteilen wollte. Die symmetrische Verbindung der zwei Hermeneutiken erschließt den Sinn der Schrift, der sich in einer pneumatischen und einer historischen Dimension zeigt.854 Dies bedeutet, dass die pneumatische und historische Dimension, oder mit H.-G. Gadamer der Horizont genannt, nicht als in sich geschlossen und abgegrenzt verstanden werden, sondern dass es zum wirklichen Verstehen und zur Erkenntnis der Wahrheit eine Horizontverschmelzung braucht, die dabei hilft, das Auszulegende „in einem größeren Ganzen und in richtigeren Maßen besser zu sehen“.855 Das Vergangene soll so vergegenwärtigt werden, dass es in der gegenwärtigen Sprache zur Wirkung und Geltung kommt. Daher muss eine pneumatische Hermeneutik darauf bedacht sein, dass sie das Auszusagende in dem Geist und in der Vernünftigkeit der Moderne artikuliert und nicht hinter das aufgeklärte Verstehenskonzept zurückgeht. Der Horizont muss jedoch so verstanden werden, dass die Eigenständigkeit der hermeneutischen Ansätze gewahrt bleiben kann und sich der Horizont aus dem symmetrischen Zusammenspiel ergibt. Vergangenheit darf dabei nicht einfach in Gegenwart aufgelöst werden, sondern Vergangenes hat nur als Vergangenes seine Bedeutung für die Gegenwart, auch wenn sie nicht voneinander zu trennen sind. Das „mea res agitur“ erfährt damit seinen Anspruch, weil es offenbarungstheologisch auf die Wirklichkeit bezogen ist, auf die es sich zurückgeworfen weiß. Jede Auslegung ist Auslegung vor diesem Horizont, der immer wieder anders zur Geltung kommt und darin aber die Aktualität der biblischen Botschaft garantiert. J. Schelhas beschreibt diese Horizonterweiterung als Horizontüberschreitung, denn es ist die Aufgabe des Exegeten, „dass er die historischen, philologischen und literaturwissenschaftlichen Erkenntnisse über eine Schriftaussage auf

854

Vgl. M. REISER, Bibelkritik und Auslegung der Heiligen Schrift, 143-145. Vgl. H.-G. GADAMER, Wahrheit und Methode, 309-312, Zitat 309-310. J. Grondin hebt hervor, dass für Gadamer die Methode allein nicht die Wahrheit bestimmen kann, und dass es eine reine und vorurteilsfreie Objektivität des Verstehens nicht gibt. Gadamer „hat eher die in uns meist unbemerkt ,wirkende Geschichte‘ im Auge, die sozusagen im Rücken des Verstehens am Werke ist und es voranbringt“. J. GRONDIN, Hermeneutik, 58.

855

419

die Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus hin öffnet. Ihm kommt zuallererst die Horizonterweiterung bzw. -überschreitung zu“.856 Die Wahrheit der Offenbarung verlangt die Symmetrie der pneumatischen und historischen Auslegungskunst. Wenn das personaldialogische Offenbarungsverständnis propter nostram salutem857 zu verstehen ist, dann ist es auf die Begegnung von Gott und Mensch hin angelegt. Wollte Mose schon das Angesicht Gottes schauen dürfen, konnte Gott aber nur im Vorbeiziehen sehen (vgl. Ex 33,11.18-23 ; Num 12,8; Dtn 34,10), so ist die Begegnung mit dem Offenbarten immer auch nur vermittelt gegeben. Die Bibel als Gotteswort schenkt diese Begegnung, weshalb sie ausgelegt werden muss.858 Die Selbstkundgabe Gottes kann nicht nur erinnert werden, sondern sie gibt auch den Blick in die Zukunft frei, was besonders die alttestamentlichen Schriften der Propheten unterstreichen. Was Gott in der Offenbarung gibt, ist Verheißung, die die bruta facta zur Heilsgeschichte werden lässt. Historie übersteigt sich selbst im Angesprochensein durch die Offenbarung, so dass das bloße Faktum zur sinnstiftenden Größe werden kann. Dazu braucht es aber die historische Bestimmung des Faktums, zu dem das theologische Wort hinzutritt. Der theologische Sinn ist im historischen Faktum zu finden, indem das historische Faktum als Moment des schöpferischen Wortes verstanden wird, in dem die pneumatische Dimension enthalten ist. Schriftauslegung als

856 J. SCHELHAS, Christozentrische Schriftauslegung, 193. Der Autor entwickelt diesen hermeneutischen Ansatz in direkter Anlehnung an H. U. v. Balthasar. Es geht darum, dass die christozentrische und empirische Erkenntnisweise biblischer Texte innerlich verbunden werden, die er als „zweigestaltige Schriftauslegung“ bezeichnet. Vgl. dazu ebd. 190-205. 857 Bereits Origenes weist darauf hin, dass sich die Schrift in ihrer literarischen Gestalt und in ihrem pneumatischen Sinn auf den Nutzen des Menschen bezieht. Vgl. ORIGENES, De principiis, IV 2,8. Da DV darin die Grundabsicht der Offenbarung sieht, ist für A. Grillmeier „jede historisch-kritische erarbeitete biblische Aussage schon echter sensus pneumaticus. Der pneumatische Schriftsinn darf nicht von dem historisch festgestellten sensus auctoris getrennt werden“ (A. GRILLMEIER, „Dei Verbum“, 552). Es besteht hierbei die Gefahr, dass es zu einer Tautologie kommt, wenn der historische Sinn schon als pneumatischer Sinn verstanden wird. Dass historischer und pneumatischer Sinn nicht voneinander zu trennen sind, ist schon eine Grundeinsicht der patristischen Theologen; beide miteinander zu identifizieren, wird dem Anspruch des Konzilstextes allerdings ebenso wenig gerecht. Dem Kommentator des Konzilsdokuments geht es darum, das Ziel der Exegese „schon eindeutig theologisch“ zu bestimmen (552). Dafür bezieht er sich auf die sensus-plenior-Lehre, die von DV jedoch bewusst offengelassen wurde. 858 Vgl. J. RATZINGER, „Schriftauslegung im Widerstreit“, 816: „Offenbarung ist ein dynamischer Vorgang zwischen Gott und Mensch, der immer wieder nur in der Begegnung Wirklichkeit wird“. Darum ist hervorzuheben, dass die materiale Offenbarung in Jesus Christus abgeschlossen ist, jedoch die formale Offenbarung ein sich immer wieder ereignendes Moment der Christusvergegenwärtigung oder – mit M. Blondel gesprochen – die Tradition der Christus-Tat ist.

420

Auslegung des Wortes Gottes arbeitet demnach mehrdimensional,859 weil nur darin das Verstehen zur Anwendung, d.h. lebensdienlich wird.860 Der Sinn der Schrift besteht im letzten im sensus salutaris, der sich in seiner geschichtlichen und heilsschaffenden Fülle zeigt und den historischen Moment jeweils transzendiert.861 Darum ist biblische Hermeneutik die Schule des Verstehens, die zugleich die Applikation auf das gegenwärtige Leben einschließt und damit „Dienstform“862 der Heilsverheißung ist. Die pneumatisch-kritische Hermeneutik zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Theozentrik zum Ziel hat. Wenn sie in ihrer Auslegung nichts anderes sucht als die theologische Wahrheit als den Sinn der Schrift, wie er sich geschichtlich und pneumatisch artikuliert, dann ist die Offenbarung Gottes der Fluchtpunkt aller Auslegung. Selbst die christologische Auslegung biblischer Texte ist darauf hin ausgerichtet, weil sie nichts anderes als die Vater-Relation Jesu darstellt und sich auf sie bezieht. Indem eine pneumatisch-kritische Hermeneutik theozentrisch bzw. patrozentrisch ausgerichtet ist, führt sie zu dem zurück, wovon die Schriften als Zeugnis ausgehen. In dieser Relation kommt es zu einem Ausgleich von Theologie und Anthropologie, insofern der Mensch die biblischen Texte von Gott her und auf sein Leben hin liest. Dies muss besonders auch der Anspruch gegenüber den alttestamentlichen Texten sein, dass sie selbst in ihrer christologischen Lesart theozentrisch ausgerichtet sind und bleiben. Damit können diese Texte in Respekt gegenüber dem Judentum gelesen werden, ohne dass erst eine jüdisch-rabbinische Exegese der christlichen Auslegung vorangestellt wird. Pneumatisch-kritische Hermeneutik anerkennt das pneumatologische Wirken Gottes in der Geschichte, womit aber auch der originär jüdischen und der genuin christlichen Auslegung die theologische Valenz zugesprochen sein muss. Hierbei kommt der historischen Kritik ein besonderes Augenmerk zu, da sie in ihrer Methode auf die besondere Bedeutung des alttestamentlichen Theismus hinweisen und diesen zugleich jüdisch und christlich kontextualisieren

859

Ebd. 812-815. Vgl. auch L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Historische Kritik und geistliche Schriftauslegung“, 196: „Wenn der geistige Schriftsinn grundsätzlich aus der wissenschaftlichen Exegese verbannt wird, wird diese steril und geistlos. Zudem widerspräche eine solche Trennung dem biblischen Verständnis von Geschichte. Der Geist zeigt sich in der Geschichte, der geistige Sinn ist im wörtlichen Sinn in verborgener Weise enthalten“. 860 Vgl. H.-G. GADAMER, Wahrheit und Methode, 314: „Ebenso will ein religiöser Verkündigungstext nicht als ein bloßes historisches Dokument aufgefasst werden, sondern er soll so verstanden werden, daß er seine Heilswirkung ausübt“. 861 Vgl. J. RATZINGER, Jesus von Nazareth, 136. 862 H.-G. GADAMER, Wahrheit und Methode, 316.

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kann.863 Mit Hilfe der hier vorgeschlagenen Hermeneutik wird der Normativitätsbegriff nicht aufgelöst, sondern geweitet, so dass es zu einer Normativität biblischer Schriften kommen kann, die unvermischt und ungetrennt zu fassen ist. Judentum und Christentum fassen jeweils ihren Kanon als normativ, weil er eine theologische und theologischchristologische Wertung erfahren hat. Die christliche Normativität des Kanons kann damit nicht als „Enteignung des Judentums“ verstanden werden, da er den theologischen Wert in das Normativitätsverständnis integriert, insofern gerade die christologische Normativität keinen anderen Zielpunkt als die Theologie hat.864 Wenn das Alte Testament in einer pneumatisch-kritischen Hermeneutik ausgelegt und gelesen wird und zur Theologie führt, dann ist damit der innertestamentarische Bezug beider Testamente ausgesagt. Die Auslegung des Alten Testaments kann durch die historische Verankerung nicht an der je eigenen Geschichte der Texte vorbeigelesen werden, jedoch auch nicht am Gehalt und Inhalt des Neuen Testaments. Die alttestamentlichen Bezüge im Neuen Testament sind bereits ein biblisches Beispiel für die pneumatisch-kritische Hermeneutik. Die Zitate sind nicht nur als Autoritätsbeweise oder Verstehenshilfen zu werten, sondern spiegeln vielmehr die innere Kohärenz der biblischen Einheit wider und verdeutlichen den Bezug 863

Vgl. S. MÜLLER, Die historisch-kritische Methode, 96: „Das Neue Testament hat sich, insofern Jesus selbst die Erfahrungen seiner Ekklesia [Israels; Anm. d. Verf.] interpretiert, an der theistischen Gesamt-Erfahrung alttestamentlicher Zeugnisse zu bewähren. Umgekehrt empfängt die vorjesuanische Glaubenslogik durch die radikaleschatologische Auslegung Jesu eine prinzipiell unüberbietbare Pointe: In der gesammelten Begegnung mit Gott ist – unabhängig von politischen wie religiösdogmatischen Interessen – das Ende der Zeiten schon gekommen“. 864 C. Frevel kritisiert bei L. Schwienhorst-Schönberger, dass sich dieser „auf die ausschließliche Normativität des geistigen Schriftsinns“ beziehen würde. „Das ,geistige‘ wird implizit mit ,christlich‘ gleichgesetzt, durch den Wahrheitsbegriff exklusiv aufgeladen und als Gabe Gottes, wenn nicht der kritischen Vernunft entzogen, so doch gegen sie immunisiert. […] Dann bleibt für das literale Verständnis ebenso wie für das jüdische gleichermaßen kein angemessener Raum. Es erscheint mir offensichtlich, dass in der Bewertung der geistigen Schriftlektüre durch Ludger Schwienhorst-Schönberger ein Problem liegt, das sich vor dem Horizont der christlich-jüdischen Geschichte verschärft. Und darin liegt tatsächlich weiterer theologischer Gesprächsbedarf“. C. FREVEL, „Vom bleibenden Recht“, 174-175. L. Schwienhorst-Schönberger hat aber im pneumatischen Sinn auch den historischen Sinn integriert, der davon nicht zu trennen ist. Der pneumatische Sinn ist nur im Buchstaben und davon ausgehend zu finden. Vgl. dazu L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Historische Kritik und geistliche Schriftauslegung“, 181-183. Der Rekurs auf die Wahrheit ist die hermeneutische Voraussetzung für alle Normativität, ohne die es sich nicht einmal lohnen würde, davon zu sprechen. Selbst die kritische Vernunft muss ihr Verständnis mit einem Wahrheitsbegriff „aufladen“, um überhaupt in den Diskurs treten zu können. Der Wahrheitsbegriff steckt in jedem Normativitätsverständnis, das beim Wiener Alttestamentler theologisch verstanden wird, und gerade darin für den christlichjüdischen Dialog anschlussfähig ist.

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beider Testamente auf das eine Wirken Gottes.865 Aber mit M. Oeming ist davor zu warnen, das Alte Testament im Neuen unhistorisch und ohne das religionsgeschichtliche Wissen der ersten Christengeneration aufgehen zu lassen. Der Geist ermöglicht auch, was der protestantische Alttestamentler ins Wort fasst: „Wir müssen das Alte Testament auch gegen uns selbst lesen. Es ist wichtig, die Weltlichkeit des Alten Testaments zu bejahen. Letztlich hat die Exegese die Aufgabe, das Daseinsverständnis der Texte aufzudecken. Es ist das Gleiche wie im Neuen Testament und hat für die Gegenwart hohe Relevanz. Im Ermitteln des historischen Sinnes und im Vermitteln dieser Existenzauslegung an die Gegenwart vollzieht sich theologische Exegese, oder wie Bultmann sagen würde, ,echt geschichtliche‘ Auslegung“.866

2.3.2.

Rezeptionsgemeinschaft und „religiöses Gedächtnis“

Die pneumatisch-kritische Hermeneutik bewirkt eine Neukontextualisierung der biblischen Botschaft, die das Offenbarungszeugnis nicht nur vergangen sein lässt, sondern in die Gegenwart des Glaubens holt. Dies aktualisiert jedoch die Schriften nicht immer wieder neu, sondern bindet die Applikation des Verstehens an die Geschichte der Texte, so dass in dieser Hermeneutik der „verschmolzene Horizont“ abgeschritten wird. Weil ein Text in der Gegenwart verstanden wird, ist er an die Gemeinschaft gebunden, die sich aus diesem Horizont heraus des eigenen Glaubens vergewissert, indem Gottes Heilshandeln als religiöse Erfahrung immer wieder neu ihren Niederschlag erfährt und darin als der Sinn der Schriften erkannt wird.867 Die pneumatischkritische Hermeneutik hat gezeigt, dass sich die Sinnerschließung nicht einzig am Text vollzieht, sondern dass pneumatisches Verstehen den Einzelnen übersteigt und sich auf die ganze Gemeinschaft bezieht, die an diesen Texten normativ festhält. Somit kann M. Zimmermann schreiben: „Eine solche Sinnbestimmung erhält der Kanon bzw. die jeweilige Perikope von der Gemeinschaft, mit der er selbst entstanden ist, auf die hin er in authentischer Darstellung die geschichtliche Selbstoffenbarung Gottes und sein Handeln mit seinem Volk erzählt und bezeugt und in der er sich in gottesdienstlichen Vollzügen und autoritativer Bestätigung gebildet hat. Dieser konstitutive Ort ist die kommunikative Rezeptions- und Interpretationsgemeinschaft Kirche“.868

865

Vgl. dazu auch R. VODERHOLZER, Die Einheit der Schrift, 235-240. M. OEMING, „Das Alte Testament als inspiriertes Wort Gottes?“, 91. 867 Vgl. G. STEINS, „Kanonisch lesen“, in: H. UTZSCHNEIDER – E. BLUM (Hgg.), Lesarten der Bibel. Untersuchungen zu einer Theorie der Exegese des Alten Testaments, Stuttgart 2006, 45-64, 49; [in Folge: G. STEINS, „Kanonisch lesen“]. 868 Vgl. M. ZIMMERMANN, Schriftsinn und theologisches Verstehen, 188-193, Zitat 193. 866

423

Der Bezug auf die Rezeptionsgemeinschaft ist in der pneumatischkritischen Hermeneutik eingeschlossen, weil es derselbe Geist ist, der das Gotteswort im Menschwort lebendig hält und in diesem Wort Gemeinschaft im Glauben stiftet. Die Verbindung der Auslegung mit der Rezeptionsgemeinschaft869 hält die Sinnerschließung offen, insofern sich jede Generation der Aufgabe der Vergewisserung in und durch die Schriften stellen muss. Die Horizontverschmelzung, in der der historische und gegenwärtige Standpunkt verbunden werden, ist dann auch der Ort des „kulturellen Gedächtnisses“870 einer Rezeptionsgemeinschaft, insofern Die Festlegung der Rezeptions- und Interpretationsgemeinschaft als Kirche mag der Studie des Autors geschuldet sein, aber sie kann auch als eine Engführung gelten. Vielmehr sollte nicht die Rezeptionsgemeinschaft auf die Kirche festgelegt werden, sondern im weiten Sinne das Volk Gottes, zu dem sich Judentum und Christentum zählen. Die Entstehung des Kanons der Kirche kann nicht getrennt von der Entstehung des jüdisch-rabbinischen Kanons verstanden werden, weshalb die Rezeption der Schriften in diesem Zueinander und Gegeneinander geschieht. Zum Zusammenhang von Kirche und Kanon siehe U. H. J. KÖRTNER, „Rezeption und Inspiration. Über die Schriftwerdung des Wortes und die Wortwerdung der Schrift im Akt des Lesens“, NZSTh 51 (2009) 27-49, 33-38; sowie B. KÖRNER, Die Bibel als Wort Gottes auslegen, 207-208: „Die Auslegung der Schrift ist wie die Glaubenserkenntnis insgesamt Aufgabe der Kirche als ganzer, nicht nur Sache der Theologinnen und Theologen. Sie erfolgt im Zusammenspiel verschiedener kirchlicher Instanzen. Unter ihnen kommt bei der Schriftauslegung der Dogmatik und der Exegese eine jeweils besondere Rolle zu: der Dogmatik, insofern sie die kirchliche Lehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung nachzeichnet und diese Entwicklung für die Gegenwart auswertet; der Exegese, insofern sie sich zur Anwältin für den Ursprungssinn der Heiligen Schrift als bleibende Grundlage aller späteren Lehrentwicklung macht“ (Hervorhebung im Original). Siehe auch L.-M. CHAUVET, Symbol und Sakrament. Eine sakramentale Relecture der christlichen Existenz (= Theologie der Liturgie 8), Regensburg 2015, 209-210; [in Folge: L.-M. CHAUVET, Symbol und Sakrament]. 869 Vgl. auch das Plädoyer für einen rezeptionsästhetischen Ansatz K. BACKHAUS, „Exegese und Rezeptionsästhetik“, 160-167. U. Luz möchte anstatt von Rezeptionsgeschichte (übertragen auch von Rezeptionsgemeinschaft) lieber von Wirkungsgeschichte reden. Vgl. U. LUZ, „Wirkungsgeschichtliche Hermeneutik und kirchliche Auslegung der Schrift“, in: M. MAYORDOMO-MARÍN (Hg.), Die prägende Kraft der Texte. Hermeneutik und Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments (ein Symposium zu Ehren von Ulrich Luz) (= SBB 199), Stuttgart 2005, 15-37. Der protestantische Neutestamentler plädiert für die Wirkungsgeschichte, da darin der Primat – entsprechend dem sola scriptura – der biblischen Texte gewahrt wird und der Akzent auf die die Geschichte prägende Kraft gesetzt wird. Dabei möchte er die Wirkungsgeschichte nicht gegen die Tradition verstanden wissen, sondern sieht gerade in ihr wertvolle Anknüpfungspunkte. Wirkungsgeschichtliche Auslegung ist kirchliche Auslegung mit ökumenischem und kritischem Potenzial. Siehe auch T. TOPS, „Transforming Historical Objectivism“, 496-501. 870 Vgl. J. ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis. Zum kulturellen Gedächtnis siehe E. GRÄB-SCHMIDT, „Glauben und Verstehen. Kanon, kulturelles Gedächtnis und die hermeneutische Tradition und Konstruktion“, in: C. LANDMESSER – A. KLEIN (Hgg.), Normative Erinnerung. Der biblische Kanon zwischen Tradition und Konstruktion, Leipzig 2014, 131-150, 138: „Tradition wird so zu einem kulturellen Gedächtnis, das gerade dadurch geltungsorientiert ist, dass dieses sich seines Ursprungs bewusst bleiben

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in diesem Horizont das identitätsstiftende Wissen nicht nur aufgehoben, sondern wirkend tradiert ist. Eine Kulturgemeinschaft und Glaubensgemeinschaft trägt im „kulturellen Gedächtnis“ die Vergewisserung der eigenen Identität und darin die Verbindung zum sinnstiftenden Ursprung. Weil aber die biblischen Texte und ihr zu erschließender Sinn sich auf das eine Volk Gottes als Glaubensgemeinschaft beziehen, ist das „kulturelle Gedächtnis“ als „religiöses Gedächtnis“ zu verstehen. Es wird darin nicht nur vergangenes Wissen vermittelt, sondern die religiöse Erfahrung des sich offenbarenden Gottes in der Geschichte, die durch die pneumatische Sinnerschließung den begründenden Bezug zum historischen Ursprung lebendig hält. Zur Vergewisserung der Identität gehört die Geltung des Historischen, das aber anamnetisch871 in einen neuen Bezug zur Gegenwart gestellt wird. Im „religiösen Gedächtnis“ erinnert sich eine Glaubensgemeinschaft anamnetisch als Subjekt der Rezeption an den historischen Ursprung und schreibt diesem Geltung zu.872 Jedoch haben biblische Texte ihr sinnstiftendes Potential nicht aufgrund ihrer zeitlichen Nähe zum Anfang (initium), sondern aufgrund ihrer historischen Nähe zum Ursprung (principium).873 Die Erinnerung des „religiösen Gedächtnisses“ wird zur Anamnese der Heilsgeschichte, die nicht abstrakt metaphysisch, sondern biblisch konkret verstanden werden muss. Anamnese bestimmt das Gedächtnis, insofern es darin zu einer ständigen Aktualisierung des Ursprungs als Fundament und Prinzip des gegenwärtigen Gedenkens kommt. will. Es ist die geltungsqualifizierte Ursprungsbestimmung der Tradition, die dem Historischen selbst das Gewicht der Geltung verleiht und damit die Differenzbestimmung von Zeitbedingtem und Gültigem in das Historische einbaut. Dabei ist Ursprungsnähe nicht die historisch-zeitliche Nähe, obwohl das Historische von Belang ist“; [in Folge: E. GRÄB-SCHMIDT, „Glauben und Verstehen“]. Zum „kulturellen Gedächtnis“ siehe auch die differenzierende Darstellung M. WELKER, „Kommunikatives, kollektives, kulturelles und kanonisches Gedächtnis“, JBTh 22 (2007) 321-331. 871 Vgl. zur Anamnese G. STEINS, „Kanon und Anamnese. Auf dem Weg zu einer Neuen Biblischen Theologie“, in: DERS., Kanonisch-intertextuelle Studien zum Alten Testament (= SBAB 48), Stuttgart 2009, 61-85, 74-85; [in Folge: G. STEINS, „Kanon und Anamnese“]. Dabei sieht der Autor die Anamnese als Moment der Schrift selbst, nicht nur der Rezeptionsgemeinschaft. Anamnese ist die „formale Bestimmung des Sinns der Schrift überhaupt“ (84; Hervorhebung im Original). Jedoch ist es die Rezeptionsgemeinschaft, die von den anamnetischen Strukturen der Schrift selbst die Anamnese nicht nur liest, sondern auch in der Tradition erinnert. Siehe auch M. BENINI, Liturgische Bibelhermeneutik. Die Heilige Schrift im Horizont des Gottesdienstes (= LWQF 109), Münster 2020, 340-342; [in Folge: M. BENINI, Liturgische Bibelhermeneutik]. 872 J. v. Oorschot lehnt den Begriff des Erinnerns ab, da nur das erinnert werden kann, was ein Mensch persönlich erlebt hat. Darum solle im Rahmen der kulturellen und der kollektiven Erinnerung eher von der Normativität der Tradition und des biblischen Kanons gesprochen werden. Vgl. J. V. OORSCHOT, „Kann Erinnerung normativ sein oder werden“, 74. 873 Vgl. E. GRÄB-SCHMIDT, „Glauben und Verstehen“, 138-139.

425

Das „religiöse Gedächtnis“ orientiert sich an der analogia fidei und ist an dieses Prinzip gebunden, um damit die historische Differenz von Ursprung und Aktualisierung nicht auszugleichen, sondern zu überbrücken. Dies bildet den Rahmen, in dem sich die je neue Aktualisierung ereignet und worin „die Polyphonie als Symphonie“ zum Klingen kommt. Die analogia fidei steht als Prinzip der Rezeptionsgemeinschaft in wechselseitiger Verbindung mit der Schrift, da sich das Glaubensprinzip an ihr ausweisen muss, gleichzeitig aber auch ihre Sinnbegrenzung ist.874 Die analogia fidei kann daher als Garant für die Einheit nicht nur des Alten und des Neuen Testaments gelten, sondern auch für die Einheit der aktualisierenden Auslegung davon. Es ist das pneumatologische Wirken, das den pneumatischen Sinn verstehen lässt und die Rezeptionsgemeinschaft im „religiösen Gedächtnis“ leitet, insofern die Gemeinschaft nicht instrumentell, sondern heilsbezogen geführt wird. Damit kommt aber den von der historisch kontingenten Rezeptionsgemeinschaft zu erinnernden Schriften Bedeutung zu, insofern im „religiösen Gedächtnis“ die biblischen Texte als wesensstiftend angesehen werden. Die Rezeptionsgemeinschaft erschließt sich darin die Erfahrung, die sich historisch in den Texten niedergeschlagen hat und deutet damit aktualisierend die eigene und gegenwärtige Erfahrung mit dem bezeugten Ursprung. Eine Hermeneutik, die sowohl dem historischen als auch dem pneumatischen Anspruch der Bibel gerecht werden will, sucht die Wirkung der Vergangenheit auf die Gegenwart wie den Rückbezug der Gegenwart auf die Vergangenheit. Kann eine historische Kritik den Bogen zum bleibenden Ursprung spannen, so ist die pneumatische Hermeneutik von der Gegenwart eschatologisch ausgerichtet. In dieser Spannung drückt sich das biblische Zeitverständnis aus, das nicht rein linear, aber auch nicht zyklisch zu verstehen ist. Biblische Zeit ist schöpferische Zeit, die sich anamnetisch ihres Ursprungs bewusst ist und diesen dadurch immer wieder neu vergegenwärtigt. Kirche als Glaubensgemeinschaft ist daher nicht nur auf den Rückbezug zum Ursprung verwiesen, sondern ebenso auf die sich öffnende Zukunft. „Der geistige Schriftsinn“ – so S. Müller – „bietet einen konkreten Erfahrungskontext an, um religiöse Sprache von Generationen auch in der Gegenwart für den einzelnen Gläubigen wirksam und verstehbar werden zu lassen: Die Kirche […]“.875 Das „religiöse Gedächtnis“ ist dieser Erfahrungskontext, in dem sich die fides quae als gegenwärtige und wirkende Größe versteht, die nicht historisch in sich abgeschlossen, sondern geschichtlich zu finden ist. Erst in der aktualisierenden 874

Vgl. R. ROTHENBUSCH, „Inspiration und theologische Schrifthermeneutik“, 126-135. Der Autor sieht die Sinnbegrenzung nicht durch die Rezeptionsgemeinschaft oder die analogia fidei gegeben, sondern die Sinngrenze sei vielmehr der Kanon der Schriften. 875 S. MÜLLER, Kritik und Theologie, 447.

426

Vergegenwärtigung hat die fides quae auch ihren Bezug zur fides qua, die ihrerseits wiederum durch die fides quae im Spannungsbogen von Ursprung, Gegenwart und Vollendung steht. Dieser hermeneutische Bezug von historisch und pneumatisch kann die Gewähr für die Authentizität nicht nur der Schriftauslegung, sondern auch für den Glauben der Rezeptionsgemeinschaft sein.876 Es ist und bleibt die eine Heilsgeschichte, in der Gott sein Wort hineinspricht und an das sich die Rezeptionsgemeinschaft im „religiösen Gedächtnis“ heilswirkend erinnert. Die Rezeptionsgemeinschaft muss sich daher immer der pneumatisch-kritischen Methode verpflichten, um die sich je neu aktualisierende Erfahrung im Sinn der Schriften zu ergründen. Eine stete pneumatologisch-christologische Aktualisierung und Kontextualisierung ermöglichen dann das eigentliche theologische Verstehen, wodurch zum einen der Sinn erschlossen und zum anderen begrenzt wird. Es ist die Rezeptionsgemeinschaft, die dem biblischen Kanon vorausgeht und diesen erst formt, weil sie den Inhalt des „religiösen Gedächtnisses“ im Rahmen der analogia fidei in den Texten ausgedrückt findet.877 Daher ist N. Slenczka zuzustimmen, dass sich das Christentum von den biblischen Texten angesprochen fühlen und darin das Evangelium Christi wahrnehmen muss. Jedoch bedeutet „religiöses Gedächtnis“ keine Eindeutigkeit und Festschreibung, sondern die Ermöglichung, biblische Texte mehrdimensional zu lesen und zu verstehen. Normativität der biblischen Schriften ist daher nicht auf die Anzahl der Bücher und einen eindeutigen Sinn hin ausgesagt; vielmehr besteht die Normativität der Schrift in der Vergegenwärtigung des Heilshandelns Gottes in der Geschichte, denn so stellt G. Steins heraus: „Nie geht es um Informationen über die Vergangenheit, sondern um die Konstruktion einer normativen ,Geschichte‘ einer distinkten Gruppe, für die so alles als Werk Gottes und Ort seiner Gegenwart und seines Wirkens an dieser Gruppe und darüber hinaus an der Welt lesbar wird“.878 Alttestamentliche Texte sind deshalb normativ, da sie ein Moment dieser Heilsgeschichte darstellen, die sich christologisch konkretisiert. In dieser Spannung sieht eine Rezeptionsgemeinschaft in ihrem „religiösen Gedächtnis“ die Schriften als normativ an. Die 876

Vgl. H.-G. GADAMER, Wahrheit und Methode, 379: „Die Texte werden durch die neue Aktualisierung im Verstehen genau so in ein echtes Geschehen einbezogen, wie die Ereignisse durch ihren Fortgang selbst. […] Jede Aktualisierung im Verstehen vermag sich selber als eine geschichtliche Möglichkeit des Verstandenen zu wissen. Es liegt in der geschichtlichen Endlichkeit unseres Daseins, daß wir uns dessen bewußt sind, daß nach uns andere immer anders verstehen werden. Gleichwohl ist es für unsere hermeneutische Erfahrung ebenso unzweifelhaft, daß es dasselbe Werk bleibt, dessen Sinnfülle sich im Wandel des Verstehens beweist, wie es dieselbe Geschichte ist, deren Bedeutung sich fortgesetzt weiterbestimmt“. 877 Vgl. G. STEINS, „Kanon und Anamnese“, 69. 878 Ebd. 84 (Hervorhebung im Original).

427

Einheit der christlichen Bibel ist eine Festlegung auf bestimmte Schriften, die im „religiösen Gedächtnis“ der Rezeptionsgemeinschaft eine wesentliche Rolle spielen und deren Bedeutung sich durch die Rezeption in das „religiöse Gedächtnis“ einschreibt. Die Rezeptionsgemeinschaft trägt durch die pneumatisch-kritische Auslegung der Bibel das normative Moment der Einheit ein, denn es kann nach M. Theobald nicht gelten, „die ,Einheit der Schrift‘ sei in ihr selbst, d.h. in einer wie auch immer gearteten Kombination, Verschmelzung oder Harmonisierung ihrer Teile zu suchen, sie liegt vielmehr außerhalb ihrer, oder anders gesagt, stets vor uns: die Lesergemeinschaft der Kirche ist es, welche die ,Einheit der Schrift‘ in ihrer praktischen und theoretischen Rezeption durch ihre Glaubensexistenz verwirklicht“.879

Der Rezeptionsvorgang darf hier nicht als ein von außen an die Texte herangetragenes Verstehensprinzip gedeutet werden. Steht zwar die Rezeptionsgemeinschaft außerhalb biblischer Texte, so ist sie durch das „religiöse Gedächtnis“ in die Texte hineingenommen. Wenn von einer pneumatisch-kritischen Hermeneutik ausgegangen werden soll, dann muss die Erinnerung der Rezeptionsgemeinschaft von dem Geist geleitet sein, der auch durch die biblischen Schriften wirkt. Daher ist nochmals eine pneumatologische Wechselwirkung zwischen biblischer Hermeneutik und erinnernder Gemeinschaft festzustellen. Es ist die Rezeptionsgemeinschaft der Kirche, die aufgrund der pneumatologischen Bindung Garant für die Tradierung der Texte ist, zugleich aber auch von diesen Texten das pneumatologische Zeugnis erfährt. Die geistgeleitete Erinnerung und anamnetische Vergegenwärtigung sind es, auf die sich die Rezeptionsgemeinschaft stützt und worin der tragende christologische Kanon der fides quae gegeben ist. Hat R. Bultmann mit seiner Theologie versucht, den Hiatus von Vergangenheit biblischer Texte und dem Lesen in der Gegenwart durch seine existentiale und entmythologisierte Deutung zu überwinden, worin sein bleibender Verdienst gesehen werden muss, so hat er dabei aber den pneumatologischen Stellenwert der Texte an sich und das Wirken des Geistes in der Kirche übergangen. Im Letzten ist es der Glaube der Kirche, der die Brücke von der Vergangenheit zur Gegenwart schlägt 879

M. THEOBALD, „Offen – dialogisch – (selbst)kritisch. Die grundlegende Bedeutung historisch-kritischen Arbeitens für die theologische Auslegung des Neuen Testaments“, BiKi 63 (2008) 240-245, 245 (Hervorhebung im Original). Vgl. auch C. FREVEL, „Vom bleibenden Recht“, 173: „Normativ ist die Schrift nur in ihrer Ganzheit einschließlich ihrer Literal- und Ursprungssinne, die sich in der Text- wie Rezeptionsgeschichte entwickelt haben und sich zum Teil wiederstreiten. Auch Normativität wird daher in Bezug auf den Text zu einem relationalen und diskursiven Konstrukt, das die Rezeptionsgemeinschaft als Subjekt der Auslegung erfordert“ (Hervorhebung im Original).

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und das Wort Gottes als lebendiges Wort im Raum der Kirche und der Gegenwart hält, indem der Glaube der Kirche immer nur Auslegung und Erhellung des biblischen Zeugnisses sein kann.880 In diesem Zeugnis und im Glauben der Rezeptionsgemeinschaften für das Alte und das Neue Testament, also Judentum und Christentum, bahnt sich das Wort Gottes seinen Weg durch die Geschichte und prägt durch diesen Glauben Zeit und Raum.

880

Vgl. dazu P. GADENZ, „Overcoming the Hiatus between Exegesis and Theology. Guidance and Examples from Pope Benedict XVI“, in: S. CARL (ed.), Verbum Domini and the complementarity of exegesis and theology, Grand Rapids 2015, 41-62, 54: „It is in the Church that the Scriptures remain a living word. This explanation of course does not mean ignoring the past, which would result in an ahistorical reading tending toward fundamentalism; […] Even after the writing of the New Testament, however, the effects of inspiration continue as the living subject of the Church, interpreting the Scriptures in the same Spirit in whom they were written, grows in understanding of the Scriptures, and thus, ,constantly advances toward the fullness of divine truth [DV 8; Anm. d. Verf.] […]“.

429

3.

Heilsgeschichte und das Wort Gottes

Wenn sich die christliche Bibel aus Altem und Neuem Testament als Zeugnis der Offenbarung Gottes zum Heil der Menschen versteht, dann stellt sich damit die Frage nach dem Sinn dieses Offenbarungszeugnisses in der Geschichte und für die Geschichte bzw. ob Geschichte davon geprägt und charakterisiert wird.881 Dem widmet sich das theologische Konzept Heilsgeschichte.882 Nicht selten werden dabei 881

Vgl. dazu M. REISER, „Das christliche Geschichtsbild. Seine Herkunft und seine moderne Rezeption“, in: O. BÖCHER – M. WOLTER (Hgg.), Studien zur Johannesoffenbarung und ihrer Auslegung, FS für Otto BÖCHER, Neukirchen-Vluyn 2005, 46-70, 46-51, hier 51: „Skeptische oder auch nur agnostische Geschichtsschreibung im eigentlichen Sinn ist ein Adynaton. Von dieser Einsicht her kann die Berechtigung einer christlichen Sicht und Deutung der Geschichte nicht bestritten werden“; [in Folge: M. REISER, „Das christliche Geschichtsbild“]. Vgl. auch H. D. LUBAC, Glauben aus der Geschichte, 145: „Gott handelt in der Geschichte, offenbart sich durch die Geschichte, noch mehr: Er geht selbst ein in die Geschichte und gibt ihr so jene ,tiefere Weihe‘, die uns dazu verpflichtet, sie im letzten Sinne ernst zu nehmen“. Siehe auch R. D EINES, „Das Erkennen von Gottes Handeln in der Geschichte bei Matthäus“, in: J. FREY – S. KRAUTER – H. LICHTENBERGER (Hgg.), Heil und Geschichte. Die Geschichtsbezogenheit des Heils und das Problem der Heilsgeschichte in der biblischen Tradition und in der theologischen Deutung (= WUNT 248), Tübingen 2009, 403-441, 407: „Es ist also der christliche Glaube nicht ohne die ihn konstituierende Geschichte denkbar, woraus notwendigerweise folgt, dass die Geschichte aus der Perspektive des christlichen Glaubens nicht ohne den darin begegnenden Gott gedacht werden kann. […]“; [in Folge: R. DEINES, „Das Erkennen von Gottes Handeln“]. 882 Vgl. als Überblick und mit Angaben weiterer Literatur A. DARLAP, Art.: Heilsgeschichte. II. Theologische Vermittlung, in: SM(D) 2, 647-656; [in Folge: A. DARLAP, „Heilsgeschichte“]; M. HENGEL, „Heilsgeschichte“, in: J. FREY – S. KRAUTER – H. LICHTENBERGER (Hgg.), Heil und Geschichte. Die Geschichtsbezogenheit des Heils und das Problem der Heilsgeschichte in der biblischen Tradition und in der theologischen Deutung (= WUNT 248), Tübingen 2009, 3-34; [in Folge: M. HENGEL, „Heilsgeschichte“]; K. KOCH, Art.: Heilsgeschichte: III. Systematisch-theologisch, in: LThK3 4, 1341-1343; F. MILDENBERGER, Art.: Heilsgeschichte, in: RGG4 3, 1584-1586, der in seiner Problematisierung zu dem Schluss kommt: Angesichts der Schwierigkeiten eines einheitlichen Geschichtsverständnisses „empfiehlt es sich, auf eine Verwendung des Ausdrucks H[eilsgeschichte], abgesehen von einer theologiegesch. Darstellung, zu verzichten“. Als Hinführung zur allgemeinen Geschichte und zu einer Geschichtstheologie dient F. ERLENMEYER, Das Geheimnis der Geschichte in Christus deuten. Der Beitrag Jean Daniélous zu einer theologischen Hermeneutik der Geschichte (= MThS.S 79), St. Ottilien, 2016, 7-54; [in Folge: F. ERLENMEYER, Das Geheimnis der Geschichte]. Zur Deutung der Geschichte schreibt er: „Schibboleth jeder Deutung ist von der Theologie her die Offenheit für die Transzendenz. […] In gewisser Hinsicht geht es auch um eine Grenze der Geschichtlichkeit, die mit ihrem kontingenten Charakter die Transzendenz immer nur bruchstückhaft aufnehmen kann, die also nie absolut zu setzen ist“; zur Heilsgeschichte in Anschluss an J. Daniélou siehe ebd. 107-168; T. MAYER, Typologie und Heilsgeschichte. Konzepte theologischer Reform bei Jean Daniélou und in der Nouvelle théologie (= IThS 96), Innsbruck 2020, 80-128; [in Folge: T. MAYER, Typologie und Heilsgeschichte]. Hiervon muss ein heilsgeschichtlicher Zugang kritisch unterschieden werden, wie ihn besonders evangelikale Theologie praktiziert, um Bibeltexte der Deutung

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Altes und Neues Testament als Perioden der Weltgeschichte gedeutet, die dann nochmals zu überschreiten sind und in eine Vollendung geführt werden müssen. Auch kann und darf damit nicht in einem Fortschrittsglauben Religion als evolutiv verstanden werden, als ob alles Religiöse im Christentum seinen Kulminationspunkt hätte. Werden jedoch die biblischen Schriften als Zeugnis für die Offenbarung Gottes aufgefasst, ist eine sich ablösende Phrasierung der Geschichte nicht mehr zu denken. Die Offenbarung und ihr Zeugnis sind das eine Gliederungsprinzip der Geschichte, in der sich Gott selbst zeigt. Vielmehr gilt es, die Geschichte als den Wirkraum der Offenbarung zu verstehen, die zu Beginn, in der Mitte und am Ziel der Geschichte ein und dieselbe ist, denn jede andersartige Einteilung der Geschichte kommt nicht umhin, in einem stufenartigen Überschreitungs- bzw. Unterlegenheitsschema zu denken. Auch wenn eine Geschichtstheologie nicht ohne Teleologie zu denken ist – wenn die Sinnhaftigkeit von Welt und Geschichte gewahrt bleiben soll, so muss diese Teleologie aber bereits zu Beginn voll und ganz gegeben sein.883 Die gesamte Geschichte steht in einem Zusammenhang, der im Wort Gottes grundgelegt ist, um mit einem Wort E. Nordhofens zu sprechen: „Die Welt und alles, was in ihr geschieht, ist eine Textanalogie, das wahre ,Buch‘ Gottes, des Herrn der Geschichte“.884 In diesem Sinne ist der heilsgeschichtliche Ansatz von NA 4 zu verstehen, der auf die bleibende Bedeutung des Judentums für das Christentum hinweist und damit eine Geschichtstheologie vorlegt, die der Offenbarung Gottes verpflichtet ist. So formuliert dies M. Reiser mit der Metapher des Dramas, wie sie sich auch in H. U. v. Balthasars Theodramatik findet:

zu entziehen und sie möglichst wörtlich lesen zu können. Siehe als Beispiel dazu H. STADELMANN – B. SCHWARZ, Heilsgeschichte verstehen. Warum man heilsgeschichtlich denken sollte, wenn man die Bibel nicht missverstehen will, Dillenburg 2008. 883 Vgl. A. SIERSZYN, Christologische Hermeneutik, 99-100: „Heilsgeschichte ist zielgerichtet. Sie entfaltet sich als verborgene Aufrichtung der Herrschaft Gottes inmitten einer hinfälligen Unheilsgeschichte Israels und der Völker. […] In Jesus Christus, dem wahren Gott und wahren Menschen, findet der Ratschluss der göttlichen Heilsgeschichte seine wundersame Krönung und Erfüllung“. Für K. Rahner wird in Jesus Christus das „Kriterium für die Unterscheidung in der konkreten Religionsgeschichte gegeben zwischen dem, was menschliches Mißverständnis der transzendentalen Gotteserfahrung ist, und dem, was deren legitime Auslegung ist. Erst von ihm aus ist eine solche Unterscheidung der Geister in einem letzten Sinne möglich“. K. RAHNER, Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, Freiburg – Basel – Wien 112005, 161; [in Folge: K. RAHNER, Grundkurs des Glaubens]. 884 E. NORDHOFEN, Corpora. Die anarchische Kraft des Monotheismus, Freiburg – Basel – Wien 2018, 131; [in Folge: E. NORDHOFEN, Corpora]. Der Autor zeichnet in seinem Buch Theologie als privatives Denken nach, das Gottes Anwesenheit in seiner Entzogenheit denkt. Es wäre der Mühe wert, heilsgeschichtliches Denken nach seinen privativen Implikationen zu befragen und auszuwerten.

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„Nach jüdischer und christlicher Überzeugung waltet […] im Leben des einzelnen wie in der Geschichte Gottes Vorsehung, auch wenn ihre Ratschlüsse notorisch unergründlich und ihre Absichten oft genug undurchschaubar sind. Gott ist als der Schöpfer dieser Welt auch der Herr ihrer Geschichte; er hat dieses große Drama in Gang gesetzt und ist dabei gleichsam der Autor und Regisseur in einer Person, und am Ende übernimmt er auch das Amt des Kritikers. Nach christlicher Überzeugung tritt er in seinem Stück sogar selbst als Darsteller auf; in Jesus von Nazaret betritt er in eigener Person die Bühne des Weltgeschehens. Gott hat freilich keinen fertigen Text geschrieben, nach dem gespielt werden muss, denn seine Darsteller sind keine bloßen Figuren oder Marionetten, sondern freie Personen, denen er als Regisseur größten Spielraum lässt. Immerhin hat er ihnen doch eine gewisse Idee ihrer Rolle, des Stücks und seines beabsichtigten Schlusses vermittelt. Rollen gibt es in diesem Drama nur in begrenzter Auswahl, dafür aber in unendlichen Varianten“.885

Es ist die geschichtliche Vermittlung der Offenbarung Gottes, die die Geschichte nicht als bruta facta erscheinen lässt, sondern ihr einen pneumatischen Sinn eingeschrieben hat, den es in der Geschichte immer wieder neu zu suchen und auszulegen gilt. In diesem Sinn muss sich Theologie und christliche Hermeneutik dem konkreten historischen Faktum zuwenden, in dem die Wirklichkeit zu finden ist, die als Anfang und Ziel der Geschichte den sinntragenden Grund bildet, wie es die Offenbarung darstellt.886 Versucht eine pneumatisch885

M. REISER, „Das christliche Geschichtsbild“, 65-66. Vgl. auch C. SCHWÖBEL, „Heilsgeschichte“, 754-755. C. Böttigheimer unterstreicht besonders den Zusammenhang zwischen Schöpfung und Geschichte, wenn er schreibt: „Nach dem Bekenntnis des christlichen Glaubens ist die Geschichte mehr als nur das Produkt menschlichen Entscheidungshandelns oder puren Zufalls, vielmehr stiftet Gott selbst Geschichte“ (C. BÖTTIGHEIMER, Wie handelt Gott in der Welt? Reflexionen im Spannungsfeld von Theologie und Naturwissenschaft, Freiburg – Basel – Wien 2013, 205; [in Folge: C. BÖTTIGHEIMER, Wie handelt Gott in der Welt?]). Zum Verhältnis von Schöpfung und Geschichte siehe auch F. ERLENMEYER, Das Geheimnis der Geschichte, 108-110. 886 Vgl. R. HEINZMANN, „Metaphysik und Heilsgeschichte“, MThZ 53 (2002) 290-307, 294: „Die Offenbarung ist in erster Linie ein geschichtliches Faktum, das mit den geschichtlichen Kategorien der Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit gekennzeichnet werden muss. Dieses Ereignis lässt sich weder begründen noch kann man seine innere Notwendigkeit aufzeigen. Es hat seinen alleinigen Grund in der Freiheit Gottes. Das Handeln des über aller Geschichte stehenden Gottes in unserer Geschichte ist die Mitte des Christentums, nicht die Mitteilung allgemeiner Wahrheiten“. Der Philosoph sieht in der Geschichtlichkeit des Glaubens und der Wahrheit die Unvereinbarkeit von Heilsgeschichte und Metaphysik (295). Gerade die christologischen Lehraussagen bringen das „Heils-Ereignis“ auf einen „Begriff“ (297), das seit Augustinus zu einem „ontologische[n] und anthropologische[n] Dualismus“ führte (297). So kommt er bzgl. Augustinus zu dem Schluss: „In wesentlichen Positionen Augustins hat unter dem Einfluss griechischer Metaphysik, näherhin des Neuplatonismus, das Christentum seine Identität verloren“ (300). Erst mit Thomas von Aquin wurde die metaphysische Hegemonie über den christlichen Glauben gebrochen (301). Theologie muss daher heute

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kritische Hermeneutik den Sinn der Bibel in der Historie der Schriften und deren pneumatischer Dimension zu ergründen, so kann analog dazu Heilsgeschichte als die Hermeneutik der geschaffenen Geschichte verstanden werden; es ist die Geschichte, die der Schrift immer voraus ist und die in der Schrift immer mit ausgelegt wird: Heilsgeschichte exegetisiert die Profangeschichte.887 Wird von einer biblischen Heilsgeschichte gesprochen bzw. der Bibel eine Heilsgeschichte zugesprochen, dann ist damit implizit jedoch auch ein heilsgeschichtlicher Zugang zur Geschichte gelegt, wenn Offenbarung ein geschichtliches Prius vor der verbalen Bezeugung hat. Der Sinn der Schrift und der Geschichte sowie Schriftauslegung und Geschichtsauslegung stehen in einem Zusammenhang, so dass pneumatische Hermeneutik „die personale Vielschichtigkeit der Heilsgeschichte frei[legt]. Gerade der vierfache Schriftsinn entbirgt die personale Sinngestalt der Geschichte“.888 Schriftauslegung kann daher als Wirklichkeitsauslegung und Interpretation der Geschichte verstanden werden. Die pneumatische Wirklichkeit889 der Geschichte ist die Voraussetzung dafür, dass Geschichte nicht als in sich abgeschlossene und determinierte Größe gefasst werden muss, sondern dass es die für die Freiheit des Menschen offene Geschichte ist, die in ihrer Offenheit völlig auf Jesus Christus und seine Deutung der Geschichte verweist, aposteriorisch sein. „Wie griechische Metaphysik hinter die erfahrbare Wirklichkeit zurückfragte, so muss christliches Glaubenswissen hinter die historischen Fakten – meta. ta. i`storika, – zurückfragen, um historischen Sinn und geschichtliche Freiheit zu deuten und zu verstehen. Erfahrung und Verstehen von Wirklichkeit werden zu Grundkategorien der Theologie“ (306). 887 Vgl. K. RAHNER, „Weltgeschichte und Heilsgeschichte“, in: DERS., Schriften zur Theologie Bd. 5, Einsiedeln 31968, 115-135, 129-135, der den Sachverhalt zusammenfasst: „Die Heilsgeschichte deutet die Profangeschichte“ (ebd. 129); [in Folge: K. RAHNER, „Weltgeschichte und Heilsgeschichte“]. Heilsgeschichte kann damit als die Entmythologisierung der Profangeschichte gefasst werden, da es das schöpferische Wort ist, das die Geschichte klärt und eschatologisch verklärt. Ebenso T. MAYER, Typologie und Heilsgeschichte, 206: „Geistige Schriftauslegung bedeutet nichts anderes als Interpretation der Geschichte als Raum des Handelns Gottes. Der Geschichtsbegriff geht dabei über historische Faktizität hinaus: Geschichte wird ,geistig‘ gelesen im Blick auf die theologische Bedeutung der Ereignisse“. 888 S. MÜLLER, Kritik und Theologie, 461. Siehe dazu auch H. D. LUBAC, Glauben aus der Geschichte, 148-149. Zum Zusammenhang von Offenbarung und Geschichtsdeutung siehe F. ERLENMEYER, Das Geheimnis der Geschichte, 229-235, hier 233: „So darf zu Recht behauptet werden, dass die Offenbarung die Geschichte als Heilsgeschichte konstituiert und sie der Beliebigkeit und dem Zufall der Interpretation entzieht“. Zum Zusammenhang der Geschichtsdeutung und der Schriftauslegung siehe ebd. 235-248. 889 Für H. Rahner lässt sich der Sinn der Geschichte nur „jenseits der Geschichte“ erschließen. Die geschichtliche Immanenz ist nur von der göttlichen Transzendenz her zu begreifen und damit die „anmaßende Frage“ nach dem Geschichtssinn zu beantworten, denn der „Mensch kann der Welt nicht sagen, was sie ist“. H. RAHNER, „Sinn der Geschichte“, in: DERS., Abendland. Reden und Aufsätze, Freiburg i. Br. 1966, 69-89, 6971 (Hervorhebung im Original).

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der im Letzten Sinn und Ziel der Geschichte ist, denn „das Evangelium von Jesus Christus ist das Kriterium der Gottes-Gegenwart im Zwielicht der Zeit“.890 Weil Schöpfung und Geschichte nach christlichem Verständnis ihren Urgrund in der innertrinitarischen Beziehung Gottes selbst haben, ist eine modalistische Periodisierung unhaltbar für ein heilsgeschichtliches Verständnis der Geschichte. Dies war auch der Vorwurf K. Barths gegenüber der Föderaltheologie, die das Heilswirken Gottes als einen theologischen Mittelweg zwischen absolutem Historismus und abstrakter Schultheologie zu fassen suchte. Nach dem Basler Theologen dürfe die Offenbarung Gottes in Jesus Christus jedoch nicht so gefasst sein, dass sie erst schritt- und stufenweise durch die Geschichte zum Durchbruch komme.891 Wesentlich für ein Verständnis von Heilsgeschichte muss daher das Prae der Offenbarung Gottes zur Geschichte sein; die Offenbarung erweist sich in der Geschichte und kann sich nur geschichtlich vermitteln, jedoch ist die Ökonomie der Offenbarung Gottes an deren trinitarische Immanenz gebunden bzw. Ökonomie und Theologie sind aufeinander bezogen.892 Es ist das eine theologische Heil, das sich im christologischen Angebot der Versöhnung durch die pneumatologische Vergegenwärtigung immer wieder anbietet. Dieses Heil ist nicht über der Geschichte ausgesprochen, sondern realisiert sich in der Geschichte und stellt darin das Heilsangebot Gottes an den Menschen dar. In Kreuz und Auferstehung Jesu ist das Heil in der Geschichte verankert. Eine christozentrische Geschichtstheologie zeigt für C. Böttigheimer ihren innersten theologischen Sinn: „Gott verleiht den menschlichen Daseinsvollzügen und innerweltlichen Ereignissen ihren letzten, nicht mehr zu überbietenden Sinn, indem er sie zum Heil und zur Gemeinschaft mit sich bestimmt. Damit ist zugleich ausgesagt, dass die Geschichte in ihrer Totalität das Werk Gottes und ihrem Wesen nach die indirekte Offenbarung Gottes ist“.893 Geschichte als 890

R. SIEBENROCK, „Christus-Gegenwart. Von der realen Gegenwart Christi im Wort“, BiLi 89 (2016) 185-194, 187; [in Folge: R. SIEBENROCK, „Christus-Gegenwart“]. Weiter schreibt der Innsbrucker Dogmatiker: „Die ganze christliche Geschichte kann in ihren Höhepunkten und Verwirrungen als gelungene oder misslungene Suche und Deutung der Gegenwart Christi in der Zeit gelesen werden“. H. U. v. Balthasar konzipiert seine Theologie der Geschichte direkt von Jesus Christus her. „Darum ist der Sohn, der in der Welt für Gott Zeit hat, der originäre Ort, wo Gott für die Welt Zeit hat. Andere Zeit als im Sohn hat Gott für die Welt nicht, aber in ihm hat er alle Zeit. In ihm hat er für alle Menschen und alle Geschöpfe Zeit. Es gibt ein Je-Heute mit ihm“. H. U. V. BALTHASAR, Theologie der Geschichte. Ein Grundriss. Neufassung (= Christ heute 1,8), Einsiedeln 1959, 31 (Hervorhebung im Original); [in Folge: H. U. V. BALTHASAR, Theologie der Geschichte]. Vgl. auch A. DARLAP, „Heilsgeschichte“, 654-655. 891 Vgl. dazu die Hinweise bei T. MAYER, Typologie und Heilsgeschichte, 91-92. 892 Vgl. ebd. 213. 893 C. BÖTTIGHEIMER, Wie handelt Gott in der Welt?, 207. Siehe auch P. HOFMANN, Die Bibel ist die Erste Theologie, 29.

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Heilsgeschichte bedeutet damit, dass Offenbarung Gottes nicht eine rein spiritualistische Größe ist, sondern dass sie sich auf den Menschen bezieht und somit einen Geschichtsbezug besitzt.894 Gerade das Beispiel des Alten Testaments und insbesondere des Judentums verdeutlichen die Geschichtsbezogenheit der Offenbarung, weil Gott sich gestis verbisque kundtut (vgl. DV 2) und es darin zu einer wesentlichen Aussage Gottes kommt. Die Offenbarung Gottes ist auf die konkrete Freiheitsgeschichte angewiesen, weil sich gerade die menschliche Freiheit an der sich offenbarenden Wirkung Gottes entscheiden kann und muss. Der Mensch hat nicht Geschichte, sondern er vollzieht Geschichte;895 der Mensch erkennt nicht einfach das Heil, sondern das Heil wirkt am Menschen, indem er in seiner Freiheitsgeschichte dem Bundesangebot Gottes, das ihn in seinen Taten und Worten gegenübertritt, dialogisch antwortet. Die alttestamentliche Offenbarungsgeschichte zeigt den Anspruch der sich realisierenden personalen Freiheitsgeschichte. Damit wird Offenbarung zum Charakter der menschlichen Geschichte. Das Volk Israel erfährt sich von der Selbstoffenbarung Gottes geschichtlich angesprochen und vermag diesen Anspruch transzendental auf die Erwählung, also auf die Zukunft hin, zu deuten, was die Einzigartigkeit der Offenbarungsgeschichte ausweist, die dann in Jesus Christus kulminiert.896 Heilsgeschichte und heilsgeschichtliches Denken bilden den Hintergrund dafür, dass die Freiheitsgeschichte des Menschen und die Heilsgeschichte Gottes in einem Zueinander verstanden werden können und dass Kontinuität und Diskontinuität in einem inneren Verhältnis zueinander stehen. Es ist das spannungsvolle Zueinander der geschichtlichen Pole, die das Verständnis der Heilsgeschichte ausmachen, weil Gottes Handeln in dieser Geschichte nicht linear wirkt oder als direktes Kausalprinzip gilt, sondern einzig und allein an der Freiheit des Menschen orientiert ist. Es braucht daher die heilsgeschichtliche Deutung und Vermittlung von Geschichte und 894

Vgl. P. HÜNERMANN, „Juden auf dem Weg des Heils. Eine theologische Reflexion auf die Frage von Offenbarung und Geschichte im Ausgang von Dei Verbum“, in: H. FRANKEMÖLLE – J. WOHLMUTH (Hgg.), Das Heil der Anderen. Problemfeld „Judenmission“ (= QD 238), Freiburg – Basel – Wien 2010, 420-459, 424: „Entscheidend ist, dass die Selbstmitteilung Gottes, durch die sich Gott als Freund der Menschen erweist, diese anspricht und in seine göttliche Gemeinschaft einbezieht, als historia salutis gesehen wird. Sie ist ein geschichtlicher Prozess der Aufhellung des Geheimnisses Gottes und des Heils der Menschen. Offenbarung und Heilsgeschichte sind untrennbar. Sie bilden den Weg, dessen Ziel in Jesus Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, vorweggenommen und im Glauben ansichtig wird“. Siehe auch C. SCHWÖBEL, „Heilsgeschichte“, 755-757. 895 Vgl. P. HÜNERMANN, „Geschichte versus Heilsgeschichte“, ThGl 90 (2000) 167-180, 169-171; [in Folge: P. HÜNERMANN, „Geschichte versus Heilsgeschichte“]. 896 Vgl. K. RAHNER, Grundkurs des Glaubens, 171; zum christologischen Kulminationspunkt siehe ebd. 177.

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Wesen, weil darin die Notwendigkeit menschlichen Erkennens und Handelns begründet ist.897 Dazu muss sich eine heilsgeschichtlich ausgerichtete Theologie, die als Deuterahmen der Geschichte fungieren kann, am Schriftzeugnis bewähren. Es geht darum, das Wirken Gottes in der Geschichte fassen zu können, ohne dass damit die absolute Transzendenz Gottes und der freie Glaubensakt des Menschen aufgehoben würden. Wenn nun Heilsgeschichte aufgrund einer „Kluft zwischen Faktum und [biblischem; Anm. d. Verf.] Bericht“898 abgelehnt wird, so steht dahinter ein theologischer Kategorienfehler, der biblische Schriften als Zeugnis der Offenbarung rein historisch lesen will, aber nicht deren Gehalt als Erfahrung des Handelns Gottes auffasst. Es ist die religiöse Erfahrung899, die sich in den biblischen Schriften ausdrückt und 897 Vgl. A. DARLAP, „Heilsgeschichte“, 649: „Die Tatsache, daß in der reflexen Artikulation des theologischen Begriffs der H[eilsgeschichte] Geschichts- und Wesensaussagen miteinander vermittelt werden müssen, ergibt sich aus der unaufhebbaren Dialektik der menschlichen Erkenntnis überhaupt: der Mensch erkennt sein Wesen aus seiner (natürlichen und übernatürlichen) Erfahrung von sich und seiner Geschichte (die selbstverständlich hier wie im Folgenden nicht individualistischsubjektivistisch noch kollektivistisch im Sinne eines zu sich selbst kommenden Gesamtbewußtseins der Menschheit, sondern prinzipiell interpersonal-dialogisch verstanden werden muß), er interpretiert umgekehrt notwendig seine geschichtliche Erfahrung aus seiner transzendentalen Wesenserkenntnis, welche selbst freilich durch eben diese Erfahrung jeweils modifiziert (erweitert) wird“. 898 G. K LEIN, „Bibel und Heilsgeschichte. Zur Fragwürdigkeit einer Idee“, ZNW 62 (1971) 1-47, 6. Der Autor möchte seine Ablehnung der Heilsgeschichte in zwei Thesen begründen: „Die erste These lautet: Die Resistenz der Bibel gegen die Idee der Heilsgeschichte ist historisch verifizierbar. Die Entfaltung dieser These will zeigen: Altes und Neues Testament widersetzen sich sowohl je einzeln als auch zusammen genommen jedem Versuch, ihnen ein Phänomen abzugewinnen, dessen heilsgeschichtliche Qualifikation die historische Vernunft einspruchslos passieren lassen könnte. – Die zweite These lautet: Die Resistenz der zentralen urchristlichen Konstruktion des Glaubens gegen die Idee der Heilsgeschichte ist theologisch nicht überholbar. Die Entfaltung dieser These will zeigen: In der Theologie des Paulus ist exemplarisch an den Tag gekommen, inwiefern das theologisch elementare Interesse an der Beziehung von Heil auf Geschichte die Insistenz auf Heilsgeschichte nicht ein-, sondern ausschließt“. In der Lektüre des Beitrags fällt auf, dass der Autor eine fehlende linear sich entwickelnde Geschichte als Indiz gegen die Heilsgeschichte sieht. Gerade aber die nicht linear verlaufende Geschichte kann als Grund für die Heilsgeschichte gelesen werden, da es die menschliche Unheilsgeschichte ist, die das Heil braucht und dadurch gewandelt wird in die Geschichte, die sich eschatologisch bestimmen lässt. Dagegen möchte F. Erlenmeyer die Kluft zwischen Faktum und Bericht durch „eine christliche Hermeneutik der Geschichte“ überbrücken, die sich „auf die biblische Offenbarung der Heilsgeschichte stützt“. Vgl. F. ERLENMEYER, Das Geheimnis der Geschichte, 223-224, Zitate 224. 899 Vgl. G. L. MÜLLER, Vom Vater gesandt. Impulse einer inkarnatorischen Christologie für Gottesfrage und Menschenbild, Regensburg 2005, 39-53, hier 42: „Religiöse Erfahrung bezeichnet die Form unserer Erkenntnis, die ihrer begrifflichen Analyse und geschichtlichen Auflichtung vorausgeht, diese aber verlangt. Eine transzendentalreligiöse Erfahrung ist eine Ur-Intuition des Sinns von Sein und seiner Entbergung in der

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geschichtlichen Anspruch hat, wenngleich es nicht immer ein historischer Anspruch sein kann.900 In den biblischen Texten kommt die transzendentale Erfahrung der Menschen zum Ausdruck, die sie im Glauben an den sich offenbarenden Gott gemacht haben, ohne dass die gemachte Aussage zu einer Subjektivierung der Heilsgeschichte wird, sondern zu einem objektiven Darstellen dessen, was ein Mensch erfahren hat.901 Die Offenbarung Gottes in der Geschichte ist ermöglicht durch die existentiale Ausrichtung des Menschen auf die Wirklichkeit, der er ausgeliefert ist; es ist die Wirklichkeit, die seine Hoffnung und sein Streben nach Zukunft konkret, also geschichtlich, ermöglicht. Heilsgeschichtliches Denken ist somit kein paralleles Denken zur Historie oder ein theologischer Überbau zur sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit, sondern deren innerer „roter Faden“, der den Glaubenden aufgrund seiner Gotteserfahrung an die Wirklichkeit bindet und diese Wirklichkeit gleichzeitig auch eschatologisch öffnet, oder mit K. Rahner gesprochen: Es gibt eine „Heils-, Offenbarungsund Glaubensgeschichte, die der allgemeinen profanen Geschichte koexistent ist“.902 Das bedeutet, dass heilsgeschichtliches Denken ein existentielles Verhältnis des Glaubenden zur Wirklichkeit verlangt, indem die eigene Lebens- und Wirklichkeitsgeschichte nicht nur durch das Wort Gottes interpretiert, sondern im Wort Gottes der Sinn für diese Geschichte entfaltet wird, ohne dass dabei die Geschichte übergangen wird, sondern ihre empirische Bedeutung behält. In dieser Sicht ist die Bibel theologisch und historisch zu verstehen. Mögen biblische Texte rein historisch falsch sein, so sind sie jedoch in ihrer Erfahrungsaussage wahr, die das Volk Israel im eigenen Handeln mit Gott oder die ersten Christen mit Jesus Christus gemacht haben. Somit ist heilsgeschichtliches Denken bereits in sich von Kontinuität und Diskontinuität geprägt, indem es Gottes Handeln in der personalen intellektuellen und sittlichen Existenz des Menschen. […] Religiöse Erfahrung umschreibt die implizite und unthematische Präsenz des absolut ungegenständlichen und unwelthaften Geheimnisses, das Gewahren der unverfügbaren Herkunft und Zukunft, dessen also, was die Sprache der Religionen und Philosophien seit Anfang der Menschheit an Gott nennt […]“ (Hervorhebung im Original); [in Folge: G. L. MÜLLER, Vom Vater gesandt]. Siehe auch L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Was heißt heute“, 40, der den Erfahrungsbegriff mit dem Inspirationsgedanken verbindet. Wenn gesagt wird, dass jemand etwas von Gott erfahren hat, dann ist diese Erfahrung geistgewirkt. 900 Vgl. die Erläuterung und Bedeutung zur Fiktionalität biblischer Schriften bei M. KONRAD, „Die historisch-kritische Exegese“, 116-119; T. MAYER, Typologie und Heilsgeschichte, 200-204 und DERS., „Geschichtsbegriff und Wirkungspotential der Typologie. Welchen Sinn hat der Zusammenhang von Schriftauslegung und Geschichtstheologie?“, ThPh 94 (2019) 192-210, 201-202; [in Folge: T. MAYER, „Geschichtsbegriff und Wirkungspotential der Typologie“]. 901 Vgl. dazu K. RAHNER, Grundkurs des Glaubens, 162-164, der dies am Beispiel des Propheten verdeutlicht. 902 DERS., „Weltgeschichte und Heilsgeschichte“, 123.

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Begegnung mit dem Menschen voraussetzt.903 Die Gegenwart Gottes in der Geschichte ist Voraussetzung für die Heilsgeschichte, die daher den Ort des Dialogs zwischen Gott und Mensch bildet. Heilsgeschichte muss mit einem erfahrungstheologischen Ansatz zusammengedacht werden, wenn Offenbarung nicht verobjektiviert werden soll und die subjektive Dimension des Glaubens geschichtlich bedeutend bleiben will. Heilsgeschichte in der Deutung der personalen Erfahrung bringt Subjektivität und Objektivität in eine innere Spannung, in der aber dann die Offenbarung geschichtsrelevant und wirksam werden kann. „Sinn und Ziel“ – so der Neutestamentler M. Hengel – „werden für uns nur sichtbar, weil Gott sich in seiner souveränen Freiheit, genauer in seinem unergründlichen Heilswillen, ich könnte in der Sprache der Bibel auch sagen: aus väterlicher Liebe zu seinen ungehorsamen Geschöpfen, in der Geschichte, d.h. an konkreten, durchaus ,objektivierbaren‘ Orten in Raum und Zeit, geoffenbart hat. Darum können, ja ich meine, darum müssen wir von ,Heilsgeschichte‘ reden. Freilich wird dieses Geschehen als Handeln Gottes nur für den Glauben sichtbar bzw. genauer im Wort der Anrede hörbar, als bloßes innerweltlich-geschichtliches Ereignis bleibt es ambivalent, fragwürdig, missdeutbar, es entzieht sich dem stringenten rationalen Beweis und kann darum bezweifelt werden“.904

In diesem Dialog ist Geschichte im Gegensatz zu in sich abgeschlossenen historischen Fakten nicht abgeschlossen, sondern wird gerade durch das Wort Gottes offengehalten und ist daher sinnstiftend und wirkmächtig, weil sich darin Gottes Verheißung und Treue ausspricht. Der freie Glaubensvollzug findet im biblischen Zeugnis den Verweis auf den sich offenbarenden Gott und die Gewissheit, dass sich die Geschichte nicht in sich selbst erschöpft, sondern gerade aufgrund ihrer eigenen Diskontinuität auf die Kontinuität des Ganzen bezogen ist. Die Geschichte steht im Bundesverhältnis mit Gott und ist auf diesen Bund hin perspektiviert, zu dem sich die menschliche Freiheitsgeschichte verhalten muss. Ist alles menschliche Handeln an die Geschichte gebunden, so realisiert sich das Bundesangebot Gottes ebenso nur geschichtlich und kann vom Menschen nur geschichtlich angenommen und realisiert werden: Heil kann dem Menschen nur in der Geschichte widerfahren. 903

Vgl. R. DEINES, „Das Erkennen von Gottes Handeln“, 411: „Die biblische Heilsgeschichte erweist ihre Kraft und ihre Wahrheit nämlich nicht zuerst darin, dass sie sich objektiv demonstrieren lässt, sondern indem sie subjektiv überall da als überzeugende Wahrheit erfahren wird, wo ein einzelner Mensch in der Begegnung mit der Geschichte Jesu Christi sein eigenes Leben als in diese Geschichte Gottes mit der Welt hineingestellt erfährt“. 904 M. HENGEL, „Heilsgeschichte“, 23 (Hervorhebungen im Original). Siehe auch K.-H. MENKE, Das unterscheidend Christliche, 43-46.

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„Es gibt kein Geschichtsverständnis“ – so der evangelische Systematiker C. Schwöbel – „ohne den Resonanzhorizont der Heilsfrage. Darum muss jede Geschichte als Heilsgeschichte oder Unheilsgeschichte erfahren werden. Umgekehrt kann darum die Heilsgeschichte oder Unheilsgeschichte nicht als ein besonderer Strang im Gesamtprozess der Geschichte isoliert werden. Vielmehr hat die Geschichte als ganze soteriologische Valenz. Der Gegensatz zwischen Heilsgeschichte und Universalgeschichte erweist sich so bei genauerer Betrachtung als unhaltbar. Heilsgeschichte ist eine Kategorie zur Qualifikation der Geschichte als Universalgeschichte“905

Besonders die Schriften des Alten Testaments sind von der Erfahrung durchdrungen, dass sich Gottes Heilswirken auf den Menschen und seine Geschichte bezieht und dass diese Geschichte von der Öffnung auf das Heilsangebot Gottes auf das Ganze ausgerichtet ist. Natürlich unterliegt auch die Heilsgeschichte der Deutung durch den Menschen; aber gerade in der Deutung der geschichtlichen Heilsmomente, von denen die biblischen Schriften zeugen, stellt sich der Deutungsakt in das Gesamt und in den Zusammenhang der einen Geschichte. Geschichte als Heilsgeschichte und Gottes Wirken darin zu erkennen bedeutet dann aber auch, dass sich Geschichte nicht auf Historie reduzieren lässt, sondern dass es zur Historie einen Sinn gibt, der erfahrbar ist und über die Historie hinausweist und zeigt, dass Geschichte sich nicht selber macht, sondern gerade von diesem Sinn getragen und noch nicht vollendet ist. Darin zeigt sich der Unterschied zwischen Historie und Heilsgeschichte, insofern die Teleologie der Historie Futur, die der Heilsgeschichte Advent ist. Das Futur zeichnet sich dadurch aus, dass es eine Zukunft und ein Ausgerichtetsein ist, das durch den Menschen selbst geschaffen und vollkommen von seiner Freiheitsgeschichte abhängig ist, um zu werden (fieri); Heilsgeschichte ist dagegen die Geschichte, in der der Mensch erfährt, dass es eine teleologische Zukunft gibt, die nicht einzig von seinem schaffenden Freiheitsvollzug abhängt, sondern ein eschatologisches Hinzukommen (advenire) ist und sich in der schöpferischen Mitgestaltung konkretisiert. Aber erst im Überschreiten des Futurs in den Advent wird der Mensch seiner Freiheitsgeschichte gerecht, indem er sich in seinem Fragen nach dem ausstreckt, der auf ihn zukommt, und sich dabei selbst überschreitet, denn „Geschichtsbetrachtung sub specie Dei fokussiert nicht, was der Fall gewesen ist, sondern was zukünftig eintreten soll“.906 Die Größe des Menschen liegt in seiner Geschichtlichkeit, die ausgespannt ist zwischen Kontinuität des Eigenen und Diskontinuität des Empfangens. Gerade wenn eine entsubstantialisierte Theologie nicht von einer transzendenten Wirkung Gottes auf die Geschichte 905 906

Vgl. C. SCHWÖBEL, „Heilsgeschichte“, 752. J. DIERKEN, „Heilsgeschichte – Religionsgeschichte – Offenbarungsgeschichte“, 158.

439

ausgehen will, so steht dem die transzendentale Ausrichtung des menschlichen Geistes und des menschlichen Vollzugs an sich entgegen, da in diesem transzendentalen Vollzug907 der Mensch nach der Bedingung von Geschichte fragt und in seinem Wollen danach ausgestreckt ist. Weil sich menschliche Geschichte im Netz des Wollens und der Freiheit befindet, ist sie auf die Ermöglichung von Freiheit ausgerichtet, die ihr entgegenkommt und sie über sich selbst erhebt. Es ist die menschliche Freiheit, die sich nicht den Naturgesetzmäßigkeiten unterwirft, sondern diese erkennt und zu gestalten versucht, indem sie von dieser Metaebene aus den Geschichtsvollzug auf ein Ziel hinlenkt, das ihr bereits adventisch entgegenkommt.908 Trifft heilsgeschichtliche Konzepte oft der Vorwurf, dass sie eine Geschichte getrennt von Profangeschichte konzipieren oder die Profangeschichte in Heilsgeschichte aufgehen lassen, so muss jedoch ein geschichtliches Denken anerkennen, dass sich Heil nicht getrennt oder außerhalb der Geschichte ereignen kann, zugleich aber die menschliche Freiheit sich zum Heilsangebot verhalten muss und sich Geschichte auch als Unheilsgeschichte ereignet. In diesem Wissen ist es die Frage der Freiheit im Menschen, die nach der Kontinuität in der 907 Vgl. K. RAHNER, Grundkurs des Glaubens, 143: „Sie – diese Transzendentalität als durch die vergöttlichende Selbstmitteilung Gottes getragene, ermächtigte und erfüllte – geschieht; sie ist nicht einfach. Darum haben wir auch gesagt, daß der Mensch das Ereignis der freien, ungeschuldeten und vergebenden Selbstmitteilung Gottes zur absoluten Nähe und Unmittelbarkeit ist. Und dies ist der Grund und das Thema, der Anfang und das Ziel der Geschichte des Menschen“ (Hervorhebungen im Original). K. Rahner zeigt in ebd. 145-147 auf, dass „Geschichte immer selber das Ereignis dieser Transzendenz ist“. Dabei wäre zu fragen, ob es im Grundkurs nicht zu einer starken Engführung von Heilsgeschichte und Geschichte kommt, wenn gelten soll: „Das Letzte der Geschichte selbst ist gerade die Geschichte dieser Transzendentalität des Menschen“, wobei der Autor sich für die Koexistenz von Heilsgeschichte und Weltgeschichte ausspricht (ebd. 147-149). 908 Vgl. C. BÖTTIGHEIMER, Wie handelt Gott in der Welt?, 202-205, hier 204: „In der Geschichte stellt sich das Tun des Menschen dar; sie ist gleichsam sein Produkt. Wenn Geschichte durch die freie Entscheidung und Tat des Menschen gestaltet wird, ist ein Wirken Gottes in der Geschichte im Sinne einer personalen Vermittlung prinzipiell denkbar. Soll die Geschichte Ort göttlichen Handelns sein, kann sie dies nur, indem sie über sich hinaus verweist, d. h. ihr eine Offenbarungsdimension zu eigen ist. Dies ist zunächst insofern der Fall, als der Mensch nicht nur Geschichte macht, sondern umgekehrt auch durch Geschichte bestimmt wird und insofern die Geschichte am Geheimnis des Menschen teilhat. In der Geschichte kommt das spezifisch Menschliche zum Tragen: Nicht nur seine Freiheit und Verantwortung, sondern ebenso seine Verfügtheit und Endlichkeit. Das macht Offenbarungssein der Geschichte aus“. Dies zeigt, dass die theologische Konzeption von Heilsgeschichte mit dem Offenbarungsverständnis zusammenhängt. Es wäre eine eigene Untersuchung, entsubstantialisierte Theologie nach ihrem Offenbarungsverständnis zu befragen. Es dürfte jedoch offensichtlich sein, dass das Auseinanderbrechen der christlichen Bibel, wie sie durch ein deistisches Denken befördert wird, in stringentem Zusammenhang mit einer Fassung von Geschichte als Heilsgeschichte steht.

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Geschichte sucht, damit Geschichte nicht in Unheilsgeschichte abstürzt, sondern immer wieder neu den Ausweg und damit den Weg zum Heil findet. Die Erfahrung, dass freiheitliche Geschichte das rettende Wort braucht, das sie von den Fesseln des Unheils und der Schuld befreit, verlangt nach der Wirklichkeit, die davor rettet, dass nicht die „Weltgeschichte das Weltgericht“ ist (F. Schiller): „Geschichte ist Ausschau nach göttlicher Offenbarung“.909 In der Offenbarung tritt dem fragenden und geschichtlichen Menschen die Wirklichkeit entgegen, die ihm den geschichtlichen Weg des Heils weisen möchte. Heilsgeschichte ist ein Verständnis der Geschichte, das in der adventlichen Spannung von Alpha und Omega910 steht, in der der Mensch seine Freiheit im Angesprochensein durch das Heilsangebot Gottes realisieren muss und in der es nicht zu einem Ausgleich, aber zu einem Zueinander von Kontinuität und Diskontinuität der Geschichte kommt. Christliche Hoffnung ist getragen und begründet von der Gegenwart, die vom Advent kommt. Dieser muss ein wirklicher, also ontologisch sein, wenn Heilsgeschichte nicht zur leeren Formel und zur Utopie verkommen soll und die Verheißungen Gottes Bestand haben sollen. Biblisch betrachtet gibt es keine Trennung von Ontologie und Geschichte, denn der Gott, der sich im brennenden Dornbusch mit seinem Namen geoffenbart hat, ist der Gott, der sein wird, weil er ist. Die Gegenwart ist jeweils eine Anamnese des Vergangenen und des Zukünftigen, womit Heil geschehen kann, das nicht ein Nachtrauern eines vergangenen Ereignisses und nicht leere Utopie ist, sondern die soteriologische Gegenwart (vgl. Lk 1,68-73).911 Daher muss nochmals 909

P. HÜNERMANN, „Geschichte versus Heilsgeschichte“, 173 (Hervorhebung im Original). Siehe dazu auch K. RAHNER, „Weltgeschichte und Heilsgeschichte“, 119-121. Es darf nicht übersehen werden, dass Geschichte an sich keine Heils- oder Unheilsgeschichte schaffen kann, sondern dass es Gottes Gericht ist, dem die Freiheitsgeschichte anheimgestellt ist und dadurch erst Heil ermöglicht und wirkmächtig wird. 910 Sieh dazu M. HENGEL, „Heilsgeschichte“, 12, der biblisch beschreibt: „Die Bibel ist, zumindest ,äußerlich gesehen‘, vom ersten bis zum letzten Kapitel, von Gen 1 bis Apk 22, das Buch der universalen ,Heilsgeschichte‘. […] Sie erklärt, warum der christliche Glaube und seine jüdische Mutter mehr als alle anderen geschichtsgebundene Religionen sind, und zwar in universalem Sinne. Am Anfang steht die ,Urgeschichte‘ von Welt und Menschheit, am Ende die consumatio mundi als uneingeschränkte Gottesherrschaft. D.h. die Geschichte hat ihr Ziel und ihren Abschluss im Eschaton. Die Urgeschichte endet in radikaler Reduktion bei einem Menschen, Abraham, von dem aus sich die Geschichte des von Gott erwählten Volkes Israel entfaltet. Die Endgeschichte beginnt mit dessen letztem Profeten [sic!], dem Täufer, und konzentriert sich wieder auf eine einzige Gestalt, Jesus Christus, den menschgewordenen Gottessohn, der die von ihrem Schöpfer abgefallene Menschheit mit diesem versöhnt“ (Hervorhebungen im Original). Siehe auch P. HÜNERMANN, „Geschichte versus Heilsgeschichte“, 179-180. 911 Vgl. J. RATZINGER, „Die Christologie im Spannungsfeld von altchristlicher Exegese und moderner Bibelauslegung“, in: DERS., Jesus von Nazareth. Beiträge zur Christologie,

441

unterstrichen werden, dass Profangeschichte der Raum ist, indem sich Heilsgeschichte ereignet, insofern sich Gottes Wort darin ausspricht und damit zugleich immer auf den verweist, der das Wort spricht, und zugleich die freie Annahme und das glaubende Hören des Wortes provoziert. „Das vollendete Heil“ – so Karl Rahner – „ist kein Moment in der Geschichte, sondern deren Aufhebung, kein Gegenstand des Besitzes oder der Herstellung, sondern des Glaubens, des Hoffens und des Gebetes“.912 Das Ziel von Geschichte ist nicht ein Endpunkt, sondern es muss bereits in der Gegenwart, genauer in der Gegenwart vom Advent her, seinen Fluchtpunkt haben. Nur darin kann Geschichte in ihrem Moment der Gegenwart als Anwesenheit Gottes gedacht werden. Es ist die Offenbarung Gottes, die bereits ergangen ist, die aber durch die Geschichte hindurch immer wieder neu an ihr Ziel kommen muss, das den Empfänger in der Annahme auf das Ziel der Offenbarung verweist. Geschichte als Heilsgeschichte ist damit weniger ein Faktum als vielmehr die Charakterisierung in der Verheißung. Der Heilsgeschichte ist ein anamnetisches Moment eingeschrieben, weil es gerade die Rezeptionsgemeinschaft ist, die durch ihr Verständnis biblischer Texte Geschichte prägt. Vergangenheit und Zukunft sind gleichermaßen im konkreten Lesen der Texte anamnetisch vergegenwärtigt, da es die ergangene Verheißung Gottes ist, die sich von der eschatologischen Vollendung her verwirklicht. Gottes offenbarungstheologisches Handeln zielt nicht auf einen einmaligen und einen historisch in sich geschlossenen Moment, sondern auf den Exodus der Geschichte in die adventliche Zukunft der Freiheit hin. Geschichte als Heilsgeschichte wird hierbei verwandelt und das anamnetische Gedächtnis ist das menschliche Erinnern an die Taten Gottes. Darin zeigt sich der tieferliegende Grund für die heilsgeschichtliche Anamnese, die im Gedächtnis Gottes als Subjekt eingeschrieben ist, „denn Gott ist es, der hic et nunc sein Heil schenkt und somit das biblisch bezeugte Heil fortsetzt und analog heute vollzieht“.913 Das vergegenwärtigt die Bibel als Wort Gottes im Bd. 2 (= JRGS 6,2), G.L. MÜLLER (Hg.), Freiburg – Basel – Wien 2013, 820-831, worin der Autor den Zusammenhang von biblischer Geschichte und metaphysischer Ontologie aufzeigt. Dabei hebt er heraus, dass ontologischer Inkarnationsglaube und das Ereignis von Tod und Auferstehung Jesu keine Gegensätze sind, sondern zusammengedacht werden müssen, um die soteriologische Valenz des biblischen Glaubens zu erweisen. Vgl. auch T. MAYER, Typologie und Heilsgeschichte, 156: Bei der pneumatischen Schriftauslegung geht es „um die Interpretation historischer Wirklichkeit unter dem Aspekt ihrer Heilsrelation und Erlösungsbedürftigkeit“. 912 K. RAHNER, „Weltgeschichte und Heilsgeschichte“, 115. 913 M. BENINI, Liturgische Bibelhermeneutik, 346. Weiter schreibt der Autor: „Vergegenwärtigung meint also nicht, dass sich das historische Geschehen an sich im Heute erneut ereignet, sondern dass die sich darin zeigende heilschaffende Zuwendung Gottes / Christi stets neu ergeht“ (ebd. 349).

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Menschenwort. Auch im Alten Testament ist dies bereits voll und ganz gegeben, weil sich das Volk Israel von der eschatologischen Führung Gottes im Bund geleitet weiß und darauf in seinem Handeln reagiert. Wenn das christliche Bekenntnis die Fülle der Zeit und damit der Geschichte in Jesus Christus, seinem Leben, Kreuz und Auferstehung sieht, dann ist das keine Absage an das vorhergehende, sondern die Vorwegnahme der Vollendung, die am Beginn im Bund Gottes zugesagt ist. Heilsgeschichte geschieht nicht durch Mutation oder Evolution, sondern durch Transformation – mehr noch, durch Transsubstantiation der menschlichen Freiheitsgeschichte, sodass Geschichte als Heilsgeschichte bereits „neue Schöpfung“ (vgl. 2 Kor 5,17) ist. Daher folgert T. Söding: „Durch Jesus Christus konstituiert Gott die eschatologische Kontinuität der Heilsgeschichte: Er steht zu seinen Verheißungen (2 Kor 1,20); er gibt seine Schöpfung nicht dem Untergang preis; er rettet seine Geschöpfe durch den Tod hindurch ins ewige Leben; er bejaht seine Erwählung Israels und realisiert die Verheißung, die er Israels Stammvater gegeben hat. Gleichzeitig schafft Gott durch Jesus wahrhaft Neues: die Ekklesia des Leibes Christi (1 Kor 10,16s.; 12,12-27; Röm 12,3s.; Gal 3,27ss.; cf. Eph 4,2ss.), die gleichberechtigte Partizipation der Heiden am ,Neuen Bund‘, die weltweite Mission, die Sakramente der Eucharistie und Taufe. Vor allem aber und in allem ist es die ,Hingabe‘ seines eingeborenen Sohnes bis in den Tod und seine Auferweckung von den Toten, wodurch wahrhaft ,Neues geworden‘ ist (2 Kor 5,17)“.914

In diesem Verständnis kann Kontinuität und Diskontinuität zusammengedacht werden, weil Geschichte dann nicht rein linear betrachtet wird, sondern unter dem Anspruch des freiheitlichen Vollzugs steht.

914

T. SÖDING, Einheit der Heiligen Schrift?, 314.

443

4.

Analogia fidei als bibelhermeneutisches Prinzip

4.1.

Analogia fidei als pneumatologische Korrelation

In Röm 12,6 spricht der Apostel Paulus über das Charisma der Prophetie in der Einheit des Leibes Christi. Damit diese Gabe allen Gliedern nützen und dem Aufbau der Gemeinde dienen kann, müsse sie kata. th/n avnalogi,an pi,stewj (secundum rationem fidei; Vulgata) erfolgen. Hat sich die östliche Theologie in der Interpretation an Röm 12,3 und dem me,tron pi,stewj (mensuram fidei; Vulgata) orientiert, was eine Begrenzung der Charismengaben durch den Glauben und in Übereinstimmung mit ihm bedeutet, insofern es der geistgewirkte und innerliche Glaube ist, so setzte westliche Theologie dagegen den Akzent auf die äußere Begrenzung der Charismen und wollte die analogia fidei im Rahmen der regula fidei verstehen, womit die Glaubensanalogie mit der Offenbarungswirklichkeit verbunden wurde.915 Was ausgehend davon als analogia fidei beschrieben wird, hat eine weite Bedeutungsgeschichte916 hinter sich. In der kirchlichen Auslegung kann die analogia fidei so interpretiert werden, dass damit subjektiv die fides qua oder objektiv die fides quae bezeichnet ist und für das Charisma der Prophetenrede leitend ist. Die Auslegungsgeschichte aber zeigt, dass es zu einer stärkeren Rezeption des objektiven Verständnisses und die analogia fidei als christologische und ekklesiologische regula fidei verstanden wurde. Nicht zuletzt ist der Begriff zu einer konfessionellen Abgrenzungsterminologie

915

Vgl. A. STOCK, Namen, 168-169: „Interpretiert man die analogia fidei von Röm 12,6 in diesem Sinne als regula fidei, so wird der Prophetie, und d.h. allem jeweils neuen Reden im Namen Gottes, ein extrinsischer Maßstab gesetzt, der amtlich gewahrte, in Bekenntnissen sich niederschlagende kirchliche Glaube. An ihm ist jede Innovation zu messen, ob sie als dienlich oder als schädliche Häresie einzustufen ist“. 916 Vgl. zur Begriffsgeschichte und Auslegung der analogia fidei: E. PRZYWARA, Art.: Analogia fidei, in: LThK1 1, 473-476; [in Folge: E. PRZYWARA, „Analogia fidei“]. B. GERTZ, Glaubenswelt als Analogie, 13-104; T. MARSCHLER, „Analogia fidei“, 209228; K.-H. MENKE, Art.: Analogia fidei, in: LThK3 1, 574-577; [in Folge: K.-H. MENKE, „Analogia fidei“]; L. SCHEFFCZYK, Art.: Analogia fidei, in: SM(D) 1, 133-138; [in Folge: L. SCHEFFCZYK, „Analogia fidei“]. A. J. SPENCER, The analogy of faith. The quest for God’s speakability, Downers Grove 2015, 31-179; [in Folge: A. J. SPENCER, The analogy of faith].

444

geworden, wenn K. Barth917 die analogia fidei als Gegenentwurf zur analogia entis bei E. Przywara918 verstanden wissen wollte. Allgemein wird als Analogie der Zusammenhang eines Begriffs in unterschiedlichen Kategorien verstanden. Analogie ist nicht nur die Voraussetzung für menschliches Sprechen im Zusammenhang mit dem Denken, sondern auch eine Form der Wirklichkeitserschließung. Wenn menschliches Denken und Sprechen über das rein Gegenständliche der Univozität hinausgehen wollen, braucht es die Vermittlung der Analogie, die eine Beziehung und damit eine Denk- und Sprachmöglichkeit bildet. Die Wirklichkeit bietet keine Eindeutigkeit im Erkennen, sondern ein Einzelnes weist immer auf ein Anderes hin. Dieser Zusammenhang ist aber sprachlich und gedanklich nur in Beziehung zu verstehen, wenn dieser Zusammenhang überhaupt gefasst werden soll. Wenn menschliche Sprache sich nun auf Gott bezieht, so gibt es keinen Begriff, der sowohl Mensch als auch Gott umfängt und ihnen gemeinsam wäre. Sollten dennoch Aussagen über Gott getroffen werden, so kann dies nur geschehen, wenn der positiven Aussage ein negatives Moment innewohnt, das in der Aussage dessen, was ist, gleichzeitig das mit aussagt, was nicht ist.919 Weil sich die Analogie auf 917

Vgl. dazu B. GERTZ, Glaubenswelt als Analogie, 161-167; K.-H. MENKE, Stellvertretung. Schlüsselbegriff christlichen Lebens und theologische Grundkategorie (= SlgHor 29), Einsiedeln 21997, 168-193; A. J. SPENCER, The analogy of faith, 180238.293-309; M. HELD, Gabe der Analogie. Phänomenologische Erkundungen zu einer theologischen Denkform (= Theologie – Kultur – Hermeneutik 23), Leipzig 2017, 256275; [in Folge: M. HELD, Gabe der Analogie]. 918 Vgl. E. PRZYWARA, Art.: Analogia entis, in: LThk1 1, 468-473; [in Folge: E. PRZYWARA, „Analogia entis“]. Siehe dazu B. GERTZ, Glaubenswelt als Analogie, 207249; allgemein zur analogia entis: G. RÉMY, „L’analogie et l’image. De leur bon usage en théologie“, RSR (2004) 383-427, 384-408; [in Folge: G. RÉMY, „L’analogie et l’image“]. G. L. MÜLLER, Art: „Analgie. II. Theologisch“, in: LThK3 1, 579-582; M. HELD, Gabe der Analogie, 218-255. 919 Vgl. L.-M. CHAUVET, Symbol und Sakrament, 50-52. Der Autor kritisiert bei der Analogie, dass sie das Denken vor die Sprache setzt, weil dies die Denkvoraussetzung der Onto-Theologie sei, was aber zum Vergessen der ontologischen Differenz führe. Eine Onto-Theologie vergesse dabei aber, dass jedes Denken die Sprache zur Voraussetzung hat. Dennoch gesteht er zu, dass die Analogie unumgänglich ist. Darum verfolgt der Autor das Anliegen, „an einer Sprache [zu arbeiten], von der das gläubige Subjekt nicht getrennt werden kann – so wie das Sprechen untrennbar vom Sein oder das Dasein vom Sein ist. In der Theologie wie in der Philosophie kann das Subjekt nichts ,ergreifen‘, ohne selbst bereits ergriffen zu sein“ (ebd. 55; Hervorhebungen im Original). Siehe auch die kritische Auseinandersetzung mit den philosophischen Grundannahmen L.-M. Chauvets bei T. SCHÄRTL, „Metaphysische Blockaden. Eine Auseinandersetzung mit den philosophischen Dogmen in der Sakramententheologie Louis-Marie Chauvets“, in: M. STUFLESSER (Hg.), Fundamentaltheologie des Sakramentalen. Eine Auseinandersetzung mit Louis-Marie Chauvets „Symbol und Sakrament“ (= Theologie der Liturgie 9), Regensburg 2015, 49-79, der zwei „hoch problematische Dogmen“ in der Sakramentenlehre des französischen Theologen ausmacht: „1. Sein (wahlweise: Substanzontologie) ist statisch. 2. Begreifen begrenzt, ja, zersetzt das Begriffene“ (ebd.

445

die Wirklichkeit bezieht, ist sie auf das Sein ausgerichtet, weshalb G. Söhngen die analogia entis kurz definiert: „Philosophisch besagt die analogia entis Einheit der Entsprechung zwischen Wesensverschiedenem; es ist eine überwesentliche Einheit“.920 Die Wesensverschiedenheit ist hierbei das Verbindende in der Entsprechung, das Gemeinsame ist die partizipative Verwiesenheit. Die Analogienlehre schafft damit eine Verbindung von Diskontinuität und Kontinuität, von Einheit und Verschiedenheit. Es geht um die Wahrung des Konkreten in dessen Relation zum Ganzen, wobei beide Größen ihre eigene Struktur beibehalten sollen. Erst in dieser Spannung zeigt sich die Wirklichkeit als das immer größere Ganze, das sich zwar darin ausdrückt, aber darin nicht aufgeht.921 Wenn analogia entis sich auf das Sein bezieht, so darf analog922 dazu die analogia fidei auf die 54). Dahinter sieht der Philosoph den Fehler, dass sich L.-M. Chauvet der Kritik Heideggers am abendländischen Denken anschließt und „damit Opfer jener kapitalen Fehleinschätzung [wird], die Heideggers Metaphysikkritik und Heideggers Bewertung der ontologischen Tradition seit Platon prägen“ (ebd. 57). Siehe auch J. REIKERSTORFER, „Analogia Entis – Grundlage und Krise der Gottesrede?“, in: E. SCHMETTERER – R. FABER – N. MANTLER (Hgg.), Variationen zur Schöpfung der Welt. Raphael Schulte zu Ehren, Innsbruck 1995, 184-199, 187: Im Ausdruck Gottes als Schöpfer „wird Gott weder unkritisch der Erfahrungswelt angeglichen (,non univoce‘) noch auch dem Sprachund Verständnishorizont der Schöpfung selber gänzlich entrückt (,non aequivoce‘), sondern in seiner absoluten Transzendenz vermittelt“. 920 G. SÖHNGEN, „Analogia entis in analogia fidei“, in: E. WOLF – C. V. KIRSCHBAUM – R. FREY (Hgg.), Antwort, FS für Karl BARTH, Zürich 1956, 266-271, 266 (Hervorhebung im Original); [in Folge: G. SÖHNGEN, „Analogia entis“]. 921 Vgl. W. KASPER, „Prolegomena zur Erneuerung“, 516-517: „Die Analogielehre will im Grunde die begriffliche Auslegung der Verweisstruktur der Wirklichkeit sein. Sie will Zusammenhänge aufzeigen, ohne die Individualitäten aufzuheben. Sie will also Einheit und Verschiedenheit zugleich wahren. So geht sie davon aus, daß jedes Wort und jede Tat über ihre Einzelbedeutung hinaus einen Überschuß an Bedeutung hat und so auf ein größeres Ganzes verweist. […] Dieses Ganze können wir nicht auf den Begriff bringen, wir haben es nur im Vorgriff, sozusagen als regulative Idee. Denn jede begriffliche Definition bedeutet ein Umschreiben, das nur von einem nochmals höheren und umfassenderen Standort aus möglich ist. Deshalb kann das Ganze wesensgemäß nicht begriffen werden; es bleibt die leitende und doch zugleich bohrend offene Frage in jeder Erkenntnis“ (Hervorhebungen im Original). 922 Die Analogie ist hier so zu verstehen, dass die analogia fidei nicht aus derselben Wesensordnung wie die analogia entis stammt. Analogia fidei ist nicht Mitteilung von Wesen und Sein, sondern von Gnade und wird daher von G. Söhngen zur analogia actionis gezählt, da es um Mitteilung von Gnade geht. Dennoch gilt: „Daß in der katholischen Theologie sich doch die Sprache des Wesenseins mitten in der Gnade selbst angesiedelt hat, darf uns nicht des rechten Augenmaßes berauben, daß in der Lehre von der Gnade alle Sprache des Wesenseins zum mindesten von der Sprache des Tätigseins zu begrenzen ist. Wie wäre auch die geheimnisvolle Mitte zu denken zwischen Gottes wesenhafter Selbstmitteilung durch die innergöttlichen Hervorgänge und Gottes Mitteilung eigenwesentlichen und eigenwirklichen Seins durch die Schöpfung, wenn nicht als Gottes Selbstmitteilung göttlichen Lebens durch gottgeschenkte Befähigung des geschöpflichen Geistwesens zu übernatürlichem Tätigsein. Ohne analogia entis keine

446

Offenbarung Gottes hin ausgesagt werden. Ist Erstere das innere Strukturprinzip von Letzterer, so kann die Glaubensanalogie nicht als ein Mittleres zwischen der Univozität und Äquivozität von Glaubensaussagen gedeutet werden, sondern sie stellt die pneumatologisch ermöglichte Einsicht in die Offenbarung dar, in der anabatische und katabatische Theologie zusammenkommen.923 Gott teilt sich selbst personal mit, worauf der Mensch sowohl in der fides quae als auch in der fides qua bezogen ist. Die beiden fides dürfen nicht voneinander getrennt betrachtet werden, denn sie bedingen einander. Der subjektive Glaube muss vom objektiven Glauben der Kirche getragen sein; der objektive Glaube wird erst im subjektiven Glauben Wirklichkeit, weil es den lebenswirklichen Vollzug davon braucht, auf den sich die Selbstmitteilung Gottes bezieht. Die Selbstmitteilung Gottes per analogiam fidei ist die Gewähr dafür, dass der Glaube nicht die Stellung und den Stellenwert der Offenbarung einnimmt, wie es instruktionstheoretisch missverstanden werden kann und wurde, sondern immer darauf rückgeworfen ist. Damit ist auch dem Missverständnis entgegnet, dass die Glaubensanalogie ein „Überbau einer ,metaphysischen Analogia entis‘“924 sei, denn der Glaubensvollzug kann die materiale Offenbarung nicht bestimmen. Glaubensanalogie ist vielmehr die Überzeugung, dass der Glaubensvollzug des Einzelnen an den Glauben und an das Offenbarungszeugnis der Kirche rückverwiesen ist. Wenn nun davon ausgegangen werden kann, dass die Selbstoffenbarung Gottes ihre Fülle in Jesus Christus hat und in ihm sich Gott ganz und gar aussagt, dann ist auch das Band der Analogie von Offenbarung und Glauben bzw. Offenbarungszeugnis und Auslegung pneumatologisch vermittelt. Es ist jedoch die entscheidende Frage in der Interpretation der Glaubensanalogie, inwiefern und was der Mensch aufgrund der Analogie von der Offenbarung Gottes versteht: Können dadurch objektive (und seien sie selbst apophatische) Aussagen über Gott getroffen werden oder bleiben es nur subjektive und vom Evangelium gezeichnete Angaben. analogia fidei“. G. SÖHNGEN, „Analogia entis“, 269-270. Zum Verhältnis der analogia entis zur analogia fidei bei E. Przywara siehe B. GERTZ, Glaubenswelt als Analogie, 316318: „Das Verhältnis zwischen analogia fidei und analogia entis ist ein nicht weiter rückführbares Mysterium. Vor ihm springt, wie vor jedem Mysterium, das Denken in Stücke. Es lassen sich deshalb nur fragmentarische, bestenfalls aphorismenhafte Hinweise geben“ (317). Der Jesuiten-Theologe versteht das Verhältnis beider analogiae als „Kreuzung“, weshalb beide in der im Christusmysterium verankert sind und dort gründen. 923 Vgl. M. HELD, Gabe der Analogie, 17-20. Der Autor zeigt auf, dass katabatische und anabatische, also positive und negative Theologie nur im Zueinander sinnvoll gedacht werden können, da sie jede für sich genommen nicht möglich ist. Daher möchte er in seiner Studie die These erörtern: „Ohne Analogie gibt es keine sachgemäße Rede von Gott […]“ (26). 924 E. PRZYWARA, „Analogia fidei“, 474.

447

So versteht der Augsburger Dogmatiker T. Marschler die analogia fidei als „Ausgangspunkt jeder theologischen Sprachenlehre“ und „innerdogmatisches Entsprechungsprinzip“,925 die Voraussetzung dafür ist, überhaupt sinnvolle Aussagen über die Offenbarung Gottes treffen zu können, wenn das christliche Bekenntnis nicht fideistischer oder schriftfundamentalistischer, sondern vernunftgemäßer Glaube sein will. Die Glaubensanalogie bindet den Glauben an die Offenbarung, der dann auch nur von ihr her zu verstehen ist. Alles, was die Offenbarung bezeugt (Schrift) und auslegt (Tradition), ist selbst immer darauf relativiert.926 Offenbarung ist nicht einfach gegeben, sondern bedarf immer auch der Erschließung durch den Glauben. „Denn Offenbarung“ – so J. Ratzinger – „wird immer und nur erst da Wirklichkeit, wo Glaube ist. Der Nichtglaubende bleibt unter dem Schleier […]. Er kann die Schrift lesen und wissen, was in ihr steht, sogar rein gedanklich begreifen, was gemeint ist und wie ihre Aussagen zusammenhängen – dennoch ist er nicht der Offenbarung teilhaftig geworden. Offenbarung ist vielmehr erst da angekommen, wo außer den sie bezeugenden materialen Aussagen auch ihre innere Wirklichkeit selbst in der Weise des Glaubens wirksam geworden ist. Insofern gehört in die Offenbarung bis zu einem gewissen Grad auch das empfangende Subjekt hinein, ohne das sie nicht existiert. Man kann Offenbarung nicht in die Tasche stecken, wie man ein Buch mit sich tragen kann. Sie ist eine lebendige Wirklichkeit, die den lebendigen Menschen als Ort ihrer Anwesenheit verlangt“.927

Ein analoges Denken und Sprechen ermöglicht es offenbarungstheologisch, Aussagen über Gott zu treffen, ohne dabei die Unberührbarkeit und Unaussprechbarkeit Gottes zu mindern. Der sich geoffenbart habende Gott bleibt bei aller Ähnlichkeit der Aussagen über ihn in der je größeren Unähnlichkeit seines Seins erhaben (vgl. DH 806). Aber in dieser ontologischen und offenbarungstheologischen Fundamentaldifferenz bleiben alle Aussagen auf Gott bezogen, weil sie von der Offenbarung her durch deren Zeugnisse kommen.928 Obwohl 925

T. MARSCHLER, „Analogia fidei“, 212. Vgl. ebd. 210: „Analoges Denken ist vielmehr stets vermittelndes Denken, sofern dem Theologen die notwendige Frage gestellt ist, was es bedeutet, dass unsere Rede über Gott und die Inhalte der Offenbarung auf Begriffe angewiesen ist, die ihren Ursprung in der menschlichen Erkenntnis der Welt besitzen, und wie unser theologischer Umgang mit ihnen der göttlichen Realität ent-sprechen kann“. Siehe auch G. SÖHNGEN, „Analogia entis“, 267. 927 J. RATZINGER, „Ein Versuch zur Frage des Traditionsbegriffs“, in: DERS., Glaube in Schrift und Tradition. Zur theologischen Prinzipienlehre, Bd. 1 (= JRGS 9,1), G. L. MÜLLER (Hg.), Freiburg – Basel – Wien 2016, 391-431, 400; [in Folge: J. RATZINGER, „Traditionsbegriff“]. 928 Vgl. in Anschluss an E. Przywara A. STOCK, Namen, 170: „In der similitudo des lateinischen Textes [von DH 806; Anm. d. Verf.] erkennt Przywara die analogia, und was dem nächsten Wortlaut nach eine prädikationslogische Regel (notari/notanda) ist, eine 926

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der menschliche Ausdruck begrenzt und fragmentarisch ist, vermag er dennoch Wahres über seinen ausgesagten Gegenstand auszudrücken. Nur in dieser Hinsicht ist es sinnvoll und verständlich, vom Gotteswort im Menschenwort zu sprechen. Gott spricht sich in den menschlichen Worten der Bibel aus, weil es eine ontologische Beziehung zwischen Gott und Mensch und der jeweiligen Wirklichkeit gibt. In dieser Beziehung kommt es jedoch nicht nur zur Erschließung des göttlichen Mysteriums als Schöpfer, sondern ebenfalls zu einem besseren Verständnis des Geschaffenen.929 Wenn E. Przywara die analogia entis als reductio in mysterium versteht und sich menschliche Rede auf Gott als Schöpfer bezieht,930 dann ist gerade damit die Tiefe der Gotteserkenntnis erreicht und ein Ausgleich zwischen katabatischer und anabatischer Theologie vollzogen, indem es zur unaussagbaren Aussage über Gott und seine Offenbarung kommt. Die reductio in mysterium gilt nicht nur für das Sein, sondern betrifft auch das Verständnis des Offenbarungszeugnisses im Alten und Neuen Testament, weshalb diese Rückführung in das Mysterium auf die analogia fidei und damit auf das Verhältnis der Bibel zu Gott als ihrem Urheber angewendet werden kann. Die Bibel ist Gotteswort im Menschenwort und bezeugt die Selbstmitteilung Gottes. Je mehr sie aber von der Offenbarung aussagt, umso mehr führt sie in das Mysterium der Unbegreiflichkeit Gottes hinein.931 Auslegung biblischer Schriften sagt daher wirklich und wahrhaft etwas über die Offenbarung Gottes und damit über Gott selbst aus, wenn analogia fidei von der analogia entis her,932 beides aber vom Mysterium Gottes und seiner Selbstmitteilung in der Schöpfung und in der Schrift verstanden wird. Nur in dem Verständnis, dass die analogia entis der Grundstock der analogia fidei ist, kann vom Gotteswort im Menschenwort Regel also, die jede Aussage über Gott als Schöpfer der Welt betrifft, versteht er als ontologische Urstruktur des als Schöpfung, d.h. in der Spannung von Schöpfer und Geschöpf verstandenen Seins: analogia entis“. 929 Vgl. T. MARSCHLER, „Analogia fidei“, 211: „Wenn wir im Ausgang von Geschöpflichem über Göttliches sprechen und vom Göttlichen das Geschöpfliche tiefer zu verstehen suchen, geht es also niemals um die bloße Verlängerung einer analogia entis in die Sphäre des Geoffenbarten hinein, sondern vielmehr um die Indienstnahme und Überbietung der begrifflich erfassten geschöpflichen Realitäten zugleich […]“. Siehe auch G. L. MÜLLER, Vom Vater gesandt, 44-46. 930 Vgl. E. PRZYWARA, „analogia entis“, 471-472. 931 Vgl. A. STOCK, Namen, 271: Für die Bibel „gilt in spezifischer Weise, was in der analogia entis für die Welt insgesamt gesagt wird“. 932 Vgl. ebd. 172: „Indem die analogia fidei die analogia entis so als Formprinzip in sich aufnimmt, wird die Fluchtung aller Offenbarung wie ihrer Auslegung und Überlieferung auf die Erkenntnis Gottes hin sichtbar: Seipsum revelavit. analogia fidei ist also nicht eine äußere feste Regel, die dem offenen Spiel der Exegese entgegengesetzt wird, sondern bezeichnet die innere Struktur ihres Gegenstandes wie ihrer Methode“. Siehe auch G. RÉMY, „L’analogie et l’image“, 398-399.

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gesprochen werden: Das selbstausgesprochene Wort Gottes bleibt ein und dasselbe, auch wenn es das Wort Gottes im zu ihm unterschiedenen Zeugnis der Schrift ist und sich darin auslegt. Die reductio in mysterium bedeutet nicht die absolute Unerkennbarkeit Gottes, was dem Verständnis von Offenbarung als Selbstmitteilung widersprechen und einem instruktionstheoretischen Verständnis Tor und Tür öffnen würde, weil es dann autoritative und geschichtsunabhängige Aussagen über Gott bräuchte. Gerade die Auslegung der biblischen Schriften in der Einheit der christlichen Bibel und im Licht der analogia fidei ermöglichen geschichtlich vergewisserte Erkenntnis, die die Transzendenz Gottes nicht aufhebt, aber sie auch nicht von der Immanenz trennt. Die reductio in mysterium der analogia fidei ist damit zugleich reductio in concretum. Die Glaubensanalogie muss besonders in Bezug zur biblischen Hermeneutik in ihrer Bedeutungsfülle verstanden werden, insofern durch sie sowohl fides qua als auch fides quae zusammenkommen und nicht voneinander getrennt werden. Es ist die persönliche Ansprache biblischer Texte an den Leser und das Festhalten der Kirche an der Einheit der Bibel, die die Auslegung und das Verständnis leiten müssen. In dieser Korrelation ist die Einheit beider Testamente nicht durch ein in der Schrift selbst angelegtes Prinzip gegeben, sondern durch die auslegende Einsicht in die analoge Struktur biblischer Texte als Offenbarungszeugnis Gottes und als sein Wort. Die Korrelation besteht in der gegenseitigen Relativierung, insofern sich Altes und Neues Testament aufeinander beziehen. Darum kann eine biblische Aussage immer nur von der Gesamtoffenbarung her gedeutet werden, ohne dabei den Eigenwert einer Aussage durch die Gesamtaussage zu harmonisieren, sondern im Mysterium der Offenbarung Gottes zu verstehen. Die analoge Korrelation ist daher gegeben, da es die eine pneumatologische Inspiration der Schriften ist, die zugleich die Glaubensaussagen über die Offenbarung in dieser Verbindung hält. Darum folgert T. Marschler in seinem Beitrag zur analogia fidei: „Damit steht der Begriff der analogia fidei vor allem für die theologische Überzeugung, dass das Maß der Schriftauslegung nicht bloß ein letztlich dezisionistisch begründeter biblischer Kanon und auch nicht eine bloß positivistisch zu verstehende kirchliche Auslegungsgeschichte ist. Man könnte sagen: Im Begriff der analogia fidei wird greifbar, dass hinter der Überzeugung von der inneren Zusammengehörigkeit der Schrift und von der inneren Einheit, die Schrift, Tradition und Lehramt der Kirche verbindet, ein einziges pneumatologisches Grundprinzip steht“.933 933

T. MARSCHLER, „Analogia fidei“, 229. Vor einer zu schnellen Anwendung warnt M. GERHARDS, Protoevangelium: 189: „Wird die analogia fidei zu eng gefasst und zu schnell angewendet, wird die Vielfalt der biblischen Texte nicht mehr gewürdigt.

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Weil die analogia fidei ein Korrelationsprinzip ist, ist eine Schrifthermeneutik, die sich dem pneumatologischen Wirken öffnet, nicht als vormodern abzukanzeln. Der Bezug zur Auslegung gemäß dem Gesamtzusammenhang der Bibel als Offenbarungszeugnis in deren Einheit ist nicht losgelöst von der direkten und historischen Untersuchung. Gerade die Analogie ermöglicht eine Wechselwirkung, die die historische Kritik und die pneumatische Auslegung vor dezisionistischen Einschreibungen in das Offenbarungszeugnis bewahrt. Die reine historische Betrachtung biblischer Texte kann über die Festschreibung relativer Urteile nicht hinausgehen. Dazu braucht es die pneumatologische Weitung und die Erkenntnis, dass sich die einzelnen historischen Ereignisse in die Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen einfügen lassen. Nur in diesem Verständnis kann auch der Historie ein normativer Charakter zugesprochen werden, indem sie vom Konjunktiv des Möglichen zur Wirkung des Faktischen gelangt und das Werden des Offenbarungszeugnisses nicht als zufällig, sondern als auf das Heil des Menschen zielende und pneumatologisch geführte Wahrheit annimmt. Die Glaubensüberzeugung der Wahrheit Gottes lebt von Voraussetzungen, die sie sich selber nicht geben kann, sondern in die sie vom Geist Gottes geführt wird.934 Das historische Werden biblischer Schriften und damit der geschichtliche Ausdruck der Offenbarung Gottes zeigt die Entwicklung der Glaubensaussagen, ohne damit die Heilswahrheit der Offenbarung rein relativistisch anzusehen. Die analogia fidei ist das verstehende Band, das die historische Kontingenz ernstnehmen lässt und zugleich die Heilswahrheit der Offenbarung annehmen kann. „Zwischen beiden“ – so T. Marschler – „ein notwendiges, inneres Band anzunehmen, ist selbst schon ein Glaubensurteil, indem vorausgesetzt wird, dass der aus historischer Sicht stets akzidentiell bleibende Schritt vom

Womöglich kommt es zu ,Gewaltexegesen‘, die sperrige und ärgerliche Aussagen zu entschärfen oder zu beseitigen suchen, um ein möglichst einheitliches biblisches Zeugnis herbeizuzwingen“. 934 Vgl. T MARSCHLER, „Analogia fidei“, 232: „Die unserer subjektiven Reflexion immer schon vorausgehende und jeder historischen Rekonstruktion als solcher entzogene Synthesis des Glaubensurteils, in dem sich die Offenbarungsgeschichte in ihrem Sinn erst klar erschließt, müssen wir als Werk des Gottesgeistes im Raum der Kirche verstehen“. Schöpfungstheologisch argumentiert dafür S. MÜLLER, Kritik und Theologie, 454: „Der geistige Schriftsinn bezeugt als historisch ausbuchstabierte Dynamik der Entsprechung (Analogie) zwischen Gott und Mensch die analogia entis, d.h. die […] Bewegung des Menschen in Gottes Leben hinein. […] Weil Gott der Schöpfer von Himmel und Erde ist, können Thomas, Ribera und Simon von einer in der göttlichen Wahrheit begründeten Eigensinnhaftigkeit, einem Selbststand der Dinge sprechen. Nur im Kontext einer Schöpfung, die im Kern zu Freiheit und Liebe gerufen ist, gibt es eine über die Faktizität hinausreichende Bedeutung der Ereignisse. Die Theologie kann gegenüber der Wirklichkeit hermeneutischen Anspruch erheben, weil deren Urgrund unverfügbare, jedoch aus Gnade sich ihr zueignende personale Freiheit ist […]“.

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Ereignis zum deutenden Bekenntnis vom Geist Gottes geleitet wurde und darum als für alle Zeiten verbindlich anzusehen ist. Der kirchliche Glaube, der nach seinem Ereignisgrund fragt, kommt aus diesem Zirkel niemals heraus – und er muss es auch nicht, weil er begreift, dass sich die Selbstmitteilung Gottes nicht in der Sendung des Sohnes erschöpft, sondern notwendig die Sendung des Geistes einschließt, in der die Offenbarungswahrheit erst vollkommen erfasst, als erkannte Wahrheit sogar überhaupt erst konstituiert wird“.935

Die analogia fidei kann somit als der Ausganspunkt und das Ziel biblischer Hermeneutik verstanden werden, in deren Raum sich eine pneumatisch-kritische Auslegung der Schrift zu bewähren hat. Dieser Zwischenraum zwischen Ausgang und Ziel ermöglicht damit auch die notwendige Eigenständigkeit und Freiheit der hermeneutischen Methoden. Indem sich eine hermeneutische Methode durch die Glaubensanalogie in die Beziehung des pneumatologischen Wirkens nehmen lässt, ist sie als eine theologische Methode zu werten. Es ist darin das theologische und offenbarungsgemäße Apriori gegeben, das eine biblische Hermeneutik theologisch qualifiziert, weil sich in der analogia fidei als fides qua die persönliche Hineinahme in den Inspirationsgedanken und als fides quae in den Gesamtzusammenhang der Offenbarung auftut. Es ist die legitime Voraussetzung, dass historische Kritik nicht vom Glaubenscharakter, und pneumatische Auslegung nicht vom Geschichtscharakter der Offenbarung lassen kann. In diesem sich nicht nur gegenseitig relativierenden, sondern sich auch gegenseitig begründenden und stärkenden Zusammenhang biblischer Hermeneutik lässt sich die Einheit der Bibel aus Altem und Neuem Testament verstehen. Alt- und neutestamentliche Offenbarung sind „zu einer solchen Einheit [verbunden], in der eine ,Einheit noch so großer Ähnlichkeit‘ notwendig zuletzt als ,Einheit je immer größerer Unähnlichkeit‘ (wie sie zu ,Gott als Urheber‘ gehört) sich darstellen muß“.936 Beide Testamente sind ein gleichwertiger Teil der Offenbarungsgeschichte, so wie die Theozentrik des Alten Testaments implizit durch die pneumatologisch begründete analogia fidei christologisch und die Christozentrik des Neuen Testaments theozentrisch verstanden werden kann.937 Wenn die Enzyklika Providentissimus Deus die analogia fidei mit der regula fidei verbindet, versteht sie sie auf die eine Offenbarung Gottes und darin auf den Glauben der Kirche bezogen. Schriftauslegung im Horizont der Glaubensanalogie bewahrt die Auslegung davor, 935

T. MARSCHLER, „Analogia fidei“, 231 (Hervorhebungen im Original). E. PRZYWARA, „Analogia fidei“, 475. 937 Vgl. A. STOCK, Namen, 171: „Im ersten Angang wäre analogia fidei also der Versuch, was in der Hl. Schrift statisch nebeneinander und gegeneinander steht, in die Schwingung eines Zueinander zu bringen […]“. 936

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Schrift und Tradition nicht als die Offenbarung Gottes zu identifizieren, weil sie durch pneumatologische Vermittlung und Bindung auf die Offenbarung verwiesen ist. Darin wird der Zeugnischarakter jeder Hermeneutik gewahrt, wenn sie bei aller Ähnlichkeit zur Offenbarungsaussage die je größere Unähnlichkeit der Offenbarung selbst herausstellt, wie sie in beiden Testamenten bezeugt wird und erst eschatologisch ihre heilsgeschichtliche Vollendung erfährt. Darum kann in einer Auslegung nach der analogia fidei das christologische Analogieprinzip der hypostatischen Union zum Tragen kommen, weil sich in ihm der unaussprechliche Gott verstehbar gemacht hat. Die christologische Auslegung des Alten Testaments kann als eine Übersetzung des sich darin unaussprechbaren Gottes durch sein verstehbares Wort gedeutet werden, insofern „das Christus-Ereignis als den die Schrift [= Altes Testament; Anm. d. Verf.] auslegenden Geist“938 verstanden wird. Dies bedeutet dann aber keine christologische Vereinnahmung dieser Schriften, weil die Auslegung mit dem theologischen Prinzip die bleibende Unähnlichkeit bestehen lässt. Die analogia fidei ermöglicht die Auslegung des Alten Testaments in Übereinstimmung mit dem Neuen Testament,939 weil es zu keiner direkten, sondern zu einer relativen Übereinstimmung der Testamente kommt. Es ist der Logos, der die Einheit beider Testamente wirkt, weil in ihm konkret die Offenbarung gegeben ist, die in der analogia fidei erkannt wird. Die christologische Lesart des Alten Testaments ist dadurch keine wörtliche, sondern eine pneumatologisch geweitete Entsprechung der Texte auf das Christusmysterium, das seinerseits aber im Gottesmysterium gründet. Eine Eingrenzung des Glaubensverständnisses auf das Evangelium Christi, wie es nur Christen annehmen können, wäre eine Eingrenzung der Offenbarung Gottes, indem eine Offenbarungsaussage absolut gesetzt wird, ohne sie in den Zusammenhang der Gesamtoffenbarung zu stellen. Das Alte und das Neue Testament bilden den Erfahrungsraum, in dem die Offenbarung vernommen und ausgelegt werden kann, und dieser Raum immer wieder auf die je größere Andersartigkeit der Offenbarung hinweist, die durch die Auslegung gesprochen ist. Eine Glaubensaussage kann nur dann einen normativen Charakter beanspruchen, wenn sie in diesem Raum ihre Formung erhält und auf die den Raum bildende Größe und 938

J. RATZINGER, „Traditionsbegriff“, 401. Vgl. E. PRZYWARA, „Analogia fidei“, 474-475. Der Theologe der Analogie unterstreicht, dass es der patristischen Theologie gelang, die Aussagen des Alten und Neuen Testaments aufeinander zu beziehen und damit die Einheit beider Testamente zu wahren. Es ist gerade die linear-direkte Auslegung des Alten Testaments, die „allen Häresien zugrunde liegt“ (475). Hier dürfte auch eine gnoseologische Voraussetzung der marcionitischen Ablehnung des Alten Testaments liegen, die einen univoken Vergleich beider Testamente und damit des Schöpfer- und Erlösergottes annehmen. Siehe auch K.-H. MENKE, „Analogia fidei“, 575-576 mit dem Hinweis auf die römische Schule. 939

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Wirklichkeit rück- bzw. über-wiesen ist, die die Normativität der Aussage ermöglicht.940 Die Kirche ist im Wort der Offenbarung und in ihrer Tradition Norm, weil sie in ihrem Glauben in dem einen Wort Gottes steht, das sich in den vielen Glaubensworten ausspricht. Hermeneutisch ist die Verbindung der Ähnlichkeit und der Andersartigkeit der Geist Gottes. Analogia fidei bedeutet dann das Mitsein Gottes mit den Menschen durch das Schriftzeugnis und zugleich das Mitsein des Menschen mit Gott. Jesus Christus ist die „,analogia entis‘ in Person“ und als solcher der Immanuel, der Gott mit uns (Jes 7,14; Mt 1,23; 28,20), in dem die Schöpfungsdifferenz zwar nicht aufgehoben, aber überschritten ist. Sein Sein ist der Kanon des Glaubens, sodass die analogia fidei pneumatologisch mit der analogia entis verbunden ist und Sein und Glauben keinen Gegensatz bilden, sondern korrelativ zueinander sind. 4.2.

Analogia fidei als Vermittlung zwischen Altem und Neuem Bund

Die Einheit der christlichen Bibel aus Neuem und Altem Testament muss systematisch den Zusammenhang von Altem und Neuem Bund bedenken. Spricht schon das Alte Testament vom „neuen Bund“ (‫חֲדָ ָ ֽשׁה‬ ‫ ;בְּ ִ ֥רית‬διαθήκη καινή; fœdus novum) in Jer 31(38LXX),31941, so ist das 940

Vgl. S. MÜLLER, Kritik und Theologie, 461: „Das Mysterium der Kirche läßt sich nur aus ihrer Geschichte verstehen; ihr Sein und Gottes Sein treten dort in Entsprechung (Analogie). Typologie und Allegorie stehen somit im Dienst der ,analogia entis‘ und sind in ihr verankert. Christus selbst schließlich ist die ,analogia entis‘ in Person, denn in ihm entsprechen menschliche und göttliche Natur auf vollkommenste Weise. Und weiter gedacht: Auch das Alte und Neue Testament verdanken sich in ihrer Entsprechung als Offenbarungszeugnisse der ,analogia entis‘, die ihrerseits in der alle Geschichte und alles Sein ermöglichenden Person des LOGOS gründet“. 941 Vgl. hierzu die textgeschichtliche, kanongeschichtliche und theologische Untersuchung A. SCHENKER, Das Neue am neuen Bund und das Alte am alten. Jer 31 in der hebräischen und griechischen Bibel, von der Textgeschichte zu Theologie, Synagoge und Kirche (= FRLANT 212), Göttingen 2006; [in Folge: A. SCHENKER, Das Neue am neuen Bund]. In dieser Studie plädiert der Autor dafür, dass der LXX-Text auf einen ursprünglicheren hebräischen Text als der Masoretentext zurückgeht. K.-H. Menke macht darauf aufmerksam, dass aus systematischer wie exegetischer Sicht der „neue Bund“ in bleibender Kontinuität zu einem alten Bund bestehen bleibt, dass dabei aber das Moment der Diskontinuität nicht ausgeblendet werden darf. Gott stiftet einen neuen Bund, der, „weil er nicht die Erneuerung des alten, sondern eine wirkliche Neustiftung ist, die negative Tradition des Bundesbruches zu überwinden verspricht“. Vgl. K.-H. MENKE, Jesus ist Gott der Sohn. Denkformen und Brennpunkte der Christologie, dritte, durchg. Aufl., Regensburg 2012, 93-115, Zitat 101; [in Folge: K.-H. MENKE, Jesus ist Gott der Sohn]. Zur Bedeutung des Terminus „Bund“ siehe E. SCHÖNEMANN, Bund und Tora. Kategorien einer im christlich-jüdischen Dialog verantworteten Christologie, Göttingen 2006, 105-107; [in Folge: E. SCHÖNEMANN, Bund und Tora]; E. NORDHOFEN, Corpora, 163-178. Die Erwählung ist Grund für den Bund, worin aber auch eine privative

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Neue Testament im Verhältnis dazu zu verstehen. Die Frage ist dabei, inwiefern der neue Bund des Neuen Testaments in Kontinuität und Diskontinuität zum Alten Bund steht. Dass sich diese Frage an Jesus Christus entscheidet, zeigt die Geschichte des Ja des Christentums und des Nein des Judentums zu ihm als Messias. E. Przywara stellt in seinen Überlegungen heraus, dass Jesus Christus nicht einfach das Neue des Neuen ist, sondern dass bereits das ganze Geschichtsgeschehen von ihm umspannt ist: „Christus also ist der Rhythmus Totius, der Rhythmus der Geschichte des Alls“.942 Christus ist nicht nur die Wasserscheide zwischen Altem und Neuem Bund, sondern er steht darüber und ist das Verbindende beider Testamente und damit beider Bünde. Die ganze Offenbarungsgeschichte ist von Christus her zu lesen; im Bild Przywaras gesprochen, durchwaltet Christus als Rhythmus der Geschichte die unterschiedlichen Melodien des Offenbarungszeugnisses, taktet sie als ihr Metrum (kanw,n) und ist damit im Gesamtzeugnis der Offenbarung gegenwärtig. Der Rhythmus der analogia fidei verbindet Altes und Neues Testament in der Ähnlichkeit ihrer Unähnlichkeit und schafft so die innere und intrinsische Beziehung beider Testamente, weshalb sich in ihrer Harmonie (nicht Harmonisierung) die eine Stimme der Offenbarung Gottes vernehmen lässt und darin nichts anderes als analogia entis der Selbstmitteilung

Theologie enthalten ist: „Erwählung und Vorenthaltung gehören zusammen. In der grundlosen Erwählung zeigt sich die Andersheit Gottes des Inkommensurablen. In der Vorenthaltung der Gründe wird seine Souveränität manifest. In der grundlosen Zuwendung – nennen wir sie ruhig Liebe, zeigt er, dass er der Herr ist. Bei der verdienten Erwählung erfahren wir die Gründe. Gnade nennt keinen Grund“ (ebd. 177). Zum Bundesbegriff im Neuen Testament siehe J. RATZINGER, „Die Vielfalt der Religionen und der Eine Bund“, 1099-1119, hier 1099 zu testamentum: „Der Titel, den die Christen den zwei Büchern geben, will nicht nur nachträglich den wesentlichen Sinn des Buches beschreiben, sondern gleichsam den inneren Leitfaden der Schrift selbst ans Licht ziehen und das Grundwort namhaft machen, das den Schlüssel zum Ganzen bildet. Insofern haben wir in diesem Wort irgendwie den Versuch vor uns, das ,Wesen des Christentums‘ in einem seiner grundlegenden Quellen [gemeint sind die alttestamentlichen Schriften; Anm. d. Verf.] selbst entnommenen Ausdruck zusammenfassend auszusagen“. 942 E. PRZYWARA, Alter und Neuer Bund. Theologie der Stunde, Wien 1956, 82; [in Folge: E. PRZYWARA, Alter und Neuer Bund]. Auch ebd. 93: „Christus omnia in omnibus, Christus alles in allem; und der ganze Kosmos in Höhe und Tiefe und Weite und Gestern und Heute und in alle Zukunft hinein – dieser ganze Kosmos Jesus Christus alles in allem“. In dem Werk Alter und Neuer Bund finden sich Formulierungen E. Przywaras, die auf eine (latent) antijudaistische Einstellung des Autors schließen ließen. So ist die Beurteilung der Stellung des Jesuitentheologen zur Nazi-Ideologie bis heute uneinheitlich. Siehe hierzu pars pro toto A. PIDEL, „Erich Przywara, S.J., and ,Catholic Fascism‘: A Response to Paul Silas Peterson“, ZNThG 23 (2016) 27-55; P. S. PETERSON, „A third time, Erich Przywara, the Jews and Stimmen der Zeit. With a response to Aaron Pidel and a brief look into Przywara’s late letters to Carl Schmitt“, ZNThG 24 (2017) 202-239.

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Gottes gegeben ist.943 „Jesus von Nazareth, der Messias, […]“ – so der Theologe der Analogie – „steht darin [im messianischen Alten Bund; Anm. d. Verf.], daß Er das ,In-Bild‘ des Alten Bundes als Seines ,VorBildes‘ ist und des Neuen Bundes als Seines ,Nach-Bildes‘“.944 Damit ist Jesus Christus nicht als Gegensatz zum Alten Bund charakterisiert, sondern ist die analoge Anwesenheit in beiden Bünden, weil er die Gegenwart der Offenbarung in der Geschichte ist. Der Bund Gottes, in dem sich Gott auf die Menschen als seine Geschöpfe bezieht, ist in dem einen Menschen Jesus Christus gegeben. In ihm, in dem Gottheit und Menschheit vereint sind, findet sich die bleibende Relation von Gott zum Menschen, weil sich in ihm die unwiderrufliche unkündbare Erwählung und Verheißung selbst offenbart. Was Alter und Neuer Bund ausdrücken wollen, ist die Einheit Gottes mit den Menschen, die in Jesus Christus wirklich ist und gehalten wird. Damit soll ausgesagt werden, dass Alter und Neuer Bund, Altes und Neues Testament nicht nur in einem gnoseologischen Zusammenhang, sondern ontologisch in Beziehung stehen, weil beide von der Christus-Gegenwart erfüllt sind, der als wahrer Mensch die bleibende und stellvertretende Ausrichtung der Menschheit auf Gott ist und das Band des Bundes im Geist hält.945 Das Alte Testament kann mit E. Przywara und seiner Analogielehre als Vor-Bild und das Neue Testament als Ab-Bild Jesu Christi gedeutet werden. Der Neue Bund sagt den Alten nicht ab, sondern aktuiert ihn neu,946 so wie der Neue Bund auch immer wieder der Erneuerung bedarf, wenn er „zu seinem Gedächtnis“ gefeiert wird.947 Die Erneuerung darf jedoch nicht so verstanden werden, dass es in der eucharistischen Feier des Neuen Bundes zu einem Neuwerden des 943

Vgl. E. PRZYWARA, Alter und Neuer Bund, 540-543. Bereits in seinem Artikel zur analogia entis schreibt der Jesuitentheologe, dass der aristotelische „,Allrhythmus‘ als ,Letztes‘“ erst in der lateranischen Formel überwunden ist. Vgl. DERS., „Analogia entis“, 470-471. 944 E. PRZYWARA, Alter und Neuer Bund, 113. Dabei argumentiert E. Przywara im Abschnitt über den Alten Bund (113-156) nicht rein christologisch, sondern deutet den Alten Bund als Bund des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe, der darin Typus für Christus ist. 945 Vgl. dazu G. GÄDE, „‚Altes‘ oder ‚Erstes‘ Testament? Fundamentaltheologische Überlegungen zu Erich Zengers Vorschlag einer christlichen Neubenennung der Schrift Israels“, MThZ 45 (1994) 161-177, 173: „Konstitutiver Terminus des Bezogenseins Gottes auf den Menschen ist also der Gott und den Menschen wesensgleiche Sohn […]. Deshalb kann das Weiterbestehen des Bundes trotz aller Verleumdungen und Brüche seitens des Volkes Gottes nur als Hineingenommensein des Volkes in den Bund Gottes mit Gott sinnvoll verstanden werden, also trinitarisch“; [in Folge: G. GÄDE, „,Altes‘ oder ,Erstes‘ Testament?“]. 946 Vgl. E. PRZYWARA, Alter und Neuer Bund, 521-522. Mitte und Zentrum beider Testamente ist für den Autor das Kreuz Christi, insofern die analogia fidei die Einheit der Testamente bewahrt und „als diese ,analogia fidei‘ radikale ,Analogie im Skandal des Kreuzes‘ ist“ (ebd. 531). Vgl. auch J. RATZINGER, „Traditionsbegriff“, 406-407. 947 Vgl. DERS., „Die Vielfalt der Religionen und der Eine Bund“, 1110-1111.

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Bundes durch das Geschehen der Kirche käme, denn hiermit wäre der Einwand der Reformation gegen die Eucharistie als Werkgerechtigkeit berechtigt. Die erneute Aktuierung des Neuen Bundes in der Anamnese der Heilstat von Kreuz und Auferstehung Jesu Christi ist das pneumatologische Geschehen der Erinnerung in der Kirche, die das christologische Dogma der Inkarnation miteinbezieht und die Eucharistie als wahrhafte, wirkliche und substantielle Gegenwart (vgl. DH 1636) der soteriologischen Wirklichkeit Gottes begreift, die protologisch und eschatologisch gefasst ist. Weil sich aber Altes und Neues Testament von der einen Offenbarung her speisen, müssen sie in der analogia fidei korrelierend interpretiert und aufeinander bezogen werden, da sich in der einen Offenbarung der eine Wille Gottes ausdrückt, der sich durch das eine Geschichtshandeln Gottes manifestiert. In diesem Verständnis ist auch das bekannte augustinische Wort „quamquam in vetere novum lateat et in novo vetus pateat“ (Quaestiones in Heptateucum 2,73; CSEL 28,2,141) zu lesen. Dem Bischof von Hippo geht es dabei, wie fälschlicherweise oft unterstellt, nicht darum, Allegorie oder Typologie als einzige und grundlegende Bibelhermeneutik zu begründen. Mit diesem Gedanken, der sich in der Auslegung zu Ex 20,18 findet, möchte er sagen, dass die Rede von einem furchtbaren und bösen Gott nicht auf das Alte Testament und die Botschaft vom liebenden Gott nicht auf das Neue Testament zu begrenzen sind. Die Gottesvorstellungen finden sich für den Kirchenvater in beiden Testamenten, weil beide Testamente den einen und einzigen Gott bezeugen. Darum ist für ihn das Alte Testament im Neuen offenbar und das Neue Testament im Alten verborgen.948 Die Verhältnisbestimmung beider Testamente mit verborgen und offenbar, die in sich auch den Gedanken von Verheißung und Erfüllung enthalten,949 können im Verhältnis und Verständnis der analogia fidei 948 Vgl. C. DOHMEN, „Hermeneutik des Alten Testaments“, 216: „Augustinus hebt durch eine Analogie auf die Einheit der christlichen Bibel ab, indem er von der offenbarenden Anwesenheit des Alten Testaments im Neuen auf eine verborgene Anwesenheit des Neuen Testaments im Alten schließt“. Siehe auch H. D. LUBAC, Geist aus der Geschichte, 362-365, worin der Autor das augustinische Prinzip bei Origenes nachzeichnet. 949 Zum Thema Verheißung-Erfüllung siehe H.-G. SCHÖTTLER, Re-Visionen christlicher Theologie aus der Begegnung mit dem Judentum (= Judentum – Christentum – Islam. Interreligiöse Studien 13), Würzburg 2016, 47-156; [in Folge: H.-G. SCHÖTTLER, ReVisionen christlicher Theologie]. Der Pastoraltheologe möchte ein unausgeglichenes und heilsgeschichtlich progressives Verhältnis von Altem und Neuem Testament vermeiden, in der er „in einer zur Ideologie verkommenen Christologie auf Kosten des Judentums“ (56-57) sieht. Wenn er das duale Modell von Verheißung-Erfüllung und das triadische Modell von Verheißung-„medias aetas“-Erfüllung ablehnt, um eine Theozentrik der einen Bibel zu wahren, in der sich Gott selbst ausspricht, dann übergeht er das trinitarische Verständnis von Heilsgeschichte, Kirche und Schrift, bei der die Pneumatologie die

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dargestellt werden. Dabei ist zu beachten, dass offenbar/erfüllt nicht Abschaffung und Absetzung meint, sondern gerade nach dem dargestellten Analogieverständnis eine innere Korrelation aufeinander ausspricht und eine Eigenheit beider Größen bestehen bleibt, insofern es beim Alten und Neuen Testament eine Gleichheit bei gleichzeitiger Ungleichheit gibt.950 Es ist ein und dieselbe Offenbarung, die in der einen christlichen Bibel zur Sprache kommt, jedoch im Alten Testament theologisch und im Neuen Testament christologisch begründet ist. Alter und Neuer Bund stehen damit in der gegenseitigen Bestätigung dessen, was sie heilsgeschichtlich realisieren wollen: Die Verheißung der Gottesbeziehung in der Geschichte ist definitiv und vollzieht sich im Raum von Altem und Neuem Testament, ist aber ihrerseits immer noch auf die Erfüllung der endgültigen Offenbarung hin ausgerichtet. Die Glaubensanalogie nimmt in diesem Zusammenhang durch eine pneumatologische Vermittlung „die Funktion eines theologischen Integrationsprinzips“ ein, indem es die Theozentrik und Christozentrik miteinander verbindet und ausgleicht bzw. die christologische Fassung der Offenbarung. Für H.-G. Schöttler ist die Formel VerheißungErfüllung „in seinem traditionellen Verständnis […] theologisch und homiletisch leergelaufen, ist erwartete Rhetorik geworden“, da sie mit der Erfahrung nicht mehr kompatibel sei (120; Hervorhebung im Original). Er unterscheidet dann eine retrospektive Deutung (beispielhaft für H.-G. Schöttler vertreten durch J. Ratzinger/Benedikt XVI. und M. Reiser, der mit Polemik ihnen gegenüber nicht spart) von einer prospektiven Deutung, bei der das Alte Testament als „Wahrheitsraum“ des Neuen gefasst wird und es zu keiner Enteignung der Bibel Israels kommt. „Nicht die Bibel Israels ist also im Licht des Christusereignisses zu deuten, sondern umgekehrt: Das Christusereignis ist im Licht der Bibel Israels zur Sprache zu bringen“ (124). Dabei übersieht der Pastoraltheologe, dass sein Anliegen, dass die Verheißung an Israel und damit die Bibel Israels Gültigkeit besitzt, ein wesentliches Moment der Theologie der von ihm kritisierten Theologen ist. Der Autor bleibt aber die Antwort schuldig, warum die „Bestätigung und Bekräftigung“ der Verheißung der Bibel Israels in Jesus Christus nicht auch „leergelaufen“ sein soll und an der Erfahrung und Lebenswelt von heute scheitert. 950 T. Mayer zeigt, dass in der typologischen Exegese Geschichte das Band von Verheißung-Erfüllung ist. T. MAYER, „Geschichtsbegriff und Wirkungspotential der Typologie“, 198-201. Zur Typologie als Deutung der Geschichte siehe R. VODERHOLZER, Die Einheit der Schrift, 465-467, der jedoch mit H. d. Lubac für den Vorrang der Allegorie plädiert. F. ERLENMEYER, Das Geheimnis der Geschichte, 271-322. Zur geistesgeschichtlichen Einordnung siehe T. MAYER, Typologie und Heilsgeschichte, 129153. Christologisch hebt K.-H. Menke mit Gedanken des französischen Kardinals J.-M. Lustiger heraus, dass „Jesus Christus […] die Bestimmung – nicht die Ersetzung! – der Erwählung Israels“ ist. K.-H. MENKE, „Jesus Christus: ‚Wiederholung‘ oder ‚Bestimmung‘ der Heilsgeschichte Israel? Zwei Grundgestalten jüdisch perspektivierter Christologie“, in: H. HOPING – J.-H. TÜCK (Hgg.), Streitfall Christologie. Vergewisserungen nach der Shoah (= QD 214), Freiburg – Basel – Wien 2005, 125-158, 142 (Hervorhebung im Original); zum Gesamten ebd. 137-149. Jesus als den Christus zu bekennen bedeutet demnach, die Erwählung Israels anzuerkennen. Für J.-M. Lustiger ist vor allem die Kontinuität vom Alten zum Neuen Testament, von Judentum und Christentum entscheidend. Die zentrale theologische Frage ist für ihn die Frage nach der Beziehung zu Gott und wie der Mensch als Jude, Christ oder Heide in diese Bundesbeziehung als Auserwählung zum Heil eintreten kann.

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theologische und christologische Verheißung auf die Geschichte hin öffnet.951 Es ist wesentliches Moment des Alten und des Neuen Bundes, dass sie zugleich verheißen und erfüllen, dabei aber immer auf die eschatologische und erst damit endgültige Vollendung ausgerichtet bleiben. Jüdisch gesprochen ist es die Ankunft des Messias, christlich die Wiederkunft Christi, so dass Altes und Neues Testament gleichermaßen auf den adventlichen Fixpunkt der endgültigen Erfüllung ausgerichtet sind. Dies unterstreicht jedoch auch, dass sich Theologie und Christologie nicht gegenseitig ausschließen, sondern ein korrelierendes Verständnis zwischen beiden besteht, das wiederum nicht rein äußerlich beschrieben werden kann, sondern in einem perichoretischen Zusammenhang gesehen werden muss. Mit der analogia fidei als „theologischem Integrationsprinzip“ muss der Zusammenhang des Alten und des Neuen Bundes gesucht und verstanden werden.952 In der eschatologischen Deutung gibt es nur den einen theologischen Bund Gottes, der die transzendentale Voraussetzung für jeden geschichtlichen Bundesschluss darstellt. Das Heilshandeln Gottes in den unterschiedlichen Bundesschlüssen drückt Kontinuität aus,953 denn „Gottes Handeln [ist] vielmehr immer ein bundesgemäßes Handeln“.954 Gott spricht sich in der Geschichte aus und legt durch das schöpferische Wort einen Sinn in die Schöpfung und in die Geschichte. Schöpfung und Geschichte haben eine Logik, die im Bund mit Gott heilsgeschichtliche Gestalt annehmen soll. Das bundesgemäße Handeln Gottes ist dann aber nichts anderes als die absolute Solidarität Gottes mit der Schöpfung, denn Schöpfer-Sein bedeutet der „Gott-in-Beziehung“955 zu sein. Im Bund Gottes stehen heißt demnach, die Solidarität Gottes im geschichtlichen Leben zu realisieren, was als tiefster Ausdruck des Toragehorsams verstanden werden muss. Auch wenn die einzelnen Bundesschlüsse geschichtlich 951

L. SCHEFFCZYK, „Analogia fidei“, 134 (Hervorhebung im Original). Vgl. dazu auch die Darstellung des „Ein-Bund-Modells“ und des „Zwei-BündeModells“ bei K.-H. MENKE, Jesus ist Gott der Sohn, 101-109; J. T. PAWLIKOWSKI, „Ein Bund oder zwei Bünde? Zeitgenössische Perspektiven“, ThQ 176 (1996) 325-340; H. HOPING, „Die Messianität Jesu und das Mysterium Israels. Israeltheologie als Aufgabe der Christologie“, in: DERS. – J.-H. Tück (Hgg.), Streitfall Christologie. Vergewisserungen nach der Shoah (= QD 214), Freiburg – Basel – Wien 2005, 159-181, 166-170; [in Folge: H. HOPING, „Die Messianität Jesu“]. E. SCHÖNEMANN, Bund und Tora, 129-142. 953 Vgl. H. HOPING, „Die Messianität Jesu“, 171. 954 K.-H. MENKE, „Das Gottespostulat unbedingter Solidarität und seine Erfüllung durch Christus“, IKaZ 21 (1992) 486-499, 489; [in Folge: K.-H. MENKE, „Das Gottespostulat unbedingter Solidarität“]. 955 J. RATZINGER, „Die Vielfalt der Religionen und der Eine Bund“, 118. Siehe auch R. SIEBENROCK, „Christus-Gegenwart“, 185: „Das Sprechen Gottes konstituiert eine interpersonale Beziehung aus dem Willen und der Freiheit Gottes selbst. Die Vorstellung vom Wort Gottes ist einem personalen Gottesbekenntnis inhärent“. 952

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immer wieder gebrochen werden (wenn es also nicht zur vollkommenen Realisierung der Tora kommt), muss dennoch das bleibende Bundesangebot Gottes theologisch als ungebrochen gedacht werden, gerade wenn die Verheißung des ungekündigten Bundes aus Röm 9-11 gelten soll. Es ist exegetisch sowohl für das Alte wie für das Neue Testament eindeutig, dass es mehrere Bundestheologien gibt. Die entscheidende Frage ist dabei, ob diese Vielfalt unverbunden nebeneinandersteht oder ob es eine analoge Entsprechung gibt. Es ist damit die theologische Aufgabe gestellt, die einzelnen Beziehungen der verschiedenen geschichtlichen Bünde zu diesem einen theologischen Bund zu suchen. Kann in der Bezeichnung Testament das Verhältnis der beiden schriftlichen Größen zueinander ausgedrückt werden, so muss das Wort Bund auf Gott hin ausgelegt werden, von dem die beiden Testamente künden.956 Der Bund Gottes ist die Vermittlung der Offenbarung Gottes mit den Menschen. Das Volk Gottes, das in Israel geschichtliche Gestalt annimmt und zu dem alle Völker gerufen sind, ist Bundespartner Gottes und damit Adressat seiner Selbstmitteilung, die zum Heil der Menschen geschieht. Darauf weist besonders hin, dass das alttestamentliche ‫בְּ ִ ֥רית‬ biblisch nur im Singular belegt ist.957 Die biblische Bezeugung des Bundes im Plural der Zeugnisse ist die ständige Aktualisierung und die Vergewisserung des Offenbarungsbundes Gottes in seinem Volk.958 Spricht Jer 31,31 vom „neuen Bund“ in den Herzen, dann bedeutet dies

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Vgl. dazu den Beitrag E. FRANCO, „L’antichità dell’alleanza nuova“, RivBib 60 (2012) 293-328, 293-317; [in Folge: E. FRANCO, „L’antichità dell’alleanza nuova“]. Vgl. auch H. W. WOLFF, „Zur Hermeneutik des Alten Testaments“, in: C. WESTERMANN (Hg.), Probleme alttestamentlicher Hermeneutik. Aufsätze zum Verstehen des Alten Testaments (= TB 11), München 1960, 140-180, 160-163, der den einen Bezug auf den Bund Gottes herausstellt, dabei aber auch die Unterschiede in der Bezeugung benennt; [in Folge: H. W. WOLFF, „Zur Hermeneutik des Alten Testaments“]. Dabei gibt es ein von-her (neu) und auf-hin (alt), das von einer geschichtlichen Relation umfangen ist, beides aber in das Eschaton gesteigert wird. Dieser analoge Bezug ist für den Autor die Grundlage der Typologie. Zum hermeneutischen Ansatz von H. W. Wolff siehe auch A. BEHRENS, Das Alte Testament verstehen, 87-94. 957 Ausgehend von der semantischen Untersuchung zu ‫ בְּ ִ ֥רית‬weist N. Lohfink darauf hin, dass der Ausdruck nur im Singular vorkommt. Die Rede vom Bundesschluss ist metonymisch und bedeutet daher: „Der Stiftungsakt kann gemeint sein, oder das daraus resultierende Gottesverhältnis Israels kann gemeint sein. Wenn dieser ,Bund‘ mehrfach gestiftet, geschlossen, erneuert, erweitert, im Ritus erinnert wird – all das häufig mit einander gleichenden Riten –, dann folgt keineswegs, daß es sich um verschiedene Bundesverhältnisse handelt. Nicht jeder dieser Akte produziert eine neue, andere Bundesbeziehung“. N. LOHFINK, „Ein Bund oder zwei Bünde in der Heiligen Schrift“, in: CONGREGAZIONE PER LA DOTTRINA DELLA FEDE (ed.), L’interpretazione della Bibbia nella Chiesa. Atti del Simposio promosso dalla Congragazione per la Dottrina della Fede (= Atti e Documenti 11), Città del Vaticano 2001, 273-297, 281 (Hervorhebungen im Original); [in Folge: N. LOHFINK, „Ein Bund oder zwei Bünde“]. 958 Vgl. E. FRANCO, „L’antichità dell’alleanza nuova“, 318-323.

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nichts anderes, als dass der eine Bund, der in der Tora959 grundgelegt ist, eine immer stärkere Verinnerlichung erfährt und seinen Schlusspunkt in Jesus Christus als der absoluten Offenbarung Gottes und als te,loj (Röm 10,4) hat, der in seinem Blut (vgl. Hebr 8,1-1018) selbst zum einen und einzigen Bund wird.960 Jesus Christus ist als das eine Wort Gottes und seine Offenbarung die absolute Verwirklichung des Bundes Gottes mit der Welt, da es in ihm zu keinem Bruch des Bundes kommen kann; im Gegenteil: Als das Wort Gottes ist er die Aussage der Treue Gottes zur gesamten Geschichte. So wie das Wort Gottes sich nicht selbst widersprechen kann, da es das eine Wort und die einzige Aussage Gottes ist, so geht Jesus Christus in seinem Geheimnis von Leben, Tod und Auferstehung gänzlich in den Bund Gottes hinein und lebt ihn in unüberbietbarer Weise, weil er in Treue dazu und damit zu Gott, seinem Vater, den Bund bis in das Letzte und die absolute Selbstentäußerung hält. Jesus Christus ist die Treue Gottes zu sich selbst und in sich selbst (vgl. 2 Tim 2,13). In diesem Sinn ist Jesus Christus die innertrinitarische Voraussetzung, die Erklärung und der Sinn des Bundes Gottes in der Geschichte.961 Darin tut sich dann die absolute Nähe und Vergebung Gottes für alle Menschen kund.962 Jesus 959

Vgl. hierzu E. SCHÖNEMANN, Bund und Tora, 153-213. Die Tora muss als „Lebensweise des Juden Jesus“ angesehen werden, „[i]nsofern ist sie eine Kategorie, ohne die das Christusereignis nicht verstanden werden kann. Denn gleichermaßen ist Jesus Christus unbestreitbar Lebensprinzip eines jeden Christen und aufgrund seiner Universalität das eines jeden Menschen. […]“ (vgl. ebd. 211-212, Zitate 211). Diese Verbindung zeigt, dass christliche Theologie, besonders systematische Theologie, in all ihren Traktaten im Bewusstsein der Verantwortung zum Gott Jesu Christi und zum Judentum denken und arbeiten muss. 960 Zur Bundestheologie in Hebr siehe K. BACKHAUS, „Gottes nicht bereuter Bund. Alter und neuer Bund in der Sicht des Frühchristentums“, in: R. KAMPLING – T. SÖDING (Hgg.), Ekklesiologie des Neuen Testaments, FS für Karl KERTELGE, Freiburg – Basel – Wien 1996, 33-55, 43-45; [in Folge: K. BACKHAUS, „Gottes nicht bereuter Bund“]. 961 Vgl. dazu R. SIEBENROCK, „Christus Gegenwart“, 192: „Eine christologische Deutung der Schrift beruht auf dem Bundesgedanken als Mitte der ganzen Schrift. Dieser Bund hat sein bleibendes Fundament in der Gabe der Thora. Insofern Jesus Christus als personale Verwirklichung eines vollkommenen Thoragehorsams verstanden wird, überschreitet er immer die Grenzen Israels und der Kirche, weil er jenen Bund erneuert, auf dem alles Leben beruht: die Schöpfung. Insofern überschreitet alles Tun Gottes an und in seiner Schöpfung jede partikuläre Geschichte“. 962 Zum neutestamentlichen Zeugnis hierzu vgl. E. FRANCO, „L’antichità dell’alleanza nuova“, 323-328. Bezugnehmend auf Hebr 9,15 kommt der Autor in 324-325 zu dem Schluss, „che qui ci sia il cuore dell’unica alleanza che abbiamo visto articolarsi in promessa, impegno e fedeltà di Dio, elezione-chiamata e accoglienza ma anche trasgressione-rottura della relazione e conseguente male per i chiamati, perdonoespiazione e ricominciamento della relazione. ,Prima alleanza‘, quindi, non può riferirsi solo a quella del Sinai, in quanto il cuore della novità dell’alleanza antica viene ora confrontato e precisato alla luce dell’evento Christo. […] Il corpo offerto e il sangue versato di Gesù sono il luogo in cui la relazione tra Dio e l’uomo si instaura e si consolida definitivamente in un documento (tyrib.h; rp,se) […] che è una persona viva, il ,corpo‘ (cf.

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Christus ist damit aber nicht Ablöse und Ersatz des Alten Bundes, sondern in Stellvertretung realisiert er den Bund Gottes mit der ganzen Schöpfung, indem er den Platz freihält, an dem der von Gott geliebte Mensch von Beginn bis zum Ende der Geschichte steht, und damit nochmals und definitiv das Bundesangebot Gottes ausspricht.963 Die Stellvertretung Jesu für Israel und die Kirche ermöglicht, dass das Judentum in seinem ungekündigten und bleibenden Bund bestehen kann, der nichts anderes ist als das bleibende und gültige Zeugnis der Offenbarung Gottes im Alten Testament. Somit stehen das Volk der Verheißung und die Kirche in einer wesentlichen Beziehung, die in Jesus Christus ihren Knotenpunkt hat, denn „[d]as Bekenntnis zu Jesus als dem Christus ist das Bekenntnis zur Treue Gottes zu seinem Volk“.964 In Jesus Christus erfüllt sich der eine Bund Gottes mit der Geschichte seiner Schöpfung, indem sich in ihm alles vereinigt; in ihm ist Erfüllung und gleichzeitig bestehende Offenheit auf das Endgültige, auf die reductio in revelationem, was als Kontinuität zur alttestamentlichen Theologie versanden werden muss. Wenn sich Jesus auf den Bund Gottes bezieht, dann lässt dies für K. Backhaus „nur zwei Kategorien zu, in denen er vom Gottesbund gesprochen haben kann: die prophetische und die eschatologische. So gesehen ist die Analogie zur klassischen Prophetie des Alten Testaments bemerkenswert. […] Kurzum: Der ,neue Bund‘ ist der Gottesbund in der Zeit der einbrechenden Basileia. Er ist die in Jesu Proexistenz gewährte eschatologisch gültige Setzung des von Gott seinem Volk seit alters her zugedachten Heils“.965

Das Neue des Neuen Bundes ist die christologische Qualifizierung des theologischen Bundesangebotes im Alten Bund, der in seiner Qualität [Eb] 10,5) di colui che si è fatto alleanza. Attraverso di lui la fedeltà di Dio diventa la possibilità delle fedeltà dell’uomo, di ogni uomo che lo riconosca come Messia e Signore“. Zum „neuen Bund“ in Hebr 8 und 10 siehe A. SCHENKER, Das Neue am neuen Bund, 71-73. 963 Vgl. dazu K.-H. MENKE, „Das Gottespostulat unbedingter Solidarität“, 492-493. 964 W. KASPER, Juden und Christen, 28. 965 K. BACKHAUS, „Gottes nicht bereuter Bund“, 40-42 (Hervorhebungen im Original). Vgl. auch N. LOHFINK, „Ein Bund oder zwei Bünde“, 288: Jesus ist „der Gekommene und der Wiederkommende zugleich. Weil beides wahr und das Neue Testament nicht reines Eschaton ist, muß es nun auch keine neue, rein eschatologische ErfüllungsBundestheologie entwickeln, die der vorläufigen oder den vorläufigen des Alten Testaments als alles umfassende reine Gegenaussage gegenüberstünde. Es kann die Erfüllung des Erwarteten verkünden, und es kann doch weiter auch jene Erwartungssituation aufrechterhalten, die den alttestamentlichen Kanon bestimmt. Mit dem Bundesbegriff kann es daher auch noch genau so spielen wie es der alttestamentliche Kanon tat“ (Hervorhebung im Original). Für die eschatologische Erfüllung des einen Bundes plädiert auch H. HOPING, „Die Messianität Jesu“, 177-178; T. SÖDING, Einheit der Heiligen Schrift?, 315, der im eschatologisch-neuen Handeln Jesu die Endgültigkeit und die Unbedingtheit der Erwählung Israels durch Gott sieht, indem er in Jesus Christus bis in die Extreme (Phil 2,6-11) der Liebe geht.

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bestehen bleibt und gültig ist. Der eine Heilswille Gottes spricht sich im Alten und Neune Bund aus. Jesus Christus darf hierbei nicht als die Integration der Völker in den geschichtlichen Bund Gottes mit Israel gedacht werden, wenn damit nicht der universale Anspruch seiner Heilsmittlerschaft gemindert werden soll. In ihm sind die Völker nicht einfach in den Bund hineingenommen, den Gott mit seinem Volk geschlossen hat, sondern sie sind hineingenommen in die Gemeinschaft, aus der sich Jesus selbst versteht. Als Jude steht er im Bundesverhältnis der Tora und garantiert damit die Heilskontinuität mit seiner eschatologischen Erschließung des Bundes an sich, wobei in seinem Leben, Sterben und Auferstehen die eschatologische Vollendung gegeben ist, in der es zur „Rettung ganz Israels“ kommt (vgl. Röm 11,26).966 Andererseits muss das „Nein“ Israels zu Jesus als dem Messias ernst genommen werden, da es Ausdruck der Treue zum Bund mit Gott ist und gerade dieser Treue Israels Vorbildfunktion für das Christentum zukommt.967 Judentum und Christentum müssen als theologische Größen ihren Eigenstand bewahren, ohne dass sie voneinander zu trennen sind, weil in ihnen beiden die „Verheißungswirklichkeiten“968 der Zuwendung Gottes gegeben sind. Diese geschichtliche Unterschiedenheit ist aber in ihrer Spannung in der Treue Gottes zu seinem Wort eingezeichnet, in dem er bereits im Voraus zu seiner Verheißung steht (vgl. 2 Kor 1,20). Gott ist treu, weil sein Wort bereits vor seiner Aussprache bei ihm wahr und bleibend ist. Das „Nein“ und „Ja“ zu Jesus als dem Christus969 darf daher nicht als dichotomische Gegenübersetzung gelesen werden, sondern vielmehr als dialektische und analoge Bezugnahme auf das eine Wort Gottes. Das Bekenntnis zu dem einen und einzigen Gott ist erfüllt vom Vertrauen in seine Treue, die sich nicht nur in Jesus Christus 966

Vgl. E. SCHÖNEMANN, Bund und Tora, 147: Es kann gesagt werden, „dass durch Jesus Christus nicht nur ein neuer Bund gestiftet wurde, sondern dass er selbst der neue Bund ist, weil sich durch ihn, mit ihm und in ihm der Bundeswille Gottes, die Herrschaft Gottes, Bahn bricht. Auf diese Weise wird die Gottesherrschaft letztlich aber nicht nur zum Heil für Israel, sondern für die gesamte Welt“ (Hervorhebung im Original). Siehe auch H. HOPING, „Die Pluralität der Religionen und der Wahrheitsanspruch des Christentums“, in: H. J. MÜNK – M. DURST (Hgg.), Christliche Theologie und Weltreligionen. Grundlagen, Chancen und Schwierigkeiten des Dialogs heute (= ThBer 26), Freiburg 2003, 117-159, 134-140. Gegen eine eschatologische Anerkennung Christi als Messias durch das Volk Israel spricht sich vehement aus: H.-G. SCHÖTTLER, ReVisionen christlicher Theologie, 414-417; 424-426. 967 Vgl. dazu E. SCHÖNEMANN, Bund und Tora, 82-84. Die Autorin beschreibt hier die Position F.-W. Marquardts, dass das „Nein“ Israels zu Jesus als dem Christus der Selbstvergewisserung des Christentums dient. Weiter ebd. 212: „Denn eine Christologie, die das ,jüdische Nein‘ zu Jesus als dem Christus als ein Kriterium mit in ihre Überlegungen einbindet, anerkennt gleichzeitig das ,jüdische Ja‘ zur Tora und die damit verbundene Möglichkeit der Offenbarung des Gotteswillens in der Welt“. 968 H. HOPING, „Die Messianität Jesu“, 177. 969 Vgl. zur Bezeichnung Jesu als Messias/Christus ebd. 161-165.

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ausspricht, sondern in ihm gründet. Die Glaubensanalogie als „theologisches Integrationsprinzip“ lässt somit das alt- und neutestamentliche Zeugnis für den einen Bund in ihrem Eigenwert bestehen, ohne dass es dadurch zu einem Bruch im theologisch einen Bund kommen muss, worin aber der geschichtliche Eigenwert von Altem und Neuem Bund gewahrt bleibt und eschatologisch in seiner transzendentalen Grundlegung durch das eine Offenbarungswort Jesus Christus geklärt wird. Die bruchlose Bestimmung des einen Bundes in Jesus Christus ist somit auch die transzendentale Voraussetzung für das Bundesangebot schlechthin. Deshalb muss die Treue Gottes in sich selbst als die Bestimmung der universalen Heilsmittlerschaft Jesu gedacht werden, die sich in der Glaubensanalogie auf den Alten Bund und Neuen Bund beziehen lässt, was jedoch keine direkte und christologische Vereinnahmung des Toragehorsams des Judentums bedeuten darf. Im Gehorsam gegenüber der Tora gilt: „Wenn ein Jude die Tora tut, das heißt sie im täglichen Leben konkret werden lässt, wird er zur Ant-Wort auf das Bundesangebot Gottes. Das bedeutet, dass er durch das Tun der Tora durch sie und mit ihr ebenso zu Gott und damit zur Freiheit in Gott finden kann wie ein Christ, der sich ganz in die Nachfolge Christi begibt und dadurch zur Ant-Wort auf das Bundesangebot Gottes wird“.970

Jüdische und christliche „Ant-Wort“ auf den Bund Gottes geschieht im Glauben und in der Hoffnung auf die Treue, also auf die Liebe Gottes zu seiner Schöpfung, die aber aus der Selbstaussage Gottes in sich realisiert und darin ihren tragenden Grund hat. Die Tora wird vom Judentum als die Auslegung des Bundes und des Willens Gottes gesehen, durch die der Mensch in die Gemeinschaft mit ihm hineingeführt werden soll. Zudem unterscheidet sich die christliche Sicht auf den Logos, der zwar geschichtlich auch die Auslegung des Bundes Gottes ist, in dem aber der Bund seinen ermöglichenden Grund hat und der nicht nur zum Heil führt, sondern als der präexistente Logos auch das Heil als die Gemeinschaft mit Gott selbst ist.971 Der Bund als Liebe Gottes zu dieser Schöpfung ist damit bereits von der innertrinitarischen communio erfüllt,972 die in der analogia fidei geschichtlich zu bestimmen ist. Die geschichtliche Verwirklichung des Bundes, gerade wie sie sich im Alten und im Neuen Bund erweist, ist in der vorgängigen christologischen Qualifizierung der Selbstaussage 970

E. SCHÖNEMANN, Bund und Tora, 212. K.-H. MENKE, Jesus ist Gott der Sohn, 33. 972 Vgl. J. SCHELHAS, Christozentrische Schriftauslegung, 373-379, der diesen Gedanken bei K. Barth nachzeichnet. Für K. Barth ist das Ziel des Bundes Jesus Christus, der Bund Gottes aber, aus dem die Schöpfung entspringt, ist apriorisch zur Schöpfung: Der Bund „ist Bild der trinitarischen Gemeinschaft. Dieses Bild hat der dreieine Gott mit der Schöpfung in der Welt eingestiftet. Communio avanciert damit zu einem Synonym für Bund […]“ (375). 971

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Gottes in seinem Sohn gegeben, die sich im spannungsvollen Zueinander von Israel und Kirche eschatologisch lichten wird. Die Unterscheidung des theologisch einen Bundes, der sich geschichtlich im Alten und im Neuen Bund bezeugt, kann die Gefahr mit sich führen, dass es zu einem Zwei-Stockwerke-Denken kommt, insofern Theologie als eine unverbundene Ebene über der Geschichte gedacht wird. Dagegen muss aber das heilsgeschichtliche Denken stark gemacht werden, das eine historia-pura-Theologie vermeiden kann, indem Gottes Handeln in der Geschichte nicht extrinsezistisch und parallel zur Geschichte gedacht wird, sondern es zu einer geschichtlichen Vermittlung von Gottes innertrinitarischer Treue in sich und zu sich selbst in den geschichtlichen Verheißungen in den von Gott geschenkten Bundesschlüssen kommt. Bundestheologisches Denken hat als Voraussetzung eine heilsgeschichtliche Theologie, die das Geschichtsverständnis nicht mehr zyklisch fasst, sondern die eine Menschheitsgeschichte zwischen den Polen des Segens der Schöpfung und der eschatologischen Vollendung erkennt. Es ist nicht der Weltenbrand, der Geschichte immer wieder erneuert und vom Abfall in das Verderben reinigen muss; es ist die Liebe Gottes in Jesus Christus, in der die Welt eine ständige Erneuerung erfährt, weil Gott seine Liebe nicht in sich und für sich behält, sondern im Bund geschichtlich anbietet. Geschichte ist der Raum der Liebe Gottes, weshalb mit T. Mayer festgehalten werden kann: „Der Bund ist damit geschichtstheologisches Prinzip: Im Bundesschluss werden Zeit Gottes und Zeit des Menschen kommensurabel“.973 Israel und die Kirche haben ihren jeweiligen Bund für sich, wobei diese sich nicht gegenseitig ausschließen oder nur dialektisch zu fassen wären, sondern in der heilsgeschichtlichen Spannung aufeinander verwiesen sind. Israel und die Kirche sind als das eine Volk Gottes Bundespartner Gottes. Jesus Christus fügt in seinem Kreuz theologisch und geschichtlich beide Bünde zusammen, weil er in dem Bund mit Israel lebt und den Neuen Bund in seinem Kreuz stiftet (vgl. Eph 2,15-18). Es ist gerade der heilsgeschichtliche Ansatz, der beide Bünde in ihrem Zusammensein gelten lassen kann, aber die eschatologische Zusammenführung offenhält, so dass Gott alles in allem sein kann (vgl. 1 Kor 15,28).974 973

T. MAYER, Typologie und Heilsgeschichte, 238. So argumentiert K. v. Stosch mit seinem mutual inklusivistischen Ansatz dafür, dass sich sowohl das Judentum als auch das Christentum einer eschatologischen Überraschung unterziehen müssen, bei der es in beiden Religionen zu Kontinuität und Diskontinuität bzgl. ihrer eschatologischen Hoffnung kommt. Vgl. K. V. STOSCH, „Die Einzigkeit Jesu Christi als Implikat der Einzigkeit Israels. Plädoyer für eine mutual inklusive Lesart der Christologie in der Israeltheologie“, in: C. DANZ – W. HOMOLKA – K. EHRENSPERGER (Hgg.), Christologie zwischen Judentum und Christentum. Jesus, der Jude aus Galiläa (= DiM 30), Tübingen 2020, 291-309, hier 307: „Es kann in meinem Modell also keine 974

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Für eine christliche Theologie im Angesicht von Auschwitz ist es daher unumgänglich anzuerkennen, dass das Judentum in dem einen ungekündigten Bund (Röm 9,4; 11,29) und damit in der Offenbarungsverheißung feststeht, die das Christentum im Christusereignis erkennt. Es muss immer deutlich sein, dass das Judentum geschichtlich und theologisch im ungekündigten Bund steht und dass die Tora für das Judentum innerliche Verheißung ist;975 ebenso muss christliche Theologie nicht nur geschichtlich, sondern auch theologisch jeglicher Überlegenheitsrhetorik absagen, wenn das Verhältnis von Altem und Neuem Testament, von Verheißung und Erfüllung im Licht der analogia fidei und damit im Licht der Offenbarung Gottes gesehen wird. In der Glaubensanalogie lässt sich das eine heilsgeschichtliche Handeln Gottes in historisches Denken integrieren, weshalb jedes historische Faktum etwas davon aussagt, nie aber das Ganze dessen erfasst, von dem es kündet. Im Judentum und im Christentum, somit im Alten und im Neuen Testament, stehen sich keine zwei Bünde gegenüber, sondern zeigt sich geschichtlich die Zuwendung Gottes, indem Gottes Offenbarung im Licht der analogia fidei gesehen wird. Der theologische Sinn des einen Bundes Gottes liegt darin, dass sich das Alte und das Neue gegenseitig erhellen und erklären und damit verständlich machen. Es besteht eine gegenseitige Relation und Relativierung dahin, dass sich die geschichtlichen Verwirklichungen des Bundes immer wieder ausgerichtet und verbunden wissen auf den Bund, der Gott selbst in seiner innertrinitarischen Treue ist, in die Alter und Neuer Bund hineingenommen sind. Die Glaubensanalogie hält die Gewissheit wach, dass sich im Alten und Neuen Testament nicht nur der Gott ausspricht, der sich im historischen Rahmen dieser Schriften gezeigt hat, sondern dass es auch jener ist, der sich heute und durch die Geschichte hindurch kundtut und wirkt. Erst darin kann das historisch Konkrete aller biblischen Schriften theologische Bedeutung erhalten, indem erkannt wird, dass das einzelne Faktum mehr als die raumzeitliche Deutung der Wirklichkeit, sondern Aussage und Kundgabe der geschichtsumfangenden Größe Gottes ist. In diesem Sinn darf mit G. Gäde gesagt werden: „Der Bund Gottes mit den Menschen ist also Gott selbst. Er kann durch nichts gesteigert oder überboten werden, und keine Macht der Welt vermag ihn mehr aufzuheben […]. Dieser Bund Rede davon sein, dass am Ende die Juden durch Gott selbst zum Christentum bekehrt werden, sondern Juden und Christen werden in ihrer Besonderheit bewahrt und doch so transformiert, dass ihre Unterschiede nur noch als Bereicherung wahrgenommen werden. Es geht mir hier also um eine mutual inklusive Transformationsbewegung, in der beide Seiten bereit sind, die jeweils andere Sichtweise als gültig anzuerkennen und mit in die eigene Hoffnungsfigur einzubinden“; [in Folge: K. V. STOSCH, „Die Einzigkeit Jesu Christi“]. 975 Vgl. H. HOPING, „Über das Judentum“, 625-628.

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ist selbst das – um mit Anselm zu sprechen –, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann“.976 Nur wenn Gott in seiner Beziehung in sich selbst die Treue nicht nur hält, sondern vielmehr selbst und der Logos im Geist die transzendentale Voraussetzung für die Selbstkundgabe ist, wird geschichtlich von einem ungekündigten und bleibenden Bund gesprochen werden können. In diesem Verständnis des Bundes in mehreren Bundesschlüssen und im Verhältnis des Alten und Neuen Testaments muss christliche Theologie jedem Ansatz einer Substitutionstheorie des Alten durch das Neue widersprechen.977 Es gibt keine Ersetzung des einen Bundes durch einen anderen, sondern es gibt nur die unterschiedliche geschichtliche Bezeugung und damit Verwirklichung des einen Bundes Gottes. Das Angebot des Bundesschlusses ist in der Treue Gottes in sich selbst und trinitarisch begründet, die sich in der Hingabe und im Ausspruch seiner selbst in seinem Sohn Jesus Christus zeigt und die sich in den Bundesschlüssen geschichtlich konkretisiert, sich unüberwindbar aber im Bund Jesu Christi und seiner Liebe am Kreuz manifestiert. Der Bund Gottes in Jesus Christus ist das Band des Geistes, der als der Zeuge des Sohnes das Zeugnis von Altem und Neuem Bund bewirkt und wahrhaftig macht. Spricht Paulus in Röm 911 von der bleibenden Erwählung Israels, so endet sein Gedankengang in Röm 11,30-33 mit einem Hymnus auf die Unergründlichkeit der Wege Gottes: „O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unergründlich sind seine Entscheidungen, wie unerforschlich seine Wege“ (11,30). Hier ist bei Paulus eine doxologische Umklammerung seiner Israeltheologie gegeben, die die endgültige Rettung Israels in den Heilsratschluss Gottes hineinlegt. Wie die Analogielehre E. Przywaras kann das Verhältnis des einen Bundes Gottes mit seinem Volk aus Judentum und Christentum als reductio in mysterium verstanden werden. Das Verhältnis von Altem und Neuem Testament ist im Verständnis der analogia fidei ebenfalls als eine reductio zu verstehen, als reductio in revelationem, insofern die Offenbarung immer größer und unähnlicher ist als das ausgesagte und ausgelegte Zeugnis. Die einzelnen Bundesschlüsse, besonders aber der Alte und der Neue Bund als „doppeltes Ereignis“978, weisen ihrerseits immer wieder zurück auf den einen Bund Gottes und seiner Offenbarung, wobei bei diesem Rückbezug auch die aktive Seite der Annahme des Bundes seitens des Bundespartners Mensch nicht übersehen werden darf. Dieser Bund muss trinitarisch verstanden werden, denn jeder geschichtliche Bund bedeutet nichts anders als das 976

G. GÄDE, „,Altes‘ oder ,Erstes‘ Testament?“, 173 (Hervorhebung im Original). Vgl. gegen eine Substitutionstheorie D. BÖHLER, „Israel gegen die Kirche?“, 1-23. 978 H. D. LUBAC, Glauben aus der Liebe, übers. v. H. U. V. BALTHASAR, Einsiedeln 31992, 148. 977

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Hineingenommensein des Menschen „in den trinitarischen Bund des Vaters mit dem Sohn […]. Dieser Bund ist das Pneuma Gottes selbst“.979 Offenbarung und Bund zielen auf den Menschen als Partner Gottes und kommen erst durch seine Annahme zu ihrer Bedeutung. Der Neue Bund ersetzt nicht den Alten Bund; im Licht der Glaubensanalogie kann die bleibende Unterscheidung von beiden Bünden ausgehalten werden, gerade weil sie in der einen analogia revelationis und darin in dem einen Bund Gottes aufeinander bezogen sind und bleiben. Das Mysterium lichtet sich in der Offenbarung und in Jesus Christus. Jesus von Nazareth ist in die Geschichte Israels eingewoben und lebt und glaubt mit den Schriften an die eine Offenbarung, die in seiner Person definitiv geworden ist. Das Mysterium Christi ist das Mysterium der Offenbarung Gottes als analogia revelationis.

979

G. GÄDE, „,Altes‘ oder ,Erstes‘ Testament?“, 173.

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5. Sakramentalität der einen christlichen Bibel Im Denken der analogia fidei ist das spannungsvolle Zueinander von Altem und Neuem Bund beschrieben, das zur reductio in revelationem führt. Ein heilsgeschichtlicher Ansatz der Theologie darf die reductio in revelationem jedoch nicht so verstehen, dass damit Offenbarung rein mysterienhaft aufgefasst werden muss; es ist und bleibt die Geschichte, in der Gott sich aussagt. Würde die reductio in revelationem so verstanden werden, dass Offenbarung unabhängig von Geschichte sei, dann könnte auch nicht mehr die unüberbietbare Selbstaussage Gottes in Jesus Christus angenommen werden und die biblischen Texte wären nicht mehr als Offenbarungszeugnisse zu fassen. Gott offenbart sich selbst in geschichtlicher Form und sagt sich selbst voll und ganz in Jesus Christus aus und es kommt auch immer zur fortdauernden geschichtlichen Annahme der Offenbarung durch den Menschen. Es ist das Wort Gottes, durch das alles geschaffen ist (Kol 1,16) und das damit nicht nur informiert, sondern kraftvoll und machtvoll wirkt (vgl. Jes 55,11). Mit Sakramentalität der Schrift980 soll der Moment biblischer Texte beschrieben werden, in dem es zur „entzogenen Anwesenheit“ der Offenbarung kommt, indem damit die bezeichnende Ebene biblischer Texte von der bezeichneten Ebene der Offenbarung unterschieden wird und damit eine vermittelte Unmittelbarkeit gegeben ist, wenn Ähnlichkeit und Unähnlichkeit in einer ontologischen Proportionalität zueinander stehen. Damit soll die Realpräsenz der Offenbarung Gottes heilsgeschichtlich gefasst werden. Die Sakramentalität der Schrift äußert sich auch darin, dass sich die Offenbarung als Bezeichnetes in der Bezeichnung als gestis verbisque (DV 2; verbis ac gestis; DV 14) zeigt und sich ein realsymbolisches Moment in die Offenbarung einschreibt, denn Gottes Wort und seine Heilstat bleiben auf ewig (Ps 119,89). Gott ist gegenwärtig in seinem Wort, das ihn wirklich und wahrhaft anwesend sein lässt.981 Es ist darin die 980 Siehe dazu M. FIGURA, „Zur Sakramentalität des Wortes Gottes“, IKaZ 30 (2001) 2743; L.-M. CHAUVET, Symbol und Sakrament, 213-219, der davon spricht, dass die Sakramentalität der Schrift „kein einfaches Akzidens“ ist, sondern dass es sich dabei „um eine konstitutive Dimension“ handelt (ebd. 213; Hervorhebung im Original). Zum sakramententheologischen Ansatz von L.-M. Chauvets siehe J. KNOP, „Glaube im Symbol. Anmerkungen zu Louis-Marie Chauvets symbolhermeneutischem Vorstoß“, in: M. STUFLESSER (Hg.), Fundamentaltheologie des Sakramentalen. Eine Auseinandersetzung mit Louis-Marie Chauvets „Symbol und Sakrament“ (= Theologie der Liturgie 9), Regensburg 2015, 135-148. Vgl. aus liturgietheologischer Perspektive M. BENINI, Liturgische Bibelhermeneutik, 354-388, der dabei vor allem der Analogie der Inkarnation des Logos folgt. 981 Vgl. dazu BENEDIKT XVI., Verbum Domini, 56: „Die Sakramentalität des Wortes läßt sich so in Analogie zur Realpräsenz Christi unter den Gestalten des konsekrierten Brotes und Weines verstehen […]. Christus, der unter den Gestalten von Brot und Wein wirklich

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Ähnlichkeit in der Unähnlichkeit der Aussage des Wortes offengehalten, das die geschichtliche Aussage Gottes ermöglicht. In seiner Selbstaussage wird Gott geschichtlich gegenwärtig, wie E. Herms in der Auslegung zu DV 1-2 schreibt: „Die Unterscheidung zwischen Erschließungsgeschehen und Erschließungsinhalt kann also nur die Einsicht vorbereiten, daß diese Unterscheidung im Falle der göttlichen Offenbarung ausdrücklich zu transzendieren ist zugunsten der Einheit beider (des Erschließungsgeschehens und des Erschließungsinhalts) im Prozeß der Selbstvergegenwärtigung der Sache (hier: des dreieinigen Gottes) selbst. Das hat Konsequenzen für die Rede von ,Wort‘ und ,Sakrament‘: Beide Ausdrücke bezeichnen dieselbe Wirklichkeit, nämlich die Selbstvergegenwärtigung des Schöpfers, seines schöpferischen Wollens“.982

Wort und Sakrament haben ihren tragenden Grund in der Selbstkundgabe Gottes. In derselben Gleichursprünglichkeit ihres Gehalts und ihres Ziels sind daher Wort und Sakrament so aufeinander bezogen, dass es zur Sakramentalität des Wortes und zur Worthaftigkeit des Sakraments kommt, das durch das Wirken des Geistes verbunden ist.983 Die Schrift ist das Sakrament des Wortes Gottes Jesus Christus, in dem sich das Wort vergeschichtlicht. Ein sakramentales Verständnis der Schrift ermöglicht es, die Spannung von Transzendenz und Immanenz, von Gottes Wort und menschlichem Glauben und von einer pneumatisch-kritischen Schriftauslegung zu halten, ohne dass es dabei zu einem Auseinanderdriften beider Pole kommen muss, wenn es in Analogie zur hypostatischen Union verstanden wird, in der Gott und Mensch pneumatologisch verbunden sind. Gerade in der Offenbarung ist und bleibt er – mit Anselm gesprochen – der „id quo maius cogitari nequit“. Aber im Erkennen seines Wortes in seinem Sohn und in der gegenwärtig ist, ist in analoger Weise auch in dem Wort gegenwärtig, das in der Liturgie verkündigt wird“. Einen ähnlichen Gedanken der Sakramentalität der Schrift vertritt bereits Origenes, der ebenfalls von der Realpräsenz Christi im Wort der Schrift ausgeht. Das nachsynodale Dokument greift dabei einen Gedanken auf, den SC 7 als Zusammenfassung besonders patristischer Theologie ausspricht. Siehe dazu L. LIES, „Praesentia Christi. Theologische Gedanken zu den Gegenwartsweisen Christi (SC 7)“, in: M. DREWSEN – M. FISCHER (Hgg.), Die Gegenwart des Gegenwärtigen, FS für Gerd HAEFFNER, München 2006, 414-427; vgl. auch J. PANAGOPOULOS, „Christologie und Schriftauslegung“, 47. 982 E. HERMS, „Sakrament und Wort nach römisch-katholischer Lehre“, in: DERS. – L. ŽÁK (Hgg.), Sakrament und Wort im Grund und Gegenstand des Glaubens. Theologische Studien zur römisch-katholischen und evangelisch-lutherischen Lehre, Tübingen 2011, 140-211, 145 (Hervorhebungen im Original); [in Folge: E. HERMS, „Sakrament und Wort“]. 983 Vgl. ebd. 147 und 148: „Das, was ,Sakrament‘ genannt wird, hat Anredecharakter. Und das, was ,Wort‘ genannt wird, hat Sakramentscharakter: nämlich den Charakter der anredenden Selbstvergegenwärtigung des Anredenden für den Angeredeten“ (Hervorhebung im Original); „Das Wirken des Schöpfergeistes ist es, durch das der Zusammenhang von Taten und Worten offenbarende Qualität bekommt“.

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verschriftlichten religiösen Erfahrung verschafft Gott einen Zugang zu sich selbst. Dies zu denken, ist jedoch einzig auf dem Hintergrund des trinitarischen Gottesbildes möglich. Gott, der in sich Beziehung ist, teilt sich dem jeweils anderen so mit, dass er im Sich-Mitteilen zugleich ganz bei sich selbst ist und nur so sich selbst mitteilen kann. Weil es aber die reine und absolute Selbstmitteilung des Vaters an den Sohn ist, kommt es im Sohn zur Mitteilung des Empfangenen, wofür der Geist Zeugnis ist und diese Mitteilung bestätigt. Wird die Selbstoffenbarung Gottes nun christologisch gefasst und verstanden, dann ist sie immer schon trinitarisch charakterisiert. Die Sakramentalität der einen christlichen Bibel als Zeugnis für diese Selbstmitteilung trägt daher auch die christologische Charakterisierung in sich, auch wenn es wie beim Alten Testament nicht zu einer expliziten Ausdrücklichkeit kommt. Hier ist es stattdessen die theologische Charakterisierung der bezeugten Offenbarungsgeschichten, die für das christologische Moment der Selbstmitteilung Gottes Pate stehen. Durch das Zeugnis des Geistes ist das theologische mit dem christologischen Moment verbunden und begründet damit die Einheit der christlichen Bibel aus Altem und Neuem Testament, indem die eine christliche Bibel das Evangelium Christi als die rechtfertigende Selbstmitteilung Gottes verkündet. Das Evangelium des Heils ist Jesus Christus als das Wort des Vaters, das im Geist seinen Sinn hat. Das nachsynodale Schreiben Verbum Domini 12 weist auf das schweigende Wort am Kreuz hin und deutet es gerade im Schweigen als das lebendige und lebensspendende Wort Gottes.984 Gott spricht sich in der Entzogenheit und in der Vermittlung aus. Die Sakramentalität der Schrift als reductio in revelationem ist verbunden mit einer reductio in mysterium, worin der Gedanke der Ähnlichkeit bei gleichzeitiger Unähnlichkeit enthalten ist, das aber keinen absoluten Entzug bedeutet, sondern die entzogene Präsenz als reductio in concretum in der Sakramentalität der Schrift.985 In dieser Rückführung in das Mysterium kann der Anspruch gewahrt bleiben, dass sich das Verständnis der Offenbarung nicht im Wort Gottes aufhebt. Weil das Wort Gottes im 984

Subjektphilosophisch wird das Schweigen und der Entzug des Wortes bei Derrida stark gemacht, indem sich Sinn in der Differenz zwischen Sprache und Ur-Sprache niederschlägt. Ist für Derrida die Ur-Sprache neutral, so ist theologisch daran festzuhalten, dass es gerade der Logos Gottes ist, der allem Sprechen und Schweigen Sinn gibt, da es das schöpferische Wort ist, in dem sich Gott ausdrückt. Vgl. F. BRUCKMANN, Die Schrift als Zeuge, 249-250 und 291-301. 985 E. Herms zeigt, dass das römisch-katholische Lehramt zwischen sacramentum (Zeichen des Heils) und mysterium (bezeichnete Heilswirklichkeit) unterscheidet, die aber nicht voneinander zu trennen sind. Vgl. E. HERMS, „Sakrament und Wort“, 146 (Fußnote 17) und 151. Offenbarung als Mysterium des Willens Gottes ist daher nicht von der sakramentalen Schrift zu trennen, gleichwohl sie zu unterscheiden sind, weil sich das mysterium im sacramentum realisiert.

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Glauben verständlich ist, bleibt aufgrund der Schöpfungsmächtigkeit des Wortes eine geschichtliche Unverständlichkeit, die es als Gotteswort bewahrt. Die Transzendenz Gottes als Schöpfer und in seinem heilsgeschichtlichen Handeln muss gewahrt bleiben, selbst wenn sich das Gotteswort im Menschenwort ausspricht.986 Es ist die geschichtliche Gegenwart der Offenbarung im Rahmen der Heilsgeschichte, in der der Mensch geschichtlich der transzendentalen Offenbarung entsprechen kann. Das biblische Wort ist in seiner Konkretheit ein Zeichen, das wirkt und wirkmächtig ist. Die Aussage des Gotteswortes im Menschenwort darf daher nicht nur symbolisch verstanden werden, sondern muss sakramental gefasst sein, indem die 986

Vgl. dazu G. GÄDE, „‚Altes‘ oder ‚Erstes‘ Testament?“, 161-170. Dem Autor geht es darum, eine Auffassung des Wortes Gottes und der Gott-Welt-Beziehung zu erarbeiten, die vor der kritischen Vernunft Bestand hat Es muss zwischen einer behaupteten und einer wirklichen Wirkmächtigkeit des Wortes Gottes unterschieden werden. Dabei gilt für ihn: „Die Welt kann nicht konstitutiver Terminus eines Bezogenseins Gottes auf sie sein“ (166). Das hat zur Folge: „Denn der Anspruch, Wort Gottes zu sein, läßt sich aus der Schrift Israels heraus nicht von einer beliebigen Behauptung unterscheiden“ (168), wenn die Welt nicht als die ontologische Voraussetzung für die Offenbarung gelten soll. Das Christentum kann dem entgehen, da es sich auf den trinitarischen Gott bezogen weiß. „Dieses im strengen Sinne als Glaubensmysterium zu verkündigende trinitarische Gottesverständnis ist die vom Wort Gottes selbst mit-mitgeteilte Möglichkeitsbedingung, die den Einwand des Denkens gegen die Rede von Offenbarung im Konfrontiertsein mit der christlichen Botschaft entkräftet“ (168). Es ist das trinitarische Mysterium der inneren Beziehung, in die der Mensch durch die Offenbarung hineingenommen ist, womit aber das Gottsein Gottes als Fundamentaldifferenz gewahrt bleiben kann. Erst hierbei kann von der Offenbarungswirklichkeit des Alten Testaments gesprochen werden. „Der Begriff ,Altes Testament‘ ist die christliche Interpretation der Schrift Israels. Als Altes Testament wird die Schrift Israels von den Christen gelesen. Anders läßt sie sich von dieser Position her nicht verstehen. Ihr Wort-Gottes-Charakter bleibt ohne das Neue Testament verborgen. Er wird erst durch die neutestamentliche Botschaft offenbar und kann so von den Christen gewürdigt werden“ (169). Darin findet sich die Universalisierung der alttestamentlichen Botschaft. Aber: „Die christliche Botschaft steigert die bereits von Israel ausgesagte Botschaft von der Gemeinschaft mit Gott nicht. Vielmehr läßt sie diese Botschaft überhaupt erst in ihrem eigentlichen Sinn verständlich und universal verkündbar werden“ (170). Es ist wichtig hervorzuheben, dass für G. Gäde Israel ganz im Bund mit Gott ist, dass dieser aber erst durch das Neue Testament verstehbar wird. Dagegen steht die Aussage der PBK, Das jüdische Volk, Nr. 21, das davon spricht, dass das Alte Testament „aus sich heraus einen ungeheuren Wert als Wort Gottes“ besitzt. Eine Mittelposition scheint E. Dirscherl einzunehmen, wenn er schreibt: „Aus christlicher Sicht ist es das präexistente Wort Gottes, das schon zu dem erwählten Volk gesprochen wurde, bevor der Logos Mensch wurde. Die Präexistenz des Logos steht ja nicht nur für die universale soteriologische Bedeutung Jesu Christi, sondern auch für die Gültigkeit des Gotteswortes und der Offenbarung im Alten Testament ein. Denn wäre das Wort Gottes erst nach der Geburt Jesu in die Zeit gesprochen worden, dann könnte das Alte Testament keinen Anspruch darauf erheben, Wort Gottes zu sein, denn man hätte es vorher schlichtweg nicht vernehmen können“. E. DIRSCHERL, „Gottes Wort als Fülle der Zeit. Die Heilsbedeutung des jüdischen Glaubens in der Zeit post Christum natum“, in: DERS., Das menschliche Wort Gottes und seine Präsenz in der Zeit. Reflexionen zur Grundorientierung der Kirche (= SJCh 26), Paderborn 2013, 46-68, 59; [in Folge: E. DIRSCHERL, „Gottes Wort als Fülle der Zeit“].

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biblischen Schriften innerhalb der Rezeptionsgemeinschaft die wirkende und anamnetische Vergegenwärtigung des Offenbarungsgeheimnisses in der Gegenwart sind.987 So kann in diesem Zusammenhang in der Einheit von Altem und Neuem Testament die Sakramentalität der Schrift als sacramentum Verbi ausgedrückt werden, weil sich in dem einen Wort, im einen Logos, Gott ganz und gar ausspricht und entäußert. Die Selbstentäußerung Gottes in seinem Wort schafft ansprechende Nähe, wobei er gleichzeitig die schöpfungstheologische Fundamentaldifferenz wahrt. Gottes Nähe in seinem Wort ist so nahe, dass darin die absolute Andersartigkeit mitgesetzt ist. Setzt die Glaubensanalogie die analogia entis als inneres Strukturprinzip voraus, so ist das sacramentum Verbi und die Sakramentalität der Bibel nur mit dem Prinzip der analogia fidei zu ergründen, indem es dabei zur entzogenen Nähe des Wortes Gottes kommt. Hat die Seinsanalogie ihre Möglichkeitsbegründung in der Schöpfungstat Gottes, so findet die Glaubensanalogie ihren tragenden Grund in der Einheit der Heilsgeschichte, in der sich der Glaube als Antwort auf das Offenbarungswort immer wieder neu realisiert und damit hineingenommen ist in den heilsbedingten An-spruch Gottes selbst.988 Sacramentum Verbi ist die gleichzeitige reductio in revelationem et in concretum, indem sich die gesamte Offenbarung auf das eine Wort Gottes in Jesus Christus zurückführen lässt, der durch seine Inkarnation die Konkretheit und Geschichtlichkeit der Offenbarung garantiert.989 987

Vgl. L. LIES, „Verbalpräsenz – Aktualpräsenz – Realpräsenz. Versuch einer systematischen Begriffsbestimmung“, in: DERS. (Hg.), Praesentia Christi, FS für Johannes BETZ, Düsseldorf 1984, 79-100, 97: „Bei der Verbalpräsenz verwandelt Christus unser menschliches Wort in sein Wort; zugleich wird er selbst zur ,Substanz‘ (!) des Wortgeschehens, so daß unser menschliches Sprechen nur noch die Akzidentien darstellt. Unser Wortgeschehen enthält nicht nur, sondern ist wesenhaft der ganze Christus“; [in Folge: L. LIES, „Verbalpräsenz – Aktualpräsenz – Realpräsenz“]. 988 Vgl. K. H. SCHELKLE, „Auslegung als Symbolverständnis“, ThQ 132 (1952) 129-151, 146. 989 L. Lies spricht daher in Anschluss an J. Betz von der Verbalpräsenz Christi im Wort der Schrift. Vgl. L. LIES, „Verbalpräsenz – Aktualpräsenz – Realpräsenz“, 92: „Da Verbalpräsenz zudem stets eine anamnetische Dimension besagt, weil das menschliche Wortgeschehen Sinnworte zur Gegenwart bringt, die den Logos-Christus und sein ehemaliges Heilshandeln umschließen, muß die Geschichte der Person Christi anwesend sein. Eine Geschichte der Person Christi heilswirksam zur Anwesenheit zu bringen ohne diese Person selbst, ist schlechterdings nicht denkbar. Also besagt Verbalpräsenz von ihrem anamnetischen Charakter her Personalpräsenz. Und diese wiederum ist substantiell und zugleich aktuell“. Dieser Ansatz darf jedoch nicht als eine Beschränkung der Verbalpräsenz Jesu Christi auf die neutestamentlichen Schriften missverstanden werden. Wenn L. Lies davon spricht, dass die ganze Geschichte Jesu Christi anwesend ist, dann ist es die Geschichte des Juden Jesus, der in seinem Leben und Wirken, also in seiner Verkündigung des Wortes Gottes, die Bestimmung der Erwählung Israels ist, indem er den bestehenden Bund nicht abrogiert, sondern selbst als dessen innere Bedingung verstanden wird.

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Damit beschreibt die Sakramentalität der Schrift das sacramentum Verbi, wobei die Bezeichnung als genitivus subjectivus und als genitivus objectivus zu verstehen ist. Die Sakramentalität der Schrift ist Sakrament des Wortes, indem es die geschichtliche Bezeugung des Wortes Gottes in der Welt schenkt und gerade durch den liturgischen Vollzug der Rezeptionsgemeinschaft auf sakramentale Weise die Verheißung Gottes durch den Akt des Lesens und besonders jenes des Hörens vergegenwärtigt. Die eine christliche Bibel ist aufgrund ihrer Sakramentalität wesentlich an die Rezeptionsgemeinschaft der Kirche gebunden. Sie stellt den Resonanzraum in der Geschichte dar, in dem das Wort des Heils durch die stete Verkündigung zum Erklingen kommt. Aber es ist das Wort als der Logos Gottes, der der Sakramentalität der Schrift, jedem der sieben Sakramente, ja gerade der Kirche als „Sakrament des Heils“ (LG 1; 8; 48) inneren Bestand und Wirkkraft verleiht und sie zum Realsymbol der Offenbarungswirklichkeit werden lässt. In diesem Sinn formuliert das II. Vatikanische Konzil in DV 21: „Die Kirche hat die göttlichen Schriften wie auch den Herrenleib selbst immer verehrt, weil sie, vor allem in der heiligen Liturgie, nicht aufhört, vom Tisch sowohl des Wortes Gottes als auch des Leibes Christi das Brot des Lebens zu nehmen und den Gläubigen darzureichen“.990 Darin ist nun auch der objektive Charakter der Sakramentalität deutlich, insofern das Wort Gottes nicht für sich selbst gesprochen ist, sondern es in der Selbstaussprache Gottes zu einem Überschreiten seiner selbst in die Schöpfung kommt, wodurch der Mensch angesprochen werden kann und das Schöpferwort zu hören vermag. Da der Mensch als Geschöpf und geschichtlich konstituiert ist, braucht er das Symbol, das ihm die Gegenwart des Heilswillens Gottes realsymbolisch zeigt. Durch die Sakramentalität als das realsymbolische Zeugnis des Offenbarungswillens Gottes kann der Mensch auf den Anspruch antworten und sich in das Bundesgeschehen einfügen lassen. Es ist jedoch nicht das Hören, das im Menschen bewusstseinsimmanent Heil als ein „christlich-frommes Bewusstsein“ schafft, sondern das Wort Gottes bewirkt als performatives Wort dieses Heil. Dies schließt die Freiheit des Menschen nicht aus, vielmehr ist sie die Voraussetzung, um der Sakramentalität der Schrift zu entsprechen. Das Vernehmen des biblischen Wortes ist nicht nur ein Aufnehmen, sondern soll als Bezeugung der Offenbarungswirklichkeit Gottes zu einem existentiellen Vollzug des Wortes in der Geschichte werden, wenn das biblische Wort, wie es im liturgischen Vollzug benannt wird, „Wort des lebendigen Gottes“ ist. Die Sakramentalität der Einheit von Altem und 990 Vgl. aus dem christlich-jüdischen Dialog dazu J. WOHLMUTH, An der Schwelle zum Heiligtum, 263-279.

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Neuem Testament bezeugt das eine Wort Gottes, weshalb es gerade bei und durch die Hörer ihrerseits zu einer Verwirklichung und damit zu einer Veröffentlichung des Offenbarungsinhaltes kommt.991 Das Volk Gottes konstituiert sich darin, dass es durch das Offenbarungswort gerufen und gesammelt ist und dem einen Wort Gottes folgt. Nicht das Neue Testament für sich beansprucht, Sakrament zu sein und die Form für die Sakramentalität der Schrift zu geben, sondern Altes und Neues Testament zusammen bilden die Materie für die sakramentale Wirklichkeit des Gotteswortes. Hier wird Geschichte zur Heilsgeschichte, indem Gottes Handeln durch seine sakramentale Gegenwart ein vermitteltes Handeln ist. Altes und Neues Testament bezeugen sich gegenseitig den Anspruch und die Notwendigkeit, dass das erfahrene Wort Gottes zur geschichtlichen Gestaltung ruft und Heilsgeschichte nicht nur für sich, sondern für alle Völker Wirklichkeit werden soll. Die Sakramentalität der Schrift ist verbunden mit der analogia fidei, da die Sakramentalität des Wortes Gottes die performative Kundgabe davon ist. In dieser Performativität des Wortes Gottes ist Offenbarung wirklich nicht nur bezeugt, sondern auch als Evangelium Jesu Christi vollzogen. Die Sakramentalität der Schrift kann als die Erfüllung der Glaubensanalogie gesehen werden, da in ihr das zum Ausdruck kommt, was die analogia fidei bezeichnet. Die ontologische Offenbarungsdifferenz zwischen Gott und Welt ist zusammengehalten durch die Sakramentalität des Wortes Gottes, indem es verkündet und vollzieht, was es ausdrücken möchte: das Angebot der Treue Gottes in seinem Bund, der in unverrückbarer Weise in Jesus Christus gegeben ist. Der „garstig breite Graben“ kann durch den wahren Gott und wahren Menschen Jesus Christus überbrückt werden, wenn Inkarnation und Osterglaube zusammengehalten werden.992 In dieser Verbindung ist Gott und wirkt Gott geschichtlich. Es ist das Geheimnis (sacramentum/ musth,rion) des Glaubens in der Entsprechung (analogia) zum Glaubensinhalt, welcher der bezeugte und bezeichnete Inhalt der biblischen Schrift ist, durch die sich die Offenbarung verstehbar macht. Im Letzten ist aber das verbum abbreviatum Inhalt und Vollzug der

991 Vgl. zur Öffentlichkeit des Mysteriums A. BUCKENMAIER – A. STÖTZEL – L. WEIMER, Die sieben Zeichen des Messias, 30-31, die stark das eine Volk Gottes aus Juden und Heiden als Sakrament für die Welt herausstellen. Für das Christentum bedeutet Volk Gottes zu sein: „Wir sind Volk Gottes nicht anders als vom gekreuzigten und auferstandenen Christus her“ (ebd. 58). Die Autoren verstehen dabei die Kirche als das Volk Gottes, das aber als ecclesia ab Abel gefasst ist, so dass sie sagen können: „Die Geschichte Israels ist auch die Geschichte der Kirche. Die biblischen Schriften Israels sind und bleiben die Gründungsurkunde auch der Kirche“ (ebd. 61). 992 Für H. U. v. Balthasar ist die sakramentale Gegenwart Christi nicht zu unterscheiden von seiner vierzigtägigen Gegenwart als Auferstandener in der Geschichte, dessen Garant der Hl. Geist ist. Vgl. H. U. V. BALTHASAR, Theologie der Geschichte, 70-75.

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Offenbarung,993 weil sich in ihm der Offenbarungsinhalt geschichtlich völlig entäußert (vgl. Phil 2,6-11) und aus der Gleichheit mit Gott in die völlige Unähnlichkeit Gottes ausspricht. Der Heilswille Gottes ist voll und ganz in Jesus Christus gegeben und subsistiert dadurch in den biblischen Schriften.994 Spricht LG 8 davon, dass die Kirche Jesu Christi in der katholischen Kirche subsistiert (subsistit in), dann bedeutet dies nicht, dass die Kirche Jesu Christi darin völlig aufgeht, sondern dass wiederum das Moment der analogen Unähnlichkeit mitzudenken ist. Gleichwohl ist dies aber der Grund für die Sakramentalität der Kirche (LG 1; 8; 48; AG 1; GS 45), nicht weil es zu einer äußerlichen Bezeichnung kommt, sondern da eine realsymbolische und innerliche Verbindung durch das Wirken des Wortes gegeben ist. Damit kann gesagt werden, dass auch in den biblischen Schriften das eine Wort Gottes realsymbolisch gegenwärtig ist, auch wenn es nicht voll und ganz in ihnen aufgeht. Die Selbstentäußerung Gottes in seinem Wort, im Aussprechen seines Wortes in der je größeren Unähnlichkeit beinhaltet das Schweigen, in dem sich bis in das Letzte der Sinn des Bundeswillens Gottes verwirklicht. Im Schweigen des Wortes am Kreuz ist darum die Offenbarung am lautesten zu vernehmen, weil sich darin Sinn und Ziel von Gottes geschichtlichem Handeln vollenden. „Die Sakramentalität“ – so G. Lorizio – „des offenbarenden und von Gott geoffenbarten Wortes hebt das Geheimnis nicht auf, noch vermeidet sie dessen Verborgenheit. Gott bietet sich dem Menschen nämlich nicht in der bloßen Transparenz seines Seins an, das ,sich in sich selbst verbirgt, während es sich im Seienden offenbart‘ (M. Heidegger). Es handelt sich um das grundlegende kenotische Prinzip der Offenbarung (um das sub contraria specie), nach welchem sich sein Liebesfundament ausdrückt und artikuliert“.995

In der Sakramentalität des Wortes Gottes sind Gott und Mensch zusammengeführt, weil Gott sein Wort schenkt und der Mensch eingeladen ist, es zu hören. Obwohl eine Fundamentaldifferenz zwischen Schrift und dem einen Wort Gottes gegeben ist, kommt es dennoch zu einem Zueinander der Bundespartner Gott und Mensch. Aufgrund der Sakramentalität ist das bezeugte Wort Gottes den biblischen Texten nicht äußerlich oder fremd, sondern bildet als

993

Vgl. H. D. LUBAC, Typologie, Allegorie, geistiger Sinn, 204-217. Vgl. dazu H. U. V. BALTHASAR, Theologie der Geschichte, 23-31. Der Schweizer Theologe deutet die Existenz Jesu als die Auslegung des Willens des Vaters. Seine Existenz ist aber immer ein Empfangen vom Vater, das seine Zeitlichkeit in der Geschichte bestimmt, aber nur darin „die Passion des Wortes durch die Zeiten hindurch fortsetzen kann“ (31). 995 G. LORIZIO, „Die Sakramentalität des Wortes Gottes“, 120.

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Ausweis der Erfahrung des Menschen mit Gott das innere Strukturprinzip dieser Schriften.996 Weil Gott sich in einem Wort ausspricht, erklingt auch seine Tonalität in den alttestamentlichen Schriften. Hier ist wiederum die Unterscheidung zwischen theologischem Wort Gottes, das eines ist, und geschichtlichem Zeugnis, das vielgestaltig ist, zu unterscheiden. Das Alte Testament hat seine eigene Geschichte und seinen Eigenstand, aber es ist theologisch von derselben Wirklichkeit getragen wie das Neue Testament. Dies ermöglicht, dass alttestamentliche Texte mit einer pneumatisch-kritischen Hermeneutik christologisch ausgelegt werden können, weil das Alte Testament wie das Neue Zeugnis für das eine Wort Gottes ist, das sich in den unterschiedlichen geschichtlichen Situationen unterschiedlich ausspricht, sich aber in der Heilsgeschichte nicht widerspricht. Ein christologisches Verständnis des Wortes Gottes muss beachten, dass hiermit nicht jedes Wort des Alten Testaments ein direkter Verweis auf Jesus Christus ist, auch wenn es von dem Geist bereits erfüllt ist, der vom Vater und vom Sohn ausgeht und somit in die Wahrheit des Auferstandenen und Erhöhten einführt. Wiederum gilt es, die Analogie als „theologisches Integrationsprinzip“ ernst zu nehmen und in der analogen Deutung von der Gegenwart des einen Wortes Jesus Christus im Alten Testament zu sprechen. Nur somit kann an der christologischen Begründung der Offenbarung festgehalten werden, die auch durch das Alte Testament bezeugt wird, ohne dass es damit schon zu einer christologischen Vereinnahmung kommen muss. Die Sakramentalität der einen christlichen Bibel ist somit die Beschreibung dessen, dass Altes und Neues Testament offen sind für den pneumatischen Sinn, der im Letzten in der Offenbarungs-wirklichkeit beider Testamente besteht. Die eine christliche Bibel ist Sakrament des sich offenbarenden Gottes in seinem Sohn Jesus Christus. In Anlehnung an das augustinische Wort „accedit verbum ad elementum et fit sacramentum“ (In Io 80,3; CCL 36,529) kann gesagt werden, dass in den biblischen Schriften das Wort Gottes an die Geschichte herantritt und diese im Glauben des Volkes Gottes zur Heilsgeschichte wird. Heilsgeschichte ist nicht nur in sich eine hypostasierte Wirklichkeit parallel zur Profangeschichte, sondern die glaubensgemäße Deutung der Geschichte in der Erfahrung des Wortes Gottes. Die Sakramentalität der christlichen Bibel ist als realsymbolisches Zeichen für die Offenbarung Gottes in sich immer auch der Hinweis, dass die biblischen Texte der Offenbarung hinzukommen und nicht eine 996

Vgl. E. HERMS, „Sakrament und Wort“, 152-153, hier 153, der über die Sakramente schreibt, was aber analog für die Sakramentalität der Schrift gelten kann: „Das sich selbst im Sakrament vergegenwärtigende Geheimnis ist kein anderes als das Geheimnis des in sich selbst von Ewigkeit her auf Heil, und zwar genau: auf Gemeinschaft, zielenden Schöpferwillens […]“.

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eigene Qualität der Selbstmitteilung Gottes sind. Biblische Texte stehen somit nicht einfach in sich selbst, sondern sind getragen vom theologischen Strukturprinzip der heilsgeschichtlichen Vergegenwärtigung des Wortes Gottes, in dem sich geschichtlich konkret die Heilsabsicht Gottes, wie sie sich im Bund anbietet, expliziert. In diesem Verständnis hat das Alte Testament dieselbe sakramentale Wertigkeit wie das Neue Testament, insofern sich unter dem Zeichen der Geschichte Israels die Verheißung Gottes an sein Volk konkretisiert. Die Sakramentalität zeigt sich darin, dass biblische Schriften nicht in sich abgeschlossen sind, sondern in ihrer Kanonizität für die rezipierende Gemeinschaft offenstehen, indem sie Offenbarungszeichen und -zeugnis sind, durch die die Gemeinschaft in die Gegenwart der Bundesverheißung genommen wird. Es ist die bleibende und erhaltende Gegenwart des Geistes in der Gemeinschaft, der den Bund wirkt und zur Erkenntnis des Bundes in Jesus Christus ermächtigt. Liest und verkündet die Rezeptionsgemeinschaft die biblischen Texte, dann vollzieht sich in performativer Weise die Gegenwart Gottes und seiner Zusagen und es kommt darin zu einem Bewusstwerden der Berufung in den Bund mit Gott. Die Sakramentalität des Wortes Gottes ist die ständige und bleibende Vergegenwärtigung des Bundesangebots, so dass es geschichtliche und damit wirklich existentiale Relevanz in der Gegenwart bekommt. In der Sakramentalität der einen christlichen Bibel erfahren Christen die Gegenwart Gottes, der ihnen in Jesus Christus den Neuen Bund gegeben hat und diesen eschatologisch vollenden wird. Es ist aber die Gegenwart jenes Gottes, den das Judentum in seinen Schriften erfährt, die für das Christentum das Alte Testament bilden. Es ist die Gegenwart Gottes, insbesondere in der Tora, in deren Lesen und Vollziehen sie die schöpferische Zusage der Bundesgemeinschaft erfahren.997 N. Slenczka geht es in seinem Verständnis von Kanonizität und Normativität der Schrift darum, dass das rechtfertigende Evangelium durch die Schriften verkündet wird. Wenn aber das rettende Wort die Normativität des Kanons bestimmen soll, dann muss gerade dazu die Sakramentalität des Wortes Gottes und der Bibel berücksichtigt werden. Die rechtfertigende Botschaft des Evangeliums ist nicht die wörtliche und es sind auch nicht die historischen Fakten, die mit den Texten beschrieben werden. Vielmehr ist gerade die Insistenz auf das Evangelium bereits ein Interpretationsschritt, der einerseits über das wörtliche Verstehen der Texte hinausgeht, da die frohmachende Botschaft auch nicht rein historisch-kritisch destilliert werden kann. Andererseits verweist dies auf die Sakramentalität der Schriften als bezeugende Größe, weil sich das Evangelium zwar darin ausdrückt, 997

Vgl. H. U. V. BALTHASAR, Theologie der Geschichte, 38-39.

478

aber in der Ähnlichkeit durch die je größere Unähnlichkeit charakterisiert ist und sich somit nicht auf das Neue Testament beschränken lässt. Das Evangelium Christi als Rechtfertigung weist in sich nochmals zurück auf das eine Wort Gottes, das sich im Evangelium Christi heilsbringend manifestiert. Was vor allem das Alte Testament mit der Bundesgeschichte ins Wort fasst, ist nichts anderes als die Erfahrung des ergangenen Wortes Gottes, das Heil und Leben schaffen möchte durch den Exodus in die Freiheit der Gotteskindschaft hinein. Wenn nun das ausgesprochene Evangelium Christi seinerseits wiederum in der je größeren Wirklichkeit der Offenbarung gegeben ist, so ist nicht historisch zu bestimmen, warum sich diese rettende Verheißung nur auf das Neue Testament beschränken könne und warum nicht auch im Alten Testament der Bundeswille Gottes Ausdruck der Offenbarungswirklichkeit ist, die im gesamten Schriftzeugnis ihre geschichtliche Gestalt gewonnen hat. Auch wenn das Evangelium des Neuen Testaments christologisch gefasst sein muss, so ist doch der theologische Inhalt als das rettende Handeln Gottes als bundesgemäßes Beziehungshandeln der Inhalt, der sich material nicht von der Glaubensüberzeugung des Alten Testaments unterscheidet, sondern darin den einen und gleichen Bezugspunkt hat. Neues und Altes Testament demonstrieren auf je gleiche Weise und in derselben Wertigkeit die Anwesenheit Gottes und seines Wortes in der Welt, ohne dass damit das spannungsreiche Verhältnis von Judentum und Christentum, von Altem und Neuem Testament aufgelöst wäre.998 Daher kann R. Voderholzer in seiner Studie über die Einheit der Schrift den Schluss ziehen: „Das Licht der ntl. Christusoffenbarung läßt den Anspruch des Alten Testaments, Wort Gottes zu sein, tatsächlich begründet erscheinen und entbirgt somit erst den wahren Sinn der Schrift Israels. Der geistige Sinn, der sich erst dem erschließt, der sich Christus zuwendet (2 Kor 3,13-16), ist damit auch nicht ein zusätzlicher, das Wort der alten Schrift von außen überfremdender Sinn, sondern der eigentliche und wahre Sinn, insofern auch schon die alte Schrift Zeugnis war der Offenbarung des dreifaltigen Gottes, ohne daß sie sich dessen aber ausdrücklich bewußt gewesen wäre. Es wird damit auch deutlich, daß die Verknüpfung der beiden Testamente nicht über die Vermittlung des Weissagungsbeweises oder über die Inbeziehungsetzung einzelner alttestamentlicher Typoi mit neutestamentlichen Antitypoi geschieht, sondern auf der Basis des in Christus definitiv gewordenen Wortes Gottes, das das AT eben gerade nicht zu einer vorläufigen Urkunde degradiert, sondern in das Evangelium des dreifaltigen Gottes und damit in sein wahres Sein verwandelt und dem NT gleichstellt. Nur so läßt sich tatsächlich die Verkündigung des ganzen AT

998 Vgl. dazu A. BUCKENMAIER – A. STÖTZEL – L. WEIMER, Die sieben Zeichen des Messias, 70-72. Siehe dazu auch E. DIRSCHERL, „Gottes Wort als Fülle der Zeit“, 62-66.

479

auch in der Kirche als vollgültiges Wort Gottes als sinnvoll, aber auch als notwendig darstellen“.999

Die Sakramentalität der Schrift weist darauf hin, dass das eine Wort Gottes zur Schöpfung und zur Geschichte das Voraus bildet: Es gilt das Prae des Wortes Gottes, das Voraussetzung dafür ist, dass sich das Gotteswort im Menschenwort kundtun kann. Eine historisch-kritische Exegese kann mit ihren Hilfsmitteln bis zum Menschenwort gelangen und die Kontingenz der menschlichen Worte aufzeigen, jedoch gelingt es ihr nicht, die bleibende Gültigkeit von Gottes Wort und Gnade (vgl. Ps 100,5) zu beweisen oder zu widerlegen. Die Praeposition des Wortes Gottes vor den alt- und neutestamentlichen Worten ermöglicht die Aussage des Evangeliums Christi, das in seiner christologischen Fassung jedoch nichts anderes ist als die theologische Verwirklichung des Bundes Gottes mit seiner ganzen Schöpfung. Sakramentalität der einen christlichen Bibel besagt demnach nichts anderes, als dass sich vom „Im Anfang“ (Gen 1,1) bis zum „Die Gnade des Herrn Jesus sei mit allen“ (Offb 22,21) die Heilswirksamkeit des einen Wortes Gottes ausdrückt. Als das eine Wort wirkt es durch die vielen Worte hindurch und schafft heilsgeschichtliche Wirklichkeit.

999

R. VODERHOLZER, Die

480

Einheit der Schrift, 460-461.

6.

Invocatio: Die Einheit der christlichen Bibel als theologische Aufgabe

Provocare – mit diesem Wort hat N. Slenczka die Diskussion um seine These der Dekanonisierung des Alten Testaments eröffnet. Dabei hat sich der Berliner Theologe als profunder Kenner der Theologiegeschichte gezeigt und ist nicht müde geworden, theologische Überzeugungen und Positionen konsequent zu durchdenken. In seinen Schriften zeigt er, dass sich systematische Theologie nicht auf ein abgestecktes Feld beziehen darf, sondern dass zur theologischen Rechenschaft die Vergewisserung in den verschiedenen Disziplinen gehört. Und dabei spielen für ihn das Wort Gottes der Bibel, das Selbstverständnis des Menschen und der Reformation ebenso eine Rolle wie die Denkansätze der großen reformatorischen Theologen und Philosophen. Unter diesem Geschichtspunkt darf jeder Kritiker oder Befürworter der These N. Slenczkas in seine Schule gehen. Invocatio – dieses Wort soll am Ende der vorliegenden Studie stehen und als Auftrag an das theologische Denken gerichtet sein. Die Einheit der christlichen Bibel aus Altem und Neuem Testament ist nie eine erledigte Aufgabe, sondern sie verlangt vielmehr die ständige Reflexion darüber. Hierbei darf dies nicht nur als ein Sonderthema biblischer Theologie gewertet werden. Die zwei-eine Bibel ist als das Zeugnis des Wortes Gottes Fundament und Norm für ein theologisches Denken, das sich der Vernünftigkeit und dem Anspruch der Moderne verpflichtet weiß. Christliche Theologie weiß sich vom Wort Gottes angerufen und angesprochen (invocatio) und versucht diese Anrufung in die Gegenwart hinein zu übersetzten; desgleichen begibt sie sich auch in den Wirkraum des Wortes Gottes hinein (invocatio) und lässt sich von ihm umfangen. Der Ruf des Wortes Gottes ist die Aufforderung, dem unergründlichen Geheimnis auf den Grund zu gehen. Sind biblische Texte Gotteswort im Menschenwort, so ist Theologie Auslegung des Gotteswortes, wozu die Frage nach dem Ort der Offenbarung Gottes in den biblischen Schriften gehört. Die Einheit der christlichen Bibel kann nicht rein bibeltheologisch aufgezeigt werden. Die Bibelwissenschaft arbeitet u.a. die zwischentestamentarischen Bezüge, die Kanonentstehung oder eine gesamtbiblische Rezeptionsgeschichte heraus, wobei sie notwendigerweise auf das Instrumentarium der historisch-kritischen Methode zurückgreifen muss. Die Ergebnisse sind wichtige Hinweise dafür, dass es einen inneren Bezug zwischen Altem und Neuem Testament gibt, der in der einen Bibel als Zeugnis des Wortes Gottes selbst angelegt ist. Selbst die kirchliche Definition der Einheit der christlichen Bibel kann den Anspruch der Kanonizität beider Testamente im Letzten nicht 481

begründen, wenn der theologische Ausweis der Einheit nicht gegeben ist. Somit muss auch systematisch nach der inneren Begründung für die Zusammenstellung beider Testamente zu einem normativen Buch und dessen theologischer Stringenz gesucht werden. Kann biblische Wahrheit als eine adaequatio scripturae et vitae umschrieben werden, dann zeigt sich darin, dass das von den Texten Ausgesagte lebensdienlich und glaubensrelevant sein muss. Das Offenbarungsverständnis des II. Vatikanums hat lehramtlich die Weichen dafür gestellt, was besonders in der Nouvelle théologie herausgearbeitet wurde.1000 Die Offenbarung Gottes wird nunmehr als ein geschichtliches Angebot verstanden, das die kulturelle wie geistesgeschichtliche Pluralität ernstnimmt. Der gesamtbiblische Kanon hat grundlegend seine Begründung darin, dass das Wort Gottes nicht ein leeres Wort ist, sondern dass es als prophetisches eine Wirkung zeigt (vgl. Jes 55,10-11). Wie das Alte Testament hat auch das Neue Testament prophetischen Charakter. Das verbietet jedoch, dass es zu einer von außen angetragenen Harmonisierung und Glättung der Spannungen der unterschiedlichen Zeugnisse kommt, die sich nicht nur zwischen Altem und Neuem Testament, sondern auch innertestamentarisch finden. Die Pluralität der Gotteserfahrung der biblischen Schrift wird nicht die normative Stellung des Alten Testaments begründen können, was N. Slenczka in seinem Verständnis des Alten Testaments als vorchristliche Gotteserfahrung klar gezeigt hat. Eine Beschreibung der Normativität biblischer Texte wird sich daher auf das beziehen, was die religiöse Erfahrung begründet. Hat Dei Verbum das Offenbarungsgeschehen christologisch konzentriert, so bedarf dies einer theologischen Fundierung in der Geschichte, wenn der Sohn das Wort des Vaters sein soll. Es bleibt die Aufgabe systematischer Theologie, zu zeigen, dass es das eine Wort des Vaters ist, welches sich in allen biblischen Schriften ausspricht. „Das Alte Testament“ – mit L. Schwienhorst-Schönberger gesprochen – „bezeugt die Schriftwerdung des Wortes Gottes, das Neue Testament seine Menschwerdung. In beiden Teilen der Schrift geht es um den einen Logos, das eine Wort Gottes“.1001 Das personal-dialogische Offenbarungsverständnis besagt, dass es die Person des Logos ist, in dem sich Gott ausspricht und sich dem Menschen ausliefert. Als das Wort Gottes ist Jesus Christus die Bestimmung dessen, was in den alttestamentlichen Schriften ausgesagt ist, und er fasst die Worte in sich zusammen. Das Neue Testament ist ein Ausbuchstabieren dessen, was das Christusereignis bedeutet. Es darf daher zu keiner Identifikation des 1000

Vgl. dazu T. MAYER, Typologie und Heilsgeschichte, 20-79. L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Die Einheit der Schrift“, 183 (Hervorhebung im Original). 1001

482

Christusereignisses im Neuen Testament mit dem kommen, was den theologischen Gehalt des Alten Testaments ausmacht. Dies würde nicht nur einer Substitution gleichkommen, sondern auch das Verständnis der Heilsgeschichte aufheben. Das Neue Testament als Christuszeugnis hat vielmehr in Jesus Christus teil an dem, was das Alte Testament bezeugt und wofür Jesus für sich in Anspruch nimmt, es zu erfüllen und auszudeuten. Die Beziehung des Alten Testaments auf das Wort Gottes hin darf im Anschluss an NA 4 nicht als Vereinnahmung gedeutet werden, sondern muss den Eigenwert der Bibel Israels wahren und die Bedeutung der bleibenden Erwählung Israels achten. Die Bestimmung des Alten Testaments besteht für die Christen darin, dass es in Jesus Christus zu einer unüberbietbaren Wirklichkeit dessen kommt, was im Alten Testament bereits gelebt und geglaubt wird. Das eine Wort Gottes ist und kann nur die Verbindung zwischen Altem und Neuem Testament sein. Wenn Paulus in 1 Kor 3,14-17 davon spricht, dass die Freiheit im Geist gesucht werden soll, der alles in Jesus Christus offenbar macht, dann kann damit nur die reductio in revelationem verstanden werden. Geist und Buchstabe bilden keinen Gegensatz, denn beide bezeugen auf ihre Art das eine Wort der Offenbarung. Die Offenbarungskategorie führt zu der zentralen Frage der Bibel und der ganzen Theologie. Wenn die Einheit der Schrift aufgelöst wird, dann ist immer die Frage nach dem Offenbarungsverständnis zu stellen. Das Mühen um die Einheit des biblischen Kanons stellt daher die Offenbarungsfrage in das Zentrum des theologischen Ringens, das alle biblischen Bücher zu dem einem normativen Buch verbindet. Wenn es daher ein Nachdenken darüber gibt, ob es eine Mitte des christlichen Kanons oder beider Testamente gibt oder was ein Kanon des Kanons sein kann, dann kann dies wiederum nicht selbst aus der Schrift genommen werden. Der Kanon des Kanons ist nur dann die Mitte, wenn es die Offenbarung Gottes selbst ist, die sich in den biblischen Schriften bezeugen lässt. Die Selbstmitteilung Gottes bestimmt den Anspruch und den Ausdruck der Texte, die für das Judentum und das Christentum normativ sind und ihnen das verkünden, was den Glauben begründet. Die Mitte der Schrift ist nichts Geschriebenes, sondern das extra scripturam, das aber die innere Ermöglichung der menschlichen Bibel als Gotteswort ausmacht. Wenn N. Slenczka das extra nos des Christusereignisses auf das Selbstverständnis des Menschen hin liest, sodass es im Menschen zu einer Veränderung der eigenen Wirklichkeit kommt, weil der Glaubende in Christus ist, so darf dies auch vom biblischen Kanon angenommen werden. Jesus Christus ist das extra scripturam, auf den sich das Lesen und Verstehen der Bibel bezieht. Biblische Texte führen in das Wort Gottes, das im Alten Testament theologisch vermittelt und im Neuen Testament christologisch expliziert ist, ein. So ist biblische Geschichte als Heilsgeschichte zu 483

denken, denn nur in der Geschichte kann sich das Wort Gottes aussprechen, wenn es vernehmbar und hörbar sein soll. Die Offenbarung als Mitte der Schrift ist somit nicht einzig im Buchstaben zu finden, sondern braucht die pneumatologische Vermittlung im pneumatischen Sinn, gerade weil die Offenbarung einen größeren Bedeutungsumfang hat als den Buchstaben. Sie stellt das principium dar, das sich im initium der Schrift als erste Theologie ausdrückt.1002 Das Christentum kann sich allein von seinem Offenbarungsverständnis her nicht als Buchreligion verstehen, weil es die geschichtliche Vermittlung des lebendigen Wortes Gottes ist, das es begründet. Rein als Buchreligion könnte die Offenbarung auf einzelne Schriften begrenzt werden; die personale Selbstmitteilung aber verlangt die heilsgeschichtliche Deutung durch das Wort Gottes, das von Anfang bis zum Ende erklingt.1003 Die Mitte der Schrift oder der Kanon des Kanons ist daher aus systematischer Sicht weniger als eine aus den Texten selbst zu ziehende Quintessenz, sondern vielmehr die die Schriften tragende und begründende Wirklichkeit.1004 Fühlt sich die frühe Kirche an die regula fidei in der Auslegung der Bibel gebunden, dann sagt sie damit nichts anderes aus, als dass eine Auslegung der Schrift innerhalb der Rezeptionsgemeinschaft an das heilsgeschichtliche Offenbarwerden Gottes gebunden ist. Die Mitte der Schrift ist also nicht ihre Eindeutigkeit, sondern der Wille Gottes, der das Heil des Menschen will. Darin ist nicht nur die Mitte der christlichen Bibel, sondern auch deren Einheit gegeben: „Der Begriff der Mitte“ – so L. Schwienhorst-Schönberger – „ist hier der sich seiner Herkunft nicht bewusste Erbe des älteren Begriffs der Einheit“.1005 Darin ist die Einsicht enthalten, dass beide Teile der christlichen Bibel von ein und demselben Gott begründet sind. Das Neue Testament verkündet und 1002

Vgl. P. HOFMANN, Die Bibel ist die erste Theologie, 261-275. Dafür plädiert auch T. SÖDING, „Das Buch des Lebens“, HerKorr (4/2020) 46-49. 1003 Vgl. M. GERHARDS, Protoevangelium, 81: „Da das Zentrum dieser [heilsgeschichtlichen; Anm. d. Verf.] Offenbarung Jesus Christus ist, auf den die alttestamentlichen Texte vorausweisen und mit dessen Auferstehung die Vollendung der Heilsgeschichte schon begonnen hat, kann Jesus Christus als die Mitte der ganzen Schrift gelten“. 1004 Vgl. L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Einheit und Vielheit. Gibt es eine sinnvolle Suche nach der Mitte des Alten Testaments“, in: DERS., Studien zum Alten Testament und seiner Hermeneutik (= SBAB 40), Stuttgart 2005, 225-258, 233: „Wir können also […] zwei verschiedene Bedeutungen des Begriffs ,Mitte des Alten Testaments‘ unterscheiden: die eine bezieht sich auf den Text des Alten Testaments und kann im weitesten Sinne als die literarturwissenschaftliche Bedeutung bezeichnet werden, die andere bezieht sich auf den Urheber des Alten Testaments und kann als die theologische Bedeutung bezeichnet werden“ (Hervorhebungen im Original); [in Folge: L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Einheit und Vielheit“]. 1005 Ebd. 243. Für den Wiener Alttestamentler sind in diesem Begriff der Mitte der „auktoriale“, also Gott als Urheber der Schrift, und der christologische Begriff der Mitte und der Einheit zusammengefasst. Es deutet sich hier die unabdingbare christologischtheologische Hermeneutik an.

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bekennt keinen anderen Gott als den Gott Israels, der der Gott Jesu ist. Wenn christliche Hermeneutik das Alte Testament in seinem pneumatischen Sinn, also christologisch versteht, dann ist das die legitime Lesart aufgrund der Polysemie der Texte innerhalb der Polyphonie, die ihnen durch die Zugehörigkeit zum einen Volk Gottes als Rezeptionsgemeinschaft gegeben wird.1006 Die Offenbarung des trinitarischen Gottes ist Garant für die Einheit von Altem und Neuem Testament, weshalb die biblische Einheit als communiale Einheit gefasst werden kann. Es handelt sich nicht um die empirisch exakt festgelegte Verbindung, sondern um das Gespräch zweier Zeugen über die Wirklichkeit Gottes, von dem sie sich in ihrem Lebenskontext angesprochen und innerlich verändert wissen. Auch wenn die unterschiedlichen Sinnerschließungen durch den Glauben im Alten und Neuen Testament unterschiedliche Ausgangspunkte haben, so sind sie theologisch jedoch auf nichts anderes ausgerichtet als auf die Umkehr des Menschen zu Gott, der sich als der eine und wahre Gott geoffenbart hat. Somit ist die Normativität der ganzen christlichen Bibel in der Offenbarung begründet. Wenn aber die Offenbarung und auch die Normativität christologisch charakterisiert wird, dann kann dies nur innerhalb der analogia fidei verstanden werden, da die Christologie selbst nicht aus sich selbst heraus ausgesagt werden kann, sondern immer mit der Theologie und der Pneumatologie verbunden ist. Die Glaubensanalogie erlaubt es, das Alte Testament als Offenbarungszeugnis zu verstehen und seinen Eigenwert und Eigenstand anzuerkennen. In der Glaubensanalogie ist eine explizite Theologie nicht von einer impliziten Christologie zu trennen. Theozentrik, Christozentrik und Pneumatozentrik sind also korrelativ auf die Offenbarung hin, auf welche sie immer wieder rückgeführt werden müssen: Theologie ist reductio in mysterium, weil die Offenbarung Kundgabe dieses Geheimnisses ist. Das mysterium fidei kann nicht nur ein mysterium christologicum sein, sondern ist immer als mysterium theologicum ein mysterium trinitatis, wenn Offenbarung überhaupt verständlich sein soll. Mit B. Gertz lässt sich daher der Zusammenhang von Offenbarung und Bibel beschreiben: „Die Einheit der Offenbarung Alten und Neuen Bundes ist begründet in der Urheberschaft des Einen Gottes; Offenbarung des Alten Bundes ist darum notwendig ,zur Offenbarung des Neuen Bundes hin‘; Offenbarung des Neuen Bundes ist darum notwendig ,von der Offenbarung des Alten Bundes

1006

Vgl. G. STEMBERGER, „Hermeneutik der jüdischen Bibel“, 140: „Offenbarung lässt sich nicht auf einen einzigen Sinn, auf dogmatisch formulierbare Wahrheiten reduzieren“. Was der Judaist für die Bibel Israels ausspricht, darf auch auf die christliche Bibel übertragen werden.

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her‘. Jegliche Deutung der Gesamt-Offenbarung ist darum notwendig an dieses ,Zu-hin‘ und jenes ,Von-her’ gebunden“.1007

Die Offenbarung Gottes eröffnet die Möglichkeit, die Geschichte nicht einzig als Heils- oder Unheilsgeschichte zu deuten, sondern in der Hoffnung auf die Fülle und Erfüllung der Geschichte zu leben. Der normative Charakter der christlichen Bibel und das Zeugnis ihrer Einheit sind damit auch ein geschichtliches Zeugnis dafür, dass Gott in der Geschichte seiner Verheißung treu bleibt. Der Alte Bund ist nicht abrogiert und für obsolet erklärt, wenn das Christusereignis offenbar geworden ist. Die Verheißung Gottes bleibt bestehen und im Festhalten des Judentums an dieser Verheißung geschieht Geschichts- und Weltdeutung. Das Christentum kann aber nicht von der Verheißung Gottes in Jesus Christus absehen, sondern versteht die geschichtliche Hoffnung unter dem Vorzeichen des Sohnes Gottes. Eine pneumatischkritische Schriftauslegung ist nicht nur eine Hermeneutik für biblische Texte, sondern sie ist zugleich auch Weltauslegung,1008 die ihrerseits christologisch deutet, was die alttestamentliche Verheißung theologisch erklärt. Mit der Bibel kommt es daher zur Intertextualität von Offenbarung und Welt, insofern im Glauben an die Offenbarung die Welt gelesen und gedeutet wird, was mit dem Begriff der Heilsgeschichte ausgedrückt werden soll. Die christliche Bibel ist in ihrer Einheit das Buch, das die Fundamentalbestimmung des Menschen und seine Deutung in der Geschichte beschreibt. Als Buch der religiösen Erfahrungen ist die Bibel daher immer auch der Anspruch, sich zum Wort Gottes zu bekehren1009 und sich auf dieses Wort geschichtlich einzulassen, wenn ihm das Vertrauen und die Hoffnung zugesprochen wird, die alle Verheißung verspricht: „Dein Wort ist meinem Fuß eine Leuchte, ein Licht für meine Pfade“ (Ps 119,105).

1007

B. GERTZ, Glaubenswelt als Analogie, 418. Vgl. W. KASPER, „Das Verhältnis von Schrift und Tradition. Eine pneumatologische Perspektive“, in: DERS., Theologie und Kirche, Band II, Mainz 1987, 51-83, 83; [in Folge: W. KASPER, „Das Verhältnis von Schrift und Tradition“]. 1009 Vgl. H. D. LUBAC, Typologie, Allegorie, geistiger Sinn, 27: „Das Wort Gottes, das lebendige und wirksame Wort, erhält seine wahre Vollendung und die Fülle seiner Bedeutung nur durch die Umwandlung, die es im Menschen bewirkt, der es aufnimmt. Daher auch der Ausdruck ,zum geistigen Sinn übergehen‘, was nichts anderes heißt, als ,sich zu Christus bekehren‘, wobei diese Bekehrung niemals als abgeschlossen zu betrachten ist“. 1008

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DIE EINHEIT DER CHRISTLICHEN BIBEL: PERSPEKTIVEN UND HERAUSFORDERUNGEN Christliche Theologie setzt bei dem an, was sie bedenkt, und versucht, es ins Wort zu bringen. Theologisches Denken kann nicht vom Wort absehen, wenn alles menschliche Denken immer worthaftes Denken ist. Dabei ist es an das menschliche Wort und an das vernunftgeleitete Wort gebunden. Aber es weiß sich auch rückgebunden an das Wort, das am Anfang steht und der Welt Sinn geben möchte. Das sinnhafte und sinnstiftende Wort ist jedoch niemals einfach und evident, sondern es fordert zu einem Nach-denken und einem Vor-denken heraus. Der Kanon der Schriften, der das eine Wort in die vielen Worte fasst, verlangt dieses Be-denken. Wenn das Christentum an der Überzeugung festhält, dass seine kanonische Schrift aus Altem und Neuem Testament besteht und diese Einheit normativ sein soll, dann bedarf dies der Reflexion, bei der christliche Theologie ihrer Voraussetzung auf den Grund geht. Aus der normativen Einheit von Altem und Neuem Testament entstehen dann immer auch neue Herausforderungen und Perspektiven in der Theologie und für die Theologie, die sich aus der geschichtlichen Situation, dem rationalen Anspruch oder dem interreligiösen Gespräch ergeben können. In diesem Sinn ist der biblische Kanon nicht abgeschlossen, insofern er immer wieder Anstöße für theologisches Fragen bildet. Die Kanonizität besteht primär nicht in der Festsetzung einer bestimmten Anzahl von Büchern für eine Glaubensgemeinschaft, sondern in der Umschreibung dessen, was den tragenden Grund für diese Gemeinschaft beschreibt. Normativ ist dieser Kanon, weil sich an ihm die Selbstvergewisserung der Glaubensgemeinschaft entscheiden muss. Die kanonische Funktion der Schrift „ist die normative Grundlage für eine Religion, d.h. aus ihr wird das Zeichensystem einer Religion immer wieder neu rekonstruiert“.1010 Diese Rekonstruktion des Zeichensystems verlangt daher immer nach Auslegung in der Geschichte und durch die Geschichte. Die kanonische und normative Gestalt der einen christlichen Bibel besteht also darin, dass sie in ihrer Einheit auf den Grund verweist, den das Zeichensystem einer Religion bezeichnet. Daraus ergibt sich eine Perspektive und Herausforderung für eine an der Einheit der christlichen Bibel orientierten Theologie. Zunächst wird gelten, dass das Prae der Offenbarung Gottes vor dem Zeugnis der Schrift immer gewahrt und bewahrt bleiben muss. Die Einheit der christlichen Bibel und ihre Auslegung sind auf das Prae der Offenbarung bezogen, die den Sinngrund bildet, der immer wieder neu erschlossen werden muss. Wenn sich reformatorische Theologie auf 1010

G. THEISSEN, „Bibelhermeneutik als Religionshermeneutik“, 303.

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das sola scriptura beruft, das mit den anderen solae im solus Christus zusammengefasst ist, dann bedarf dies nochmals einer Vertiefung. Die Einheit der Schrift ist begründet und weist zurück auf den sich offenbarenden Gott, wofür die biblischen Texte Zeugnis sind. Das Prae der Offenbarung verlangt eine sola revelatio, aus der sich das solus Christus ergibt. Theologie, Christologie und Pneumatologie stehen in einem wechselseitigen Zusammenhang. Ebenso wie die Pneumatologie aus der Theologie und der Christologie hervorgeht, kann die Christologie nicht losgelöst von der Theologie begründet werden. Die Sakramentalität der Schrift umschreibt den Rahmen ihrer Einheit, in der sich Offenbarung kundtut. Die Einheit der Schrift besteht also in der heilsgeschichtlichen Offenbarung Gottes, die sich in den unterschiedlichen Bezeugungen ausdeutet und zugleich für das Christentum im einen Zeugen Jesus Christus kulminiert. Einzig das Prae der offenbarungstheologischen Begründung der Einheit der christlichen Bibel ermöglicht die Annahme, „dass die jüdische Lesung der Bibel eine mögliche Leseweise darstellt, die sich organisch aus der jüdischen Heiligen Schrift der Zeit des Zweiten Tempels ergibt, in Analogie zur christlichen Leseweise, die sich parallel entwickelte“.1011 Die jüdische Leseweise ist für die Bibelkommission eine von der christlichen verschiedene, aber keine absolut getrennte Leseweise, sondern eine mögliche, weil sie sich aus dem gemeinsamen Bezug auf die Offenbarung Gottes ergibt. Wenn das Christentum die Offenbarung Gottes christologisch fasst und versteht, dann kann dies kein Widerspruch zu einer theologischen Auffassung davon sein, sondern muss als weitere Explikation und heilsgeschichtliche Deutung verstanden werden, indem sich in beiden Auslegungsmöglichkeiten die Treue Gottes zur Welt ausdrückt. Was im Alten Testament theologisch gefasst ist, steht nicht im ausschließenden Widerspruch zum christologischen Neuen Testament und der christologischen Erschließung der Theologie. Biblische Hermeneutik muss in ihren einzelnen Aussagen also den sie begründenden Hintergrund mitdenken und präsent halten.1012 Einer Auslegung biblischer Texte geht es somit nicht um sich selbst. Sie bezieht sich auf Sprache, wobei es in der Auslegung der Sprache zu 1011

PÄPSTLICHE BIBELKOMMISSION, Das jüdische Volk, Nr. 22. Vgl. J. SCHELHAS, Christozentrische Schriftauslegung, 477: „Die Einheit der Heiligen Schrift kommt in der formalen Ausrichtung der einzelnen Aussagen auf die inzwischen mehrfach genannten res der Bibel zum Tragen. Die res bezeichnen und realisieren den christozentrischen Einheitspunkt sämtlicher Schriften des biblischen Kanons. Als Indiz für das Schwergewicht der Einheit der Schrift liest sich Augustins Warnung, der zufolge ein Schriftausleger die Zeichen/Worte der Bibel nicht mit den Dingen (res) der Bibel verwechseln dürfe (vgl. [De doctr. Christ; Anm. d. Verf.] 3,6,10,23). Anders gewendet: Die Texte müssen auf die Sache hin erklärt werden; die Sache selbst fungiert dabei wie ein Kompass, der die Texte in ihrer Auslegung orientiert, stützt, bindet und normiert“. 1012

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ihrer Überschreitung kommt und ihr unsagbarer Gehalt durch die Auslegung sagbar wird. Biblische Hermeneutik müht sich um die Aussage religiöser Erfahrung, die von der Offenbarung Gottes betroffen ist. Das betrifft die Historizität der Erfahrung, die aber ihrerseits wiederum offen ist für das, was sich innerhalb dieser Geschichte aussagen will. Das Entscheidende der religiösen Erfahrung ist nicht deren Zeugnis in den Schriften, sondern der Erfahrungsgegenstand, auf den sie sich bezieht. Aus diesem Zusammenspiel von Geschichte und Auslegung wird der Bibel Autorität zugesprochen, weil sie den letztgültigen Grund spiegelt. Darum „muss [man] die Autorität der Bibel gegenüber der Autorität Gottes relativieren“.1013 Die Autorität der Schrift ist abgeleitete Autorität, die relativ zur Offenbarung ist, indem sie sich auf sie bezieht und durch sie in Frage gestellt ist. Die Bibel und ihre Auslegung müssen sich immer wieder in die Krise führen lassen, um die Unterschiedenheit (keine Trennung) zur Offenbarung Gottes bewusst zu haben. Die christliche Bibel steht im Alten und Neuen Testament in der Kette der traditio, indem sich das Gotteswort in das Menschenwort übergibt und das geschriebene Wort in Verbindung und Tradition mit dem ausgesprochenem Wort Gottes steht. Die Tradition kann aber auch so aufgefasst werden, dass die Überlieferung des Offenbarungswortes in die Geschichte die Entäußerung in das menschliche Denken bezeichnet. Es ist die Unterscheidung von Beziehung und Krise, die den Raum für Theologie und insbesondere für wissenschaftliche Exegese schafft, indem in den Schriften das unzugängliche Geheimnis Gottes zugänglich ist. Wenn negative Theologie auf das unausschöpfbare Geheimnis Gottes verweist, so kann sie dies, weil sie in den biblischen Texten das überlieferte Zeugnis für die Wirklichkeit Gottes hat. Das Neue Testament steht nicht nur in der Tradition des Alten Testaments, sondern Altes und Neues Testament sind zusammen Moment der traditio des Gotteswortes, in der sich Gott ausspricht. Theologie und insbesondere Exegese stellen sich dann in die Überlieferung des Offenbarungswortes und führen in der jeweiligen geschichtlichen Stunde sowohl in die Beziehung zum Ursprung als auch in die Krise des Glaubens, der sich immer vor dem Offenbarungswort zu bewähren hat.1014 Daraus folgt natürlich, dass die Schrift nicht die direkte Unmittelbarkeit der Gottesbeziehung gibt. Hier ist der Gedanke an die Unmittelbarkeit des christlich-frommen Bewusstseins tatsächlich stark zu machen, zu dem das Schriftzeugnis sekundär ist, weil sich das 1013

S. ZIMMER, Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben?, 22. Vgl. W. KASPER, „Das Verhältnis von Schrift und Tradition“, 76: „Die im theologischen Sinn verstandene Tradition ist die in Lehre, Leben und Liturgie der Kirche geschichtlich wie geistlich ausgelegte Schrift“.

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Bewusstsein nicht in der Abhängigkeit zum Buchstaben, sondern zum Geist weiß. Nicht weil die Schrift an sich inspiriert und wörtlich wahr ist, kommt es zur Gottesbeziehung, sondern weil der Leser der Schrift in der Rezeption der Texte in die Beziehung genommen ist, von der die Texte künden.1015 Die Unmittelbarkeit im Bewusstsein als Reflex auf das Christusereignis ist dahingehend nochmals vermittelt, indem sie in der pneumatologischen Vermittlung gegeben ist. Die persönliche Gottesbeziehung ist nicht in der Unmittelbarkeit zur Offenbarung gegeben, sondern im Offenbarungswort, das sich durch die pneumatologische Leitung mehr und mehr erschließt und das wiederum auf das Prae der Offenbarung verweist. Eine weitere Herausforderung und bleibende Perspektive ist für das Verständnis des Evangeliums Christi gegeben. Es ist das Anliegen N. Slenczkas, dass das Evangelium Christi die Normativität christlicher Schriften begründet und damit Grund der christlichen Existenz ist. Der normative Kanon biblischer Texte ist dort gegeben, wo dem Christen die rechtfertigende Botschaft Jesu Christi zugesprochen wird und er sich von dieser Botschaft in das Heil hineingenommen weiß. Damit nimmt der Berliner Systematiker die protestantische Tradition des Evangeliums hinter dem Evangelium auf, das in der Rechtfertigungslehre ihre Entfaltung bekommt. Dennoch bleibt zu fragen, wie dieses Evangelium konkret gefasst werden kann, welche Kriterien für seine Bestimmung gelten können und in welchem direkten Bezug es zu dem geschriebenen Text der Evangelien steht. K.-H. Menke antwortet mit Gedanken J. Ratzingers auf diese Fragen: „Die genuin protestantische Rede von ,dem Evangelium‘, das dem Plural der Evangelien als kanonisierendes Prinzip vorausliegt, beschreibt aus Ratzingers Sicht eine Fata Morgana. Prinzip der Kanonisierung ist nicht ein Evangelium vor den Evangelien, sondern die mit dem auferstandenen Christus kommunizierende Kirche. Sie wählt die Zeugnisse aus, die sie in verschriftlichter Gestalt für immer in ihr Gedächtnis einschreibt und also kanonisiert. Die Kirche ist ,creatura Verbi‘, wenn das lateinische Wort ,Verbum‘ die Bezeichnung des Fleisch gewordenen Logos meint; aber sie ist nicht ,creatura scripturae‘. Die Kirche ermöglicht die Schriftwerdung ihres Bekenntnisses zu Jesus Christus; nicht umgekehrt die Schrift das Christusbekenntnis der Kirche!“1016

Der biblische Kanon und seine Normativität entspringen der Rezeptionsgemeinschaft der Kirche, die in den Texten aus Altem und 1015

Vgl. M. OEMING, „Das Alte Testament als inspiriertes Wort Gottes?“, 97: „Die Zuschreibung von Inspiration kann nicht am Einzelwort geschehen, sondern sie ergibt sich aus dem Wesen des Kanons, welches primär in Dialogik besteht“ (Hervorhebung im Original). 1016 K.-H. MENKE, „Kreuz und Auferstehung Jesu Christi. Annäherungen an das JesusBuch des Papstes“, in: J.-H. TÜCK (Hg.), Passion aus Liebe. Das Jesus-Buch des Papstes in der Diskussion, Ostfildern 2011, 193-217, 196-197.

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Neuem Testament ihre Identitätsvergewisserung erfährt. Das Evangelium Christi ist an das Zeugnis von Altem und Neuem Testament gebunden und gewinnt in der Einheit der christlichen Bibel seine Kraft und Plausibilität. Es erweist sich als die Verwirklichung dessen, was den einen theologischen Bund Gottes mit seiner Schöpfung trägt. Damit schließt das Evangelium Christi auch die rechtfertigende Gnade ein, es muss aber weiter gefasst werden als das, was die neutestamentlichen Schriften beschreiben. Das Evangelium ist auch im Alten Testament und für das Volk Israel gegeben, das sich im Bund mit Gott weiß und in diesem Bund evangeliumsgemäß lebt, wenn es der Tora folgt.1017 Es ist die Treue Gottes in seinem Sohn, die sich in den alten und neuen Bund hinein ausspricht. Aus diesem Wissen und Glauben heraus ist der Kanon des Alten und Neuen Testaments entstanden. Wenn von einem Evangelium vor den Evangelien gesprochen werden soll, dann kann dies einzig das Evangelium sein, von dem sich das eine Volk Gottes angesprochen weiß und in dessen Bund es steht. Das Evangelium vor dem Evangelium ist der Glaube der Kirche, die sich vom Wort Gottes begründet erfährt, und das Wissen, im Bund Gottes zu sein. Die Verschriftlichung davon beginnt aber für die Kirche nicht erst mit der neutestamentlichen Kanonbildung, sondern bereits dort, wo sich der Glaube an den Bund Gottes verschriftlicht. Die Kirche ist Volk Gottes vom Bund her. Wird das Evangelium vom Alten Testament getrennt, dann besteht die Gefahr, dass es sich zu einer gnostischen Lehre verwandelt, die geschichtsenthoben und steril wird. Wie die Tradition muss sich die Botschaft des Evangeliums an der Geschichte, in der Geschichte und an der Tradition der Rezeptionsgemeinschaft konkretisieren. Das Werden des christlichen Schriftkanons hat die alttestamentlichen Schriften nicht als negative Kontrastfolie zum Evangelium aufgenommen, sondern aus der Überzeugung, dass in diesen Texten bereits die Gnade wirkt, die im Evangelium nochmals neu ins Wort gefasst ist. Darin liegt die antimarcionitische Entscheidung der Kirche begründet, die sich gegen Marcion und zum Alten Testament bekannt hat. Es war nicht der sich bildende neutestamentliche Kanon, der die Kirche hat entstehen lassen, sondern das Bewusstsein der werdenden Kirche, dass es als Volk Gottes im Bund mit Gottes Treue steht. Im Festhalten am Bund Gottes und im Glauben an seine Treue war das Christusereignis nicht der Absprung vom bisherigen Glauben, sondern die logische Konsequenz aus dem Glauben der ersten Christen. Die antimarcionitische Entscheidung der Kirche und deren bleibende 1017

Vgl. P. HOFMANN, Die Bibel ist die Erste Theologie, 249: „Das Evangelium ist die Tora der Kirche, so wie umgekehrt die Tora das Evangelium Israels genannt werden darf […]“ (Hervorhebung im Original).

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Bedeutung muss umso mehr hervorgehoben werden, als die Gruppe der Judenchristen immer kleiner wurde. Dass die immer größer werdende heidenchristliche Kirche in der Rezeption an der Bibel Israels festgehalten hat, unterstreicht den Glauben an den Bund Gottes.1018 Dabei übernimmt die Kirche die Kategorie der Schriftlichkeit, um einen Kanon entstehen zu lassen, wie W. Kasper beschreibt: „Schriftlichkeit ist schon im Alten Testament die Weise, wie der ein für allemal geschlossene Bund zum Zeugnis für spätere Generationen ,dokumentiert‘ wird. Die Schriftwerdung des Wortes Gottes ist also ein inneres Moment des Ein-für-allemal der Offenbarung; deshalb nimmt sie an deren Inspirierbarkeit und Kanonizität (im Sinn von Maßstäblichkeit) teil (K. Rahner). Darum bezeugt die Heilige Schrift nicht nur Gottes Wort, sie ist Wort Gottes in menschlichem Wort und durch menschliches Wort. Sie ist geistgewirkte Ur-kunde des Evangeliums, durch welche Gott im Heiligen Geist immer wieder neu zu uns spricht“.1019

Die Schriftlichkeit ist keine Nebensächlichkeit für den Kanon und für das Evangelium, sondern die Folge der bleibenden Vergewisserung, die durch das Wort Gottes zugesprochen wird. N. Slenczka bezieht sich bewusst auf das reformatorische nichtschriftliche Evangelium, das für ihn die Zusage und das Vertrauen der rettenden und erlösenden Liebe Christi darstellt. Hier darf an ihn aber die Frage gestellt werden, ob dies nicht eine Einschränkung des Evangeliums bedeutet, wenn es nur auf die reformatorische Formel der Rechtfertigung bezogen und nicht mit der Kategorie des Bundes zusammen gesehen wird. Sein Verständnis darf jedoch nicht missverstanden werden, als ob er damit dem Alten Testament den WortGottes-Charakter absprechen würde. Zu diesem Urteil kann man nur bei einer oberflächlichen Lektüre seiner Texte gelangen. Aber das Verständnis von Evangelium darf nicht von der Glaubenstradition der Kirche abgetrennt werden und muss sich auch auf den Inhalt beziehen, für den die Kirche den Begriff Evangelium einführt. Die Evangelien bilden zwar die Lebensbeschreibung Jesu und wollen damit den Glauben an ihn als den Christus stärken, aber sie stehen damit im Glauben der alttestamentlichen Theologie. Wenn das Evangelium christologisch konzentriert ist, so könnte dies als religionstheologische Periodisierung aufgefasst werden. So könnte die Bibel Israels als theologische und das Neue Testament als christologische Offenbarung des Wortes Gottes verstanden werden. Die Kirchengeschichte zeigt 1018

Es muss jedoch immer auch im Blick behalten werden, dass der entstehende Kanon aus Altem und Neuem Testament nicht theologisch überfrachtet werden darf, sondern dass auch die historischen Umstände des 3. und 4. Jahrhunderts für die Kanonwerdung eine gewichtige Rolle spielen, indem ein Interesse an der Kirche mit ihren Schriften für die politische Einheit des Reiches bestand. Vgl. dazu K. SCHMID – J. SCHRÖTER, Die Entstehung der Bibel, 349-356. 1019 W. KASPER, „Das Verhältnis von Schrift und Tradition“, 81 (Hervorhebung im Original).

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besonders im Chiliasmus, der bei Joachim von Fiore den bekanntesten Vertreter gefunden hat, die Versuchung einer Periodisierung, die dem Hl. Geist ein eigenes Zeitalter zuschreibt.1020 Für ihn war das Alte Testament Ausdruck für das Zeitalter des Vaters und das Neue Testament Ausdruck für den Sohn. Dagegen muss an der trinitarischen Fassung der einen Offenbarung Gottes festgehalten werden, die bereits das Alte Testament mit umfasst und Evangelium sein lässt. Gegen die Periodisierung der Offenbarung spricht auch das personale Verständnis der Offenbarung und ein erneuerter Inspirationsgedanke, der von der Annahme einer Verbalinspiration Abschied genommen hat. Weil sich Gott immer als er selbst aussagt, sagt er sich von Beginn der Geschichte an trinitarisch aus. Auch wenn von der einen Offenbarung Gottes ausgegangen wird, so ist dennoch unverkennbar, dass das Neue Testament Neues verkündet. Dabei wird das Neue des Neuen Testaments weniger auf der historischen Ebene zu suchen sein. N. Slenczka hat nie die historische Verankerung der Predigt Jesu und der ersten Christengemeinden in der jüdischen Glaubenswelt bestritten. Aber in seinen Ausführungen beharrt er auf den Auswirkungen „einer religiösen ,Neuheitserfahrung‘“, die „eine Kategorie gegenwärtiger Erfahrung ist, und zwar zunächst eine existentielle Kategorie im Sinne einer Kategorie des Selbstverständnisses“.1021 Damit hebt er die Frage des Neuen von der historischen Frage ab und zeigt, dass die historische Frage niemals nur objektive Folgen hat, sondern dass ein historisches Ereignis wie das Christusereignis immer auch subjektive Konsequenzen für das Selbstverständnis hat. Geschichte gibt es nicht als rein historisches Faktum, sondern immer nur im Verhalten des Subjekts zu diesem historischen Ereignis, das sich in einer „semantischen Neustrukturierung“ eines vorgefundenen „semantischen Feldes“ niederschlägt.1022 Dagegen wird es die Herausforderung sein, dass nicht nur die historischen und theologischen Voraussetzungen im Alten Testament für das Neue des Neuen Testaments bewusst sind, sondern dass auch nach der existentiellen Sinnhaftigkeit dieser Texte gesucht wird. Das Neue des Neuen muss das Neue im Alten aufspüren, ohne das das Neue selbst alt sein würde. N. Slenczka sieht zu Recht, dass sich das Verhältnis von Altem und Neuem Testament nicht allein historisch darstellen lässt, sondern dass auch die existentielle Dimension coram Deo einzubeziehen ist. Jedoch wird man nicht umhinkommen, das Verhältnis der normativen Einheit der Schrift auf das „semantische 1020

Vgl. hierzu T. PRÜGL, „Ins Zeitalter des Heiligen Geistes. Geschichtstheologie als Reformprogramm im Gefolge Joachims von Fiore“, IKaZ 48 (2019) 616-632. 1021 N. S LENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 262 und 263. 1022 Vgl. ebd. 268-273.

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Feld“ fokussieren zu wollen, wie es der Berliner Systematiker mit F. Schleiermacher tut. Dass die Sprache existentielle Bedeutung hat, zeigt sich bereits damit, dass es ein Denken niemals ohne Sprache gibt, in der das eigene Ich seinen Ausdruck findet. Wenn man das Neue existentiell auslotet, dann steht die existentielle Neuausrichtung in einem historischen Kontext, zu dem sie sich verhalten muss. Das Neuverständnis kann zu einem Neuen des Neuen werden, das sich vom Alten absetzt, aber es kann auch zu einem Neuverstehen werden, das am Alten festhält, indem es das vorliegende „semantische Feld“ bedenkt, in ihm denkt und es gerade somit zum eigenen existentiellen Vollzug werden lässt. Das Christentum denkt nicht nur das „semantische Feld“ des Alten Testaments weiter und konstruiert es neu, sondern denkt in der existentiellen Bestimmung dieses Feldes das Christusereignis. Die Neukontextualisierung alttestamentlicher Voraussetzungen durch das Christusereignis kann natürlich zu einer existentiellen Eingliederung dieser Voraussetzungen führen. Hier wäre jedoch zu klären, warum eine Neukontextualisierung zugleich ein Absetzen bedeuten muss. Unklar bleibt aber beim Anliegen N. Slenczkas die Bestimmung des Neuen Testaments auf das Neue. Sein Gedanke muss wohl so gefasst sein, dass es im Selbstverständnis des Glaubenden immer wieder zu dieser Neukontextualisierung des Neuen kommt und damit zum christlich-frommen Selbstbewusstsein wird. Jedoch bleibt dabei unklar, weshalb nur das alttestamentarische „semantische Feld“ einer Neukontextualisierung unterworfen ist. In Folge einer entsubstantialisierten Theologie und ihrem Denken muss auch das Neue des Neuen als „semantisches Feld“ jeweils neu kontextualisiert werden. Wenn im Gedanken der absoluten Kontingenz vom erlösenden Gott in Jesus Christus nur noch als Möglichkeit gesprochen und gedacht wird,1023 dann muss sich das Neue des Christusereignisses auch in diesem Horizont noch einmal neu kontextualisieren. Das Wissen und der Glaube an die Erlösungsbedürftigkeit sind aber in diesem Horizont des möglichen Gottes nicht mehr an den allmächtigen Gott gebunden, sondern die Möglichkeit einer kontingenten Erlösung muss zumindest mitgedacht werden. Wenn N. Slenczka das Alte Testament als den vorchristlichen Ausdruck der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen vor Gott verstanden wissen will, dann gibt er damit eine Antwort auf die Frage der Neukontextualisierung des Neuen im Rahmen eines entsubstantialisierten Denkens. Gerade das im Alten Testament ausgedrückte Wissen und der Glaube an die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen durch den Gott, der mit ihm in den Bund getreten ist, ist das Neue des Alten, ohne dass 1023

Vgl. M. STRIET, In der Gottesschleife. Von religiöser Sehnsucht in der Moderne, zweite, durchges. und erweit. Aufl., Freiburg – Basel – Wien 2015.

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das Neue des Neuen alt wäre. Das Neue des Neuen Testaments ist das Alte, das aber neu zur Sprache gebracht ist, jedoch existentiell in einer neukontextualisierten Weise.1024 Es wird eine weiter zu klärende Frage sein, ob ein gegenwärtiges reflexives Selbstverständnis des Christusbewusstseins sich notwendigerweise von seinen historischen Voraussetzungen absetzen muss, wenn es sich neu versteht. Das christliche Selbstverständnis wird nicht umhinkönnen, das Selbstverständnis Jesu mitzubedenken und in ihm den Grund für das Verhältnis zum Alten Testament zu suchen. Es wird die Aufgabe exegetischer und systematischer Theologie sein, weiter nach dem Selbstverständnis Jesu1025 zu suchen, da nicht alle neutestamentlichen Aussagen als nachösterliche Zuschreibung der Gemeinde erklärt werden können. Der Sinnzuwachs durch das Neue im Christusereignis kann als Neustrukturierung des „semantischen Feldes“ gefasst werden, das jedoch nicht sagt, dass der Sinn im Alten Testament nicht bereits gegeben ist. Hier ist die Unterscheidung, aber nicht Trennung von historischem und pneumatischem Sinn stark zu machen, durch die das Neue mit dem Alten gedacht werden kann. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es zu einer Einheitlichkeit alttestamentlicher und neutestamentlicher Aussagen kommt. Alt und neu stehen in einem dialektischen Verhältnis, in dem es zu einem Verstehen und zu einem Festhalten kommt, weil nicht Widerspruch, sondern bleibender Einspruch als Mahnung und Hinweis bleibt.1026 Das Neue des Neuen ist neu, weil es eine Wirklichkeitsdimension erschließt, die eine Möglichkeit des Alten darstellt, auch wenn sie nicht expliziert ist. Das Neue des Neuen Testaments darf nicht als Absetzung vom Alten verstanden werden, sondern als das, was die Bezeichnung des Testaments mit alt als ehrwürdig oder erhaben ausdrücken will. Das Alte hat bleibende Bedeutung für das Neue, ohne dem das Neue nicht neu sein kann und es hat gleichsam eine „Schutzfunktion“ für die Christusverkündigung: „Das Alte Testament bewahrt“ – so schreibt H. W. Wolff – „das Christusereignis davor, in Christus-Philosophie zu entarten. […] Das Alte Testament bewahrt die christliche Botschaft vor falscher Individualisierung […] Das Alte Testament bewahrt die christliche Botschaft vor Transzendentalismus“.1027 Wenn sich die neutestamentliche Botschaft nicht nur auf das Alte Testament sprachlich bezogen weiß, dann findet es in ihm die heilsgeschichtliche Verankerung, ohne die jede Christusverkündigung Gefahr läuft, die 1024

Vgl. P.-B. SMIT, „Das ‚Neue‘ als Problem und Prinzip Neutestamentlicher Theologie“, Evang. Theol. 78 (2018) 375-384. 1025 Vgl. H. HOPING, Jesus aus Galiläa, 158-165. 1026 Vgl. H. D. LUBAC, Typologie, Allegorie, geistiger Sinn, 193-203. 1027 H. W. WOLFF , „Zur Hermeneutik des Alten Testaments“, 175, 177, 179 (Hervorhebung im Original).

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Einzigkeit und Heilsuniversalität Jesu zu verlieren. Das Alte Testament war nicht nur zur Zeit Jesu und der ersten Christengemeinden das „semantische Feld“, sondern es bleibt durchgehend der theologische Bezugsrahmen. Das Mysterium von Kreuz und Auferstehung Jesu lässt sich nicht trennen von den Mysterien seines Lebens. Es geht beim „semantischen Feld“ nicht primär um Deutekategorien für das geschichtliche Faktum Jesu Christi, sondern um die Vermittlung des eschatologischen Heils, das Gott in seinem Bund angeboten hat, der für die Person und irdische Lebenszeit Jesu, für sein Selbstverständnis und für das immer wieder neu zu kontextualisierende Christusereignis von Bedeutung ist und bleibt. Das Neue des Christusereignisses ist die Verwirklichung der eschatologischen Vollendung, auf die der ganze Weg der alttestamentlichen Schriften ausgerichtet ist und auf die hin selbst das Neue des Neuen offenbleiben muss. Was es bedeutet, dass das Neue des Neuen Testaments nicht ohne das Alte Testament sein kann, hat D. Bonhoeffer in den Tagen der Gefangenschaft erfahren. Die Zeit im Konzentrationslager war für ihn der existentielle Horizont, in dem sich seine Lektüre des Alten Testaments neukontextualisiert hat und worin sich ihm das Licht der Christusverkündigung erschlossen hat. Seine Erfahrung mit dem Alten Testament mündet in die Aussage: „Wer zu schnell und zu direkt neutestamentlich sein und empfinden will, ist m.E. kein Christ“.1028 In diesem Zusammenhang gelangt D. Bonhoeffer so weit zu sagen, dass christliches Denken als „alttestamentliches Denken“ zu verstehen ist, indem es dieses Denken ist, das die Existenz mitbestimmt und worin sich die neue Christusbotschaft artikuliert, indem das christliche Selbstverständnis die Verklärung der Wirklichkeit nicht ohne den Skandal des ganz geschichtlichen Kreuzes finden kann, wofür das alttestamentliche Geschichtsverständnis und -denken vorgegeben ist.1029 Das Alte geht im Neuen auf, ohne sein proprium einzubüßen oder abgelöst zu werden. Wenn es zu einer Neukontextualisierung des „semantischen Sprachfeldes“ kommt, dann ist im Neuen des Neuen das Neue des Alten mitkontextualisiert. Das Christentum versucht das Verhältnis von Altem und Neuem Testament sprachlich und theologisch in Begriffe zu fassen, die dem christologischen Anspruch, aber auch dem Respekt vor dem Judentum gerecht werden. Wenn das Verhältnis von Altem und Neuem Testament in dem Schema von Verheißung und Erfüllung gefasst werden soll, dann 1028 D. BONHOEFFER, Widerstand und Ergebung (= DBW 8), Gütersloh 1998, 188, hier zitiert nach: M. OEMING, „Das Alte Testament als inspiriertes Wort?“, 79. Insgesamt zu D. Bonhoeffer siehe ebd. 75-81. 1029 Vgl. ebd. 80: „Bonhoeffer verwies Gott konsequent nicht mehr ins Jenseits, sondern ins Diesseits, nicht mehr an die Ränder, sondern in die Mitte; er erblickt ihn nicht in der Harmonie, sondern in den Konflikten dieser Welt und dieses Lebens“.

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kann dies nur in der biblischen Fassung der Begriffe geschehen, wobei jedoch der Begriff der Erfüllung einer Deutung bedarf. Erfüllung ist nicht die Überbietung einer Verheißung, sondern die Bestimmung, die ohne die Verheißung nicht bestehen kann. Das Schema VerheißungErfüllung ist kein von außen an die Schrift herangetragenes Interpretationsschema, sondern findet sich in den biblischen Schriften selbst. Bereits in der Bibel Israels ist in den Schritten zum Masoretentext und zur LXX ein Vorgang auszumachen, der den ursprünglichen Text aktualisiert und als erfüllt ansieht. Besonders das Matthäusevangelium greift auf diese Tradition und die prophetischen Worte zurück und sieht sie in Jesus erfüllt, was mit eigenen Erfüllungsformeln angedeutet ist.1030 Wenn neutestamentliche Autoren die Verheißung als in Jesus Christus erfüllt ansehen, dann nehmen sie ein alttestamentliches Schema auf, in das sie das Christusereignis einfügen. Hier ist natürlich der Ansatzpunkt gegeben, anhand dessen spätere Generationen die biblische Sicht der Erfüllung als Überbietung und Absetzung des Neuen Testaments zum Alten Testament interpretierten und das Christusereignis als analogielose Diskontinuität stark machten.1031 Das Schema Verheißung-Erfüllung versucht sprachlich den theologischen Gehalt von Kontinuität und Diskontinuität in eine Form zu bringen. Das Neue Testament steht in einem Zusammenhang mit dem Alten, der hinweisend und korrelierend zugleich ist, indem darin die eigentliche Bestimmung zu Tage tritt. Das Christusereignis hat seinen Bezugspunkt im Alten Testament, der nicht nur in einem „semantischen Feld“ zu suchen ist, sondern in der heilsgeschichtlichen Beziehung besteht. Aber das Christusereignis ist nicht der Ersatz dafür, indem es in diesem Ersatz die Stelle und den Stellenwert des Alten Testaments ablöst. Verheißung und Erfüllung sind in der Bestimmung verbunden, worin sich die Relativität der Einheit der Schrift zeigt. Die Erfüllung wird in ihrem biblischen Kontext verstanden, indem sie nur im Zusammensein mit der Verheißung wirklich sein kann, so wie der Geist nur im und mit dem Buchstaben wirken kann. Die Erfüllung fügt sich ein in die Heilsgeschichte und verortet sich im theologischen Kontext der Verheißung. Somit kann das Schema nicht 1030

Vgl. M. KARRER, „Licht über dem Galiläa der Völker. Die Fortschreibung von Jes 9:1-2 in der LXX“, in: J. ZANGENBERG – H. W. ATTRIDGE – D. B. MARTIN (eds.), Religion, Ethnicity, and Identity in Ancient Galilee. A Region in Transition (= WUNT 210), Tübingen 2007, 33-53; H.-J. FABRY, „Beobachtungen zum Reflexionszitat Mt 4,1516 (Jes 8,23-9,2)“, in: J. D. VRIES – M. KARRER (Hgg.), Textual history and the reception of scripture in early christianity – Textgeschichte und Schriftrezeption im frühen Christentum, Atlanta 2013, 219-235 1031 Vgl. M. ZIMMERMANN, Schriftsinn und theologisches Verstehen, 184.188. T. Mayer zeichnet die unterschiedlichen Sichtweisen zwischen H. d. Lubac (Diskontinuität) und J. Daniélou (Kontinuität) nach. T. MAYER, Typologie und Heilsgeschichte, 178-180.

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auf Altes Testament (Verheißung) und Neues Testament (Erfüllung) übertragen werden. Beide Testamente haben in sich Verheißungen, die mit Erfüllungen bestimmt sind. Die Einheit der christlichen Bibel muss insgesamt als Verheißung aufgefasst werden, die ihre Erfüllung in der eschatologischen Bestimmung findet, auf die auch die Bibel Israels in ihrer Verheißung ausgerichtet ist. Die Erfüllung der Verheißung ist nicht auf den Text des Neuen Testaments zu beziehen, sondern einzig auf die Person des Logos, der das Ja und Amen Gottes zu seiner Verheißung ist (vgl. 2 Kor 1,20). Die christliche Bibel ist Erfüllung, wobei sie in sich nochmals Verheißung ist und sich relativ auf das Wort Gottes hin verhält, das einzig die Erfüllung wirken kann. Die Einheit der christlichen Bibel beschreibt das Verhältnis von Verheißung und Erfüllung in der eschatologischen Offenheit auf den sich offenbarenden Gott, der die Verheißung und Erfüllung, wie sie im Alten und Neuen Testament gegeben sind, bestätigt. Wenn die Verheißung und die Erfüllung in ihrem theologischen Kontext gehalten werden, dann kann Erfüllung als die Bestimmung der Verheißung gelesen werden. Die ganze Schrift ist darin erfüllt, dass sie auf das hinweist, worin sie ihre Bestimmung hat, die in Jesus Christus heilsgeschichtliche Wirklichkeit findet. Judentum und Christentum stehen somit gemeinsam in der Verheißung und in der Erfüllung, weil es im Logos Gottes zur Bestätigung der Bestimmung des Bundes Gottes mit seinem Volk kommt. Christliche Theologie trägt in ihrem Reden dafür Sorge, dass sie einerseits die Bedeutung des einmaligen Christusereignisses herausstellt, dabei aber nicht in eine Überbietungschristologie1032 fällt. Die Auferstehung Jesu ist das definitive Handeln Gottes zum Heil der Menschen, aber sie kann nicht außerhalb des Bundes Gottes gedacht werden. Es ist nicht der christliche Christus, der vom Tod auferstanden ist, sondern der Jude Jesus1033, der sich im Bund Gottes wusste und 1032

Auf die Problematik der Typologie weist hin: K.-H. OSTERMEYER, „Typologie und Typos. Analyse eines schwierigen Verhältnisses“, NTS 46 (2000) 112-131, 112-115. Der Autor zeigt in seiner Analyse des neutestamentlichen und patristischen Kirchenväterbegriffs auf, dass der Typosbegriff ursprünglich keine Wertung enthalten hat, sondern dass im Typos bereits das enthalten ist, was der Antitypos beschreiben will. Damit dürfte es zu keiner Abwertung des Alten Testaments durch eine typologische Hermeneutik kommen. Vgl. ebd. 129-131. 1033 Zum Jude-Sein Jesu vgl. H. H. HENRIX, „Menschwerdung des Sohnes Gottes als Judewerdung. Zur christologischen Ernstnahme des Judeseins Jesu“, 1-19 [https://www.nostra-aetate.uni-bonn.de/theologie-des-dialogs/menschwerdung-des-sohn es-gottes-als-judewerdung/prof.-dr.-hans-hermann-henrix-menschwerdung-des-sohnesgottes-als-judewerd; zuletzt abgerufen am 26.03.2020; in Folge: H. H. HENRIX, „Menschwerdung des Sohnes Gottes“]; H. HOPING, Jesus aus Galiläa, 55-92 und DERS., „Gottes Wort in jüdischem Fleisch. Jesus von Nazaret und der Gedanke der Inkarnation“, in: C. DANZ – W. HOMOLKA – K. EHRENSPERGER (Hgg.), Christologie zwischen Judentum und Christentum. Jesus, der Jude aus Galiläa (= DiM 30), Tübingen 2020, 229-246.

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diesen Bund in unüberbietbarer Weise gelebt hat. Wenn christliche Theologie davon spricht, dass Gottes Bund im Heilsereignis Jesu Christi seine Bestimmung hat, so muss sie zugleich mitbekennen, dass das Heil von den Juden kommt (Joh 4,22). Jesus Christus als die Bestimmung des Bundes kann dies nur sein, „wenn er Glied des Bundesvolkes ist und damit auch der Adressat der Selbstmitteilung Gottes werden kann, und wenn er in seiner Person das konstitutive Prinzip der menschlichen Antwort in Gehorsam und Selbsthingabe vollzieht“;1034 oder mit einem Wort K. Barths gesprochen: Jesus „war notwendig Jude“.1035 Das Judesein Jesu ist kein zu vernachlässigender geschichtlicher Zufall, sondern daran entscheidet sich auch wesentlich die Bedeutung der Einzigkeit und Heilsuniversalität Jesu Christi. Jesus ist der eine Christus, weil er in der einen Erwählung Gottes in dessen Volk steht und diese Erwählung als universale concretum erfüllt. Die Unwiederholbarkeit der Selbstaussage Gottes in Jesus Christus ist gebunden an die Bindung Gottes an das Volk Israel. Wenn das Neue Testament das Alte Testament niemals aufheben und ersetzten kann, dann hat dies unweigerlich Auswirkungen auf christliche Theologie, insbesondere die Christologie. Es ist der Glaube an Jesus Christus, der das Christentum mit dem Judentum verbindet, zugleich aber auch trennt.1036 Insofern muss das Christentum, wenn es seine Grundlagen bedenkt, immer auch das Judentum mitdenken, mit dem es denselben Grundstock des Offenbarungszeugnisses hat.1037 Das bedeutet, dass eine Israeltheologie einen locus theologicus für das Christentum bilden muss. Insbesondere die Christologie muss sich darum mühen, die Einzigkeit und Heilsuniversalität Jesu Christi und gleichzeitig die Heilserwählung Israels zu bekennen. Es wird daher theologisch immer wieder zu fragen sein, was das „Nein“ Israels für das „Ja“ des Christentums zu Jesus als dem Christus bedeutet. Wenn besonders mit der johanneischen Logostheologie die Inkarnations1034

G. L. MÜLLER, Katholische Dogmatik. Für Studium und Praxis der Theologie, Freiburg – Basel – Wien 52003, 246. 1035 K. BARTH, Dogmatik im Grundriß, Vorlesungen gehalten im Sommersemester 1946 an der Universität Bonn, Zürich 1947, 87. Siehe zu den Konsequenzen auch D. BÖHLER, „Israel gegen die Kirche?“, 18-19. 1036 Vgl. S. BEN-CHORIN, Bruder Jesus. Der Nazarener in jüdischer Sicht, München 111988, 11: „Der Glaube Jesu einigt uns, […] aber der Glaube an Jesus trennt uns“. 1037 Vgl. J. DOCHHORN, „Die Kirche und das Alte Testament“, 74: „Die in unserem Alten Testament erzählten Geschichten stehen in einem Zusammenhang, der im herkömmlichen Sinne ethnisch ist – und zwar nicht mit uns, sondern mit einem Volk, das Paulus in Röm 9,31 Israel nennt, mit einem Namen, den er sonst auf die Kirche anwendet (Gal 6,12; vgl. Gal 3-4). Daraus ergibt sich, dass wir, wenn wir von Israel reden als von uns selbst, ebenso genötigt sind, auch von dem Israel zu reden, das wir nicht sind, mit dem eine Identitätsüberlappung besteht bei gleichzeitigem Getrenntsein: Es gibt das Volk der Juden, das Gott immer noch liebt und für das die Garantie endzeitlicher Erlösung besteht, die Paulus sich nicht anders denn als Zugehörigkeit zu Christus vorstellen kann“.

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christologie begründet wird, dann darf nicht übersehen werden, dass es das Wort Gottes, also der Logos ist, der zuerst zu Israel gesprochen und sich in der Bibel Israels niedergeschlagen hat. Wenn Jesus mit Autorität das Wort Gottes auslegt und sich darauf bezieht, dann darf dies nicht allein auf ihn hin als den Logos Gottes gelesen werden, sondern muss zugleich auf die Bibel Israels bezogen sein.1038 Der innerjüdische Konflikt, von dem das Johannesevangelium ausgeht, entzündet sich daran, ob das Wort Gottes in der Bibel Israels mit dem fleischgewordenen Logos identifiziert werden kann. Wenn in christlicher Theologie ernst genommen wird, dass das Alte Testament vollgültiges Wort Gottes ist, dann erübrigt sich nicht nur die Frage der Judenmission, sondern dann muss auch die Bibel Israels als Altes Testament ihr theologisches Gewicht bekommen, das Jesus ihr in seiner Verkündigung beigemessen hat.1039 Das Christentum kann darin akzeptieren, dass die Bibel Israels heilschaffendes und heilbringendes Wort Gottes ist. Es hat im Neuen Testament nicht mehr an Offenbarung als in der Bibel Israels gegeben ist, denn Offenbarung ist nur das eine Wort, das sich in den vielen Menschenworten ausdrückt. Das Mehr des Christentums besteht somit nicht in der Offenbarung an sich, sondern im heilsgeschichtlichen Ereignis des Wortes Gottes in Leben, Tod und Auferstehung Jesu. Selbst wenn es zu keinem Neuen Testament als schriftlichem Zeugnis gekommen wäre, hätte das Christentum mit der Bibel Israels an Jesus als den Christus glauben können, weil es dem Wort Gottes glaubt. Wie das Judentum in seiner Bibel an der Offenbarung festhält, wird das Christentum an der Universalität dieses Ereignisses festhalten und hoffen, dass sich das eine Wort Gottes eschatologisch so ausspricht, dass es zum Verstehen dessen kommt, was Altes und Neues Testament verkünden. 1038

Vgl. F. CRÜSEMANN, „Das eine Wort Gottes und seine beiden Gestalten. Oder: Jesus Christus und das Alte Testament“, Evang. Theol. 78 (2016) 86-100, 93-94: „Wie er [Jesus; Anm. d. Verf.] vor Abraham war (8,58), so war er vor Mose, und die Schrift bezeugt ihn (5,39), da sie als Wort Gottes mit dem fleischgewordenen Logos identisch ist. Insofern geht es bei Johannes immer darum, an die Schrift und an das Wort Jesu zu glauben, wie 2,22 ausdrücklich sagt, und zwar als sachlich völlig übereinstimmend. Für Johannes kann die Schrift schon wegen dieser Identität mit dem Logos nicht aufgelöst werden (10,35), sie bleibt gültig und zwar uneingeschränkt. […] Die in Israel bekannte Schrift gibt also die sprachlichen und sachlichen Muster vor, nach denen allein von der fleischgewordenen Gestalt des Logos erzählt werden kann […] Der entscheidende Punkt ist, dass zwar Jesus uneingeschränkt das Mensch gewordene eine Gotteswort ist, dasselbe eine Gotteswort, das am Anfang war und immer zu Gott gehörte, aber schon vorher in der hebräischen Bibel Schrift geworden ist“ (Hervorhebungen im Original); [in Folge: F. CRÜSEMANN, „Das eine Wort Gottes“]. 1039 Vgl. M. STOWASSER, „Der Jude Jesus und sein Gott. Überlegungen zur theologischen und interreligiösen Bedeutung einer historischen Perspektive auf Jesus von Nazaret“, in: C. DANZ – W. HOMOLKA – K. EHRENSPERGER (Hgg.), Christologie zwischen Judentum und Christentum. Jesus, der Jude aus Galiläa (= DiM 30), Tübingen 2020, 59-80, 73-77.

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Wenn F. Crüsemann das Alte Testament als den Wahrheitsraum des Neuen beschreibt, weil alles, was über Jesus Christus im Neuen Testament mit der Schrift gesagt wird, nur vom Alten Testament her zu verstehen ist, dann muss zumindest die Frage mitbedacht werden, inwiefern der pneumatische Sinn des Alten Testaments im Licht des Christusereignisses seine Relevanz hat. Die jüdische Auslegung der Bibel Israels bietet einen großen Reichtum für christliche Exegese. Aber dazu muss auch die Auslegung genommen werden, die das Wort Gottes im fleischgewordenen Logos erkennt. Das Neue Testament ist nicht ein Teil neben dem Alten Testament, sondern für das Christentum ist mit ihm die Auslegung des Wortes Gottes im Wort Gottes gegeben. So fragt T. Mayer zu Recht: „Denn eines ist es, gegen die Ablösung des Christentums vom Judentum, die Verleugnung der jüdischen Wurzeln, die Verwerfung des Alten Testaments und die Nivellierung der Bedeutung des jüdischen Menschen Jesus von Nazareth zu votieren; ein anderes aber ist es, die bleibende Bedeutung der Heilszusagen an Israel auch theologisch zu vertreten und mit ihrer christologischen Interpretation zu vermitteln sowie ein Verhältnis zum gegenwärtigen Judentum und seiner heilsgeschichtlichen Rolle zu entwickeln. Könnte die Hermeneutik des ,geistigen Sinns‘ der Schrift die Denkmittel bieten, um die Heilsbedeutung des Judentums auch angesichts der ,messianischen Differenz‘ zu behaupten?“1040

Es wird die stete Herausforderung sein, gerade in einer pneumatischen Hermeneutik der Bibel den bleibenden theologischen Wert der Bibel Israels stark zu machen, um damit auch jeder marcionitischen Tendenz zu entgegnen. Eine pneumatische Auslegung muss daher immer die Voraussetzung mit sich führen, dass das pneumatisch auszulegende Wort vollgültiges und inspiriertes Wort Gottes ist, und dass es nur als solches eine pneumatische Auslegung zulässt. So wird das Alte Testament als Wort Gottes immer bleibendes Korrektiv zu einem pneumatischen Sinn bleiben müssen, denn gerade als Wort Gottes in der Bibel Israels ist es der historische Sinn, nach dem nicht nur kritisch gefragt werden muss, sondern der seinerseits kritisch ist.1041 Christliche Schriftauslegung braucht den Dialog mit jüdischer Schriftauslegung. Für das Judentum ist die Offenbarung Gottes an das Wort der Schrift gebunden und die Auslegung dieser Schrift kündet wiederum davon. Es ist nicht ein numinoser Ritus oder ein mystisches Orakel, das die Kundgabe Gottes geschichtlich werden lässt, sondern das Wort in der Geschichte. Der Bezug zur Theologie Israels und seiner Worttheologie ist die Mahnung an christliche Theologie, nicht in einen Offenbarungspositivismus zu verfallen und den Stellenwert der Tradition auch immer wieder kritisch auf das Schriftzeugnis zu beziehen. 1040 1041

T. MAYER, Typologie und Heilsgeschichte, 267. Vgl. F. CRÜSEMANN, „Das eine Wort Gottes“, 97.

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Wenn der Jude Jesus das Verbindende und Trennende zwischen Judentum und Christentum ist, dann steht das Christentum in besonderer Verantwortung zum Judentum. Das jüdische „Nein“ zu Jesus als dem Christus verdient nicht nur Respekt, sondern kann dem Christentum auch helfen, das eigene „Ja“ zu vertiefen, insofern zwischen Judentum und Christentum ein unlösliches Band besteht.1042 Das Judentum spricht das „Nein“ aus dem Glauben an Gott und an seine heilsgeschichtliche Verheißung. Es ist genau der Glaube, mit dem Jesus von Nazareth lebte und worin seine Patrozentrik gründete. Dieses Bekenntnis bildet das Umfeld seiner Verkündigung. Christlicher Glaube muss sich dieser Ausrichtung der jesuanischen Verkündigung bewusst bleiben, indem er an die im Sohn begründete Treue Gottes in sich selbst und in seinem Bund erinnert wird: „Christus ist um der Wahrhaftigkeit Gottes willen Diener der Beschnittenen geworden, um die Verheißungen an die Väter zu bestätigen“ (Röm 15,8). Das positive „Nein“ des Judentums führt zu dieser Treue Gottes, die er nicht nur verkündet, sondern die er für das Christentum selbst ist. Das „Nein“ des Judentums ist ein „ausständiges Nein“, denn es ist in sich das „wartende Ja“ zur Erfüllung durch Gottes rettende Tat. Das „Nein“ des Judentums steht nicht einfach neben dem „Ja“ des Christentums, was eine Kontraposition bedeuten und in eine marcionitische Theologie führen würde, sondern beide Aussagen stehen in der eschatologischen Gewissheit der Zusage Gottes, die in seiner Einheit und Einzigkeit gründet. Das jüdische „Nein“ zu Jesus als dem Christus ist das christliche „Ja“ zum Judentum als Teil des Volkes Gottes und seiner Verheißung. Im Angesicht der Gräueltat von Auschwitz ist es unerlässlich, eine Christologie so zu formulieren,1043 dass sie die Universalität Jesu Christi bestätigt, aber deren eschatologische Erfüllung mitbedenkt. Wenn die christologischen Konzilien in der Bestätigung Jesu als präexistenter Gottessohn über die theologische Ablehnung Jesu hinausgehen, muss zugleich in der Reformulierung dieser 1042

Vgl. J.-M. LUSTIGER, „Christentum unlöslich an Judentum gebunden“, 84: „Das Christentum ist unlöslich an das Judentum gebunden. Löst es sich davon ab, so hört es auf, es selbst zu sein. Die Beziehungen zwischen Judentum und Christentum sind komplex und geben Anlaß zu den vielfältigsten und schlimmsten Mißverständnissen. Es geht weder um eine Ersetzung, wie ein politisches Reich das vorhergehende ersetzt, noch um eine kulturelle Übertragung, wie wenn eine Kultur von einer anderen übernommen wird […], auch nicht um eine Nachfolge, wie ein Sohn seinem Vater im Geschäft nachfolgt. Eine im Lukasevangelium erzählte Parabel eröffnet einen anderen Zugang: ,Ein Mann hatte zwei Söhne …‘ beginnt sie. Viele Exegeten erklären, der ältere Sohn sei Israel, der jüngere seien die Goyim. Eine alte jüdische Geschichte …“. 1043 Vgl. T. PRÖPPER, „Wegmarken zu einer Christologie nach Auschwitz“, in: DERS., Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik, Freiburg – Basel – Wien 2001, 276-288; P. HOFMANN, Die Bibel ist die Erste Theologie, 77-92.

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Glaubensaussagen die Verwurzelung Jesu im Judentum und im ungekündigten Bund neu gedacht und herausgearbeitet werden. Die christologischen Formeln sind keine reine Bestätigung oder Wiederholung des Bundes Gottes mit Israel, sondern zeichnen sich durch die spekulative Durchdringung der biblischen Kategorien mit der hellenistischen Philosophie aus,1044 um damit das einmalige Offenbarungsgeschehen in Jesus Christus zur Sprache bringen zu können. Christologie ist nicht Ersetzung des Judentums oder der Bibel Israels, sondern heilsgeschichtlicher Ausweis von deren Gültigkeit durch Gottes Heilstat selbst. Eine im christlich-jüdischen Dialog geforderte Deabsolutierung der Christologie wird fragen müssen, welche christologischen und soteriologischen Konzepte zu einer Abwertung des Judentums geführt haben. Um jedoch in einer bleibenden Wertschätzung der jüdischen Wurzel zu stehen, wird sich eine Christologie besonders um die heilsgeschichtlichen Voraussetzungen mühen müssen und das Verhältnis zum Judentum aus der Christologie her entwickeln.1045 Das „ausständige Nein“ ist Warnung, dass Christologie zu einer triumphalistischen Christologie und Ekklesiologie verkommen kann, wenn sie sich nicht selbst in die kenotische Bewegung des Messias einschreibt.1046 Eine kenotisch gezeichnete Christologie wird herausstellen müssen, dass Jesus in seiner Verkündigung die Juden nie dazu aufgerufen hat, von der Bundestreue Gottes zu lassen, in der er selbst stand. Die Einheit der christlichen Bibel bildet diese Verbindung, die in der Person Jesu und seiner Verkündigung gründet, nicht nur ab, sondern findet darin ihr gültiges Band. Das Judentum und das Christentum sind gemeinsam Pilger in der Geschichte und im Angesicht Gottes. Es ist ihr gemeinsamer Auftrag, an der eschatologischen Hoffnung festzuhalten und dafür Zeugnis zu geben, die Gegenwart und die Welt zu gestalten und aus dem Glauben zum Guten zu wenden. Geschichte ist der konkrete Ort des jüdischen und christlichen Glaubens, der durch die Verheißung Gottes zur 1044

Vgl. H. H. HENRIX, „Menschwerdung des Sohnes Gottes“, 8-11. Gegen diese Sicht plädiert u.a. C. Danz, indem er eine Christologie denken möchte, die frei ist von historischen und heilsgeschichtlichen Vorgaben, sondern aus der Selbstreflexivität des christlichen Verständnisses entspringt. Vgl. C. DANZ, Grundprobleme der Christologie, 193: „Das Christusbild beschreibt keine äußere historische Wirklichkeit mehr, sondern ist selbst der Ausdruck der reflexiven Struktur des Glaubensaktes“. In diesem Ansatz ist jedoch nicht mehr plausibel, warum dem Judentum noch ein privilegierter, also ein ökumenischer Vorzug im interreligiösen Gespräch gegeben werden soll. Vgl. dazu K. V. STOSCH, „Die Einzigkeit Jesu Christi“, 298-300. 1046 Vgl. J. VALENTIN, „Relative Gotteskrise. Fundamentaltheologische Anmerkungen zur Diskussion um Theologie nach Auschwitz“, in: H. HOPING – J.-H. TÜCK (Hgg.), Streitfall Christologie. Vergewisserungen nach der Shoah (= QD 214), Freiburg – Basel – Wien 2005, 13-40, 29-35. 1045

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Heilsgeschichte wird. Heilsgeschichtliches Denken und heilsgeschichtliche Theologie sind nicht ein Gegenkonstrukt zu einer rational verantworteten Moderne, sondern Antwort auf die Herausforderungen der Zeit. Die Einheit der christlichen Bibel ist Zeugnis für die existentielle Situation des Menschen in der Geschichte, die auf die Grundfragen1047 des Menschseins eine Antwort zu geben versucht. Christliche Theologie wird die Verbindung mit neuzeitlichem Denken immer wieder suchen müssen, um Rechenschaft von ihrer Hoffnung (vgl. 1 Petr 3,15) geben zu können. Das Offenbarungsverständnis in Dei Verbum eröffnet mit seinem dynamisch-personalen Verständnis den Dialog mit der Moderne. Die Wahrheit Gottes ist kein fester Lehrsatz, sondern sie ereignet sich in der Geschichte. Die Bibel, besonders das Alte Testament folgt keiner bestimmten Metaphysik, weshalb sie gerade dadurch für die unterschiedlichen Denktraditionen anschlussfähig ist. Diese metaphysische Offenheit ermöglicht es biblischem Denken, in die unterschiedlichen kulturellen Räume und Traditionen einzutreten, insofern biblisches Denken heilsgeschichtliches Denken ist, das sich auf die geschichtlichen Denkvoraussetzungen einlassen kann. Wenn in den biblischen Texten das Zeugnis des Gotteswortes mit menschlichen Denken in den Dialog tritt, dann ergibt sich unweigerlich die Berührung mit einer Metaphysik, denn nur so ist auch Theologie möglich.1048 Christliche Theologie wird als biblische Theologie die Profangeschichte zunächst einmal als solche annehmen und ernst nehmen können. Profangeschichte ist nicht gleich Heilsgeschichte, wenngleich Heilsgeschichte mit der Profangeschichte koexistent ist. Die biblischen Erzählungen zeichnen ein Bild der 1047 Vgl. G. THEISSEN, „Bibelhermeneutik als Religionshermeneutik“, 298-301. Der Neutestamentler führt die Grundfragen zurück auf drei „religiöse Grunderfahrungen“: 1) „Das Wunder, dass überhaupt etwas ist und nicht nichts, führt uns an die Grenze des Begreifens: Das Geheimnis des Seins ist undurchdringlich“, 2) „Die Erfahrung von Geborgenheit führt uns an Grenzen: Wir sind dem Tod und dem Leid unterworfen – ohne jede Geborgenheit“, 3) „Die Erfahrung von Verantwortung führt uns an die Grenzen unseres Handelns: Wir werden schuldig, gerade, weil wir frei sind“ (ebd. 298-299). 1048 Vgl. W. KASPER, „Zustimmung zum Denken. Von der Unerläßlichkeit der Metaphysik für die Sache der Theologie“, in: DERS., Theologie und Kirche, Bd. II, Mainz 1987, 11-27, 14: „Soll der Anspruch [der alles übersteigenden Wirklichkeit Gottes; Anm. d. Verf.] menschlich verständlich und nicht eine letztlich willkürliche Behauptung sein, will die Theologie also Rechenschaft darüber geben, was sie mit Gott und Gottes Wort sinnvollerweise meint, dann kommt sie notwendigerweise mit dem metaphysischen Denken in Berührung, welches die alles umfassende Wirklichkeit, das Sein als solches, bedenkt. Versäumt sie diese Begegnung, dann verfällt ihre Rede entweder dem psychologischen Projektions- und dem soziologischen Ideologieverdacht, oder sie verurteilt sich selbst dazu, sich in völliger Selbstisolierung kommunikationslos zur übrigen Wirklichkeit zu verhalten. Durch einen solchen selbst gewählten Partikularismus hätte sie aber den universalen Anspruch des Gottesgedankens, den eine solche Position doch ,rein‘ zu bewahren vorgibt, in Wirklichkeit preisgegeben und verraten. Das Christentum wäre dann zur Sekte geworden“.

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Offenbarung in der Geschichte, die die Entscheidung der menschlichen Freiheit verlangt und durch die Geschichte zur interpretierbaren Heilsgeschichte wird, in der sich die geoffenbarte Wahrheit kundtut. Die Wahrheit, von der die gesamte Bibel spricht, ist die Wahrheit, die ihren Grund in Gott und in der innertrinitarischen Beziehung selbst hat. Heilsgeschichtliche Wahrheit ist Sakrament der innertrinitarischen Wahrheit und sie ist damit innerlich auf den Dialog in der Geschichte und mit der Zeit ausgerichtet. Biblische Wahrheit geschieht, bevor sie ist. Aber dies ist die Struktur, durch die das lutherische pro me immer geweitet ist auf das pro nobis der Offenbarung. Auch wenn sich Rechtfertigung auf das persönliche Selbstverständnis bezieht und sie reflexiv angenommen werden muss, so ist dennoch die communio der Ort der geschichtlichen Vergewisserung der Heilswahrheit, die sich auf die eschatologische Erfüllung der Wahrheit hin ausrichtet und daraufhin zugeht. Theologie und Kirche haben daher nicht die Wahrheit, sondern sind im Lebensraum der Wahrheit, der Dialog und Beziehung ermöglicht und in diesem Dialog auf die letzte, eschatologische Wahrheit hinweist.1049 Sucht ein entsubstantialisiertes Denken die Selbstvergewisserung durch die reflexive Beziehung auf das eigene Bewusstsein, so kann heilsgeschichtliches Denken zumindest das Angebot des Dialogs aussprechen, da es die eschatologische Verwiesenheit aufzeigt, auf die sich auch die Reflexivität der Selbstvergewisserung beziehen kann. Altes und Neues Testament tragen in ihren Texten die Öffnung auf die Wirklichkeit, auf das sich entsubstantialisiertes Denken und worauf sich historisch verpflichtete Theologie bezieht. Das Heilsereignis der Offenbarung Gottes erledigt nicht die Geschichte, aber es deutet auf die Wirklichkeit hin, die nicht nur gedacht werden kann, sondern die auch ist und in ihrem Sein in der Geschichte ist. Nur in Bezug auf dieses heilsgeschichtliche Faktum ist und bleibt Theologie Rede und Denken Gottes, oder wie P. Hofmann formuliert: „Die kanonische Tradition der Schrift in der Kirche stellt sich positiv einem Denken entgegen, das sich in eigenmächtiger Gnosis jeder in dieser Welt geschehenen Offenbarung und Erlösung verweigert. Die christliche Bibel ist deswegen sowohl zeitlich als auch normativ-theologisch die Erste Theologie des Christentums; sie steht positiv vor aller satzhaften und antithetischen Dogmatik. Eine solche Dogmatik kann notwendigerweise nur ausschließen und anathematisieren, aber nicht positiv bezeugen. Dieses normative erste Zeugnis eint die kanonischen Schriften in einem vielstimmigen Zusammenklang, der sowohl einen Spielraum der

1049 Vgl. DERS., „Das Wahrheitsverständnis der Theologie“, 34: „Nach biblischem Verständnis ist die Wahrheit nicht, sie geschieht. Wahr ist, was einen Anspruch, ein gesetztes Vertrauen rechtfertigt, was hält, was es verspricht“ (Hervorhebung im Original). Siehe auch P. HOFMANN, Die Bibel ist die Erste Theologie, 30.

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Interpretationen, des Lesens und des Lebens, eröffnet als auch ihn begrenzt“.1050

Besonders das Alte Testament ist mit seiner Geschichtstheologie Zeugnis für die konkrete Offenbarung Gottes und bewahrt darin das Neue Testament vor geschichtsenthobener Spekulation, in der Jesus Christus die Anhängigkeit des Bewusstseins darstellt, aber nicht mehr als das universale concretum gedacht und geglaubt werden kann. Der Inhalt und die Substanz, mit der biblisches Denken in den Dialog treten kann, ist das Wort Gottes im Menschenwort. Dies bedeutet, dass ein solches Denken von der Schrift und aus der Schrift denkt und Gott sucht. Da die Schrift in sich von einer Pluralität geprägt ist, die sich im Alten und Neuen Testament, aber auch in der Unterschiedlichkeit der einzelnen biblischen Bücher zeigt, ist damit auch eine Pluralität der theologischen Ansätze gerechtfertigt. Das berühmte Wort E. Käsemanns, demzufolge die Einheit des Neuen Testaments die Pluralität der Konfessionen begründet haben soll,1051 wird zumindest dahingehend zu modifizieren sein, dass die Einheit des biblischen Kanons eine Vielfalt religiöser Suchformen und Denkansätze und -traditionen zulässt. Die verbindende Größe ist die Rezeptionsgemeinschaft des Volkes Gottes, in der sich die Pluralität entfaltet. Die unterschiedlichen Ansätze versuchen aber auf die Grundfragen des Menschseins eine Antwort zu geben. Zu dieser Vielfalt gehören auch die hermeneutischen Ansätze biblischer Texte, mit deren Hilfe die Texte selber in den Dialog mit der Geschichte und der Lebensgeschichte des Menschen geführt werden sollen, indem in ihnen die reine Kontingenz überschritten ist und es zu einer „in der Bibel bezeugte[n] Grenzüberschreitung“1052 kommt. Durch die Auslegung wird der Transzendenzbezug der religiösen Erfahrungen vergeschichtlicht, um Gottesbegegnung zu ermöglichen.1053 Die 1050

Ebd. 236. Vgl. E. KÄSEMANN, „Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?“, in: DERS., Exegetische Versuche und Besinnungen I, Göttingen 61970, 214223, 221. 1052 G. THEISSEN, „Bibelhermeneutik als Religionshermeneutik“, 299. 1053 Vgl. ebd. 300 und 305-306: „Der historische Jesus machte mit seinen Gleichnissen und Symbolhandlungen die Welt für Gott transparent und vermittelte so eine indirekte Begegnung mit Gott. Der kerygmatische Christus aber konfrontiert direkt mit diesem Gott, der aus dem Nichts schafft“ (Hervorhebungen im Original); „Die Bibel enthält Zeugnisse von Gotteserfahrungen, erzählt in mythischer Form die Geschichte Jesu, formuliert ethische Gebote und begründet religiöse Riten – all das sind menschliche Konstruktionen. Mit diesen Konstruktionen aber entdecken wir etwas, das wir nicht selbst gemacht haben. Ihre Axiomen [sic!] und Grundmotiven [sic!] sind Suchprogramme, mit denen wir die Wirklichkeit abtasten und in ihrer religiösen Tiefe erschließen: Wir entdecken in ihr Zeichen, die auf Gott hinweisen. Die Bibel enthält viele kleine Entdeckungsprogramme. Sie ist kein in sich geschlossenes, selbstreferentielles System, 1051

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biblischen Theologien verdeutlichen diesen Transzendenzbezug des Menschen nicht nur, weil sie teils mythenhaft von dieser Gottesbeziehung erzählen, sondern diese auch durch das Lesen und Auslegen bewirken. Verzichtet das Christentum auf das Alte Testament als normativen ersten Teil seiner kanonischen Bibel, dann verliert es nicht nur einen Großteil der schönsten religiösen Erzählungen, sondern auch ein grundlegendes Zeugnis der Offenbarung. Das Alte Testament ist für das Christentum normativ, weil es ihm wahrhaftes Zeugnis vom einen und einzigen Gott ist, der sich in Jesus Christus zeigt und auf den sich die Erlösungstat Jesu Christi als das Gesamt der Wirklichkeit und damit als Sinnangebot bezieht. N. Slenczka schloss seinen Beitrag „Die Kirche und das Alte Testament“ aus dem Jahr 2013 mit den Worten: „Vielleicht ist es im Blick darauf [auf den fehlenden Anspruch des christlich-religiösen Bewusstseins durch das Alte Testament; Anm. d. Verf.] durchaus wohlgetan, wenigstens darüber nachzudenken, ob nicht die Feststellung Harnacks – dass die Texte des AT zwar selektiv Wertschätzung und auch religiösen Gebrauch, nicht aber kanonischen Rang verdienen – lediglich die Art und Weise ratifiziert, in der wir mit den Texten im kirchlichen Gebrauch faktisch umgehen“.1054

Es ist der Aussage zuzustimmen, dass das Christentum immer darüber nachdenken muss, welchen Stellenwert und welche Wertschätzung es dem Alten Testament zukommen lässt. Dies bezieht sich auf die theologische, die liturgische und die spirituelle Hochachtung des Alten Testaments im Christentum, indem darin alle Dimensionen des Christseins und seines Selbstverständnisses angesprochen sind. Entgegen der Aussagen und der Überzeugung N. Slenczkas wird das Christentum aber daran festhalten müssen, dass es faktisch das Alte Testament braucht, weil es die Christen immer mehr hinführt zu Jesus Christus und ihnen das Geheimnis seines Lebens immer mehr erschließt. Das Alte Testament hat den kanonischen und normativen Rang in der einen christlichen Bibel, weil es die theologische und faktische Voraussetzung für das neue Selbstverständnis der Christen in ihrem Bewusstsein ist, das sie immer wieder auf Jesus als den Christus rückverweist und das christlich-fromme Bewusstsein heilsgeschichtlich verankert. Das Alte Testament ist nicht nur als Buch an das Neue Testament gebunden, sondern es ist die offenbarungstheologische Normativität des Neuen Testaments und seines theologischen Gehalts.

sondern verweist auf ein Totaliter aliter. Sie kann uns helfen, den Dialog mit Gott aufzunehmen“. 1054 N. S LENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen, 84.

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Allgemeines Abkürzungsverzeichnis Die Arbeit folgt in den Abkürzungen: SCHWERTNER, Siegfried M., IATG3 – Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete. Zeitschriften, Serien, Lexika, Quellenwerke mit bibliographischen Angaben, dritte, überarb. und erweit. Auflage, Berlin – Boston 2014. Weitere Abkürzungen: BVB Beiträge zum Verstehen der Bibel DiG Dogmatik in der Moderne CIG Christ in der Gegenwart RCR Research in Contemporary Religion SHS Scripture and hermeneutics series SJCh Studien zu Judentum und Christentum StCRKG Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte TBT Theologische Bibliothek Töpelmann

Bibliographie Texte der Bibel werden zitiert nach: Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Gesamtausgabe 2016, Stuttgart 2016; Zitate werden zitiert mit Abkürzung des biblischen Buches Texte des II. Vatikanischen Konzils werden zitiert nach: HÜNERMANN, Peter (Hg.), Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils. Konstitutionen, Dekrete, Erklärungen. Lateinisch-deutsche Studienausgabe (= HThKVatII 1), Sonderausgabe, Freiburg – Basel – Wien 2009; Zitate der Dokumente werden zitiert nach Namen und Abkürzung des Dokuments 1. Quellentexte AURELIUS AUGUSTINUS, Die christliche Bildung – De doctrina christiana, (Reclams Universal-Bibliothek 18165), Stuttgart 2013; [zit.: AUGUSTINUS, doctr. christ.] BASILIUS VON CAESAREA, Commentarius in Isaiam (PG 30) IRENÄUS VON LYON, Adversus haereses – Gegen die Irrlehren (= FC 8,1-5), übers. und eingl. v. BROX, Norbert, Freiburg – Basel – Wien 1993-1997; [zit.: IRENÄUS, Adv. haer.] ORIGENES, Vier Bücher von den Prinzipien (= TzF 24), GÖRGEMANNS, Herwig – KRAPP, Heinrich (Hgg.) Darmstadt 31992; [zit.: ORIGENES, De principiis]

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TERTULLIAN, Adversus Iudaeos – Gegen die Juden (= FC 75), übers. und eingel. v. HAUSES, Regina, Turnhout 2007; [zit.: TERTULLIAN, Adv. Iud.] ––––, Adversus Marcionem – Gegen Markion (= FC 63,1-4), übers. und eingel. v. LUKAS, Volker, Freiburg – Basel – Wien 2017 2015; [zit.: TERTULLIAN, Adv. Marc.] ––––, De praescriptione haereticorum – Vom prinzipiellen Einspruch gegen die Häretiker (= FC 42), übers. und eingel. v. SCHLEYER, Dietrich, Turnhout 2002; [zit.: TERTULLIAN, praescr.] 2. Kirchliche Dokumente BENEDIKT XVI., Begegnung mit Vertretern aus der Welt der Kultur. Ansprache von Papst Benedikt XVI., Paris im Collège des Bernardins, 12. September 2008, URL: http://www.vatican.va/content/benedictxvi/de/speeches/2008/september/documents/hf_ben-xvi_spe_20080912_ parigi-cultura.html [Zugriff: 25.03.2020] ––––, Nachsynodales Apostolisches Schreiben ECCLESIA IN MEDIO ORIENTE Seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. an die Patriarchen, die Bischöfe, den Klerus, die Personen geweihten Lebens und an die christgläubigen Laien über die Kirche im Nahen Osten, Gemeinschaft und Zeugnis vom 14. September 2012 (= VApS 192), Bonn 2012 ––––, Nachsynodales Apostolisches Schreiben ,VERBUM DOMINI‘ an die Bischöfe, den Klerus, die Personen gottgeweihten Lebens und an die christgläubigen Laien über das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche vom 30. September 2010 (= VApS 187), Bonn 2010; [zit.: BENEDIKT XVI., Verbum Domini] FRANZISKUS, Apostolisches Schreiben EVANGELII GAUDIUM des Heiligen Vaters Papst Franziskus an die Bischöfe, an die Priester und Diakone, an die Personen geweihten Lebens und an die christgläubigen Laien über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute. 24. November 2013 (= VApS 194), Bonn 2013 ––––, „Apostolisches Schreiben in Form eines ‚Motu Proprio‘ des Heiligen Vaters Papst Franziskus ‚APERUIT ILLIS‘ zur Einführung des Sonntags des Wortes Gottes“, URL: http://w2.vatican.va/content/francesco/de/motu _proprio/documents/papa-francesco-motu-proprio-20190930_aperuit -illis.html, [Zugriff: 08.10.2019] KATHOLISCHE KIRCHE (Hg.), Katechismus der Katholischen Kirche, München 1993; [zit.: KKK] KOMMISSION FÜR DIE RELIGIÖSEN BEZIEHUNGEN ZUM JUDENTUM, "Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt“ (Röm 11,29). Reflexionen zu theologischen Fragestellungen in den katholisch-jüdischen Beziehungen aus Anlass des 50-jährigen Jubiläums von „Nostra aetate“ (Nr. 4) vom 10. Dezember 2015 (= VApS 203), Bonn 2016

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PÄPSTLICHE BIBELKOMMISSION, „Bibel und Christologie“, in: MÜLLER, PaulGerhard (Hg.), Bibel und Christologie. Ein Dokument der Päpstlichen Bibelkommission, Stuttgart 1987, 17-198 ––––, Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel (= VApS 152), Bonn 2001; [zit.: PBK, Das jüdische Volk] ––––, Die Interpretation der Bibel in der Kirche. 23. April 1993 (= VApS 203), fünfte, korrig. Aufl., Bonn 2017; [zit.: PBK, Die Interpretation der Bibel] ––––, Inspiration und Wahrheit der Heiligen Schrift. Das Wort, das von Gott kommt und von Gott spricht, um die Welt zu retten vom 22. Februar 2014 (= VApS 196), Bonn 2014 3. Werke von Notger SLENCZKA SLENCZKA, Notger, „18 Fragen an die Verächter der Wissenschaftlichen Diskussion unter den Berliner Theologen“, EpdD 47 (23/2015) 27-29 ––––, „‚Allein durch den Glauben‘. Antwort auf die Frage eines mittelalterlichen Mönchs oder Angebot zum Umgang mit einem Problem jedes Menschen?“, in: BULTMANN, Christoph – LEPPIN, Volker – LINDNER, Andreas (Hgg.), Luther und das monastische Erbe (= SMHR39), Tübingen 2007, 201-315; [zit.: N. SLENCZKA, „Allein durch den Glauben“] ––––, „Antwort auf die Stellungnahme des Ev. Präsidenten des Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Pfarrer Friedhelm Pieper“, 18. März 2015, URL: https://www.theologie.hu-berlin.de/de/professuren/professuren/st/slenczk aantwortpieper18-03-2015.pdf, [Zugriff: 19.02.2018]; [zit.: N. SLENCZKA, „Antwort auf die Stellungnahme“] ––––, „Buße ohne Gnade. Die Folgen des Verlustes der christlichen Sühnetheologie“, in: HÜTTENHOFF, Michael – KRAUS, Wolfgang – MEYER, Karlo (Hgg.), „…mein Blut für Euch“. Theologische Perspektiven zum Verständnis des Todes Jesu heute (= BThS 38), Göttingen 2018, 217-244 ––––, „Christus“, in: BEUTEL, Albrecht (Hg.), Luther Handbuch, dritte, neu bearb. und erw. Aufl., Tübingen 2017, 428-439; [zit.: N. SLENCZKA, „Christus“] ––––, „Das Alte Testament als Problem des Kanonbegriffs“, in: BARTH, Roderich – BARTH, Ulrich – OSTHÖVENER, Claus-Dieter (Hgg.), Christentum und Judentum. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Halle, März 2009 (= SchlA 24), Berlin – New York 2010, 267-287; [zit.: N. SLENCZKA, „Problem des Kanonbegriffs] ––––, „Das Dogma als Ausdruck des religiösen Selbstverständnisses. Trinitätslehre bei Schleiermacher, Troeltsch und Tillich“, in: BARTH, Ulrich – DANZ, Christian – GRÄB, Wilhelm – GRAF, Friedrich Wilhelm (Hgg.), Aufgeklärte Religion und ihre Probleme. Schleiermacher –

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Troeltsch – Tillich (= TBT 165), Berlin – Boston 2013, 661-684; [zit.: N. SLENCZKA, „Dogma als Ausdruck“] ––––, „Das ‚Ende der Neuzeit‘ als volksmissionarische Chance? Bemerkungen zum volksmissionarischen Anliegen der Glaubensbewegung ‚Deutsche Christen‘ in der Hannoverschen Landeskirche in den Jahren 1933/34“, KZG 11 (1998) 255-317; [zit.: N. SLENCZKA, „Ende der Neuzeit“] ––––, „Das Kreuz mit dem Ich. Theologia crucis als Gestalt der Selbstdeutung“, in: GRÜNWALDT, Klaus – HAHN, Udo (Hgg.), Kreuzestheologie – kontrovers und erhellend. Prof. Dr. Volker Weymann zur Verabschiedung in den Ruhestand, Hannover 2007, 99-116; [zit.: N. SLENCZKA, „Gestalt der Selbstdeutung“] ––––, „Der Freiheitsgehalt des Glaubensbegriffs als Zentrum protestantischer Dogmatik“, in: DIERKEN, Jörg – SCHELIHA, Arnulf von (Hgg.), Freiheit und Menschenwürde. Studien zum Beitrag des Protestantismus (= RPT 16), Tübingen 2005, 49-64; [zit.: N. SLENCZKA, „Der Freiheitsgehalt des Glaubensbegriffs“] ––––, Der Tod Gottes und das Leben des Menschen. Glaubensbekenntnis und Lebensvollzug, Göttingen 2003; [zit.: N. SLENCZKA, Tod Gottes] ––––, „Die Anthropologie Martin Luthers. Selbstverständnis und Selbstmissverständnis in unfreier Freiheit“, in: GRÄB-SCHMIDT, Elisabeth – PREUL, Reiner (Hgg.), Anthropologie (= MJTh 29), Leipzig 2017, 85116 ––––, „Die Bedeutung des historischen Jesus aus systematisch-theologischer Sicht“, in: METZGER, Paul (Hg.), Die Konfession Jesu (= BenshH 112), Göttingen 2012, 68-82; [zit.: N. SLENCZKA, „Die Bedeutung des historischen Jesus“] ––––, „Die Christologie als Reflex des frommen Selbstbewusstseins“, in: SCHRÖTER, Jens (Hg.), Jesus Christus (= TdT 9), Tübingen 2014, 181-241; [zit.: N. SLENCZKA, „Christologie als Reflex“] ––––, „Die Kirche und das Alte Testament. Das Neue Testament als Wahrheitsraum des Alten. Eingangsstatement zur Podiumsdiskussion in Köln, 11.6.2015“, EpdD 48 (7/2016) 14-17; [zit.: N. SLENCZKA, „Neues Testament als Wahrheitsraum“] ––––, „Die neue Paulusperspektive und die Lutherische Theologie“, LuJ 80 (2013) 184-196; [zit.: N. SLENCZKA, „Neue Paulusperspektive“] ––––, „Die Schrift als ‚einige Norm und Richtschnur‘“, in: KANDLER, KarlHermann (Hg.), Die Autorität der Heiligen Schrift für Lehre und Verkündigung der Kirche (= Lutherisch glauben Heft 1), Neuendettelsau 2000, 53-78; [zit.: N. SLENCZKA, „Schrift als Norm und Richtschnur“] ––––, „Die Vereinbarkeit der Barmer Theologischen Erklärung mit Grundüberzeugungen der Lutherischen Kirche und Theologie“, KuD 57 (2011) 346-359

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––––, „Differenz tut Not. Systematische Erwägungen über das Alte Testament“, Zeitzeichen 16 (2015) 8-12; [zit.: N. SLENCZKA, „Differenz tut Not“] ––––, „Durch Jesus in den Sinaibund? Zur Änderung des Grundartikels der rheinischen Kirche“, LM 34 (1995) 17-20; [zit.: N. SLENCZKA, „Durch Jesus in den Sinaibund“] ––––, „Ein vorchristliches Buch“, 15.06.2015, URL: https://rotary.de /kultur/ein-vorchristliches-buch-a-7610.html, [Zugriff: 29.09.2018] ––––, „Einwände und Antwortversuche“, 12.06.2018, URL: https://www.theologie.hu-berlin.de/de/professuren/professuren/st/AT/tex te-zur-debatte-seit-2017-2/slenczka-antworten-gesamt/view, [Zugriff: 12.06.2018]; [zit.: N. SLENCZKA, „Einwände und Antwortversuche“] ––––, „Emotionales Selbstbewusstsein – theologische Implikationen eines phänomenologischen Ansatzes“, in: DANANI, Carla – PERONE, Ugo – RICHTER, Silvia (Hgg.), Die Irritation der Religion. Zum Spannungsverhältnis von Philosophie und Theologie (= Research in Contemporary Religion 22), Göttingen 2017, 34-43 ––––, „Entzweiung und Versöhnung. Das Phänomen des Gewissens und der Erlösung in Shakespeares ‚King Richard III.‘ als Hintergrund eines Verständnisses der ‚imputativen Rechtfertigung‘ bei Luther“, KuD 50 (2004) 289-319; [zit.: N. SLENCZKA, „Entzweiung und Versöhnung] ––––, „Flucht aus den dogmatischen Loci. Das Erbe des 20. Jahrhunderts“, Zeitzeichen 14 (2013) 45-48; [zit.: N. SLENCZKA, „Flucht aus den theologischen Loci“] ––––, „Freiheit von sich selbst – Freiheit im Dienst. Zu Luthers Freiheitsschrift“, in: AXT-PISCALAR, Christine – LASOGGA, Mareile (Hgg.), Dimensionen christlicher Freiheit. Beiträge zur Gegenwartsbedeutung der Theologie Luthers, Leipzig 2015, 81-118; [zit.: N. SLENCZKA, „Freiheit von sich selbst“] ––––, „Gericht“, in: BREYTENBACH, Cilliers (Hg.), Der Römerbrief als Vermächtnis an die Kirche. Rezeptionsgeschichten aus zwei Jahrtausenden, Neukirchen-Vluyn 2012, 161-176; [zit.: N. SLENCZKA, „Gericht“] ––––, „Gewissen und Gott. Überlegungen zur Phänomenologie der Gewissenserfahrung und ihre Darstellung in der Rede vom Jüngsten Gericht“, in: SCHAEDE, Stephan – MOOS, Thorsten (Hgg.), Das Gewissen (= RuA 24), Tübingen 2015, 236-283; [zit.: N. SLENCZKA, „Gewissen und Gott“] ––––, „Gott über die Religion wieder hoffähig machen – Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher“, in: WÜSTENBERG, Ralf K. – SCHRÖTER, Jens (Hgg.), „Nimm und lies!“. Theologische Quereinstiege für Neugierige, Gütersloh 2008, 145-175; [zit.: N. SLENCZKA, „Gott über die Religion“] ––––, „Gott und das Böse. Die Lehre von der Obrigkeit und von den zwei Reichen bei Luther“, Luther 79 (2008) 75-94 ––––, „Historizität und normative Autorität der Schrift“, in: LANDMESSER,

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Christof – POPKES, Enno Edzard (Hgg.), Verbindlichkeit und Pluralität. Die Schrift in der Praxis des Glaubens (= Veröffentlichungen der RudolfBultmann-Gesellschaft für Hermeneutische Theologie e.V.), Leipzig 2015, 13-36; [zit.: N. SLENCZKA, „Historizität und normative Autorität“] ––––, „In ipsa fide Christus adest – ‚im Glauben selbst ist Christus da‘ (Luther) als Grundlage einer evangelischen Lehre vom Abendmahl und von der Realpräsenz Christi“, in: LÖHR, Helmut (Hg.), Abendmahl (= TdT 3), Tübingen 2012, 137-193 ––––, „Kontext und Theologie. Ein kritischer Versuch zum Programm einer ‚kontextuellen Theologie‘“, NZSTh 35 (1993) 303-331; [zit.: N. SLENCZKA, „Kontext und Theologie“] ––––, „Neubestimmte Wirklichkeit. Zum systematischen Zentrum der Lehre Luthers von der Gegenwart Christi unter Brot und Wein“, in: KORSCH, Dietrich (Hg.), Die Gegenwart Jesu Christi im Abendmahl, Leipzig 2005, 79-98 ––––, „Neuzeitliche Freiheit oder ursprüngliche Bindung? Zu einem Paradigmenwechsel in der Reformations- und Lutherdeutung“, in: DERS. – SPARN, Walter (Hgg.), Luthers Erben. Studien zur Rezeptionsgeschichte der reformatorischen Theologie Luthers, FS für Jörg BAUR, Tübingen 2005, 205-244 ––––, „‚Nondum considerasti quanti ponderis sit peccatum - Du hast noch nicht ermessen, welches Gewicht die Sünde hat‘. Die Bedeutung des Kreuzes für das Selbstverständnis des Menschen“, KuD 62 (2016) 160182; [zit.: N. SLENCZKA, „Die Bedeutung des Kreuzes“] ––––, „Öffentliche Antwort auf die Stellungnahme der Fakultätskollegen Markschies, Breytenbach, Gräb, Schieder, Schröter“, EpdD 47 (23/2015) 26; [zit.: N. SLENCZKA, „Öffentliche Antwort“] ––––, „Problemgeschichte der Christologie“, in: GRÄB-SCHMIDT, Elisabeth – PREUL, Reiner (Hgg.), Christologie (= MJTh 23), Leipzig 2011, 59-111; [zit.: N. SLENCZKA, „Problemgeschichte Christologie“] ––––, „Quid sum miser tunc dicturus? Gewissen und Personenidentität“, Trigon 10 (2012) 169-182 ––––, Realpräsenz und Ontologie. Untersuchung der ontologischen Grundlagen der Transsignifikationslehre (= FSÖTh 66), Göttingen 1993 ––––, „Reformation und Selbsterkenntnis. Systematische Erwägungen zum Gegenstand des Reformationsjubiläums“, GlLern 30 (2015) 17-42; [zit.: N. SLENCZKA, „Reformation und Selbsterkenntnis“] ––––, „Religion and the Religions. The Fith Speech in Dialogue with Contemporary Conceptions of a ‚Theology of Religions‘“, in: SOCKNESS, Brent W. – GRÄB, Wilhelm (eds.), Schleiermacher, the study of religion, and the future of theology. A transatlantic dialogue (= TBT 148), Berlin – New York 2010, 51-67; [zit.: N. SLENCZKA, „Religion and the Religions“] ––––, „Religiöse Verbindlichkeit im Horizont pluralistischer Religionstheorie“, in: HÖVER, Gerhard (Hg.), Verbindlichkeit unter den

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Bedingungen der Pluralität (= Schriftenreihe THEOS 34), Hamburg 1999, 131-165; [zit.: N. SLENCZKA, „Religiöse Verbindlichkeit“] ––––, „Rezeptionshermeneutik und Schriftprinzip. Bemerkungen zu einem ambivalenten Verhältnis“, in: WITTE, Markus – GERTZ, Jan Christian (Hgg.), Hermeneutik des Alten Testaments (= VWGTh 47), Leipzig 2017, 144-165; [zit.: N. SLENCZKA, „Rezeptionshermeneutik und Schriftprinzip“] ––––, „Römer 9-11 und die Frage nach der Identität Israels“, in: WILK, Florian – WAGNER, Ross J. – SCHLERITT, Frank (Hgg.), Between Gospel and election. Explorations in the interpretation of Romans 9-11 (= WUNT 257), Tübingen 2010, 463-477; [zit.: N. SLENCZKA, „Römer 9-11"] ––––, „Schleiermacher heute – ein Plädoyer“, in: GROSSE, Sven (Hg.), Schleiermacher kontrovers, Leipzig 2019, 15-39 ––––, „Selbständigkeit und Kommunikation. Das Evangelium als Neubestimmung der Wirklichkeit“, in: DANZ, Christian – TÜCK, JanHeiner (Hgg.), Martin Luther im Widerstreit der Konfessionen. Historische und theologische Perspektiven, Freiburg – Basel – Wien 2017, 245-263; [zit.: N. SLENCZKA, „Selbständigkeit und Kommunikation“] ––––, „‚Sich schämen‘. Zum Sinn und theologischen Ertrag einer Phänomenologie negativer emotionaler Selbstverhältnisse“, in: RICHTER, Cornelia – DRESSLER, Bernhard – LAUSTER, Jörg (Hgg.), Dogmatik im Diskurs. Mit Dietrich Korsch im Gespräch, Leipzig 2014, 241-261; [zit.: N. SLENCZKA, „Sich schämen“] ––––, „Skandalisierung und Wissenschaft“, EpdD 47 (23/2015) 20-21 ––––, „Systematische Bemerkungen über die Aufgabe und den Ansatz einer Theologie des Neuen Testaments am Beispiel des Entwurfs von Ferdinand Hahn“, in: BREYTENBACH, Cilliers – FREY, Jörg (Hgg.), Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments (= WUNT 205), Tübingen 2007, 275-286; [zit.: N. SLENCZKA, „Systematische Bemerkung“] ––––, Vom Alten Testament und vom Neuen. Beiträge zur Neuvermessung ihres Verhältnisses, Leipzig 2017; [zit.: N. SLENCZKA, Vom Alten Testament und vom Neuen] ––––, „Votum Ecclesiae“, HerKorr 73 (2019) 24-28 ––––, „‚Wahrhaftig‘ auferstanden? Ein kritischer Dialog mit Joseph Ratzinger“, in: SÖDING, Thomas (Hg.), Tod und Auferstehung Jesu. Theologische Antworten auf das Buch des Papstes (= ThKontr), Freiburg – Basel – Wien 2011, 179-201 ––––, „Wer braucht das Alte Testament?“, in: Zeit–Christ&Welt, 29. April 2015; [zit.: N. SLENCZKA, „Wer braucht das Alte Testament?“] ––––, „Zu neuersten Äußerungen von Christoph Markschies“, URL: https://www.theologie.hu-berlin.de/de/professuren/professuren/st/AT/neu este-entwicklungen, [Zugriff: 22.01.2020]

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4. Weitere Literatur ADRIAANSE, Hendrik Johan, „Schleiermachers ‚Reden‘ als Paradigma der Religionsphilosophie“, in: BARTH, Ulrich (Hg.), 200 Jahre „Reden über die Religion“. Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft, Halle 14.-17. März 1999 (= SchlA 19), Berlin 2000, 100-117; [zit.: H. J. ADRIAANSE, „Schleiermachers ,Reden‘“] AHRENS, Jehosua – HEIL, Johannes – BLICKLE, Karl-Hermann – BOLLAG, David (Hgg.), Hin zu einer Partnerschaft zwischen Juden und Christen. Die Erklärung orthodoxer Rabbiner zum Christentum, Berlin 2017 ALAND, Barbara, „Marcion – Versuch einer Neuinterpretation“, in: DERS., Was ist Gnosis? Studien zum frühen Christentum, zu Marcion und zur kaiserzeitlichen Philosophie (= WUNT 239), Tübingen 2009, 291-317; [Erstveröffentlichung: ZTHK 70 (1973) 420-447; zit.: B. ALAND, „Versuch einer Neuinterpretation“] ––––, Art.: Marcion (ca. 85-160)/Marcioniten, in:TRE 22, 89-101; [zit.: B. ALAND, „Marcion/Marcioniten“] ––––, „Sünde und Erlösung bei Marcion und die Konsequenz für die sog. beiden Götter Marcions“, in: MAY, Gerhard – GRESCHAT, Katharina – MEISER, Martin (Hgg.), Marcion und seine kirchengeschichtliche Wirkung = Marcion and his impact on church history. Vorträge der Internationalen Fachkonferenz zu Marcion, gehalten vom 15.-18. August 2001 in Mainz, Berlin – Boston 2002, 147-157; [zit.: B. ALAND, „Sünde und Erlösung“] ALBL, Martin C., „Ancient Christian Authors on Jews and Judaism“, in: ROUKEMA, Riemer – AMIRAV, Hagit (eds.), The „New Testament“ as a polemical tool. Studies in ancient Christian anti-Jewish rhetoric and beliefs (= StUNT 118), Göttingen 2018, 15-56; [zit.: M. C. ALBL, „Ancient Christian Authors“] ANDERSON, Gary A., Christian doctrine and the Old Testament. Theology in the service of biblical exegesis, Grand Rapids 2017 ANDRESEN, Carl – RITTER, Adolf Martin, „Die Anfänge christlicher Lehrentwicklung“, in: ANDRESEN, Carl – RITTER, Adolf Martin – MÜHLENBERG, Ekkehard – SCHMIDT, Martin Arno – WESSEL, Klaus (Hgg.), Die christlichen Lehrentwicklungen bis zum Ende des Spätmittelalters (= HDThG 1), Neuausg. d. durchges. Wiederaufl., Göttingen 2011, 1-97; [zit.: C. ANDRESEN – A. M. RITTER, „Christliche Lehrentwicklung“] ANSORGE, Dirk, „Gottes Treue zu Israel und die universale Heilsbedeutung Jesu Christi. Verhältnisbestimmungen von Judentum und Christentum“, in: AUGUSTIN, George – SCHALLER, Christian – ŚLEDZIEWSKI, Slawomir (Hgg.), Der dreifaltige Gott. Christlicher Glaube im säkularen Zeitalter, FS für Gerhard Kardinal MÜLLER, Freiburg – Basel – Wien 2017, 115152; [zit.: D. ANSORGE, „Gottes Treue zu Israel“] ARNETH, Martin, „Zur ‚Kanonisierung‘ der Hebräischen Bibel“, VF 60 (2015) 42-51 ASSEL, Heinrich, „Emanuel Hirsch. Völkisch-politischer Theologe der

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Studien zur systematischen und spirituellen Theologie Begründet von Gisbert Greshake, Medard Kehl und Werner Löser, herausgegeben von Eberhard Schockenhoff, Jan-Heiner Tück und Klaus Vechtel Band 1: Manfred Scheuer: Die evangelischen Räte. Strukturprinzip systematischer Theologie bei H.U. von Balthasar, J.B. Metz und in der Theologie der Befreiung. 1990. 21992. XIII, 449 Seiten. ISBN 3-429-01296-1. Band 2: Dagmar Heller: Schriftauslegung und geistliche Erfahrung bei Bernhard von Clairvaux. 1990. IX, 228 Seiten. ISBN 3-429-01332-1. Band 3: Anneliese Herzig: "Ordens-Christen". Theologie des Ordenslebens in der Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. 1991. XI, 464 Seiten. ISBN 3-429-01369-0. Band 4: Christoph Benke: Unterscheidung der Geister bei Bernhard von Clairvaux. 1991. XI, 320 Seiten. ISBN 3-429-01366-6. Band 5: Sabine Pemsel-Maier: Rechtfertigung durch Kirche? Das Verhältnis von Kirche und Rechtfertigung in Entwürfen der neueren katholischen und evangelischen Theologie. 1991. XIV, 415 Seiten. ISBN 3-429-01399-2. Band 6: Peter Scharr: Consensus fidelium. Zur Unfehlbarkeit der Kirche aus der Perspektive einer Konsenstheorie der Wahrheit. 1992. XI, 257 Seiten. ISBN 3-429-01465-4. Band 7: Gerd Summa: Geistliche Unterscheidung bei Johannes Cassian. 1992. XI, 266 Seiten. ISBN 3-429-01468-9. Band 8: Gerhard Marschütz: Die verlorene Ehrfurcht. Über das Wesen der Ehrfurcht und ihre Bedeutung für unsere Zeit. 1992. XI, 340 Seiten. ISBN 3-429-01469-7. Band 9: Eva-Maria Faber: Kirche zwischen Identität und Differenz. Die ekklesiologischen Entwürfe von Romano Guardini und Erich Przywara. 1993. XI, 449 Seiten. ISBN 3-429-01491-3. Band 10: Stefan Zekorn: Gelassenheit und Einkehr. Zu Grundlage und Gestalt geistlichen Lebens bei Johannes Tauler. 1993. X, 256 Seiten. ISBN 3-429-01516-2. Band 11: Andreas Wollbold: Therese von Lisieux. Eine mystagogische Deutung ihrer Biographie. 1994. IX, 367 Seiten. ISBN 3-429-01601-0.

Band 12: Herbert Hecker: Phänomenologie des Christlichen bei Edith Stein. 1995. XII, 399 Seiten. ISBN 3-429-01642-8. Band 13: Toni Witwer: Die Gnade der Berufung. Allgemeine und besondere Berufung bei Hieronymus Nadal am Beispiel der Gesellschaft Jesu. 1995. X, 299 Seiten. ISBN 3-429-01686-X. Band 14: Peter-Felix Ruelius: Mysterium Spes. Gabriel Marcels Philosophie der Hoffnung und ihre Relevanz für die Eschatologie. 1995. XII, 412 Seiten. ISBN 3-429-01687-8. Band 15: Josef Freitag: Geist-Vergessen - Geist-Erinnern. Vladimir Losskys Pneumatologie als Herausforderung westlicher Theologie. 1995. XVI, 459 Seiten. ISBN 3-429-01688-6. Band 16: Roland Faber: Der Selbsteinsatz Gottes. Grundlegung einer Theologie des Leidens und der Veränderlichkeit Gottes. 1995. XII, 472 Seiten. ISBN 3-429-01689-4. Band 17: Stefan Kiechle: Kreuzesnachfolge. Eine theologisch-anthropologische Studie zur ignatianischen Spiritualität. 1996. XII, 446 Seiten. ISBN 3-429-01787-4. Band 18: Gabriele Kieser: Jesus Christus im Armen. Zur Bedeutung der Armut und des Armen bei Léon Bloy. 1996. X, 213 Seiten. ISBN 3-429-01829-3. Band 19: Katja Boehme: Gott aussäen. Zur Theologie der weltoffenen Spiritualität bei Madeleine Delbrêl. 1997. 21999. X, 311 Seiten. ISBN 3-429-01841-2 Band 20: Thomas Dienberg: »Ihre Tränen sind wie Gebete« (Elie Wiesel). Das Gebet nach Auschwitz in Theologie und Literatur. 1997. XII, 448 Seiten. ISBN 3-429-01897-8. Band 21: Michael Bangert: Demut in Freiheit. Studien zur Geistlichen Lehre im Werk Gertruds von Helfta. 1997. X, 404 Seiten. ISBN 3-429-01946-X. Band 22: Christoph Kaiser: Theologie der Ehe – der Beitrag Hans Urs von Balthasars. 1997. X, 293 Seiten. ISBN 3-429-01952-4. Band 23: Franziska Knapp: »Lieben – Sein Herz zum Fenster hinauswerfen«. Die Botschaft der Liebe in Leben und Werk Marie Noëls auf dem Hintergrund der französischen Spiritualität. 1998. VIII, 470 Seiten. ISBN 3-429-02016-6. Band 24: Andreas Frick: Der dreieine Gott und das Handeln in der Welt. Christlicher Glaube und ethische Öffentlichkeit im Denken Klaus Hemmerles. 1998. X, 483 Seiten. ISBN 3-429-02015-8.

Band 25: Mirjam Schambeck: Contemplatio als Missio. Zu einem Schlüsselphänomen bei Gregor dem Großen. 1998. XII, 473 Seiten. ISBN 3-429-02074-3. Band 26: Karl-Heinz Wiesemann: »Zerspringender Akkord«. Das Zusammenspiel von Theologie und Mystik bei Karl Adam, Romano Guardini und Erich Przywara als theologische Fuge.1999. XI, 431 Seiten. ISBN 3-429-02183-9. Band 27: Siegfried Kleymann: »... Und lerne von dir selbst im Glauben zu reden«. Die autobiographische Theologie Joseph Wittigs (1879-1949). 2000. XI, 483 Seiten. ISBN 3-429-02190-1. Band 28: Daniela Mohr: Existenz im Herzen der Kirche. Zur Theologie der Säkularinstitute in Leben und Werk Hans Urs von Balthasars. 2000. XIV, 471 Seiten. ISBN 3-429-02223-1. Band 29: Hildegard Gosebrink: Maria in der Theologie Hildegards von Bingen. 2004. X, 398 Seiten. ISBN 3-429-02292-4. Band 30: Agnell Rickenmann: Sehnsucht nach Gott bei Origenes. Ein Weg zur verborgenen Weisheit des Hohenliedes. 2003. XVI, 527 Seiten. ISBN 3-429-02293-2. Band 31: Stephan Ackermann: Kirche als Person. Zur ekklesiologischen Relevanz des personal-symbolischen Verständnisses der Kirche. 2001. XXIV, 375 Seiten. ISBN 3-429-02302-5. Band 32: Manfred Scheuer: Weiter-Gabe. Heilsvermittlung durch Gnadengaben in den Schriftkommentaren des Thomas von Aquin. 2001. VII, 360 Seiten. ISBN 3-429-02286-X. Band 33: Cornelius Roth: Discretio spirituum. Kriterien geistlicher Unterscheidung bei Johannes Gerson. 2001. X, 403 Seiten. ISBN 3-429-02287-8. Band 34: Joachim Koffler: Mit-Leid. Geschichte und Problematik eines ethischen Grundwortes. 2001. XIV, 321 Seiten. ISBN 3-429-02405-6. Band 35: Christoph Benke: Die Gabe der Tränen. Zur Tradition und Theologie eines vergessenen Kapitels der Glaubensgeschichte. 2002. XII, 446 Seiten. ISBN 3-429-02416-1. Band 36: Michael Kleinert: Es wächst viel Brot in der Winternacht. Theologische Grundlinien im Werk von Ida Friederike Görres. 2002. XII, 417 Seiten. ISBN 3-429-02460-9. Band 37: Anton Leichtfried: Trinitätstheologie als Geschichtstheologie. „De sancta Trinitate et operibus eius“ Ruperts von Deutz. 2002. XII, 362 Seiten. ISBN 3-429-02375-0.

Band 38: Bernhard Hegge: Christliche Existenz bei Romano Guardini. 2003. X, 377 Seiten. ISBN 3-429-02481-1. Band 39: Simon Peng-Keller: Gottespassion in Versunkenheit. Die psychologische Mystikforschung Carl Albrechts aus theologischer Perspektive. 2003. ISBN 3-429-02529-X. Band 40: Thérèse Winter: Weltliebe in gespannter Existenz. Grundbegriffe einer säkularen Spiritualität im Leben und Werk von Simone Weil (1909-1943). 2004. VIII, 193 Seiten. ISBN 3-429-02616-4. Band 41: Christof May: Pilgern. Menschsein auf dem Wege. 2004. IX, 304 Seiten. ISBN 3-429-02617-2. Band 42: Stephan Lüttich: Nacht-Erfahrung. Theologische Dimensionen einer Metapher. 2004. X, 350 Seiten. ISBN 3-429-02635-0. Band 43: Georg von Lengerke: Die Begegnung mit Christus im Armen. 2006. X, 357 Seiten. ISBN 3-429-02852-3. Band 44: Matthias Fallert: Mitarbeiter der Bischöfe. Das Zueinander des bischöflichen und priesterlichen Amtes auf und nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. 2007. VIII, 448 Seiten. ISBN 3-429-02882-4. Band 45: Andreas Robben: Märtyrer. Theologie des Martyriums bei Erik Peterson. 2007. XII, 291 Seiten. ISBN 3-429-02926-5. Band 46: Dietlind Langner: Schauen im Glauben. Die Bedeutung der Mystik bei Romano Guardini. 2008. XIV, 863 Seiten. ISBN 978-3-429-03003-2. Band 47: Michael Höffner: Berufung im Spannungsfeld von Freiheit und Notwendigkeit. 2009. XI, 228 Seiten. ISBN 978-3-429-03090-2. Band 48: Andreas Schmidt: Jesus der Freund. 2011. IX, 323 Seiten. ISBN 978-3-429-03375-0. Band 49: Jörg Gabriel: Rückkehr zu Gott. Die Predigten Johannes Taulers in ihrem zeit- und geistesgeschichtlichen Kontext. Zugleich eine Geschichte hochmittelalterlicher Spiritualität und Theologie. 2013. XVI, 829 Seiten. ISBN 978-3-429-03570-9. Band 50: Herbert Hartl: Christliche Weisheit und neues Mensch-Sein. Leben und Werk des Kleinen Bruders Heinz R. Schmitz. Auf den Spuren Charles de Foucaulds und Jacques Maritains. 2013. XII, 383 Seiten. ISBN 978-3-429-03620-1.

Band 51: Dorothea Gnau: Person werden. Zu Wesen und Bestimmung des Menschen in der Theologie von Panagiotis Nellas, Christos Yannaras und Ioannis Zizioulas. 2015. XII, 304 Seiten. ISBN 978-3-429-03819-9. Band 52: Christian Bock: Zeitenfülle. Annäherungen an das paradoxe Verhältnis von Vergänglichkeit und Vollendung. 2017. XV, 293 Seiten.ISBN 978-3-42904334-6. Band 53: Christoph Heizler: Beten bei Edith Stein als Gestalt kirchlicher Existenz. 2019. XIV, 464 Seiten. ISBN 978-3-429-05378-9. Band 54: Stefan Ulz: Dreifaltigkeit leben. Trinitarische Anthropologie bei Chiara Lubich. 2019. XI, 308 Seiten. 978-3-429-05401-4. Band 55: Benedikt Poetsch: Identität als Berufung. Eine subjektivitätstheoretische Erschließung der Berufungsthematik im Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil. 2020. XII, 518 Seiten. 978-3-429-05487-8. Band 56: Philip Peters: Was macht eine Ehe zum Sakrament? Anfragen an die konstitutiven Elemente des Ehesakraments durch exemplarische sakramententheologische Ansätze nach dem Zweiten Vatikanum. 2020. X, 344 Seiten. ISBN 978-3-429-05540-0. Band 57: Bernard Mallmann: Dekanonisierung des AT. Rückfragen an Notger Slenczka aus Sicht katholischer Theologie. 2021. 576 Seiten. ISBN 978-3-42905617-9.

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Zeitenfülle

Studien zur systematischen und spirituellen Theologie Christian Bock Bernard Mallmann

Zeitenfülle Dekanonisierung des Alten Testaments?

Annäherungen an das paradoxe Verhältnis von Vergänglichkeit und Vollendung Rückfragen an Notger Slenczka aus Sicht katholischer Theologie

Christian Bock

Dekanonisierung des Alten Testaments?

Autor: Christian Bock, geb. 1976, Studium der kath. Theologie in Erfurt, Frankfurt a. hat M. und Rom. 2015und Promotion zum Dr. theol., Bernard Mallmann, geb. 1985, in Regensburg Rom TheoPfarrer in Sömmerda. logie studiertderzeit und wurde 2012 zum Priester geweiht. 2020 promovierte er am Institut für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.

Bernard Mallmann

Mit seinem Vorschlag, dem Testament den normativen Rang Nicht nur in denAlten Geisteswissenschaften, der Kunst und Kultur des im Kanon der20. heiligen Schriften zu nehmen, hat der Berliner TheoJahrhunderts ist die Komplexität und Vieldimensionalität der loge Notger Zeit Slenczka eine wichtigen kontroverse Debatte entfacht.Dabei Der Vorzu einem Thema geworden. zeigt sich, dass wurf des Antijudaismus wurde erhoben, die Einheit der christlichen die Frage nach der Zeit nicht restlos zu beantworten ist. Zeit ist Bibel aus Altem und Neuem Testament schien infrage gestellt. wesentlich Geheimnis. Die Bernard Untersuchung wendet sichHintergründe verschiedenen Die Studie von Mallmann legt die für philosophischen das theologischen Konzeptionen des 20. Jahrhunderts zu (u. a. Votum einer und Dekanonisierung des Alten Testaments frei und bietet Heidegger, Rahner, Balthasar, Pannenberg), deren Ansätze einen Überblick über dieRicœur, vielstimmige Kritik, die Slenczkas Vorstoß dieDie Vielschichtigkeit der zeitlichen Schöpfung ernstnehmen und ausgelöst hat. antimarcionitische Weichenstellung der frühen die deshalb für eine Sichtweise auf dasdes Phänomen Zeit Kirche mit ihrem Bekenntnis zur komplexe Normativität und Kanonizität plädieren. dabei ist gedeutet der Begriff der PeriAlten Testaments wird Interpretationsschlüssel sodann offenbarungstheologisch chorese gegenseitige Durchdringung), der die unterschiedene und im Gedanken der(= Sakramentalität der christlichen Bibel fortgeEinheit von Chronos, Kairosim und Pleroma aufdeckt und sie von der schrieben: Demnach ist das Gotteswort Menschenwort im Alten Jesu Christi auf die Gegenwart und Neuem zeitlichen TestamentExistenz in derselben Weise her vernehmbar. Das Be- des dreifalGottes transparent macht. kenntnis zumtigen kanonisch-normativen Stellenwert des Alten Testa­ ments steht gegen die Israelvergessenheit christlicher Theologie.

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