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German Pages [388] Year 2013
Erinnerungen an das jüdische Vilne
Lebenswelten osteuropäischer Juden Erinnerung an die Lebenswelten osteuro päischer Juden, an ihre Geschichte und Kultur, ist eine Erfahrung des Leidens, aber auch des Selbstbewusstseins und der Kraft. Mit den Arbeiten dieser Reihe – wissenschaftlichen Forschungen, Neuaus gaben bedeutender älterer Beiträge und Quelleneditionen – sollen Leben ver hältnisse und Alltag, Werte, Normen und Einstellungen, Denken, Fühlen und Verhalten der Juden ebenso wieder gegen wärtig werden wie das Zusammenleben mit der nichtjüdischen Umwelt und das Einwirken politischer, wirtschaft licher und gesellschaftlicher Strukturen. In der Auseinandersetzung mit diesen Welten gewinnen wir sie als Teil unserer eigenen Geschichte zurück.
Herausgegeben von Heiko Haumann, Julia Richers und Monica Rüthers Band 15
Erinnerungen an das jüdische Vilne Literarische Bilder von Chaim Grade und Abraham Karpinovitsh von Sandra Studer
2014 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Stiftung Irène Bollag-Herzheimer, Basel Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel (angenommen im Oktober 2011) Erstgutachter: Prof. Dr. Heiko Haumann Zweitgutachterin: PD Dr. Carmen Scheide
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Yatkever gas. Aus: Jerusalem of Lithuania. Illustrated and Documented. Hg. von Leyzer Ran. 3 Bde. New York 1974 (Covermotiv aus Bd. 1, S. 66). © 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Lena Hoffmann Satz: SatzWeise, Föhren Druck und Bindung: Prime Rate Kft., Budapest Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Hungary ISBN 978-3-412-21118-9
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Meinen Eltern
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Inhalt
Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thema und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Autoren und ihr Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autobiographische und belletristische Literatur als historische Quelle Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erläuterungen zur Übersetzung und zur jiddischen Schreibweise . . .
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13 15 17 23 28 32
Methodische Überlegungen . . . . . . . . . . . Die Erinnerung an verschwundene Lebenswelten Räumliche Aspekte des jüdischen Vilne . . . . . Die Vilner Topografie . . . . . . . . . . . .
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I. Die Lebensverhältnisse der Vilner Juden . . . . . . . . . . . .
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Das jüdische Viertel: äußere Bestandsaufnahme Architektonische Besonderheiten . . . . . Eine Welt aus Stein . . . . . . . . . . . . Ein Blick über das jüdische Viertel hinaus .
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Die Erwerbssituation im jüdischen Viertel . . . . . . . . . . . . . . . Die Welt des Handels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
90 93
Das jüdische Viertel als Wohnort der Vilner Juden Vilner Hinterhöfe . . . . . . . . . . . . . . Die bauliche Substanz des jüdischen Viertels Einblicke ins Innere der Wohnungen . . . . Kontraste: Bürgerliches Wohnen . . . . . .
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8
Inhalt
Das jüdische Handwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Weitere Berufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Armut im jüdischen Viertel . . . . . . Mittellosigkeit . . . . . . . . . . Geldzuschüsse und Kredite . . . . Kontraste: Bürgerlicher Wohlstand
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Wohltätigkeit und Umgang mit der Not Die Almosengeber . . . . . . . . Die Almosenempfänger . . . . . . Die geisteskranken Bettler . . . . . Die Lebenswelt der Vilner Bettler .
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II. Vilne, das Yerushalayim d’Lite, als Ort traditioneller Jüdischkeit 149 Vilnes religiöses Erbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der vilner Goen und die Chassidim . . . . . . . . . Die Welt der Synagogen – der shulhoyf . . . . . . . Ein Leben für die Tora – die Prushim der Goens kloyz
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151 153 157 164
Das tägliche Lernen: traditionelle Gelehrsamkeit im jüdischen Viertel Orte des Lernens: Chedarim und Yeshivot . . . . . . . . . . . . Religiöse Vorbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religiöse Gelehrsamkeit der einfachen Juden . . . . . . . . . .
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168 172 175 177
Die jüdischen Feiertage – Höhepunkte des religiösen Lebens . . . . . 183 Der Sabbat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Jom Kippur – Simchat Tora – Pessach . . . . . . . . . . . . . . . 188 Die Missachtung religiöser Werte und Normen Leerstehende Gebetshäuser . . . . . . . . Nichteinhaltung des Sabbats . . . . . . . Äußere Anzeichen des Glaubenszerfalls . .
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Inhalt
Rückgang der Frömmigkeit als Generationenkonflikt . . . . . . . 206 Das traditionelle Judentum Vilnes in der Kritik Falsche und fanatische Frömmigkeit . . . . Kritik an religiösen Hierarchien . . . . . . Hinterfragung rabbinischer Autorität . . .
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III. Vilne, ein Ort moderner jüdischer Kultur . . . . . . . . . . . 225 Vilne, die Wiege der Jiddischkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Die jiddische Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Das yidisher visnshaftlekher institut als Symbol jiddischer Kultur . . 236 Spuren jiddischer Kultur im Alltag der Vilner Juden Die jiddisch-weltliche Schule . . . . . . . . . Das jiddische Theater . . . . . . . . . . . . . Die jiddische Presse . . . . . . . . . . . . . .
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Politische Ideologien und Bewegungen: Aufruhr auf der „jüdischen Straße“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Zionisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 Bundisten und jüdische Kommunisten . . . . . . . . . . . . . . 274
IV. Momentaufnahmen jüdischer Lebenswelten . . . . . . . . . . 289 Das eheliche Zusammenleben . . . . . . . . . . . Auf dem Weg zur Chuppe . . . . . . . . . . Lustige Witwen unter der Chuppe – Zweitehen Ehealltag im jüdischen Viertel . . . . . . . . . Getrennte Wege . . . . . . . . . . . . . . . . Agunot – die „verlassenen“ Ehefrauen . . . . .
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Die Vilner jüdische Unterwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Diebe, Gauner und Ganoven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
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Inhalt
Vilner Straßenmädchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Beziehungen zur nichtjüdischen Bevölkerung Vilnes . . . . . . . Antisemitismus auf der „jüdischen Straße“ . . . . . . . . . Polizist, Bauer, Hausmeister – Nichtjuden im jüdischen Vilne Yidn und Goyim – eine problematische Beziehung . . . . . . Miteinander statt gegeneinander . . . . . . . . . . . . . .
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Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 Portrait der Vilner Lebenswelten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Zwei unterschiedliche Perspektiven auf das jüdische Vilne . . . . . . . 369
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Belletristische Texte von Chaim Grade und Abraham Karpinovitsh Erinnerungen, Memoiren und zeitgenössische Publikationen mit Quellencharakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lexika und Nachschlagewerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
371 371 373 376 377
Anhang Transkriptionstabelle
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Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392
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Dank
Mein besonderer Dank geht an meinen Doktorvater Heiko Haumann, durch dessen Vorlesungen und Seminare mein Interesse an der Geschichte und Kultur der osteuropäischen Juden geweckt wurde. In meinem Dissertationsvorhaben stand er mir in vielen Sprechstunden mit fachlichem Wissen und konstruktiver Kritik zur Seite und wusste stets, mich für den weiteren Fortgang meiner Arbeit zu motivieren. Ebenfalls bedanken möchte ich mich bei meiner Korreferentin Carmen Scheide, die mich bei der Überarbeitung des Manuskripts mit wertvollen Hinweisen unterstützte. Der Reisefonds der Universität Basel ermöglichte mir einen Aufenthalt am Center for Jewish History in New York; später folgte ein Stipendium des Schweizerischen Nationalfonds, welches es mir erlaubte, ein ganzes Forschungssemester an dieser Institution zu verbringen. Für die Fertigstellung meiner Arbeit wurde ich von der Max Geldner-Stiftung finanziell unterstützt. Der Stiftung Irène Bollag-Herzheimer bin ich für die Übernahme der Druckkosten zu Dank verpflichtet. Die jiddische Sprache, durch die sich mir das jüdische Vilne präsentiert hat, stellte ihre eigenen Herausforderungen an mich. Diesbezüglich möchte ich Rivka Schiller von den YIVO-Archives/New York sowie Tamar Lewinsky vom Institut für Jüdische Studien/Basel für ihre Hilfe danken. Für das Korrekturlesen meines Manuskripts danke ich Sabina Bellofatto, Christoph Manasse und Judith Sandhaas. Dorothee Rheker-Wunsch vom Böhlau Verlag danke ich für ihre sorgfältige Betreuung meiner Arbeit. Zum Gelingen dieser Arbeit trug neben meinen Studien- und ArbeitskollegInnen vor allem mein persönliches Umfeld bei. Mein größter Dank gilt meinen Eltern, die mir mein Studium ermöglicht und mich in all den Jahren immer unterstützt haben. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Basel, im Mai 2013
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Einführung
Vilne, Vilne, undzer heymshtot, undzer benkshaft [Sehnsucht] un bager [Begehren]. Akh, vi oft es ruft dayn nomen fun mayn oyg aroys a trer [Träne]. Vilner geslekh, vilner taykhn [Flüsse], vilner velder, barg un tol. Epes noyet [zehren], epes benkt zikh [sich sehnen] nokh di tsaytn fun amol. 1
In der jüdischen Erinnerungslandschaft nimmt Vilne, wie die Hauptstadt des heutigen Staates Litauen von den Juden bis zum Zweiten Weltkrieg umgangssprachlich auf Jiddisch bezeichnet wurde, einen besonderen Platz ein. Mythenumwoben präsentiert sich die Geschichte dieser jüdischen Gemeinde und legendär sind einzelne ihrer Bewohner, die der Stadt dazu verhalfen, nicht nur zu einem geistigen Zentrum der Ostjuden, sondern des Judentums insgesamt zu werden. Während die Stadt 2 abhängig von der jeweiligen Herrschaft etliche Male ihren offiziellen Namen ändern musste (litauisch Vilnius, polnisch Wilno, deutsch Wilna, russisch Vilna), war sie für die Juden stets auch unter der 1
2
Strophe aus dem Gedicht „Vilne“ von A. L. Volfson. In: Vilne. A zamelbukh gevidmet der shtot Vilne. Hg. von Yefim Yeshurin. New York 1935, S. 821–824. Das Gedicht spiegelt die Verbundenheit der Vilner Juden zu ihrer Stadt und spricht von der Wehmut derjenigen, die aus der Ferne der geliebten Heimat gedenken. Das Gedicht, welches von Alexander Olshanetsky (1892–1946) vertont wurde, gehörte während des Zweiten Weltkriegs zu denjenigen Liedern, die von den Vilner Juden immer wieder gesungen und vorgeführt wurden. Im 14. Jahrhundert wurde die Stadt durch Großfürst Gediminas (1275–1341) gegründet und zur Kapitale eines unabhängigen litauischen Staates erklärt. Durch die Heirat des litauischen Großfürsten Jogaila mit der polnischen Königin Jadwiga wurde die Personalunion zwischen Litauen und Polen (1385–1569) begründet. In der Folge stieg Vilnius neben Krakau zu einer der beiden Hauptstädte der polnisch-litauischen Union (1569–1791) auf und funktionierte schließlich unter zaristischer Herrschaft (1795–1914) als Zentrum der nordwestlichen Region des Russischen Reiches. Auch im 20. Jahrhundert unterlag die Stadt der Rechtsprechung verschiedener Mächte: Deutschland besetzte Vilnius zweimal (1915–18, 1941–44), die Sowjetunion dreimal (1939, 1940–41, 1944–91), und das nach dem Ersten Weltkrieg wieder auferstandene Polen reklamierte die Stadt in der Zwischenkriegszeit für sich.
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Einführung
anerkennenden Bezeichnung Yerushalayim d’Lite (Jerusalem Litauens) bekannt.3 Aufgrund ihrer turbulenten Geschichte war Vilne eine multikulturelle Stadt und die dort lebenden Nationalitäten – Polen, Juden, Ruthenen, Russen, Deutsche und Karäer – betrachteten sie als ein wichtiges Zentrum ihrer jeweiligen Kultur. 4 Für die Juden galt Vilne seit dem 18. Jahrhundert als Wiege rabbinischer Gelehrsamkeit, deren geistiges Erbe weit über die Grenzen der Stadt hinauswirkte. Mit dem einsetzenden Modernisierungsprozess, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Lebenswelten des osteuropäischen Judentums erschütterte, erfuhr das orthodoxe Vilne eine kulturelle Neuorientierung: Die Stadt wurde zu einem Zentrum säkularer jüdischer Kultur, das vor allem während der Zwischenkriegszeit – ungeachtet der verschlechterten wirtschaftlichen, politischen und sozialen Lage – seine Blüte fand. Während der Ruf Vilnes dank ihrer vielseitigen kulturellen Leistungen weit über die Grenzen der Stadt getragen wurde, war dieser Ort gleichsam ein Lebensraum, in dem die jüdischen Massen – ähnlich wie in anderen Städten und Metropolen Osteuropas auch – ganz unspektakulär ihren Alltag meisterten und von einem besseren Leben träumten. Bei der Herausbildung von Vilnes Ruf als herausragendes jüdisches Zentrum spielten diese meist unbekannten Menschen keine aktive Rolle, weshalb sie in den gängigen Erinnerungsbildern des jüdi3
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Die Bezeichnung Lite verweist auf das historische Siedlungsgebiet der litvakes – der litauischen Juden –, das genauso wie Yerushalayim d’Lite auf keiner historischen Landkarte zu finden ist. Es handelt sich hierbei um eine Region, deren Grenzen im Nordwesten vom baltischen Meer über Białystok (heute Polen) bis nach Brisk (heute Brest, Weissrussland) im Südwesten und von Smolensk (heute Russische Föderation) im Nordosten bis nach Tshernóbl (heute Chernobyl, Ukraine) im Süden verlaufen. Dovid Katz: Lithuanian Jewish Culture, Vilnius 2004, S. 15. Im historischen Gebiet von Lite lebten vor dem Zweiten Weltkrieg 1,5 Millionen litvakes. Siehe dazu: Henri Minczeles, Yves Plasseraud, Suzanne Pourchier: Les Litvaks. L’héritage universel d’un monde juif disparu. Paris 2008, S. 12. Tomas Venclova: Vilnius/Wilno/Vilna: The Myth of Division and the Myth of Connection. In: History of the Literary Cultures of East-Central Europe. Junctures and Disjunctures in the 19th and 20th Centuries. Hg. von Marcel Cornis-Pope, John Neubauer. Amsterdam, 2006, S. 11–27, hier S. 12. Hierbei ist allerdings zu beachten, dass die vielfach genannte Kosmopolität Vilnes eher von der Zahl der dort lebenden Nationalitäten als von deren gegenseitiger Interaktion rührte. Seth L. Wolitz, Brian Horowitz, with Zilla Jane Goodman: Cities of Ashkenaz: Sites of Identity, Cultural Production, Utopic or Dystopic Visions. In: History of the Literary Cultures of EastCentral Europe. Junctures and Disjunctures in the 19th and 20th Centuries. Hg. von Marcel Cornis-Pope, John Neubauer. Amsterdam 2006, S. 182–212, hier S. 187.
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Thema und Fragestellung
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schen Vilne kaum differenziert zutage treten. Es scheint daher berechtigt danach zu fragen, wie ganz gewöhnliche Juden an einem solch erinnerungsträchtigen Ort gelebt und welche Spuren sie im kulturellen Gewebe dieser Stadt hinterlassen haben.
Thema und Fragestellung Diese Arbeit richtet ihren Blick auf die engen Straßen und verwinkelten Hinterhöfe des jüdischen Vilne und fragt, wie die sich auf verschiedenen Ebenen vollziehenden sozialen und kulturellen Veränderungen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stattfanden, ihre Spuren im Alltag der Mehrheit der jüdischen Bevölkerung, nämlich der an der Armutsgrenze lebenden Jüdinnen und Juden, hinterlassen hatte, und wie diese ihrerseits auf die sich verändernden Lebenswelten reagierten. Im Mittelpunkt stehen also die Menschen und die Sichtweisen der „jüdischen Straße“, die allzu oft als anonyme Masse wahrgenommen werden. Der zeitliche Rahmen fasst die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, die sich für das Vilner Judentum in vielerlei Hinsicht als eine Zeit des Wandels und Umbruchs darstellte. Wie sich die sowohl außerhalb als auch innerhalb der jüdischen Gemeinde stattfindenden Veränderungen auf den Lebensalltag der einfachen Juden ausgewirkt haben und welche Folgen diese für das jüdische Selbstverständnis hatten, soll dabei untersucht werden. Räumlich bildet das jüdische Viertel im Herzen der Vilner Altstadt den topographischen Bezugspunkt dieser Arbeit, denn an diesem Ort, der noch bis zum Zweiten Weltkrieg den Ruf einer „Bastion der Frömmigkeit“ hatte und als Antithese des Fortschritts und der Moderne galt, 5 lebten und arbeiteten auf engstem Raum die mittellosen jüdischen Massen. Im weitesten Sinne geht es darum, die von den jüdischen Unterschichten „besetzten“ Räume Vilnes genauer zu beleuchten. Ins Blickfeld geraten so private, öffentliche und symbolische Räume. Dabei geht es zum einen darum, diese Räume in der Stadtlandschaft zu verorten und festzumachen, sie zum andern aber auch auf ihre kulturellen und sozialen Funktionen hin zu analysieren. Anhand des literarischen Werks der in Vilne geborenen Autoren Chaim 5
Yves Plasseraud: Heurs et malheurs du judaïsme litvak. In: Lituanie juive 1918–1940. Message d’un monde englouti. Hg. von Yves Plasseraud und Henri Minczeles. Paris 1996, S. 57–63, hier S. 62.
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Einführung
Grade (1910–1982) und Abraham Karpinovitsh (1913–2004) sollen die bisher nur ansatzweise erforschten jüdischen Unterschichten differenziert untersucht werden. Die bis zu diesem Zeitpunkt nicht rezipierten Texte 6 eignen sich besonders zur Erforschung des umschriebenen Themenkreises und werden in dieser Arbeit bewusst als historische Quelle gebraucht. Obwohl fiktional, wurzeln sie auf der Erfahrung der Autoren, welche Rückschlüsse auf die damalige Alltagspraxis erlauben. Im Vergleich zu herkömmlichen Archivquellen wie beispielsweise Gerichts- und Verwaltungsakten, die aus dem Handeln der Mächtigen entstanden und über den Alltag der jüdischen Massen kein differenziertes Bild entstehen lassen, ermöglichen die Texte die Vergangenheit aus der Perspektive der betroffenen Subjekte darzustellen. Da sie nicht das Masternarrativ der Shoa zeigen, sondern die Periode davor (1919–1939), bereichert ihre Wiederentdeckung die für diesen Zeitraum sonst eher spärliche Quellenlage erheblich und ermöglicht daher einen fruchtbaren Zugang zum Mikrokosmos des jüdischen Viertels und seiner Bewohner. So geben die Texte Antworten auf Fragen hinsichtlich der Wohn- und Arbeitsbedingungen sowie des Umgangs mit Armut und Not. Spuren des Religiösen wie Frömmigkeit, das Begehen von Feiertagen, das Einhalten von religiösen Geboten, aber auch die Missachtung derselben und die Kritik am religiösen Establishment spiegeln sich im Lebensalltag der Menschen. Gleichfalls zeigen die Texte Spuren moderner jüdischer Kultur, sei es in Form von kulturellen Institutionen oder gesellschaftlichen Bewegungen. Neben der Thematisierung von Konflikten und Spannungen, die sich beispielsweise zwischen den Generationen oder zwischen progressiven und orthodoxen Juden manifestieren, spiegeln die Texte auch die allgemeine Stimmung und Gefühlslage auf der „jüdischen Straße“. Nicht zuletzt lassen sich ganz bestimmte Lebensbereiche, wie etwa die jüdische Unterwelt oder der Interaktionsraum von Juden und Nichtjuden, näher beleuchten. Bei dem als Erinnerungsliteratur zu verstehenden Werk von Chaim Grade und Abraham Karpinovitsh interessiert, wie und was der jeweilige Autor erinnert beziehungsweise auch nicht erinnert und welches „Bild“ von Vilne dem Leser vermittelt wird. Da beide Autoren der Lebenswelt entstammen, die sie in ihrem literarischen Werk beschreiben, bietet sich eine Gegenüberstellung ihrer Texte an. Wie lassen sich trotz vieler Gemeinsamkeiten die doch jeweils 6
Aus Platzgründen wird beim Zitieren von Grades und Karpinovitshs Erzählungen ein Sigel verwendet. Siehe dazu Literaturverzeichnis, Quellen, Belletristische Texte von Chaim Grade und Abraham Karpinovitsh.
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Thema und Fragestellung
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unterschiedlichen „Bilder“ des jüdischen Vilne erklären? Welche Aspekte der Vergangenheit werden als wichtig erachtet und so Teil des Gesamtbildes von Vilne? Indem sich diese Arbeit die jiddischsprachigen Originaltexte von Grade und Karpinovitsh zu Nutzen macht und sie als Quellen zum Verständnis der jüdischen Unterschichten Vilnes verwendet, will sie auch dazu beitragen, die beiden Autoren und ihr Werk einem größeren Publikum bekannt und zugänglich zu machen.
Die Autoren und ihr Werk „Ein Erinnerungsort ist das, was übrigbleibt von dem, was nicht mehr besteht und gilt. Um dennoch fortbestehen und weitergelten zu können, muss eine Geschichte erzählt werden, die das verlorene Milieu supplementär ergänzt.“ 7
Zu den wenigen jiddisch schreibenden Autoren des 20. Jahrhunderts, die den Holocaust überlebt haben und in ihrem literarischen Werk die zerstörte Welt des osteuropäischen Judentums wieder aufleben lassen, gehören Chaim Grade und Abraham Karpinovitsh. Im Mittelpunkt ihres schriftstellerischen Schaffens steht das jüdische Vilne der zwanziger und dreißiger Jahre – der Ort ihrer Kindheit und Jugend –, dessen Existenz im Zweiten Weltkrieg ausgelöscht wurde. Die starke Fokussierung auf die Zwischenkriegszeit lässt sich mit dem Bedürfnis beider Autoren erklären, einen Erinnerungsort schaffen zu wollen und die Nachwelt daran zu erinnern, „wie es einmal war“. 8 Als lieu de mémoir ist das jüdische Vilne jedoch nach 1945 nur noch deskriptiv erfahrbar. Insofern funktionieren die Texte von Grade und Karpinovitsh in zweierlei Hinsicht: Zum einen nehmen sie durch ihr akribisches Nachzeichnen einen dokumentarischen Charakter an, zum andern erinnern sie an eine bestimmte Lebenswelt und setzen ihr so ein Denkmal. 7
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Aleida Assmann: Erinnerungsorte und Gedächtnislandschaften. In: Erlebnis – Gedächtnis – Sinn. Authentische und konstruierte Erinnerung. Hrsg. von Hanno Loewy und Bernhard Moltzmann. Frankfurt am Main, New York 1995, S. 13–27, hier S. 16. Siehe dazu: Heiko Haumann: Die Verarbeitung von Gewalt im Stalinismus am Beispiel ausgewählter Selbstzeugnisse. Methodische Bemerkungen und ein Werkstattbericht. In: Das Jahrhundert des Gedächtnisses. Erinnern und Vergessen in der russischen und sowjetischen Geschichte im 20. Jahrhundert. Hg. von Heiko Haumann, Jörn Happel und Carmen Scheide. St. Petersburg 2010, S. 58–76, hier S. 68.
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Einführung
Chaim Grade Chaim Grade 9 wurde 1910 in Vilne geboren. Sein Vater, Shloyme-Mordkhe Grade – ein Anhänger der jüdischen Aufklärung – war Hebräischlehrer und seine Mutter, Vella Grade-Blumenthal – die Tochter eines Rabbis – hatte ein bescheidenes Auskommen als Früchtehändlerin. Während des Ersten Weltkriegs erkrankte der Vater und die Familie lebte in großer Armut. Von den vier Kindern der Familie Grade war Chaim das einzige, das den Krieg überlebte. Als Knabe besuchte Chaim Grade einen traditionellen Cheder und führte als Jugendlicher seine religiöse Ausbildung in verschiedenen litauischen Jeschiwot fort. Besonders prägend war die Jeschiwa von Novaredok, wo er mit den ethisch-moralischen Lehren von Musar (Erbauung; Züchtigung) in Berührung kam. Grades Begabung für religiöse Studien war offensichtlich, doch stand er auch der säkularen Bildung offen gegenüber. Zum Bruch mit der traditionellen Welt kam es für ihn im Jahr 1932, als er beim heimlichen Lesen von weltlicher Literatur erwischt wurde und sich dazu entschloss, die Jeschiwa endgültig zu verlassen. Wieder bei seiner Mutter im jüdischen Viertel lebend, begann Grade mit dem Schreiben von Gedichten. Nachdem 1934 ein erstes Gedicht in der jiddischen Zeitung tog 10 publiziert wurde, nahm ihn die 1927 gegründete Künstlergruppe yung Vilne 11 in ihren Kreis auf. Schnell wurde Grade zu deren erfolgreichstem Mitglied: 1936 publizierte er seinen ersten Gedichtband „Yo“, in dem er über sein eigenes Leben, seinen Vater und seine Mutter, seine Ängste und Leidenschaften schreibt. Religiöse Themen – vor allem seine eigenen Erfahrungen mit Musar – behandelte er in seinem zweiten Gedichtband „Musarnikes“, der 1939 erschien und für den Grade von einer jüdischen Kulturorganisation in New York einen beachtlichen Preis erhielt. Bis zum Ausbruch des 9 Im Folgenden beziehe ich mich auf Anna Lisek: Chaim Grade (Khayim Grade). In: Writers in Yiddish. Hg. von Joseph Sherman. Dictionary of Literary Biography. Bd. 333. Detroit 2007, S. 74–82; Lucy S. Dawidowicz: From that Place and Time. A Memoir, 1938–1947. New York, London 1989, S. 125–130. 10 Je nach Erscheinungsjahr auch bekannt unter dem Namen „der tog“ (1919–1920), „undzer tog“ (1920–1923/1937–1939), „tog“ (1923–1924) sowie „vilner tog“ (1925– 1936). Susanne Marten-Finnis: Vilna as the Centre of the Modern Jewish Press, 1840–1928. Oxford, Bern, Berlin u. a. 2004, S. 172. 11 Siehe dazu Rachel Ertel: Portrait de group avec jeunes poètes. In: Lituanie juive 1918–1940. Message d’un monde englouti. Hg. von Yves Plasseraud und Henri Minczeles. Paris 1996, S. 215–234; Sol Liptzin: A History of Yiddish Literature. Middle Village, NY 1985, S. 410–425.
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Zweiten Weltkriegs war Grade das einzige Mitglied von yung Vilne, das von seiner dichterischen Tätigkeit – wenn auch bescheiden – leben konnte. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs setzte Grade, der inzwischen die Tochter eines zionistischen Rabbis – die Krankenschwester Frume-Libtshe – geheiratet hatte, seine Arbeit als Dichter unter dem kontrollierenden Auge der russischen Besatzungsmacht fort. Als die Deutschen im Juni 1941 Vilne einnahmen, flüchtete Grade mit der sich zurückziehenden sowjetischen Armee. Frume-Libtshe und seine Mutter ließ er in Vilne in dem Glauben zurück, dass nur arbeitsfähige Männer von den Deutschen etwas zu befürchten hätten. Als Grade schließlich nach Jahren des Exils an verschiedenen Orten in der Sowjetunion 1946 nach Vilne zurückkehrte, lag die Stadt in Schutt und Asche. Die jüdische Gemeinde existierte nicht mehr. Frume-Libtshe und seine Mutter hatten wie die überwältigende Mehrheit der Vilner Juden im Wald von Ponar, unweit der Stadt, den Tod gefunden. 12 Nach dem Pogrom von Kielce im Juli 1946 verließ Grade nach nur sechsmonatigem Aufenthalt Polen endgültig und zog nach Paris. Hier engagierte er sich auf jüdisch-kulturellem Gebiet und heiratete seine zweite Frau, Inna Hecker. Das Paar zog 1948 weiter nach New York, wo Grade bis zu seinem Tod 1982 lebte und damit beschäftigt war, sein verlorenes Vilne aus der Erinnerung und Imagination literarisch wieder aufleben zu lassen. In seiner zweiten Heimat schrieb Grade zunächst weiterhin Gedichte, später auch Prosa. 1955 erschien sein autobiographischer Roman „Der mames shabosim“, 13 der die Frömmigkeit seiner Mutter thematisiert. Den Memoiren folgte 1958 „Der shulhoyf“, 14 dessen darin enthaltene drei Erzählungen um den shulhoyf (Synagogenhof ) des jüdischen Viertels angesiedelt sind. In seinem 1961 verfassten Roman „Di agune“ 15 beschreibt Grade, wie die unterschiedliche Interpretation des jüdischen Gesetzes die ganze jüdische Gemeinde zu entzweien droht. In seinem zweibändigen epischen Roman „Tsemakh Atlas (di yeshive)“ (1967–68) 16 schildert er als einer der wenigen dazu befähigten jiddisch schreibenden Autoren detailliert die Innenwelt der jüdischen Orthodoxie. In 12 Von den zum Zeitpunkt des Einmarschs der Deutschen in Vilne lebenden 60.000 Juden überlebten nur 500 den Krieg. Anna Lipphardt: Die vergessene Erinnerung. Die Vilner Juden in der Diaspora. In: Osteuropa, 58/8–10 (2008) S. 353–365, hier S. 356. 13 Chaim Grade: Der mames shabosim. Chicago 1955. 14 Ders.: Der shulhoyf. New York 1958. 15 Ders.: Di agune. New York 1961. 16 Ders.: Tsemakh Atlas: Di yeshive. Ershter band/Tsveyter band. New York 1967/68.
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„Di kloyz un di gas“ (1974) 17 wiederum richtet Grade erneut den Blick auf das jüdische Viertel Vilnes und thematisiert in den darin enthaltenen vier Erzählungen die alltäglichen Konflikte zwischen den religiösen und den weltlichen Juden. In seinem letzten veröffentlichten Roman „Der shtumer minyan“ (1976) 18 schließlich beschreibt Grade abermals die sich verändernde Welt des orthodoxen Judentums von Vilne.
Abraham Karpinovitsh Im Gegensatz zu Grade ist anhand der Sekundärliteratur nur wenig über das Leben von Abraham Karpinovitsh in Erfahrung zu bringen. Dieser kam 1913 in Vilne zur Welt. Sein Vater, Moyshe Karpinovitsh, war der Gründer und Direktor des yidisher folks-teater in Vilne. Die Familie hatte sechs Kinder. Nach dem Cheder besuchte Karpinovitsh das jüdische Realgymnasium, wo der Dichter Moyshe Kulbak (1896–1937) zu seinen Lehrern zählte. 1937 zog er in das zur Sowjetunion gehörende autonome jüdische Gebiet Birobijan und kehrte 1944 – nach der Einnahme Vilnes durch die Russen – wieder in seine Heimatstadt zurück. Seine Eltern, die während des Krieges in Vilne geblieben waren, fanden den Tod in Ponar. Nach Kriegsende wurde Karpinovitsh 1947 wegen illegaler Einreise nach Palästina auf Zypern interniert. 1949 schließlich durfte er nach Israel immigrieren; er ließ sich in Tel Aviv nieder und arbeitete als Verwalter des Israelischen Philharmonischen Orchesters. Bis zu seinem Tod 2004 schrieb er zahlreiche Erzählungen, die zunächst einzeln in jiddischsprachigen Zeitschriften, wie etwa Di goldene keyt, veröffentlicht wurden. 19 Mit „Baym vilner durkhhoyf“ 20 erschien 1967 Karpinovitshs erste Sammlung von je zehn Vilner Erzählungen, gefolgt von „Oyf vilner gasn“ (1981), 21 „Oyf vilner vegn“ (1987), 22 „Vilne, mayn Vilne“ (1993) 23 und „Geven, geven amol Vilne“ (1997). 24 Bezeichnend für Karpinovitshs Werk ist, dass der Autor einzelne Personen und deren Berufe authentisch benennt und sie in vielen seiner Erzählungen 17 Ders.: Di kloyz un di gas. New York 1974. 18 Ders.: Der shtumer minyan. New York 1976. 19 Helen Beer: Avrom Karpinovich. In: Jewish Writers of the Twentieth Century. Hg. von Sorrel Kerbel. New York 2003, S. 274–275. 20 Abraham Karpinovitsh: Baym vilner durkhhoyf. Tel Aviv 1967. 21 Ders.: Oyf vilner gasn. Tel Aviv 1981. 22 Ders.: Oyf vilner vegn. Tel Aviv 1987. 23 Ders.: Vilne, mayn Vilne. Tel Aviv 1993. 24 Ders.: Geven, geven amol Vilne. Tel Aviv 1997.
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immer wieder in Erscheinung treten lässt. Auf diese Weise erweitert Karpinovitsh den Rahmen einer einzelnen Erzählung und verknüpft seine Charaktere und deren Geschichten zu einem einzig großen Gesamtwerk. 25 Leider nicht in Erfahrung gebracht werden konnte, welche genauen Umstände das Schreiben von Grade und Karpinovitsh bedingt haben. In was für einem kulturellen Umfeld bewegten sich die Autoren in ihrer neuen Heimat? Standen sie in ihren jeweiligen Wohnorten in Kontakt mit Juden, die sowohl vor als auch nach der Shoa von Vilna nach Palästina bzw. in die USA emigriert waren und sich dort in sogenannten Landsmannschaften trafen, wo der alten Heimat gedacht wurde und man darum bemüht war, das kulturelle Erbe für die kommenden Generationen zu bewahren?26 Haben also bereits bestehende oder sich neu formierende Gruppengedächtnisse die individuelle literarische Verarbeitung des „Erinnerungsgegenstandes Vilne“ bei Grade und Karpinovitsh nach 1945 beeinflusst? Entgegen dem schriftstellerischen Können und dem hohen Authentizitätswert des Schreibgegenstandes, die sich in den Werken von Grade und Karpinovitsh manifestieren, sind beide Autoren einer größeren (selbst jüdischen) Öffentlichkeit nahezu unbekannt. Dies gilt besonders für Karpinovitsh, dessen Person in den wenigsten jüdischen Lexika oder Publikationen zur jiddischen Literatur- und Kulturgeschichte Erwähnung findet. Auch Grades Name genießt keinen hohen Wiedererkennungswert, selbst wenn seine schriftstellerische Leistung in wissenschaftlichen Kreisen durchaus diskutiert wird, wo sein Name häufig in einem Zug mit dem von Isaac Bashevis Singer genannt und er zusammen mit diesem zu den bedeutendsten jiddischen Schriftstellern nach dem Holocaust gezählt wird. 27 Dennoch: Grades (und auch Karpinovitshs) schriftstellerisches Schaffen stand stets im Schatten von Singer, dessen literarisches Werk vor allem in den USA die jiddische Literaturszene dominiert hat. „For the readership of the limited body of Yiddish literature available in Eng25 Beer: Avrom Karpinovich, S. 275. 26 Siehe dazu: Anna Lipphardt: VILNE. Die Juden aus Vilnius nach dem Holocaust. Eine transnationale Erinnerungsgeschichte. Paderborn 2010 (= Studien zur historischen Migrationsforschung; 20). 27 Jan Schwarz: Imagining Lives. Autobiographical Fiction of Yiddisch Writers. Madison, Wis. 2005, S. 134. Als Singer 1978 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, gab es durchaus Stimmen, die Grade für den verdienteren Kandidaten hielten. Siehe dazu Alana Newhouse: Dissent Greets Isaac Bashevis Centennial. New York Times, 17. 06. 2004.
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lish translation, however, it seemed that Singer was the only Yiddish writer after 1945, or the only Yiddish writer worth reading.“ 28 Ein Grund dafür, dass die jiddischen Texte beider Autoren vielen Lesern unbekannt sind, ist, dass diese entweder überhaupt nicht oder erst viele Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung ins Englische oder in eine andere Sprache übersetzt worden sind. 29 Dass sich beide Autoren in ihrer jeweiligen neuen Heimat nicht in der von ihnen durchaus beherrschten Landessprache ausdrückten, macht deutlich, wie sehr die jiddische Sprache als Schlüssel zu der von ihnen beschriebenen Welt von Bedeutung ist. So glaubte Grade, dass „the world of yiddishkeyt that he was attempting to reconstruct could be fully expressed only in Yiddish, since it was the language in which that world had lived and died.“ 30
28 Jan Schwarz: „Better a Jew Without a Beard Than a Beard Without a Jew“: Confrontation and Elegy in the Novels of Chaim Grade. In: The Multiple Voices of Modern Yiddish Literature. Hg. von Shlomo Berger. Amsterdam 2007, S. 30–55, hier S. 33. Bezüglich Grade schreibt der Autor, dass dessen in der alten Welt spielende Romane und Erzählungen, die die innerjüdischen Gefechte der Zwischenkriegszeit thematisieren, ein weitaus kleineres Publikum anzusprechen vermochten als Singers postmoderne Überlebensgeschichten mit ihren turbulenten Handlungen und Einblicken in die sozialen Veränderungen der amerikanischen Nachkriegsgesellschaft. Ders.: 1953/ 1954: A Year in Yiddish Literature. In: Jews and the Sporting Life. Hg. von Ezra Mendelsohn. Oxford, New York usw. 2008, S. 185–201 (= Studies in Contemporary Jewry; 23). 29 Von den in dieser Arbeit verwendeten Texten erschienen bisher folgende Übersetzungen von Grades Erzählungen und Romanen: The Well. Philadelphia 1967; The Agunah, New York 1974; The Yeshiva. 2 Bde. New York 1976/77; Rabbis and Wives. New York 1982 (nachträglich nochmals publiziert unter dem Titel: The Sacred and the Profane. Three Novellas. Northvale 1997); My Mother’s Sabbath Days. New York 1986. Von Karpinovitsh sind von seinen insgesamt 50 Erzählungen lediglich zehn in einer deutschen Publikation veröffentlicht worden, nämlich Abraham Karpinowicz: Die Phantastische Theorie vom Schuster Prenzik. Erzählungen aus dem jüdischen Wilna. Aus dem Jiddischen von Johannes Luzius Brosi. Stuttgart 1995. 30 Anna Lisek: Chaim Grade (Khayim Grade), S. 82. Diese Ansicht vertrat auch Grades Ehefrau Inna Hecker Grade, die nach dem Tod ihres Mannes nur in wenigen Fällen einer Übersetzung von Grades jiddischen Texten ins Englische zustimmte. Mit dem Tod von Inna Hecker Grade im Mai 2010 und der Übergabe von Grades Nachlass an verschiedene jüdische Institutionen in den USA dürften weitere Übersetzungen sowie Forschungen zu Grades literarischem Schaffen folgen. Joseph Berger: In Yiddish Author’s Papers, Potential Gold. New York Times, 17. 05. 2010.
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Autobiographische und belletristische Literatur als historische Quellen Mit Ausnahme von Grades Roman „Der mames shabosim“, der in seiner englischen Übersetzung mit dem Zusatz „A memoir by Chaim Grade“ versehen ist, handelt es sich bei den Texten von Grade und Karpinovitsh rein formal um belletristische Literatur. Bei der Verwendung dieser Textsorte als historische Quelle stellt sich die Frage, inwiefern diese die „Wirklichkeit“ zu vermitteln vermag. Dass schöngeistige Literatur nicht ohne weiteres als Zugang zu vergangenen Welten verstanden werden kann, zeigt ein Blick auf die von Historikern geführte aktuelle Diskussion über die Darstellungsweise des jüdischen Schtetls in der klassischen jiddischen Literatur. 31 In dieser wird auf den poetischen Konstruktionscharakter, die starken Verallgemeinerungen, die Beeinflussung durch zeitgenössische Ideologien (besonders die der Haskala) sowie die individuelle Sichtweise des jeweiligen Autors verwiesen. Von Klier wird das Schtetl als „a ‚state of mind‘, an idyll, an exercise in nostalgia, or an artistic construct“ 32 verstanden. Der selbe Autor kommt zum Schluss: „[I]n short, fiction reveals how Jews thought they lived, as opposed to how really they lived.“ 33 Von einer Kluft zwischen dem literarisch-fiktiven und dem historisch-realen Schtetl spricht Bartal und warnt davor, die literarischen Beschreibungen des osteuropäischen Schtetls als historische Dokumente zu verstehen. 34 Auch Miron bemängelt die fehlende Loyalität der jiddischen Klassiker zur „historischen Wahrheit“ und zeigt auf, dass von diesen ein Mythos des jüdischen Schtetls bewusst aufgebaut wurde,
31 Gemeint sind Scholem Yankev Abramovich, besser bekannt unter dem Namen Mendele Mocher Sforim (1836–1917), Scholem Aleichem (1859–1916) und Isaak Leib Perez (1852–1915). 32 John D. Klier: What Exactly Was a Shtetl? In: The Shtetl: Image and Reality. Papers of the Second Mendel Friedman International Conference on Yiddish. Hg. von Gennady Estraikh. Oxford 2000, S. 23–35, hier S. 23. 33 John D. Klier: From „Little Man“ to „Milkman“: Does Jewish Art Reflect Jewish Life? In: The Jews of Eastern Europe. Hg. von Leonard J. Greenspoon. Omaha 2006 (= Studies in Jewish Civilization; 16), S. 217–231, hier S. 227. 34 Israel Bartal: Imagined Geography: The Shtetl, Myth, and Reality. In: The Shtetl. New Evaluations. Hg. von Steven T. Katz. New York, London 2007, S. 179–192, bes. S. 180.
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Einführung „that nourished and sustained an alienated, nostalgic, modern Jewish community (in essence, an emmigrant community) that desperately needed both to remember and idealize ‚old home‘ (which had never existed in historical sense) and at the same time to justify the modern Jew’s ‚betrayal‘ of the old familial home he had left, hurtling himself into the cold, harsh, individualistic, and egoistic world of modernity.“ 35
Die hier angebrachte Skepsis gegenüber der Referentialität der dargestellten Schtetl-Welten aus der Feder der jiddischen Klassiker ist sicherlich angebracht, doch muss deshalb grundsätzlich der Quellenwert dieser Texte angezweifelt werden und ist die in diesen Texten beschriebene Welt ausschließlich Fiktion, die keinerlei Rückschlüsse auf die wirklichen Lebensverhältnissen zulässt? Noch in der Antike und im Mittelalter galten schöngeistige Erzeugnisse als Produkt der Phantasie, und es bestand Einigkeit darüber, „dass aus der Phantasie nichts Verbindliches, Verallgemeinerungsfähiges, Wahres entstehen könne. Ihre Produkte sind „Fiktionen“ im Sinne des idiosynkratrischen Eigenen, Beliebigen, Belanglosen.“ 36 Dieser Verweis literarischer Texte in den Bereich der „Unwahrheit“ und des Irrealen hat heute seine Gültigkeit verloren. Die im Zuge des linguistic turn gewonnene Annahme der sprachlichen Konstruiertheit von Wirklichkeit und der bedeutenden Rolle der Sinnstiftung, die der Literatur zukommt, hat das Interesse der Historiker zunehmend auch auf literarische Texte gelenkt. 37 So wird davon ausgegangen, dass sich jenseits der der schöngeistigen Literatur anhaftenden Literarizität und Fiktionalität Teile der Wirklichkeit finden, die dadurch begründet werden, dass ihre Verfasser nicht aus einem räumlichen und zeitlichen Vakuum heraus schreiben, sondern in einer bestimmten historischen Situation leben, in gesellschaftliche Strukturen eingebunden sind und sich in einem kulturellen Umfeld bewegen, das von bestimmten Werten und Normen beeinflusst wird. All dies sowie der Erfahrungshorizont des Autors, seine eigenen Erlebnisse sowie die seiner Umwelt sind es, die literarisch verarbeitet werden. Somit entsteht in den Texten eines Autors eine Welt, „die vom Leser als potentiell möglich und damit als real 35 Dan Miron: The Image of the Shtetl and other Studies of Modern Jewish Literary Imagination. Syracuse 2004, S. XII. 36 Aleida Assmann: Fiktion als Differenz. In: Poetica, Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft, 21 (1989) S. 239–260, hier S. 247. 37 Tagungsbericht „Literatur und Geschichte – Interdisziplinäre Ansätze zwischen Fakt und Fiktion“. Berlin 04. 06.–05. 06. 2004. http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ index.asp?id=583&view=pdf&pn=tagungsberichte (05. 02. 2013). Siehe auch Monica Rüthers: Tewjes Töchter. Lebensentwürfe ostjüdischer Frauen im 19. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien 1996 (= Lebenswelten osteuropäischer Juden; 2), S. 31.
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angenommen werden kann.“ 38 Wie hoch die Referentialität einzelner Texte ist, ist dabei von Verfasser zu Verfasser verschieden: „In welchem Umfang ein Roman sich als historische Quelle eignet, hängt von dem Bezug des Autors zu seinem Stoff ab, aber auch von den Absichten, die er mit seinem Roman verfolgt. Sollte der Autor selbst der Lebenswelt entstammen, die sich in seinem Roman spiegelt, oder sogar eine autobiographische Beziehung bestehen, lassen sich sicherlich entscheidende Erkenntnisse gewinnen, da dem Autor damit fast die Stellung eines Zeitzeugen zukommen kann.“ 39
Hier stellt sich die Frage, inwiefern nicht jeder Autor in seinen Texten über sich und seine Umwelt Zeugnis ablegt und sich diese somit der Gattung Autobiographie annähern. Dass die Grenzen zwischen einem belletristischen Text und einem autobiographischen Text fließend sein können, legt auch von Krusenstjern dar. So sei jedem Text eine „latente Selbstthematisierung“ eigen: „Jeder der schreibt, schreibt auch über sich selbst. Scheinen die zur Darstellung gebrachten Sachverhalte, Begebenheiten, Gefühle und Gedanken keine biographischen Rückschlüsse zu erlauben, so bringt sich das schreibende Ich doch durch die Auswahl der Themen und deren Verarbeitung, durch die Form der Darstellung und den Stil des Dargestellten selbst zur Geltung.“ 40
Während die Autorin noch ein „implizites Ich“ von einem „expliziten Ich“ unterscheidet und nur Letzteres als Kennzeichen eines Selbstzeugnisses anerkennt, ist für Olney die Unterscheidung von Autobiographie und Literatur obsolet, indem er erklärt: „all writing that aspires to be literature is autobiography and nothing else.“ 41 Im Hinblick auf den Quellenwert verschiedener Textsorten ist interessant, dass unter Historikern die Akzeptanz autobiographischer Literatur weitaus 38 Frank M. Schuster: Zwischen allen Fronten. Osteuropäische Juden während des Ersten Weltkrieges (1914–1919). Köln, Weimar, Wien 2004, S. 101. 39 Ebd., S. 103. Für den Quellenwert der Schtetlbeschreibungen der jiddischen Klassiker bedeutet dies, dass sie durchaus als historische Quelle verwendet werden können. Allerdings dürfen sie nicht als wortwörtliche Beschreibungen einer vergangenen Wirklichkeit verstanden werden, sondern als ein Bild oder eine Widerspiegelung einer Wirklichkeit, die sowohl Fakten als auch Fiktion enthält. 40 Benigna von Krusenstjern: Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert. In: Historische Anthropologie, 2 (1994) S. 462–471, hier S. 463. 41 James Olney: Autobiography and the Cultural Moment: A Thematic, Historical, and Bibliographical Introduction. In: Autobiography: Essays Theoretical and Critical. Hg. von James Olney. Princeton, N.J. 1980, S. 3–27, hier S. 4.
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größer ist als diejenige belletristischer Literatur, ungeachtet dessen, dass auch die Autobiographie „eine Zwitterstellung zwischen Faktenbericht und literarischem Kunstwerk“ 42 einnimmt. Diesbezüglich kritisiert Rüthers, dass bei autobiographischen Texten nicht nach deren grundsätzlich fiktivem Charakter gefragt wird, werde eine Autobiographie doch nach ähnlichen Kriterien konzipiert wie ein Roman: „Es ist nicht einzusehen, warum eine der beiden sprachlichen Konstruktionen stärker mit Bedeutung aufzuladen wäre als die andere. Ebenso ist nicht zu begründen, warum ein fiktionaler Text weniger im Bewusstsein seiner Entstehungszeit verankert sein sollte, als ein als ‚Autobiographie‘ deklarierter Text.“ 43
Die Frage, ob die (belletristischen) Texte von Grade und Karpinovitsh die Wirklichkeit abzubilden vermögen und diese für die Erforschung von Vergangenheit quellentauglich sind, wird für diese Arbeit eindeutig bejaht. Durch die tiefe Verwurzelung der Autoren in der von ihnen beschriebenen jüdischen Lebenswelt von Vilne nehmen beide die Stellung von Zeitzeugen ein. Bei Grade spiegelt sich der direkte biographische Bezug nicht nur in seinen Memoiren „Der mames shabosim“, sondern auch in den zwei Bänden seines Romans „Tsemakh Atlas (di yeshive)“, in denen der Autor selbst sowie dessen Eltern Teil der Handlung sind. Ähnliches lässt sich auch für einzelne Erzählungen Karpinovitshs festhalten, in denen der Vater und die Mutter des Autors sowie dieser selbst als Akteure genannt werden. Der auf diese Weise erzielte Wirklichkeitsbezug der Texte soll aber die Referentialität derjenigen Romane und Erzählungen, in denen kein eindeutiger biographischer Bezug der Autoren festgemacht werden kann, nicht in Frage stellen. Denn vergleicht man sämtliche Texte eines Autors miteinander, so finden sich darin vergleichbare materielle, soziale und kulturelle Begebenheiten sowie Werte und Normen, die im Gesamtwerk der Autoren jeweils ein einheitliches und in sich stimmiges Bild des jüdischen Vilne entstehen lassen. Im Hinblick auf den Authentizitätswert von Grades literarischem Werk ist bei Anna Lisek zu lesen: „[I]n his prose work he endevors to construct a rounded picture of the Jewish community of Vilna and to offer insight into the specific cast of mind of Lithuanian 42 Anke Stephan: Erinnertes Leben. Autobiographien, Memoiren und Oral-History-Interviews als historische Quelle. In: Virtuelle Fachbibliothek Osteuropa, Digitales Handbuch zur Geschichte und Kultur Russlands und Osteuropas. Themen und Methoden (2004, 30 Seiten), S. 5; http://epub.ub.uni-muenchen.de/627/1/StephanSelbstzeugnisse.pdf (05. 02. 2013). 43 Rüthers: Tewjes Töchter, S. 34.
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Jewry. It is not a monolithic picture, nor is it sentimentally oversimplified or idealized; it is an image as objective as he could make it, created to render the diversity of a multifaceted society that was not free of inner conflicts, contradictions, and animosities.“ 44
Und ähnlich schreibt Johannes Brosi bezüglich der Referentialität von Karpinovitshs Texten: „Karpinowicz ist dabei keineswegs ein naiver Schriftsteller, der sich durch die Art seines Genres zur Romantisierung verleiten ließe; seine Schilderungen geben die Essenz und das Gemüt dieser Welt stimmungsvoll wieder, und durch den warmen Humor des Autors gewinnen auch die unterprivilegierten Menschen ihre Würde und Menschlichkeit zurück.“ 45
In Anbetracht dessen, dass es sich bei den Texten von Grade und Karpinovitsh um sowohl Faktisches als auch Fiktives enthaltende narrative Sinnkonstruktionen autobiographischen Charakters handelt, wird in dieser Arbeit methodisch in drei Schritten vorgegangen. 46 Zunächst wird nach dem situativen Kontext gefragt. Dieser beinhaltet beispielsweise die materiellen Gegebenheiten der jüdischen Lebenswelt sowie die gesellschaftlichen Strukturen und Beziehungen. Wie die Menschen gewohnt haben, welche sozialen Schichten präsent waren und welche beruflichen Tätigkeiten ausgeübt wurden, sind Bereiche, die auf dieser Ebene verankert sind. Weiter werden die sozialen und kulturellen Praktiken analysiert. Hierzu gehört jegliche Form von „Handeln“, wie etwa das Verhalten gegenüber Randgruppen, die Strategien zur Bewältigung von Not oder der Umgang mit Konflikten. Neben einzelnen Handlungssträngen und punktuellen Aussagen soll schließlich nach der Botschaft des Gesamttextes gefragt werden. Unter Berücksichtigung des historischen Kontextes werden die Texte der beiden Autoren miteinander verglichen. Auf diese Weise können Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet und erörtert werden. Um die Quellen von Grade und Karpinovitsh angemessen einordnen und interpretieren zu können, werden belletristische Texte anderer Autoren sowie die Memoiren einzelner Vilner Jüdinnen hinzugezogen, die dem jüdischen Bürgertum entstammen. Hierbei handelt es sich um die Erinnerungen von Henia Brazg (1930), 44 Anna Lisek: Chaim Grade (Khayim Grade), S. 81; vgl. dazu Ruth Wisse: Religious Imperatives and Mortal Desires. New York Times, 14. 11. 1982. 45 Karpinowicz: Die Phantastische Theorie, Nachwort S. 179. 46 Hierbei richte ich mich nach dem von Rüthers vorgeschlagenen Modell zur Analyse literarischer Texte. Rüthers: Tewjes Töchter, S. 36–37.
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Esther Hautzig (1930–2009), Lily M. Margules (1924) und Schoschana Rabinovici (1932). Die Erinnerungen der New Yorkerin Lucy Dawidowicz (1915– 1990), die von 1938–1939 in Vilne lebte, um am YIVO-Institut zu studieren, seien an dieser Stelle auch genannt. 47 Sie alle sollen in die Analyse der Texte von Grade und Karpinovitsh – soweit möglich – integriert werden, um etwaige thematische Lücken aufzuzeigen, die sich in den Texten der beiden Autoren finden. Als Ergänzung zu diesen aus rückblickender Perspektive entstandenen Texten finden auch jiddische Quellen aus der Zwischenkriegszeit, wie etwa Sammelbücher und Almanache ihre Verwendung. Ein Vergleich dieser zu unterschiedlichen Zeiten entstandenen Quellen sowie ihrer Gegenüberstellung mit der historischen Forschung ermöglicht eine kritische Beurteilung der einstigen Lebenswelt des Vilner Judentums.
Forschungsstand Die wohl erste wissenschaftliche Studie zu den Vilner Juden – so die Einschätzung des Autors selbst – legte der Engländer Israel Cohen 48 vor. Sie entstand noch vor der Shoah und bietet ein detailliertes Portrait der historischen Entwicklung der jüdischen Gemeinde. Ebenfalls vor dem Zweiten Weltkrieg entstand eine Reihe populärwissenschaftlicher Arbeiten 49 aus der Feder von Vilner Juden, die darin die gesellschaftlichen und kulturellen Leistungen ihrer Gemeinde beschreiben. (Gleichzeitig veranschaulichen diese Arbeiten das Bemühen der modernen Vilner Juden, die jüdische Verwurzelung mit der Stadt 47 Henia Brazg: Passport to Life. Memories and Dreams, Johannesburg 1982; Esther Hautzig: Remember who you are. Stories about Being Jewish. New York 1990; Lily M. Margules: Memories, Memories … From Vilna to New York. With a Few Stops Along the Way. A Collection of Essays. Annapolis 1999; Schoschana Rabinovici: Dank meiner Mutter, aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Frankfurt am Main 1994; Dawidowicz: From that Place. 48 Israel Cohen: Vilna. Philadelphia 1943 (= Jewish Communities Series; 7). 49 Vilner zamelbukh (1 und 2); Pinkes far der geshikhte fun Vilne in di yorn fun milkhome un okupatsye. Hg. von Zalmen Reyzn. Vilne 1922; Yidishe Vilne in vort un bild; Israel Klausner: Geshikhte fun der yidisher kehile in Vilne. Bd. 1: Di svive un der kool. Vilne 1939; Shik: 1000 yor Vilne; Vilner almanakh. Hg. von A. Y. Grodzenski. Vilne 1939 [Reprint: Vilna Almanac. Hg. von Isaac Kowalski. Brooklyn, N.Y. 1992]; Ebenfalls in dieser Zeit erschienen ist die Publikation des Vilner Branch 367 arbeter ring/Workmen’s Circle in New York: Vilne. A zamelbukh gevidmet der shtot Vilne.
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Vilne zu demonstrieren. Damit nehmen sie in der Identitätsstiftung des säkularen Judentums eine grundlegende Funktion ein.) Nach der Shoah stellte die 1974 in drei Bänden erschienene mehrsprachige Publikation von Leyzer Ran 50 während mehrerer Jahrzehnte die einzige Veröffentlichung zur Geschichte der Vilner Juden dar. Sie besteht aus einer Ansammlung von Fotografien und Dokumenten, die verschiedenste Aspekte des jüdischen Lebens in Vilne veranschaulichen. Eine umfangreiche Studie zur Vilner Gemeinde legte Henri Minczeles 51 knapp 20 Jahre später vor. Im Hinblick auf ihre Zerstörung schildert er neben den schwierigen politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen vor allem das „goldene Zeitalter“ der jiddischen Kultur in der Zwischenkriegszeit. Ebenfalls mit den kulturellen Aspekten der 1920er und 1930er Jahre befassen sich die verschiedenen Untersuchungen des Sammelbands von Marina Dmitrieva und Heidemarie Petersen (2004). 52 Des Weiteren sind einzelne Beiträge 53 zu nennen, die sich eher in Form einer Übersicht mit den historischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen der Vilner Gemeinde befassen. Spezifische Forschungsschwerpunkte hingegen bilden die jüdische Publizistik, 54 Untersuchungen zur Vilner 50 Jerusalem of Lithuania. Illustrated and Documented. Hg. von Leyzer Ran. 3 Bde. New York 1974. 51 Henri Minczeles: Vilna, Wilno, Vilnius. La Jérusalem de Lituanie. Paris 1993. 52 Jüdische Kultur(en) im neuen Europa. Wilna 1918–1939. Hg. von Marina Dmitrieva und Heidemarie Petersen. Wiesbaden 2004. 53 Arcadius Kahan: Vilna. The Sociocultural Anatomy of a Jewish Community in Interwar Poland. In: Essays in Jewish Social and Economic History. Hg. von Roger Weiss, Chicago 1986, S. 149–160; Verena Dohrn: Vilnius, Wilno, Wilna, Wilne, einst litauisches Jerusalem. In: dies.: Baltische Reise. Frankfurt am Main 1994, S. 219–267; dies.: Festungen der Frömmigkeit. Jüdisches Leben in den litauisch-polnischen Städten Wilna und Kowno während des Ersten Weltkriegs. In: Deutscher, Jude, Europäer im 20. Jahrhundert. Arnold Zweig und das Judentum. Hg. von Julia Bernhard und Joachim Schlör. Bern 2004 (= Jahrbuch für internationale Germanistik.; 65), S. 93– 107; Stefan Schreiner: Das litauische Jerusalem – ein geschichtlicher Überblick. In: Schtarker fun ajsn. Konzert- und Theaterplakate aus dem Wilnaer Ghetto, 1941– 1943. Hg. von Georg Heuberger. Frankfurt am Main 2002, S. 29–51; Kassow, Samuel D.: The Uniqueness of Jewish Vilna. In: Proceedings of the International Scientific Conference „Jewish Intellectual Life in Pre-War Vilna“, September 16–17, 2003, Vilnius. Hg. von Larisa Lempertiene˙. Vilnius 2004, S. 147–161.; Theodore R. Weeks: The Transformation of Jewish Vilna, 1881–1939. In: The Jews of Eastern Europe. Hg. von Leonard J Greenspoon u. a. Omaha 2006 (= Studies in Jewish Civilization; 16). S. 143–164. 54 Susanne Marten-Finnis: Sprachinseln. Jiddische Publizistik in London, Wilna und
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Einführung
Stadtlandschaft 55 sowie die Vilner Erinnerungsgeschichte.56 Hervorzuheben ist hier besonders Anna Lipphards Dissertation zur Geschichte der Vilner Juden nach dem Holocaust, in der sie der Vilner Diaspora in New York, Israel und Vilnius nachgeht, deren Kultur- und Erinnerungsarbeit beleuchtet und nach spezifischen Vilner Erinnerungsorten fragt. 57 Aufgrund der wechselhaften politischen Geschichte der Vilner Region bietet sich zu deren Betrachtung nicht ausschließlich eine bestimmte Nationalhistoriographie an. Vielmehr sind historische Studien gleich mehrerer Staaten zu berücksichtigen. Während bis zum Ersten Weltkrieg Publikationen zum Russischen Judentum herangezogen werden können, eignen sich im Hinblick auf die Zwischenkriegszeit Arbeiten zur polnisch-jüdischen Geschichte. Genannt seien hier stellvertretend Fishman (1974) 58 und Gutman (1989). 59 Einen weiteren Zugang zum Vilner Judentum stellen die nationale Grenzen überschreitenden Studien über die Litwaken, die im gesamten Gebiet von Lite lebenden Juden, dar. Eine alphabetische Zusammenstellung der verschiedenen litauisch-jüdischen Gemeinden mit Informationen zu deren Geschichte, Bevölkerung und einzelnen Institutionen bieten Nancy und Stuart Schoen-
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Berlin, 1880–1930. Köln, Weimar, Wien 1999 (= Lebenswelten osteuropäischer Juden; 4); dies.: Vilna as a Centre of the Modern Jewish Press, 1840–1928. Aspirations, Challenges, and Progress. Oxford, Bern, Berlin u. a. 2004. Cecile Kuznitz: On the Jewish Street: Yiddish Culture and the Urban Landscape in Interwar Vilna. In: Yiddish Language and Culture: Then and Now. Hg. von Leonard Jay Greenspon. 1997 (= Studies in Jewish Civilization; 9), S. 65–92; Anna Lipphardt: Dos amolike yidishe geto – Blick auf das jüdische Viertel von Vilne. In: Jahrbuch des Simon Dubnow-Instituts, 4 (2005) S. 481–505. Anna Lipphardt: Post-Holocaust Reconstruction of Vilne, „the Most Yiddish City in the World“, in New York, Israel and Vilnius. In: Ab Imperio 4 (2004) S. 167–192; dies.: Die vergessene Erinnerung; Jan Arend, Bojidar Beremski, Kateryna Katsun, Jörg Möhring, Immanuel Tatu: „Jerusalem des Nordens“: Das jüdische Vilnius in Geschichte und Erinnerung. In: Vilnius. Geschichte und Gedächtnis einer Stadt zwischen den Kulturen. Hg. von Martin Schulze Wessel, Irene Götz, Ekaterina Makhotina. Frankfurt, New York 2010, S. 74–114. Anna Lipphardt: VILNE. Die Juden aus Vilnius nach dem Holocaust. Eine transnationale Erinnerungsgeschichte. Paderborn 2010 (= Studien zur historischen Migrationsforschung; 20). Studies on Polish Jewry, 1919–1939. The Interplay of Social, Economic and Political Factors in the Struggle of a Minority for its Existence. Hg. von Joshua A. Fishman. New York 1974. The Jews of Poland Between Two World Wars. Hg. von Yisrael Gutman, Ezra Mendelsohn, Jehuda Reinharz und Chone Shmeruk. Hanover 1989.
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burg. 60 Die historische Entwicklung des litauischen Judentums von seinen Anfängen im 14. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg schildert Masha Greenbaum, 61 eine kurze Übersicht zum selben Zeitraum verfasste Mathias Niendorf. 62 Andere Beiträge, die die litauisch-jüdische Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert beleuchten, finden sich im Sammelband „The Vanished World of Lithuanian Jews“. 63 Erwähnt sei auch die reich illustrierte Studie von Dov Levin (2000), 64 die ihren Schwerpunkt auf das politische, wirtschaftliche und kulturelle Leben der litauischen Juden im 20. Jahrhundert legt. Schade ist allerdings, dass der Autor das in der Zwischenkriegszeit politisch zu Polen gehörende Vilner Gebiet nicht berücksichtigt. Im selben Jahr erschien zur selben Thematik erstmals im deutschsprachigen Raum das Buch von Solomon Atamuk (2000), 65 das eine Erweiterung einer bereits auf Jiddisch, Russisch und Litauisch erschienenen Publikation darstellt. 66 Anzumerken ist hierbei, dass es sich weniger um ein streng wissenschaftliches Werk handelt, sondern eher um ein Zeitdokument, das die schwierige Beziehung von Juden und Litauern aus jüdischer Perspektive schildert. Mit den verschiedenen Facetten der jüdisch-litauischen Kultur in der Zwischenkriegszeit befasst sich ein Sammelband von Yves Plasseraud und Henri Minczeles (1996). 67 Eine weitere Publikation (2008) 68 der hier genannten französischen Autoren widmet sich der Geschichte der litwakischen Zivilisation und Kultur sowie deren Erscheinungs60 Nancy Schoenburg, Stuart Schoenburg: Lithuanian Jewish Communities. New York, London 1991. 61 Masha Greenbaum: The Jews of Lithuania. A history of a remarkable community, 1316–1945. Jerusalem 1995. 62 Mathias Niendorf: „Litwaken“. Stationen jüdischen Lebens in Litauen (1388–1944). In: Jüdische Welten in Osteuropa. Hg. von Annelore Engel-Braunschmidt und Eckhard Hübner. Frankfurt am Main 2005 (= Kieler Werkstücke. Reihe F: Beiträge zur osteuropäischen Geschichte; 8), S. 101–126. 63 The Vanished World of Lithuanian Jews. Hg. von Alvydas Nikzˇentaitis, Stefan Schreiner und Darius Staliu¯nas. Amsterdam, New York 2004. 64 Dov Levin: The Litvaks. A Short History of the Jews in Lithuania. Jerusalem 2000. 65 Solomon Atamuk: Juden in Litauen. Ein geschichtlicher Überblick vom 14. bis 20. Jahrhundert. Hg. von Erhard Roy Wiehn. Aus dem Litauischen von Zwi Grigori Smoliakov. Konstanz 2000. 66 Ders.: Yidn in Lite. Vilne 1990. 67 Lituanie juive 1918–1940. Message d’un monde englouti. Hg. von Yves Plasseraud und Henri Minczeles. Paris 1996. 68 Henri Minczeles, Yves Plasseraud, Suzanne Pourchier: Les Litvaks. L’héritage universel d’un monde juif disparu. Paris 2008.
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Einführung
formen in der heutigen litwakischen Diaspora. Die wohl umfassendste englischsprachige Studie, die die kulturelle, sprachliche und geistige Welt der litauischen Juden untersucht und hierbei sowohl das religiöse als auch das säkulare Judentum gleich berücksichtigt, legte Dovid Katz (2004) 69 vor. Insgesamt lässt sich seit den 1990er Jahren ein leichter Anstieg der Publikationen verzeichnen, die sich mit dem litauischen Judentum beschäftigen. Hierbei handelt es sich um Gesamtdarstellungen, in denen den Vilner Juden unterschiedlich viel Platz eingestanden wird. Neuere Untersuchungen, die sich speziell mit der jüdischen Gemeinde Vilnes beschäftigen, sind bis heute selten. Bis auf wenige Arbeiten, die sich punktuell einzelnen Bereichen des Vilner Judentums widmen, fehlt es an alltagsorientierten Einzelstudien, die beispielsweise verschiedene Gruppen von jüdischen Randständigen, die Lebenswelten jüdischer Frauen oder das Verhältnis der Juden zu den anderen Nationalitäten Vilnes in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung stellen.
Erläuterungen zur Übersetzung und zur jiddischen Schreibweise 70 In dieser Arbeit wurde bewusst auf eine vollständige Übersetzung der jiddischen Texte ins Deutsche verzichtet. Das Lesen der jiddischen Texte bedeutet hierbei nicht nur eine Annäherung an die Lebenswelt der jüdischen Unterschichten auf inhaltlicher Ebene, sondern darüber hinaus auch auf einer „sprachlich-emotionalen“, denn Jiddisch war die mame-loshn – die Muttersprache – der Vilner Juden. Nicht zuletzt sollte die authentische Wiedergabe einer der konstituierenden Komponenten des neuen jüdischen Selbstverständnisses, welches sich in der Zwischenkriegszeit in Vilne entwickelte, auch dazu beitragen, dass das literarische Werk Chaim Grades und Abraham Karpinovitshs den Lesern in seiner ursprünglichen Form zur Verfügung steht. Die mit hebräischen Buchstaben geschriebenen jiddischen Texte werden aufgrund ihrer Nähe zum Deutschen in dieser Arbeit nicht übersetzt. Einzelne Wörter, die aus der hebräischen oder slawischen Sprache ins Jiddische eingeflossen sind, werden übersetzt. Dasselbe gilt für jiddische Wörter deutschen 69 Katz: Lithuanian Jewish Culture. 70 Im Folgenden beziehe ich mich auf die Angaben von Desanka Schwara. Dies.: Humor und Toleranz. Ostjüdische Anekdoten als historische Quelle. 2. Aufl. Köln, Weimar, Wien 2001 (= Lebenswelten osteuropäischer Juden; 1), S. 255. Zur Umschrift des jiddischen Alphabets siehe Anhang, Transkriptionstabelle.
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Erläuterungen zur Übersetzung und zur jiddischen Schreibweise
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Ursprungs, die nicht oder nur schwer verständlich sind. Bei der Transkription der Texte richte ich mich nach dem YIVO-Standard der Romanisierung hebräischer Buchstaben. Da die hebräischen Buchstaben keine Unterscheidung zwischen Groß- und Kleinschreibung kennen, werden außer den Satzanfängen nur Personen- und Ortsnamen groß geschrieben. Allfällige Abweichungen in der Transkription identischer jiddischer Wörter sind auf Ungleichheiten im jiddischen Originaltext zurückzuführen (shulhoyf; shul-hoyf ). Innerhalb des deutschen Textes werden jiddische Vor- und Nachnamen (Tsemakh Shabad, Maks Weynreykh) oder Substantive (kheyder), die als Begriffe in die deutsche Sprache eingeflossen sind, mit Hinblick auf die Lesbarkeit des Textes entweder in ihrer jiddischen Schreibweise übernommen (Tsemakh Shabad) oder an die deutsche Schreibweise angepasst (Max Weinreich, Cheder). Einzelne jiddische Ausdrücke, wie etwa die Namen von Institutionen, die nicht ins Deutsche übersetzt werden, werden kursiv geschrieben (yidishe landkentenish gezelshaft) und im Nominativ innerhalb des deutschen Textes wiedergegeben (das yidisher folks-teater).
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Methodische Überlegungen
Theoretischer Ausgangspunkt für diese Arbeit ist das Konzept der Lebenswelt. Diese versteht sich als „gesellschaftlich konstituierte, kulturell ausgeformte, symbolisch gedeutete Wirklichkeit“, 1 die nicht als statisches, sondern als ein durch äußere Einflüsse veränderbares Gebilde zu sehen ist. In der kulturwissenschaftlichen Forschung ermöglicht die Analyse der Lebenswelt eine bestimmte Perspektive auf die Vergangenheit. Hierbei steht das Leben des Einzelnen im Mittelpunkt der Betrachtung: In seiner Beziehung zur Umwelt manifestieren sich Denk- und Handlungsweisen, Wahrnehmungen und Gefühle. Diese weisen einerseits auf die Innenwelt des Individuums, wirken andererseits aber auch auf die Außenwelt und verändern diese. „Mit der Analyse der individuellen Lebenswelt werden somit zugleich exemplarisch Strukturen und Systeme – materielle, symbolische, mentale, emotionale – analysiert. Da das Individuum nicht isoliert lebt, sondern im Kontakt mit anderen Individuen und deren Lebenswelten steht, bleibt die Analyse nicht im Punktuell-Beliebigen stecken, sondern kann das Netz interkultureller gesellschaftlicher Beziehungen sichtbar machen. Zusammenhänge und Mechanismen geraten ins Blickfeld, die Geschichte zerfällt nicht in lauter Einzelteile.“ 2
Der bestehende Gegensatz zwischen Mikro- und Makrogeschichte kann folglich mittels eines lebensweltlichen Ansatzes aufgehoben werden. Mit Hinblick auf die Texte von Grade und Karpinovitsh bedeutet dies, dass sich in den darin gezeichneten individuellen Lebensgeschichten Veränderungen und Prozesse spiegeln, die nicht nur für einzelne Vilner Jüdinnen und Juden in der Zwi-
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Rudolf Vierhaus: Die Rekonstruktion historischer Lebenswelten. Probleme moderner Kulturgeschichtsschreibung. In: Wege zu einer neuen Kulturgeschichte. Mit Beiträgen von Rudolf Vierhaus und Roger Chartier. Göttingen 1995, S. 7–28, hier S. 14; vgl. dazu auch Heiko Haumann, Martin Schaffner: Überlegungen zur Arbeit mit dem Kulturbegriff in den Geschichtswissenschaften. In: Uni Nova. Mitteilungen der Universität Basel, 70. 1994, S. 18–21. Heiko Haumann: Lebensweltlich orientierte Geschichtsschreibung in den Jüdischen Studien: Das Basler Beispiel. In: Jüdische Studien. Reflexionen zu Theorie und Praxis eines wissenschaftlichen Feldes. Hg. von Klaus Hödl. Innsbruck 2003 (= Schriften des Centrums für Jüdische Studien; 4), S. 105–122, hier S. 115.
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Die Erinnerung an verschwundene Lebenswelten
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schenkriegszeit gültig waren, sondern das Leben der Juden Osteuropas insgesamt bestimmten. Eng mit einer lebensweltlich ausgerichteten Betrachtungsweise der Vergangenheit verbunden sind die Kategorien Erinnerung und Raum. 3 So ermöglicht erst das sich erinnernde historische Subjekt Einblicke in die „Geschichte“, welche sich als Teil der eigenen Lebenswelt manifestiert; ebenso können individuelle Erinnerungsvorgänge auf der Mikroebene der Lebenswelt analysiert werden. Die Kategorie Raum wiederum manifestiert sich als Teil der Lebenswelt und tritt etwa in Form von privaten, öffentlichen, sozialen oder symbolischen Räumen in Erscheinung. Im Folgenden sollen die analytischen Kategorien Erinnerung und Raum kurz umrissen werden. Bei der Vorgehensweise dieser Arbeit haben sie gerade im Hinblick auf das Verständnis der Quellen wichtige Impulse gegeben. Eine Erweiterung ihrer theoretischen Reflexion war in dieser Arbeit aber nicht vorgesehen.
Die Erinnerung an verschwundene Lebenswelten Bei der Arbeit mit Erinnerungsliteratur stellt sich die Frage, inwiefern eine Annäherung an die „historische Wahrheit“ überhaupt möglich ist. Denn Erinnerungen, die im Erinnerungsprozess hervorgebracht werden, entsprechen nicht „einfach“ dem damaligen Erlebten und Wahrgenommenen. 4 Es gibt zu bedenken, dass die individuelle Erinnerung narrativ, selektiv, affektiv, konstruktiv, holistisch und normativ ist. 5 Zudem ist die Rekonstruktion von Vergangenheit im Zusammenhang mit der Gegenwart zu sehen, denn das soziale Umfeld und die eigenen Lebensumstände haben Einfluss darauf, wie den eige3
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Auf den Zusammenhang von Erinnerung und Lebenswelt weist Haumann in ders: Geschichte – Lebenswelt – Sinn. Über die Interpretation von Selbstzeugnissen. In: Anfang und Grenzen des Sinns. Hg. von Brigitte Hilmer, Georg Lohmann und Tilo Wesche. Göttingen 2006, S. 42–54, hier S. 49. Heiko Haumann: Blick von innen auf den Stalinismus. Zur Bedeutung von Selbstzeugnissen. In: Erinnerung an Gewaltherrschaft. Selbstzeugnisse – Analysen – Methoden. Hg. von Heiko Haumann. Frankfurt am Main 2010 (= Menschen und Strukturen. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien; 17), S. 51–76, hier S. 69. Micha Brumlik: Individuelle Erinnerung – kollektive Erinnerung. Psychosoziale Konstitutionsbedingungen des erinnernden Subjekts. In: Erlebnis-Gedächtnis-Sinn. Authentische und konstruierte Erinnerung. Hg. von Hanno Loewy und Bernhard Moltmann. Frankfurt am Main, New York 1996, S. 31–45, hier S. 35–43.
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Methodische Überlegungen
nen Erfahrungen Sinn gegeben und wie schlussendlich Erinnerung konstruiert wird: 6 „Individuelle und kollektive Erinnerung ist zwar nie ein Spiegel der Vergangenheit, wohl aber ein aussagekräftiges Indiz für Bedürfnisse und Belange der Erinnernden in der Gegenwart.“ 7 Das Interesse der Kulturwissenschaften am Thema „Gedächtnis und Erinnerung“ besteht seit Ende der 1970er Jahre und erfährt seit den 1990er Jahren geradezu einen Boom – ein Umstand, der nicht zuletzt auch mit dem wachsenden Interesse an Autobiographien zusammenhängt. Es ist ein internationales Phänomen, dem eine Vielzahl von Begriffen und Konzepten zugrunde liegen. Begründer einer kulturwissenschaftlichen Theorie des kollektiven Gedächtnisses ist der Soziologe Maurice Halbwachs, der in den 1920er Jahren damit begann, eine Theorie des kollektiven Gedächtnisses (mémoire collective) zu entwickeln. Als Voraussetzung für die individuelle Erinnerung nennt er die sozialen Bezugsrahmen (cadres sociaux). Durch die Interaktion mit den Mitmenschen, so Halbwachs, entstünden nicht nur erst Sprache und Sitten, sondern auch das Gedächtnis. In seiner Beziehung zu anderen Menschen würden dem Individuum Denkschemata vermittelt, die dessen Wahrnehmung und die Erinnerung festlegten und bestimmten. Diese seien beide sozial geprägt und ohne das Vorhandensein eines kollektiven Gedächtnisses nicht möglich. Kennzeichnend für Halbwachs’ Verständnis des kollektiven Gedächtnis ist, dass sich dieses aufgrund der Bedürfnisse der Gruppe auf die Gegenwart bezieht und in Opposition zur Geschichte steht, die sich mit der Vergangenheit beschäftigt. 8 Während Halbwachs’ These der sozialen Bedingtheit individueller Erinnerung allgemeine Zustimmung findet, so wird seine Annahme eines von den Individuen unabhängigen und einheitlichen existenten Gedächtnisses, einer „Kollektivpsyche“, 9 in Frage gestellt. Diesbezüglich schreibt Haumann: „Nicht folgen kann ich allerdings der Annahme, es gebe ein homogenes ‚kollektives Gedächtnis‘ einer sozialen Gruppe: Das Gedächtnis kann nur in den Köpfen von Individuen seinen Ort haben, und bei aller kollektiven Erwägung vollziehen sich die individuellen Gedächtnisvorgänge unterschiedlich.“ 10 6 Haumann: Die Verarbeitung von Gewalt, S. 69. 7 Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar 2005, S. 7. 8 Ebd., S. 14–17. 9 Siehe dazu: Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hg. von Christian Gudehus, Ariane Eichenberg und Harald Welzer. Stuttgart, Weimar 2010, S. 87. 10 Haumann: Die Verarbeitung von Gewalt, S. 69.
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Auch Koselleck hinterfragt das Vorhandensein einer kollektiven Erinnerung – was es an dessen Stelle allerdings gebe, seien „kollektive Bedingungen möglicher Erinnerung.“ 11 Halbwachs’ Schriften stießen zur Zeit ihrer Entstehung auf kein großes Interesse und wurden erst in den 1980er Jahren von Pierre Nora wieder aufgenommen. Nora teilt Halbwachs’ Ansicht vom Gedächtnis als Gegensatz zur Geschichte. In seinem mehrbändigen Werk über die französischen Erinnerungsorte (lieux de mémoire) bezweifelt er allerdings, dass in der heutigen Zeit noch lebendige kollektive Gedächtnisse im Sinne Halbwachs’ vorhanden sind. An deren Stelle seien „Erinnerungsorte“ – kulturelle Phänomene – getreten, die bei einer Gruppe mit Vergangenheit in Zusammenhang gebracht würden und den Bruch zwischen Vergangenheit und Gegenwart symbolisierten. Erinnerungsorte wiesen dabei eine materielle, funktionale oder symbolische Dimension auf und manifestierten sich beispielsweise in Gebäuden, Gemälden, bestimmten Schulbüchern, Redewendungen, Denkfiguren oder Schweigeminuten. Da diese Erinnerungsorte nicht mehr für alle Mitglieder einer Gesellschaft verbindlich seien (wie etwa „der König“ oder „Verdun“ für frühere Generationen), existierten eine Vielzahl teils widersprüchlicher Einzelerinnerungen, die das Stiften eines kollektiven Gedächtnisses und somit einer kollektiven Identität verhindern würden. 12 Kritik findet nicht nur Noras strikte Trennung von Gedächtnis und Geschichte, sondern auch seine überhöhte Definition der Erinnerungsorte, die jegliches kulturelle Phänomen, das auf kollektiver Ebene mit Vergangenheit und Identität in Verbindung gebracht wird, zu einem solchen erklärt. 13 Darüber hinaus scheinen Noras Erinnerungsorte ungeachtet ihrer Pluralität durch ihre Bezugnahme zur Nation das Vorhandensein eines allumfassenden Nationalgedächtnisses zu implizieren. Dies, so Neumann, „verstellt jedoch den Blick auf die Koexistenz verschiedener, konfligierender Gedächtnisse und Identitäten innerhalb einer Kultur. In heutigen, pluralen und multikulturellen Gesellschaften mag die Nation neben Religion, gender, Ethnizität, Familie oder politischer Gesinnung zwar eine mögliche, nicht aber die privilegierte Quelle kollektiver Identifikation sein.“ 14
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Gedächtnis und Erinnerung, S. 87. Erll: Kollektives Gedächtnis, S. 23–24. Ebd., S. 24–25. Birgit Neumann: Literatur als Medium (der Inszenierung) kollektiver Erinnerungen und Identität. In: Literatur – Erinnerung – Identität. Theoriekonzepte und Fallstudi-
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Ende der 1980er Jahre entwickelten Jan und Aleida Assmann ihre Theorie des kulturellen Gedächtnisses, deren zentrales Verdienst es war, „die Verbindung von Kultur und Gedächtnis systematisch, begrifflich differenziert und theoretisch fundiert aufgezeigt zu haben“. 15 Grundlegend an dieser Theorie ist die Unterteilung von Halbwachs’ kollektivem Gedächtnis in zwei unterschiedliche Modi der kollektiven Erinnerung, nämlich dem kulturellen und dem kommunikativen Gedächtnis. Letzteres basiert auf mündlicher Alltagskommunikation zwischen Zeitgenossen und bezieht sich nur auf die rezente Vergangenheit. Es bildet sich spontan, ist informell, unorganisiert, von kurzer Dauer und durch individuelle Erfahrung geprägt. Im Gegensatz dazu äußert sich das kulturelle Gedächtnis, das sich auf die weiter zurückliegende Geschichte bezieht, in Festen, Riten und Mythen. Es ist sowohl institutionalisiert als auch organisiert und seine auf Wiederholung angelegten und in Texten festgehaltenen Inhalte sind stabil und für die Identitätsbildung der Gruppe bestimmend. 16 Eine weitere Unterscheidung unternimmt Aleida Assmann, indem sie die beiden Begriffe Geschichte und Gedächtnis, die bei Nora einander in einem polarisierenden Verhältnis gegenüberstehen, produktiv aufeinander bezieht. Hierzu führt sie das Funktions- und Speichergedächtnis ein. Das „bewohnte“ Funktionsgedächtnis ist bedeutungsgeladen und weist einen starken Bezug zur Gegenwart auf. Im Gegensatz dazu ist das „unbewohnte“ Speichergedächtnis bedeutungsneutral und ohne Bezug zur Gegenwart. Assmann setzt die beiden Gedächtnisse so miteinander in Beziehung, indem sie das Speichergedächtnis als „Hintergrund“ und das Funktionsgedächtnis als „Vordergrund“ versteht. Wie in einer Art Behälter häuft sich im Speichergedächtnis unbenutztes Wissen an, das jederzeit durch das Funktionsgedächtnis wieder aktiviert werden kann. Aufgrund der Durchlässigkeit zwischen Vorder- und Hintergrund lassen sich Wandlungsmöglichkeiten im kulturellen Gedächtnis erklären. 17 Während der Begriff des kulturellen Gedächtnisses verschiedene Fachdisziplinen unter einem gemeinsamen Forschungsfeld zu vereinen vermag, finden sich hierbei auch Ansätze, die das Assmannsche Modell kritisch hinterfragen und erweitern. So will beispielsweise das Projekt „Erinnerungskulturen“ des Gießener Sonderforschungsbereichs weniger die Statik und „Überhistorizität“ en. Hg. von Astrid Erll, Marion Gymnich und Ansgar Nünning. Trier 2003, S. 49– 77, hier S. 56. 15 Erll: Kollektives Gedächtnis, S. 27. 16 Neumann: Literatur als Medium, S. 58. 17 Erll: Kollektives Gedächtnis, S. 31–32.
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der kulturellen Erinnerung betrachten, sondern deren Dynamik und Prozesshaftigkeit sowie Pluralität. 18 Der Sozialpsychologe Harald Welzer wiederum untersucht in seiner Arbeit über das soziale Gedächtnis diejenigen Medien, die unbeabsichtigt Geschichte und Erinnerung vermitteln und transportieren, wie etwa Interaktionen, Aufzeichnungen, Bilder und Räume (dies im Gegensatz zu den Erinnerungsvorgängen im Rahmen des kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses, die sich bewusst auf die Vergangenheit beziehen). 19 Seitens der Literaturwissenschaften bemühen sich Forschende wie Astrid Erll, Birgit Neumann und Ansgar Nünning 20 um eine Erweiterung der bestehenden kulturwissenschaftlichen Gedächtniskonzepte. Von ihnen wird bemängelt, dass in den bestehenden Theorien zur kulturellen Erinnerung keine Rücksicht auf die Besonderheiten literarischer Texte genommen wird. Aufgrund der Gegenüberstellung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit seien schriftliche Medien undifferenziert betrachtet worden, wobei man aber Gesetzestexte oder politische Schriften von Literatur unterscheiden müsse. Was notwendig sei, wäre die Rolle von (fiktionaler) Literatur in der Erinnerungskultur zu erforschen. 21 „Ein systematischer Ansatz, der die Kernkompetenzen der literaturwissenschaftlichen Disziplin produktiv nutzt und mit Theorien kultureller Erinnerung verbindet, um sowohl den Spezifika des Symbolsystems Literatur als auch der Einbettung und bedeutenden Rolle literarischer Texte in Erinnerungskulturen Rechnung zu tragen, erscheint daher eines der Desiderate kulturwissenschaftlicher Gedächtnisforschung.“22 Das Medium Literatur und seine Funktion in der Erinnerungskultur wird in Jan und Aleida Assmanns Theoriebildung anhand des Konzepts „kulturelle Texte“ diskutiert. Die im Funktionsgedächtnis angesiedelten kulturellen Texte gelten als für das Kollektiv verbindlich; sie vermitteln Werte und Normen und 18 Ebd., S. 34. 19 Harald Welzer: Das soziale Gedächtnis. In: Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hg. von dems.. Hamburg 2001, S. 9–24, hier S. 16. 20 Siehe dazu: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Hg. von Astrid Erll und Ansgar Nünning. Berlin 2005. 21 Astrid Erll: Gedächtnisromane. Literatur über den Ersten Weltkrieg als Medium englischer und deutscher Erinnerungskulturen in den 20er Jahren. Trier 2003, S. 66. 22 Astrid Erll, Ansgar Nünning: Literatur und Erinnerungskultur. Eine narratologische und funktionsgeschichtliche Theorieskizze mit Fallbeispielen aus der britischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, Bd. 26. Hg. von Günter Oesterle. Göttingen 2005, S. 185–210, hier S. 186.
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sind für die Identitätsbildung der Gemeinschaft konstitutiv. Umgekehrt sind die dem Speichergedächtnis zugewiesenen literarischen Texte, bei denen vor allem auch ihr ästhetischer Aspekt eine wichtige Rolle spielt, nur von zeitlich begrenzter Bedeutung. Laut Aleida Assmann können literarische Texte zu kulturellen Texten werden, sofern ihnen der Einzug in den Bildungskanon gelingt. Ob ein Text als literarisch oder kulturell eingestuft wird, hängt wiederum vom Rezeptionsverhalten der Leser ab. 23 Als problematisch erachtet Erll bei dieser Konzeptualisierung von Literatur und kulturellem Gedächtnis, dass ausschließlich die kanonisierte Hochliteratur als für die kollektive Gedächtnisbildung relevant erscheint. Vielmehr sei auch die so genannte Populärliteratur für die kollektive Gedächtnisbildung von Bedeutung: „Gerade Trivialliteratur bedient sich symbolischer Ressourcen, die dem kulturellen Gedächtnis zuzuordnen sind. In ihr werden Mythen erzeugt und perpetuiert, kulturspezifische Sinnstiftungsschemata vermittelt.“ 24 Ebenfalls zu überdenken scheint das als Singular konzipierte kollektive Gedächtnis, das der heutigen Pluralität von in der Gesellschaft vorhandenen Erinnerungsgemeinschaften nicht gerecht wird. Erll schlägt deshalb anstelle der Bezeichnung „kollektives Gedächtnis“ den Begriff der Erinnerungskulturen vor. „Mit ihm kann der Tatsache Rechnung getragen werden, dass sich kulturelle Erinnerung nicht nur historisch und geographisch höchst variabel gestaltet, sondern auch […] dass innerhalb einer Gesellschaft meist mehrere Erinnerungskulturen existieren. Zudem impliziert ‚Erinnerung‘ die Prozesshaftigkeit von Vergangenheitskonstruktionen, ihre Kreativität und Veränderlichkeit, während mit ‚Gedächtnis‘ ein fester Vorrat an Gespeichertem assoziiert wird.“ 25 Um die gesellschaftliche Funktion von Literatur im Hinblick auf die Erinnerungsbildung genauer zu untersuchen und den Fokus näher auf den aktiven Beitrag, den literarische Texte zur Erinnerungsbildung leisten, zu rücken, will Birgit Neumann Literatur im Sinne Noras als Erinnerungsort verstanden wissen. 26 Dabei zieht sie das dreistufige Mimesis-Modell Paul Ricouers zu Hilfe. 23 Astrid Erll: Literatur und kulturelles Gedächtnis: Zur Begriffs- und Forschungsgeschichte, zum Leistungsvermögen und zur literaturgeschichtlichen Relevanz eines neuen Paradigmas der Kulturwissenschaften. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch (2002) S. 249–276, hier S. 270–1. 24 Erll: Literatur als Medium, S. 263. 25 Erll: Literatur und kulturelles Gedächtnis, S. 272. 26 Birgit Neumann: Literatur als Medium (der Inszenierung) kollektiver Erinnerungen und Identitäten. In: Literatur – Erinnerung – Identität. Theoriekonzeptionen und
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Räumliche Aspekte des jüdischen Vilne
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Dieses „modelliert das Verhältnis zwischen Literatur und kultureller Wirklichkeit als eines der produktiven Transformation, bei der die poietisch erzeugten Welten und die kulturellen Sinnsysteme sich wechselseitig beeinflussen.“ 27 Literarische Texte können hinsichtlich der kollektiven Erinnerungskultur zwei Funktionen wahrnehmen. Zum einen machen sie als Medium der Gedächtnisreflexion durch die Beschreibung und Thematisierung vorhandener Gruppengedächtnisse das kollektive Gedächtnis beobachtbar. Zum anderen vermögen sie die in der Gesellschaft vorhandenen Erinnerungskulturen in ihrem Selbstverständnis zu bestätigen, hinterfragen oder revidieren. 28 „Literarische Texte können neuartige, aber an die symbolische Sinnwelt der Erinnerungskultur anschließbare imaginäre Wirklichkeiten erzeugen, indem sie Selbstbilder, Geschichtsvorstellungen oder Werte und Normen auf prägnante und anschauliche Weise darstellen sowie Vergessenes und bis dahin Unartikuliertes oder Unartikulierbares in die Erinnerungskultur einspeisen.“ 29 Indem Literatur nicht nur als Symbolsystem verstanden wird, sondern auch als Sozialsystem, dessen Wirkungskraft sich textextern entfaltet und direkten Einfluss auf das kollektive Gedächtnis nehmen kann, wird deutlich, dass gerade fiktionale Texte als Medium der Erinnerungskultur eine nicht zu unterschätzende Stellung einnehmen. 30
Räumliche Aspekte des jüdischen Vilne Der Schauplatz von Grades und Karpinovitshs literarischem Werk ist Vilne. Es ist ein konkreter geographischer Ort, der heute unter dem Namen Vilnius auf jeder Landkarte zu finden ist. Die hier zu konstatierende Verortung individueller Erinnerung weist auf die Wichtigkeit der lange vernachlässigten Kategorie „Raum“ in den Geschichtswissenschaften, die in der heutigen Forschung, so Aleida Assmann, erneut ins Blickfeld gerät:
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Fallstudien. Hrsg. von Astrid Erll, Marion Gymnich und Ansgar Nünning. Trier 2003, S. 49–77, hier S. 57. Ebd., S. 67. Erll: Literatur als Medium, S. 265–266. Ebd., S. 266. Siehe dazu auch Birgit Neumann: Literatur, Erinnerung, Identität. In: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Hg. von Astrid Erll und Ansgar Nünning. Berlin 2005,S. 149–179, bes. S. 169–171. Neumann: Literatur als Medium, S. 51.
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Methodische Überlegungen „Nach Struktur-, Makro- und Mikrogeschichte gewinnen Orte im historischen Denken eine neue Beachtung als Schauplätze historischer Ereignisse, als Form der Verdichtung und Vergegenständlichung von Geschichte, als greifbarer Träger von Zeichen und Spuren, die zerstört oder bewahrt, vergessen oder erinnert werden.“ 31
In Anklang an die „topologischen Wende“ (spatial turn) stellt diesbezüglich auch Karl Schlögel fest: „Geschichte spielt nicht nur in der Zeit, sondern auch im Raum. (…) Ereignisse haben einen Ort, an dem sie stattfinden. Geschichte hat ihre Schauplätze.“ 32 Dem Postulat Schlögels folgend setzt diese Arbeit die Stadt Vilne in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung, wobei sich vorrangig die Frage nach spezifisch jüdischen Topographien stellt. Während jüdische Orte geographisch lokalisierbar sind, eröffnen sich jüdische Räume dort, wo bestimmte jüdische Handlungen und Aktivitäten zu verzeichnen sind. Ort und Raum können deckungsgleich sein oder einander überschneiden. Der Unterschied zwischen den beiden Begriffen besteht in der Funktion, die sie einnehmen. Jüdische Orte sind dem Wandel unterzogen, können neu entstehen, aber auch verschwinden. Ebenso können sich jüdische Räume materialisieren und geographisch festsetzen. 33 Neben konkreten Orten, die in jeder jüdischen Gemeinde zu finden sind (Synagoge, Mikwa, Friedhof ), gehören auch imaginierte Orte (Heimat, yidishland) und kommunikative Orte (Sprache, Gedächtnis) in das weite Feld jüdischer Topographien. 34 Vielfach handelt es sich bei jüdischen Orten und Räumen um „other“ spaces, die den gängigen Raumvorstellungen der sie umgebenden Mehrheitsgesellschaft entgegentreten und die Sicht auf diese herausfordern. 35 In den heutigen Kultur- und Sozialwissenschaften wird Raum nicht mehr
31 Aleida Assmann: Geschichte findet Stadt. In: Kommunikation – Gedächtnis – Raum. Kulturwissenschaften nach dem „Spatial Turn“. Hg. von Moritz Csáky und Christoph Leitgeb. Bielefeld 2009, S. 13–27, hier S. 16. 32 Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München 2003, S. 9. 33 Anna Lipphardt, Julia Brauch, Alexandra Nocke: Exploring Jewish Space. An Approach. In: Jewish Topographies. Visions of Space, Traditions of Place. Hg. von dens. Aldershot, Burlington 2008, S. 1–23, hier S. 4. 34 Joachim Schlör: Makon. Eine Einleitung im Gehen. Orts-Bilder. In: Makom. Orte und Räume im Judentum. Real. Abstrakt. Imaginär. Hg. von Michal Kümper, Barbara Rösch, Ulrike Schneider und Helen Thein. Hildesheim, Zürich, New York 2007 (= Haskala; 35), S. 15–21, hier S. 19–20. 35 Anna Lipphardt, Julia Brauch, Alexandra Nocke: Exploring Jewish Space, S. 3.
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länger als physisch-territorialer Begriff aufgefasst, der in der Form eines Containers existiert, sondern es gibt eine Reihe von Konzepten, die herausarbeiten, „wie Räume als symbolische Verräumlichungen sprachlich-kommunikativ und/oder alltagspraktisch erst hergestellt werden.“ 36 Aus dieser Perspektive müssen der Zusammenhang von realen materiellen Gegebenheiten und sozialkulturellen Phänomenen untersucht und der Dualismus von Raum und Materie gebrochen werden. 37 Hierzu bietet sich die relationale Raumtheorie von Martina Löw an. Sie versteht Raum als eine soziale Konstruktion, die sich aus der Anordnung von Menschen, Dingen und Handlungen zusammensetzt. Raum als solcher ist nicht natürlich vorhanden, sondern wird erst durch das Positionieren von Menschen und sozialen Gütern (Spacing) und das Zusammenfassen derselben zu Räumen (Syntheseleistung) stets neu konstituiert. Letzteres geschieht aufgrund von Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozessen. In Löws relationalem Raummodell werden Räume durch Individuen und Gruppen hergestellt, deren Handeln von vorgegebenen Strukturen (soziale, kulturelle, geschlechtsspezifische) abhängig ist. In diesem Zusammenhang spricht die Autorin von Dualität von Raum, da der Raumbildungsprozess einerseits Strukturen hervorbringt, andererseits von diesen bedingt ist und sie reproduziert. 38 Voraussetzung für das Entstehen von Räumen, so Löw, sei das Vorhandensein von Orten. Ein Ort ist eine konkret (geographisch) benennbare Stelle. An ein und demselben Ort, aber auch an mehreren miteinander verknüpften Orten kann durch die Platzierung von Lebewesen und sozialen Gütern eine Vielzahl von Räumen entstehen. Wahrnehmungen, deren Gehalt grundsätzlich aus Menschen und sozialen Gütern besteht, werden somit stets mit bestimmten Orten in Verbindung gebracht. Ähnliches stellt die Autorin in Bezug auf die Erinnerung fest: „In ihr verschmelzen Objekte und Menschen mit ihren Lokalisierungen an konkreten Orten zu einzelnen Elementen, die dann im Gedächtnis bewahrt werden und auf diese Weise die alltägliche Konstitution von Raum beeinflussen.“ 39
36 Julia Lossau: Räume von Bedeutung. Spatial turn, cultural turn und Kulturgeographie. In: Kommunikation – Gedächtnis – Raum. Kulturwissenschaften nach dem „Spatial Turn“. Hg. von Moritz Csáky und Christoph Leitgeb. Bielefeld 2009, S. 29–43, hier S. 35. 37 Lossau: Räume von Bedeutung, S. 38. 38 Martina Löw: Raumsoziologie. Frankfurt am Main 2001, 225–226. 39 Ebd., S. 199.
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Methodische Überlegungen
Auch im literarischen Werk von Grade und Karpinovitsh finden sich zahlreiche Örtlichkeiten, an denen jüdische Räume durch Handeln oder Kommunikation entstehen. Diese kündigen sich bereits in den Titeln einzelner Publikationen sowie den darin enthaltenen Titeln von Erzählungen an. Dazu gehört Grades Roman „Der shulhoyf“ sowie die Erzählung „Leyb-Leyzers hoyf“. Bei Karpinovitsh verweist der Band „Baym vilner durkhhoyf“ sowie die Erzählungen „Der boym nebn teater“ – gemeint ist das yidisher folks-teater auf der ludvisarske –, „Der stradivari fun glezer-gas“ als auch „Der shulhoyf“ an konkrete Orte innerhalb Vilnes. Wie wichtig die topographische Verankerung der Handlung innerhalb der Vilner Stadtlandschaft für Grade und Karpinovitsh ist, ist nicht zuletzt daran festzumachen, dass sich bei beiden Autoren Publikationen mit Titeln finden, in denen allgemein auf Straßen verwiesen wird, wie Grades dritter Teil seiner Memoiren „Di zibn geslekh“ – gemeint sind die sieben Straßen der beiden jüdischen Ghettos, die während des Zweiten Weltkriegs bestanden haben – sowie Karpinovitshs Publikationen „Oyf vilner gasn“ und „Oyf vilner vegn“. Auch innerhalb der einzelnen Texte beider Autoren sind Orientierungspunkte wie Straßen, Plätze und Gebäude, die auf bestimmte Stellen innerhalb Vilnes verweisen und auf Stadtplänen der Zwischenkriegszeit zu finden sind, äußerst zahlreich.40 Durch diese „Verortung“ der Handlung, die dem Schreibenden auch als Gedächtnisstütze dient, wird gleichsam der Realitätsbezug der Texte unterstrichen.41 Die von Grade und Karpinovitsh in ihren Texten vermittelte topographische Vielfalt der Vilner Stadtlandschaft soll deshalb im Folgenden benannt und kurz charakterisiert werden.
Die Vilner Topographie Straßen Mit zu den ältesten sich durch die Altstadt schlängelnden Straßen zählte die yidishe gas, 42 die diesen Namen bereits 1592 trug, da sie – aufgrund ihrer Nähe 40 Ein Stadtplan Vilnes findet sich bei Dawidowicz: From that Place (Innenseite der Buchdeckel). 41 Albrecht Lehmann: Erzählstruktur und Lebenslauf. Autobiographische Untersuchungen. Frankfurt am Main, New York 1983, S. 177. 42 Grade: Der shulhoyf (1), S. 65, 77, 202; ders.: Di kloyz un di gas (2), S. 75, 91, 98, 137; Karpinovitsh, 1/2, S. 31; ders.: 1/5, S. 97; ders.: 1/7, S. 124; ders.: 1/8, S. 135, 137, 138; ders.: 2/1, S. 21; ders.: 2/4, S. 53, 62; ders.: 2/5, S. 75; ders.: 2/7, S. 105;
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Abb. 1: Stadtplan von Vilne vor dem Zweiten Weltkrieg mit dem jüdischen Viertel in der Vilner Altstadt.
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ders.: 2/8, S. 128; ders.: 2/9, S. 137; ders. 2/10, S. 155; ders.: 3/2, S. 36; ders.: 3/4, S. 57; ders.: 3/7, S. 95; ders.: 3/8, S. 114; ders.: 3/10, S. 150, 151; ders.: 4/1, S. 11, 21; ders.: 4/2, S. 25; ders.:4/3, S. 48; ders.: 475, S. 75, 79; ders.: 476, S. 94; ders.: 4710, S. 163; ders.: 5/2, S. 22; ders.: 5/9, S. 141, 146, 149.
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Methodische Überlegungen
zum shulhoyf auch shul gas (Synagogen-Straße) genannt – fast ausschließlich von Juden bewohnte wurde. Hier hatte sich schon früh der Handel entwickelt, genauso wie in den Höfen der an sie grenzenden Häuser. 43 An der yidishe gas Nr. 8 lag reb Leyzers hoyf. 44 Parallel zur yidishe gas verlief eine zweite „jüdische“ Straße, die zu ihrer Unterscheidung yatkever gas (Fleischer-Straße) 45 oder auch yidishe kromen gas genannt wurde. Zwei hohe Torbogen überspannten die yatkever gas. Anfänglich befanden sich hier Schlachthäuser und auch das Jüdische Spital. Mit der Zeit entstanden zwischen den Höfen der yidishe gas und der yatkever gas kleine Verbindungswege, sogenannte „Durchhöfe“, die sich mit der Zeit zu eigenständigen Strässchen entwickelten. Fast jeder Hof im jüdischen Viertel war ein solcher durkhhoyf. Diese inoffiziellen Verbindungswege zwischen den Höfen verschiedener Häuser waren auf keinem Stadtplan eingetragen. Ein solcher heimlicher Weg führte etwa von der yatkever gas Nr. 236 durch reb Mayles hoyf 46 und von dort weiter auf die yidishe gas Nr. 7. 47 Der bekannteste durkhhoyf war jener, wohin man von der yidishe gas Nr. 9 sowie von der yatkever gas Nr. 10 gelangte. 48 Er war der älteste Handelsplatz im jüdischen Viertel und das Zentrum des jüdischen Altwarenhandels. Eine Fortsetzung der yidishe gas war das Mikolay gesl, 49 das von den Juden Gitke-Toybes
43 Zalmen Shik: 1000 yor Vilne. Bd. 1. Vilne 1939, S. 148, 150. 44 Grade: Der mames shabosim. Chicago 1955, S. 89; ders.: Der shulhoyf (1), S. 204, 205; ders.: Di agune. New York 1961, S. 85; ders.: Di kloyz un di gas (2), S. 45, 58, 70, 72, 73, 75, 76, 78, 86, 90, 99, 104, 109, 116, 122, 128, 136, 142, 145, 148 f., 155; Karpinovitsh: 1/2, S. 39; ders.: 1/8, S. 138; ders.: 2/10, S. 155; ders. 3/8, S. 121. 45 Grade: Der mames shabosim, S. 69; ders.: Der shulhoyf (1), S. 156; ders.: Der shulhoyf (2), S. 246, 283; ders.: Der shulhoyf (3). In: Der shulhoyf. New York 1958, S. 362, 376; ders.: Tsemakh Atlas: di yeshive. Ershter band, New York 1967, S. 131, 140, 159, 161, 176, 310, 311; ders.: Tsemakh Atlas: di yeshive.Tssveyter band, New York 1968, S. 198, 199, 208; Karpinovitsh: 1/6, S. 106, 109; ders.:1/7, S. 129; ders.: 1.8, S. 138; ders.: 1/9, S. 159; ders.: 2/5, S. 83; ders.: 2/10, S. 155; ders.: 3/2, S. 27; ders.: 3/7, S. 96; ders.: 3/8, S. 121; ders.: 3/10, S. 151; ders.: 4/4, S. 55; ders.: 4/5, S. 69; ders.: 4/7, S. 110; ders.: 5/1, S. 16; ders.: 5/7, S. 103; ders. 5/10, S. 170. 46 Grade: Der mames shabosim, S. 67, 68, 71, 74; 87, 97, 105; ders.: Der shulhoyf (1), S. 68, 70, 205;ders.: Di agune, S. 86; ders.: Di kloyz un di gas (1), S. 27, 28; ders.: Di kloyz un di gas (2), S. 75; ders.: Der shtumer minyan, New York 1976, S. 86, 175; Karpinovitsh: 4/5, S. 75; ders.: 5/9, S. 141. 47 Shik: 1000 yor Vilne, S. 158. 48 Shik: 1000 yor Vilne, S. 148–156. 49 Grade: Di agune, S. 23; ders.: Di kloyz un di gas (2), S. 98; ders.: Der shtumer minyan, S. 240, Karpinovitsh: 1/2, S. 39; ders.: 1/6, S. 115; ders.: 1/7, S. 121, 122, 123,
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zavulik – nach der Witwe eines wohlhabenden Juden, der hier im 19. Jahrhundert ein Haus besaß – genannt wurde. 50 Zusammen bildeten die yidishe gas, die yatkever gas sowie das Mikolay gesl den geographischen Kern des jüdischen Viertels. Mit der Zeit wurden auch die an das ursprüngliche jüdische Viertel anschließenden Straßen von Juden bewohnt, wie die schmale glezer gas, 51 über die sich ein hoher Torbogen spannte, oder die zum Marktplatz führende daytshe gas, 52 eine der ältesten Straßen Vilnes, die ihren Namen von den im 14. Jahrhundert nach Vilne zugewanderten deutschen Händlern und Handwerkern erhielt und sich zum Zentrum des jüdischen Handels entwickeln sollte. Ebenfalls zum Marktplatz führte die rudnitsker gas. 53 Auf dieser Straße befanden sich das jüdische Realgymnasium, die Vilner Jüdische Bank und der Zentrale Jüdische Handwerkerverein. Zusammen mit der daytshe gas bildete die rudnitsker gas das Zentrum des jüdischen Handels. 54 Weitere Handelsorte waren der fishmark 55 auf der sofianikes in der Vorstadt Zaretshe sowie der bei
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131; ders.: 2/4, S. 65; ders.: 2/6, S. 91; ders.: 2/9, S. 137; ders.: 2/10, S. 153; ders.: 3/ 2, S. 30; ders.: 4/1, S. 11, 15; ders.: 4/4, S. 55. Davidowicz: From that Place, S. 37. Grade: Der mames shabosim, S. 231, 240; ders.: Di kloyz un di gas (2), S. 101; ders.: Der shtumer minyan, S. 28, 230; Karpinovitsh: 1/1, S. 11; ders.: 1/6, S. 110; ders.: 2/ 1, S. 12; ders.: 2/5, S. 83; ders.: 2/8, S. 121; ders.: 3/4, S. 54; ders.: 3/10, S. 147; ders.: 4/1, S. 19, 21; ders.: 4/4, S. 55; ders.: 4/10, S. 161; ders.: 5/1, S. 13. Grade: Der shulhoyf (1), S. 10, 49, 71, 73, 77, 202, 219; ders.: Der shtumer minyan, S. 240; Karpinovitsh: 1/1, S. 12, 17; ders.: 1/5, S. 84, 93; ders.: 1/6, S. 101, 104, 113, 116, 117; ders.: 1/7, S. 121, 122; ders: 2/1, S. 20; ders.: 2/2, S. 32; ders.: 2/3, S. 48, 49; ders.: 2/4, S. 62; ders.: 2/6, S. 90; ders.: 2/9, S. 135, 137; ders.: 2/10, S. 153, 154; ders.: 3/2, S. 28, 30; ders.: 3/3, S. 48; ders.: 3/4, S. 54, 65; ders.: 3/7, S. 93, 96; ders.: 3/8, S. 112, 116; ders.: 4/1, S. 11; ders.: 4/2, S. 30; ders.: 4/3, S. 43, 51, 52; ders.: 4/5, S. 73; ders.: 4/6, S. 93; ders.: 5/2, S. 23, 33; ders.: 5/9, S. 144, 147, 149, 151; ders.: 5/10, S. 165, 166, 167. Grade: Der mames shabosim, S. 133, 166, 223; ders.: Der shulhoyf (1), S. 13, 156, 196; ders.: Der shulhoyf (3), S. 349; ders.: Tsemakh Atlas (di yeshive). Bd. 1. New York 1967, S. 164, 175, 311; ders.: Di kloyz un di gas (2), S. 101; ders.: Di kloyz un di gas (3), S. 162; Karpinovitsh: 1/1, S. 16, 17; ders.: 1/5, S. 93; ders.: 1/8, S. 140; ders.: 2/4, S. 62; ders.: 3/2, S. 28; ders.: 3/8, S. 112; ders.:4/1, S. 21; ders.: 5/8, S. 122; ders.: 5/9, S. 147; ders.: 5/10, S. 165. Shik: 1000 yor Vilne, S. 129–132. Grade: Der mames shabosim, S. 25; ders.: Di kloyz un di gas (2), S. 64; ders.: Der shtumer minyan, S. 81; Karpinovitsh: 1/4, S. 69; ders.: 1/5, S. 87; ders.: 4/1, S. 15; ders.: 4/7, S. 103; ders.: 5/7, S. 105.
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Methodische Überlegungen
der zavalne gas gelegene holtsmark, 56 wo noch vor dem Ersten Weltkrieg die Bauern der Umgebung ihr Holz an die Juden verkauft hatten. In der Zwischenkriegszeit wurden auf dem ungedeckten gepflasterten Platz landwirtschaftliche Produkte, Fleisch und Fisch feilgeboten. 57 Von der daytshe gas Richtung Westen zweigte die troker gas 58 und führte weiter zur zavalne gas (Wallstraße), 59 die entlang der ehemaligen, im 16. Jahrhundert errichteten Stadtmauer verlief und eine geschäftige Straße war. Hier befanden sich die städtischen Markthallen. Weiter waren hier das hebräische Tarbut Gymnasium, das jüdische Spital und die Choralsynagoge (khor-shul). 60 An der vom Marktplatz Richtung Fluss verlaufenden breyte gas 61 lagen zahlreiche Paläste, Kirchen und Klöster. Mehrere Durchhöfe führten zur parallel verlaufenden yatkever gas. Auf der breyte gas Nr. 36 befand sich der jüdische Kleinhändlerverband und im Haus Nr. 39 wurde der jüdische Bildhauer Mark Antokolski (1843–1902) geboren. 62 An die breyte gas schloss sich die shlos gas, 63 die zum Stadtpark führte. Etwas westlich der Altstadt lagen die große und kleine pohulianke, 64 wo diverse säkulare jüdische Organisationen, wie der
56 Grade: Der mames shabosim, S. 249; ders.: Di agune, S. 65; Karpinovitsh: 1/1, S. 16, 20; ders.: 1/3, S. 53; ders.: 1/5, S. 87; ders.: 1/6, S. 101; ders.: 1/8, S. 145; ders.: 2/4, S. 65; ders.: 2/6, S. 88; ders.: 2/7, S. 107, 116; ders.: 2/8, S. 124; ders.: 2/9, S. 137; ders.: 3/1, S. 18; ders.: 3/5, S. 69; ders.: 3/7, S. 98; ders.: 4/3, S. 48; ders.: 4/10, S. 162; ders.: 5/8, S. 125. 57 Dawidowicz: From that Place, S. 59, 146. 58 Chaim Grade: Tsemakh Atlas (di yeshive). Bd. 2. New York 1968, S. 404; Karpinovitsh: 1/6, S. 109; ders.: 2/5, S. 76; ders.: 2/9, S. 135; ders.: 2/10, S. 155; ders.: 3/4, S. 54; ders.: 3/7, S. 101; ders.: 5/8, S. 122, 130; ders.: 5/9, S. 146. 59 Grade: Tsemakh Atlas (di yeshive). Bd. 1, S. 163; ders.: Di kloyz un di gas (3), S. 167, 174, 179, 228; ders.: Der shtumer minyan, S. 240; Karpinovitsh: 1/10, S. 175; ders.: 2/3, S. 42; ders.: 2/6, S. 90; ders.: 3/5, S. 69; ders.: 3/7, S. 96; ders.: 3/9, S. 141; ders.: 4/3, S. 48; ders.: 4/4, S. 57; ders.: 4/5, S. 71; ders.: 4/10, S. 162; ders.: 5/1, S. 16; ders.: 5/8, S. 131. 60 Vgl. Shik: 1000 yor Vilne, S. 134–138. 61 Grade: Der mames shabosim, S. 31, 144, 146, 255; ders.: Der shulhoyf (1), S. 77; ders.: Di kloyz un di gas (2), S. 101; Karpinovitsh: 2/5, S. 75, 83; ders.: 2/6, S. 98; ders.: 3/1, S. 11; ders.: 3/7, S. 93; ders.: 5/9, S. 139, 141, 147. 62 Vgl. Shik: 1000 yor Vilne, S. 105–115. 63 Grade: Der shulhoyf (1), S. 9, 10, 49, 73; ders.: Di kloyz un di gas (2), S. 144; Karpinovitsh: 2/5, S. 73; ders.: 3/2, S. 30; ders.: 5/8, S. 123; ders.: 5/9, S. 141, 147, 149; ders.: 5/10, S. 167. 64 Grade: Der shulhoyf (2), S. 246; ders.: Di kloyz un di gas (2), S. 102, 103; Karpino-
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jüdische Handelsverein, die Hilfsorganisation YEKOPO oder die Emigrationsgesellschaft HIAS ihren Sitz hatten.65
Religiöse Institutionen Der wohl bedeutendste Ort des religiösen jüdischen Vilne war der im Herzen des jüdischen Viertels liegende shulhoyf (Synagogenhof ) 66 auf der yidishe gas Nr. 6 (zugänglich auch durch drei Tore von der daytshe gas Nr. 10/12) mit seinen zahlreichen Synagogen und Gebetsstuben.67 Hier befanden sich auch das jüdische Bad und der Brunnen, dessen Wasser die jüdische Gemeinde zum Trinken, Feuerlöschen und zur Schmutzbeseitigung benötigte. Seinen Namen erhielt der shulhoyf vom wichtigsten Gebäude auf dem Hof, der 1573 erbauten shtotshul (Stadtsynagoge), 68 auch groyse shul (Große Synagoge) genannt, in der über 3000 Menschen Platz fanden. Laut Gesetz durfte das Gebäude der Synagoge nicht die benachbarten Häuser überragen, weshalb sie tief in den Boden gebaut wurde, um von innen eine angemessene Höhe zu erlangen. In ihrer Geschichte diente die shtotshul nicht nur als Gebetsort, sondern auch als Zufluchtsstätte vor christlichen Angriffen. 69 Zur linken Seite der shtotshul lag das
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vitsh: 1/3, S. 53; ders.: 1/6, S. 109; ders.: 1.7, S. 123; 2/7, S. 111; ders.: 5/2, S. 23; ders.: 5/8, S. 132. Shik: 1000 yor Vilne, S. 268. Grade: Der mames shabosim, S. 85, 105, 119, 121, 130, 182, 254; ders.: Der shulhoyf (1), S. 9, 11, 13, 15, 22, 24, 37, 47, 50, 65, 66, 70, 74, 83, 147, 196, 199, 216, 221, 224, 225, 229, 230; ders.: Der shulhoyf (2), S. 286, 292, 343; ders.: Di agune, S. 74, 75, 82; ders.: Tsemakh Atlas (di yeshive). Bd. 1, S. 307, 308; ders.: Di kloyz un di gas (2), S. 128, 144; ders.: Di kloyz un di gas (3), S. 162; ders.: Der shtumer minyan, S. 81, 86, 128; Karpinovitsh: 1/5, S. 83, 91, 93, 94; ders.: 2/1, S. 19; ders.: 2/2, S. 31; ders.: 2/4, S. 53, 56; ders.: 2/5, S. 73, 75; ders.: 2/10, S. 154; ders.: 3/6, S. 80, 85, 88; ders.: 3/8, S. 111, 119; ders.: 4/1, S. 22; ders.: 4/3, S. 43, 44, 45, 48, 49, 50; ders.: 4/6, S. 93; ders.: 5/3, S. 37, 43, 4, 45; ders.: 5/4, S. 57; ders.: 5/9, S. 149. Ein detaillierter Plan des shulhoyf findet sich bei Katz: Lithuanian Jewish Culture, S. 114. Grade: Der mames shabosim, S. 183, 241, 254; ders.: Der shulhoyf (1), S. 62, 130, 157, 158, 199, 202, 203; ders.: Der shulhoyf (2), S. 306, 308; ders.: Di agune, S. 53, 68, 72, 74, 76, 77, 79, 82, 83, 84, 85, 89, 90, 91, 92, 102, 123, 125; ders.: Di kloyz un di gas (1), S. 14, 24; ders.: Di kloyz un di gas (2), S. 92, 122, 128; ders.: Di kloyz un di gas (3), S. 162; ders.: Der shtumer minyan, S. 46, 80; Karpinovitsh: 1/5, S. 84; ders.: 1/8, S. 148; ders.: 3/2, S. 30; ders.: 3/6, S. 80; ders.: 3/8, S. 115, 119; ders.: 3/10, S. 148; ders.: 4/3, S. 44; ders.: 5/3, S. 42. Cohen, Vilna, S. 104; Yidishe Vilne in vort un bild. Iliustrirter almanakh. Hg. von Morits Grosman. Vilne 1925, S. 103; Shik: 1000 yor Vilne, S. 185.
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Methodische Überlegungen
älteste Gebäude des shulhoyf, die alte kloyz 70 oder kloyz ishn, über deren Eingang das Gründungsjahr 1440 eingemeißelt war. In der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde direkt neben der alte kloyz die naye kloyz 71 errichtet, die durch eine Verbindungstür mit der alte kloyz verbunden war. In einem eher bescheidenen Gebäude direkt über dem jüdischen Bad lag die malarske kloyz (Klause der Maler). 72 Ebenfalls auf dem shulhoyf befand sich die von der Gemeinde um 1800 zur Erinnerung an Vilnes bekannteste rabbinische Größe errichtete Goens kloyz. 73 Sie war das heiligste aller Gebäude auf dem ganzen shulhoyf. In direkter Nachbarschaft lag die 1747/48 erbaute keyverdishe shul (Synagoge der Totengräber), 74 die als Gebets- und Lehrhaus für die Begräbnisbruderschaft (khevra kadisha) diente. Zahlreiche andere religiöse Institutionen lagen wiederum außerhalb des shulhoyf. In reb Mayles hoyf auf der yidishe gas befand sich die kloyz „Dveyre Ester“, 75 an deren Gebäude eine Tafel zum Andenken an die Wohltäterin Deborah-Esther Helfer (1817–1907) 76 angebracht war. Weiter lag in reb Mayles hoyf die shustershe kloyz 77 sowie die aynbinder kloyz (Klause der Buchbinder). 78 Bis zu ihrem Einsturz im Jahr 1919 stand hier seit 1829 die berühmte reb 70 Grade: Der shulhoyf (1), S. 48, 126, 223; ders.: Di agune, S. 76, 104, 116, 118; ders.: Di kloyz un di gas (1), S. 9, 24, 29, 32, 41; ders.: Der shtumer minyan, S. 167, 174. 71 Grade: Der shulhoyf (1), S. 55, 56, 60, 89, 115, 203; ders.: Der shulhoyf (2), S. 291, 305; ders.: Di agune, S. 82, 118, 120; ders.: Der shtumer minyan, S. 174. 72 Grade: Der shtumer minyan, S. 9; Karpinovitsh: 1/8, S. 143; ders.: 2/1, S. 11, 24; ders.: 3/6, S. 86; ders.: 3/8, S. 112, 115, 118. 73 Grade: Der mames shabosim, S. 129; ders.: Der shulhoyf (1), S. 11, 16, 17, 20, 23, 24, 26, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 36, 48, 55, 62, 73, 79, 110, 149, 202, 215, 218, 223; ders.: Der shulhoyf (2), S. 241; ders.: Di agune, S. 18, 76, 84, 85, 97; ders.: Tsemakh Atlas (di yeshive). Bd. 1, S. 308; ders.: Di kloyz un di gas (1), S. 34ders.: Di kloyz un di gas (2), S. 95; ders.: Der shtumer minyan, S. 130, 167, 180; Karpinovitsh: 1/8, S. 137; ders.: 3/6, S. 80; ders.: 3/8, S. 112; ders.: 4/3, S. 44; ders.: 5/3, S. 44. 74 Grade: Der mames shabosim, S. 123, 185; ders.: Der shulhoyf (1), S. 22, 56, 83, 84, 85, 86, 89, 90, 93, 203, 209, 212, 214, 215, 228; ders.: Di agune, S. 75; ders.: Der shtumer minyan, S. 21, 144, 174, 175; Karpinovitsh: 1/5, S. 83; ders.: 1/8, S. 142; ders.: 2/4, S. 54; ders.: 3/6, S. 88; ders.: 3/8, S. 111 f., 120; ders.: 4/3, S. 44; ders.: 5/ 3, S. 37, 38, 45, 46. 75 Grade: Der shtumer minyan, S. 9; Karpinovitsh: 1/8, S. 143; ders.: 2/1, S. 11, 24; ders.: 3/6, S. 86; ders.: 3/8, S. 112, 115, 118. 76 Ausführlicher zur Person Deborah-Esther Helfers siehe dazu Kapitel Geldzuschüsse und Kredite. 77 Grade: Der shulhoyf (1), S. 204. 78 Ebd. S. 205.
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Räumliche Aspekte des jüdischen Vilne
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Mayles yeshiva, 79 die später in einem neuen dreistöckigen Gebäude auf der novgorod in der gleichnamigen Vorstadt wieder aufgebaut wurde. 80 Auf der zavalne gas wiederum befand sich die von den Vilner Maskilim 1847 gegründete khor-shul „toyre hakodesh“ (Chorsynagoge), 81 die ihren Namen einer ihrer Erneuerungen – dem Knabenchor – zu verdanken hatte. Während mehrerer Jahrzehnte mussten sich die Mitglieder an verschiedenen Orten zum Gottesdienst treffen, da sie kein eigenes Gebäude zum Beten hatten. Erst 1903 konnte in das neu errichtete Gebäude im maurischen Stil auf der zavalne gas eingezogen werden. 82 Wichtige religiöse Institutionen waren auch die jüdischen Friedhöfe. Der alter feld 83 befand sich in der Vorstadt Shnipishok, auf der anderen Seite des Flusses vilye (heute Neris). Die ältesten Gräber datierten auf das Jahr 1487. Der alter feld wurde 1830 geschlossen, 84 worauf im gleichnamigen Stadtteil der zaretsher yidisher feld 85 eröffnet wurde.
Gemeindeinstitutionen Der jüdischen Gemeinde zuzuordnende Institutionen waren etwa das Schächthaus (shkhite-shtibl) 86 auf der krupnitshe gas oder das zu Beginn des 19. Jahrhunderts gegründete jüdische Spital, 87 das von der Gemeinde gegen Ende des selben Jahrhunderts aus hygienischen Gründen von der yatkever gas auf die zavalne gas Nr. 42 verlegt worden war. Zu nennen sind auch diverse jüdischkulturelle Institutionen, wie beispielsweise die aufgrund ihrer umfassenden
79 Ebd., S. 161; Grade.: Di agune, S. 97; ders.: Tsemakh Atlas (di yeshive). Bd. 1, S. 131, 132; ders.: Der shtumer minyan, S. 144; Karpinovitsh: 3/8, S. 120; ders.: 4/ 1, S. 14; ders.: 4/6, S. 85, 93. 80 Zu Zeiten, als viele Juden die Konskription in die zaristische Armee umgehen wollten, waren bis zu 200 Schüler in der Rameyles Yeshiva eingeschrieben; Dawidowicz: From that Place, S. 46. 81 Grade: Der mames shabosim, S. 51, 53, 188; ders.: Di kloyz un di gas (3), S. 162; ders.: Der shtumer minyan, S. 80, 168; Karpinovitsh: 3/8, S. 121; ders.: 3/9, S. 141. 82 Dawidowicz: From that Place, S. 47; Yidishe Vilne in vort un bild, S. 105. 83 Karpinovitsh: 1/1, S. 15; ders.: 1/5, S. 93. 84 Shik: 1000 yor Vilne, S. 403, 405, 409. 85 Grade: Der mames shabosim, S. 119; ders.: Der shulhoyf (2), S. 333; ders.: Der shtumer minyan, S. 41; Karpinovitsh: 2/4, S. 67. 86 Grade: Der shulhoyf (1), S. 13; Karpinovitsh: 1/6, S. 103, 106, 107; ders.: 2/3, S. 43; ders.: 2/6, S. 95; ders.: 3/1, S. 12, 17; ders.: 4/5, S. 74, 78. 87 Karpinovitsh.: 1/5, S. 85; ders.: 2/8, S. 128; ders.: 3/9, S. 125, 139; ders.: 5/3, S. 39.
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Methodische Überlegungen
Sammlung an religiösen Schriften weltweit bekannte Strashun bibliotek, 88 die den Namen ihres Begründers, des Gelehrten und Bibliophilen Mathiahu Straschun (1817–1885) trug und im Besitz der jüdischen Gemeinde war. Im Jahr 1901 bezog die Bibliothek ein extra für sie hergerichtetes zweistöckiges Gebäude auf dem shulhoyf. 89 Ebenfalls eine herausragende Stellung innerhalb der jüdischen Welt sollte das 1925 gegründete yidisher visenshaftlikher institut (Jüdisches Wissenschaftliches Institut, YIVO) 90 einnehmen, dessen Aufgabe die Erforschung der Geschichte und Kultur des jüdischen Volkes war. 91 Ausschließlich bei Karpinovitsh wird das yidisher folks-teater 92 auf der ludvisarske erwähnt, das von 1908 bis 1936 bestanden hatte. Eng mit dem Theatermilieu verbunden und deshalb auch an dieser Stelle genannt war Velfke Osians restauran 93 auf der yidishe gas Nr. 2, wo sich die Vilner Bohème traf. 88 Grade: Der shulhoyf (1), S. 203, 227; ders.: Der shtumer minyan, 113; Karpinovitsh: 1/8, S. 142; ders.: 2/2, S. 31; ders.: 2/10, S. 154; ders.: 3/8, S. 111, 119; ders.: 4/3, S. 45; ders.: 4/5, S. 73; ders.: 5/3, S. 44; ders.: 5/4, S. 57, 61; ders.: 5/7, S. 114. 89 Der Bestand der Bibliothek umfasste in der Zwischenkriegszeit knapp 20.000 Bände rabbinischer, hebräischer und jiddischer Literatur sowie ca. 200 Manuskripte. Benutzt wurde sie jährlich von über 150.000 Lesern – Rabbinern, Schriftstellern, Schülern – jung und alt. Vilner zamelbukh. Hg. von Tsemakh Shabad. Bd. 1. Vilne 1916, S. 31–33; Yidishe Vilne in vort un bild, S. 47. 90 Karpinovitsh: 1/4, S. 69, 78; ders.: 4/7, S. 106, 111; ders.: 5/4, S. 60. Ausführlich zum YIVO-Institut siehe dazu Kapitel Das yidisher visnshaftlekher institut als Symbol jiddischer Kultur. 91 Im Besitz des Instituts waren u. a. eine Bibliothek, ein Presse- und Dokumentationsarchiv, eine Manuskript- und Porträtsammlung, ein Theatermuseum, ein pädagogisches Archiv und Museum und ein ethnologisches Museum. Die Forschungsergebnisse der verschiedenen Sektionen des Instituts spiegelten sich in den zahlreichen Publikationen, wie etwa den Yivo-Blättern. Max Weinreich: Der yidisher visenshaftlikher institut (yivo). In: Vilne. A zamlbukh gevidmet der shtot Vilne. Hg. von Yefim Yeshurin. New York 1935, S. 322–331; Max Weinreich: Der yivo tsu seyn bar-mitsve. In: Vilner almanakh. Hg. von A. Y. Grodzenski. Vilne 1939 [Reprint: Vilna Almanac. Hg. von Isaac Kowalski. Brooklyn, N.Y. 1992], Spalte 75–80; Dawidowicz: From that Place, S. 77 ff. 92 Karpinovitsh: 1/2, S. 25, 32, 43; ders.: 1/6, S. 108, 109, 116; ders.: 1/7, S. 121; ders.: 2/1, S. 14; ders.: 3/2, S. 30; ders.: 3/3, S. 47; ders.: 3/4, S. 57; ders.: 3/8, S. 113; ders.: 4/1, S. 17; ders.: 4/3, S. 44, ders.: 4/5, S. 71; ders.:4/6, S. 95; ders.: 5/1, S. 16; ders.: 5/2, S. 27; ders.: 5/4, S. 59; ders.: 5/7, S. 114; ders.: 5/9, S. 142; ders.: 5/10, S. 163. 93 Karpinovitsh: 1/2, S. 29, 30; ders.: 1/8, S. 142; ders.: 1/9, S. 155; ders.: 2/4, S. 62; ders.: 2/6, S. 90; ders.: 2/7, S. 104 f.; ders.: 2/8, S. 128; ders.: 2/9, S. 137; ders.: 2./10, S. 155; ders.: 3/4, S. 57; ders.: 3/6, S. 86; ders.: 3/8, S. 57; ders.: 4/2, S. 25,
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Räumliche Aspekte des jüdischen Vilne
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Vilner Sehenswürdigkeiten Zu den Orten innerhalb Vilnes, die sowohl von Juden als auch von Nichtjuden als Teil „ihrer“ Stadt angesehen wurden, zählt beispielsweise der shlosbarg mit dem Burgturm, 94 der von Fürst Gediminas im 14. Jahrhundert erbaut wurde. Von hier hatte man eine wunderschöne Aussicht auf die Stadt und die malerische Umgebung. Die Ruine des Burgturms wurde 1922 restauriert und war ein beliebter Ausflugsort, 95 genauso wie der gegenüberliegende kreytsberg, 96 wo von 1613 bis zum gescheiterten Polnischen Aufstand im Jahr 1863 mehrere Kreuze gestanden hatten. Erst 1916 wurden auf der höchsten Stelle des Berges wieder drei Kreuze aus Eisen aufgestellt, die den Katholizismus der Stadt symbolisieren sollten. 97 Auf der troker gas Nr. 22 wiederum wurde durch den Grafen Tischkewitsch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Tishkevitshes palats 98 erbaut. Kennzeichnend für das zu den schönsten Palästen gehörende Gebäude war ein von Karyatiden getragener Balkon, der die troker gas überragte. 99 Als explizit christliche Institutionen erscheinen der katedralplats 100 und das kloyster fun der heyliker Ana. 101 Natürliche Topografien Zu den „natürlichen Gegebenheiten“ zählen öffentliche Parkanlagen wie etwa der gegenüber dem kreytsberg gelegene bernardiner gortn. 102 Bevor der Garten 1864 in den Besitz der Stadt überging, gehörte er dem Bernardinerorden. 1939 bestanden Pläne, diesen mit dem zwischen dem katedralplats und dem shlosbarg
94 95 96 97 98 99 100 101 102
28, 30, 33; ders.: 4/3, S. 50; ders.: 4/6, S. 94; ders.: 5/2, S. 22, 28, 31; ders.: 5/9, S. 145; ders.: 5/10, S. 166. Grade: Der mames shabosim, S. 69; ders.: Tsemakh Atlas (di yeshive). Bd. 2, S. 400; Karpinovitsh: 1/4, S. 74; ders.: 1/6, S. 108. Shik: 1000 yor Vilne, S. 78, 81. Grade: Der mames shabosim, S. 69; ders.: Tsemakh Atlas (di yeshive). Bd. 2, S. 400; ders.: Di kloyz un di gas (2), S. 99; Karpinovitsh: 1/3, S. 53, 59, 60; ders.: 4/2, S. 27. Shik: 1000 yor Vilne, S. 85. Grade: Der shtumer minyan, S. 46; Karpinovitsh: 1/3, S. 51; ders.: 2/5, S. 75; ders.: 3/7, S. 101. Shik: 1000 yor Vilne, S. 338. Karpinovitsh: 1/6, S. 108; ders.: 2/3, S. 49; ders.: 3/1, S. 13. Ders.: 2/9, S. 139; ders.: 3/3, S. 47; ders.: 4/2, S. 39. Grade: Tsemakh Atlas (di yeshive). Bd. 2, S. 399; Karpinovitsh: 1/3, S. 60, 61; ders.: 1/8, S. 143; ders.: 2/3, S. 49; ders.: 2/6, S. 98; ders.: 2/10, S. 158; ders.: 3/7, S. 94, 101; ders.: 4/1, S. 17; ders.: 5/7, S. 108; ders.: 5/9, S. 141, 147; ders.: 5/10, S. 163.
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Methodische Überlegungen
gelegenen shlos-gortn 103 zu einem großen Park zu verbinden. 104 Auch die Flüsse vilye 105 sowie die kleinere, in sie hineinfließende vilenke 106 werden genannt. Die vilye trat seit dem Bestehen der jüdischen Gemeinde mehrmals über die Ufer. Die größte Flut ereignete sich 1761 und verursachte großen Schaden. Auch 1931 überflutete die vilye viele Straßen und den katedralplats. Die bekannteste und älteste Brücke, die über die vilye führte und damit die Vorstadt Shnipishok mit der Stadt verband, war die 1536 errichtete grine brik. 107 Die ehemals hölzerne grine brik wurde 1812 durch das russische Militär abgebrannt und erst um 1890 an derselben Stelle durch eine Brücke aus Eisen ersetzt. 108
Vilner Vorstädte Eine der bekanntesten Vorstädte war Zaretshe. 109 Hier wohnten bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs etwa gleich viele Polen wie Juden. Reb Israel Salanter (1810–1883), der Begründer der Musarbewegung, leitete hier eine Jeschiwa. Durch Zaretshe verlief die Straße sofianikes 110 und in den Zaretsher Bergen lag der neue yidisher feld. Bekannt war auch die zaretsher brik, 111 die hier über die
103 Grade: Tsemakh Atlas (di yeshive). Bd. 2, S. 399; Karpinovitsh: 1/3, S. 60, 61; ders.: 1/8, S. 143; ders.: 2/3, S. 49; ders.: 2/6, S. 98; ders.: 2/10, 158; ders.: 3/7, S. 94, 101; ders.: 4/1, S. 17; ders.: 5/7, S. 108; ders.: 5/9, S. 141, 147; ders.: 5/10, S. 163. 104 Shik: 1000 yor Vilne, S. 327, 328. 105 Grade: Der mames shabosim, S. 52; ders.: Tsemakh Atlas (di yeshive). Bd. 2, S. 400; ders.: Di kloyz un di gas (2), S. 74, 90; Karpinovitsh: 1/3, S. 51, 53; ders.: 1/6, S. 106, 115; ders.: 1/9, S. 157; ders.: 2/3, S. 42; ders.: 2/6, S. 98; ders.: 2/10, S. 158; ders.: 3/10, S. 147, 148, 151, 153; ders.: 4/1, S. 13, 16, 21; ders.: 4/2, S. 34; ders.: 4.4, S. 56; ders.: 4.10, S. 159; ders.: 5.9, S. 145; ders.: 5.10, S. 167. 106 Grade: Der mames shabosim, S. 25, 69; ders.: Tsemakh Atlas (di yeshive). Bd. 2, S. 201, 399; ders.: Di kloyz un di gas (2), S. 66, 70; ders.: Der shtumer minyan, S. 11; Karpinovitsh: 1/3, S. 60, 61; ders.: 2/9, S. 139; ders.: 2/10, S. 157; ders.: 3.3, S. 47; ders.: 4/1, S. 16; ders.: 5/7, S. 105. 107 Grade: Der shulhoyf (3), S. 362; Karpinovitsh: 4/4, S. 57. 108 Shik: 1000 yor Vilne, S. 71, 74, 76. 109 Grade: Di agune, S. 33, 34, 73, 123; ders.: Tsemakh Atlas (di yeshive). Bd. 2, S. 201, 203, 393, 400; ders.: Der shtumer minyan, S. 40, 47; Karpinovitsh: 1/2, S. 37, 45; ders.: 1/4, S. 69. 110 Karpinovitsh: 1/3, S. 49, 50, 56, 60; ders.: 3/1, S. 13; ders.: 4/1, S. 13, 15, 16; ders.: 5/7, S. 104, 105, 110. 111 Grade: Der mames shabosim, S. 184; ders.: Der shulhoyf (2), S. 336.
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Räumliche Aspekte des jüdischen Vilne
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vilye führte. 112 Zaretshe war mit der Vorstadt Poplaves 113 zusammengebaut. In den drei Straßen, die durch Poplaves führten, wohnten ungefähr 85 Prozent Juden, wovon viele vom nahe gelegenen fishmark lebten. Beide Vorstädte unterschieden sich wenig von der Stadt und verfügten über alle Bequemlichkeiten einer solchen, wie etwa solide gebaute Häuser aus Stein und gepflasterte Straßen. 114 Anders die Vorstädte Antokol und Shnipishok, wo sich auch Häuser aus Holz, umgeben von kleinen Gärten und Feldern, fanden. Antokol 115 lag ziemlich weit vom Stadtzentrum entfernt am Ufer der vilye, wo sich Holzlagerhäuser befanden. In den Antokoler Wäldern wurden im Sommer Datschen vermietet. 116 Auf der anderen Seite der vilye lag Shnipishok. 117 Hier waren die Juden seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wohnhaft und hatten ihre eigenständige Gemeinde. Es war der Ort, an dem der alte yidisher feld lag. An der vilye reihten sich Lager für Holz, Ziegel und Getreide. In der Zwischenkriegszeit lebten in Shnipishok mehrheitlich arme Leute. 118 Als eine der ärmsten Vorstädte Vilnes schließlich galt die Vorstadt Novgorod, 119 wo sowohl Juden als auch Christen wohnten. Die Häuser waren mehrheitlich aus Holz gebaut und in den kleinen Wohnungen brachen häufig Feuer aus. Viele der Bewohner hatten kein Einkommen und waren auf Unterstützung angewiesen. Eine der beliebtesten Wohltätigkeitsinstitutionen – die „bilike kikh“ – befand sich seit 1893 in Novgorod. 120
112 Vilner zamelbukh. Hg. von Tsemakh Shabad. Bd. 2. Vilne 1918, S. 143–144. 113 Grade: Der mames shabosim, S. 90; Karpinovitsh: 1/3, S. 55; ders.: 1/4, S. 69; ders.: 3/10, S. 148; ders.: 5/3, S. 38. 114 Vilner zamelbukh (2), S. 130, 143. 115 Grade: Der mames shabosim, S. 240; ders.: Der shulhoyf (1), S. 134; ders.: Der shulhoyf (2), S. 248; ders.: Tsemakh Atlas (di yeshive). Bd. 2, S. 400, 401; ders.: Di kloyz un di gas (2), S. 90; Karpinovitsh: 1/3, S. 53; ders.: 1/6, S. 101; ders.: 2/2, S. 29; ders.: 2/3, S. 48; ders.: 3/10, S. 148, 149, 152; ders.: 4/1, S. 20. 116 Vilner zamelbukh (2), S. 130, 131. 117 Grade: Der mames shabosim, S. 49; Karpinovitsh: 1/3, S. 53; ders.: 1/6, S. 103, 113; ders.: 1/10, S. 171, 178, 180; ders.: 2/2, S. 27, 34, 37; ders.: 2/10, S. 157; ders.: 3/3, S. 39; ders.: 4/1, S. 20; ders.: 4/4, S. 57, 61. 118 Shik: 1000 yor Vilne, S. 280, 282; Dawidowicz: From that Place, S. 55 f. 119 Grade: Der mames shabosim, S. 224, 240, 246, 249; Karpinovitsh: 1/1, S. 15, 19, 20; ders.: 1/6, S. 104, 108, 115; ders.: 2/10, S. 157; ders.: 3/7, S. 93; ders.: 3/8, S. 112; ders.: 4/1, S. 13; ders.: 4/6, S. 88; ders.: 5/5, S. 76, 82. 120 Vilner zamelbukh (2), S. 137–139.
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Methodische Überlegungen
Zu den von Grade und Karpinovitsh genannten topographischen Elementen gehören Straßen und Orte des Handels sowie verschiedene Gebäude, in denen religiöse und kulturelle Institutionen der jüdischen Gemeinde ansässig waren, aber auch Gärten, Gewässer und Sehenswürdigkeiten der Stadt sowie einzelne Vorstädte. Bezeichnend ist, dass von beiden Autoren nicht nur typisch jüdische Örtlichkeiten genannt werden, sondern auch solche, die keiner bestimmten Nationalität beziehungsweise auch eindeutig der christlichen Bevölkerung zuzuschreiben sind. Anhand dieser topographischen Elemente wird deutlich, wie der Raum des jüdischen Vilne durch die beiden Autoren kommunikativ aufgebaut und als Teil der eigenen Stadtlandschaft deklariert wird. Ebenfalls zeigt sich, dass an einem Ort mehrere Räume existieren können. Für diese Arbeit bedeutet dies, dass das von Grade und Karpinovitsh den verarmten Juden zugeschriebene Vilne räumlich als ein viel größeres Gebiet zu verstehen ist, als der als „jüdisches Viertel“ bekannte Teil der Vilner Altstadt. Auch müssen vermeintliche Grenzen als durchlässig betrachtet sowie die Entstehung von unterschiedlichen jüdischen Räumen als grundsätzlich überall möglich erachtet werden.
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Das jüdische Viertel: äußere Bestandsaufnahme
Architektonische Besonderheiten Das jüdische Viertel im Herzen der Vilner Altstadt wusste durch seine äußere Erscheinung auf sich aufmerksam zu machen. Die hier anzutreffende Architektur und Bauweise – die alten Gebäude, verwinkelten Höfe und gewundenen Straßen – unterschied sich deutlich von derjenigen anderer Vilner Stadtteile und sprach von einer ereignisreichen Geschichte. Es war ein eigentümlicher Ort mit einem besonderen Charakter, der Ortsansässige wie auswärtige Besucher in seinen Bann zog. Ein erstes „Bild“ dieses Vilner Stadtteils vermitteln Fotografien. Im Folgenden sollen deshalb die optischen Eindrücke dreier Straßen des jüdischen Viertels wiedergegeben werden, die aus dem von Leyzer Ran herausgegebenen Bildband „Jerusalem of Lithuania, Illustrated and Documented“, in dem zahlreiche Abbildungen des jüdischen Viertels und der Vilner Altstadt aus der Zwischenkriegszeit zu finden sind, entnommen werden können: 1 Die Fotografien der yidishe gas zeigen eine nur wenige Meter breite und auf beiden Seiten von einem Gehsteig gesäumte Straße, die – mit Pflastersteinen bestückt – sich durch die Altstadt schlängelt. Zu ihren Seiten erheben sich zwei- bis dreistöckige Häuser. Einige von diesen besitzen mit Eisengeländern umfasste Balkone, die weit über die Gehsteige ragen. In den von der yidishe gas zugänglichen Höfen reihen sich Türen und Tore, die mit Holzläden verschlossen werden können. Das Mauerwerk scheint stellenweise brüchig und der Putz blättert von den Wänden. Die Ziegelsteine auf dem Vordach eines Hauses liegen lose und ungeordnet nebeneinander. Die yatkever gas wiederum besticht durch ihre zwei großen steinernen Bögen, die sich über die schmale, mit groben Pflastersteinen besetzte Straße spannen. Ein jeweils tiefes Rinnsal, das stellenweise von Holzplatten überbrückt 1
Die Bildqualität der in dieser Arbeit verwendeten Fotografien genügt nicht immer den höchsten Ansprüchen, aufgrund ihres Aussagewerts erachte ich ihre Verwendung allerdings als unabdingbar. Zur Darstellungsweise jüdischer Lebenswelten in der Fotografie siehe Carol Zemel: Imagining the Shtetl. Diaspora Culture, Photography and Eastern European Jews. In: Diaspora and Visual Culture: Representing Africans and Jews. Hg. von Nicholas Mirzoeff. London 2000, S. 193–206.
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Das jüdische Viertel: äußere Bestandsaufnahme
Abb. 2: Die yidishe gas.
Abb. 3: Leyb-Leyzers hoyf auf der yidishe gas.
wird, trennt die sich leicht windende Straße von ihren schmalen Gehsteigen. Auch hier haben die uneinheitlichen Häuserfronten zwei bis drei Etagen. Einzelne Balkone mit filigranen Geländern ragen über die im Schatten liegende yatkever gas. Türen und Tore sind mit Holzläden versehen, ebenso wie die im Erdgeschoss liegenden Fenster. Der Blick in einen Hof zeigt kleine Holzanbauten, die mehr Wohn- oder Geschäftsraum versprechen. Eine steinerne Außentreppe, die ins erste Obergeschoss führt, wird von einem Blechdach geschützt. Auch die glezer gas ist eine schmale, mit Pflastersteinen ausgelegte Straße, die rechts und links von schmalen Gehsteigen gesäumt wird. Über sie spannt sich der dritte steinerne Bogen des jüdischen Viertels über eine Häu-
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serschlucht und zieht den Blick auf die hinter ihm sichtbar werdenden Fassaden. Die Häuser sind wiederum zwei- bis dreistöckig, doch sind keine Balkone zu sehen. In einen der Höfe gelangt man durch einen mit einer Tür versehenen riesigen Holzbretterzaun, der den Weg frei gibt in ein schmales Gewölbe, das in einen weiteren Hof führt. Hier stützt eine Art Holzgerüst die über ihm angebrachte Architektur. Zahlreiche Türen und Fenster gehen zum Hof hinaus und eine Treppe führt zu einer über ihr liegenden Holzgalerie. Die hier beschriebenen drei Straßen bilden zusammen mit den sie säumenden Häusern und Höfen eine bauliche Einheit. Der schlechte Zustand der Straßen, 2 Häuser und Höfe zeigt dem Betrachter, dass die in vielen Stadtteilen vorangegangenen Mo- Abb. 4: Die yatkever gas. dernisierungsarbeiten diesen Teil der Vilner Altstadt noch nicht erreicht haben. Hier dominieren das architektonische Allerlei und der nicht aufzuhaltende Zerfall. Gerade der Blick hinter die von den Straßen zugänglichen Häuser hinein in die Höfe zeigt eine chaotisch und wenig geplant wirkende Welt aus marodem Mauerwerk, Treppen, Balkonen, Galerien, Fenstern, Türen und Toren. Erwähnung findet der architektonische Reiz des jüdischen Viertels bei auswärtigen Besuchern wie Paul Monty, 3 der in seinem Stadtführer über Vilne die 2
3
1938 waren in Vilne etwa die Hälfte aller Straßen befestigt, wobei davon nur die schönsten und grössten eine glatte Oberfläche aus Asphalt oder Beton hatten. Die Geschäftsstraßen des Stadtzentrums waren mit Steinplatten belegt; die engen Straßen des jüdische Viertels, Höfe und Durchgangswege, aber auch sämtliche Straßen der Außenquartiere waren gepflastert. Dawidowicz: From that Place, S. 55. Der deutsche Soldat Paul Monty war während des Ersten Weltkriegs in Vilne stationiert und schrieb einen Reiseführer über Vilne, der 1916 von der Wilnaer Zeitung publiziert wurde.
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Abb. 5: Ein Hof auf der yatkever gas.
Architektur des jüdischen Viertels beschreibt und dabei die niedrigen Torwege, die die Sicht in die Höfe auf winklige Freitreppen, überhängende Dächer, hohe Giebel und bunt gestrichene Wände freigeben, erwähnt. 4 Der in Weißrussland geborene Fotokünstler Moshe Vorobeichic (1904–1995) wiederum, der zunächst in Vilne Malerei studierte, 1927 ans Bauhaus in Dessau wechselte und später in Paris Fotografie studierte, veröffentlichte 1931 ein Buch mit dem Titel „Ein Ghetto im Osten“. Darin enthalten sind verschiedene Fotocollagen, die das traditionelle Judentum Vilnes zeigen. Der von Chneour geschriebene Einleitungstext verspricht dem Leser „Reste des Mittelalters“ sowie architektonische Besonderheiten: „Im Spiel von Licht und Schatten aller Nuancen erscheinen Gewölbe von uralter Architektur, vergitterte Fenster, Kellerwohnungen, Synagogen, Wände, Hoftore und Ladentüren, stille Winkel.“ 5 Auf diese baulichen Eigentümlichkeiten des jüdischen Viertels kommt auch Lucy Dawidowicz in ihren Memoiren zu sprechen:
4 5
Paul Monty: Wanderstunden in Wilna. 2. Aufl. Wilna 1916, S. 13. M. Vorobeichic: Ein Ghetto im Osten. Wilna. Eingeleitet von S. Chneour. Zürich 1931, S. 5.
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„Access to buildings was usually through an inner courtyard. From the street one passed through an archway with a pair of wooden doors or iron gates, into the courtyard. In the yard I was often bewildered by the numerous doorways and stoops of the buildings which formed the three sides of the yard. In the older parts of the Jewish quarter the yards were cobbled, dirty, and run-down.“ 6
Die äußerlichen Besonderheiten des jüdischen Viertels wurden jedoch nicht nur von Ortsfremden als „beschreibenswert“ erachtet, sondern auch von einzelnen Vilner Juden selbst. So finden die Straßen und Häuser des jüdischen Viertels Erwähnung in verschiedenen Gedichten, die von Vilner Künstlern vor dem Zweiten Weltkrieg verfasst worden sind. Im Gedicht „Tsu Vilne“ etwa preist A. Y. Goldshmidt die krummen Straßen, Gassen und Gässlein, die sich Abb. 6: Die glezer gas. wie ein Labyrinth durch das mittelalterlich aussehende Häusermeer des jüdischen Viertels schlängeln: „Geboyte on a plan un on a shnit, on seder [Ordnung], gants tsufelik un on baputsung [Ornament] … keyn shum [kein] simetrye – un dokh vi vunderlekh harmonish!“ 7
Der noch junge Grade wiederum, der in den 1930er Jahren zusammen mit seiner Mutter in einem Hof auf der yatkever gas wohnte, beschreibt in dem Gedicht „Yatkever gas“ eindrucksvoll das charakteristische Äußere dieses Ortes:
6 7
Dawidowicz: From that Place, S. 58. Yidishe Vilne in vort un bild, S. 16–29, hier S. 16.
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Das jüdische Viertel: äußere Bestandsaufnahme „Nor hinterhoyfn zaynen shoyn fun fintsternish gekrokhn, gebaydes hobn zikh fun nakht aroysgebisn, gekletert hot a trep oyf hoyler vant, zikh ayngebrokhn un, vi a sreyfe-leyter [Feuertreppe], vayter zikh gerisn, un a balkon hot do bay eynem do baym tsveytn shokhn [Nachbar] arayngekukt – un epes zikh gevolt dervisn [beweisen] … farplontert [verheddert] hobn zikh di boydimer [Dachstuhl], di dekher, un, in behole [Aufruhr] nit gedenkt tsu vemen zey gehern, gevorgt [würgen] zikh on luft, un zikh gedrapet [hochziehen] hekher, tsekvetsht in panik vaser-rern – un fun ale velbungen, fartifungen un lekher, hot opgefleytst [verebben] di nakht in shmutsik-groye trern [Tränen].“ 8
In diesem Gedicht schildert Grade den Hof auf der yatkever gas als einen geheimnisvollen Ort, in dem die verschiedenen baulichen Details – wie eine Treppe oder eine Galerie – nicht starre Elemente sind, sondern – lebenden Wesen gleich – sich unaufhörlich bewegen. Im Unterschied zu Goldshmidt, der in seinem Gedicht das jüdische Viertel trotz aller Unordnung als „harmonisch“ bezeichnet, erscheint in Grades Gedicht der Hof mit seiner Vielzahl von architektonischen Details als ein Ort der Unruhe, von dem eine fast unheimliche Atmosphäre ausgeht. Diese detaillierte Beschreibung der Architektur nimmt – anders als in den Erzählungen Karpinovitshs, der kaum die Äußerlichkeiten des jüdischen Viertels erwähnt – auch in Grades Prosa eine zentrale Stellung ein. Darin werden die architektonischen Besonderheiten durch den Autor so genau nachgezeichnet, dass sich für den Leser das jüdischen Viertel fast plastisch vor Augen erhebt: „Di vant gufe [selbst] in ir gantser breyt un heykh hot nit keyn eyn fentster un zet oys a toybshtume, a blinde. Nakete tsigl un shvarts vi di nakht. Vos zhe shteyt zi do, di vant, un tsamt op [abschirmen] Rameyles hoyf fun der gantser velt?“ 9
Indem Grade hier die Architektur in ihrer Materialität beschreibt, erscheint sie als etwas Imposantes, ja Bedrohliches. Das Mauerwerk ist nicht da, um den Bewohnern Schutz zu bieten, sondern um sie in der steinernen Welt der Höfe festzuhalten, einzuschließen und ihnen die Sicht in die Weite zu versperren. Dies ist jedoch nur ein Aspekt der baulichen Gegebenheiten des jüdischen Viertels. In seinen Texten zeigt Grade ebenfalls, dass sich demjenigen, der seinen Blick etwas länger auf diesem Ort ruhen lässt, die Häuser und Höfe in all 8 9
Shik: 1000 yor Vilne, S. 164. Grade: Di kloyz un di gas (1), S. 28.
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ihrer Vielfältigkeit offenbaren: Einzelheiten werden sichtbar, die sich nicht als starre Elemente einer leblosen Architektur präsentieren, sondern sich dehnen und spielerisch strecken und dadurch unmittelbar Verwirrung stiften. Dies verdeutlicht das Beispiel von Baylke, die eines Abends aus ihrer Dachkammer in Rameyles hoyf unweit der yidishe gas aus dem Fenster blickt: „Zi muz zikh vundern: vi azoy tsefalt zikh es nit ot [hier] der geplonter [Durcheinander] fun trep, balkonen, slupes [Pfosten] un dekher? Zey krikhn eyner iber di andere, vi untn volt geven a sreyfe [Feuer], zey zeen oys vi knoyln roykh, vos hobn zikh oyf a rege [Augenblick] farvandlt in boydem-shtiblekh [Dachkammer], un oykh zi, Baylken, aroyfgetrogn hoykh, hoykh. (…) An eyzerner leyter drapet zikh [sich einritzen] oyf a blinder vant un ken nit derkletern tsum shmoln tirl baym same [selbe] dakh. (…) Der tink [Farbe] fun a moyer-vinkl iz opgeshprungen un di opgedekte royte tsigl zeen oys vi gefroyrene shtiker roye [roh] fleysh. Blekhene vaserrern viklen zikh iber di vent, hengen arop, vi shlangen fun tsveygn mit oyfgerisene meyler. A koymen [Kamin] hot oysgetsoygn zayn langn farshvartstn haldz un kukt mit kine [Neid] oyf di veyte tsepinklte gvirishe [herrschaftlich] dekher mit di veys gekalkhte baykhike [dickbäuchig] koymens.“ 10
In diesem Bild von Rameyles hoyf macht die Vielzahl der architektonischen Details – die Treppen, Balkone, Pfosten, Dächer, Leitern, Mauern, Wasserröhren und Kamine – den äußeren Reiz des Ortes aus. Dabei verleiht die organische Beschaffenheit der einzelnen Elemente sowie deren scheinbare Lebendigkeit dem äußeren Anschein von Rameyles hoyf etwas Phantastisches und macht diesen Winkel des jüdischen Viertels zu einem fast surrealen Ort. Etwas anders als die profanen Bauten lässt Grade wiederum die kleinen steinernen Gebetshäuser des shulhoyf erscheinen. Diese nehmen stellenweise eine geradezu menschliche Gestalt an und vermitteln den Anschein, als könnten sie die Vorgänge in ihrer Umgebung wahrnehmen: „[F]un di gebaydes krikhn shotns eyner kegn andern, biz zey betn oys [einbetten] dem shul-hoyf mit samet-bloye, veykhe tepikher. Di shulkhlekh [kleine Synagogen] farraysn di kep in di mokhike [moosig] yarmulkes (…) un mit krume besmedresh [Gebets- und Lehrhaus] fentsterlekh kukn zey, tsi [ob] es bavayzt zikh [sich zeigen] shoyn nit der goldener opglants fun sunoyfgang“. 11
Eine ähnliche Veränderung des äußeren Erscheinungsbilds ist im jüdischen Viertel an den religiösen Feiertagen zu verzeichnen, wo die sonst eher triste Architektur in einem neuen Licht erscheint: 10 Ders.: Der mames shabosim, S. 69. 11 Ders.: Der shulhoyf (1), S. 70.
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Das jüdische Viertel: äußere Bestandsaufnahme „Dos gesele mit di farlodnte [abeschlossen] kleytlekh [Laden] glivert in der bloyer shtilkeyt, shteyt mit farmakhte [geschlossen] oygn vi bay shimenesre [18 Segenssprüche, die in den drei Gebeten am Tag gesprochen werden]. Mokhik-hoykerdike [moosbedeckt-krumme] dekhlekh zeen oys vi geboygene pleytses [Rücken] fun berdike yidn vos shtupn [stoßen] zikh hern a maged [Prediger], un oykh di bruk-shteyner [Pflastersteine] glotsn tsum himl mit farfrumte farshpitste [schlau] penemer [Gesichter]. A dray-kantik boydemfentster farrayst dem kop tsu du bloye heykhn [hier: Himmel], vi a zokn [alter Mann] in a hoykher yarmulke volt gezukht a shtern men zol shoyn megn davnen [beten] mayrev [Abendgebet] un tseyln sfire [das Zählen der 49 Tage zwischen Pessach und Schavut].“ 12
Es ist der religiöse Kontext, in dem hier die steinernen Gebäude und das jüdische Viertel insgesamt ihr kaltes Äußeres verlieren und wärmere – „menschlichere“ – Züge aufweisen. Nur in diesem Zusammenhang werden aus eben noch düster aussehenden Hausdächern „gekrümmte Rücken gläubiger Juden“ und aus schmutzigen Pflastersteinen „fromme Gesichter“. Damit scheint Grade anzudeuten, dass ungeachtet seiner tatsächlichen äußeren Beschaffenheit das jüdische Viertel eine Schönheit besitzt, die jenseits des optischen Eindrucks, in der „Frömmigkeit“ des Ortes, zu finden ist.
Eine Welt aus Stein Neben seinen charakteristischen baulichen Eigenheiten zeichnet das jüdische Viertel sich auch dadurch aus, dass es in seiner Mitte nichts Grünes gibt. Vergeblich suchte man hier Bäume, Blumen oder gar kleinere Grünflächen. Diesen Mangel an Natur stellt auch Lucy Dawidowicz fest: „You never saw a tree or any greenery in the Jewish quarter.“ 13 Die Gründe für das Fehlen jeglicher Form von „Grün“ im jüdischen Viertel sind vielfältig. Zum einen war dieser Ort einer der am dichtesten bebauten Teile der Vilner Altstadt, wo jede noch so kleine Fläche – insbesondere in den Höfen – als zusätzlicher Wohn- oder Geschäftsraum genutzt wurde. Ein weiterer Grund, weshalb keine Blumenbeete oder auch nur Blumentöpfe die Höfe schmückten, wird in Grades Memoiren angedeutet. Darin schildert der Autor im Kapitel „Der gortn“, wie er sich als Junge dazu entschloss, „seinen“ Hof auf der yatkever gas etwas zu begrünen und deshalb – sehr zum Entsetzen seiner frommen Mutter und der Nachbarn – Blumen in einem Kasten anpflanzte. 12 Ders.: Der mames shabosim, S. 17. 13 Dawidowicz: From that Place, S. 58.
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Eine Welt aus Stein
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Seine Mutter kommentierte das Vorhaben ihres Sohnes mit den Worten: „Itst bistu gevorn a poyer mit a gortn.“ 14 Diese Äußerung Vella Grades verdeutlicht, dass im Selbstverständnis des traditionellen Judentums Erdarbeit als eine Beschäftigung der Nichtjuden betrachtet wurde. Hinzu kommt, dass den frommen Juden das Bewässern von Pflanzen am Sabbat verboten war und es sich daher aus deren Sicht nicht lohnte, Zeit und Kraft in pflegebedürftige Pflanzen zu investieren. Grades Versuch, seine unmittelbare Umgebung zu begrünen, weist nachdrücklich auf das karge Äußere des jüdischen Viertels. Dieser Umstand wird seitens des Autors an verschiedenen Stellen angesprochen. Als ein besonders öder und fast unwirklich erscheinender Ort präsentiert sich im Folgenden Leyb-Leyzers hoyf: „In halb-shteynernem un halb-hiltsernem Leyb-Leyzers hoyf iz nit gevaksn keyn beyml, keyn grezl. Men hat dort gekent fargesn az s’iz friling oyf der velt un az dos vayse blyekhts [Blüten] fun di beymer is shoyn opgefaln.“ 15
So wie Leyb-Leyzers hoyf strahlte auch Grades Hof auf der yatkever gas eine steinerne Kälte aus: „Der hoyf iz a hiltserner kastn, di eyntsike grinkeyt iz der shiml oyf di dekher.“ 16 Die Bezeichnung „hölzerner Kasten“ kann hier als Metapher für einen Sarg verstanden werden, mit der Grade darauf hinweist, wie geradezu „lebensfeindlich“ das jüdische Viertel in seiner äußeren Beschaffenheit von den Bewohnern wahrgenommen wurde. Der Mangel an Natur im jüdischen Viertel fällt besonders vom Lande zugezogenen Menschen auf. Zu diesen zählt auch die aus einem Dorf nahe der russischen Grenze stammende junge Schneiderin Baylke, die seit einiger Zeit in Rameyles hoyf wohnt und im Folgenden die neue Umgebung mit ihrer zurückgelassenen Heimat vergleicht: „In Gluboke zaynen arum un arum felder, velder un teykhn [Seen]. Es geyt tsu sumer, un do durkhn fentster ze ikh nor opgekrokhene [rissig] gele vent, boydemer [Dachstühle] un shvartse koymens [Schornsteine], nit keyn zun un nit keyn himl.“ 17
Ähnlich wie Baylke stellt auch der in der Stadt aufgewachsene Grade nach der Rückkehr aus seiner in einem Schtetl unweit von Vilne gelegenen Jeschiwa
14 15 16 17
Grade: Der mames shabosim, S. 12. Ders.: Di kloyz un di gas (2), S. 70. Ders.: Der mames shabosim, S. 11. Ebd., S. 103.
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wehmütig den Unterschied zwischen dem jüdischen Viertel und dem von der Natur umgebenen Schtetl fest: „Un mikh tut a tsi tsurik [sehnen] in shtetl tsu der yeshive. Durkh di fentster fun dortikn besmedresh [Gebets- und Lehrhaus] zet men vinter-tsayt a hoykhn himl, tsefinklte shney-felder, a tunklbloyer vald un a gefroyrenem zilbernem teykh, vos ringlt arum dos shtetl fun ale zaytn.“ 18
Die Kargheit des jüdischen Viertels, auf die Grade in seinen Texten immer wieder hinweist, findet in Karpinovitshs Erzählungen keine Erwähnung. Nichtsdestotrotz lässt sich auch anhand seiner Texte erahnen, dass an diesem Ort die Natur vergeblich zu suchen war. Dies geschieht, indem der Autor an verschiedenen Stellen auf den – von Grade nicht erwähnten – einzigen Baum im jüdischen Viertel aufmerksam macht: „Der eyntsiker boym oyf yidishe gas, hinter Velfkes restoran, hot aribergekukt ibern parkan [Zaun] mit a halb-naketer tsveyg.“ 19 Diese Hervorhebung eines einzelnen Baumes weist indirekt auf das Fehlen weiterer Bäume in diesem Teil der Vilner Altstadt hin. Auf das nicht vorhandene Grün deutet der Autor ebenfalls, indem er die Schönheit der Natur außerhalb Vilnes betont und diese Orte als Kontrast zum jüdischen Viertel erscheinen lässt: „Lomir zikh vider a mol dermonen [erinnern] dem veg mitn breg [Ufer] fun der vilye keyn [Richtung] Karolinke. Dort hot zikh far undzere oygn oysgeleygt a griner tepekh fun felder un velder, durkhgevebt mit shmole teykhlekh (…) un blumen oyf blumen. (…) in ire velder un oyf ire lonkes [Wiesen] hobn gefunen zeyer heym [Zuhause] shneyhiner un shvartse bushlen [Störche], falkn, shvalbn, tsitereklekh [Bachstelzen] un poshete shperlen [Sperlinge].“ 20
Ein Blick über das jüdische Viertel hinaus Das architektonische Gesamtbild, die bauliche Substanz sowie der Mangel an Grün machten das jüdische Viertel zu einem einzigartigen Stadtteil Vilnes, der in starkem Kontrast zu weniger dicht bebauten und neueren Vierteln stand. In welcher Form sich diese vom jüdischen Viertel unterschieden, davon zeugen wiederum die Fotografien aus Rans Bildband „Jerusalem of Lithuania, Illustra18 Ebd., S. 24. 19 Karpinovitsh: 1/8, S. 142; siehe auch ders.: 3/6, S. 86; ders.: 4/6, S. 95; ders.: 5/3, S. 44 f. 20 Ders.: 3/10, S. 153.
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Ein Blick über das jüdische Viertel hinaus
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Abb. 7: Die breyte gas.
ted and Documented“. Zu sehen ist dort beispielsweise die von einem großzügig angelegten Platz wegführende breyte gas, die zu beiden Seiten mit Geschäften, Läden und Kinos gesäumt ist. Die Gehsteige sind so breit, dass mehrere Menschen nebeneinander gehen können. Die Straße selbst scheint hell und offen und schlängelt sich Richtung Fluss. Die Gebäude entlang der mit Bäumen bestückten Adam Mickiewicz-Straße wiederum bestechen durch ihre architektonische Vielfalt. Es sind prächtige, reich verzierte Häuser und Paläste, davon viele mit massiven Balkonen. In unmittelbarer Nachbarschaft herrschaftlicher Paläste auf der großen pohulianke schließlich zeigt sich das höchste Gebäude Vilnes – das siebenstöckige Verwaltungsgebäude der Eisenbahn. Die Vilner Behörden waren seit den 1920er Jahren darum bemüht, die ältesten Stadtteile zu sanieren und zu modernisieren. 21 So wurden in der Zwischenkriegszeit ganze Straßenzüge einer gründlichen Erneuerung unterzogen. Zu diesen gehörte beispielsweise die zavalne gas, unweit des jüdischen Viertels. 21 Siehe dazu: Anna Veronika Wendland: „Europa“ zivilisiert den „Osten“: stadthygienische Interventionen, Wohnen und Konsum in Wilna und Lemberg 1900–1930. In: Wohnen in der Großstadt 1900–1930. Wohnsituation und Modernisierung im europäischen Vergleich. Hg. von Alena Janatková und Hanna Kozin´ska-Witt. Stuttgart 2006, S. 271–295 sowie Kapitel Die bauliche Substanz des jüdischen Viertels.
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Abb. 8: Die Adam Mickiewicz-Straße.
Bis zum Ersten Weltkrieg hatte sie den Ruf einer wenig vornehmen Straße. Dies ist dem Gedicht „zavalne gas“ von Leyb Naydus (1890–1918) zu entnehmen, der darin dieselbe als eine schmutzige Straße mit dreckigen Rinnsalen beschreibt, von denen ein übler Duft ausgeht. Zu sehen seien dort vorbeijagende Menschen, fluchende Kutscher, gefährlich fahrende Autos und Scharen von Gassenjungen.22 Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die zavalne gas zu einer prächtigen Straße mit verputztem Mauerwerk und ebenen Pflastersteinen umgestaltet. Sie war breit, hatte elektrisches Licht und präsentierte sich mit von Bäumen gesäumten Gehsteigen. 23 Dass die Häuser und Wohnviertel jenseits des jüdischen Viertels der Vilner Altstadt ein ganz anderes Aussehen hatten, zeigt Grade in seinen Texten, indem er einzelne Protagonisten hinaus in andere Stadtteile führt, wo herrschaftliche Häuser, viel Licht und Grün die augenfälligsten Merkmale der urbanen Landschaft sind. Im Folgenden präsentiert sich dem Polsterer Moyshele Munvas, der in der Enge von Leyb-Leyzers hoyf zuhause ist, auf einem Spaziergang quer durch die Stadt eine ganz andere Umgebung:
22 Shik: 1000 yor Vilne, S. 134, 138–139. 23 Grade: Di kloyz un di gas (3), S. 174.
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Ein Blick über das jüdische Viertel hinaus
Abb. 9: Die pohulianke.
Abb. 10: Das Eisenbahngebäude auf der pohulianke.
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Das jüdische Viertel: äußere Bestandsaufnahme „Er iz vayter gegangen farbay dem mark vu men farkoyft alt mebl, biz di gasn zaynen gevorn breyter, der mentshn-shtrom – shiterer. Er hot zikh vider arayngedreyt in a gvirisher [herrschaftlich] shtiler gas (…). Di fir-finf-shtokike moyern oyf der gas hobn gehat groyse likhtike firekike fentster un reyen balkonen, bashtelt mit a sakh blumentep. S’iz geven di lengste teg fun yor, in khoydesh [Monat] tamez, un di zun iz nokh geshtanen hoykh in mayrev [Westen]. Di moyern oyf eyn zayt gas hobn geloykhtn mit gingold [feines Gold], beys di moyern fun kegniber hobn gefinkelt mit a bloylekher vayskeyt [Weisse]. (…) Do ober hobn di trotuarn geblankt reyngevashene, der shteynbruk [Bürgersteig] – a gut-geflasterter, a glaykher, di beymer [Bäume] hobn oysgezen vi farflantste, arumgeshorene un tsugeputste.“24
Es sind die schönen, gepflegten Häuser, die sauberen, ebenen Straßen sowie die Stille und das Fehlen der Geschäftigkeit, die Moyshele Munvas im Vergleich zum jüdischen Viertel auffallen. Besonders augenfällig ist die Begrünung, die er auf seinem Spaziergang in Form von Blumentöpfen und zurechtgestutzten Bäumen vorfindet. Um allerdings etwas Natur zu sehen, hätten sich die Bewohner des jüdischen Viertels gar nicht allzu weit von ihrem Stadtteil entfernen müssen: Bereits wenige Schritte vom shul-hoyf entfernt, beim Klosterhof auf der daytshe gas, lag ein gepflegter kleiner, von zurechtgestutzten Hecken umgebener Garten mit einer Bank in der Mitte. 25 Und auch auf der shlos gas, bei den Häusern des polnischen Bürgertums, leuchtete hinter den Zäunen das Grün der Gärten hervor. 26 Grades Texte vermitteln den Eindruck, als sei es vornehmlich die Welt der Nichtjuden, in der die Natur ihren Platz behaupten konnte. Dies stimmt jedoch nur im Hinblick auf das jüdische Viertel der Altstadt, denn die Memoiren einzelner Vilner Jüdinnen zeigen, dass beim jüdischen Bürgertum, das in moderneren Stadtteilen wohnte, Blumen und Gärten ebenso vorzufinden waren wie bei den Nichtjuden. So erinnert sich etwa Esther Hautzig an den Flieder im Garten ihrer Eltern 27 und auch Henia Brazg erzählt vom Garten der Familie, in dem Gemüse, Obstbäume und Blumen wuchsen: „My mother, who was a very keen gardener, took great pride in the flowers she cultivated, particularly her roses.“ 28
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Ders.: Di kloyz un di gas (2), S. 101 f. Ders.: Der shulhoyf (1), S. 10. Ders.: Di kloyz un di gas (2), S. 144. Hautzig: Remember who you are, S. 35. Brazg: Passport to Life, S. 9 f.
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Ein Blick über das jüdische Viertel hinaus
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Insgesamt ist das Bild, das Grade von der äußeren Beschaffenheit des jüdischen Viertels zeichnet, ein ambivalentes. Nüchtern betrachtet drohen die dicht nebeneinander gebauten Häuser und schmalen Straßen die Bewohner einzuschließen und zu erdrücken. Aufgrund seiner baufälligen, improvisiert und in sich verwachsen wirkenden Architektur erscheint es gleichzeitig als ein geheimnisvoller, ja phantastischer Ort, der seinesgleichen in ganz Vilne nicht findet. Im religiösen Kontext wiederum zeigt das jüdische Viertel seine freundliche Seite und die sonst trist aussehenden Gebäude nehmen – ihren frommen Bewohnern gleich – eine feierliche Haltung ein. Unterstrichen wird das etwas trostlose Äußere des jüdischen Viertels durch das Fehlen jeglicher Art von Grün – ein Umstand, der einerseits durch die räumlichen Gegebenheiten des Ortes bedingt ist, sich andererseits aber auch mit der auf religiösen Vorschriften ruhenden Einstellung der Bewohner erklären lässt. Dass den Juden Vilnes nicht grundsätzlich eine Beziehung zur Natur fehlte, haben wiederum einzelne Memoiren des jüdischen Bürgertums gezeigt. Die Einzigartigkeit des jüdischen Viertels, die bereits bei der Betrachtung desselben offenkundig ist, wird in den Texten im Vergleich mit anderen Vilner Stadtteilen zusätzlich unterstrichen. In diesen werden die engen, staubigen, dunklen Straßen und die baufälligen Gebäude und Höfe abgelöst durch breite, saubere und lichte Straßen mit schönen Häusern und Palästen. Bäume, Gärten und Blumen verschönern den Anblick dieser Orte und verweisen auf die die Stadt umgebende üppige Natur, die sich in den Wäldern, Flüssen, Seen und Feldern manifestiert. Während Grade ausführlich auf das äußere Bild des jüdischen Viertels eingeht, vernachlässigt Karpinovitsh den optischen Eindruck dieses Ortes fast gänzlich. Die Gründe dafür sind nicht offensichtlich. Neben einer persönlichen Präferenz des Autors mag es auch daran liegen, dass Karpinovitsh in seinen jeweils relativ kurzen Erzählungen die Handlung in den Mittelpunkt stellen will und deshalb von detaillierten Beschreibungen der Umgebung – wie das Aussehen einer Straße oder eines Hauses – absieht. Im Gegensatz dazu räumt Grade in seinen Romanen und Erzählungen der Beschreibung der Handlungskulissen grundsätzlich mehr Platz ein und versucht so, anhand der Architektur nicht nur die konkrete räumliche Beschaffenheit des jüdischen Viertels auszudrücken, sondern auch physisch nicht greifbare Stimmungsbilder.
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Das jüdische Viertel als Wohnort der Vilner Juden
Der unter dem Namen „jüdisches Viertel“ bekannte Teil der Altstadt war der Ort, an dem sich die ersten Juden Vilnes niedergelassen hatten. Zu welchem genauen Zeitpunkt die erste jüdische Gemeinde entstand, ist nicht eindeutig belegt. Während einige Autoren ihre Anfänge ins 14. Jahrhundert datieren, sehen andere erst die Gründung des jüdischen Friedhofs 1487 als Beleg für die Existenz einer Gemeinde. Fest steht, dass die im Polnisch-Litauischen Reich herrschende Toleranz den Juden die Niederlassung in der Stadt erleichtert hat und ihnen dort – mit wenigen Unterbrechungen – von den jeweiligen Herrschern das Recht gegeben wurde, in bestimmten Straßen zu wohnen, Handel zu treiben und ihre religiösen Bräuche einzuhalten. 1 Im Jahr 1633 gab Władislaw IV (1595–1648), König von Polen und Großfürst von Litauen, den Juden eine Charta, die es ihnen erlaubte, in der yidishe gas, der yatkever gas sowie dem Mikolay gesl zu wohnen und die dortigen Häuser zu erwerben. Aufgrund der kontinuierlich wachsenden jüdischen Bevölkerung waren jedoch die Wohnkapazitäten innerhalb dieses begrenzten Gebiets bald ausgeschöpft. Aus Mangel an Raum entstanden so mit der Zeit zwischen der yidishe gas und der yatkever gas zahlreiche Verbindungswege – die von den Bewohnern so genannten „Durchhöfe“, wo jeder noch so kleine Winkel als Wohn- oder Geschäftsraum genutzt wurde. 2 Bereits im Jahr 1690 wohnten in den drei Straßen 227 jüdische Familien, während zur selben Zeit etwa gleich viele jüdische Familien außerhalb dieses Gebiets lebten. 3 Letztere hatten in den an das jüdische Viertel angrenzenden Straßen Häuser von Notabeln und Priestern erworben und unterstanden der Rechtsprechung der Stadt oder der Bischöfe. Zu diesen Straßen, die bereits Ende des 18. Jahrhunderts fast ausschließlich von Juden bewohnt und dadurch auch als Teil des jüdischen Viertels angesehen wurden, zählten beispielsweise die daytshe gas und die rudnitsker gas. 4
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Minczeles: Vilna, Wilno, Vilnius, S. 34. Cohen: Vilna, S. 91, 92. Encyclopaedia Judaica. 16 Bde. Jerusalem 1971–1972, Bd. 16, S. 139. Cohen: Vilna, S. 91,92, 98.
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Sämtliche Restriktionen, die die Wohnrechte der Juden beschränkten und auf ein bestimmtes Gebiet der Stadt festlegen wollten, wurden im Reformzeitalter Zar Alexanders II. 1861 aufgehoben. Vor allem wohlhabende Familien verließen in der Folge das beengte jüdische Viertel, um in moderneren Stadtteilen unter angenehmeren Bedingungen zu leben. 5 In der Zwischenkriegszeit bewohnten deshalb die Vilner Juden sämtliche Stadtteile: das jüdische Viertel inmitten der Altstadt, die neueren, an den Altstadtkern angrenzenden Stadtteile sowie die Vorstädte, die die Stadt kreisförmig umgaben. 6
Vilner Hinterhöfe In den Texten von Grade und Karpinovitsh ist es vor allem das jüdische Viertel inmitten der Vilner Altstadt mit seinen engen, gewundenen Straßen und den düsteren, baufälligen Gebäuden, das als Wohnort der jüdischen Kleinhändler, Handwerker und Arbeiter, der Verarmten und Unterprivilegierten beschrieben wird. Die zwei- bis dreistöckigen Häuser, die diese Menschen bewohnten, waren in mehrere Wohneinheiten unterteilt. Den Besitzern der Häuser – Privatpersonen oder auch die jüdische Gemeinde – bezahlten die Bewohner dafür monatlich Miete. 7 Mehrere solcher Häuser, die an einen gemeinsamen Hof angrenzten, bildeten eine Art Mikrokosmos, wie etwa Peseles hoyf auf der glezer gas oder Rameyles und Leyb-Leyzers hoyf auf der yidishe gas. Hier, von den geschäftigen Straßen etwas zurückgesetzt, spielte sich der Alltag der Menschen ab: „In zumerdikn mitn tog [Mittag] iz in Leyb-Leyzers hoyf a gelyarem [Lärm] fun kinder un dervaksene, a skripenish [Zuschlagen] fun tirn, a blendenish fun zunshtraln.“ 8 Bei schönem Wetter saßen die Bewohner auf den Treppen, Galerien und Veranden, verrichteten eine Arbeit, schwatzten und passten auf die Kinder
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Minczeles: Vilna, Wilno, Vilnius, S. 211. Kassow: The Uniqueness of Jewish Vilna, S. 154. Vermietet wurden nicht nur die Erd- und Obergeschosse, sondern auch die bis zu zwei Stockwerke tiefen Kellergeschosse. Zu den Wohnungen in den unteren Etagen gelangte man gewöhnlich über ein Vorhaus oder eine Veranda, und zu den höher gelegenen Wohnungen führten Treppen mit einem Geländer. Die Kellergewölbe selbst waren über glitschige Holztreppen vom Hof aus zugänglich. Klausner: Geshikhte fun der yidischer kehile, S. 73. Grade: Di kloyz un di gas (2), S. 45.
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auf. 9 Dieses rege Treiben in den Höfen der Häuser herrschte nicht nur an den Werk-, sondern auch an den Feiertagen: „Der hoyf shvimt in a bloyer tunklkeyt, vi di nakht volt oysgeshpreyt a samet oyf di dekhlekh, oyf di ganikes [Veranda] un krumen bruk [Pflasterstein]. Tirn un fentster shteyen ofn, oystsukiln di dushnkeyt [Hitze] fun di shtiber, di hits fun oyvns un plites [Herdplatte] (…). Di eltere ongehorevete [überarbeitet] bale-bostes [Hausherrinnen] zaynen ayngeshlofn, di yingere ober geyen aroys oyfn hoyf opkhapn [‚schnappen‘] dem otem. (…) Shteyt men in redlekh [Kreis], men shmuest [schwatzen] un men lakht, men shpatsirt fun ganik tsu ganik.“ 10
Aus den Beschreibungen Grades wird ersichtlich, dass die Menschen sowohl unter der Woche wie auch an den Feiertagen ihren privaten Wohnraum hinaus in die öffentlichen Höfe ausweiteten und sie wie eine Art Wohnzimmer für sich benutzten. Durch diese Inanspruchnahme der Höfe seitens der Mieter vermischten sich die Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Raum. Hier kannte jeder jeden; neben nachbarschaftlicher Hilfe, die selbstverständlich geleistet wurde, herrschte auch eine gegenseitige soziale Kontrolle, der sich niemand entziehen konnte. Kleinere Konflikte waren deshalb unter den Bewohnern eines Hofes nicht selten. 11 Die Tatsache, dass die Bewohner bei gutem Wetter viel Zeit draußen in den Höfen verbrachten, hatte neben sozialen Motiven sicherlich auch damit zu tun, dass die Wohnungen nur über wenig Platz verfügten. Letztere waren nämlich im jüdischen Viertel aufgrund der vielen Menschen und dem nur begrenzt zu Verfügung stehenden Wohnraum eher klein. Doch unabhängig davon konnten sich die Menschen auch keine größeren Wohnungen leisten – wer dazu in der Lage war, verließ gewöhnlich das jüdische Viertel. Wie wenig Platz den einzelnen Familien zustand, zeigen die Worte von Ben-Zion Dniur, einem jungen Zionisten, der Vilne um die Jahrhundertwende besucht hatte: „I remember a semi-cellar ‚apartment‘ I saw, when a group of us, young people visited Vilna shortly after the turn of the century. It consisted originally of two rooms and a
9 Ders.: Der shtumer minyan, S. 18; ders.: Di kloyz un di gas (2), S. 75; ders.: Der mames shabosim, S. 231. 10 Ders.: Di kloyz un di gas (2), S. 89. 11 So konfrontieren beispielsweise die Bewohner von Leyb-Leyzers hoyf einen ihrer Nachbarn, der ein Verhältnis mit einer Frau hat, und ermahnen ihn, dass sich ein solches Benehmen nicht für einen jung verheirateten Mann zieme und in einem respektablen Hof nicht geduldet werden könne. Ebd., S. 76, 77.
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kitchen, located in a section which was not the poorest part of the city. The rooms had been partitioned into two lodgings apiece, and sixteen people lived there.“ 12
Wenngleich hier die Wohnsituation vor dem Ersten Weltkrieg beschrieben wird, so ist diese mit derjenigen der Zwischenkriegszeit vergleichbar. Im jüdischen Viertel bewohnten nämlich auch noch bis zum Zweiten Weltkrieg durchschnittlich fünf Personen ein 19 Quadratmeter großes Zimmer, in dem darüber hinaus häufig auch noch einer gewerblichen Tätigkeit nachgegangen wurde. 13 In den Texten von Grade und Karpinovitsh lassen sich die engen Wohnverhältnisse im jüdischen Viertel manchmal nur erahnen – zu knapp und ungenau sind oft die Beschreibungen, die sich bezüglich der einzelnen Wohnungen finden. Dies zeigt sich etwa an folgenden Beispielen: „In di ovntn [Abende] iz Babrushke gezesn in zayn kemerl oyf glezer-gas“ 14 oder: „Baylke voynt in Rameyles hoyf oyf a boydem-shtibl.“ 15 Die Bezeichnungen „kemerl“ und „boydem-shtibl“ weisen hier weniger auf eine Wohnung als auf einen einzigen Raum, in dem geschlafen, gewohnt und gekocht sowie teilweise auch gearbeitet wurde. Dass Wohnen und Arbeiten räumlich oft nicht getrennt waren, zeigt das Beispiel von Mende dem Schmied, der sich kurzerhand hinter seiner Schmiede in einem Hof auf der glezer gas eine „Wohnung“ hergerichtet hat: „Er hot gehat oysgepravet [ausrüsten] a kamer leben [neben] der kuznye [Schmiede], oysgekalkht di vent, arayngeshtelt mebl un s’iz geven a dire [Wohnung].“ 16 Während einzelne Zimmer gewöhnlich von alleinstehenden Personen gemietet wurden, wohnten Familien in kleinen Wohnungen, die den Menschen allerdings selten ausreichend Platz boten. Über die Wohnungen in Leyb-Leyzers hoyf ist beispielsweise zu vernehmen: „Di shkheynes [Nachbarinnen] hobn gehat enge shtiblekh un groyse mishpokhes [Familien].“ 17 Und auch die Wohnungen unweit des holtsmark, auf der vengerske gas, in denen früher kleine Läden vorzufinden waren, verfügen nur über wenig Raum: „Di voynung iz nit geven kayn groyse. A greserer tsimer, vos hot gedarft heysn der salon, un derbay an alker [Wandnische], vu s’zenen geshlofn tate-mame [Eltern].“ 18 12 13 14 15 16 17 18
Jerusalem of Lithuania, Bd. 1, S. XIX. Lipphardt: Dos amolike yidishe geto, S. 493. Karpinoviths: 3/4, S. 54. Grade: Der mames shabosim, S. 68. Karpinovitsh: 2/8, S. 123. Grade: Di kloyz un di gas (2), S. 106. Karpinovitsh: 5/8, S. 125.
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Obschon diese Beispiele nur ansatzweise die Wohnsituation jüdischer Familien beschreiben, weisen sie dennoch auf das wohl wesentliche Merkmal sämtlicher von den jüdischen Unterschichten bewohnten Wohnungen hin – deren mangelnde Größe. Etwas genauere Hinweise zu den räumlichen Verhältnissen im jüdischen Viertel finden sich in Grades Schilderung von Peseles hoyf auf der glezer gas. Anhand dieses Beispiels lässt sich aufzeigen, wie die Mieterschaft eines Vilner Hofes zusammengesetzt war und welche Probleme sich den Menschen aufgrund des beengten Wohnens stellten. Zu den Mietern von Peseles hoyf zählen folgende Personen: Im Erdgeschoss wohnt der Junggeselle Barukh-Leyb Vitkind. Er ist gelernter Glaser und repariert im jüdischen Viertel Fensterscheiben. In den oberen Geschossen befinden sich vier weitere Wohneinheiten. Hier lebt das junge Mädchen Yentele mit seinen kranken Eltern. Der Vater ist Schneider und Yentele selbst arbeitet als Verkäuferin in einem Bakelitgeschäft. Auch Yenteles Verlobter, Orele Teper, hat in einer dieser Wohnungen zusammen mit seinen Eltern sein Zuhause. Sein Vater ist Bürstenmacher und verkauft in einem Keller im Hof Bürsten, Besen und Lappen. Ebenfalls in einem oberen Stockwerk wohnen Elke die Sockenstrickerin und ihr Ehemann Israel Bas der Markthändler sowie die Zigarettenmacherin Zlate-Bashe Feygelson, ihr kranker Ehemann und ihre zwei erwachsenen Töchter. Die Dachkammer des Hauses schließlich wird vom Tischler Henokh Bengis und seiner Tochter Peye, die als Lehrerin in einer jüdisch-weltlichen Schule arbeitet, gemietet. 19 Zunächst fällt auf, dass die Zahl der Personen, die jeweils zusammen in einer Wohnung leben, nicht überdurchschnittlich gross ist. Sie reicht von einer bis maximal vier Personen – kinderreiche Familien sind hier nicht anzutreffen. Dennoch beklagen sich einige Bewohner von Peseles hoyf über zu wenig Wohnraum. Erklären lässt sich dieser Umstand damit, dass die Wohnungen nur aus zwei Zimmern bestehen, in denen teilweise mehrere Generationen zusammenleben. Mit Argwohn betrachten die Nachbarn aus diesem Grund den Junggesellen Barukh-Leyb Vitkind, der seit dem Tod seiner Eltern alleine über zwei Zimmer verfügt: „Barukh-Leyb veys vos di shkheynim [Nachbarn] fun hoyf zogn, az makhmes [da] er aleyn voynt in a palats, in a direle [Wohnung] fun tsvey tsimerlekh, lebt er gut (…) un im ort [beunruhigen] nit, oyb di andere hoyfishe [Hofbewohner] shtikn [ersticken] zikh in engshaft.“ 20 19 Grade: Der shtumer minyan, S. 54, 55, 56, 65, 66, 101. 20 Ebd., S. 74.
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Dass nur eine Person zwei Zimmer bewohnt, scheint für die Mehrheit der Bewohner von Peseles hoyf ein unbekannter Luxus, der nicht zu rechtfertigen ist und gegen ihren Gerechtigkeitssinn verstößt. In den Augen der Nachbarn ist deshalb der Junggeselle in seinem „Palast“ daran schuld, dass Yentele und Orele nicht in eine eigene Wohnung zusammenziehen und heiraten können. Da der Junggeselle jedoch nicht aus seinen vier Wänden zu vertreiben ist, erhoffen sich die Nachbarn eine andere Lösung ihrer Wohnungsnot: Die zu Peseles hoyf gehörende fast unbenutzte Klause soll zu Wohnraum umfunktioniert werden. 21 Grade spricht in seinen Texten die beengten Wohnverhältnisse innerhalb des jüdischen Viertels nicht als außenstehender Betrachter an, sondern weiß darüber aus eigener Erfahrung zu berichten. Zusammen mit seiner Mutter lebte er in einem Hof auf der yatkever gas, wo sich ihre „Wohnung“ direkt hinter einer Schmiede befand: „Mir voynen in hintershtn kheyderl [Zimmer] fun a kuznye [Schmiede]. Undzer kheyderl iz on a fentster, un a gantse vokh koptshet [rauchen] dort a naft-lempl [Kerosinlampe] afilu [sofar] baytog. Shabes [Sabbat], ven di balmelokhes [Handwerker] arbetn nit, zitsn mir in der fodershter shtub, in varshtat [Werkstatt].“ 22
Der Wohnraum der Familie Grade, der aus einem dunklen, verrauchten Zimmer mit einer Kochnische besteht, erinnert eher an eine Höhle als an ein gemütliches Zuhause. Dass sich Vella Grade hier nicht wohlfühlte, zeigt sich in ihrem Ausruf: „Gevald [Hilfe], di engshaft, di engshaft! Az men darf zikh shtikn [nach Luft schnappen] in a kemerl in a kuznye.“ 23 Ähnlich wie seine Mutter äußert auch Grade seinen Unmut über sein Zuhause: „Ikh kuk zikh arum in undzer kuznye-shtibl [Schmiede]. Far der tsayt vos ikh bin nit geven in der heym [Zuhause], zaynen di vent nokh shvartser gevorn. Di hiltserne belkes [Balken] fun sufit [Decke] krekhtsn un platsn. Der tink [Farbe] falt shtikerveyz un der roykh fun bloz-zak hengt vi in volkn. Vi fintster do iz un umetik [traurig]!“ 24
Interessant an Grades Beschreibungen ist, dass sie nicht nur Auskunft darüber geben, aus wie vielen Räumen die Wohnung besteht, sondern auch die Gefühle ihrer Bewohner schildern und dabei zeigen, ob die eigenen vier Wände lediglich als Obdach oder als richtiges Zuhause gesehen werden. Im Vergleich zu Grade geben die Texte von Karpinovitsh nur wenige Fakten bezüglich der 21 22 23 24
Ebd., S. 44. Grade: Der mames shabosim, S. 13. Ebd., S. 18. Ebd., S. 24.
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Wohnsituation seiner eigenen Familie preis. Zu erfahren ist nur, dass er zusammen mit seinen Eltern und Geschwistern auf dem shulhoyf im vierten Stock eines Hauses in einer Wohnung mit Balkon gelebt hat. 25 Ob die Wohnung der Familie genügend Platz bot, oder ob diese sich darin wohl gefühlt hatte, ist nicht auszumachen.
Die bauliche Substanz des jüdischen Viertels Während eine kleine Wohnfläche charakteristisch für die Wohnungen im jüdischen Viertel, aber auch in anderen unterprivilegierten Stadtteilen war, so gab es noch ein weiteres Merkmal, das das Wohnen an diesen Orten bestimmte. Dies war der grundsätzlich schlechte bauliche Zustand der Wohnungen und Häuser. Dieser Umstand ist den Worten wütender Nachbarn aus Leyb-Leyzers hoyf zu entnehmen: „Shtiker balkon faln in kop. Di vent in di kelers zaynen nas un badekt mit shiml. Di kinder krign sukhote [Tuberkulose] un di alte layt histn oys di lungen.“ 26 Hier wird deutlich, dass die baulichen Elemente, die oberflächlich den Reiz des jüdischen Viertels ausmachten – die verwinkelten Mauern, die schmiedeeisernen Balkone, die düsteren Kellergewölbe, hölzernen Treppen und Veranden – eigentlich komplett hätten renoviert werden müssen. Wer in den brüchigen, feuchten, von Schimmel befallenen Gemäuern wohnte, lebte nicht nur in einer äußerst armseligen Umgebung, sondern riskierte an diesem Ort seine Gesundheit oder gar sein Leben. Dass Infektionskrankheiten im jüdischen Viertel keine Seltenheit waren, darauf deuten nicht zuletzt die Klagen der Bewohner von Leyb-Leyzers hoyf. Hierbei ist allerdings zu bemerken, dass „in Wilna nicht nur das jüdische Viertel, sondern auch andere, mehrheitlich von Christen bewohnte Gebiete durch dichte Besiedlung, fehlende medizinische Versorgung und Umweltprobleme zum Gesundheitsrisiko der Bewohner wurden“. 27
Ähnlich schlimme bauliche Zustände wie in Leyb-Leyzers hoyf fanden sich beispielsweise im Stadtteil Novgorod, wo viele Träger, Fuhrmänner, Lohnarbeiter 25 Karpinovitsh: 3/6, S. 79, 80, 85. 26 Grade: Di agune, S. 85. 27 Wendland, Stadthygienische Interventionen, S. 294. Statistiken über Krankheitsfälle und Sterblichkeit wurden von den städtischen Sanitätsbeamten als ein Indikator für die „sanitäre Hierarchie der Stadtbezirke“ gesehen, die gegebenenfalls eine Intervention seitens der Behörden hervorriefen. Ebd., S. 278 f.
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und Holzfäller lebten. 28 Auch hier war der bauliche Zerfall – wie im Folgenden anhand der Wohnsituation einer „Hühnerrupferin“ und ihrer erwachsenen Tochter zu sehen ist – überall sichtbar: „Blumke iz avek aheym [nach Hause]. Zi mit der mame, di hinernitse, hobn gevoynt arum Novgorod in a halbkhurbn [zerfallen] moyer mit aroysgezetste shoybn.“ 29 Dass die Wohnungsgröße und der bauliche Zustand der Häuser und Wohnungen nicht die einzigen Nachteile waren, die das Wohnen im jüdischen Viertel, aber auch in anderen unterprivilegierten Stadtteilen charakterisierten, darauf weisen folgende Worte eines Bewohners von Leyb-Leyzers hoyf: „Di klal-tuer [Gemeinderat] hobn dokh undz badarft [müssen] tsutsoln [finanziell unterstützen] mir zoln voynen in aza shtikenish [Menschengemenge] un ipesh [Gestank], (…) der optrit [Toilette] iz unter der noz, fun di farroste [rostig] vaser-rern pliukhet [spritzen] oyf di kep, keyn brunem iz nito, keyn elektre iz nito, keyn layb un leben iz nito.“ 30
In dieser Anklage werden gleich mehrere Punkte angesprochen, die die Lebensqualität der Bewohner von Leyb-Leyzers hoyf durch ihr Nicht-Vorhandensein beeinträchtigen, nämlich saubere Luft, Wasser und Elektrizität. Saubere Luft war im jüdischen Viertel ein kostbares Gut. Um ihren engen, stickigen Wohnungen zu entfliehen, gingen die Anwohner der Höfe abends gewöhnlich vor ihre Haustüren oder auf die Galerien, um dort ein bisschen Luft zu atmen. 31 Dass diese allerdings von teilweise fraglicher Qualität war, zeigt folgendes Beispiel: „In Rameyles hoyf zitst di rebetsn [Frau des Rabbis] Badane baym ofenem fentster fun ir boydem shtibl [Dachwohnung] un kukt arop in engn hoyf (…). Badane khapt frishe luft; di foylenish [Fäulnis] fun farayorike [einjährige] kartofl, mern un retekh, vos lign in di farmakhte kremlekh [Läden].“ 32
So wie in Rameyles hoyf roch die Luft in vielen Höfen des jüdischen Viertels nach halb verfaultem und schimmligem Holz, rostigen Wasserrohren sowie Abfällen jeglicher Art. Mitverantwortlich für die teilweise desolaten Zustände in den Höfen waren Handwerker, die hier ihr Gewerbe trieben, sowie Händler, die in den Außengebäuden und Kellern eine Vielzahl von Waren – wie etwa
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Karpinovitsh: 5/5, S. 76. Ders.: 3/7, S. 93 f. Grade: Di agune, S. 86. Ders.: Di kloyz un di gas (2), S. 104. Ders.: Der shulhoyf (1), S. 70.
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Altwaren, Brennmaterial und Lebensmittel, aber auch lebende Tiere – verkauften und lagerten. 33 Dass die Höfe des jüdischen Viertels wahrlich keine „Oasen“ waren, zeigt folgende Schilderung eines Hofes auf der glezer gas: „Der hof iz geven a sokhrisher [geschäfts-]. Ongehoybn fun Itshes ayngefundevetn sklad [Warenverschlag] mit di alte zakhn, hobn zikh getsoygn bay di vent keler mit feslekh gezayertn kroyt [Sauerkraut], kremlekh [kleine Läden] mit ayznvarg un etlekhe kamern oyftsukoyfn shmates [Lumpen] far Balberishkes papirfabrik.“ 34
Neben der schlechten Luft stellte die Wasserversorgung ein weiteres Problem dar. Um für den täglichen Gebrauch genügend Wasser in der eigenen Wohnung zu haben, mussten die Hausfrauen dieses entweder selber vom Brunnen auf dem shulhoyf in die Wohnungen schleppen oder gegen Bezahlung einen Wasserträger damit beauftragen. 35 „Leitungsgebundene Wasserversorgung war in Wilna bis zum Ersten Weltkrieg ein seltener Luxus“36 und vielen Bewohnern blieb deshalb nichts anderes übrig, als das teilweise von der städtischen Sanitärkommission als qualitativ bedenklich erachtete Wasser aus den öffentlichen Brunnen zu benutzen. Dass auch in der Zwischenkriegszeit eigenes Wasser in den Wohnungen für die jüdischen Unterschichten einen unerdenklichen Reichtum darstellte, zeigt sich im Beispiel von Leyb-Leyzers hoyf am bescheidenen Wunsch der Mieter, wenigstens einen Brunnen in ihrem Hof zu haben. 37 Einen ähnlichen Luxus wie eigenes Wasser bedeuteten sanitäre Anlagen. Private WCs auf der Etage oder sogar in der eigenen Wohnung gab es im jüdischen Viertel nicht. Der Kanalisationsbau kam in Vilne vor dem Ersten Weltkrieg nur schleppend in Gang; „offene Abwasserrinnen neben den Straßen waren die Regel, und die Mehrzahl der Häuser verfügte lediglich über Trockenklosetts.“ 38 Ähnlich verhielt es sich mit Bädern. Die Bewohner des jüdischen 33 Vgl. dazu Wendland, Stadthygienische Interventionen, S. 281. 34 Karpinovitsh: 2/8, S. 123. 35 Grade: Der shulhoyf (1), S. 9, 49. Für die Bereitstellung von Trinkwasser, aber auch die Instandhaltung der Kanalisation war die jüdische Gemeinde verantwortlich. Gegen Bezahlung ließ sie sich im 18. Jahrhundert von dem nahe gelegenen Dominikanerkloster auf der daytshe gas, wo eine Quelle entsprang, eine Wasserleitung auf den shulhoyf verlegen. Die Weiterleitung des Wassers in andere Höfe des jüdischen Viertels war der jüdischen Gemeinde verboten. Klausner: Geshikhte fun der yidischer kehile, S. 69–70. 36 Wendland, Stadthygienische Interventionen, S. 281. 37 Grade: Di agune, S. 86. 38 Wendland, Stadthygienische Interventionen, S. 280.
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Viertels benutzten das öffentliche Bad auf dem shulhoyf sowie andere öffentliche Bäder der Stadt. Zu guter Letzt gab es im jüdischen Viertel auch keinen Strom. In ihren engen, düsteren Wohnungen behalfen sich die Bewohner deshalb mit Kerzen und Petroleumlampen 39 oder sie setzten sich tagsüber in die Höfe, um hier im Tageslicht verschiedenen Tätigkeiten nachzugehen. Die von den Bewohnern von Leyb-Leyzers hoyf geäußerten Mängel, die die Lebensqualität der Menschen minderten, wie etwa der Schmutz in den Straßen und Höfen sowie das Fehlen von Wasser und Strom, galten als „Phänomene des städtischen Alltagslebens“ 40 und waren als solche zu Beginn der 1930er Jahre in weiten Teilen der Stadt vorzufinden. Diesbezüglich schreibt Minczeles: „[I]l faut savoir qu’à Wilno 182’635 habitants disposaient de 39’943 logements dont 10’040 sans conduite d’eau et près de 24’000 sans électricité.“ 41 Zu berücksichtigen ist hierbei, dass die genannten Mängel im jüdischen Viertel überproportional anzutreffen waren und die Wohn- und Hygienebedingungen deshalb an diesem Ort zu den „schlimmsten in ganz Polen“ 42 zählten. In Anbetracht der weitreichenden Unzulänglichkeiten, mit denen die Bewohner des jüdischen Viertels leben mussten, erstaunt es, dass diese von Karpinovitsh überhaupt nicht und von Grade nur punktuell thematisiert werden. Ohne die kritischen Worte der Bewohner von Leyb-Leyzers hoyf könnte der Eindruck entstehen, dass die Wohnbedingungen im jüdischen Viertel zwar einfach, für die Bewohner jedoch „normal“ und nicht wirklich bedrückend gewesen sein mussten. Doch gerade an Textstellen wie den hier genannten wird sichtbar, wo das Potential belletristischer Literatur im Vergleich etwa zu Statistiken über die Strom- und Wasserversorgung privater Haushalte liegt, nämlich in deren Vermögen, die Gefühle und Ansichten der betroffenen Menschen hinsichtlich ihrer eigenen Lebenssituation darzustellen. Dennoch stellt sich die Frage, weshalb die negativen materiellen Umstände des Wohnens im jüdischen Viertel nicht näher beschrieben werden. Waren diese in Vilne zu weit verbreitet und deshalb nicht weiter erwähnenswert, oder handelt es sich hier um eine (un)bewusste Neubewertung der damaligen Verhältnisse durch die Autoren aus der Perspektive einer späteren Gegenwart, in
39 40 41 42
Vgl. Grade: Der mames shabosim, S. 13. Wendland, Stadthygienische Interventionen, S. 284. Minczeles: Vilna, Wilno, Vilnius, S. 212. Lipphardt: Dos amolike yidishe geto, S. 493.
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deren Vorgang die negativen Seiten verblassen und einfach als „Leerstellen“ im Text erscheinen?
Einblicke ins Innere der Wohnungen Die eher oberflächliche Art und Weise, mit der Grade und besonders Karpinovitsh die äußeren Wohnverhältnisse im jüdischen Viertel skizzieren, wiederholt sich auch in ihren Beschreibungen der Innenausstattung der Wohnungen. Sich ein detailliertes Bild darüber zu machen, wie es im Innern einer Wohnung ausgesehen haben mag, ist nicht immer möglich. Oft ist aus den Texten nur eher beiläufig und bruchstückartig zu erfahren, was für Gegenstände – wie beispielsweise ein mit Decken aufgetürmtes Bett, 43 ein russischer Backofen 44 oder eine Kiste voller Bücher – 45 sich in den Wohnungen befanden. Nur vereinzelt finden sich Textstellen, die ein genaueres Bild darüber entstehen lassen, wie die Wohnungen einfacher Jüdinnen und Juden eingerichtet waren: „Der langer, shmoler un tunkeler kheder [Zimmer] (…) iz nokh mer farshotnt un fartunklt gevorn fun di mentshn in gas, vos zaynen keseyder [andauernd] farbaygegangen dos eyntsike niderike fentster. In der tif fun kheder zaynen geshtanen tsvey betn, farshtelt mit a groysn kleyder-almer [Schrank]. In der fodershter helft zaynen arum a halb-keylekhdikn [-rund] tish geshtanen etlekhe shtiln, a kanape bay eyn vant un a por politses [Regale] mit sforim [religiöse Bücher] bay der tsveyter vant.“46
Aus dieser Beschreibung von Rabbi Avraham Kosovers Wohnung wird deutlich, dass relativ viele Möbel in einem Raum Platz finden mussten. Um in ihrer Not den Eindruck mehrerer Zimmer zu erwecken, unterteilen die Bewohner ihr einziges Zimmer mit Hilfe eines Möbelstücks in einen Wohn- und einen Schlafbereich. Ähnlich einfallsreich umzugehen mit ihrem einzigen Wohnraum weiß Gute, die Frau eines Frisörs, die mit ihrem Mann und zwei Töchtern in einer Sozialwohnung auf der subotsh lebt: „Gute hot in di bilike hayzer fun der baronese Hirsh farnumen eyn groysn tsimer mit a kikh. A dritl fun eyntsikn tsimer iz geven opgetsomt [unterteilt] in der breyt mit an altn kleyder-almer [Kleiderschrank], un fun beyde saytn almer biz tsu di vent saynen gehangen shtiker shtof. Baynakht iz dort geven di shlof-shtub far der gantser 43 44 45 46
Grade: Der mames shabosim, S. 16. Karpinovitsh: 3/6, S. 79. Grade: Der mames shabosim, S. 19. Ders.: Tsemakh Atlas (di yeshive). Bd. 2, S. 201.
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Einblicke ins Innere der Wohnungen
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mishpokhe [Familie], un farn shlofn geyn flegt men di farhangen optsyien, men zol zen vi zikh oystsuton. Ober ovnt-tsayt, ven di farhangen zaynen geven fartsoygn, iz dort in der fintster geven der meydl-tsimer.“ 47
Im Gegensatz zu diesen Beispielen, in denen die kleinen Wohnungen mit Möbelstücken angefüllt sind, zeigt sich die ungewöhnlich großzügige, in einer Vilner Vorstadt gelegene Wohnung von Rabbi David Zelver und seiner Familie von einer ganz anderen Seite: „Di dire [Wohnung] iz geven a geroyme [groß], un baym arayntsien zikh hot der rav [Rabbi], veyzt oys, gerekhnt tsu firn a breyt leben fun a beys-horav [Rabbinerhaushalt] mit a groyser mishpokhe. Ober di groyse khadorim [Zimmer] hobn gepustevet [leer sein] nit-baheytste, on elektre, un dos shlof-tsimer hot oykh gedint far an esshtub. Alts in tsimer iz geven naket, dos sforim-shenkl [Bücherschrank] on tirlekh un on a forhangl, der tish on a tishdekh, un afilu dos tsekneytshte kishn bay der rebetsn [Frau des Rabbis] tsukopns iz oykh geven on a tsikhl [Überzug].“ 48
Während die Wohnung von Familie Zelver durch ihre Leere und Kälte besticht, ist wiederum anhand der Dachwohnung des Tischlers Bengis und seiner Tochter, die zusammen in Peseles hoyf wohnen, zu sehen, dass diese trotz ihrer Einfachheit für ihre Bewohner ein gemütliches Zuhause sein kann: „Der frish-gekalkhter sufit [Decke] un di vent hobn geblankt bloylekh-vays. Oyfn fentster iz gehangen a durkhzikhtik forhangl. Di ongeshtelte keylim [Geschirr] oyf der plite [Kochherd] un in kikhshenkl hobn azh gefinklt reyn-gevashene un geshayerte. Oyf di tsudekn [Überwürfe] fun di farbete [gemacht] betn zaynen gelegn vayse kishelekh.“ 49
Die hier beschriebene Sauberkeit und der fast feierliche Glanz finden sich auch in der bescheidenen Unterkunft der Fischverkäuferin Khane-Merke auf der yatkever gas wieder: „Di shtub halt zi a gantse vokh shabesdik. Oyfn tish a tishtekh, di betn farbet mit a geblumter kape [Bettdecke].“ 50 Im starken Kontrast zu diesen zwei Beispielen präsentiert sich die Wohnung von Familie Press auf der glezer gas. Bereits der Weg zur Wohnung, der durch den Hof über eine schmutzige, mit Abfall bedeckte, glitschige Treppe führt, macht einen wenig einladenden Eindruck. Die Fenstersimse sind mit Lumpen verputzt und die Wohnung selbst gleicht einer Müllhalde. Im Zim-
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Ders.: Di agune, S. 207. Ebd., S. 48. Grade: Der shtumer minyan, S. 147. Karpinovitsh: 1/4, S. 78.
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mer steht ein zerlumptes Sofa und leere Jutesäcke, von denen ein Geruch von feuchten Kartoffeln ausgeht, liegen auf dem Boden. 51 Ähnlich verwahrlost wie das Zuhause von Familie Press sind auch die Wohnungen, die der kleine Senderke aus seinem eigenen Umfeld kennt: „Senderke hot getrakht [denken], az bay der toyber [gehörlos] Rekhil in der groyser shtub, vu er hot zikh gehodevet [aufwachsen], iz shtendik ongevalgert [überstellt] un nit reyn [sauber]. Baym feter in shtibl iz nokh brudiker [schmutzig].“ 52
Insgesamt ergeben die Texte von Grade und Karpinovitsh nur ein ungefähres Bild darüber, wie es in den Wohnungen des jüdischen Viertels aussah. Unter den von beiden Autoren genannten Möbeln, die in den Zimmern und Wohnungen stehen, findet sich nur das Notwendigste, wie Schränke, Tische, Stühle und Betten. Einfache Dinge wie Vorhänge, Tischtücher und Decken verschönern wiederum die schlichten Räume und verleihen ihnen ein wohnliches Aussehen.
Kontraste: Bürgerliches Wohnen Dass nicht alle Juden Vilnes so bescheiden wohnten und manche Häuser und Wohnungen insgesamt in einem besseren Zustand waren, davon zeugt ein Blick auf die Wohnverhältnisse des jüdischen Bürgertums. Vor allem Grade verweist in seinen Texten ab und an auf die Wohnungen der jüdischen Mittelschicht und unterstreicht damit indirekt die beschämenden Wohnverhältnisse im jüdischen Viertel. So wird in seinen Memoiren beispielsweise erwähnt, dass Vella Grade ihre Waren immer bei einem reichen Obsthändler abholen musste, der in einem großen Backsteingebäude zuhause war: „Oyf di eybershte gorns [Stockwerk] voynt er mit sayn mishpokhe [Familie] in oysgeputste salyes [Wohnzimmer].“ 53 Auch Grades eigene Verwandte waren an bessere Wohnverhältnisse gewöhnt und lebten in einem schönen Haus. Die Wohnung von Grades Onkel etwa war so groß, dass Chaim und sein Cousin als Kinder von einem Zimmer ins nächste rennen konnten, bis sie endlich im großen Salon angelangten. 54
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Grade: Der mames shabosim, S. 231–232. Ders.: Der shtumer minyan, S. 147. Ders.: Der mames shabosim, S. 14. Ebd., S. 52.
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Hinweise auf weniger armselige Wohnverhältnisse als jene im jüdischen Viertel finden sich auch in anderen Texten Grades. In diesen wird die portova gas als eine der „besseren“ Adressen Vilnes genannt. Hier wohnen in einem schönen, aristokratisch aussehenden Haus Herr und Frau Rapaport mit ihren zwei Kindern. Die Miete in dieser Wohngegend ist doppelt so hoch wie in anderen Stadtteilen, und die Nachbarn der Rapaports – zumeist Christen oder assimilierte Juden – sind wohlhabend. Zur Wohnung, die einen schönen Balkon hat, gelangt man durch einen eindrucksvollen Hauseingang. Die großen Zimmer der Wohnung haben hohe Decken, und entlang der ganzen Wohnzimmerwand verläuft ein Spiegel. 55 Ähnlich geräumig zeigen sich auch die Wohnungen auf der teuren pohulianke, „der sheyner gas mit di boymer [Bäume] fun bayde zaytn.“ 56 Hier leben Reb Shaye und seine Frau. Ihre Wohnung verfügt über „an es-tsimer, mit a shlof-tsimer, mit a zal, mit a paradner [prunkvoll] tir, mit a hintershter tir in der kikh, un mit a sklad [Schuppen] oyf hoyf“. 57 Was die Wohnsituation des jüdischen Bürgertums von derjenigen der jüdischen Unterschichten unterschied, war die gehobene Wohnlage, die Größe und der Zustand der Wohnungen insgesamt, die Anzahl der Zimmer sowie deren Einrichtung. Im Gegensatz zu den Texten von Grade und Karpinovitsh, in denen die Merkmale bürgerlichen Wohnens kaum thematisiert werden, finden sich solche umso mehr in den Memoiren einzelner Vilner Jüdinnen. So berichtet Esther Hautzig, deren Familie dem gehobenen Vilner Mittelstand angehörte, von einer schönen häuslichen Umgebung: „[M]y sunny, spacious home in Vilna, with the curtains blowing in the wind, the colorful kilim rug in Father’s study, the blue brocade walls in the dining room, the lilac bushes blooming in our garden.“ 58 In ähnlichen Wohnverhältnissen lebten auch Verwandte von Esther: „They lived in part of my grandparents’ huge apartment, remodeled and furnished in the latest style, with blond furniture from Scandinavia and closets built into walls, both unusual for Vilna in those days.“ 59 Auch Schoschana Rabinovici erinnert sich an ihr schönes Zuhause und beschreibt ihr Kinderzimmer: „Mein neues Zimmer war wunderschön, groß und hell, auf der einen Seite gerundet und mit großen Fenstern zur Hauptstraße. Gegenüber 55 56 57 58 59
Grade: Di kloyz un di gas (3), S. 163, 188, 203, 216, 254. Karpinovitsh: 5/8, S. 132. Grade: Der shulhoyf (2), S. 247. Hautzig: Remember who you are, S. 35. Ebd., S. 24.
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befand sich das prachtvolle Gebäude der Hauptpost.“ 60 Henia Brazg wiederum, die sich und ihre Familie selbst als vermögend einschätzt, lebte ebenfalls in angenehmen Verhältnissen. Ihr Vater besaß ein großes, von einem Garten umgebenes Haus mit 16 Wohnungen in einem Vorort der Stadt. 61 In noch größerem Wohlstand wohnte die jüdische Oberschicht Vilnes, über die Lucy Dawidowicz in ihren Memoiren berichtet. Zu den vornehmsten Familien der Zwischenkriegszeit gehörte die Familie von Taybe und David Kaplan-Kaplansky, 62 bezüglich deren Wohnung die Autorin schreibt: „I attended the English-speaking salon in her palatial home on ulica Szopena (Chopin), a lovely, wide, tree-lined street. It was the only residence I knew in Vilna with central heating and surely the most elegant I was ever in.“ 63
Der hohe Lebensstandard der Familie Kaplan-Kaplansky manifestiert sich für Dawidowicz in deren großem und prächtigem Wohnzimmer, wo ein reich verziertes Cheminée, Orientteppiche, Familienporträts, ein Klavier sowie zahlreiche Sessel und Liegen zu finden sind. Auf gleicher sozialer Stufe wie die Kaplan-Kaplanskys stand gemäß der Autorin die Familie Shabad. 64 Diese besaß einen großen landwirtschaftlichen Betrieb in der Nähe von Vilne sowie eine Stadtresidenz. Über die Residenz von Stefania Shabad, der Ehefrau von Doktor Tsemakh Shabad, schreibt Dawidowicz folgendes: 60 Rabinovici: Dank meiner Mutter, S. 11 f. 61 Brazg: Passport to Life, S. 15. 62 David Kaplan-Kaplansky war Mitbegründer der Folkspartei und einer der führenden Persönlichkeiten innerhalb der jüdischen Gemeinde. 63 Dawidowicz: From that Place, S. 109 f. 64 Die Shabads zählten zu den angesehenen Familien Vilnes. Der in Vilne geborene Tsemakh Shabad (1864–1935) lernte an der Rameyles Jeschiwa und besuchte eine russische Mittelschule. 1881 zog er nach Moskau, wo er 1889 sein Medizinstudium abschloss. Ab 1894 lebte er wieder in Vilne, das er wegen seiner Involvierung in die Revolution von 1905 für mehrere Jahre verlassen musste. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Shabad zu einer der bekanntesten Persönlichkeiten der Vilner jüdischen Gemeinde. Er war Präsident der jüdischen Gemeinde, Mitglied im Stadtrat sowie im polnischen Senat. Darüber hinaus war er Präsident in zahlreichen jüdischen gesellschaftlichen Organisationen. Shabad veröffentlichte zahlreiche Publikationen und Artikel. Politisch gehörte er lange Zeit der Folkspartei an. Seine Tochter Regina war mit dem Direktor des YIVO-Instituts, Dr. Max Weinreich, verheiratet. The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe. Hg. von Gershon David Hundert. 2 Bde. New Haven, London 2008, hier Bd. 2, S. 1821–1822; Hirsz Abramowicz: Profiles of a Lost World. Memoirs of East European Jewish Life before World War II. Detroit 1999, S. 297–300. Vgl. auch Tsemakh Shabad: Oytobiografye. Vilne 1935.
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„She lived on ulica Styczniowa, just off Mickiewicz, in the finest part of Vilna, in a spacious apartment with a garden at the rear. It was elegantly furnished, with a servant to care for its management. There I saw little evidence of the peasant life.“ 65
Insgesamt widmen Grade und insbesondere Karpinovitsh in ihren Texten dem Thema Wohnen nur am Rande ihre Aufmerksamkeit. Eher beiläufig und punktuell richten sie ihren Blick auf und in die Wohnungen der unterprivilegierten Juden Vilnes. Das Bild, das sich daraus ergibt, zeigt dennoch einige wesentliche Merkmale, die die Wohnverhältnisse dieser Menschen charakterisierten: Die kleinen Wohnungen – bestehend aus einem einzelnen oder wenigen Zimmern – wurden von verhältnismäßig vielen Personen bewohnt und verfügten weder über Wasser noch über Strom und auch sanitäre Anlagen waren nicht vorhanden. Die hygienischen Bedingungen in den Häusern und Höfen wiederum waren aufgrund der dichten Bebauung und der vielen Menschen mangelhaft. Hinzu kam, dass die Bausubstanz sämtlicher Gebäude renovationsbedürftig und für die Menschen eigentlich zum Wohnen nicht geeignet war. Im starken Kontrast zu diesen Wohnverhältnissen standen jene der jüdischen Mittel- und Oberschicht, die außer in den Memoiren einzelner Vilner Jüdinnen nur von Grade thematisiert werden. Während sich für Karpinovitsh die Frage nach den Wohnverhältnissen im jüdischen Viertel nur ansatzweise gestellt zu haben scheint, können Grades Beschreibungen – insbesondere seine Schilderung der Verzweiflung der Bewohner von Leyb-Leyzers hoyf sowie die gegensätzlichen Wohnrealitäten des jüdischen Bürgertums – als Kritik an den damaligen Wohnbedingungen der jüdischen Massen verstanden werden. Fern jeglicher Romantisierung präsentiert sich so dem Leser im Ganzen ein eher ernüchterndes Bild der jüdischen Wohnverhältnisse in Vilne.
65 Dawidowicz: From that Place, S. 142.
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Die Erwerbssituation im jüdischen Viertel
Die wirtschaftliche Lage Vilnes veränderte sich im Verlauf vom 19. zum 20. Jahrhundert grundlegend. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts galt die Stadt als bedeutende russische Handelsmetropole. Sie lag an einem wichtigen Eisenbahnknotenpunkt und war ein wichtiger Umschlagplatz für verschiedenste Rohstoffe und Waren, die sowohl ins ganze Russische Reich, als auch in den europäischen Westen verschickt wurden. Mit der Industrialisierung und dem ökonomischen Wachstum erlebte die Region um Vilne einschließlich der Städte Białystok, Grodno und Kovno ihre wirtschaftliche Blüte. 1 Von den 80.000 Einwohnern, die im Jahr 1881 in der Verwaltungshauptstadt der nordwestlichen Provinzen Russlands lebten, waren fast 46 Prozent Juden. In den kleinen Straßen des Stadtzentrums reihten sich jüdische Geschäfte, und auch die Bewohner der hier liegenden Häuser waren mehrheitlich jüdisch. 2 Die wirtschaftlich besten Zeiten endeten für Vilne bereits um die Jahrhundertwende – Anzeichen dafür waren die stagnierende Wirtschaft sowie die kontinuierliche Verarmung breiter jüdischer Bevölkerungsschichten. Die neue geopolitische Lage nach dem Ende des Ersten Weltkrieges brachte weitere tiefgreifende Veränderungen, die sich negativ auf die Wirtschaft auswirkten: Als ehemaliges Zentrum der nordwestlichen Region des Russischen Reiches verkam Vilne zu einer Provinzstadt im äußersten Nordosten Polens, die weit hinter der wirtschaftlichen Bedeutung anderer polnischer Städte lag. 3 Neben 1 2
3
Minczeles: Vilna, Wilno, Vilnius, S. 84. Weeks: The Transformation of Jewish Vilna, S. 143–144. Vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch nach dem Ersten Weltkrieg fanden viele Juden ihr Auskommen in der Holz-, Papier-, Leder- oder Konfektionsindustrie. Diese Industriezweige waren fast gänzlich in jüdischer Hand und auch die Arbeitnehmer waren bis zu 75 Prozent und mehr jüdisch. Minczeles: Vilna, Wilno, Vilnius, S. 220. Vgl. dazu auch Itskhak Broydes: Der yidisher handl un industrye in der tsayt fun der okupatsye. In: Pinkes far der geshikhte fun Vilne in di yorn fun milkhome un okupatsie. Unter der algemeyner redaktsie fun Zalmen Reyzn. Vilne 1922, S. 463–498; zur Lage vor dem Ersten Weltkrieg bes. S. 463–465. Im Süden beziehungsweise Südwesten lagen die großen industriellen Zentren um Lodz, entlang der Grenze zu Deutschland erstreckte sich die Landwirtschaftsregion Posen und in Schlesien waren der Kohlebergbau sowie die Stahlindustrie angesiedelt. Ein wichtiger Wirtschaftsstandort war das im Zentrum des Landes gelegene Lublin
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Die Erwerbssituation im jüdischen Viertel
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der neuen inländischen Konkurrenz litt Vilne zusätzlich unter dem Verlust des großen russischen Marktes, aber auch am Gebietsverlust an Litauen. 4 Eine Vielzahl jüdischer Branchen standen als Folge davon vor dem Ruin, wie etwa die Socken-, Konfektions- und Schuhindustrie. 5 In der Zwischenkriegszeit konkurrierten die Juden mit den aus den Dörfern zugewanderten polnischen Arbeitskräften, die nicht nur wie bereits vor dem Ersten Weltkrieg in handwerklichen Betrieben und Fabriken eine Anstellung fanden, sondern neu auch in Handelsbetrieben und den freien Berufen. 6 Außerdem sahen sich die jüdischen Bewohner Vilnes zusehends von Seiten der polnischen Regierung diskriminiert: 7 Staatliche Monopole brachten den wirtschaftlichen Ruin für viele jüdische Unternehmen, die mit Wein, Zucker und Tabak handelten.8 Darüber hinaus wurde den Juden der Zugang zu Staatsstellen wie etwa bei der Post, der Eisenbahn oder der Verwaltung nahezu gänzlich versperrt und polnische Geschäfte und Handwerksbetriebe wurden mit günstigen Krediten bevorzugt. 9 All diese Umstände führten dazu, dass sich die Lebensbedingungen der jüdischen Bewohner Vilnes in der Zwischenkriegszeit verschlechterten und viele Juden sich aufgrund der aussichtslosen wirtschaftlichen Situation zur Emi-
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und schließlich die 400 km von Vilne entfernt liegende Hauptstadt Warschau, in deren Umgebung sich Zentren der Landwirtschaft, aber auch der textil- und metallverarbeitenden Industrie befanden. Minczeles: Vilna, Wilno, Vilnius, S. 209. Dies betraf vor allem die Land- und Forstwirtschaft. Darüber hinaus gab es auch den Verlust von Wasserwegen, wie die vilye (heute Niemen). Minczeles: Vilna, Wilno, Vilnius, S. 209 f. Jakob Lestschinski: Khurbn Vilne. In: Vilne. A zamlbukh gevidmet der shtot Vilne. Hg. von Yefim Yeshurin. New York 1935, S. 371–376, hier S. 372. Trotz all dieser Umstände war die Stellung jüdischer Unternehmer im Wirtschaftsleben beachtlich. Einem Beitrag zur jüdischen Geschäftstätigkeit in Vilne, der 1939 im Vilner Almanach veröffentlicht wurde, ist zu entnehmen, dass jüdische Firmen führend im Export von Flachs, Holz, Pilzen, Heilkräutern und in geringem Umfang auch von Schweineborsten waren. Ebenso bemerkenswert war ihre Pionierarbeit im Export von konservierten Lebensmitteln (Pilze, Gurken) sowie Radioapparaten. A. Kavenoki: Yidisher miskher in Vilne. In: Vilner almanakh. Hg. von A. Y. Grodzenski. Vilne 1939 [Reprint: Vilna Almanac. Hg. von Isaac Kowalski. Brooklyn, N.Y. 1992], Spalte 173– 178. Jakob Lestschinski: Wilna, der Niedergang einer jüdischen Stadt. In: Jüdischen Wohlfahrtspflege und Sozialpolitik, 2 (1931) S. 21–33, hier S. 23. Siehe dazu Kapitel Beziehungen zur nichtjüdischen Bevölkerung Vilnes. Yidishe Vilne in vort un bild, S. 110. Weeks, The Transformation of Jewish Vilna, S. 154–155.
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Die Erwerbssituation im jüdischen Viertel
gration entschlossen.10 Diejenigen Juden, die in ihrer Heimat blieben, kämpften tagtäglich um ihre wirtschaftliche Existenz.11 Wie genau die Beschäftigungsverteilung unter den Juden Vilnes in der Zwischenkriegszeit aussah, kann nur geschätzt werden, da wichtige Daten im Zensus von 1921 und 1931 nicht erhoben wurden. Dies berücksichtigend, kommt Kahan zu folgender Schätzung: „A rough estimate would indicate about 10 percent of the adult population as unemployable, unempolyed, or without any visible means of support. Of the rest, about 35 percent were employed in trade, mostly small-scale retail trade, about 30 percent were independent craftsmen, that is artisans; about 25 percent were wage earners in industry and craft; and up to 10 percent were employed in services, both in communal institutions and in the professions.“ 12
Wie vielfältig die Berufe der einfachen Juden waren, zeigt ein Blick in die Straßen des jüdischen Viertels. Hier bevölkerten Fisch- und Brennholzhändler, Scheren- und Messerschleifer die Märkte, Altkleiderhändler fanden an den Hausecken und in den Höfen ihren Platz und Hausierer, Hilfsarbeiter, Fuhrmänner und Lastenträger strömten durch die engen Straßen. Zu guter Letzt prägten auch Kriminelle und Prostituierte sowie Bettler das Straßenbild. 13
10 1920 lag der jüdische Bevölkerungsanteil bei 36 Prozent (46.500 Personen) und 1939 noch bei 28 Prozent (60.000 Personen). Atamuk: Juden in Litauen, S. 97. 11 Seit Beginn des 19. Jahrhunderts galten der Handel und das Handwerk als die Haupterwerbszweige der osteuropäischen Juden. Kennzeichnend für beide war die hohe Konkurrenz innerhalb des jeweiligen Berufszweigs, die aufgrund des schrumpfenden Marktes sowie der wachsenden Industrie immer mehr zunahm. Nicht selten mussten Händler und Handwerker aufgrund zu geringer Einnahmen ihre Tätigkeit aufgeben und nach einem anderen Broterwerb suchen. Desanka Schwara: Luftmenschen – Ein Leben in Armut. In: Luftmenschen und rebellische Töchter. Zum Wandel ostjüdischer Lebenswelten im 19. Jahrhundert. Hg. von Heiko Haumann. Köln, Leipzig, Wien 2003, S. 71–222, hier S. 85, 215. 12 Kahan: Vilna, S. 151. Diese relativ hohe Zahl der Beschäftigten soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele Juden in wirtschaftlich unsicheren Verhältnissen lebten. Die Gewinne der Händler waren minimal, und es herrschte ein erbitterter Konkurrenzkampf. Auch die jüdischen Arbeiter Vilnes hatten kaum ein Auskommen – ihre Löhne gehörten zu den niedrigsten in ganz Polen. Für alle, die einer beruflichen Tätigkeit nachgingen, waren die Arbeitstage sehr lang und die Gefahr, plötzlich arbeitslos zu werden, war ständig präsent. Ebd., S. 151. 13 Minczeles: Vilna, Wilno, Vilnius, S. 216.
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Die Welt des Handels
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Die Welt des Handels Einer der Haupterwerbszweige der Bewohner des jüdischen Viertels war der Handel. Dieser blühte allerorts und manifestierte sich in einer Vielzahl von Formen. Paul Monty 14 schreibt über diesen in seinem Reiseführer: „Der Handel aber spriesst und wuchert allerorten. Nichts anderes gehört dazu als ein Korb und eine Messingwaage. Mit dieser Ausrüstung wird das Geschäft in Hausfluren, Torwegen und mit Vorliebe am Uferrande des Rinnsteins eröffnet. Wer einen handfesten Appetit hat, mag hier Obst, Käse, gelbe Plinsen von beredten Frauen beziehen. Oder er kann bei einem weissbärtigen Hiob ein Glas aus der Selterflasche trinken, die der Alte, auf den Knien hockend, im Wasserbassin eines Holzbottichs kühlt.“ 15
Auf ähnliche Art und Weise wie Monty schildert auch der Historiker und Soziologe Jakob Lestschinski den allgegenwärtigen Handel im jüdischen Viertel. Dabei erwähnt er körperlich gebrochenen alte Frauen und Männer, die in den Höfen mit „Erbsen, Hörnchen, Heringen, Flaschen, altem Eisen, alten Hosen, Naschwaren, Pfefferkuchen, alten Lumpen, faulen Äpfeln“ 16 Handel treiben und ihre Waren auf Karren und Tischen sowie in Körben den Kunden zum Kauf anbieten. Der überall anzutreffende Handel nimmt auch in den Texten von Grade und Karpinovitsh eine wichtige Stellung unter den im jüdischen Viertel anzutreffenden Erwerbsformen ein. Auf der untersten Stufe des Handels stehen dabei die vielen Straßenhändlerinnen, die ihre Waren unter freiem Himmel feilbieten. Mit einer Vielzahl von Waren, die in Körben oder auf kleinen Holzständen präsentiert werden, prägen sie – wie im Folgenden auf der yidishe gas – das Bild der engen Straßen: „Di farkoyferkes in yidisher gas zaynen geshtanen mit fule koshikes [Körbe] grins: vayse kroytkeplekh un kalafyor [Blumenkohl]; baklazhan [Aubergine] in tunkl-bloye dike hoytn, krop [Dill] mit gefedemte keplekh, bintlekh tsibele un frishe kartofl. In di oybskoyshn [Obstkörbe] un oyf di hiltserne geshteln hobn zikh ongebotn fleyshike floymen [Pflaumen] tsuglaykh mit honik-zis gelblekhe aprikosn“. 17
Jeden Morgen in aller Frühe bot sich in den Straßen des jüdischen Viertels dasselbe Bild: Reihen von Frauen machten sich mit leeren Körben auf den 14 15 16 17
Für Angaben zur Person siehe S. 61 FN 3. Monty: Wanderstunden in Wilna, S. 45. Lestschinski: Wilna, der Niedergang, S. 22. Grade: Di kloyz un di gas (2), S. 116.
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Weg zum Markt, um bei einem Großhändler ihre Ware einzukaufen. 18 Sie schienen immer in Eile, denn noch vor Anbruch des Tagesgeschäfts wollten sie schon wieder in ihren Straßen und Höfen sein, um ja keine Kundschaft zu verlieren. Die Konkurrenz unter den Markt- und Straßenhändlerinnen war groß, da es ihrer viel zu viele gab und sie um jeden Kunden kämpfen mussten. Wie hart der Konkurrenzkampf unter den Vilner Straßenhändlerinnen ist, zeigt das Beispiel einer ehemaligen Prostituierten, die auf dem Markt Hühnerinnereien verkaufen will und von den anderen Marktfrauen beschimpft und schließlich vom Markt vertrieben wird. 19 Der Konkurrenzkampf unter den Straßenhändlerinnen äußerte sich aber auch darin, dass diese sich mit billigen Preisen zu unterbieten versuchten, um so ihren Kundenstamm zu vergrößern. Diese Taktik zeigt sich bei der Gänsehändlerin Lise und ihrem Ehemann Alterke, die – entgegen aller Abmachungen zwischen den Vilner Gänsehändlern und dem Schächthaus – heimlich Gänse von einem Warschauer Großhändler zu einem billigen Preis einzukaufen versuchen.20 Doch die Arbeit der Straßenhändlerinnen war nicht nur wegen der überall anwesenden Konkurrenz eine mühevolle. In einem Gedicht beschreibt Leyb Naydus die Frauen, wie sie mit sorgenvollen und ausgedörrten Gesichtern auf dem Gehsteig der zavalne gas sitzen und die Vorbeigehenden bitten, ihnen einen billigen Apfel abzukaufen. 21 Besonders hart war die Arbeit der Händlerinnen im Winter, wenn die Stimmung auf den Straßen vor Kälte niedergedrückt war. Dies ist vor allem Grades Texten zu entnehmen: „Der vinter hot zikh ayngegesn in di dare [dünn] bayner fun farkhoyshekhte [niedergeschlagen] kremer, fun gehoykerte [bucklig] balmelokhes [Handwerker], un di zorg far kheyune [Lebensunterhalt] hot aroysgekukt fun oysgeloshene oygn. Farkoyferkes bay di koshikes hobn oyf di fayer-tep gevaremt zeyere farfrorene tseshpoltene hent, oysgekukt [Ausschau halten] a koyne [Kunde].“ 22
Fast steif vor Kälte versuchten sich die Frauen mit einer heißen Suppe den beißenden Frost für einen kurzen Augenblick aus den Gliedern zu vertreiben: 18 19 20 21 22
Ders.: Di kloyz un di gas (2), S. 137. Karpinovitsh: 4/5, S. 74. Grade: Der mames shabosim, S. 29. Aus dem Gedicht „zavalne gas“ von Leyb Naydus. Shik: 1000 yor Vilne, S. 138–139. Grade: Di agune, S. 307; vgl. ders.: Di kloyz un di gas (1), S. 26, 28; ders.: Der mames shabosim, S. 25.
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„Vinter-tsayt, bay di koshikes [Körbe], dervaremen [wärmen] di hendlerkes di farfroyrene glider mit a tepele [Schüsselchen] hoberne [Hafer-] groypn.“ 23 Selbst betagte Frauen standen bei jeder Witterung bei ihren Körben und klagten – wie im Folgenden die hochbetagte Blumele – nur leise über ihr Schicksal: „Mikh keltert [frieren] oykh keseyder [immerzu], ikh fil a frost in di bayner. Ikh veys nit tsi es fun horevanye [Überarbeitung] un nit dershlofn [Schlafmangel].“ 24 Hier wird deutlich, dass Frauen wie Blumele es sich nicht leisten konnten, aufgrund bitterer Kälte oder auch des fortgeschrittenen Alters mit dem Arbeiten aufzuhören. Grades eingehender Blick in den Arbeitsalltag jüdischer Straßenhändlerinnen kommt nicht von ungefähr: Auch seine Mutter, Vella Grade, stand tagtäglich bei ihren Körben in ihrem Hof auf der yatkever gas und bot dort den Vorbeigehenden schrumpelige Äpfel, letztjährige Zwiebeln, sprießende Kartoffeln, Kohl, Karotten und frische Radieschen zum Kauf an. 25 Dass Vella Grade wie alle Straßenhändlerinnen aus finanzieller Not bei jeder Witterung draußen arbeiten musste, ist im Folgenden ihren eigenen Worten zu entnehmen: „Eynmol iz geven a vokh fun frost, fun zaverukhes [Schneestürme] un shney biz iber di kni. Ikh bin geven durkhgefroyrn, di fis geshvoln fun arumloyfn oyf di merk [Märkte] (…) ober vi ken ikh avekvarfn [hier: aufhören] di parnose [Arbeit], az men iz farshklaft bay di koshikes [Körbe] un der hurtovnik [Großhändler] mont shoyn naye khoyves [Rechnungen].“26
Die Arbeit der jüdischen Straßenhändlerinnen, die teilweise vor Sonnenaufgang begann und bis spät in den Abend andauerte, fand unter schwierigsten Bedingungen statt. Der Druck der Konkurrenz sowie die Angst, nicht genügend Geld für das Lebensnotwendigste aufbringen zu können, prägten den Arbeitsalltag dieser Menschen und hinterließen ihre Spuren. Dies zeigt Grade eindrücklich an seiner Mutter, die sich am Sabbat kaum noch auf den Beinen halten kann: „Di mame zetst zikh oyf, ire oysgemogerte bokn glien, a shveys badekt ir shtern, oyf ir ponem [Gesicht] shlog oroys der frost un dos ayz, vos ligt in ire beyner [Knochen] a gantsn vinter. Oyf ire oysgehodevete [durch Arbeit entkräftet] hent krikhn aroys ongeshvolene odern, vi opgedekte vorzlen.“ 27 23 24 25 26 27
Ders.: Der mames shabosim, S. 159. Ebd., S. 22. Ebd., S. 9. Ebd., S. 25. Ebd., S. 45.
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Grades Beschreibungen seiner Mutter veranschaulichen das harte Schicksal jüdischer Straßenhändlerinnen. Diese können einerseits als Kritik an den nahezu unmenschlichen Bedingungen verstanden werden, unter denen einfache Jüdinnen arbeiten mussten. Andererseits sind sie aber auch eine Demonstration weiblicher Entschlossenheit, Ausdauer und Kraft. Aus dieser Perspektive werden die überarbeiteten und entkräfteten Frauen, die tagtäglich ohne Jammern für den Lebensunterhalt ihre Familien kämpfen, zu „Heldinnen des Alltags“, die ihr hartes Los nicht beklagen, sondern im Gegenteil mit Stolz auf ihre Arbeit blicken. Diese Haltung ist auch bei Vella Grade zu finden, die – mit Gottes Hilfe – ihr Leben zu meistern weiß: „[S]hemen zikh mit mayn oremkeyt [Armut], shem ikh zikh lakhlutn [absolut] nit. Keyner git mir nit, ikh farhoreve [hart erarbeiten] aleyn mayn broyt, mitn oybershtn hilf.“ 28 Während die Straßenhändlerinnen auf allen Straßen und Höfen des jüdischen Viertels präsent waren, befand sich das Kernstück des jüdischen Handels zwischen der yidishe gas und der yatkever gas auf dem durkhhoyf. Dieser galt als eine der ältesten Institutionen des jüdischen Viertels. Noch im 18. Jahrhundert nannte man diesen Hof aufgrund der vielen Geschäfte, die es dort gab, di alten kromen. 29 An diesem Ort wimmelte es nur so von Kleinhändlern und umherwandernden Kaufleuten – darunter auch viele ältere Frauen, die mit Altwaren, getragenen Kleidern und manchmal auch mit gestohlener Ware handelten. 30 Hinter jeder Tür und jedem Fenster, das sich zum durkhhoyf hin öffnete, verbarg sich ein „Geschäft“. Selbst an die Hausmauern angebrachte Holzregale, die wie ein Fenster verschlossen werden konnten, dienten als Verkaufsstellen und waren ihren Besitzern lieb und teuer. 31 In den späten 1930er Jahren kam der durkhhoyf ins Visier der Vilner Stadtverwaltung, die den jüdischen Straßenhandel unter dem Deckmantel der Stadterneuerung beseitigen wollte. 32 Der durkhhoyf als solcher übte sowohl auf Einheimische als auch auf Fremde eine faszinierende Anziehung aus. Paul Monty schildert diesen als eine Art geheimnisvolle Kuriosität: 28 29 30 31
Ebd., S. 156. Klausner: Geshikhte fun der yidisher kehile, S. 68, 78. Kuznitz: On the Jewish Street, S. 71. Vgl. dazu: Jerusalem of Lithuania, Bd. 1, S. 176. Auch Paul Monty beschreibt die verschiedenartigen Verkaufsstellen, die im jüdischen Viertel anzutreffen waren. Ders.: Wanderstunden in Wilna, S. 44. 32 Kuznitz: On the Jewish Street, S. 71. Im Oktober 1937 vertrieb die Polizei sämtliche Händler des durkhhoyf und befahl diesen, ihren Handel auf einem anderen Markt zu betreiben. Siehe dazu Kapitel Antisemitismus auf der „jüdischen Straße“.
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Abb. 11: Eingang zum durkhhoyf von der yidishe gas 9. „Auch am ‚Flickermarkt‘ kann man vom Geist des Judenviertels einen Hauch verspüren. Ein Durchgang ist’s und führt vom Hause Fleischmarktgasse 10 im krummen Gassenwinkel hinüber zur Synagoge. Trödelkram und Lederflicken werden in den engen Kaufläden feilgeboten, die sich hier, Tür an Tür unter krausen Hausgalerien und windschiefen Treppen öffnen.“ 33
Sarah Reyzen (1885–1974) wiederum beschreibt in ihrem Gedicht „A gezang tsu Vilne“ die verschiedenen Waren, die es auf dem durkhhoyf zu kaufen gibt sowie die Händler, die geduldig auf Kundschaft warten und ihre Schätze wortgewandt feilbieten:
33 Monty: Wanderstunden in Wilna, S. 44.
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Abb. 12: Der durkhhoyf.
Besonders in Karpinovitshs Werk nimmt der Handel auf dem durkhhoyf eine prominente Stellung ein. Unmittelbar mit diesem verbunden ist dabei die Person von Avromke dem Anarchisten, 35 der hier einen kleinen „Laden“ besitzt: „Avromke der anarkhist iz gezesn nebn zayn kreml [Lädchen] in durkhhoyf, der plats vu s’iz gegangen der handl mit alte zakhn, un gevart oyf koynim [Kunden]. Der durkhhoyf iz kimat [beinahe] geven leydik [leer]. Bloyz etlekhe poyertes [Bauern] hobn zikh gebobret [wühlen] in a bergl vaybershe malbuhim [Kleider]. Avromke 34 Shik: 1000 yor Vilne, S. 509–512. 35 Grade erwähnt lediglich an einer Stelle einen Altkleiderhändler namens Avromke, der im durkhhoyf seine Waren verkauft. Grade: Di kloyz un di gas (1), S. 16.
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hot oysgetsoygn di fis far zikh, aropgerukt dos hitl iber di oygn, un zikh gegreyt khapn a driml [träumen] unter der far-peysekhdiker [vorpessachlich-] zun.“ 36
Zu seiner Ware kam Avromke, indem er den Leuten ihre gebrauchten Sachen abkaufte und diese mit einem kleinen Gewinn an seine Kunden weiterverkaufte. Unter Avromkes unscheinbaren Schätzen befindet sich auch altes Frisörwerkzeug, das im folgenden Beispiel das Interesse eines Barbiers geweckt hat: „Ortshik hot zikh aroysgekhapt [entfernen] oyf a rege [Moment] ontsukukn di skhoyre [Ware]. S’iz geven nit dos. Britves [Rasierer] tseshtsherbete [kaputt], eyne mit a tseshpoltn hentl. Farshimlte sharfleders. A sher-mashinke numer nol mit oysgehakte tseygner. Ale pendzlen [Pinsel] oysgekrobn. Dray fargelte razir-bakhers. Fun ale sherelekh hot men gekont opkleybn [auswählen] efsher [vielleicht] eyne.“ 37
Wer auf dem durkhhoyf einkaufte, wusste, dass die angebotenen Waren bereits diverse Vorbesitzer gehabt hatten und von keiner besonders guten Qualität waren. Umso erstaunter ist die Reaktion der Händler, als Avromke ein außergewöhnlich neuwertiges Kleidungsstück von Zuske dem Frisör zum Kauf angeboten wird: „A shtiler zshasmin-rikh [Jasminduft] hot zikh getrogn funem parfumirtn morgnrok. Di perlmuterne knep hobn geshpilt [funkeln] kegn der zun. Ale petlyes [Schlaufen], oyf di frends funem gartl [Gürtel] – alts iz geven gants – a fodem hot nit gefelt (…) Aza beged [Kleidungsstück] iz nit geven tsu zen oyfn durkhhoyf.“ 38
Während diese Beschreibungen mit den gängigen pittoresken Eindrücken des durkhhoyf übereinstimmen, verweist Karpinovitsh noch auf einen ganz anderen Aspekt dieses Ortes, der den bisher gezeichneten Bildern des durkhhoyf nicht zu entnehmen ist. So ist bezüglich Avromke auch zu lesen: „Sonim [Feinde] hot er gehat. Er hot gehersht ober dem gantsn bidnem [armselig] miskher [Handel], keyner nit tsugelozn.“ 39 Hier zeigt sich, dass es auch an diesem von außen chaotisch wirkenden Ort unsichtbare Hierarchien und zu befolgende Regeln gibt, die darauf weisen, dass die Händler auf dem durkhhoyf sich genauso vor unliebsamer Konkurrenz zu schützen versuchen wie diejenigen auf den Straßen und Märkten. Insgesamt steht der durkhhoyf in Karpinovitshs Texten nicht nur als Ort des Handelns, sondern darüber hinaus – ähnlich wie im religiösen Kontext 36 37 38 39
Karpinovitsh: 1/7, S. 129. Ders.: 2/6, S. 89. Ders.: 1/7, S. 130. Ders.: 4/1, S. 18.
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der shulhoyf – als ein Symbol des weltlichen jüdischen Lebens in Vilne schlechthin. Auf diese umfassende Bedeutung des durkhhoyf weist Karpinovitsh bereits durch den Titel seiner ersten Publikation – „Baym vilner durkhhoyf“ –, deren Erzählungen den Alltag der einfachen Menschen im jüdischen Viertel thematisieren. Neben dem Handel auf den Straßen und Höfen, der hauptsächlich von Menschen betrieben wurde, die praktisch über keine eigenen finanziellen Mittel verfügten, gab es überall im jüdischen Viertel kleinere und größere Geschäfte, für deren Räumlichkeiten eine monatliche Miete aufgebracht werden musste. Verkauft wurden hier die verschiedensten Produkte des täglichen Gebrauchs. Auf der yatkever gas beispielsweise, in unmittelbarer Nähe zu Vella Grades Verkaufsplatz, betreibt Zelda zusammen mit ihren drei Töchtern einen Laden, der mit drei zur Straße hin offenen Schaufenstern die Kunden zu sich lockt: „Zelde un di yingste tokhter shteyen bay koyshn [Körbe] oybs [Früchte], di mitlste tokhter farkoyft alerley grinsn [Gemüse], un di eltste tokhter, di greste brand [Marktschreierin], shteyt bay kestlekh mit getriknte fishelekh, bay a tun [Fass] mit shmaltshering, bay slayen [Gläser] gesayerte ugerkes [Gurken].“ 40
Auf der zavalne gas wiederum befindet sich Chane-Etl Peseles große Bäckerei. Am Freitag drängen sich in ihrem Geschäft stets die Hausfrauen aus der Nachbarschaft, die Challa für den Sabbat kauften wollen. Doch nicht nur Challot werden hier angeboten, sondern auch andere Backwaren wie „ibergeflokhtene kitkhes [geflochtenes Brot], broyt mit kiml, mit tsibl, mit rozshinkes [Rosinen], rozeve [rosig-] broyt gebakn oyf bleter; trokene beygl, shvartse lekekh [Ingwerbrot], gebeks ongefilt mit mon, hart kikhl beshotn mit teltsuker.“ 41
Etwas weiter entfernt, an der Ecke der zavalne gas und der strashuna, führt Rabbi Seeligman mit seiner Frau Bathseba ein Lebensmittelgeschäft. Hier gibt es Getreide und Mehl, geräucherten Fisch, Butter und Käse. Alle Produkte stehen fein säuberlich in mit weißem Papier ausgelegten Regalen oder liegen geordnet auf dem Fußboden. Unter dem wachsamen Auge von Bathseba Seeligman dürfen die Kunden die Waren selber auswählen und abwiegen, nur über die Preise lässt die Ladenbesitzerin nicht mit sich reden. 42 Während solche Läden wie die hier genannten im jüdischen Viertel dut40 Grade: Tsemakh Atlas (di yeshive). Bd. 1, S. 159. 41 Ders.: Der shtumer minyan, S. 28. 42 Ders.: Di kloyz un di gas (3), S. 230.
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zendweise die Straßen säumten, gab es auch einige Geschäfte mit einem Warenangebot, das nicht für den täglichen Gebrauch gedacht war. Zu diesen gehört beispielsweise der kleine Laden von Frau Lapin, einer Nachbarin von Vella Grade, in dem erstklassiges Obst – darunter auch Orangen und Bananen – einzeln in Papier gewickelt zu einem Preis angeboten wird, der doppelt so hoch ist wie in einem gewöhnlichen Geschäft.43 Noch exotischer wirkt ein Tiergeschäft auf der hegdesh gas (Armenhausgasse), wo im Schaufenster ein großes Aquarium mit Zierfischen steht, das die Kinder des jüdischen Viertels magisch anzieht. Im Inneren dieses Ladens finden sich unzählige Vögel in Käfigen sowie kleine Fische in Gläsern. 44 Geschäfte wie die hier genannten prägten in der Zwischenkriegszeit das Straßenbild des jüdischen Viertels. Sie waren nicht sehr groß und wurden meist von den Inhabern und ihren Familien allein geführt. Die Gewinne, die hier erzielt wurden, waren äußerst gering. Viele dieser kleinen Geschäfte überlebten nur dank der zinslosen Darlehen jüdischer Kreditanstalten. 45 Wer sich die Miete für die Verkaufsfläche in einem richtigen Laden nicht leisten konnte, suchte sich andere Lokalitäten, um ein Geschäft einzurichten. Zahlreich waren deshalb die Verkaufsräume, die in dunklen Gewölben ohne Fenster und nur mit einer Tür zur Straße hin untergebracht waren. Paul Monty vergleicht diese finsteren Verkaufsräume mit Höhlen, Beulen und Löchern, die wie durch eine Naturgewalt in die Häuser geschlagen seien. 46 Zu dieser Kategorie von „Geschäft“ gehört ein Kellergewölbe in Rameyles hoyf auf der yidishe gas, wo eine Frau mit Kohlen und Bündeln von gebundenem Brennholz handelt sowie der dunkle und kalte Kellerwinkel einer Krämerin, in dem die Jüdin – eingewickelt in Lumpen – bei winterlichen Temperaturen Blechgeschirr verkauft. 47 Während die einfachen Geschäfte im jüdischen Viertel ein eher bescheidenes Warenangebot hatten, fand man auf der daytshe gas – dem Zentrum des jüdischen Handels – eine große Vielfalt von Produkten. In der Zwischenkriegszeit zählte die daytshe gas zu den Hauptgeschäftsstraßen Vilnes und rühmte sich vieler großer Geschäfte mit schönen Schaufenstern, Reklametafeln und Schildern, die sowohl Jiddisch als auch Polnisch beschriftet waren und der Straße 43 44 45 46 47
Ders.: Der mames shabosim, S. 163. Karpinovitsh: 2/3, S. 45; Grade: Der mames shabosim, S. 50, 51. Cohen: Vilna, S. 403. Siehe dazu Kapitel Geldzuschüsse und Kredite. Monty: Wanderstunden in Wilna, S. 44. Grade: Di kloyz un di gas (1), S. 26, 27.
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Abb. 13: Die daytshe gas.
ein modernes Aussehen verliehen. Hier fanden sich beispielsweise Galanteriegeschäfte, Papeterien, Manufakturen und Pelzgeschäfte. 48 Die auf der daytshe gas umhereilenden Besucher und geschäftstüchtigen Händler verliehen der Straße einen stets hektischen Eindruck. Von diesem regen Treiben, dem Lärm und Geschrei der Verkäufer, vom Gezerre und Gestoße, das von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf der Straße herrschte und die Sinne der Menschen verwirrte, erzählt Leyb Naydus in seinem Gedicht „Daytshe gas“. 49 Die lebhafte und bunte daytshe gas wird auch in den Texten von Karpinovitsh immer wieder erwähnt. Darin wird sie als ein reger Handelsort beschrieben, wo ein Geschäft neben dem anderen steht und den Kunden das geboten wird, wonach ihr Herz begehrt:
„Tsalke Noz un Banovitsh mit zeyere gesheftn fun fartike kleyder; Sore Klop mit ire shnaydershe tsudatn [Kurzwaren]; Frumkins apteyk; Bendels parikmakherske [Frisörsalon]; Taleykinski fun di vursht; Probes bekeray. Vos nit? Fun dortn hot men gekont aroys ongeton [gekleidet], opgegesn [verköstigt], opgerazirt un mit a refue [Medizin] kegn hust.“ 50
Die Menschen kamen auf die daytshe gas, um in den Geschäften Kleider oder Schuhe zu kaufen oder draußen auf den Verkaufswagen der Händler nach günstigen Angeboten zu stöbern. Dabei machten die über den Geschäften angebrachten Schilder auf die zum Verkauf angebotenen Waren aufmerksam:
48 Shik:1000 yor Vilne, S. 121–126. 49 Shik: 1000 yor Vilne, S. 127. 50 Karpinovitsh: 4/1, S. 17.
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Abb. 14: Die daytshe gas. „Ale shildn [Reklametafeln] zenen geven opgevashn durkh di letste regns un geshaynt mit yidishe oysyes [Buchstaben] un gemelekhtsn [anpreisen] fun hentshkes [Handschuhe], gorsetn [Korsetts] un tsvey-bortne ontsugn [zweireihige Sakkos].“ 51
Karpinovitsh weist auch auf das Verkaufsgeschick der jüdischen Händler, das in ganz Vilne bekannt war. Reichten die Reklametafeln nicht aus, um die Kundschaft in die Geschäfte zu locken, so griffen einige Händler auch zu anderen Mitteln. Die Altwarenhändler beispielsweise zogen die Kunden direkt von der Straße in ihre Geschäfte hinein und lobten ihre Waren in den höchsten Tönen. 52 Das Verkaufsgeschick der Händler auf der daytshe gas ging angeblich so weit, dass sie mit ihrem Witz und Charme sogar Anzüge an polnische Bauern verkaufen konnten.53 Im Vergleich zu Grade, der seinen Blick mehrheitlich auf den alltäglichen, überall anzutreffenden Handel im jüdischen Viertel richtet – auf die alten Stra51 Ders.: 4/2, S. 31. 52 Ders.: 2/9, S. 137 f. 53 Ders.: 2/10, S. 154.
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ßenhändlerinnen, die ihre Waren auf provisorischen Ständen unter freiem Himmel anbieten sowie die Ladenbesitzer, deren kleine Geschäfte über das ganze jüdische Viertel zerstreut liegen – schildert Karpinovitsh vermehrt das lebhafte Geschehen an den typischen Handelsorten, wie dem durkhhoyf und der daytshe gas. Ein Grund für diese unterschiedlichen Perspektiven auf den jüdischen Handel könnte sein, dass sich bei Karpinovitsh im Gegensatz zu Grade kein persönlicher Bezug zum Straßenhandel findet und er daher weniger die Mühsal und Härte dieser Arbeit thematisiert, sondern eher das Eigentümliche und Spektakuläre. Insgesamt entsteht durch diese verschiedenen Sichtweisen ein vielschichtiges Bild, das den Handel im jüdischen Viertel eingehend charakterisiert.
Das jüdische Handwerk Genauso wie der Handel war auch das Handwerk eine der Erwerbsformen, die im jüdischen Viertel überall präsent war. Jüdische Handwerker waren in allen Handwerkszweigen vertreten. Sie arbeiteten als Hutmacher, Glasmacher, Blechschmiede, Juweliere, Uhrmacher, Schneider, Gerber, Möbeltischler, Polsterer, Bäcker, Seiler, Frisöre, Buchbinder und Maler. 54 Auf diese Präsenz des jüdischen Handwerks weist auch Monty hin: „Scherenschleifer treten mitten auf dem Fahrdamm ihr Triebrad, ein Böttcher klopft auf dem Bürgersteig die Dauben seines Fasses zusammen und aus einer schmalen Werkstatt leuchtet ein Schmiedefeuer auf die Straßen hinaus.“ 55
Die hier geradezu idyllisch beschriebene Szene sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die jüdischen Handwerker in der Zwischenkriegszeit keinen leichten Stand hatten. Wie die jüdischen Händler erfuhren auch sie von christlicher Seite eine Verdrängung aus ihrer Position. So nahm der Anteil der Juden unter den Handwerkern Vilnes innerhalb weniger Jahren deutlich ab: von 74,5 Prozent im Jahr 1920 auf 47,7 Prozent im Jahr 1932. Parallel zu dieser Entwicklung wuchs die Zahl der Werkstätten und der mit Heimarbeit beschäftigten Handwerker. Grund dafür war die Schließung zahlreicher größerer Betriebe und der Entschluss ehemaliger angestellter Handwerker, sich mit kleinen
54 Minczeles: Vilna, Wilno, Vilnius, S. 226. 55 Monty: Wanderstunden in Wilna, S. 45.
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Werkstätten selbständig zu machen. Dafür nahmen sie einen schlechteren Verdienst sowie längere Arbeitszeiten in Kauf. 56 Die jüdischen Handwerker waren in Zünften organisiert. Diese setzten sich als berufliche Vereinigungen für die Rechte ihrer Mitglieder ein. Darüber hinaus nahmen die Zünfte aber auch soziale Funktionen wahr. 57 Allein ihre hohe Zahl weist darauf, dass das jüdische Handwerk in der Zwischenkriegszeit in einer großen Vielfalt existierte. Auf der rudnitsker gas Nummer 11 etwa trafen sich in ihren Zünften die Fotografen, Bäcker, Haus- und Schildermaler, Kürschner und Frisöre. Am selben Ort waren in der „Gold-Zunft“ auch die Uhrmacher, Graveure, Juweliere, Bronzebearbeiter und Vergolder vereinigt, in der „Metall-Zunft“ die Mechaniker, Schlosser, Schmiede, Blechner und Eisendreher; in der „Leder-Zunft“ die Schuster, Gamaschenmacher, Geschirrmacher, Feinlederhersteller, Gerber, Sattelmacher und Buchbinder sowie in der „Holz-Zunft“ die Tischler, Drechsler und Rahmenmacher. Die Zunft der Metzger und Wurstmacher wiederum befand sich auf der yatkever gas Nummer 4. 58 Das Bild des jüdischen Viertels wird auch in den Texten von Grade und Karpinovitsh durch das jüdische Handwerk geprägt. Präsent sind vor allem Handwerker, die ihre eigenen Werkstätten haben. 59 Zu diesen zählt Mende der Schmied, der in einem Hof auf der glezer gas eine Schmiede besitzt und auf einen treuen Kundenstamm blicken kann: „Mende hot ongetsoygn kundn: di ferd fun khevre-kedishe [Begräbnisbruderschaft], poyerim [Bauern] fun holtsmark, gefalene prizim [Landbesitzer], vos flegn aropforn keyn [nach] Vilne oyf tsveyrederdike kalemashkes [Gespanne] tsu zukhn mazl [Glück] in yegerklub (…) Oykh di arumike shkheynim [Nachbarn] hobn tsugevorfn a bisl arbet, a kotshere [Schürhaken] far a bekeray, a prent [Gitterstab] tsu a tir fun gas.“ 60
56 Minczeles: Vilna, Wilno, Vilnius, S. 221. 57 Von großer Bedeutung waren die zinslosen Darlehen, die sie ihren Mitgliedern gewährten. Siehe dazu Kapitel Geldzuschüsse und Kredite. 58 Shlomo Beykiz: Yedies vegn vilner gezelshaftn. In: Vilner almanakh. Hg. von A. Y. Grodzenski. Vilne 1939 [Reprint: Vilna Almanac. Hg. von Isaac Kowalski. Brooklyn, N.Y. 1992], Spalte 351–366, hier Spalte 355–358. 59 In der Zwischenkriegszeit waren die Mehrheit der jüdischen Handwerker Eigentümer von Kleinstläden, die ihre Werkstätten gleichzeitig auch als Verkaufsstellen betrieben. Atamuk: Juden in Litauen, S. 98. 60 Karpinovitsh: 2/8, S. 124.
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Ähnlich wie Mende besitzt der Schlossermeister Reb Teytlboym eine Werkstätte, in der er die Bestellungen seiner Kunden – Ladenbesitzer aus der Nachbarschaft – anfertigt. „Di kremer balagern im er zol makhn kuntsike [kunstvoll] shlislen mit a sakh tseyndlekh, blatshleser un shtabes. Men vil hobn a gut shtikl arbet fun a balmelokhe [Handwerker] vos barayst [zu hohe Preise verlangen] nit. Ven men fregt im a mekekh [Preis], khezhbnt [ausrechnen] R’Kheskya zeyer lang eyder er entfert. Er barekhnt pamelekh [gemächlich] vifl im darf kostn der material, vifl tsayt di arbet vet doyern un vifl er meg derbay fardinen. Hobn di bashteler tsu im groys tsutroy, ober der shloser iz nit loet [begierig] nokh arbet un fardinstn.“ 61
Weniger gut als bei Mende und Reb Teytlboym, die bei ihren Kunden sehr beliebt und mit genügend Arbeit ausgelastet sind, laufen hingegen die Geschäfte bei Zuske dem Frisör. Dieser hat eine Frisörlehre bei Bendle auf der daytshe gas gemacht und führt jetzt ein eigenes Geschäft auf dem Mikolay gesl: „Bay Zusken hobn zikh farbrokhn [einreißen] di gesheftn. Men hot oyfgehert araynkumen tsu im. Zayn shtel [Einstellung] un di zoyere mine hobn fartribn ale kundn. Un take azoy. A parikmakherske [Frisörsalon] hot lib a glaykhvertl [Alberei], a halotsele [Witzelei], un do geyt Zuske inem veysn khalat [Übermantel] un entfert [antworten] koym oyfn gut-morgn.“ 62
Die kleinen, privaten Werkstätten im jüdischen Viertel wurden gewöhnlich von einer Person betrieben. Nur selten konnte es sich ein Handwerker leisten, seinen mageren Verdienst zu teilen und eine weitere Person einzustellen. Einer dieser Betriebe, in denen mehrere Personen arbeiten, ist die Tischlerei, in der Babrushke seine Ausbildung macht: „Er iz dokh geven a gezel in der stoleray bay Bastomskin, tsugeshnitn dortn leyztn far tirn un fentster.“ 63 Ebenfalls nicht alleine in seiner Werkstatt ist der bereits genannte Schlosser Reb Teytlboym. Bei ihm arbeitet „a shufet [Partner] a balmelokhe [Handwerker] vos hot nit keyn varshtat, keyn eygn getsayg [Werkzeuge] un iz oykh nit keyn mayster in zayn fakh [Beruf ].“ 64 Hier wird deutlich, dass der Weg in die berufliche Selbständigkeit nicht einfach war und auch nicht allen Handwerkern gelang. Voraussetzung dafür waren genügend finanzielle Mittel, um eigene Werkzeuge zu kaufen und die monatliche Miete für passende Räumlichkeiten zu bezahlen. 61 62 63 64
Grade: Di kloyz un di gas (2), S. 48. Karpinovitsh: 1/7, S. 124. Ders.: 3/4, S. 53. Grade: Di kloyz un di gas (2), S. 49.
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Mit solchen finanziellen Schwierigkeiten konfrontiert sieht sich beispielsweise der Frisör Ortshik, der als Angestellter in Bendels Friseursalon auf der daytshe gas arbeitet und davon träumt, ein eigenes Geschäft zu führen: „Biz Ortshik hot derlebt tsu efenen an eygene parikmakherske iz im gut aroysgekrokht di oygn fun kop. Etlekhe yor hot er geklibn [gesammelt] getsayg [Werkzeug], geleygt a britve [Rasiermesser] tsu a britve. Arayngeyn tsu Kruks tokhter inem frizirer-depo un heysn aynpakn an oysshtatung – das hot Ortshik nit gekont baheybn [leisten].“ 65
Mit viel Geduld zahlt sich Ortshiks jahrelanges Sparen allmählich aus: Er findet auf der krupnitshe gas 66 einen Laden, dessen Miete er sich leisten kann, und stattet diesen mit Stühlen, Haartrocknern und verschiedenen gebrauchten Werkzeugen aus. Hier zeigt sich, dass die berufliche Unabhängigkeit eines Handwerkers manchmal erst nach Jahren zu realisieren war. Außerdem wird deutlich, dass nicht überall im jüdischen Viertel die Mieten für ein eigenes Geschäft bezahlbar waren. Die hier genannte Straße, in der Ortshik sich die Ladenmiete leisten kann, zählte zu den ärmeren im jüdischen Viertel und war mit der prächtigen daytshe gas nicht zu vergleichen. Weitere Einschränkungen muss Ortshik darüber hinaus bei seinen Werkzeugen machen – neue aus einem Fachgeschäft kann er sich nicht leisten. Die Frage, weshalb viele Handwerker eine eigene Werkstatt oder ein eigenes Geschäft besitzen wollten, ist einfach zu beantworten: Sie erhofften sich – auch mit Blick auf die Zukunft – eine Besserung ihrer finanziellen Situation. Dies ist auch bei Ortshik der Fall, dessen Frau schwanger ist und gerade ihre Arbeit als Kellnerin verloren hat: „Oyf eyn skhires [Verdienst] iz geven shverlekh, iz oystsuhaltn di shtub [etwa: über die Runden kommen] (…) Hot Ortshik gezen, az s’iz nit keyn gang [Vorwärtskommen]. Er muz efenen a tir far zikh [sich selbständig machen] – vi zayn bobe [Großmutter] flegt zogn: a tir fun gas iz a fentster in himl.“ 67
Dieses jiddische Sprichwort verdeutlicht, dass auf weltlicher Ebene wirtschaftliche Unabhängigkeit gleichbedeutend war wie im religiösen Kontext die himmlische Erlösung. Während die Hoffnung auf etwas mehr Verdienst also der primäre Grund war, weshalb sich Handwerker für die berufliche Selbstän-
65 Karpinovitsh: 2/6, S. 87. 66 Die Juden nannten diese Straße Shlomo Kisins gesl nach einem seiner armen Bewohner. Shik: 1000 yor Vilne, S. 133. 67 Karpinovitsh: 2/6, S. 87 f.
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Die Erwerbssituation im jüdischen Viertel
digkeit entschieden, so gab es einige wenige, die – wie im folgenden Beispiel der Tischler Elyakum – aus einer anderen Motivation diesen Weg einschlugen: „Der stolyer [Tischler] hot gevolt zayn a balebos [Chef ] far zikh. Men zol im keyn deye [Autorität] nit zogn vegn tsu geyn un kumen. Er hot nokh alts gehat di gevoyntshaft ibertsulozn [aufhören] di arbet in mitn un avekblandzhen [umherziehen] iber kloyzn batrakhtn shnitserayen.“68
Den Weg in die berufliche Unabhängigkeit ließen sich viele Handwerker trotz fehlender Finanzen nicht versperren. Wer die Miete für einen eigenen Geschäftsraum nicht aufbringen konnte, suchte nach einer anderen Lösung. Diese lag für einzelne Handwerker direkt in den eigenen vier Wänden, die sie kurzerhand als Werkstätte oder Atelier benutzten. Zu dieser Gruppe gehörten viele Schneider, denen eine im Zimmer aufgestellte Nähmaschine genügte, um ihrem Erwerb nachzugehen. Velvel der Schneider etwa, der in Rameyles hoyf lebt, näht in seiner kleinen Wohnung für einen Großhändler Knopflöcher in billige Gewänder 69 und auch auf der polotsker gas sitzt Merl, eine Schneiderin, in ihrer Wohnung über die Nähmaschine gebeugt und fertigt Kleider für die Leute aus der Nachbarschaft. 70 Dass die Bewohner in den eigenen Wohnungen nicht nur feines Handwerk wie die Schneiderei betrieben, sondern dort auch gröbere Arbeiten verrichteten, zeigt das Beispiel des oben genannten Tischlers: „Elyakum Pap un zayn mishpokhe [Familie] hobn gevoynt oyfn vilner Goens gas in a halbn keler. Aroptsugeyn oyf etlekhe treplekh, vu a helft fun der dire [Wohnung] hot farnumen [einnehmen] der varshtat.“ 71
Doch längst nicht jedes Handwerk erforderte für seine Ausführung eigene Räumlichkeiten. Ein Maler beispielsweise konnte direkt in der Wohnung seines Kunden arbeiten, ohne unbedingt auf eine zusätzliche Werkstatt angewiesen zu sein. Mit solchen Überlegungen im Kopf raten auch die Eltern von Moyshele Munvas ihrem Sohn, den Beruf des Polsterers zu ergreifen: „Moyshele zol vern a tapetsirer. Zikh oyslernen ibertsien kanapes un veykhe shtuln iz nit keyn groyse kunts. Men darf dertsu oykh nit hobn keyn sakh [viel] getsayg [Werk-
68 69 70 71
Grade: Der shtumer minyan, S. 9. Ders.: Der mames shabosim, S. 89. Ders.: Di agune, S. 10. Ders.: Der shtumer minyan, S. 9.
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Das jüdische Handwerk
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zeuge] un an eygenem varshtat, men ken di arbet ton baym bashteler [hier: Kunde] in shtub.“ 72
Trotz der schwierigen Umstände galt der Handwerksberuf auch in der Zwischenkriegszeit als ein solider Broterwerb. Dies zeigt sich daran, dass gerade jungen Menschen seitens der Eltern und Lehrer geraten wurde, einen solchen für sich in Betracht zu ziehen. Dies veranschaulicht das folgende Beispiel, in dem sich eine Lehrerin Gedanken über die Zukunft einer ihrer Schülerinnen macht: „Di lererin Mire hot gehat a fartikn plan. Breyndele vet endikn di shul un geyn in ‚hilf durkh arbet‘, zikh lernen shneyderay. Vet zi hobn a fakh [Beruf ] in hant un zayn a gemakhter [unabhängig] mentsh.“ 73 Im jüdischen Viertel manifestierte sich das Handwerk in zahlreichen Werkstätten, die einerseits von ihren Besitzern allein oder zusammen mit einem Geschäftspartner, einem Gesellen oder anderen Angestellten betrieben wurden. Die Kundschaft dieser Betriebe stammte mehrheitlich aus dem jüdischen Viertel, doch gab es auch solche, die von außerhalb den Weg zu einzelnen Handwerkern fanden. Der Besitz einer eigenen Werkstätte oder eines eigenen Geschäfts war der Wunsch vieler Handwerker. Mit der beruflichen Selbständigkeit erhofften sich die Menschen vorrangig einen besseren Verdienst. Was für die Realisierung derselben notwendig war, waren genügend finanzielle Mittel, um eigene Werkzeuge und die Miete für die Räumlichkeiten zu bezahlen. Diejenigen, die über kein Geld verfügten, benutzten ihre Wohnungen als Werkstätten oder sie suchten sich gezielt ein Handwerk aus, das direkt in den Wohnungen der Kundschaft betrieben werden konnte.
72 Ders.: Di kloyz un di gas (2), S. 65. 73 Karpinovitsh: 3/9, S. 126. Die 1903 gegründete Gesellschaft hilf durkh arbet spielte bei der Ausbildung von Handwerkern eine wichtige Rolle. Seit 1906 betrieb sie auf der subotsh gas Nummer 19 eigene Werkstätten mit eigens dafür angestellten Instruktoren, um Handwerker nach den neusten Kenntnissen auszubilden. Im Lauf der Zeit wurden hier auch verschiedene Schneidereiwerkstätten eröffnet, in denen 1916 bereits 300 Personen ein sechsmonatiges Praktikum absolvierten. Vilner zamelbukh (1), S. 200–201; vgl. Jerusalem of Lithuania, Bd. 1, S. 205. In der Zwischenkriegszeit verzeichneten auch verschiedene Werk- bzw. Abendkurse regen Zulauf. Diese vermittelten verschiedene fachliche Kenntnisse, die, so Lestschinski, vor allem auch bei jungen Menschen des Mittelstands auf Interesse stießen. Allerdings lag der Grund für das Erlernen eines Handwerks nicht in der Zuversicht, in Vilne damit ein Auskommen zu finden, sondern in der Hoffnung, mit diesem Wissen überall auf der Welt eine Chance zu haben. Lestschinski: Wilna, der Niedergang, S. 24.
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Die Erwerbssituation im jüdischen Viertel
Weitere Berufe Während in den Texten von Grade und Karpinovitsh viele Bewohner des jüdischen Viertels im Handel oder Handwerk tätig sind, so finden sich neben diesen auch solche, die ihren Lebensunterhalt in anderen Berufszweigen verdienen. Zu diesen gehören beispielsweise die Kneipenbesitzer, die Arbeiter im Schächthaus, die Hühnerrupferinnen, die Fuhrmänner und die Träger. Genauso wie die Händler und Handwerker üben sie Berufe aus, die im jüdischen Viertel gang und gäbe waren und zu den „traditionellen“ Betätigungsfeldern der jüdischen Unterschichten zählten. Zu diesen gehörten auch all jene Berufe, die dem religiösen Bereich zuzuordnen sind, wie die von der jüdischen Gemeinde angestellten Rabbiner oder Synagogenaufseher. 74 Abgesehen von diesen für das jüdische Viertel typischen Berufsfeldern finden sich in den Texten von Grade und Karpinovitsh auch Personen mit Berufen, die sich von den herkömmlichen Tätigkeiten abgrenzen und die in den Augen der einfachen Juden deshalb als etwas Besonders gelten. Hierzu gehören beispielsweise Ärzte und Rechtsanwälte, Unternehmer, Bankiers und Journalisten, Bibliothekare, Lehrer der modernen jüdischen Schulen oder Apotheker und Krankenschwestern. Diese Personen sind innerhalb der jeweiligen Texte mit dem jüdischen Viertel nur bedingt verbunden und stellen dadurch eine Verbindung zur jüdischen Mittelschicht und damit auch zur Außenwelt dar. Neben diesen eher konventionellen Berufen finden sich schließlich bei Karpinovitsh auch Berufsfelder, die innerhalb des jüdischen Viertels geradezu eigene Lebenswelten für sich bilden und im traditionell-jüdischen Umfeld als „exotisch“ und suspekt gelten. Dieser Gruppe zuzuordnen sind die Schauspieler und Regisseure des jiddischen Theaters sowie die Ganoven und Prostituierten der jüdischen Unterwelt. 75 Der jüdische Mittelstand – davon zeugen die Memoiren einzelner Vilner Jüdinnen – war ähnlich wie die jüdischen Unterschichten auch im Handel und Handwerk tätig, doch im Unterschied zu den einfachen Juden war dieser im Besitz größerer Handels- und Handwerksbetriebe mit mehreren Angestellten. Esther Hautzigs Familie beispielsweise besaß eine Holzfirma, 76 Henia Brazgs
74 Siehe dazu Kapitel Die Welt der Synagogen – der shulhoyf. 75 Siehe dazu Kapitel Das jiddische Theater, Kapitel Diebe, Gauner und Ganoven sowie Kapitel Vilner Straßenmädchen. 76 Hautzig: Remember who you are, S. 212.
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Weitere Berufe
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Vater gehörte eine Mühle sowie eine Schnapsbrennerei 77 und Schoschana Rabinovicis Eltern waren im Besitz eines in der ganzen Stadt bekannten Modegeschäfts. 78 Dass auch die freien Berufe zu den Arbeitsfeldern des jüdischen Bürgertums zählten, zeigt das Beispiel von Lily Margules’ Mutter: Sie hatte Zahnmedizin studiert und führte eine eigene Praxis. 79 Insgesamt zeigen die Texte von Grade und Karpinovitsh eine bunte Mischung von verschiedenen Berufen und Tätigkeiten, die von den Vilner Juden im und außerhalb des jüdischen Viertels ausgeübt wurden. Dabei zeigt sich, dass der Wohnort und die soziale Stellung einer Person in Korrelation mit der Art des Berufes standen, der von ihr ausgeübt wurde. Interessant dabei ist, dass trotz aller Konkurrenz sowohl bei Grade als auch bei Karpinovitsh die verschiedenen Erwerbsformen harmonisch nebeneinander dargestellt werden und insbesondere das jüdische Viertel der Ort zu sein scheint, an dem Ganoven und Rechtsanwälte, einfache Marktfrauen und Ärzte, Wasserträger und Lehrer konfliktfrei zusammentrafen und an dem die Arbeit eines jeden Juden respektiert wurde. Im Ganzen entsteht so der Eindruck, als wollten beide Autoren die Vilner Juden zwar als vielseitige, aber dennoch in sich geschlossene Einheit darstellen.
77 Brazg: Passport to Life, S. 9. 78 Rabinovici: Dank meiner Mutter, S. 8. 79 Margules: Memories, Memories …, S. 25.
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Armut im jüdischen Viertel
Im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hinterließ der soziale, politische und wirtschaftliche Wandel tiefe Spuren innerhalb der jüdischen Gemeinden Osteuropas. Während einige wenige Juden als Unternehmer durch die Veränderungsprozesse zu großem Reichtum gelangten, fiel die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung diesen zum Opfer und verarmte. So entstand eine neue Bevölkerungsschicht, die unter unvorstellbaren Wohn-, Arbeits- und Verdienstbedingungen lebte. Diese sogenannten „Luftmenschen“1 hielten sich und ihre Familien als Kleinhändler und Kleinhandwerker über Wasser. Sie waren „ohne besondere Ausbildung, ohne Kapital, ohne einen spezifischen Beruf“ 2 und nahmen innerhalb des Wirtschaftskreislaufs keinerlei Funktion ein. Ihre Zahl wird für das Ende des 19. Jahrhunderts auf 40 Prozent geschätzt. Armut wurde so in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für viele Juden zu einer alltäglichen Erscheinung und „zu einem Kennzeichen ostjüdischen Daseins“. 3 Auch in der jüdischen Gemeinde von Vilne herrschte Armut und Not. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg bangte die Mehrheit der Juden um ihr tägliches Brot. Viele wohnten in primitivsten Unterkünften und nicht wenige starben. 4 Aufgrund des fortschreitenden wirtschaftlichen Niedergangs der Stadt lebte in der Zwischenkriegszeit eine immer größer werdende Zahl von Juden unter der Armutsgrenze. Besonders sichtbar war die Not in einem der ältesten Stadtteile, dem jüdischen Viertel. Dieser Teil des mittelalterlichen Vilne, der die Geburt der jüdischen Gemeinde erlebt hatte, beherbergte in seinen Anfängen auch wohlhabende Juden wie hohe religiöse Funktionäre, Fabrikanten und Händler. Mit der Zeit verließen die begüterten Familien das jüdische Viertel, um in moderneren Stadtteilen zu wohnen, in denen die Wohnbedin1 2 3
4
Zum Begriff des Luftmenschen siehe: Schwara: Luftmenschen – Ein Leben in Armut, S. 92–96. Schwara: Luftmenschen – Ein Leben in Armut, S. 91. Dies.: „Luftmenschen“ – Leidtragende des Verarmungsprozesses in Osteuropa im 19. Jahrhundert. In: Juden und Armut in Mittel- und Osteuropa. Hg. von Stefi Jersch-Wenzel in Verbindung mit François Guesnet, Gertrud Pickhan, Andreas Reinke und Desanka Schwara. Köln, Weimar, Wien 2003, S. 149–165, hier S. 161 Schwara: Luftmenschen – Ein Leben in Armut, S. 88.
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Mittellosigkeit
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gungen besser waren. In die leerstehenden Häuser und Wohnungen, die mit der Zeit immer mehr verkamen, zogen arme Juden und in Folge des Ersten Weltkriegs auch Flüchtlinge ein. So wurde aus dem einst „aristokratischen“ Stadtteil ein Elendsviertel: 5 „There the houses, once inhabited by well-to-do merchants and manufacturers, had degenerated into slums that swarmed with the destitute, the beggars and the underworld.“ 6
Mittellosigkeit Armut und Not sind auch in den Texten von Grade und Karpinovitsh allgegenwärtig. Sie manifestieren sich nicht nur in den einfachen Wohn- und harten Arbeitsbedingungen, sondern auch in einer Reihe von anderen Merkmalen, die durch die kaum vorhandene Kauf- und Zahlungskraft der Bewohner des jüdischen Viertels bedingt waren. Viele Menschen, die im jüdischen Viertel oder ähnlich armseligen Stadtteilen lebten, waren aufgrund der niedrigen Mieten aus anderen Wohngegenden hierher gezogen. Dies war auch bei Familie Grade der Fall. Diese hatte nämlich vor dem Ersten Weltkrieg nicht im jüdischen Viertel gewohnt, wie Vella Grade, die sich mit den beengten Wohnverhältnissen hinter der Schmiede nur schwer abfinden kann, erzählt: „Fun di likhtike [hell] zaln [Wohnzimmer] hobn mir zikh gemuzt areynkleybn [umziehen] in keler oyf der zavalner gas, un fun dort aher in varshtat, beym shloser fun hintn.“7 Dass Familie Grade gleich mehrere Male umgezogen ist, nämlich von einer schönen Wohngegend auf die noch vor dem Ersten Weltkrieg nicht renovierte zavalne gas und von dort auf die yatkever gas, weist auf eine kontinuierliche Verschlechterung ihrer finanziellen Lage hin. Ebenfalls aus Geldknappheit waren die neuen Nachbarn von Familie Grade, der Gänsehändler Alterke und seine Frau Lise, in den Hof auf der yatkever gas gezogen. Dieser galt als Hof der Armen – hierher zog nur, wer sich keine bessere Wohngegend leisten konnte.8 Dass man auf der yatkever gas des jüdischen Viertels im Vergleich zu anderen Stadtteilen Vilnes sehr günstig wohnen konnte, ist auch dem in Geldnot steckenden Reb Shaye bewusst, der mit seiner Frau eine schöne Wohnung auf 5 6 7 8
Minczeles: Vilna, Wilno, Vilnius, S. 211–212. Cohen: Vilna, S. 406. Grade: Der mames shabosim, S. 18. Ebd., S. 28–29.
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Armut im jüdischen Viertel
der teuren pohulianke bewohnt und mit dem Gedanken spielt, in eine weniger teure Gegend umzuziehen: „Tsu vos badarf ikh a dire [Wohnung] oyf pohulianke? Ikh hob dokh gekont voynen noent [in der Nähe] tsu mayn gesheft, oyf der shavler gas, oyf der yatkever, vu diregelt [Wohnungsmiete] iz a dritl, un vu der virt vil aroysvarfn, vayl men tsolt im nit, strashet [drohen] men im, az men vet im araynshteln in tsaytung un az es iz nokh do a got oyf der velt, vert er a toyter.“ 9
Eine Alternative zu den billigen Wohnungen im jüdischen Viertel waren die 1898 von der Baronin Hirsch und der Jewish Colonization Association finanzierten Wohlfahrtswohnungen „bilike hayzer“ in der Vorstadt Poplaves, auf der subotsh Nr. 37, 10 wo die Bewohner nur wenig Miete bezahlen mussten. In der Zwischenkriegszeit waren die Häuser dem Zerfall nahe und die jüdische Gemeinde musste die Gebäude übernehmen, um sie nicht an die Stadt zu verlieren. 11 In den Wohlfahrtswohnungen wohnten nicht nur Familien, sondern auch Straßenmusikanten und andere Künstler, die oft nicht genügend Geld für die Miete aufbringen konnten.12 Auch junge Frauen und Männer – Haluzim, die nach Palästina auswandern wollten – fanden hier zeitweilig eine preiswerte Unterkunft.13 Eine Folge der allgemeinen Geldknappheit war, dass die Bewohner des jüdischen Viertels genauso wie gewisse Mieter in den Wohlfahrtswohnungen selbst die niedrigen Mieten nicht bezahlen konnten. Daraus entstanden Konflikte zwischen Mietern und Vermietern: „Der balebos [Besitzer] fun hoyf, Seremetinke, hot zikh gehaltn in eyn krign [Streit] mit di shkheynim [Mieter]. Er hot gefodert dire-gelt [Wohnungsmiete].“ 14 Es ist anzunehmen, dass die Hausbesitzer die finanziellen Nöte ihrer Mieter kannten und ihnen gegenüber deshalb auch Nachsicht zeigten – wegen Mietschulden scheint niemand seine Wohnung verloren zu haben. 15 Einer von diesen Vermietern ist Reb Nosn Nota, der von sich behauptet: „Ikh hob keynmol mayne skoynim [Nachbarn] nit aroysgevorfn, khotsh [obwohl] yor-ayn yor-oys blaybn zey mir shuldik dire-gelt [Wohnungsmiete].“ 16 Ähnlich verhält es sich auch bei einem Besitzer eines 9 10 11 12 13 14 15 16
Grade: Der shulhoyf (2), S. 246. Karpinovitsh: 2/5, S. 79; ders.: 3/1, S. 11; ders.: 3/9, S. 131. Cohen: Vilna, S. 398. Karpinovitsh: 2/4, S. 76. Ders.: 3/9, 131. Ders.: 1/9, S. 151. Vgl. Grade: Der shulhoyf (2), S. 246. Ebd., S. 287; vgl. ebd. S. 282.
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heruntergekommenen Hauses im Stadtteil Novgorod. Dieser hat es längst aufgegeben, seine Mieter – eine arme Hühnerrupferin und ihre Tochter – nach der anstehenden Miete zu fragen. 17 Die Zahlungsunfähigkeit der Mieter hatte zur Folge, dass die Hausbesitzer keine oder doch nur sehr geringe Einnahmen aus ihren Mietobjekten hatten. Dies ist auch in Peseles hoyf der Fall. Khane-Etls verstorbener Ehemann, Shmuel-Yosef, hatte mit seinem Besitz eigentlich mehr Ausgaben als Einnahmen. Er musste nämlich sämtliche Wohnungen renovieren und reichlich Steuern bezahlen, während seine Mieter – stets arme Leute – nur unregelmäßig ihre Miete bezahlten: „Reb Shmuel-Yosef Peseles hot oyf zayn khatser [Hof ] gekukt, vi er volt oysgehaltn [finanzieren] a palate [Krankenstation] mit betn in yidishn shpitol oder getsolt far gelegers in moyshev-skeynim [Altenheim].“ 18
Der Grund, weshalb viele Mieter im jüdischen Viertel in der Schuld der Vermieter standen, war, dass diese weitaus größere Sorgen plagten als die nächstanstehende Wohnungsmiete. Ihre finanzielle Not ging teilweise so weit, dass sie nicht einmal genügend Geld für Nahrungsmittel aufbringen konnten. Die Familie von Rabbi David Zelver beispielsweise besitzt nicht genügend Geld, um ihrem Säugling Milch kaufen zu können. 19 Wie wenig Geld die Menschen für alltägliche Nahrungsmittel ausgeben konnten, wird anhand der kleinen Portionen von Lebensmitteln sichtbar, die diese bei den Straßenhändlerinnen erstanden. Die Straßenhändlerinnen ihrerseits kannten die finanziellen Nöte der Leute und stellten sich auf ihre Kundschaft ein. So verkauft eine Hühnerhändlerin neben ganzen Hühnern auch einzelne Teile der Tiere sowie deren Innereien: „Zi hot shoyn gehat ire shtendike opnemerkes: vayber vos hobn nit gekont kumen tsu a gantser hun, bloyz tsu a gorgl, a hertsl, a tserisn leberl.“ 20 Ähnlich sieht es auch bei einem Heringverkäufer aus. Zu ihm kommen Menschen, die nicht einmal einen einzigen Fisch kaufen können: „Bay ot di layt, vos hobn zikh gekont farginen [sich gönnen] tsu koyfn bloys dem liak [Salzlake], dos gezaltsene vaser fun fesl vu s’ligt der hering, iz zvey groshn oykh geven a kapital.“ 21
17 18 19 20 21
Karpinovitsh: 3/7, S. 94. Grade: Der shtumer minyan, S. 28. Ders.: Di agune, S. 39. Karpinovitsh: 3/7, S. 94. Ders.: 4/3, S. 48.
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Armut im jüdischen Viertel
Dass die Bewohner des jüdischen Viertels nicht einfach jedes Lebensmittel kaufen konnten, spiegelt sich auch in ihren Wünschen und Vorstellungen. So träumt der obdachlose Shibele von einem Zuhause mit einem großen Tisch, wo er immer Radieschen mit Sahne essen und seine Freunde zum Sabbatmahl einladen kann,22 und eine alte Jüdin erachtet eine Tasse heiße Schokolade nur als Getränk der Reichen. 23 Neben den Lebensmitteln war auch die Kleidung für viele Bewohner des jüdischen Viertels kaum erschwinglich. Dies galt nicht nur für neue Kleider, sondern auch für jene auf dem durkhhoyf, die bereits diverse Besitzer gehabt hatten. Mehrere Kleidungsstücke zu besitzen war für viele Menschen keine Selbstverständlichkeit. Ein Träger von Sauerkraut- und Heringsfässern beispielsweise hat nicht einmal Kleider zum Wechseln und wagt es aufgrund ihres Geruchs höchstens, sich im Gebetshaus in der Nähe des Eingangs hinzustellen. 24 Selbst bei Familie Grade war nicht viel Geld für Kleidung übrig: Der Autor trug sommers wie winters einen langen Mantel, um die Löcher in seinem Anzug zu verbergen. 25 Es ist anzunehmen, dass die jüdischen Unterschichten nicht nur zu wenig Kleidung besaßen, sondern auch solche, die für die Witterungsverhältnisse unzureichend war. Dies zeigt sich daran, dass die Händlerinnen und Händler in den Straßen und Höfen, aber auch in den dunklen, feuchten Kellergewölben meist nur in Tücher und Lumpen gehüllt waren, die nicht genügend wärmten. 26 Die Bekleidung der Armen im Winter wird von Lucy Dawidowicz ähnlich beschrieben: „The poor wrapped themselves in shawls, old blankets, and rags.“ 27 Neben fehlender Kleidung stellte sich für die Bewohner im Winter ein weiteres Problem: Brennmaterial zum Beheizen der Wohnungen musste aufgetrieben werden. Holz und Kohle, die hierfür verwendet wurden, stellten kostbare Güter dar, die sich viele Bewohner nicht leisten konnten: „In di kehilshe [gemeinde-] hoyfn iz di biternish [Not] geven greser. Di shrek [Angst] farn langn vinter vos hot zikh geshtelt [ankündigen] mit shney, frost un vintn; di dayges [Sorgen] vos es iz nito keyn holts, keyn koyln [Holzkohle].“ 28 22 23 24 25 26 27 28
Ders.: 2/4, S. 54, 56. Ders.: 1/1, S. 16. Grade: Di kloyz un di gas (2), S. 61. Ders.: Der mames shabosim, S. 44. Ders.: Di kloyz un di gas (1), S. 26, 27. Dawidowicz: From that Place, S. 69. Grade: Di agune, S. 275.
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In ihrer Not wärmten sich viele Menschen in den Klausen und Gebetsstuben, wo meist ein eingeheizter Ofen stand: „Vinter-tsayt iz der oyvn gedikht [eng] arumgezetst mit oremelayt [Armen], vos kumen arayn in kloyz zikh dervarmen.“ 29 Dass sich die Armen im Winter in der Goens kloyz und in der alte kloyz auf dem shulhoyf aufwärmten, war eine Selbstverständlichkeit, denn die Klausen und Gebetsstuben waren öffentliche Gebäude, die jedem Juden offenstanden: „A besmedresh [Gebets- und Lehrhaus] iz oykh far oremelayt zikh ontsuvaremen.“ 30 In Anbetracht all dieser Mängel erstaunt es nicht, dass es den einfachen Juden natürlich auch an Geld für Ausgaben fehlte, die nicht das absolut Notwendigste betrafen. Dazu gehören beispielsweise das Schulgeld für das Gymnasium 31 sowie neue Gebetsmäntel und schöne Gebetsbücher. 32 Die hier beschriebene Armut, die sich darin äußert, dass die Menschen zu wenig Geld für existentielle Dinge wie Wohnen, Nahrung, Kleidung und Heizmaterial ausgeben konnten, war nicht ein Phänomen, das ausschließlich die Zwischenkriegszeit betraf. Not und Entbehrungen in viel schlimmerer Form hatten die Bewohner des jüdischen Viertels auch während des Ersten Weltkriegs erfahren. 33 Von diesem Umstand sprechen ebenfalls die Texte von Grade und Karpinovitsh. Hierbei war die prägendste Erfahrung, die die Menschen während dieser Zeit machten, diejenige des Hungers: „S’iz oysgebrokhn di ershte velt milkhome. Der hunger hot zikh farleygt in der mames tshugunenem [gusseisern] top. Der tate [Vater] iz gantse teg umgelofn iber der shtot un gezukht vu tsu dabuven [erhalten] a breytl [Brötchen] far der mishpokhe.“ 34
Wie in diesem Beispiel von Karpinovitsh, so thematisiert auch Grade in seinen Memoiren die Entbehrungen, die seine Familie während des Krieges erdulden musste und schildert dabei, wie seine beiden jüngeren Schwestern aufgrund von Hunger gestorben sind. 35 Dass nicht nur die armen Juden Vilnes von der großen Not der Kriegsjahre betroffen waren, sondern auch das jüdische Bürgertum, zeigen folgende Worte Vella Grades:
29 30 31 32 33 34 35
Ders.: Der shulhoyf (1), S. 18 f. Ders.: Der shtumer minyan, S. 168. Karpinovitsh: 5/2, S. 21. Grade: Der shulhoyf (1), S. 55. Vgl. dazu: Schuster: Zwischen allen Fronten. Karpinovitsh: 4/6, S. 88. Grade: Der mames shabosim, S. 40 f.
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Armut im jüdischen Viertel „S’iz geven in der milkhome [Krieg], ven dayn tate [Vater] hot shoyn mer nit gahat keyn kheyder [Cheder]. Velkher balebos [hier: Herr] hot es gekont shikn zayn yingl lernen? Di shenste [vermögend] yidn hobn gehungert.“ 36
Mit dem Ende des Krieges stellte sich für die ärmsten Juden Vilnes aber noch keine Normalität ein, denn der Hunger bestand weiterhin: „S’iz geven ersht nokh der milkhome [Krieg]. Mayn tate iz gelegn krank in shpitol. Di mame, geshvoln fun hunger, hot koym geshlept di fis.“ 37 Diese im jüdischen Viertel der Zwischenkriegszeit herrschende Not kann teilweise als Folge des Krieges verstanden werden. Darüber hinaus waren aber auch die wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen der 1920er und 1930er Jahre dafür verantwortlich, dass sich die Lage der jüdischen Unterschichten bis zum Zweiten Weltkrieg kaum verbesserte. Den Menschen selbst blieb deshalb nichts anderes übrig, als mit den tagtäglichen Entbehrungen zurecht zu kommen.
Geldzuschüsse und Kredite Für viele Bewohner des jüdischen Viertels wäre das Leben noch viel härter gewesen ohne die Geldzuschüsse, die sie von Verwandten aus dem Ausland erhielten. Hiervon profitiert beispielsweise ein ehemaliger Krämer, dessen Kinder nach Amerika ausgewandert sind: „Ven di kinder zaynen untergevaksn, zenen zey zikh tseforn [auswandern] keyn Amerike. S’iz zey avek gut un zey hobn genumn shikn dem altn tatn dolarn.“ 38 Während für einige Juden das Geld ihrer Verwandten eine Aufbesserung ihres eigenen Verdienstes darstellte, war dieses für andere wiederum die einzige Einnahmequelle. Dies ist der Fall bei einer betagten Jüdin: „Gelebt hot zi fun a shtikl shtitse [Hilfe], vos hot zi bakumen fun a korev [Verwandte] in Amerike.“ 39 Die hier genannten Beispiele deuten darauf hin, dass es vor allem ältere Menschen waren, die von ihren Verwandten finanziell unterstützt wurden. Dies zeigt sich etwa bei einem alten Juden, der auf der yidishe gas in einer Dachkammer wohnt und von seiner Schwester in Johannesburg regelmäßig
36 37 38 39
Ebd., S. 49. Ebd., S. 41. Grade: Der shulhoyf (2), S. 237. Karpinovitsh: 5/9, S. 148.
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Geldzuschüsse und Kredite
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Geld erhält, 40 oder auch bei Vella Grades Nachbarin Blumele, die mit der Hilfe ihrer Kinder aus Argentinien rechnen kann. 41 Wer nicht genügend eigenes Geld für Lebensmittel oder andere notwendige Ausgaben hatte und nicht mit der Unterstützung von Verwandten aus dem Ausland rechnen konnte, dem blieb häufig nichts anderes übrig, als sich zu verschulden. Rabbi Shmuel Munye beispielsweise, der mit seiner siebenköpfigen Familie auf der glezer gas lebt, steht gleich bei mehreren Personen in der Schuld: „Reb Shmuel-Munyes skhires [Lohn] klegn [ausreichen] koym oyf dray teg, un di iberike fir teg, arayngerekhnt shabes, lebt men oyf borg. Bali-khoyves [Schuldner] tretn nit op [fernbleiben] fun zayn shtub. Der katsef [Metzger], der psomim-kremer [Gewürzhändler], der hoyz-virt un der rebe fun zayne tsvey yingere yinglekh trefn zikh in beys-harov [Haus des Rabbis] vi oyf a khsene [Hochzeit].“ 42
Während sich einerseits Privathaushalte zum Bezahlen ihrer Mieten und Lebensmittel sowie für die Ausbildung ihrer Kinder verschuldeten, so waren auch selbständige Händler und Handwerker zum Kauf ihrer Waren oder Werkzeuge sowie gegebenenfalls für die Mieten ihrer Geschäftsräume oder Werkstätten auf Darlehen und Kredite angewiesen. Diese gab es bei Banken wie der 1898 gegründeten ershte vilner ley-un shpor-kase, die ausschließlich Kleinhändler und Handwerker als Kunden aufnahm, oder bei der seit 1922 bestehenden kleynhendler bank. 43 Die älteste Institution, die keine Zinsen von ihren Kunden verlangte, war die 1875 gegründete Darlehenskasse im Namen von Dveyre-Ester auf der yidishe gas Nummer 5. Die Namensgeberin Deborah-Esther Helfer (1817– 1907) galt als Heilige und wurde von vielen Juden verehrt. Als junges Mädchen heiratete sie einen armen Tischler. Um das schmale Einkommen etwas aufzubessern, verkaufte Deborah-Esther auf der Straße Kekse. Da das Ehepaar kinderlos blieb, gab sie einen Teil ihres Gewinns an die Bedürftigen und widmete fortan ihr Leben der Wohltätigkeit und dem Verteilen von zinslosen Darlehen. Als die Wohltäterin mit 90 Jahren verstarb, errichteten ihr die Vilner Juden auf dem Friedhof ein Mausoleum, wie es gewöhnlich nur für rabbinische Größen der Fall war. Über Deborah-Esther erzählte man sich bis in die Zwi-
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Ders.: 4/3, S. 46. Grade: Der mames shabosim, S. 85. Ders.: Di agune, S. 135. Yidishe Vilne in vort un bild, S. 115.
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Armut im jüdischen Viertel
schenkriegszeit verschiedene Legenden. Sarah Reyzen widmete ihr in ihrem Gedicht „Vilne“ insgesamt 11 Strophen.44 Ebenfalls keine Zinsen waren bei den verschiedenen Berufsvereinigungen zu bezahlen, die jeweils über einen eigenen Hilfsfonds verfügten. Die Händler beispielsweise konnten sich an den 1915 gegründeten Krämerverein detalist wenden, der nicht nur Kolonialwaren und Lebensmittel en gros ein- und diese zu billigen Preisen an seine Mitglieder weiterverkaufte, sondern auch eine Hilfskasse besaß und zinslose Darlehen an mittellose Mitglieder vergab. Ebenfalls für die Belange des jüdischen Handels trat der vilner yidisher sokhrim [handels-] farband ein, der 1919 gegründet wurde. Dieser half seinen Mitgliedern in Kredit-, Rechts- und Steuerfragen. 45 Wie sehr die verschiedenen Hilfskassen von ihren Mitgliedern in Anspruch genommen wurden, zeigt das Beispiel der Berufsvereinigung der Maler, bei denen Uneinigkeit herrscht „vegn der gmileskhesed-kase [Kasse für zinslose Darlehen]. (…) Ale hobn gebetn halvoes [Darlehen]. Men hot shoyn bald gezen dem dno [Boden] fun der kase.“ 46 Für diejenigen Händler und Handwerker, die keine zinslosen Kredite erhielten, gab es als letzten Ausweg die Geldverleiher, die gegen ein Pfand und hohe Zinsen Darlehen vergaben. Diese Art der Kreditvergabe war mit der Gefahr der Abhängigkeit und Mehrverschuldung verbunden und scheint unter den Bewohnern des jüdischen Viertels häufig in Anspruch genommen worden zu sein. Darauf deutet nicht zuletzt Grades Erzählung „Reb Nakhuml der malve [Geldverleiher]“. Darin zeigt Grade, wie rücksichtslos und nur an seinen Gewinn denkend der alte Reb Nakhuml mit seinen zahlreichen Schuldnern umgeht. Einer von diesen ist der Getreidehändler Shaye, der ein weiteres Mal Geld von Reb Nakhuml ausleihen möchte, da er ein gewinnbringendes Geschäft in Aussicht hat, das er mit einem neuen Darlehen finanzieren möchte. Weil der Getreidehändler jedoch noch seit über zwei Jahren anstehende Schulden hat, verweigert Reb Nakhuml das Darlehen und klärt seinen Schuldner indessen über seine Rechte als Geldverleiher auf: „[B]eys der loyve [Schuldner] kumt nokh a halvoe [Darlehen] un brengt mit a mashkn [Pfand], meg der malve [Geldleiher] nehmen afilu a milkhl [Milchkrug], a
44 Katz: Lithuanian Jewish Culture, S. 185 f.; Beykiz: Yedies vegn vilner, Spalte 363, 364; Ben-Zion Dinur: The Jerusalem of Lithuania. In: Jerusalem of Lithuania. Hg. von Leyzer Ran. 3 Bde. New York 1974, Bd. 1, S. XIX–XX, hier S. XX.; Gedicht „Vilne“ von Sarah Reyzen in: Yidishe Vilne in vort un bild, S. 22–23. 45 Yidishe Vilne in vort un bild, S. 107, 112. 46 Karpinovitsh: 2/1, S. 11.
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Geldzuschüsse und Kredite
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kishn un a beged [Kleidungsstück], un er iz es nit mekhuyev [verpflichtet] optsugebn [zurückgeben] biz men batsolt im nit zeyn khoyv [Schuld].“ 47
Erst die ihm als Pfand in Aussicht gestellten kostbaren Sabbatleuchter von Shayes ahnungsloser Ehefrau bringen den Geldverleiher schließlich dazu, einem erneuten Darlehen zuzustimmen. 48 Das Beispiel des Getreidehändlers Shaye veranschaulicht, dass die Leute nicht nur auf ein einmaliges Darlehen angewiesen waren, sondern im Gegenteil immer neue Kredite brauchten, um ihre laufenden Geschäfte zu finanzieren. Wie sehr sich die Schuldner damit immer tiefer in die Abhängigkeit von Kreditoren begaben, zeigt das Beispiel des Lebensmittelhändlers Khatskl, der ebenfalls ein Kunde bei Reb Nakhuml ist. Dieser ist so hoch verschuldet, dass er ausschließlich von Krediten lebt, deren Zinsen er nur mit neuen Darlehen abbezahlen kann. Seine Lage erscheint zunehmend aussichtslos: „Iz er gelofn in gmiles-khesed kase fun Dveyre-Esters-kloyz un gekhapt [ergattern] oyf a veksele [Kredit]. Etlekhe rates hot er arayngetrogn – un mer nit gehat tsu batsoln zeyn vokher [eigentlich Wucher, gemeint: wöchentliches Darlehen]. Hot er gekhapt a halvoele [kleines Darlehen] in khevre-toyre-kase [Kasse der Torabruderschaft] un farvorfn [hier: einbezahlen] in Dveyre-Esters kase. Iz er farzunken in zump nokh tifer, aroys mit eyn fus un arayngekrokhn mitn andern.“ 49
Während sich die Schuldner in eine immer misslicher werdende Situation begaben, häuften sich bei den Geldverleihern die Pfandstücke. Auch in Reb Nakhumls „Pfandtruhe“ befinden sich etliche Kostbarkeiten, wie etwa diverses Porzellan und ein Kaffeeservice, Sabbatleuchter, ein Pelzkragen, zwölf Silberbecher, ein Becher für Pessach, ein Sabbatgewand, goldene Manschettenknöpfe sowie ein silbernes Zigarettenetui.50 Pfandstücke wie diese deuten auf den einstigen Wohlstand ihrer früheren Besitzer hin. Da die Leute selten ihre Kredite zurückbezahlen konnten, verloren viele jüdische Familien auf diesem Weg ihre ganzen Familienschätze. Dass auch Familie Grade zu diesen gezählt haben könnte, darauf weisen folgende Worte Vella Grades: „Fun dayn tatns gantser ashires [Vermögen], fun di shafes [Schränke] ongepakt mit zilbervarg [Silbergerät] zaynen geblibn gantser zayne sforim [religiöse Bücher].“ 51
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Grade: Der shulhoyf (2), S. 245. Ebd., S. 250. Ebd., S. 251. Ebd., S. 316, 317 Grade.: Der mames shabosim, S. 19.
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Armut im jüdischen Viertel
Der Gang zum Geldverleiher scheint im jüdischen Viertel etwas Alltägliches gewesen zu sein. Selbst Vella Grade tritt in Grades Erzählung als Kundin von Reb Nakhuml in Erscheinung. „Di gantse gas lebt oyf borg“, 52 stellt die Mutter des Autors nüchtern fest. Ob auch die Karpinovitshs zu einem Darlehen greifen mussten, um das Wohlergehen ihrer Familie sicherzustellen, ist ungewiss. Fest steht, dass auch sie immer wieder an Geldnot litten, da das Einkommen des Vaters vom Erfolg seines Theaters abhängig war. Diesbezüglich schreibt der Autor: „Mayn mame, az s’is ir shoyn dergangen dos vaser ibern haldz, bazukher zaynen nit gekumen oyf di forshtelungn in dem tatns teater, un s’iz nit geven keyn parnose [Arbeit].“ 53 Wie viele Jüdinnen und Juden von Krediten dieser Art in der Zwischenkriegszeit abhängig waren, lässt sich aufgrund der Texte nicht eindeutig sagen. Anzunehmen ist aber, dass eine Vielzahl der selbständigen Händler und Handwerker ihre Waren und Materialien nur dank Krediten einkaufen konnten und darauf hoffen mussten, in ihren Geschäften einen kleinen Gewinn zu erzielen, um so ihre Schulden allmählich abzubezahlen.
Kontraste: Bürgerlicher Wohlstand Während die Mehrheit der Vilner Juden in großer Armut lebte, führten die Familien der jüdischen Mittel- und Oberschicht ein Leben in Wohlstand. Zu den „shenste mishpokhes“ Vilnes gehörten „Trotski fun der oleyarnye [Ölpresserei], Balberishki fun der papirfabrik, Gordon fun di flaks [Leinen].“ 54 Familien wie diese mussten sich keine Gedanken über die nächste Mahlzeit machen. Dies zeigt sich anhand des sabbatlichen Speisezettels der wohlhabenden Familie Berger, welcher mit demjenigen der einfachen Bewohner des jüdischen Viertels nicht zu vergleichen ist. Ein armer Jude, der sich selbst am Sabbat kaum etwas leisten kann, macht sich im Folgenden Gedanken darüber, was es bei Familie Berger am Sabbat zu essen geben könnte: „Far zayn mishpokhe [Familie] iz dokh der tsholnt [Eintopf ] bloyz a nasheray, a farbaysekhts [‚Snack‘]. Bay di geltike [Vermögende] heybt zikh dokh on mit a sheyn shtikl fish, eyder mit tsibele, leber gehakte, dernokh yoykh [Brühe], a fertele of [Ge-
52 Ders.: Der shulhoyf (2), S. 240. 53 Karpinovitsh, 4/6, S. 85. 54 Ders.: 5/8, S. 129.
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Kontraste: Bürgerlicher Wohlstand
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flügel] mit floymen-tsimes [Kompott], un vos nit? Veln zey zayn a shabes on a tsholnt [Eintopf ], nit keyn umglik.“ 55
Der Wohlstand des jüdischen Bürgertums manifestierte sich auch in deren neuer und moderner Kleidung, durch die es sich äußerlich von den Bewohnern des jüdischen Viertels unterschied. 56 Die Tochter des reichen Limonadenfabrikanten Berger etwa fällt durch ihre elegante Kleidung aus dem Ausland, Hut und Sonnenschirm auf. 57 Etwas weniger offensichtlich ist allerdings der Reichtum des wohlhabenden Holzhändlers Sevek: „Rakhmyel Sevek hot keyn mol nit getrogn keyn goldene ringen, keyn tayern zeyger [Uhr] un biklal [allgemein] zikh nit umgekukt oyf zayn kleydung.“ 58 Gerade hier zeigt sich, an welchen Äußerlichkeiten Wohlstand festgemacht wurde, und dass das Fehlen derselben mit Armut gleichgesetzt wurde: „Loyt zayn opgetrogenem halb-vinterdikn mantl, ongeboygene aksl un shtendik-farzorgter tsure [Gesicht], vos men gekent meynen, az er iz a kremerl, vos hot nit tsu batsoln a khoyv [Schuld].“ 59 Die finanzielle Not der Bewohner des jüdischen Viertels manifestiert sich in den Texten von Grade und Karpinovitsh auf verschiedenen Ebenen. Zum einen haben die vorangegangenen Kapitel bereits gezeigt, dass die Menschen mit teilweise schlimmen Wohn- und Arbeitsbedingungen zurechtkommen mussten. Diese bildeten sozusagen den Hintergrund für weitere Aspekte von Armut, die wiederum auf ungenügende finanzielle Mittel der Bewohner zurückzuführen waren. Für den Alltag vieler Jüdinnen und Juden bedeutete dies, dass zu wenig Geld für Miete, Nahrungsmittel, Kleidung, Brennmaterial und sonstige Ausgaben vorhanden war. Wer nicht auf die Unterstützung von Verwandten aus dem Ausland zurückgreifen konnte, verschuldete sich zwangsläufig. Während die zinsfreien Darlehen der Berufsverbände ihren Mitgliedern tatsächlich helfen konnten, stürzten die zinsgebundenen Kredite der Geldverleiher die Menschen oft in noch größere Not. In den Memoiren einzelner Vilner Jüdinnen werden die in diesem Kapitel besprochenen Aspekte von Armut nicht thematisiert. Es scheint geradezu, als wären die Verfasserinnen in ihrem privilegierten Leben sich dieser Umstände 55 56 57 58 59
Ders.: 1/2, S. 40. Grade: Di kloyz un di gas (3), S. 164. Karpinovitsh: 3/3, S. 41. Grade: Der shtumer minyan, S. 50. Ebd., S. 50.
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nicht bewusst. Dass sie nicht wissen konnten, unter welchen Bedingungen die Mehrheit der Vilner Juden lebte, ist nicht anzunehmen. Vielmehr scheinen sie in ihren Erinnerungen diese bedrückende Tatsache – auch im Hinblick auf ihre eigenen privilegierten Lebensumstände – nicht explizit hervorheben zu wollen. Die von außen kommende Lucy Dawidowicz wiederum portraitiert die Armut, mit der sie auf ihren Spaziergängen durch Vilna konfrontiert wurde, fast ausschließlich in Hinblick auf die Wohn- und Arbeitsbedingungen der Menschen. Armut als solche zeigt sich für die Autorin hierbei vornehmlich bei den Bettlern und Obdachlosen und nicht bei den unterprivilegierten und hart arbeitenden Bewohnern des jüdischen Viertels. In den Texten von Grade und Karpinovitsh wiederum ist Armut allgegenwärtig. Sie scheint so alltäglich, dass sie den Anschein von Normalität annimmt. Erst der Blick auf die Lebensbedingungen des jüdischen Bürgertums verdeutlicht, wie groß die Not vieler Jüdinnen und Juden war und unter welchen unmenschlichen Bedingungen sie leben mussten. Die nachdrückliche Thematisierung der Armut in den Texten beider Autoren hat sicherlich damit zu tun, dass sowohl Grade als auch Karpinovitsh diese sowohl während des Ersten Weltkrieges als auch in der Zwischenkriegszeit selbst erfahren hatten. Insbesondere Grades Memoiren schildern die hohen persönlichen Verluste und Entbehrungen, die seine Familie erdulden musste. Insgesamt zeigt sich die Armut in den Texten von Grade und Karpinovitsh als geradezu erdrückend. Eine Idealisierung derselben findet durch den detaillierten Blick der Autoren nicht statt. Das Bild der Armut, das sich daraus ergibt, ist ernüchternd und durchaus realistisch.
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Wohltätigkeit und Umgang mit der Not
Die soziale Fürsorge hatte innerhalb der traditionellen jüdischen Gesellschaft ihren festen Platz und die Unterstützung der schwächsten Mitglieder galt als religiöse Pflicht. Dafür zuständig war die Kehilla, die jüdische Gemeinde, die in der Großen Wohlfahrtskasse (zedakah gedolah) über eine Institution verfügte, die sich neben anderen Aufgaben auch um die Versorgung der Armen kümmerte. 1 Daneben existierten eine Reihe von Hilfsvereinen (Chevrot), die von den Gemeindemitgliedern organisiert und teilweise von der jüdischen Gemeinde subventioniert wurden. 2 Zusätzlich gab es neben dieser öffentlichen Form traditioneller Wohltätigkeit auch eine private. Diese konnte aus einer direkten Gabe an einen Bedürftigen oder einer Einladung zu einem Sabbatmahl im eigenen Haus sein. 3 Der Gebende konnte hierbei eine gute Tat, eine Mizwa, vollbringen und dadurch an Ansehen und Status innerhalb der Gemeinde gewinnen. Die traditionelle jüdische Wohltätigkeit sah die Armut als gottgewollt. Sie war ein Schicksal, das der Mensch nicht abändern konnte. Wohltätigkeit galt als eine ethisch-moralische Verpflichtung, die das Ziel hatte, die Not in der Gemeinde zu lindern und den Bedürftigen zu helfen. „Das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit macht[e] es erforderlich, dass jedes alte, kranke, arme oder gebrechliche Mitglied der Gemeinschaft versorgt“ wurde. 4 Wohltätigkeit als 1
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Zu ihren weiteren Aufgaben gehörte die Pflege des Friedhofs, des öffentlichen Bades und der Mikwa. Des Weiteren verteilte sie Mazot zu Pessach und Brennholz im Winter. Ebenfalls verantwortlich war sie für die Bibliothek sowie die Beherbergung von Durchreisenden. Cohen: Vilna, S. 166. Schwara: Luftmenschen – Ein Leben in Armut S. 165 f. Die in Vilne bestehenden traditionellen Hilfsvereine verköstigten arme Leute an den Wochentagen sowie speziell am Sabbat (beys lekhem/mengi shabes), standen armen Trauernden – besonders Witwen und Waisen – bei (nikhum aveylim), unterstützten Wöchnerinnen (yoldes anives), sammelten Geld für mittellose Bräute (hakhnoses kale) und betrieben ein Altenheim (moyshev skeynim). Shmerele Sharafan: Di religyeze Vilne. In: Vilner almanakh. Hg. von A. Y. Grodzenski. Vilne 1939 [Reprint: Vilna Almanac. Hg. von Isaac Kowalski. Brooklyn, N.Y. 1992], Spalte 321–332. Mark Zborowski, Elisabeth Herzog: Das Schtetl. Die untergegangene Welt der osteuropäischen Juden. München 1991, S. 153. Zborowski, Herzog: Das Schtetl, S. 159.
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Wohltätigkeit und Umgang mit der Not
Form der sozialen Gerechtigkeit war deshalb von der Organisation der traditionellen Gemeinde nicht zu trennen, sondern „stellt[e] vielmehr den zentralen Mechanismus dar, durch den die Gemeinschaft funktioniert[e].“ 5 Die zunehmende Zahl von unterstützungsbedürftigen Jüdinnen und Juden, die aufgrund des wirtschaftlichen und sozialen Wandels im 19. Jahrhundert verarmten, konnte die traditionelle Wohlfahrt nicht mehr auffangen. Als Folge kam es daher in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts innerhalb der jüdischen Intelligenz zu einer grundsätzlich neuen Denkweise hinsichtlich der Armut. Diese galt fortan nicht mehr als gottgewollt, sondern sowohl als selbstwie auch als fremdverschuldet und die Armen als Gruppe wurden teilweise mit Gesetzlosigkeit in Verbindung gebracht. Diese Sichtweise verlangte nach einem anderen Umgang mit Armut: Wohltätigkeit sollte die Armut nicht nur lindern, sondern diese als gesellschaftliches Übel beseitigen. 6 Die moderne Wohltätigkeit, die auf ihr Banner Rationalität und Produktivität geschrieben hatte, war gut organisiert und bot „Hilfe zur Selbsthilfe“. Dies tat sie beispielsweise in Form von Handwerkerschulen und Lehrwerkstätten oder Kreditanstalten, aber auch durch Hilfestellung bei der Emigration nach Nord- und Südamerika sowie der Förderung des billigen Wohnungsbaus. 7 Bezeichnend für diese Art von Hilfe war ihre Anonymität. Zwischen den Gebenden und den Nehmenden stand jetzt eine Organisation. Da die Nehmenden als eine homogene Masse verstanden wurden, fielen gerade diejenigen, die am meisten Hilfe gebraucht hätten, nämlich die Armen, Alten und Kranken, häufig durch das soziale Netz. 8 In der Folge vermochte die moderne „Sozialpolitik“ mit ihrer weltlichen Sicht auf Armut zusammen mit der weiterhin existierenden traditionellen Wohltätigkeit die wachsende Not nur ansatzweise zu lindern; Armut als gesellschaftliches Problem blieb bis zum Zweiten Weltkrieg in den jüdischen Gemeinden Osteuropas allgegenwärtig.
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Ebd., S. 152. Schwara: Luftmenschen – Ein Leben in Armut, S. 153, 159. Ebd., S. 181–183. Hierbei tätig waren die internationalen Organisation ORT (Obtshchestvo Rasprostraneniya Truda Sredi Yevreyev) und JCA (Jewish Colonization Agency). Ebd., S. 159, 191.
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Die Almosengeber
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Die Almosengeber In den Texten von Grade und Karpinovitsh ist es vor allem die traditionelle Wohltätigkeit, die als Mittel zur Linderung von Not in Erscheinung tritt. Für die einfachen Bewohner des jüdischen Viertels ist sie eine Selbstverständlichkeit, denn „oyf tsdoke [Wohltätigkeit] shteyt di velt.“ 9 Dass selbst von den einfachen Juden, die kaum genügend für sich und ihre Familien zum Leben hatten, erwartet wurde, ein Almosen zu geben, veranschaulicht folgende Aussage: „Keyn shom [irgendein] mentsh iz keynmol nisht orem [arm] gevorn, vayl er hot tsufil tsdoke [Almosen] gegebn.“ 10 Ein großzügiges Almosen zu verteilen, vermochten allerdings nur wenige Juden. Zu diesen gehört der wohlhabende Holzhändler Sevek, der Geld an Bedürftige verteilt und Gelehrte und „ehrliche Juden“ unterstützt.11 Der Mohel Lapidus wiederum beschneidet die Kinder armer Familien umsonst und bringt manchmal sogar eine Flasche Wein für den Segensspruch mit, 12 während Reb Nakhuml der Geldverleiher Geld für das Waisenhaus und die Talmud-Tora-Schule sowie rituelle Gegenstände für sein Gebetshaus spendet. 13 Dass Wohltätigkeit auch mit Prestigewert und Ehre verbunden ist, zeigt die Reaktion des Ladenbesitzers Khatskel, der beschuldigt wird, ein in der Synagoge gemachtes Almosenversprechen nicht eingelöst zu haben: „Ven men volt Khatsklen gezogt, az er git a falshe vog [falsch abwägen], az er bareyst [übers Ohr hauen] di koynim [Kunden], volt es im azoy nit fardrosn [betrübt] vi reb Nosn-Notes vertele, az er, Khatskl, batsolt nit far ptikhes [Öffnen des Toraschreins].“ 14
Auch der einfache Träger Mende, der sich zum Ziel gesetzt hat, eine hohe Geldsumme für die Reparatur des Brunnens auf dem shulhoyf zu beschaffen, findet nicht nur Genugtuung darin, dass die armen Hausfrauen des jüdischen Viertels ihr Wasser nicht mehr von einem weit entfernten Brunnen herschleppen müssen, sondern auch in der Aussicht, dass er und seine Frau sich beim Brunnen auf einer kleinen Tafel mit ihrem Namen verewigen können. 15 9 10 11 12 13 14 15
Grade: Der mames shabosim, S. 185. Ebd., S. 126. Grade: Der shulhoyf (2), S. 50. Ders.: Di agune, S. 34. Ders.: Der shulhoyf (2), S. 261, 297. Ders.: Der mames shabosim, S. 78. Ders.: Der shulhoyf (1), S. 32.
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Wohltätigkeit und Umgang mit der Not
Gerade hier zeigt sich, dass das Geben von Almosen nicht ein einseitiges „Verlustgeschäft“ war, sondern der Spender damit einen Gewinn erzielen konnte, der mit Geld allein nicht aufzurechnen war. Darüber hinaus war die freizügige Almosenverteilung auch eine gesellschaftliche Verpflichtung, die unter den Augen der Öffentlichkeit vollzogen wurde. In diesem Zusammenhang ist das Beispiel von Vella Grades Nachbarin Lise zu nennen, die genauestens darauf achtet, dass auch ja alle sehen, wie sie einer Frau ein Almosen in die Hand drückt. 16 Durch diese öffentliche Demonstration des Almosengebens wurden soziale Unterschiede zwischen den einzelnen Gebern hervorgehoben. Wer mehr besaß, konnte mehr verschenken und stand deshalb in der „Hierarchie des Schenkens“ eine Stufe höher als jene, die weniger zu geben hatten. Dies verdeutlicht das überlegene Verhalten eines frommen Juden, der seiner Synagoge das Holz für den Winter gespendet hat und nicht mit den restlichen Gläubigen in einen Topf geworfen werden will: „Ikh bin bay aykh ale? Ikh bin bay aykh yederer? (…) Ikh halt oys dem besmedresh [Gebet- und Lehrhaus] a gantsn vinter mit baheytsung un ir hot nokh nit batsolt ayere farayorike [letztjährig] nedoves [Almosen], nit far ayer plats in kloyz un oykh nit far alie [Lesen der Tora].“ 17
Auf den Straßen des jüdischen Viertels gab es verschiedenste Personen, die von den Bewohnern ein Almosen verlangten. Nicht für sich selbst, sondern für andere bedürftige Menschen oder wohltätige Organisationen waren die Almosensammler unterwegs. Mit Legenden umwoben war in diesem Zusammenhang die Person von Shimele Kaftan, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts Geld für die Bedürftigen gesammelt hatte und durch sein selbstloses Handeln auch in der Zwischenkriegszeit den einfachen Juden als Vorbild traditioneller Wohltätigkeit diente. Laut Shik wurde Kaftans Almosentätigkeit durch den Dichter Vitsenti Korotinski 1838 in einem Gedicht festgehalten, das Isaak Leib Perez später ins Jiddische übersetzt hat. 18 Das Gedicht „Der yidisher kvestor“ [Almosensammler] erzählt von einem armen, alten, gebrechlichen Juden, der mit seiner blechernen Almosenbüchse täglich das jüdische Viertel durchstreift, um die Bewohner um eine Gabe zu bitten, die er dann unter den Witwen und Waisen verteilt: 16 Ders.: Der mames shabosim, S. 126. 17 Ders.: Di kloyz un di gas (2), S. 97. 18 Shik: 1000 yor Vilne, S. 226.
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Die Almosengeber
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„Nokhdem zet men im [Sh. Kaftan, S. St.] oyf beydim [Dachboden] un in keler, vu d’oreme [hier: bescheiden] nedoves [Almosen] – er oreme tseteylt! – Vu nor a dales [Elend] voynt, vu es krenkt a feler, kinder veynen broyt, vu nor hunger veylt, an almone [Witwe] shtrekt nit far bushe [Scham] oys di hant, vu der letster funk fun freyd is shoyn farloshn“ 19
Anders als Shimele Kaftan, der seine gesammelten Almosen direkt an die Bedürftigen verteilt, engagierten sich einige Almosensammler für eine Reihe wohltätiger Organisationen. Wie viele es dieser in Vilne in der Zwischenkriegszeit gab, zeigt die folgende Beschreibung: „Ot azoy arbet es Khayke oyf ale zaml-teg. Zi makht nit keyn untersheyd tsvishn eyn khevre [Gesellschaft] un der anderer. Mitn zelbn flays un mesires-nefesh [Hingabe] zamlt zi farn ts.b.k. [Zentrales Bildungskomitee] un farn ‚tarbes‘ [hebräische Schulorganisation], farn ‚kern-hayesod‘ [Palästina-Grundfonds] un far ‚oze‘ [Kinderhilfswerk], far a talmetoyre [Talmud Torah-Schule] un far ‚mishmeres kholim‘ [Altenheim], far an arbeter-heym un far ‚toyre emes‘ [Toraschule], farn ‚hakholets‘ [Pioniere, Siedler in Palästina] un far ‚hilf durkh arbet‘ – bay ir zaynen ale glaykh. Ir interesirt afilu nit der tsvek, oyf vos di zamling geyt. Abi [jede] fun emitsns [ihrer] toyve [Dienst] vegn – dos iz shoyn ir genug …“ 20
Interessant an diesem Beispiel ist, dass es der Almosensammlerin primär um die „guten Dienste“ geht, die sie durch ihre Arbeit leisten kann, und es für sie deshalb kein Widerspruch ist, für weltliche und religiöse sowie für zionistische und antizionistische Organisationen zu sammeln. In den Texten der beiden untersuchten Autoren werden die Almosensammler ausschließlich bei Grade erwähnt. In seinen Memoiren durchstreifen sie die Straßen des jüdischen Viertels und sammeln für die verschiedensten Institutionen: für die Rameyles Jeschiwa, für Reb Shaulkes shul und die Pruschim in der Goens kloyz, für die Musarschüler von Slobodka, für arme Gelehrte sowie verschiedene religiöse Gesellschaften, die das Lernen der Tora unterstützen.21 Für wie viele wohltätige Organisationen die Almosensammler unterwegs waren, veranschaulicht die Antwort, die Vella Grade erhält, als sie einen Juden fragt, für wen er denn sammle:
19 Itskhok Leyb Perez: „Der yidisher kvestor“, In: Shik: 1000 yor Vilne, S. 228–229, hier S. 228. 20 Chaim Levin: Di alte yerushe. In: Yidishe Vilne in vort un bild. Iliustrirter almanakh. Hg. von Morits Grosman. Vilne 1925, S. 25. 21 Grade: Der mames shabosim, S. 128–129.
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Wohltätigkeit und Umgang mit der Not „Az men darf gebn far bod [öffentliches Bad] un hegdesh [Armenhaus] – farshteyt ir. Far gevinerins [Wöchnerinnen], far oreme kales [Bräute], yesoymim [Weisen] un almones [Witwen] – farshteyt ir. Far pat-lekhem [Brotverteilung] un far beys-lekhem [Armenspeisung] – farshteyt ir. Nor az men muz hobn oyfn shul-hoyf dray shkyezeyger [Uhr für Sonnenuntergang], eyner zol vayzn ven men darf fraytik farmakhn [schließen] di kromen, der tsveyter – ven men darf [müssen] bentshen [segnen] likht, der driter – ven men meg motse shabes [kurz vor Sabbat] davnen [beten] mayrev [Maariv, Abendgebet]: un az dray zeygers badarfn [benötigen] a mentshn [Person], vos zol zey ondreyen, un az a mentsh kost gelt – dos farshteyt ir nit.“ 22
Das Sammeln von Geld für wohltätige Zwecke fand nicht nur auf der Straße, sondern auch im eigenen Heim statt. Eigens für bestimmte Organisationen aufgestellte Büchsen wurden dafür verwendet. Die alte Seherin Sorele etwa ist in ihrer Stube von einem Duzend Almosenbüchsen umgeben, mit denen sie unter anderem Geld für die Reparatur des Friedhofszauns sammelt. 23 Interessant ist, dass sich solche Almosenbüchsen auch in den Wohnungen des jüdischen Bürgertums fanden. Hierbei fällt auf, dass im Gegensatz zu den jüdischen Unterschichten weniger für religiöse Institutionen gesammelt, sondern Organisationen berücksichtigt wurden, die sich um die Gesundheit der jüdischen Bevölkerung sorgten oder zionistische Ziele verfolgten. Diesbezüglich schreibt Lily Margules über ihre Mutter: „In the tradition of our Jewish faith, she kept charity boxes which were prominently displayed in our dining room. I can still see the small, blue box inscribed ‚Keren Chakajemeth‘ which was a Hebrew organisation whose purpose was to buy land in Palestine, and another box inscribed ‚Mishmeret Holim‘, a Jewish hospital on Kijowska Street. (…) Mom was also a dedicated contributor to a charity called ‚Colony Toz‘. ‚Towarzystwo Obrony Zdrovia.‘, in Polish, meaning ‚Society for Protection of Health‘. It was a summer camp at which underprivileged Jewish children spent two weeks in the countryside in a place called Pospieski, far from the hot city.“ 24
Die Almosenempfänger Weitaus präsenter und eindrücklicher als die Almosensammler werden in Grades Texten diejenigen Menschen geschildert, die ein Almosen für sich selbst erbitten. Hierbei handelt es sich um die Bettler, die für ihr Überleben auf die 22 Ebd., S. 130. 23 Grade: Der shulhoyf (1), S. 106, 108. 24 Margules: Memories, Memories …, S. 20.
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Die Almosenempfänger
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Wohltätigkeit anderer angewiesen sind. Eine Gruppe für sich bildeten die gebürtigen Bettler oder zumindest solche, die seit Jahren als professionelle Schnorrer tätig waren. Auf welche Art und Weise die Begegnung dieser Menschen mit den Bewohnern des jüdischen Viertels stattfand, lässt sich an einem Freitagnachmittag in Khatzkls Lebensmittelgeschäft beobachten, wo sich eine Gruppe körperlich behinderter Bettler vor den Lebensmittelhändler gestellt hat und eine Gabe verlangt. Khatskl – angewidert durch den Anblick der Bettler – will schnell sein Almosen loswerden: „Er varft gelt in di tseefnte dlonyes [Handfläche] un tret-op ahinter, vi er volt gevorfn shpays [hier: Futter] far tsereytste [wütend] khayes [Tiere].“ 25 Nach dem Verteilen des Almosens hat der eingeschüchterte Krämer sodann nur noch einen Wunsch, nämlich die Bettler so schnell wie möglich loszuwerden. Angst überfällt ihn und er scheut sich davor, den vor ihm stehenden Menschen ins Gesicht zu blicken. Auch seine Kunden reagieren mit Abscheu auf die Präsenz der Bettler, von denen aus sich ein übler Duft über den Laden verbreitet: „Fun di oreme-layt trogt zikh a geshtank fun hashtone [Urin], alerley dumpike [übelriechend] reykhes [Duft] fun hinter-hoyfn, un optritn, tukhle [Gestank] un faykhter shiml, vi in krom voltn geshtanen tunen [Fässer] mit farfoyltn opfal.“ 26
Als sich Khatskls Laden schließlich leert, fühlt sich der Krämer wie von einer Naturgewalt überrollt: „Dos ayz hot opgelozt un di vilye iz aroys fun di breges [Ufer]. A heysherik [Heuschrecke] iz im bafaln. Vey, vey, der shul-hoyf geyt, der hegdesh [Armenhaus] geyt, ale oremanske [armselig] akhsanyes [Herbergen] un fardripete [zerfallende] zavulikes [Gasse] geyen!“27
Das Beispiel veranschaulicht, dass in diesem Fall ein würdevoller Austausch des Almosens nicht gegeben ist – zu sehr erinnert die Szene an die Fütterung wilder Tiere. Die Bettler werden hier aufgrund ihres abschreckenden Äußeren und des Gestanks, den sie verbreiten, kaum als menschliche Wesen wahrgenommen, sondern als eine angsteinflößende, anonyme Masse. Ein ebenbürtiger Kontakt zwischen den Gebenden und den Nehmenden oder gar Empathie können folglich nicht entstehen. Dies hat sicherlich auch damit zu tun, dass die Bettler nicht einzeln vor den Almosengeber treten, sondern als eine in dessen Augen 25 Grade: Der mames shabosim, S. 120. 26 Ebd., S. 121. 27 Ebd., S. 120–121.
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Wohltätigkeit und Umgang mit der Not
unkontrollierbare Gruppe. Während diese das Individuum für den Außenstehenden unsichtbar macht, bietet die Gruppe dem Einzelnen auch Schutz und ein Gefühl von Zusammengehörigkeit. Ebenso scheint es einer Gruppe von Bettlern eher zu gelingen, ein Almosen gegenüber einem streitsüchtigen Krämer einzufordern, als einem auf sich allein angewiesenen Bettler. Das Auftreten der unzähligen, in der Anonymität der Masse verschwindenden Bettler findet sich nicht nur in den Texten von Grade. Leon Zolotkoff beschreibt in seinem Roman, wie sich wiederum an einem Freitagnachmittag die Bettler im Hof eines wohlhabenden Vilner Juden versammeln: „On that day, from every poverty-stricken corner of Vilna, from the alleys and cellars and dilapidated garrets, there poured in the direction of the Berman home, a flood of beggars, the blind, the halt, the old, the sick, the palsied. This was the open poverty of Vilna, the beggars resigned to beggary, the helpless beyond even the instinct selfhelp.“ 28
Ganze Scharen von Bettlern, die am Vorabend von Jom Kippur überall im jüdischen Viertel zu sehen waren, werden auch in Joseph Buloffs Roman beschrieben: „When we came out on Jewish Street, the blue of evening already stretched over the gray, peeling walls. Gnarled beggars with dusty beards and ashen faces filled the sidewalks. They looked like piles of bricks that had crumbled off the walls. Palms outstretched, they promised the donor a year of plenty and blessings of good health, good luck, and other good things for only one groschen.“ 29
Neben den gebürtigen Bettlern oder professionellen Schnorrern gab es auch Menschen, die aufgrund eines Gebrechens im Alter ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen konnten und so plötzlich auf Almosen angewiesen waren. Zu diesen zählt etwa dieser blinde alte Mann: „Farbaygeyer balagern a blindn altitshkn [alter Mann] un farshitn im mit nedoves [Almosen]. Er hot oysgenumen [erfolgreich sein], der altitshker, kol [zuerst] mit dem, vos er geyt nit mit der makhne [Horde] shnorers, nor er geyt zikh zayn eygenem veg; tsveytns, zet men bashaynperlekh [offensichtlich], az er iz amol geven a yid a balebos [angesehener Hausherr] un nokh gegebn tsdoke [Wohltätigkeit] far andere. Dertsu mont er nit mit khutspe [Unverschämtheit], vi a geboyrener shleper [Vagabund], mit takhnunim [Bitten] bet er: – Git a nedove a blindn, git a nedove a blindn.“ 30
28 Leon Zolotkoff: From Vilna to Hollywood. New York 1932, S. 51. 29 Josef Buloff: From the Marketplace. Cambridge, Mass., London 1991, S. 188. 30 Grade: Der mames shabosim, S. 122.
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In diesem Beispiel wird der blinde Bettler von den Bewohnern des jüdischen Viertels als Individuum und menschliches Gegenüber anerkannt, da er in den Augen der Gebenden – im Gegensatz zu den geborenen und professionellen Bettlern – wie sie früher selbst das Gebot der „guten Taten“ erfüllt und Almosen an weniger begünstigte Gemeindemitglieder verteilt hat. Genau auf diesen Umstand macht ein anderer blinder Bettler einen Ladenbesitzer aufmerksam und distanziert sich damit deutlich von den professionellen Bettlern: „Groshns git men im? Vos iz er, a shleper [Vagabund]? Eyder [bevor] er iz gevorn blind iz er aleyn geven a sheyner balebos [Herr] un geteylt tsdoke.“ 31 Ein weiterer Grund, weshalb die Gebenden die durch Krankheit und Alter zur Bettelei gezwungenen Menschen eher respektierten, ist vielleicht die unterschwellige Angst, selbst einmal in eine ähnliche Situation zu kommen und auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Die Einstellung der Bewohner des jüdischen Viertels gegenüber den Bettlern war teilweise von Abneigung und Misstrauen geprägt. Dies veranschaulicht das Verhalten des Gänsehändlers Alterke, der einer alten Bettlerin ein Almosen verweigert und dieser rät, in der Mazzebäckerei arbeiten zu gehen oder im Schächthaus Hühner zu rupfen. 32 Dass Bettelei als solche bei den arbeitenden Juden keinen besonders guten Ruf hatte, lässt sich anhand der folgenden Begebenheit erahnen: Einem Gottesdienstbesucher, der zunächst nicht den Hauptraum der Synagoge betritt, wird von den anderen Gläubigen zugerufen, er solle doch nicht in der Vorhalle stehen bleiben wie ein gewöhnlicher Bettler, sondern zu ihnen ins Innere der Synagoge kommen – er verdiene seinen Lebensunterhalt schließlich auf ehrliche Weise! 33 In diesen Beispielen manifestiert sich ein deutlicher Wandel in der Einstellung gegenüber den Bettlern: Während innerhalb des traditionellen Judentums die Besitzenden den Mittellosen mehr oder weniger freiwillig geholfen und deren Stellung innerhalb der jüdischen Gesellschaft nicht angezweifelt hatten, manifestiert sich hier eine Einstellung, die die Bedürftigen aufgrund ihrer „Unproduktivität“ an den Rand der Gesellschaft verweist und die Betroffenen selbst für die Linderung ihrer Not verantwortlich macht. Doch nicht nur die angebliche Faulheit der Bettler war einigen Bewohnern ein Dorn im Auge. Im jüdischen Viertel herrschten Gerüchte, dass sich einige
31 Ders.: Di kloyz un di gas (3), S. 183. 32 Ders.: Der mames shabosim, S. 125. 33 Ders.: Leyb-Leyzers Courtyard, S. 135–136.
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Bettler im Lauf der Jahre ein kleines Vermögen zusammengetragen hätten, wie etwa der Bettler Muraviov: „Der shul-hoyf shtoyst zikh on [tuscheln], az der blinder betler muz hobn a matmen [Haufen] mit geld. Keyn vayb hot er nit, keyn kinder oykh nit, shloft in kloyz oyf a bank, est skorinkes [Brotrinden] – un klaybt [zusammentragen] yedn tog tsunoyf an oytser [Schatz]. Ver-she vet im yarshn [beerben]? Iz bay alemen geblibn, az mit im vet geshen dos zelbe vi mit andere betler fun zayn glaykhn, vos hobn ongezamlt a farmegn, un ven zey zaynen geshtorbn ergets-vu oyf a bank in a kloyz oder in a hegdesh [Armenhaus], hot an ander shnorer aroysgeganvet [ausgeraubt] fun shenik [Heumatratze] tsi fun der torbe [Sack] dem geshtorbenems farmegn.“ 34
Während manche Juden die Bettler zunehmend argwöhnisch betrachteten, so konnten jene ihrerseits dennoch auf die weit verbreitete traditionelle Einstellung von Wohltätigkeit der Menschen setzen und sich diese zu Nutzen machen. Die religiöse Pflicht zum Geben von Almosen war den Bettlern bestens bekannt und sie legitimierten damit ihre Forderungen nach einer Gabe. Aus diesem Grund ermahnt auch eine alte Bettlerin die Bewohner eines armseligen Hofes mit folgenden Worten: „Yidishe kinderlekh, git a nedove. In di heylike sforim [Bücher] shteyt geshribn, az men zol gebn tsdoke tsu oreme-layt. Ver es vil dos nit gleybn, der zol nemen a seyfer muser [Musarliteratur], vet er es zen basheydlekh [explizit]. An oreman vos nemt tsdoke, tut dem geber a gresere toyve [Gefallen], vi der geber tut mit dem oreman.“ 35
Die Jüdin verweist hier auf die wichtige Funktion der Bettler innerhalb der traditionellen jüdischen Gesellschaft, dank derer die Almosengeber gute Taten vollbringen können. Damit drückt sie aus, dass, auch wenn sie als Bettlerin auf der untersten Stufe der jüdischen Gesellschaft steht, sie dennoch ein unverzichtbarer Teil der Gemeinschaft ist. Mit dem Wissen um ihre Stellung traten manche Bettler bisweilen sehr selbstbewusst auf und schüchterten die Bewohner mit ihrem Gebaren ein. Zu diesen gehört der stadtbekannte Bettler Rasputin, der mit seinen zahlreichen Frauen durch die Straßen des jüdischen Viertels zieht und so manchen Ladenbesitzer mit Hilfe von Flüchen und Wutanfällen zum Geben eines Almosens zu bewegen weiß: „Zint di velt iz a velt, hot nokh keyner nit opgesogt [verweigert] Rasputinen a nedove [Almosen]. Ven ale zayne kuntsn [Tricks] helfn nit mer, git er a kneytsh [Zusammen34 Ders.: Der shulhoyf (1), S. 83. 35 Ders.: Der mames shabosim, S. 125.
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kneifen] mitn shtern [Stirn] un fun zikh aleyn farkashern [aufrollen] zikh zayne oygndeklekh [Augenlider], vos zaynen blutik-royt fun ongetsundener trakhome [Trachoma; Bindehaut-Hornhaut-Erkrankung]. Dem durkhgeyer bafalt aza ekl, az er lozt zikh oysbaytlen biz a groshn.“ 36
Eine weitere furchteinflößende Persönlichkeit unter den Bettlern Vilnes war der bereits genannte Bettler Muraviov, dessen Stammplatz sich auf dem shulhoyf befindet: „Er hot gerisn nedoves [Almosen] mit a gebeyzer [Drohung], mit kloles [Flüche], a shoym hot geshpritst fun zayn moyl, un afilu [sogar] ven er hot nit gebetlt, hot er oykh gehuket [lärmen] un geshrien, vi er volt mit zayn shteln [Präsenz] opgetribn hint [Hunde].“ 37
Zu seinem Namen war der Bettler aufgrund des gegen ihn einmal ausgerufenen Fluches „Muraviov“! gekommen, der auf den ehemaligen russischen Generalgouverneur von Vilne, Nikolai Nikolajewitsch Murawjow (1794–1866), weist. 38 Doch diese wenig schmeichelhafte Auszeichnung ist dem Bettler gerade recht: „Ober der betler hot gelakht, im hot hanoe [Vergnügen] geton vos men hot im faynt [hassen] un vos men shrekt zikh [fürchten] far im. Er hot in dem gezen di beste zgule [Mittel] men zol im nit opzogn [verweigern] in a nedove.“ 39
Dass die Vilner Bettler wirklich gefährlich waren, ist nicht anzunehmen. Vielmehr äußerte sich in ihren lauten Protesten die eigene Hilflosigkeit und Abhängigkeit von der jüdischen Gesellschaft. Die Gefährlichkeit der Bettler schätzt auch Lucy Dawidowicz als sehr gering ein: Trotz ihres manchmal wilden Gebarens und Äußeren seien die alten, gebrechlichen und teilweise geistig behinderten Bettler nicht gefährlich, sondern würden hauptsächlich an den Straßenrändern sitzen oder einfach in den Straßen des jüdischen Viertels umherlaufen. 40
36 Ebd., S. 134. 37 Grade: Der shulhoyf (1), S. 82. 38 Muravjov war von 1863–1865 Generalgouverneur von Vilne und verfolgte eine aggressive Politik gegen die polnischen Aufständischen. In diesem Zusammenhang erlangte er seinen zweifelhaften Zunamen „der Henker von Vilne“. Vgl. Theodore R. Weeks: Monuments and Memory: Imortalizing Count M. N. Muraviev in Vilna, 1898. In: Nationalities Papers, 27/7 (1999) S. 551–564. 39 Grade: Der shulhoyf (1), S. 82. 40 Dawidowicz: From that Place, S. 145.
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Doch ungeachtet ihrer Harmlosigkeit kam es in Vilne zu Versuchen, die Bettler vermehrt zu kontrollieren: Ende der 1930er Jahre gründeten einige Händler ein Komitee zur Unterstützung der Armen und Bekämpfung der Bettelei. Dahinter verbarg sich die Hoffnung, sich und ihre Kundschaft vor den scheinbar aggressiven, wohl aber einfach eher lästigen Bettlern zu schützen.41
Die geisteskranken Bettler Neben diesen „herkömmlichen“ Bettlern, die entweder von Geburt an oder aufgrund ihres Alters beziehungsweise einer Krankheit auf die Wohltätigkeit anderer angewiesen waren, erscheint in Karpinovitshs Texten eine weitere Kategorie von Bettlern: die sogenannten meshugoim – die „Verrückten“ oder Geisteskranken. In seinen Erzählungen „Rokhl di hoyfdame“, „Der shulhoyf“ sowie „Der letster novi fun Vilne“ erörtert der Autor detailliert die Lebenswelt dieser Menschen. Diese unterschieden sich insofern von den übrigen Bettlern, als sie innerhalb des Judentums grundsätzlich gefürchtet wurden. Aus traditioneller Sichtweise sah das Judentum die Ursachen für Geisteskrankheiten in bösen Geistern, aber auch in der genetischen Prädisposition. Die hohe Achtung vor intellektueller Leistung im Judentum hatte zur Folge, dass die Haltung gegenüber Geisteskranken eher negativ war. Hierfür verantwortlich waren auch kulturelle Elemente innerhalb des Judentums, die das Individuum vor allem in seinem Nutzen für die Familie und für das jüdische Volk insgesamt wertschätzten: „A son is a particulary valued object. Wisdom and piety, financial support in old age and sanctification after death are possible through him. Intellectual power is prized above wealth and denotes an especially good heredity. Mental disease is a threat to all this“. 42
Die auf Wohltätigkeit angewiesenen geisteskranken Jüdinnen und Juden waren laut Karpinovitsh in Vilne zahlreich vertreten: „In Vilne hobn take nit gefelt keyn meshugoim. Der gantser shulhoyf hot gevimlt mit tsedrumshkete [ver-
41 Ebd., S. 144. 42 Charlotte Adland: Attitudes of Eastern European Jews Toward Mental Disease: A Cultural Interpretation. In: Smith College Studies in Social Work, VIII/2 (1937) S. 85–116, hier S. 94, Zitat S. 95.
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wirrt] parsoynen.“ 43 Das religiöse Zentrum des jüdischen Viertels war anscheinend ein besonders geeigneter Ort für diese Menschen: „[D]er bester plats tsu zayn in Vilne meshuge iz der shulhoyf.“ 44 Dieser galt als beliebter Versammlungs- und Aufenthaltsort der geistig Verwirrten – hier bekamen sie manchmal ein Almosen und schliefen auf den Treppen und in den Vorhallen der Synagogen. Genauso wie bei den „gewöhnlichen“ Bettlern gab es auch unter den Vilner Geisteskranken schillernde Persönlichkeiten: „Yudke di mad [Mädchen] iz nokhgelofn, say zumer say vinter, ale meydlekh un vayblekh, vos zenen adurkh dem hoyf. M’hot zikh geshushket [zuflüstern] vegn im, az er iz gornit azoy meshuge, a simen [Zeichen] – alte yidenes lozt er farbay. Geven dortn Gdalke der khazn [Kantor], vos hot geshrien, az me lozt im nit tsu tsum omed [Kanzel] in shtotshul, vayl er hot nit keyn lokirkes [Lackschuhe]. Rokhl di meshugene hot gevolt vern a hoyfdame un zikh gekleydt in a krinoline, vos der yidisher teater hot ir gegebn a matone [Geschenk]. Iserson hot gepreydikt oyf di treplekh fun der keyvernisher kloyz, me zol efenen di meshugoim-hayzer, vayl dortn zitsn dafke [nur] di klore [Gesunde].“ 45
Die hier genannten Geisteskranken waren ein fester Bestandteil der Vilner Stadtlandschaft und über die Grenze des shulhoyf bekannt.46 Davon zeugt beispielsweise ein Artikel in der Zeitung tog, worin einzelne Personen wie Rabbi Iserson, Gdalke der Kantor, Shneyke mit den Primusen und Judke das Weib, namentlich genannt werden. 47 Von der Bekanntheit einzelner Geisteskranker spricht auch das Gedicht „Vilner shulhoyf“ von Leyzer Volf (1910–1943). Darin benennt der Dichter verschiedene Gestalten, die auf dem shulhoyf ihre Zeit verbringen: Gdalke der Kantor, der auf dem Hof steht und singt, Rokhl die Hofdame vor ihrem Verschlag neben dem Frauenbad sowie der verrückte Rabbi Iserson, der eine seiner Predigten hält. Sie alle erscheinen in Wolfs Gedicht als integraler Teil des shulhoyf, genauso wie die alten Klausen und frommen Juden. 48 43 44 45 46
Karpinovitsh: 4/3, S. 44; vgl. Buloff: From the Marketplace, S. 190. Ders.: 1/5, S. 83. Ders.: 4/3, S. 44; vgl. Buloff: From the Marketplace, S. 190. Minczeles: Vilna, Wilno, Vilnius, S. 216. Siehe dazu auch die Abbildungen von Rokhl der Hofdame, Gdalke dem Kantor und Rabbi Isserson in: Jerusalem of Lithuania, Bd. 1, S. 153. 47 Tog, 17. 6. 1937; auch Josef Buloff erzählt von einem „Verrückten“ namens Rabbi Isserson. In: ders.: From the Marketplace, S. 216. 48 Shik: 1000 yor Vilne, S. 168–170.
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Über die Geisteskranken wurden im jüdischen Viertel Geschichten erzählt und Gerüchte verbreitet. Von der aus Troki stammenden Rokhl war bekannt, dass sie als Mädchen von einem Nichtjuden schwanger wurde und ihre Mutter sie in ein anderes Dorf gebracht hatte, um das Kind abzutreiben. 49 Von Gdalke dem Kantor wiederum wusste man, dass er in einer armen Familie mit sechs Kindern aufwuchs. Geld für Kleidung oder Brot gab es in der Familie nicht. Schon als Junge begann Gdalke zu singen, wobei die Meinung der Nachbarn über sein Können geteilt war: Die einen hielten ihn für ein Genie, die anderen für verrückt. Seitdem war er bekannt unter dem Namen Gdalke der Kantor. Nach dem Tod seines Vaters zog er nach Vilne, wo er seitdem auf dem shulhoyf mit einem Blech klappernd seine Lieder sang. 50 Eine große Ausnahme innerhalb Grades Texten ist die eingehende Beschreibung und Charakterisierung des Geisteskranken Abelson. Dieser war angeblich früher „normal“, bis sich bei ihm Zeichen von Verrücktheit zeigten und sich seine Frau von ihm scheiden ließ: „Zint demolt iz Abelson ingantsn arunter fun zinen.“ 51 Im jüdischen Viertel hat er den Ruf eines Unruhestifters: „Ale montik un donershtik kumt er aher makhn skandaln.“ 52 Dass er bei den Leuten nicht besonders gerne gesehen ist, und man ihn nicht mehr länger im jüdischen Viertel sehen will, weiss Abelson genau, denn er erklärt: „[M]en vil mikh araynvarfn in a meshugoim-hoyz.“ 53 Doch trotz seiner geistigen Verwirrtheit beobachtet Abelson seine Umwelt genau und wirft den frommen Juden vor, nur an den Feiertagen gute Taten zu vollbringen – das ganze Jahr über würden sie sonst von den armen Juden stehlen! Mit letzterem Kritikpunkt richtet sich Abelson an den Geldverleiher Reb Nakhuml und warnt diesen: „Protsentnikes [Wucherer] lozt men nit arayn in gan-eyden [Paradies], protsentnikes traybt men in gehenem [Hölle] stadesveys [herdenweise] vi di gendz in shkhiteshtibl [Schächthaus].“54 Die hier genannten Geisteskranken teilten sich den shulhoyf mit zahlreichen anderen geistig verwirrten Menschen, deren Zahl ständig zuzunehmen schien:
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Karpinovitsh: 1/5, S. 90. Noah Zukerman: Gdalke der meshugener … In: Vilner Pinkes, 5 (1970), S. 14–15. Grade: Der shulhoyf (2), S. 284. Ebd., 284. Ebd., S. 291. Ebd., S. 302.
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„Bay di kratn [Gitter] fun ayzernem toyer [gemeint ist das Tor zum shulhoyf, S. St.] dreyen zikh ahin un tsurik, vi khayes [Tiere] in a shtayg [Käfig], tsvey naye meshugoim, ersht gekumene fun vayte mekoymes [Orte].“ 55
Diese Zeilen weisen darauf hin, dass geistig Behinderte anscheinend aus anderen Gemeinden nach Vilne verfrachtet und nachts auf dem shulhoyf ausgesetzt wurden. Dies scheint anzudeuten, dass sich die Juden in den Schtetl nicht um die Geisteskranken kümmern wollten oder konnten und Vilne als der geeignete Ort angesehen wurde, wo geistig Behinderte sich selber durchschlagen konnten. Die hohe Zahl von Geisteskranken und ihre Anwesenheit auf dem shulhoyf wurde nicht von allen gern gesehen. Einige Rabbiner und Synagogendiener beklagten sich, dass es auf dem shulhoyf nur so von Bettlern und „Verrückten“ wimmle und diese die auswärtigen Gäste, die sich die groyse shul anschauen wollten, überfielen und belästigten. 56 Reb Chaim Meir Gordon, dem Schamesch der groyse shul, beispielsweise ist das tägliche Treiben auf dem shulhoyf längst ein Dorn im Auge. Er hält den Hof für seine hohen Gäste gerne sauber und ordentlich und lässt aus diesem Grund – allerdings ohne nachhaltigen Erfolg – die Geisteskranken täglich durch den Hauswart Vinzenti mit dem Besen vertreiben. 57 Ähnlich unzufrieden mit den Vorgängen auf dem shulhoyf ist auch Reb Eisik, der Schamesch der keyverdishe shul. Er will sich an den Magistrat wenden, da die jüdische Gemeinde nichts unternehme, um den Platz „zu säubern“: Auf dem shulhoyf sei es schlimmer als in Nay-Vileyke, wo das große Irrenhaus stehe! 58 Erstaunlich ist hier, dass diese radikalen Forderungen von Menschen kommen, die aufgrund ihres Berufes das traditionelle Judentum repräsentieren und deshalb auch für dessen Einstellung zur Armut sowie den Umgang mit derselben hätten einstehen müssen. Dass hier der Ruf nach einer anderen Lösung laut wird, zeigt einerseits, wie schwerwiegend die Situation auf dem shulhoyf gewesen sein musste, andererseits wird hier sichtbar, dass auch innerhalb des traditionellen Judentums modernere Ansichten bezüglich des Umgangs mit Armut langsam Fuß fassten.
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Karpinovitsh: 2/1, S. 19. Ders.: 5/3, S. 45. Ders.: 3/8, S. 116. Ders.: 1/5, S. 85–86.
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Eine Lösung des „Problems“ fand die jüdische Gemeinde schließlich zusammen mit dem Stadtrat: „Eyner fun di gaboim [Verwalter], der bankir Sheskin, iz avek tsum shtot-prezident, zayner a guter fraynd, un bay im gepoyelt [überzeugen], er zol helfn oysfirn dem plan. In der emesn [Wahrheit] iz der prezident aleyn oykh geven tsufridn me zol poter vern [befreit werden] fun di vilner meshugoim. Zey hobn gemakht skandaln oykh mekhuts [außerhalb] dem shulhoyf.“ 59
Um sich vor den „Skandalen“ der Geisteskranken zu schützen, sollten diese an einen Ort außerhalb von Vilne untergebracht werden: „Me darf opreynikn fun zey dem shulhoyf. (…). Me muz gefinen far im un zayn tsherede [Seinesgleichen] an ort, vu zey zoln hobn a lefl zup un a geleger [Schlafplatz], vu di vildkeytn zeyere zoln faln dortn oyf leydike [leer] shtokhim [Gegend].“ 60
Über die Geisteskranken und deren zunehmende Präsenz in Vilne berichtete auch ein Artikel aus der Zeitung tog. Bezüglich der Zahl dieser Menschen wird verlautet, dass man in der Altstadt wieder an jeder Ecke „Verrückte“ sehe, wie dies schon vor zehn Jahren der Fall gewesen sei. Lange Zeit sei es in der Stadt ruhig gewesen, doch in den letzten Monaten gebe es wieder vermehrt „Verrückte“ auf den Straßen, besonders auf der daytshe gas und auf dem shulhoyf. Es sei an der Zeit, Mitleid mit den unglücklichen Geisteskranken zu haben. Weiter wird berichtet, dass der Magistrat auf das Problem reagiert habe und Rabbi Iserson, Gdalke den Kantor und Shneyke mit den Primusen nach Dekzsnie gebracht hätte, wo sie in Sauberkeit leben und mit genügend Essen versorgt würden. 61 Es scheint bezeichnend, dass aus damaliger Sicht die Lösung des Problems der städtischen Geisteskranken auf dem Land lag, da „urban areas, which, unlike rural ones, were not as tolerant of the presence of the mentally ill within society.“ 62 Dies steht allerdings im Widerspruch zu den erwähnten Vorgängen in Vilne, wo anscheinend geistig Behinderte aus den umliegenden Dörfern auf dem shulhoyf „ausgesetzt“ wurden. Nicht zu bestreiten ist allerdings die Ansicht, dass eine ländliche Umgebung für diese Menschen geeigneter war als
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Ders.: 5/3, S. 46. Karpinovitsh: 5/3, S. 46. Tog, 17. 06. 1937. Sander L. Gilman: Jews and Mental Illness: Medical Metaphors, Anti-Semitism, and the Jewish Response. In: Journal of Behavioral Sciences, 20 (1984) S. 150–159, Zitat S. 152.
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die engen, überfüllten Innenstadtgebiete. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts propagierte auch der in Wien praktizierende jüdische Arzt Martin Engländer in seiner Studie „Die auffallend häufigen Krankheitserscheinungen der jüdischen Rasse“ (1902) die Pflege der Geisteskranken auf dem Land. Grund für die Krankheiten der Juden sei ihr „Eingeschlossen sein“ in den Städten, was sie benötigten sei „Land, Luft und Licht“. 63 Zur Problematik der Geisteskranken äußerte sich auch der bekannte Vilner Arzt Tsemakh Shabad. 64 In einem Artikel schreibt er über die ungenügenden Kapazitäten in den Spitälern für die zunehmende Zahl von psychisch Kranken. Davon abgesehen sei die Unterbringung der Kranken in Spitälern nicht unbedingt geeignet – besser wäre es, sie in Familien auf dem Land unterzubringen, wo die Luft besser sei und sie auch arbeiten könnten. Er nennt das Beispiel der jüdischen Landwirtschaftskolonie Deksznie, die vier Kilometer von der Eisenbahnstation Alkenik und 80 Kilometer von Vilne entfernt liegt. Dort habe man schon vor 40 Jahren damit begonnen, psychisch Kranke aufzunehmen – nicht nur aus reiner Nächstenliebe, sondern auch, um einen zusätzlichen Verdienst neben der Landwirtschaft zu haben. 1932 habe schließlich der Vilner Magistrat damit angefangen, psychisch Kranke dorthin zu schicken, weil in den Krankenhäusern kein Platz und die Unterbringungskosten in denselben auch viel höher waren. 65 Shabads Artikel weist zwei Punkte auf, die von einer traditionellen Auffassung von Wohltätigkeit abweichen. Dazu gehören seine Überlegungen bezüglich der Unterbringungskosten von Geisteskranken sowie die Aussicht auf vorhandene Arbeitsmöglichkeiten auf dem Land. Die Betonung von Rationalität und Produktivität im Umgang mit Hilfsbedürftigen, wie sie hier von Shabad gefordert wird, weist auf ein modernes Verständnis von Wohltätigkeit hin, das in der Vilner jüdischen Oberschicht sicherlich verbreitet war. Grades und Karpinovitshs Texten ist zu entnehmen, dass die Mehrheit der auf dem shulhoyf lebenden geistig Behinderten nie in einem Spital behandelt worden sind. Lediglich Rabbi Iserson verbrachte kurze Zeit auf einer Kranken-
63 Ebd.: Jews and Mental Illness, S. 154. 64 Ausführlicher zur Person Tsemakh Shabads sieht S. 88 FN 64. 65 Tsemakh Shabad: Meshugene kolonies. In: Yivo Bleter, 7 (1934) S. 265–267. Neben den Juden von Vilne schickten auch die Gemeinden Grodno und Białystok ihre geistig behinderten Gemeindemitglieder nach Deksznie und anderen landwirtschaftlichen Kolonien in der Nähe der Bahnstation von Alkenik. Hirsz Abramowicz: Profiles of a Lost World, S. 110.
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station, als er plötzlich damit begann, wirres Zeug zu reden. Seitdem er das Spital verlassen musste, hielt er sich auf dem shulhoyf auf. 66 Insgesamt entsteht der Eindruck, dass geistig behinderte Menschen aus armen Familien häufig sich selber überlassen waren und man ihnen nicht die medizinische Hilfe zugestand, derer sie bedurft hätten. Über diese Ungerechtigkeit macht sich auch Vella Grade ihre Gedanken, als das geistig behinderte und schwangere Mädchen Khayka vor ihr steht und sie um einen Apfel bittet: Kinder aus wohlhabenden Familien, deren Eltern sich um sie sorgen konnten, seien nicht den Späßen und dem Spott der Leute ausgeliefert wie Khayka die Waise, die in unvorstellbarer Armut aufgewachsen war und schon mehrere Kinder zur Welt gebracht hatte. 67 Dass geistig behinderte Menschen aus weniger ärmlichen Verhältnissen ein leichteres Schicksal hatten, zeigt das Beispiel der Familie von Reb Levi Hurvits, einem angesehenen Mitglied des Rabbinischen Gerichts. Seine seit 20 Jahren psychisch kranke Ehefrau erhielt alle erdenkliche Hilfe, bevor sie Reb Levi in die Obhut einer Familie auf dem Land, die er monatlich dafür bezahlte, übergab: „Di hofenung az zayn rebetsn [Frau des Rabbis] vet nokh gezunt vern hot shoyn reb Levi ayfgegebn. Fun shpitol fun meshugoim hot men zi ibergeshikt in a yidishn dorf leben [neben] shtetl Valkenik, vu men halt farfalene moreshkhoyrenikes [Melancholiker], un reb Levi hot yedn khoydesh [Monat] opgeshikt a teyl fun zayne skhires [Salär] tsum yeshivnik [Dorfbewohner], vos hot akhtung gegebn oyf der kranker rebetsn.“ 68
Auch Reb Levis Tochter Tsirele, die ebenfalls ein geistiges Leiden hat, erhält die beste Pflege in einer Anstalt für Geisteskranke. Als Tsirele die Anstalt schließlich verlassen darf, kümmert sich ihr Vater um sie und schützt sie vor den Blicken neugieriger Nachbarn. 69 Karpinovitshs Beschreibungen der Geisteskranken und „Verrückten“ nehmen in seinem Werk eine zentrale Stellung ein. Mehrere seiner Erzählungen befassen sich ausschließlich mit deren Lebenswelt. Dazu gehören die Erzählungen „Rokhl di hoyfdame“, „Der letster novi [Prophet] fun Vilne“ und „Der shulhoyf“. Indem er diesen Menschen in seinen Erzählungen einen prominenten Platz einräumt, zeigt er, dass sie weit mehr waren als nur Personen, durch die 66 67 68 69
Karpinovitsh: 5/3, S. 37–38; ders.: 3/8, S. 111. Grade: Der mames shabosim, S. 130, 132. Ders.: Di agune, S. 68 f. Ebd., S. 68.
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Die Lebenswelt der Vilner Bettler
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sich ein frommer Jude eine gute Tat verdienen konnte, oder die der allgemeinen Belustigung dienten. Für den Autor sind diese Menschen ein essentieller Teil des jüdischen Vilne und als solcher (mindestens) genauso viel wert wie die Händler oder Rabbiner, die sie vom shulhoyf vertreiben wollen.
Die Lebenswelt der Vilner Bettler Das Leben sämtlicher Menschen, die auf Wohltätigkeit anderer angewiesen waren – die geborenen Bettler, die durch Alter und Krankheit zur Bettelei gezwungenen Jüdinnen und Juden sowie die an einer psychischen Krankheit leidenden meshugoim –, war von unvorstellbarer Armut geprägt. Viele Obdachlose hausten in fensterlosen unterirdischen Kellergewölben 70 oder fanden eine notdürftige Unterkunft auf den Treppen oder in den Eingangshallen von Synagogen und Klausen. Besonders im Winter boten die Gebetshäuser ganzen Gruppen von Bettlern und Landstreichern einen einigermaßen warmen Unterschlupf, wo sie auf den Bänken oder auf Lumpenhaufen übernachteten.71 Rokhl die Hofdame beispielsweise lebte in den Sommermonaten auf dem shulhoyf in einem winzigen Holzverschlag hinter dem Frauenbad. Im Winter zog sie wegen der eisigen Kälte in die Vorhalle des Frauenbads. 72 Gdalke der Kantor wiederum schlief in einer Kammer der groyse shul auf alten Seiten von Gebetsbüchern, die er auf dem shulhoyf aufgesammelt hatte, und Rabbi Iserson übernachtete im Vorraum der keyverdishe shul. 73 Von den erhaltenen Almosen kauften sich die Menschen etwas zu essen. Auf dem shulhoyf befand sich Scheyndls Teehaus, wohin vor allem Träger, aber auch Geisteskranke kamen, um eine Tasse Tee zu trinken oder in Ausnahmefällen Pellkartoffeln in Sauermilch zu essen. 74 Rokhl die Hofdame streifte im Sommer auf dem Markt umher und sammelte heruntergefallenes Obst ein. Im Winter ging sie in die bilike kikh, wo sie eine Portion Essen erhielt. 75 Auch 70 Odile Suganas: Ville et „shtetl“ au quotidien. In: Lituanie juive, 1918–1940. Message d’un monde englouti. Hg. von Plasseraud, Yves und Minczeles, Henri. Paris 1996, S. 64–87, hier S. 72, vgl. Cohen: Vilna, S. 406. 71 Schwara: Luftmenschen – Ein Leben in Armut, S. 140. 72 Karpinovitsh: 1/5, S. 85, 91; eine Fotografie von Rokhls Verschlag ist zu sehen in: Jerusalem of Lithuania, Bd. 1, S. 153. 73 Karpinovitsh: 2/1, S. 19; ders.: 5/3, S. 38. 74 Ders.: 3/8, S. 111. 75 Ders.: 1/5, S. 85.
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Shneyke mit den Primusen holte sich dort sein Essen und wärmte es auf einem selbstgemachten Feuerchen auf dem shulhoyf. Manchmal ging Shneyke auch zum jüdischen Realgymnasium auf der rudnitsker gas, wo ihm die Kinder etwas von ihrem Pausenbrot abgaben. 76 Die Kleidung dieser Menschen bestand aus alten, von Parasiten zerfressenen Lumpen. 77 Lucy Dawidowicz berichtet diesbezüglich von einem Spaziergang durch das jüdische Viertel, auf dem sie von einem Schwarm Bettler umlagert wurde: „The beggars were unwashed, foul-smelling, a rough lot. They were dressed in layers of taters that had once been clothing. Some didn’t have shoes, but had swaddled their feet in strips of rags.“ 78 Zu diesen Bettlern, die jahrein, jahraus in dieselben Lumpen gehüllt waren, zählt auch Muraviov: „Der betler iz vinter un zumer umgegangen in a langn arumgerisenem mantl, in a por hoykhe volikes [Stiefel].“ 79 Wieder andere Obdachlose fielen durch ihre außergewöhnliche Kleidung auf, wie Rokhl die Hofdame, die sich im Sommer gerne in alte Kostüme des yidisher folks-teater kleidete. Im Winter trug allerdings auch sie alte Lumpen und Schuhe, die ihr die Händler vom durkhhoyf geschenkt hatten.80 Ähnlich kurios wie Rokhl zeigt sich eines Tages auch Abelson auf den Straßen: „In a sheynem tog hot men oyf der gas derzen Abelsonen in tsilinder un in frak, mit di tserisene hoyzn un tselekherte shikh [Schuhe].“ 81 Ein Leben auf der Straße ohne feste Unterkunft, regelmäßige Mahlzeiten und ein Minimum an Hygiene forderte seinen Tribut. Viele Bettler litten an diversen Krankheiten sowie körperlichen und geistigen Leiden. In den Schtetl und jüdischen Vierteln osteuropäischer Metropolen war ihre Zahl so groß, dass „ganze Trupps von kranken, lungensüchtigen, tief tuberkulösen Männern, Weibern und Kindern jeden Alters und Geschlechts, in zerrissenen, abgekudelten und zerfetzten Lappenkleidungen“ 82 kein Bild der Seltenheit waren. Auch die Bettler Vilnes wurden von den Bewohnern als „Invaliden und Krüppel“ wahrgenommen, da sie häufig blind oder lahm waren, oder sich aufgrund ihrer deformierten Gliedmaßen kaum aufrecht halten konnten.83 76 77 78 79 80 81 82
Ders.:3/8, S. 112. Grade: My Mother’s Sabbath Days, S. 119. Dawidowicz: From that Place, S. 144. Grade: Der shulhoyf (1), S. 82. Karpinovitsh: 1/5, S. 85. Grade: Der shulhoyf (2), S. 289. Zitiert nach Klaus Hödl: Als Bettler in die Leopoldstadt. Galizische Juden auf dem Weg nach Wien. Wien 1994, S. 39. 83 Grade: Di kloyz un di gas (3), S. 183; ders.: Der mames shabosim, S. 120 f.
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Zu diesen Unglücklichen zählt auch Muraviov, der sich nur mit Hilfe eines Stocks durch die Straßen des jüdischen Viertels schleppen kann, „vayl er iz geven kimat [fast] blind. Fun tsvishn zayne oygn-deklekh hobn aroysgeblutikt tsvey dine oygn-shpeltlekh, fartrifte mit trakhome.“ 84 Ebenfalls auf eine Krankheit weist der Anblick von Abelson: „Abelsons nakn iz royt ongeshvoln un gedikht bazetst mit eyterdike makes [Abszesse].“ 85 Um ihre beklagenswerte Situation etwas zu lindern, versuchten einige Bettler neben den Almosen noch eine zusätzliche Einnahmequelle zu finden. Der blinde Muraviov etwa betrieb eine Art von Pfandleihe, indem er auf dem shulhoyf in der keyverdishe shul gegen eine kleine Bezahlung Gebetsschals, Phylakterien und Scheitelkäppchen an die Gläubigen vermietete. 86 Moshe Engelstern, ein weiteres Original des shulhoyf, schrieb, druckte und verkaufte angeblich seine eigene Zeitung, die den neusten Klatsch der Gemeinde enthielt (anzunehmen ist, dass Engelstern von Hand ein paar Seiten Papier mit Neuigkeiten vollschrieb), während der in Reimen sprechende Sender Hefte und Bleistifte verkaufte. 87 Die große Zahl von Bettlern auf dem shulhoyf führte dazu, dass Konflikte nicht selten waren. Ihr Verhältnis untereinander war von Konkurrenz gekennzeichnet und kannte klare Hierarchien. „Einheimische Bettler und auswärtige Schnorrer waren Konkurrenten. Die einen glaubten, Vorrechte zu haben, da sie immer hier zu Hause waren, allen bekannt und es sich bei ihrer Bettelei schon um Gewohnheitsrecht handelte.“ 88
Zu beobachten ist dieser Umstand in folgendem Beispiel: Als eine Gruppe von Leuten einem alten, von auswärts kommenden blinden Mann ein Almosen geben will, tritt ein anderer Bettler an sie heran und erklärt, dass er selbst aus Vilne stamme und kein fremder Bettler sei, wie der alte Mann, der außerdem nur so tun würde, als ob er blind sei! 89 Die Konkurrenz zu spüren bekommt auch der obdachlose Shibele, als er sich vor Probes Bäckerei stellt, um etwas von dem Geld zu erhaschen, das der Bäcker jeden Donnerstag unter den Bedürftigen verteilt. Mit dem Argument, er sehe viel zu gesund aus, wird er von 84 85 86 87
Ders.: Der shulhoyf (1), S. 82. Ders.: Der shulhoyf (2), S. 285. Ders.: Der shulhoyf (1), S. 85. Karpinovitsh: 3/8, S. 114. Über die publizistische Tätigkeit Moshe Engelsterns siehe auch Minczeles: Vilna, Wilno, Vilnius, S. 217. 88 Schwara: Luftmenschen – Ein Leben in Armut, S. 102. 89 Grade: Der mames shabosim, S. 123.
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einer Gruppe von Bettlern von der Bäckerei vertrieben. 90 Und schließlich weiß auch der blinde Bettler Muraviov sich seiner Konkurrenz zu entledigen: Dieser lauscht an seinem Stammplatz in der Eingangshalle der keyverdishe kloyz den Bittrufen anderer Bettler und stürzt sich mit seinem Stock wütend auf sie, so dass diese in gebührendem Abstand von ihm auf den Treppen ihre Position einnehmen. 91 Die Texte von Grade und Karpinovitsh veranschaulichen, dass im jüdischen Viertel von Vilne die traditionelle Wohltätigkeit auch in der Zwischenkriegszeit noch verankert war. Das Sammeln und Verteilen von Almosen stellte für viele einfache Jüdinnen und Juden eine religiöse Verpflichtung dar, die Ehre und gesellschaftliches Ansehen versprach. Hierbei kam es zu direkten Kontakten zwischen den Spendern und den Bedürftigen – ein Umstand, der sich in den Memoiren einzelner Vilner Jüdinnen nicht findet. Die Menschen, die von der Bettelei lebten, waren eine heterogene Gruppe: Es gab geborene Bettler, durch Alter und Krankheit zur Bettelei gezwungene Personen sowie körperlich und geistig behinderte Jüdinnen und Juden, die keinem Erwerb nachgehen konnten. Eine genaue Einteilung der genannten Bettler in eine bestimmte Kategorie lässt sich nicht immer eindeutig vornehmen, zu ungenau sind die Informationen über ihr Schicksal. Fest steht, dass die Bettler in allergrößtem Elend lebten: Sie übernachteten in behelfsmäßigen Unterkünften oder in den Synagogen, ernährten sich von Resten und waren in Lumpen gekleidet. Eine direkte Folge dieser Lebensbedingungen war, dass viele von ihnen an Krankheiten litten, die über Jahre hinweg nicht behandelt wurden. Von den Bewohnern des jüdischen Viertels wurden die Bettler wohl oder übel geduldet, doch begegnete man ihnen zunehmend auch mit Abneigung und Misstrauen. Geradezu störend wirkten die geisteskranken Bettler – diese sollten nicht länger auf ihrem Stammort, dem shulhoyf, geduldet werden. Im Vorhaben, die Geisteskranken auf dem Land unterzubringen, manifestierte sich ein grundlegender Wandel im Umgang mit hilfsbedürftigen Menschen, der in der Zwischenkriegszeit auch die traditionelle Welt des jüdischen Viertels erfasst hatte. Insgesamt ist in den Texten von Grade und Karpinovitsh eine unterschiedliche Bewertung der Bettelei und Almosentätigkeit zu verzeichnen. Während 90 Karpinovitsh: 2/4, S. 54. 91 Grade: Der shulhoyf (1), S. 86.
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Grade vermehrt seinen Blick auf die Seite der Gebenden und „herkömmlichen“ Bettler richtet, thematisiert Karpinovitsh ausführlich den Alltag geisteskranker Jüdinnen und Juden. Im Unterschied zu Grade, der aus einer gewissen Distanz die Lebenswelt der auf Almosen angewiesenen Menschen betrachtet, ist in Karpinovitshs Texten deutlich eine Wertschätzung der schwächsten Mitglieder der jüdischen Gesellschaft spürbar. Diese sind nicht anonyme Gestalten, sondern schillernde Persönlichkeiten, die als integraler Bestandteil des Vilner Straßenbildes verstanden werden. Die beiden unterschiedlichen Perspektiven der Autoren ergänzen sich gegenseitig und schildern in ihrer Summe ein eindrückliches Bild jüdischer Lebenswirklichkeit.
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Vilnes religiöses Erbe
Innerhalb der jüdischen Welt war Vilne bekannt als Yerushalayim d’Lite. Dieser Titel, der auf das geistige Zentrum des jüdischen Volkes in Erez Israel verweist sowie auf das mit diesem Ort verbundene Gefühl von Frömmigkeit, Torabeflissenheit und Weisheit, wurde der Stadt um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert zuteil. 1 Um diesen ehrenvollen Titel tragen zu dürfen, musste diese eine herausragende Stellung unter den jüdischen Städten der Diaspora einnehmen – „if a city is metaphorically referred to as ‚Jerusalem‘, it must be the place from where Torah flows forth to the world.“ 2 Verdient hatte sich Vilne diese Auszeichnung aufgrund der zahlreich dort lebenden Rabbiner und Gelehrten, deren Ruf weit über die Grenzen des Polnisch-Litauischen Reiches hinausging, sowie der ausgezeichneten höheren religiösen Lehranstalten, der Jeschiwot, die Studenten von weit her nach Vilne lockten, um hier zu studieren und die geistige Tradition ihrer Väter fortzuführen. Noch in der Zwischenkriegszeit kursierten verschiedene Legenden, die von den Umständen berichteten, wie die Stadt zu ihrem Titel gekommen war. Einer Legende aus dem 17. Jahrhundert nach wohnten in Vilne einst 333 Gelehrte, die den Talmud auswendig konnten; eine spätere Legende weiß wiederum zu erzählen, wie Napoleon 3 beim Anblick des jüdischen Viertels mit all seinen Gelehrten und frommen Bewohnern ausgerufen hat, dass es hier aussehe wie in Jerusalem. 4 1
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Vilne war bei weitem nicht die einzige und auch nicht die erste Stadt, die die Auszeichnung „Jerusalem“ erhielt. Auch die Städte Trois, Worms, Toledo, Prag und Lublin trugen einst denselben Titel, wobei dieser innerhalb der jüdischen Welt allmählich in Vergessenheit geriet. So war Vilne im 20. Jahrhundert die einzige Stadt, die unter dem Titel „Jerusalem“ weltweit bekannt war. A. Y. Grodzenski: Farvos Vilne ruft zikh „Yerushalayim d’Lite“. In: Vilner almanakh. Hg. von dems.. Vilne 1939 [Reprint: Vilna Almanac. Hg. von Isaac Kowalski. Brooklyn, N.Y. 1992], Spalte 5– 10, hier Spalte 5–6. Shimon Finkelman: Reb Chaim Ozer. The Life and Ideals of Rabbi Chaim Ozer Grodzenski of Vilna. Brooklyn, N.Y. 1987, S. 28. Obwohl diese Legende zeitlich nicht mit der Namensgebung Vilnes übereinstimmt – Napoleon war 1812 in Vilne, also gute 100 Jahre nachdem Vilne den Titel „Jerusalem von Litauen“ erhielt, war sie weit verbreitet. Dawidowicz: From that Place, S. 37; Margules: Memories, Memories …, S. 7. Grodzenski: Farvos Vilne ruft zikh „Yerushalayim d’Lite“, Spalte 7–10. Diese Legen-
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Vilnes religiöses Erbe
Mit dem religiösen Erbe ihrer Stadt befassten sich auch jüdische Dichter des 20. Jahrhunderts. Shmerele Sharafan beispielsweise verfasste 1939 das Gedicht „Vilne, Yerushalayim d’Lite“, das mit folgenden Zeilen beginnt: „Akh, Vilne, du alte farheylikte shtot, mayn Vilne farhilt in der shkhine [göttliche Gegenwart] fun got vu s’hot der heyliker Goen gelebt Yerushalayim d’Lite in luft iz farvebt.“ 5
Der Dichter besingt hier das religiöse Vilne und führt die einzelnen Bestandteile auf, die die „Heiligkeit“ der Stadt ausmachen: Der shulhoyf – die „gaystike kroyn“ – mit seinen zwölf Klausen, die übrigen 100 Gebetshäuser, die über die ganze Stadt verstreut sind sowie der alte yidisher feld, wo der vilner Goen und andere rabbinische Größen ruhen. All diese Orte bewirkten, so der Autor, dass ein „Hauch des Religiösen“ die Stadt umgebe und Vilne auch noch im 20. Jahrhundert berechtigt sei, den Titel „Jerusalem Litauens“ zu tragen. Und so endet Sharafans Gedicht mit folgenden Zeilen: „Un damolst bagrayfstu, mayn vilner, aleyn far vos es trogt Vilne di herlekhe kroyn, dem nomen Yerushalayim fun Lite mit prakht un vert bay dem folk vi a mekadesh [Heiligkeit] batrakht.“ 6
Auf den Ursprung von Vilnes Titel Yerushalayim d’Lite kommt auch Karpinovitsh kurz zu sprechen, der in seinen Texten ansonsten eher zurückhaltend die religiösen Traditionen der Vilner Juden thematisiert. So ist in einer seiner Erzählungen bezüglich dieses Titels zu lesen, dass aufgrund „fun aza groyser tsol [Anzahl] talmides-khakhomim [Gelehrte] in eyn shtot, kon zi mit rekht oysgerufn vern Yerushalayim d’Lite.“ 7 In Grades Texten hingegen findet sich an keiner Stelle eine Erklärung, wieso seine Geburtsstadt Yerushalayim d’Lite genannt wurde. Dies erstaunt insofern, als dass in Grades Texten – wie im Folgenden zu sehen sein wird – religiöse Traditionen eine zentrale Rolle spielen und als eine der Komponenten genannt werden können, die das Leben der Bewohner des jüdischen Viertels maßgeblich bestimmt haben.
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de wird sowohl von Lucy Dawidowicz als auch von Lily Margules in deren Memoiren erwähnt. Margules: Memories, Memories …, S. 7; siehe auch Dawidowicz: From that Place, S. 37. Karpinovitsh: 3/8, S. 118. Ebd.: 3/8, S. 122. Ders.: 3/10, S. 154.
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Der vilner Goen und die Chassidim
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Der vilner Goen und die Chassidim Zu den Persönlichkeiten, die zum Ruf Vilnes als heilige Stadt beigetragen haben, gehörte – wie bereits Sharafans Gedicht zu entnehmen war – der Talmudgelehrte Rabbi Elija ben Zalmen (1720–1797), der vilner Goen. Dieser erblickte – glaubte man den stolzen Vilner Juden – natürlich in Yerushalayim d’Lite das Licht der Welt: „Right up to the war, the ‚regulars‘ in the Vilna Shúl-heyf would show visitors the exact dwelling in a nearby yard where he was said to have come into this world.“ 8 Bereits als Knabe verfügte Rabbi Elija über ein außerordentliches Gedächtnis. Er studierte mit dem brillanten Toragelehrten Moyshe Margolis, der ihn nicht nur mit religiösen Texten bekannt machte, sondern in ihm auch das Interesse an den Naturwissenschaften weckte. Nach seiner Heirat lebte Rabbi Elija in Vilne, wo sein Ruhm stetig zunahm. Große Gelehrte fragten ihn um Rat und mehrmals wurde ihm der Posten als Rabbiner oder der Vorsitz in einer der bekannten Jeschiwot der Stadt angeboten. Er lehnte jedoch stets ab und widmete seine ganze Zeit seinem eigenen Studium und der Forschung. Lediglich eine kleine Zahl außerordentlicher Gelehrter hatte das Privileg, sich um Rabbi Elija zu versammeln und mit ihm zusammen zu lernen. Bis zu seinem Tod schrieb er an die 70 Werke, die aber erst posthum publiziert wurden. Rabbi Elija verfasste Kommentare zum Talmud sowie zu späteren religiösen Werken und schrieb mehrere Bände über die Kabbala. Ebenfalls zu seinem Erbe gehören Bücher zur hebräischen Grammatik, zur Mathematik und Astronomie. 9 Der vilner Goen war einer der hervorragendsten Vertreter des orthodoxen, rational denkenden Rabbinismus, als dessen Zentrum Vilne in der ganzen jüdischen Welt bekannt war. Das Studieren des Talmuds und die genaue Befolgung der religiösen Gesetze standen im Mittelpunkt dieser Religionslehre. Die Grenzen zwischen Mensch und Gott sowie Geist und Körper sollten durch keine mystischen Erfahrungen überwunden werden – diese waren in dieser Welt nur für eine kleine geistige Elite vorgesehen, nicht aber für die in ihren Fähigkeiten limitierten Massen, deren menschliche Natur stets mit dem Bösen zu kämpfen hatte. 10 Die unangefochtene Autorität des Rabbinismus wurde in der ersten Hälfte 8 Katz: Lithuanian Jewish Culture, S. 88. 9 Ebd., S. 88–89. 10 Allan Nadler: The Faith of the Mithnagdim. Rabbinic Responses to Hasidic Rapture. Baltimore, London 1997, S. 174–175.
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des 18. Jahrhunderts durch den Chassidismus in Frage gestellt. Diese von Israel ben Eliezer (ca. 1700–1760), bekannt unter dem Namen Baal Schem Tow, begründete Bewegung stellte die persönliche religiöse Erfahrung – etwa in Form von Tanzen, Singen und Feiern – in den Mittelpunkt ihrer Lehre. Von zentraler Bedeutung war die Person des Zaddiks oder des Rebben, die als geistiger Führer und Vermittler zwischen Mensch und Gott fungierte. 11 Die etablierte Orthodoxie, deren Anhänger fortan als Misnagdim 12 bezeichnet wurden, erklärten den Chassidismus zur Sekte und dessen Mitglieder zu Gotteslästerern, die es um jeden Preis aufzuhalten galt. 1772 sprach Rabbi Elija gegen die in Vilne lebenden Chassidim erstmals den Bann 13 aus. Damit waren die Vilner Chasssidim von der jüdischen Gemeinde ausgeschlossen: gemeinsame Gottesdienste, soziale Kontakte und geschäftliche Beziehungen fanden nicht mehr statt. Selbst auf dem jüdischen Friedhof durften die Chassidim und ihre Familien nicht begraben werden. Jedoch hielten all diese Maßnahmen die Betroffenen nicht davon ab, weiter im Verborgenen an ihrer Lehre festzuhalten. Dies bewirkte 1781 die Ausrufung eines weiteren Banns durch den vilner Goen, dem sich sämtliche litauischen Gemeinden anschlossen.14 Die Kämpfe, Denunziationen und gegenseitigen Anschuldigungen zwischen den Misnagdim und Chassidim gingen jedoch ungeachtet dessen weiter und endeten erst mit dem 1804 von der russischen Regierung erlassenen „Statut für die Juden“ (polozˇenie dlja evreev), worin den Chassidim das Recht auf eigene Synagogen und 11 Heiko Haumann: Geschichte der Ostjuden. 5. Auflage. München 1999, S. 53–57; Israel Bartal: The Jews of Eastern Europe, 1772–1881. Philadelphia 2005, S. 47–52; Jacob Katz: Tradition und Krise. Der Weg der jüdischen Gesellschaft in die Moderne. Aus dem Englischen von Christan Wiese. München 2002, S. 232–241. 12 Der Begriff Misnagdim bedeutet „Protestierende“ oder „Gegner“ und ist im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen zwischen dem etablierten Judentum und den davon abtrünnigen Chassidim – den „Anhängern“ der chassidischen Glaubenslehre – entstanden. Katz: Lithuanian Jewish Culture, S. 128. 13 Der Bann oder Cherem galt als härteste Strafe, die die jüdische Gemeinde einem ihrer Mitglieder auferlegen konnte. Im Verlauf der Jahrhunderte verlor dieser aufgrund seiner häufigen Anwendung durch die orthodoxen Autoritäten an Wirkkraft: Weder die direkt davon betroffenen Personen, noch die Öffentlichkeit sahen sich von den Bestimmungen das Banns zu irgendeinem besonderen Verhalten verpflichtet. Dies bewirkte, dass der Bann zwar bis in die Zwischenkriegszeit noch ausgesprochen wurde, jedoch keinerlei praktische Folgen hatte. Encyclopaedia Judaica. Hg. von Fred Skolnik u. a. 22 Bde. 2. Aufl. Detroit, New York, San Francisco u. a. 2007, Bd. 9, S. 15, 16. 14 Geschichte des jüdischen Volkes. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hg. von Haim Hillel Ben-Sasson. München 2007, S. 946.
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Rabbiner zugesprochen wurde. 15 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts sollte sich schließlich der Chassidismus als Teil des traditionellen Judentums in ganz Osteuropa etablieren und selbst in den von den Misnagdim beherrschten Gebieten im Nordwesten des Russischen Reiches – und damit auch in Vilne – eigene Zentren gründen. In der Zwischenkriegszeit war die Präsenz verschiedener chassidischer Gruppierungen in Vilne allerdings nur bedingt spürbar. Diesbezüglich schreibt Lucy Dawidowicz: „More than 150 years later, in 1938, a bare handful of hasidic prayerhouses existed there, among them one belonging to the Koidonover sect, an offshoot of Karlin and another to the Lubavicher. In this regard, nothing much had changed: The hasidic sects in 1938 were, like their predecessors in 1882, marginal to Vilna’s religious establishment.“ 16
Trotz ihrer Randstellung innerhalb der jüdischen Orthodoxie finden sich in Grades Texten einzelne Hinweise auf die Anwesenheit von Chassidim in Vilne. Diese manifestiert sich vornehmlich auf dem shulhoyf, wo sich die Gebetsstibl der Kaidanover, Stoliner, Lachowiczer und Slonimer Chassidim befinden. 17 Im Unterschied zu den sie umgebenden, düster wirkenden Klausen der Misnagdim sind aus den chassidischen Gebetsstibl fröhlicher Gesang und Tanz zu vernehmen: „Koydenover shtibl hot shoyn dem ershtn tog sukes [Sukkot] geflamt [sprühen] simkhe-toyredik [‚tora-freudig‘]. Tife skeynim [hoch Betagte] mit lange gedreyte peyes [Schläfenlocken] hobn zikh gedveyket [in religiöser Extase sein], oysgedreyt tsu der vant. Zeyere zin [Söhne], fertsik- un fuftsik-yorike yidn, zaynen geshtanen bay di shtenders, di penemer [Gesichter] oysgedreyt tsum oylem [Publikum; anwesende Gläubige], un zikh gevigt fun eyn fus oyfn andern. Zey hobn gikh [schnell] gebrokt [murmeln] di ivre [hebräische Lesung] un beynosayim [währenddessen] zikh durkhgevorfn [zwischenrufen] mit glaykhvertlekh [Witzeleien], khokhmelekh [Weisheiten], nor plutsem [plötzlich] farglotst [starren] di oygn tsum balkn [(Decken-)balken], men halt dokh epes inmitn davnen [Beten].“ 18 15 Haumann: Geschichte der Ostjuden, S. 75–77. Obwohl der Kampf der litauischen Gemeinden gegen die Chassidim damit nicht siegreich endete, ging das litauische Judentum daraus gefestigt hervor, entstanden doch gerade in jener Zeit die bedeutenden Zentren litauischer Bildung, die Jeschiwot. Geschichte des jüdischen Volkes, S. 950. 16 Dawidowicz: From that Place, S. 44. 17 Grade: Di kloyz un di gas (3), S. 162; ders.: Der shtumer minyan, S. 20. Insgesamt gab es in Vilne acht chassidische Gebetshäuser. Atamuk: Juden in Litauen, S. 103. 18 Grade: Di kloyz un di gas (3), S. 191.
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In dieser Beschreibung hebt Grade die den Chassidim eigenen religiösen Praktiken hervor, die sich durch ihre Intensität und Lebendigkeit von den Gepflogenheiten in den übrigen Klausen unterscheiden. Damit weist Grade auf die in der Zwischenkriegszeit immer noch bestehenden Unterschiede zwischen Misnagdim und Chassidim, auf die zusätzlich verwiesen wird, indem der shulhoyf als „antichassidisch“ bezeichnet wird und die religiösen Praktiken der Chassidim an diesem Ort als fehl am Platz erscheinen.19 Die Vilner Juden hatten insgesamt den Ruf, „antichassidisch“ zu sein. Dieser Umstand äußert sich laut Grade darin, dass den kalten, eisernen Misnagdim 20 die lautstarke Frömmigkeit ihrer chassidischen Nachbarn suspekt vorkommt, 21 obwohl letztere längst keine „hartgesottenen“ Chassidim mehr seien: „Litvakes un nit keyn forer [Pilgerer] tsum rebn [chassidischer Rebbe], iz zey geblibn mer di hayterkeyt vi der khssidisher bren [Feuer], der nign [Melodie] – on dem rebns toyre [Lehre].“ 22 Die hier auf religiöser Ebene bestehenden Unterschiede zwischen Chassidim und Misnagdim spiegeln sich im Alltag auch in verbalen Sticheleien zwischen Nachbarn: „Redt nit vi di lyubavitsher khasidim fun Opatovs kloyz.“ 23 Ebenso finden sich Aussagen, die deutlich machen, welcher Teil der jüdischen Orthodoxie in Vilne das Sagen hat. So bemerkt ein einfacher Händler zu seinem chassidischen Nachbarn: „Vilne iz aykh nit Varshe [Warschau], vu es shviblt un griblt [wimmeln] mit khasidim in kleyne hitelekh.“ 24 In diesem nicht böse gemeinten Dialog zwischen zwei Nachbarn weist Grade gleichsam auf die unterschiedlich starke Präsenz der Chassidim in Polen hin: Während diese im Nordosten Polens eine deutliche Minderheit konstituierten, war ihre Stärke im ehemaligen Kongresspolen erheblich. Insgesamt schildert Grade die Chassidim Vilnes als eine Minderheit mit etwas seltsam anmutenden religiösen Bräuchen, durch die sie sich von ihren misnagdischen Nachbarn unterscheiden. Trotzdem haben auch sie ihren angestammten Platz auf dem shulhoyf und werden als Teil der jüdischen Orthodoxie Vilnes wahrgenommen. Dass Grade in seinem Werk dennoch auf die innerorthodoxe Spaltung von Misnagdim und Chassidim aufmerksam macht, ver-
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Ders.: Di agune, S. 77. Ders.: Der shulhoyf (1), S. 164. Ders.: Di agune, S. 18–19. Ders.: Di kloyz un di gas (3), S. 191; vgl. ebd. S. 161 f. Ders.: Der mames shabosim, S. 214. Ebd., S. 191.
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weist auf seine fundierten Kenntnisse der orthodoxen Lebenswelt, mit der er einst tief verwurzelt war. Hinsichtlich des Chassidismus wird bei Karpinovitsh lediglich in einer einzigen Erzählung von einem Juden berichtet, den der Autor als „der Chassid“ bezeichnet.25 Es handelt sich dabei um einen arbeitslosen Familienvater, der sich heimlich als Billardspieler in der Vilner Unterwelt etwas Geld verdienen will. Unter seinen Mitspielern ist er als „der Chassid“ bekannt. Bezeichnend hierbei ist, dass im Gegensatz zu Grade, der die von ihm erwähnten Chassidim in ihrer Eigenschaft als Angehörige einer anderen Glaubensauffassung thematisiert, Karpinovitsh mit der Bezeichnung „Chassid“ keine religiösen Konnotationen beabsichtigt. Für ihn ist es der Name eines Individuums, der ausschließlich auf dasselbe verweist. Indem Karpinovitsh gerade nicht auf die innerorthodoxen Unterschiede eingeht, zeigt sich wiederum, dass religiöse Themen in seiner Sichtweise auf das jüdische Vilne keine prominente Stellung einnehmen.
Die Welt der Synagogen – der shulhoyf Für die Bewahrung und Einhaltung der religiösen Gesetze und der jüdischen Tradition war die Kehilla, die jüdische Gemeinde, verantwortlich. Sie bot den Rahmen, in dem ein religiöses Leben geführt werden konnte. Zentral war hierbei die Institution der Synagoge, die in jeder jüdischen Gemeinde vorzufinden war. Hierher kamen die Gläubigen, um dreimal am Tag in einem Minjan zu beten und um religiöse Texte alleine oder in der Gruppe zu studieren. In Vilne gab es über 100 Synagogen und Klausen, 26 die über weite Teile der Stadt verstreut lagen. Der Ort, an dem die meisten Synagogen und Gebetsstuben anzutreffen waren, war der shulhoyf im Herzen des jüdischen Viertels. Der ganze Synagogenkomplex 27 eröffnete sich hinter dem eisernen Tor 28 auf der yidishe gas und bot dem Betrachter ein eindrückliches Bild: 25 Karpinovitsh: 1/8, S. 135–148. 26 Atamuk beziffert die Zahl der Synagogen und Gebetshäuser in Vilne gar auf 160, wovon sich 33 angeblich auf dem Synagogenhof befanden: „61 waren nach ihren Gründern benannt, 29 nach dem Handwerk der Gläubigen, 25 nach der Straße, in der sie sich befanden.“ Ders.: Juden in Litauen, S. 103. 27 Einen Überblick über die Verteilung der verschiedenen Gebäude auf dem trapezförmig zwischen daytshe gas und yidishe gas gelegenen Grundstück bietet der Plan des shulhoyf bei Katz: Lithuanian Jewish Culture, S. 114. 28 Die Pfeiler des eisernen Tors waren ursprünglich mit Laternen geschmückt. Sie wur-
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Abb. 15: Plan des shulhoyf. Diagram by Giedre Beconyte (2004) after D. Maggid (1901) in Lithuanian Jewish Culture by Dovid Katz, (Baltos lankos, Vilnius 2004, 2nd revised edition 2010), p. 114.
„[A] group of hoary buildings with crooked roofs and dark, winding steps within which were secreted dozends of Talmud Torahs, synagogues, study houses, charitable societies, cheders, schools, and yeshivas.“ 29
den 1938 von der jüdischen Gemeinde durch zwei dekorative Davidsterne aus Metall ersetzt. Kuznitz: On the Jewish Street, S. 73. 29 Buloff: From the Marketplace, S. 188.
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Abb. 16: Der shulhoyf.
Doch der shulhoyf war weit mehr als nur ein Ort des Gebets. Er bildete seit über 500 Jahren das Zentrum für sämtliche religiösen, administrativen, rechtlichen, geistigen und sozialen Aktivitäten der Gemeinde. 30 Von Einheimischen wie von Ortsfremden wurde der shulhoyf als etwas Besonderes empfunden. Der junge Zionist Ben-Zion Dinur, ein auswärtiger Besucher Vilnes, erfährt den shulhoyf als einen Ort, bei dem die menschlichen Sinne nahezu überfordert werden. Er bezeichnet ihn als „a world of its own, full of contrasting sounds and sights.“ 31 Dniur schildert das Geschrei der Marktfrauen, das sich mit den Stimmen der Betenden vermischt, die aus der Synagoge und den vielen Klausen hervorklingen. Diese allgegenwärtige Gelehrsamkeit verleitet einen anderen Besucher Vilnes, den shulhoyf und seine für die Ewigkeit gebauten Klausen
30 Cohen: Vilna, S. 102–103. 31 Dinur: The Jerusalem of Lithuania, Bd. 1, S. XIX.
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Abb. 17: Das Tor zum shulhoyf auf der yidishe gas.
mit den Colleges von Oxford zu vergleichen – was den Engländern ihr Oxford, sei den Juden der Diaspora der shulhoyf von Vilne. 32 Interessant ist, dass im Zusammenhang der Beschreibung des shulhoyf von zwei weiteren Autoren der Begriff des „Ghetto“ 33 verwendet wird. Einer dieser 32 Sh. Levin: Mayne yon-toyvdike teg in Vilne. In: Vilne. A zamlbukh gevidmet der shtot Vilne. Hg. von Yefim Yeshurin. New York 1935, S. 803–810, hier S. 804. 33 Die Juden Vilnes lebten bis zum Zweiten Weltkrieg nie in einem „Ghetto“. Die jüdische Gemeinde erhielt 1633 das Recht, selber Tore für das jüdische Wohngebiet zu errichten. Dieses Recht wurde wenige Jahre später in eine Verpflichtung umgewandelt, der die Juden jedoch aus Angst, für immer auf ein bestimmtes Gebiet verwiesen zu sein, nicht nachkamen. Obwohl sie tatsächlich ein Tor bei der daytshe gas und der yidishe gas errichteten, lassen sich keine Hinweise finden, die auf die Existenz eines ehemals zweiten Tores verweisen (die großen Torbogen auf der glezer gas und der yatkever gas wurden lediglich als Verstärkungen des Mauerwerks erbaut). Cohen: Vilna, S. 93. Zur Thematik des „Ghetto“ siehe Alina Cała: The Discourse of „Ghettoization“ – Non-Jews on Jews in 19th- and 20th-Century Poland. In: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts, 4 (2005) S. 445–458; Jürgen Heyde, Katrin Steffen: The
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Autoren ist Khaykl Lunski, 34 der Bibliothekar der Straschun Bibliothek. In der Einleitung zu seinem Buch über das jüdische Viertel bezeichnet er den shulhoyf als ein „eygnartik vinkele fun yidishn leben“ und als „geto fun ale getos“ – ein unberührtes Stück Mittelalter, das bis ins 20. Jahrhundert fortbestanden habe und in keiner anderen jüdischen Stadt so vorzufinden sei. 35 Der zweite Autor, der den Begriff des „Ghetto“ verwendet, ist Paul Monty, 36 der im Folgenden den Weg zum shulhoyf beschreibt: „Aber während wir diese kurze Entfernung zurücklegen, wandern wir stracks um Jahrhunderte zurück. In der kleinen winkligen Gasse, die uns aufnimmt, weht Ghettoluft: hebräische Schrift an allen Wänden, jüdische Tempelbesucher im geschäftigen Gange, niedrige Häuser mit seltsamen Türen.“ 37
Durch die Verwendung des Begriffs „Ghetto“ beziehungsweise „Ghettoluft“ im Zusammenhang mit der Beschreibung des shulhoyf implizieren beide Autoren, dass dieser Ort wenig mit der Gegenwart zu tun hat, sondern ein Relikt der dunklen Vergangenheit ist. Dem mit der jüdischen Welt nicht vertraute Monty erscheint der shulhoyf auf einer rein sinnlichen Ebene rätselhaft und fremd und deshalb faszinierend. Der Begriff „Ghettoluft“, den er verwendet, ist dabei als solcher nicht negativ konnotiert, sondern verweist lediglich auf das Ghetto als eine verschwundene, mysteriöse Welt. Lunski wieder-
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„Ghetto“ as a Topographic Reality and Discursive Metaphor. In: Jahrbuch des SimonDubnow-Instituts, 4 (2005) S. 423–430; Jürgen Heyde: The „Ghetto“ as a Spatial and Historical Construction – Discourses of Emancipation in France, Germany, and Poland. In: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts, 4 (2005) S. 431–443; Katrin Steffen: Connotations of Exclusion – „Ostjuden“, „Ghettos“, and Other Markings. In: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts, 4 (2005) S. 459–479. Der aus einer gelehrten Rabbinerfamilie aus Slonim stammende Lunski (ca. 1881– 1943), der an verschiedenen litauischen Jeschiwot studierte und auch Interesse an der Literatur der Haskala zeigte, wurde bereits als Jugendlicher in der Mitte der 1890er Jahre zum Bibliothekar der Strashun Bibliothek in Vilne ernannt. Seine detaillierten Kenntnisse über die umfangreichen Bestände der Bibliothek machten ihn zu einem unabdingbaren Ansprechpartner für jeden Bibliotheksbesucher – waren dies nun angesehene Forscher, Rabbiner oder Schüler der säkularen jiddischen Schulen Vilnes. Lunski blieb während des Zweiten Weltkriegs bis zur Zerstörung des Ghettos in Vilne. Katz: Lithuanian Jewish Culture, S. 118 f.; Abramowicz: Profiles of a Lost World, S. 260–264. Khaykl Lunski: Fun vilner geto. Geshtaltn un bilder, geshribn in shvere tsaytn. Vilne 1920, S. III. Für Angaben zur Person siehe S. 61 FN 3. Monty: Wanderstunden in Wilna, S. 46 f.
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um, der mit der jüdischen Geschichte Vilnes bestens vertraut ist, stilisiert den shulhoyf als „Ghetto aller Ghettos“ zu einem Ort der Ewigkeit, jenseits von Raum und Zeit. Bemerkenswert ist, dass die Romantisierung und Mystifizierung des shulhoyf, wie sie Kuznitz in der Zwischenkriegszeit bei vielen säkularen (jüdischen) Autoren festgestellt hat, 38 hier sowohl bei Lunski als auch bei Monty zu verzeichnen ist. In den Gebetsstuben und Klausen, die sich auf dem shulhoyf befanden, trafen sich verschiedene Berufsvereinigungen, 39 um zusammen zu beten, zu lernen oder auch über berufliche Angelegenheiten zu beraten. Die Mitglieder einer jeweiligen Berufsvereinigung deckten die Kosten für Miete, Heizung, Licht und Instandhaltung ihres Gebetshauses. Die Leitung der religiösen Studien übernahm meistens ein Gelehrter, der den Laien beim Lesen religiöser Texte behilflich war und ihnen verschiedene Sachverhalte erläutern konnte. 40 Informationen zu früheren Wohltätern, Rabbinern, großen Gelehrten, aber auch ganz einfachen Mitgliedern fanden sich in den Mitgliederbüchern der jeweiligen Klause. 41 Das Innere der zahlreichen Gebetshäuser konnte ganz unterschiedlich aussehen und war vom Reichtum ihrer Mitglieder abhängig. Hierzu berichtet Lucy Dawidowicz von einem Spaziergang über den shulhoyf: „Some kloyzn, like the Gaon’s kloyz or the kloyz yoshen, were well kept and well attended for daily prayer. Behind their modest exteriors were unexpectedly spacious quarters, some with short pillars supporting a low-vaulted ceiling, some with rococo ornamentation on the ark. Other kloyzn were gloomy, dark, dusty, with occasional shafts of sunlight stealing through a high overhead window. (…) All had sets of the Talmud and other works for religious study, sometimes in glass-enclosed beekshelves, sometimes just lying on dusty wooden study tables.“ 42
38 Vgl. Kuznitz: On the Jewish Street, S. 65–92, bes. S. 74. 39 Dazu gehörten u. a. die Klausen der Buchbinder, der Fuhrmänner, der Blechner, der Gläser, der Galanterieverkäufer, der Drucker, der Holzsäger, der Hutkürschner, der Futterkürschner, der Wasserträger, der „Weißbäcker“, der „Schwarzbäcker“, der Altwarenhändler, der Drechsler, der Lederarbeiter, der Maler, der Tischler, der Fischer, der Pelzhändler, der Kaminkehrer, der Metzger, der Krämer-Angestellten, der Schuster, der Schneider und der Klöppler. Khaykl Lunski: Vilner kloyzn un der shulhoyf. In: Vilner zamelbukh. Hg. von Tsemakh Shabad. Bd. 2. Vilne 1918, S. 97–112, hier S. 97. 40 Sharafan: Di religyeze Vilne, Spalte 322. 41 Buloff: From the Marketplace, S. 189. 42 Dawidowicz: From that Place, S. 112.
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Unmittelbar verbunden mit der traditionellen Welt des shulhoyf waren diejenigen Juden, die ein Amt im „religiösen Bereich“ bekleideten. Ganz oben innerhalb der jüdischen Gemeindehierarchie standen hierbei die Rabbiner. Sie verbrachten oft ihr ganzes Leben in einer Gemeinde und genossen aufgrund ihrer Gelehrtheit und ihrer Vorbildfunktion großes Ansehen.43 In Grades Texten ist die Person des Rabbi relativ häufig anzutreffen. Einer dieser Rabbiner ist Rabbi David Zelver aus der Zaretsher Synagoge im gleichnamigen Stadtteil. Er leitet dreimal täglich einen Gottesdienst, ermahnt die Gläubigen zum täglichen Torastudium und berät als Kenner und Interpret des jüdischen Gesetzes die Menschen, die ihn in verschiedensten Dingen um Rat fragen können. 44 Während Grade in Rabbi Zelver einen Rabbi portraitiert, der sich für seine Gemeindemitglieder interessiert und ihnen in ihrem Alltag helfen will, präsentiert er in seinen Texten aber auch den Typus von Rabbi, dem es – wie im Folgenden den Worten Rabbi Hurvits’ zu entnehmen ist – ausschließlich um die strikte Einhaltung der Gesetze geht: „A rov [Rabbi] darf [müssen] di ershte zakh akhtung gebn oyf di yidn fun zayn gas, zey zoln nit mekhalel-shabes zayn [Sabbat entehren], nit esn keyn treyfes [unkoscheres Essen] un ophitn taares-hamishpokhe [Familienreinheitsgesetze].“ 45
In und um die Synagogen war der Schammes, der Synagogendiener, anzutreffen. Er war für die Instandhaltung und Sauberkeit in der Synagoge verantwortlich und übte manchmal auch die Funktion des Gerichtsdieners aus. 46 Herausragend in Grades Werk ist Reb Yosche, der Oberschammes der groyse shul. Er holt an Simchat Tora die Torarollen aus dem Toraschrein und präsentiert diese den Gläubigen, die zu ihm gerufen werden. Reb Yosche ist auch berechtigt, Ehen zu schließen und auswärtige Besucher durch die groyse shul zu führen. Ihm unterstellt ist ein Hilfsschammes, der wesentlich weniger verdient und in der Gemeinde weniger Ansehen genießt. 47 Zu den alltäglicheren Aufgaben eines Schammes gehört es auch, genügend Gläubige für ein Minjan zusammenzurufen. 48 Für die Ordnung in der Synagoge zuständig war wiederum der Gabbe, der Synagogenvorsteher. Wie vielfältig dessen Aufgaben sein konnten, schildert 43 44 45 46 47 48
Ydit: Schadchen, Schul und Schammes, S. 56. Grade: Di agune, S. 38, 45, 61. Ebd., S. 144. Ydit: Schadchen, Schul und Schammes, S. 57. Grade: Di agune, S. 63, 78, 88. Ebd., S. 171.
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Grade anhand der Person von Reb Kopl. Dieser sammelt nach dem Gottesdienst die auf den Lesepulten liegengebliebenen Gebetsbücher ein, verschließt den Toraschrein und zieht den davor angebrachten Vorhang zu. Für den Sabbat wechselt er den „wochigen“ Vorhang gegen einen „sabbatlichen“. Er ist es auch, der das Geld von den Gläubigen einsammelt, das sie ihm als Gegenleistung für die Ehre, an den Hohen Feiertagen vor der versammelten Gemeinde in der Tora lesen zu dürfen, versprochen haben. Um seinen Verdienst etwas aufzubessern, handelt er zusätzlich mit Gebetsmänteln, Mesusot und Gebetsbüchern und verkauft an Chanukka Kerzen sowie Palmzweige zu Sukkot.49 Im Gegensatz zu Grade, in dessen Werk die Träger religiöser Ämter ein bedeutendes Segment des Vilner Judentums darstellen, erscheinen dieselben in Karpinovitshs Texten eher am Rande, ohne dass der Autor ihre berufliche Tätigkeit oder ihr religiöses Amt näher beschreibt. Genannt werden beispielsweise Reb Chaim Gordon, der Oberschamesch der groyse shul, Reb Eysik, der Schamesch der keyverdishe kloyz und Judel Solts, der Gabbe der katsovishe kloyz [Klause der Metzger]. 50 Bezeichnend für Karpinovitshs Blick auf Vilne ist, dass sich bei ihm auch der Gabbe der Synagoge des Lukischker Gefängnisses sowie Reb Kivele, der Rabbiner der Unterwelt, findet. 51
Ein Leben für die Tora – die Prushim der Goens kloyz Als eine der bedeutendsten Institutionen auf dem shulhoyf galt die Goens kloyz. Ein Verwandter von Rabbi Elija ließ im Jahr 1768 ein Lehrhaus neben dem Wohnhaus des Weisen auf der yidishe gas bauen. Dieses galt nicht nur als heiligste Stätte der Vilner Juden, sondern des Judentums weltweit – übertroffen nur von Jerusalem selbst. Grund dafür war, dass hier seit dem Tod des Rabbis im Jahr 1797 bis zum Zweiten Weltkrieg Tag und Nacht ununterbrochen die Tora studiert wurde. Die Toragelehrten, die sich von der Welt absonderten, um hier im Geiste des vilner Goen zu studieren, hießen Pruschim (Einzahl Poresch). Ihre Zahl betrug zehn, in Anlehnung an die Anzahl von Juden, die nötig waren, um ein Minjan zu bilden. 52 49 Ders.: Der shulhoyf (1), S. 55, 115. 50 Karpinovitsh: 3/8, S. 115; ders.: 4/6, S. 93, ders.: 5/3, S. 41, ders.: 3/2, S. 30; ders.:1/ 5, S. 83; ders.: 1/6, S. 101. 51 Ders.: 4/4, S. 56; ders.: 5/1, S. 14. 52 Katz: Lithuanian Jewish Culture., S. 88–90, 117.
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Auf diese Pruschim wird in Grades Texten an verschiedenen Stellen hingewiesen. Dabei handelt es sich um ältere Juden, die ihre Berufe als Händler oder Handwerker aufgegeben haben, um in der Goens kloyz ihre Zeit mit dem Lesen religiöser Texte zu verbringen. 53 In diesem Vorhaben sahen die Männer die Möglichkeit, sich als „proste“ – einfache – Juden durch die tagtägliche Aneignung traditioneller Bildung dem jüdischen Ideal des Toragelehrten anzunähern. Denn sich für Gott den ganzen Tag bis tief in die Nacht mit religiösen Texten zu befassen, war ein Wert an sich. Auch galt das Lernen als eine vornehme Beschäftigung, die sehr viel Eifer und Fleiß erforderte und als Pflicht eines jeden Juden angesehen wurde. 54 Was diese alten Juden darüber hinaus in die Goens kloyz zog, war die Gewissheit, dort unter Menschen mit derselben Lebensauffassung zu sein: „[I]z far im mamesh [wahrlich] a freyd tsu visn, az fun zayn rekhter zayt zitsn yidn [fromme Juden] un az fun zayn linker zayt zitsn yidn.“ 55 Eher negativ fällt die Beurteilung des Lebens eines Poresch aus weiblicher Perspektive aus. In den Augen der betroffenen Ehefrauen erschien das Vorhaben der Männer als eine bloße Verrücktheit: Wer mochte schon wie ein Bettler leben und darauf angewiesen sein, dass ihm die Frauen aus der Nachbarschaft Essensreste anboten? Und wer wünschte sich ein Leben fern der eigenen Familie, ohne festes Zuhause? 56 Wenig positiv war aus Sicht der Ehefrauen auch, dass sie aufgrund der Abwesenheit ihrer Männer mehr Arbeit und Einkommensverluste hinzunehmen hatten. Darüber hinaus stellte auch die Aussicht des Alleinseins für die Frauen nichts Erfreuliches dar. Diesbezüglich versucht ein alter Jude seine Ehefrau mit einer zeitlich begrenzten Trennung zu vertrösten: „A gantse vokh vet er shlofn in kloyz oyf a bank, un oyf shabes un yontev [Feiertag] vet er aheym kumen makhn kidesh [Kiddusch; Einweihungssegen].“ 57 Finanziert wurden die Pruschim von der Verwaltung der Goens kloyz. Das Geld, das die alten Männer erhielten, entsprach allerdings nur etwa einem
53 Grade: Di kloyz un di gas (2), S. 47–48; ders.: Der shulhoyf (1), S. 16. 54 Max M. Ydit: Schadchen, Schul und Schammes. Aus dem ostjüdischen Gemeindeleben. In: Beter und Rebellen. Aus 1000 Jahren Judentum in Polen. Hg. von Michael Brocke. Frankfurt am Main 1983, S. 51–78, hier S. 76; Zborowski, Herzog: Das Schtetl, S. 189. 55 Grade: Der shulhoyf (1), S. 79. 56 Ders.: Di agune, S. 315; ders.: Der shulhoyf (1), S. 17. 57 Ders.: Der shulhoyf (1), S. 18.
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Drittel von dem, was sie für ihren Lebensunterhalt gebraucht hätten, 58 so dass sie gezwungenermaßen auf weitere Einnahmequellen angewiesen waren: „Di khaluke [finanzielle Unterstützung] vos di prushim fun Goens kloyz bakumen, klekt [genügen] zey koym oyf dray teg in der vokh. Muzn zey onkumen tsu zaytike fardinstn. A farhaveter [überarbeitet] kremer dingt [anstellen] a poresh, az er zol lernen a peyrek [Kapitel] mishnayes [6 Bände der Mischna] nokh zeynem a korev [Verwandter], a nifter [Verstorbener]. A yidene dingt a tsveytn poresh, er zol a gants yor zogn kadesh [Gebet für Toten] nokh ir man. Zi hot keyn zin [Sohn], oder zi ken zikh oyf zey nit farlozn. (…) Ober dem grestn aynkunft hobn di prushim fun dem, vos vayber kumen poyser kholem zayn [deuten] zeyere beyze khaloymes [Albträume].“ 59
Hier zeigt sich, dass die Pruschim aufgrund ihrer verschiedenen Nebenverdienste nicht nur isoliert in der Goens kloyz studierten, sondern – indem sie ihr Wissen und ihre Fähigkeiten den einfachen Bewohnern des jüdischen Viertels gegen eine kleine Bezahlung zu Verfügung stellten – ein Teil der Gemeinschaft blieben. Die Verwalter der Goens kloyz waren allerdings mit den hier genannten Zusatzverdiensten der Pruschim nicht einverstanden: Die Aufgabe der Pruschim sei nicht das Aufsagen von Gebeten für die Toten oder Psalmen für die Kranken – dafür gäbe es genügend Bettler –, sondern sie hätten sich für die strengere Einhaltung der jüdischen Gesetze einzusetzen.60 Indem Grade auf die finanzielle Abhängigkeit der Pruschim von den Verwaltern der Goens kloyz hinweist, kritisiert er die innerhalb der religiösen Welt bestehenden Machtstrukturen. Das Leben eines Poresch, so scheint Grade sagen zu wollen, ist nicht wirklich erstrebenswert. Die Pruschim teilen nicht nur ihre bescheidene Unterkunft in der Goens kloyz mit den Obdachlosen, sondern auch die Geldsorgen der Mehrheit der Bewohner des jüdischen Viertels. Das Bild, das Grade deshalb von den alten Juden zeichnet, ist ein insgesamt trauriges: „Di prushim zitsn iber di gmores [Gemara], un in zeyere oysgetsoygene nigunim [Melodien] hert zikh di benkshaft [Sehnsucht] nokh vayb un kinder vos zey veln zen ersht arum sukes-tsayt [Sukkot]. Zey trakhtn [denken an] vegn dem kargn khalukegelt [finanzielle Unterstützung] vos der gabe [Verwalter] vet zey morgn, fraytik, oysteyln, vegn di umetike [traurig] shabosim [Sabbattage] bay fremde tishn, un farumerte [niedergeschlagen] drimlen [dösen] zey oyf di shtenders.“ 61
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Ders.: Di kloyz un di gas (2), S. 134. Ders.: Der shulhoyf (1), S. 26; vgl. ders.: Der shtumer minyan, S. 20. Ders.: Der shulhoyf (1), S. 30. Ders.: Der shulhoyf (2), S. 265.
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Ein Leben für die Tora – die Prushim der Goens kloyz
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Vilne galt mit Recht als Ort traditioneller Jüdischkeit. Die Stadt konnte auf eine reiche religiöse Vergangenheit sowie eine Vielzahl einzigartiger Persönlichkeiten zurückblicken, die einst in ihren Mauern gewirkt hatten. Dieses geistige Erbe, das bis ins 20. Jahrhundert von großen Toragelehrten aber auch einfachen Juden gepflegt wurde, legitimierte Vilne, den Titel Yerushalayim d’Lite bis zu seiner Zerstörung im Zweiten Weltkrieg zu tragen. Das Fundament und den Rahmen für diese geistige Tradition bildeten die verschiedenen jüdischen Institutionen und Ämter, die für die Einhaltung der religiösen Werte und Normen der Gemeinde verantwortlich waren. Als symbolträchtiger Ort hinsichtlich Vilnes Traditionsverbundenheit diente der shulhoyf im Zentrum des jüdischen Viertels. Hierhin zog es neben den gewöhnlichen Gläubigen die Chassidim und Pruschim, verschiedene Personen mit religiösen Ämtern sowie die Mitglieder religiöser Bruderschaften. Mit dem religiösen Erbe Vilnes gehen Grade und Karpinovitsh in ihren Texten unterschiedlich um. Grade, der aufgrund seiner Biographie eng mit der traditionellen Welt verbunden war, räumt in seinen Texten dem traditionellen Judentum einen prominenten Platz ein. Im Gegensatz zu Karpinovitsh, der – wenn überhaupt – eher punktuell und oberflächlich seinen Blick auf das religiöse Vilne richtet, unterlässt es Grade nicht, dasselbe zu hinterfragen. Es ist Grades umfassendes Wissen, das ihn befähigt, Nuancen innerhalb der traditionellen Welt zu erkennen und Kritik an bestimmten Vorkommnissen zu üben. Diese Möglichkeit bleibt Karpinovitsh aufgrund seiner eigenen Distanz zur jüdischen Orthodoxie versperrt, so dass sein „religiöses Vilne“, das ansatzweise auch in der jüdischen Unterwelt zu finden ist, eher skizzenhaft bleibt. In den Memoiren einzelner Jüdinnen finden sich nur wenige Hinweise auf das traditionelle Vilne. Einzig Lucy Dawidowicz beschreibt detailliert die Entdeckungen, die sie auf dem shulhoyf macht. Die in Vilne geborenen Autorinnen, deren bürgerliche Familien dem modernen Judentum zuzuordnen sind, erwähnen die verschiedenen Erscheinungsformen traditioneller Jüdischkeit in ihren Memoiren nicht. Die Distanz zwischen ihnen und dem orthodoxen Judentum äußert sich somit nicht nur räumlich, sondern auch kulturell.
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Das tägliche Lernen: traditionelle Gelehrsamkeit im jüdischen Viertel
Das Wissen und die Werte der Vergangenheit galten als höchstes Gut der traditionellen jüdischen Gesellschaft. Seit Generationen richteten sich die Juden nach den religiösen Gesetzen, die sämtliche Aspekte ihres Alltags bestimmten. Um sicherzustellen, dass auch die künftigen Generationen sich an die vorgeschriebenen Gesetze halten würden, mussten diese von klein an gelernt und gelebt werden. Eine besondere Rolle kam hierbei der Familie zu, die als Trägerin der traditionellen Werte den Kindern nicht nur gute Manieren und moralisches Verhalten beibrachte, sondern ihnen auch erste Einblicke in religiöse Zeremonien vermittelte. Eine ebenso wichtige Rolle spielte hierbei die Synagoge. Durch die Teilnahme am Gottesdienst wurden die Kinder mit religiösen Bräuchen, Gebeten und Melodien bekannt gemacht und identifizierten sich so schon früh mit der religiösen Gemeinschaft. 1 Speziell mit der Vermittlung von traditionellem Wissen beauftragt war die Institution des Cheders („Zimmer“), wo den Knaben ab dem vierten Lebensjahr gegen ein kleines Entgelt der Eltern die grundlegenden Kenntnisse des Judentums beigebracht wurden. Hier lehrte der Melamed („Lehrer“) die Kinder die Bibel zu lesen, hebräisch zu schreiben und zu beten sowie die Grundkenntnisse der Arithmetik. Da der Melamed häufig selbst nur die elementarsten Kenntnisse in den Fächern hatte, die er unterrichtete, war die Qualität des Schulunterrichts eher dürftig und das vermittelte Wissen oft nur fragmentarisch. Umso mehr wurde bei den Knaben Disziplin und Leistung mit dem Stock eingefordert. 2 Trotz des wenig guten Rufs, der dieser traditionellen jüdischen Bildungsinstitution anhaftete, schickte die Mehrheit der Eltern ihre Söhne in den Cheder, nicht zuletzt deshalb, da dieser dennoch seinen vorgesehenen Zweck erfüllte: „Jeder, der einen cheder besuchte, und sei es nur einige Jahre lang, hatte die Grundkenntnisse der Tradition aufgenommen und konnte dazu beitragen, sie zu bewahren.
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Katz: Tradition und Krise, S. 174–178. Haumann: Geschichte der Ostjuden, S. 134.
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Das tägliche Lernen: traditionelle Gelehrsamkeit im jüdischen Viertel
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(…) Sein Wissen und seine religiöse Bildung reichten dafür aus, dass er am Gebet der Gemeinde teilnehmen und ihre wichtigsten Bräuche befolgen konnte.“ 3
Neben dem traditionellen Cheder und der kostenfreien, für Waisen vorgesehenen Talmud-Tora-Schule, 4 die beide aus staatlicher Sicht als reine Religionsschulen galten, gab es in der Zwischenkriegszeit eine Reihe neuer religiöser Schulen (in den Texten häufig weiterhin als Cheder bezeichnet), die aufgrund der staatlich vorgeschriebenen Grundschulpflicht von verschiedenen Teilen des orthodoxen Judentums, das seine Kinder nicht in polnische oder jüdisch-weltliche Grundschulen schicken wollte, gegründet worden waren. 5 Damit die neuen religiösen Schulen als staatliche Elementarschulen anerkannt wurden, waren sie verpflichtet, gewisse Änderungen in ihrem Lehrplan vorzunehmen. Dazu gehörte die Einführung von Schulfächern in polnischer Sprache. Abgesehen von diesem Eingeständnis an den polnischen Staat blieben die neuen religiösen Schulen aber ihrem traditionellen Selbstverständnis treu und konnten ihr Hauptaugenmerk – wie einst der traditionelle Cheder – auf ihre religiöse Mission setzen und damit die Bedürfnisse orthodoxer Familien und deren Kinder befriedigen. 6
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Katz: Tradition und Krise, S. 191. Die Talmud-Tora-Schule existierte in Vilne bereits seit dem Ende des 17. Jahrhunderts und wurde von der Kehilla finanziert. In der Zwischenkriegszeit führte diese eine reguläre Tagesschule, die 1939 von 180 Kindern besucht wurde. Die Schüler wurden dort in die verschiedenen religiösen Texte eingeführt, lernten Hebräisch und Jiddisch sowie – um den gesetzlichen Anforderungen zu genügen – eine Reihe von weltlichen Fächern, die in Polnisch unterrichtet wurden. M. Senitski: Di vilner shtotishe talmetoyre. In: Vilner almanakh. Hg. von A. Y. Grodzenski. Vilne 1939 [Reprint: Vilna Almanac. Hg. von Isaac Kowalski. Brooklyn, N.Y. 1992], Spalte 337– 342, hier Spalte 337; M. Senitski: Di vilner shtotishe talmetoyre. In: Pinkes far der geshikhte fun Vilne in di yorn fun milkhome un okupatsye. Hg. von Zalmen Reyzen. Vilne 1922, Spalte 761–764. Entgegen den im Versailler Vertrag festgehaltenen Bestimmungen, nationale Minderheiten betreffend, stellte der polnische Staat der jüdischen Minderheit keine öffentlichen Schulen mit jiddischer oder hebräischer Unterrichtssprache zur Verfügung, da die Juden als religiöse (und nicht nationale) Minderheit betrachtet wurden. Stattdessen sollten die jüdischen Kinder polnischsprachige Grundschulen besuchen, in denen sie ihren eigenen Religionsunterricht hatten. Celia S. Heller: On the Edge of Destruction. Jews of Poland Between the Two World Wars. New York 1977, S. 220, 221. Shimon Frost: The Jewish School Systems in Interwar Poland: Ideological Underpinnings. In: The Jews in Poland. Hg. von Andrzej K. Paluch. Bd. 1. Cracow 1992, S. 235–244, hier S. 236.
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Zu den neuen religiösen Schulen zählte das in ganz Polen durch die orthodoxe Partei Agudas Israel lancierte Schulnetzwerk khorev, das bereits 1922 staatlich anerkannt wurde. Dieses vertrat aus orthodoxer Sicht die Interessen des traditionellen Judentums bestens, da „the education in this new type of heder still revolved mainly around Torah, and the secular subjects were regarded as purely utilitarian in character.“ 7 Die religiösen Zionisten gründeten ihrerseits 1927 das Schulnetzwerk yavne. In Vilne öffnete dieses bereits 1920 drei Knaben- und eine Mädchenschule. Das Ziel der yavne-Schulen war, den Kindern eine religiösnationale Erziehung zu vermitteln. Besonders erfolgreich war die Schule auf der novgoroder gas, wo hunderte von Absolventen ihre religiösen Studien an den Jeschiwot von Mir, Radun, Klez oder Kamenitz fortführen konnten.8 In der Zwischenkriegszeit gelang es den verschiedenen religiösen Schulen, einen beachtlichen Teil der jüdischen Kinder für sich zu gewinnen und ihr traditionelles Erziehungsideal an die junge Generation weiterzugeben. Diesbezüglich schreibt Shmerele Sharafan: „Nit gekukt oyf dem, vos Vilne farmogt [besitzen] mer veltlekhe shuln eyder a ander shtot, iz der religiezer kinekh [Erziehung] in Vilne nokh genug kentik [sichtbar].“ 9 Tatsächlich gelang es den religiösen Schulen in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, insgesamt eine herausragende Rolle in der Erziehung der jungen Generation einzunehmen: „[E]n premier lieu – probablement plus important que tous les autres courants réunis – les orthodoxes occupaient toujours la première place dans l’éducation juive, perpétuant dans un même esprit l’enseignement dispensé lors des générations précédentes.“ 10
Für die meisten Knaben endete nach dem 13. Lebensjahr die religiöse Erziehung. Danach erlernten sie entweder ein Handwerk oder eine Handelstätigkeit. Nur eine kleine Zahl von ihnen konnte die religiösen Studien fortsetzen. Die Institution, die die ehemaligen Chederjungen zu Talmudgelehrten ausbildete und ihnen den Erwerb eines Rabbinerdiploms ermöglichte, war die Jeschiwa. Sie galt als höchste Bildungseinrichtung der traditionellen jüdischen Gesellschaft und genoss einen autonomen Status. Ihre Autorität unter der tra7 Heller: On the Edge of Destruction, S. 156. 8 Sh. Tsirkind: Di khinekh-anshtaltn fun „yavne“. In: Vilner Vilner almanakh. Hg. von A. Y. Grodzenski. Vilne 1939 [Reprint: Vilna Almanac. Hg. von Isaac Kowalski. Brooklyn, N.Y. 1992], Spalte 345–346. 9 Sharafan: Di religyeze Vilne, Spalte 321. 10 Zitiert nach Minczeles: Vilna, Wilno, Vilnius, S. 260.
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ditionellen jüdischen Bevölkerung war unbestritten. Die Absolventen der Jeschiwot besaßen weitreichende Kenntnisse des Talmud sowie der religiösen Gesetze und bildeten die Elite der traditionellen jüdischen Gesellschaft. 11 In der ganzen jüdischen Welt bekannt waren die Namen vieler litauischer Jeschiwot – diese galten als „the virtual ‚universities‘ of traditional Lithuanian Jewish culture.“ 12 Die ersten „modernen“ litauischen Jeschiwot entstanden kurz nach dem Tod des vilner Goen. 13 Die bedeutendste von ihnen war die Jeschiwa von Wolozhin, die Chaim aus Wolozhin (1749–1821), ein Schüler Rabbi Elijas, 1802 gegründet hatte. Sie galt als erste professionelle rabbinische Akademie, wo nach einem geregelten Stundenplan und festgelegten Semestern studiert wurde. Nach ihrem Vorbild entstanden weitere Jeschiwot, wie beispielsweise die von Mir (1815), Slonim (1815), Telz (1882) oder Slutzk (1897). Doch nicht nur in kleinen Ortschaften wie diesen wurden neue Jeschiwot gegründet, sondern auch in größeren Städten. Hierzu zählten etwa die Rameyles Jeschiwa in Vilne (1831) und die Slobodka Jeschiwa in Kovno (1863). 14 Im Gegensatz zum traditionellen Cheder, dessen Kosten von den Eltern und der jeweiligen Gemeinde getragen wurden, konnten für den Unterhalt der im 19. Jahrhundert von den Misnagdim gegründeten großen litauischen Jeschiwot nicht einzelne jüdische Gemeinden alleine aufkommen. 15 Vor dem Ersten Weltkrieg finanzierten sich die osteuropäischen Jeschiwot hauptsächlich durch jüdische Gelder aus dem Zarenreich. Nach dem Krieg, der Russischen Revolution und der Unabhängigkeit Polens befand sich die Mehrheit der litauischen Jeschiwot auf polnischem Gebiet, wo die Juden unter großer Armut litten. Die bis dahin geflossenen Gelder der russischen Juden konnten jetzt nicht mehr an die Jeschiwot überwiesen werden und in Anbetracht der sich verschlechternden Weltwirtschaft fand sich auch kaum mehr Unterstützung aus dem Ausland. Die Lage der Jeschiwot war deshalb in der Zwischenkriegszeit äußerst prekär und die jüdische Orthodoxie Polens unternahm alles, um die Zukunft ihrer Lehranstalten zu sichern. 16
11 Geschichte des jüdischen Volkes, S. 1034. 12 Katz: Lithuanian Jewish Culture, S. 150. 13 Für biographische Angaben zur Person Rabbi Elijas siehe Kapitel Der vilner Goen und die Chassidim. 14 Ebd., S. 147–150. 15 Katz: Tradition und Krise, S. 194; Geschichte des jüdischen Volkes, S. 1034. 16 Finkelman: Reb Chaim Ozer, S. 153.
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Aus diesem Grund wurde 1924 der va’ad hayeshives („Rat der Jeschiwot“) mit Hauptsitz in Vilne ins Leben gerufen. Hier sollten sich jeden Sommer die Verantwortlichen der verschiedenen Jeschiwot einfinden, um unter dem Vorsitz des Vilner Rabbiners Chaim Ozer Grodzenski (1863–1940) die gegenwärtigen Probleme zu diskutieren. 17 Rabbi Grodzenski, eine der größten Toraautoritäten in der damaligen talmudischen Welt, beklagte die schlimme finanzielle Lage der Jeschiwot. 18 Um Linderung zu schaffen, organisierte er Sammelaktionen in über 500 polnischen Städten und Städtchen, von deren eingenommenen Geldern 71 Jeschiwot mit über 6000 Talmidim unterstützt wurden. 19 So konnte während seiner 16jährigen Existenz der va’ad hayeshives sein eigentliches Ziel erreichen – die Jeschiwot blieben weiterhin geöffnet. Der va’ad hayeshives selbst wurde mit der Besetzung Vilnes durch sowjetische Truppen im Jahr 1940 aufgelöst. 20
Orte des Lernens: Chedarim und Yeshivot In den Texten von Grade und Karpinovitsh werden einzelne Aspekte traditionell jüdischer Gelehrsamkeit in unterschiedlichem Ausmaß thematisiert. Hinweise, die darauf deuten, dass die religiösen Elementarschulen von den Kindern des jüdischen Viertels besucht wurden, finden sich nur punktuell. So ist etwa zu erfahren, dass der kleine Senderl, der Payes und eine Kopfbedeckung trägt, in einem Cheder gelernt hat, sich vor dem Essen die Hände zu waschen. 21 Explizit als religiöser Schultypus genannt wird die orthodoxe yavneSchule. Eine solche Schule wird von Yosefl, dem Sohn Rabbi David Zelvers, und Hertske, dem Sohn des Tabakhändlers Vova Barbitoler, besucht. 22 Beide Knaben gehen – sehr zum Kummer ihrer Väter – nur äußerst unregelmäßig und äußerst ungern in die Schule. Anders verhält es sich beim 11jährigen Melekhke, dem Sohn der Obsthändlerin Zelde, der ebenfalls eine solche Schule besucht. Er gehört zu den besten Schülern und möchte später ein großer Talmudgelehrter werden. 23 17 18 19 20 21 22 23
Minczeles: Vilna, Wilno, Vilnius, S. 260. Siehe dazu: Finkelman, Reb Chaim Ozer, S. 153 f. Sharafan: Di religyeze Vilne, Spalte 323. Finkelman: Reb Chaim Ozer, S. 158. Grade: Der shtumer minyan, S. 144, 147. Ders.: Di agune, S. 50; ders. Tsemakh Atlas (di yeshive). Bd. 1, S. 141. Ders.: Tsemakh Atlas (di yeshive). Bd. 1, S. 160.
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Während Grade in diesen wenigen Beispielen keinerlei Einblicke in die Klassenzimmer gewährt, schildert Karpinovitsh in einer seiner Erzählungen etwas genauer den Alltag in der religiösen Elementarschule tora-emes („Wahrheit der Tora“). So ist zu erfahren, dass der Unterricht auf Jiddisch gehalten wird und die Knaben das „alef-beys“, das hebräische Alphabet, lernen müssen. Neben dem Wissen, das den Kindern vermittelt wird, erhalten sie auch eine kleine Verpflegung in Form von Milch und Weizenkeksen. 24 Interessant ist, dass der Lehrer dieser Schule keine Autoritätsperson ist, welche die Knaben zu zügeln vermag, sondern sich selbst insgeheim vor seinen Schülern fürchtet. Karpinovitsh erklärt diesen Umstand damit, dass es sich bei den Schülern um keine „gewöhnlichen“ Knaben handle, sondern um zukünftige Mitglieder der Vilner Unterwelt. In dieser für den Autor typischen Sichtweise wird diese Schule zu einem Ort, an dem die religiöse Erziehung keine Rolle mehr zu spielen scheint: „A hoyf a groyser iz dort geven. M’hot hot zikh gekont shpiln in ganovim [Gauner] un politsyantn. Mitn lernen hot men oykh shtark nit gedrikt [plagen]. Der lerer Gershovitsh (…) hot farshtanen mit vemen er geyt do tsum tish, hot er glaykh oyfgegebn.“ 25
Inwiefern das im traditionellen Cheder vermittelte Wissen die Knaben auch im Erwachsenenalter dazu befähigte, am religiösen Leben der Gemeinde teilzuhaben, veranschaulicht Grade in der Erzählung „Der brunem“. Darin verkörpert der Hauptprotagonist Mende den Typus des „einfachen Juden“, der nur wenig religiöse Bildung besitzt. Über Mende ist zu erfahren, dass er als Waise nur die Grundkenntnisse religiösen Wissens lernen konnte, da er sehr früh sein eigenes Geld verdienen musste. Jetzt, als Erwachsener, ist Mende in der Lage, dem jüdischen Kalender zu folgen, die auf Jiddisch geschriebenen Instruktionen für den jüdischen Kalender zu verstehen und Sagen über heilige Männer zu lesen. 26 Dass Grade das im traditionellen Cheder erworbene Wissen kritisch betrachtet, zeigt sich darin, dass er Mende als äußerst gutgläubige und naive Person darstellt, die von den gelehrten Juden belächelt wird. Dennoch scheint der Autor dieses Wissen aber auch nicht zu gering zu schätzen, da er den beharrlichen Mende am Ende der Erzählung erfolgreich an sein Ziel kommen lässt. Im Gegensatz zu den religiösen Schulen, die in Grades Werk nur am Rande thematisiert werden, spielt die bedeutendste traditionelle jüdische Bildungs24 Karpinovitsh: 1/9, S. 152. 25 Ebd.: 1/9, S. 151. 26 Grade: Der shulhoyf (1), S. 135.
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institution in seinen Texten eine hervorragende Rolle. Dies hat sicherlich damit zu tun, dass Grade die Welt der Jeschiwa bestens aus eigener Erfahrung kannte: Bis zu seinem 15. Lebensjahr besuchte er die Rameyles Jeschiwa in Vilne und lernte später bis zu seinem endgültigen Bruch mit der traditionellen jüdischen Welt im Alter von 22 Jahren an verschiedenen anderen litauischen Jeschiwot, wo er auch mit der Musarbewegung in Berührung kam. Letztgenannte präsentierte sich als eine Art „dritter Weg“, nachdem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Konflikt zwischen den Chassidim und Misnagdim langsam abebbte. Der Leiter der Rameyles Jeschiwa in Vilne, Israel Salanter (1810–1883), gründete die Bewegung um 1840. Er kritisierte, dass die Menschen sehr viel Zeit mit dem Studium der Tora und der jüdischen Gesetze verbrachten, jedoch nicht an ihrem Charakter und Verhalten arbeiten würden. Er war der Meinung, dass die klassischen Werke jüdischer Moralliteratur, die vor über 1000 Jahren in Babylonien und später in Spanien und Aschkenas geschrieben wurden, in das Studium integriert werden sollten. Salanter verließ 1849 Vilne und gründete in Kovno seine eigene Jeschiwa. Zur selben Zeit entstanden auch an anderen Orten Musar-Jeschiwot, oder bestehende Jeschiwot integrierten Musar in ihr Lehrprogramm. Innerhalb nur weniger Jahrzehnte vermochte die Musarbewegung die traditionelle litauische Bildungslandschaft zu verändern. 27 Grade thematisiert seine Erfahrungen mit Musar in seinem zweibändigen epischen Roman „Tsemakh Atlas (di yeshive)“, dessen Handlung in einem Schtetl unweit von Vilne spielt. Er beschreibt darin den Glaubenskonflikt des Jeschiwavorstehers Tsemakh Atlas, eines Absolventen der als extrem geltenden Novaredok Jeschiwa, 28 sowie die verschiedenen Erfahrungen des Alltags, die 27 Katz: Lithuanian Jewish Culture, S. 155–158. 28 Die Jeschiwa in Novaredok wurde von Yosef Yoizl Hurwitz 1896 gegründet und geleitet. Im Unterschied zu anderen Musar Jeschiwot stand in dieser die ethisch-religiöse Perfektionierung des Menschen im Mittelpunkt des Unterrichts und es wurde praktisch kein Wert auf die Kenntnis des Talmuds gelegt. Hurwitz war der Auffassung, dass die eigenen Schwächen und das Böse im Menschen nur durch radikale und extreme Taten besiegt werden könnten. Die Novaredker lebten in Armut und waren gleichgültig gegenüber materiellen Dingen. Sie lebten zurückgezogen und ihr Kontakt mit der Außenwelt beschränkte sich auf ein Minimum. Im Zuge des Ersten Weltkriegs flohen die Novaredker aus dem Kriegsgebiet und ließen sich in Homel nieder. Als Hurwitz sah, dass der Krieg die Stellung von Musar in der jüdischen Gesellschaft bedrohte, gab er die bis dahin geltende Doktrin von Zurückhaltung und Isolation auf und rief zur aktiven und aggressiven Verbreitung von Musar auf. Gleichzeitig wurde dem Talmudstudium mehr Platz eingeräumt und die Jeschiwa näherte sich der
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die Jeschiwastudenten machen: die Unterrichtsstunden mit ihrem Lehrer Tsemakh Atlas, die einfachen Unterbringungsmöglichkeiten der Schüler bei den Bewohnern des Schtetls, die kargen Mahlzeiten unter der Woche in der Küche der Jeschiwa sowie die Sabbatmahlzeiten bei wohlhabenden Gemeindemitgliedern. Grade weist außerdem auf die finanzielle Belastung, die die Jeschiwa für die kleine Gemeinde darstellt, sowie auf die Konflikte, die sich zwischen den Bewohnern des Schtetls und den Studenten der Jeschiwa entwickeln.
Religiöse Vorbilder Als eine der beliebtesten litauischen rabbibischen Persönlichkeiten galt Chofetz Chaim (1838–1933), der 1869 in dem kleinen Dorf Radun (heute Weißrussland) eine Jeschiwa errichtete, zu der Studenten von weit her kamen, um bei dem berühmten Rabbi zu lernen. 29 In der Novelle „Der brunem“ schildert Grade eine Rabbinerversammlung, zu der „der Weise aus Radun“, verschiedene Rabbiner und Jeschiwahäupter nach Vilne eingeladen hatte: „In di shtet un shtetlekh fun der Lite zaynen ongekumen briv fun Khofets Khaym, az di rabonim zaynen gebetn tsu kumen keyn Vilne oyf an asife [Versammlung]. Mit yorn frier, oyf di asifes in Grodne und Rovne, hot men gemakht a takone [Statut] az yeder balebos [Hausbesitzer] darf tsoln tsvey sheklim [Schekel] a yor far di yeshives, un yeder rov [Rabbi] muz tsvey mol in yor forn in di arumike [umliegende] yishuvim [Dörfer] reydn vegn khizek-hatoyre [Stärkung der Tora].“ 30
Vor seinen versammelten Gästen erklärt der weit über 90 Jahre alte Chofetz Chaim, der nicht mehr laufen kann und von den Studenten seiner Jeschiwa in Radun getragen werden muss, weshalb er den mühseligen Weg von Rovno nach Vilne auf sich genommen hat: „[T]sulib dem kiem [Überleben] fun du khadorim [Cheder] un yeshives.“ 31 Hauptrichtung litauischer Jeschiwot. In der Zwischenkriegszeit entstand bis ins Jahr 1939 in Polen ein ganzes Netzwerk von Novaredok Jeschiwot. David E. Fischman: The Musar Movement in Interwar Poland. In: The Jews of Poland Between Two World Wars. Hg. von Yisrael Gutman, Ezra Mendelsohn, Jehuda Reinharz und Chone Shmeruk. Hanover 1989, S. 247–271. 29 Katz: Lithuanian Jewish Culture, S. 162 f.; siehe auch Moses M. Yoshor: The Chafetz Chaim. The Life and Works of Rabbi Yisrael Meir Kagan of Radin. 2 Bde. Brooklyn 1984. 30 Grade: Der shulhoyf (1), S. 153. 31 Ebd., S. 192.
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Große Toragelehrte wie der Chofetz Chaim genossen innerhalb des traditionellen Judentums hohes Ansehen und wurden von den Menschen verehrt. Dies veranschaulicht Grade, indem er zeigt, wie die Anwesenden der Rabbinerversammlung auf die Rede des Weisen von Radun reagieren: „Di skeynim [alte Männer] vos shteyen arum dem Khofets-Khaym in a halb krayz, kukn oyf im mit groys libshaft, vi er volt geven nit der eltster talmed-khokhem [Toragelehrter] fun dor [Generation], nor a eynikl [Enkel], a bar-mitsve bokherl [Junge], vos zogt a droshe [Predigt]. Der unoyfgeflokhtener [zusammengedrängt] oylem [Menschenmenge] untn arum der bime [Bimah, Leseplattform] horkht im mit oyfgeshtelte oyern, un di rabonim tifer in zal, vos hern nit zayn kol [Stimme], horkhn im mit di oygn, hitn zayne bavegungen, shteyen oyf di shpits-finger [Zehenspitzen].“ 32
Ebenfalls ein Vorbild religiöser Gelehrsamkeit war für viele fromme Bewohner des jüdischen Viertels Rabbi Elija, der vilner Goen. Seine Präsenz im alltäglichen Handeln der Menschen fällt vor allem in Grades Texten auf. Darin wird häufig Bezug auf seine Person genommen, sei es, um direkt aus seinem Leben zu erzählen, 33 seine Worte zu zitieren 34 oder auf bestimmte Bräuche zu verweisen, die der Weise befürwortet oder kritisiert hat. 35 Auch dient der vilner Goen als Vorbild für rabbinische Gelehrsamkeit und seine Lernbeflissenheit, die ihm schon als Kind zu eigen war, wird auch von manchem kleinen Knaben des jüdischen Viertels angestrebt. 36 Darüber hinaus äußert sich die Bewunderung für den vilner Goen auch im privaten Raum der Menschen: In vielen beengten Stuben des jüdischen Viertels hängt in einem einfachen Rahmen das Bild Rabbi Elijas, 37 durch das nach außen signalisiert wird, welche Geisteshaltung in einem bestimmten Haushalt anzutreffen ist und bei wem sich die Bewohner Kraft für den Alltag zu finden erhoffen. Dass selbst nach dem Tod des Weisen Generationen von Juden eine Beziehung zu Rabbi Elija aufbauen konnten, weist darauf hin, welchen Stellenwert Frömmigkeit und Gelehrsamkeit im jüdischen Viertel auch in der Zwischenkriegszeit noch hatten. Aufgrund der hohen Stellung, die einem Toragelehrten von der traditionellen jüdischen Gesellschaft zugewiesen wurde, erstaunt es nicht, dass viele Eltern sich wünschten, einen solchen in ihrer Familie zu haben. Voraussetzung 32 33 34 35 36 37
Ebd., S. 191. Grade: Der mames shabosim, S. 240. Ders.: Tsemakh Atlas (di yeshive). Bd. 1, S. 161. Ders.: Di kloyz un di gas (2), S. 85. Ders.: Di kloyz un di gas (1), S. 26 f. Ders.: Der shulhoyf (1), S. 66.
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dafür war, dass die Söhne von klein an fleißig lernten und später eine Jeschiwa besuchten.38 Aus den Texten wird deutlich, dass die Eltern bereit waren, für die Ausbildung ihrer Söhne ein Opfer zu bringen. Vella Grade beispielsweise müht sich als Straßenhändlerin tagtäglich ab, um Chaim den Besuch der Jeschiwa zu ermöglichen, denn „der zun zol leygn tfiln [Gebetsriemen] un bleybn baym lernen.“ 39 Solange Chaim eine Jeschiwa besucht und ein Toragelehrter aus ihm wird, ist seine Mutter glücklich. 40 Auch Rabbi David Zelver, dessen Sohn Yosefl nicht lernen will, ist bereit, für die religiöse Ausbildung seines Sohnes alles zu geben: „Ikh shpor dokh op dem bisn fun moyl un tsol far im skhar-limed [Unterrichtsgeld]. Un ikh volt oykh mayne tfiln [Gebetsriemen] farkoyfn tsu batsoln zayn melamed [Lehrer]: mayne tfiln volt ikh farkoyfn un gedavn [beten] in geliene, abi mayn yingl zol lernen.“ 41
Auffallend ist, dass in Grades Texten jeweils nur ärmere Familien den Wunsch hegen, in ihren Reihen einen Toragelehrten zu haben. Dies zeigt einerseits, dass die religiösen Traditionen vor allem bei den einfachen Bewohnern des jüdischen Viertels verankert waren. Andererseits ist aber auch anzunehmen, dass gerade mittellose Familien sich durch das Aneignen religiösen Wissens für ihre Söhne – und dadurch indirekt auch für sich selbst – einen sonst nicht zu realisierenden sozialen Aufstieg erhofften.
Religiöse Gelehrsamkeit der einfachen Juden Aus der Mehrheit der Juden konnte aufgrund von Armut und mangelnden Kenntnissen keine großen Toragelehrten werden. Dies bedeutete aber nicht, dass im Leben dieser Menschen religiöses Lernen und Wissen keinen Platz hatte. Dieser Umstand war in Vilne bei vielen einfachen Juden zu beobachten: „A delivery man reciting Tehillim between loads was a common sight, as was that of a wagon-driver hitching his horse to a pole and dashing into shul for a few minutes before continuing his way.“ 42 Über die unter den Vilner Juden herrschende Religiosität schreibt der in Warschau geborene Dichter, Theologe und 38 39 40 41 42
Ders.: Tsemakh Atlas (di yeshive). Bd. 1, S. 161. Ebd., S. 132. Ebd., S. 134. Grade: Di agune, S. 39. Finkelman, Reb Chaim Ozer, S. 31.
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Philosoph Abraham Joshua Heschel (1907–1972), der mit 18 Jahren nach Vilne zog, um am jüdischen Realgymnasium zu studieren: „Here the study of the Torah is pursued day and night. There are Jews here to whom study is as natural as breathing.“ 43 Zu einer ähnlichen Charakterisierung kommt auch der in Vilne geborene Hirsch Abramowicz in seinen Erinnerungen. Für ihn war seine Heimatstadt „a place of Torah, of Jewish knowledge, not only among rabbis and scholars but also among ordinary Jews – workers, petty merchants, artisans. Hungry after a day of hard work, they refreshed their spirits by going to their various houses of study and prayer, where together they pored over a chapter of the Mishna, a portion of the Shulhan Arukh, or of the En Ya’akov.“ 44
Welche Bedeutung die jüdischen Gesetze im Leben vieler einfacher Juden hatten, wird bei der näheren Betrachtung des Alltags dieser Menschen sichtbar. So berichtet Buloff in seinem Roman von einem Schneider, der seinen Tag damit beginnt, in den vergilbten Seiten der Tora zu lesen und der sich beim Verschwinden der letzten Sterne am Abend mit seinem Gebetsmantel auf den Weg ins Gebetshaus macht. Seine Tätigkeit als Schneider verrichtet der Jude als notwendige Nebensächlichkeit.45 Eine ähnliche Haltung findet sich auch bei den einfachen Juden in Grades Texten. Für Reb Iser beispielsweise erscheint ein Leben ohne tägliches Beten und Studieren unvorstellbar: „R’Iser vert frimer fun tog tsu tog. Shimenesre [18 Segenssprüche, die in den drei täglichen Gebeten gesagt werden] shteyt er nokh lenger vi der rov [Rabbi] fun di getn [Scheidungen]. Nokh shakhres [Morgengebet] blaybt er oyf a peyrek [Kapitel] mishnayes [sechs Bände der Mischna] un nokh mayrev [Abendgebet] zetst er zikh tsum tish, vu men lernt eyn-yakov [Sammlung der Hagada aus dem Talmud]. In di vinterdike lange freytik-tsu-nakhtn khazert [wiederholen] er dem trop [musikalische Betonung] fun der vokh-sedre [wöchentlicher Abschnitt des Pentateuchs]. Er vil vern a shabesdiker bal-krie [Toraleser in der Synagoge] un nit, vi biz itst, bloys an indervokhiker, vos leyent montik un donershtik di ershte parshe [Teil des Pentateuch].“ 46
Wie sehr der Alltag gläubiger Juden durch die religiösen Gesetze bestimmt und strukturiert wurde, zeigt das Beispiel des Lebensmittelhändlers Israel aus der rudnitsker gas, der für das tägliche Gebet seine Arbeit unterbricht und die Krä-
43 44 45 46
Jerusalem of Lithuania, Bd. 1, S. XIX. Abramowicz: Profiles of a Lost World, S. 265. Buloff: From the Marketplace, S. 99. Grade: Der shulhoyf (3), S. 377 f.
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mer aus der Nachbarschaft zusammenruft, um in die Synagoge zu gehen. 47 Genauso wie der Lebensmittelhändler Israel schließt auf der zavalne gas Rabbi Seligman, der den ganzen Tag über einem religiösen Text brütet und seine Kunden unbeobachtet in seinem Laden herumstöbern lässt, zur besten Geschäftszeit seinen Laden, um ins Gotteshaus zu gehen. 48 Der Grund, weshalb sich so viele traditionelle Juden mit den religiösen Gesetzen beschäftigten, war, dass ohne diese kein vorschriftsmäßiges religiöses Leben geführt werden konnte. 49 Dies erklärt im folgenden Abschnitt ein alter Jude: „Di toyre [Tora] iz undz gegebn, mir zol visn vi tsu leben, darfn [müssen] mir shtendik bagern [fordern], az di mitsves [Gebote] fun der toyre zoln undz shteyn far di oygn bult [deutlich] un klor. Lav-davka [nicht nur] di dinim [Gesetze] fun shulkhnorekh [Sammlung von Gesetzen und Geboten, die das Leben orthodoxer Juden bestimmen], oykh di mayses [Geschichten] fun khumesh [Pentateuch], di reyd fun di neviim [Propheten], di mesholim [Beispiele] fun medresh [Midrasch], di soydes [Geheimnisse] fun der kabole [Kabala] – alts iz undz gegebn mit der eyntsiker kivn [Absicht], mir zoln visn vi zikh tsu firn fun inderfri biz baynakht, tog-oys, a gants leben.“ 50
Speziell die religiöse Gelehrsamkeit junger Männer fördern wollte die Bruderschaft tiferes bokherim („Zierde junger Männer“), die auf dem shulhoyf ihre Klause hatte. Diese Vereinigung wurde um 1902 in Vilne von Rabbiner Yechiel Sroelov gegründet mit dem Ziel, „di radikale antireligieze shtremungen oyf der yidisher gas“ 51 zu vertreiben und die jüdische Religion, Ethik und Moral mittels Torastudium zu stärken. Anfänglich versammelte sich die Bruderschaft in der shnaydershe kloyz, später in Dveyre-Esters kloyz in Rameyles hoyf und seit ihrer Legalisierung im Jahr 1907 in einer eigenen Klause auf dem shulhoyf. 52 Insbesondere bei den Handwerkern und Angestellten sollte „Jüdischkeit“ verbreitet werden. Die Bruderschaft veranstaltete deshalb Abendkurse zu verschiedenen religiösen Themen; man betete und beging den Sabbat und die Feiertage zusammen. 1925 umfasste die Mitgliederzahl von tiferes bokherim ungefähr 300 Personen. 53 47 48 49 50 51 52 53
Ebd., S. 349. Grade: Di kloyz un di gas (3), S. 170. Suganas: Ville et „shtetl“ au quotidien, S. 71. Grade: Di kloyz un di gas (3), S. 172. Sharafan: Di religyeze Vilne, Spalte 324. Yidishe Vilne in vort un bild, S. 62. Ebd., S. 62.
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Die Bruderschaft von tiferes bokherim wird sowohl in den Texten von Grade als auch Karpinovitsh erwähnt. Bezüglich des genauen Standorts ihrer Klause auf dem shulhoyf schreibt Karpinovitsh: „Di khevre ‚tiferes-bokherim‘, vu ale ovnt hobn zikh dort oyfgezamlt yunge-layt, hot zikh gefunen a gorn [Stockwerk] hekher fun der maliarske kloyz.“ 54 Wer diese jungen Leute genauer waren, darüber gibt wiederum Grade genauer Auskunft: „In tiferes-bokherim [‚Zierde junger Männer‘] lernen un davnen [beten] yungelayt, vos zaynen nit tsu-farfrumt un viln zikh oykh nit oyston [entledigen] fun yidishkeyt. Di khevre [Bruderschaft] bashteyt fun shtile eydele [kultiviert] bokherimlekh fun balebatishe [bürgerlich] heymen, vos hobn nit s’gehay [Frechheit] tsu geyn on a hitl, um shabes shpiln in futbol oder forn oyf a lodke [Boot] iber der vilye. In tiferes-bokherim kumen oykh oysgehorevete [hart arbeitend] arbeter-yinglekh (…). Kleyt-meshorsim [Ladenangestellte], vos gehern tsum fareyn fun di handls-ongeshtelte, ober zaynen nit farkokht [engagiert] in diskusyes, in leyenen [lesen] romanen un firn shtraykn (…). Tsaytnvayz bavayzn [zeigen] zikh oykh a por studentn, rabonishe kinder, vos hobn zikh aroysgerisn fun yeshive un avek in univerzitet. (…) ven di rabonishe kinder zaynen shoyn studentn oyfn fertn-finftn semester, git zey mitamol a tsi in besmedresh [Gebets- und Lehrhaus].“ 55
Die Bruderschaft tiferes bokherim hatte in Yechiel Sroelov ihren eigenen Rabbiner. Dieser besuchte oft die Hochzeiten der Armen und war deshalb bei den einfachen Juden sehr beliebt, da andere Rabbiner sich angeblich nicht immer gerne unter die gewöhnlichen Leute mischten. 56 Bis zu seiner Abreise nach Erez Israel im Jahr 1934 war Rabbi Sroelov der Kopf der Organisation. Seine Zionsliebe verbreitete er auch unter seinen Anhängern und rief diese sogar einmal dazu auf, nach Sabbat im Kino den Film „Die Zerstörung von Jerusalem“ anzuschauen.57 Aufgrund der prozionistischen Haltung Sroelovs war tiferes bokherim nicht nur eine religiöse Vereinigung, sondern auch eine politische Stimme, die sich ideologisch der Partei von Mizrachi zuordnen ließ. Die rechte Hand des Rabbis und mit tiferes bokherim unmittelbar verbunden war der Dichter Shmerele Sharafan: „Shmerele iz dortn geven di neshome [Seele]. Er flegt aynzamlen di gezeln [Lehrlinge] fun di vorshtatn [Werkstätten] arum shulhoyf un zey derkvikn mit yidishkeyt.“ 58 Sharafan erzählte Geschichten aus der Bibel, führte einen Chor und schrieb Gedichte, die nicht nur unter 54 55 56 57 58
Karpinovitsh: 2/1, S. 12. Grade: Der shulhoyf (1), S. 126. Ebd., S. 225. Sharafan: Di religyeze Vilne, Spalte 324; Grade: Der shulhoyf (1), 128–129. Karpinovitsh: 2/1, S. 12.
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den Mitgliedern von tiferes bokherim, sondern in ganz Vilne bekannt waren. Angeblich hatte er über jeden Feiertag ein Gedicht verfasst – zu Chanukka, Pessach und Jom Kippur, aber auch über den shulhoyf. 59 Seine Gedichte besingen das religiöse Vilne – die Frömmigkeit seiner Bewohner, die jahrhundertealten Klausen und Synagogen, die alten Friedhöfe mit ihren berühmten Toten. In seinen Gedichten beschreibt Sharafan die Lebenswelt eines traditionellen Judentums, wie es sie in der Zwischenkriegszeit in dieser absoluten Form schon lange nicht mehr gegeben hatte. Aus Grades Texten ist darüber hinaus zu vernehmen, dass es zu Sharafans Aufgaben gehörte, aktiv neue Mitglieder anzuwerben. Jungen Männern erklärte er, dass ein bisschen yidishkeyt nichts schade: junge Frauen wüssten, dass Tora und Wissen miteinander einhergehen und die Mitglieder von tiferes bokherim deshalb die besten Mädchen heiraten würden. Den jüngeren Knaben wiederum bot Sharafan Kuchen an und erzählte ihnen, dass es in dieser Bruderschaft am Sabbat immer Süßigkeiten und gemeinsamen Gesang gäbe. 60 In diesem Bild nimmt die Person Sharafans die Gestalt des Verführers an, der es geschickt versteht, mit Verlockungen neue Mitglieder zu gewinnen. Damit scheint der Autor indirekt die Arbeit der religiösen Bruderschaft in Frage zu stellen und anzudeuten, dass mit Tora allein in der Zwischenkriegszeit die Jugend kaum mehr für sich gewonnen werden konnte. Traditionelle Gelehrsamkeit manifestierte sich im Alltag der einfachen Menschen des jüdischen Viertels auf verschiedene Weise. Institutionell war sie im öffentlichen Raum in der religiösen Elementarschule, der Jeschiwa und der Synagoge verankert. Hier erwarben die Knaben religiöse Grundkenntnisse, vertieften und spezialisierten junge Männer ihr Wissen und beschäftigten sich einfache Juden mit den grundlegenden religiösen Texten. Religiöse Praktiken, die durch die hier genannten Institutionen ermöglicht wurden, strukturierten den Alltag vieler Juden. Dazu gehörten das Morgen-, das Nachmittags- und das Abendgebet, aber auch die Zeit, die man sich darüber hinaus für seine eigenen religiösen Studien nahm. Inwiefern das religiöse Wissen von den Menschen wertgeschätzt wurde, zeigte sich in ihrer Hochachtung vor lebenden sowie verstorbenen Toragelehrten. Dass die traditionelle Gelehrsamkeit in der Zwischenkriegszeit ein fast ausschließlich im jüdischen Viertel anzutreffendes Phänomen war, zeigen indirekt 59 Ebd.: 2/1, S. 13; ders.: 3/8, S. 118.; vgl. ders.: 4/3, S. 48. 60 Grade: Der shulhoyf (1), S. 131–132.
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Das tägliche Lernen: traditionelle Gelehrsamkeit im jüdischen Viertel
die Memoiren einzelner Vilner Jüdinnen. Im jüdischen Bürgertum nämlich, das in geographischer (und geistiger) Distanz zum jüdischen Viertel lebte, finden sich keine Verweise auf religiöse Bildungsinstitutionen oder alltägliches privates Lernen. Im Gegensatz dazu ist in Grades Texten die traditionelle Gelehrsamkeit allgegenwärtig. Sie erscheint nicht nur als Beiwerk, sondern wird größtenteils explizit thematisiert. Trotz oder gerade durch die Nähe des Autors zu der von ihm beschriebenen Lebenswelt ist der Autor in der Lage, auch Kritik an verschiedenen Institutionen zu äußern. Insgesamt vermitteln seine Texte den Eindruck, dass die traditionelle Gelehrsamkeit bei sehr vielen Bewohnern des jüdischen Viertels tief verankert ist. Karpinovitsh hingegen, der sich selber nicht mit der Vilner Orthodoxie identifizierte, erwähnt in seinen Erzählungen die traditionelle Gelehrsamkeit nur am Rande.
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Die jüdischen Feiertage – Höhepunkte des religiösen Lebens
Der Verlauf der Woche und des Jahres wurde bei den religiösen Juden durch den Sabbat und die verschiedenen jüdischen Feiertage gegliedert. Diese stellten für die traditionelle jüdische Gesellschaft Höhepunkte des religiösen Lebens dar. Der Ablauf sowohl des Sabbats als auch der jüdischen Feiertage wurde durch Gesetze geregelt, nach denen sich die Gläubigen richteten. Die jüdischen Feiertage waren Unterbrechungen im Alltag, an denen sich die Juden Gott und ihren Mitmenschen näherten. Eine Erklärung dafür, weshalb auch noch in der Zwischenkriegszeit die jüdischen Feiertage für viele eine große Bedeutung hatten, findet sich bei Heller: „It is most important to understand that the exultation in the observance of the Sabbath and holidays, so prominent not only among hasidim but also among the Orthodoxtraditionalists in general, was a way of transcending the misery degradation of everyday life by a people strangulated by poverty and subjected to hate and oppression.“ 1
Der Sabbat Den Höhepunkt der Woche bildete der Sabbat. An diesem Tag wurde keine Arbeit verrichtet, und viele Tätigkeiten und Vergnügungen waren verboten. „Erlaubt war es, auszuruhen, zu essen, zu trinken, zu beten und religiöse Literatur zu lesen.“ 2 Bereits am Freitagmorgen begannen die Hausfrauen mit den Vorbereitungen für den Sabbat: Sie reinigten das Haus, kochten die Sabbatmahlzeiten, legten die Festtagskleidung der ganzen Familie bereit und besuchten die Mikwa, das rituelle Bad. Ins Badehaus begaben sich auch die Ehemänner, um sich vor dem Gottesdienst rituell zu waschen. Während die Männer und Knaben den Sabbat im Gotteshaus begrüßten, segneten die Mütter daheim zu Beginn des Sabbats in der Gegenwart ihrer Töchter die Sabbatkerzen. Nach dem Gottesdienst kehrten die Väter und Söhne zurück nach Hause für 1 2
Heller: On the Edge of Destruction, S. 152. Haumann: Geschichte der Ostjuden, S. 137.
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das gemeinsame Sabbatmahl. Der Vater sprach über einem Glas Wein den Kiddusch – den Segen für den Sabbat – und segnete anschließend die Challa, um die Mahlzeit zu eröffnen. Am nächsten Vormittag besuchte dann die ganze Familie die Synagoge. Die Frauen und Männer verrichteten ihre Sabbatgebete und es wurde aus der Tora gelesen. Um das Sabbatmahl rechtzeitig aufzutischen, verließen die Frauen das Gebetshaus etwas früher. Nach der Mahlzeit ruhte man sich aus oder las religiöse Texte. Dies war auch die Zeit, zu der sich Nachbarn und Freunde gegenseitig besuchten. Den Männern standen noch ein kurzer Nachmittagsgottesdienst und ein abschließender Abendgottesdienst in der Synagoge bevor. Beendet wurde der Sabbat nach der Rückkehr der Männer aus der Synagoge mit der Hawdala – einem Ritual, bei dem eine besondere Kerze in einem Glas mit Wein ausgelöscht und ein Gebet gesprochen wurde. Der Duft süßer Gewürze, der aus der Besamim-Büchse strömte, sollte den Beginn der neuen Woche versüßen. 3 Im jüdischen Viertel von Vilne hatte der Sabbat als religiöser Feiertag auch in der Zwischenkriegszeit seinen festen Platz. Versinnbildlicht wurde dies auf dem shulhoyf, wo an den Säulen der alte kloyz drei Uhren angebracht waren, die den Gläubigen ansagten, wann die Läden am Sabbat zu schließen waren, wann die Lichter zu Beginn des Sabbats von den Frauen gesegnet werden mussten und wann am Sabbat mit dem Abendgebet zu beginnen war. 4 In den Texten von Grade und Karpinovitsh wird der Sabbat als ein Tag charakterisiert, der sich durch verschiedene Merkmale von den übrigen Wochentagen unterscheidet. Ein erstes Merkmal dieses Tages ist die Ruhe, die unter der Woche in dem von Leben erfüllten jüdischen Viertel kaum aufkommen konnte. Am Sabbat wichen die Hektik und Geschäftigkeit, die in den Straßen und Höfen gewöhnlich zugegen waren, der Stille. Diese offenbarte sich besonders eindrücklich am Freitagabend nach dem Gottesdienst auf dem menschenleeren shulhoyf: „Yenem fraytik iz grod nit geven azoy kalt. A gedikhter shney hot geshoten [fallen] oyfn shulhoyf, fardekt di shpurn fun letste davner [Betende]. A shabesdiker [sabbatlich-] tishtekh hot zikh oysgeshpreyt oyfn hoyf. Durkh di shulfentster hot farkhidusht [gesegnet] aroysgekukt der khoyshekh [Dunkelheit].“ 5
Dieselbe Stille, die sich draußen in den Straßen und Höfen des jüdischen Viertels bemerkbar machte, fand sich auch in den Häusern der Menschen. Im häus3 4 5
Zborowski, Herzog: Das Schtetl, S. 24–41. Buloff: From the Marketplace, S. 190; vgl. Grade, Der mames Shabosim, S. 130. Karpinovitsh: 1/5, S. 91.
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lichen Kontext bedeutete Ruhe vor allem Erholung von der Arbeit, die die ganze Woche über das Leben der Menschen bestimmt hatte. Müde und entkräftet sehnten deshalb viele Jüdinnen und Juden, wie im folgenden Beispiel der Frisör Ortschik und seine Frau Libke, den Sabbat herbei: „Dem letstn fraytik-tsu-nakht (…) hot zi koym gehat koyekh [Kraft] ontsutsindn di likht. Beyde, Ortshik un zi, zenen gezesn baym shabesdikn tish mid [müde] un fartshadet [erschöpft] fun a vokh havenish [Hektik].“ 6
Ein weiteres Merkmal des Sabbats waren die Sabbatkerzen, deren Anzünden am Freitagabend den Einzug des Sabbats signalisierte. Um das Sabbatlicht rechtzeitig zu entfachen, eilten die Frauen von ihrer Arbeit an diesem Tag etwas früher nach Hause. 7 Dass die Sabbatkerzen nicht nur die Stuben der einfachen Händler und Handwerker erhellten, zeigen die Texte von Karpinovitsh. Ihnen ist zu entnehmen, dass auch bei Teilen der jüdischen Unterwelt das Lichteranzünden ein fester Bestandteil des Sabbats war. Zu beobachten ist dies beispielsweise im Haus des Gauners Itzik des Gelben, wo dessen Frau Esterke „hot ongetsundn tsvey shabes-likht in hoykhe, meshene [messing-] laykhter.“ 8 Dass es sich gehört, am Sabbat Kerzen anzuzünden, weiß auch das Straßenmädchen Leyke: „Di mame hot ir nokh mit yorn tsurik gehat ongezogt, az fraytik-tsunakhtns zol zi ontsindn likht. S’iz sheyn far got un voyl far di gest. Hot zikh Leyke take azoy gefirt.“ 9 Ein letztes Merkmal, das im Zusammenhang mit dem Sabbat in Erscheinung tritt, ist das Tscholent. Dieser spezielle Sabbateintopf kündigte kulinarisch den Höhepunkt der Woche an. Der Eintopf eignete sich deshalb für den Sabbat, da er von den Frauen vorbereitet und anschließend im Ofen einer Bäckerei warmgehalten werden konnte. Einen Blick in die Sabbateintöpfe des jüdischen Viertels gewährt in einer seiner Erzählungen Karpinovitsh, der im Folgenden die kulinarischen Phantasien des Schauspielers Subak beschreibt: „Subaks dimyen [Imagination] hot arayngekukt in di fardekte tsholnt-tep. Tsvishn kupes [Berge] shmekedike beblekh [Bohnen] hot zikh gedreyt a farbrondzevete [angebraten], glantsike kishke [Darm]. Kuglen [Auflauf ], vi di brukshteyner [Pflastersteine], hobn gedrikt oyf shtiker fete brustfleysh. Kartofl hobn zikh tsugeklept [an-
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Ders.: 2/6, S. 92. Grade: Der shtumer minyan, S. 38, 39. Karpinovitsh: 1/1, S. 18. Ders.: 3/1, S. 14.
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Die jüdischen Feiertage – Höhepunkte des religiösen Lebens schmiegen] tsum rand top un bloyz gevolt m’zol zey opreysn fun dort. Afilu in dem gemeynstn, tseshtsherbetn tepl hot Subak gezen a zisn bisn. Iz nit keyn rindfleysh, ober a kelbern fisl iz faran?“ 10
Im jüdischen Viertel reihte sich am Sabbat in den Öfen der Bäcker ein Tscholent neben das andere. Beim Herausnehmen des eigenen Tscholents war deshalb höchste Vorsicht geboten – man wollte schließlich nicht aus Versehen die Sabbatmahlzeit einer anderen (womöglich ärmeren) Familie nach Hause tragen. 11 Das Tscholent war eine Speise, die am Sabbat auf den meisten Tischen der Vilner Juden stand – sowohl bei den einfachen Händlern und Handwerkern des jüdischen Viertels als auch bei der jüdischen Unterwelt, deren Mitglieder sich am Sabbat gegenseitig zum Tscholent einluden. 12 Selbst beim jüdischen Bürgertum durfte das Tscholent – auch wenn dieses bei den wohlhabenden Juden nur einen kleinen Teil einer langen Sabbatspeisenfolge darstellte – an diesem Tag nicht fehlen. 13 Die hier genannten Kennzeichen, die nach außen den Sabbat markierten – die Ruhe, die Sabbatkerzen und das Tscholent, sind vor allem in den Texten von Karpinovitsh gegenwärtig. In diesen wird der Sabbat in meist nur sehr wenigen Worten skizziert. Was der Autor in seinen Erzählungen vermitteln will, ist die Tatsache, dass es Sabbat ist. Was ihn weniger interessiert, ist, wie dieser im Detail begangen wird. Dass er anhand seiner kurzen Beschreibungen den religiösen Charakter dieses Tages hervorheben möchte, ist zu bezweifeln, da Gebete, Segenssprüche oder Gottesdienstbesuche in diesem Zusammenhang gänzlich fehlen. Einen Kontrast zu Karpinovitshs Texten bilden in Bezug auf die Darstellungsweise des Sabbats die Memoiren von Grade. In diesen stehen die Sabbattage seiner Mutter – wie bereits der Titel „Der mames shabosim“ ankündigt – im Mittelpunkt. Aus Grades Schilderungen wird beispielsweise deutlich, wie arbeitsintensiv die Sabbatvorbereitungen für fromme Jüdinnen wie seine Mutter waren und wie sehr der Sabbat als Tag der Ruhe von den Frauen zuerst „verdient“ werden musste: „Di gantse donershtike nakht hot di mame nit tsugemakht keyn oyg, gegreyt [vorbereitet] dem shabes. Fraytik iz zi geshtanen biz likht-bentshn [Kerzen segnen] in
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Ders.: 1/2, S. 38 f. Ebd.: 1/2, S. 40. Karpinovitsh: 1/6, S. 116. Ders.:1/2, S. 40.
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toyer un zikh nit tsugezetst oyf a rege [Moment], tomer [für den Fall] lozt zi durkh a koyne [Kunde].“ 14
Dass der Gang mit dem Tscholent zum Ofen des Bäckers im jüdischen Viertel geradezu ein vorsabbatliches Ritual war, zeigt sich auch anhand von Grades Memoiren. Diese enthalten ein Kapitel mit dem Titel „Vayber baym tsholnt“. Darin schildert der Autor, wie seine Mutter sowie deren Nachbarinnen jede Woche am Freitagabend beim Bäcker ihre zuvor zuhause vorbereitete Sabbatspeise abholen. 15 Was Grade in diesem Zusammenhang allerdings unterstreicht, sind nicht die verschiedenen Speisen im Ofen des Bäckers, sondern die Tatsache, dass beim Ofen die Frauen die letzten Neuigkeiten untereinander austauschen und über abwesende Personen tratschen. Der Ofen des Bäckers, wo die Sabbatspeisen gewärmt werden, wird so für die Frauen zu einem Ort der Kommunikation – ähnlich wie die Synagoge für die Männer. Besonders hervorgehoben werden von Grade die religiösen Handlungen, die von seiner Mutter am Sabbat vorgenommen werden. Am Freitagabend etwa findet sie ungeachtet ihrer Müdigkeit und Erschöpfung die Kraft, die religiösen Vorschriften einzuhalten und sich auf den Sabbat einzustimmen: „Di mame zitst baym tish mitn shabesdikn shal ibern kop un davnt [beten] mayrev [Abendgebet] fun ir korbn-minkhe sidur [Gebetsbuch].“16 Später spricht sie den Segen über das Brot und isst ein winziges Stück der Challa. 17 Einem Sabbatgast, der an diesem Abend anwesend ist, erklärt Vella entschuldigend, dass sie ihre Challa nicht selber bäckt: „Mir koyfn khale baym beker, er hot fun koltuv [viele gute Sachen]. (…) In di groyse shtet hot men nit keyn tsayt aleyn tsu bakn. In di kleyne shtetlekh, veys ikh, bakt men in di shtiber.“ 18 Aus Grades Beschreibungen wird deutlich, dass der Sabbat für seine Mutter ein Tag mit vielen Pflichten ist. Die sabbatliche Ruhe und Freude kehren bei ihr erst am zweiten Tag des Sabbats ein, wie etwa beim Morgengebet in der Synagoge, oder am Nachmittag, an dem sie etwas Zeit hat, sich mit den Nachbarn auszutauschen, Besuche zu machen oder Besucher zu empfangen. Was sie an diesem Tag besonders schätzt, sind die Stunden, in denen sie und ihre Nachbarin Blumele Zeit haben, in ihren religiösen Büchern zu lesen:
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Grade: Der mames shabosim, S. 40. Ebd., S. 138. Ebd., S. 156. Ebd., S. 157. Ebd., S. 157.
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Die jüdischen Feiertage – Höhepunkte des religiösen Lebens „Shabes-tsayt zitsn zikh beyde shkheynes [Nachbarinnen] aroyf di shveln fun zeyere hayzkes [Häuser] mit di sforim [religiöse Bücher] oyf ivri-taytsh [Jiddisch]. Beyde leyenen hoykh [laut] un mit a nigun [Melodie].“ 19
Was an Vella Grades Sabbattagen immer wieder auffällt, ist der Faktor Zeit. Die Stunden vor Sabbatbeginn sind gekennzeichnet durch Zeitdruck beziehungsweise Zeitmangel: In aller Eile müssen Vellas Obst- und Gemüsestand abgebaut und das Abendessen vorbereitet werden. Zeit, um beispielsweise die Challa selber herzustellen, hat Vella nicht. Umgekehrt wird Vella am Sabbat selbst mit Zeit beschenkt. Sie hat Zeit für andere Menschen sowie für sich selbst. Die Sabbattage von Vella Grade veranschaulichen, wie fromme Jüdinnen den Sabbat feierten. Dabei wird deutlich, dass dieser Tag besonders für Frauen mit viel Arbeit verbunden war, mussten diese doch neben ihrer täglichen Arbeit auch das Haus für den Sabbat herrichten. Der Sabbat selbst war auch für Frauen durch eine Reihe religiöser Handlungen gekennzeichnet, wie beispielsweise das Segnen der Sabbatkerzen, das Sprechen eines Gebets und der Besuch der Synagoge. In all diesen Tätigkeiten fanden die Frauen die lang ersehnte sabbatliche Ruhe.
Jom Kippur – Simchat Tora – Pessach Ähnlich wie der Sabbat eine Unterbrechung in der Woche markierte, so stellten die verschiedenen jüdischen Feiertage Schnittstellen im Jahresverlauf dar. Der jüdische Kalender kannte eine Vielzahl von Feiertagen, die die Gottesnähe der Juden stärkten sowie an historische Ereignisse erinnerten. Das jüdische Jahr begann im September mit Rosch ha-Schana, dem Neujahrsfest, an dem in der Synagoge das Schofar, das Widderhorn, erklang, das die nahende Erlösung ankündigte. Zehn Tage nach Rosch ha-Schana feierte man das bedeutendste Fest des Jahres, Jom Kippur. Am Versöhnungstag wurde das Schicksal des Einzelnen von Gott für das kommende Jahr festgelegt und jeder war bemüht, bis dahin seine Mitmenschen und Gott für etwaige Kränkungen um Vergebung zu bitten. Ein wichtiger Bestandteil von Jom Kippur war ein eintägiges Fasten sowie das Kol Nidre-Gebet, mit dem der Gottesdienst eingeleitet wurde. Wenige Tage nach Jom Kippur begann das Laubhüttenfest, Sukkot, an dem der 40jäh-
19 Ebd., S. 13.
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rigen Wanderschaft der Juden durch die Wüste gedacht wurde sowie der provisorischen Hütten, in denen sie damals gelebt hatten. Abschluss dieses zehntägigen Festes bildete Simchat Tora, das Tora-Freudenfest. Nach Chanukka, dem Lichterfest im Winter und dem im März stattfindenden Purim, an dem der Errettung der persischen Juden vor ihrer Ausrottung gedacht wurde, feierte man an Pessach während des Seder-Abends den Auszug der Juden aus Ägypten. Im Juni schließlich wurde die Übergabe der Tora am Berg Sinai mit dem Fest Schawout gefeiert. 20 Einblicke in die verschiedenen jüdischen Feiertage bieten vor allem die Texte von Grade. Sie sind Teil einer jeden Erzählung und dienen nicht nur dazu, den zeitlichen Verlauf einer Handlung zu markieren, sondern veranschaulichen die Frömmigkeit der Vilner Juden. Eine herausragende Stellung unter den jüdischen Feiertagen nimmt dabei der Versöhnungstag Jom Kippur ein. Im folgenden Beispiel beschreibt der Autor die Stimmung, die am Morgen von Jom Kippur über dem jüdischen Viertel schwebt, und weist gleichzeitig auf den Ort, wo sich die Gläubigen an diesem Tag befinden – in den Klausen: „Yonkiper oyfn frimorgn hot zikh in di leydike [leer] geslekh un hoyfn geshtelt a goldener herbst-tog. Di zun hot arayngekukt durkh kelerfentster, durkh krume shayblekh fun boydem-shtiblekh, in shmole un kalte durkhgangen fun zavulkes [Gässchen], gor zeltn vu emetsn [jemand] bagegnt – ale aynvoyner zaynen geven in di kloyzn. Shtrayfn fun likht un shotn hobn geshpilt oyf di aropgelozte lodns [Fensterladen] un shtabes [Stange] fun tsugeshlosene kleytn [Läden], vi oykh zey voltn gedavnt [beten] in shtumkeyt un glivernish [Starrheit], ayngeviklt in shtraln-gevebte taleysim [Gebetsschal].“ 21
Die Stille, die an diesem Tag über den Straßen des jüdischen Viertels liegt, wird auch von Lucy Dawidowicz in ihren Memoiren erwähnt: „Jewish shopkeepers all over Vilna began to close their stores, shuttering the windows and securing them with horizontal iron bars. Practically the whole city’s business and trade had come to a dead halt. A hush fell all over town. Suddenly the streets looked unfamiliar. Their vacancy made Vilna look like a deserted town.“ 22
Doch bevor das ganze jüdische Vilne an Jom Kippur in die Stille versinken konnte, tobte und lärmte es am Vorabend in den Höfen und auf den Straßen des jüdischen Viertels. Überall wurden Hühner in der Kaparotzeremonie
20 Haumann: Geschichte der Ostjuden, S. 140–144. 21 Grade: Di kloyz un di gas (2), S. 143. 22 Dawidowicz: From that Place, S. 113.
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durch die Luft gewirbelt. 23 Auch in Leyb-Leyzers hoyf waren die Hausfrauen damit beschäftigt, die Vorbereitungen für den Feiertag zu Ende zu führen: „Der yonkiper iz shoyn geshtanen bay der tir un Leyb-Leyzers hoyf hot oysgezen vi badekt mit federn. Biz shpet baynakht hot zikh getrogn a gelyarem [Lärm] fun farshmayete [beschäftigt] balbostes [Hausfrauen] un koyles [Gelärm] fun fule katukhn [Käfige] mit oyfes [Geflügel] tsu shlogn kapores [Kaparotzeremonie].“ 24
Auf dem shulhoyf, wo sich zu den Feiertagen die meisten Jüdinnen und Juden zusammenfanden, zeigte sich kurz vor Jom Kippur ein geschäftiges Kommen und Gehen. Grade schildert im folgenden Beispiel das dortige Geschehen, das am Vorabend des Versöhnungsfestes begann und an dem die ganze Nacht über in den Klausen und Synagogen des shulhoyf gebetet wurde: „Der shul-hoyf hot zikh breyt tseefnt oyf ale zayne toyern [Tore], vos kumen aroys oyf der daytesher gas un oyf der yidisher gas. Yidn hobn zikh geaylt in di kloyzn, durkhgetsitert fun der zlidner [irritierend] kelt un ibergeshrokene [ängstlich] farn yonkiper. In polish [Vorhalle] fun der groyser shul iz geven a yarid [Marktplatz], a tsemishenish [Durcheinander], di davner [Betende] hobn dort farmisht tog mit nakht. In ershtn shtibl fun polish, untern kaltn fintstern gevelb, hot men shoyn gedavnt mayrev [Abendgebet], beys in zsveytn shtibl mitn farkratevetn [verbarikadiert] fentster, vu es hot zikh durkhgezipt der tog-shayn, hot men nokh gedavnt minkhe [Nachmittagegebet]. (…) Mitn onkum fun der nakht hobn zikh ongetsundn di grine lamternes baym ayzernem toyer un di lompn in di kloyzn. Di prushim in Goens minyen hobn zikh oysgetshukhet [aufwachen] fun zeyer fardrimltkeyt un zikh tsebomket [laut singen] oyfn kol [Stimme]. (…) Arbeter-yungen mit kutsherave [lockig] kep, vos zaynen gegangen in strashun-bibliotek leyenen bikher, hobn zikh oyf di trep tsunoyfgestoysn mit balebatim [Herren], vos zaynen tsurikgegangen fun ezres-noshim [Frauenabteilung] bay der groyser shul. Dort zaynen gezesn di gaboim un farkoyft biletn oyf di yomim-neroim [10 Tage zwischen Neujahr und Jom Kippur] tsu hern dem khazn [Kantor] mit di meshoyrerim [Chorknaben]. An oylem [Menge] fun balmelokhes [Handwerker] un kremer hobn gekletert aroyf di trep fun keyvernisher [Beerdigungs-] kloyz, vu a maged [Prediger] hot geredt vegn tshuve [Busse]. Bay beyde zaytn trep fun der kloyz zaynen geshtanen betler un geshnoret, dermont az es geyt a yom-hadin [Tag des jüngsten Gerichts] un az mit tsdoke [Wohltätigkeit] ken men zikh oyskoyfn fun der ergster gzar [Schicksal].“ 25 23 Ders.: Tsemakh Atlas (di yeshive). Bd. 2, S. 209. Das Huhn wurde stellvertretend für den mit den Sünden der Gemeinschaft beladenen und in die Wüste getriebenen Bock von Frauen, Männern und Kindern mehrmals um den Kopf geschwungen. Anschließend wurde das Geflügel zum rituellen Schlachter gebracht, bevor die Hausfrauen daraus ein Festmahl zubereiteten. Zborowski, Herzog: Das Schtetl, S. 313. 24 Grade: Di kloyz un di gas (2), S. 142. 25 Ders.: Der shulhoyf (1), S. 202 f.
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In dieser Schilderung Grades erscheint der shulhoyf als Mittelpunkt des religiösen Lebens der Vilner Juden. Wohlhabende Balebatim, einfache Handwerker und Krämer, Pruschim und Bettler finden hier zusammen, um sich auf den großen Feiertag vorzubereiten. Durch die Anwesenheit dieser doch unterschiedlichen Menschen wird der shulhoyf zum Spiegelbild der jüdischen Gesellschaft. Selbst die jüdische Arbeiterjugend ist – wenn auch nicht auf dem Weg in die Synagoge, sondern zur Straschunbibliothek – auf dem shulhoyf zugegen. Damit scheint Grade auszudrücken, dass trotz ihrer unterschiedlichen Lebensentwürfe und sozialen Stellung die Vilner Juden eine Einheit bilden. Dass sich diese Einheit gerade auf dem shulhoyf manifestiert, scheint dafür zu sprechen, dass Grade den religiösen Traditionen – ungeachtet seiner eigenen Distanzierung von denselben – eine positive (einende) Kraft zuschreibt. Am eigentlichen Feiertag zeigen sich die Gebetshäuser im jüdischen Viertel voller Menschen. In der Klause von Leyb-Leyzers hoyf beispielsweise sehen die Frauen von den Emporen lediglich auf ein Gewirr von Gebetsschals, Hüten und Jarmulken. 26 Besonders viele Gläubige sind an Jom Kippur auf dem shulhoyf anzutreffen, wie Buloffs Roman zu entnehmen ist: „People jostled each other on the hunched stairs and pushed through the crooked doorways of the stacked synagogues and houses of prayer. The words, the sermons and chants, flowed like unruly streams through the doors and windows, then mingled in the courtyard into a raging torrent that carried to the Great Synagogue below, which was already flooded to the brim with waves of white prayer shawls and veiled in a mist that rose from the overheated mouths and bodies.“ 27
Während des Gebets in der Synagoge, das vom Kantor vorgetragen wurde, äußerten die Gläubigen ihren Kummer und ihre Sorgen in lauten Klagen und ließen ihren Tränen freien Lauf. 28 Einige Gläubige wurden zur Tora gerufen, um daraus vorzulesen, und andere hatten die Ehre, den Toraschrein zu öffnen oder zu schließen. 29 Am Abend, nach Beendigung des Gottesdienstes, verließen die Frauen und Männer die Synagoge. Grade bemerkt diesbezüglich, dass die Söhne auf ihre vom Fasten geschwächten Mütter gewartet hätten, um diese sicher nach Hause zu führen.30 Ähnlich wie der Versöhnungstag, der sich in den Texten von Grade haupt26 27 28 29 30
Ders.: Di kloyz un di gas (2), S. 144, 146. Buloff: From the Marketplace, S. 191. Karpinovitsh: 1/4, S. 70. Grade: Der shtumer minyan, S. 137. Ders.: Der mames shabosim, S. 38.
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Die jüdischen Feiertage – Höhepunkte des religiösen Lebens
sächlich in seiner Erscheinungsform auf dem shulhoyf und in den Gebetshäusern präsentiert, findet auch der Feiertag Simchat Tora, der den Abschluss des neuntägigen Laubhüttenfestes bildet, primär im öffentlichen Raum statt. Genauso wie an Jom Kippur ist der shulhoyf an diesem Feiertag zum Bersten voll: „Oyfn shul-hoyf iz shoyn nit geven, vi men zogt, vu arayntsuvarfn a shpilkekepl [Stecknadel].“ 31 Die Gläubigen – junge und alte, wohlhabende und arme – strömen aus den Klausen und Synagogen hinaus auf den shulhoyf, „kedey zikh freyen ineynem mit andere yidn.“ 32 Doch der shulhoyf ist nicht das eigentliche Ziel der Gläubigen; diese suchen vielmehr den Weg zu einer ganz bestimmten Synagoge: „In yedn vinkl fun shul-hoyf gefint zikh a kleyzl un fun umetung [überall] shtromt men zikh in beys-hakhnoses hagadol [Große Synagoge].“ 33 Die groyse shul, in der mehrere Tausend Gläubige Platz fanden, wurde von vielen Vilner Juden als „ihr“ Gotteshaus betrachtet. Während die kleinen Gebetshäuser und Klausen häufig nur von einem bestimmten Personenkreis besucht wurden, konnte in die groyse shul auch derjenige kommen, der sonst in einem anderen Gotteshaus zuhause war. Diesbezüglich erklärt der Maler Kalman: „[M]en darf nit zayn keyn shtendiker mispalel [Gottesdienstbesucher] in der groyser shtot-shul zikh dort tsu filn heymish [wohl].“ 34 Anders als die Feiertage Jom Kippur und Simchat Tora erscheint in den Texten von Grade Pessach als ein Tag, der hauptsächlich im privaten, nicht öffentlichreligiösen Raum stattfindet. Ein Grund dafür war, dass dieser Feiertag mit intensiven Vorbereitungen im eigenen Heim verbunden war. So beschreibt Grade, wie in den Höfen des jüdischen Viertels die Frauen damit beschäftigt sind, die Möbel, das Geschirr und das Bettzeug gründlich zu reinigen und ihre Wohnungen für den Feiertag herzurichten. 35 Von ähnlichen Anstrengungen, die Häuser und Wohnungen für Pessach sauber zu machen, berichtet auch Lucy Dawidowicz: „Vilna began to clean house: to wash, launder, dust, brush, sweep, scrub, scour, and otherwise remove – along with the chometz, the leavened food – the dust, dirt, grime, soot, mud and slime accumulated during the year.“ 36
31 32 33 34 35 36
Ders.: Di agune, S. 74. Ebd., S. 75. Ebd., S. 75. Ebd., S. 74. Grade: Tsemakh Atlas (di yeshive). Bd. 1, S. 308. Dawidowicz: From that Place, S. 115.
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Vom Gesäuerten oder chometz durfte während des achttägigen Pessachfests kein Krümel in der Wohnung sein, weshalb in den Tagen davor intensiv danach gesucht werden musste. 37 Das Suchen nach Gesäuertem war eine Mizwa und um diese auch wirklich zu erfüllen, verteilten einige Juden absichtlich ein paar Brotkrumen auf dem Fenstersims, die sie dann mit einer Feder sorgsam wieder einsammelten und verbrannten.38 Anstelle des gesäuerten Brotes aßen die Menschen während der Pessachtage Mazzen, die von Mitgliedern des Mazze-Komitees an sie verteilt wurden. 39 Für das Pessachfest selbst waren besondere Mahlzeiten und rituelle Speisen vorgesehen, deren Besorgung für so manche Juden – wie etwa für die auf Pump lebenden Schauspieler des jiddischen Theaters – eine finanzielle Belastung darstellte. 40 Die Speisen wurden wenn möglich in einem besonderen Pessachgeschirr angerichtet, das nur an diesem Feiertag benutzt wurde. Welch große Bedeutung Pessach zugewiesen wurde, zeigt sich darin, dass selbst arme Familien aus dem jüdischen Viertel, wie beispielsweise die des Tabakhändlers Vova Barbitoler aus der rudnitsker gas, im Besitz eines Pessachgeschirrs waren. 41 Wie umfangreich ein Pessachservice dabei sein konnte, veranschaulicht Grade am Beispiel des Pessachgeschirrs seiner Mutter, das diese wie einen Schatz in einer Kiste auf dem Ofen aufbewahrt: „Fun a bekherl, kleyn vi a fingerhut, biz a groysn kos [Becher] far Elyohu-hanovi [Prophet Elija]. An oysgetsirte kaare [Schüssel] far matses un beykhike karafinkes [Karaffe] mit shmole gedreyte heldzer far vayn. Spodikes [Unterteller] mit royt-bloye geshtreyfte kantn un geshlifene tey-glezer, vos blishtshen vi krishtol. Berg mit flakhe un tife teler, far zaltsvaser mit eyer, far rosl [Brühe] un yoykh [Suppe]. Shislen far kneydlekh, polumesikes [Platte] far fish un tasn far kompot. Gobl-meser mit shvere hentlekh, kokh-lefl un shoym-lefl. Shoyn opgeredt fun tep, bekns un veykshaftn [Schüssel zum Einlegen, speziell für rituelles Fleisch], a kuperne shtoysl [Mörserkeule], a zip un a hiltserne stupe [Mörser].“ 42 37 38 39 40
Grade: Tsemakh Atlas (di yeshive). Bd. 2, S. 391. Ders.: Tsemakh Atlas (di yeshive). Bd. 1, S. 308. Ders.: Tsemakh Atlas (di yeshive). Bd. 2, S. 391. Karpinovitsh: 4/2, S. 25. Zu den symbolischen Speisen gehört beispielsweise der Meerrettich, der die Bitternis des jüdischen Schicksals in Ägypten symbolisiert, ein hartgekochtes Ei, das in Salzwasser getunkt wird und auf die Trauer und Tränen des jüdischen Volkes verweist, oder ein Gemisch aus Äpfeln, Nüssen und Wein, das die Backsteine, die die Juden zum Bau der Pyramiden herstellen mussten, symbolisiert. Zborowski, Herzog: Das Schtetl, S. 309. 41 Grade: Tsemakh Atlas (di yeshive). Bd. 1, S. 173. 42 Ders.: Der mames shabosim, S. 160.
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Die jüdischen Feiertage – Höhepunkte des religiösen Lebens
Grades Texten ist zu entnehmen, dass der Seder-Abend, an dem das Pessachgeschirr und die rituellen Speisen aufgetragen wurden, im Kreis der Familie gefeiert wurde. Interessant ist diesbezüglich, dass auch Karpinovitsh in einer seiner Erzählungen indirekt auf den Seder-Abend zu sprechen kommt, indem er bemerkt, dass die sonst so gut von der jüdischen Unterwelt frequentierten Billardhallen der Altstadt zu Pessach wie immer leer seien. 43 Inwiefern die jüdischen Feiertage für die Vilner Juden insgesamt eine Bedeutung hatten, wird aus Grades und Karpinovitshs Texten nicht klar. Anzunehmen ist, dass diese Tage von allen Juden als „besonders“ empfunden wurden – und sei es nur aus dem Grund, dass an diesen nicht gearbeitet wurde. Für die Mehrheit der Bewohner des jüdischen Viertels hatten sie einen religiösen Charakter. Diejenigen Juden Vilnes, die nicht als gläubig bezeichnet werden konnten, besuchten keine Gottesdienste und verbrachten Feiertage wie Jom Kippur im Kreise der Familie oder mit Freunden. Dies wird anhand der Memoiren einzelner Vilner Jüdinnen deutlich. So berichtet Lucy Dawidowicz, dass sie an Jom Kippur mit Freunden einen Spaziergang entlang der vilye gemacht hat: „This had apparently become a counter-tradition of the secularists – to enjoy the High Holy Days with a stroll along the banks of Vilna’s rivers, far from the Jewish quarter.“ 44 Und auch in Henia Brazgs Memoiren findet sich kein Hinweis, dass an Jom Kippur ein Gottesdienst besucht wurde. Dennoch war es ein besonderer Tag, der sich im Haus feierlich ankündigte: „The High Festivals – the Days of Awe: and all the elaborated pereparations. The hughe silver candelabra, the polished monogrammed silver cutlery, the sparkling crystal.“ 45 Die Texte von Grade und Karpinovitsh verdeutlichen, dass der Sabbat und die jüdischen Feiertage Schnittstellen des jüdischen Kalenders darstellten und für die Mehrheit der Juden Vilnes in irgendeiner Form von Bedeutung waren. Der Sabbat war ein Tag, der sich durch bestimmte Kennzeichen von den Wochentagen unterschied. Dies sind bei Karpinovitsh die Ruhe, das Anzünden der Sabbatkerzen sowie das Tscholent. Grades Memoiren enthalten weitere Kennzeichen wie das Segnen der Sabbatkerzen, das Gebet, das Lesen religiöser Texte (insbesondere bei Frauen) sowie der Besuch des Gottesdienstes. Sowohl einzeln als auch in ihrer Gesamtheit definieren diese Kennzeichen einen Tag als Sabbat. 43 Karpinovitsh: 1/8, S. 141 f. 44 Dawidowicz: From that Place, S. 116. 45 Brazg: Passport to Life, S. 17.
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Jom Kippur – Simchat Tora – Pessach
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Während Karpinovitshs „Sabbatdarstellungen“ äußerst skizzenhaft sind, ist es aufgrund nur einzelner Merkmale schwer zu sagen, wie traditionell ein bestimmter Sabbat zu verstehen ist. Aufgrund seiner auch sonst eher oberflächlichen Thematisierung religiöser Bereiche erscheint sein Bild des Sabbats weniger durch Religiosität als durch Geselligkeit geprägt. Im Gegensatz dazu entspricht Grades Bild des Sabbats, das sich in der Person seiner Mutter offenbart, ganz dem traditionellen Verständnis. Die Thematisierung der jüdischen Feiertage wiederum findet sich fast ausschließlich in den Texten von Grade. Eindrücklich schildert der Autor die Traditionsverbundenheit der Vilner Juden anhand von Feiertagen wie Jom Kippur, Simchat Tora und Pessach. Neben Einblicken in den privaten Raum zeigt sich, dass vor allem der shulhoyf als öffentlicher Raum an bestimmten Feiertagen von zentraler Bedeutung war und als eine Art jüdischer Mikrokosmos die verschiedensten gesellschaftlichen Schichten in sich zu vereinen vermochte.
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Die Missachtung religiöser Werte und Normen
Die rabbinischen Eliten, die innerhalb der traditionellen ostjüdischen Gesellschaft bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts die alleinige Autorität über Normen, Disziplin und die religiöse Kultur in den jüdischen Gemeinden besaßen, sahen ihre Macht durch die Anhänger der jüdischen Aufklärung (Haskala) gefährdet. 1 Selbst in Vilne, der Hochburg des Rabbinismus, zeichnete sich drohend ein Wandel ab: Die Stadt hatte sich im Zuge der ostjüdischen Aufklärungsbewegung im Verlauf des 19. Jahrhunderts langsam zu einem Zentrum der Haskala entwickelt. Zu den ersten „modernen“ Juden Vilnes (Maskilim) zählten gesellschaftlich angesehene Ärzte und Kaufleute, die sich vom traditionellen Judentum abkehrten und damit begannen, sich säkulare Lebensformen zu eigen zu machen und die traditionellen „Vorschriften und Bräuche zu transformieren und zu profanisieren“. 2 In die Fußstapfen der Ärzte und Kaufleute traten in der Folge die Lehrer und Schüler des Rabbinerseminars von Vilne, aber auch Wissenschaftler und Publizisten. 3 Die insgesamt kleine Zahl osteuropäischer Maskilim sah sich einer überwältigenden Mehrheit traditionell lebender Juden gegenüber, die sich mit aller Kraft jeglicher Veränderung ihrer Lebenswelt entgegenstellten. Die Reformie1
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Shmuel Feiner: On the Threshold of the „New World“ – Haskalah and Secularization in the Eighteenth Century. In: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts, 6 (2007) S. 33–45, hier S. 37, 40. Dohrn: Festungen der Frömmigkeit, S. 100. Ebd., S. 100 f. Die erste hebräische Zeitschrift pir’he tsafon (Blumen des Nordens) wurden 1841 in Vilne publiziert. In ihr und ähnlichen Zeitschriften wurden Themen diskutiert, die die jüdischen Gemeinden zu jener Zeit beschäftigten – religiöse Reformen, nationale Wiedergeburt, höhere Produktivität der Juden oder die Hinwendung zu Palästina. Als „Vater der litauischen Haskala“ galt Mordechai Aron Ginzburg (1796–1846), der elf Jahre bis zu seinem Tod in Vilne verbrachte. Tonangebend in Vilne war auch der Publizist und Schriftsteller Abraham Mapu (1808–1867), dessen hebräische Prosawerke von den Juden Vilnes begeistert gelesen wurden. Dasselbe gilt für die Gedichte Abraham Dov Ha-Kohen Lebensohns (1794–1878), der nach dem Tod Ginzburgs die Führung der Vilner Maskilim übernahm. Zur deren Gruppe zählte auch der Dichter Jehuda Leib Gordon (1830–1892), der viele polemische Artikel schrieb und sich gegen die religiösen Traditionalisten aussprach. Minczeles: Vilna, Wilno, Vilnius, S. 77–79.
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rung der traditionellen Gemeindestrukturen schien in Anbetracht der massiven Opposition aussichtslos. Dennoch veränderte sich mit Hilfe des staatlichen (russischen) Schulwesens und der aufgeklärten jüdischen Presse im Verlauf des 19. Jahrhunderts langsam die kollektive Mentalität der jüdischen Gesellschaft. 4 Die jüdischen Traditionalisten ihrerseits sahen in dieser Entwicklung das Machwerk des Teufels. In ihren Augen galten die häretischen Maskilim als Informanten der russischen Staatsmacht, deren Handlungen nicht nur die sozialen Werte der Gemeinschaft in Frage stellten, sondern darüber hinaus auch die religiösen Fundamente der traditionellen Gesellschaft bedrohten. 5 Die jüdische Orthodoxie reagierte auf den Angriff der Maskilim 6 gegen die jahrtausendealten etablierten Verhaltens- und Denkmuster, indem sich die bis dahin zerstrittenen Chassidim und Misnagdim im Kampf gegen den gemeinsamen Feind zusammenschlossen. 7
Leerstehende Gebetshäuser Die veränderte Einstellung vieler Menschen gegenüber der jüdischen Tradition und den religiösen Normen und Werten war zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter den Juden Vilnes deutlich zu spüren. So bemerkt Zolotkoff in seinem Roman, dass um die Jahrhundertwende sowohl die deutsche als auch die russische Kultur eine Bedrohung für die „alte“ jüdische Kultur gewesen seien. 8 Selbst im jüdischen Viertel von Vilne, wo die Zeichen der Frömmigkeit auch nach dem Ersten Weltkrieg allgegenwärtig waren, blieben die Auswirkungen der ostjüdischen Aufklärung nicht aus. Shmerele Sharafan schreibt diesbezüglich: 4 5 6
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Ebd., S. 79. Bartal: The Jews of Eastern Europe, S. 98. Aus der Perspektive der Maskilim bildeten im Gegensatz zu den sprichwörtlich kühlen, rational denkenden, skeptischen Misnagdim die Chassidim mit ihrem Glauben an Wunder und die Unfehlbarkeit des Rebben sowie ihr „wildes“ Gebaren das ideale Ziel ihrer Angriffe. Katz: Lithuanian Jewish Culture, S. 205, 208. Die Misnaghdim erkannten schließlich, dass sie die Chassidim nicht aus der jüdischen Gemeinschaft vertreiben konnten. Außerdem fehlte ihnen nach dem Tod des vilner Goen die zentrale Persönlichkeit im Kampf gegen die Chassidim. Geschichte des jüdischen Volkes, S. 1033. Zolotkoff: From Vilna to Hollywood, S. 47.
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Die Missachtung religiöser Werte und Normen „S’iz emes [Wahrheit], az Vilne iz di letste yorn, der iker [besonders] nokhn velt-krig, shtark arob in frumkeyt. Nito itster in di vilner kloyzn azoy fil prushim, vi a mol farn krig. Es klingt shoyn nit in shuln in bote-medroshim [Gebetshäuser] der kol-toyre [Klang der Tora] tog un nakht. Andere kloyzn zaynen a gantse vokh geshlosn, makhmes s’zaynen nito keyn davner [Betende]. In eynike krigt men koym a minyen oyf shabes.“ 9
Die von Sharafan beklagten leerstehenden oder schlecht besuchten Gebetshäuser werden auch von Lucy Dawidowicz konstatiert. Dabei bemerkt sie, dass viele Klausen aufgrund der schwindenden Besucherzahl langsam zerfielen und die Anwohner diese in Wohnraum umwandeln wollten, der besonders von jungen Paaren dringend benötigt wurde. 10 Auch Grade deutet in mehreren seiner Werke auf die verwaisten Gotteshäuser. Hervorzuheben ist dabei sein Roman „Der shtumer minyen“, dessen Titel auf die leere Klause in Peseles hoyf verweist, wo sich kaum ein Minjan zusammenfindet. Das Adjektiv „stumm“ wurde der Klause durch die Anwohner von Peseles hoyf zuteil, da aus ihren Mauern den ganzen Tag über kein Laut dringt. 11 Ähnlich wie in Peseles hoyf ist die Situation auch auf dem shulhoyf in der kloyz ishn. Dort bedauert eine Handvoll alter Männer, dass keine jungen Leute mehr den Weg in die Klause finden, um ein Kaddisch zu sagen oder die Jahrzeit für einen Verstorbenen zu halten. Was sich die Alten wünschen, ist der Klang von Stimmen jüdischer Kinder, die Tora lernen. Wehmütig denken die Alten deshalb an frühere Zeiten, als in der kloyz ishn fromme Juden jeden Alters zusammenfanden. Jetzt, so sagen die Alten, seien nur noch am Sabbat und an den Feiertagen genügend Personen für ein Minjan anwesend.12 Dass andere Klausen und Gebetshäuser ein noch härteres Schicksal zu tragen hatten, ist in Rameyles hoyf zu sehen. Dort, neben Dveyre-Esters kloyz, findet sich ein Gotteshaus, das seine Funktion als Lern- und Gebetshaus gänzlich verloren hat und dessen Räumlichkeiten deshalb staubig und leer sind. Die jungen Männer, die einst hier zusammenkamen und deren Stimmen beim Lernen über den ganzen Hof getragen wurden, sind nicht mehr da. 13 Andere schlecht besuchte Klausen wiederum wurden nicht sich selbst und dem Zerfall überlassen, sondern fanden einen neuen Besitzer, der sich um sie kümmerte. In Leyb-Leyzers hoyf beispielsweise wechselte eine inzwischen leer9 10 11 12 13
Sharafan: Di religyeze Vilne, Spalte 321. Dawidowicz: From that Place, S. 112. Grade: Der shtumer minyan, S. 16–17. Ders.: Di kloyz un di gas (1), S. 11, 13, 29. Ders.: Der shulhoyf (1), S. 206.
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stehende Klause zuerst in den Besitz der Schuhmacher, dann der Färber und später in denjenigen der Kürschner. Fanden sich gar keine „Nachfolger“, so wurden die Gebetshäuser für eine andere Benutzung umfunktioniert. Ein solches Schicksal ereilte die Klause der Kupferschmiede und die Klause der Fischer: aus der einen wurde eine Metzgerei, aus der anderen ein Armenhaus. 14 Das Phänomen der leerstehenden Gebetshäuser war nicht nur im jüdischen Viertel ein alltägliches Bild, sondern fand sich auch in anderen Stadtteilen. Die Zaretsher Synagoge etwa, in der einst der Begründer der Musarbewegung, Rabbi Israel Salanter (1810–1883), eine Jeschiwa führte, war in der Zwischenkriegszeit zu einem schlecht besuchten Gebetshaus verkommen: „Der besmedresh pustevet [leer sein], in kheyder-shney [zweites Zimmer] shteyen di almers sforim [Bücherschränke] farvebt mit shpinvebs.“ 15 Mit Trauer denkt deshalb der jetzige Rabbi der Synagoge, Rabbi David Zelver, an ihren einstigen Glanz: „Amol iz zaretsher kloyz ful geven mit bney-toyre [Toraschülern]. R’Yisroel Salanter hot do a yeshive gefirt un ale benk zaynen tog un nakht bazetst mit bokherim [junge Männer], mit yungelayt un eltere balebatim.“ 16
Indem Grade seinen Blick auf die zahlreichen verwaisten Gebetshäuser richtet, zeigt er, dass das Morgen-, Mittag- und Abendgebet für anscheinend immer mehr Juden in- und außerhalb des jüdischen Viertels an Bedeutung verloren hatte. Die schlecht besuchten, leerstehenden oder gar zerfallenen Gebetshäuser erscheinen so als ein Zeichen des Umbruchs, der in der Zwischenkriegszeit innerhalb der jüdischen Gemeinde von Vilne gerade stattfand. Die jüdische Orthodoxie ihrerseits stand diesem Wandel, der die Grundfeste der traditionellen jüdischen Gesellschaft erschütterte, ziemlich ratlos gegenüber: „[D]i tsaytn hobn zikh gebitn [ändern]. Men geyt shoyn iberhoypt on hitlen [Kopfbedeckung], nit nor mit gekirtste berd un kapotes [Kaftan], un men lernt frank un fray poylish, nit rusish, vayl di melukhe [Staat] iz a poylishe.“ 17
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Ebd., S. 204. Grade: Di agune, S. 38. Ebd. Ders.: Der shtumer minyan, S. 201.
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Nichteinhaltung des Sabbats Das eigentliche Problem, mit dem sich die traditionelle jüdische Gesellschaft auseinanderzusetzen hatte, war die Missachtung der religiösen Gesetze durch immer mehr Juden. In insgesamt 613 Geboten und Verboten, die dem Glauben der orthodoxen Juden nach dem jüdischen Volk am Berg Sinai von Gott übergeben wurden, war das Leben eines Frommen von der Geburt bis zum Tod geregelt. Sie betrafen das Verhältnis des Menschen zu Gott, das Verhältnis der Menschen untereinander sowie das Verhältnis des Menschen zu sich selbst. Aus ihnen wurden die Werte und Normen abgeleitet, die die sozialen Strukturen der traditionellen jüdischen Gesellschaft zusammenhielten.18 Zu den wichtigsten Geboten zählte dasjenige, den Sabbat zu heiligen. Welche Bedeutung die Einhaltung der Gebote des Sabbats für das Judentum insgesamt hatte, ist den Worten des Chofetz Chaim 19 zu entnehmen. Für ihn war der Sabbat das Herz des Judentums und ein Symbol des Glaubens. Derjenige, der den Sabbat hielt, war Gott immer noch nahe, auch wenn er distanziert von der Tora lebte. Solange die Juden einen authentischen Sabbat feierten, so lange konnte auch ein authentisches Judentum bestehen.20 Der Sabbat galt als arbeitsfreier Tag, der durch zahlreiche Vorschriften, Verbote und Gebote strukturiert wurde. Die Bewegungsfreiheit und Aktivität des Menschen sollte auf ein Minimum beschränkt werden. Wer gegen die Sabbatruhe verstieß, beging eine unverzeihliche Sünde. 21 Zu den Verboten des Sabbats gehörten „Tätigkeiten, die man nicht unbedingt für die Ernährung benötigte – wie Schreiben, Schneiden, Zerreissen, Feuermachen, selbst Kochen. Man durfte keine Lasten tragen und nicht baden. Erlaubt war es, auszuruhen, zu essen, zu trinken, zu beten und religiöse Literatur zu lesen.“ 22
In den Texten von Grade finden sich verschiedene Beispiele, die zeigen, dass nicht alle Bewohner des jüdischen Viertels die Vorschriften des Sabbats einhielten. So beobachtet Vella Grade, die vor der Eingangstür der Schmiede sitzt und in ihren religiösen Büchern liest, wie ihre Nachbarin Lise an einem Samstagnachmittag heißes Wasser auf einen Stuhl stellt. Vella Grade stellt sich die Fra18 19 20 21 22
Zborowski, Herzog: Das Schtetl, S. 80. Für Angaben zur Person siehe Kapitel Religiöse Vorbilder. Yoshor: The Chafetz Chaim, Bd. 2, S. 668. Zborowski, Herzog: Das Schtetl, S. 43. Haumann: Geschichte der Ostjuden, S. 136 f.
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ge, woher sie das kochende Wasser hat – doch da kein Rauch aus dem Kamin von Lises Haus steigt, möchte sie die Nachbarin nicht verdächtigen, am Sabbat ein Feuer entfacht zu haben. Wenig später bewahrheitet sich allerdings Vellas Grades Verdacht: „Derzet zi ober vi Lize tselozt di hor, tsvogt [kämmen] zey, vi a yung meydl, rayst zey mitn keml un shemt zikh gornit tsu shteyn farn man a halb nakete. Aza mekhalel-shabes [Entweihung des Sabbat]!“ 23 Doch damit nicht genug: Alterke, Lises Ehemann, schneidet im Hof seine Fingernägel und raucht eine Zigarre. Und als sich die beiden schließlich zum Sabbatspaziergang aufmachen, trägt Alterke einen Spazierstock und Lise einen Sonnenschirm. 24 Anhand dieses Beispiels wird sichtbar, welche Art von Tätigkeiten am Sabbat frommen Juden untersagt waren. Hierzu zählen das Wasserkochen, das Haarewaschen, das Feueranzünden, das Nägelschneiden und das Tragen von Gegenständen jeglicher Art. Weitere Verstöße gegen den Sabbat sind in den Höfen zu beobachten, wo die Frauen Wäsche waschen und aufhängen, 25 oder (wie im Falle von Chaim Grade selbst) Blumen gegossen werden. Dass nicht nur direkte Verstöße, sondern auch Unterlassungen den Sabbat verletzen, zeigt das Beispiel eines Knaben, der am Sabbat länger schlafen und nicht in die Synagoge gehen will – ein Unterfangen, das von seinen frommen Eltern mit Prügel bestraft wird. 26 In Anbetracht der vielen Verstöße gegen den Sabbat reagierten die frommen Juden auf ihre Weise. Vella Grade beispielsweise zieht sich lieber in die dunkle Schmiede zurück, als länger Zeugin des sündhaften Verhaltens von Lise und Alterke zu sein, und auch einige alte Männer lehnen die Sabbateinladungen ihrer Kinder ab, da sie nicht mitansehen wollen, wie die jüngere Generation den Sabbat entweiht. 27 Ein weiteres Indiz für die veränderte Einstellung vieler Bewohner des jüdischen Viertels dem Sabbat gegenüber war die immer größer werdende Zahl von Geschäften, die an diesem Tag geöffnet hatten. Diese Entwicklung wird von Shmerele Sharafan beklagt: „Ofene kromen um shabes farmern zikh afilu oyf daytshe gas, hart [nahe] baym shul-hoyf.“ 28 Speziell mit dem Problem offener Geschäfte kurz vor Sabbatbeginn beschäftigten sich deshalb die „Sabbat-
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Grade: Der mames shabosim, S. 30. Ebd., S. 30–31. Ders.: Di agune, S. 107. Ders.: Der mames shabosim, S. 10–12. Ebd., S. 30; ders.: Di kloyz un di gas (1), S. 14. Sharafan: Di religyeze Vilne, Spalte 321.
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Die Missachtung religiöser Werte und Normen
wächter“. Die Aufgabe dieser Vereinigung war es, „tsu zorgn un akhtung tsu gebn, az di yidishe bafelkerung zol rikhtig ophitn [einhalten] shabes.“ 29 Die Sabbatwächter waren fromme Juden, die am Freitagnachmittag durch die Straßen des jüdischen Viertels gingen, um in den Geschäften die Hausfrauen nach Hause zu schicken und die Ladenbesitzer zu ermahnen, ihr Geschäft rechtzeitig für den Sabbat zu schließen. Sie verteilten Flugblätter und riefen in der Presse die Leute dazu auf, den Sabbat zu halten. Auf ihre Initiative hin wurde ein Frisörladen auf der zavalne Nr. 38 eröffnet, der als einziger unter den jüdischen Frisörgeschäften der Stadt am Sabbat nicht geöffnet war. 30 Khaykl Lunski31 nennt die Sabbatwächter „Wächter der yidishkeyt“, eine Bezeichnung, die auf die wahre Aufgabe des Sabbatwächters hinweist, nämlich den Schutz der jüdischen Tradition. 32 In Grades Schilderung des jüdischen Viertels am Freitagnachmittag ist das Zusammenstoßen von Sabbatwächtern und geschäftigen Ladenbesitzern unvermeidlich: „Reb Nosn-Note geyt farbay a shpays-gevelb un derzet, az dos fentster iz farlodnt [verschlossen] un di tir – dray fertl tsugemakht. (…) Reb Nosn-Note shtekt arayn dem kop in der tir – un blaybt nivl-venishtoymem [verblüfft sein]. / Di krom iz ful gepakt mit koynim [Kunden] un shtil iz dort vi in an oyer [Ohr]. Mashmoes [wahrscheinlich], az di koynim veysn, az men darf zikh hitn far di shomrim-shabesnikes [Sabbatwächter]. Khatskl der khenvoni [Ladenbesitzer] iz azoy farton mit vegn, mestn un tseyln gelt, az er derzet nit dem gabes [Synagogenvorsteher] lange geflokhtene bord, vos hengt in der shmoler shparune [Spalte] fun der krom-tir.“ 33
In dieser Schilderung scheinen sich der Ladenbesitzer und seine Kundschaft durchaus im Klaren darüber zu sein, dass sie eine religiöse Norm missachten, indem sie kurz vor Sabbatbeginn noch ihren Geschäften nachgehen. Zur Rede gestellt durch Reb Nosn Nota, dem Sabbatwächter, erklärt der Ladenbesitzer, dass auch er seinen Lebensunterhalt verdienen müsse und darauf angewiesen sei, sein Geschäft bis spät in den Nachmittag hinein offenzuhalten, da die Ehemänner seiner Kundinnen ihren Lohn erst am Freitagnachmittag ausbezahlt bekämen und die Frauen deshalb auch erst spät ihre Einkäufe bei ihm tätigen könnten. Weiter argumentiert er, dass Reb Nosn Nota als Besitzer eines Eisen29 30 31 32 33
Ebd., Spalte 325. Ebd., Spalte 326. Für Angaben zur Person siehe S. 161 FN 34. Lunski: Fun vilner geto, S. 10–11. Grade: Der mames shabosim, S. 77 f.
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warengeschäfts gut reden hätte, da zu dieser Zeit kein Mensch dringend etwas aus seinem Laden benötige und er es sich leisten könne, diesen bereits am Mittag zu schließen. In seinem Zorn gibt der Lebensmittelhändler schließlich lautstark von sich, dass man sich gegen Heuschrecken auf dem Feld wehren könne, indem man ein Feuer lege, und man im Fall der Sabbatwächter einfach die Feuerwehr rufen würde, um sie von den Gehsteigen wegzuspritzen! 34 Dass ein Wandel hinsichtlich der Traditionsverbundenheit der einfachen Juden stattgefunden hatte, zeigte sich nicht nur in der Argumentationslust der Händler, sondern auch in der Tatsache, dass die Sabbatwächter nicht mehr alleine durch die Straßen des jüdischen Viertels gingen, sondern häufig nur noch in Gruppen die Geschäfte aufsuchten, um gemeinsam gegen die Sünder anzutreten. Dabei schreckten die Sabbatwächter nicht davor zurück, den in den Geschäften anwesenden Hausfrauen zu drohen: „Ersht a tsweyter shoymer-shabes [Sabbatwächter] hot arayngeshtelt dem kop und heyst yidenes geyn likht-bentshn [Kerzen segnen], vorum iber khilel-shabes [Entweihung des Sabbat] brekhn oys sreyfes [Feuer]. Di vayber vern umruik. In tir shrayt shoyn arayn a driter yid az iber khilel-shabes faln on khayes-reyes [böse Tiere] un fresn-oyf kleyne kinder.“ 35
Im Zusammentreffen der Sabbatwächter mit den Bewohnern des jüdischen Viertels veranschaulicht Grade die verminderte Bereitschaft einfacher Jüdinnen und Juden, sich religiösen Normen zu unterwerfen und die Autorität frommer Juden anzuerkennen. Als Erklärung für diese selbstbewusstere Haltung nennt Grade in diesem Zusammenhang nicht einfach einen allgemeinen Rückgang an Frömmigkeit, sondern zeigt nachvollziehbare wirtschaftliche Argumente auf, die die Normverletzung in den Augen vieler Juden legitimierten. Indem Grade die Sabbatwächter als abergläubische, streitlustige und nicht sehr verständnisvolle Zeitgenossen schildert, die jede Gelegenheit nutzen, ihre Mitmenschen im Namen der Tora zurechtzuweisen, zu belehren und deren Unwissenheit auszunutzen, übt er offen Kritik an den religiösen Machtstrukturen. Ganz deutlich wird seine eigene Einstellung zu den Sabbatwächtern, wenn er die in Gruppen von Tür zu Tür ziehenden alten Juden mit den auf den Gehsteigen herumlungernden Bettlern vergleicht, die das jüdische Viertel unsicher machen und von den Bewohnern als lästig empfunden werden. 36
34 Ders.: Di agune, S. 95–96. 35 Ebd., S. 95. 36 Ebd., S. 95–96.
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Äußere Anzeichen des Glaubenszerfalls Den Rückgang der Frömmigkeit unter den Bewohnern des jüdischen Viertels schildert Grade nicht nur im Hinblick auf den Sabbat, sondern auch anhand verschiedener äußerer Zeichen, die sich im Alltag der Juden manifestierten. Dazu gehört beispielsweise die Kopfbedeckung. Täglich sah man in den Straßen und Höfen Juden, die ohne Kopfbedeckung herumliefen, und Jüdinnen, die weder eine Perücke noch ein Kopftuch trugen. Zu diesen zählt die Bäckereibesitzerin Chane-Etl Peseles, die nicht nur unter der Woche weder einen Scheitel noch ein Kopftuch trägt, sondern auch am Sabbat. 37 Wenig Freude am Erscheinungsbild ihres Sohnes hat auch Vella Grade, der seitens eines frommen Juden vorgeworfen wird, dass ihr Chaim das Haus ohne Hut verlassen würde. 38 Ähnliche Sorgen hat auch Vella Grades Nachbarin Blumele, deren Söhne und Schwiegertöchter auf einer Fotografie mit bloßen Köpfen und ohne Perücken abgelichtet sind. 39 Ein weiteres äußeres Zeichen, das einen gesetzestreuen yidishn yidn von einem goyishn (nichtjüdisch) yidn unterschied, 40 war der Bart. Dieser galt als Zierde eines jeden gläubigen Juden. Bezeichnend ist diesbezüglich die Aussage eines frommen alten Mannes, dass ein Jude ohne Bart kein richtiger Jude sei. 41 Keine „richtigen“ Juden waren demzufolge alle Rechtsanwälte, Hausbesitzer und Winkeladvokaten, die sich „in gumene kragens, in fargelte manzshetn, mit shtark-tsekneytshte [faltig] biz bloy oysgerazirte penemer [Gesichter]“ 42 zeigten. Doch es waren nicht nur die glattrasierten Gesichter des jüdischen Bürgertums, die auf die fortschreitenden Säkularisierungstendenzen innerhalb der jüdischen Gesellschaft wiesen, sondern auch die einfacher Juden wie beispielsweise Motyes des Frisörs, dessen Gesicht auch kein Bart schmückt.43 Wie vielsagend das Fehlen eines Bartes sein konnte, zeigt sich bei Grades Rückkehr aus der Jeschiwa. Als seine Mutter die blank rasierten Wangen ihres Sohnes
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Grade: Der shtumer minyan, S. 29. Ders.: Der mames shabosim, S. 80. Ebd., S. 10. Heller: On the Edge of Destruction, S. 143. Grade: Di agune, S. 204; ders.: Der shulhoyf (1), S. 56. Ders.: Di kloyz un di gas (3), S. 162. Ders.: Di agune, S. 204.
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Äußere Anzeichen des Glaubenszerfalls
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sieht, weiß sie augenblicklich, dass aus ihm kein Toragelehrter werden wird, sondern ein freidenkender, weltlicher Jude. 44 Ein weiteres Zeichen von Frömmigkeit waren die Zizit, 45 die unter der Oberkleidung der gläubigen Juden hervorlugten, um sie daran zu erinnern, die Gebote Gottes einzuhalten. Wie rückläufig der Anblick der Zizit im jüdischen Viertel gewesen sein musste, zeigt das Verhalten des Schameschs Reb Kopl. Dieser trägt extra lange Zizit, da – so seine Erklärung – es genügend Juden gäbe, die gar keine Zizit trügen. 46 Dass vor allem die Jugend keine Zizit trägt oder überhaupt keine besitzt, stellt der fromme Tabakhändler Vova Barbitoler fest, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Knaben aus der TalmudTora-Schule mit Zizit einzudecken sowie sämtliche Knaben auf den Straßen des jüdischen Viertels danach zu fragen, ob sie ihre Zizit tragen. Diejenigen Kinder, die ohne Zizit herumlaufen, begleitet er zu deren Eltern und warnt sie mit den Worten, dass „ver es trogt nit keyn tales-kotn vakst oyf a hefker-ying [Taugenichts].“ 47 Neben den Zizit hatten auch die Gebetsriemen, die Tefillin, die von frommen Juden zumindest beim Morgengebet angelegt wurden, bei der jungen Generation keinen hohen Stellenwert mehr. Dies zeigt sich in den Gedanken eines Großvaters, der an seinen jüngsten Enkel denkt, welcher kurz vor der Bar-Mizwa steht: „Nokh der droshe [Rede], sude [Festessen] un sikhe [Feier], vet der barmitsve-yingl efsher a por mol onmestn di tfiln [Tefilin] – un geendikt! Der zeyde [Großvater] vet demolt shoyn avade [sicherlich] lign unter a bergl erd, nor keyn ru vet er nit hobn. Er vet afilu oyfn oylem-hoemes [Reich der Toten] visn az dos eynikl leygt nit keyn tfiln.“ 48
Weitere, speziell die Frauen betreffende Gebote, die nicht eingehalten wurden, werden in Grades Texten nur vereinzelt erwähnt. Dazu gehört etwa der unterlassene Besuch des rituellen Frauenbads, der Mikwa, 49 der für die Einhaltung der Familienreinheitsgesetze unabdingbar ist, sowie die Missachtung der Klei-
44 45 46 47
Ders.: Tsemakh Atlas (di yeshive). Bd. 2, S. 390. An einer Art „Hemd“ (Tallit Katan) angebrachte Schaufäden. Grade: Der shulhoyf (1), S. 56. Ders.: Tsemakh Atlas (di yeshive). Bd. 1, S. 132; vgl. ders.: Der shulhoyf (1), S. 35, 56. 48 Ders.: Di kloyz un di gas (1), S. 10. 49 Ders.: Der shulhoyf (1), S. 35.
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Die Missachtung religiöser Werte und Normen
derordnung. Letzteres wird einer jungen Witwe vorgeworfen, die ein zu kurzes Kleid trägt und deren Haar unter dem Hut zu sehen ist. 50 Dass unter den Juden immer mehr Männer keine Tefillin anlegten, keine Zizit trugen, sich rasierten und ohne Kopfbedeckung herumliefen und die Frauen die Familienreinheitsgesetze missachteten und sich freizügig in der Öffentlichkeit präsentierten, sind Zeichen, die auf einen zunehmenden Verfall der religiösen Werte und Normen innerhalb der jüdischen Gesellschaft hinweisen.
Rückgang der Frömmigkeit als Generationenkonflikt Auffallend ist, dass es in den Texten von Grade ausschließlich die älteren Juden sind, die das Fehlen dieser Zeichen bei ihren jüngeren Glaubensgenossen bemängeln. Hier richtet der Autor seinen Blick auf den entfachten Generationenkonflikt, der im Zuge des Säkularisierungsprozesses besonders innerhalb orthodoxer Familien ein bis dahin unbekanntes Ausmaß annahm: „Many Jewish families that had proved impervious to secularizing currents before independence now became engulfed by them. Young people broke the strong ties of the long-fixed traditional codes of thought and behavior. These ties, which had given their parents the psychological strength to endure with hope, were now perceived as a constraining harness that had to be broken – no matter how much pain it involved for oneself and others.“ 51
Dass in Vilne die junge Generation nicht mehr dieselben Ideale teilte wie ihre Eltern, nahm auch Lucy Dawidowicz wahr: „The young people growing up in the thirties were no longer as devout as their parents and grandparents had been.“ 52 Auch in Grades Texten sind zahlreiche Klagen der älteren Generation zu hören, die auf das veränderte Verhalten ihrer Kinder und Enkel aufmerksam machen. Heutzutage seien andere Zeiten – die Enkel verhielten sich wie Goyim (Nichtjuden) und die Enkelinnen hätten nicht einmal gelernt, die Sabbatkerzen zu segnen!53 Neben der Missachtung religiöser Gesetze und der Unkenntnis derselben kritisieren die alten Juden bei der jungen Generation auch den oberflächlichen 50 51 52 53
Ebd., S. 222. Heller: On the Edge of Destruction, S. 232. Dawidowicz: From that Place, S. 111. Grade: Di kloyz un di gas (1), S. 42.
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Schein ihrer Frömmigkeit an den Feiertagen. In den Stuben der Kinder stehe viel unnützes Glas und Geschirr herum – alles nur zur Beeindruckung der Gäste: „Afilu di shabesdike laykhter mit di dekhelekh un blumen, vi oykh di khanike-lemplekh [Chanukka-] mit di krigelekh far boyml [Öl], zaynen bay di yunge mer far puts un tsirung vi tsulib mekayem zayn [erfüllen] di mitsve [Gebot] fun likht-bentshn [segnen] un fun khanike-likht-tsindn.“ 54
Das Fehlen des religiösen Gehalts bei den Feierlichkeiten der jungen Generation hatte zur Folge, dass die alten Juden nicht gerne zusammen mit ihren Familien feierten. Zu Pessach glaubten sie nur eingeladen zu werden, weil es passend sei, einen Greis mit silbernem Bart zur Zierde an der Tafel zu haben. 55 Was im Mittelpunkt der Feiertage stehe, so die Alten, sei das Essen. 56 Diesbezüglich stellt ein frommer Jude fest, dass an den Feiertagen die Juden ständig auf die Uhr schauten, um zu sehen, wann sie endlich nach Hause gehen konnten, um zu speisen. 57 Die Mahlzeiten selbst boten einen weiteren Konfliktpunkt. Viele Eltern glaubten, dass ihre erwachsenen Kinder die religiösen Speisegesetze (Kaschrut) nicht einhielten. Aus diesem Grund äußert ein Rabbi, dass er lieber nicht in die Kochtöpfe seiner Tochter schauen möchte, um zu sehen, ob sie Kaschrut einhält. 58 Die Missachtung der religiösen Speisegesetze war auch ein Grund, weshalb betagte Eltern nicht bei ihren Kindern wohnen wollten. Vella Grade beispielsweise lehnt es ab, zu ihrem Sohn und dessen Frau zu ziehen, weil sie nicht sicher ist, ob die beiden einen koscheren Haushalt führen. 59 Dass für viele Juden die religiösen Speisegesetze keine Bedeutung mehr hatten, zeigt ein Ereignis vom 18. März 1939, das Lucy Dawidowicz in ihren Memoiren erwähnt. An diesem Tag sprach der Rabbiner der groyse shul gegen verschiedene Metzger den Bann aus, da sie angeblich unkoscheres Fleisch verkauften. Die gewünschte Wirkung desselben blieb aber aus: „In the old days everyone in the community would have ostracized the persons who’d been anathematized. In modern times such bans no longer had any force. The herem
54 55 56 57 58 59
Ebd., S. 11. Ebd., S. 39. Ebd., S. 29. Grade: Der shtumer minyan, S. 112. Ders.: Der mames shabosim, S. 79. Ebd., S. 256.
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Die Missachtung religiöser Werte und Normen of March 1939 changed nothing with regard to the sale and distribution of kosher and nonkosher meat.“ 60
Eine weitere große Sorge frommer Juden war es, dass die Söhne nach dem Tod der Eltern das Kaddisch-Gebet nicht aufsagten. Dieses musste während elf Monaten täglich in Anwesenheit eines Minjan gesprochen werden. Immer wieder fragt diesbezüglich die Witwe Bathseba ganz besorgt ihren Sohn, ob er auch wirklich das dem Vater am Sterbebett versprochene Kaddisch-Gebet aufsage. 61 Während der von Gewissensbissen geplagte Sohn die Mutter beruhigt, weigert sich der Sohn des verstorbenen Geldverleihers Reb Nachuml, das KaddischGebet für seinen Vater aufzusagen. 62 Da auf die jüngere Generation immer weniger Verlass war, mussten die Eltern jemand anderen damit beauftragen, das Kaddisch-Gebet für sie zu sprechen. Ebenfalls kein großes Vertrauen in ihre Kinder hat diesbezüglich die alte Blumele. Nach dem Tod ihres Ehemanns schreibt sie ihren Söhnen nach Argentinien und ermahnt diese, das Kaddisch-Gebet für ihren Vater nicht zu vergessen. Da sie ihren Kindern aber nicht trauen kann – in Argentinien halte man schließlich auch keinen Sabbat und esse nicht koscher – 63 geht Blumele zur Sicherheit in das Gebetshaus ihres verstorbenen Mannes und bezahlt den Schamesch dafür, dass er das Kaddisch-Gebet für ihren Ehemann – und, wenn die Zeit gekommen sein sollte, auch für sie selbst – täglich aufsagt. 64 Ähnliche Vorkehrungen unternimmt auch ein anderer alter Jude: „Er vet batsoln in foroys a poresh fun Goens kloyz, yener zol nokh im a gants yor dray mol in tog zogn kadesh un yedn inderfri lernen far zayn neshome [Seele] a peyrek mishnayes [Kapitel aus der Mischna]. Beser der gedungener [gemietet] kadesh fun a fremdn erlekhn yid, eyder der kadesh fun a layblekhn zun a mekhalel-shabes.“ 65
Der Verfall religiöser Werte und Normen blieb nicht ohne Auswirkungen auf die jüdische Familie und beeinflusste das Verhältnis zwischen den Generationen negativ. Für die innerhalb der traditionellen jüdischen Lebenswelt überall sichtbaren Säkularisierungserscheinungen – für die Tatsache, dass die jüdischen Töchter lasterhaft waren, die Metzger unkoscheres Fleisch verkauften und der
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Dawidowicz: From that Place, S. 118. Grade: Di kloyz un di gas (3), S. 171, 185. Ders.: Der shulhoyf (2), S. 341. Ders.: Tsemakh Atlas (di yeshive). Bd. 1, S. 158. Ders.: Der mames shabosim, S. 23. Ders.: Di kloyz un di gas (1), S. 44.
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Sabbat sowie die Familienreinheitsgesetze nicht eingehalten wurden66 – waren in den Augen der jüdischen Orthodoxie die Lehrer der modernen Schulen verantwortlich: „[S]huldik zaynen di oyfgeklerte melamdim [Lehrer], zey hobn di ershte arobgevorfn fun zikh dem yokh fun yidishkeyt.“ 67 Gerade dieses „Joch“ traditioneller yidishkeyt – also die strenge Befolgung und Einhaltung sämtlicher religiöser Gesetze, die den Kindern von klein an in den religiösen Schulen auferlegt wurde –, war es, was das Leben der Juden lebendig machen würde: „Yidn on yidishkeyt iz vi an oysgeshtopter riter in shtotishn muzey.“ 68 Für ein jüdisches Leben im traditionellen Sinn waren die Kinder, die die modernen Schulen verlassen würden, nicht gerüstet: „[F]un di hayntike shkoles geyn di talmidim [Schüler] aroys kalike [Krüppel]“ 69 – Talmudstudenten konnten aus diesen Jungen nicht mehr gemacht werden. 70 Wie „schädlich“ die jüdisch-weltlichen Schulen insgesamt eingeschätzt wurden, zeigt das Beispiel eines frommen Familienvaters, der es vorzieht, seine Tochter in eine polnische Schule zu schicken: „Vibald zi vet lernen nit in a yidisher nor in a poylisher shkole, vu di lerer zaynen goyim [Christen], iz nito vos moyre [Angst] tsu hobn.“ 71 Aus orthodoxer Sicht wurde diesbezüglich argumentiert, dass den Kindern in den polnischen Schulen kein neues jüdisches Selbstverständnis vermittelt werden konnte, sondern sie durch die christliche Umgebung in ihrer bisherigen (traditionellen) Identität als Juden bestärkt würden. Wovor man sich bei den jüdisch-weltlichen Schulen zu hüten hätte, wäre die Instrumentalisierung des jüdischen Erbes zum Nutzen moderner Ideologien. Wenn den Kindern beispielsweise die jüdischen Feiertage und Rituale anstatt in einem religiösen in einem jüdisch-nationalen Kontext vermittelt wurden, so trieben die Lehrer damit konkret die Nivellierung der religiösen Traditionen voran. Diese Gefahr bestand in einer polnischen Schule nicht. Aus Sicht des traditionellen Judentums gab es deshalb keinen Kompromiss zwischen einem strenggläubigen und einem Leben mit gewissen Zugeständnissen an die moderne Welt. Entweder werde man fanatisch wie ein Jeschiwastudent oder man wende sich ganz von der Tora ab und höre nicht mehr auf die Autorität der Rabbiner. 72 Als Voraussetzung für die Führung eines traditio66 67 68 69 70 71 72
Ders.: Der shtumer minyan, S. 77–79, 82. Ebd., S. 78. Ebd., S. 106. Ebd., S. 82. Grade: Di kloyz un di gas (3), S. 216. Ders.: Di kloyz un di gas (2), S. 99. Ebd., S. 135.
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Die Missachtung religiöser Werte und Normen
nell jüdischen Lebensstils, besonders für die junge Generation, galt deshalb ein passendes Umfeld. Der Besuch einer Jeschiwa war für die Knaben unverzichtbar. Die Auffassung von Grades Vater, dass es möglich wäre, auch als Handwerker ein religiöser Jude zu sein und zu bleiben, wird von Tsemakh Atlas, dem Leiter einer Jeschiwa, nicht akzeptiert. Ohne die richtige Umgebung und die richtigen Freunde könne man nicht auf dem richtigen Weg bleiben. Der schlechte Einfluss der Straße – wogegen keiner immun sei – sei zu groß: 73 „Hayntike tsaytn geyn nit toyre [Tora] un haskole [Aufklärung] tsuzamen, toyre un melokhe [Handwerk] tsuzamen; hayntike tsaytn iz men oder a ben-toyre oder a mufker [zügelloser Freidenker].“ 74 Und speziell im Bezug auf Chaim Grade warnt sein zukünftiger Lehrer, „az oyb er vet blaybn in Vilne un zikh arumvalgern [herumstreifen] oyf der yatkever gas, vet er blaybn a hultay [Freidenker], nit keyn lerner.“ 75 Die Texte von Grade haben gezeigt, dass sich innerhalb der traditionellen jüdischen Welt Vilnes in der Zwischenkriegszeit ein Wandel vollzog, der die bis dahin bestehenden religiösen Werte und Normen in Frage stellte. Dieser Wandel manifestierte sich in den leeren Gebetshäusern und der Missachtung einer Reihe von religiösen Gesetzen. Als schwerwiegendster Verstoß galt hierbei die Nichteinhaltung des Sabbats. Darüber hinaus findet sich eine Reihe von äußeren Zeichen, die auf die fortschreitenden Säkularisierungstendenzen innerhalb der jüdischen Gesellschaft deuten. Dieselben führten innerhalb orthodoxer Familien zu Generationenkonflikten, die die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern strapazierten. Für das orthodoxe Judentum lag die Schuld an den sich wandelnden Verhältnissen bei den modernen jüdischen Schulen und deren Lehrern. Zugeständnisse an die Moderne und ein Kompromiss zwischen einem religiösen und einem weltlichen Leben gab es aus ihrer Sicht nicht. In den Texten von Grade ist der Wandel innerhalb der traditionellen jüdischen Lebenswelt ein zentrales Thema. Die detaillierten Schilderungen dieses Wandels setzen voraus, dass der Autor selber mit der Lebensweise des traditionellen Judentums vertraut ist. Sein Anliegen ist es, die Konflikte zwischen den religiösen und den weltlichen Juden aufzuzeichnen. Hierbei zeigt er, wie das 73 Ders.: Tsemakh Atlas (di yeshive). Bd. 1, S. 154–155. 74 Ebd., S. 158. 75 Ebd., S. 161. Aus diesem Grund wird es auch als unpassend erachtet, dass ein Talmudstudent auf einem Landwirtschaftsgut arbeitet. Ders.: Di kloyz un di gas (3), S. 211.
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Rückgang der Frömmigkeit als Generationenkonflikt
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traditionelle Judentum mit den Veränderungen nur schlecht zurechtkommt und diesen eigentlich hilflos gegenübersteht. Nichtsdestotrotz unterlässt Grade es nicht, die traditionellen Werte und Normen zu hinterfragen und zu kritisieren. Insgesamt entsteht der Eindruck, als wolle der Autor für keine der beiden Seiten Partei ergreifen. Bezeichnend für Karpinovitshs Texte ist wiederum, dass die Umwälzungen innerhalb des traditionellen Judentums darin nicht thematisiert werden. Dies hat sicherlich mit der Distanz des Autors zur religiösen Lebenswelt zu tun, die es ihm verunmöglicht, die teilweise unscheinbaren Zeichen des Wandels zu lesen und die Vorgänge innerhalb der jüdischen Orthodoxie nicht nur oberflächlich und stereotypenhaft zu beschreiben, sondern auch zu kritisieren. Ähnliches gilt in diesem Punkt auch für die Memoiren einzelner Vilner Jüdinnen, in denen der das traditionelle Judentum ergreifende Wandel nicht erwähnt wird.
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Das traditionelle Judentum Vilnes in der Kritik
Falsche und fanatische Frömmigkeit Einhergehend mit der veränderten Einstellung vieler Juden zu den religiösen Werten und Normen äußerte sich eine kritische Haltung gegenüber dem frommen Judentum insgesamt. Es wurden Stimmen laut, die einzelnen Juden vorwarfen, blind gegenüber dem Unglück der Menschen zu sein 1 und trotz der Kenntnis sämtlicher Gesetze nicht mit den einfachen Leuten reden zu können. 2 Die gewöhnlichen Menschen, die manchmal die Gesetze übertreten würden, seien auch gute Juden: „Nito keyn shlekhte yidn, men darf [müssen] oyf alemen melamed skhus sayn [gut über jemanden sprechen].“ 3 Starre Frömmigkeit verhindere nicht, dass falsch gehandelt werde – so mancher fromme Jude begehe schlechte Taten, angeblich zu Ehren Gottes. 4 Kritik am blinden Gesetzesgehorsam demonstriert Grade anhand einzelner Personen, die durch ihre starre Frömmigkeit mit ihren Mitmenschen in Konflikt geraten. Eine dieser Personen ist Reb Levi Hurvits, die rabbinische Autorität für Agunot (verlassene Ehefrauen). Für ihn ist es kein Makel, dass er von den Bewohnern des jüdischen Viertels nicht gern gesehen wird. Im Gegenteil: „[E]s iz a knaper shvakh [Kompliment] far a rov [Rabbi] ven ale leben mit im besholem [friedlich], a simen [Zeichen] (…) az der rov shtelt zikh far gornit ayn [riskieren].“ 5 Reb Hurvits’ eigene strenge Gesetzestreue sowie seine Stellung als Mitglied des Rabbinats veranlassen ihn, seine Glaubensgenossen bei jeder Gelegenheit an die Einhaltung der Gesetze zu ermahnen: „Fraytog farnakht kumt er in besmedresh [Gebets- und Lehrhaus] der ershter, un zet er a vaybl arayntrogn likht in besmedresh eyn minut tsu-shpet, varft er zikh oyf ir mit a geshrey az der kavyokhl [Gott] darf nit ire likhtlekh. Zol zi beser heysn ir man farmakhn dos gevelb in der tsayt, shrayt er. Zol zi beser nit kokhn ire potraves [Speisen] biz a shtik in shabes arayn un zol zi hitn kashres [Kaschrut], taares [Gesetze der
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Ders.: Di agune, S. 61. Ders.: Der shulhoyf (1), S. 165. Ders.: Di agune, S. 119. Ebd., S. 116. Ebd., S. 27.
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Falsche und fanatische Frömmigkeit
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Familienreinheit], shrayt er. Zol zi, lyaremt er, oyshitn [fernhalten] ire kinder fun di shkoles, vu men shmadt [zum Christentum konvertieren] zi op.“ 6
Religiöse Fanatiker finden sich aber nicht nur unter den hohen Funktionären, sondern auch unter den einfachen Juden. Zu diesen zählt der Schlosser Reb Teytlboym, der sämtliche Gesetze auswendig kann und ein asketisches Leben führt. Obwohl seine Gesundheit geschwächt ist, fastet er zwei Mal in der Woche und verzichtet selbst krank im Bett liegend auf Fleisch, um ja keinen Genuss dieser Welt zu verspüren. 7 Was Reb Teytlboym beschäftigt, ist der sich vollziehende Wandel innerhalb des Vilner Judentums. Wer die Schuld an der Gottlosigkeit der Jugend hat, ist für ihn dabei eindeutig: „Der yunger dor [Generation] iz fun undz avek, vayl mir hobn im tsufil gebalevet [verwöhnt]. Ven mir voltn undzere kinder keseyder [kontinuierlich] dermonen vos men tor nit un geshlogn mit a shtekn, voltn zey fun undz nit avek. Shuldik zaynen di veykhhartsike eltern un undzere manhigim [Gemeindeführer].“ 8
Das Argument moderaterer Juden, dass die junge Generation nicht auf die ältere höre, weil diese selbst erlaubte Dinge für verboten erkläre, 9 lässt Reb Teytlboym nicht gelten. Er ist davon überzeugt, dass früher alles besser war. Reb Teytlboyms Vorwürfe an die junge Generation sind umfassend: Heutzutage sei das Verhalten der jungen Frauen und Männer unentschuldbar – diese würden am Sabbat Boot fahren und zusammen baden, singen und lachen und dies in der Nähe des jüdischen Friedhofs, wo all die Heiligen lägen. Und in den nahegelegenen Wäldern würden Sünden begangen, für die einst Jerusalem zerstört worden sei! 10 Weiter ist Reb Teytlboym der Ansicht, dass die junge Generation stets nach Entschuldigungen suche, tun würde was sie wolle und nur bereit sei, ein Minimum an Zugeständnissen an den Glauben zu machen. Resigniert stellt Teytlboym fest: „S’iz a naye velt fun geyn oyf hanokhes [Konzessionen], oyf pshores [Kompromisse].“ 11 Was sich Reb Teytlboym wünscht, sind strengere, eindeutigere Gesetze. Sein Credo lautet: „Bay yidn iz oder men muz oder men tor nit.“ 12
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Ebd., S. 20. Ders.: Di kloyz un di gas (2), S. 48. Ebd., S. 54. Ebd., S. 54. Ebd., S. 116–117. Grade: Di kloyz un di gas (2), S. 147. Ebd., S. 55.
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Das traditionelle Judentum Vilnes in der Kritik
Genauso wie der blinde Gesetzesgehorsam, der laut Grade dazu führt, nur das Schlechte in den Mitmenschen zu sehen, steht auch die „sabbatliche Frömmigkeit“ einzelner Bewohner des jüdischen Viertels in der Kritik. Zu diesen zählt der für seine Frömmigkeit und Bescheidenheit bekannte Reb Sheftl Miklishanski, der Besitzer eines Eisenwarengeschäfts und Gabbe der Goens kloyz. Er rühmt sich eines Platzes an der Ostwand der Synagoge und ist am Sabbat vor den Augen der versammelten Gemeinde die Bescheidenheit in Person. Aber unter der Woche, in Gegenwart einzelner armer Juden, ist er arrogant und lässt sein Gegenüber spüren, dass er zu den „besseren“ Juden gehört. Dieses Verhalten beanstandet ein Bewohner von Leyb-Leyzers hoyf: „Ir, R’Sheftl, zayt fun di shabes-yontevdike yidn. Shabes un yontev beys der gantser besmedresh [Gebets- und Lehrhaus] kukt oyf aykh, pravet [befolgen] ir anives [Bescheidenheit], akurat vi ir tut shabes on a zaydene kapote [Kaftan] un est tsholnt lekoved [zu Ehren] ayere neshome-yeseyre [zusätzliche Seele, die man am Sabbat bekommt]. Ober in a prostn [gewöhnlich] mitvokh hot ir nit tsulib vemen un tsulib vos tsu praven anives.“ 13
In der Person von Reb Miklishanski weist Grade nicht nur auf die falsche, kalkulierte Frömmigkeit, sondern zeigt außerdem, wie Reichtum den Schein von Frömmigkeit erleichtert. Die religiösen Werte und Normen der Wohlhabenden, scheint Grade sagen zu wollen, müssen zweimal hinterfragt werden. Dieses Misstrauen, das sich gegenüber den wohlhabenden frommen Juden äußert, bringt Grade insgesamt der ganzen jüdischen Orthodoxie entgegen. So zeigt er beispielsweise, dass auch junge Chassidim den Anschein religiöser Frömmigkeit nur noch am Sabbat wahren, wenn sie sich in ihrer traditionellen Kleidung zusammen mit ihren Vätern auf den Weg ins Kaidanover Schtibel auf dem shulhoyf aufmachen. Wochentags sehe man sie modisch gekleidet in Restaurants sitzen, mit einer Freundin am Arm oder auf dem Weg zu einem heimlichen Rendezvous. 14
Kritik an religiösen Hierarchien Was Grade immer wieder kritisiert, sind die durch Reichtum legitimierten gesellschaftlichen Hierarchien im religiösen Raum und die daraus folgende Benachteiligung einfacher Juden. Ein Ort, an dem diese Ungleichheit der Gläu13 Ebd., S. 97 f. 14 Grade: Di kloyz un di gas (3), S. 192.
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Kritik an religiösen Hierarchien
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bigen für alle sichtbar wird, ist die Synagoge, in der die Sitzplätze von den Gemeindemitgliedern gekauft werden können. Wer einen Sitzplatz nahe des Toraschreins, des Lesepults, des Sitzes des Rabbiners, der Bima – dem Ort, wo aus der Tora gelesen wurde – oder der Ostmauer der Synagoge besitzt, grenzt damit sich und seine Familie für alle sichtbar von der Masse der übrigen Gläubigen ab. Diese in den Gebetshäusern bestehende Hierarchie der Sitzplätze ist auch in der Klause in Leyb-Leyzers hoyf zu sehen: „Der sufit [Decke] in Leyb-Leyzers kloyz iz farteylt in dray velbungen. Untern hintershtn gevelb, leng-oys der mayrev-vant [Ostwand], shteyen benk un tishn far mispalim [Gläubige], vos zaynen nit bekoyekh [fähig] tsu koyfn a ‚shtot‘ [gem. Sitzplatz] mit a farshlosn kest [verschließbares Fach]. Untern mitlstn gevelb shteyt di bime [Bima] mit trep oyf tsofn [Norden] un dorem [Süden]. Arum der bime iz a gedikhtenish [Gedränge] fun benk un shtenders far sheyne balebatim [Wohlhabende], vos hobn geyarshnte [vererbte] pletser oder batsoln far zey yedn erev yonkiper [Jom Kippur].“ 15
Darüber hinaus bemängelt der Autor, dass die wohlhabenden Juden an den Feiertagen im Rahmen des religiösen Zeremoniells sich durch die Bezahlung eines bestimmen Geldbetrags stärker beteiligen können. Dazu zählt etwa die Ehre, an Jom Kippur den Toraschrein zu öffnen oder zu schließen, 16 oder zu Simchat Tora eine Torarolle zu tragen – eine Auszeichnung, die sich in den Augen der armen Bevölkerung nur die Rothschilds erkaufen können. 17 Innerhalb des religiösen Rahmens bot sich auch Frauen die Gelegenheit, ihren Platz innerhalb der Gemeindehierarchie zu unterstreichen. In den Frauenemporen der Synagogen schaute man deshalb genau, wie die Nachbarin sich kleidete. Welche Kleidungsstücke und Accessoires von den Vilner Jüdinnen getragen wurden, ist im folgenden Abschnitt zu sehen: „Oyf andere froyen iz kentik der yontev [Feiertag] in di futerne kragns, sametene kleyder, broshkes bazetst mit kleyne perelekh un gildene hand-keytelekh – yerushes [Erbe] fun bobes [Großmütter]. Oykh di mame hot a shvartse shal un a yakl oyf perlmuterne knep.“ 18
Die neue oder auch alte Feiertagskleidung der Frauen konnte besonders gut auf dem shulhoyf bestaunt werden. Hier, wo die Menschen an Jom Kippur dicht-
15 Grade: Di kloyz un di gas (2), S. 50, vgl. ebd. S. 88 f. 16 Grade: Der shtumer minyan, S. 137; vgl. ders.: Tsemakh Atlas (di yeshive). Bd. 1, S. 145. 17 Ders.: Di agune, S. 79. 18 Ders.: Der mames shabosim, S. 33.
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Das traditionelle Judentum Vilnes in der Kritik
gedrängt beieinander standen, fiel besonders die Kopfbedeckung auf: Die Köpfe der älteren Frauen waren entweder in lange weiße oder schwarze Schals gewickelt oder waren mit einer hohen Perücke bedeckt; die jüngeren Frauen wiederum trugen fein bearbeitete, kleine und große modische Hüte, die den shulhoyf in ein buntes Blumenmeer verwandelten. 19 Vella Grades ganzer Schmuck an diesem Tag war ein weißes Kopftuch, während sich die wohlhabenden Frauen in Mänteln mit Pelzkragen präsentierten. 20 Ein weiterer Ort innerhalb des religiösen Raums, an dem sich die soziale Stellung der Vilner Juden manifestiert, ist der Friedhof. Grade macht darauf aufmerksam, dass der Grundsatz, nachdem für Toragelehrte und Fromme auf dem Friedhof die besten Plätze vorgesehen sind, 21 in der Praxis längst auch für die Wohlhabenden gültig ist, ruhen diese doch auf dem Friedhof in den besten Reihen in Gräbern mit prächtigen Grabsteinen: „[I]n di ershte reyen, vo s’lign di gvirim [Wohlhabende], gebaydes fun marmorshteyn mit shvere ayzerne keytn, oysgeshlifene tovlen, vos finklen vi di shpiglen, un oyf di tovlen iz mit goldene oysyes [Buchstaben] un mit zilberne oysyes oysgekritst ver dort ligt alts. Baym leben hobn di gvirim nit gelozt fargesn ver zey zaynen, un nokhn toyt viln zey oykh, az men zol zey eybik gedenken. Nor vos kumt oroys fun dem vos zey greytn zikh [vorbestellen] on azelkhe gevaldike matseyves [Grabsteine], az ven di nakht kumt-on oyfn feld, blaybn zey shteyn in der fintster eyne aleyn … Azoy dakht zikh im shtendik: vos-mer di gvirishe matseyves zaynen greser un vos-mer zey zaynen opgerukt eyner fun der anderer, alts greser un iz baynakht zeyer elnt, un di fintsternish orum zey iz alts gedikhter. Ober di geboygene yidn, vos hobn baym leben gelebt tsuzamen, iz ven zey kumen tsu zeyer ru, zaynen zey dort oykh tsuzamen in zelbn minyen [Minjan]. Shteyen zikh oyf kvorim [Gräber] oreme matseyves, azelkhe halbrunde, niderike shteyner, ayngehoykerte un ayngezunkene in mokh [Moss], arumgevaksene mit groz, mit beymlekh, un az es blozt a vintl, shokln zey zikh ale ineynem, ot azoy vi baym lebn.“ 22
In Grades Betrachtung des jüdischen Friedhofs wird deutlich, dass er die reichen Juden trotz ihres Wohlstands nicht als den „besseren“ Teil der jüdischen Gesellschaft erachtet. Ihre physische Isolation auf dem Friedhof versinnbildlicht hierbei ihre Distanz von der jüdischen Gemeinschaft insgesamt. Viel „wertvoller“ sind in Grades Augen die einfachen Juden, die sowohl im Leben
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Ders.: Di kloyz un di gas (2), S. 145–146, 155. Ders.: Der mames shabosim, S. 26, 27. Ydit: Schadchen, Schul und Schammes, S. 58. Grade: Der shulhoyf (1), S. 79 f.
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als auch im Tod den Kontakt zu ihren Mitmenschen nicht scheuen und deshalb für die jüdische Gesellschaft unentbehrlich sind. Im folgenden Beispiel tröstet sich ein einfacher Jude in seinem von Entbehrungen geprägten Leben damit, dass wenigstens nach dem Tod die ungerechten hierarchischen Zustände zugunsten der Armen ausfallen würden und für Gott die materiellen Besitztümer allein nicht ausschlaggebend seien: „Oykh oyfn oylem-hoemes [Reich der Toten] iz do a mizrekh-vant [Ostwand] un a mayrev-vant [Westwand], ele [aber] der seyder [Ordnung] iz dort a farkerter. A sakh yidn, vos zaynen do oyf undzer oylem-hosheker [Welt der Falschheit] gezesn bay der mayrev-vant, baym oyvn [Ofen] oder baym oremen tish, zitsn oyfn oylem-hoemes bay der mizrekh-vant, un a sakh sheyne balebatim, vos zaynen ofy undzer genarter velt gezesn oybn on, zitsn oyf yener-velt bay der tir, un a mol nokh mit di fis in droysn.“ 23
Hinterfragung rabbinischer Autorität Wie sehr der Wandel der religiösen Werte und Normen das jüdische Viertel verändert, zeigt sich auch an der Kritikbereitschaft einfacher Juden gegenüber den Gemeinderabbinern. So wird diesen vorgeworfen, billigeres auswärtiges Fleisch für unkoscher zu erklären, um damit ihre eigenen religiösen Funktionäre zu schützen. Dass die einfachen Juden deswegen kein Fleisch mehr auf den Teller bekämen, würden die Rabbiner dafür in Kauf nehmen.24 Während hier das konkrete Handeln der Rabbiner kritisiert wird, stellen einige Juden sogar die Frage nach dem grundsätzlichen Nutzen eines Rabbiners für die jüdische Gemeinde. In Vilne gebe es genügend Rabbiner, die von der Großzügigkeit der jüdischen Gemeinde abhingen und letzen Endes von den einfachen Leuten bezahlt würden: „Vu zol di kehile [Gemeinde] nehmen gelt oyf oysveysn [streichen] di kelers un farrikhtn di trep, oyf arayntsien elektre un vaser un oystsuramen dem ipes [Gestank], az dos gantse gelt geyt avek oyf oyshaltn di rabonim. Far zey nemt men shtayern bay di lebedike un men reyst afilu bay ti toyte, far an ort oyfn besoylem [Friedhof ]. Ir hot den, brider mayne, a farshtand vifl rabonim es zaynen in Vilne un vifl zey kostn undz op? Un vu zaynen gor di daynimlekh [kleine Rabbis] oyf di forshtet, di magidim [Prediger] in di kloyzn, di prushim [Fromme, die sich ganz dem Studium heiliger Texte widmen] in Goens kloyz, di orem-bokherim in Rameyles-yeshive un di bank23 Ders.: Der shtumer minyan, S. 179. 24 Ders.: Di agune, S. 94.
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Das traditionelle Judentum Vilnes in der Kritik kvetsher in di andere kloyzn? Oyf vos men badarf a rov [Rabbi] veyst ir? A rov badarf men er zol zogn vos men tor [dürfen] nit.“ 25
Den Beruf des Rabbiners zu ergreifen, erscheint deshalb für viele Jüdinnen und Juden nicht erstrebenswert. Als Chaim Grade als Jugendlicher mit dem Gedanken spielt, auch Rabbi zu werden, rät ihm sein Vater davon ab. Schlomo Grade argumentiert, dass ein Rabbiner von der Gemeinde abhängig und in weltlichen Angelegenheiten unerfahren sei und von den Menschen deshalb nicht respektiert würde. Für seinen Sohn wünscht sich der Vater einen Beruf, in dem er unabhängig sein kann und nicht der ständigen Kritik der Gemeinde ausgesetzt ist. 26 Interessant ist, dass nicht nur Außenstehende den Beruf des Rabbiners kritisch hinterfragen, sondern auch die Ehefrauen derselben. Rabbi David Zelvers Ehefrau etwa rät ihrem Sohn, er solle lieber Pferdehändler werden – alles, nur kein Rabbi wie sein Vater! 27 Selbst einzelne Rabbiner hinterfragen ihre Entscheidung, den Beruf des Rabbis gewählt zu haben. So bedauert ein Rabbiner mittleren Alters, dass er in seiner Jugend kein Handwerk erlernt hat und jetzt keine andere Möglichkeit hat, als ganz in der Abhängigkeit seiner Gemeinde zu stehen.28 Dass so viele junge Männer sich gegen den Beruf des Rabbiners entschieden, hatte nicht nur mit den schlechten Verdienstaussichten und der drohenden Armut zu tun, 29 sondern ebenso mit dem mangelnden gesellschaftlichen Ansehen, das diesem Amt vermehrt entgegengebracht wurde. Vor dem Hintergrund des Säkularisierungsprozesses und der damit verbundenen sich wandelnden Einstellung gegenüber den etablierten religiösen Werten und Normen, waren immer mehr Juden in ihrer alltäglichen Lebensführung nicht mehr auf die Ratschläge eines Rabbiners angewiesen. Ebenso besuchten viele von ihnen keinen Gottesdienst mehr, wo ihnen ein Rabbiner die religiösen Schriften erklärte und sie zu einer besseren Lebensführung ermahnte. Was das Ansehen der religiösen Führer in den Augen dieser Juden schmälerte, war deren oft starres Festhalten an alten Glaubenssätzen und Machtstrukturen sowie deren Unvermögen, die Not der Menschen in Zeiten wirtschaftlichen Elends zu lindern. Eine weitere Erklärung für den schwindenden gesellschaftlichen Stellen25 26 27 28 29
Ebd., S. 96 f.; vgl. ders.: Di kloyz un di gas (2), S. 47, 48. Grade: Tsemakh Atlas (di yeshive). Bd. 1, S. 153, 157. Ders.: Di agune, S. 130. Ders.: Der shulhoyf (1), S. 170. Ders.: Di kloyz un di gas (1), S. 31.
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wert des Rabbiners war, dass in der modernen jüdischen Welt andere Qualitäten gefragt waren als die eines Rabbis. Vorbei schienen die Zeiten, in denen der blasse, weltfremde Toragelehrte dem Ideal des jüdischen Mannes entsprach; als erstrebenswerte Alternative galt vermehrt für weite Teile der jüdischen Bevölkerung das durch den Zionismus geprägte Bild des „Muskeljuden“. 30 Vielen Juden ein Dorn im Auge waren deshalb die häufig stattfindenden Versammlungen und Konferenzen orthodoxer Rabbiner, an denen über die Finanzierung der Jeschiwot und die Stärkung der Tora beraten wurde. Eine von Grade geschilderte Konferenz fand auf Geheiß des Chofetz Chaim 31 in Vilne statt. Ursache dafür war, dass die an einer früheren Konferenz gefassten Resolutionen ihre Wirksamkeit unter der jüdischen Bevölkerung verloren hatten: Viele Hausbesitzer weigerten sich, die von der Rabbinerversammlung geforderten zwei Zlotys für die Unterstützung der Jeschiwot zu bezahlen und auch einzelne Rabbiner unterließen es, in ihren Predigten die Wichtigkeit der Jeschiwot zu betonen und Gelder für diese zu sammeln. 32 Mit dem Erscheinen von hunderten von Rabbinern verdunkelten sich die Straßen Vilnes. Die schwarzen, langen Kaftane und breiten Hüte signalisierten dabei den einfachen Anwohnern, dass deren Träger viele religiöse Texte auswendig kannten, wohl aber von alltäglichen Dingen wenig Ahnung hatten. Wie beliebt die auswärtigen Besucher im jüdischen Viertel waren, zeigt Grade anhand der Reaktion seiner einfachen Bewohner: Während einige Marktfrauen beim Erscheinen der Rabbiner kurzweilig mit ihren Flüchen aufhören und bescheiden ihre Kopftücher zurechtrücken, mustern die meisten Juden die Fremden unverhohlen und reden untereinander über sie. 33 Ein Tischler bezeichnet die Frommen als „schwarze Krähen“ 34 und ein jüdischer Arbeiter betitelt sie als „unnütze Fresser“, für die wieder einmal die einfachen Leute aufkommen müssten: „Zeyere gantse asife [Versammlung] vert oysgeyn tsu undzer koshene [Tasche].“ 35 Das Zusammenkommen hunderter Toragelehrter in einem Raum wird von Grade als optisches Phänomen dargestellt: In ihrer Gesamtheit gleichen die Besucher einem Meer von Augen und einem Wald von Bärten – manche verdreht wie die Wurzeln eines Baumes. Die Frommen bilden eine Ansamm30 31 32 33 34 35
Siehe dazu Kapitel Zionisten. Für Angaben zur Person siehe dazu Kapitel Religiöse Vorbilder. Grade: Der shulhoyf (1), S. 153. Ebd., S. 153–155. Grade: Der shtumer minyan, S. 152. Ders.: Der shulhoyf (1), S. 157.
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lung spitzer Nasen, von Haar bedeckter Ohren, hoher Stirnen, Jarmulken und Schläfenlocken. 36 Beim näheren Hinblicken teilt Grade die anonyme Masse von Toragelehrten in verschiedene Gruppen auf. So weist er jedes Lebensalter einer Jahreszeit zu und beschreibt deren typische Merkmale. Auf diese Weise veranschaulicht der Autor mit kennendem Blick, dass mit zunehmendem Alter und steigendem Wissen auch die Sorgen und Konflikte eines Toragelehrten mit seiner Umwelt größer werden: Der Frühling wird durch die Studenten aus der Rameyles Jeschiwa repräsentiert. Die noch jungen und sorgenfreien Knaben sind neugierig und träumen davon, Rabbiner zu werden, so wie die vor ihnen sitzenden Männer, die sie mit Respekt und etwas Neid betrachten. Diese sind das Sinnbild des Sommers: Junge Rabbiner mit schönen Bärten, die ihr Rabbinat von ihren Schwiegervätern geerbt oder durch Geld erworben haben. Ihre Ehefrauen sind jung und hübsch und die noch kleinen Kinder befolgen die Worte ihrer Eltern. Da ihre Mitgift noch nicht aufgebraucht ist, besteht auch kein Grund für Streitereien mit dem Synagogenverwalter. Die Bärte der im Herbste stehenden Rabbiner wiederum sind bereits ein bisschen ergraut – sie sind um die 50 Jahre alt und schauen mit besorgtem Blick in die Versammlung. Sie sind wütend auf ihre Ehefrauen, Kinder und die Gemeinde. Die Ehefrauen klagen über zu wenig Geld, die Kinder befolgen die Tora nicht mehr und die Gemeinde ist gespalten in Orthodoxe und Aufgeklärte, die jeweils ihren eigenen Rabbiner wollen. Vor dem Podium sitzt schließlich der Winter: uralte Rabbiner mit kindlichen Augen und einem Gesicht wie Pergament. Sie sind erschöpft vom lebenslangen Lernen. Diese Generation von Rabbinern hatte einst mit dem Cherem gedroht und ihre Gemeinden mit harter Hand geführt. Jetzt sind die Greise wütend auf die jüngeren Gelehrten ihrer Gemeinde, die nicht dieselben Ansichten teilen wie sie. 37 Das von Grade gezeichnete Bild der Toragelehrten zeigt die gegenwärtigen und künftigen Führer der traditionellen jüdischen Gesellschaft in einer insgesamt nicht beneidenswerten Lage. Das private sowie öffentliche Leben der Rabbiner ist auf Konflikte vorprogrammiert und die Hoffnungen der Jugend scheinen unwillkürlich an den Umständen einer sich ändernden Lebenswelt zu scheitern und in ein verbittertes Alter zu führen. Als zentrales Thema der Rabbinerkonferenz wird der Autoritätsverlust der Rabbiner behandelt: „Yidn vos hobn moyre [Angst] farn boyre-oylem [Schöp36 Ebd., S. 173. 37 Ebd., S. 161–162.
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fer der Welt] veln veyter ton vi di toyre [Tora] heyst, un vos onbatreft di andere, iz farfaln. Rabonim hobn nit mer zeyere amolikn koyekh [Macht].“ 38 Angesichts ihres Machtverlusts denken die alten Rabbiner mit Bedauern an die früheren Zeiten, als ihre Autorität unter der jüdischen Bevölkerung noch unangefochten war und die Juden auf sie hörten. Damals, so erinnern sich die Alten, konnten sie denjenigen Leuten, die den Sabbat entweiht hatten, mit dem Ritual der schwarzen Kerzen und dem Blasen des Schofars drohen; 39 heutzutage fürchte man das Gesindel der Vilner Hintergassen und verhalte sich gegenüber dem Mob so wie ein Chederjunge, der vor einem steinewerfenden Bauern Angst habe! 40 Weiter wird von den Rednern der Rabbinerversammlung beklagt, dass die Anforderungen an einen Rabbi vermehrt zunehmen. Zu den Qualitäten, die bei einem „modernen“ Rabbiner gefragt seien, gehöre ein Interesse am Zeitgeschehen und die Kenntnis der polnischen Sprache, um sich für die einfachen Juden bei den Behörden einsetzen zu können oder einen Gouverneur willkommen zu heißen. 41 Mit diesen Anforderungen, so Grade, konnten sich viele Rabbiner – insbesondere die alten, die zwar sehr gelehrt seien, aber sich in politischen Taktiken und alltäglichen Angelegenheiten wie Kinder verhielten42 – nicht anfreunden. Aus diesem Grund bedauert ein alter Rabbiner, dass viele Menschen nicht mehr wüssten, auf welche Qualitäten es bei einem Vertreter seines Berufsstandes wirklich ankomme: „Amolike yidn hobn farshtanen, az oyf reydn mit a srore [Authorität] iz faran a shtadlen [Vermittler], un a rov [Rabbi] darf zitsn un lernen. Amolike yidn hobn gevust, az oyb men zitst nit zibetsik yor tog un nakht bay der gmore [Teil des Talmuds, Kommentar zur Mischna], ken men gornit, lakhlutn [absolut] gornit. Ober hayntike yidn art [ausmachen] nit, az zeyer rov iz nit keyn godl [hervorragende Person], abi [aber] er ken plaplen mitn staroste [Stadtrat].“ 43
Insgesamt sahen sich die Rabbiner von allen Seiten bedrängt: Ein Teil der Juden missachtete ihre Autorität und der andere stellte Forderungen an sie, die sie nicht oder nur schwer erfüllen konnten. Das Bewusstsein, dass die für die Rabbiner „guten alten Zeiten“ vorbei waren, erfüllte viele. 38 39 40 41 42 43
Grade: Di agune, S. 118; vgl. ebd.; S. 128. Ders.: Der shulhoyf (1), S. 175. Ders.: Di agune, S. 105, 283. Ders.: Der shulhoyf (1), S. 166, 167. Ebd., S. 170. Ebd., S. 168.
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Doch ungeachtet dieser misslichen Lage, in der alle orthodoxen Rabbiner sich befanden, bildeten die Repräsentanten des traditionellen Judentums keine geschlossene Front. Im Gegenteil: Aufgrund zahlreicher innerer Streitereien und Konflikte, die vor allem zwischen den Anhängern der beiden politischen Parteien von Agudas Israel und Mizrachi ausgetragen wurden, schwächten die traditionellen Eliten ihre Position innerhalb der jüdischen Gesellschaft. Diese auch von außen wahrgenommenen Unstimmigkeiten innerhalb des orthodoxen Lagers veranlassen einen Bewohner des jüdischen Viertels zu bemerken, dass sich die ständig streitenden Rabbiner wie die rivalisierenden Gangs der Vilner Unterwelt aufführen würden. 44 Interessant ist in diesem Zusammenhang der Umstand, dass gerade die Politisierung der orthodoxen Juden – etwa die Gründung eigener modernen Parteien, orthodoxer Zeitschriften oder auch Frauenorganisationen – in gewisser Weise bereits einen Bruch mit der Vergangenheit darstellte und ein Zeugnis des unaufhaltsamen Säkularisierungsprozesses war, dem sich auch das orthodoxe Judentum nicht verschließen konnte.45 In diesem Sinne kann auch die von Grade beschriebene Rabbinerversammlung als weiteres Zeichen der sich im Wandel befindenden traditionellen jüdischen Lebenswelt verstanden werden. Der Machtverlust der Vilner Rabbiner äußerte sich konkret in der Tatsache, dass sich immer weniger Juden an das rabbinische Gericht wandten, wenn es darum ging, Konflikte zu schlichten – sie zogen es vor, ihre Dispute vor einem polnischen Gericht auszutragen. 46 Genau diesen Schritt wagt eine Witwe, als einige ihrer Kunden sich weigern, ihre Schulden zu bezahlen. Als Grund, weshalb sich immer mehr Menschen an die polnischen Gerichte wandten, bemerkt Grade, dass von diesen angeblich mehr Gerechtigkeit zu erwarten sei. 47 44 Ders.: Di agune, S. 92. 45 Gershon Bacon: Reluctant Partners, Ideological Opponents: Reflections on the Relations Between Agudat Yisrael and the Zionist and Religious Zionist Movements in Interwar Poland. In: Gal-ed. On the History of the Jews in Poland, 14 (1995) S. 67– 90, hier S. 73–75. 46 Grade: Der shulhoyf (1), S. 55. Aufgrund interner Auseinandersetzungen zwischen den jüdischen Gemeinden sowie der Kritik an der sozialen Ordnung und Führung der Gemeinden wurden Rechtsstreitigkeiten zwischen Einzelpersonen und ganzen Gemeinden bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts staatlichen Gerichten vorgelegt. Geschichte des jüdischen Volkes, S. 936. 47 Grade: Di kloyz un di gas (3), S. 181.
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Charakteristisch im Hinblick auf die Autorität des Vilner Rabbinats erscheint das Verhängen des Banns (Cherem), auf den in Grades Werk an verschiedenen Stellen hingewiesen wird. Von zentraler Bedeutung ist der Bann im Roman „Di agune“. Darin streitet sich das Vilner Rabbinatsgericht darüber, ob es einen Bann über einen Rabbi aussprechen soll, der einer von ihrem Ehemann verlassenen Frau (Aguna) erlaubt hat, wieder zu heiraten. Hierbei lässt Grade die Vertreter des Rabbinatsgerichts die im Talmud enthaltenen 24 Gründe aufzählen, die einen Bann rechtfertigen, 48 und zeigt ihr Bestreben, für den ungehorsamen Rabbi in der Synagoge schwarze Kerzen anzuzünden und das Schofar erklingen zu lassen. 49 Bezeichnend ist, dass sich die Vertreter des rabbinischen Gerichts schlussendlich nicht dazu entschließen können, den Bann über den Gemeinderabbi zu verhängen – wohl im Bewusstsein, dass dieser von der Mehrheit der Vilner Juden nicht beachtet werden würde. Dass die öffentliche Meinung auf die Entscheidungsfindung des rabbinischen Gerichts durchaus ihren Einfluss hatte, veranschaulicht dabei die besorgte Äußerung eines Rabbis: „[U]ndzere sonim [Feinde] veln shreybn az mir zaynen shvarzse kroen [Krähen] un az mir viln tsurik aynfirn kheyrem [Bann], malkes [Auspeitschen] un di kune [Pranger].“ 50 Indem Grade den Bann als ein in den Augen des rabbinischen Gerichts immer noch zeitgemäßes Zwangsmittel erscheinen lässt, zeigt er, wie rückständig die Vorgehensweise des Vilner Rabbinatsgerichts ist und wie distanziert seine Vertreter von den Massen der Juden leben. Der Bann, so scheint Grade zu sagen, ist der letzte hoffnungslose und zum Scheitern verurteilte Versuch des Rabbinatsgerichts, seine Macht gegenüber der sich verändernden jüdischen Gesellschaft zu demonstrieren. Die Kritik am traditionellen Judentum äußert sich in Grades Texten auf verschiedene Weise. Sie richtet sich einerseits gegen das Verhalten einzelner frommer Juden, die entweder eine fanatische oder eine falsche Frömmigkeit an den Tag legen, andererseits gegen die der traditionellen jüdischen Gesellschaft anhaftenden sozialen Machtstrukturen, die innerhalb des religiösen Raums in der Synagoge und auf dem Friedhof sichtbar werden. Darüber hinaus kritisiert Grade konkret die Repräsentanten der jüdischen Orthodoxie, die Rabbiner. Auf sie richtet er seinen Blick genau und zeigt dabei, wie diese Juden sowohl 48 Vgl. ders.: Di agune, S. 157. 49 Ders.: Di agune, S. 285. Vgl. dazu Jacobs: The Jewish Religion, S. 234. 50 Ders.: Di agune, S. 159.
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mit den Veränderungen ihrer Umwelt als auch mit sich selbst zu kämpfen haben. Wieder ist es Grades eigene Nähe zur traditionellen jüdischen Lebenswelt, die ihn befähigt, verschiedene – aus seiner Sicht negative – Aspekte des traditionellen Judentums offenzulegen und zu hinterfragen. Dabei betont er immer wieder die Distanz, die zwischen den übermäßig frommen und teilweise auch reichen Juden zu den einfachen Jüdinnen und Juden besteht. Der eigentliche Kritikpunkt Grades, so scheint es, sind weniger die religiösen Werte und Normen des traditionellen Judentums an und für sich, sondern das Verhalten bestimmter Autoritätsträger ihren Mitmenschen gegenüber. Ungleich Grade übt Karpinovitsh keine Kritik an der traditionellen jüdischen Gesellschaft. Dieselbe wird in seinen Texten nur oberflächlich skizziert, so dass der Autor für den in ihr stattfindenden Wandel und damit einhergehende Konflikte keinen Blick hat. Gleiches gilt auch für die Memoiren einzelner Vilner Jüdinnen, in denen die säkularisierte jüdische Lebenswelt vorrangig beschrieben wird und die grundlegenden Veränderungen, die in der jüdische Orthodoxie Vilnes in der Zwischenkriegszeit stattfinden, deshalb keine Erwähnung finden.
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Vilne, die Wiege der Jiddischkeit
In den jüdischen Gemeinden Osteuropas blühte in der Zwischenkriegszeit die (moderne) yidishkeyt, die jiddische Kultur. Ihre Grundlage war die jiddische Sprache, die innerhalb des aschkenasischen Judentums seit über 1000 Jahren Verwendung fand und im 20. Jahrhundert zur anerkannten Kultursprache avancierte. Jiddisch war seit jeher die Umgangssprache der Ostjuden. Im Alltag fand sie ihre Verwendung innerhalb der Familie, zwischen Bekannten und Nachbarn sowie im Wirtschaftsleben der Juden. Im Gegensatz dazu bediente man sich des Hebräischen ausschließlich im religiösen Kontext. Als loshn koydesh (heilige Sprache) stand die hebräische Sprache deshalb auf einer höheren Stufe als das Jiddische. Ungeachtet dieses niedrigeren Status hatte die profane Alltagssprache im kulturellen Wertesystem der traditionellen jüdischen Gesellschaft aber ihre Berechtigung. Dies änderte sich jedoch mit dem Aufkommen des aufklärerischen Gedankenguts. Die Maskilim erklärten Jiddisch zum zhargon – eine korrumpierte Form des Deutschen, derer man sich schämen musste, symbolisierte sie doch die dunkle Vergangenheit und das jüdische Leben im Ghetto. Anstelle von Jiddisch sollten die Juden die jeweilige Landessprache erlernen und als ihre kulturelle Sprache Hebräisch verwenden. 1 Ungeachtet dieser negativen Einstellung, die der jiddischen Sprache von einer großen Mehrheit jüdischer Aufklärer entgegengebracht wurde, entstanden im Zuge der Reformen Zar Alexanders II. (1818–1881) in den 1860er Jahren die ersten kulturellen jiddischen Institutionen. 1862 publizierte der Maskil Alexander Zederbaum (1816–1893) in Odessa die erste jiddische Zeitung. Darin enthalten waren auch Kurzgeschichten und in Serie veröffentlichte Novellen, unter ihnen Werke des „Großvaters der jiddischen Literatur“, Mendele Mocher Sforim (1835–1917) sowie von Abraham Goldfaden (1840–
1
David E. Fishman: The Rise of Modern Yiddish Culture, Pittsburgh 2005, S. 5. Diese Forderungen fanden bei den jüdischen Massen allerdings wenig Anklang. Noch im Jahr 1897 gaben 97 Prozent der 5,3 Millionen Juden Osteuropas Jiddisch als ihre Muttersprache an und lediglich 26 Prozent waren des Russischen mächtig. Ebd. S. 6. Zur Geschichte der Jiddischen Sprache siehe auch Dovid Katz: Words on Fire. The Unfinished Story of Yiddish. New York 2004.
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1907), dem „Vater des jiddischen Theaters“. Letzterer gründete in den 1870er Jahren die zweite kulturelle jiddische Institution, das jiddische Theater. Beide Institutionen waren der russischen Zensur unterstellt und konnten sich nur bedingt entwickeln. Bereits in den 1870er und 1880er Jahren war Zederbaum der einzige Publizist, der im Russischen Reich eine jiddische Zeitung herausgeben durfte, und auch das jiddische Theater wurde aus Angst vor antirussischer Propaganda 1883 für die kommenden 17 Jahre ganz verboten. 2 Die Einstellung weiter Teile der ostjüdischen Intelligenz zur jiddischen Sprache änderte sich allerdings nach den antijüdischen Pogromen in Russland in den Jahren 1881 und 1882 und den darauffolgenden staatlichen Repressalien gegen die Juden grundlegend. Die bisher angestrebte kulturelle und linguistische Russifizierung der jüdischen Massen erschien in Anbetracht der antijüdischen Politik weder möglich noch angebracht und die jiddische Sprache und Kultur boten sich fortan als mögliche identitätsstiftende Alternativen. Die jiddischistische Ideologie, die die jiddische Sprache und Kultur propagierte, nahm in den folgenden Jahren ihren festen Platz in der Ideenwelt der jüdischen Intelligenz Osteuropas ein. Seit den 1890er Jahren war Jiddisch die Sprache, mit der die Bundisten und in gewissem Maße auch die Zionisten mit den jüdischen Massen kommunizierten. Nach den revolutionären Unruhen im Jahr 1905 fand die jiddische Kultur einen neuen Aufwind: Die Zensur gegen jiddischsprachige Bücher und Zeitschriften wurde aufgehoben und das jiddische Theater durfte seine Türen wieder einem begeisterten Publikum öffnen. Nur vereinzelt und noch im Geheimen entstanden auch bereits in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg die ersten jiddisch-weltlichen Schulen.3 Die Befürworter des Jiddischismus 4 fanden sich 1908 unter der Leitung von Nathan Birnbaum (1864–1937), Chaim Zhitlovsky (1865–1943) und 2 3 4
Ebd., S. 7–10. Ebd., S. 11–13. Die größten Theoretiker des Jiddischismus waren Chaim Zhitlovsky (1865–1943) und Simon Dubnow (1860–1941). Der in Vitebsk geborene Zhitlovsky half in den 1880er Jahren mit, in Zürich die Sozialrevolutionäre Partei zu gründen. Als einer der ersten russifizierten jüdischen Sozialisten kehrte er wieder zu seinen jüdischen Wurzeln zurück und erklärte die jiddische Sprache als entscheidend für die Konstituierung der jüdischen Nation. Jiddisch sollte die jüdische Religion ersetzen und die Juden der Diaspora vor Assimilation bewahren. Auch der in einem weißrussischen Schtetl geborene Historiker Dubnow sah in der säkularen jiddischen Kultur die Lösung für die jüdische Nationalfrage. Als Begründer der Partei der Folkisten (1907) strebte er eine jüdische Autonomie in der Diaspora an. Itzik Nakhmen Gottesman: Defining the Yiddish Nation: The Jewish Folklorists of Poland. Detroit 2003, S. XV–XVI.
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Isaak Leib Perez (1852–1915) zusammen mit anderen Verfechtern der jiddischen Sprache in Czernowicz ein und erklärten Jiddisch neben Hebräisch zu einer der nationalen Sprachen der Juden. Damit hatte die jiddischistische Bewegung den Bereich des rein Ideologisch-Kulturellen verlassen und sich als politische Bewegung konstituiert, die die Juden nicht mehr wie bis dahin nur als eine religiöse Gemeinschaft sah, sondern sie zur Nation erklärte. Bis zum Ersten Weltkrieg entwickelte sich fortan eine breite jiddische Kultur, die von den Jiddischisten aktiv proklamiert und von einem großen Teil der Juden Osteuropas enthusiastisch aufgenommen wurde. 5 In der Zwischenkriegszeit entstanden so auf der Basis der jiddischen Sprache und Kultur verschiedene jüdische Lebensformen, denen ein modernes jüdisches Selbstverständnis zugrunde lag. Der Triumph der jiddischen Sprache manifestierte sich auf verschiedenen Ebenen. Jüdische Verlagshäuser bedienten eine jiddischsprachige Leserschaft mit hunderten von jiddischen Werken sowie vielen Übersetzungen der europäischen Literatur. Daneben entstand erstmals ein modernes jiddisches Erziehungssystem mit Grund- und Mittelschulen, technischen Schulen sowie Berufsschulen, in denen Jiddisch die Unterrichtssprache war. Äußere Umstände wie der stark begrenzte Zugang zu staatlichen Stellen oder den polnischen Universitäten sowie ein grundsätzlich antisemitisches Umfeld begünstigten außerdem das Weiterbestehen der jiddischen Sprache im Alltag. Darüber hinaus war die nationale Identität der Juden, die sich durch die jiddische Sprache konstituierte, stark ausgeprägt und die sprachliche Akkulturation noch relativ gering. 6 Unter den jüdischen Metropolen Osteuropas sollte sich Vilne in der Zwischenkriegszeit zu einer der bedeutendsten Städte jiddischer Kultur entwickeln: „By the interwar period Vilna proved highly fertile ground for the flourishing modern Jewish culture, particularly Yiddish culture.“ 7 Hier manifestierte sich die jiddische Kultur in unzähligen neuen kulturellen, politischen und sozialen Organisationen. Im Gegensatz zu ihren traditionellen Vorgängerorganisationen, die auf oder in der Nähe des shulhoyf angesiedelt waren, befanden sich diese außerhalb des jüdischen Viertels und bildeten räumlich neue Zentren jüdischer Aktivität. Sie veränderten die jüdische Stadtlandschaft von Vilne
5 6 7
Fishman: The Rise of Modern Yiddish Culture, S. 15–17; Gottesman, Defining the Yiddish Nation, S. XIV. Fishman: The Rise of Modern Yiddish Culture, S. 85, 88, 90. Kuznitz: On the Jewish Street, S. 66.
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und versinnbildlichten durch ihre Präsenz den sozialen und kulturellen Wandel, der sich innerhalb der jüdischen Gesellschaft vollzog: „With the expansion and modernization of Vilna in the interwar period, the growth of new cultural forms paralleled the changing geography of the city itself. In this way, the actual landscape of Vilna reflected the changing landscape of communal life.“ 8
Das „Juwel“ der jiddischen Kultur war das yidisher visnshaftlekher institut – YIVO. 9 Seit 1935 befand es sich inmitten eines großen Gartens auf der vivulska gas Nr. 18 in einem modernen dreistöckigen Gebäude. 10 Es wurde 1925 von Nochum Shtiff (1879–1933), Elias Tcherikower (1881–1943), Zalmen Reyzen (1887–1941) 11 und Max Weinreich (1894–1969) 12 gegründet. Das 8 Ebd., S. 75. 9 Das Akronym YIVO wird aus den drei Anfangsbuchstaben der jiddischen Bezeichnung yidisher (JJ) visnshaftlekher (FF) institut (a3) gebildet. Die Lesung YIVO – anstelle von YIVI – ergibt sich aus der Lautung des letzten Buchstabens (a3), der – da ihm kein weiterer Buchstabe folgt, als „o“ gelesen wird. Friedrich Niewöhner: Die Rückkehr aus der fremden Sprache. Die vergessene Geschichte des Jüdischen Wissenschaftlichen Instituts in Wilna. In: „Wissenschaft des Ostjudentums“. Vorträge, gehalten in der Niedersächsischen Landesbibliothek anlässlich der Eröffnung der Ausstellung zum 75-jährigen Bestehen des YIVO-Instituts. Hg. von Verena Dohrn. Hameln 2003, S. 10–12, hier. 10. 10 Bis dahin war es provisorisch in der Wohnung von Max Weinreich untergebracht. Markus Kirchhoff: Häuser des Buches. Bilder jüdischer Bibliotheken. Leipzig 2002, S. 47. 11 Zalmen Reyzen stammte aus der bekannten Familie Reyzen aus Koydenov (heute Weißrussland). Seine Geschwister waren die berühmten jiddischen Dichter Avrom und Sarah Reyzen. Zalmen, der nach dem Ersten Weltkrieg nach Vilne zog, wurde vor allem durch sein vierbändiges biographisches Lexikon der jiddischen Literatur bekannt, das von 1926–1929 in Vilne publiziert wurde. Reyzen schrieb zahlreiche Bücher und Artikel zur jiddischen Grammatik, Stilistik und Literaturgeschichte. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit war er Herausgeber der jiddischsprachigen Tageszeitung tog. Während des Zweiten Weltkriegs wurde Reyzen bei seiner Flucht nach Osten aus unbekannten Gründen von den Sowjets erschossen. Katz: Lithuanian Jewish Culture, S. 256 f., 284 f.; The YIVO encyclopedia. Bd. 2, S. 1558–1559. 12 Der 1894 in Goldingen/Kurland (heute Lettland) geborene Max Weinreich begann schon als Jugendlicher verschiedene Texte der Weltliteratur ins Jiddische zu übersetzen. 1923 beendete er sein Doktorat zur Geschichte der jiddischen Sprachforschung an der Universität Marburg und wurde so zum ersten promovierten Jiddischisten. In Vilne engagierte sich der der politischen Partei des Bund nahestehende Weinreich für die höheren jiddischen Lehranstalten, besonders das Jiddische Lehrerseminar. Mit der Gründung des YIVO 1925 wurde Weinreich dessen Direktor. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges flüchtete Max Weinreich in die USA. Er arbeitete an der New Yorker
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YIVO repräsentierte die jüdische Wissenschaft in der ganzen Welt und hatte zur Aufgabe, die Kultur der Juden zu erforschen und die vor Vergessenheit und Zerfall bedrohten Monumente jüdischer Kultur für die Zukunft zu bewahren. 13 Der Grund, weshalb ausgerechnet Vilne als Sitz des YIVO ausgewählt wurde, lag am einzigartigen Charakter der Stadt. Unter allen jüdischen Metropolen der Welt existierten nur in Vilne ein öffentliches städtisches Leben, eine zivile Kultur sowie eine breite Öffentlichkeit auf der Basis der jiddischen Sprache. 14 Genauso unabdingbar für den Aufbau einer modernen jüdischen Kultur war die Wertschätzung der eigenen kulturellen Vergangenheit durch die Bewohner des Ortes selbst. In diesem Zusammenhang ist die Entstehung der 1930 gegründeten Vilner Abteilung der yidishe landkentenish gezelshaft zu sehen. Ihr Interesse galt der jüdischen Stadtgeschichte und den architektonischen Denkmälern Vilnes. Die Mitglieder sammelten historische Quellen, alte Fotografien und Dokumente. Die fraynd fun Vilne – eine Sektion der Gesellschaft – organisierten Ausflüge, um die Stadt und ihre Umgebung besser kennenzulernen. Die historischethnologische Sektion wiederum befasste sich mit der Geschichte, Ethnologie und Folklore der Stadt und sammelte historisches Material. 15 Zalmen Shik, einer
Zweigstelle des YIVO, das er von 1940–1950 als Direktor leitete. Gleichzeitig unterrichtete er als Professor für Jiddisch am City College in New York. Weinreich verstarb 1969 in New York. Katz: Lithuanian Jewish Culture, S. 285 f.; The YIVO encyclopedia. Bd. 2, S. 2014–2016. 13 Dafür zuständig waren die vier Sektionen des Instituts: die philologische, die ökonomisch-statistische, die historische und die psychologisch-pädagogische Sektion. Das Institut verfügte über eine umfassende Bibliothek, ein Presse- und Dokumentationsarchiv, eine Handschriftenabteilung und eine Porträtsammlung, ein Theatermuseum, ein pädagogisches Archiv sowie ein ethnologisches Museum. Zum Institut gehörten eigens eine Folklore-Kommission sowie eine terminologische Kommission. Ebenso befand sich eine bibliographische Zentrale im Haus. YIVO veröffentlichte zahlreiche Publikationen und gab mehrere Zeitschriften heraus. Dem Institut gelang es, viele Wissenschaftler an sich zu binden. Darüber hinaus war es seit 1935 auch darum bemüht, im Rahmen von „Aspirantur“ für den wissenschaftlichen Nachwuchs zu sorgen. Die von YIVO aufgestellten Regeln für die jiddische Sprache und Grammatik sind bis heute gültig. Max Weinreich: Der yivo tsu sayn bar-mitsve. In: Vilner almanakh. Hg. von A. Y. Grodzenski. Vilne 1939 [Reprint: Vilna Almanac. Hg. von Isaac Kowalski. Brooklyn, N.Y. 1992], Spalte 75–80. 14 Kassow: The Uniqueness of Jewish Vilna, S. 152. 15 Zalmen Shik: Di yidishe landkentenish gez’ [vilg]. In: Vilner almanakh. Hg. von A. Y.
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der führenden Mitglieder der Vilner yidishe landkentenish gezelshaft, publizierte den Reiseführer „1000 yor Vilne“, der detaillierte Angaben zur Geschichte und Architektur von Vilne enthält. 16 Arbeiten wie diese von Shik, die die räumliche Verwurzelung der jüdischen Gemeinde in Vilne dokumentierten und damit die Anwesenheit derselben an diesem Ort gegenüber der nicht-jüdischen Bevölkerung legitimierten, waren grundlegend für die Identitätsfindung des modernen Judentums. Das Gefühl von Historizität bezüglich der eigenen urbanen Lebenswelt und die Fähigkeit, Tradition und Moderne miteinander zu vereinen, waren Voraussetzungen für den Aufbau einer modernen jüdischen Kultur. 17 Erst durch das Bewusstsein der eigenen Vergangenheit konnte auf deren Boden eine neue, moderne Kultur gegründet werden. Das YIVO machte in diesem Zusammenhang Vilne nicht nur zum Zentrum jiddischer Wissenschaft, sondern zu einem Symbol der Zukunft: „While the old shul hoyf reminded Jews of what Vilna had been, the modern and airy new YIVO building reminded Jews that Vilna had a new role – as the capital of an imaginary world called Yiddishland.“ 18 Diese imaginäre und administrativ nicht fassbare Welt des Jiddischland – bestehend aus Städten, kleineren Marktflecken und Schtetl – wurde in der Zwischenkriegszeit von der seit jeher von den jüdischen Massen gesprochenen jiddischen Sprache zusammengehalten. 19 „As a locus defined by language, Yiddishland flourished most readily during the pre-World War II era on the printed page and in the minds of an extensive and widely scattered readership.“ 20 Der Konstruktionscharakter des Jiddischland, der bereits vor dem Zweiten Weltkrieg offenlag, verdeutlichte sich nach dem Holocaust um so mehr, als mit der Ermordung der Juden das Jiddischland seiner Grundlage beraubt wurde, nämlich der Menschen, deren Umgangssprache Jiddisch gewesen war.
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Grodzenski. Vilne 1939 [Reprint: Vilna Almanac. Hg. von Isaac Kowalski. Brooklyn, N.Y. 1992], Spalte 287–288. Kuznitz: On the Jewish Street, S. 73–74. Kassow: The Uniqueness of Jewish Vilna, S. 158. Ebd., S. 155. Rachel Ertel: Brasier de mots. Paris 2003, S. 45. Jeffrey Shandler: Adventures in Yiddishland, Berkeley, Los Angeles, London 2006, S. 40.
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Die Jiddische Sprache Auf die bedeutsame Funktion von Jiddisch im Alltag der Vilner Juden weist im Werk von Grade und Karpinovitsh die Sprache der Texte selbst: Beide Autoren verfassten ihre Erinnerungen an das jüdische Vilne der Zwischenkriegszeit in ihrer Muttersprache, dem Jiddischen. Damit manifestiert sich indirekt und unabhängig vom Inhalt der Texte selbst ein Stück jiddische Kultur, derer beide Autoren aufgrund ihrer Biografie – selbst nach ihrer Emigration in die USA und Israel – teilhaft waren. Auf die Präsenz von Jiddisch im Leben der einfachen Jüdinnen und Juden wird direkt allerdings nur in den Texten von Karpinovitsh eingegangen. So stellt dieser fest, dass „dos redn yidish iz in Vilne geven azoy natirlekh vi trinken vaser“. 21 In einer seiner Erzählungen schildert der Autor, wie eine kranke Jüdin zunächst in einem schlechten Polnisch dem bekannten Arzt Jakob Vigodski 22 ihre gesundheitlichen Leiden zu erklären versucht. Nach einer Weile unterbricht der Arzt die Kranke und ermuntert diese, ihm ihr Befinden auf Jiddisch zu erzählen. Nachdem die Frau ihm bildhaft ihr Leiden geschildert hat, antwortet der Arzt: „Ir zet, mayn libe kranke, vi sheyn men kon krenken [krank sein] oyf yidish? S’iz dokh a fargnign tsu hern …“ 23 Anhand dieses Beispiels wird deutlich, dass Jiddisch für die einfachen Bewohner des jüdischen Viertels die Sprache war, die sie am besten beherrschten und in der sie ihre Emotionen auszudrücken vermochten. Die seit Ende des Ersten Weltkriegs offizielle Landessprache Polnisch stellte für viele Juden eine Fremdsprache dar, mittels derer sie sich nur schwer mitteilen konnten. Darüber hinaus verweist Karpinovitsh darauf, dass Jiddisch nicht nur die Sprache der
21 Karpinovitsh: 4/10, S. 164. 22 Der 1855 in Bobruysk (heute Weißrussland) geborene Vigodski lebte seit seinem fünften Lebensjahr in Vilne. Er genoss zunächst eine traditionelle jüdische Erziehung, besuchte später das russische Gymnasium und studierte schließlich in St. Petersburg Medizin. Nach weiteren Studien im Ausland kehrte er nach Vilne zurück, wo er als praktizierender Arzt, Forscher und Schriftsteller tätig war. Während des Ersten Weltkriegs engagierte sich Vigodski für die Belange der jüdischen Gemeinde. Nach dem Krieg trat er der zionistischen Organisation bei und wurde außerdem als Abgeordneter in den polnischen Sejm gewählt, wo er vehement für die Rechte der Juden eintrat. Während der deutschen Besetzung Vilnes im Zweiten Weltkrieg wurde der kranke Vigodski im Lukishker Gefängnis inhaftiert, wo er im August 1941 starb. Abramowicz: Profiles of a Lost World, S. 301–305. 23 Ebd., S. 164.
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jüdischen Unterschichten war, sondern auch von Menschen gesprochen wurde, die das jüdische Viertel längst hinter sich gelassen hatten und sozial auf einer anderen Stufe standen. Diese Aneignung des Jiddischen durch Vilnes Eliten war eine neuere Erscheinung. Noch bis zum Ersten Weltkrieg war Russisch die Sprache, mit der sich das jüdische Bürgertum identifizierte und die es bevorzugt sprach. 24 In der Zwischenkriegszeit schließlich wurde Jiddisch zu der Sprache, in der sich das ganze jüdische Vilne – ungeachtet der sozialen Herkunft – unterhielt. Dass diese dabei für die Vilner Juden weit mehr war als ein bloßes Kommunikationsmedium, unterstreicht Kahan: „I would say that almost a cult of the language was established there; the language became an important vehicle of the cultural struggle for national continuity. Language was treated with love, care, and respect. Hebraists in Vilna loved Yiddish; Communist internationalists abandoned the assimilationist creed to participate in the process of cultivating the Yiddish language. Yiddish literature locally produced poetry and prose from one generation to another. Yiddish was the language of all communal institutions and voluntary associations.Without Yiddish one could not function or participate in the social activities of the Jewish community.“ 25
Über den Sprachgebrauch der Vilner Juden berichtet auch Lucy Dawidowicz in ihren Memoiren. Etwas ernüchtert stellt sie nach wenigen Monaten des Aufenthalts in Vilne fest, dass nicht jüdischer Idealismus und die jiddischistische Ideologie die Hauptgründe seien, die die starke Präsenz des Jiddischen bewirkten, sondern genauso die geographische Lage der Stadt und ihre Geschichte. Ebenso verantwortlich dafür, dass viele Juden keinen Bedarf sahen, Polnisch zu sprechen, sei der hohe Bevölkerungsanteil der Juden von ungefähr 30 Prozent sowie deren von den anderen Bevölkerungsgruppen relativ abgesonderte Lebensweise: „Jews and Poles seldom inhabited a common space. They hardly ever worked together; they didn’t meet socially. Yiddish writers didn’t associate with Polish writers. Trade unions and craft guilds were segregated into Polish ones and Jewish ones. Why, then, should the Jews have needed to know Polish?“ 26
24 Kassow: The Uniqueness of Jewish Vilna, S. 156. Max Weinreich beispielsweise konnte Jiddisch nur passiv und lernte es erst mit 18 Jahren aktiv zu sprechen. Gennady Estraikh: Yiddish Vilna: A Virtual Capital of a Virtual Land? In: Zutot: Perspectives on Jewish Culture, 3/5 (2003) S. 135–141, hier S. 139. 25 Kahan: Vilna, S. 159. 26 Dawidowicz: From that Place, S. 102, 105, Zitat S. 105.
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Einen etwas anderen Eindruck hinterlassen die Memoiren einzelner Vilner Jüdinnen. Diesen ist zu entnehmen, dass im jüdischen Bürgertum Polnisch durchaus seinen Platz hatte. Esther Hautzig beispielsweise konnte Jiddisch kaum sprechen und lernte dieses erst richtig in der Schule. 27 Dennoch hatte die jiddische Sprache ihren besonderen Platz in der Familie der Autorin. So bemerkt diese: „Mama instilled in me a love of Yiddish when she read me stories in that rich language.“ 28 Dass die Identifikation mit der jiddischen Sprache bei denjenigen Juden größer war, welche sie als erste Muttersprache lernten, zeigt sich daran, dass im Gegensatz zu Grade und Karpinovitsh die Memoiren von Schoschana Rabinovici, Henia Brazg und Esther Hautzig nicht in Jiddisch verfasst wurden, sondern in Englisch beziehungsweise Hebräisch. Während die meisten Juden Vilnes Jiddisch als Erst- oder Zweitsprache beherrschten, gab es umgekehrt auch einzelne Nichtjuden, die der jiddischen Sprache mehr oder weniger mächtig waren. Dieser Umstand wird in Karpinovitshs Erzählungen angesprochen. „Dos yidish-loshn [Sprache] hot gehat oyf di vilner gasn aza kishef [Charme], az afilu nit-yidn hobn zikh gehat ongeshtekt mit zayn klang.“ 29 Während der Autor zunächst etwas idealistisch die Schönheit der Sprache als Grund nennt, weshalb Nichtjuden sich ihrer bedienen, zeigen verschiedene Textstellen, dass es vor allem das nahe Zusammenleben mit den Juden war, das die sprachliche Assimilation der Nichtjuden an die Jiddisch sprechende Umgebung begünstigte: „Di hoyzvekhter, lemoshl [beispielsweise], hobn zikh gekrigt [streiten] mit yidishe shkheynim [Nachbarn] oyf mame-loshn [Muttersprache].“ 30 Es erstaunt wenig, dass es gerade die polnischen Hauswarte waren, die sich mit den Juden auf Jiddisch „verständigten“, wohnten diese doch Seite an Seite mit den jüdischen Nachbarn. Besonders die Kinder der Hauswarte erlernten die Sprache spielend zusammen mit den jüdischen Kindern, wie etwa Karpinovitshs Gespane Vladek, dessen Vater in einem Hof auf dem shulhoyf als Hausmeister tätig ist. 31 Neben den polnischen Hauswarten und deren Kindern nennt Karpinovitsh auch einen Geheimagenten der polnischen Staatspolizei,
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Hautzig: Remember who you are, S. 11. Ebd., S. 215. Karpinovitsh: 2/10, S. 164. Ders.: 4/10, S. 164. Ders.: 1/9, S. 152.
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welcher der jiddischen Sprache mächtig ist. Dieser spreche angeblich Jiddisch wie ein Wasserfall 32 – so als sei er „geboyrn oyfn shul-hoyf“. 33
Das yidisher visnshaftlekher institut als Symbol jiddischer Kultur Die jiddische Sprache war nicht nur ein Kommunikationsmedium, sondern auch ein Symbol für die jiddische Kultur schlechthin. Für Karpinovitsh bedeutet der selbstverständliche Umgang mit der eigenen Sprache die Voraussetzung für „a ful-blutik yidish lebn“. 34 In diesem Zusammenhang wird Vilnes Ruf als Kulturstadt von Karpinovitsh nachdrücklich betont: „Vilne iz nit stam [gewöhnlich] a shtot. Do darf men ongeyn [auftreten] mit a bisl kultur.“ 35 Hier deutet der Autor auf die zahlreich vorhandenen kulturellen jiddischen Institutionen, die in der Zwischenkriegszeit geschaffen wurden. Auch auf die außergewöhnliche Leistung, welche die Gründung und das Betreiben dieser Institutionen durch das Vilner Judentum darstellte, macht Karpinovitsh aufmerksam, indem er die bedrückenden Umstände anspricht, unter denen die Juden gelebt hatten: „In der fremder svive [Umgebung], in der drikung fun ale zaytn, in der oremkeyt [Armut] zaynen mir geven sheperish [schöpferisch] un geshprudlt mit oyftuen [etwas erreichen] far undzer kultur, far undzer yidishn hemshekh [Fortbestehen].“ 36
Dass die in Vilne herrschende Jiddischkeit nicht beliebig und mit den modernen kulturellen Errungenschaften anderer jüdischer Metropolen Osteuropas zu vergleichen war, wird von Karpinovitsh ebenfalls hervorgehoben: „Vilne iz nit stam a shtot. Vilne iz … nu, vi zol ikh dir zogn? Vilne iz a shtik yidishe velt!“ 37 Die Parteinahme Karpinovitshs für seine Stadt manifestiert sich hier offensichtlich. Dabei rühmt er Vilne einerseits als einen besonderen, unverwechselbaren Ort, den es kein zweites Mal gibt, andererseits beschreibt er Vilne beispielhaft als ein „Stück jüdische Welt“, das durch seine Eigenschaften anderen jüdischen Städten als Vorbild dienen kann. Das hervorragende Symbol jiddischer Kultur in Vilne war das YIVO, an 32 33 34 35 36 37
Ders.: 2/9, S. 137. Ders.: 5/9, S. 145. Ders.: 4/10, S. 164. Ders.: 4/2, S. 32. Ders.: 2/10, S. 156. Ders.: 5/1, S. 18.
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dem an der Seite von Historikern, Soziologen und Linguisten die folkisten – Volkskundler – die Erzählungen, Redewendungen und Lieder der Juden Osteuropas erforschten. 38 Bereits vor dem Ersten Weltkrieg befassten sich sowohl jüdische Wissenschaftler als auch Laien mit jüdischer Volkskunde. Zeugnis davon geben eine Publikation mit verschiedenen Aufsätzen zur jiddischen Sprache aus dem Jahr 1913 sowie die „Jüdische Ethnographische Expedition“ aus den Jahren 1912 bis 1914 unter der Leitung des Ethnologen und Volkskundlers Semyon Akimovich An-sky (1863–2920). 39 Das Ziel seiner Expedition war, nach Spuren der sich im Untergang befindenden Schtetlkultur Osteuropas zu suchen und dabei möglichst viele Zeugnisse dieser Kultur – in Form von Liedern, Fotografien, Geschichten und Legenden sowie religiösen und profanen Gegenständen – zu sammeln und zu katalogisieren. 40 Vor dem Hintergrund des erwachenden jüdischen Nationalgefühls wurde in Vilne außerdem bereits 1903 eine erste wissenschaftliche Institution zur Erforschung der jüdischen Vergangenheit geschaffen. Dies war die Gesellschaft der libhober fun yidishn altertum, deren Nachfolgegesellschaft die von Semyon Akimovich An-sky 1919 gegründete vilner historish-etnografishe gezelshaft war, die bis zum Zweiten Weltkrieg existierte. Die folkloristishe komisye des YIVO wandte sich ein gutes halbes Jahr nach der Gründung des Instituts mit einem Aufruf an die zamlers und forderte diese dazu auf, ethnologische Kostbarkeiten an das Institut zu schicken. Gesammelt wurden Lieder, Geschichten, Sprichwörter und Redewendungen. Die vom YIVO bevorzugten Sammler waren Lehrpersonen jiddischer Volksschulen, doch bereits im Jahr 1928 bestand die Mehrheit der Sammler aus folksmentshn. 41 1929 pflegte das YIVO Kontakt mit über 500 Sammlerkreisen in
38 Die Verbindung zwischen der jiddischistischen Ideologie und der Volkskunde machte als erster Yoysef-Yehude Lerner (1847–1907). Er war ein Pionier in der Erforschung des jiddischen Theaters, jüdischer Volkskunde sowie jiddischer Literaturkritik. In einer Publikation aus dem Jahr 1889 erklärt er, dass die jiddischen Volkslieder die Gedanken eines geeinten Volkes reflektierten und die Jiddisch sprechenden Juden ein „Volk“ bilden würden. Gottesman: Defining the Yiddish Nation, S. XVII, XIX. 39 Gottesman: Defining the Yiddish Nation, S. XXII, XXIII. Vgl. dazu John E. Bowlt: Ethnic Loyalty and International Modernism: The An-sky Expeditions and the Russian Avant-Garde. In: The Worlds of S. An-sky. A Russian Jewish Intellectual at the Turn of the Century. Hg. von Gabriella Safran und Steven J. Zipperstein. Stanford 2006, S. 307–319. 40 Suganas: Ville et „shtetl“ au quotidien, S. 82–83. 41 Gottesman: Defining the Yiddish Nation, S. 119, 135.
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ganz Polen. Darüber hinaus korrespondierte das Institut mit mehreren hundert individuellen Sammlern. Durch diese Kontakte mit den einfachen Juden versuchte Max Weinreich, die von ihm angestrebte und propagierte Volksnähe des YIVO einzulösen. 42 Die Arbeit der Sammler im Umfeld des YIVO thematisiert Karpinovitsh ausführlich in zwei seiner Erzählungen. In „Der folklorist“ schildert er das Unterfangen des aus der Nähe von Białystok stammenden Folkloristen Rubinstein, in Vilne nach echter jiddischer Volkssprache zu suchen. Die Motivation desselben liegt dabei in seinem Wunsch, einen Beitrag zum Erhalt der jiddischen Kultur und Sprache zu leisten: „Rubinsteyn hot zikh arayngenumen in kop, az men muz vos gikher [schnell] oprateven [retten] ale vilner zogekhtsn [Ausdrücke], vayl zol es, kholile [um Himmels Willen], farloyrn geyn, vet es zayn a groyser farlust far der kultur.“ 43
Wo genau in Vilne die echte Volkssprache der Juden zu finden ist, wird Rubinstein seitens des YIVO mitgeteilt: „In yidishn visnshaftlekhn institut hot men im gezogt, az oyb er vil gefinen ekhtn folks-loshn – zol er zikh arumdreyen oyfn vilner fishmark.“ 44 Dort angekommen wird Rubinstein tatsächlich unter den gesprächigen Fischweibern fündig, so dass er mit einer Reihe terminologischer Funde im Bereich des Fischfangs und Fischhandels ins YIVO zurückkehren kann. 45 Indem Karpinovitsh hier andeutet, dass die sprachlichen Kostbarkeiten nicht in den Salons des gebildeten jüdischen Bürgertums, sondern an profanen und den einfachen Juden zugeschriebenen Orten wie dem fishmark zu finden sind, spricht er indirekt seine Wertschätzung für diese Menschen aus und zeigt, dass für die jiddische Kultur die armen Juden einen mindestens genauso wertvollen Beitrag leisten wie die reichen, die sich in verschiedenen jiddischistischen Institutionen betätigen. In der Erzählung „Khane-Merke fun di fish“, die als Fortsetzung der oben genannten Erzählung betrachtet werden kann, weckt Karpinovitsh bei der Fischverkäuferin Khane-Merke selber das Interesse an den jiddischen Ausdrücken. Dass Vilne dabei der geeignete Ort ist, um nach sprachlichen Kostbarkeiten zu suchen, ist auch den Jüdinnen vom fishmark klar: „Vayl Vilne iz a shtot, mit kloles [Flüche], mit glaykhvertlekh [Witzeleien], mit meshugoim. 42 43 44 45
Minczeles: Vilna, Wilno, Vilnius, S. 293. Karpinovitsh: 1/4, S. 69. Ebd. Ebd.: 1/4, S. 74.
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(…) S’iz do fun vos tsu nemen far aza institut.“ 46 Bemerkenswert an dieser Erzählung ist, dass die einfache Fischhändlerin Chane-Merke nach anfänglichen Zweifeln selber zur Sammlerin avanciert. Rubinsteins frühere Ermahnungen, man müsse die sprachlichen Schätze des Volkes bewahren, sind auch bei Khane-Merke auf Gehör gestoßen: „Tsu ersht hot zi gekvetsht mit di akslen, tsu vos darf men dos; ober bislekhvays, bislekhvays hot zi ongehoybn farshteyn, az take ozoy – s’veln fargesn vern ale kloles, ale zidlerayen [Flüche], di shpitsike vertlekh, zogekhtsn. In yorn arum vet men meynen, az dos lebn in Vilne iz gegangen oyf trunk, on a vitz, on a stekh-vertl, vi es voltn gor nit geven in Vilne keyn khoykhes [Altkleiderhändler], di vos shlepn kundn fun gas in di kromen, oder keyn bobesnitses [Kartoffelverkäuferinnen], velkhe farkoyfn gekokhte bobes mit a vertl un mit a nign [Melodie], oder afilu di fish-hendlerkes fun zaretsher mark.“ 47
Überzeugt von der Wichtigkeit dieser Aufgabe wagt die Fischverkäuferin den Gang zum ehrwürdigen YIVO, wo sie von Max Weinreich freundlich empfangen wird. Anhand dieses Zusammentreffens zeigt Karpinovitsh die von Weinreich vertretene Auffassung von Wissenschaft und Gesellschaft: „Er hot in ir gezen a bashtetikung fun zany teorye, az visnshaft on dos folk iz keyn groshn nit vert.“ 48 So ermuntert Weinreich die Fischverkäuferin, ihm weiteres Material zu bringen – dies sei so viel wert wie Gold und Brillanten. Mit Eifer macht sich Khane-Merke deshalb daran, Listen zusammenzustellen, die Flüche wie die folgenden enthalten: „[A] shtroy dir in oyg un a shpon dir in oyer [Ohr], un zolst nit visn vos frier aroystsutsien“; „a fish-kneydl zol zikh dir shteln in haldz“, oder „vaksn zolstu vi a tsibele – mitn kop in dr’erd“. 49 Bezüglich der hier von Karpinovitsh positiv beschriebenen Zusammenarbeit zwischen dem wissenschaftlichen Institut und den einfachen Juden findet sich nur am Rande eine Kritik, die von Chane-Merke selbst geäußert wird. Bereits etwas heimisch in dem großen Haus des YIVO gesteht sich Chane-Merke ein, dass sie auch gerne im Institut arbeiten möchte. Dieser Wunsch wird von ihr aber schnell als nicht realisierbar verdrängt – sie sei selbst nicht so ge-
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Karpinovitsh: 4/7, S. 106. Ebd.: 4/7, S. 107. Ebd., S. 108. Ebd., S. 109. In einer anderen Erzählung Karpinovitshs stellt der einstmals der jüdischen Unterwelt angehörige Schriftsteller Orke Nakhalnik Listen mit Begriffen und Ausdrücken aus der jüdischen Unterwelt für Max Weinreich zusammen. Karpinovitsh: 5/4, S. 60.
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bildet wie die jungen Leute, die als Aspiranten im Namen der Wissenschaft forschten und müsse deshalb bei ihren Fischkörben bleiben. 50 Die Gedanken Chane-Merkes verweisen auf die bestehenden Hierarchien innerhalb des YIVO und zeigen, dass die angestrebte Volksnähe der bedeutendsten säkularen Bildungs- und Forschungsinstitution in der Praxis nur bedingt umzusetzen war. Als einzige jiddischistische Institution findet sich in Grades Texten das mit dem YIVO assoziierte Historische Museum der historish-etnografishe gezelshaft. Dieses wurde noch vor dem Ersten Weltkrieg mit wenigen Mitteln durch die rund 150 Mitglieder der von Ansky gegründeten Gesellschaft ins Leben gerufen. Ausgestellt wurden rituelle Gegenstände, Gegenstände des Alltags, Skulpturen, Gemälde, Stickereien, Schnitzereien und Metallarbeiten. Eine Bibliothek mit seltenen Büchern gehörte ebenfalls zum Museum. Nach seiner fast vollständigen Zerstörung während des Krieges wurde es erneut aufgebaut und nannte sich nach Tod von Ansky im Jahr 1920 zusätzlich nach seinem Namen. In der Zwischenkriegszeit umfasste das Museum eine reiche Sammlung von Manuskripten, Briefen, Pinkasim, Fotografien sowie antiken Büchern. Berühmt waren die Skulpturen des jüdischen Bildhauers Mark Antokolski und die Gemälde von Repin, Gottlieb und Horwits. Zu den volkskundlichen Gegenständen zählten alte, goldbestickte Toravorhänge und Torahüllen, Jarmulken, Streimel, verschiedene historische Kleidungsstücke, Chanukkaleuchter, Menoras, silberne Kerzenleuchter sowie Schreibutensilien bekannter jiddischer Schriftsteller. 1935 ging das Museum an die jüdische Gemeinde über. 51 Laut Grade wurde das Museum häufig von auswärtigen Besuchern sowie von Lehrern jiddisch-weltlicher Schulen mit ihren Klassen besucht, die die Schätze der jüdischen Vergangenheit bestaunen wollten. 52 Mit welchen Arbeiten sich der Verwalter des Museums, Lehrer Kleynimus, und sein Mitarbeiter bis tief in die Nacht beschäftigten, schildert der Autor im Folgenden: „[E]r [Kleynimus, S. St.] iz gezesn bay a groysn tish, farvalgert [bedeckt] mit arkhivpapirn, un geleynt an altn pinkes [Protokollbuch, Aufzeichnungen] fun a shtetlshe kehile. (…) In tsveyter ek fun zal iz gezesn Meir Makhtey un ibergeshribn a sher-blat [Titelblatt] fun a fartsaytikn seyfer [religiöses Buch]. Er hot tsunoyfgeshtelt a kartotek
50 Karpinovitsh: 4/7, S. 113. 51 A. Y. Goldshmidt: Di vilner historish-etnografishe gezelshaft [he’g] un ir muzey. In: Vilner almanakh. Hg. von A. Y. Grodzenski. Vilne 1939 [Reprint: Vilna Almanac. Hg. von Isaac Kowalski. Brooklyn, N.Y. 1992], Spalte 189–194; Gottesman: Defining the Yiddish Nation, S. 75. 52 Grade: Der shtumer minyan, S. 161, 163.
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fun manuskriptn un bikher, yekar-hamtsies [Raritäten], vos der muzey farmogt [besitzen].“ 53
Die Beschäftigung mit der jüdischen Vergangenheit wird von Kleynimus einerseits positiv bewertet: Er versteht sich als Wächter der jüdischen Volkskunst, die seiner Meinung nach den flammenden Geist der Kunst und die Geschichte seines Volkes in sich trägt. Andererseits kommen dem Verwalter trotz seines Interesses an den jüdischen Altertümlichkeiten während der späten Abendstunden Zweifel an der Arbeit des Museums: „Tsu vos darf er visn di minhogim [Gebräuche], di umglikn un di kines [Klagen] fun oysgeshtorbene oder umgebrakhte yidishe shtetlekh?“54 Kleynimus fragt hier nach dem Nutzen des Wissens über die jüdischen Altertümer und kritisiert damit den in die Vergangenheit gerichteten Blick der Jiddischisten. Hinter dieser skeptischen Haltung gegenüber der Arbeit des Historischen Museums der historish-etnografishe gezelshaft scheint die pessimistische Stimme Grades zu erklingen, der aus der Perspektive der Gegenwart mit „umgebrakhte yidishe shtetlekh“ auch sein Vilne der Zwischenkriegszeit meinen könnte und sich nach dem grundsätzlichen Sinn und Zweck seiner eigenen Erinnerungen fragt. Ungeachtet Grades Erwähnung des Historischen Museums ist es erstaunlich, dass der Autor die bedeutendste jiddischistische Institution Vilnes in all seinen Texten mit keinem einzigen Wort erwähnt. Als einem prominenten Vertreter der jiddischen Kultur zwischen den beiden Weltkriegen war ihm das YIVO sicherlich bekannt. Hier stellt sich die Frage nach der Absicht des Autors. Kritisiert er auf diese Weise die bereits von Karpinovitsh in Frage gestellte „Volksnähe“ des Instituts oder versucht er, durch die Nicht-Erwähnung des YIVO auszudrücken, dass in der Welt der einfachen Jüdinnen und Juden, in der Menschen wie seine Mutter mit dem alltäglichen Überlebenskampf beschäftigt waren, Sorgen um die „untergegangenen Schtetl“ und dergleichen keinen Platz hatten? Die wichtige Rolle, die die jiddische Sprache und Kultur in Vilne in der Zwischenkriegszeit gespielt hatten, spiegelt sich nur bedingt in den Texten von Grade und Karpinovitsh. Abgesehen davon, dass beide Autoren ihre Texte in ihrer Muttersprache Jiddisch verfasst haben, wird die Sprache als solche nur von Karpinovitsh direkt thematisiert. Dabei zeigt er, dass das Jiddische nicht nur die Kommunikationssprache des gesamten Vilner Judentums war, sondern teilweise auch von den im jüdischen Viertel lebenden Nichtjuden gesprochen 53 Ebd., S. 157. 54 Ebd., S. 163, Zitat S. 211.
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wurde – eine Tatsache, die sich in gewöhnlichen Gesprächen, aber auch in Flüchen äußerte. Auch das yidisher visnshaftlekher institut, YIVO, findet sich ausschließlich in den Texten von Karpinovitsh wieder. Mit Blick auf diese Institution schildert der Autor die Arbeit der Sammler, die die jiddische Volkssprache für die Zukunft bewahren wollen. Während Karpinovitsh die Arbeit des YIVO und dessen Sammler relativ unkritisch beleuchtet und nicht in Frage stellt, äußert Grade in seiner Beschreibung des Historisch-Ethnografischen Museums und dessen Arbeit mit jüdischen Altertümern gewisse Zweifel am Nutzen der Beschäftigung mit der Vergangenheit. Auffallend ist auch, dass Karpinovitsh im Gegensatz zu Grade die Bedeutung der einfachen Juden hinsichtlich der Entfaltung der jiddischen Kultur mehr hervorhebt und würdigt. Die unterschiedliche Bewertung jiddischistischer Institutionen lässt sich mit dem grundsätzlich unterschiedlichen Blick beider Autoren auf das jüdische Vilne erklären. Grade, der die Auseinandersetzungen im religiösen Bereich in den Vordergrund seines Erzählens stellt, findet nur am Rande Platz für die Erwähnung jüdisch-weltlicher Institutionen. Karpinovitsh hingegen beschreibt ein viel weltlicheres Judentum und thematisiert aus diesem Grund dessen kulturelle Errungenschaften in größerem Maße. Anhand dieser divergierenden Wertschätzung weltlich-jüdischer Kulturleistung wird sichtbar, wie aufgrund biographischer Unterschiede die kulturelle Ausrichtung des Vilner Judentums von beiden Autoren unterschiedlich gewichtet und erinnert wird.
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Spuren jiddischer Kultur im Alltag der Vilner Juden
Neben dem yidisher visnshaftlekher institut, YIVO, das als die Vorzeigeinstitution der säkularen jiddischen Kulturbewegung galt, gab es in der Zwischenkriegszeit drei weitere Institutionen, die zu den Grundpfeilern des Jiddischismus zählten und im Alltag der Vilner Juden ihre Spuren hinterließen. Es waren dies die jiddische Presse, das jiddische Theater und das jiddisch-weltliche Schulwesen.
Die jiddisch-weltliche Schule Moderne jiddischsprachige Schulen entstanden in Osteuropa erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Bis dahin gab es den traditionellen jiddischsprachigen Cheder und die Talmud-Tora-Schule oder die von den Maskilim propagierten, staatlich geförderten russischsprachigen Schulen. Die ersten jiddisch-weltlichen Schulen entstanden kurz vor und während des Ersten Weltkriegs spontan in einigen jüdischen Metropolen Osteuropas. Sie operierten teilweise im Geheimen und wurden oft durch die Besatzungsbehörden wieder geschlossen. Der Beschluss, eigene Elementarschulen zu gründen, fiel in der Czernowiczer Konferenz im Jahr 1908. Bereits ein Jahr zuvor gab es in Vilne eine Versammlung jiddischer Lehrpersonen, deren Teilnehmer von der Polizei verhaftet wurden. Nach dem Ersten Weltkrieg schlossen sich in Vilne ein Dutzend jiddisch-weltliche Schulen zusammen und gründeten im Jahr 1919 das tsentraler bildungskomitet (ZBK), dem verschiedene Vilner Persönlichkeiten, wie der Ethnologe Semyon Akimovich Ansky, der Sprachwissenschaftler Max Weinreich 1 und der Lexikologe Zalmen Reyzen 2 angehörten. Das Komitee hatte zum Ziel, das jiddisch-weltliche Schulwesen zu verteidigen. Dafür sollten ein einheitliches pädagogisches Programm und ein gemeinsames Lehrmaterial erarbeitet sowie geeignetes Lehrpersonal ausgebildet werden. 1925 gehörten dem ZBK
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Für Angaben zur Person siehe S. 230 FN 12. Für Angaben zur Person siehe S. 230 FN 11.
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bereits drei Kindergärten, 21 Primarschulen, vier Gymnasien und ein Lehrerseminar an. 3 Auf dem ersten Kongress der jiddisch-weltlichen Schulen Polens, der 1921 in Warschau stattfand, formierte sich die tsentral yidishe shul organisatsie (CISHO), der sich auch das Vilner ZBK anschloss. All diesen Schulen war ihr fortschrittlicher Charakter gemeinsam: „TSISHO schools were pioneers in introducing progressive educational ideas and practices, such as coeducation, physical education, nonfrontal learning through activity (arts and crafts, music, science experiments, and excursions), student governance, parent committees, and attention to education al and developmental psychology.“ 4
Im nationalen Vergleich zählten die jiddisch-weltlichen Erziehungsinstitutionen Vilnes zu den modernsten und bedeutendsten des Landes. In einem 1939 veröffentlichten Artikel über das jiddisch-weltliche Schulwesen in Vilne schreibt Shloyme Bastomski: „Vilne iz dos vigele fun der yidishveltlekher shul.“ 5 Nirgendwo sonst gebe es ein so verwurzeltes jiddisch-weltliches Schulsystem wie in Vilne. Hier seien die erste Terminologie für verschiedene Gegenstände auf Jiddisch aufgestellt, das erste jiddische Kinderjournal herausgegeben, das erste jiddische Lehrprogramm für die Schulen zusammengestellt, die erste jiddische Mittelschule errichtet, das erste jiddische Lehrerseminar eröffnet und das einzige jiddische Technikum von ORT gegründet worden. All diese Errungenschaften berechtigten nach Bastomski Vilne dazu, den Namen „Yerushalayim d’yidish“ zu tragen. 6 In den Augen vieler Jiddischisten gebührte den jiddischen Bildungsinstitutionen der Ruhm, den zuvor die religiösen Institutionen für sich hatten beanspruchen können: „The Yiddish secular schools and YIVO were, in their view, the contemporary version of the yeshivas and kloyzn for which Vilna had been
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Minczeles: Vilna, Wilno, Vilnius, S. 260–263. Damit reichte das jiddische Bildungswesen mit der Eröffnung des YIVO im Jahr 1925 vom Kindergarten bis zur wissenschaftlichen Hochschule. Ariel Sion: Séculier et religieux: le paysage scolaire. In: Lituanie juive 1918–1940. Message d’un monde englouti. Hg. von Yves Plasseraud und Henri Minczeles. Paris 1996, S. 122–141, hier S. 130. Fishman: The Rise of Modern Yiddish Culture, S. 92. Shloyme Bastomski: Der yidish-veltlekher shulvezn in Vilne. In: Vilner almanakh. Hg. von A. Y. Grodzenski. Vilne 1939 [Reprint: Vilna Almanac. Hg. von Isaac Kowalski. Brooklyn, N.Y. 1992], Spalte 197–212, hier Spalte 198. Ebd., Spalte 197–198.
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renowned in the past.“ 7 Aus diesem Grund negierte die jiddisch-weltliche Schule das Erbe des traditionellen Judentums nicht, sondern wusste dieses in ihr eigenes Selbstverständnis zu integrieren: „Bible could be recast as ancient Jewish history, Midrash and Agadah could be considered folk literature, the holidays and their rituals were national customs, Hasidic tales were folklore. Even the Vilna Gaon (…) could be appropriated by some Yiddishists as a folk hero.“ 8
Die Texte von Grade und Karpinovitsh geben vereinzelt und in unterschiedlichem Maße Einblick in das jiddisch-weltliche Schulwesen Vilnes. Grade thematisiert dieses ausschließlich in seinem Roman „Der shtumer minyan“. Darin finden sich die Lehrerin Peye und ihr Vater Henokh Bengis, die beide leidenschaftliche Verfechter der jiddisch-weltlichen Schule sind. Den Charakter dieser Schulen erklärt der Tischler Bengis seinen Nachbarn in Peseles hoyf wie folgt: „Yo, ot dos lernen mir mit ayere kinder, tantsn un zingen lidlekh, oyser ale andere limudim [Schulfächer], vos a mentsh darf kenen in leben. Farshteyt zikh, khumesh [Pentateuch] mit Rashe [Kommentar von Raschi aus dem 11. Jh.] lernen mir nit mit di meydlekh un afilu nit mit di yinglekh. Anshtot khumesh mit Rashe firn mir di kinder shpatsirn, zey zoln zen vi es vaksn blumen.“ 9
Hier wird ersichtlich, dass die Lerninhalte der jiddisch-weltlichen Schulen sich deutlich von denjenigen der religiösen Schulen unterschieden. Anstelle der herkömmlichen Bildungsinhalte wurde den Kindern an den modernen Schulen auch Wissen vermittelt, das bis dahin vernachlässigt wurde. Bengis’ Tochter Peye etwa unterrichtet die Kinder im Tanzen und Singen. Darüber hinaus führt sie sie auf langen Spaziergängen hinaus aus der Stadt, in die Wälder und auf die Wiesen. Bengis, der seine ganze Freizeit genauso wie seine Tochter in der jiddischweltlichen Schule verbringt, indem er dort die Tische und Bänke repariert, versteht „seine“ Schule vor allem als Gegensatz zum traditionellen Cheder, den er aus eigener Erfahrung kennt: „Mir shlogn nit keyn kinder. Undzer shul iz nit keyn kheyder un di khaverte [Genossin] Peye iz nit keyn melamed mit a kantshik [Peitsche].“ 10 Das Ziel der jiddisch-weltlichen Schule sei es, aus den Kindern selbständige Erwachsene zu machen: 7 8 9 10
Kuznitz: On the Jewish Street, S. 83. Fishman: The Rise of Modern Yiddish Culture, S. IX. Grade: Der shtumer minyan, S. 102. Ebd., S. 101.
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Spuren jiddischer Kultur im Alltag der Vilner Juden „Un derfar vos mir helfn undzere shilers tsu zayn kinder in zeyer kindershn elter [Alter], veln zey zayn dervaksn in di dervaksene yorn. Ober der fartsaytiker kheyder hot di kinder getsvungen zikh oyftsufirn vi alte layt, deriber zaynen oykh di alte layt geblibn umbaholfene kinder.“ 11
Hier zeigt sich nachdrücklich, wie sehr sich das traditionelle und das jiddischweltliche Schulsystem voneinander unterschieden. Während der traditionelle Cheder nicht vor Gewaltanwendung zurückschreckte und seine Schüler zu gehorsamen Mitgliedern der traditionellen jüdischen Gesellschaft heranziehen wollte, standen bei den modernen Schulen die individuellen Bedürfnisse der Kinder und deren Fähigkeit, später eigenständig zu entscheiden, im Mittelpunkt. Gerade diese Aussicht auf ein selbständiges Leben ist es, mit der Bengis einen Schüler der Rameyles Jeschiwa zu einem Wechsel auf eine jiddisch-weltliche Schule zu verlocken hofft: „Loz iber [verlassen] di kloyzn, di yeshive un gey lernen in a yidishe shul, vi a sakh [viele] andere oreme kinder fun undzer gas, vet dir freylekh zayn itst un du vest visn, vi tsu leben shpeter.“ 12 Die Schülerzahlen in den jiddisch-weltlichen Schulen waren in den 1930er Jahren sehr hoch. 13 Die fast leerstehende Klause in Peseles hoyf ist deshalb für Bengis ein Dorn im Auge – er wünscht sich eine sinnvollere Nutzung des Gebäudes: „Men zol fun beyde helftn kloyz, far manslayt un vayber, iberboyen a yidish-veltlekhe shul. Far vos epes zoln in Vilne zayn hundert mit tsen kloyzn far batlonim [nichtsnutze Leute] un undzer yingerer dor [Generation] zol zikh shtikn [ersticken] in enge shul-binyonim [Gebäude]?“ 14
Bezeichnend für die jiddisch-weltliche Schule war ihr großes Engagement auch außerhalb des offiziellen Lehrplans. „Le CBK, à l’instar de CYSZO, voulait ouvrir l’enfant et l’adulte à une sociabilité nouvelle et mettait à sa disposition diverses activités didactiques, souvent héritées d’une idéologie socialisante.“ 15 Dazu gehörten die Versorgung der Kinder mit einem Frühstück und einem Mittagessen und deren gesundheitliches Wohlbefinden. Insbesondere letzteres versäumt zu haben, wirft Bengis dem Cheder vor: „Zey bazorgn a kind mit
11 Ebd., S. 102 f. 12 Ebd., S. 150. 13 In einer Klasse der Grundstufe saßen durchschnittlich 43 bis 45 Kinder und in den höheren jiddischen Schulen sogar 57 bis 65. Minczeles: Vilna, Wilno, Vilnius, S. 268. 14 Grade: Der shtumer minyan, S. 102. 15 Sion: Séculier et religieux, S. 132.
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tsitses [Zizit], mit a siderl [Gebetbuch für den Alltag] un a yarmulke, nor zey zorgn zikh nit, er zol hobn a reyn kepl un gezunte oygn.“ 16 Genauso wichtig wie die Betreuung der Kinder an den schulfreien Nachmittagen war diese in den Ferien. Sie sollten sich nicht in den engen und schmutzigen Straßen des jüdischen Viertels herumtreiben, sondern draußen in der Natur spielen. Aus diesem Grund organisierten die jiddisch-weltlichen Schulen „Sommerkolonien“ in der nahen Umgebung von Vilne. Besondere Beachtung wurde dabei der körperlichen Gesundheit der Kinder geschenkt, wie den Worten von Bengis zu entnehmen ist: „[A]z oyf zumer vet men di apgeshvakhte kinder fun khaverte [Kameradin] Peyes shul shikn in a kolonye oyf yener zayt vilye, in Verek. Zeyere lungen zoln otemen frishe luft, zeyere oysgebleykte beklekh zoln krign farb. Di yidishe shul iz nit der kheyder; oyser farn gayst, zorgt di yidishe shul oykh farn gezunt fun di kinder. Er un khaverte Peye veln nit derlozn [zulassen], az di shilers un shilerins zoln zumertsayt zikh volgern [herumtreiben] in di oysgetriknte rinshtokn [Rinnsteine] oder krikhn oyfn shulhoyf in di tunen [Fässer] mit gele sheymes [Blätter eines religiösen Buches] fun alte tseflikte sforim [Bücher].“ 17
Anders als bei Grade werden in Karpinovitshs Erzählungen zwei bestimmte jiddisch-weltliche Schulen namentlich benannt. Eine der beiden ist die Deborah Kuperstein-Schule, eine reine Mädchenschule, die 1912 als russischsprachige Schule gegründet wurde und 1920 zur jiddischen Unterrichtssprache wechselte. Die Kuperstein-Schule war maßgeblich am Aufbau des jiddischweltlichen Schulwesens beteiligt, dem ihre Gründerin, Dveyre Kupershteyn (1854–1939), ihr ganzes Leben widmete. Im Schuljahr 1929/30 besuchten 305 Schülerinnen die Schule. 18 Zu den Schülerinnen, die einst die Kuperstein-Schule besuchten, gehört Chane-Merke, die Fischverkäuferin. Von den einfachen Frauen auf dem Fischmarkt grenzt sich Chane-Merke deshalb etwas ab – sie sei „keyn poyerte fun dorf“. 19 Grund für diese positive Selbsteinschätzung ist die elementare Bildung, die sie in der jiddisch-weltlichen Schule erhalten hat: „Vi nit hot zi bavizn durkhgeyn a por klasn in der folks-shul far meydlekh oyfn nomen fun Dvora Kupershteyn. Der lerer Gershon Pludermakher hot ir tsugevoynt [beibringen] haltn a feder in hant.“ 20 Dass die Lehrpersonen der Kuperstein-Schu16 17 18 19 20
Grade: Der shtumer minyan, S. 146. Ebd., S. 102. Katz: Lithuanian Jewish Culture, S. 278. Karpinovitsh: 4/7, S. 107. Ebd.
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le sich um ihre Schützlinge bemühten und sie zu einem möglichst selbständigen Leben führen wollten, zeigt das Beispiel der Lehrerin Mire Bernstein, die einer Schulabgängerin den Rat gibt, sich bei der Organisation hilf durkh arbet zu melden und dort eine Ausbildung zur Schneiderin zu machen. 21 Die zweite von Karpinovitsh genannte Bildungsinstitution ist das jüdische Realgymnasium auf der rudnitsker gas 6. Die Schule wurde 1918 gegründet und war der ganze Stolz des CBK. Sie verfügte über eine naturwissenschaftliche und eine humanistische Abteilung. Hervorragende Lehrpersonen wie Moshe Kulbak und Zalmen Reyzen unterrichteten hier. Zur Attraktivität dieser Schule trugen das Angebot verschiedener Sportgruppen, ein hauseigenes Bulletin und ein modernes Physiklabor bei. Um den Erfolg der Schule war zusätzlich die Gesellschaft „fraynd fun der yidisher gimnasye“ bemüht. 22 Karpinovitsh, der als Jugendlicher selbst das jüdische Realgymnasium besucht hatte, erwähnt dieses in mehreren seiner Erzählungen. So nennt er beispielsweise Moshe Kulbak, den bekannten Dichter, der dort als Lehrer die Jugendlichen im Fach Literatur unterrichtet hatte. 23 Zum ausgezeichneten Ruf der Schule trugen auch die dort stattfindenden Theateraufführungen bei, wie etwa Shakespeares „Shylock“. 24 Bekannt waren darüber hinaus die Tanzveranstaltungen und das gemeinsame Liedersingen, die jeweils freitagabends in der Schule organisiert wurden. 25 Der Chor der Schule, der von Lehrer Jakob Gerstein – dem Karpinovitsh eigens eine Erzählung widmete – 1932 gegründet und geleitet wurde, war in der ganzen Stadt berühmt. 26 Der Schulunterricht an den jiddisch-weltlichen Schulen war kostenpflichtig. Trotzdem besuchten Kinder aus allen sozialen Schichten diese Schulen. 27 Ermöglicht wurde dies durch die Anpassung der Schulgebühren an das Einkommen der Eltern. Dies galt allerdings nur für die Elementarschulen und nicht für die weiterführenden Schulen. Eine Folge davon war, dass die Mittel21 22 23 24 25 26
Karpinovitsh: 3/9, S. 126. Minczeles: Vilna, Wilno, Vilnius, S. 268. Karpinovitsh: 5/8, S. 118, 120. Ders.: 5/2, S. 25. Ders.: 4/1, S. 20; ders.: 5/8, S. 121. Y. Gershteyn: Der Gershteyn khor. In: Vilner almanakh. Hg. von A. Y. Grodzenski. Vilne 1939 [Reprint: Vilna Almanac. Hg. von Isaac Kowalski. Brooklyn, N.Y. 1992], Spalte 229–234; Karpinovitsh: 4/2, S. 32. 27 Minczeles nennt für das Jahr 1933 bezüglich der sozialen Herkunft der Kinder folgende Zahlen: „[L]e CBK, en 1933, groupait 2200 écoliers dont 25 % d’enfants d’ouvriers, 8 % d’employés, 35 % d’artisans, 18 % de petits commerçants, 4 % des professions agricoles et 10 % de chômeurs, déclassés et divers.“ Ders.: Vilna, Wilno, Vilnius, S. 267.
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schulen eher von Kindern wohlhabender Eltern besucht wurden. Dieser Umstand zeigt sich in einer von Karpinovitshs Erzählungen. Darin schildert der Autor, wie der Vater eines Jungen – ein Schauspieler des jiddischen Theaters, der seit Wochen ohne Auftritt und deshalb ohne Einkommen ist – zum Verwalter des jüdischen Realgymnasiums gerufen wird, da er das Schulgeld seines Sohnes seit längerer Zeit nicht bezahlt hat. Dieser erklärt ihm, dass er seinen Sohn von der Schule nehmen müsse, falls er weiter nicht bezahlen könne, denn auch die Kassen der Schule seien fast leer und die Lehrer seit Monaten ohne Lohn. 28 Auffallend an dieser Schilderung Karpinovitshs ist, dass der Autor den drohenden Schulverweis aufgrund der unterlassenen Zahlung des Schulgeldes nicht kritisiert, sondern den Rektor genauso wie den Vater des Schülers als Opfer der allgemeinen wirtschaftlichen Lage darstellt. Dass die jiddisch-weltlichen Schulen häufig von Kindern des jüdischen Bürgertums besucht wurden, bestätigen die Memoiren einzelner Vilner Jüdinnen. So hebt etwa Esther Hautzig das jüdische Realgymnasium hervor, welches bereits ihre Mutter besucht hatte: „My mother graduated with the first class of that gymnasium, a landmark in the history of educating young people in Yiddish.“ 29 Die Autorin selbst besuchte zuvor eine andere jiddisch-weltliche Schule. Hierbei wird aus den Worten Hautzigs auch ersichtlich, dass besonders die Elementarschulen Orte waren, an denen Kinder aus verschiedenen sozialen Schichten zusammenfanden: „Every subject in Sofia Markova Gurewicz Elementary School was taught in Yiddish, and many of its children came from homes with means smaller than ours.“ 30 Die jiddisch-weltlichen Schulen hatten insgesamt einen schweren Stand. Die Rabbiner riefen zum Boykott dieser Schulen auf, da durch sie die Kinder vom traditionellen Judentum weggeführt würden, und von staatlicher Seite wurde ihnen vorgeworfen, „Revolutionäre“ heranzuziehen. Viele der Schulen erhielten keinerlei staatliche Unterstützung und wurden erst Jahre nach ihrer Gründung rechtlich anerkannt. Die Matura des jüdischen Realgymnasiums beispielsweise wurde erst ab dem Schuljahr 1933/34 mit der Matura eines polnischen Gymnasiums gleichgesetzt, welche zum Studium an der Universität berechtigte. 31 Trotzdem besuchten nach Angaben von Kahan in der Zwischen28 29 30 31
Karpinovitsh: 5/2, S. 21; ders.: 5/8, S. 130. Hautzig: Remember who you are, S. 50. Ebd., S. 215. Minczeles: Vilna, Wilno, Vilnius, S. 263; David E. Fishman: The Rise of Modern Yiddish Culture, Pittsburgh 2005, S. 92; Bastomski: Der yidish-veltlekher shulvezn, Spalte 204.
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kriegszeit von 8600 Kindern 2700 jiddisch-weltliche Schulen, 2600 polnischsprachige Schulen, 2300 religiöse Schulen und 900 die säkularen hebräischen Schulen von Tarbut. 32 Das jiddisch-weltliche Schulwesen nimmt im Werk von Grade und Karpinovitsh eine eher bescheidene Stellung ein. Grade thematisiert dieses anhand weniger Kapitel in einem einzigen Roman. Dabei schildert er detailliert die jiddisch-weltliche Schule aus der Perspektive einer Lehrerin und ihres Vaters. Darin werden die Vorzüge und Besonderheiten der modernen jiddischen Schule hervorgehoben und im Gegensatz dazu die negativen Seiten des traditionellen jüdischen Schultypus, des Cheder, aufgezeichnet. Im Leben der beiden Verfechter des jiddisch-weltlichen Schulwesens nimmt die Schule auch in der Freizeit eine bedeutende Stellung ein – ein Umstand, der die Vermutung aufkommen lässt, dass das Engagement weltlicher Juden in der jiddischistischen Bewegung als eine Art Ersatz für den Verlust der traditionellen jüdischen Kultur betrachtet werden kann. Karpinovitsh wiederum erwähnt zwei bestimmte Institutionen des jiddisch-weltlichen Schulwesens, über die er aber nur wenige Informationen liefert. Sein Blick richtet sich dabei auf die Vorzeigeinstitution des jiddisch-weltlichen Schulwesens, das jüdische Realgymnasium. In seinen Schilderungen nennt er stadtbekannte Persönlichkeiten, die mit dieser Institution verbunden waren. Die Bildungsinhalte der jiddisch-weltlichen Schulen werden dem Leser am Beispiel des jüdischen Realgymnasiums allerdings nicht wirklich nähergebracht. Einzig – und dies im Gegensatz zu Grade – geht der Autor auf den finanziellen Aspekt der jiddisch-weltlichen Schulen ein, indem er die Sorgen eines zahlungsunfähigen Vaters schildert.
Das jiddische Theater Eine weitere bedeutende kulturelle jiddische Institution der Zwischenkriegszeit war das jiddische Theater, dessen Wurzeln auf die Purimspiele, die in den aschkenasischen Gemeinden seit dem 16. Jahrhundert im religiösen Kontext des jüdischen Feiertags Purim 33 aufgeführt wurden, zurückgehen. An diesem einen 32 Kahan: Vilna, S. 157. 33 An Purim wird einer Begebenheit aus der jüdischen Geschichte gedacht, die zeitlich in der jüdischen Diaspora spielt und als Thema den Sieg der Juden über ihre Feinde hat. Das Buch Esther erzählt von den Plänen Hamans, einem Vertrauten des per-
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Tag, an dem das sonst als blasphemisch und gefährlich erachtete Theaterspiel von rabbinischer Seite her erlaubt war, verkleideten sich Jeschiwastudenten oder Handwerker und schlüpften in verschiedene Rollen – darunter auch solche von Christen oder Frauen, um die Purimgeschichte oder andere biblische Geschichten, aber auch Stücke lokalen Inhalts, bei wohlhabenden Familien oder auf improvisierten Bühnen aufzuführen. 34 Erst ab dem 19. Jahrhundert fanden unter dem Einfluss der Maskilim auch Theateraufführungen im säkularen Kontext statt. Der am Rabbinerseminar von Zhitomir ausgebildete Abraham Goldfaden verfasste seit seiner Jugend Lieder und Gedichte in Jiddisch und Hebräisch. In Rumänien schrieb er seine ersten musikalischen Stücke, welche er von Schauspielern, die er selber engagiert hatte, aufführen ließ. Goldfaden und seine Truppe spielten in rumänischen Städten und führten Gastspiele in verschiedenen russischen Metropolen auf. Während dieser Zeit, als das jiddische Theater den Weg in die jüdische Gesellschaft Osteuropas fand, etablierte sich eine solide Theatertradition. „Goldfadn’s characters, less individuals than types, along with his beloved melodies, moved beyond the stage, moreover, and rooted themselves in Jewish popular consciousness.“ 35 Nach dem Verbot des jiddischen Theaters im Jahr 1883 verschwand dieses bis 1905 von den Bühnen des Russischen Reiches. Die Aufführungen der verschiedenen jiddischen Theater, die ab 1905 wieder entstanden, waren von keiner hohen Qualität und Verbindungen zur jüdischen Unterwelt ließen sich nicht bestreiten. Der Ruf nach einem „neuen“ Theater – literarisch, künstlerisch und kultiviert – wurde von führenden Jiddischisten wie Isaak Leib Perez erhoben. Eine Verbesserung des jiddischen Theaters sollte sich mit den Auftritten Ester-Rokhl Kaminskas (1870–1926) vollziehen, die sozialkritische Stücke des Dramatikers Jacob Gorodin (1853–1909) spielte. In Gorodins Melodramen besetzte die Kaminska starke Frauenrollen und sicherte sich damit die Bewunderung des jüdischen Publikums sowie die Bezeichnung „Mutter des jiddischen Theaters“. 36
sischen Königs Ahasverus, die persischen Juden auszurotten und vom Geschick der jüdischen Ehefrau des Königs, Esther, den König von den Plänen des Haman abzubringen und denselben an Stelle der Juden zu töten. 34 Michael C. Steinlauf: Jewish Theatre in Poland. In: Polin, 16 (2003) S. 71–91, hier S. 72–73. 35 Steinlauf: Jewish Theatre in Poland, S. 75–77, Zitat S. 77. 36 Ebd., S. 80–81.
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Bis zum Ersten Weltkrieg formierten sich in Osteuropa zahlreiche jiddische Amateurtheatergruppen. Eine solche Gruppe, bestehend aus jungen Schauspielern aus Vilne, erhielt 1916 von den deutschen Besatzungsbehörden die Erlaubnis, in Vilne professionell Theater zu spielen. Sie setzte sich zum Ziel, ein anspruchsvolles Theater von hohem Niveau auf die Bühne zu bringen. 1917, bereits bekannt unter dem Namen vilner trupe, zogen sie nach Warschau, wo sie 1920 mit der Aufführung von Anskys „Tsvishn tsvey veltn: der dibek“, Theatergeschichte schreiben sollten: 37 „With The Dybbuk the Vilner Trupe fulfilled Peretz’s dream and demonstrated that Yiddish theatre was capable of producing world-class art. This example laid the foundation for the development during the inter-war period of a Yiddish theatre of very high calibre.“ 38
Die Welt des jiddischen Theaters ist ein zentraler Bestandteil in Karpinovitshs Werk. Die Erzählungen „Subak“, „Der boym nebn teater“, „Di kats“, „Zikhroynes fun a farshnitener teater-velt“ sowie „Bombes kholem“ handeln ausschließlich von dem 1908 gegründeten yidisher folks-teater, dessen Direktor, Moshe Karpinovitsh, der Vater des Autors war. In seinen Texten zeigt sich das jiddische Theater als eine moderne kulturelle Institution, die von allen Juden Vilnes gerne besucht wurde: „Di gantse shtot hot gekont dos teater, vayl ale zaynen dort gegangen. Fun kleyn biz groys, fun orem biz raykh, fun oybervelt biz untervelt.“ 39 Wenn Karpinovitsh hier schreibt, dass alle Vilner Juden das jiddische Theater besucht haben, so stimmt dies jedoch nicht ganz: Fromme Juden waren im Publikum nicht anzutreffen, denn ihnen war es aus religiösen Gründen verboten, sich an einem Ort aufzuhalten, wo Frauen und Männer beisammen saßen und man sich an profanen Aufführungen erfreute. Diesbezüglich ist Orabuena Roman zu entnehmen, dass selbst die Anwesenheit von Schauspie-
37 Minczeles: Vilna, Wilno, Vilnius, S. 312; zur Geschichte der Vilner Truppe siehe auch: Zalmen Reyzen: Der yidisher teater in Vilna. In: Vilner zamelbukh. Hg. von Tsemakh Shabad. Bd. 2. Vilne 1918, S. 165–174; Zalmen Zilbertsveyg: Di „vilner trupe“. In: Vilne. A zamlbukh gevidmet der shtot Vilne. Hg. von Yefim Yeshurin. New York 1935, S. 572–590 (deutsche Übersetzung Zalmen Zilbercwaig: Die Wilner Trupe. In: Schtarker fun ajsn. Konzert- und Theaterplakate aus dem Wilnaer Ghetto, 1941–1943. Hg. von Georg Heuberger. Frankfurt am Main 2002, S. 82–98. 38 Steinlauf: Jewish Theatre in Poland, S. 83. 39 Karpinovitsh: 2/7, S. 116.
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lern in der Stadt für die frommen Juden eine Beunruhigung darstellte, denn: „Theater ist Lust, und Lust ist des frommen Juden Sache nicht.“ 40 Wie außergewöhnlich ein Theaterbesuch für einen gläubigen Juden war, zeigt sich anhand des Vorstehers der groyse shul, Reb Chaim Gordon, dem Nachbarn und Freund von Familie Karpinovitsh, welcher vom Vater des Autors dazu überredet wird, sich einmal in seinem Leben eine Vorstellung im Theater anzusehen: „Hot er im ayngeredt tsu geyn zen di forshtelung der dibuk. Biz s’iz gevorn tunkl in zal, hot er take gehaltn zayn gast in a zaytikn tsimer. Ven der forhang hot zikh oyfgehoybn, iz R’Khaym Gordon shtil arayn in zal, un zikh untergezetst oyf a tsugegreytn [bereitgestellt] shtul hinter der letster rey.“ 41
Moshe Karpinovitshs Bemühungen, seinen Gast vor den Blicken der anderen Zuschauer zu schützen, so dass dieser „im Geheimen“ die ihm fremde Theaterwelt auf sich wirken lassen kann, verdeutlichen, dass ein frommer Jude an einem solchen Ort gewöhnlich nicht anzutreffen war. Das Urteil Reb Gordons über die Theatervorstellung fällt aber ungeachtet der rabbinischen Verurteilung des Theaters recht positiv aus: „R’Moyshe, ir veyst dokh, as ikh vel mer keynmol in teater nit gey; nor visn zolt ir, az dan … az dan hot a rege [Moment] di shkhine [göttliche Gegenwart] gerut oyf dem miropolyer zadik [Person in ‚Der Dibbuk‘]. Oyb hot ir khotsh afilu oyf eyn rege matsliekh geven [Erfolg haben] di shkhinke zol ruen oyf der bine fun ayer teater, iz … iz a yasher koyekh [gut gemacht].“ 42
Indem Karpinovitsh hier die Wertschätzung des Theaters durch Reb Gordon zeigt, plädiert er dafür, dass auch für gläubige Juden das jiddische Theater ein Ort war, der das Leben dieser Menschen bereichern konnte. Diesen Umstand verdeutlicht er nachdrücklich in folgenden Zeilen: „Vos hot a yid mit a bord un a gmore [Gemara] in hant gezukht in teater. Velkhn kholem [Traum] hot er gevolt gefinen tsvishn papirne blumen un grine bleter, aysgeshnitn fun zak-layvnt [Leinen]? (…) Blaybt iber az er hot es poshet lib gehat. Er hot lib gehat di reyd arum dem, di dervartungen, di khevre [Gruppe] fun leytsim [Spaßvögel], aktyorn – di gantse farbike teater-velt, vos kisheft [verzaubern] un shimerirt mit lemplekh fun ale kolirn [Farben].“ 43 40 José Orabuena: Groß ist deine Treue. Roman des jüdischen Wilna. Freiburg, Basel, Wien 1981, S. 460, Zitat S. 480. 41 Karpinovitsh: 4/6, S. 93. 42 Ebd., S. 94. 43 Ders.: 2/7, S. 117.
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Mit Blick auf die nichtjüdische Bevölkerung ist aus Karpinovitshs Texten zu schließen, dass diese nicht zu den Besuchern des jiddischen Theaters zählte. Der Autor schildert dieses als einen ausschließlich jüdischen Ort, der definiert ist durch die religiös-kulturelle Zugehörigkeit seiner Besucher sowie die auf der Bühne und im Theatersaal gesprochene jiddische Sprache. Allein durch die Verwendung derselben dürfte sich die Mehrheit der polnischen Bewohner von dieser kulturellen Institution nicht angesprochen gefühlt haben. Das jüdische Publikum hingegen fühlte sich im yidisher folks-teater gut aufgehoben und hatte keinerlei Berührungsängste. Dass das Theater für die Menschen keine ehrfurchteinflößende Kulturinstitution war, die in Distanz zum einfachen Publikum stand, zeigt ein Blick in den Zuschauersaal: „Der teater iz geven fol. Vayber hobn zikh gekligt aroyftsuzetsn etlekhe kinder oyf eyn shtul. Vilne hot nit gehaltn fun oysbrengekhtsn [Verschwendung]. Oykh esnvarg [Esswaren] hot men mitgebrakht, m’zol nit darfn stam [grundlos] patern [verschwenden] gelt in bufet. In zal iz geven heymish. Mentshn hobn zikh gefreyt eyne mit di andere, vi zey voltn yorn geven tsesheydt [getrennt]. Kinder, vi di veverkes [Eichhörnchen], zenen arumgelofn mit shtiker retshishnik [Buchweizen] in di hentlekh, aruntergerukt di keplekh untern forhang, zikh geshpilt in baheltenish [Verstecken]. Mames hobn geteylt petsh [Ohrfeigen], semetshkes [Sonnenblumenkerne], moytses khale [Brotstücke]. Tates [Väter] hobn zikh gekrigt iber farnumene [besetzt] pletser, ober biz s’iz tunkl gevorn, iz men durkhgekumen. Zikh ayngemoshtshet [in die Sitze zwängen], di kinder farshpart tsvishn di knien, hot oylem [Publikum] ongeshtelt oyg un oyer.“ 44
Hier wird deutlich, dass das yidisher folks-teater für die Jüdinnen und Juden Vilnes eine Art zweites Zuhause darstellte, wo nicht nur gegessen und getrunken wurde, sondern die Kinder herumtobten, die Mütter schimpften und die Väter herumstritten. Doch sich das jiddische Theater allerdings nur als eine Art erweiterten, halb privaten, halb öffentlichen Raum vorzustellen, wo lediglich einer kurzweiligen Freizeitbeschäftigung nachgegangen wurde, würde diesem Ort nicht gerecht werden, wie folgendem Beispiel zu entnehmen ist: „In a vinterdikn ovnt [Abend] iz Elinke gegangen durkh daytshe gas tsu Bunken in yatke [Metzgereigeschäft]. Zi hot im gebetn kumen helfn a bisl, m’sol kenen aroysgeyn frier. In yidishn teater hot men geshpilt ‚a harts vos benkt [erinnern]‘, un Bunke hot seher gevolt dort geyn zikh oysveynen a bisl oyf ire tsores [Sorgen].“ 45
Die Möglichkeit, für wenige Stunden in eine ganz andere Welt zu flüchten und die Sorgen des Alltags hinter sich zu lassen, war es, was das jiddische Theater zu 44 Ders.: 1/2, S. 32. 45 Ders.: 1/6, S. 116.
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einem beliebten Ort machte. Hier sah man außerdem bekannte Gesichter, tauschte Neuigkeiten aus und genoss die angespannte Atmosphäre vor dem Beginn der Vorstellung. Im jiddischen Theater wurden laut Minczeles 62 verschiedene Stücke in insgesamt 354 Vorstellungen vor einem Publikum von 141.276 Personen aufgeführt. Am beliebtesten waren Komödien, gefolgt von Dramen und anderen Unterhaltungen. Tragödien und Erzählungen wurden selten auf die Bühne des jiddischen Theaters gebracht. 46 Karpinovitsh nennt in seinen Texten mehrere Stücke, die in der Zwischenkriegszeit vorgeführt wurden, darunter Goldfadens Stücke „Shulamis“ (1889) und „Bar Kokhba“ (1883) sowie Isidore Zolatarevskys „Der yidisher Hamlet“ (Der yeshive bokher, 1899). 47 Auf der Bühne des jiddischen Theaters traten verschiedenste Künstler auf – sowohl festangestellte Schauspieler des Hauses sowie auswärtige Gastschauspieler. In den Texten von Karpinovitsh finden sich Namen wie Regine Tsunzer, Orlyuk (Aleksander Azra), Maksimov, Abraham Morevski, Shlomo Kutner, Dina Halperin, Sem Bronetski, Zigmund und Yonas Turkov, Ida Kaminski, Moshe Lipman und Aysik Samberg. Dem anscheinend eher weniger erfolgreichen Schauspieler Subak widmete Karpinovitsh sogar eine gleichnamige Erzählung. 48 Dank Karpinovitshs Nähe zum yidisher folks-teater sind seinen Texten auch Informationen zu entnehmen, die sich auf Vorgänge hinter der Bühne beziehen, welche dem gewöhnlichen Publikum verborgen blieben. So spricht der Autor etwa Konflikte an, die zwischen den Schauspielern und Regisseuren bestanden. Bei der Auswahl der Stücke und der Verteilung der Rollen beispielsweise manifestierte sich die Rivalität zwischen den beteiligten Personen: „In teater hot men zikh gerisn far di kep. Shtreytman der rezshiser hot geshrien, az di naye pyese vet oyfrudern Vilne. Aktyorn hobn tsurikgeshrien, az di pyese iz a shmate [Lumpen], nor di podloges tsu vashn. Nit keyn vitsn, nit keyn tantsl, afilu nito dort keyn plats arayntsurukn a komishe starukhe [alte Frau].“ 49
Die hier geschilderte Auseinandersetzung zwischen dem Regisseur und seinen Schauspielern dreht sich im Kern um die Frage, ob „Schund“ oder künstlerisch anspruchsvollere Stücke dem Publikum vorgeführt werden sollten. Regisseur 46 Minczeles: Vilna, Wilno, Vilnius, S. 314. 47 Karpinovitsh: 5/2, S. 27; ders.: 1/2, S. 25, 28. 48 Siehe dazu: Leksikon fun yidishn teater. Hg. von Zalmen Zilbertsveyg. 6 Bde. New York, Warschau, Mexico City 1931–1969, Bd. 5, Spalte 4014–4015. 49 Karpinovitsh: 1/2, S. 29.
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Streytman macht sich diesbezüglich für das klassische Repertoire stark und weist die leichten, sentimentalen Stücke von sich: „[M]en muz iberreysn [aufhören] mit dem shund un zikh oysdreyen mitn ponem [Gesicht] tsum besern teater.“ 50 Als Direktor des yidisher folks-teater befasste sich auch Moshe Karpinovitsh mit der Qualitätsfrage der Stücke. Gemäß seinem Sohn musste er diesbezüglich von mancher Seite Kritik einstecken: „Di taynes [Vorwürfe] zaynen, az der inteligenterer oylem [Publikum] geyt in poylishn teater, un m’darf zey optsien fun dort.“ 51 Die Reaktion von Karpinovitshs Vater auf die Vorwürfe ist, dass er die in Warschau weilende Vilner Truppe für ein Gastspiel von Shakespeares „Shaylok“ engagiert, „kedey [um] tsufridn tsu shteln di inteligentn in shtot“. 52 Hier stellt sich die Frage, ob das jiddische Theater tatsächlich sämtliche Schichten des (säkularen) Vilner Judentums angesprochen hat, wie von Karpinovitsh behauptet. Der Kritik der Intelligenz zufolge dürften vor allem Zuschauer mit weniger hohen Ansprüchen ins Theater gegangen sein – ein Umstand, der nicht nur für Vilne galt: „[T]he mainstay of Yiddish theatre, true to its origins, continued to be the Jewish working class. This audience, along with conscpicuous representatives of the Jewish underworld and the ‚slumming‘ Jewish intelligentsia, swarmed to the shund theatres.“ 53
Offizielle Gegner des „Schund-Theaters“ waren die rund 500 Mitglieder der 1928 gegründeten teater gezelshaft. Ihr Ziel war „oyftsuhoybn un farshenern dem nivo fun yidishn teater in Vilne“. 54 Auch bezüglich der Schauspieltruppen, die „Schund“ vorführten, waren die Richtlinien der Gesellschaft eindeutig: „Di teater gezelshaft hot gefirt a konsekvent oysgehaltene politik legabe [bezüglich] di shund-trupes. Zi flegt zey bakemfn oder – in bestn fal – ignorirn.“ 55 50 51 52 53 54
Ebd., S. 30. Karpinovitsh: 4/6, S. 99. Ebd. Steinlauf: Jewish Theatre in Poland, S. 85. Hirsh Mats: Di tetikeyt fun teater gezelshaft. In: Vilner almanakh. Hg. von A. Y. Grodzenski. Vilne 1939 [Reprint: Vilna Almanac. Hg. von Isaac Kowalski. Brooklyn, N.Y. 1992], Spalte 159–166, hier Spalte 159. 55 Ebd., S. 161. Bezüglich des shund wurde in der Zwischenkriegszeit auch heftig unter den jüdischen Schriftstellern diskutiert. Hierbei ging es um die Frage, ob für einen Schriftsteller die moralische Verpflichtung bestehe, seine Leserschaft mit anspruchsvollen Texten zu „erziehen“ oder ob der „vulgäre“ Geschmack der Massen bedient werden müsse. Siehe dazu: Nathan Cohen: Shund and the Tabloids: Jewish Popular
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Ebenfalls den Kampf gegen den „shund-sump“ aufgenommen hat in einer von Karpinovitshs Erzählungen Syomke Kahan, der Journalist der Zeitung tog. Darin droht dieser dem yidisher folks-teater mit vernichtender Kritik, falls ein von der Schauspielerin Regine Tsunzer vorgetragenes „unverschämtes Lied“ – das gemäß Kahans eine Gefahr für die jiddische Kultur mit ihrem Hauptsitz in Vilne darstellt – nicht aus der Vorstellung gestrichen wird. 56 Um in seinem Vorhaben auch wirklich erfolgreich zu sein, bittet Kahan seinen Freund, den Lehrer Gerstein vom jüdischen Realgymnasium, mit seiner Klasse vor das Theater zu kommen und die Kinder „Nider mitn shund!“ 57 rufen zu lassen. Abgesehen von diesen inhaltlichen Schwierigkeiten hatte das yidisher folksteater mit anhaltenden finanziellen Problemen zu kämpfen. Kapinovitshs Vater musste sein Theater mit sehr bescheidenen Mitteln und ohne staatliche Unterstützung durch harte Zeiten führen. 58 Zeitweise wurden keine Vorstellungen gegeben und die Schauspieler waren ohne Einkommen: „Der teater iz geshtanen fintster, faryesoymt [verwaist] in mitn sezon. Aktyorn hobn zikh gedreyt on a groshn, zey hobn gedrot funandertsulozn [verlassen] di trupe.“ 59 Doch trotz aller widrigen Umstände war Moshe Karpinovitsh immer zuversichtlich, was die Zukunft seines Theaters anbelangte. Bereits im Jahr 1918, als er aufgrund des Krieges das geschlossene Theater gegen den Rat seiner Schauspieler wieder öffnen wollte, verließ er sich auf seinen Grundsatz: „Yidn muzn geyn in teater, zey hobn es lib.“ 60 Die teater gezelshaft bemühte sich stets, das yidisher folks-teater so gut wie möglich zu unterstützen. Sie organisierte beispielsweise ein großes Gebäude auf der ludvisarske Nr. 4, wo früher ein Zirkus untergebracht war, und ließ dieses zu einem Theater umbauen. Darüber hinaus versuchte die Gesellschaft, Subventionen vom Staat zu erhalten. 61 Die finanziellen Schwierigkeiten, unter denen die jüdischen Schauspieler und Theaterschaffenden zu arbeiten hatten, betrafen jedoch nicht nur das yidisher folks-teater, sondern sämtliche kulturellen jiddischen Institutionen. „As a result, Yiddish dramatic theater operated on a
56 57 58 59 60 61
reading in Inter-War Poland. In: Polin, 16 (2003) S. 189–211; Ellen Kellman: Dos yidishe bukh alarmirt! Towards the History of Yiddish Reading in Inter-War Poland. In: Polin, 16 (2003) S. 213–241, bes. S. 226–227. Karpinovitsh: 2/7, S. 104. Ebd. Karpinovitsh: 4/6, S. 95. Ders.: 2/7, S. 106. Ders.: 4/6, S. 92. Mats: Di tetikeyt fun teater gezelshaft, Spalte 160; vgl. dazu Karpinovitsh: 4/6, S. 96.
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shoestring, its disorganized, discontinuous existence punctuated by intense soul-searching, recriminations, and the cry ‚Toyevoye!‘ (‚Chaos‘).“ 62 Trotz der schwierigen finanziellen Bedingungen, dem manchmal harten Konkurrenzkampf zwischen den Schauspielern und den unterschiedlichen Vorstellungen darüber, was für Stücke aufgeführt werden sollten, waren die Schauspieler und die dem Theater zugehörigen Personen doch eine Art von Familie – „a teater-mishpokhe mit krigerayen iber a role, mit kine [Eifersucht] tsulib a greserer bravo-patsheray, un mit libshaft eyner tsum andern, vi geveynlekh in a mishpokhe.“ 63 Der Zusammenhalt dieser Theatergemeinschaft zeigte sich darin, dass sich die Schauspieler in guten wie in schlechten Zeiten außerhalb ihrer Proben und Auftritte in Velvkes restauran auf der yidishe gas trafen. Diese Institution wird von Suganas wie folgt beschrieben: „À Vilnè, le café Velkeh’s, ainsi nommé d’après son propriétaire Wolfie Wolf, avec ses tables de couvent et ses ses bancs, est le rendez-vous chalereux et animé des intellectuels juifs, et le lieu de rencontre privilégié des artistes. Situé au coeur du quartier juif, au coin de la rue aux Juifs (Yiddishe Gas) et la rue Allemende (Daytche Gas), tout le monde s’y sent à l’aise. De plus, le patron se montre compréhensif envers ceux qui ne consomment pas. De temps en temps, on peut y voir les bourgeois y fêter un événement, les cocher de drotchky (fiacre) boire ‚un coup‘ et les ‚durs‘ prendre de sérieuses cuites. L’endroit ste partagé en trois salles, ce qui permet à chacun de retrouver son monde en toute tranquillité.“ 64
In den Erzählungen Karpinovitshs, die die Welt des yidisher folks-teater thematisieren, ist Velfkes restauran eine zentrale Institution. Zu Velfke auf der yidishe gas kamen Schauspieler, um auf Pump zu essen. 65 Hier traf man auch auf wohlhabendere Juden, die arme, mittellose Schauspieler und Schriftsteller in der Not unterstützten.66 Die Klientel von Velfkes restauran beschreibt Karpinovitsh wie folgt: „Dort hobn ale libhober fun yidish gegesn gebrotene kishke [Wurst] un gehakte leber. In eyn vinkl zaynen gezesn di izvoshtshikes [Fuhrmänner], balebatim [Besitzer] fun a ferd mit a drozshke tsu firn pasazshirn iber der shtot, un khoykhes [Altkleiderhändler], vos hobn zikh basheftikt mit shlepn kundn in di kromen fun fartiker kleydung, vos oyf daytsher gas. In a tsveytn vinkl zaynen gezesn aktyorn un shrayber, oykh met-
62 63 64 65 66
Steinlauf: Jewish Theatre in Poland, S. 84. Karpinovitsh: 2/7, S. 109. Suganas: Ville et „shtetl“ au quotidien, S. 86. Karpinovitsh: 2/7, S. 105. Ders.: 1/2, S. 31.
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senatn, vos hobn geholfn in a noyt, beys a shlekhtn teater-sezon, oder gor geshtelt bronfn [Alkohol] bay a teater-simkhe [Feier].“ 67
Bemerkenswert ist, dass sich der zentrale Treffpunkt der Vilner Schauspieler und Künstler im Herzen des jüdischen Viertels – dem Ort traditioneller Jüdischkeit – befand. Hier entsteht der Eindruck, als wolle Karpinovitsh sagen, dass die traditionelle sowie die moderne yidishkeyt durchaus Seite an Seite bestehen konnten und sich topographisch im städtischen Raum nicht voneinander abgrenzen mussten. Durch die Nähe von Velfkes restauran zur Lebenswelt der einfachen, vielfach frommen Juden scheint Karpinovitsh außerdem dafür zu plädieren, dass die von der Intelligenz und dem jüdischen Bürgertum propagierte moderne yidishkeyt ihre Distanz zu den jüdischen Massen überwinden müsste, um für das gesamte Vilner Judentum eine identitätsstiftende Rolle spielen zu können. In Karpinovitshs Erzählungen, welche das yidisher folks-teater thematisieren, finden sich auch Informationen, die persönliche Einblicke in das Leben von Familie Karpinovitsh erlauben. Dazu gehört beispielsweise die kritische Einstellung der Mutter gegenüber dem Theater ihres Gatten: „Di mame hat faynt gehat teater. Nit azoy teater, vi aktyorn. Zi hot gehaltn, az tsu dem fakh [Beruf ] kumen bloyz holedriges [Nichtsnutze] un foylentser, vos viln nit oyfshteyn fri tsu der arbet, vi ale mentshn. Oysrt dem hot zi getaynet [behauptet], az dos iz nit keyn fakh, vayl ale konen dos.“ 68
An einer anderen Stelle schildert Karpinovitsh, wie sein Vater kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs einen Abend zu Ehren Scholem Aleichems (1859–1916) organisiert hatte. Dabei hebt er die Bedeutung des großen jiddischen Schriftstellers im Leben des Vaters hervor: „Di gasn arum dem zol, vu der ovnt hot gedarft farkumen, iz geven shvarts fun mentshn. Der derfolg fun ot dem aroystrit [Auftritt] iz geven umgehoyer. Der tate flegt derzeyln mit groys bavunderung vegn Sholem-Aleykhems bine-talant vi a forleyener [Vorleser] fun zayne eygene verk. A postkartl, vos Sholem-Aleykhem hot geshikt dem tatn, iz gelegn in der heym vi a relikvye. Ikh bin zikher, az ven der tate iz gegangen dem letstn veg tsum umkum, hot er gehat Sholem-Aleykhems postkartl bay zikh un buzem-keshene.“ 69
67 Ders.: 4/6, S. 94. 68 Ders.: 2/7, S. 108. 69 Ders.: 4/6, S. 91 f.
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In den Texten von Karpinovitsh ist die Welt des yidisher folks-teater ein wichtiger Bestandteil. Das Bild, das Karpinovitsh von dieser Institution zeichnet, ist ein durchweg positives. Das Theater erscheint als ein Ort, der allen Vilner Juden offenstand. In der Realität besuchten dieses mehrheitlich die unteren Schichten der jüdischen Bevölkerung – darunter kinderreiche Familien und Personen der Vilner Halbwelt. Das Theater stellte für viele Menschen nicht nur einen Zeitvertreib dar, sondern war auch eine Möglichkeit, dem tristen Alltag im jüdischen Viertel zu entfliehen. Ob die vorgeführten Stücke der hohen Theaterkunst oder eher dem Bereich „Schund“ zuzuordnen waren, mochte die Mehrheit des Publikums weniger interessiert haben. Einen eindeutigen Standpunkt diesbezüglich nahmen die dem Vilner Bürgertum angehörenden Mitglieder der teater gezelshaft ein, die den „Schund“ offen bekämpften, um dadurch auch die jüdische Intelligenz ins Theater zu locken. Neben Informationen zu einzelnen Schauspielern und Stücken werden von Karpinovitsh auch die finanziellen Probleme des yidisher folks-teater und die einzelner Schauspieler angesprochen. Damit zeigt der Autor, dass die bunte, fröhliche Welt des Theaters genauso von den wirtschaftlichen Umständen tangiert wurde wie die übrige Welt des jüdischen Viertels. Insgesamt schildert Karpinovitsh die mit dem Theater verbundenen Menschen trotz kleinerer Konflikte als geschlossene, nach außen sichtbare Einheit, die sich auch außerhalb des Theaters als Gruppe präsentiert und im jüdischen Viertel, in Velfkes restauran, die Nähe zu den einfachen Juden – ihrem Kernpublikum – findet.
Die jiddische Presse Die jiddische Presse als älteste moderne jiddische Institution war in der Zwischenkriegszeit sehr beliebt. Zusammen mit den Verlagshäusern und Bibliotheken gehörte sie zu den geeignetsten Werkzeugen, um die jiddische Sprache zu verbreiten. 70 Nach dem Erscheinen der ersten jiddischen Zeitung im Jahr 1862 sowie den von Zensur geprägten 1880er und 1890er Jahren, in denen aus Angst vor revolutionären Aufrufen keine jiddische Tages- oder Wochenzeitung erlaubt wurde, erschien 1902 – als eine Art Experiment und als ein Gegengewicht zur verbotenen jiddischen Untergrundpresse des Bund – eine einzige jiddische Tageszeitung. Die Bedürfnisse und Erwartungen einer immer größer werdenden jiddischen Leserschaft sollten jedoch erst drei Jahre später, im Zuge 70 Minczeles: Vilna, Wilno, Vilnius, S. 297.
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der Revolutionswirren von 1905, befriedigt werden, als ein größeres Maß an Pressefreiheit eingeführt wurde und jiddischsprachige Zeitungen fast explosionsartig auf dem Markt erschienen.71 Mit der Gründung des Bund 1897 wurde Vilne zum Zentrum des bundistischen Journalismus. Die bis 1917 illegalen Zeitschriften, Broschüren und Flugblätter, die in einer geheimen Druckerei produziert wurden, waren in Jiddisch verfasst, um die Masse der jüdischen Arbeiter, die kein Russisch konnten, zu erreichen.72 Neben dieser verbotenen Parteiliteratur erschien in Vilne bis zum Ersten Weltkrieg eine Vielzahl (legaler) jiddischer Zeitschriften, wie literarischgesellschaftliche Zeitschriften, Gesundheits- und Familienzeitschriften, Zeitschriften für bestimmte Berufsgruppen sowie eine Kinderzeitschrift. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs setzte der Vielfalt der jiddischen Presselandschaft ein Ende. Im Jahr 1916 gab es noch eine einzige jiddische Tageszeitung, die von den deutschen Besatzungsbehörden erlaubt wurde. Erst ab Mitte 1918 begann sich die jiddische Presselandschaft in Vilne langsam zu erholen. 73 In der Zwischenkriegszeit schließlich sollte die jiddische Presse vor allem im sich neu entwickelnden säkularen Bildungssystem eine große Rolle spielen und damit zusammen mit den jiddisch-weltlichen Schulen zu einer der einflussreichsten Institutionen zur Verbreitung der jiddischen Kultur werden: „[T]he press gradually took on a regulatory function in Vilna’s Jewish life. It was, however, not the Yiddish daily or commercial press, nor the Yiddish literary journals or party press, but an entirely new category of journals that graced the Vilna press landscape after 1918 that made its mark on the city’s Jewish life, namely Yiddish journals related to Jewish education, journals for children and young people, as well as journals of pedagogy for both parents and tutors.“ 74
Die 1920er Jahre sahen eine weitere Diversifizierung der jiddischen Presse in Vilne. Viele der Zeitungen und Zeitschriften erschienen allerdings nur für eine kurze Zeit, darunter eine Frauenzeitschrift sowie Zeitschriften im Bereich Kunst und Kultur. Über eine relativ lange Zeitspanne erschienen die Tageszeitungen di tsayt (1924–1939) und ovnt kurir (1923–1940). Charakteristisch für 71 Fishman: The Rise of Modern Yiddish Culture, S. 23–24. 72 Marten-Finnis: Vilna as the Centre, S. 55, 59. 73 Ebd., S. 126–128, 130. Eine Übersicht zur jiddischen Presse vom Ersten Weltkrieg bis 1922 bietet: A. Y. Goldshmid: Di yidishe prese in Vilne in di yohren 1914–1922. In: Vilne. A zamlbukh gevidmet der shtot Vilne. Hg. von Yefim Yeshurin. New York 1935, S. 339–356. 74 Marten-Finnis: Vilna as the Centre of the Modern Jewish Press, S. 132.
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die jiddische Presse in Vilne, so Marten-Finnis, war ihre Vielfalt, nicht aber ihre Qualität. Sie nahm deshalb im nationalen Vergleich eine eher bescheidene Stellung ein: „Of the 186 Yiddish press items counted for Poland in 1928, only twelfe, or 6.5 per cent, appeared in Vilna.“ 75 Die jüdischen Journalisten Vilnes selbst hoben die jiddische Presse auf die oberste Stufe der jiddischen Kultur. 76 Sie organisierten sich im 1919 gegründeten vilner yidisher literatn-un zshurnalistn-fareyn, der die Interessen der hebräischen und jiddischen Presse vertrat und sowohl Schriftsteller als auch Journalisten zusammenführte. In diversen literarischen und kulturellen Veranstaltungen wandte sich der Verein an ein breiteres Publikum. 77 Die enge Zusammenarbeit zwischen Presse und Literatur, die sich im vilner yidisher literatn-un zshurnalistn-fareyn spiegelte, ging zurück ins 19. Jahrhundert, als jüdische Schriftsteller ihre Arbeiten in der jiddischen Presse veröffentlichten, um mehr Leser zu erreichen und eine gewisse finanzielle Sicherheit zu erlangen. 78 Die Gründung des Vereins verweist außerdem auf die zunehmende Professionalisierung, die sich auch in diesem Berufszweig vollzog: „The rise of bona fide Yiddish publishing houses, which had their own production facilities and staffs, editors, and business departments, was itself further indication of professionalization.“ 79 Einen bescheidenen Einblick in die Vilner Presse bieten ausschließlich die Texte von Karpinovitsh. Darin werden einzelne jiddische Zeitungen namentlich benannt, und zwar der tog und der ovnt-kurir. Im Zusammenhang des tog wird jeweils der Journalist, Theaterkritiker und Schriftsteller Syomke Kahan erwähnt, sei es, um über die missliche Lage der Vilner Straßenmädchen zu berichten oder eine Rezension über eine neue Theateraufführung zu schreiben. 80 Der tog (undzer tog) wurde 1919 gegründet. Er gehörte keiner bestimmten politischen Partei an und galt als beste Zeitung der Stadt. Chefredakteur der Zeitung war Zalmen Reyzen. Zu den wichtigsten Mitarbeitern der Zeitung zählte bis zu seinem Tod im Jahr 1935 Tsemakh Shabad. 81 Die Zeitung wurde 75 Ebd., S. 139–140, Zitat S. 141. 76 Yefim Yeshurin: Di yidishe und algemeyne prese in Vilne hayntigen tog (1934). In: Vilne. A zamlbukh gevidmet der shtot Vilne. Hg. von dems.. New York 1935, S. 357–364, hier S. 357. 77 Yidishe Vilne in vort un bild, S. 39. 78 Fishman: The Rise of Modern Yiddish Culture, S. 7. 79 Ebd., S. 87. 80 Karpinovitsh: 1/3, S. 49; ders.: 3/1, S. 13; ders.: 3/6, S. 82; ders.: 2/7, S. 104. 81 Für Angaben zur Person siehe S. 230 FN 11.
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von sämtlichen jiddischistischen Organisationen sowie dem Bund, dem linken Flügel von Poalei Zion und den Folkisten unterstützt. Von den staatlichen Behörden als zu links eingestuft, unterlagen die Artikel des tog staatlicher Zensur, insbesondere, wenn darin über die zunehmende Gesetzlosigkeit und über den Antisemitismus berichtet wurde. Reyzen machte aus seiner Zeitung auch eine Art von Plattform für angehende Dichter und Schriftsteller, indem er diesen die Möglichkeit bot, ihre Werke im tog zu veröffentlichen.82 Karpinovitsh erwähnt diesbezüglich in einer seiner Erzählungen einen jungen Mann, der ein Gedicht über seine Geliebte an den tog geschickt hat: „Bnyomke hot gehat afilu ongeshribn vegn ir a shtarke lid, mit pare [Leidenschaft], geshikt es in ‚vilner tog‘. Gedrukt hot men es nit, ober der redaktor Zalmen Reyzn hot baygeleygt tsum tsurikgeshiktn gedikht a por dermunterndike verter, az di ferzn darfn zikh opzayen [Spannung aufbauen].“ 83
Der jeweils am Mittag erscheinende ovnt-kurir wurde 1924 von Aron Rosenthal gegründet. Geleitet wurde die Zeitung von A. Y. Grodzenski (nicht zu verwechseln mit Rabbiner Grodzenski). Der ovnt-kurir war im Vergleich zum tog weniger seriös und wurde der Sensationspresse zugeordnet. Wie Karpinovitsh zu entnehmen ist, war er eine weit verbreitete Zeitung: „Di mame hot geleyent ir balibte tsaytung, dem ‚ovnt-kurir‘, vu men hot gants Vilne aroyfgeleygt oyfn tish.“ 84 Dass der ovnt-kurir von den Bewohnern des jüdischen Viertels gelesen wurde, zeigt sich in Karpinovitshs Schilderung einer Backstube, wo die für den Sabbat bereitgestellten Tscholent der Nachbarn warmgehalten werden und aus diesem Grund mit Zeitungspapier zugedeckt sind. Auf einem dieser Tscholent ist ein Stück des Fortsetzungsromans „Di blutike Sonye“ zu sehen, der im ovnt-kurir abgedruckt wurde. 85 Neben Sensationsberichten und trivialen Fortsetzungsromanen waren auch die sogenannten „wissenschaftlichen“Artikel des ovnt-kurir bei den einfachen Juden beliebt. Der im jüdischen Viertel wohnende Schuster Prenzik beispielsweise liest die Zeitung gerade wegen dieser Artikel sehr gerne:
82 83 84 85
Minczeles: Vilna, Wilno, Vilnius, S. 306–307. Karpinovitsh: 2/2, S. 28 f. Ders.: 5/8, S. 134. Ders.:1/2, S. 41.
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Spuren jiddischer Kultur im Alltag der Vilner Juden „In fraytik-numer iz tomed [immer] geven an artikl fun altsveysndikn redaktor A. Y. Grodzenski vegn di nayste dergreykhungen [Errungenschaften] in der visnshaft, zeyer tsugenglekh derklert un farvirtst mit eygene perushim [Kommentare].“ 86
In Karpinovitshs Erzählungen wird die jiddische Presse als Ort der Kommunikation nur bedingt thematisiert. Genannt werden zwei große Tageszeitungen, der tog und der ovnt-kurir. Letzterer scheint zumindest unter den Juden des jüdischen Viertels die mehrheitlich gelesene Zeitung gewesen zu sein. Während der ovnt-kurir von Zeitungsjungen verkauft wird 87 und als Erkennungszeichen bei einem geheimen Treffen dient, 88 ist aus Karpinovitshs Texten bezüglich der Leserschaft des tog nichts in Erfahrung zu bringen. Diese Zeitung erweckt den Anschein einer kulturellen Institution – verkörpert durch den Journalisten Kahan, der eine anonyme Leserschaft mit kritischen und qualitativ hochwertigen Artikeln und Gedichten unterhält –, die eher selten in den Stuben des jüdischen Viertels zu finden sein mochte. Verweise auf verschiedene Aspekte der jiddischen Kultur – das jiddischweltliche Schulsystem, das jiddische Theater und die jiddische Presse – finden sich in den Texten von Grade und Karpinovitsh in unterschiedlichem Ausmaß. In Karpinovitshs Werk werden alle hier genannten drei Bereiche der jiddischen Kultur thematisiert, wobei aufgrund der Biographie des Autors die Welt des jiddischen Theaters am ausführlichsten beleuchtet wird. Im Gegensatz dazu findet in Grades Texten ausschließlich das jiddisch-weltliche Schulsystem Erwähnung. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass in Karpinovitshs Erzählungen die jiddische Kultur im Alltag der Menschen viel präsenter ist als bei Grade. Dies mag damit zusammenhängen, dass bei Karpinovitsh im Gegensatz zu Grade die traditionelle jüdische Kultur und die Menschen, die sie verkörpern und sich in ihr bewegen, eine Randstellung einnehmen und der Autor deshalb den kulturellen Raum säkular besetzen und in seinen verschiedenen Facetten aufzeichnen kann.
86 Ders.: 2/3, S. 47. 87 Ders.: 1/9, S. 153. 88 Ders.: 1/1, S. 17.
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Politische Ideologien und Bewegungen: Aufruhr auf der „jüdischen Straße“
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts befand sich das osteuropäische Judentum in einer tiefen Krise, die durch die sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen, die im Russischen Reich Einzug hielten, hervorgerufen wurde. Da die Antwort auf die „jüdische Frage“ seitens des russischen Staates ausblieb, begannen in den 1870er Jahren einzelne Maskilim radikale Ideologien zu formulieren, die die allgemeine Situation der Juden verbessern sollten. 1 Nach den Pogromen von 1881 und 1882 und den darauffolgenden, in den Maigesetzen festgehaltenen antijüdischen Maßnahmen der 1880er und 1890er Jahre verstärkte sich der Ruf nach sozialen und politischen Reformen, und es kam zur Herausbildung neuer politischer Bewegungen. 2 Während die Zionisten die Ursache der sozialen und wirtschaftlichen Probleme der Juden in der Anomalie ihres Diasporadaseins sahen und deshalb die jüdische Eigenstaatlichkeit in Palästina sowie gleichzeitig die Verbesserung der Verhältnisse vor Ort forderten, verstanden die jüdischen Sozialisten und später die Kommunisten die Situation der Juden im Rahmen der gegenwärtigen sozialen und politischen Verhältnisse im Russischen Reich, deren fundamentale Umgestaltung erst ein gleichberechtigtes Zusammenleben von Juden und Nichtjuden ermöglichen würde. 3 Beide radikalen Ideologien können somit als Reaktion auf die bestehenden Verhältnisse gesehen werden, in denen die Juden Osteuropas lebten: „Sozialismus und Zionismus waren Antworten darauf, dass der Messias ausblieb, aber die ‚Judennot‘ dringend der Abhilfe bedurfte, sie antworteten auf Säkularisierung und Toleranz, auf Emanzipation und Liberalismus, auf Nationalismus und Antisemitismus, auf Industrialisierung und Verarmung, auf den Wandel der Lebenswelten.“4
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Geschichte des jüdischen Volkes, S. 1051, 1052; Eli Lederhendler: The Road to Modern Jewish Politics. Political Tradition and Political Reconstruction in the Jewish Community of Russia. New York, Oxford 1989, S. 144–145. Lederhendler: The Road to Modern Jewish Politics, S. 149. Ebd., S. 148; Geschichte des jüdischen Volkes, S. 1052, 1054. Haumann: Geschichte der Ostjuden, S. 157 f.
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Zionisten Seit der Konstituierung des politischen Zionismus 1897 war Vilne eines der bedeutenden Zentren der Bewegung. Als Theodor Herzl 1903 während einer diplomatischen Reise nach Russland einen Besuch in Vilne machte, wurde er von einer begeisterten Menge empfangen. 5 In der Zwischenkriegszeit gehörte die Region um Vilne zu den Hochburgen des jüdischen Nationalismus, umso mehr, da die neue polnische Macht der Russifizierung der Juden ein Ende setzte und sich damit der bereits existierende jüdische Nationalismus sowohl auf politischer als auch auf kultureller Ebene ungehindert entfalten konnte.6 Das wiederentdeckte jüdische Nationalbewusstsein spiegelte sich in der Gründung hebräischsprachiger Schulen für Knaben und für Mädchen, die seit 1890, teilweise illegal, eröffnet wurden. 1903 öffnete in Vilne die erste von den Behörden bewilligte hebräischsprachige Grundschule – der sogenannte „Cheder Metukan“ – für 140 Knaben ihre Pforten. 7 In der Zwischenkriegszeit entwickelte sich dank der unermüdlichen Arbeit der 1921 gegründeten Bildungsgesellschaft Tarbut (Kultur) ein weitreichendes hebräisches Bildungssystem. Dieses umfasste Kindergärten, Volks- und Abendschulen, Gymnasien sowie das in ganz Polen einzige hebräische Lehrerseminar. Als Vorzeigeinstitution galt das Epstein-Gymnasium auf der zavalne Nr. 4, das den Schülern eine moderne nationale hebräische Erziehung bot. 8 Ähnlich dem jiddisch-weltlichen Bildungssystem, das vom Bund getragen wurde, erhielten die Schüler an den Tarbut-Schulen eine kindgerechte Erziehung, bei der sie auch an ein naturnahes Leben herangeführt wurden.9 Insgesamt waren die verschiedenen Institutionen von Tarbut fest in das jüdische Leben von Vilne eingegliedert und hinterließen dort auch ihre Spuren: „Avec ses maisons d’édition, sa commission pédagogique, son séminaire d’enseignants à Wilno, ses bibliothèques, son matériel pédagogique, ses colonies de vacances, le Tarbut pesait bien lourd.“ 10 Eine große Bedeutung innerhalb der zionistischen Bewegung hatten die verschiedenen Jugendverbände, die sich nach 1897 bildeten. Sie alle wollten 5 6 7 8
Cohen: Vilna, S. 346–349. Ezra Mendelsohn: On Modern Jewish Politics. New York, Oxford 1993, S. 44. Cohen: Vilna, S. 354–355. Yidishe Vilne in vort un bild, S. 57; Vilner almanakh. Hg. von A. Y. Grodzenski. Vilne 1939 [Reprint: Vilna Almanac. Hg. von Isaac Kowalski. Brooklyn, N.Y. 1992], Spalte 303–310; vgl. Grade: Di kloyz un di gas (3), S. 159; Karpinovicz: 5/8, S. 121. 9 Minczeles: Vilna, Wilno, Vilnius, S. 272–273. 10 Ebd., S. 275.
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den Kindern und Jugendlichen das zionistische Weltbild vermitteln und aus ihnen „neue“, produktive Juden machen. Sie plädierten für den praktischen Zionismus, der die Kolonisierung Palästinas in die Tat umsetzen wollte, und betrieben zu diesem Zweck sogenannte Musterfarmen (Hachscharot), auf denen die Jugendlichen über längere Zeit die landwirtschaftliche Arbeit erlernen und sich auf ein Leben im Kibbuz vorbereiten konnten.11 In den Texten von Grade und Karpinovitsh wird der Zionismus fast ausschließlich im Hinblick auf die zionistischen Jugendbewegungen thematisiert. Darin schildern die beiden Autoren vor allem junge Menschen, die sich für die zionistische Ideologie begeistern. Zu diesen gehört die Verkäuferin Hinde, die ein genaues Bild von Palästina hat – sie kennt dessen Geschichte, Geographie, Flora und Fauna und „veys vos dortn tut zikh, vi zi volt es gezen far di oygn.“ 12 Seit Jahren trifft sie sich im Verein Hapoel auf der daytshe gas „vu me makht gimnastik un me zingt lider oyf ivrit. Zi geyt dortn shoyn gute etlekhe yor. Es kumen ahin feyne bokherim un meydlekh. Ale viln zey forn keyn ertsyisroel [Palästina].“ 13 Ein Grund, weshalb junge Menschen wie Hinde sich für ein Leben in Palästina interessierten, war die schlechte wirtschaftliche und soziale Lage der Juden in Polen. Darüber hinaus fühlten sich viele Jugendliche in Polen unerwünscht. Dies trifft auch auf den jungen Izke zu. Den Worten seiner Freundin – Vilne sei doch auch die Heimat der Juden, hier rede man Jiddisch und dürfe sich deshalb nicht von den Christen vertreiben lassen – kann Izke nicht zustimmen: „S’vet gornit helfn. Di goyim [Christen] zenen bay zikh, zi zaynen di balebatim [Herren].“ 14 Die Frage, was dann die Juden seien, beantwortet Izke ohne zu zögern: „Mir zenen nor gest.“ 15 Den Texten von Grade und Karpinovitsh ist zu entnehmen, dass sich eine große Zahl von Jugendlichen aus dem jüdischen Bürgertum für den Zionismus 11 Zu den zionistischen Jugendverbänden zählten beispielsweise die 1904 gegründete, zum sozialistischen Hechaluz (Pionier) gehörende Organisation Hapoel Hazair (Junger Arbeiter), der 1916 gegründete und ebenfalls sozialistische Haschomer Hazair (Junger Wächter) oder die seit 1923 bestehende antisozialistische revisionistische Jugendorganisation Betar. Simon Erlanger: Zionistische Jugendbewegungen. In: Der Erste Zionistenkongress von 1897. Ursachen, Bedeutung, Aktualität. Hg. von Heiko Haumann. Basel, Freiburg, Paris u. a. 1997, S. 303–307, hier S. 303–304. 12 Karpinovitsh: 3/2, S. 30. 13 Ebd. 14 Karpinovitsh: 3/9, S. 136. 15 Ebd.
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interessierte. Einer dieser begüterten Jugendlichen ist der bereits genannte Izke, dessen Vater einer der wohlhabendsten Juden in Rovne ist. Zusammen mit anderen Jugendlichen, die wie er von auswärts kommen, lebt Izke bis zu seiner Abreise nach Palästina äußerst bescheiden in Vilne: „[I]n di bilike hayzer oyf subotsh voynen bokherim, vos greytn zikh [vorbereiten] forn keyn ertsyisroel. Zey geyen arbetn far groshns, abi iberkumen dem tog.“ 16 Die Jugendlichen trainierten für ihr späteres Leben auf den Musterfarmen, die es in der Umgebung von Vilne gab, oder erlernten praktische Berufe, die ihnen in Palästina nützlich sein sollten. 17 Bis die Pioniere ihrem ersehnten Ziel näherkamen, dauerte es meist mehrere Jahre. Diesbezüglich erklärt Izke: „Darfst alts avekvarfn, avekgeyn in a kibuts, dort leben a yor dray, fir vi ikh, un dan, ven s’vet kumen dayn rey tsu forn.“ 18 Diese Vorbereitungsjahre in Vilne und auch das spätere Leben in Palästina bedeuteten für die Jugendlichen einen Bruch mit ihrer Vergangenheit. Viele Eltern – vor allem die finanziell besser gestellten – waren mit der Entscheidung ihrer Söhne und Töchter, ihr Leben mit harter körperlicher Arbeit zu verdienen, nicht einverstanden. Dies wird abermals aus den Worten Izkes deutlich: „Ikh vil forn keyn ertsyisroel. Mayn tate volt zikh gut oyfgerdt [verstanden] mit der lererin Mire [sie hält Polen für die Heimat der Juden, S. St.]. Er hot gemoldn, as er vet mir keyn groshn nit gebn oyf dem. Bin ikh avek fun shtub oyf hakhshore [Landwirtschaftstraining].“ 19
Ebenfalls auf einem Landwirtschaftsgut arbeitete Grades Schwager Moyshele, der jüngste Sohn einer mittelständischen rabbinischen Familie. Der ehemalige Jeschiwastudent lebte einige Zeit bei Vella Grade und half ihr nach seiner Arbeit an ihrem Gemüsestand. Dabei verstand er auch diese Arbeit als einen wichtigen Schritt zu seinem Ziel, wie Grades Memoiren zu entnehmen ist: „Ikh for keyn ertsyisroel in a kibuts, darf ikh kenen farkoyfn grinsn [Gemüse].“ 20 Ähnlich Izkes Vater war auch der Rabbiner mit dem Beschluss seines Sohnes, als Pionier Palästina zu kolonisieren, nicht einverstanden. Doch während Izkes Vater eher wirtschaftliche und soziale Beweggründe für seine Opposition gehabt haben dürfte, zeigt sich, dass diese bei Moysheles Vater religiöser Natur waren: 16 17 18 19 20
Ebd., S. 131. Heller: On the Edge of Destruction, S. 270. Karpinovitsh: 3/9, S. 137. Ebd., S. 136. Grade: Der mames shabosim, S. 202.
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„Di hayntike khalutsim [Pioniere] in di fraye kibutsim oyf adome hakoydesh [heiliger Boden] hitn nit keyn shabes, keyn kashrut, un di yunge porn [Paare] viln nit visn fun taares hamishpokhe [Familienreinheitsgesetze]. Ot mit di dozike [jene] iz es mayn ben-zekunim [Sohn betagter Eltern] gevorn a khaver [Freund]!“ 21
Welche Einstellung ältere und vor allem auch religiöse Juden zum Zionismus hatten, wird ebenfalls aus den Memoiren von Grade sichtbar. Die Mehrheit dieser Menschen waren keine (aktiven) Zionisten – sie nahmen weder an Versammlungen teil noch dachten sie an Emigration. Dennoch ließen sich viele von ihnen 1917 von der Zusicherung Lord Balfours, in Palästina für das jüdische Volk eine nationale Heimstätte zu errichten, begeistern, wie Vella Grade gegenüber ihrem Sohn bekundet: „Ven di englender hobn tsugezogt ertsyisroel far yidn, iz bay yidn geven sosn vesimkhe [Jubel und Freude] un ikh bin mit ale shkheynim [Nachbarn] fun undzer hoyf mitgegangen in Kreyngles zal.“ 22 Dessen ungeachtet werden die jungen Zionisten von den älteren Bewohnern des jüdischen Viertels kritisch betrachtet. Dies zeigt sich etwa daran, dass die Jungen und Mädchen durch ihr selbstbewusstes Auftreten im jüdischen Viertel Aufsehen erregen: „In etlekhe teg arum geyen durkh a por yungelaytlekh mit studentishe bloy-veyse hitelekh, tarbutnikes [Anhänger von tarbut]. Zey geyen farrisn [hocherhoben] di kep, zeen nit keynem, lakhn hoykh un redn tsvishn zikh hebreyish.“ 23
Auch bezüglich der Tatsache, dass vor allem Jugendliche aus gutem Elternhaus ein Leben in Palästina führen wollten, hatten die frommen Juden ihre eigenen Ansichten. So sind darüber auch zwei Nachbarn von Vella Grade wenig begeistert. Vor allem für den Sohn eines Rabbis scheint diesen ein Leben in Palästina unpassend: „Men zol nemen a benhorav, im iberreydn er sol antloyfn fun der heym un im farshikn vi in Sibir keyn Soltanishek hinter Vilne, er zol dort grobn mit der nos di erd.“ 24 Sich in das Gespräch der Nachbarn einmischend stellt ein alter Jude die Frage, wer denn auswandern soll? „Ver es vil! Nor nit keyn balebatishe [bürgerlich] kinder. A fayn ponem [Anschein] hot es ven rabonishe un gvirishe [wohlhabend] kinder leben zalbetsvantsik in eyn tsimer in kibuts fun di bilike hayzer, un dreyen zikh arum iber der shtot zukhn arbet in a leder-fabrik, oder in a tartak [Sägemühle].“ 25 21 22 23 24 25
Ebd., S. 197. Ebd., S. 61. Ebd., S. 208. Ebd. Ebd.
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Lediglich mit Blick auf die soziale Revolution in der Sowjetunion, für welche sich ebenfalls die Kinder angesehener Juden engagierten, erscheint den einfachen Juden ein Leben in Palästina das kleinere Übel: „[A]z kinder forn keyn ertsyisroel toygt nit, nor az zey makhn revolutsyes iz beser? Ir hot fargesn vos es hot zikh hayntiks yor opgeton oyf di gasn dem ershtn may, di shteyner vos zaynen gefloygn, di tseblutikte kep, (…) un vifl buntovshtshikes [Demonstranten] men hot arayngepakt in khad-gadye [Gefängnis]. Loyt aykh kumt oys, az zitsn bay di polyakn in tfise [Gefängnis] iz geshmaker vi zitsn in a baydl [Hütte] baym breg [Ufer] fun yardn [Jordan], vu Yoshe hot aribergefirt di yidn.“ 26
Die Meinung, dass ausschließlich die Kinder armer Familien für ein Leben in Palästina geeignet waren, fand sich nicht nur bei den unterprivilegierten Bewohnern des jüdischen Viertels, sondern auch beim jüdischen Bürgertum. Dies zeigt sich an der Einstellung von Grades Onkel, einem wohlhabenden Apotheker, der Vella Grade schon vor Jahren den „gutgemeinten“ Rat gegeben hat, ihren Sohn nach Palästina zu schicken, mit der Bemerkung: „Mir darfn dort azelkhe, zey zoln trikenen [trockenlegen] di zumpn [Sümpfe].“ 27 In dieser Äußerung spiegelt sich die Ansicht, dass die armen Juden besser für körperliche Arbeit geeignet waren und sie deshalb in Palästina gebraucht würden. In den Memoiren einzelner Vilner Jüdinnen finden sich entgegen den Texten von Grade und Karpinovitsh fast keine Hinweise, die darauf deuten, dass Jugendliche des jüdischen Bürgertums dem Zionismus nahe standen. Dies mag daran liegen, dass Autorinnen wie Henia Brazg, Lily Margules oder Esther Hautzig in den 1930er Jahren noch Kinder waren und sich aufgrund ihres jungen Alters noch nicht für eine politische Jugendorganisation interessiert hatten. Ein Hinweis darauf, dass der Zionismus dennoch im Umfeld der Autorinnen präsent war, zeigt sich anhand der Memoiren von Henia Brazg, die darin von der unterschiedlichen Einstellung ihrer Eltern zum Zionismus schreibt: „His [Brazgs Vater, S. St.] dream had long been to settle in Israel (…) and he had made several trips to the country – in 1926, 1929, and again in 1936. He had actually purchased some land there. But my mother would not think of such a move. She was happy in Poland.“ 28
Als England 1931 mit dem „White Paper“ die Einwanderung nach Palästina drastisch einschränkte, wurde eine Alija für viele Juden immer unwahrschein26 Ebd., S. 209. 27 Ebd., S. 53. 28 Brazg: Passport to Life, S. 18.
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licher. Die zunehmend schlechte wirtschaftliche Lage in Polen sowie neue Wellen von Antisemitismus im In- und Ausland veranlassten viele Jugendliche, sich der revisionistischen Jugendorganisation Betar anzuschließen, die die Massenauswanderung nach Palästina propagierte. 29 Auch in Vilne war diese zionistische Partei gemäß Karpinovitsh stark präsent: „In di draysiker yorn iz di yunge Vilne geven zeyer revolutsioner geshtimt. Yeder bisl yugnt iz an ander rikhtung. Ot, lemoshl, hobn zikh yinglekh ongeton in broyne bluzes un gemakht militerishe ibungen mit bezim-shtekns [Besenstiele] in di hent. Zey flegn zikh zamlen in zakreter vald mit geshreyen men zol opnemen bay di englender Palestine un dort oysboyen a yidishe medine [Staat] oyf beyde zaytn fun yardn-taykh [Jordan]. (…) Di, mit di broyne hemdlekh, hobn zikh gerufn ‚betar‘ un gevolt ongeherik tsu der tsionistisher partey revizionistn.“ 30
In ihren Memoiren berichtet Lucy Dawidowicz vom Kampf zwischen den allgemeinen Zionisten und den Revisionisten. Dabei schreibt sie von einer feurigen Rede, die Jabotinski bei seinem Besuch in Vilne im Mai 1938 vor über 2000 Personen gehalten hatte. 31 Karpinovitsh erwähnt ebenfalls einen Besuch Jabotinskis in Vilne, welchem ein großer Empfang im yidisher folks-teater bereitet wurde. 32 Der Erfolg der zionistischen Jugendbewegungen in den 1930er Jahren war beträchtlich. Insbesondere die Pionierbewegung, die in diesen Jahren ihren grössten Zuwachs genoss, bot zehntausenden von Jugendlichen einen alternativen Lebensentwurf und ein positives jüdisches Selbstbild. An die Stelle des blassen, intellektuell tätigen Diaspora-Juden trat dabei der braungebrannte, körperlich arbeitende Pionier: „The pioneer was the embodiment of ‚the new, national Jewish man (or woman)‘, a young person equipped with unquenchable optimism and prepared to undergo an internal revolution in order to transform himself (or herself ) into a productive laborer serving the Zionist cause under the broiling Palestinian sun.“ 33
Der sogenannte „Muskeljude“, verkörpert durch die heldenhaften Makkabäer, wurde schon um 1900 von Max Nordau (1849–1923) zum zionistischen Ideal ernannt.34 Zur Erlangung desselben spielten die Freizeitaktivitäten der zionis29 30 31 32 33 34
Heller: On the Edge of Destruction, S. 271, 272, 281, 282. Karpinovitsh: 5/9, S. 139 f. Dawidowicz: From that Place, S. 157. Karpinovitsh: 5/9, S. 142. Mendelsohn: On Modern Jewish Politics, S. 105; vgl. Karpinovicz: 3/2, S. 32. Monica Rüthers: „Muskeljudern“ und „weibische Juden“. In: Der Erste Zionisten-
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tischen Jugend keine geringe Rolle. Diese fanden häufig in freier Natur statt und hatten – wie in den folgenden Beispielen Grades – einen betont sportlichen Aspekt: „Yungvarg [junge Leute] hot oyf same baginen [Sonnenaufgang] avekgevandert oysern shtot tsu di bregn [Ufer] fun der vilye, in di antokolyer velder, oder zikh avekgelozt tsufus keyn Trok mit ire draytsn ozeres [Seen] un khurbm [zerfallen] shleser fun amolike litvishe firshtn.“ 35
Während im Idealfall der gestählte Körper auf die zionistische Gesinnung einer Person verwies, so war es im Alltag der Jugendlichen gewöhnlich die sportliche Kleidung, die diese Funktion erfüllte: „Gabryel derzet in zumer-ovnt a khevre [Gruppe] bokherim [Jungen] in breyte skautn-hit [Pfadfinderhüte], in sporthemder, kurtse heyzlekh, volene zokn biz tsu di nokete kni. Zey trogn ongeshtopte rukzek oyf di pleytses [Schultern] un shtekns in di hent. Mit zun-farbroynte un farbrondzikte penemer, kumt itst di khevre tsurik fun an oysflug oyf vayte hintershtotishe vegn.“ 36
Neben Wanderungen in die Umgebung von Vilne genossen die Jugendlichen auch die Sommertage am Vilner „Strand“. Hierbei fällt auf, dass besonders die leichte Kleidung und die Körperlichkeit der jungen Frauen und Männer hervorgehoben wird – alles Merkmale, die auf das zionistische Ideal hinweisen: „Dort baym vaser shemen zikh nit manslayt un froyen arumgeyn dray fertl naket un zikh bodn ineynem. Di veyse zegl-shiflekh un di lange shmole kayakn, ongepakt mit meydlekh in farbike bod-kostyumen, zeen oys vi fule multerlekh [Bottich] mit royte pozimkes [Erdbeere], mit shvarts-bloye yagdes [Beeren]. Oyfn stadyon fun ‚makabi‘ shpringt men fun di hoykhe shpring-breter in vaser, men farmest zikh in shvimen, a radio shpilt un di kimat-nakete [halb-] porlekh [Paare] tantsn mit borvese fis in heysn zamd. Hekher aroyf shtrand, nokh di ‚vilde pliazshes‘, tsien zikh di sosnove [Pinien-] velder fun Antokol un Volokumpye. Nokhn broynen zikh a gantsn tog in zun un plushken [planschen] zikh in der vilye, geyen di porlekh zikh ‚opkiln‘ in di tunkele velder. In ovnt shpatsirt men durkhn hoykhn korn. Di yunge froyen zaynen ongeton in kurtse geblimlte kleydlekh (…) Di bokherim hobn penemer fun brondz un tsekongress von 1897. Ursachen, Bedeutung, Aktualität. Hg. von Heiko Haumann., Basel, Freiburg, Paris u. a. 1997, S. 320–323, hier S. 322 f. Zur Beziehung von Nationalismus, Geschlechtsidentität und Sexualität siehe Michael Gluzman: Verwirrung der Geschlechter auf Jüdisch: Der Zionismus und das Schauspiel des grotesken Leibes. In: Der Differenz auf der Spur. Frauen und Gender in Aschkenas. Hg. von Christiane E. Müller und Andrea Schatz. Bern 2004 (= Minima judaica; 4), S. 231–257. 35 Grade: Di kloyz un di gas (2), S. 90; vgl. Karpinovitsh: 3/4, S. 61. 36 Grade: Di kloyz un di gas (3), S. 175.
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patlte [zerzaust] tshuprines [Stirnlocken]. Zey trogn shport-zokn, aribergevorfene kurtse, breyte hoyzn oyf rimendlekh [Gurt] vos fartsien zikh unter di kni, un veyse hemder mit opgeleygte kragns un aroyfge-kasherte [heraufgekrempelt] arbl [Ärmel] iber di muskulirte orems.“ 37
Auf den von Grade genannten Ort des Maccabi-Stadiums, 38 an dem räumlich die zionistische Jugend zusammenfand, verweist auch Lily Margules in ihren Memoiren: „One could see many boats and kayaks full of muscle-bound youngsters, sailing, singing, and enjoying the river. Some of them were members of the Maccabi Sports Club, a Jewish club located on the Viliya. People were fishing, swimming, and having a great time.“ 39
Sowohl Grade als auch Karpinovitsh charakterisieren den Zionismus als eine Bewegung, die in Vilne vor allem durch die zionistischen Jugendorganisationen, allen voran die Pionierbewegung, präsent war. Neben Versammlungen in der Stadt, bei denen die Mitglieder Fakten über Palästina erhielten, verweisen die Autoren vor allem auf die Musterfarmen in der Umgebung von Vilne, wo die Pioniere lernten, die zionistische Idee in die Tat umzusetzen. Die Texte machen dabei deutlich, dass viele der jungen Frauen und Männer dem jüdischen Mittelstand angehörten und aus diesem Grund durch ihren Entschluss, als Arbeiter oder Bauer in Palästina leben zu wollen, in Konflikt mit ihren Eltern gerieten. Für viele Jugendliche bedeutete die Aussicht auf Emigration nach Palästina eine neue Zukunftsperspektive – etwas, das ihnen ihre Eltern aufgrund der wirtschaftlichen und sozialen Lage, insbesondere des Antisemitismus, nicht bieten konnten. Darüber hinaus stand der Zionismus für ein neues, positives jüdisches Selbstverständnis, das den „neuen Juden“ auf Augenhöhe mit den anderen Völkern stellen wollte. Die Reaktionen des jüdischen Viertels 37 Ders.: Tsemakh Atlas (di yeshive). Bd. 2, S. 400 f. Siehe auch ders.: Di kloyz un di gas (2), S. 74; Karpinovitsh: 5/4, S. 61. 38 Den hier genannten Turn- und Sportverein Maccabi gab es in Vilne seit dem Jahr 1916. Der Verein sah seine Aufgabe in der Erziehung einer neuen Generation von Juden, die – ganz in Anlehnung an die zionistischen Helden, die zum Namensgeber des Vereins wurden – körperlich tüchtig sein sollten. Zum sportlichen Angebot von Maccabi gehörten die Disziplinen Gymnastik, Leichtathletik, Fußball, Rudern, Schwimmen, aber auch Blasmusik, Chorgesang und Schach. Siehe dazu auch: Yidisher sport in Vilne (s. a.). In: Vilner almanakh. Hg. von A. Y. Grodzenski. Vilne 1939 [Reprint: Vilna Almanac. Hg. von Isaac Kowalski. Brooklyn, N.Y. 1992], Spalte 239–244. 39 Margules: Memories, Memories …, S. 12.
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auf die jungen Zionisten waren eher skeptisch, wobei deutlich wurde, dass alte Vorstellungsmuster noch präsent waren, wenn es beispielsweise darum ging, welche Lebensentwürfe sich für Kinder aus „gutem Haus“ ziemten. In der Gegenüberstellung mit dem Kommunismus erschien den einfachen Juden allerdings der Zionismus als das kleinere Übel.
Bundisten und jüdische Kommunisten Neben dem Zionismus entwickelte sich in Osteuropa etwa zeitgleich eine weitere radikale Ideologie – der Sozialismus. Der Anfang der revolutionärsozialistischen Tätigkeit unter den Juden machte der von den Narodniki, den Volksverbundenen, 1876 gegründete sozialrevolutionäre „Verband der Juden in Russland“. Im selben Jahr entstand in Vilne ein erster Kreis, dem später die Revolutionäre und Pioniere des jüdischen Sozialismus, Aaron Zundelewicz, Aaron Samuel Liebermann und Vladimir Yokhelson angehören sollten. Überzeugt von den Aktivitäten der sozialen Bewegung und begeistert von der russischen Kultur kämpften sie im Namen des Internationalismus für den Sturz des zaristischen Regimes und die Verbesserung der Situation der Arbeiter. 40 Aufgrund unterschwelliger antisemitischer Tendenzen, die im Zuge der Pogrome von 1881 und 1882 bei den Narodniki und später auch bei der 1892 gegründeten Polnischen Sozialdemokratischen Partei zutage traten, verstärkte sich bei den jüdischen Revolutionären das Bewusstsein der eigenen Nationalität und der Notwendigkeit, eigene Ansätze zur Lösung der „jüdischen Frage“ zu formulieren. In der Folge entstanden seit den 1880er Jahren in verschiedenen Städten des Ansiedlungsrayons eigenständige jüdische Arbeiterverbände. Der Höhepunkt dieser Entwicklung fand 1897 in Vilne statt, als sich die verschiedenen jüdischen Arbeiterverbände zum Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland – kurz Bund – zusammenschlossen. 41 Um ihre sozialistischen Ideen an die jüdischen Arbeiter zu vermitteln und die vereinzelten revolutionären Kreise in eine Massenbewegung zu verwandeln,
40 Paweł Korzec: Bemerkungen zur Entstehung und Entwicklung der jüdischen Revolutionsbewegung in den Westgebieten des Russischen Kaiserreiches um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. In: Juden in Ostmitteleuropa. Von der Emanzipation bis zum Ersten Weltkrieg. Hg. von Gotthold Rhode. Marburg 1989 (= Historische und landeskundliche Ostmitteleuropa-Studien; 3), S. 257–268, hier S. 262. 41 Ebd., S. 264–265.
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musste sich die russisch sozialisierte jüdische Intelligenz mit den Menschen in deren Sprache verständigen, ganz gemäss dem Ausruf Vladimir Medems (1879–1923) „In di gasn tsu di masn“. 42 Der Erfolg auf der „jüdischen Straße“ blieb für die jüdischen Revolutionäre nicht aus. Er manifestierte sich beispielsweise in den Streiks, zu denen in Flugblättern aufgerufen wurde. Allein in Vilne gab es zwischen 1894 und 1896 56 Streiks, von denen die meisten erfolgreich endeten. 43 Die Massenversammlungen der jüdischen Arbeiter, die in den Jahren vor der Gründung des Bund immer häufiger wurden und die Treffen in den Arbeiterzirkeln ablösten, waren für die Festigung des Klassenbewusstseins der jüdischen Arbeiter entscheidend. 44 Ähnliches galt für die Erste-Mai-Feiern, zu denen sich mehrere hundert Arbeiter heimlich versammelten. Ein Jahr nach der Gründung des Bund kam es 1898 in Minsk zur Gründung der Russischen Sozialdemokratischen Partei (RSDRP), der sich auch der Bund anschloss. Als 1903 auf der zweiten Versammlung der RSDRP in London das Verlangen des Bund nach größerer nationaler Autonomie innerhalb der Partei in einer Abstimmung keine Mehrheit fand, verließ der Bund die Partei wieder. In diesem Zusammenhang entstanden innerhalb der RSDRP die beiden Gruppen der Bolschewiki (Mehrheitler) und Menschewiki (Minderheitler). Nach der Revolution von 1905 trat der Bund der Partei erneut bei, bis durch die Russische Revolution von 1917 und durch die Gründung der bolschewistischen Einheitspartei eine neue Entwicklung eingeleitet wurde. 45 Nach dem Ersten Weltkrieg musste der Bund sich völlig neu orientieren. 1917 wurde der Polnische Bund gegründet, der in der Zwischenkriegszeit die meisten Erfolge in den großen Industriezentren des ehemaligen Kongresspolen, Warschau und Lodz, erzielen konnte, nicht aber in Galizien oder dem Kresy – den nordöstlichen polnischen Randgebieten, zu denen auch Vilne gehörte. Die größten politischen Erfolge in der Geschichte des Bund lagen in der Zeit vor 1918. 46 In den folgenden Jahren gewannen sowohl die (sozialistischen) Zionisten als auch die (antizionistische) orthodoxe Partei Agudas Israel 42 Haumann: Geschichte der Ostjuden, S. 153. 43 Minczeles: Vilna, Wilno, Vilnius, S. 91. 44 Gertrud Pickhan: „Gegen den Strom“. Der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund „Bund“ in Polen 1918–1939. Stuttgart, München 2001, S. 41. 45 Haumann: Geschichte der Ostjuden, S. 154; Pickhan: „Gegen den Strom“, S. 58. 46 Pickhan: „Gegen den Strom“, S. 71, 73, 79. Der Bund beteiligte sich an drei der insgesamt sechs polnischen Parlamentswahlen (1922, 1928, 1930), konnte sich jedoch keinen einzigen Sitz im Sejm sichern. Hingegen war er aufgrund der höheren
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an Gewicht. Erst in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre, als der Bund einen energischen Stand gegen den neu anschwellenden Antisemitismus einnahm und das Recht der Juden, in Polen – ihrer Heimat – zu leben, vehement einforderte, konnte er an seine alten Erfolge anknüpfen: „Déjà, aux élections communautaires, à la Kehilla, il avait remporté une victoire trés nette. Aux élections municipales de janvier 1939, à Wilno, il redevint la formation politique la plus puissante de la cité, avec 43’359 voix – plus que toutes les autres organisations juives réunis – et 10 sièges au conseil municipal.“ 47
Die Texte von Grade und Karpinovitsh enthalten nur wenige Hinweise über den Bund – der ältesten unabhängigen jüdischen Partei. Beliebt war dieser einerseits bei den Arbeitern: „Di hayntike arbter geyen nit in khevre-poyalim [Zunft], zey geyen in di fareynen un vern dort bundovtses [Bundisten].“ 48 Darüber hinaus fanden sich dort Handwerker, aber auch die Lehrpersonen der jiddisch-weltlichen Schulen, wie beispielsweise Mire Bernsteyn, die ihren Schülern erzählt, dass der Platz der Juden hier und nicht in Palästina sei – „do iz unzer plats, in Vilne. Men darf redn yidish un zikh nit lozn [vertreiben lassen] fun di goyim.“ 49 Von der Parteizugehörigkeit des Tischlers Bengis und seiner Tochter Peye – diese ebenfalls Lehrerin einer jiddisch-weltlichen Schule – zeugt ein Foto einer bundistischen Versammlung, das in der Dachwohnung neben Bildern von Schulausflügen hängt. Auf die Frage eines Besuchers, was das Foto bedeute, antwortet Bengis: „S’iz a tsuzamenfar fun der bundisher partey. S’iz aza partey,
jüdischen Bevölkerungsdichte in den Städten bei den Wahlen der Stadtparlamente erfolgreicher. Ebd., S. 81. 47 Henri Minczeles: Identité et révolution. In: Lituanie juive 1918–1940. Message d’un monde englouti. Hg. von Yves Plasseraud und Henri Minczeles. Paris 1996, S. 146– 157, hier S. 155. Heller interpretiert die Wahlerfolge des Bund Ende der 1930er Jahre weniger als Zustimmung der Wähler zum politischen Programm der Partei, sondern eher als eine Protestwahl und ein Zeichen der jüdischen Wähler an die nichtjüdische Umwelt, dass auch die Juden das Recht haben, in Polen zu leben. Heller: On the Edge of Destruction, S. 282. 48 Grade: Di agune, S. 75. 49 Karpinovitsh: 3/9, S. 136. Im Tagebuch von Yitzhak Rudashevski wird die Lehrerin Mire Bernshteyn ebenfalls erwähnt. Diese sei eine überzeugte Sozialistin gewesen, die ihre Ideen auch nicht vor ihren Schülern geheim gehalten habe. Vom Sozialismus erhoffte sie sich die Erneuerung der jüdischen Kultur sowie der jüdischen Schulen. We are witnesses. Five diaries of teenagers who died in the Holocaust. Hg. von Jacob Boas. New York 1995, S. 43.
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vos firt a kamf, az ale mentshn oyf der velt zoln zayn glaykh, zat opgegesn un freylekh.“ 50 Die Gründe, weshalb sich die Menschen für den Bund interessierten, sind verschieden. Was beispielsweise den Tischler Bengis an die Partei bindet, ist das dort vermittelte Gemeinschaftsgefühl, das zwischen den Arbeitern der verschiedenen Völker besteht: „[V]en er dermont zikh [sich erinnern], az a shvedisher arbeter fun tsveytn internatsional iz zayner a khaver, hagam [auch wenn] er hot keyn mol in leben keyn shved nit gezen. Im vilt zikh nokh a mol zitsn oyf a kongres fun arbeter-delegatn un mit di eygene oygn zen di mishpokhe [Familie] fun felker, vos er gehert tsu ir. Er volt zikh dermit gefilt ibergliklekh, khotsh er farshteyt nit keyn eyn vort fun fremde shprokhn.“ 51
Für einen anderen Handwerker wiederum sind es die Informationen aus aller Welt und die Möglichkeit der Horizonterweiterung, die ihn zu den Versammlungen des Bund gehen lassen: „Tsale iz gegengen oyf ale bundishe farzamlungen un gebrakht fun dortn zagranitshne [fremd-] verter. Men zol geven farshraybn zayn redn, volt men zi alts eyns nit farshtanen. Ongehoybn hot er fun solidarizatsye mit dem kamf fun frayheyt in Mandzshurye un ariber oyf (…) likhtike tsukunft un proletarishe kultur.“ 52
In ihren Memoiren schreibt Lucy Dawidowicz bezüglich des Bund, dass dieser nicht nur bei den jüdischen Unterschichten beliebt war, sondern teilweise auch beim jüdischen Bürgertum: „But middle-class Jews suppported the Bund, not for its socialist principles, but because it concretely addressed the problems of the Jews in Poland, undistracted by the issue of Palestine.“ 53 Hinweise, dass auch wohlhabendere Familien dem Bund nahestanden, bestätigen die Memoiren anderer Vilner Jüdinnen allerdings nicht. Zentral in der bundistischen Ideologie war die Person von Hirsch Lekert. Diesbezüglich ist den Worten von Bengis zu entnehmen: „Der gayst fun der bundisher shvue [Eid; gemeint ist die Hymne der Bundisten, S. St.] iz: brider und shvester fun arbet un noyt … un Hirsh Lekert!“ 54 Der Schuhmacher Hirsch Lekert (1880–1902) wurde für die Bundisten zum Volkshelden, als er 1902 für seinen misslungenen Versuch, den Generalgouverneur Vilnes, Victor 50 51 52 53 54
Grade: Der shtumer minyan, S. 146. Ebd., S. 106. Karpinovitsh: 2/1, S. 11. Dawidowicz: From that Place, S. 160. Grade: Der shtumer minyan, S. 106.
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Von Wahl, zu ermorden, vor ein Militärgericht gestellt und zum Tode verurteilt wurde. 55 Wie präsent die Erinnerung an Lekert auch in der Zwischenkriegszeit noch war, zeigen nicht nur Lucy Dawidowiczs Memoiren, sondern auch verschiedene Artikel über die Person Lekerts, die in zeitgenössischen Almanachen publiziert wurden. Ebenfalls Erwähnung findet sein Name in Gedichten, die das jüdische Vilne thematisieren. 56 Konkurrenz hatte der Bund besonders in den jüdischen Kommunisten. Diese werden von beiden Autoren eingehend thematisiert. Die Zweite Internationale der Arbeiterbewegung, der sowohl die Bundisten als auch die Bolschewiki und Menschewiki angehörten, trennte sich zu Beginn des Ersten Weltkriegs in eine gemäßigte sozialdemokratische und eine kommunistische Richtung.57 Nach dem Krieg wurden sowohl der polnische Bund als auch die Kommunistische Partei Polens gegründet, letztere dann aber für illegal erklärt und dazu genötigt, im Untergrund zu operieren. Aus diesem Grund blieb ihre Mitgliederzahl sehr gering. 1934, auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs, umfasste die Partei ungefähr 10.300 Personen, wovon wahrscheinlich eine überwältigende Mehrheit hinter Gittern saß. Der Anteil der Juden betrug 1930 rund 35 Prozent und stieg bis zur Auflösung der Partei durch Stalin im Jahr 1938 noch weiter an. 58 Am erfolgreichsten waren die Kommunisten bei der jüdischen Jugend der Oberschicht.59 Der Grund, weshalb sich gerade diese von den Kommunisten angesprochen fühlten, mag sein, dass bei ihnen die Assimilation in die polnische Gesellschaft weiter fortgeschritten war als beispielsweise bei den jüdischen Arbeitern. Während letztere mit dem jüdisch-kulturellen Umfeld weiterhin verwurzelt blieben und aus diesem Grund eher dem Bund nahestanden, hatten viele jüngere Angehörige der jüdischen Oberschicht ihr jüdisches Selbstverständnis längst aufgegeben. Für diese Menschen bot die kommunistische Partei die Möglichkeit, sich jenseits nationalkultureller sowie religiöser Zuge55 Dawidowicz: From that Place, S. 38. 56 Siehe dazu: Jakob Vigodski: Lekert’s toyt. In: Yidishe Vilne in vort un bild. Iliustrirter almanakh. Hg. von Morits Grosman. Vilne 1925, S. 20–21; P. Kurski. Hirsh Lekert. In: Vilne. A zamlbukh gevidmet der shtot Vilne. Hg. von Yefim Yeshurin. New York 1935, S. 167–173; 1000 yor Vilne, S. 234–235 (Gedicht „Vilne“ von Chaym Leyb Fuks). 57 Pickhan: „Gegen den Strom“, S. 373. 58 Joseph Marcus: Social and Political History of the Jews in Poland, 1919–1939, Berlin 1983, S. 290. 59 Kahan: Vilna, S. 154.
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hörigkeiten politisch zu engagieren. Besonders ältere Gymnasiasten oder Studenten mit relativ geringen Chancen, nach der Schule oder dem Studium in Polen (als Juden) eine geeignete Arbeit zu finden, fühlten sich von der Partei angesprochen, da sie hofften, in einer kommunistischen Gesellschaft von dem Stigma ihrer jüdischen Herkunft befreit zu werden. 60 Eine Person, die in dieses Mitgliederprofil passt, findet sich in den Texten von Grade. Es ist der Student und angehende Radioingenieur Mulik. Seine Eltern, die nichts von der politischen Orientierung ihres Sohnes ahnen, sind wohlhabend und besitzen ein Möbelgeschäft. 61 Welche Themen die kommunistische Jugend beschäftigten, zeigt Grade anhand der Fragen, die Mulik mit Eifer dem Bruder seiner Freundin stellt: „Farvos hot im keynmol nit gekimert tsu visn in vos far an oremkeyt, elnt un unterdrikung es leben di vaysrusishe poyerim arum Vilne, in Disne un Gluboke? Vos trakht [denken] er vegn di arbeter-tuer fun der shtotisher radiofabrik, vos men hot letstns farmishpet [verurteilt] tsu lange terminen in tfise [Gefängnis] far zeyer politisher tetikeyt? Tsi veys er az der poylisher tsuker, vos der oremer arbeter un poyer in land gufe [eigen] kenen zikh nit farginen [leisten] tsu koyfn, ot der zelber poylisher tsuker vert in oysland farkoyft bezil-hazol [spottbillig]? Hot er khotsh gehert vegn di poyerishe oyfshtandn un tseshisungen, vos dos poylishe militer firt durkh in di derfer fun mayrev-Vaysrusland un mayrev-Ukrayne?“ 62
Als Vorbild für die Person des Mulik mochte Grades älterer Halbbruder Arontshik, ein Anführer der Arbeiter, gedient haben. Dieser wuchs in einer wohlhabenden Familie auf, die eine Apotheke besaß. Verheiratet war er mit einer jungen Genossin, die Grade als selbstbewusste Frau erscheinen lässt: „Yudes iz a yung vaybl mit kurts-geshoyrene hor, un shikh trogt zi oyf niderike optsasn [Absätze]. Zi redt tsu itlekhn on tseremonyes, vi es past far a parteykhaverte.“ 63 Entgegen der Annahme, dass jüdische Kommunisten vornehmlich aus der Oberschicht stammten, findet sich bei beiden Autoren die Mehrheit der Anhänger der kommunistischen Ideologie – abgesehen von zwei weiteren von Karpinovitsh genannten Kommunisten, die ebenfalls aus einem wohlhabenden Elternhaus stammen – 64 bei der jüdischen Unterschicht. Zu diesen zählen Ar-
60 61 62 63 64
Heller: On the Edge of Destruction, S. 258–259. Grade: Di kloyz un di gas (3), S. 199. Ebd., S. 201. Grade: Der mames shabosim, S. 60. Karpinovitsh: 2/9, S. 144.
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beiter, Schuster, Tischler, Riemenmacher, Gamaschennäher, Handschuhnäher, Näherinnen, Hutmacherinnen, Verkäuferinnen und Prostituierte. Da die Zusammenkünfte geheim gehalten werden mussten, traf man sich meist in kleineren Gruppen in den Wohnungen einzelner Mitglieder: „Getrofn hot men zikh in di ovntn bay Leyb dem hoyzn-neyer oyf yidishe gas, in Rameyles hoyf. Dort hot er gevoynt in a boydem-shtibl. Forshteyer fun yidishn proletariat in Vilne, vi Zamele der kamashnshteper, Sorele fun di hentshkes, Yudke fun fishmans shuster-varshtat, Zisl der stolyer [Tischler], zenen gezesn inem boydemshtibl, eng eyner tsum andern.“ 65
Ein weiterer Treffpunkt war eine Dachkammer auf der daytshe gas: „Dortn zenen gezesn lange ovntn a por hoyzn-neyer, etlekhe shnayder-gezeln, neyerkes [Näherinnen], a hentshke-makher, un a bokher mit hungerike oygn hot geloybt far zey dos lebn in groysn ratnfarband [Sowjetunion], unter der zun fun der stalinisher konstitutsye.“66
Auffallend ist, dass die Treffpunkte meistens mitten im jüdischen Viertel lagen. Vielleicht war es die relative Sicherheit, die die unüberschaubare Architektur dieses Stadtteils bot, die denselben zum geeigneten Versammlungsort machte, oder es hatte damit zu tun, dass die Mitglieder der jüdischen Unterschicht von hier stammten und aus diesem Grund das jüdische Viertel der natürliche Ort war, wo man sich traf. Was die jungen Menschen in den revolutionären Kreisen Vilnes zusammenführte, war das heimliche Lesen von Karl Marx sowie Bücher über die Oktoberrevolution. 67 Auch erfuhren sie dort mehr über „dem zunikn leben in ratnfarban“. 68 Die Informationen, die dabei untereinander ausgetauscht wurden, ließen keinen Zweifel daran, dass das Leben jenseits der Grenze dem Leben in Vilne vorzuziehen war: „Yudke, velkher is geven a gezeln bay Fishmanen dem shuster, hot dertseylt, az in ratnfarband geyt men in kino umzist [gratis]. Men tseteylt biletn in ale zavodn [Fabriken], abi arbeter zoln geyn farbreytern zeyere gaystike horizontn. Azoy hot er zikh oysgedrikt inteligentne, vi er hot es gehert beys dem letstn tsuzamentref fun Brayndlen der puts-makherke, velkhe iz geven shtark ongeleyent [belesen].“ 69
65 66 67 68 69
Ders.: 5/9, S. 141. Ders.: 4/5, S. 75; vgl. ders. 3/7, S. 95. Ders.: 3/4, S. 54; ders.: 3/7, S. 95. Ders.: 5/9, S. 141. Ebd., S. 139.
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Als „Beweis“ für die umlaufenden Gerüchte über das Leben in der Sowjetunion wurden Briefe von Kameraden vorgelesen, die die Flucht über die geschlossene Grenze bereits gewagt hatten. Einen solchen Brief haben Yudkes und seine Kameraden auf Umwegen aus Warschau erhalten. Darin schreibt eine junge Frau, die jetzt in Dnjepropetrowsk lebt, an ihre Mutter. „Hot zi geshribn tsu der mamen, az a gan-eydn [Paradies] iz nit dos vort far ot dem ort. Men boyt un men stroyet [bauen] un men hakt vegn un me tsit tsum himl hoykhe koymens [Kamin]. Ale arbetn un men lakht fun der kapitalistisher velt.“70
Briefe wie dieser weckten bei vielen jungen Menschen in Vilne den Wunsch, selber in der Sowjetunion ein besseres Leben zu beginnen. Über diese Thematik schreibt Grade in seinen Memoiren ausführlich. So will etwa ein mit ihm befreundetes junges Ehepaar, Peysakhke und Leyeh, Vilne für ein besseres Leben in der Sowjetunion verlassen. Auch bei ihnen sind es die angeblich fortschrittlichen Zustände, die die Entscheidung zur Flucht erleichtern: „In ratn-farband, ruft zikh op mayn khosn [Verlobter], zaynen nito keyn tukhle [stinkend] hoyfn, dort zaynen glezerne gebeydes. Der ratn-farband, zogt er tsu mir, iz azoy groys, az dort geyt keynmol nit unter di zun. Ven zi geyt unter bay di bolshevikes in mayrev [Westen], geyt zi oyf bay di bolshevikes in mizrekh [Osten]. A medine [Staat], zogt er, a zekstl fun der velt.“ 71
Doch nicht nur Personen aus Grades engstem Bekanntenkreis, sondern auch seine eigene Freundin zieht es in die Sowjetunion. Für sie sind es die schlechten Arbeitsbedingungen und die Hoffnung auf ein sorgenfreies Leben, die sie von Vilne forttreiben: „Baylke zogt, az do vet zi shtendik farshvartst vern bay der ney-mashin, ober in Rusland vartn oyf ir glikn. Deriber vil zi do beshum oyfn [keinesfalls] nit blaybn.“ 72 Die Begeisterung jüdischer Kommunisten für die Sowjetunion – für deren Größe, deren moderne Städte und Industrie sowie die dort vorhandenen Arbeits- und Bildungsmöglichkeiten – zeigt, wie wenig Zukunftsperspektiven junge Menschen für sich in Vilne sehen. Dies verdeutlicht Karpinovitsh am Beispiel von Blumke, der Tochter einer Hühnerrupferin. Eingangs wird die Näherin Blumke zum Nichtstun verpflichtet, da die Hosennäher von Vilne einen Streik ausgerufen haben, der mehrere Tage anhält. Blumke weiß mit der freien Zeit wenig anzufangen und besucht deshalb regelmäßig einen revolutio70 Ebd., S. 141. 71 Grade: Der mames shabosim, S. 87. 72 Ebd., S. 93 f.
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nären Kreis, der in einer Dachkammer auf der daytshe gas zusammenkommt. Ihre Motivation dafür beruht sowohl auf der Suche nach Bildung, als auch nach sozialen Kontakten: „Iz zi gekumen in dem kreyzl zikh farbreytern dem horizon, efsher vet fun dortn zikh opreysn [finden] epes a kavalir.“ 73 Je länger der Streik andauert, desto mehr Gedanken macht sich Blumke über ihre Zukunft und die schlechten Aussichten, die sie in Vilne hat: „Vos kon zi derlebn do in Vilne, bay ir mamen di hinernitse? Keyn arbet iz nito. Keyn bokher oykh nit. Afilu s’vet zikh endikn der shtrayk, vos vart oyf ir? Vider zitsn baym Bezruk [Name ihres Arbeitgebers, S. St] un araynneyen kneplekh.“ 74
Als sich die Gerüchte in ihrem revolutionären Kreis häufen, dass man in der Sowjetunion lernen, arbeiten und etwas aus seinem Leben machen könne und hoffnungsvolle Briefe von geflüchteten Kameraden vorgelesen werden, entschließt sich Blumke, ihr Glück in der Sowjetunion zu suchen. Während Menschen wie Blumke die Flucht in die Sowjetunion tatsächlich wagten, blieben andere trotz der materiellen Verheißungen und angeblichen Freiheiten in Vilne. Zu diesen gehört auch Grade, wie seinen Memoiren zu entnehmen ist: „Ikh vil nit forn keyn Rusland, vayl ikh fil, az far mir toygt nit.“ 75 Er sei nicht wie Peysakhke ein Arbeiter, der genauso fest an die Sowjetunion glaube, wie seine Mutter an das Kommen des Messias. Nähere Erklärungen folgen nicht und es bleibt unklar, ob Grade wegen seines Berufs als Dichter nicht nach Russland gehen wollte oder weil ihm einfach die Überzeugung dazu fehlte. Ebenfalls eine kritische Haltung gegenüber den Verheißungen der Sowjetunion findet sich bei älteren – vor allem frommen – Jüdinnen und Juden. Zu diesen gehört auch Velvel, Leyehs Vater. So bemerkt dieser: „Ven hobn di bolshevikes bavizn azoy raykh tsu vern, zey zoln nokh kenen baglikn andere, yungelayt vos geyn arum in Poyln on arbet?“ 76 Velvels Zweifel wurden geweckt, als er sich an die Zeit erinnert, in der die Russen Vilne besetzt hatten. Damals, vor 15 Jahren, hätten diese gar nichts besessen – nicht einmal Schuhe! Verlässliche Informationen über die wahren Zustände in der Sowjetunion waren in der Zweiten Polnischen Republik nicht erhältlich. „Communist propaganda projected the great myth of the Soviet Union as the society that had brought an end to national oppression and was the embodiment of social jus73 74 75 76
Karpinovitsh: 3/7, S. 95. Ebd., S. 96. Grade: Der mames shabosim, S. 101. Ebd., S. 119.
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tice.“ 77 Über das Schicksal der in die Sowjetunion geflüchteten jungen Menschen war aufgrund der geschlossenen Grenzen sowie der sowjetischen Propaganda und Zensur nichts in Erfahrung zu bringen. Die Angst der Eltern über den Verbleib ihrer Söhne und Töchter wird von Grade in seinen Memoiren in einem eigenen Kapitel thematisiert. Dort wartet Velvel der Schneider seit einem Monat auf einen Brief seiner Tochter Leyeh und deren Ehemann. Von einem Kameraden seiner Tochter in Vilne erfährt er, dass die Russen die Neuankömmlinge keine Briefe schreiben ließen, da sich unter ihnen möglicherweise Spione befänden. 78 Ebenfalls ohne jegliche Kommunikation mit ihrem Sohn sind ehemalige Nachbarn von Vella Grade, deren Sohn Yudke illegal über die Grenzen in die Sowjetunion gegangen ist. 79 Welches Schicksal die jungen Menschen in der Sowjetunion wirklich erwartete, spricht Karpinovitsh am Ende seiner Erzählung von Blumke der Näherin aus: „In Vilne hot men nokh demolt nit gevust, az ale iberloyfers, velkhe hobn gekholemt [träumen] vegn a likhtik leben, hot men farshikt optsufintstern di yorn in vayte, kalte lagers, oyf keyn mol nit aroystsugeyn.“ 80
Während die jüdischen Kommunisten in der Sowjetunion eine finstere Zukunft erwartete, war ihr Leben auch in Vilne nicht ohne Gefahren. So schreibt Karpinovitsh: „Ot di bale-khaloymes [Träumer] fun a beser leben oyfn muster fun der sovyetisher medine hobn nit gekont umgeyn iber Vilne mit a breytn trot [Schritt] vi di betaristn [Mitglieder der revisionistischen Jugendorganisation ‚Betar‘], lemoshl, oder di fun der ‚tsukunft‘ [Jugendorganisation des Bund]. Di komunistishe partey, vi bavust, iz geven treyf [nicht-kosher, d. h. verboten] in Poyln, un far dem klenstn khshad [Verdacht], az aza eyner iz faran, hot men yenem glaykh arayngesetst in der lukishker tfise [Gefängnis].“ 81
Um eine Verhaftung und Gefängnisstrafe zu vermeiden, mussten sich die jüdischen Kommunisten in der Öffentlichkeit vorsichtig bewegen. Aus diesem 77 78 79 80
Heller: On the Edge of Destruction, S. 253. Grade: Der mames shabosim, S. 107. Ebd., S. 224. Karpinovitsh: 3/7, S. 108. Zu den bekannten Personen Vilnes, die in die Sowjetunion geflohen waren, gehörte auch der Lehrer Moshe Kulbak, der 1937 von den sowjetischen Behörden zum Tode verurteilt wurde. Vor seiner Abreise organisierten die Vilner Juden eine große Abschiedsfeier im jiddischen Theater, bei der auch viele Bundisten anwesend waren. Ders.: 5/9, S. 143. 81 Ders.: 5/9, S. 140.
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Grund begrüßten sie sich beispielsweise auf der Straße nur mit einem Kopfnicken, ohne miteinander zu sprechen,82 denn die Gefahr, von polnischen Spionen entdeckt zu werden, war in Vilne groß: „Di poylishe defensive veys, as der shtrom keyn Rusland geyt durkh Vilne, un shpionen loyern oyf ale vegn. Darf men zayn opgehit, vayl vent hobn oyern.“ 83 Dass gegen vermutliche jüdische Kommunisten hart vorgegangen wurde, zeigt Karpinovitshs Erzählung „Di royte fon“. Diese handelt von einem Juden, der ins Gefängnis muss, weil er aus Gutmütigkeit einem jungen Revolutionär hilft, eine rote Fahne auf die elektrischen Drähte über der daytshe gas zu werfen und dabei von der Geheimpolizei erwischt wird. Als politischer „Verbrecher“ findet sich der unschuldige Jude im Lukischker Gefängnis wieder, wo er in einer Zelle auf zwei Kommunisten trifft, die wegen Besitz von illegaler Literatur festgenommen wurden und auf ihren Prozess warten. 84 Doch Gefahr drohte den jüdischen Kommunisten nicht nur von der polnischen Geheimpolizei, die ihnen auflauerte, um die geheimen Treffen ausfindig zu machen, sondern auch von jüdischen Informanten, die sich unter die jüdischen Kommunisten mischten und die Informationen aus den Treffen weiter an die Geheimpolizei gaben. Speziell diese Problematik thematisiert Karpinovitsh in der Erzählung „Borke der maser [Verräter]“. Darin spioniert Borke, der Sohn einer verarmten Witwe, der sich für körperliche Arbeit zu fein ist, für die polnische Geheimpolizei. Durch seine Freundin Breyndl, eine Kommunistin, hat er Zugang zu den revolutionären Kreisen. Dank der Informationen, die Borke aus diesen erfährt, gelingt es der polnischen Geheimpolizei, einen jungen Mann aus Warschau am Bahnhof abzufangen, der den Genossen in Vilne geheime Instruktionen, Proklamationen und Literatur liefern wollte. 85 Angesichts der Tatsache, dass die Kommunisten in Polen eine Minderheit darstellten, 86 stellt sich die Frage, weshalb sowohl Grade als auch Karpinovitsh die Anhänger dieser Ideologie in ihren Texten so hervorheben. Denkbar ist, dass aufgrund des Verbots dieser Partei einzelne ihrer Exponenten besonders wahrgenommen wurden und deshalb den Eindruck vermittelten, überproportional vorhanden zu sein. Daneben spielen sicherlich auch persönliche Erfahrungen der Autoren eine Rolle, wie beispielsweise diejenigen Grades, der in 82 83 84 85 86
Ebd., S. 141. Grade: Der mames shabosim, S. 102. Karpinovitsh: 2/9, S. 135–138, 142. Ders.: 5/9, S. 151, 153. Minczeles: Identité et révolution, S. 156.
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seinem Umfeld Mitglieder dieser Partei kannte. Darüber hinaus bieten auf inhaltlicher Ebene die jüdischen Kommunisten eine Thematik, in der sich der Wunsch junger Jüdinnen und Juden auf eine bessere Zukunft besonders nachdrücklich spiegelt. Das Wissen, dass dieser für die Mehrheit der Genossen und Genossinnen nicht in Erfüllung ging und das Leben vieler noch vor dem Zweiten Weltkrieg mit dem Tod in einem sowjetischen Lager endete, verleiht dem Blick auf diese politische Bewegung darüber hinaus ihre eigene Tragik. In den Memoiren einzelner Vilner Jüdinnen finden sich keinerlei Hinweise auf die Kommunistische Partei. Die Gründe dafür liegen wie bereits beim Zionismus daran, dass die Autorinnen in jener Zeit vielfach noch zu jung waren, um sich für eine politische Ideologie zu interessieren. Lucy Dawidowicz hingegen erwähnt in ihren Memoiren jüdische Kommunisten. Darin berichtet sie über einen Prozess, in dem sechs junge Juden beschuldigt werden, einer kommunistischen Jugendorganisation anzugehören und in der Folge zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt werden. 87 Grade und Karpinovitsh vermitteln in ihren Texten ein vielschichtiges Bild jüdischer Kommunisten in Vilne. Hierbei handelt es sich vor allem junge Frauen und Männer, die der jüdischen Unterschicht angehören; Personen aus wohlhabenden Familien bilden bei beiden Autoren die Ausnahme. Die im Geheimen stattfindenden Aktivitäten der jüdischen Kommunisten beinhalten das Lesen von Parteiliteratur sowie Diskussionen über die Sowjetunion. Letztere ist der Ort, der eine rosige Zukunft verspricht, jedoch nur durch eine Flucht zu erreichen ist. Die Reaktionen der Vilner Juden auf die politische Ausrichtung der jungen Menschen sind aufgrund des Parteienverbots negativ. Anders als die jungen Kommunisten sind die einfachen Bewohner des jüdischen Viertels eher skeptisch über die Verheißungen, die in der Sowjetunion angeblich auf die Juden warten. Die Texte von Grade und Karpinovitsh vermitteln den Anschein, als ob die beiden radikalen Ideologien von Zionismus und Kommunismus in der Zwischenkriegszeit die einzigen politischen Bewegungen waren, die für sich das Monopol moderner jüdischer Politik in Anspruch nahmen. Dabei vernachlässigen beide Autoren fast gänzlich eine Kraft, die im politischen Leben des Ostjudentums eine entscheidende Rolle gespielt hatte, nämlich die antinationalistische Orthodoxie, die sich in der Partei Agudas Israel 88 organisierte. Letztere 87 Dawidowicz: From that Place, S. 161. 88 Die internationale Bewegung von Agudas Israel wurde 1912 in Katowicze durch die
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Politische Ideologien und Bewegungen: Aufruhr auf der „jüdischen Straße“
wird nur von Grade thematisiert und zwar ausschließlich im religiösen Kontext einer Rabbinerversammlung. In Anbetracht der tatsächlichen politischen Stärke der Partei – Agudas dominierte zwischen 1927 und 1937 die jüdische Politik in Polen 89 – ist es erstaunlich, dass diese von beiden Autoren nicht eingehender thematisiert wird. Karpinovitshs generelles Desinteresse am traditionellen Judentum und folglich seine einseitige Fokussierung auf die säkulare jüdische Politik erstaunt wenig, dass aber auch Grade einen relativ begrenzten Blickwinkel auf die jüdische Parteienlandschaft hat, überrascht dennoch. Eine Antwort darauf könnte sein, dass die Agudisten mit ihrem konservativen politischen Programm weniger innovativ erschienen und deshalb – obwohl auch sie als ein Produkt der Moderne Teil der jüdischen Politiklandschaft waren – mit ihrer in die Vergangenheit gerichteten Perspektive nicht zu Grades Auffassung moderner jüdischer Politik passten, die Grade genauso wie Karpinovitsh mit Zionismus und Kommunismus in Verbindung brachte. Dass der Bund als politische Bewegung in den Texten von Grade und Karpinovitsh eher eine Randstellung einnimmt, mag wiederum daran liegen, dass dieser für viele junge Juden zu wenig radikal war. Der Bund hatte nämlich im Gegensatz zu den Ideologien des Zionismus und des Kommunismus keine fernen, „perfekten Welten“ (Palästina, Sowjetunion) in seinem Programm, die vielleicht eher dem jugendlichen Wunsch nach grundlegender Veränderung
beiden deutschen Rabbiner Pinhas Kohn und Emanuel Carlebach gegründet. Die Arbeit von Agudas Israel in Polen nahm um 1916 noch während der deutschen Besetzung ihren Anfang. Sie unterschied sich deutlich von ihrer Schwesterpartei in Deutschland, die sich als Repräsentantin einer verschwindenden Minderheit sah. Die polnischen Agudisten verstanden sich als Sprachrohr einer bis dahin nicht beachteten Mehrheit. Ihr Kampf galt den säkularen Juden, insbesondere den Zionisten. Viele Anhänger fand Agudas Israel unter den Chassidim im ehemaligen Kongresspolen, allen voran der Gerer Rebbe Rabbi Abraham Mordechai Alter. In der Zwischenkriegszeit konnte die polnische Agudas Israel etwa ein Drittel der jüdischen Bevölkerung für sich gewinnen. Gershon C. Bacon: Agudat Israel in Interwar Poland. In: The Jews of Poland Between Two World Wars. Hg. von Yisrael Gutman, Ezra Mendelsohn, Jehuda Reinharz und Chone Shmeruk. Hanover 1989, S. 20–35, hier S. 21–22; Bacon: Reluctant Partners, S. 70, 72, 77; Rachel Heuberger: Die jüdischen Parteien im polnischen Parlament nach dem Ersten Weltkrieg. In: Beter und Rebellen. Aus 1000 Jahren Judentum in Polen. Hg. von Michael Brocke, Frankfurt am Main 1983, S. 237–259, hier S. 241. 89 Harry M. Rabinowicz: The Legacy of Polish Jewry. A History of Polish Jews in the Inter-War Years 1919–1939. New York, London 1965, S. 116.
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Bundisten und jüdische Kommunisten
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entsprochen hätten, sondern gab sich mit der doikeyt 90 – und folglich auch mit Vilne – zufrieden. Insgesamt vermitteln die Texte von Grade und Karpinovitsh ein vielschichtiges Bild von den jüdischen Zionisten und Kommunisten. Nicht nur die Zusammensetzung der jeweiligen Bewegung sowie die dort verfolgten Ideale werden aufgezeigt, sondern auch die Gründe, die einzelne junge Jüdinnen und Juden dazu bewegt haben, sich einer bestimmten politischen Bewegung anzuschließen. 91 Deutlich wird außerdem, welchen Stellenwert politische Ideologien und Bewegungen im Alltag junger Menschen hatten und dass diese nicht nur politische Ideale vermittelten, sondern ein Gemeinschaftsgefühl und den Glauben an eine schöne Zukunft. Aufschlussreich sind darüber hinaus auch die Reaktionen und Meinungen einfacher Juden, die als Außenstehende die politischen Bewegungen und deren Anhänger kritisch betrachten. Hierbei hat sich gezeigt, dass die älteren Bewohner des jüdischen Viertels selber keinen direkten Bezug zu einer bestimmten politischen Ideologie hatten und weiterhin mehrheitlich traditionellen Glaubensmustern verhaftet waren.
90 Der Begriff doikeyt verweist auf die Auffassung, dass die Juden für ihre Gleichberechtigung und nationalen Rechte in den osteuropäischen jüdischen Gemeinden selbst – und nicht in einem fernen Land – kämpfen müssen. Der Bund galt als Apostel dieser doikeyt, die er mit seinem Ausruf „Wir bleiben hier!“ bekannt gab. Mendelsohn: The Jews of East Central Europe, S. 44; Mendelsohn: On Modern Jewish Politics, S. 76. 91 Tatsächlich gehörten Ende der 1930er Jahre in Polen fast alle säkularen Jugendlichen irgendeiner Jugendorganisation oder politischen Partei an. Heller: On the Edge of Destruction, S. 267.
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Das eheliche Zusammenleben im jüdischen Viertel
Das Zentrum des jüdischen Lebens war die Familie. Sie bildete eine wirtschaftliche Interessengemeinschaft mit fester Rollenverteilung. Ihr Hauptzweck war, die religiösen Vorschriften und Bräuche sowie die sozialen Verhaltensweisen der traditionellen jüdischen Gesellschaft an die Nachkommen weiterzugeben. Wurden die Kinder erwachsen, so war es die Aufgabe der Eltern, ihre Söhne und Töchter unter die Chuppa zu stellen, damit diese eigene Familien gründen konnten. Bis ins 19. Jahrhundert wurden jüdische Ehen ausschließlich von den Eltern mit Hilfe eines Ehevermittlers, dem Schadchen, arrangiert. Dabei wurden die Ehepartner nach bestimmten Kriterien ausgesucht. Ausschlaggebend waren die familiäre Abstammung, yikhes, das Vermögen, die Gelehrsamkeit des Bräutigams, die wirtschaftlichen Talente und hauswirtschaftlichen Kenntnisse der Braut sowie deren Tugend und Moral. 1 Gemäß jüdischem Brauch war das Alter der Brautleute, vor allem bei wohlhabenderen Familien, sehr niedrig – eine Braut von 15 Jahren und ein ein bis zwei Jahre älterer Ehemann waren nichts Außergewöhnliches. In der Tendenz, möglichst früh zu heiraten, drückten sich neben persönlichen und materiellen Erwägungen die „traditionellen religiösen und ethischen Normen hinsichtlich der Sexualität“ 2 aus. Widerspruch seitens der psychologisch und wirtschaftlich von ihren Eltern abhängigen Jugendlichen war die Ausnahme und wurde erst mit höherem Heiratsalter und der Vorstellung von romantischer Liebe, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch Einzug in die jüdische Ideenwelt fand, zu einem häufiger anzutreffenden Phänomen. 3 Dem traditionellen jüdischen Ideal männlicher Gelehrsamkeit entsprechend verbrachten die Ehemänner so viel Zeit wie möglich mit dem Studieren religiöser Texte. Obwohl die Mehrheit der Juden wahrscheinlich weder die
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ChaeRan Y. Freeze: Jewish Marriage and Divorce in Imperial Russia. Hannover, London 2002, S. 25; siehe dazu auch Shaul Stampfer. Families, Rabbis and Education. Traditional Jewish Society in Nineteenth-Century Eastern Europe. Oxford, Portland 2010. Katz: Tradition und Krise, S. 138. Freeze: Jewish Marriage and Divorce, S. 16.
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Das eheliche Zusammenleben im jüdischen Viertel
wirtschaftlichen Mittel noch die dafür notwendige Bildung besaßen, sich ausschließlich einer geistigen Tätigkeit zu widmen, legitimierte dieses Ideal die Präsenz der jüdischen Frau in der Welt des Handels und des Handwerks. Die Ehefrauen waren deshalb nicht nur für den Haushalt und die Erziehung der Kinder – vor allem der Mädchen – zuständig, sondern zum größten Teil auch für den Verdienst des Lebensunterhalts der ganzen Familie. 4 Diese strikte „Arbeitsteilung“ zeigte sich besonders bei jungen Brautleuten, die nach der Hochzeit gewöhnlich ein paar Jahre bei der Familie der Braut wohnten. Hier verbrachte der Schwiegersohn seine Kest – eine Zeit, in der er ausschließlich religiösen Studien nachging –, während er von seiner Frau und deren Familie ausgehalten wurde. 5 Diese „Unproduktivität“ der Ehemänner, die Arbeit der Ehefrauen außerhalb des Hauses sowie das niedrige Heiratsalter wurden von den Maskilim stark kritisiert. 6 Sie sahen in der traditionellen jüdischen Familie das Haupthindernis für eine Modernisierung der jüdischen Gesellschaft. Während sie den Verdienst des Lebensunterhalts ausschließlich als Aufgabe des Ehemanns definierten, propagierten sie gleichzeitig das westlich-bürgerliche Ideal weiblicher Domestizität und wiesen der jüdischen Frau die Rolle der Hausfrau und Mutter zu. 7 Obwohl die Ideen der Maskilim in der ostjüdischen Realität des 19. Jahrhunderts nur bedingt umgesetzt wurden, war ein schrittweiser Wandel im gesellschaftlichen Bereich aufgrund der sich ändernden sozioökonomischen Verhältnisse nicht aufzuhalten: „Marriage, the central arena for redefining gender and authority, increasingly came under public scrutiny as critics (not simply from elites but also ordinary folk) questioned traditional values and customs. While everyday practices were slower to change, Jews emulated a distinct transition toward the ‚companionate marriage‘ based on mutual respect, emotional and intellectual compatibility, and affection. The new
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Paula E. Hyman: Gender and Assimilation in Modern Jewish History. The Roles and Representation of Women. Seattle, London 1995, S. 67. Zur Arbeitswelt ostjüdischer Frauen siehe: Susan A. Glenn: Daughters of the Shtetl. Life and Labor in the Immigrant Generation. Ithaca, London 1990, S. 8–30. Haumann: Geschichte der Ostjuden, S. 130. Vgl. dazu Jacob Goldberg: Die Ehe bei den Juden Polens im 18. Jahrhundert. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 31/4 (1983) 481–515, bes. S. 491 ff.; David Biale: Eros and Enlightenment: Love Against Marriage in the East European Jewish Enlightenment. In: Polin, 1 (1986) S. 49–67. Hyman: Gender and Assimilation, S. 70.
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emphasis on selffulfillment and individual feelings reshaped attitudes toward every aspect of marriage, from match-making to the gender division of labor in the household.“ 8
Dieser sich vollziehende Wandel im Bereich der Ehe wurde von der traditionellen jüdischen Gesellschaft als eine bedrohliche Erscheinung der Säkularisierung verstanden, die durch ihr Konfliktpotential die Interessen der Gemeinschaft zu gefährden schien. 9
Auf dem Weg zur Chuppe Aus den Texten von Grade und Karpinovitsh wird ersichtlich, dass in der Zwischenkriegszeit neben moderneren Ansichten bezüglich der Institution Ehe weiterhin traditionelle Ehevorstellungen fortbestanden. So war im jüdischen Viertel für viele fromme Juden das Heiraten eine primär religiöse Pflicht: „Di toyre hot ongezogt, az a yid darf [müssen] khasene hobn un hobn kinder.“ 10 Unverheiratete Juden wurden deshalb mit Misstrauen betrachtet: „An altn bokher vos voynt in a shtot tor men nit getroyen.“ 11 Zu diesen in den Augen der frommen Bewohner als etwas suspekt geltenden Juden gehört Lazar der Schreiber: „Nor vayl er iz geven an alter farzesener bokher [unverheirateter Mann] (…) hobn frume yidn nit ongetroyt shraybn a raynikeyt [Torarolle]. Er hot zikh gemuzt banugenen [zufriedengeben] mit farrikhtn [reparieren] mezuzes un batim fun tfiln [Kästchen für Phylakterien].“ 12
Besonders von jungen religiösen Juden wurde erwartet, dass sie heirateten, denn „a frumer yungerman tor nit zitsn on a vayb“. 13 Im klaren Wissen um die fleischlichen Versuchungen, vor denen bereits in der talmudischen Litera8 Freeze: Jewish Marriage and Divorce, S. 11 f. 9 Rüthers: Tewjes Töchter, S. 142. 10 Grade: Der shulhoyf (1), S. 23. Trotz des Drucks zu heiraten gab es Jüdinnen und Juden, die alleine blieben, wie etwa junge Hausangestellte, Witwen und Witwer oder verlassene Ehefrauen (agunot). Sie alle wurden verdächtigt, ein zügelloses Leben zu führen, und galten deshalb als schlechtes Beispiel für die jüdische Gesellschaft. Katz: Tradition und Krise, S. 147. 11 Grade: Di kloyz un di gas (2), S. 93. 12 Ders.: Der shulhoyf (1), S. 209. 13 Ders.: Der shtumer minyan, S. 67.
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tur, aber auch in der zeitgenössischen Musar-Literatur gewarnt wurde, verheirateten die Väter ihre Söhne in möglichst jungen Jahren. Selbst für Toragelehrte, die durch das Studium an einer Jeschiwa ihre Ehe um ein paar Jahre hinauszögern konnten, galt das Ideal, „zuerst zu heiraten und dann ‚in Reinheit‘ die Tora zu studieren.“14 Von jungen Frauen wurde ebenfalls erwartet, nicht zu lange mit dem Heiraten zu warten. So hört man die Leute über die 18jährige elternlose Breyndl sagen: „Zi iz shoyn bald a khale-meydl [Mädchen im heiratsfähigen Alter], Breyndl. Men darf zi tsuhitn far a laytishn [respektabel] shidekh [Ehepartie] …“ 15 An junge und mittellose Frauen richtete sich in der jüdischen Gemeinde die Gesellschaft hakhnoses khale, deren Aufgabe es war, arme heiratsfähige Mädchen mit einer Mitgift auszustatten, damit diese auf dem Heiratsmarkt bessere Chancen hatten. In Vilne gab es diese traditionelle wohltätige Gesellschaft bis in die 1930er Jahre. Nach dem Tod ihres Hauptfinanziers musste sie allerdings ihre Arbeit niederlegen, wobei einige Frauen weiterhin die Aufgaben von hakhnoses khale inoffiziell fortführten und dafür speziell vor Jom Kippur Geld sammelten. 16 Wie tief die Unterstützung mittelloser Bräute als religiössoziale Pflicht in der jüdischen Bevölkerung verwurzelt war, spiegelt sich auch im Verhalten eines Vereins der jüdischen Unterwelt, wo „[s]’iz geven a bafel oystsuteyln nadns [Mitgift] far oreme khales fun der algemeyner kase“. 17 Viele der in den Texten von Grade und Karpinovitsh beschriebenen Ehen kamen auf traditionellem Weg zustande, das heißt, sie wurden arrangiert. Von solchen shidukhim wissen in Vilne vor allem ältere Leute zu berichten. Eine betagte Jüdin etwa erzählt, dass sie mit knapp 15 Jahren einen Jeschiwastudenten heiraten musste. Dieser studierte den ganzen Tag, während sie den kleinen Laden ihrer Mutter führte. Als ihr Ehemann eines Tages dabei erwischt wurde, wie er heimlich weltliche Bücher las, bestand ihr Vater nach zwei Jahren Ehe auf die Scheidung. Kurze Zeit später fragte er seine Tochter: „Vos vest zitsn on a man?“, 18 worauf er ihr einen zweiten, noch gläubigeren Ehemann aussuchte. Von einem ähnlichen Schicksal berichtet ein alter Poresch, der in jungen Jahren von seinem Vater in die Ehe geführt wurde: 14 15 16 17 18
Katz: Tradition und Krise, S. 139. Karpinovitsh: 3/9, S. 130. Sharafan: Di religyeze Vilne, Spalte 328. Karpinovitsh: 2/10, S. 155. Grade: Der shtumer minyan, S. 118–119.
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„[D]i kale [Braut] mayne, iz geven a raykhe un a berye [gute Hausfrau]. Zi hot nokh meydlvayz gefirt groyse gesheftn, farbrengt a velt [eine gute Zeit verbringen]. Hot der tate mikh geshtupt unter di khupe Gey, shlimazl, gey! Vest den in dayn leben kenen aleyn fardinen a parnose?“ 19
Kennzeichnend für diese Beispiele ist das „Nicht-Beteiligt-Sein“ der jungen Brautleute bei der Wahl der Ehepartner und die unmittelbare Konfrontation mit einer neuen Lebenssituation. Gemein ist ihnen auch die traditionelle Rollenverteilung, bei der die praktisch veranlagte Ehefrau für das weltliche und der intellektuelle Ehemann für das geistige Wohl verantwortlich ist. Dass diese Art von Ehe einst ganz den gesellschaftlichen Konventionen entsprach, zeigt die Aussage eines alten frommen Juden: „Amolike tsaytn hobn yidishe kinder khasene [Heirat] gehat durkh geredte shidekh [arrangierte Ehe], khosn-kale [Brautleute] hobn zikh oftmol nit gezen biz unter der khupe [Hochzeitsbaldachin]. Iz in yene tsaytn hot es oysgezen nit sheyn, az a porl zol zikh tsunoyfkumen [zusammenkommen] on a shidekh.“ 20
Die moderne Art junger Menschen, sich kennenzulernen, wird auch von Vella Grade in Frage gestellt, indem sie die Beständigkeit arrangierter Ehen betont. Besonders für Mädchen habe sich die Situation verschlechtert: „Vos gefelt zey azoy in di hayntike oysgelozene bokherim? Di fartsaytike yungelayt, zogn di meydlekh, zaynen geven vilde, mit bord un peyes, un khosn-kale [Brautleute] hot zikh tsumol nit ongekukt biz nokh der khupe. Ober vos kumt aroys fun dem vos di hayntike bokherim shpiln in libe, kushn [küssen] un haldzn di kales far der khasene, az nokh der khasene zukhn zey andere? Bay a frumen yungnman iz di vayb – a vayb, un di heym iz a heym.“ 21
Während Vella Grade hauptsächlich die jungen Männer kritisiert, die mit den Mädchen ausgehen und sie dann sitzenlassen, bringt sie Verständnis für diejenigen Mädchen auf, die sich keinen Heiratsvermittler leisten können oder ohne Familie sind, und sich deshalb auf Bekanntschaften einlassen müssen, um einen Ehemann zu finden: „[U]n az Baylke iz an orem meydl, darf zi farzitsn [unverheiratet sein]? Ikhl dir zogn dem emes [Wahrheit]: ikh hob gornit tsu di oreme meydlekh, vos firn libes. Vi den zoln zey khasene hobn, oyb nit durkh libes, shatkhonim [Ehevermittler] zoln zey shikn?“ 22
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Ebd., S. 114. Grade: Di kloyz un di gas (2), S. 54. Ders.: Der mames shabosim, S. 148. Ebd., S. 92.
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Die junge Schneiderin Baylke, von der Vella Grade hier spricht, hat ihr Schtetl und ihre Mutter verlassen, um in der Stadt zu arbeiten. In Vilne sieht sie sich aufgrund von Armut, aber auch wegen fehlender familiärer Strukturen dazu verleitet, eigenständig nach einem Ehepartner zu suchen. Gerade ihr Schicksal veranschaulicht, wie die sich verändernden Wirtschaftsstrukturen und die daraus resultierende höhere Mobilität jüdischer Arbeitnehmer indirekt Auswirkungen auf jüdische Bräuche hatten, die sich wie hier im Bereich der Ehe manifestierten. Darüber hinaus verdeutlicht Baylkes Beispiel, dass die Präsenz oder die Abwesenheit der eigenen Familie einen Einfluss auf die Art und Weise haben konnte, wie eine Ehe zustande kam. Dass auch in der Zwischenkriegszeit Ehen mit Hilfe der eigenen Familie arrangiert wurden, zeigt das Beispiel des 20jährigen Polsterers Moyshele Munvas, der seine große Liebe, die Hutmacherin Bertha Sapir, wegen ihres angeblich schlechten Rufs nicht heiraten darf. Stattdessen arrangieren ihm seine Verwandten eine gute Partie: „[E]r hot gelozt di shvegerins im reydn a shidekh mit Nekhamele Glaz, di shnayderke fun Kopanitser gas.“ 23 Aus reiner Neugier willigt Moyshele ein, sich mit seiner auserwählten Braut, die er bis dahin nicht gesehen hat, zu treffen: „Moyshele hot afilu nit gedenkt vi zi zet oys, ot di shnayderke; s’iz im glat geven tshikove [neugierig] onkukn a meydl vos is greyt [bereit] khasene hobn durkh a geredtn shidekh.“ 24 Ähnlichen familiären Zwängen sind auch die Töchter des frommen Reb Teytlboym unterstellt. Als seine jüngste Tochter Itke den Wunsch äußert, vor ihrer Hochzeit alleine zu wohnen, zeigt der Vater kein Verständnis: „[V]oynen far zikh vet Itke ersht nokh der khasene mit a bokher, vos er vet far ir oysklaybn [aussuchen].“ 25 Nur durch die Heirat mit einem frommen jungen Mann erhofft sich der Vater ein ordentliches Leben für seine zügellose Tochter. Selbst seiner mittleren Tochter Serl verbietet er, ihren Freund – einen frommen jungen Handwerker – zu heiraten, da nicht er ihn ausgesucht hat: „Nit derlebn veln es di soyne-yisroel [Antisemiten], er zol nemen far an eydem [Schwiegersohn] a bokher vos shadkhnt zikh [sich verheiraten] aleyn!“ 26 Die Beispiele von Moyshele Munvas und den Töchtern Reb Teytlboyms zeigen, wie groß der Einfluss der eigenen Familie auf die Wahl des Ehepartners sein konnte. In beiden Fällen handelt es sich um relativ junge Menschen, die 23 24 25 26
Grade.: Di kloyz un di gas (2), S. 66. Ebd., S. 67. Ebd., S. 82. Ebd., S. 83.
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bei ihren Familien leben und wirtschaftlich von diesen abhängig sind. Die Frage der Ehe äußert sich in diesen Beispielen in der Form eines Generationenkonflikts, bei dem die Eltern oder Verwandten ihre Interessen durchzusetzen wissen. Interessant ist, dass es sich einmal um eine eher als säkular zu bezeichnende Familie handelt und ein anderes Mal um eine streng religiöse. Daraus wäre zu schließen, dass arrangierte Ehen nicht nur religiös motiviert waren und primär bei traditionellen Familien vorkamen, sondern grundsätzlich mit familiären Machtstrukturen zu tun hatten, die in jeder Familie ihren Ausdruck finden konnten. Das Wort der eigenen Familie hatte aber selbst bei etwas älteren Jüdinnen und Juden Gewicht, die wirtschaftlich unabhängig von ihren Familien lebten. Der alleinlebende Spieler Tsalel beispielsweise erhält eines Tages einen Brief von seiner Tante aus Amerika, worin sie ihn auffordert, ein Mädchen aus Vilne zu heiraten und mit diesem zusammen nach Amerika zu kommen, um dort ihren Waschsalon zu übernehmen: „Hobn mir bashlosn dikh khasene tsu makhn un brengen keyn Amerike. In Vilne iz faran a meydl, Hinde, heyst zi, zi dint bay Lazben fun di puter [Butter] oyf yatkever gas.“ 27 Ähnlich verhält es sich bei der Witwe Tsirl, die von einer Verwandten über einen möglichen Heiratskandidaten informiert wird: „Di kroyve [Verwandte] fun Meyshegole, hinter Vilne, hot ir gevolt reydn a shidekh mit a dorfishn almen [Witwer] nit keyn altn, eyngeordnt, mi ki [Kühe].“ 28 Bei den hier genannten shidukhim fällt auf, dass deren Attraktivität auf dem finanziellen Vermögen des jeweiligen Ehekandidaten begründet ist, wie eben ein gut laufender Waschsalon oder der Besitz von Kühen. Persönliche Eigenschaften werden in diesem Zusammenhang nicht erwähnt und scheinen nicht von primärer Bedeutung gewesen zu sein. Aus den Texten von Grade und Karpinovitsh wird deutlich, dass der finanzielle Aspekt ein wesentliches Merkmal arrangierter Ehen war. Selbst nicht religiöse Juden schienen sich gerade aus diesem Grund auf arrangierte Ehen eingelassen zu haben. So sucht etwa ein junger Mann „a khale mit gelt un yikhes [Abstammung]“. 29 Wieder ein anderer – ein Schauspieler – denkt über ein ihm gemachtes Angebot nach: „A shidekh [Eheangebot] hot men im dort geredt. A grushe [geschiedene Frau] mit shnitkrom [Schneidereigeschäft].“ 30 Von dieser 27 28 29 30
Karpinovitsh: 3/2, S. 27. Ders.: 3/9, S. 129. Grade: Di kloyz un di gas (2), S. 69. Karpinovitsh: 1/2, S. 28.
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„guten Partie“ überzeugt sind zumindest die Freunde des Schauspielers und raten diesem zuzuschlagen und mit der Mitgift der Frau eine Tournee zu finanzieren. Ebenfalls auf eine Verbesserung seiner eigenen finanziellen Situation bedacht ist der geschiedene Frisör Suske, als er, im vornehmen Café Strahl sitzend, über mögliche Ehepartnerinnen sinniert, die ihm den Weg in die höhere Vilner Gesellschaft ebnen könnten: „Efsher take durkh a gutn shidekh. Weynik besere froyen geyen areyn tsu Shtraln? … Ot, lemoshel, Bergers eltere tokhter, tsi doktor Fins almone [Witwe]. Gants Vilne veys, az zey zenen tsum hobn.“ 31 Auf der Suche nach einem geeigneten Ehepartner stand den Familien häufig ein Ehevermittler bei. Das Schadchen mit seinem Buch voller potentieller Ehekandidaten war eine Institution der traditionellen jüdischen Gesellschaft, die allerdings aufgrund häufig falscher oder übertriebener Lobpreisungen der Heiratskandidaten nicht nur bei den Maskilim, sondern auch bei den orthodoxen Juden in Verruf geraten war. 32 Im jüdischen Viertel von Vilne fand sich dennoch bis in die Zwischenkriegszeit ein Heiratsvermittler mit unzähligen heiratswilligen Jüdinnen und Juden in seinem Angebot – ein Zeichen, das auf die Traditionsverbundenheit dieses Ortes verweist: „Reb Kopl nemt zikh kokhn [wütend werden], shpringt azsh fun der hoyt. Vos heyst Lozer geyt khasene hob un er, der shadkhn [Ehevermittler] fun shul-hoyf, veys es nit? Er hot dokh im ongebotn tsen shidukhim, hundert shidukhim. Er hot khales oyfn tuts [dutzendweise], er hot grushes [geschiedene Frauen], er hot almones [Witwen] …“ 33
Die Liebesheirat war im traditionellen Kontext die Ausnahme; gewöhnlich kannten sich die Brautleute vor der Hochzeit nicht. „Erst heiratet man, dann kommt die Liebe,“ 34 war die gängige Auffassung einer erfolgsversprechenden und respektablen Ehe. Häufig wurde die Liebesheirat als eine von den wenig begüterten Juden praktizierte Vorgehensweise betrachtet, die sich für „bessere“ Familien nicht ziemte. 35 Die romantische Liebe bedeutete ein Infragestellen der Institution Ehe und der damit verbundene Normen- und Wertewandel hatte Auswirkungen auf die Strukturen der traditionellen jüdischen Gesellschaft insgesamt.
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Ders.: 1/7, S. 124. Freeze: Jewish Marriage and Divorce, S. 21. Grade: Der shulhoyf (1), S. 57. Zborowski, Herzog: Das Schtetl, S. 213. Haumann: Geschichte der Ostjuden, S. 128.
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„This was the institution through which the prestige of the rabbinate and the yeshiva students was upheld; it was the means by which wealth was rerouted to particular families; it was how the purity of lineages was maintained and how class stratification was conserved.“ 36
In der Zwischenkriegszeit geriet die jahrhundertealte soziale Ordnung, die durch die traditionelle Ehe aufrechterhalten wurde, immer mehr ins Wanken, denn viele junge Leute richteten sich nicht mehr nach den Berechnungen des Schadchen und ihrer Eltern, sondern trafen ihre eigene Wahl: „[T]he traditional method of matchmaking, with a dominant role for parents and often with the assistance of professional matchmakers, did not disappear but did experience growing challenge and change. Above all, the future bride and groom increasingly assumed an important role, tempering if not abrogating the parentally arranged marriage.“ 37
Im jüdischen Viertel Vilnes war die Liebesheirat besonders bei der jüngeren Generation verbreitet. Zu den jungen Leuten, die sich keinen Ehepartner durch ihre Familie oder einen professionellen Ehevermittler bestimmen lassen wollten, gehörte auch Grades Ehefrau, Frume-Libtshe, über die Vella Grade sagt: „Di meydl iz a gebildete, a shtoltse un a shtrenge, zi hot nit gelozt zikh reydn keyn shidukhim afilu fun ir tatn [Vater] dem rov [Rabbi].“ 38 Entgegen dem Wunsch ihres Vaters hatte Frume-Libtshe nämlich keinen Mirer Jeschiwastudenten geheiratet, sondern sich für Vella Grades Sohn – einen in den Worten ihres Vaters „gottlosen“ Schriftsteller – entschieden.39 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Frume-Libtshes Vater seine Tochter verdächtigte, Chaim Grade geheiratet zu haben, damit dieser „zol ir helfn zikh aroysraysn fun der heym, fun yidishkeyt.“ 40 Hier wird deutlich, dass fromme Juden durch eine arrangierte Ehe nicht ausschließlich die Entscheidungsfreiheit ihrer Kinder einzuschränken versuchten, sondern primär sicherstellen wollten, dass die traditionelle Frömmigkeit von ihren Nachkommen fortgeführt wurde. Bei einer Liebesheirat trat im Gegensatz zu einer arrangierten Ehe der finanzielle Aspekt vermehrt in den Hintergrund. Dies zeigt das Beispiel von Mende dem Schmied, über den sich seine Nachbarn äußern: „S’iz geven bay 36 Iris Parush: Reading Jewish Women. Marginality and Modernization in NineteenthCentury Eastern European Jewish Society. Hanover, London 2004, S 169. 37 Freeze: Jewish Marriage and Divorce, S. 25. 38 Grade: Der mames shabosim, S. 160. 39 Ebd., S. 196. 40 Ebd., S. 192.
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Das eheliche Zusammenleben im jüdischen Viertel
im a libe. Er hot bokhervays gekont ton di shenste shidukhim. Hot er genumn a meydl an oreme.“ 41 Dass auch ihr Ehemann eine „bessere Partie“ hätte haben können, stellt die Ehefrau des Frisörs Ortshik fest: „Ikh veys dokh yo vos far a shidukhim m’hot dir geredt. Mit gelt, mit an eynkumenish … hostu genumen an oreme meydl.“ 42 Bei Liebesheiraten spielte neben dem Reichtum auch die bei arrangierten Ehen wichtige Familienabstammung (yikhes) eine viel geringere Rolle. Dies zeigt sich an der negativen Reaktion einer Mutter, die mit dem Bräutigam ihrer Tochter – einem Schriftsteller und ehemaligen Dieb – alles andere als zufrieden ist: „Lizes mame hot getaynet [geklagt], az s’iz nit far ir, a ganef [Dieb] blaybt a ganef. Zi, Lize, vi a krankn-shvester in yidishn shpitol, darf zikh nit arumshlepn mit aza shmonderik. Dortn, in shpitol, ken zikh makhn a shtikl doktor, vos iz mer yikhes fun a shrayber …“ 43
Unabhängig davon, ob eine Ehe durch ein Schadchen oder eigene Bemühungen zustande kam, war sie eine öffentliche Angelegenheit. Das freudige Ereignis teilten die Brautleute oder die Eltern den Nachbarn mit, und diese wurden dann zur Hochzeit eingeladen. 44 Die Hochzeit selbst bestand aus der formalen Verlobung und dem Ehegelübde. Während der Verlobungszeremonie (kiddushin) überreichte der Bräutigam der Braut in Anwesenheit von zwei Zeugen den Hochzeitsvertrag (ketubah), in dem die gegenseitigen Verpflichtungen sowie die finanzielle Entschädigung an die Braut, die ihr im Fall einer Scheidung oder beim Tod ihres Ehemanns zustand, festgehalten waren. Danach folgten das Ehegelübde und das Zertreten eines Glases, das die Zerstörung des Tempels und die Zerbrechlichkeit der Ehe symbolisch darstellte. 45 Der Ort, an dem in Vilne viele Ehezeremonien stattfanden, war der shulhoyf. Hierher kamen Paare aus der ganzen Stadt, um sich beim Oberschamesch Gordon trauen zu lassen: „Gordon hot gegebn khupe-vekdushn [Hochzeitszeremonie] der gantser shtot. Di khupe-shtangen flegt im nokhtrogn zayn unter-shamesh. Beysn ibergebn di ksube [Ehevertrag] flegt er zogn: do hot ir a kontrakt oyf hundert un tsvantsik yor …“ 46 41 42 43 44 45 46
Karpinovitsh: 2/8, S. 123. Ders.: 2/6, S. 92. Ders.: 5/4, S. 61 f. Ders.: 2/2, S. 27. Freeze: Jewish Marriage and Divorce, S. 46, 48. Karpinovitsh: 3/8, S. 116.
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Lustige Witwen unter der Chuppe – Zweitehen
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Der Hochzeitszeremonie folgte ein Fest mit einem besonderen Essen, mit Musik, Tanz und Unterhaltung.47 Das Geld, das für eine solche Feier benötigt wurden, war für viele Bewohner des jüdischen Viertels kaum aufzubringen. Das verdeutlichen die Worte Vella Grades, die sich Sorgen darüber macht, wie sie die Hochzeitsfeier ihres Sohnes finanzieren soll: „Vu vel ikh do oyfnemen gest? Di raykhe sude [Festessen] vos ikh ken praven [anbieten]? Dem tish far oreme-layt vos ikh ken shteln? Di klezmer vos ikh ken dingen [anstellen]?“ 48
Lustige Witwen unter der Chuppe – Zweitehen Eine besondere Stellung nehmen in Grades Texten die Zweitehen ein. Diese waren in der jüdischen Gesellschaft eine alltägliche Erscheinung: „Remarriage was an economic necessity where the family was also a production unit and childrearing a principal domestic task.“ 49 Diese auf das 19. Jahrhundert bezogene Aussage trifft auch auf das jüdische Viertel von Vilne der Zwischenkriegszeit zu. Eine Wiederverheiratung nach dem Tod des Ehepartners war gang und gäbe, wie folgende Beispiele einzelner Witwen in Grades Texten veranschaulichen: Die noch junge Witwe Badane war mit dem um viele Jahre älteren Rabbi Velvele verheiratet, der Frau und Tochter nach seinem Tod mittellos zurückließ. Nach einem Jahr der Trauer entschließt sich die Witwe, erneut zu heiraten: „Az got vet ir veln bashern a man, vet ir dos glik kumen in der hant arayn on a shadkhn [Heiratsvermittler].“ 50 Hier wird deutlich, dass die Witwe sich nicht mehr vorschreiben lassen will, wen sie zu heiraten hat – auch nicht von den Nachbarn, die von der ehemaligen Rebbetzin erwarten, dass sie wieder einen frommen Gelehrten zum Mann nimmt: „Zol zi, kedey tsulib-tsu-ton dem shul-hoyf, bleybt an almone [Witwe], oder nokhamol khasene hobn mit a bank-kvetsher un shlimazl [Tunichtgut], mit a batlen [nicht praktische Person] fun Goens minyan, mit a tsvaytn reb Velvele?“ 51
47 48 49 50 51
Grade: Der mames shabosim, S. 98. Ebd., S. 199 f. Freeze: Jewish Marriage and Divorce, S. 62. Grade: Der shulhoyf (1), S. 118. Ebd., S. 149.
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Das eheliche Zusammenleben im jüdischen Viertel
Der zukünftige Ehemann sollte sie und ihre Tochter gut versorgen können, praktisch veranlagt und finanziell unabhängig sein. Die Wahl der Witwe fällt auf Reb Avigdor, einen Getreidehändler aus dem jüdischen Viertel: „Zi volt greylekh [sehr] geshtelt a khupe [Hochzeitsbaldachin aufstellen] mitn melkremer reb Avigdor, Yerokhumkes tate. Reb Avigdor iz a raykher balebos, a gezunter, a kluger, a breyte hant un oykh a yidisher mentsh, a bal-tfile [Gläubiger].“ 52
Ähnlich wie die Witwe Badane verlor auch Bathseba Rapaport in relativ jungen Jahren ihren Ehemann, der 25 Jahre älter als sie gewesen war und bereits erwachsene Kinder aus erster Ehe hatte. Nachdem Bathsebas eigene Kinder geheiratet haben, entschließt sich die Witwe nach zwei Jahren der Trauer, einen guten Bekannten ihres verstorbenen Mannes zu heiraten. Während bei ihr ebenfalls wirtschaftliche Erwägungen eine Rolle spielen, ist bei ihrer Wahl auch der Charakter des zukünftigen Ehemanns von Bedeutung: „Oyb zi iz greyt shteln mit im a khupe, git zi zikh dokh mistome [wahrscheinlich] op a klorn din-vekhezhbm [Nachdenken] vos far a sort mentsh er iz.“ 53 Neben den Witwen Badane und Rapaport schreibt Grade auch ausführlich über seine Mutter Vella Grade, die zur Witwe wurde, als ihr Sohn noch nicht erwachsen war, und die sich seitdem alleine um dessen Erziehung und den Lebensunterhalt kümmern musste. 54 Aus Rücksicht auf ihren Sohn hatte sie sich gegen eine weitere Heirat entschieden, was Grade seiner Mutter nachträglich vorwirft: „Vi lang ikh bin geven a yingl, hostu nit gevolt ikh zol hobn a shtif-tatn. Ven ikh bin untergevaksn, hostu gevolt aribervartn biz ikh vel khasene hobn [heiraten]. Itszer, az tsvishn mir un Baylken iz gornit gevorn, vil ikh nit du zolst veyter vartn.“ 55
Aus diesen Worten Grades wird deutlich, dass eine erneute Heirat für seine Mutter eigentlich eine Selbstverständlichkeit gewesen wäre, und sie durch ihr langes Warten einige Opfer gebracht hatte. Aus diesem Grund bemüht sich Grade, seiner Mutter die Vorzüge einer Verbindung mit einem gewisssen Reb Meyer aufzuzeigen: „Az du vest khasene hobn mit reb Meyrn, vestu nehmen leben oykh far zikh, nit bloyz far mir.“ 56 Nach gutem Überlegen gesteht auch Vella Grade die Vorzüge einer Ehe mit Reb Meyer ein. Diese sind einerseits 52 53 54 55 56
Ebd., S. 71. Grade: Di kloyz un di gas (3), S. 225; vgl. ders.: Der shtumer minyan, S. 39. Ders.: Der mames shabosim, S. 48. Ebd., S. 94. Ebd., S. 95.
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Lustige Witwen unter der Chuppe – Zweitehen
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wirtschaftlicher – „Er iz aleyn oykh a fardiner“ 57 – sowie religiöser Natur: „Ikh vel hobn ver es zol far mir kidesh [Sabbatsegen über Wein] makhn.“ 58 Sehr zum Erstaunen ihres Sohnes heiratet Vella Grade allerdings nicht Reb Meyer, sondern kündet ihrem Sohn eines Tages an, dass sie den ihm unbekannten Reb Rafoel Rosenthal, der einen Gemüseladen auf der breyte gas besitzt, ehelichen werde. Als Grade daraufhin seine Mutter etwas besorgt fragt, ob sie ihren künftigen Ehemann denn kenne, antwortet sie ihrem Sohn: „Avade [natürlich] ken ikh im (…) dos heyst, ikh hob mit im knap geredt, nor ongekukt hobn mir zikh yo. Ikh veys nit afile tsi er redt-ven-nit-iz mit zayne eygene oysgegbene [verheiratet] kinder. Er iz in der natur a yid a shveyger, avort a rendl [Dukat]. Nor di shadkhnte [Heiratsvermittlerin] zogt, az er iz zeyer a eydeler yid.“ 59
Aus Vella Grades Worten wird deutlich, dass sie ihren zweiten Ehemann auf traditionelle Weise gefunden hat. Dieser wurde ihr von einer Heiratsvermittlerin vorgeschlagen und empfohlen; nach einem kurzen persönlichen Treffen mit dem Ehekandidaten entschloss sich Vella, Reb Rosenthal zu ehelichen. Die drei genannten Beispiele zeigen, dass auch bei einer zweiten Eheschließung unterschiedliche Vorgehensweisen und Motivationen vorlagen. Während die religiöse Vella Grade bei der Suche nach einem Ehemann eine Heiratsvermittlerin in Anspruch nimmt, wählen die etwas weniger religiösen Witwen Badane und Rapaport ihren jeweiligen Ehemann ohne fremde Hilfe. Und während Vella Grade entsprechend einer arrangierten Ehe ihren Ehemann vor der Trauung kaum kennt, besteht bei den Witwen Badane und Rapaport mit ihren zukünftigen Ehemännern bereits vor der Eheschließung während längerer Zeit Kontakt. Der wesentliche Grund, weshalb alle drei Frauen nochmals heiraten wollen, ist der Wunsch auf Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage, doch spielen bei ihrer Wahl auch die Religiosität oder der Charakter des Ehepartners eine wesentliche Rolle. Eine besondere Problematik bei vielen Zweitehen stellten die Stiefkinder dar. Dies zeigt sich in einem Gespräch zwischen Grade und seiner Mutter, bei dem der Autor das Fehlen von Stiefkindern als einen Pluspunkt von Reb Meyer hervorhebt: „Un keyn dinst bay zayne kleyne kinder vestu oykh nit darfn zayn. Er hot oysgegebene tekhter.“ 60 Vella Grades Vorbehalte gegenüber Stiefkindern
57 58 59 60
Ebd. Ebd. Ebd., S. 255. Ebd., S. 95.
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Das eheliche Zusammenleben im jüdischen Viertel
rühren aus den Erfahrungen ihrer ersten Ehe, durch die sie zur Stiefmutter der noch kleinen Söhne von Schlomo Grade wurde: „Di mame veyst biz haynt nit, tsi zi hot yoytse geven [gerecht sein] far ire shtif-zin. Ir hot zikh shtendik gedakht, az zey kukn oyf ir krum, vos zi farnemt zeyer mames ort. Hot zi zikh keynmol nit tsugerirt tsu di kleyder, vos zaynen geblibn fun der geshtorbener, un geven ibergegebn ir mans zin mer vi zi iz es tsu ir ben-yokhed [einziger Sohn]. Vi men zol zikh nit firn mit eygn blut un fleysh, vet men gornit zogn, nor az men kumt on tsu a man mit kinder, iz tomer a hor, zogt di velt: a shtif-mame.“ 61
Das Klischee der bösen Stiefmutter haftete an vielen Frauen, die einen älteren Ehepartner mit kleinen Kindern heirateten. Doch auch bereits erwachsene und verheiratete Kinder scheinen ein schwieriges Verhältnis zu den neuen Ehepartnern ihrer Eltern gehabt zu haben. Dies zeigt sich an der Reaktion von Reb Avigdors verheirateten Töchtern, als sie von den Hochzeitsplänen ihres Vaters erfahren: „Fun kaas [Wut], vos a fremde yidene vet zitsn oyf zeyer mames shtul, hobn R’Avigdors oysgegebene dray tekhter oyfgehert geyn tsu im nokh eyder er hot khasene gehat. Yerokhumken [sein Sohn, S. St.] volt nit geart [stören], der tate zol araynnemen an andere vayb, abi men zol im gebn es nun lozn zikh arumdreyen gantse teg oyfn shulhoyf an arbl [Ärmel] farrukt in an arbl. Ober vi er iz nit keyn batlen [Dummkopf ], farshteyt er, as a shtif-mame vet im anton zores [Ärger].“ 62
Wie viel Bedeutung die Meinung erwachsener Kinder bezüglich der Partnerwahl ihrer Väter oder Mütter hatte, stellt Vella Grade fest: „Oyf kinder vos hobn khasene kegn viln fun di eltern kukt di hayntike velt nit azyo krum vi oyf eltern vos hobn khasene kegn viln fun di kinder.“ 63 Im Hinblick auf die Zweitehen stellt Grade vor allem die Witwen als aktive Protagonistinnen dar, die auf der Suche nach einem neuen Ehepartner sind. Im Gegensatz dazu erscheinen die Witwer des jüdischen Viertels eher passiv. So klagt zwar ein Witwer gegenüber einem anderen: „S’iz biter on a vayb, R’Abraham-Aba, s’iz biter!“ 64 , doch ein konkretes Handeln folgt dieser Äußerung nicht. Wie die verwitweten Frauen so waren auch die Witwer nicht zum Heiraten verpflichtet: „Oyb dem zitsn on a vayb brengt nit tsu nisoyen [Verführung] un iz oykh nit mevatl [ablenken] fun lernen, meg men.“ 65 Allerdings 61 62 63 64 65
Ebd. Grade: Der shulhoyf (1), S. 39. Ders.: Di kloyz un di gas (3), S. 226. Ebd., S. 222. Ebd.
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Ehealltag im jüdischen Viertel
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sollte derjenige heiraten, der den weltlichen Versuchungen nicht absagen konnte. Diesbezüglich wird über den Getreidehändler Reb Avigdor getuschelt, dass er gewissen Versuchungen nicht abgeneigt sei: „Un zint R’Avigdor iz gevorn a almen, shushket men zikh, az er hot afile hanoe [Spaß] fun zakhn vos men tor [dürfen] nit.“ 66
Ehealltag im jüdischen Viertel Neben der Schilderung der Art und Weise, wie Ehen angebahnt wurden, geben die Texte von Grade und Karpinovitsh auch Einblick in den ehelichen Alltag verschiedener Paare des jüdischen Viertels. Auffallend hierbei ist, dass viele der geschilderten Ehen wenig harmonisch erscheinen und ein hohes Konfliktpotential aufweisen. Pese, die Ehefrau von Reb Nokhuml dem Geldverleiher, beispielsweise beklagt sich über den Geiz ihres Ehemanns – dieser wolle ihr auch nach zehn Jahren der Ehe keine neue Perücke kaufen: „Zol di velt visn, az mit alemen tut er gmiles-khsodim [zinsfreie Darlehen], nor ir kargt [knauserig sein] er dem bisn, koyft ir nit keyn nay sheyt [Perücke], un vil nit opshraybn oyf ir nomen keyn groshn, khotsh zi iz bay im a dinst gantsene tsen yor.“ 67
Von wenig gegenseitigem Vertrauen zeugt auch das Verhalten eines alten Gabben, der seine Besitztümer vor seiner Ehefrau versteckt: „Bay im iz dos finfte vayb, un sheyn volt er oysgezen az yede fremde yidene, vos er nemt arayn far a vayb, zol krikhnin zeyer shuplodn.“ 68 Äußere Anzeichen ehelicher Uneinigkeit wie Streitereien und Beschimpfungen finden sich wiederum in der Ehe des betagten Krämers Reb Bunem und seiner Frau: „Buneml hot bay zikh opgemakht, az zayn Tsivye-Reyze iz di greste khutspenitse [unverschämte Person] in der velt, un az er iz take an alt ferd, vi zi hot im gerufn, oyb er hot biz itst nit gevust vos far a marshas [hinterhältiges Weib] zi iz.“ 69
Bei diesen drei Beispielen fällt auf, dass es sich ausschließlich um ältere Paare handelt, deren Ehen jeweils durch ein Schadchen arrangiert wurden. Hinter diesem wenig harmonisch und ernüchternd wirkenden Bild ehelichen Zusam-
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Grade: Der shulhoyf (1), S. 38. Grade: Der shulhoyf (2), S. 239. Ders.: Di agune, S. 165. Ders.: Der shulhoyf (1), S. 29.
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Das eheliche Zusammenleben im jüdischen Viertel
menlebens könnte indirekt eine Kritik Grades stecken, der die auf traditionelle Weise zustande gekommenen Ehen in Frage stellt. Ehekonflikte wie die hier genannten waren häufig nicht nur verbal, sondern konnten auch in Gewalttätigkeiten enden. „A vayb darf men shlogn“, 70 stellt ein unzufriedener Ehemann lakonisch fest und antwortet auf die Frage eines Freundes, ob er seine Frau schlagen würde: „[B]ay mir iz an enge shtub, un az ikh zol zi gebn a shtoys, hot zi nit tsu faln.“ 71 Häusliche Gewalt findet auch in der arrangierten Ehe von Moyshele Munvas statt, dessen Frau Nekhamele während eines Streits in den Hof flüchtet. 72 Ein anderer Ehemann wiederum schlägt seine Frau zusammen und meint: „M’darf ir aroyslozn di gederem, un an ek [genug sein] zol es nehmen.“ 73 Dass Gewalt nicht nur in Familien vorkam, die weniger fromm waren, zeigt das Beispiel des Tabakhändlers Vova Barbitoler, der in seiner Freizeit Tefilin an die Knaben des jüdischen Viertels verteilt und regelmäßig die Synagoge besucht. Seine Frau fürchtet sich vor seinen Gewaltausbrüchen so sehr, dass sie sich eher umbringen möchte, als für ihren vermeintlichen „Ungehorsam“ von ihm bestraft zu werden. 74 Neben diesen verbalen und physischen Auseinandersetzungen werden in den Texten von Grade und Karpinovitsh auch Ehen beschrieben, in denen die Ehemänner ihre Frauen betrügen. Zu diesen gehören Vella Grades Nachbar Alterke, der Gänsehändler, 75 der Mann der Süßwarenhändlerin Lapidus, die deshalb versucht hat, sich das Leben zu nehmen, 76 oder der frisch verheiratete Moyshele Munvas, der ein heimliches Verhältnis mit der Tochter des streng religiösen Reb Teytlboym angefangen hat. 77 Dass eheliche Untreue anscheinend für einige Bewohner des jüdischen Viertels nichts Außergewöhnliches war, zeigt die Reaktion von Nechameles Schwägerinnen, die Moysheles Verhalten nicht allzu dramatisch einschätzen und ihre Schwägerin mit folgenden Worten trösten: „Nekhamele, far a man muz men laydn.“ 78 Das Vorhandensein einer Geliebten wird in den Texten größtenteils als Fakt konstatiert. Lediglich vereinzelt finden sich Erklärungen für das Verhalten 70 71 72 73 74 75 76 77 78
Ders.: Di agune, S. 191. Ebd. Grade: Di kloyz un di gas (2), S. 118. Karpinovitsh: 1/1, S. 20. Grade: Tsemakh Atlas (di yeshive). Bd. 1, S. 165, 183. Ders.: Der mames shabosim, S. 143. Ebd., S. 144. Grade: Di kloyz un di gas (2), S. 103. Ebd., S. 71.
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Ehealltag im jüdischen Viertel
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der untreuen Ehemänner. So rechtfertigt Karpl der Schildermaler das Scheitern seiner Ehe mit der einfachen Herkunft und den fehlenden Kochkünsten seiner Frau: „Dos vayb zayns iz geven fun prostn shtand un nokh dertsu nit gekent opkokhn a rekhtn teler zup.“ 79 Darüber hinaus scheint seine Geliebte nicht nur ohne die Mängel seiner Ehefrau zu sein, sondern auch eine „moderne“ Frau: „Lizke hot nit nor gut gekokht, nor oykh geven shtark inteligent. Zi hot geleyent dike bikher, gereykhert papirosn [Zigaretten] un gelebt modern, fray.“ 80 Karpls Ehe erweckt den Anschein, von Anfang an nicht allzu erfolgversprechend gewesen zu sein – wenigstens aus der Sicht von Karpls Freunden, die den Schildermaler schon vor der Hochzeit vor seiner Ehefrau gewarnt hatten. Nachträglich bedauert Karpl, nicht auf diese gehört zu haben, und schreibt sein Handeln seiner Jugend zu: „[O]ber az men iz yung ligt der seykhl [Verstand] nit in rikhtikn ort.“ 81 Weitere Erklärungen für die Untreue eines Ehemanns finden sich im Beispiel der Ehe von Elinke dem Metzger: „Elinke der hoykher hot zikh tsekrigt mitn vayb. Tsayt er hot zikh bakant mit Bunke di hinernitse, hot zikh ongehoybn bay im brekhn s’leben. Esterke, zayn vayb, hot im shoyn mer nit gekont tsutrefn [gefallen]. Vos zi hot geton, hot nit getoygt. Un dos iz geven tsu farshteyn. Zi hot zikh nit gekont untershteln unter Bunken, vos iz geven sheyn, yung, mit a haldz. Esterke iz glaykh nit geven keyn shidekh [Heiratspartie] far im.“ 82
Elinkes Ehe wurde durch die Brüder seiner Frau arrangiert, die ihm als Gegenleistung für seine Vermählung mit ihrer Schwester „gute Geschäftsverbindungen“ versprochen hatten. Als Elinke den Wunsch äußert, sich von ihrer Schwester scheiden zu lassen, erklären sie ihm: „[K]hasene hobn [heiraten] iz vi vyetshene katorge [Zwangsarbneit], un oyf dem iz nito keyn apelatsye.“ 83 Dem unzufriedenen Ehemann bleibt nur eines: „[I]z Elinke ibergeblibn bloyz tsu zukhn fartrinkn di tsores [Sorgen] un esn s’leber bay der vayb. Flegt er zi shtekhn mit a vort, a mol mit a meser …“ 84 Die Beispiele von Karpl und Elinke nennen eine Reihe von Gründen, weshalb Ehemänner ihre Frauen betrügen. Diese umfassen sowohl traditionelle 79 80 81 82 83 84
Karpinovitsh: 2/1, S. 15. Ebd., S. 16. Ebd., S. 15. Karpinovitsh. 1/6, S. 105. Ebd., S. 106. Ebd.
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Partnerschaftskriterien wie Herkunft, Reichtum (in Aussicht gestellte Geschäftsverbindungen) und hauswirtschaftliches Geschick, als auch eher moderne, wie Aussehen, Alter und Lebenseinstellung („moderne“ Frau). Kennzeichnend für die hier genannten Beispiele ist, dass es sich einmal um eine Liebesheirat und einmal um eine arrangierte Ehe handelt, die Ehemänner jedoch in beiden Fällen nicht religiös sind. Damit scheinen die Texte zu suggerieren, dass ehelicher Betrug ausschließlich bei weltlichen Juden vorkam, unabhängig davon, ob die Ehe durch andere arrangiert oder selbst gewählt war. Ob sich dies tatsächlich so verhielt, lässt sich anhand der Quellen und der Sekundärliteratur nicht verifizieren. Sicher ist jedoch, dass eheliche Untreue mit den Werten und Normen der traditionellen jüdischen Gesellschaft nicht zu vereinbaren war und aufgrund gesellschaftlicher Kontrolle und Sanktionen weniger offen gelebt werden konnte.
Getrennte Wege Während viele Jüdinnen und Juden bereit waren, eine Ehe einzugehen, so kämpften einige Ehepaare darum, eine bestehende Verbindung aufzulösen. Das jüdische Gesetz sah die Ehe als eine freiwillige Vereinigung, in der die Ehepartner gegenseitige Verpflichtungen und Vorzüge genossen. Eine Auflösung dieser Vereinigung konnte erzielt werden, sofern eine der Parteien ihre Verpflichtungen nicht einhielt und den Ehevertrag verletzte. 85 Hierbei galt nach rabbinischer Sicht allerdings, dass eine Scheidung nur vollzogen werden konnte, wenn der Ehemann – selbst als schuldige Partei – dieser zustimmte. Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren Scheidungen im Russischen Reich „ubiquitous and a common feature of Jewish life“. 86 Diese Entwicklung änderte sich jedoch in der Folge: Während die Scheidungsrate anderer Bevölkerungsgruppen bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts stetig zu85 Freeze: Jewish Marriage and Divorce, S. 137. Die Vorrechte auf eine Scheidung waren für Männer und Frauen unterschiedlich. Ein Ehemann hatte das Recht, sich von seiner Frau scheiden zu lassen, wenn diese vorehelichen Verkehr hatte, Ehebruch beging, nach zehn Ehejahren kein Kind gebar oder geisteskrank war. Zu den Gründen, die Frauen wenigstens theoretisch das Recht gaben, die Ehe zu beenden, gehörten „untolerierbare Gerüche“, wie eine lepröse Erkrankung, das Unvermögen des Ehemanns, für seine Frau zu sorgen, kein Geschlechtsverkehr innerhalb von sechs Monaten, körperliche Misshandlung der Ehefrau und Impotenz. Ebd. S. 140–141. 86 Ebd., S. 149.
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nahm, war bei derjenigen der Juden eine Abnahme zu verzeichnen.87 Gründe für diese Entwicklung waren das steigende Heiratsalter der Ehepartner bei Erstehen (bis dahin waren es vor allem sehr junge Paare, die sich scheiden ließen), das wachsende ethnische Bewusstsein und der damit verbundene Wunsch nach familiärer und kommunaler Einheit, der Rückgang traditioneller Scheidungsgründe wie Kinderlosigkeit, die aufkommende Vorstellung von romantischer Liebe sowie der Unwille der Ehemänner, in Zeiten wirtschaftlichen Umbruchs ihren Ehefrauen die Mitgift zurückzuerstatten.88 In den Texten von Grade und Karpinovitsh werden verschiedene Ehen beleuchtet, in denen sich ein oder beide Ehepartner scheiden lassen möchten. Anschaulich ist das Beispiel des Tabakhändlers Vova Barbitoler, der seiner inzwischen in Argentinien lebenden untreuen zweiten Ehefrau Konfrade aus verletztem Stolz keine Scheidung zubilligen will. Konfrade, die längst – ohne offiziell geschieden zu sein – in Argentinien wieder geheiratet und ein Kind bekommen hat, bittet ihren ersten Mann erneut, einer Scheidung zuzustimmen, damit sie nicht länger gegen das jüdische Gesetz leben muss. Doch selbst nach all den Jahren der Trennung ist Vova Barbitoler nicht umzustimmen: „Vova Barbitoler hot zikh opgeshvorn, frier vet der himl kumen tsu der erd eyder er vet ir shikn a get [Scheidung], un er hot di shvue [Eid] gehaltn. (…) Konfrade durkh briv, un ire brider fun der noent, hobn baym vilner beys-din [Gericht] gemont er zol zikh araynmishn. Der beys-din hot etlekhe mol geshikt shamosim [Diener] brengen dem tabak-soykher, ober er hot zikh afilu opgezogt fun kumen zikh oys’taynen [bereden] mit di dayonim [Friedensrichter].“ 89
Am Beispiel des Tabakhändlers Vova Barbitoler wird deutlich, dass das jüdische Gesetz einen Ehemann nicht zwingen konnte, einer Scheidung zuzustimmen, selbst wenn das Rabbinat gegen das Scheidungsbegehren der Ehefrau nichts einzuwenden hatte. Ebenso wird ersichtlich, dass durch die geographische Distanz das rabbinische Gesetz umgangen werden und man auch ohne Scheidung eine weitere Ehe eingehen konnte. Interessant ist, dass nicht nur Konfrade diesen Umstand für sich ausgenutzt hat, sondern auch Vova Barbitoler. Dieser ehelichte nämlich außerhalb von Vilne eine dritte Frau, wohl
87 Ebd., S. 146. Für Vilne weist Freeze auf jeweils 1000 geschlossene Ehen folgende Scheidungszahlen auf: 1837/38 841,8, 1853 549,5, 1870 157,9, 1881 154,3, 1896 184,1 und 1901 154,8; ebd. S. 148, 156, 157. 88 Ebd., S. 158. 89 Grade: Tsemakh Atlas (di yeshive). Bd. 1, S. 134.
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Das eheliche Zusammenleben im jüdischen Viertel
wissend, dass er in Vilne dazu von keinem Rabbiner eine Erlaubnis bekommen hätte. 90 Was an diesem Beispiel etwas erstaunt, ist die Tatsache, dass der im jüdischen Viertel als fromm geltende Vova Barbitoler, der in seiner Freizeit Tefilin an die Knaben verteilt und darauf bedacht ist, dass diese die jüdischen Gesetze einhalten, selber eine Ehe führt, die nicht rechtens ist. Es scheint, als wolle Grade hier einen Juden porträtieren, der zwar gläubig, nicht aber ohne Fehler ist. Insofern zeigt er, dass Scheidungen jenseits aller religiösen Gesetze von persönlichen Motiven beeinflusst wurden, die sämtlichen Beteiligten zum Nachteil werden konnten. Während die jüdischen Scheidungsgesetze im Talmud festgelegt waren und seit Jahrhunderten ihre Anwendung fanden, konnten äußere Umstände die Auslegung dieser Gesetze beeinflussen. Dies zeigte sich im Fall von Geisteskrankheit, wo – betraf diese den Ehemann – aus rabbinischer Sicht eine Ehe eigentlich nicht geschieden werden konnte, da ein geistig behinderter Ehemann nicht in der Lage war, den Scheidungsprozess zu initiieren und zu vollziehen. 91 In diesem Zusammenhang erwähnt Karpinovitsh das Beispiel des stadtbekannten meshugenen Rabbi Iserson, dessen Ehefrau einen Rabbiner davon zu überzeugen versucht, ihrer Scheidung zuzustimmen: „Iz zi avekgelofn tsu rov [Rabbi] Meyr Karelits, der rov fun der forshtot Poplaves, un gebetn a get [Scheidung]. Zi hot moyre [Angst] tsu zayn mit a meshugenem unter eyn dakh. Haynt begist er di ugurkes unter a shlaksregn, morgn kon er zi bagisn mit naft [Petroleum], es zol fun ir arop der zshaver [Mehltau]. Der rov iz nit nispoel gevorn [enthusiastisch] fun ire taynes [klagen], s’iz nokh vayt fun zayn meshuge. Nor az zi hot dertseylt vayter, az ir man redt gantse nekht far fayer un far vaser, shrayt az der khurbn [Untergang] fun Vilne iz nit vayt, az ver es ken zol zikh rateven [retten] – hot der rov genumen ibertrakhtn: efsher iz take Iserson nit bay zinen? (…) Fun destvegn hot zi nokh gedarft lang veynen un yentshn [jammern], biz zi hot bakumen dem get [Scheidung].“ 92
Dass in diesem Beispiel dem Scheidungsbegehren der Ehefrau eines geisteskranken Juden schlussendlich zugestimmt wird, weist auf eine liberalere Scheidungspraxis hin, die vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs zu verstehen ist. Viele Ehemänner waren durch die Fronterfahrung als Soldaten geistig an90 Ebd.; vgl. dazu ders.: Der shulhoyf (3), S. 377. 91 Freeze: Jewish Marriage and Divorce, S. 185. 92 Karpinovitsh: 5/3, S. 37 f.; vgl. Grade: Der shulhoyf (2), S. 284.
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geschlagen und entwickelten aufgrund fehlender ärztlicher Behandlung psychische Krankheiten, die ein Zusammenleben mit ihren Ehefrauen teilweise unmöglich machten. Auf dieses von außen verursachte Problem reagierten die rabbinischen Autoritäten, indem sie die Scheidungsanträge von Ehefrauen in gewissem Masse zuließen. Wurde eine Ehefrau für geisteskrank erklärt, so erlaubte das religiöse Gesetz dem Ehemann, den ganzen Scheidungsprozess zu umgehen und sich wieder zu verheiraten, sofern dieser 100 Unterschriften von Rabbinern vorweisen konnte, die einer neuen Ehe zustimmten. 93 Dass diese Möglichkeit auch in der Zwischenkriegszeit noch allgemein bekannt war, zeigt das Beispiel von Reb Levi Hurvits, dessen Ehefrau seit 20 Jahren in einer Anstalt für geistig Kranke untergebracht ist. Während Reb Levi Hurvits eigentlich keine neue Ehe eingehen will, beraten sich seine Nachbarn und kommen zum Entschluss, dass „er zol nemen a heter [rabbinische Erlaubnis] fun hundert rabonim un khasene hobn, veyl s’iz mer nito keyn hofenung zayn vayb zol gezunt vern.“ 94 Das rabbinische Gericht in Vilne, das für Scheidungen zuständig war, stimmte laut Grade nur sehr ungern etwaigen Anträgen zu. Das Bild, das der Autor von dieser religiösen Institution zeichnet, ist wenig löblich: Die Scheidungsbegehren der Ehepaare wurden von den dafür Verantwortlichen wenig ernst genommen. Dies zeigt sich in der Auffassung von Reb Asher Anshel, der rabbinischen Autorität in Scheidungsfragen, welcher der Meinung ist, dass 99 Prozent der Ehepaare, die sich scheiden lassen wollten, lediglich ein klärendes Streitgespräch bräuchten, um wieder glücklich zusammenleben zu können. Diese Einstellung Reb Anshels war in ganz Vilne bekannt: „Zayn opgehitkeyt baym aroysgebn a get iz a shem daber [Ruf ]. Er lozt a porl zikh onloyfn yorn un pruvt oys ale takhbules [Mittel] in der velt zey sholem [Frieden] tsu makhn.“ 95 Am Beispiel des kinderlosen Ehepaares Isroel und Shifrale, deren Scheidung erst nach monatelangem Hin und Her stattfinden kann, schildert Grade ausführlich den Unwillen der Vilner Rabbiner, einer Scheidung zuzustimmen. Verantwortlich für den endlos dauernden Scheidungsprozess ist in diesem Fall ein alter Rabbi, der aus Erfahrung weiß, wie mit zerstrittenen Ehepaaren umzugehen ist:
93 Freeze: Jewish Marriage and Divorce, S. 185. 94 Grade: Di agune, S. 19. 95 Ebd., S. 27.
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Das eheliche Zusammenleben im jüdischen Viertel „Shtot veys, az der rov is a noyekh-lebries [umgänglich], der gelasnster yid in der gantser velt. Zayn derekh [Weg] iz: lozn tsekrigte man un vayb zikh oystaynen [aussprechen]. A sakh mol kumt a porl zikh fanandergeyn, un vil in der emes bloyz zikh aropreydn fun hartsn. Hert zey der rov geduldik biz zey lozn zikh oys, un er shikt zey op aheym.“ 96
Neben geduldigem Zuhören verfolgt der alte Rabbi auch eine kontinuierliche Verschiebungstaktik: „Der rebe hert Shifrale oys mit groys gelasnkeyt, glet di zilberne bord, un zogt tsu ir azoy: Kumt nokh purim. Haynt darf ikh geyn leyenen megile [hier: das Buch Esther].“ 97 Als Isroel und Shifrale ein zweites Mal vor den Rabbi treten, sagt dieser wieder: „Kumt nokh peysekh [Pessach]. Haynt darf ikh geyn farkoyfn dem khomets [Gesäuertes].“ 98 Beim dritten Besuch schließlich entgegnet der Rabbi Shifrale gelassen: „[A]z oyb zi vil zikh getn tsulib a kind, iz zi nit mekhuyev [verpflichtet]. A yidene iz nit farzogt [verpflichtet] oyf der mitsve fun prie-orvie [Fortpflanzung]. Khuts dem veys men nit vos fun di hayntike kinder ken oysvaksn. (…) Un oyb ir geyt in leben zikh tsu sheydn mit aza eydeln yungnman, to zol zi forn keyn Varshe. Dort vet men ir gleykh gebn a get, dort iz a yarid [Aufruhr] …“ 99
Der Verweis des Rabbis auf Warschau impliziert, dass dort Scheidungen anscheinend weniger strikt gehandhabt wurden als in Vilne, und Vilne immer noch ein Ort war, an dem das traditionelle Judentum ein Wort zu sagen hatte. Doch ungeachtet dieser restriktiven Scheidungspraxis wurden auch in Vilne viele Paare geschieden. Dies stellt ein anderer Rabbi mit Bedauern fest: „Fundestvegn hobn zikh ongeklibn [anhäufen] getn [Scheidungen] in di hunderter.“ 100 Kam es tatsächlich zu einer Scheidung, so mussten gewisse formelle Abläufe berücksichtigt werden: „Tsu a get (…) badarf men shikn rufn dem soyfer [Schreiber] un tsvey eydes [Zeugen]: dem shamesh fun der alter shul un dem shamesh fun der nayer shul. Dos darf kostn a gantser hunderter.“ 101 Neben der Anwesenheit eines Zeugen, eines Schreibers und der Bezahlung eines Geldbetrags musste der Rabbiner den Ehemann befragen, ob er sich aus freien Stücken scheiden lassen wolle. Diesbezüglich fragt auch der alte Rabbi Isroel, ob 96 97 98 99 100 101
Grade: Der shulhoyf (3), S. 358. Ebd., S. 352. Ebd. Ebd., S. 353. Grade: Di agune, S. 27. Ders.: Der shulhoyf (3), S. 359.
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Getrennte Wege
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nicht Shifrales Brüder ihn dazu gezwungen hätten, einer Scheidung zuzustimmen. 102 Eine Scheidung galt schließlich als legal, wenn der Ehemann seiner Frau die Scheidungsurkunde in die Hand legte. „[T]he divorce became valid only when the husband physically delivered the get (either personally or through an appointed agent) to his wife (or her agent), an act that had to be attested to by at least two eyewitnesses.“ 103
Dieser Ablauf kann auch bei Isroel und Shifrale beobachtet werden: „Ven der get vert fartik, lernt der rov mitn porfolk vi zey darfn zikh noyeg zayn [verhalten]. Zi zol tsuzamenleygn di hent ot azoy-o, makhn fun beyde dlonyes [Handflächen] a hoyfn [volle Hand], un Ysroel vet dem get araynleygn in ir hoyfn.“ 104
Während im Beispiel von Isroel und Shifrale die Scheidung durch die Ehefrau gewünscht und das Paar schlussendlich auch getrennt wird, weigert sich Nekhamele Munvas, wegen der Geliebten ihres Mannes einer Scheidung zuzustimmen. Der Grund für Nekhameles Verhalten wird von Grade im Folgenden angedeutet: „Hot zi nokh mer moyre [Angst] gehat farn tsunomen ‚di grushe‘ [Geschiedene] vos zi vet krign, oyb zi vet zikh mit im getn.“ 105 Nekhameles Angst lässt darauf schließen, dass das Attribut „geschieden“ innerhalb der jüdischen Gesellschaft mit einem Stigma behaftet war. Diese Sichtweise spiegelt sich auch in den Überlegungen der Witwe Badane bezüglich eines potentiellen Ehemanns: „An almen, nit keyn goresh [geschiedener Mann]. S’iz a groyser khilek [Unterschied]! A ge’get’er [Geschiedener], vibald az er iz nit oysgekumen mit der ershter vayb, meg men greylekh iberklern, az er vet nit oyskumen oykh mit der tsveyter vayb, ober an almen iz keyn kashe [Frage] nit. S’iz a gut-zakh.“ 106
Das Attribut „geschieden“ bedeutete jedoch für Frauen und Männer nicht dasselbe, wie Freeze feststellt. Während für Männer eine Scheidung hauptsächlich aus finanziellen Gründen (Rückzahlung der Mitgift, Alimente für Kinder) vermieden wurde, lagen bei Frauen noch weitere Gründen vor: „Divorce, for women, not only meant financial loss but social ostracism (the term gerushah meant ‚driven out‘) and single parenthood.“ 107 102 103 104 105 106 107
Ebd., S. 360. Freeze: Jewish Marriage and Divorce, S. 144. Grade: Der shulhoyf (3), S. 361. Ders. Di kloyz un di gas (2), S. 71. Ders.: Der shulhoyf (1), S. 118. Freeze: Jewish Marriage and Divorce, S. 242.
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Das eheliche Zusammenleben im jüdischen Viertel
Agunot – die „verlassenen“ Ehefrauen Dass die Ehefrauen vom jüdischen Gesetz her nicht gleichwertig wie die Ehemänner behandelt wurden, zeigt sich besonders bei den sogenannten Agunot, den „gebundenen“ Ehefrauen. Eine Aguna war „someone bound by marriage to a husband with whom she no longer lived but who, for a variety of reasons, had not formally ‚released‘ her from the marital union.“ 108 Neben der finanziell motivierten Weigerung vieler Ehemänner, sich von ihren Ehefrauen scheiden zu lassen – mussten diese doch ihren Frauen die Mitgift zurückerstatten – führte seit dem Ende des 19. Jahrhunderts vor allem das bösartige Verlassen der Ehefrau durch ihre Ehemänner zu einem weitreichenden Aguna-Problem. Aufgrund der hohen geografischen Mobilität der jüdischen Bevölkerung, die nicht nur vom Land in die Stadt, sondern auch zwischen den Kontinenten zu beobachten war, wurden viele jüdische Familien getrennt. Ehemänner, die in ein anderes Land emigrierten mit der Absicht, ihre Frauen und Kinder später nachzuholen, versäumten häufig dies zu tun und zogen es vor (ohne sich von ihren Ehefrauen scheiden zu lassen), eine neue Familie zu gründen. Die verlassenen Ehefrauen hatten nach rabbinischem Recht keine Möglichkeit, sich wieder zu verheiraten, da sie weiterhin als mit ihren verschwundenen Ehemännern verheiratet galten. Das Ausmaß der Aguna-Problematik im Rahmen der Emigration war so groß, dass dafür eigens Organisationen gegründet wurden, die im Auftrag der Agunot nach den verschwundenen Ehemännern suchten.109 Neben der grundsätzlichen Weigerung der Ehemänner, sich scheiden zu lassen, sowie dem böswilligen Verlassen der Ehefrauen im Kontext von Emigration war das „unfreiwillige“ Verschwinden des Ehemanns aufgrund eines nicht bestätigten Todes, Mordes oder Verschwindens im Kriegsgeschehen ein weiterer Grund, der eine Ehefrau zur Aguna machen konnte.110 Die Thematik der Agunot findet sich sowohl in den Texten von Grade als auch von Karpinovitsh. So berichtet letzterer in einer seiner Erzählungen vom Schauspieler Subak, der gefragt wird, woher er das Tscholent habe, das er seiner Bekannten mitbringe. Da dieser nicht zugeben will, dass er das Tscholent aus dem Ofen des Bäckers gestohlen hat, erzählt er eine Notlüge: Das Tscholent habe er für das Schreiben eines Briefes für eine Frau erhalten, deren Mann „hot 108 Ebd., S. 230. 109 Ebd., S. 235. 110 Ebd.
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Agunot – die „verlassenen“ Ehefrauen
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zi ibergelozt [sitzenlassen] oyfn fleyshbank un aleyn avek keyn Amerike.“ 111 Dass Subak gerade diese Notlüge verwendet, deutet darauf hin, dass die AgunaProblematik in Vilne verbreitet war und auch Frauen im jüdischen Viertel von diesem Schicksal betroffen sein mussten. Auf eben diese Tatsache weist auch das Beispiel eines Talmudisten, zu dem zahlreiche Agunot kommen, um sich aus Karten den Verbleib ihrer verschwundenen Ehemänner deuten zu lassen. 112 Dass Grade die Problematik der verlassenen Ehefrau zum zentralen Thema eines seiner Romane macht, zeigt, wie charakteristisch diese für die jüdische Gesellschaft der Zwischenkriegszeit gewesen sein muss. In „Di agune“ schildert der Autor das Schicksal einer jungen Frau, deren Ehemann nicht aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt ist. Die Protagonistin ist Merl, die mit 19 Jahren den kränklichen Tischler Itsik geheiratet hat. Zu Beginn des Romans ist zu erfahren, wie ein Jahr nach Merls und Itsiks Hochzeit der Erste Weltkrieg ausbricht und Itsik eingezogen wird. Kurze Zeit später erhält Merl die Nachricht, dass Itsiks Regiment von der preußischen Armee besiegt worden ist und es fast keine Überlebenden gibt. Merl, die hofft, dass Itsik in Kriegsgefangenschaft geraten ist und eines Tages doch noch zu ihr zurückkehren wird, glaubt selbst nach Kriegsende an die Rückkehr ihres Ehemanns, als die wenigen Überlebenden des Orenburger Regiments nach Vilne zurückkehren und berichten, dass aus Itsiks Kompanie niemand überlebt habe. 113 15 Jahre später, als die anderen Frauen, deren Männer nicht aus dem Krieg zurückgekehrt sind, längst wieder geheiratet haben, wartet Merl immer noch auf Itsiks Heimkehr. Nach all den Jahren des Wartens ist Merls Mutter überzeugt, dass ihr Schwiegersohn im Krieg gefallen ist und ihre Tochter nicht bösartig zurückgelassen hat: „Ir Itsik iz dokh geven an orntlekher yungerman un volt zi nit ibergelozt keyn agune.“ 114 Nicht nur Merls Mutter, sondern auch ihre Schwestern wollen, dass Merl wieder heiratet. Als sich Merl mit dem Maler Kalman anfreundet, kann auch sie sich vorstellen, nochmals eine Ehe einzugehen. Schließlich überzeugt Kalman Merl, dass sie lange genug auf ein Lebenszeichen von Itsik gewartet habe: „Vibald es zaynen ariber fuftsn yor zint ir man iz avek in milkhome [Krieg]; un vibald fun ir mans rote [Kompanie] iz keyner nit tsurikgekumen; un vibald er iz geven a
111 112 113 114
Karpinovitsh: 1/2, S. 42. Ders.: 2/6, S. 95. Grade: Di agune, S. 7–8. Ebd., S. 9.
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Das eheliche Zusammenleben im jüdischen Viertel kranker un gekent, heyst es, shtarbn mitn eygenem toyt – darf zi zikh mer nit plogn.“ 115
Vor der Eheschließung möchte aber der religiöse Kalman, dass Merl die Erlaubnis eines Rabbis einholt. Männer, so Kalmans Meinung, die ohne rabbinische Erlaubnis eine Aguna heirateten, hätten keinen Respekt vor der Tora und auch nicht vor der Frau, die sie ehelichen wollten. Auch Merls Mutter teilt diese traditionelle Ansicht. Sie möchte nicht, dass ihre Tochter eine Ehebrecherin wird und das jüdische Gesetz verletzt. 116 Als Kalman schließlich vor Reb Levi Hurvits, die rabbinische Autorität in Sachen Agunot, tritt und ihm den Sachverhalt erklärt, erhält er eine klare Absage: „Nito vegn vos tsu reydn. Oyb es zaynen nit faran keyn bagleybte eydes [Zeugen] vos hobn gezen dem man a toytn, ken a rov [Rabbi] gornit ton, befeyresh [absolut] gornit!“ 117 Die strikte Handhabung der ganzen Aguna-Problematik spiegelt sich schließlich in dem Wortschwall Reb Levi Hurvits’, der Kalman die Bedeutung der Zeugen näher erläutert: „Ob der eydes hot dem man gezen a goyses [sterbend], toyg nit; men muz zen vi di neshome [Seele] iz fun im aroys. Oyb men hot im gezen bloyz a tseshnitenem, toyg nit. A tsugeklaptn mit tshevekes [Nägel] tsu a balkn, toyg nit. (…) Un oyb oyf der velt iz a milkhome un dos vayb zogt az ir man iz derharget [getötet] gevorn, iz zi nit bagleybt. Es ken zayn, zi hot gehert az soldatn fun ir mans folk zaynen geharget gevorn, dakht zikh ir oys az oykh ir man iz tsvishn di toytn.“ 118
In der Tat musste nach rabbinischem Gesetz der Tod des Ehemanns von mehreren Juden bestätigt werden. 119 Indem Grade in diesem Beispiel Reb Levi Hurvits teilweise geradezu phantastische Umstände aufzählen lässt, die laut den religiösen Schriften gegen eine glaubwürdige Zeugenschaft sprechen, weist er darauf hin, wie unbeugsam und unmenschlich das jüdische Gesetz gegenüber den alltäglichen Belangen selbst einfacher religiöser Jüdinnen und Juden ist. Aufgrund fehlender Sekundärliteratur zur Aguna-Problematik in der Zwischenkriegszeit stellt sich die Frage, ob dieser von Grade geschilderte Fall einer 115 116 117 118 119
Ebd., S. 13. Ebd., S. 14, 15. Ebd., S. 20. Ebd., S. 21. Die Zeugenschaft von Nichtjuden wurde erst seit dem Ersten Weltkrieg anerkannt, als die Zahl der vermissten Juden sehr hoch war und die strengen Bestimmungen etwas gelockert wurden. Haumann: Geschichte der Ostjuden, S. 131.
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Agunot – die „verlassenen“ Ehefrauen
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Aguna als repräsentativ gewertet werden kann. Dass andere Frauen in Merls Situation wieder unter die Chuppa traten, wird im Text beiläufig erwähnt. Ob diese dafür aber eine rabbinische Erlaubnis hatten, bleibt offen, wobei aus den Worten eines Rabbis zu schließen ist, dass viele Agunot auch ohne Bewilligung wieder geheiratet haben: „Azelkhe zakhn vern itst opgeton tog-ayn togoys un di raboinim zogn keyn vort nit.“ 120 Die Vermutung liegt nahe, dass eher weltlich eingestellte Familien keinen Wert auf eine rabbinische Erlaubnis gelegt und wahrscheinlich einfach außerhalb von Vilne geheiratet haben. In vielerlei Hinsicht scheint „Di agune“ eine zugespitzte Darstellung der Aguna-Problematik, die in der Zwischenkriegszeit in dieser Form nicht mehr vorgekommen sein dürfte. Grades Roman muss deshalb grundsätzlich als eine Kritik an den traditionellen Werten und Normen sowie am religiösen Establishment verstanden werden, die die negativen Auswirkungen sturer Gesetzestreue offen darlegt und hinterfragt. In den Memoiren einzelner Vilner Jüdinnen wird einzig bei Schoschana Rabinovici das Thema Scheidung angesprochen. So berichtet die Autorin, dass ihre Mutter einen Freund hatte, den sie ein Jahr nach ihrer Scheidung heiratete. Interessant ist, dass ihr Vater zugestimmt hatte, dass Schoschana bei ihrer Mutter blieb, da er ihr ersparen wollte, mit einer Stiefmutter aufzuwachsen.121 Hinweise auf die Präsenz einer rabbinischen Institution werden von der Autorin nicht genannt. Insgesamt präsentieren Grade und Karpinovitsh ein vielschichtiges Bild ehelichen Zusammenlebens im jüdischen Viertel von Vilne. Dazu gehören eigenwillige Paare, die eine Liebesheirat eingehen, heiratswillige junge Frauen und Männer, die sich dem Willen ihrer Familien beugen, heiratslustige Witwen sowie zerstrittene und scheidungswillige Ehepaare. Hierbei hat sich gezeigt, dass in der Zwischenkriegszeit die Ehen sowohl auf traditionelle als auch auf moderne Weise zustande kamen und der durch den Säkularisierungsprozess initiierte Wandel, der auch im Bereich der Ehe stattfand, im jüdischen Viertel von Vilne noch lange nicht abgeschlossen war. Dies verdeutlicht sich nicht nur daran, dass vor allem für ältere Jüdinnen und Juden eine arrangierte Ehe eine Selbstverständlichkeit war, sondern auch junge Menschen – mehr oder weniger freiwillig – einer durch einen Heiratsvermittler oder die eigene Familie organisierten Ehe zustimmten. 120 Grade: Di agune, S. 128. 121 Rabinovici: Dank meiner Mutter, S. 7, 14 f.
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Das eheliche Zusammenleben im jüdischen Viertel
Während bei einer traditionellen Ehe, die eine religiöse Verpflichtung darstellte, Kriterien wie Herkunft, Reichtum oder geschlechtsspezifische Fähigkeiten wie Gelehrsamkeit oder hausfrauliches Geschick bei der Partnerwahl ausschlaggebend waren, so traten diese bei einer Liebesheirat in den Hintergrund. Dass letztere in der Zwischenkriegszeit immer noch etwas Außergewöhnliches darstellte, zeigt sich daran, dass beide Autoren diese als etwas Besonderes hervorheben und gleichzeitig die Opposition schildern, die solche Verbindungen hervorriefen. Mit Hinblick auf seine Mutter thematisiert Grade die Situation von Witwen und zeigt, dass diese bei einer Zweitehe teilweise unterschiedliche Vorgehensweisen hatten, um einen neuen Ehepartner zu finden. Anzunehmen ist, dass viele Frauen im Vergleich zu ihrer ersten Ehe viel mehr Autonomie vorwiesen und eigene Vorstellungen hatten, wie ihr künftiger Ehemann zu sein hatte. Trotzdem bestanden traditionelle Muster der Partnerwahl weiterhin fort. Sowohl Grade als auch Karpinovitsh verheimlichen nicht die negativen Seiten des ehelichen Zusammenlebens. Streitereien, Gewalt und Ehebruch scheinen bei einigen Ehepaaren Teil des Alltags gewesen zu sein. Damit vermeiden es beide Autoren, die ehelichen Beziehungen sowohl traditioneller als auch moderner Vilner Jüdinnen und Juden zu idealisieren. Gerade in diesem Zusammenhang kommen beide Autoren in ihren Texten auch auf das Thema Scheidung zu sprechen. Diese wird in den Texten sowohl von Ehefrauen als auch von Ehemännern gefordert. Die rabbinischen Gerichte, die sich mit Scheidungen befassten, stimmten dabei den Scheidungsbegehren eher widerwillig zu. Doch trotz dieser restriktiven Haltung war in Vilne die Zahl der Scheidungen beachtlich. Die Bevorzugung der Ehemänner, die sich im Scheidungsprozess manifestierte, fand ihre deutlichste Ausprägung im Hinblick auf die Frage der Agunot, die sich von ihren abwesenden Ehemännern nicht scheiden lassen konnten.
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Die Vilner jüdische Unterwelt
Während die Mehrheit der Bewohner des jüdischen Viertels ihren Verdienst im Handel und Handwerk fand, gab es auch eine kleine Zahl von Jüdinnen und Juden, die ihren Lebensunterhalt auf teilweise illegale Art bestritten. Dies waren Gauner und kleine Ganoven, aber auch Zuhälter und Prostituierte – Menschen, die von den übrigen Bewohnern als Teil der jüdischen Unterwelt gesehen wurden und als solche eine besondere Stellung innerhalb der jüdischen Gesellschaft einnahmen.
Diebe, Gauner und Ganoven Über jüdische Kriminelle in Polen in der Zwischenkriegszeit findet sich nahezu keine Literatur. 1 Einzig Liebman Hersch verfasste eine 1938 auf Polnisch publizierte statistische Studie über die Kriminalität unter den Juden. Aus den von ihm analysierten offiziellen polnischen Daten aus den Jahren 1924/25 ergab sich, dass im Vergleich die Kriminalität unter der jüdischen Bevölkerung niedriger war als unter der nichtjüdischen. Dies bezog sich sowohl auf die Häufigkeit als auch auf die Schwere der Verbrechen gegen Personen oder Privatbesitz. Eine Ausnahme bildeten Vergehen gegen die Gesetzesordnung, etwa die Umgehung der Wehrpflicht, Schiebereigeschäfte und Bettelei: darin war die Zahl von Juden im Vergleich zu Nichtjuden höher. Über die Lebensweise krimineller Juden geben diese statistischen Daten keine Auskunft. Hierzu bieten sich vor allem die Texte von Karpinovitsh an, der in mehreren seiner Erzählungen die jüdische Unterwelt eingehend thematisiert. Hierzu gehören die Texte „Nit far Vilne“, „Elinke der hoykher“, „Vladek“, „Hashoves aveydes“, „Hirshl der tsigeyner“, „Yikhes fun der vilner untervelt“, „Zelik bal-toyve un Orke der hunderter“ sowie „Orke Nakhalnik“. Sie ermöglichen nähere Aussagen bezüglich der Organisation und Struktur der jüdischen Unterwelt sowie deren Bräuche. In seinen Erzählungen „Leyke di shvartse“, „Der gast“, „Tamara di hoykhe“ und „Der shtreyk fun di vilner gasn-meydlekh“ richtet 1
Im Folgenden beziehe ich mich auf den Artikel von Gwido Zlatkes: Urke Nachalnik: A Voice from the Unterworld. In: Polin, 16 (2003) S. 381–388, hier S. 381.
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Die Vilner jüdische Unterwelt
der Autor sein Augenmerk auf das Prostitutionswesen, das mit dem kriminellen Milieu verbunden war, jedoch legal funktionierte. Die jüdische Unterwelt Vilnes konzentrierte sich in einem nicht klar definierten Raum. Mit ihr assoziiert waren bestimmte Straßen oder auch nur Häuser des jüdischen Viertels oder einzelner Vorstädte sowie die Märkte der Stadt. Es waren primär Orte, wo Mitglieder der Unterwelt wohnten oder ihren „Geschäften“ nachgingen. Topographisch konstituierten sie von außen gesehen die jüdische Unterwelt. Einen besonders schlechten Ruf hatte beispielsweise die novogorod: „[O]yf novogorod, vu es voynen blate [Unterwelt-] yungn, hintshleger, shinder [Häuter] un stam [gewöhnlich] shleper [Gesindel].“ 2 Karpinovitshs Erzählungen veranschaulichen, dass die „Tätigkeiten“ der jüdischen Unterwelt vielfältig waren und sich einzelne Personen in bestimmten Bereichen spezialisierten. Zelik der Wohltäter beispielsweise, der mit Frau und Kind auf der glezer gas wohnt, verdient sich mit dem illegalen Handel von Tabak sein Geld: „Zelik hot gehat dem monopol oyf geshmugltn tabak fun Lite.“ 3 Dass das Geschäft mit dem Tabak nicht eine problemlose Einnahmequelle ist – die Polizei tat ihr Bestes, um den Schmuggel zu unterbinden und die Akteure hinter Schloss und Riegel zu bringen – weiß auch Zelik: „Nokhn letstn durkhfal mit geshmugltn tabak fun Lite, iz Zelik bal-toyve gezesn a lange tsayt on arbet.“ 4 Zeliks Rivale, Orke der Hunderter, verfügt seinerseits über die Kontrolle der Sägereien an der vilye, von deren Besitzer er eine „Versicherungssumme“ einfordert, damit das Holz auf den Flößen nicht gestohlen wird. 5 Ebenfalls einen Name in Vilne hat Motke der Kaiser. Ähnlich wie Elinke der Große, der Geld von den jüdischen Metzgern in ihren Läden erpresst, 6 macht auch dieser sich auf, um im Fleischgeschäft auf seine Kosten zu kommen, indem er Fleischtransporte auf offener Straße überfällt: „Motke der keyserl geyt shoyn nit iber di yatkes [Metzgereien]. Er shtelt op [anhalten] a fur mit fleysh in mitn gas, heyst zikh aropvarfn a gantse beheyme [Tier] un farkoyft zi dernokh di goyim [Christen] in keylershe [nichtkoschere] yatke.“ 7
Neben dem Schmuggel, der Erpressung und dem Raub von Waren boten die Märkte kleinen Gaunern eine Vielzahl von Möglichkeiten, etwas Geld zu ver2 3 4 5 6 7
Grade: Der mames shabosim, S. 246. Karpinovitsh: 5/1, S. 11. Ders.: 1/1, S. 11. Ebd. Karpinovitsh: 1/6, S. 107. Ebd., S. 114; vgl. ders.: 5/1, S. 12.
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Diebe, Gauner und Ganoven
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dienen. Hier wurden alte, mit Farbe und Medizin aufgemöbelte Pferde den Bauern angepriesen 8 und gefälschte Lotteriezettel verkauft. 9 Auch Hirshl der Zigeuner fühlt sich auf den Märkten in seinem Element. Dieser hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Pferden der Bauern das Haar vom Schweif zu schneiden und es für gutes Geld weiterzuverkaufen: „Er iz geven der glavner [haupt-] tsushteler fun ferdhor far di vilner bershtlmakhers [Bürstenmacher]. Er flegt arumforn oyf yeridn [Jahrmärkte] mit a groyser sher unter der pole [Rock]. Nokh dem vi di poyerim hobn opgeleyzt far teyer skhoyre [Ware] un zenen avek oystrinken, hot Hirshl zikh genumen shneydn ekn [Pferdeschwanz]. Fun eyn zak ferdishe ekn hot er mer fardint vi bay a vogn geshmugltn tabak.“ 10
Auf eher herkömmliche Art und Weise arbeitet wiederum Berke der Holunder, der in den vornehmen Straßen Vilnes die Messingtürklinken von den Haustüren stiehlt: „Er brengt tsu Orken [gemeint ist Orke der Hunderter] pek mit meshene klyamkes [Messingtürklinken]. M’zogt, az ale paradne [vornehm] khodn [Eingänge] oyf groyspohulyanke zenen geblibn on kliamkes. Itster hot er zikh aribergeklibn oyf troker gas.“ 11
Im Vergleich zu Berke dem Holunder gestaltet sich die Arbeit von Mishke etwas weniger konventionell: „[F]legt er forn in di internatsyonale tsugn [Züge], dortn farshlefern [betäuben] mit a bazinderz papiros [Zigarette] a pasazshir un tsunemen [stehlen] yenems bagazsh [Gepäck].“ 12 Ebenfalls in der „Reisebranche“ tätig ist Hirshl der Kanarienvogel, der gegen Bezahlung jüdischen Kommunisten einen sicheren Weg über die Grenze in die Sowjetunion organisiert: „Hirshl hot genumen dos gelt, gezogt ven me darf forn un ver es vet vartn oyf der banstantsye in dem noentstn shtetl tsu der grenets [Grenze].“ 13 Dass jüdische Kriminelle nicht nur in einem „Berufszweig“ engagiert waren, zeigt sich am Beispiel des Oberhaupts der Familie Gutmakher, das als große Ausnahme in einem von Grades Texten zu finden ist: „[I]z er oykh geven an iberkoyfer fun ganeyves [Diebesgut], fun a ferd biz a seyvertoyre [Torarolle], lehavdl. Men hot oyf im geredt, az er iz a shutef [Partner] in a freylekh hayzl [Bordell] (…) un az er hot oykh a hant in a fabrikl, vos traybt in ge8 9 10 11 12 13
Karpinovitsh: 3/5, S. 73–74. Ders.: 1/9, S. 156. Ders.: 3/5, S. 69. Ders.: 1/6, S. 109. Ders.: 5/7, S. 111. Ders.: 3/7, S. 98.
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Die Vilner jüdische Unterwelt heym branfn [Alkohol], nit tsu darfn tsoln keyn melukhe-shtayer [Staatssteuer]. Ober zayn onzen [Ruf ] tsvishn untervektnikes hot der iker zikh geboyt oyf dem, vos er iz a boyer [Schiedsrichter] tsvishn tsekrigte ganovim.“ 14
Das breite Tätigkeitsfeld der jüdischen Unterwelt, das Schmuggel, Erpressung, Diebstahl und Betrug beinhaltet, wird – da es diese Arbeiten nun einmal gibt – von ihren Mitgliedern als „gottgewollt“ und folglich legitim erachtet: „Nu, meyle [so sei es], mistome [wahrscheinlich] vil dokh got azoy, vayl vi kon es zayn andersh?“ 15 Auch Zelik der Wohltäter sieht seine „Berufung“ als schicksalhaft an, weshalb er sein Handeln nicht weiter hinterfragt: „[O]ber vos kon men makhn, az got hot gegebn aza parnose [Arbeit]?“ 16 Ähnlich anderen Berufszweigen präsentierte sich auch die jüdische Unterwelt als klar organisiert und strukturiert. Als wichtigstes Aufsichtsorgan der rivalisierenden Gruppierungen funktionierten deren jeweiligen Vereine, die eine Art „Unterweltszunft“ darstellten. Auch wenn Karpinovitsh nicht detailliert auf die einzelnen Organisationen eingeht, lassen sich dennoch einige Informationen dazu gewinnen. Im Verein di goldene fon etwa ist Orke der Hunderter Präsident – sein Wort hat in der ganzen Vilner Unterwelt Gewicht. 17 Orkes größter Rivale ist Zelik der Wohltäter, der Präsident eines anderen Vereins ist: „Zelik bal-toyve iz geven forzitser fun ‚bruder fareyn‘, vos hot arayngenumen di vikhtigste vilner unterveltnikes, vi Elinke der hoykhe, Tsotske di toyz [As], Tevke komet – alts mentshn mit nemen vos hobn nit keyn moyre [Angst] nit far got un nit far layt.“ 18
Zeliks Aufgabe im Verein ist, für Ruhe und Ordnung in seinen Reihen zu sorgen. Als er wegen Tabakschmuggels für längere Zeit ins Gefängnis kommt, ist eben diese in Gefahr – ein Umstand, der in Vilne keinen guten Eindruck hinterlässt: „Oyb Zelik bal-toyve hot shoyn oykh nit keyn vort bay di blate [Unterwelt], iz dokh les din veles dayen [Gesetzlosigkeit]. Ken zayn aza zakh in Vilne? …“ 19 Zu den ungeschriebenen Gesetzen der jüdischen Unterwelt zählte das Berufsgeheimnis: „In undzer fakh fregt men keynmol nit funvanen [woher] dos 14 15 16 17 18 19
Grade: Der shtumer minyan, S. 132. Karpinovitsh: 1/1, S. 12. Ebd., S. 14. Karpinovitsh: 5/1, S. 11. Ebd. Karpinovitsh: 1/6, S. 113.
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Diebe, Gauner und Ganoven
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gelt kumt, khibe yener dertseylt aleyn.“ 20 Auch herrschten bestimmte Regeln, an die die Mitglieder sich zu halten hatten: „Es iz dokh ale yorn geven a min nit-farshribene takone [Regel] in der vilner untervelt, az eyner krikht [einmischen] nit dem andern di gesheftn.“ 21 Des Weiteren war in den Statuten der jeweiligen Vereine festgehalten, bei welchen Personen keine Einbrüche gemacht werden durften: „[D]er ‚statut‘ fun ‚bruder fareyn‘ hot farzogt tsu ganevenen [stehlen] bay yesoymes [Waisen], almones [Witwen] un baym shnipishiker rov [Rabbi].“ 22 Gerade hier wird der Eindruck vermittelt, als ob die jüdische Unterwelt nicht nur auf ihre eigenen Interessen achtete, sondern sich als Teil der jüdischen Gemeinschaft verstand und daher auch Rücksicht auf deren schwächste Mitglieder nahm. Inwiefern dieses geradezu romantisch gezeichnete Bild der jüdischen Unterwelt der damaligen Realität entspricht, bleibt allerdings fraglich. Dass innerhalb der jüdischen Unterwelt durchaus eine Art von Gerechtigkeitssinn herrschte, zeigt die Erzählung „Hashoves aveydes“ (zurückerstattetes Eigentum). Die Geschichte handelt vom einfachen Frisör Ortshik, dessen soeben neu eröffneter Frisörsalon von einem anonymen Dieb ausgeraubt wurde. Die Vilner Unterwelt reagiert empört, da dem Juden dadurch auf einen Schlag der Lebensunterhalt entrissen wurde. Hinzu kommt, dass Ortshik in direkter Nachbarschaft zu einem einflussreichen Mitglied der Unterwelt wohnt und dieses es nicht gerne sieht, dass in seinem Revier jemand ohne sein Wissen beraubt wird: „Oykh Hirshke kanarik hot nit gerut. Dos baganvenen [bestehlen] Ortshikn hot er opgefilt vi a perzenlekhe mapole [Versagen]. Oyf krupnitshe iz er geven kiser. On im hot keyner nit getort onrirn vos a hor di vert [etwas Wertvolles], kumt fun ergets a verzile [Strolch] un baganvet zeynem a shokhn [Nachbar].“ 23
In derselben Erzählung wird auch ersichtlich, wie innerhalb der jüdischen Unterwelt mit Regelverstößen – hier das unerlaubte Ausrauben eines armen Juden – umgegangen wurde. Da es Hirshke dem Kanarienvogel nicht gelingt, die gestohlene Ware ausfindig zu machen, bleibt ihm nur eines: „Hirshke der kanarik iz gegangen in fareyn fun di shtarke, ‚di goldene fon‘ fodern gerekhtikeyt“. 24 Auf der Versammlung, die durch Zelig dem Wohltäter einberufen 20 21 22 23 24
Ders.: 1/9, S. 155. Ders.: 5/1, S. 13. Ebd., S. 12. Karpinovitsh: 2/6, S. 94. Ebd., S. 95.
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wurde, zeigt sich die ganze Vilner Unterwelt: „Ver es hot nor gehat a shtikl shaykhes [Verbindung] tsu tunkele arbet iz gekumen yenem ovnt tsu Itske dem geln bayzayn di farzamlung.“ 25 Nachdem Zelik der Wohltäter am Haupt des Tisches Platz genommen hat, setzen sich auch die anderen Anwesenden entsprechend ihrem Rang innerhalb der jüdischen Unterwelt an den ihnen bestimmten Platz: „Vayter hobn zikh oysgezetst, loyt rang, Avromke der anarkhist, Meylekh der khokhem [Weise], Dodke di toyz [As], Elinke, Motke der keyzerl, beyde brider di voverkes [Eichhörnchen], un azoy veyter biz di kleyne plotkes [Gauner] baym ek tish.“ 26
Während lautstark beraten wird, wie das gestohlene Diebesgut wieder zu erlangen sei und wie man des Diebes habhaft werden könne, meldet sich Reb Kivele, der Rabbi der Unterwelt, zu Wort: „Az der oylem hot zikh a bisl baruikt hot rev Kivele zey gut oysgemusert [moralisieren], az got hot zey gegebn aza parnose [Arbeit], zoln zey khotsh [trotzdem] zayn mentshn. In shulkhn orekh [Schulchan Aruch] iz faran vegn gantsn inyen [Angelegenheit] a befeyresher din [entsprechendes Gesetz]. S’volt zikh gefast, az Vilne, Yerusholaym-d’Llite, zol nit farshemt vern un der ganef [Dieb] zol optrogn [zurückbringen] alts oyf tsurik, biz a fodem [Faden]. Anit vet oyskumen ontsutsindn shvartse likht un oysrufn oyf yenem a kherem [Bann].“ 27
In diesem Beispiel zeigt sich die jüdische Unterwelt als eine auf bestimmten Regeln und moralischen Ansprüchen begründete Institution, die – ungeachtet ihrer hierarchischen Ordnung – durch die Partizipation sämtlicher Vilner Ganoven den Anschein einer nahezu demokratischen Institution erweckt. Bemerkenswert ist, dass Reb Kivele als religiöse Instanz ebenfalls Teil der jüdischen Unterwelt ist und seinen Einfluss auf diese geltend machen kann – „ver vet zikh shteln kegn R’Kiveles hasroe [Warnung]?“ 28 Gleichzeitig ist die hier von Karpinovitsh angedeutete einschüchternde Wirkung des Banns, welcher von Reb Kivele angedroht wurde, in Frage zu stellen. Zum einen hatte dieser seit dem Ende des 19. Jahrhunderts aufgrund des Säkularisierungsprozesses innerhalb der jüdischen Gesellschaft kontinuierlich an Wirkung verloren, zum anderen passt seine angeblich einschüchternde Wirkung nicht zu Karpinovitshs Charakterisierung der jüdischen Kriminellen, 25 26 27 28
Ebd., S. 96. Ebd. Ebd., S. 97. Ebd., S. 98.
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die angeblich weder die Menschen noch Gott fürchteten.29 An diesem Detail äußert sich Karpinovitshs Bestreben, die jüdische Unterwelt als mit den Werten und Normen der traditionellen jüdischen Welt verwurzelt darzustellen und sie somit als einen legitimen und respektablen Teil des Vilner Judentums zu präsentieren. Die moralische Autorität der Vilner Gauner und Ganoven war der hier genannte Reb Kivele. Dieser hatte eigentlich eine gute Meinung von seinen „Gemeindemitgliedern“: „R’Kivele, der rov fun di blate, hot gezogt, az azelkhe orntlekhe ganovim vi in Vilne, halevay [unrealer Wunsch] oyf ale yidn gezogt.“ 30 Ein Grund dafür mochte sein, dass die Vilner Unterwelt vor gewissen kriminellen Handlungen zurückschreckte, die an anderen Orten gang und gäbe waren. Dies ist Karpinovitshs Erzählung „Nit far Vilne“ zu entnehmen: Als Khone, ein soeben aus einem amerikanischen Gefängnis zurückgekehrter ehemaliger Ganove der Vilner Unterwelt, seinen einstigen Kumpanen vorschlägt, ein Kind gegen Lösegeld zu entführen, reagiert Zelik der Wohltäter äußerst verdutzt: „Khone, du host nit keyn toes [Irrtum]? Men makht in Amerike gelt fun azelkhe zakhn? – Fun kidnepn?“ 31 Khones beruhigende Bemerkung „in Amerike iz dos vi oyfesn a beygl“, 32 überzeugt die Vilner Unterwelt kurzweilig von dieser Art von „Geschäft“, welches alsdann in die Wege geleitet wird. Doch nachdem der Sohn eines reichen Vilner Geschäftsmanns entführt worden ist und das Lösegeld auf sich warten lässt, stellen sich bei den Entführern Skrupel ein. Schließlich meldet sich eine Autorität der Unterwelt zu Wort: „Ober Zelik bal-toyve hot zikh arayngemisht un bafoyln me zol opgebn dem yingl on a groshn. Der gantser inyen [Angelegenheit] iz geven tsu hametne [grob], nit far Vilne.“ 33 Auch Zeliks Frau Esterke hält diese Art von „Geschäft“ für unpassend: „Do iz nit Amerike, do iz Vilne!“ 34 Der Verweis darauf, dass sich gewisse Handlungen für Vilne nicht ziemen, findet sich im Zusammenhang mit der jüdischen Unterwelt mehrmals: „Vos mir zenen, zenen mir, ober vilner zenen mir!“ 35 Damit suggeriert Karpinovitsh einen bei den Vilner Ganoven vorhandenen Ehrenkodex, der diese von anderen – gewöhnlichen – Kriminellen unterscheidet. 29 30 31 32 33 34 35
Karpinovitsh: 5/1, S. 11. Ebd., S. 14. Karpinovitsh: 1/1, S. 14. Ebd., S. 15. Karpinovitsh: 4/4, S. 61; vgl. ders.: 1/1, S. 21. Ders.: 1/1, S. 15. Ders.: 5/1, S. 18.
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Gingen die Vilner Ganoven nicht gerade ihren Geschäften nach, so verbrachten sie ihre Freizeit meist in der Gesellschaft von Berufskollegen. Sie besuchten gerne das yidisher folks-teater 36 oder trafen sich in den Kneipen des jüdischen Viertels, die mittels eines Billardtischs ihre Gäste anzulocken wussten: „Di bilyardove tsit arayn. Men fargest ven s’iz tog un ven nakht. S’iz alts gegangen vi in a tuman [Nebel].“ 37 In den finsteren, stickigen Höhlen wurde Karten und Poker gespielt, und auch der Alkohol floss unter den „guten Brüdern“ reichlich.38 An diese schönen Zeiten mit den Kumpanen aus der jüdischen Unterwelt erinnert sich Elinke der Große: „Elinke hot gebenkt [nachtrauern]. In bruder-fareyn is tomed geven freylekh. Yede nakht hot men getrunken bay emetsn andersh. Ale tirn zenen geven ofn. M’iz gegangen iber yatkever gas in der breyt. Yankl der politsmeyster flegt brengen shikses azsh [viel] fun Pospieshk. Bay Shleymke Peyskes hobn zikh di tishn gebrokhn fun kibed [Köstlichkeiten].“ 39
Elinkes Wehmut weist darauf hin, dass diese glücklichen Tage für ihn der Vergangenheit angehören: „Itst iz es alts avek mitn roykh. Zelikn hot gepravet gaboes [Amt des Gabben ausführen] in shul fun der lukishker turme [Gefängnis] un Orke hot zikh gerisn oyf gevald vern a yuster [angesehen] balebos.“ 40 Der hier angedeutete Umbruch innerhalb der jüdischen Unterwelt wurde durch verschiedene Faktoren begünstigt. Dazu gehörte die Abwesenheit tonangebender Krimineller, die dafür sorgten, dass innerhalb der Unterwelt die Regeln eingehalten und die Ordnung aufrechterhalten wurden. Auch ließ die schlechte Wirtschaftslage kriminelle Aktivitäten weniger erfolgversprechend erscheinen: „[Z]enen demolt glat blate gesheftn avek in dr’erd arayn [schlecht laufen].“ 41 Und schließlich nennt Karpinovitsh als einen weiteren Grund die Verbürgerlichung einzelner Ganoven: „[D]i eltere blate [Ganoven] hobn zikh gevolt a bisl statkeven [gut benehmen], arayngeyn in balebatishn grad [verbürgerlichen], ton sheyne shidukhim [gute Ehepartie].“ 42 Eine Voraussetzung für die Annäherung einzelner Mitglieder der jüdischen Unterwelt an die Lebenswelt „gewöhnlicher“ Jüdinnen und Juden war sicher36 37 38 39 40 41 42
Ders.: 1/1, S. 12. Ders.: 1/9, S. 155. Ders.: 3/2, S. 25. Ders.: 1/6, S. 106. Ebd. Ebd., S. 101. Ebd.
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lich das nahe Zusammenleben der Menschen und die daraus zwangsläufig resultierenden sozialen Kontakte, die in einzelnen Fällen auch zu freundschaftlichen Beziehungen und sogar ehelichen Verbindungen führen konnten. Allerdings scheint nicht für alle mit der jüdischen Unterwelt verbundenen Menschen der Weg in die jüdische Gesellschaft offen gestanden zu haben. Die Ehefrau von Zelik dem Wohltäter beispielsweise kommt beim Anzünden der Sabbatkerzen zu der Erkenntnis, dass für sie ein Leben jenseits der jüdischen Unterwelt nicht möglich ist: „Zi varft a blik oyf di laykhter, oyf di gele flemelekh, un di dozike flemlekh tseshmeltsn in ir azoy fil ongezotenem [hegen] has tsu der raynerer velt, vos hot farhakt far ir ire toyern.“ 43 Es stellt sich grundsätzlich die Frage, wie sehr sich die Lebenswelt jüdischer Krimineller von derjenigen ihrer Nachbarn, den einfachen Händlern und Handwerkern, unterschieden hat. Der Verweis auf die schlechte wirtschaftliche Lage, von der auch die jüdische Unterwelt betroffen war, lässt darauf schließen, dass viele jüdische Kriminelle die Armut ihrer Nachbarn geteilt haben. Auch hatten im Alltag der jüdischen Ganoven dieselben religiösen Bräuche und Feierlichkeiten ihren Platz wie bei der übrigen jüdischen Bevölkerung. Dies zeigt sich beispielsweise nach der Geburt des Sohnes von Ortshik und dessen Frau Lise, die als ehemalige Kellnerin von Itskes Kneipe zum entfernten Bekanntenkreis der Unterwelt zählt und deshalb von dieser mit einer Beschneidungsfeier überrascht wird: „Oyf dem semak [Grund] hobn di khevreh [Bruderschaft] shtarke bashlosn tsu praven [feiern] dem bris [Beschneidungszeremonie] oyf zeyer khezhbn [Rechnung], take in kneype.“ 44 Dabei kommt Itske dem Gelben, dem die Kneipe im jüdischen Viertel gehört, eine zentrale Rolle zu: „Itske iz geven der sandek [Person, die den Säugling während Beschneidungszeremonie hält].“ 45 Ganz ähnlich verhält es sich auf einer anderen Beschneidungsfeier, wo man sich in den Feierlichkeiten nicht von den bürgerlichen Nachbarn unterscheiden wollte: „M’hot gepravet a bris vi bay farmeglekhe balebatim [hier: Leute].“ 46 Dass Karpinovitsh die Beschneidungsfeiern ausschließlich im Milieu der jüdischen Unterwelt stattfinden lässt, verweist darauf, dass für ihn gerade jene Kinder Teil des jüdischen Bundes sind – ungeachtet der gesellschaftlichen Stellung ihrer Eltern. Im starken Kontrast zum Lebensentwurf der in Karpinovitshs Erzählungen 43 44 45 46
Karpinovitsh: 1/1, S. 19. Ders.: 2/6, S. 88. Ebd. Karpinovitsh: 3/1, S. 20.
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genannten jüdischen Gauner und Ganoven steht die Biographie einer der berühmtesten Persönlichkeiten der jüdischen Unterwelt überhaupt, welcher trotz krimineller Vergangenheit der Zugang zur Gesellschaft nicht verwehrt blieb. Es handelt sich dabei um den heute fast gänzlich in Vergessenheit geratenen jüdischen Schriftsteller und ehemaligen Kriminellen Isaak Faberowicz (1897– 1939), auch bekannt unter seinem Pseudonym Orke Nakhalnik. 47 Der Person Nakhalniks widmete Karpinovitsh eine gleichnamige Erzählung. Diese beginnt damit, dass Nakhalnik wieder einmal in einem polnischen Gefängnis sitzt. Aus den Gefängnisunterlagen ist über ihn folgendes zu entnehmen: „Itskhak Farberovitsh (tsunomen: Orke Nakhalnik), geboyrn in yor 1897 in a shtetl nit vayt fun Lomzshe. Zayn foter – a farmeglekher soykher [Händler]. Bakumen traditsyonele yidishe dertsiung. Tsu fuftsn yor baganevet dem tatn un antlofn keyn Vilne. Bislekhvayz arayngetsoygn gevorn in der untervelt. Gezesn in tfise [Gefängnis], farmishpet [verurteilt] oyf akht yor, far a pruv tsu baroybn di melukhe-bank in Varshe.“ 48
Über die Umstände, wieso Nakhalnik eine Karriere als Dieb eingeschlagen hat, geben die Gefängnisunterlagen keine Hinweise. Diese liefert Nakhalnik an späterer Stelle selbst, als er an die Zeiten zurückdenkt, die er als 15jähriger alleine in Vilne verlebte: „Er hot zikh gehat ongedungen vi a untershamesh in der keyvernisher kloyz [Klause der Beerdigungsbruderschaft], oyfn vilner shulhoyf. Shabes flegt er helfn oysteyln di balebostes [Hausfrauen] di tsholntn, un derfar hot er bakumen fun bekers vayb teler broyne kartofl mit a shtik kugl [Auflauf ]. R’hot in der vokh oykh nit gevolt hungern, iz er avek ganevenen.“49
Nakhalniks Bekanntheit gründete aber nicht primär auf seinen kriminellen Aktivitäten, sondern auf der eher ungewöhnlichen Tatsache, dass er später seinen Lebensunterhalt als Schriftsteller verdiente. Noch im Gefängnis begann Nakhalnik mit dem Schreiben und verfasste sein erstes Buch mit dem Titel: „Moral bahersht di velt. Fantastisher roman fun Orke Nakhalnik, geshribn in 1933.“ 50 Nach seiner frühzeitigen Freilassung, die ihm aufgrund seines schriftstellerischen Talents durch den Gefängnisdirektor gewährt wurde, zog Nakhalnik wieder nach Vilne, wo er mit dem Schreiben seiner Autobiografie „Dos 47 Über die Person Nakhalniks und sein literarisches Schaffen siehe Zlatkes: Urke Nachalnik, S. 381–388. 48 Karpinovitsh: 5/4, S. 53. 49 Ebd., S. 57. 50 Ebd., S. 53.
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leben fun Orke Nakhalnik“ begann. Während die Zeitungen sich um Nakhalnik rissen, lebte der Schriftsteller eher zurückgezogen am Vilner Stadtrand. Auch zu den literarischen Kreisen Vilnes fand Nakhalnik keinen rechten Zugang: „Fun di literarishe ovntn iz er aroys a farumerter [niedergeschlagen]. Di temes hobn im nit interesirt un di shmuesn [Gespräche] mit vilner shraybers hobn zikh nit geklept. Dertsu hot nokh Shmuel-Layb-Tsitron, fun di eltste vilner shraybers, gezogt, az nokh dem Sholem Ash hot gebrakht in der yidisher literatur zayn Motke ganef [Dieb], iz mer nito vos tsutsugebn in der rikhtung.“ 51
Nakhalnik heiratete eine Vilner Krankenschwester und zog mit ihr nach Warschau, wo er nach anfänglichen Mühen Zugang zu anderen jüdischen Autoren fand. In seinen populären Schriften thematisierte er die Lebenswelt der jüdischen Unterwelt – das Leben auf der Straße und in den Gefängnissen. Wenige Wochen nach Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde Nakhalnik von den Nazis ermordet. 52
Vilner Straßenmädchen Ähnlich wie die Vilner Gauner und Ganoven bewegten sich auch die jüdischen Straßenmädchen in einem Umfeld, das der Unterwelt zuzuordnen war. Das Prostitutionswesen als solches stellte in der traditionellen jüdischen Welt Osteuropas bis ins 19. Jahrhundert eine fast gänzlich unbedeutende Erscheinung dar. 53 Mit den großen Umwälzungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts änderte sich dies jedoch: „Die industrielle Revolution und die Urbanisierung, die Zunahme der Bevölkerung aus wirtschaftlich sehr unterschiedlichen Kreisen und ihre Konzentration in verhältnismäßig kleinen und in sich geschlossenen Stadtteilen, soziale Mobilität, die Schwächung der traditionellen Familie und der mit all dem einhergehende Zerfall überlieferter Werte beeinflussten die Prostitution maßgeblich.“ 54
Dass der hier beschriebene Wandel sich negativ auf viele Lebensentwürfe der jüdischen Unterschichten auswirkte, davon sprechen die Statistiken über regis51 Karpinovitsh: 5/4, S. 59. Scholem Asch (1880–1957) verfasste 1916 die Novelle „Motke der Dieb“. 52 Ebd., S. 61, 63. 53 Edward J. Bristow: Prostitution and Prejudice. The Jewish Fight against White Slavery 1870–1939. Oxford 1982, S. 17. 54 Schwara: Luftmenschen – Ein Leben in Armut, S. 109.
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trierte Prostituierte aus verschiedenen polnischen Städten, die in den 1870er Jahren erfasst wurden: „Thus for Warsaw in 1872, 17 oper cent of registered prostitutes were Jewish (177); for Lemberg and Cracow in 1877, 27 per cent (41) and 29 per cent (57); for Vilna in 1873, 47 per cent (71).“ 55 Die große wirtschaftliche Misere, die in den nordwestlichen Provinzen des Russischen Reiches herrschte und viele Juden in bitterste Armut trieb, erklärt, weshalb Vilne den höchsten Prozentsatz jüdischer Prostituierter aufweist und damit zu einem „black spot for comercial vice since the 1870s“ 56 wurde. Der russische Staat seinerseits versuchte besonders im Hinblick auf die zunehmenden Syphilis-Erkrankungen, vermehrt Kontrolle auf das Prostitutionswesen auszuüben, und zwar in Form von einer monatlichen Meldepflicht, medizinischen Kontrollen und Rückschaffung der Prostituierten in ihre jeweiligen Heimatgemeinden im Falle einer diagnostizierten Erkrankung. 57 Während die Zahl jüdischer Prostituierter bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts stetig abnahm, trieb der Erste Weltkrieg viele Frauen erneut in eine existentielle Notsituation. Besonders Jüdinnen in Lodz, Warschau und Vilne mussten sich aus der Not heraus verkaufen. 58 Eine große Zahl jüdischer Frauen und Mädchen fiel seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der veyser shklaf, 59 dem transatlantischen Mädchenhandel – besonders nach Argentinien – zum Opfer. Eine Kämpferin gegen diese Form der Sklaverei war Bertha Pappenheim (1859–1936), die sich auf mehreren Reisen nach Osteuropa mit dem Mädchenhandel und der Prostitution intensiv befasste und darüber in verschiedenen Publikationen berichtete. 60 Karpinovitsh selbst verweist in seinem Werk nur einmal namentlich auf den Mädchenhandel und zwar wird die junge Zionistin Hinde, die sich für Geld von einem Schlepper nach Palästina bringen lassen will, etwas besorgt gefragt, ob sie denn wisse, mit wem sie es bei ihren Helfern zu tun habe: „Un tomer [vielleicht] handlt er gor mit meydlekh far Argentine? (…) Du konst [kennen] im? Me veys ver er iz?“ 61 In seinen Erzählungen richtet Karpinovitsh den Blick ausschließlich auf das lokale Prostitutionswesen. Dieses war in Vilne an verschiedenen Orten an55 56 57 58 59 60
Bristow: Prostitution and Prejudice, S. 21. Ebd., S. 57. Schwara: Luftmenschen – Ein Leben in Armut, S. 106 f. Schuster: Zwischen allen Fronten, S. 350. Karpinovitsh: 1/3, S. 50. Siehe dazu Marianne Brentzel: Anna O. – Bertha Pappenheim. Biographie. Göttingen 2002. 61 Karpinovitsh: 3/2, S. 33.
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zutreffen. Berte die Schwerhörige beispielsweise führte ein etabliertes Bordell inmitten des jüdischen Viertels: „Zi hot geh at a hayzl oyf yatkever gas.“ 62 Eine ganze Reihe sogenannter „freylekhe hayzlek“ 63 fanden sich im Stadtteil Sofianikes, auf „di gas leben taykhl [Fluss] vilenke, vu s’hobn zikh gevimlt di vilner hayzlekh“. 64 Doch auch außerhalb der Bordelle, wie zum Beispiel im Stadtpark, gingen die Prostituierten ihrem Gewerbe nach: „In telyatnik iz shtil. Di letste por shikses hobn zikh durkhgedreyt in alee un avek shlofn on a pidyen [Bezahlung].“ 65 Das Schicksal jüdischer Straßenmädchen schildert Karpinovitsh anhand der beiden Prostituierten Leyke der Schwarzen und Tamara der Großen. Über Leyke ist zu erfahren, dass bereits ihre Mutter ihr Brot auf dieselbe Art und Weise verdienen musste: „Ir mame (…) hot ir farn toyt [Tod] ongezogt: ‚Leyke, mayn kind, ikh loz dir iber di khazoke [Anrecht] oyf Shurs lave [Gehsteig], fun brik oyf targove biz tsum same vokzal [Bahnhof ] un ikh bet dir – farshem mikh nit‘.“ 66
Ob Leyke ihren Vater gekannt hat, ist nicht in Erfahrung zu bringen. Wahrscheinlich ist, dass sie von ihrer Mutter alleine großgezogen wurde. Ebenfalls einen schwierigen Start ins Leben hatte Tamara, Leykes Freundin. Diese war ganz ohne Eltern aufgewachsen: „Zi is geven an ‚untergevorfene‘, zikh gehodevet [aufgezogen werden] in yesoymim-hoyz [Waisenhaus].“ 67 Der Weg der beiden Frauen in die Prostitution war unterschiedlich. Während Leyke anscheinend widerstandslos in die Fussstapfen ihrer Mutter trat, war Tamara über einen leichten Umweg in ihr „Fach“ geraten. „Gekumen tsu ir broyt durkh zayn a derlangerke [Kellnerin] bay Suzke dem profesor, vos hot gehat a knaype oyf konske gas. Dos hot er ir gegebn tsu farshteyn, az mit ire fis, oyb zi vet shteyn oyf di rogn [Bürgersteig], kon zi makhn gelt.“ 68
Es ist anzunehmen, dass für beide Frauen die Prostitution eine der wenigen Möglichkeiten darstellte, ausreichend Geld für ihren Lebensunterhalt zu verdienen. In den Texten findet sich jedenfalls kein Hinweis, der darauf deutet, 62 63 64 65 66 67 68
Ders.: 4/5, S. 69; vgl. ders.: 5/7, S. 103. Ders.: 1/3, S. 49. Ders.: 5/7, S. 105. Ders., 1/6, S. 110. Ders.: 1/3, S. 51. Ders.: 4/5, S. 81. Ebd.
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dass Leyke und Tamara eine Berufsausbildung genießen konnten und ihnen dadurch andere Verdienstmöglichkeiten offengestanden hätten. Die Entscheidung, als Prostituierte zu arbeiten, dürfte keiner der Frauen leichtgefallen sein: „Gerade Jüdinnen entschlossen sich sicher nicht leichten Herzens zum Schritt in die Prostitution, denn ein solches Verhalten lag so sehr außerhalb der traditionellen jüdischen Vorstellungswelt, dass sie, wenn sie sich überhaupt dafür entschieden, Gefahr liefen, aus der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden.“ 69
Dass Tamara das große Geld in die Prostitution gelockt hatte, ist zu bezweifeln, denn zu Wohlstand kamen nur die wenigsten Prostituierten. „Keyn groyse dame iz zi in Vilne nit gevorn. In Volokumpye, der sheyner gegnt hinter Vilne, iz zi oyf datshe nit geforn, un bay dem ‚grinem shtral‘ in kafe iz zi nit gezesn.“ 70 Die Prostitution in den Bordellen war streng reglementiert, aber legal. Verboten war sie hingegen auf offener Straße. Diese Regelung brachte die Prostituierten vermehrt in die Abhängigkeit von Zuhältern, da letztere – wie im folgenden Beispiel Tovshe – den Mädchen in ihren Häusern Zimmer vermieteten: „Nor tsayt s’iz aroys di gzeyre [Verordnung], az men tor nit geyn in gas, nor shteyn hintern tir un vinkn durkhn shoyb, hot zikh Leyke gemuzt araynkleybn tsu Tovshen.“ 71 Da Tovshe auch an den Kunden der Mädchen mitverdient, bleibt diesen selbst fast kein Geld übrig: „Tovshe git take dos vinkl, ober gelt nemt er vi far Tishkevitshes palats. Mit ale kromen hot er blat, un fun yeder knie [Verdienst] nemt er arop khale [hier: einen Teil wegnehmen]. Fun ale glikn blaybt iber koym oyf pudre.“ 72
Mit dem Verdienst einer Prostituierten konnten sich die Mädchen kaum Kleidung kaufen, geschweige denn einen Teil davon zur Seite legen. „S’iz ibergeblibn oyf koym zikh oystsuhaltn. Nit oyf a kleydl, on iberike stenge [Haarmasche], nit oyf shikn a por gildn aheym.“ 73 Es erstaunt deshalb nicht, dass die Prostituierten auf Darlehen von ihren Zuhältern angewiesen waren und sich dadurch noch mehr in deren Abhängigkeit brachten. Diesbezüglich stellt der Zuhälter Tovshe lakonisch fest: „Ay, zey krikhn keynmol nit aroys fun di khoyves [Schulden].“ 74 69 70 71 72 73 74
Schuster: Zwischen allen Fronten, S. 211 f. Karpinovitsh: 4/5, S. 69 f. Ders.: 1/3, 1967, S. 51. Ebd. Karpinovitsh: 5/7, S. 106. Ders.: 1/3, S. 49.
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Nebst dem schlechten Verdienst bestand für Prostituierte die Gefahr von Geschlechtskrankheiten. Aus diesem Grund musste sich auch in Vilne jede Prostituierte amtlich melden und regelmäßig untersuchen lassen: „[Z]i iz avek in gezundheyts-amt, bekumen a shvartsn bikhl, a min legitimatsye, un gegangen yeder vokh oyf kontrol, i zi iz nit krank oyf der sheyner krenk [Syphilis].“ 75 Obwohl Karpinovitsh Leyke und Tamara als kokett und selbstbewusst darstellt, ist es offensichtlich, dass sie mit ihrem Schicksal nicht zufrieden sind. Dies wird deutlich, als Tamara ihrer Freundin aus einem Roman vorliest, der beide Frauen in eine bedrückte Stimmung versetzt: „Zi hot geleyent di mayse [Geschichte] far ir khaverte, Leyke di shvartse, un beyde hobn zikh gut angeveynt, der iker baym sof [Ende], ven di kamelyen-dame, vos iz gornisht keyn dame, nor gegesn dos zelbe bitere shtikl broyt fun valgern zikh un fremde betn, iz avek shtarbn.“ 76
Der Weg aus der Prostitution hinaus war nicht einfach. „Jüdische Mädchen und Frauen, die einmal den Weg der Prostitution eingeschlagen hatten, konnten nämlich kaum auf Unterstützung der eigenen jüdischen Gemeinden rechnen.“ 77 Leyke die Schwarze, die für kurze Zeit eine Arbeit als Kellnerin fand, musste, nachdem ihr die Stelle gekündigt wurde, wieder in ihren alten Beruf zurück: „Iz Leyke nebekh [unglücklich] vider geshtanen oyfn rog [Straßeneck] fun Koleyove un gemakht a khezhbn [Rechnung].“ 78 Die Prostitution verlassen konnten Tamara und Leyke aber schlussendlich dennoch – sie fanden eine Arbeit im Schächthaus, wo sie Geflügel rupften. 79 Leykes und Tamaras Lebenslauf macht deutlich, dass besonders junge Frauen ohne familiäre Unterstützung und ohne Ausbildung in die Prostitution abrutschen konnten, denn diese bot ihnen aufgrund der kaum vorhandenen Verdienstmöglichkeiten oft die einzige Alternative. Ganz gezielt für die Interessen der Prostituierten arbeitete in Vilne der Verein froyen-shutz. 80 Sein Ziel war der „kamf mit prostitutsiye un kegn handl mit lebedike skhoyre [Menschen75 76 77 78 79 80
Ders.: 5/7, S. 110. Ders.: 4/5, S. 72. Schuster: Zwischen allen Fronten, S. 351. Karpinovitsh: 3/1, S. 11. Ebd., S. 12; ders.: 4/5, S. 74. Ellen Kellman: Creating Space for Women in Inter-War Jewish Vilna: The Role of the Froyen-Fareyn. In: Jewish Space in Central and Eastern Europe. Day-to Day History. Hg. von Jurgita Sˇiaucˇiu¯naite˙-Verbickiene˙ und Larisa Lempertiene˙. Newcastle 2007, S. 135–142.
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handel].“ 81 Dass unter den gegebenen wirtschaftlichen Bedingungen besonders die jungen Frauen eines Schutzes bedurften, darauf verweist Khane Blankshteyn, 82 ein Vorstandsmitglied des Vereins: „Di tsayt iz a beyze. A bitere. Gor beyz, gar biter iz zi far der yidisher froy, velkhe noytikt zikh alemol in gezelshaftlekhn shuts, befrat in a tsayt fun hefkeyres [Verwahrlosung] un vildkeyt, in a tsayt, vos men veys nit vi vet oyszen der noenster morgndiker tog (…). In dr itstiker tsayt iz mer vi ven s’iz amnoytikstn di hilf fun ‚froyn-shuts‘ far der hilfslozer yidisher arbetslozer froyen-yugnt.“ 83
Das Vilner Büro der international tätigen Organisation des froyen-shutz unterstützte Frauen und Mädchen auf verschiedenen Ebenen. Es vermittelte Stellen und führte Kurse für Hausangestellte durch, um den Frauen eine berufliche Perspektive zu bieten. Auch suchte der Verein nach den Ehemännern von Agunot und unterstützte die Frauen und deren Kinder. Neben medizinischer Hilfe wurde auch juristische Hilfe angeboten, die besonders im Hinblick auf ausstehende Alimente in Anspruch genommen wurde. Daneben richtete der Verein ein Heim für arbeitslose alleinstehende Frauen und Mädchen ein. 84 Die Problematik der Prostitution war der jüdischen Gesellschaft wohl bekannt. „At a more formal and institutional level there was debate among philanthropists, social workers, rabbis, journalists, and others that in its turn led to co-ordinated organisational work.“ 85 In Karpinovitshs Erzählungen ist es der Journalist Syomke Kahan, der das Schicksal der jüdischen Straßenmädchen in seiner Zeitung anprangert: „Syomke hot nisht gekont tsuzen di leydn fun di moydn in di sofianiker freylekhe heyzlekh un beshlosn zikh ontsunemen zeyer krivde [Ungerechtigkeit].“86 Der einem revolutionären Kreis angehörende Syomke, der die Prostitution als „shklaf fun der burzshuazer ordnung“ 87 sieht, sucht das Gespräch mit den Zuhältern und schildert ihnen die hoffnungslose Situation der jüdischen Prostituierten. Dass diese die Lage der Frauen weniger dramatisch einschätzen und deren Lage beschönigen, zeigen folgende Worte: 81 Khane Blankshteyn: Di tsiln fun „froyn-shuts“ in Vilne. In: Vilner almanakh. Hg. von A. Y. Grodzenski. Vilne 1939 [Reprint: Vilna Almanac. Hg. von Isaac Kowalski. Brooklyn, N.Y. 1992], Spalte 277–282, hier Spalte 277. 82 Mehr zu Blankshteyns Tätigkeit in Vilne siehe: Ellen Kellman: Feminism and Fiction: Khane Blankshteyn’s Role in Inter-War Vilna. In: Polin, 18 (2005) S. 221–239. 83 Blankshteyn: Di tsiln fun „froyn-shuts“, Spalte 282. 84 Ebd., Spalre 278–281. 85 Bristow: Prostitution and Prejudice, S. 215. 86 Karpinovitsh: 1/3, S. 49. 87 Ders.: 4/5, S. 75.
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„Tomer [im Falle] zenen do oyfn gas a drey, fir yidishe kinder, halt men zey dokh vi eygene. yonkiper [Jom Kippur] farshlist men di shtub, un peysekh-tsyat, az emits [jemand] vil forn tsu di kroyvim [Verwandten] in shtetl, reyst men ir oykh nit farn kleyd.“ 88
Schließlich sieht Syomke keinen anderen Ausweg und ruft die Straßenmädchen dazu auf, für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen: „Karbones [Opfer] fun fintstern kapitalizm! Ir vert oysgenitst fun ale zaytn! Di banders [hier: Zuhälter], ot di farsholtene eksploatators, nitsn oys ayer lage un leygn a hant oyf ayere shvere fardinstn! Zey geyen hekhern [erhöhen] dos betlgelt! Ir vet horeven [arbeiten] a gantse nakht far di blutzoygers, vi Tovshe der melekh oder Baykl di kile [Leistenbruch]? Shtelt zikh oyf un zogt zey a proletarishn neyn! Nitst oys dem eyntsikn gever, vos es iz ibergeblibn dem arbetsman! Dos gever heyst a shtrayk!“ 89
Karpinovitshs Erzählungen zeigen auch, wie die Prostituierten ihre Freizeit verbrachten: „Ale yidishe gasnmeydlekh in Vilne flegn geyn in teater un geven ibergenumen mit dos gezeene.“ 90 Doch nicht nur ein Besuch im yidisher folks-teater war bei den Straßenmädchen beliebt, sondern auch das Lesen unterhaltsamer Romane. Tamara beispielsweise liebt es, „arayntsukukn in a bikhl. Fun ale in fakh iz zi geven di same gramoten [belesen], afilu gebitn bikher in der biblyotek ‚mefitsey haskole‘, vos oyf zavalne gas.“ 91 Als ihr der Bibliothekar ein Buch mit Erzählungen von Isaak Leib Perez in die Hände drückt, ist sie allerdings wenig begeistert: „Di zamlung hot geheysn ‚folkstimlekhe geshikhtn‘ fun a shrayber, a gevisn Perets. Hot zi gleykh gevolt betn epes andersh – a roman, a libe mit dueln.“ 92 Die mit der klassischen jiddischen Literatur nicht vertraute Tamara zieht es vor, Fortsetzungsromane zu lesen: „Un Tamara, vos iz geven a gramotne [belesen] un gekoyft ale vokh a forzetsung fun ‚Regine di shpyonke‘, hot geleyent un zikh gekrimt nokh yede tsen verter.“ 93 Karpinovitsh schildert hier die jüdischen Prostituierten als Konsumentinnen der jiddischen Kultur. Dabei wird deutlich, dass Tamara weniger der hohen jiddischen Kultur zugeneigt ist, sondern sich von Romanen und Theater-
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Karpinovitsh: 1/3, S. 49 f. Ders.: 5/7, S. 109. Ebd., S. 106. Karpinovitsh: 4/5, S. 71. Ebd., S. 75. Karpinovitsh: 1/3, S. 63.
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stücken angesprochen fühlt, die eher dem shund zuzuordnen sind. Es entsteht der Eindruck, als wolle der Autor dafür plädieren, dass nicht nur die hohe jiddische Kultur (etwa Romane der jiddischen Klassiker wie beispielsweise diejenigen von Perez) ihre Berechtigung und Anhänger hatte, sondern auch die weniger anspruchsvolle. Denn gerade die Lektüre eines romantischen Abenteuerromans oder der Besuch einer unterhaltsamen Theateraufführung bedeutete für Frauen wie Tamara weit mehr als nur einen Zeitvertreib. Sie boten ihnen die Möglichkeit, für einen Augenblick der bedrückenden Realität zu entfliehen und in eine Welt einzutauchen, die ihren Träumen entsprach. Ähnlich wie bei den Ganoven der jüdischen Unterwelt finden sich auch bei den jüdischen Straßenmädchen Bräuche, die sie mit ihren Nachbarn, den einfachen Händlern und Handwerkern, teilen. Dazu gehören außer der oben erwähnten Beschneidungszeremonie 94 beispielsweise die Sabbatfeierlichkeiten. So schreibt Karpinovitsh bezüglich Leyke: „Di mame hot ir nokh mit yorn tsurik gehat ongezogt, az fraytiki-tsu-nakhts zol zi ontsindn likht. S’iz sheyn far got un voyl far di gest.“ 95 Neben religiösen Bräuchen sind es auch soziale Gepflogenheiten, die die Frauen von ihrer Umwelt übernommen haben. So bringt etwa Tamara bei der Geburt von Leykes Sohn der Mutter ein Geschenk mit, wie es sich auch bei „gewöhnlichen“ Jüdinnen ziemte: „Tamara hot opgerisn etlekhe tsveyglekh fun aza tseblitn boym un zey areyngeton in a kendl mit vaser, vi me tut es bay laytn a kimpetorin [Wöchnerin].“ 96 Die hier genannten Beispiele vermitteln den Eindruck, als wolle Karpinovitsh auch bei den jüdischen Prostituierten ihre Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft betonen und sie aus ihrer gesellschaftlichen Randstellung herauslösen. Dies macht er auch, indem er Leyke und Tamara mit einer der bedeutendsten Vilner Persönlichkeiten in Verbindung bringt, Doktor Jakob Vigodski. 97 Als Leyke nämlich schwanger wird, ist es Doktor Vigodski, an den sich die Freundinnen wenden: „Tamara hot ibergetrakht un gekumen tsum oysfir [Schluss], az di beste zakh vet zayn: aribergeyn tsu doktor Yakov Vigodski. Ershtns, iz doktor Vigodski an akusher-doktor [Geburtshelfer]; tsveytn, helft er ale oreme vayber in shtot.“ 98
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Ders.: 3/1, S. 20. Ders.: 3/1, S. 14. Ebd., S. 19. Für Angaben zur Person siehe S. 233 FN 22. Karpinovitsh: 3/1, S. 18.
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Doktor Vigodski behandelt Leyke in der Folge nicht nur umsonst, sondern schickt ihr für ihre Geburt auch eine erfahrene Hebamme vorbei. 99 Das selbstlose und unvoreingenommene Verhalten des Arztes, das Karpinovitsh nachdrücklich schildert, signalisiert, dass jener Leyke und Tamara ungeachtet ihrer sozialen Stellung als gleichwertiges Gegenüber akzeptiert und keinen Unterschied macht, ob die Frau eines Rabbi oder ein Straßenmädchen seine Hilfe benötigt. In den Memoiren einzelner Vilner Jüdinnen sind Hinweise auf die jüdische Unterwelt nicht zu finden. Die kleinen Gauner, Diebe und Prostituierten gehörten alle einer Lebenswelt an, die von derjenigen bürgerlicher Juden nicht nur geographisch, sondern auch sozial weit entfernt war. Insofern wird die jüdische Unterwelt von den Autorinnen ähnlich ignoriert wie die Armut im jüdischen Viertel, die viele Mitglieder der jüdischen Unterwelt mit den einfachen Juden teilten. Anders nimmt in Karpinovitshs Werk die jüdische Unterwelt eine besondere Stellung ein. Dies zeigt sich daran, dass jüdische Kriminelle und Prostituierte in vielen Erzählungen des Autors als Protagonisten in Erscheinung treten und nicht nur aus der Distanz stereotypenhaft beschrieben werden. So lassen sich aus der Summe von Karpinovitshs Schilderungen nähere Aussagen über die Lebensweise dieser jüdischen Randgruppe machen. Dabei ist festzustellen, dass die jüdischen Kriminellen ähnlich organisiert waren wie andere Berufsgruppen, nämlich in Vereinen, die ihrerseits hierarchisch aufgebaut waren und nach gewissen Regeln funktionierten. Dass Ordnung innerhalb der jüdischen Unterwelt herrschte, dafür rühmten sich ihre Mitglieder. Nicht umsonst hatte gerade die Vilner Unterwelt – so ihre Selbsteinschätzung – einen guten Ruf. Karpinovitsh zeigt außerdem, dass die jüdischen Kriminellen und Prostituierten unter ähnlich schwierigen Bedingungen lebten wie ihre Nachbarn, die einfachen Händler und Handwerker, und dass sie auch Bräuche und Feierlichkeiten mit jenen gemeinsam hatten. Damit scheint der Autor dafür zu plädieren, diese Menschen als Teil des Vilner Judentums zu akzeptieren und nicht als eine Randgruppe zu betrachten, deren Lebensweise sich grundsätzlich von derjenigen gewöhnlicher Jüdinnen und Juden unterschied. Schmuggler, Diebe, Gauner, Zuhälter und Prostituierte – sie alle werden in ihrer Menschlichkeit dargestellt. Karpinovitsh verurteilt nicht, sondern zeichnet ein vielfältiges Bild von der jüdischen Unterwelt. Kritik bezüglich des Handelns ihrer Mitglieder 99 Ebd., S. 18, 19.
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findet sich lediglich hinsichtlich der Prostitution, bei der der Autor die Straßenmädchen nicht nur als Opfer äußerer Umstände, sondern auch der selbstsüchtigen jüdischen Zuhälter darstellt. Insgesamt zeigt Karpinovitsh ein eher apologetisches beziehungsweise idealisiertes Bild der jüdischen Unterwelt, bei der deren abenteuerliche und romantische Seiten im Vordergrund stehen. Diese beschönigende Sicht auf die Vergangenheit ist rückblickend mit ihrer Auslöschung in der Shoah zu verstehen. Aus dieser Perspektive nimmt sich Karpinovitsh eines Segments der jüdischen Bevölkerung an, das – genauso wie die Händler, Handwerker oder Rabbiner – ein Teil des Vilner Judentums war und als solcher erinnert werden muss. Dass Grade nicht näher auf die jüdische Unterwelt blickt und diese dadurch in seinen Texten zur tatsächlichen Randgruppe werden lässt, ist insofern erstaunlich, als dass diese – darauf deuten die Erzählungen Karpinovitshs – auch in Grades unmittelbarer Nähe existiert hatte. Wieso die beiden Autoren mit diesem Themenbereich so unterschiedlich umgehen, ist unklar. Ob Karpinovitshs Interesse an der jüdischen Unterwelt durch deren Nähe zum yidisher folks-teater geweckt worden ist und umgekehrt Grade aus demselben Grund diese Menschen nur am Rande in Erscheinung treten lässt, bleibt eine Vermutung.
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Beziehungen zur nichtjüdischen Bevölkerung Vilnes
Nach dem Ersten Weltkrieg fanden sich viele ehemals unter russischer, österreichischer sowie preußischer Herrschaft lebende Juden in der Zweiten Polnischen Republik wieder. Für die polnische Bevölkerung, deren Hoffnung auf staatliche Eigenständigkeit zuletzt im bewaffneten Aufstand des Jahres 1863 von der russischen Macht niedergeschlagen wurde, ging 1918 ein lang ersehnter Traum in Erfüllung. Der sich seit dem 19. Jahrhundert entwickelnde polnische Nationalismus, der eng mit dem Katholizismus verbunden war, strebte in seiner zunehmend radikalen Ausprägung einen ethnisch homogenen Staat an. In diesem nationalen Selbstverständnis wurden selbst die assimilierten Juden nicht als gleichberechtigte Partner betrachtet.1 Im Gegenteil: Die Juden standen unter Verdacht, zusammen mit der russischen Herrschaft gegen die polnischen Interessen zu arbeiten. Darüber hinaus wurden die Juden als unliebsame wirtschaftliche Konkurrenten gesehen, die durch ihre Überrepräsentation im Handel und Gewerbe, aber auch in den freien Berufen, angeblich die Entwicklung einer polnischen Mittelklasse behinderten. 2 Dieses vornehmlich von Teilen der polnischen Intelligenz und der katholischen Kirche propagierte negative Bild der Juden bestimmte – unabhängig vom Vorhandensein auch anderer Haltungen gegenüber den jüdischen Mitbürgern, wie etwa die der liberalen Intelligenz oder der polnischen Sozialisten – maßgebend die Beziehung zwischen Juden und Nichtjuden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nach dem Ersten Weltkrieg regelte auf gesetzlicher Ebene der 1919 von Polen unter Druck der Alliierten unterzeichnete Minderheitenvertrag das Verhältnis der polnischen Mehrheitsbevölkerung zu den verschiedenen nationalen Minderheiten im Land. Dieser garantierte den Juden gleiche bürgerliche und politische Rechte. Obwohl ihnen der Minderheitenvertrag weder den Status 1
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Katrin Steffen: Das Eigene durch das Andere: Zur Konstruktion jüdischer Polonität 1918–1939. In: Jahrbuch das Simon-Dubnow-Instituts, 3 (2004) S. 89–111, hier S. 94–95. Theodore R. Weeks: Assimilation, Nationalism, Modernization, Antisemitism. Notes on Polish-Jewish Relations, 1855–1905. In: Antisemitism and its Opponents in Modern Poland. Hg. von Robert Blobaum. Ithaca, London 2005, S. 20–38, hier S. 36.
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einer nationalen Minderheit zuteilte noch eine Repräsentation im polnischen Parlament zusicherte, wurde er von vielen polnischen Politikern als Machwerk des „internationalen Judentums“ verteufelt. 3 Ungeachtet der Tatsache, dass in der neuen Republik 30 Prozent der Bevölkerung anderen Ethnien angehörten, verstand sich Polen ausschließlich als polnischer Nationalstaat, in dem die anderen Volksgruppen und insbesondere die Juden trotz des unterzeichneten Minderheitenvertrags gesetzlich benachteiligt werden konnten. So hatten viele diskriminierende Gesetze aus der Zeit der russischen oder österreichischen Herrschaft auch in der Zweiten Polnischen Republik Rechtskraft, sofern sie nicht in der Verfassung (1921) als rechtswidrig erklärt oder vom Parlament abgeschafft wurden. Dazu gehörte das Verbot der jiddischen und hebräischen Sprache in öffentlichen Versammlungen, das Verbot, Minenrechte an Juden zu erteilen oder das Verbot, Land, das den Bauern zugewiesen war, an Juden zu verkaufen. Erst 1930 wurden sämtliche Gesetze, die die Zivilrechte einzelner Bürger aufgrund ihrer Herkunft, Nationalität, Rasse oder Religion diskriminierten, für ungültig erklärt. 4 Parallel zu dieser Entwicklung wurden allerdings neue Gesetzesvorschläge vor das Parlament gebracht, die die Bürgerrechte der Juden beschnitten. 1924 wurde das Sonntagsarbeitsverbot erlassen, das vor allem gläubige Juden neben dem Sabbat zu einem weiteren Tag der Untätigkeit zwang und sie damit gegenüber der christlichen Konkurrenz benachteiligte. Ein weiteres zusätzliches Arbeitsverbot von 20 Tagen brachte im selben Jahr ein Gesetz die staatlich anerkannten Feiertage betreffend, wovon es sich bei 17 Tagen um katholische Feiertage handelte. Besonders in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre wurde eine Reihe von Gesetzen erlassen, die indirekt oder gezielt die Juden aus bestimmten Wirtschafts- und Berufszweigen verdrängen sollten. Dazu zählen das Anti-Schächtgesetz (1936), das Verbot der Herstellung und des Verkaufs von Devotionalien durch Juden (1937), die Neureglementierung des Verkaufs von Vieh und Geflügel (1938) sowie eine Abänderung der Antwaltsreglementierung (1938). 5
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Alexander Victor Prusin: The „Stimulus Qualities“ of a Scapegoat: The Etiology of Anti-Jewish Violence in Eastern Poland, 1918–1920. In: Jahrbuch das Simon-Dubnow-Instituts, 4 (2005) S. 237–256, hier S. 246–247. Jerzy Tomaszewski: The Civil Rights of Jews in Poland 1918–1939. In: Polin, 8 (1994) S. 115–127, hier S. 122, 123, 125. Szymon Rudnicki: Anti-Jewish Legislation in Interwar Poland. In: Antisemitism and its Opponents in Modern Poland. Hg. von Robert Blobaum. Ithaca, London 2005,
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Antisemitismus auf der „jüdischen Straße“ In den Texten von Grade und Karpinovitsh finden sich verschiedene Hinweise, die darauf deuten, dass das jüdische Leben in Vilne in der Zwischenkriegszeit von Antisemitismus geprägt war. 6 Der Versuch, die Juden ihrer wirtschaftlichen Grundlagen zu berauben, manifestiert sich im jüdischen Viertel etwa am Beispiel der armen Hühnerverkäuferinnen, die von der Polizei aufgegriffen werden, weil sie ohne Bewilligung Handel auf den Straßen treiben. 7 Hiervon betroffen war auch einst Vella Grade, wie ihren Worten zu entnehmen ist: „Vifil mol hot men mir un mayn shutefte [Partnerin] Blumelen gemakht protokoln far shteyn on a patent, far aroysgeyn fun toyer, zaynen mir gegangen opzitsn un nit batsolt keyn gelt.“ 8 Jüdinnen wie Vella und Blumele, die sich keinen eigenen Verkaufsraum leisten konnten, mussten ihre Waren auf den Straßen des jüdischen Viertels anbieten und hatten keine Möglichkeit, ohne weiteren finanziellen Aufwand legal Handel zu treiben. Die Angst, von der Polizei entdeckt und abgeführt zu werden, war bei den Straßenhändlerinnen deshalb ständig präsent: „Di farkoyferkes, vos hobn nit keyn kreml, krign nit keyn patent, keyn derloybenish tsu handln. Shteyen zey oyf der gas un hitn zikh far a politsiant. Nor di politsiantn in ti tunkl-bloye mundirn [Uniformen] hobn a teve [Eigenart] zikh untertsuganevenen [einschleichen] shtilerheyt. Umgerikht [unerwartet] derzet a yidene a shvartsn glantsikn shtivl, vos git a brik [Stoß] in ir kashik [Korb]. Di skhoyre [Ware] tseshit zikh [herunterfallen] in rinshtok [Straßenrinne] un der politsiant tsishet aroys: Patent mash? Di andere hendlerkes nehmen antloyfn, a keyt [Kette] fun politsey-layt tsamt op di gas fun ale zaytn un di hendlerkes faln arayn di politsey-layt in di hent.“ 9
In dieser Beschreibung kritisiert Grade das unmenschliche Vorgehen der polnischen Polizisten gegenüber den einfachen Jüdinnen. Verbrechern gleich werden diese durch die Straßen des jüdischen Viertels gejagt. Dass der „illegale“ Straßenhandel für die Frauen die einzige Verdienstmöglichkeit darstellte und
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S. 148–170, hier S. 154, 163, 164. Ausführlich zur Schächtfrage siehe ders.: Ritual Slaughter as a Political Issue. In: Polin, 7 (1992) S. 147–160. Die Beziehung zwischen den Christen und Juden Vilnes gestaltete sich seit Jahrhunderten nicht konfliktfrei. Siehe dazu: David Frick: Jews and Others in SeventeenthCentury Wilno: Life in the Neighborhood. In: Jewish Studies Quarterly 12/1 (2005) S. 8–42. Grade: Der shulhoyf (1), S. 167. Ders.: Der mames shabosim, S. 65 f. Ebd., S. 81 f.
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sie aus Armut dazu gezwungen waren, schien die Polizei dabei nicht zu interessieren, weshalb sie geradezu respektlos mit den eingeschüchterten Frauen und deren Waren umgingen. Seit den 1930er Jahren unternahm die Stadtverwaltung unter dem Deckmantel der „Stadterneuerung“ den Versuch, den „unansehnlichen“ und „unhygienischen“ Handel auf den Straßen der Vilner Altstadt zu unterbinden. 10 Da davon vor allem die armen jüdischen Straßenhändler betroffen waren, liegt der Verdacht nahe, dass die Juden gezielt benachteiligt werden sollten. Von der jüdischen Gemeinde wurde das Vorgehen der Stadtverwaltung auf jeden Fall als gegen die Ihren gerichtet empfunden, und sie war darum bemüht, sich gegen diese Diskriminierung zu wehren. Einer, der sich nach Karpinovitsh besonders für die jüdischen Kleinhändler einsetzte, war Doktor Jakob Vigodski: 11 „[F]ar di vayber mit di koshikes [Körbe] hot er opgeklapt di tirn in magistrat, me zol zey nit makhn keyn zores [Ärge] un lozn farkoyfn dem droyb [Eingeweide].“ 12 Die Zurückdrängung der Juden aus ihren traditionellen Erwerbsfeldern fand nicht nur in den Städten, sondern auch in den kleinen Dörfern der Provinz statt: „Di poyerim, di vaysrusn punkt vi di polyakn, viln nit mer in zeyere derfer keyn yidishe karabelnikes [Hausierer], yidishe shnayders un parikmakhers. Afilu keyn yidishe klezmers viln zey nit mer.“ 13 Wie sehr die Juden von der christlichen Bevölkerung als unliebsame wirtschaftliche Konkurrenten behandelt wurden, spiegelt sich in der Angst vieler Händler, diese Dörfer überhaupt noch zu betreten: „Yidn kenen mer nit arayngeyn in a dorf farkoyfn skhoyres [Waren] un in shtetl gufe zaynen zey oykh nit zikher mitn leben.“ 14 Die Polonisierung des Handels und Gewerbes und damit die wirtschaftliche Verdrängung der Juden war das Ziel von Vertretern verschiedener Wirtschaftszweige und parlamentarischer Gruppierungen. Besonders in größeren Städten wurden ab 1936 bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs Boykottaktionen organisiert, die die polnischen Kunden daran hindern sollten, in jüdischen Geschäften einzukaufen. Potentielle Kunden wurden nicht nur durch Wachposten abgeschreckt, sondern auch durch die Publikation ihrer Namen auf Listen, die die Namen von Polen enthielten, welche bei Juden einkauften. 15 10 11 12 13 14 15
Kuznitz: On the Jewish Street, S. 71. Für Angaben zur Person siehe S. 233 FN 22. Karpinovitsh: 3/1, S. 18; vgl. dazu Abramowicz: Profiles of a Lost World, S. 304. Grade: Der shtumer minyan, S. 213. Ebd., S. 96. Albert S. Kotowski: „Polska dla Polaków“: Über den Antisemitisus in Polen in der
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Solche Boykottaktionen gab es auch in Vilne. Damit konfrontiert wurde auch Lucy Dawidowicz. In ihren Memoiren beschreibt sie, wie Gymnasiasten und Studenten vor den jüdischen Geschäften auf- und abmarschieren, Flugblätter an Passanten verteilen, polnische Kunden davon abhalten, die Geschäfte zu betreten, und selbst nicht davor zurückschrecken, die jüdischen Geschäfte zu vandalisieren. 16 Ähnliches ist auch bei Karpinovitsh zu vernehmen: „Di sonim-yisroel [Antisemiten] hobn gedungen shomrim [Wächter] tsu shteyn bay di yidishe kromen un nit arayngelozn keyn kristlekhe kundn. In shtot hot geshmekt mit retsikhe [Gewalt].“ 17 Boykotte dieser Art verfehlten ihre Wirkung nicht. Die jüdischen Ladenbesitzer verzeichneten Einnahmeverluste, die zur Folge hatten, dass einzelne Geschäfte langsam in den finanziellen Ruin getrieben wurden. So erklärt ein Krämer: „[D]i shkotsim [christliche Jungen], vos lozn nit arayn keyn poyerim in yidishe kromen, hobn mikh ingantsn dershtikt.“ 18 Dass nicht nur arme Krämer davon betroffen waren, sondern auch wohlhabende, betont selbiger nachdrücklich: „Ober afilu raykhe ayngefundevete [etabliert] kremer zaynen itst gevorn yordim [verarmte Männer].“ 19 Ein Grund hierfür mochte gewesen sein, dass die mittelständischen jüdischen Geschäfte in den Hauptgeschäftsstraßen der Stadt einen höheren polnischen Kundenstamm hatten als die kleinen Geschäfte im jüdischen Viertel und deshalb von den Boykottaktionen stärker betroffen waren. Dass der wirtschaftliche Konkurrenzkampf zwischen Juden und Polen auch in Berufsfeldern stattfand, in denen die Juden nicht übermäßig vertreten waren, zeigt das Beispiel eines jüdischen Bauern, der sich entschließt, nach Erez Israel auszuwandern, da die christlichen Bauern ihm seinen Erfolg nicht gönnen: „Di goyim [Nichtjuden] hobn ongehoybn drikn fun ale zaytn. Zey shtekht di oygn, az a yidisher poyer fardint zayn broyt shener fun zey.“ 20 Ein ähnlicher Druck seitens ihrer christlichen Konkurrenten ist auch in der jüdischen Unterwelt zu spüren, wo sich die Ganoven diesbezüglich beklagen: „Di
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Zwischenkriegszeit. In: Zwischen großen Erwartungen und bösem Erwachen. Juden, Politik und Antisemitismus in Ost- und Südost-europa 1918–1945. Hg. von Dittmar Dahlmann und Anke Hilbrenner. Paderborn, München, Wien u. a. 2007, S. 77–99, hier S. 86, 87. Dawidowicz: From that Place, S. 171. Karpinovitsh: 1/9, S. 155 f. Grade: Der mames shabosim, S. 139. Ders.: Der shulhoyf (1), S. 180. Karpinovitsh: 3/9, S. 142.
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goyim hobn gerisn dem fakh fun di hent.“ 21 Konkret äußerte sich dies darin, dass die christlichen Ganoven zunehmend an „jüdischen Orten“ wie dem holtsmark an der zavalne gas oder der daytshe gas im Herzen des jüdischen Viertels ihre Geschäfte betrieben, wohl wissend, „az daytshe gas iz nit far goyishke ganovim [Diebe].“ 22 Um die Juden auch aus den akademischen Berufen zu verdrängen, musste ihnen der Zugang zu den Universitäten erschwert werden. Bereits 1923 forderte eine Reihe Parlamentarier für jüdische Studenten einen Numerus clausus. Der Gesetzesvorschlag wurde abgelehnt, jedoch billigte das Ministerium für Religion und öffentliche Erziehung den Universitäten zu, die Zahl ihrer Studenten zu begrenzen, was indirekt einem Numerus clausus gleichkam. 23 Zu Beginn der 1930er Jahre erfuhren die Universitäten eine zunehmende Radikalisierung durch rechte Studentenorganisationen. An vielen Universitäten des Landes, darunter auch Vilne, entfachten sich bittere Kämpfe zwischen rechtsgerichteten sowie jüdischen und linksgerichteten Studenten. An der Universität in Vilne starb im November 1931 bei derartigen Auseinandersetzungen ein polnischer Student, wonach die Nationale Partei (Endecja) im Parlament erneut eine Debatte über die Einführung des Numerus clausus eröffnete. Im Interesse des internationalen Ansehens Polens wurde allerdings von einem Gesetzesvorstoß abgesehen. 24 Ungeachtet dessen verschlimmerte sich die Lage an den polnischen Universitäten für jüdische Studierende. 1935 trieben rechtsgerichtete Studenten die Juden aus den Hörsälen und forderten für diese abgesonderte Sitzplätze, sogenannte „Ghetto-Bänke“. Um die Unruhen an den Hochschulen einzudämmen und mit dem Unterricht fortfahren zu können, führten die Rektoren der Universitäten Warschau, Vilne, Krakau und Lemberg eine neue Sitzordnung ein, die die Juden von den übrigen Studenten absonderte. Gleichzeitig praktizierten viele Universitäten einen inoffiziellen Numerus clausus bei der Neueinschreibung jüdischer Studierender. 25 Die Wirkung dieser neuen Hochschulpolitik blieb nicht aus. „As a result of this systematic anti-jewish cam21 22 23 24
Ders.: 1/6, S. 101. Ebd. Rudnicki: Anti-Jewish Legislation, S. 156. Paweł Korzec: Antisemitism in Poland as an Intellectual, Social, and Political Movement. In: Studies on Polish Jewry 1919–1939. The Interplay of Social, Economic and Political Factors in the Struggle of a Minority for its existence. Hg. von Joshua A. Fishman. New York 1974, S. 12–104, hier S. 76, 77. 25 Kotowski: „Polska dla Polaków“, S. 88, 89.
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Antisemitismus auf der „jüdischen Straße“
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paign, the number of jewish students in institutions of higher education fell from 20.4 per cent in the 1928–29 academic year to 7.5 per cent in 1937– 38.“ 26 Aus den Memoiren einzelner Vilner Jüdinnen ist von Henia Brazg bezüglich ihrer Mutter zu erfahren, dass diese zu den wenigen Studenten gehört habe, die 1938 noch zum Studium angenommen worden seien. Erstaunlich ist, dass die Autorin in diesem Zusammenhang nichts über den Antisemitismus an den Universitäten schreibt.27 Lucy Dawidowicz wiederum erinnert sich, dass einige Studenten zu Beginn des Studienjahres Flugblätter verteilten, in denen dazu aufgerufen wurde, einen sogenannten „Numerus nullus“ einzuführen, nur noch polnische Katholiken in polnische Schulen aufzunehmen und die Juden gänzlich aus der polnischen Gesellschaft auszuschließen.28 In den Texten von Grade und Karpinovitsh finden sich relativ wenige Hinweise bezüglich der Situation an der Universität. Dies ist damit zu erklären, dass beide Autoren ihren Blick primär auf die einfachen Bewohner des jüdischen Viertels richten, für die eine akademische Ausbildung kaum realisierbar war. Einzig Familie Rapaport, die außerhalb des jüdischen Viertels in einer vornehmen Wohngegend lebt, vermag ihren Sohn Gabriel an die Universität zu schicken, wo dieser Agrarwissenschaften studiert. Die Familie weiß, dass an der Universität „studentn antisemitn, khuligans [Hooligans]“ 29 die Unterrichtsstunden stören. Hierbei waren es vor allem „di studentn mit di fuksene ekn oyf di hitlen [rotfarbige Studentenmütze], vos hobn geshlogn yidn.“ 30 Obwohl nur wenige Bewohner des jüdischen Viertels an der Universität studierten und vom dort herrschenden Antisemitismus direkt betroffen waren, wussten auch die einfachen Juden, wie es ihren Glaubensgenossen an der Universität erging. Dieser Umstand wird vor allem in Karpinovitshs Texten deutlich. So ist etwa zu erfahren, dass ein junger jüdischer Kommunist einen Arm verloren hatte „bay a geshleg mit poylishe studentn, vos hobn nit arayngelozt in universitet zayne yidishe khaveyrim [Freunde].“ 31 Solidarität mit den jüdischen Studenten zeigt auch die jüdische Unterwelt. Dieser ist bekannt, dass „[s]’iz shoyn dergangen dertsu, az di besere layt, di studentn, hobn zikh gevorfn
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Rudnicki: Anti-Jewish Legislation, S. 166. Brazg: Passport to Life, S. 21. Dawidowicz: From that Place, S. 167. Grade: Di kloyz un di gas (3), S. 196. Karpinovitsh: 1/9, S. 156. Ders.: 3/7, S. 97.
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oyf yidin in gas un geshlogn yidishe kinder in universitet.“32 Dass die jüdischen Studenten aus den Hörsälen getrieben werden und ihnen so Bildung verwehrt wird, können die jüdischen Ganoven nicht gutheißen: „[M]’et zey aroysshroyfn [ausreißen] di fis un araynshteln shvebelekh [Streichhölzer], veln zey visn, di gazlonim [Banditen, hier: Studenten], nit tsu tshepenen [in Ruhe lassen] undzere studentn.“33 Anhand dieser Beispiele wird deutlich, dass in Anbetracht des Antisemitismus Karpinovitsh das Vilner Judentum als geschlossene Einheit verstanden haben will: Ähnlich wie Doktor Vigodski sich für die jüdischen Unterschichten einsetzt, so kämpfen hier jüdische Gauner und Ganoven für die Rechte der vornehmlich bürgerlichen jüdischen Studenten. Die gegenseitige Solidarität unter den verschiedenen Schichten der Vilner Juden lässt sich damit erklären, dass diesen insgesamt sicherlich bewusst war, dass der in bestimmten Bereichen festzumachende Antisemitismus, wie etwa im Straßenhandel oder an den Universitäten, sich nicht nur gezielt gegen die jüdischen Straßenhändler oder Studenten richtete, sondern als Angriff auf das gesamte Vilner Judentum gedacht war. Die sich ankündigende Segregation von Juden und Polen, die nicht nur in den Hörsälen, sondern auch auf den Märkten stattfand, wo die jüdischen Händler in einen bestimmten Teil des Marktes verwiesen wurden, 34 hatte zur Folge, dass sich die jüdische Bevölkerung Vilnes zunehmend bedrängt und unerwünscht fühlte. Die Feindseligkeiten, die von einem gewissen Teil der polnischen Bevölkerung gegen die Juden gerichtet waren, wurden nur allzu gut spürbar: „In shtot hot geshmekt mit retsikhe [Gewalt].“ 35 Relativ häufig finden sich deshalb in den Texten Aussagen, die generell auf die schlechte Lage der Juden hinweisen: „Yidn hobn mer nit gegleybt in morgndikn tog. M’iz geven gedrikt fun ale zaytn.“ 36 Die gegen die jüdische Bevölkerung gerichtete Politik bewirkte, dass sich der Alltag für die Bewohner des jüdischen Viertels kontinuierlich verschlechterte: „Tog-ayn tog-oys hot men in di geslekh zikh ongehert fun naye puronyes [Bedrängnis].“ 37 Um die Menschen für eine kurze Zeit aus ihrem erdrückenden Alltag zu reißen, führte das yidisher folks-teater ein nationales Stück auf, „vayl letstns iz 32 33 34 35 36 37
Ders.: 1/6, S. 102. Ebd. Rudnicki: Anti-Jewish Legislation, S. 166. Karpinovitsh: 1/9, S. 155 f. Ders.: 3/3, S. 39; vgl. ders.: 5/1, S. 17. Grade: Der shtumer minyan, S. 227.
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men gedrikt fun ale zaytn, keyn parnose [Arbeit] iz nito“. 38 Das Theater war dabei ein Ort, an dem einerseits die triste Gegenwart für kurze Zeit vergessen, andererseits aber auch über das jüdische Schicksal reflektiert werden konnte. Wie aktuell und allgemein bekannt die hoffnungslose Lage der Juden gewesen sein muss, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass Regisseur Kutner in einem seiner Stücke einen Bärentanz aufführen lässt, der das harte Los des jüdischen Volkes verkörpern soll: „Kutner hot arayngeleygt in ot dem tants di gantse tsebrokhnkeyt fun yidishn goyrl [Schicksal]. Yeder zayn megushemdiker [unbeholfen] shrit hot geotemet mit umbaholfenem protest kegn der derniderikung.“ 39
Tatsächlich radikalisierte sich Mitte der 1930er Jahre unter dem Einfluss der Politik in Nazi-Deutschland die Einstellung der politischen Eliten zur jüdischen Minderheit: „Di polyakn hobn faynt bakumen yidn, akurat vi di daytshn hobn undz faynt.“ 40 Ein erstes Anzeichen dafür war die einseitige Kündigung des Minderheitenvertrags durch Polen im Jahr 1934. Darüber hinaus trug in den letzten Jahren vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs der Antisemitismus einen unverblümt offiziellen Charakter. Die zunehmende Verdrängung der jüdischen Bevölkerung aus dem wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Leben des Landes gipfelte in dem Versuch, die Juden mittels kontinuierlicher Diskriminierung, wirtschaftlicher Boykottmaßnahmen und auch Gewalt zum Verlassen ihrer Heimat zu zwingen. Ab 1935 sah die polnische Regierung in der Emigration der Juden angeblich die einzige Lösung, um die „jüdische Frage“ und damit die wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes zu lösen – ungeachtet der Tatsache, dass es keine Staaten gab, die einer jüdischen Masseneinwanderung zustimmten. 41 Dieses Unerwünschtsein im eigenen Land spiegelt sich auch in den Texten Grades: „Oykh di polyakn shrayen shoyn, az yidn zoln farlozn Poyln.“ 42 Die
38 Karpinovitsh: 2/7, S. 105. 39 Ebd., S. 111. 40 Grade: Der shtumer minyan, S. 47 f. Zum Umgang der politischen Parteien mit der „jüdischen Frage“ siehe Jerzy Holzer: Polish Political Parties and Antisemitism. In: Polin, 8 (1994) S. 194–205. 41 Emanuel Melzer: Antisemitism in the Last Years of the Second Polish Republic. In: The Jews of Poland Between Two World Wars. Hg. von Yisrael Gutman, Ezra Mendelsohn, Jehuda Reinharz und Chone Shmeruk. Hanover 1989, S. 126–137, hier S. 130–131. 42 Grade: Der shtumer minyan, New York 1976, S. 26.
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antijüdische Stimmung, die in der polnischen Bevölkerung verbreitet war, findet sich in seiner Erzählung „Der brunem“. Diese handelt davon, wie der Brunnen auf dem shulhoyf kaputtgeht und die Hausfrauen des jüdischen Viertels aus diesem Grund zum öffentlichen Brunnen auf der shlos gas gehen müssen, welcher hauptsächlich von der polnischen Bevölkerung benutzt wird. Diesbezüglich berichtet eine eingeschüchterte Jüdin, was ihr am Brunnen widerfahren ist: „Plutsim hot a groyser steyn getrofn in emer un im ibergekert. Hot zi nit-toyt un nit-lebedik zikh umgekert un derzen vi a sheygetsl [christlicher Junge], vos hot dem shteyn gevorfn, shteyt un lakht.“ 43 Während Grade hier schildert, wie eine einzige Jüdin das Opfer eines „Jungenstreichs“ geworden ist, zeigt er im Folgenden, wie nach dem plötzlichen Defekt des Brunnens auf der shlos gas sämtliche Jüdinnen kollektiv dafür verantwortlich gemacht werden und den Hass der Christen auf sich ziehen: „Arum zaynen geshtanen di goyim mit di goyes un geshrien, az di zshides [Juden] hobn tsebrokhn dos plumpele [Wasserpumpe] un men darf oyf zey makhn a pogrom. Zaynen di vayber fun dort antlofn koym mitn leben un gegangen in hoyf kloyster oyf der daytshisher gas, vu men badarf far an emerl vaser tsoln gelt.“ 44
Auf dem Klosterhof, wo die Jüdinnen für das Wasser teuer bezahlen müssen, fühlen sie sich nicht viel sicherer und geben in der für sie fremden, christlichen Umgebung ein klägliches Bild ab: „Dort shteyn shoyn dos gezeml [Ansammlung] fun di shulhoyf-vayber tsugetulyet [beisammen stehend] eyne tsu der anderer, vi zey voltn gevart in koridor fun shtotishn gerikht, men zol zey araynrufn tsum shtrengn shoyfet [Richter] oyf a mishpet [Urteil].“ 45
Das negative Gefühl der Frauen auf dem Klosterhof scheint nicht unbegründet, denn die ebenfalls dort anwesenden Polen reagieren mehr als abweisend auf die ungewohnten Besucherinnen: „Eltere farputste poliakn geyen pamelekh aroys un arayn, varfn zaytik a blik oyf di vayber, un zeyer farakhtung tsu di yidenes blaybt hengen oyf di shpitsn fun zeyere groye fardrayte vonses [Schnurrbart]. A froy in a langn kleyd geyt arunter fun a ganikl [Veranda] mit dray treplekh. Es bagleyt zi a dinst-meydl mit a leydikn [leer] hantkerbl. Dos dinst-meydl kukt beyz-farkrimt oyf di yidishkes, ober azoy vi ir baleboste [Herrin] shvaygt, shvaygt zi oykh.“ 46 43 44 45 46
Ders.: Der shulhoyf (1), S. 9. Ebd., S. 73. Ebd., S. 10. Ebd.
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Auch der Hausmeister des Klosters, der die Tickets für den Brunnen einsammelt, beobachtet die Jüdinnen argwöhnisch: „[U]n ven di emers vern oyf dray-fertl ongefilt, fardreyt der strozsh [Hauswart] dem kran [Wasserhahn], di zshidovkes zoln im nit fargisn dem hoyf. Di vayber rukn [Rücken] zikh aroys eyntsikveyz, un filn in di rukns di shtekhike blikn fun strozsh, vos kukt zey nokh, tsi zey farpliukhen [bespritzen] nit di arumgeshlayfte bruk-shteyner, vu es valgert zikh nit arum keyn eyn papirele, keyn eyn shtroyele.“ 47
Der Unmut des Hausmeisters bleibt den Jüdinnen nicht verborgen, und es dauert nicht lange, bis dieser den Frauen verbietet, das Wasser bei ihm zu holen: „Ober iber dem groysn ongeloyf [Menschenmenge] un oys moyre [Angst], az oykh der kran zol nit kalie vern [kaputtgehen], hot haynt der farvalter fun hoyf nit gevolt farkoyfn keyn tsetlen oyf vaser un ongezogt dem strozsh fun hoyf, er zol aroystraybn ale vayber.“ 48
In „Der brunem“ zeigt Grade, mit welchen Formen von Antisemitismus einfache Jüdinnen im Alltag konfrontiert wurden. Auf die Anwesenheit der Frauen an vermeintlich polnischen (shlos gas) beziehungsweise christlichen (Klosterhof ) Orten, an denen die Jüdinnen als unwillkommene Fremde erscheinen, reagieren die Nichtjuden misstrauisch bis gar feindselig. Sie mustern die „Eindringlinge“ mit abwertenden Blicken, werfen Steine nach ihnen und rufen zum Pogrom auf. Die Vermutung, dass Antisemitismus vermehrt an nichtjüdischen, teilweise explizit christlichen Orten stattfand, wird durch ein Beispiel in Grades Memoiren bestärkt. Darin schildert der Autor, wie er – weinend, da sein Vater erkrankt war und er Hilfe holen musste – beim Ostra Brama 49 auf eine polnische Frau und deren Sohn trifft, welche Chaims trauriges Gesicht bemerken: „A poylishe froy mit ir yingl hobn geknit far der heyliker muter, vos iz gehangen iber dem ostrabramer toyer. Ven der sheygetsl [christlicher Knabe] hot mikh dersen, hot er zikh oyfgehoybn un nokhgekrimt vi ikh veyn. Zayn mame hot tsu mir oysgedreyt ir farfrumt ponim [Gesicht] – un zikh tselakht.“ 50 47 Ebd., S. 11. 48 Ebd., S. 73. 49 In der Torkapelle des Ostra Brama, dem einzig erhalten gebliebenen Tor der Vilner Befestigungsmauer, war ein angeblich wundertätiges Muttergottes-Bild aus dem 16. Jahrhudert angebracht, das Vilne zu einem Hauptwallfahrtsort Polens machte. Janusz Dunin-Horkawicz: Wilna – verlorene Heimat. Jugenderinnerungen eines polnischen Bibliothekars (1936–1945). Hannover 1998, S. V. 50 Grade: Der mames shabosim, S. 41.
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Gerade diese subtile Form nonverbalen Antisemitismus’ zeigt, wie das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden jenseits der gesetzlichen Bestimmungen auf der Ebene des alltäglichen Zusammenlebens der Menschen geprägt wurde. Eine zentrale Rolle hinsichtlich der antijüdischen Stimmung in der polnischen Bevölkerung spielte die katholische Kirche. Ähnlich wie bei den politischen Eliten, so radikalisierte sich auch bei ihr in den 1930er Jahren die Haltung gegenüber den Juden, „as Catholic rhetoric and modern antisemitism became increasingly compatible.“ 51 So formulierte in seinem berühmten Hirtenbrief aus dem Jahr 1936 Kardinal Hlond, der Primat der katholischen Kirche: „Eine jüdische Frage existiert und es wird so lange eine jüdische Frage geben, wie die Juden Juden bleiben. Es ist ein Faktum, dass die Juden die katholische Kirche bekämpfen, die Freidenkerei blühen lassen, die Avantgarde der Gottlosigkeit, des Bolschewismus und aller umstürzlerischen Bewegungen bilden. Es ist ein Faktum, dass der Einfluss der Juden auf die Sitten verderblich ist und ihre Verlage Pornographie vertreiben. Es ist wahr, dass die Juden Betrug, Wucher und Menschenhandel betreiben.“ 52
Während früher religiöse Gründe (die durch Annahme des katholischen Glaubens überwunden werden konnten) die Aufnahme der Juden in die katholische Gemeinschaft verhinderten, so wurden in den 1930er Jahren seitens der Kirche ethnische und gar rassistische Gründe formuliert, die eine Konversion der Juden grundsätzlich in Frage stellten. Unter vielen prominenten Katholiken herrschte die Überzeugung, dass „human communities were immutable, that conflict was inevitable and eternal, and that sin resided in races rather than individuals.“ 53 Es ist ausschließlich Karpinovitsh, der in einer seiner Erzählungen auf den traditionellen kirchlichen Antisemitismus hinweist. Interessant ist hierbei, dass 51 Brian Porter: Antisemitism and the Search for Catholic Identity. In: Antisemitism and its Opponents in Modern Poland. Hg. von Robert Blobaum. Ithaca, London 2005, S. 103–123, hier S. 104. In der katholischen Presse wurde nicht nur darüber diskutiert, ob die Juden getauft werden sollten oder ob sie als Feinde der Kirche galten, sondern auch, ob sie sich aufgrund ihrer Psychologie oder Rasse von den Polen unterschieden. Siehe dazu auch Anna Landau-Czajka: The Image of the Jew in the Catholic Press during the Second Republic. In: Polin, 8 (1994) S. 146–175. 52 Viktoria Pollmann: Untermieter im christlichen Haus. Die Kirche und die „jüdische Frage“ in Polen anhand der Bistumspresse der Metropolie Krakau 1926–1939, Wiesbaden 2001, S. 174. 53 Porter: Antisemitism and the Search, S. 109.
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dies anhand einer in der fernen Vergangenheit spielenden volkstümlichen Geschichte von Isaak Leib Perez geschieht, welche der Autor in seine Erzählung integriert hat. Diese handelt von einem jüdischen Mädchen, das an einem christlichen Feiertag ermordet wird: „Galokhim [Priester] hobn farmishpet [verurteilt] tsum toyt a rovs [Rabbi] a tokhter, vayl zi iz aroys oyf der gas ven s’iz gegangen a protsesye fun kloyster. Mit yorn tsurik hot a yid nisht getort [dürfen] geyn in di goyishke gasn. Hot men zi, dem rovs tokhter, tsugebundn farn tsop [Zopf ] tsum ek fun a vildn ferd, er zol zi shlepn in gelaf ibern bruk.“ 54
Hinweise auf den auch in der Zwischenkriegszeit stattfindenden kirchlichen Antijudaismus finden sich weder in den Texten von Grade noch von Karpinovitsh. Ein Grund hierfür könnte sein, dass dieser vornehmlich von den Kanzeln der Kirchen oder in der katholischen Presse vernehmbar war und auf den Alltag der Vilner Juden einen weniger direkten Einfluss hatte als beispielsweise der politische und wirtschaftliche Antisemitismus. Inwieweit beiden Autoren bewusst war, welche Rolle der kirchliche Antijudaismus als Wegbereiter für den offiziellen Antisemitismus der 1930er Jahre spielte, bleibt fraglich. Durch ihre ausschließliche Betrachtung der Strukturen und Entwicklungen innerhalb der jüdischen Bevölkerungsgruppe scheinen diese Fragen sowohl für Grade als auch für Karpinovitsh nicht von primärem Interesse gewesen zu sein. Antisemitismus als solcher macht sich in den Texten von Grade und Karpinovitsh insgesamt eher beiläufig bemerkbar. Er erscheint als Randphänomen, das sich in einzelnen Aussagen oder in der Schilderung kurzer Begebenheiten äußert. Einzelne Romane oder Erzählungen, die sich vorrangig mit diesem Problem befassen, gibt es nicht (selbst in Grades Erzählung „Der brunem“ wird die antijüdische Stimmung lediglich auf wenigen Seiten thematisiert). Ein Grund dafür könnte sein, dass der in der Zwischenkriegszeit stattfindende Wandel innerhalb der jüdischen Lebenswelt – die Auseinandersetzungen zwischen dem traditionellen und dem modernen Judentum auf kultureller und politischer Ebene, aber auch der wirtschaftliche Überlebenskampf im Alltag der Menschen, viel tiefere Spuren hinterließ als die verschiedenen Erscheinungsformen des Antisemitismus. Ebenfalls vorstellbar ist, dass Grade und Karpinovitsh das Vilner Judentum rückblickend nicht vornehmlich als Opfer der Nichtjuden darstellen, sondern die Stärke und den Durchhaltewillen der einfachen Jüdinnen und Juden würdigen wollen. Indem beide Autoren den 54 Karpinovitsh: 4/5, S. 77 f.
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jüdischen Alltag als vom Handeln der christlichen Umgebung nahezu unbeeinflusst und auch unbeeindruckt zeigen, betonen sie nachdrücklich das positive Selbstverständnis der Vilner jüdischen Gemeinde.
Polizist, Bauer, Hausmeister – Nichtjuden im jüdischen Vilne Auf Nichtjuden, die mit den Bewohnern des jüdischen Viertels in irgendeiner Art und Weise in Beziehung stehen, wird in den Texten von Grade und Karpinovitsh äußerst selten hingewiesen. Dennoch finden sich drei „Personentypen“, die gemäß beiden Autoren ihren festen Platz im Alltag der Vilner Juden hatten. Es sind dies der Polizist, der Bauer und der Hausmeister. Der Polizist präsentiert sich im jüdischen Viertel als eine gefürchtete Person. Er erscheint in den jüdischen Gassen, um die Straßenhändlerinnen vom „illegalen“ Handel abzuhalten 55 oder die jüdischen Prostituierten zu vertreiben. 56 Noch gefürchteter als die reguläre Polizei ist die Geheimpolizei, die vornehmlich Jagd auf jüdische Kommunisten macht und mit diesen nicht gerade zimperlich umgeht: „Pendzik hot aropgelozt zayn shtekn oyf Abkes pleytse [Schulter], eyn mol un nokh a mol. Abke iz shoyn gelegn oyfn dil un Pendzik hot nokh alts geshlogn. Susilo hot ongekhapt zayn shef bay der hant un im aroysgerisn dem shtekn.“ 57
Während Susilo seinen Vorgesetzten davon abhält, Abke weiter zu verprügeln und damit seine Solidarität mit dem Juden demonstriert, zeigt sich in der übertriebenen Reaktion seines Vorgesetzten gegenüber dem unschuldig verdächtigten Abke dessen negative Einstellung zu den Juden: „Oyser komunistn hot Pendzik oykh faynd gehat yidn. Far vos – hot er aleyn nit gevust.“ 58 Hier zeigt Karpinovitsh in der Person des Geheimagenten Pendzik, wie irrational begründet der Antisemitismus bei gewissen Polen war und führt gleichzeitig vor Augen, wie verhängnisvoll und gefährlich dieser auf Ignoranz und Dummheit basierende Antisemitismus für die Juden sein konnte. Von diesem rational nicht nachvollziehbaren Misstrauen der Polen gegenüber den Juden berichtet auch Grade in seinen Memoiren. Dieses manifestiert sich bei einem „Besuch“ zweier Geheimpolizisten bei Vella Grade, die beim 55 56 57 58
Ebd., S. 81 f. Karpinovitsh: 1/3, S. 63. Ders.: 2/9, S. 142. Ebd.,S. 140.
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Anblick von Chaim Grades Schriften sofort an kommunistische Umtriebe denken: „Ir zayt fun di shrayber, vos hetsn kegn panstvo polski [polnischer Staat]. Adam Mitskevitsh iz geven der grester poet in der velt un er hot geshribn: Litvo! Oytshizno moya! Un ir vilt opgebn undzer foterland tsu di bolshevikes.“ 59
Das hier anklingende Schlagwort des „jüdischen Bolschewismus“ hatte in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen bereits eine gewisse Tradition. Es entstand Ende des 19. Jahrhunderts und fand seit der Russischen Revolution im Jahr 1905 vermehrt Gebrauch. Hinter ihm verbarg sich das antisemitische Stereotyp des jüdischen Kommunisten oder Sozialisten, der in den Augen der polnischen Gesellschaft als Wegbereiter der Moderne die traditionelle Ordnung bedrohte. Im Ersten Weltkrieg und besonders während des Polnisch-Sowjetischen Krieges von 1919/20 wurden die Juden pauschal verdächtigt, mit den Russen zu sympathisieren und insgeheim gegen die polnische Nation zu arbeiten. 60 Der Begriff des „jüdischen Bolschewismus“ wurde in der Zwischenkriegszeit vornehmlich von den rechten Parteien politisch instrumentalisiert, um die Juden als inneren Feind zu verunglimpfen. Anders als der Polizist oder Geheimagent stellte der Bauer gemäß Grade und Karpinovitsh für die Juden keine direkte Bedrohung dar. Trotzdem ist auch seine Person mit negativen Eigenschaften konnotiert. Geradezu sprichwörtlich erscheint die Dummheit oder Gutgläubigkeit des Bauern: „Men tor nit a man nit khitreven [übers Ohr hauen] vi mit a poyer in mark.“ 61 Es finden sich auch Beispiele, die zeigen, wie die Bauern den Juden auf dem Markt und im geschäftlichen Handel unterlegen sind: „Di boybes [Altkleiderhändler] hobn gekont iberreydn a poyer er zol koyfn a kravat tsu di laptshes [Bastschuhe].“62 Auch scheint es nicht schwierig, „farkoyfn oyfn holtsmark a poyerl a blishtshendikn [glitzernd] ring far a goldenem“. 63 Besonders die jüdischen Ganoven wussten, wie auf dem Markt an den Bauern Geld zu verdienen war. 59 Grade: Der mames shabosim, S. 63. 60 Stephanie Zloch: Nationsbildung und Feinderklärung – „Jüdischer Bolschewismus“ und der polnisch-sowjetische Krieg 1919/1920. In: Jahrbuch das Simon-Dubnow-Instituts, 4 (2005) S. 278–302, hier S. 281–283, 290; siehe auch Agnieszka Pufelska: Die „Judäo-Kommune“. Ein Feindbild in Polen. Das polnische Selbstverständnis im Schatten des Antisemitismus 1939–1948. Paderborn, München, Wien u. a. 2007. 61 Grade: Der mames shabosim, S. 150. 62 Karpinovitsh: 2/4, S. 62. 63 Ders.: 2/9, S. 137.
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Shneyke die Ziege beispielsweise „hot er zikh geshtelt oyfn holtsmark mit dray fingerhutn un an arbesl [Erbse], nemen oyf zikher di poyerim, zey zoln trefn unter velkhe fingerhut es ligt dos arbesel.“ 64 Bei diesem Erbsenspiel waren die Gewinnchancen der Bauern äußerst gering: „Di gradlinike erd-arbeters hobn nit gehat keyn shansn tsu gevinen.“ 65 Als weitere negative Eigenschaft der Bauern wird ihre Trunksucht genannt. Missbilligend sagt so ein Jude über einen Glaubensgenossen: „[E]r firt zikh oyf vi a shikerer [betrunken] poyer.“ 66 Von den Bauern war allgemein bekannt, dass sie nach dem Markttag ins Wirtshaus gingen, um sich zu betrinken.67 Angetrunken konnten die sonst den Juden geistig unterlegenen Bauern zu einer Bedrohung werden, denn sie schreckten vor einer Prügelei nicht zurück. Diese Erfahrung machte der jüdische Ganove Hirshl, der von einer Gruppe von Bauern verprügelt wurde, als diese bemerkten, dass der Jude sie übers Ohr hauen wollte. 68 Es ist auffallend, dass in den Texten von Grade und Karpinovitsh ausschließlich Bauern und keine Bäuerinnen als Opfer der Juden dargestellt werden und die genannten negativen Eigenschaften nur bei den männlichen „Erdarbeitern“ zu finden sind. Hingegen erscheint im Zusammenhang mit der landwirtschaftlichen Ausbildung der Haluzim (zionistische Pioniere) das gesunde, freizügige und verführerische polnische Bauernmädchen als „Bedrohung“ für die jungen Zionisten. 69 In diesem Zusammenhang kommentiert Vella Grade missbilligend bezüglich des Sohnes eines Rabbis, der auf einem Bauernhof arbeiten will: „[E]r zol dort grobn mit der noz di erd un hobn tsu ton mit shikses [hier: Bauernmädchen].“ 70 Neben dem Polizisten und dem Bauern hat in den Texten von Grade und Karpinovitsh auch der nichtjüdische Hausmeister seinen festen Platz innerhalb der jüdischen Lebenswelt. Dieser war in fast jedem Wohnhof anzutreffen, wo er zusammen mit seiner Familie in direkter Nachbarschaft zu den Juden lebte. Seine Aufgabe war es, abends, wenn das Haupttor zum Wohnhof geschlossen wurde, die später heimkehrenden Bewohner des Hofes hineinzulassen. Für die-
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Ders.: 1/8, S. 145. Ders.: 2/9, S. 146. Grade: Der shulhoyf (1), S. 105. Karpinovitsh: 3/5, S. 69, 70. Ebd., S. 70. Grade: Di kloyz un di gas (3), S. 206. Ders.: Der mames shabosim, S. 208.
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sen Dienst wurde der Hausmeister mit ein paar Groschen bezahlt. Wer eine heimliche Abkürzungen nahm, um die paar Groschen zu sparen, der zog – wie an der folgenden Reaktion des Hausmeisters Vintsenti zu sehen ist – den Zorn des Nichtjuden auf sich: „Vintsenti der strozsh burtshet [brummt], vos men nemt bay im tsu parnose [Arbeit].“ 71 Die Vermutung liegt nahe, dass die polnischen Hausmeister eher aus Not als aus Affinität zu den jüdischen Bewohnern die Arbeit unter Andersgläubigen angenommen hatten. Dies zeigt sich an der Reaktion von Hausmeister Vintsenti, der eines nachts, als die „Verrückten“ des shulhoyf eine Feier veranstalten und die Nachtruhe stören, für Ordnung sorgen muss: „Nokh yener nakht hot zikh Vintsenti der strozsh genumen tsu di meshugoim [Geisteskranke]. Er iz geven mole [voller] retsikhe [Empörung]. (…) Vintsenti iz umgelofn mitn lom [Hinken] fun di eyz un gestrashet tsu patern [ruinieren] ale yidn, klor tsi meshuge. Er hot vegn alts gemoldn in dritn komisariat un der inyen [Angelegenheit] iz avek gor hoykh.“ 72
Im jüdischen Viertel boten die Familien der polnischen Hausmeister den Juden die Möglichkeit, Einblicke in einen christlichen Haushalt zu erlangen. Am Beispiel der Familie des Hausmeisters Yosef ist zu erfahren, dass Yosefs Ehefrau den ganzen Tag mit Hausarbeiten beschäftigt ist: „Yosefove hot gentsene teg gekokht, oder vesh, oder kroyt. Ersht farnakht flegt zikh dort a bisl aroplozn [verschwinden] di pare [Dampf ].“ 73 Während die Ehefrau hier neutral beschrieben wird, werden in der Folge bei ihrem Ehemann ähnliche negative Eigenschaften hervorgehoben, wie sie bereits in der Person des Polizisten und des Bauern zu finden waren: „Yosef iz geven a goy a trinker un geshlogn di vayb mit di kinder vifl s’iz arayn.“ 74 Als Opfer dieser von Alkoholismus und Gewalt geprägten familiären Zustände wird der gemeinsame Sohn Vladek genannt. Neben der Gewalterfahrung, die er in seiner Familie macht, erhält er von seinen Eltern fast kein Essen und nimmt deshalb dankbar Challa und Radieschen von den jüdischen Nachbarn an. 75 Darüber hinaus legen die Eltern auch auf die Schulbildung ihres Sohnes wenig Wert: „Eyn mol hot Vladek gebetn dem tatn er zol im shikn lernen, hot im Yosef, shikerheyt, gut tseharget un aroys-
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Karpinovitsh: 1/2, S. 26. Ders.: 1/5, S. 94. Ders.: 1/9, S. 151. Ebd. Ebd.
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getribn fun keler. Baym strozsh iz alts geven hefker [Mangel], oyser di flash bronfn [Alkohol].“ 76 Indem Karpinovitsh hier ein äußerst konfliktreiches Familienbild zeichnet und speziell die mangelnde Fürsorge der Eltern gegenüber ihrem Sohn kritisiert, stellt er dieses als Kontrast zum jüdischen Familienideal dar. Hierbei betont der Autor insbesondere die unterschiedliche Bedeutung, die jüdische und nichtjüdische Eltern ihren Kindern angeblich beimaßen. Diese Annahme wird an einer anderen Textstelle Karpinovitshs nochmals bestätigt. Dort versucht ein verzweifelter jüdischer Vater, dessen kleiner Sohn entführt worden ist, einem Polizisten klarzumachen, wie wichtig es ist, dass sein Kind gefunden werde, wobei der Vater hilflos ausruft: „Ober gey gib tsu farshteyn a goy, vos es meynt a kind bay yidn.“ 77 Persönliche Kontakte zwischen den Hausmeistern und den jüdischen Nachbarn gab es nur bedingt. So ist aus Grades Memoiren zu erfahren, dass Snezhko – sehr zum Unmut Vella Grades und der jüdischen Nachbarn – Chaim in seinem Versuch, den Wohnhof zu begrünen, unterstützt hat. Die Beziehung zwischen dem Hausmeister und Grade schildert der Autor dabei zunächst als positiv und zeigt, dass eine Annäherung zwischen Juden und Polen aufgrund gemeinsamer Interessen grundsätzlich möglich ist. Während sich der junge Chaim durch seine „Erdarbeit“ in den Augen der frommen Nachbarn für einen Juden atypisch verhält und nur negative Resonanz erntet, nähert er sich dadurch der polnischen Lebenswelt und wird so für den Hausmeister zu einem Gegenüber, mit dem ein Gespräch auf gleicher Augenhöhe möglich ist. Diesbezüglich schreibt Grade: „Bloyz eyn mentsh lakht nit fun mir, undzer hoyfvekhter Snezshko.“ 78 Die eigentlich gute Beziehung des Autors zu Snezhko wird jedoch durch die Trunksucht des Hauswarts beeinträchtigt, wie Grade zu entnehmen ist: „Ven er iz shiker, shrayt er: ‚Beser zayn a parubak [Handlanger] oyfn dorf, eyder a staroste [Gouverneur] bay yidn.‘ Ober ven er is nikhter, lernt er mikh vi umtsugeyn mit di flantsn.“ 79 Dass der Alkohol aus dem sonst friedliebenden Hausmeister einen gefährlichen Gegner der Juden machen kann, erfahren eines Tages Grade und ein anderer jüdischer Nachbar:
76 77 78 79
Ebd., S. 152. Karpinovitsh: 1/1, S. 17. Grade: Der mames shabosim, S. 11. Ebd., S. 16 f.
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„Mir geyen farbay dem hoyf-vekhters shtibl un ikh derze dort poyerim mit vontses [Schnurrbärte] un tseflamte penemer [Gesichter]. Der strozsh Snezshko kukt oyf mir durkhn fentster un shtshiret [fletschen] mit di tseyn. Er kvelt on [frohlocken] vos er hot tsetrotn mayne flantsn.“ 80
Grades Reaktion auf die Zerstörung seiner Blumen durch Snezhko äußert sich in lauten Flüchen, worauf ihn der alte Jude erschrocken ermahnt: „[D]er storozsh mit zayn kompanye veln makhn a pogrom.“ 81 Als Grade dennoch nach einem Stein greift, um diesen nach dem angetrunkenen Hausmeister zu werfen, hält der Alte ihn davon ab: „A yidish yingl zol hobn in zikh aza goyishe retsikhe [Gewalt]!“ 82 In Anbetracht der für die Goyim typischen Trunksucht und Gewalttätigkeit betont der Alte dabei nachdrücklich die Werte der Juden: „Trakht beser, Khayml, vi gut es iz tsu zayn a yid. Zey hulteyeven [verderblich leben], shikern, fresn khazer [Schweinefleisch], un mir geyen davenen minkhe [Nachmittagsgebet].“ 83 Hier wird deutlich, dass die jüdische und die polnische Welt aus der Perspektive des jüdischen Viertels nicht zu vereinbaren waren. Im Gegenteil: Verhaltensweisen wie die des Hausmeisters Snezhko untermauerten das gängige Bild der Polen und bestätigten den Juden gleichzeitig die Überlegenheit ihrer Werte.
Yidn und Goyim – eine problematische Beziehung Die Angst der Juden vor gewalttätigen Ausschreitungen war nicht unberechtigt. So war es in Vilne zu größeren antisemitischen Ausschreitungen gekommen, als in den Nachkriegswirren im April 1919 die polnische Kavallerie in der Stadt erschien. In der Hoffnung, versteckte Waffen und Geld zu finden, zerstörten die Soldaten die beiden jüdischen Friedhöfe. Auch das jüdische Viertel und seine Bewohner blieben nicht verschont: „Durant trois jours, la soldatesque se livra au carnage. Entrant dans les habitations, pillant les logements, chassant les occupants, dévastant des centaines de magasins, attaquement sauvagement les Juifs, les Polonais tuèrent 80 personnes.“ 84 80 81 82 83 84
Ebd. Ebd., S. 17. Ebd. Ebd. Minczeles: Vilna, Wilno, Vilnius, S. 150; vgl. Frank Golczewski: Polnisch-jüdische Beziehungen. 1881–1922. Eine Studie zur Geschichte des Antisemitismus in Osteuropa. Wiesbaden 1981, bes. S. 229 f.
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An diese schlimmen Zeiten nach dem Ersten Weltkrieg erinnert sich auch Vella Grade. Dabei hebt sie hervor, dass die Polen den Juden weitaus mehr Schaden zugefügt hätten als die zeitweiligen russischen Besatzer: „Vos emes [Wahrheit] iz emes, keyn pogromen hobn di gdoylim [die Großen, hier: Russen] nit gemakht. Farkert, itlekh mol ven zey zaynen arayn, hobn zey geratevet [retten] di shtot fun a pogrom. Di hige [hiesig] polyakn hobn shoyn gerabevet [ausrauben] yidishe gesheftn, un ven di gdoylim kumen arayn mit eyn sho [Stunde] shpeter, volt zikh gegosn yisish blut vi vaser.“ 85
Die pogromartigen Ausschreitungen nach dem Ersten Weltkrieg thematisiert auch Buloff in seinem Roman. Darin schreibt er, dass die Polen sich von der angeblichen Unterdrückung durch die Juden „befreien“ wollten und während dreier Tage viele Juden ermordet wurden.86 Dass auch schon vor dem Ersten Weltkrieg die Vilner Juden sich der Gefahr eines Pogroms stets bewusst waren, zeigt folgender Ausruf einer Jüdin aus Orabuenas Vilne-Roman: „Was schreit ihr so mächtig, usch, was erschreckt ihr mich, dass ich mich fast verguckt, verbrannt habe; die Grütze ist übergeflossen, die Lauge ist übergekocht; um was doch die Eile? Ein Pogrom?“ 87 Aufgrund der Fremdheit und der teilweise negativen Erfahrungen fühlten sich viele Juden in der Gegenwart von Polen nicht wohl. Auch dies ist bei Orabuena zu entnehmen: „Als sie bemerkte, dass heute weit mehr Polen auf der Hauptstraße zu sehen waren als Juden, so wich sie aus. Sie hätte nicht gewusst, zu sagen, ob Furcht oder Abscheu die Ursache sei; sie strebte zu den Juden.“ 88
Ähnlich wie hier eine Jüdin, so fühlt sich auch bei Grade ein Jude außerhalb des jüdischen Viertels unwohl – ein Umstand, der sich bei diesem in der Mimik äußert: „Reb Shmuel-Munye iz azoy ibergeshrokn vos er iz arayngefaln tsvishn areylim [Nichtjuden], az dos bitl-shmeykhele [verächtliches Lächeln] glitsht zikh arop fun zayn ponim [Gesicht] un vert farfaln in zayn bord, vi a zun-shtralkhl tsvishn gedikht kustes [Buschwerk]. Ersht ven er khapt zikh aroys fun di goyishe gas un kumt neenter tsu der tsdoke-gdoyle [Wohltätigkeitsverein auf dem shulhoyf ], krikht zayn moyredik [angstvoll] bitl-shmeykhele tsurik aroyf oyf zayn ponim.“ 89 85 86 87 88 89
Grade: Der mames shabosim, S. 113. Buloff: From the Marketplace, S. 298–299. Orabuena: Gross ist deine Treue, S. 329. Ebd., S. 142. Grade: Di agune, S. 139.
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Die gefühlsmäßige Distanz zu den Nichtjuden äußerte sich auch im alltäglichen Sprachgebrauch der Juden. So wettert ein frommer alter Jude über den Haushalt seiner Schwiegertochter: „A shtub mit goyim un shkotsim [christlicher Junge] hot zi!“ 90 Der hier verwendete Begriff des goy (Mehrzahl: goyim), der eigentlich als Bezeichnung für einen Nichtjuden dient, steht in diesem Beispiel als Synonym für einen ungläubigen Juden und ist äußerst negativ behaftet. In diesem Zusammenhang suggeriert der Begriff Gesetzlosigkeit, Zügellosigkeit und Dummheit. Besonders fromme Juden benutzen ihn, um die in ihren Augen vom traditionellen Judentum distanziert lebende junge Generation zu umschreiben, wie etwa: „[D]i bokherim, zaynen fartike goyim.“ 91 Die goyim als solche waren aber auch einfach Fremde, von denen die Juden – sowohl religiöse als auch säkulare – wenig Gutes zu erwarten hatten. Als beispielsweise der geisteskranke Abelson in ein christliches Spital geschickt wird, sind die Bewohner des jüdischen Viertels nicht glücklich darüber, dass man „hot ibergegebn a yidn in goyishe hent“.92 Das Bewusstsein, dass das nichtjüdische Gegenüber wenig Kenntnis oder gar Verständnis für die eigene Kultur, geschweige denn die jüdische Religion aufbringt, zeigt sich in den Gedanken des jüdischen Gauners Hirshl, der – immer auf der Suche nach einem guten Geschäft – zusammen mit einem Tataren ein Pferd gestohlen hat: „Aza veys ferd past far meshiakhn [Messias]! – hot Hirshl gevolt oysrufn, ober er hot zikh gleykh batrakht: vos veys a tater [Tatar] vegn meshiakhn?“ 93 Bemerkenswert an dieser Geschäftsbeziehung ist, dass ein Tatar, und nicht etwa ein Pole, als gleichwertiger, gewitzter und sein Gegenüber respektierender Geschäftspartner beschrieben wird. Hier scheint Karpinovitsh anzudeuten, dass das Verhältnis zwischen Angehörigen des jüdischen und des islamischen Glaubens besser war als das zwischen Juden und Katholiken. Von der Schwierigkeit des Zusammenlebens von Juden und Nichtjuden zeugt auch Grades Beispiel einer Ehe zwischen einem Juden und einer Weißrussin. Bezüglich der Ehe seines Sohnes sagt der Schwiegervater: „[Z]i (die Schwiegertochter, S. St.) hot badarft khasene hobn [heiraten] mit ir glaykhn, a vaysrus oder a polyak, un der zun zayner, Khatse, hot badarft khasene hobn mit a yidishe meydl.“ 94 Während der Schwiegervater die Ehe seines Sohnes 90 Ders.: Di kloyz un di gas (1), S. 19. 91 Ebd., S. 42. 92 Grade: Der shulhoyf (2), S. 343. Dies bestimmt auch deshalb, weil das Spital nicht koscher war. 93 Karpinovitsh: 3/5, S. 75. 94 Grade: Der shtumer minyan, S. 35.
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von einem religiösen Standpunkt aus betrachtet und zwischen Weißrussen und Polen keinen Unterschied macht, will sich sein Sohn Khatse aufgrund politischer Argumente von seiner nichtjüdischen Ehefrau trennen. „Zint di goyim in poyln hobn genumen nokhton di daytshn, hot Khatse zikh arumgezen, az a yid mit a kristin zaynen keyn por nit un er vil zikh mit Helenken sheydn.“ 95 Als Helenke auf das Vorhaben ihres Ehemanns mit dem Griff zum Alkohol reagiert, äußert sie in den Augen ihres Schwiegervaters ein typisches nichtjüdisches Verhalten: „Ir’t gehert in ayer leben, az a yidishe tokhter zol zikh nehmen tsum trinken, vayl zi lebt nit besholem [friedlich] mitn man?“ 96 Ungeachtet dessen beurteilt der Schwiegervater Helenkes Person positiv: „Helenke iz im take ibergegebn [zugeneigt] un oykh mikh bahandlt zi fayn (…). Beys zi leyent vos s’tut zikh kegn yidn in daytshland, oder ven zi zet di sine [Hass] oyf poylishe penemer un hert zeyere fayndlekhe reyd, kukt zi oyf mir un Khatsen a tsetumlte, tulyet tsu zikh [umklammern] ir meydele un shvaygt.“97
Interessant am Beispiel von Helenke und Khatse ist, dass Grade ansatzweise auch die Sichtweise der nichtjüdischen Ehefrau schildert. So zeigt etwa die folgende Aussage Helenkes, dass diese sich nicht nur von ihrem Ehemann, sondern von der ganzen jüdischen Umwelt schlecht behandelt fühlt: „Ayer zun handelt kegn mir vi yeder ander yidisher kremer.“ 98 Hier scheint Grade anzudeuten, dass sich die Angehörigen verschiedener Nationalität grundsätzlich nicht getraut haben und das Gefühl von Misstrauen auf Gegenseitigkeit beruht hat.
Miteinander statt gegeneinander Ungeachtet dessen finden sich in den Texten von Grade und Karpinovitsh auch Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden, die weniger problematisch sind. Mehrheitlich handelt es sich dabei allerdings um punktuelle Kontakte, die inhaltlich sehr oberflächlich beschrieben werden, jedoch in ihrer Summe wenn nicht unbedingt auf ein übermäßig positives, so doch auf ein „entspanntes“ Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden hinweisen. Dazu gehört beispielsweise die etwas illegale „Geschäftsbeziehung“ zwischen einem polnischen Zoo95 96 97 98
Ebd. Ebd., S. 39. Ebd., S. 36. Ebd., S. 52.
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wächter und einem jüdischen Schuster, die einen Tauschhandel mit kleineren Zootieren und neuen Schuhen betreiben, 99 oder die Kontakte von Mende dem Schmied und den Bauern des holtsmark, die die Arbeit des Juden zu schätzen wissen und mit ihren Pferden regelmäßig zu Mende gehen. 100 Ähnlich positiv ist umgekehrt die Erfahrung eines jüdischen Kunden bei einem polnischen Geigenbauer und Fischer, der dem Juden Sauermilch und Kartoffeln verkauft und ihn in die Kunst des Geigenbaus einweiht.101 Und auch die nichtjüdische Kneipenbesitzerin in einem Vilner Vorort freut sich, wenn der Lehrer Gerstein aus dem jüdischen Realgymnasium bei Ausflügen mit seiner Schulklasse bei ihr zu Gast ist. 102 Als politische Verbündete arbeiten wiederum jüdische und nichtjüdische Kommunisten zusammen 103 und auf der Flucht in die Sowjetunion fährt ein Bauer eine jüdische Kommunistin zur Grenze. 104 Weitere Kontakte finden sich auch in der Unterwelt, wo jüdische und nichtjüdische Ganoven trotz bitterer Konkurrenz zu einem Billardspiel zusammenkommen, 105 und selbst im Gefängnis scheint zwischen den Bauern, die wegen Holzdiebstahls inhaftiert sind, und den aufgrund kommunistischer Tätigkeiten verhafteten Juden kein schlechtes Verhältnis zu bestehen.106 Von einem positiven Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden sprechen auch die Memoiren einzelner Vilner Jüdinnen. 107 So berichtet Esther Hautzig von ihrem russischen Kindermädchen, das die Kinder gelegentlich mit in die Kirche nahm, wo diese mit Freuden die brennenden Kerzen, farbigen Fensterscheiben und Priester in langen Gewändern betrachteten.108 Ähnlich wie Hautzig erwähnt auch Henia Brazg ihr russisches Kindermädchen: „She was a Christian. She loved us and she knew we loved her.“ 109 Ebenfalls positiv sind die Erinnerungen, die die Autorin von ihrer polnischen Schule zeichnet: „I was the only Jewish child in the class but mingled happily with the Christian chil99 100 101 102 103 104 105 106 107
Karpinovitsh: 2/3, 42–43. Ders.: 2/8, S. 124. Ders.: 3/4, S. 61. Ders.: 4/2, S. 36. Ders.: 1/3, S. 56. Ders.: 3/7, S. 105. Ders.: 1/8, S. 139. Ders.: 2/9, S. 143. Siehe dazu auch Szyja Bronsztejn: Polish-Jewish Relations as Reflected in Memoirs of the Interwar Period. In: Polin, 8 (1994) S. 66–88. 108 Hautzig: Remember who you are, S. 10. 109 Brazg: Passport to Life, S. 12.
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dren, decorating Christmas trees at Christmas, exchangig ham sandwiches which my mother prepared for us.“ 110 Gerade das Beispiel von Henia Brazg lässt vermuten, dass eine höhere Assimilationsbereitschaft seitens der Juden beziehungsweise deren Distanzierung von den jüdischen Sitten und Bräuchen die Beziehung zu den christlichen Mitbürgern vereinfacht beziehungsweise die kulturellen Unterschiede zumindest oberflächlich minimiert hat. Höchste Achtung unter den Vilner Juden der Zwischenkriegszeit genoss die in einer Legende des 18. Jahrhunderts genannte Person des polnischen Grafen Valentin Potocki. Der junge Mann wurde von seinem Vater nach Paris geschickt, damit er sich dort in einer Akademie fortbildete. Eines Tages traf Potocki zusammen mit einem anderen polnischen Adelssohn einen alten Juden, der den Talmud studierte. Die beiden fragten diesen, was er denn lese, worauf er ihnen eine Passage aus dem Talmud übersetzte. Da den jungen Männern gefiel, was sie hörten, baten sie den Juden, mit ihnen den Talmud zu studieren. Sie hörten auf, die Akademie zu besuchen und gingen auch nicht mehr in die Kirche. Nach einem halben Jahr vertraute Potocki seinem Freud an, dass er beabsichtige, nach Amsterdam zu gehen, um dort zum Judentum überzutreten. Als Potocki nach einigen Jahren in seine Heimat zurückkehrte und die Leute erfuhren, dass er den jüdischen Glauben angenommen hatte, wurde er verhaftet. Erfolglos versuchten in Vilne die Adligen ihn davon zu überzeugen, zum Katholizismus wieder zurückzukehren. Nachdem auch ein Bischof den Proselyten nicht dazu bringen konnte, sich vor dem Kreuz zu verbeugen, wurde gegen ihn das Todesurteil ausgesprochen. Der Gotteslästerung überführt, wurde er am zweiten Tag von Schawut im Jahr 1749 dem Scheiterhaufen übergeben. Obwohl es den Juden am Tag der Exekution verboten war, ihre Häuser zu verlassen, missachtete ein junger Bursche diese Anweisung und wohnte der Hinrichtung Potockis bei. Nachdem alles vorüber war, gelang es ihm, die Asche des Verstorbenen einzusammeln und diese der jüdischen Gemeinde zu übergeben. Auf diesem Weg fand Potocki seine letzte Ruhestätte auf dem alter yidisher feld. 111 Die Legende des ger tsedek, des rechtschaffenen Konvertiten, war in der Zwischenkriegszeit sehr beliebt und findet sich in verschiedenen Sammelbänden dieser Zeit wieder. 112 Selbst in Gedichten, die das jüdische Vilne themati110 Ebd., S. 18. 111 Siehe dazu Magda Teter: The Legend of Ger Zedek of Wilno as Polemic and Reassurance. In: AJS Review 29/2 (2005) S. 237–263. 112 Siehe dazu A. Levin: Portretn fun der amoliger Vilne. In: Vilne. A zamlbukh gevid-
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sieren, ist die Person Potockis zugegen. So sind etwa in dem Gedicht von A. Y. Goldshmidt folgende Zeilen zu lesen: „Dort [auf dem alter yidisher feld, S. St.] ligt der ash der heyliker fun dem farbenktn [verehrt] grafn-zun, vos hot a gliklekh heym farlozn un iz avek tsu a gedriktn folk, mit im tsu teyln freyd un leyd un iz mit tifster simkhe [Freude] funem hartsn gegangen oyfn shayterhoyfn tsu heylikn zayn ideal;“ 113
Das von Goldshmidt erwähnte Grab Potockis auf dem alter yidisher feld wurde von vielen Juden besucht. Die Menschen fanden sich hier ein, um in schwierigen Lebenslagen Kraft zu sammeln und Fürbitte zu halten. Diesbezüglich erwähnt Buloff in seinem Roman eine Mutter, die auf das Grab des ger tsedeks Steine legt, um für die Genesung ihres kranken Sohnes zu bitten. 114 Auch in einer von Karpinovitshs Erzählungen wird der Ort, an dem Potocki seine letzte Ruhestätte fand, erwähnt: „Lomir dermonen nokh a yidishn vinkl. Dos iz der boym, vos iz oysgevaksn oyfn altn besoylem [Friedhof ], oyf aroyf Shnipeshik, iber dem oyel [Bauwerk über dem Grab einer bekannten Person] fun vilner ger-tsedek [gerechter Konvertit] graf Pototski. Der boym iz oysgevaksn mit tseshpreyte tsveygn, vi tseshpreyte [gespreizt], mentshlekhe hent, vi tsu bashitsn dem keyver [Grabmahl] fun an adelikn, velkher hot antdekt in undzer emune [Glaube] dem hekhstn oysdruk fun humanizm.“ 115
In dem von Karpinovitsh gezeichneten Bild Potockis preist der Autor nachdrücklich die Entscheidung des Katholiken, zum Judentum konvertiert zu haben. Hierbei manifestiert sich eine Parteinahme für das Judentum beziehungsweise eine kritische Haltung gegenüber dem Christentum, die wohl weniger
met der shtot Vilne. Hg. von Yefim Yeshurin. New York 1935, S. 841–847; Sh. Bastomski: Legendes vegn Vilne. In: Vilner almanakh. Hg. von A. Y. Grodzenski. Vilne 1939 [Reprint: Vilna Almanac. Hg. von Isaac Kowalski. Brooklyn, N.Y. 1992], Spalte 145–150. 113 Yidishe Vilne in vort un bild. Iliustrirter almanakh. Hg. von Morits Grosman. Vilne 1925, S. 17. Siehe auch das Gedicht „Vilne“ von Sara Reyzn in: ebd., S. 22–23 sowie das Gedicht „Vilne, Yerushalayim d’Lite“ von Shmerele Sharafan in: 1000 yor Vilne, S. 174–177. 114 Buloff: From the Marketplace, S. 101. 115 Karpinovitsh: 3/10, S. 152.
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religiös motoviert ist, als vielmehr die kulturelle Identität des Autors widerspiegelt. Die Legende von Graf Potocki kann in ihrer Wirkung nach außen als Polemik gegen den Katholizismus verstanden werden. Im innerjüdischen Kontext diente sie zur Stabilisierung der traditionellen jüdischen Lebensform, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch den Frankismus 116 und die Haskala herausgefordert wurde. Darüber hinaus zeigt die Legende, dass die kulturellen Grenzen zwischen Juden und Christen nicht undurchlässig waren und Konversionen, die dieser Legende als Vorlage gedient haben müssen, in der Vergangenheit auch vorgekommen sind. 117 Insgesamt wird in den Texten von Grade und Karpinovitsh das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden ambivalent dargestellt. Dabei ist zu beachten, dass diese Thematik nicht im Mittelpunkt des Interesses beider Autoren steht und eher am Rande auf sie verwiesen wird. Auf den Antisemitismus etwa wird mit der Ausnahme von Grades Erzählung „Der brunem“ nur anhand beiläufiger Bemerkungen oder kleiner Begebenheiten des Alltags gedeutet. Dazu zählen die Situation der Hühnerverkäuferinnen, die Boykottmaßnahmen gegen jüdische Geschäfte oder die antisemitischen Ausschreitungen an der Universität. Diese von den polnischen Eliten initiierten Maßnahmen waren für die einfachen Bewohner des jüdischen Viertels das Machwerk eines gesichtslosen Gegners, gegen den sie sich nicht wirklich zur Wehr setzen konnten. Was die einfachen Jüdinnen und Juden wussten, war, dass für den Antisemitismus grundsätzlich die goyim – die Nichtjuden – verantwortlich waren. In den Texten von Grade und Karpinovitsh treten die goyim häufig als anonyme Masse oder namenlose Individuen beziehungsweise als „Personentypen“, wie etwa der Polizist, Bauer oder Hausmeister, in Erscheinung. Selten werden sie als Persönlichkeiten geschildert, die die gängigen stereotypen Bilder der Polen widerlegen. Dennoch weisen beide Autoren auch auf positive Begegnungen zwischen Juden und Nichtjuden hin, die auf beruflicher, politischer oder auch auf persönlicher Ebene stattfinden. Insgesamt vermitteln die Texte beider Autoren den Eindruck, dass trotz des 116 Jüdische Erlösungstheorie, die durch die Person Jakob Franks (1726–1791), der sich als neuer Messias ausgab, verkörpert wurde. Siehe dazu: Klaus S. Davidowicz: Zwischen Prophetie und Häresie. Jakob Franks Leben und Lehren. Wien, Köln, Weimar 2004. 117 Teter: The Legend of Ger Zedek, bes. S. 245 ff., S. 263.
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täglichen Kontakts von Juden und Christen auf der Straße, auf dem Markt oder im eigenen Wohnhof die Menschen eher nebeneinander als miteinander gelebt haben. Misstrauen, Neid und Angst, aber auch Unkenntnis und Desinteresse charakterisierten viele der genannten Kontakte, was wiederum dazu führte, dass sowohl für Juden als auch für Christen der Andere stets der Fremde blieb, vor dem man sich hüten musste.
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Schluss
Ausgangspunkt dieser Arbeit war das literarische Werk der beiden jiddischsprachigen Autoren Chaim Grade und Abraham Karpinovitsh, die unabhängig voneinander in ihren Romanen und Erzählungen von einer Welt berichten, die es heute nur noch in der Erinnerung gibt. Die Stadt Vilne, in die sie ihre Leser führen, stellt dabei nicht nur den geografischen, sondern vor allem auch den emotionalen Bezugspunkt ihres dichterischen Schaffens dar. Am Anfang dieser Arbeit stand die Frage, wie das von Grade und Karpinovitsh gezeichnete Bild des jüdischen Vilne und insbesondere das der jüdischen Unterschichten aussieht, an was sich die Autoren konkret erinnern (wollen) und inwiefern ihre Texte die damaligen Realitäten widerspiegeln und den innerhalb des Ostjudentums stattfindenden sozialen und kulturellen Wandel dokumentieren, von dem auch Vilne erfasst wurde. Im Rahmen dieser Arbeit konnte mithilfe des erstmals rezipierten Werks der beiden Schriftsteller Grade und Karpinovitsh ein differenziertes Bild der jüdischen Unterschichten Vilnes gewonnen werden und somit die bestehende Forschung zur Alltagsgeschichte des Vilner Judentums ergänzt worden. Die Verwendung belletristischer Literatur als Zugang zu den Lebenswelten der jüdischen Unterschichten hat sich dabei für diese Arbeit als äußerst fruchtbar erwiesen, denn die Texte von Grade und Karpinovitsh sind nicht ausschließlich fiktional und dekorativ, sondern erlauben weitreichende Einsichten in die Alltagspraxis der Vilner Juden. Literatur ist immer auch ein Spiegel der Realität. So haben die Autoren bewusst ihre Erinnerung einfließen lassen; trotz Zuspitzung der Figuren sind die Milieuschilderungen realistisch, die beschriebenen Orte real. Gerade weil es nicht viele Quellen gibt, die die Lebensverhältnisse der pauperisierten jüdischen Massen aus der Perspektive der Betroffenen schildern und dieser „stummen Mehrheit“ eine Stimme verleihen, sind die literarischen Texte der beiden Autoren als Quellen wertvoll. Durch die Verfolgung eines lebensweltlich orientierten Ansatzes kamen verschiedene Lebenswelten der jüdischen Unterschichten zutage, wie etwa die der Kleinhändler, der Bettler und Geisteskranken oder der strenggläubigen Juden. Dabei wurde sichtbar, wie äußere Veränderungen und Entwicklungen (Wirtschaftskrise, Säkularisierungstendenzen, Antisemitismus) sich auf der
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Ebene des Individuums bemerkbar machten und wie umgekehrt die davon Betroffenen darauf reagierten. Ebenfalls als Teil der Lebenswelt manifestierte sich die Kategorie Raum, welche den Blick in verschiedene, durch Handeln konstituierte soziale und symbolische Plätze und Räume des jüdischen Vilne ermöglichte. Durch Berücksichtigung raumtheoretischer Überlegungen wurde die Bedeutung von Orten deutlich und ihre vielfältige Nutzung offenbar. Orte wie etwa der shulhoyf und der durkhhoyf treten in den Texten als zentrale Referenzpunkte in Erscheinung. Im Erinnerungsprozess nehmen konkrete topographische Punkte wie diese eine wichtige Funktion ein, sind doch damit häufig Geschichten verbunden, die erst durch die räumliche Verortung erinnert werden können. Diesbezüglich ist in der Einleitung zu Grades Publikation „Der shulhoyf“ zu lesen: „Der vilner shul-hoyf iz der hintergrunt, di svive [Umgebung] un di atmosfer fun di dray dertseylungen, vos geyen arayn in dem bukh. Unter di dekher fun di vilner kloyzn un in di enge, krume geselekh fun der alter geto hob ikh apgelebt mayne yunge yorn. Oykh nakhdem vi ikh bin fun besmedresh [Gebets- und Lehrhaus] avek, iz der shul-hoyf geblibn in mayn gemit, in mayn zikhron [Gedächtnis], un er iz biz haynt der mekor [Quelle] fun mayn shafn.“ 1
Einzelne Fragestellungen zum Raum, wie beispielsweise die Beziehung von Raum und Gender, wurden im Hinblick auf die unterschiedliche Nutzung in dieser Arbeit nur gestreift. Näher zu erforschen wäre auch, wie verschiedene jüdische Räume zueinander beziehungsweise auch zu anderen Ethnien stehen. Weitere raumtheoretische Untersuchungen zum Vilner Judentum wären also zu wünschen.
Portrait der Vilner Lebenswelten Ihre Leser führen beide Autoren immer wieder in das jüdische Viertel der Vilner Altstadt. An diesem Ort, der durch seine Architektur und sein karges Äußeres bestach, lebten die jüdischen Unterschichten unter elenden Bedingungen. Die in verschiedene Wohneinheiten unterteilten Gebäude boten den hier lebenden Menschen nur ungenügenden Wohnraum. Hinzu kamen mangelhafte bauliche und hygienische Zustände, die dem jüdischen Viertel insgesamt den Ruf einer äußerst armseligen Wohngegend verliehen.
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Grade: Der shulhoyf, S. 5.
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Schluss
Ihren Lebensunterhalt verdienten sich die hier lebenden Jüdinnen und Juden mehrheitlich im Handel und Handwerk, aber auch als einfache Arbeiter oder religiöse Funktionäre hielten sie sich und ihre Familien mehr schlecht als recht über Wasser. Ihnen allen war gemein, dass sie kaum das Nötigste zum Leben hatten und dazu gezwungen waren, unter schwersten Bedingungen zu arbeiten. Ihr Leben war von Armut und Not geprägt, die sich in Form diverser Mängel äußerten. Die Ärmsten der Armen waren die erwerbslosen Bettler und Geisteskranken, die auf die Wohltätigkeit anderer angewiesen waren und im jüdischen Viertel mit ihrer Anwesenheit nachdrücklich auf die allgegenwärtige wirtschaftliche Misere und die nicht mehr funktionierenden sozialen Netze deuteten. Vor dem Hintergrund dieser schwierigen materiellen Umstände spielte sich das kulturelle Leben der Mehrheit der Vilner Juden ab. Sichtbar wurden beim Gang durch das jüdische Viertel die Spuren jüdischer Frömmigkeit, die sich in Form von religiösen Institutionen (Synagogen, Chedarim, Jeschiwot oder auch Persönlichkeiten), traditioneller Gelehrsamkeit sowie jüdischer Feiertage äußerte. Die religiösen Werte und Normen, die die Grundlage einer traditionell-jüdischen Lebensführung bildeten, wurden jedoch nicht von allen Juden Vilnes geteilt. So entwickelte sich parallel zu der seit Jahrhunderten gepflegten religiösen Kultur eine säkulare Variante, die sich im Alltag der Menschen in modernen Bildungsinstitutionen, im jiddischen Theater sowie der jiddischen Presse manifestierte und die sich darüber hinaus auch in den politischen Bewegungen des Zionismus und Sozialismus kundtat. Durchbrochen werden die Texte mit Einblicken in verschiedene Lebensrealitäten. Hierzu zählt die Thematisierung der Institution der Ehe, anhand derer beispielsweise der Grad des Wandels innerhalb der traditionellen jüdischen Lebenswelt festgemacht werden kann. Weiter finden sich Schilderungen einzelner jüdischer Randgruppen, die Aufschluss darüber geben, welche Werte und Normen diese mit der sie umgebenden Bevölkerung teilten und inwiefern das Vilner Judentum als Einheit verstanden wurde. Beschreibungen des Zusammenlebens von Juden und Nichtjuden wiederum veranschaulichen, welche Vorurteile und stereotypen Vorstellungen zwischen den einzelnen Nationalitäten bestanden hatten und wie dadurch das Bild des „Anderen“, aber auch die eigene jüdische Identität, nachdrücklich geprägt wurde.
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Zwei unterschiedliche Perspektiven auf das jüdische Vilne
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Zwei unterschiedliche Perspektiven auf das jüdische Vilne Ein Vergleich der Texte von Grade und Karpinovitsh zeigt, dass ungeachtet der Gemeinsamkeiten, die sich in den Schilderungen des jüdischen Alltags der Zwischenkriegszeit finden, bei den Autoren eine grundsätzlich divergierende Sichtweise auf das Vilner Judentum besteht. Zentral ist hierbei die Kategorie der yidishkeyt, die zwei unterschiedliche Bedeutungen aufweist. Aus Sicht des traditionellen Judentums ist mit yidishkeyt die seit Jahrhunderten bestehende religiöse Traditionsverbundenheit der Gläubigen gemeint, die sich in der Einhaltung der religiösen Gesetze, Werte und Normen manifestiert und in der Geschichte und Topographie der Stadt fest verankert ist. Im Verständnis des weltlichen Judentums wiederum weist yidishkeyt auf die moderne jüdische Kultur, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte und in der Zwischenkriegszeit ihre Blüte fand. Als Ort der yidishkeyt präsentiert sich Vilne in diesem Zusammenhang als eine Stadt, in der die moderne jüdische Kultur nicht nur in der jiddischen Sprache ihren Ausdruck fand, sondern sich auch in der Bildungs- und Vereinslandschaft sowie in kulturellen Institutionen und politischen Organisationen behaupten konnte. Bei Grade ist es vornehmlich die Welt der traditionellen yidishkeyt, die in seinen Texten beschrieben wird. Sein Blick richtet sich auf die Straßenhändler, Handwerker, Wasserträger und die von der jüdischen Gemeinde bezahlten religiösen Angestellten, die nach den religiösen Gesetzen leben und ihre sich langsam verändernde Umwelt und die junge Generation kritisch betrachten. Themen wie traditionelle Wohltätigkeit, religiöse Gelehrsamkeit sowie die Auslegung der jüdischen Gesetze werden von Grade immer wieder angesprochen. Bezeichnend hierbei ist, dass das religiöse Judentum als in sich zerstritten und von außen zunehmend unter Druck stehend portraitiert wird. Es ist dabei die persönliche Verankerung mit der jüdischen Orthodoxie Vilnes, die es Grade erlaubt, eine differenzierte Beschreibung der Befindlichkeiten und Probleme dieser Menschen zu machen. Im Gegensatz zu Grade lässt Karpinovitsh die religiös begründeten innerjüdischen Spannungen und Konflikte größtenteils außer Acht und rückt vielmehr die moderne yidishkeyt in den Mittelpunkt seiner Erzählungen. Dabei finden Institutionen wie etwa das YIVO sowie die Arbeit der Folkloristen Erwähnung, jedoch ist es häufig weniger die Welt der modernen yidishkeyt an sich, die der Autor primär beschreiben will, sondern es sind die Lebenswelten jüdischer Randgruppen, wie etwa die der politischen Aktivisten, Ganoven, Prostituierten, Bettler und Geisteskranken sowie der Schauspieler und Künst-
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Schluss
ler, die zwischen der traditionellen und der modernen yidishkeyt angesiedelt sind und sich mit den Räumen moderner yidishkeyt teilweise überschneiden. Die Art und Weise, wie beide Autoren die von ihnen gezeichneten Bilder des jüdischen Alltags in Vilne darlegen, weist ebenfalls gewisse Unterschiede auf. Grades Texte bestechen durch ihre Genauigkeit und Detailliertheit. Phantastische oder idealisierte Beschreibungen sind bei ihm nicht zu finden. Vielmehr scheint es das Anliegen des Autors zu sein, die damaligen Verhältnisse ähnlich einem Zeitzeugen so akkurat wie möglich wiederzugeben. Dies bedeutet, dass auch Probleme und Konflikte angesprochen werden. Das grundlegende Bild, das aus dieser Vorgehensweise vom Vilner Judentum entsteht, scheint ebenso ernüchternd wie realistisch. Insbesondere mit Hinblick auf das tragische Ende nahezu aller jüdischen Bewohner Vilnes sieht Grade in seinen Texten davon ab, eindeutig Partei für eine der konkurrierenden Formen von yidishkeyt zu ergreifen. Karpinovitshs jeweils kurze Texte wiederum zeigen ein luftiglebhaftes Bild einzelner jüdischer Bevölkerungsgruppen, die bei Grade kaum oder lediglich als Statisten in Erscheinung treten. Dadurch, dass der Autor vielfach das Handeln einzelner illustrer Persönlichkeiten in den Mittelpunkt stellt, verzichtet er auf das „Drumherum“ scheinbar nebensächlicher Details. Erklären lässt sich dieser Umstand damit, dass der Autor gerade diesen (häufig randständigen) Menschen nach ihrem Tod nachdrücklich eine Stimme verleihen und sie als ebenso bedeutsamen Teil des Vilner Judentums ins Gedächtnis der Leser rufen will wie die übrigen jüdischen Bewohner. Die unterschiedlichen Perspektiven, mit denen Grade und Karpinovitsh auf die Stadt ihrer Kindheit und Jugend zurückblicken, lassen insgesamt ein vielschichtiges und differenziertes Bild des jüdischen Vilne entstehen. Dabei sind weder die Texte von Grade noch diejenigen von Karpinovitsh als bedeutender einzuschätzen, sondern als einander gegenseitig bereichernde Sichtweisen zu verstehen, die ein kritisches Bild der jüdischen Unterschichten erst ermöglichen. Dem literarischen Schaffen beider Autoren ist zu verdanken, dass das einstige Yerushalayim d’Lite auch als ein Ort erinnert werden kann, an dem verarmte Jüdinnen und Juden im Spannungsfeld von „kloys un gas“ – der Religiosität und der Weltlichkeit 2 einst ein „ful-blutik yidish lebn“ 3 geführt hatten.
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Transkriptionstabelle 1
Jiddischer Buchstabe Name
1
2
Transkription
a
shtumer alef
(stumm)
a4
pasekh alef
a (Anna)
a5
komets alef
o (Otto)
b 4 b
Beyz
b (Beat)
Veyz
v (Walter)
c
Giml
g (Gabriel)
d
Daled
d (Dora)
2
e
hey
f
Vov
u (Urs)
g
Zayen
z (sagen)
h
Khes
kh (acht)
i
tes
t (Tobias)
j
yud
i/y (Israel/Jakob)
K
kof
k (Katharina)
¡/k
khof/langer khof
kh (acht)
l
Lamed
l (Lara)
w/m
mem/shlos mem
m (Mara)
x/n
nun/langer nun
n (Nathan)
o
Samekh
s (Straße)
p
Ayen
e (Emil)
Q
Pey
p (Paula)
4 P/q
fey/langer fey
f (Frieda)
h (Hans)
Hierbei stütze ich mich auf die Angaben von Schwara: Humor und Toleranz, S. 256– 257 sowie Uriel Weinreich: College Yiddish. An Introduction to the Yiddish Language and to Jewish Life and Culture. New York 1992, S. 26–27. e ist am Wortende stumm und wird bei der Transkription weggelassen.
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Transkriptionstabelle
Jiddischer Buchstabe Name
Transkription
Z/R
tsadek/langer tsadek ts (zwei)
s
Kuf
k (Katharina)
t
Reysh
r (Richard)
u
Shin
sh (Schein)
V
Sin
s (Straße)
T
Tof
t (Tobias)
v
Sof
s (Straße)
Buchstabenkombinationen Jiddischer Buchstabe Name
Transkription
ff
tsvey vovn
v (Walter)
gu
zayen-shin
zh (Garage)
iu
tes-shin
tsh (Putsch)
fj
vov yud
oy (Scheune)
jj
tsvey yudn
ey (Engl.: they)
%
pasekh tsvey yudn ay (Mai)
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Abbildungsverzeichnis
Autorin und Verlag haben sich bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen. In Fällen, wo dies nicht gelungen ist, bitten wir um Mitteilung. Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6 Abb. 7 Abb. 8 Abb. 9 Abb. 10 Abb. 11 Abb. 12 Abb. 13 Abb. 14 Abb. 15 Abb. 16 Abb. 17
Dawidowicz: From that Place (Innenseite der Buchdeckel). Jerusalem of Lithuania, Bd. 1, S. 64. . . . . . . . . . . . Ebd., S. 119. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ebd., S. 66. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ebd. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ebd. S. 68. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ebd. S. 59. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ebd., S. 61. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ebd., S. 75. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ebd. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ebd., S. 176. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ebd. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ebd. S. 63. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ebd. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katz: Lithuanian Jewish Culture, S. 114. . . . . . . . . . Jerusalem of Lithuania, Bd. 1, S. 108. . . . . . . . . . . Ebd., S. 64. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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45 60 60 61 62 63 69 70 71 71 97 98 102 103 158 159 160
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Register
Findet sich ein Begriff in den Fussnoten, so ist die entsprechende Seitenzahl kursiv gesetzt. Personenregister Abramovicz, Hirsch 178 Aleichem, Scholem 23, 259 Alexander II., Zar von Russland 75, 227 Alter, Abraham Mordechai 268 An-sky, Semyon Alkimovich 237 Antokolski, Mark 48, 240 Azra, Aleksander 255 Baal Schem Tov 154 Birnbaum, Nathan 228 Blankshteyn, Khane 334 Brazg, Henia 27, 72, 88, 110, 194, 235, 270, 345, 361 f. Bronetski, Sem 255 Carlebach, Emanuel 286 Chaim ben Yitzchok aus Wolozhin 171 Chofetz Chaim (Israel Meir Kagan) 175, 176, 200, 219 Dawidowicz, Lucy 28, 62 f., 66, 88 f., 116, 124, 135, 144, 152, 155, 162, 167, 189, 192, 194, 198, 206, 207, 234, 271, 277, 278, 285, 343, 345 Dniur, Ben-Zion 76 f., 159 Dubnow, Simon 228 Gediminas, Grossfürst von Litauen 13, 53 Ginzburg, Mordechai Aron 196 Goldfaden, Abraham 227 f., 251, 255 Goldshmidt, A. Y. 63, 64, 363 Gordon, Jehuda Leib 196 Gorodin, Jacob 251 Grade, Frume-Libtshe 19, 299 Grade, Shloyme-Mordkhe 18, 210
Grade-Blumenthal, Vella 18, 67, 79, 86, 95, 96, 113, 117 f., 121, 122, 177, 187, 188, 201, 204, 207, 216, 269, 295, 299, 301, 302, 303, 304, 306, 341, 352, 354, 358 Grodzenski, A. Y. 263, 264 Grodzenski, Chaim Ozer 172 Halperin, Dina 255 Hautzig, Esther 28, 72, 87, 110, 235, 249, 270, 361 Hecker-Grade, Inna 19, 22 Helfer, Dveyre Ester 50, 119 f., 121 Herzl, Theodor 266 Heschel, Abraham Joshua 178 Hlond, August, Kardinal 350 Hurwitz, Yosef Yoizl 174 Jabotinski, Ze’ev 271 Jadwiga, Königin von Polen 13 Jogaila , Grossfürst von Litauen 13 Kaftan, Shimele 128, 129 Kaminska, Ester-Rokhl 251 Kaminski, Ida 255 Karpinovitsh, Moyshe 252, 253, 256, 257 Kohn, Pinhas 286 Kulbak, Moyshe 20, 248, 283 Kupershteyn, Dveyre 247 Kutner, Shlomo 255, 347 Lebensohn, Abraham Dov Ha-Kohen 196 Lekert, Hirsch 277, 278 Lerner, Yoysef-Yehude 237 Liebermann, Aaron Samuel 274 Lipman, Moshe 255 Lunski, Khaykl 161 f., 202
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Register Maksimov, Melekh Pokoy 255 Mapu, Abraham 196 Margules, Lily M. 28, 111, 130, 152, 270, 273 Medem, Vladimir 275 Mendele Mocher Sforim 23, 227 Monty, Paul 61 f., 93, 96 f., 101, 104, 161, 162 Morevski, Abraham 255 Murawjow Nikolai Nikolajewitsch 135
Tcherikower, Elias 230 Turkov, Yonas 255 Turkov, Zigmund 255
Nakhalnik, Orke 239, 319, 328, 329 Napoleon I., Kaiser von Frankreich 151 Neydus, Leyb 70, 94, 102 Nordau, Max 271
Vigodski, Jakob 233, 336, 337, 342, 346 Vilner Goen 152, 153–157, 164, 176, 197 Volf, Leyzer 137 Vorobeichic, Moshe 62
Olshanetsky, Alexander 13 Pappenheim, Bertha 330 Perez, Isaak Leib 23, 128, 229, 251, 335, 336, 351 Potocki (Graf ), Valentin 362, 363, 364 Rabinovici, Schoschana 28, 87 f., 111, 235, 317 Reyzen, Sahra 97 f., 120, 230 Reyzen, Zalmen 230, 243, 248, 262, 263 Salanter, Israel 54, 174, 199 Samberg, Aysik 255
Shabad, Regina 88 Shabad, Stefania 88 Shabad, Tsemakh 88, 141, 262 Sharafan, Shmerele 152, 170, 180, 181, 197, 198, 201 Shik, Zalmen 231 f. Shtiff, Nochum 230 Singer, Isaac Bashevis 21 f. Stalin, Josef 278
Weinreich, Max, 88, 230 f., 234, 238, 239, 243 Władislaw IV, polnischer König 74 Yokhelson, Vladimir 274 Zalmen, Elija ben siehe Vilner Goen Zederbaum, Alexander 227, 228 Zhitlovsky, Chaim 228 Zundelewicz, Aaron 274
Ortsregister Białystok 14, 90, 141, 238 Bobruysk 233 Brisk (Brest) 14
Lemberg 330, 344 Lodz 90, 275, 330 Lublin 90, 151
Czernowicz 229, 243
Mir 170, 171
Goldingen/Kurland 230 Grodno 90, 141
New York 19 Novaredok 174
Kielce 19 Kovno 90, 171, 174 Koydenov 230 Krakau 13, 330, 344, 350
Paris 19, 362 Ponar 19, 20 Prag 151
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Register Toledo 151 Trois 151 Tshernobl (Chernobyl) 14
Radun 170, 175 Rovne 175, 268 Slobodka 129 Slonim 161, 171 Slutzk 171 Smolensk 14 St. Petersburg 233
Vitebsk 228 Warschau 156, 244, 252, 256, 275, 281, 312, 329, 330, 344 Worms 151
Tel Aviv 20 Telz 171
Zürich 228
Sachwortregister Adam Mickiewicz-Strasse 69, 70 Agudas Israel 170, 222, 275, 285, 286 Aguna, Agunot 223, 314–317 Amerika 118, 126, 297 Alkohol, Alkoholismus 259, 322, 326, 354, 355, 356, 357, 360 Almosen, Almosengeber, Almosenempfänger 127–135, 137, 143, 145, 146, 147 Altwarenhandel, Altwarenhändler 46, 103 Antijudaismus, antijüdisch 228, 265, 348, 350, 351 Antisemitismus, antisemitisch 229, 263, 265, 271, 273, 274, 276, 296, 341–352, 353, 357, 364, 366 Antokol (Stadtteil) 55, 272 Alte kloyz 50, 117, 184 Armut, Verarmung 18,90, 96, 112–124, 125, 126, 139, 142, 143, 171, 174, 177, 218, 236, 265, 296, 327, 330, 337, 342, 368 Akkulturation 229 Assimilation 228, 235, 278, 362 Aufklärung 18, 161, 196, 197, 210 Aynbinder kloyz 50 Bann 154, 207, 220, 223, 324 Bauer, Bauern 48, 98, 103, 105, 221, 321, 340, 343, 352, 353, 354, 355, 361, 364 Bauer, Bauern (jüdische) 273, 343 Begräbnisbruderschaft 50, 105 Bernardiner gortn 53 Besatzungsbehörden, deutsche 252, 261
Betar 271, 283 Bettler 92, 124, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 136–147, 165, 166, 191, 203, 366, 368, 369 Bilike hayzer 84, 114, 268, 269 Bilike kikh 55, 143 Bolschewismus, Bolschewiki 275, 278, 350, 353 Boykott, Boykottaktionen, Boykottmaßnahmen 249, 343, 347, 364 Bund, Bundismus, Bundisten 228, 230, 260, 261, 263, 266, 274, 275, 276, 277, 278, 283, 286, 287 Bürgertum, jüdisches 27, 72, 73, 86- 89, 110, 111, 117, 122–124, 130, 167, 180, 182, 186, 204, 234, 235, 238, 249, 259, 260, 267, 269, 270, 277, 326, 327, 337, 346 Bürgertum, polnisches 72 Breyte gas 48, 69, 303 Chanukka 164, 181, 189, 207, 240 Chassidim, Chassidismus 153–157, 167, 174, 197, 214, 286 Cheder 18, 20, 118, 158, 168, 169, 171, 172, 173, 175, 221, 243, 245, 246, 250 Cherem siehe Bann CISHO (tsentral yidishe shul organisatsie) 244 Christen 49, 53, 55, 56, 80, 87, 104, 251, 267, 320, 339–365
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Register Daytshe gas 47, 48, 49, 72, 74, 82, 101, 102, 103, 104, 106, 107, 140, 157, 160, 201 Diaspora 30, 32, 151, 160, 228, 250, 265, 271 Di tsayt 261 Doikeyt 287 Durkhhoyf 46, 96, 97, 98, 99, 100, 104, 116, 144, 367 Dveyre-Esters-kloyz 121, 179, 198 Ehe 291–318 Elektrizität 81 Emigration 49, 126, 233, 269, 273, 314, 347 Ershte vilner ley-un shpor-kase 119 Familienreinheitsgesetze 163, 205, 206, 209, 269 Fishmark 47, 55, 238 Folkisten 228, 237, 263 Folkloristishe komisye 237 Frauenbad 137, 143, 205 Friedhof 42, 51, 74, 119, 125, 130, 154, 181, 213, 216, 217, 223, 357, 363 Frömmigkeit 15, 16, 19, 66, 151, 156, 176, 181, 189, 197, 203, 204, 205, 206–214, 223, 299, 368 Fraynd fun der yidisher gimnasye 248 Fraynd fun Vilne 231 Froyen-shutz 333, 334 Gabbe 163, 164, 214, 305, 326 Gebetshaus 65, 116, 127, 143, 152, 155, 157, 162, 178, 184, 191, 192, 197–199, 208, 210, 215 Gefängnis 164, 233, 270, 279, 283 325, 326, 328, 329, 361 „Geisteskranke“ (meshugim) siehe Bettler Ghetto 44, 62, 160, 161, 162, 227 Gitke-Toybes zavulik 46 Glezer gas 47, 60, 63, 75, 78, 82, 85, 105, 119, 160, 320 Goens kloyz 50, 117, 129, 164–167, 208, 214, 217 Groyse shul 49, 139, 143, 163, 192, 207, 253
395 Hakhnoses khale 294 Haluzim siehe Pionier, Pioniere Handel (Strassen-, Altwaren- ) 27, 46, 47, 49, 56, 74, 90, 91, 92, 93–104, 110, 120, 170, 238, 292, 319, 320, 339, 341, 342, 346, 352, 353, 361, 368 Handwerk 47, 75, 79, 81, 91, 92, 94, 104– 109, 110, 112, 119, 120, 122, 126, 165, 170, 179, 185, 186, 190, 210, 218, 276, 277, 292, 296, 319, 327, 336, 337, 338, 368, 369 Haskala siehe Aufklärung Hausmeister 139, 235, 349, 352, 354, 355, 356, 357, 364 Hegdesh gas 101 Heiratsvermittler 291, 295, 298, 299, 300, 301, 303, 305, 317 HIAS 49 Hilf durkh arbet 109, 129, 248 Historish-etnografishe gezelshaft 240, 241 Holocaust 16, 17, 21, 28, 29, 30, 232, 338 Holtsmark 48, 77, 105, 344, 353, 354, 361 Jerusalem Litauens (Yerushalayim d’Lite) 14, 151, 152, 153, 167, 370 Jeshiva, Jeshivot 18, 51, 54, 67, 88, 129, 151, 153, 158, 161, 170, 171, 172, 174, 175, 177, 181, 199, 204, 210, 219, 220, 244, 246, 268, 294, 299, 368 Jiddisch siehe Sprache, jiddisch Jiddisches Theater (yidisher folks-teater) 20, 52, 122, 137, 144, 250–260, 271, 326, 335, 338, 346 Jiddischismus, Jiddischisten 228, 229, 230, 234, 237, 238, 240, 241, 242, 243, 244, 250, 263 Jiddischland 232 Jom Kippur 132, 181, 188, 189, 190, 191, 192, 194, 195, 215 Jüdischer Bolschewismus 353 Jüdisches Realgymnasium 20, 47, 144, 178, 248, 249, 250, 257, 361 Jüdisches Spital 46, 48, 51, 115, 130, 300 Jüdischkeit (yidishkeyt) 179, 369, 370 Jüdischkeit (yidishkeyt), traditionelle 167, 180, 181, 202, 299, 348 Jüdischkeit (yidishkeyt), moderne 277, 259
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396 Kaddisch-Gebet 198, 208 Kanalisation 82 Kaparotzeremonie 189 f. Karäer 14 Kaschrut siehe Speisegesetze Katedralplats 53, 54 Katholische Kirche 350 Katholizismus, Katholiken 53, 339, 340, 345, 359, 362, 363, 364 Khevra kadisha siehe Begräbnisbruderschaft Kheyverdishe kloyz 146, 164 Khor-shul (Choralsynagoge) 48, 51 Khorev (Schulnetzwerk) 170 Klause 79, 117, 143, 152, 155, 156, 157, 159, 162, 179, 180, 181, 189, 190, 191, 192, 198, 199, 215, 246 Kloyz Dveyre Ester 50, 121, 179, 198 Krämerverein detalist 120 Kleynhendler bank 119 Kehilla (jüdische Gemeinde) 49, 75, 82, 114, 125, 139, 140, 154, 157, 160, 169, 240, 276 Kloyster fun der heyliker Ana 53 Kloyz ishn 50, 198 Kommunismus, Kommunisten 265, 274, 278, 279, 281, 283, 284, 285, 286, 287, 321, 345, 352, 353, 361 Konkurrenz, wirt. (Juden-Nichtjuden) 91, 340, 343, 361 Konkurrenz, wirt. (innerjüdische) 92, 94, 95, 99, 111, 145, 146, 258, 278 Kopfbedeckung 172, 199, 204, 206, 216 Krankheit 80, 133, 136, 141, 143, 144, 145, 146, 310, 311, 333 Kredit, Kredite 91, 101, 105, 118–122, 123, 305, 332 Kreytsberg 53 Kriminalität, Kriminelle 92, 319–329, 337 Krupnitshe gas 51, 107 Lehrerseminar, Jiddisches 244, 230 Lehrerseminar, Hebräisches 266 Leyb Leyzers hoyf 46, 60, 67, 70, 75, 76, 80, 81, 82, 83, 89, 190, 191, 198 f., 214, 215 Libhober fun yidishn altertum 237 Ludvisarske 44, 52, 257 Luftmenschen 112
Register Lukischker Gefängnis 164, 284 Maskilim 51, 196, 197, 227, 243, 251, 265, 292, 298 Maliarske kloyz 180 Melamed 168, 177, 245 Menschewiki 275, 278 Miete 75, 87, 100, 101, 106, 107, 108, 109, 113, 114, 115, 119, 123, 162 Mikolay gesl 46, 47, 74, 106 Mikwa 42, 125, 183, 205 Minderheitenvertrag (1919) 339, 340, 347 Minjan 157, 163, 164, 198, 208, 216 Misnagdim 154, 155, 156, 171, 174, 197 Mitgift 220, 294, 298, 309, 313, 314 Mizrachi 180, 222 Musar 18, 54, 129, 174, 199, 294 Muskeljude 219, 271 Musterfarm 267, 268, 273 Nationale Partei (Endecja) 344 Natur 67, 68, 72, 73, 247, 272 Nay-Vileyke (Stadtteil) 139 Naye kloyz 50 Nichtjuden 16, 53, 67, 72, 138, 204, 206, 209, 235, 241 f., 265, 267, 276, 316, 319, 320, 343, 344, 348, 349, 350, 351, 352– 360, 361, 364 Novgorod (Stadtteil) 55, 80, 115 Technikum 244 Orthodoxie, jüdische 19, 154, 155, 156, 167, 171, 182, 197, 199, 209, 211, 214, 223, 285, 369 Ovnt-kurir 261, 262, 263, 264 Palästina 20, 21, 114, 129, 196, 265, 267, 268, 269, 270, 271, 273, 274, 276, 286, 330 Pessach 66, 121, 125, 181, 189, 192, 193, 194, 195, 207, 312 Pionier, Pioniere 91, 114, 129, 274, 267, 268, 269, 271, 273, 274, 354 Pogrom 19, 228, 265, 274, 348, 349, 357, 358 Pohulianke 48, 69, 71, 87, 114
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Register Polen 13, 14, 19, 31, 74, 83, 90, 92, 156, 170, 171, 238, 244, 267, 268, 271, 274, 276, 279, 284, 286, 319, 339, 340, 344, 346, 347, 349 Polizei, polnische (Geheimpolizei, Staatspolizei) 96, 235, 243, 284, 320, 341, 342, 352 Polnischer Aufstand 53, 339 Polonisierung 342 Poplaves (Vilner Stadtteil) 55, 114, 310 Poresh, Prushim 164–167, 176, 177, 190, 198, 205, 208, 217, 219 Presse, jiddische 197, 202, 243, 260–264, 368 Presse, katholische 350, 351 Prostituierte, Prostitution 92, 94, 110, 280, 319, 320, 329–338, 352, 369 Purim 189, 250, 251 Rabbinat 212, 220, 223, 229, 309 Rabbinatsgericht 223 Rabbinerseminar 196, 251 Rabbinerversammlung 175, 176, 219, 221, 222, 286 Rabbinismus 153, 196 Rameyles hoyf 64, 65, 67, 77, 81, 101, 108, 179, 198, 280 Rameyles yeshive 51, 217 Reichtum 82, 888, 112, 122–124, 162, 214, 216, 300, 308, 318, 332 Religiosität 177, 195, 303, 370 Revisionisten 271 Rosch ha-Schana (Neujahr) 188 Rudnitsker gas 47, 74, 105, 144, 178, 193, 248 Sabbat 67, 79, 95, 100, 116, 121, 122, 125, 164, 166, 175, 179, 180, 181, 183–188, 194, 195, 198, 200–203, 204, 206, 208, 209, 210, 213, 214, 221, 263, 303, 327, 336, 340 Sabbatwächter 202, 203 Säkularisierung 204„ 206, 208, 210, 218, 222, 265, 293, 317, 324, 366 Schächthaus 51, 94, 110, 133, 138, 333 Schammes 163 Scheidung 178 294, 300, 308–313, 317, 318 Schoah siehe Holocaust
397 Schtetl 23, 24, 67, 68, 139, 144, 174, 175, 228, 232, 237, 241, 296 Schulden, Verschuldung 114, 119, 120, 121, 122, 123, 222, 332 Schule, hebräische 226 Schule, jüdisch-weltliche 78, 110, 161, 169, 209, 210, 228, 229, 237, 240, 243–250, 261, 276 Schule, polnische 169, 209, 345, 361 Schule, religiöse 169, 170 173, 209, 245, 250 Shidekh, shidukhim 294, 295, 296, 297, 298, 299, 300, 307, 326 Shlosbarg 53 Shlos gas 48, 72, 348, 349 Shnaydershe kloyz 179 Shnipishok (Stadtteil) 51, 54, 55 Shtotshul 49, 137 Shulhoyf 46, 49, 50, 52, 65, 80, 82, 83, 100, 117, 127, 135, 136, 137, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 144, 145, 146, 152, 155, 156, 157–164, 167, 179, 180, 181, 184, 190, 191, 192, 195, 198, 214, 215, 216, 229, 235, 247, 300, 304, 328, 348, 355, 358, 367 Shund 256, 257, 336 Simchat Tora 163, 189, 192, 195, 215 Sofianikes (Stadtteil) 331 Sowjetunion 13, 19, 20, 90, 228, 266, 270, 280, 281, 282, 283, 285, 286, 321, 361 Sozialismus 265, 274, 368 Speisegesetze 207 Sprache, hebräische 169, 267, 340 Sprache, jiddische 13, 22, 31, 32, 101, 128, 169, 173, 188, 227, 228, 229, 231, 232, 233–236, 237, 238, 241, 242, 247, 251, 254, 260, 261, 340, 367 Sprache, polnische 101, 169, 221, 233, 234, 235, 369 Sprache, russische 234 Stadtverwaltung 96, 342 Strassenhändler 93, 94, 95, 96, 115, 177, 341, 342, 346, 352, 364 Strashun Bibliothek 52, 161, 190 Studenten, jüdische 279, 343, 344, 345, 346 Studenten, polnische 344, 345 Sukkot 155, 164, 166, 188 f.
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398 Talmud 151, 153, 162, 171, 223, 310, 362 Talmud-Tora-Schule 127, 169, 205, 243 Tarbut (-Gymnasium, -Schulen) 48, 250, 266, 269 Teater gezelshaft 256, 257, 260 Tefilin 205, 306, 310 Tiferes bokherim 179, 180, 181 Tishkevitshes palats 53, 332 Tog (undzer tog) 18, 137, 140, 230, 257, 262, 263, 264 Tora 129, 151, 164, 170, 174, 178, 179, 181, 184, 189, 191, 198, 200, 203, 209, 210, 215, 219, 220, 221, 294, 316 Tora-emes (Schule) 173 Toragelehrter siehe Poresh, Prushim Troker gas 48, 53, 321 Universität 229, 249 f., 344, 345, 346, 364 Unterwelt 16, 110, 157, 164, 167, 173, 185, 186, 194, 222, 239, 251, 294, 319–338, 343, 345, 361 USA 21, 118, 230, 233, 297 Va’ad hayeshives (Rat der Yeshivot) 172 Velfkes restauran 52, 258, 259, 260 Vengerske gas 77 Vilenke 54, 331 Vilner historish-etnografisher gezelshaft 237 Vilner yidisher literatn-un zshurnalistn-fareyn 262 Vilner truppe 252, 256 Vilye (Neris) 51, 54, 55, 68, 131, 180, 194, 247, 272, 320 Wasserversorgung 82, 83 Weltkrieg, Erster 18, 54, 61, 113, 117, 124, 174, 233, 243, 261, 278, 310, 315, 316, 330, 353
Register Weltkrieg, Zweiter 13, 17, 19, 44, 161, 167, 230, 233, 329 Witwen, Witwer 47, 123, 128, 129, 130, 206, 208, 222, 284, 293, 297, 298, 301– 305, 313, 317, 318, 323 Wohltätigkeit 119, 125–147, 190, 368, 369 Wohnraum 76, 78, 79, 84, 198, 367 Wohnungsnot 79 Wohnverhältnisse 77, 79, 84, 86, 87, 89, 113 Yatkever gas 46, 47, 48, 51, 59, 60, 61, 62, 63, 64, 66, 67, 74, 79, 85, 95, 96, 100, 105, 113, 160 Yavne (-Schule) 170, 172 YEKOPO 49 Yidishe gas 44, 46, 47, 49, 50, 52, 59, 60, 65, 68, 74, 75, 93, 96, 97, 101, 118, 119, 157, 160, 164, 258, 280 Yidishe landkentenish gezelshaft 231, 232 Yidishkeyt 180, 181, 202, 209, 227–232, 259 YIVO 28, 33, 52, 88, 230, 231, 232, 236– 242, 243, 244, 369 Yung Vilne 18, 19 Zaretshe (Stadtteil) 47, 51, 54, 55, 163, 199, 239 Zavalne gas 48, 51, 69, 70, 94, 100, 113, 179, 335, 344 ZBK (tsentraler bildungs komitet) 243, 244 Zionismus, Zionisten, zionistisch 19, 76, 129, 130, 159, 170, 180, 219, 228, 233, 265, 266–274, 275., 285, 286, 287, 330, 354, 368 Zunft, Zünfte 105, 276, 322 Zuhälter 319, 332, 334, 335, 337, 338 Zypern 20