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German Pages 434 [436] Year 2022
Literarische Aushandlungen von Liebe und Ökonomie
Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte
Band 164
Literarische Aushandlungen von Liebe und Ökonomie Herausgegeben von Paul Keckeis, Gerda E. Moser† und Viktoria Take-Walter
Veröffentlicht mit Unterstützung der Fakultät für Kulturwissenschaften sowie des Forschungsrates der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt
ISBN 978-3-11-074009-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-074080-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-074096-7 ISSN 0083-4564 Library of Congress Control Number: 2022940294 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorwort Die Beiträge des vorliegenden Bandes gehen auf Vorträge zurück, die auf der internationalen Tagung „Liebe & Ökonomie. Literarische Aushandlungen“ im November 2020 an der Universität Klagenfurt gehalten wurden. Die gesellschaftliche Relevanz des Themas ist durch das rezente philosophische sowie kultur- und sozialwissenschaftliche Interesse dicht belegt. Von Alain Badious Lob der Liebe (2009) bis zu Slavoj Žižeks ‚love is evil‘, von der Poetik der Liebe bis zu ihrer Soziologie verdankt die Interdependenz zwischen Liebe und Ökonomie ihre besondere Aktualität nicht zuletzt der Tatsache, dass sie unter den Bedingungen der ‚hypervernetzten Moderne‘ (Eva Illouz) besonders deutlich zu Tage tritt. Seit Niklas Luhmann, dessen These zufolge die Liebe in unserem heutigen Verständnis auch eine Erfindung der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts gewesen ist, die unsere ‚westlichen‘ Vorstellungen von Sexualität und Lust, Beziehung und Familie präge, stützt sich gerade die Soziologie der Liebe immer wieder auch auf die Literatur; etwa, um die Historizität ihres Gegenstands zu veranschaulichen oder um zu zeigen, dass das Konzept der romantischen Liebe keine besondere anthropologische Plausibilität besitze. Ausgehend von der Beobachtung, dass sich literarische Texte in der Affirmation oder Subversion bestehender gesellschaftlicher und diskursiver Ordnungen aber nicht erschöpfen, sondern ebendiese Ordnungen auch selbst stiften, stabilisieren oder dekonstruieren können, wird im vorliegenden Band eine literaturwissenschaftliche Revision der spannungsreichen Konstellation Liebe und Ökonomie unternommen. Das Buch versammelt Beiträge, deren Analysen einen Bogen von der Literatur des Mittelhochdeutschen über das 18. und 19. Jahrhundert bis hin zu populären Young-Adult-Romanen der Gegenwart spannen. Schwerpunkte bilden die Literatur des Hochmittelalters, die Epochenumbrüche um 1800 und 1900, die Literatur des Realismus und die Gegenwartsliteratur. Gestützt auf einschlägige Arbeiten – u. a. von Joseph Vogl (Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, 2002), Iuditha Balint und Sebastian Zilles (Literarische Ökonomik, 2014) oder Franziska Schößler (Femina Oeconomica. Arbeit, Konsum und Geschlecht in der Literatur, 2017) – wird das Thema hier in seiner besonderen literaturhistorischen Breite erfasst. In Relektüren und close readings von „klassischen“ und zeitgenössischen (auch populären) Texten widmen sich die Beiträge fiktionalen Ausgestaltungen des Spannungsfelds von Liebe und Ökonomie, untersuchen Liebeskonzepte im historischen Wandel, stellen gendertheoretische Perspektiven zur Diskussion und fragen nach den Verbindungen zwischen ästhetischer und sozialer Ordnung. Den Auftakt des Bandes bilden vier mediävistische Beiträge zur höfischen Epik, dem Minnesang und der spätmittelalterlichen Märendichtung. Der Beitrag https://doi.org/10.1515/9783110740806-202
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Vorwort
von SABINE SEELBACH widmet sich unter dem Titel „Munus amoris. Beobachtungen zur Liebesgabe im Parzival“ der Frage, wie die zeitgenössischen sozialen Ordnungsprozesse in der höfischen Literatur des 13. Jahrhunderts nachgebildet wurden. Am Beispiel des Parzival Wolframs von Eschenbach zeichnet Seelbach den Stellenwert der Liebe in dieser höfischen Ökonomie der Aufmerksamkeit nach. NINA SCHEIBELS Beitrag zur „Überlieferungsvarianz als Kalkül? Überlegungen zur Ökonomisierung der Liebe im Minnesang“ widmet sich der engen Verflochtenheit von Liebe und ökonomischem Kalkül in der Gesellschaftskunst des Minnesangs. In einem Vergleich verschiedener Handschriften wird gezeigt, dass die Fassungen auf spezifische Interessen des Publikums, auf einen konkreten Funktionszusammenhang oder ein bestimmtes soziales Umfeld reagieren; Varianzen in der Konzeptualisierung der Liebe lassen sich so mithin als Konsequenz ihrer bestmöglichen „Vermarktung“ begreifen. VERENA EBERMEIER befasst sich unter dem Titel „minne und kraeme – Pulsationsdynamiken als Daseinsprinzip“ auf der Grundlage des Antikenromans Trojanerkrieg des Konrad von Würzburg mit einer durch Liebe und Ökonomie codierten Motivstruktur. Ausgehend von philosophischen Kosmologien wird gezeigt, wie das abstrakte Ideal eines Gleichgewichts zwischen den Anziehungs- und Abstoßungskräften der Liebe und des Streits im Roman reflektiert wird; die Ausgestaltung der Relation von Liebe und Ökonomie findet einen poetologischen Umschlag, indem sie einer narrativen Dynamik von Anziehung und Abstoßung korrespondiert. ANGELIKA KEMPERS Beitrag „Ökonomische Liebeshändel. Zweisamkeit und Geld in Ruprechts von Würzburg Die zwei Kaufleute“ widmet sich prekären Geschlechterbeziehungen, die nicht nur über ständische und geschlechtliche, sondern auch über ökonomische Aspekte ausdifferenziert werden. Am Beispiel ausgewählter mittelhochdeutscher Mären wird herausgearbeitet, wie ökonomische und anökonomische Kräfte in diesen Beziehungen konfiguriert sind. Die Literatur der sogenannten „Sattelzeit“ um 1800 bildet den Nexus der Beiträge zu Friedrich Schiller, Friedrich Schlegel und Ludwig Tieck. An den drei zur Diskussion kommenden Texten stellen die Beiträgerinnen in übergreifender Weise erratische Überformungen der bis dato topischen Vorstellungen der Liebe fest. Am Beispiel von Schillers zweitem, wenige Jahre vor der Französischen Revolution entstandenen Schauspiel Die Verschwörung des Fiesko zu Genua geht VIKTORIA TAKE-WALTER der Frage nach, inwiefern der Dramatiker die Liebeshandlung als Korrektiv der ‚politischen Staatsaktion‘ entwirft. Ansätze einer ökonomisch verfahrenden Poetik bei Schiller verfolgt Take-Walter anhand des von Lessing adaptierten Virginia-Mythos sowie derjenigen Dialoge, die Ehe, Liebe und (Braut-)Gewerbe thematisieren. Ihr Beitrag perspektiviert Schillers einziges Drama der Urbanität als das Vexierbild eines vom Handel korrumpierten Stadtstaats, wie ihn Rousseau in seiner Zivilisationskritik als Problemfall politischer Vergesellschaftung benennt.
Vorwort
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Aus einer diskursanalytischen Perspektive untersucht DAGMAR WAHL den LucindeRoman von Friedrich Schlegel, der gemeinhin als Gründungsmanifest der romantischen Liebe und als soziale Utopie gedeutet worden ist. Wahl hinterfragt diese Einordnung anhand des in der Paarbeziehung latenten Ehekonzepts und führt durch Einbeziehung der zeitgenössischen populärwissenschaftlichen Literatur den Nachweis, dass der Roman in wesentlichen Aspekten an biopolitische und staatsökonomische Institutionalisierungsbemühungen anschließt. Sowohl vor der Folie der romantischen Liebe als auch unter Rückgriff auf die Luxus-Debatte der politischen Ökonomie um 1800 erörtert CORINNA SAUTER Des Lebens Überfluß von Ludwig Tieck. Sauters detaillierte Lektüre sieht in der Novelle nicht zuletzt eine Konfrontation des Luxusbegriffs (in seiner Nebenbedeutung als Spekulation) mit der romantischen Gabenlogik angelegt. Neben den literarischen Intertexten – wie u. a. Schlegels Lucinde oder Jean Pauls Siebenkäs – erschließt der Beitrag die reichhaltige Mehrdimensionalität der Luxus-Erzählung, deren Leitmotiv auf vielen Ebenen des Textes, vor allem aber im Bezugsrahmen seiner Selbstreferentialität verhandelt wird; so wird die Novelle hinsichtlich ihrer metapoetischen Strategie auch als „ein Text über des Lesens Überfluss“ (S. 131) deutbar. Die folgenden vier Beiträge sind um die Jahrhundertmitte zentriert, entwickeln zugleich aber Perspektiven auf die Literaturgeschichte des langen 19. Jahrhunderts. PRIMUS-HEINZ KUCHERS Beitrag über „Die Disziplinierung der Leidenschaft im Konzept des bürgerlichen Liebes- und Familienideals“ zeichnet am Beispiel von Texten Ludwig Tiecks, Fanny Lewalds, Adalbert Stifters und Karl Emil Franzos’ Kontinuitäten in der „Fesselung leidenschaftlicher Dispositionen“ (S. 149) nach. Kucher zeigt dabei, dass Leidenschaft einerseits durch ein vielfältiges Register ihrer Kontrolle und Disziplinierung gebannt wird, die Liebessemantik insbesondere durch jene Texte, die in marginalisierten Positionen verankert sind, aber zugleich ausgeweitet wird. FLORIAN KROBB untersucht „Transaktionale Geschlechterbeziehungen bei Fontane“ und liest dessen Romane Cécile und Der Stechlin als literarische Extrapolationen des Gelingens und Scheiterns von sexuellen Verbindungen. Die leitende Frage des Beitrags lautet, inwiefern die „Formatierung zwischenmenschlicher Belange in ökonomischen Kategorien tatsächlich als ‚Trivialität‘ abgetan werden kann, oder ob dieses Symptom nicht zutiefst verstörende Zustände kaschiert“ (S. 152). INGO MEYERS Beitrag „Abschied von der Romantik?“ unternimmt einen Parcours durch den deutschen und französischen Realismus. Auf eine Relektüre von Luhmanns Schriften zur Liebe aufbauend, attestiert Meyer dem Realismus einen „elaborierte[n] Sinn für ökonomische Zwänge und dennoch trotziges Beharren auf romantische Liebe“ (S. 212). PAUL KECKEIS unternimmt in „Heine, Kraus, Adorno – Liebe und Ökonomie im lyrischen Tausch“ eine Revision des polemischen Angriffs von Karl Kraus auf Heinrich Heine. Unter besonderer Berücksichtigung gattungsspezifischer Kontexte wird gezeigt, dass Kraus die Homologie
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Vorwort
zwischen Liebe und Literatur unter Ausschluss der Ökonomie aktualisiert, um in der Lyrik das Ideal einer reinen Sprache zu konstruieren, das als Bezugspunkt für seine rigide Sprachkritik zu fungieren vermag; Heine wird ihm auch deshalb zu einem Feindbild, weil dessen Gedichte, indem sie die Trivialisierung lyrischer Sprechweisen ironisch offenlegen, jeden Versuch einer anökonomischen Nobilitierung der Lyrik in Frage stellen. Im Mittelpunkt von BARBARA NEYMEYRS Aufsatz „Eros als Machtinstrument“ steht Schnitzlers Novelle Spiel im Morgengrauen. In einem sozialpsychologisch orientierten close reading wird die Erzählung auf ihren gesellschaftsdiagnostischen Gehalt hin befragt, indem die mannigfaltigen Verflechtungen von Eros und Ökonomie nachgezeichnet werden. Der Beitrag zeigt, dass die Befreiung von „männlicher Dominanz [...] nicht zu einem positiven Gegenentwurf zur traditionellen Geschlechterbeziehung“ (S. 245) führen muss, sondern seinerseits neue Asymmetrien im Ökonomischen produzieren kann. ZBIGNIEW FELISZEWSKIS Beitrag über „Liebe und Sexualität in Bertolt Brechts frühen Stücken“ widmet sich den verschiedenen Ausgestaltungen von Körper, Liebe und den ihnen anheftenden Eigenschaften in Brechts Protagonisten. Am Beispiel Baals und Kraglers aus Trommeln in der Nacht wird Brechts Hinwendung zu einer praxeologischen Auffassung von Liebe als eine „dramatische Absage an den Idealismus“ (S. 264) gedeutet. JOHANNES KAMINSKIS Beitrag „Zur Kritik der libidinösen Ökonomie“ erweitert den Einzugsbereich des Tagungsbandes um das Thema der Paarliebe in der chinesischen Gesellschaftskritik der 1920er und 1930er Jahre. Am Beispiel von Yu Dafus Ertrinken und Ba Jin Trilogie der Liebe konzipiert Kaminski die Literatur innerhalb chinesischer Debatten als „Imaginationsraum“ (S. 272) einer heterodoxen Konfiguration von Libido, Paarbeziehung und Ökonomie. ARTUR R. BOELDERL geht unter dem Titel „Aufhebungen der Ökonomie: Liebe und Krieg in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften“ der Frage nach, auf welche Weise sich die Intrikation von „seelenvoller“ Ökonomie vor dem Hintergrund der Differenzierung zwischen den ratioïden und nichtratioïden Dimensionen des menschlichen Lebens in Musil Epochenroman manifestiert. Liebe und Krieg, so die leitende Hypothese Boelderls, figurieren bei Musil „als zwei verschiedene Möglichkeiten zur Aufhebung der Ökonomie“ (S. 299); die Unabgeschlossenheit des Romans wird hingegen als Eingeständnis der letztlichen Unerreichbarkeit eines solchen Zustands gedeutet. Der letzte Teil der hier versammelten Beiträge widmet sich den Themen Liebe und Sexualität als eine den Literaturbetrieb des 20. Jahrhunderts prägende AutorInnen- und Diskursformation. ANNA ESTERMANNS vergleichende Untersuchung von Ingeborg Bachmanns und Paul Celans lyrischen Debüts kann dabei als ein die Literaturkritik der 1950er Jahre aufarbeitender Beitrag verstanden werden. Unter Berücksichtigung des Konkurrenzverhältnisses und wechselseitigen
Vorwort
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„Positionierungsdruck[s]“ (vgl. S. 321), dem sich die beiden NachwuchsliteratInnen seinerzeit ausgesetzt sehen mussten, diskutiert Estermann aus gendersowie beziehungstheoretischer Perspektive die Rolle, welche die KritikerInnen in dem innerhalb des Nachkriegs-Literaturbetriebs gewachsenen und gescheiterten Liebesverhältnis gespielt haben. An die gesellschaftlichen Debatten der post-1968er Jahre anschließend, analysiert BERNHARD JOSEF WINKLER die von Botho Strauß „als beschädigt wahrgenommene Realität des Erotischen in der Bundesrepublik“ (S. 336) anhand des poetologischen Programms der Prosasammlung Paare, Passanten (1981). Im Rückgriff auf die Kritische Theorie sowie Batailles anökonomischen Begriff erotisch-sexueller Verausgabung streicht der Beitrag den Kern von Strauß’ Kritik, nämlich den im Medium der Literatur geleisteten Widerstand „gegen einen positivierten und utilitarisierten Liebesbegriff“ heraus, „bei dem keine verausgabende Transgression möglich ist, die auf die Überwindung von Hindernissen angewiesen ist und in der permissiven und marktrational organisierten Gesellschaft unmöglich wird“ (S. 341–342). Den zur Jahrtausendwende erschienenen Roman Gier von Elfriede Jelinek unterzieht PHILIPPE ROEPSTORFFROBIANO anhand der Diskursfiguration des ‚homo oeconomicus‘ einer kritischen Relektüre. Sein Beitrag problematisiert die textuell exponierte Erzählstimme als schillernde Ausdrucksform einer weiblichen Schreibweise, die eine stereotype Geschlechterkonstellation nach Art eines „pekuniären Opferritus“ (S. 362) entwirft, „im Zuge dessen die Frau sich zunächst als Individuum nicht jenseits der phallozentrischen Geschlechterordnung konstituieren kann, um dann körperlich ausgelöscht zu werden.“ ARNO RUßEGGERS Analyse von Liebesmotiven in Lassie Come-Home von Eric Night (1938), Christine Nöstlingers Liebesgeschichten vom Franz (1991) sowie ausgewählter Young-Adult-Romane der Gegenwart kann schließlich als das Plädoyer für einen die Kinder- und Jugendliteratur umfassenden ‚Kanon‘ gelesen werden – und stellt die Liebe als ein gleichermaßen ubiquitäres wie ‚klassisches‘ Thema literarischer Produktion und Reflexion heraus. IRENE BANDHAUER-SCHÖFFMANN rundet den Sammelband mit ihrer aus sozialhistorischer Perspektive geschärften Bewertung der Mühl-Kommune als einem in der Tendenz kriminellen, sexuellökonomischen Gemeinschaftsexperiment der 1970er und 1980er Jahre ab. Der Abschluss dieses Bandes war ursprünglich dem Beitrag unserer Mitherausgeberin und Initiatorin der Tagung vorbehalten. Am 14. November 2020 hielt GERDA E. MOSER ihren Vortrag „Zum Liebeskonzept populärer New-AdultRomane“ – mit dem prägnanten und ihrem Naturell entsprechenden Zusatz: „Im Haushalt der Gefühle“. Zur Fertigstellung ihres Manuskripts blieb keine Zeit, Gerda verstarb im April 2021 nach kurzer und schwerer Krankheit. Sie fehlt. Ihr ist dieses Buch gewidmet.
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Vorwort
Um den Sammelband nicht ohne ihre Stimme zu beschließen, haben wir eine ihrer vielseitigen Studien zu Gender und Populärliteratur an dieser Stelle nachgedruckt: den Aufsatz „Unheimliches Familienglück. Zur Persistenz traditioneller Gesellschafts- und Geschlechterordnungen in der Bestseller-Trilogie Fifty Shades of Grey“, herausgegeben von Hajnalka Nagy und Nicola Mitterer in ihrem Tagungsband Zwischen den Worten. Hinter der Welt. Wissenschaftliche und didaktische Annäherungen an das Unheimliche (2015). Für die Bereitstellung des Nachdrucks danken wir dem StudienVerlag und unseren Kolleginnen ganz herzlich. Großer Dank gebührt auch dem Forschungsrat der Universität Klagenfurt für die Bewilligung eines großzügigen Druckkostenzuschusses sowie der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Klagenfurt, ohne deren Unterstützung dieser Sammelband nicht zu realisieren gewesen wäre. Die genderbezogenen Schreibungen in diesem Band variieren und liegen in der Verantwortung der jeweiligen BeiträgerInnen. Paul Keckeis und Viktoria Take-Walter, im Frühling 2022
Inhalt Vorwort
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Liebe in Zeiten vormoderner Ökonomie Sabine Seelbach Munus amoris: Beobachtungen zur Liebesgabe im Parzival Wolframs von Eschenbach 3 Nina Scheibel Überlieferungsvarianz als Kalkül? Überlegungen zur Ökonomisierung der Liebe im Minnesang 17 Verena Ebermeier minne und kraeme – Pulsationsdynamiken als Daseinsprinzip in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg 31 Angelika Kemper Ökonomische Liebeshändel: Zweisamkeit und Geld in Ruprechts von Würzburg Die zwei Kaufleute 49
Zwischen Idealismus und Realismus Viktoria Take-Walter Zur Korrumpierbarkeit der Liebe in Schillers Verschwörung des Fiesko zu Genua 69 Dagmar Wahl „Nun mußt du dich allmählich zur Ökonomie bilden“. Friedrich Schlegels Lucinde (1799) – Ein Vorschlag zur Neu-Fundierung der Ehe 87 Corinna Sauter Des Leb/sens Überfluss (Ludwig Tieck)
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Inhalt
Beherrschung und Transgression: Liebe in der bürgerlichen Ordnung Primus-Heinz Kucher Die Disziplinierung der Leidenschaft im Konzept des bürgerlichen Liebes- und Familienideals: eine variable Konstante in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts 135 Florian Krobb Transaktionale Geschlechterbeziehungen bei Fontane: Cécile und Der Stechlin 151 Ingo Meyer Liebe und Ökonomie im deutschen und französischen Realismus. Abschied von der Romantik? 171 Paul Keckeis Heine, Kraus, Adorno – Liebe und Ökonomie im lyrischen Tausch
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Zwischen den Kriegen – Zwischen den Systemen Barbara Neymeyr Eros als Machtinstrument: Zur Verflechtung von Liebe und Ökonomie in Schnitzlers Erzählung Spiel im Morgengrauen 231 Zbigniew Feliszewski Liebe und Sexualität in Bertolt Brechts frühen Stücken
257
Johannes D. Kaminski Zur Kritik der libidinösen Ökonomie: Liebe und Klassenkampf in der Literatur der chinesischen Moderne 271 Artur R. Boelderl Aufhebungen der Ökonomie: Liebe und Krieg in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften 287
Inhalt
Liebe als Provokation: Prä/Post 68 Anna Estermann Affektivität und Geschlecht: Zur Rezeption der frühen Lyrik von Ingeborg Bachmann und Paul Celan 305 Bernhard Josef Winkler Erotischer Widerstand: Liebe und Ökonomie in Botho Strauß’ Paare, Passanten 335 Philippe Roepstorff-Robiano Der Homo oeconomicus als Lustmörder. Liebe und Ökonomie in Elfriede Jelineks Gier 353
Ubiquität vs. Exzess: Liebe abseits der Norm Arno Rußegger Kinder- und jugendliterarische Motive der Liebe im Zeichen ihrer ökonomischen Rahmenbedingungen am Beispiel von Christine Nöstlinger, Jenny Valentine, Mats Wahl, Kevin Brooks 369 Irene Bandhauer-Schöffmann Sexuell-ökonomische und therapeutisch-künstlerische Gemeinschaften in der Mühl-Kommune 383 Gerda E. Moser Unheimliches Familienglück: Zur Persistenz traditioneller Gesellschaftsund Geschlechterordnungen in der Bestseller Trilogie Fifty Shades of Grey 397 Autorinnen und Autoren
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Liebe in Zeiten vormoderner Ökonomie
Sabine Seelbach
Munus amoris: Beobachtungen zur Liebesgabe im Parzival Wolframs von Eschenbach Nicht erst die Moderne bringt jene Grunderfahrung menschlicher Handlungsplanung hervor, die in ihrer Ergebnisoffenheit besteht. Ebenso alt wie diese Grunderfahrung sind ihre Kompensationsformen, jeweils historisch spezifische Kulturtechniken, die sozialer Interaktion ein Stück weit Berechenbarkeit verleihen sollten. Für das durchaus ungewisse soziale Milieu des Mittelalters, in dem unkontrollierbare Gewalt latent allgegenwärtig war, staatliche Machtausübung dagegen eine geringe Reichweite hatte, besaßen bindende Rituale als Formen der konstruktiven Vertrauenssicherung eine elementare Bedeutung. Erst jüngst sind in der Mediävistik die Formen der imaginären Nachbildung sozialer Ordnungsprozesse in der höfischen Literatur, voran Interaktionsformen der Begründung und Befestigung von Beziehungen, wieder stärker in den Blick gerückt. Sie finden sich bekanntlich besonders häufig im Bereich des Grüßens, des Bittens und Dankens, des Miteinander Sprechens – kurz: des reziproken Erweisens von Aufmerksamkeit und Wertschätzung, die wir heute noch als Domänen von „Höflichkeit“ ansehen. Zum semantischen Bezirk der Gabe gehörig, stellen sie protojuristische, also nicht justiziable Binderituale dar, die die vormoderne Gesellschaft unterscheiden, zusammenhalten und verlässlicher machen sollten. Gerade für jenen Sinnbezirk der Gabe hat das Mittelalter Spielregeln von beträchtlichem Reflexionsniveau hervorgebracht. Im Wälschen Gast Thomasins von Zerklaere, der maßgeblichen Autorität des deutschen Hochmittelalters, findet sich folgende aufschlussreiche Distinktion: man sol gâhen niht ze sêre ze gelten daz man hât genomen, wan sô ist man ûz der schulde komen. swer zehant giltet zaller vrist wizzt daz er ungerne schuldec ist. swer nimt und zehant wider gît, der waenet koufen zuo der zît.
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Sabine Seelbach
swer gît und nimt alsô drât, wizzet daz der verkoufet hât. (V. 14542–14550)1
Gegenüber altadligen Praktiken, denen in ihrem Hang zur Überbietung ein zwanghaftes, ja, agonales Moment anhaftete,2 tritt die neue Qualität darin hervor, dass die höfische Gabe gratifikatorisch zu sein hatte, also freiwillige Ehrengabe im Kontext der Anerkennung und Wertschätzung sein sollte: Weder darf sie von der Erwartung einer Gegengabe oder verpflichtender Dankbarkeit geleitet sein, noch darf sie aus bloßer Verpflichtung für ein vorausgehendes Verhalten gegeben werden. […] Sie erzeugt einen Hiatus zwischen sich und einer Gegengabe und setzt sich selbst autonom.3
Schon früher, etwa seit der Mitte des 12. Jahrhunderts kann beobachtet werden, dass auch die Liebe in diesen Zusammenhang einer Ökonomie der gratifikatorischen Gabe einrückt. Somit dem Modell der Reflexivität höfischen Verhaltens aufsitzend, beginnt die Leidenschaft sich nach und nach dahinter zu verflüchtigen. Obwohl Liebe sich nicht eignet, vollständig in einem Diskurs „reiner“ Wertschätzung aufgelöst zu werden, führt höfische Literatur dies ein Stück weit vor.4 Zit. nach der Ausgabe Thomasin von Zirclaria: Der Wälsche Gast. Hg. v. Heinrich Rückert. Quedlinburg und Leipzig 1852. „Man soll sich darin nicht zu sehr übereilen, dasjenige zu vergelten, was man genommen hat, denn so hat man sich der Schuldigkeit entledigt. Wisset: Wer immer sofort vergilt, ist niemandem gern etwas schuldig. Wer immer nimmt und sofort vergilt, der denkt in Kategorien des Tauschs. Wer immer gibt und genauso schnell nimmt, wisset: Der hat einen Verkauf getätigt.“ [Die Übersetzungen stammen, wenn nicht anders angegeben, von der Verfasserin.] Zu Gabenkampf und Konkurrenzsituation vor allem unter Stammesfürsten vgl. grundlegend Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1999, S. 24, 46, 56–57, 87–90. Harald Haferland: Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200. München 1988 (Forschung zur Geschichte der älteren deutschen Literatur. Bd. 10), S. 179. Frappierende Ähnlichkeiten zeigen sich hier zur modernen Theoriebildung: Auch Pierre Bourdieu spricht vom (zeitlichen) Intervall, „das den Gabentausch vom do ut des unterscheidet“, indem es „den Gebenden seine Gabe als Gabe ohne Gegengabe erleben“ lässt „und den die Gabe Erwidernden seine Gabe als unbedingt und von der ersten Gabe unabhängig.“ Ders.: Die Ökonomie der symbolischen Güter. In: Frank Adloff, Steffen Mau (Hg.): Vom Geben und Nehmen. Zur Soziologie der Reziprozität. Frankfurt a. M. 2005, S. 139–155, hier S. 140. Gleichwohl macht Bourdieu bewusst, dass die latente strukturelle Wahrheit des Tauschs durch diesen zeitlichen Hiatus eine Art sozialisationsgegründeter kollektiver Verdrängung erfährt – die aber wiederum eine Realität zweiter Ordnung entstehen lässt. Er wendet sich mit dieser Argumentation gegen Derridas bewusstseinslogische Reduktion des Problems auf ein Paradox, das eine Gabe als solche verunmögliche. Vgl. Jaques Derrida: Zeit geben. München 1993, S. 19–28. Vgl. Haferland, Höfische Interaktion, S. 179.
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Zur Illustration sei eine vielzitierte Pointe angeführt, die sich in einem Lied Albrechts von Johannsdorf findet: ‚Sol mich dan mîn singen und mîn dienst gegen iu niht vervân?‘ ‚iu sol wol gelingen âne lôn sô sult ir niht bestân.‘ ‚Wie meinet ir daz, vrowe guot?‘ ‚daz ir dest werder sint unde dâ bî hôchgemuot.‘ (MF 94,9)5
Der Ritter erbittet den Lohn für sein Werben, das hier in den Begriff des Minnedienstes gekleidet wird und offenbar in einem Kontext des Tauschs und der verpflichtenden Gegengabe gedacht wird. Die Dame münzt die Situation gekonnt um: Sein Dienst ließe ihn ehrenwerter, wertvoller werden, woraus er Freude (hochgemuot) schöpfen könne. Sein Lohn befinde sich demnach im Bereich der symbolischen Güter. Die Dame verwandelt die (metaphorisch) in Form eines gebundenen Austauschs (Dienst – Lohn) vorgebrachte Werbung in einen freien Austausch zurück, sie interpretiert den Dienst als Geste der Ehrerbietung und als eine Ehrung, die sich reflexiv als Selbstehrung des Werbers darstellen wird; er ehrt sich also selbst.6
Werben wird durch diese Umkodierung quasi zu einer Umgangsform.7 Die Inszenierung von Minne und Minnewerbung als gratifikatorischer Dialog ist eine wesentliche und besonders intensive Form, in der die laikale Literatur des Hochmittelalters an der Idee der reinen Gabe gearbeitet hat. Ein paradigmatisches Beispiel hierfür ist der Parzival Wolframs von Eschenbach. Nur wenige Szenen können im Rahmen dieses Beitrags angeführt werden.
„‚Soll mir denn mein Gesang und mein Werben bei Euch gar nichts nützen?‘ – ‚Ihr werdet schon Erfolg haben, ohne Lohn werdet Ihr nicht bleiben.‘ – ‚Wie meint Ihr das, edle Dame?‘ ‒ ‚Dass Ihr dadurch an Ansehen gewinnt und an Hochgestimmtheit.‘“. Harald Haferland: Gabentausch, Grußwechsel und die Genese von Verpflichtung. Zur Zirkulation von Anerkennung in der höfischen Literatur. In: Martin Baisch (Hg.): Anerkennung und die Möglichkeiten der Gabe. Literaturwissenschaftliche Beiträge. Frankfurt a. M. u. a. 2017 (Hamburger Beiträge zur Germanistik. Bd. 58), S. 67–120, hier S. 116. Dass der Tauschcharakter der Gabe freilich nie völlig aufgehoben werden kann, also als verdeckter latent vorhanden bleibt, höfische milte somit immer einen paradoxalen Charakter behält, hat zuletzt Katharina Philippowski gezeigt: diu gâb mir tugende gît. Das gabentheoretische Dilemma von milte und lôn im hohen Minnesang, im Frauendienst und im Tagelied. In: DVjs 85 (2011), S. 455–488. Dort auch einschlägige neuere Literatur. Vgl. Haferland, Gabentausch, S. 117.
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Sabine Seelbach
1 Grenzen der gratifikatorischen Gabe: Gahmuret Im realen Leben ist der Vater Parzivals ein Zweitgeborener, also durch Primogenitur-Recht Enterbter, der durch Verausgabung seines Körpers (genannt rîterlîche arebeit) selbständig eine Existenz aufzubauen hätte. In diese Verlegenheit kommt er jedoch nicht, da die überaus reiche Ausstattung, die ihm der erbende Bruder gewährt, nachgerade das Erscheinungsbild eines reisenden königlichen Hofstaats verleiht. Diese ökonomische Unabhängigkeit ist unausgesprochene Voraussetzung dafür, dass sich Gahmuret von vornherein auf die Akkumulation symbolischen Kapitals konzentrieren kann. Die Steigerung seines Selbst ist sein solt (14,10). Und er greift hoch hinaus. Dem höchsten Anspruch, den er mit seinem Ritterdienst erhebt, kann nur die allergrößte Macht auf Erden adäquat sein – und das ist bemerkenswerterweise der Baruc, der Kalif von Bagdad: des messenîe er wolde sîn (13,12).8 Der Reichtum des Baruc findet dabei keine Erwähnung. Die Attraktivität des Fürsten besteht vielmehr in der superlativen Anerkennung, die er genießt. Es ist sein ambet (13,25), das ihn ausmacht und im heidnischen Bereich dem Pabst gleichstellt (13,26˗14,2). Der Luxus, der darin besteht, dass Gahmuret sich dem freiwillig und ohne Not aussetzt, sowie jener ihm eigene habitus, das Gegebene wie das Empfangene als frei und nicht verpflichtend zu interpretieren,9 – kurz: sein ideales höfisches Wesen ist es, das ihm letztlich zum Verhängnis werden wird. Denn es
Zitiert wird nach der Ausgabe Wolfram von Eschenbach: Parzival. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Einführung zum Text von Bernd Schirok. Berlin/New York 1999. Auch den Empfang der familiären Güter zu seiner Ausstattung nimmt er nicht als ökonomische Transaktion wahr. Folglich hat dieser Vorgang für ihn keinerlei Zug von Verpflichtung, so wie auch ihm selbst aus dem Empfang keine Verpflichtung erwächst. Diese Grundhaltung zur Gabe führt der Erzähler auf das höfische Wesen Gahmurets zurück: durch sîne zuht er nie gewuoc / daz siz taeten umbe reht. (12,24 f.). Dasselbe gilt für das Geltendmachen des eigenen Werts. Gahmurets Haltung zu den eigenen Verdiensten, also zu dem, was er selbst zu geben imstande war, entspricht ebenfalls höchstem höfischen Maß: sîn muot was ebener denne sleht. (12,26). Selbstlob wäre dem Einfordern von Gegenleistung gleichzusetzen und wird vom Erzähler entsprechend geächtet: swer selbe sagt, wie wert er sî, / da ist lîhte ein ungeloube bî:/ es solten die unbesaezen jehen, / und ouch die hêten gesehen / sîniu werc dâ er fremde waere: / sô geloupte man daz maere. (12,27–13,2). Zur Gabenlogik des Selbstlobs vgl. zuletzt Philippowski, S. 460 f. Gleichwohl bleibt Gahmuret ein feines Gespür für das rechte Maß eigen, der ihn Überschreitungen des Ziemlichen in den ihm dargebrachten – vor allem anökonomischen – Gaben wahrnehmen und kommunizieren lässt: ‚ob ich iuch solde lêren, / sô waer hînt sân an iuch gegert / eins phlegens, des ich waere wert, / sone waert ir niht herab geritn. / Sô lât mich in der mâze leben. / ir habt mir êr ze vil gegebn.‘ (33,24–30; zu Belakane beim Empfang in Patelamunt). Dass ökonomische Güter für ihn in erster Linie eine Währung sind, deren Einsatz ordnungsstiftende Funktion
Munus amoris: Beobachtungen zur Liebesgabe
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kann letztlich den Interaktionen in der realen Welt ihren Tauschcharakter nicht nehmen, da die Semantik der Freiheit nicht von allen geteilt wird. Der Konflikt bricht auf im Bereich der Minne, die lediglich im symbolischen Raum der Freiheit quasi eine erneuerbare Energie ist. Hier, im Aktionsraum reiner Anerkennung und Gratifikation, kann sich Gahmuret, um der Idee des Höfischen willen, stets neu als höfische Person erweisen. Einmal eigentlich genommen, also zurückgeführt auf entstandene soziale, persönliche Bindungen, ist Minne jedoch nicht mehr teilbar, sondern wird ausschließlich. Gahmuret sieht sich vor Kanvoleis mit einander ausschließenden Verpflichtungen konfrontiert.10 Die Situation: Gahmuret beschließt, an einem Turnier teilzunehmen, das die Königin Herzeloyde von Waleis vor ihrer Burg Kanvoleis ausgerichtet hat. Alles, was Rang und Namen hat, ist angetreten – Grund genug für Gahmuret, erneut um höchstes Prestige zu streiten. Turnierpreise sind ihm – wie stets – nicht wichtig und werden von ihm nicht einmal zur Kenntnis genommen. Aber er tritt damit in einen realen Raum ein, in dem andere Gesetze herrschen als die der symbolischen Formen. Die Lage kompliziert sich eigentlich erst durch das Erscheinen von Ampflise, der Königin von Frankreich, der Gahmuret seine höfische Erziehung und einige materielle Unterstützung verdankt. Dankbarkeit und Hochachtung verbinden Gahmuret mit ihr.11 Allerdings waren sie, wie er sagt, damals noch sehr jung. Nun aber verlangt Königin Ampflise, die Hochachtung mit Liebe verwechselt, Gahmuret solle „nehmen“, was sein Minnedienst (sein munus amoris) „erworben“ hat.12 Der Ring, den er ihr einst schenkte, ist dabei das beweisende materi-
anzunehmen hat, zeigt sich u. a. in dem potlatschähnlichen Friedensschluss, der ihm vor Patelamunt gelingt (53,4–54,6). Sabine Seelbach: L’esprit du don. Vom Geben und Nehmen im ‚Parzival‘. In: Aktuelle Tendenzen der Artusforschung. Hg. v. Brigitte Burrichter et al. Berlin/Boston 2013, S. 333–346, hier S. 335–336. ‚ja, diu ist mîn wâriu frouwe./ ich brâht in Anschouwe/ ir rât und mîner zühte site:/ mir wont noch hiute ir helfe mite,/ dâ von daz mich mîn frouwe zôch, die wîbes missewende flôch./ wir wâren kinder beidiu dô.‘ [Pz. 94,21–27: „‚Ja, sie ist meine wahre Herrin. Ich habe mir in Anjou durch ihre Beratung die Grundlagen meiner Erziehung angeeignet: daher ist ihre Unterstützung noch heute ein Teil von mir, da meine Herrin mich erzogen hat, die nie vom Tugendpfad der Weiblichkeit abwich. Wir waren damals beide noch sehr jung.‘“]. ‚Kum wider, und nim von mîner hant/ krône, zepter unde ein lant/ […] daz hât dîn minne erworben/ hab dir ouch ze soldiment/ dise rîchen prîsent/ in den vier soumschrîn.‘ [77,1–7: „‚Kehre zurück und nimm von meiner Hand Krone, Zepter und ein Reich. […] Das hat deine Minne erworben. Als Entlohnung sollst du auch die reichen Geschenke aus diesen vier Saumtaschen haben.‘“].
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elle Zeichen ihres Anspruchs.13 Ihre Gegengabe hat das explizite Ziel der Erneuerung seiner Gabe. Der Hiatus zwischen beiden Handlungen, der die Interaktion im Bereich der Freiheit belassen würde, wird hier aufgehoben. Es entsteht Verpflichtung zur Schließung der reziproken Sequenz. Ihr Wunsch nach Erneuerung seiner Gabe soll im offensichtlichen Konflikt widerstreitender Pflichten eine bestimmte soziale Beziehung, nämlich die ihre zu Gahmuret, konsolidieren und gegenüber anderen favorisieren. Dafür wirft Ampflise auch die eigene Person im Wortsinne in die Waagschale: ‚ine ruoche obez diu küngin siht: ez mac mir vil geschaden niht. ich bin schoener unde rîcher unde kann och minneclîcher minne enphân und minne gebn. wiltu nâch werder minne lebn, sô hab dir mîne krône nâch minne ze lône.‘ (77,11–18)14
Der Minnedienst, den Gahmuret Ampflise im Rahmen höfischer Tugendübung erwies, wie auch die Gaben, die er von ihr empfing, werden von ihm als Umgangsform verstanden,15 von der Dame aber auf der Ebene des Austauschs von Leistungen interpretiert. Die Initialgabe, die Gahmuret mit seinem Minnedienst leistete, beraubt ihn nunmehr in den Augen Ampflises seiner Freiheit: ir minne hât an im gewer. [87,14; „Ihre Liebe hat eine Garantie in der seinen.“]. Ihre Selbstevaluierung bricht zudem das „Tabu der expliziten Formulierung“,16
Der Kaplan als Bote überbringt Gahmuret die Nachricht: einen brief gaber im in die hant, / dar an der hêrre grüezen vant, / unde ein cleine vingerlîn: / daz solt ein wârgeleite sîn, / wan daz enphienc sîn frouwe / von dem von Anschouwe. (76,15–20). „‚Es interessiert mich nicht, ob die Königin dies bemerkt. Ich bin schöner und mächtiger und verstehe es auch besser, Minne zu empfangen und Minne zu geben. Wenn du nach edler Minne strebst, so nimm meine Krone als Lohn für deine Minne.‘“. als uns diu âventiure saget, / dô het der helt unverzaget / enphangen durch liebe kraft / unt durch wîplich geselleschaft / kleinoetes tûsent marke wert. / swâ noch ein jude pfandes gert, / er möhtz derfür enphâhen: / ez endorft im niht versmâhen. / daz sande im ein sîn friundin. / an sînem dienste lac gewin, / der wîbe minne und ir gruoz: / doch wart im selten kumbers buoz. (12,3–14) Die Ambivalenz der Interaktion, ihre Lesbarkeit sowohl im Sinnbezirk distanziert bleibender Minne (Verausgabung aus Liebe) als auch im Sinnbezirk materiell messbarer Äquivalenz (Benennung eines Werts mit dezidiert kaufmännischem Bezug) wird durch den Erzähler im Text angelegt. Es ist eine Ambivalenz in der Sache selbst. Die daraus erwachsenden kommunikativen Verwirrungen stellen ein Leitmotiv des Werkes dar. Bourdieu, S. 141.
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missachtet das Selbstlobverbot und fällt mit der Benennung von Wert und Preis in den Bereich des kouf.17 Gahmuret selbst dagegen scheint die eigenen Gaben, seine Verdienste um Ampflise „vergessen“ zu haben – nach Thomasin ein wesentliches Kriterium wahrhaft höfischen Gebens.18 Herzeloyde fordert Gahmurets Minne auf andere Weise. Sie verlangt von ihm die Annahme des Turnierpreises, nämlich ihrer selbst und ihres Landes. Dies wird in Form eines Rechtsanspruchs geltend gemacht: swaz mînes rehtes an iu sî, / dâ sult ir mich lâzen bî: / dar zuo mîn dienst genâden gert. [87,1–3; „Was immer meinem Recht auf Euch entspricht, das sollt Ihr mir gewähren. Darüber hinaus kann meine Zuwendung eine huldvolle Antwort erwarten.“] Seine Leistung ziehe die Verpflichtung nach sich, den ausgesetzten Lohn auch zu empfangen. Eine interesselose Verausgabung wird im Rahmen ihrer Argumentation nicht zugelassen. Was hier wie eine paradoxe Verkehrung des Dienst-Lohn-Verhältnisses anmutet, ist im Grunde nur die letzte Konsequenz, die das Denken in Kategorien des Tauschs nach sich zieht. Die Gabe verpflichtet darin auch den Gebenden. Die entstehende Verwirrung der Tauschbeziehungen trifft den höfischen Gahmuret unvorbereitet. Er sieht sich in einer Art gesteigertem Dilemma zwischen drei gleichermaßen konsensfähigen Werten: der Loyalität gegenüber Ampflise, der er Achtung und Dankbarkeit entgegenbringt, der Verpflichtung gegenüber Herzeloyde, die er mit der Turnierteilnahme einging, und – drittens – seiner Liebe, der wirklichen personalen Liebe, die nur Belakane gehört,19 jener afrikanischen Königin, mit der er die vriedel-Ehe einging, eine nicht institutionelle Eheform auf Basis der persönlichen Zuneigung allein. Diese ist in der anschließenden Auseinandersetzung bemerkenswerterweise gar kein Argument. Die Validität der Argumente ist dann nur noch gerichtlich feststellbar.20 Die deszendierende Linie verläuft also von der (reinen) Gabe über die reziproke Verpflichtung hin zum zwingenden Recht. Vor diesem Hintergrund hat die
„Das Verbot der Selbstrühmung ist gabentheoretisch plausibel, denn das Selbstlob ruft mit dem Lob und der Anerkennung durch Dritte, die es zum Ziel hat, genau jene Belohnung der Gabe hervor, auf die der wirklich milte man durch seine Gabe ja Verzicht leisten soll.“ (Philippowski, S. 461). Swenn ein man gegeben hât, / sô sol er danne alsô drât / vergezzen daz er hât gegeben. [Thomasin, Wälscher Gast, V. 14467–69; „Wenn immer man gegeben hat, soll man ebenso schnell vergessen, dass man gegeben hat.“] Vergessen also im Dienste der Interesselosigkeit. Dies scheint Gahmurets zweite Natur zu sein. Vgl. Seelbach, L’esprit du don, S. 338. dô sprach er ‚frouwe, ich hân ein wîp: / diu ist mir lieber danne der lîp.‘ [94,5 f.: „Da sprach er: ‚Herrin, ich habe eine Frau, die mir lieber ist als das eigene Leben.‘“. Dass das eigentliche Turnier gar nicht stattgefunden hat, wird dabei zur Nebensache. Interessanterweise wird ein gesinnungsethisch fundiertes Urteil gefällt: Der Wille zur Turnierteilnahme entscheidet zugunsten von Herzeloyde.
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Entscheidung Gahmurets, am Turnier teilzunehmen, das stärkste Gewicht und er muss sich den Turnierbedingungen beugen. Die auf diese Weise geschlossene institutionelle Verbindung zwischen Gahmuret und Herzeloyde kann konsequenterweise auch nur noch die Form eines Ehevertrages annehmen.21 Seine Fähigkeit, interesselos zu geben und zu nehmen, wird ihm letztlich zum Verhängnis. Sein Agieren im Bereich der symbolischen Formen führt zur Verwirrung im Bereich realer Ordnungsbeziehungen. Der Ordo schlägt zurück.22
2 Obie und Obilot Diese Szene steht im Kontext jener gattungstypischen Episoden, in denen Artushelden sich auf âventiure befinden, um ihre Ehre wieder herzustellen. Gawan befindet sich auf einem solchen Weg und sieht sich unterwegs unvermittelt mit dem Kriegszustand einer Region konfrontiert, dem er sich nicht ohne Ehrverlust entziehen kann. Was war geschehen? Als Ursache der Krise vor der Burg Bearosche erweist sich – einmal mehr – eine missglückte Interaktion im Bereich der Minne. König Meljanz von Liz und Obie, die Tochter Lippauts, des Fürsten von Bearosche und Lehensmannes von Meljanz, waren zusammen aufgewachsen und hatten eine gemeinsame Erziehung im Sinne höfischer Persönlichkeitsbildung genossen. Beide sind einander zugetan, der Erzähler lässt jedenfalls keinen Zweifel daran, dass es sich um zwei Liebende handelt. Nun, im heiratsfähigen Alter, kommt es zum Zerwürfnis. Meljanz lässt nämlich in seiner ungestümen Art den Freiheitsgrundsatz außer Acht, der dem höfischen Minneverhältnis innewohnen soll, und setzt Obie mit einer Lohnbitte unter Druck: Eins tages gedêch ez an die stat, / daz si der junge künec bat / nâch sîme dienste minne. [345,26–29: ‚frouwe, sol ich mit iu genesen, / sô lât mich âne huote wesen. / wan verlât mich immer jâmers craft, / sô taet ich gerne rîterschaft. / lât ir niht turnieren mich, / sô kan ich noch den alten slich, / als dô ich mînem wîbe entran, / die ich ouch mit rîterschaft gewan. […] ich wil frumen noch vil der sper enzwei: / aller mânedlîch ein turnei, / des sult ir frouwe ruochen, / daz ich den müeze suochen.‘ / diz lobte si, wart mir gesagt: / er enphienc diu lant unt och die magt. [96,25–97, 12: „‚Herrin, wenn ich bei Euch glücklich sein soll, so lasst mich aus Eurer Aufsicht, denn wenn mich der Kummer je verließe, so würde ich gern auf Ritterschaft ausziehen. Wenn Ihr mich nicht an Turnieren teilnehmen lasst, so besinne ich mich auf meine alten Fähigkeiten, mit denen ich schon meiner Frau entfloh, die ich ja auch mit ritterlichen Taten gewonnen hatte […] ich will noch viele Lanzen zerstechen, jeden Monat ein Turnier zu besuchen, das sollt Ihr mir, Herrin gewähren.‘ Dies gelobte sie, wie mir gesagt wurde. Da empfing er beides, das Land und die Jungfrau.“]. Vgl. Seelbach, L’esprit du don, S. 339.
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„Eines Tages kam es dazu, dass sie der junge König um den Lohn für seinen Minnedienst bat.“]. Die Beziehung kommt schon dadurch in eine Schieflage. Erst eigentlich beschädigt wird sie aber durch die Antwort Obîes: ‚si vervluochte im sine sinne, […] si sprach hin ze im ‘waert ir sô alt, daz under schilde waere bezalt in werdeclîchen stunden, mit helm ûf houbt gebunden gein herteclîchen vâren, iuwer tage in vünf jâren […] alze vruo ich iuch gewerte.‘ (345,30–346,14)23
Schließlich hält sie Meljanz noch den Liebestod von Annore und Galoes als Maß der Dinge in Minneangelegenheiten vor Augen.24 Nicht nur hier zeigt sich Obie als Meisterin der Wechselkurse, die mit ihrem Tunnelblick auf das Messund Berechenbare der Eröffnung von Räumen der Freiwilligkeit keine Chance lässt. In ihrer Schätzung Gawans (seine Güter schickten leicht sieben Ritter in die Schlacht)25 spiegelt sich jene Neigung zum Tauschhandel, die auch ihre Beziehung zu Meljanz prägt: Ihre Minne hat einen Preis und sie nennt ihn explizit: ein ehrenvoller Tod oder doch zumindest fünf weitere Jahre des Minnediensts. Auch Obie bricht damit das Tabu, das Voraussetzung des symbolischen Gabentauschs ist. Das Anlegen eines Maßes ‒ als Kategorie des Messbaren überhaupt ‒ beschädigt die höfische Minne. Der beiderseitige Bruch höfischer Prinzipien gratifikatorischer Interaktion, der Freiheit und des Maßes, lässt ihre Minnebeziehung aus den entmaterialisierten Sphären der symbolischen Formen in das Reich ökonomischer Austauschbeziehungen zurückfallen. Meljanz pocht auf seine Machtposition als Lehnsherr ihres Vaters26 – Obie kontert mit ihrer
[„Sie erklärte ihn für wahnsinnig. […] Sie sprach zu ihm: ‚Selbst wenn Ihr so alt wäret, dass unter Waffen bezahlt wären in ehrenvoller Zeit mit aufgebundenem Helm in entbehrungsreichen Kriegszügen fünf Jahre Eurer Lebenszeit […], dann würde ich Euch noch zu früh erhören.‘“]. ‚ir sît mir liep (wer lougent des?) / als Annôren Gâlôes, / diu sît den tôt durch in erkôs, / dôsin von einer tjost verlôs.‘ [346,15‒18; „‚Ihr seid mir lieb (wer sollte das leugnen?) wie Galoes der Annore, die seinetwegen den Tod wählte, nachdem sie ihn in einem Lanzenkampf verloren hatte.‘“]. ‚des habe ist rîche unde guot: / […] ez frumt wol siben ûfez velt.‘ [362,25–30; „‚seine Habe ist reichhaltig und edel […] sie schickt wohl sieben Ritter in die Schlacht.‘“]. ‚Ich möht doch des genozzen hân, / daz iwer vater ist mîn man, / unt daz er hât von mîner hant / manege burge unde lant.‘ [346, 27‒30; „‚Mir steht wohl ein Vorteil dafür zu, dass Euer Vater mein Lehensmann ist und dass er von meiner Hand viele Burgen und Land hat.‘“].
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Adelswertigkeit, die sie einer jeden Krone würdig mache.27 Er sieht sich in der realen Herrscherrolle, sie sich als feudales Heiratsobjekt. Die Folge ist Krieg. Die Komposition der Handlungssequenzen nicht nur in der BearoscheEpisode zeigt Wolfram als Architekten des Gleichgewichts. Nichts kann ungebremst in die Katastrophe münden. Wolframs Modell der Konfliktbewältigung ist vielmehr hantelförmig. Der edle Fürst Lippaut hat nämlich noch eine andere Tochter, die achtjährige Obilot. Anders als ihre ältere Schwester hat sie Gawan, den inkognito vor Bearosche erschienenen Fremden, nicht von der Seite des Reichtums her wahrgenommen, den der Fremde repräsentiert. Obilot nimmt Gawan vielmehr von Anfang an von seiner durchscheinenden höfischen Seite her wahr und schlägt sogar den demonstrierten Reichtum an äußeren Gütern dem anökonomischen Bereich des Adelsprestiges zu.28 Um den Entwurf einer kindlichen Minnedame in Gestalt Obilots entspann sich in der Forschung ein jahrzehntelanger Streit. Harald Haferland war es, der die höfische Minne konsequent als Fortsetzung höfischer Interaktion auf einer reinen Symbolebene auffasst: Höfische Interaktion hat eine Eigendynamik, und so kann es sein, dass die Leidenschaft dahinter verschwindet. Es ist ehrenvoll, den Dienst der Männer zu empfangen. Und es ist ein vornehmer Brauch. Es ist ehrenvoll, sich zu verpflichten. Denn man zeigt sich zu höfischem Verhalten fähig.29
Dennoch verbleibt er auf der Ebene einer liebenswerten Mimikri-Leistung eines kleinen Mädchens. Meines Erachtens sollte die Interpretation jedoch genau im Sinne jener beschriebenen Sublimierungstendenz höfischer Minne zugespitzt werden, derzufolge diese auch von den letzten Rudimenten des Materiellen befreit und bis zur reinen Idee geläutert wird. Eine Kindfrau kann eine solche Idee vollendet verkörpern. Die Nachahmung Obilots hat eine Umgangsform im Blick, kein partikuläres, gar erotisches Interesse. Und nicht die Kenntnis der Person, erst recht keine vorangegangenen Tausch-Interaktionen, sondern allein
‚mîn vrîheit ist sô getân, / ieslîcher crône hôch genuoc, die irdisch houbet ie getruoc.‘ [347,4–7; „‚meine Adelsfreiheit ist einer jeden Krone angemessen, die ein irdisches Haupt jemals getragen hat.‘“]. ‚er ist sô minneclîch getân, / ich wil in zeime ritter hân. / sîn dienst mac hie lônes gern: / des wil ich in durch liebe wern.‘ [352,23–26: „‚Er sieht so liebenswürdig [der Liebe würdig] aus – ich will, dass er mein Ritter wird. Sein Dienst kann hier Lohn erwarten. Den will ich ihm um der Liebe willen gewähren.‘“]. Obilot nimmt unmittelbar jene ‚feinen Unterschiede‘ wahr, die den Gewinn an höfischer Distinktion Gawans ausmachen, und folgt damit der höfischen Lesart der Person, wie vor ihr schon die Herzogin (352,17; 353,14–15) und nach ihr auch der Burggraf (361,22–362,5) und der Herzog selbst (364, 25–30). Haferland, Höfische Interaktion, S. 185.
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die Prestigevermutung (er ist sô minneclîch getân) löst den Impuls zur Gabe aus: die Zuschreibung der Würde, der Fürstentochter als Minneritter dienen zu dürfen, also in den Zirkel der Distinguiertesten erhoben zu werden. Gegeben wird also Anerkennung. Selbst das Minnelohnversprechen bewegt sich durch den expliziten Bezug (durch liebe = um der Liebe willen – Dienst an einem Prinzip) im Bereich der symbolischen Formen höfischer Reziprozität. Es handelt sich um die schon bei Albrecht von Johannsdorf beobachtete „Umkodierung der […] Tauschentität“.30 Die Umkodierung kommt freilich nur zustande, wenn die Partner voneinander wissen, wie sie mit den Gegenständen und Medien des gratifikatorischen Austauschs verfahren. Hyperzyklen [der Anerkennung] werden immer nur über einem impliziten Verständigtsein ausgebildet, das auch die jeweiligen Intentionen einbezieht.31 Zu einem solchen Verständigtsein muss sich nun noch eines vollziehen: nämlich die entsprechende Metamorphose Gawans. So wie Meljanz von Obie als unwürdiger Gabenempfänger befunden wurde, so spricht nämlich auch Gawan anfangs Obilot die Qualitäten als Gabengeberin wegen ihres Alters ab: doch lât mich dienst unde sinne kêren gegen iwerre minne: ê daz ir minne megt gegebn, ir müezet fünf jâr ê leben: deist iwerr minne zît ein zal. (370,13–17)32
Meljanz sei also im Zahlungsrückstand – Obilot sei zahlungsunfähig. Der beide Male explizit gemachte Preis: fünf Jahre.33 Doch im Unterschied zu Obie erweist sich Gawan der Metamorphose fähig. Er erinnert sich nämlich an jenes Vertrauen, das Parzival in die Frauen gesetzt und diese zum summum bonum erhoben hatte.34 In größter Kampfesnot, so Parzival, solle eine Frau für den Ritter –
Haferland, Gabentausch, S. 113. Vgl. Haferland, Gabentausch, S. 113. [„Selbst wenn ich meinen Sinn und meinen Dienst auf Eure Minne richten würde: Ehe Ihr Minne zu spenden vermögt, müsstet Ihr erst einmal fünf Jahre älter werden – diese Zahl sei der Zeit Eurer Minne gesetzt.“]. Zu Obie und Meljanz vgl. 345,30‒346,14. Nu dâhter des, wie Parzivâl/ wîben baz getrûwt dan gote:/ sîn befelhen was dirre magde bote/ Gâwân in daz herze sîn./ dô lobter dem freuwelîn,/ er wolde durch si wâpen tragen. [370,18‒23; „Nun fiel ihm ein, dass Parzival den Frauen mehr als Gott vertraute. Das Mädchen brachte als Botin diesen Imperativ in sein eigenes Herz. Da gelobte er der jungen Dame, für sie
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symbolisch – den Kampf übernehmen und seine Waffen führen.35 Die Minne löst sich aus einer konkreten personalen Beziehung und leitet zur Betätigung der edelsten humanen Strebekräfte. Somit wird sie zum Lieferanten einer Energie, die in andere Kontexte übertragen wird. Obilot mutiert hinsichtlich ihrer Rolle: Sie wird von einem achtjährigen Mädchen zur Botschafterin dieser Erinnerung. Diese überführt schließlich Gawan in jenen Zustand des Verständigtseins über die vorgeschlagene gratifikatorische Interaktion. In diesem Augenblick kann Gawan quasi von sich selbst als interessegeleitetem und kalkulierendem Wesen frei werden. Und so wird er ihr Ritter. Allein diese Übersetzungsleistung hinein in jenen Raum reiner Höflichkeit ist imstande, initiativ zu werden, den vorgefundenen agonistischen Kontext schrittweise auszumoderieren und schließlich zu befrieden. Der Modulation der Minne folgt die Modulation von Gewalt. Mit dieser Modulationsleistung steht die Bearosche-Szene nicht allein. In der Konfliktsituation vor Joflanze, deren Kontrahenten durch das partikuläre Motiv der Rache gegeneinander aufgestellt werden, wird eine ähnlich reine Minnebeziehung zum Friedensgeber: Für jene Fernliebe zwischen Gramoflanz und Itonie findet Wolfram das Bild von Nord- und Südpolarstern: überirdisch, und bei aller Distanz doch durch ihre Extrempositionen unverrückbar und stabilisierend aufeinander bezogen. Gerade aus dieser vom Sinnlichen und den folgenden Interessen nicht beschädigten Ausgangslage erhält diese Beziehung ihre Dignität, Initiator eines Befriedungsprozesses sein zu können.36 Doch jenes allzu lineare Modell, nach welchem Tauschverhältnisse in den Agon, Anerkennungsinteraktion dagegen in den Konsens führen, wird von Wolfram realistischerweise mehrfach durchbrochen. Die Artuswelt vermag es letzten Endes nicht, die Ebenen des Gebens und Nehmens zu klären. Orilus sieht durch die verfehlte Höflichkeit seiner Frau Jeschute gegenüber einem Fremdling seine eigene Leistung – Ritterschaft im Minnedienst – missachtet und reagiert seinerseits mit dem totalen Entzug von Respekt. Eine weitere höfische Minnebeziehung wird auf ihren materiellen Grund gezogen und wirkt in der Folge als Quelle des Unfriedens. Artus’ deplazierte Gabe an Parzival verschuldet
Waffen tragen zu wollen.“] Das besagte Hyper-Vertrauen kann damit allerdings nur denjenigen Frauen gelten, die dem hier formulierten ethischen Imperativ gerecht werden. ‚friunt in dînes kampfes zît/ dâ nem ein wîp vür dich den strît:/ diu müeze ziehen dîne hant;/ an der du kiusche hâst bekant / unt wîplîche güete: / ir minne dich dâ behüete.‘ [332,9‒14; „‚Freund, in Kampfeszeiten möge eine Frau deine Waffen führen. Diejenige möge dir die Hand leiten, die du als tugendhaft und edel erkannt hast. Ihre Liebe möge dich dort beschützen.‘“]. Vgl. Sabine Seelbach: Labiler Wegweiser. Studien zur Kontingenzsemantik in der erzählenden Literatur des Hochmittelalters. Heidelberg 2010 (Beihefte zum Euphorion. H. 58), S. 151‒155.
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den Tod Ithers, dessen rote Rüstung lebenslang das Kainsmal Parzivals darstellen wird. Nur zwei Beispiele, die vorführen, in welche Bedrängnis höfische Reziprozität geraten kann: einerseits als zivilisatorische Kraft am falschen Ort scheiternd, andererseits wieder selbst Hemmschuh auf Grund ihres irdischen Rückstands im Bereich der Interessen. Engführungen beider Seiten des Problems machen die Permiabilität verschiedener Gabenkonzepte hin zu oder weg von höfischer Reziprozität erfahrbar, verdeutlichen ihre Chancen wie ihre Fragilität. Bei aller ihrer Ambivalenz setzt Wolfram dennoch ein intelligentes Vertrauen in höfische Interaktion. Sie bleibt in dem Maße ein geeignetes Instrument zur Pazifizierung sozialer Verhältnisse, in dem es gelingt, ihr den bewusstseinslogischen Tauschcharakter zu nehmen. Der Gral als voraussetzungslose Schenkung wie auch die Erlösungsfrage als voraussetzungslose Geste sind Sinnbilder dafür. Wolfram arbeitet somit an der Unmöglichkeit der reinen Gabe, indem er „ihr mehr oder weniger die Verpflichtung auferlegt, die unilaterale […] Gabe von Gott zu den Menschen als Modell zu nehmen.“37
Alain Caille: Die doppelte Unbegreiflichkeit der reinen Gabe. Übers. v. Sebastian Kühn. In: Frank Adloff, Steffen Mau (Hg.): Vom Geben und Nehmen. Zur Soziologie der Reziprozität. Frankfurt a. M./New York 2005, S. 157‒184, hier S. 171.
Nina Scheibel
Überlieferungsvarianz als Kalkül? Überlegungen zur Ökonomisierung der Liebe im Minnesang Wird Liebe in der Folge funktionaler Ausdifferenzierung als eine Paarbindungen ermöglichende soziale Einrichtung und als „Kommunikationscode“1 definiert, so die Luhmannsche Diktion, ist sie im Mittelalter „vor allem eine Kunst, also nichts Subjektives, Individuelles, sondern etwas, das man regelgeleitet auszuführen hat, in dem es um Form, Exemplarität und Adäquatheit geht.“2 Evident wird dies in besonderem Maße im Minnesang,3 der im steten interkulturellen Austausch höchst variantenreich eine immer heimliche und in der Regel leidbehaftete Liebeshandlung ins Zentrum rückt. Werden im frühen Sang noch Enttäuschungen und Sehnsucht, durchaus von beiden Geschlechtern, artikuliert, dominiert in der klassischen Zeit in den meist als Werbesituation gestalteten Liedern das Konzept des Frauendienstes, der in der beständigen und individuelle Veredelung verheißenden Werbung eines männlichen Ichs um die Gunst einer ob ihrer Idealität angebeteten Dame besteht und zunehmend auch den Sang als eigene Kunstform reflektiert.4 Als Medien dieser Werbung, die immer auch eine um die Gunst des exklusiven Publikums ist, stellen die Lieder ein „Reden über die Liebe zur Geliebten“5 und damit eine Inszenierung vor dem höfischen Publikum dar; in der semioralen Hofkultur und als Teil ihrer Repräsentation haben die vermutlich im öffentlichen Vortrag dargebotenen und damit in eine spezifische Kommunikationssituation
Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a. M. 1994 (stw 1124), S. 23; vgl. Niels Werber: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität (1982). In: Luhmann Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Oliver Jahraus. Stuttgart 2012, S. 157–162. Maximilian Benz: Fragmente einer Sprache der Liebe um 1200. Zürich 2019 (Mediävistische Perspektiven. Bd. 6), S. 1. Vgl. zum Minnesang als Kunst auch in zeitgenössischer Reflexion den Aufsatz von Gert Hübner: Minnesang als Kunst. Mit einem Interpretationsvorschlag zu Reinmar MF 162,7. In: Text und Handeln. Zum kommunikativen Ort von Minnesang und antiker Lyrik. Hg. v. Albrecht Hausmann. Heidelberg 2004 (Beihefte zum Euphorion. Bd. 46), S. 139–164. Vgl. für eine erste Annäherung Ricarda Bauschke: Mittelalter. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hg. v. Dieter Lamping. 2., erw. Aufl. Stuttgart 2016, S. 351–379. Beate Kellner: Spiel der Liebe im Minnesang. Paderborn 2018, S. 32. https://doi.org/10.1515/9783110740806-002
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Nina Scheibel
funktional eingebundenen Minnelieder mithin eine genuin pragmatische, aber auch dezidiert unterhaltende Funktion.6 In dieser wiederum bedient der Sang zugleich spezifische ästhetische Interessen und variiert in dem je verschieden akzentuierten Rückgriff auf bestehende Motive und Topoi, und dies häufig stark formalisiert, poetisch äußerst komplex und hoch artifiziell, Werbungsszenarien mit Norm- und Wertdiskussionen und metapoetischen Reflexionen. Die Artifizialität dieser Sprache der Liebe7 manifestiert sich mithin gerade in der Differenz zu anderen Sängern – „[i]n der Variation konkurriert der Sänger mit seinen Rivalen, hier gewinnt er die Spielräume für das Exponieren der eigenen Kunstfertigkeit“8 –, die im Hinblick auf die zu antizipierende Erwartungshaltung des Publikums überboten werden müssen, von dessen Zuspruch die literarische Produktion des Dichters allererst abhängt. Sofern diese überaus kultivierte Unterhaltung einer adligen Bildungselite9 die finanziellen und infrastrukturellen Ressourcen für das künstlerische Schaffen gewährleistet und in ihrer tatsächlichen Ausgestaltung damit letztlich auch Reaktion auf eine spezifische Nachfrage ist,10 zeichnet sich Minnesang neben seiner pragmatisch-kommunikativen und ästhetisch-literarischen also auch durch eine lebenspraktische, die konkreten existenziellen Verhältnisse betreffende Dimension aus. Diese, wenn auch im Einzelfall kaum zu rekonstruierende wirtschaftliche Komponente – „[d]er Sänger [...] arbeitet als Auftragsdichter und bleibt als Unterhaltungskünstler immer finanziell vom Wohlwollen des Publikums und existenziell von der
Auch wenn der konkrete mediale und textuelle Status der Lieder zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, die Bedingungen ihrer Produktion, die Rolle von Performanz und Performativität sowie die Umstände ihrer (primären wie sekundären) Rezeption nicht abschließend geklärt werden können, hat man sich in der Forschung darauf verständigt, die Aufführung der Lieder durch einen Sänger als kommunikationstheoretischen Rahmen anzunehmen (vgl. Kellner, Spiel der Liebe, S. 18–28). Das zeigen nicht zuletzt auch zeitgenössische Reflexionen, vgl. etwa den Literaturexkurs in Gottfrieds von Straßburg Tristan, dazu Hübner, Minnesang als Kunst, S. 139–142. Vgl. zur Artifizialität des Minnesangs u. a. Timo Reuvekamp-Felber: Fiktionalität als Gattungsvoraussetzung. Die Destruktion des Authentischen in der Genese der deutschen und romanischen Lyrik. In: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150–1450. Hg. v. Ursula Peters. Stuttgart/Weimar 2001 (Germanistische-Symposien-Berichtsbände. Bd. 23), S. 377–402; Beate Kellner: ‚Nement, frowe, disen cranz‘. Zum Hohen Sang Walthers von der Vogelweide. In: PBB 135 (2013), H. 2, S. 184–205, S. 188. Kellner, Zum Hohen Sang, S. 188. Vgl. Reuvekamp-Felber, Fiktionalität, S. 385. Vgl. Ricarda Bauschke-Hartung: Minnesang zwischen Gesellschaftskunst und Selbstreflexion im Alter(n)diskurs – Walthers von der Vogelweide „Sumerlaten-Lied“. In: Jahrbuch der Heinrich-Heine-Universität (2008/2009). Düsseldorf 2010, S. 333–344, S. 339; vgl. Bauschke, Mittelalter, S. 353 f.
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Gunst seines Mäzens abhängig“11 – ist der Liedproduktion und Aufführungssituation immer schon eingeschrieben und bedingt ihre an rezeptionsseitigen Interessen orientierte und in dieser Hinsicht nutzenmaximierende inhaltliche Ausgestaltung. Die Liebe, in all ihren Facetten das Thema der Lieder, wird also insofern einer Ökonomisierung unterworfen, als ihre Darstellung strategischem Kalkül folgt und Reaktion auf eine rezeptionsseitige Nachfrage ist.12 Besonders ausgeprägt zeigt sich eine an Rezeptionsinteressen ausgerichtete Inszenierung, so die Annahme, in Liedern, die in verschiedenen handschriftlichen Versionen tradiert sind, sich also im Hinblick auf ihre Überlieferung in Strophenbestand und Strophenfolge unterscheiden.13 Diese Annahme einer
Bauschke, Mittelalter, S. 354. Ökonomisierung meint hier also kein Phänomen, das ausschließlich in bereits funktional ausdifferenzierten modernen Gesellschaften auftritt. Es meint basaler und der Historizität des Gegenstandes angemessener das vermutlich vorreflexive Vorhandensein und die Wirksamkeit der Prinzipien Effizienz, Nutzenkalkül und Nachfrageorientierung in einem bisher davon nicht dominierten und nicht an Gewinnmaximierung orientierten Bereich (vgl. zur Definition: Ute Tellmann: Ökonomisierung. In: Lexikon zur Soziologie. Hg. v. Daniela Klimke u. a. 6. über. u. erw. Aufl. Wiesbaden 2020, S. 551–552). Es wird also von einer vorbegrifflichen Existenz dieser Prinzipien in der konkreten künstlerischen Praxis ausgegangen, der damit mithin keine Reflexion des eigenen ökonomischen Handelns unterstellt wird, obgleich es entsprechende gelehrte Auseinandersetzungen, vor allem in der Beschäftigung mit antiken Vorbildern, gegeben hat (vgl. Jörg Oberste: Wirtschaft. In: Enzyklopädie des Mittelalters. Hg. v. Gert Melville, Martial Staub. 2 Bde. Darmstadt 2017 [WBG], Bd. 1, S. 557–566). Zudem wird damit keine Aussage über die mittelalterliche Wirtschaft, die im Gegensatz zur modernen noch keinen eigenständigen Handlungsbereich darstellt, oder grundsätzlich wirtschaftliches Handeln im Sinne der Produktion und Verteilung von Gütern getroffen (vgl. hierzu: Andrea Maurer: Wirtschaft. In: Grundbegriffe der Soziologie. Hg. v. Johannes Kopp, Anja Steinbach. 12. Aufl. Wiesbaden 2018, S. 513–515, S. 513). Ohne auf die verschiedenen Positionen der sehr umfangreich und in der Mediävistik seit jeher geführten Debatte um die für die mittelalterliche Textualität und insbesondere für die Lyrik konstitutive Beweglichkeit der Texte im Einzelnen einzugehen, verstehe ich unter Varianz mit Ralf-Henning Steinmetz: Varianz und Interpretation. Die vier Fassungen des minneprogrammatischen Walther-Liedes 27 (Bin ich dir unmaere). In: ZfdPh 118 (1999), H. 1, S. 69–86, S. 83, Anm. 46, „sowohl Änderungen der Strophenfolge als auch des Strophenbestandes“ und differenziere hier nicht zwischen diesem Terminus als Bezeichnung für Veränderungen im Strophenbestand und Mouvance für Veränderungen der Strophenfolge. Auch unterscheide ich nicht weiter zwischen der genannten und Textvarianz, die sich in verschiedenen Schreibungen, Lauten, Formen etc. manifestiert. Zu Ursachen, Typen und Formen von Varianz sowie ihrer Behandlung in der älteren wie jüngeren Editionsgeschichte vgl. Thomas Bein: Zum Verhältnis von Autor-Text und Redaktor-(bzw. Schreiber-)Text in mittelhochdeutschen Lyrikhandschriften. In: Autoren und Redaktoren als Editoren. Hg. v. Jochen Golz, Manfred Goltes. Tübingen 2008 (Beihefte zu Editio. Bd. 29), S. 3–17; ders.: Varianztypen in der handschriftlichen Überlieferung Walthers von der Vogelweide. In: kunst und saelde. Festschrift für
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sich in Überlieferungsvarianten manifestierenden Ökonomisierung der Liebe beruht dabei gleichwohl auf der Prämisse, dass die voneinander abweichenden Überlieferungszeugnisse jeweils eine in sich sinnvolle und potenziell realisierbare Liedvariante bieten, also nicht nachweislich fehlerhaft oder korrumpiert sind.14 Sofern ihre Existenz unter anderem als Reaktion auf Publikumsinteressen, veränderte Funktionszusammenhänge oder ein anderes soziales Umfeld gedeutet wird,15 werden sie als potenziell intentional verstanden, wobei dies sowohl die Konzeption durch den Autor, die Modifikation durch einen Handschriftenschreiber oder die Aktualisierung durch einen Sänger meinen kann.16 Die Verschränkung von Liebe und Ökonomie wird damit weniger auf inhaltlicher Ebene thematisch oder als konkreter Textgegenstand profiliert, sondern sie zeigt sich als wesentliches Element der Liedproduktion, nämlich in Form der „Anwendung wirtschaftlicher Erfolgskriterien“17; diese wiederum resultiert auch aus dem Kunstcharakter der Liebe und des Sangs als solchem und wird in der Thematisierung der eigenen Publikumsbezogenheit zuweilen in den Liedern auch selbst reflektiert. Prominent zeigt sich dies etwa in Walthers von der
Trude Ehlert. Hg. v. Katharina Boll, Katrin Wenig. Würzburg 2011, S. 9–24; ders.: Editionsphilologie. In: Literatur- und Kulturtheorien in der Germanistischen Mediävistik. Ein Handbuch. Hg. v. Christiane Ackermann, Michael Egerding. Berlin/Boston 2015, S. 35–66; Martin J. Schubert: Ain schreiber, der was teglich truncken. Zu Stand und Fortgang der Varianzforschung. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 12 (2000), S. 35–47; Robert Luff: Überlieferung – Gattung – Rezeption. Versuch einer Neubewertung von Varianz- und Interferenztexten Walthers von der Vogelweide. In: Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Produktion, Edition und Rezeption. Hg. v. Thomas Bein. Frankfurt a. M. 2002 (Walther-Studien. Bd. 1), S. 165–198. Vgl. Kellner, Spiel der Liebe, S. 31. Vgl. insg. Ricarda Bauschke-Hartung: Spiegelungen der sog. Reinmar-Walther-‚Fehde‘ in der Würzburger Handschrift E. In: Würzburg, der Große Löwenhof und die deutsche Literatur des Spätmittelalters. Hg. v. Horst Brunner. Wiesbaden 2004 (Imagines medii aevi. Bd. 17), S. 227–250; Bauschke, Minnesang zwischen Gesellschaftskunst und Selbstreflexion, S. 341–343. Eine Spezifizierung des die Varianzen tatsächlich verantwortenden Subjekts muss aufgrund des besonderen Status mittelalterlicher Texte zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit sowie ihrer spezifischen Überlieferungssituation nicht nur spekulativ bleiben, sie ist auch deshalb unerheblich, weil die einzelnen Liedvarianten (unter den genannten Bedingungen) letztlich unabhängig vom jeweiligen Produzenten Manifestationen des kulturellen Gedächtnisses und eines historisch zwar spezifischen, jedoch kulturell übergreifenden zur Verselbstständigung tendierenden Liebesdiskurses sind (vgl. Bauschke, Mittelalter, S. 351; Bauschke, Minnesang zwischen Gesellschaftskunst und Selbstreflexion, S. 342). Vgl. dazu insg. auch Ricarda Bauschke-Hartung: Materialisierungen von Textsinn im Spannungsfeld handschriftlicher Varianz. Mehrfachüberlieferungen mittelhochdeutscher Lyrik (Heinrich von Morungen MF 145,1 ff.). In: Materielle Mediationen im französisch-deutschen Dialog. Hg. v. Vittoria Borsò, Andrea von Hülsen-Esch. Berlin 2019 (Materialität und Produktion. Bd. 2), S. 255–282. Tellmann, Ökonomisierung, S. 552.
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Vogelweide, auch zeitgenössisch wohl überaus bekanntem, Lied Ir sult sprechen willekomen (L 56,14), in dem das Ich in ausgesprochen selbstbewusster Sangspruchdichter-Manier die eigene Kunstfertigkeit betont, um Lohn seines Publikums heischt und so den Konnex von Produktion, Rezeptionsinteresse und Entlohnung dezidiert hervorhebt.18 Auch wenn dieser Konnex nur selten derart akzentuiert wird wie in diesem, die Grenzen von Sangspruch und Minnesang umspielenden Lied Walthers, manifestiert er sich in anderen Liedern gerade in der je nach Überlieferungsvariante spezifischen Thematisierung und Konzeptualisierung der Liebe. Dies soll nun exemplarisch an einem Lied Reinmars gezeigt werden. Reinmars Swaz ich nu niuwer maere sage (MF 165,10) ist in den Handschriften A (34–37), B (32–35), C (56–59) mit je vier, in Handschrift E (306–310) mit fünf Strophen überliefert; die ersten vier Strophen sind in B, C und E identisch, in A sind die zweite und dritte Strophe vertauscht.19 In C folgen in anderer me-
In der in allen Überlieferungsträgern ersten Strophe wird der genannte Zusammenhang konkret hergestellt: Ir sult sprechen willekomen, / der iu maere bringet, daz bin ich. / allez daz ir habent vernomen, / dâst gar ein wint: nu frâgent mich. / ich wil aber miete. / und wirt mîn lôn iht guot, / ich sage lîhte daz iu sanfte tuot. / sehet waz man mir êren biete! („Ihr sollt sagen: Sei willkommen, der euch Neuigkeiten bringt, das bin ich. Alles, was ihr bisher gehört habt, ist ein Nichts: Jetzt fragt mich. Doch ich will Lohn dafür. Fällt er reichlich aus, sage ich euch vielleicht etwas, das euch freut. Seht zu, was man mir an Ehren bieten kann!“ Text und Übersetzung nach: Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters. Edition der Texte und Kommentare v. Ingrid Kasten. Übersetzungen v. Margherita Kuhn. 3. Aufl. Frankfurt a. M. 2017 [Deutscher Klassiker Verlag TB 6], Nr. 172, S. 428–431, die den Text nach C bietet). Während die geforderte Bezahlung in Handschrift C (und auch in A) potenziell ideeller Natur sein kann, sofern êre als Lohn und damit als Bezugsgröße für die Qualität und die zu erwartende Rezeptionswirkung fungiert, wird in Handschrift E, in der es im letzten Vers heißt: seht, waz man mir gebe zuo miete (Text bei Kellner, Spiel der Liebe, S. 98), die bereits zuvor artikulierte Forderung nach Bezahlung wiederholt. Während in A und C durchaus „gesellschaftliche Anerkennung in Form von materieller Entlohnung“ (Minnesang. Mittelhochdeutsche Liebeslieder. Eine Auswahl. Mhd. / Nhd. Hg., üb. u. kom. v. Dorothea Klein, Stuttgart 2010 [RUB 18781], S. 441 f.) gemeint sein und êre sich prinzipiell ebenfalls über Bezahlung herstellen kann, wird diese in E schon terminologisch und damit insgesamt viel stärker in den Fokus gerückt. Vgl. zur Überlieferungssituation, Editions- und Rezeptionsgeschichte Kellner, Spiel der Liebe, S. 96–104. Text und ggf. geringfügig modifizierte Übersetzung hier und im Folgenden, wenn nicht anders angegeben, nach Kasten, Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters, Nr. 134, S. 320–324, die Handschrift C folgt. Die Überlieferung der vier Strophen unterscheidet sich in B und C nur unwesentlich; Abweichungen der Strophenfolge und des Strophenbestandes in A und E werden nicht eigens abgedruckt, Textvarianten nur angegeben, wenn sie semantisch relevant sind, editorische Eingriffe in den Text mit Blick auf die handschriftliche Überlieferung ggf. rückgängig gemacht. Die verschiedenen handschriftlichen Versionen (A, B, C, E) sind in der Edition von Hubert Heinen [Hg.]: Mutabilität im Minnesang. Mehrfach überlieferte Lieder
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trischer Form zwei weitere Strophen (C 60, Des einen und dekeines mê [MF 163,5,]; C 61, Ez tuot ein leit nâch liebe wê [MF 162,34]),20 welche die Relation zwischen Dichter und Publikum thematisieren. Jede Handschrift bietet also eine andere Version des Liedes; in allen findet sich allerdings in der ersten Strophe die Klage des Ichs ob der unerfüllten Minnebindung und des unverständigen Publikums: I
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Swaz ich nu niuwer maere sage, des endarf mich niemen frâgen: ich enbin niht frô. die friunde verdriuzet mîner klage. swes man ze vil gehoeret, dem ist allem alsô. nu hân ich sîn beide schaden unde spot. waz mir doch leides unverdienet, daz erkenne got, und âne schulde geschiht! ich[] gelige herzeliebe bî, ez hât an mînen fröiden niemen niht. (C 56)21
In der Antizipation der negativen Aufnahme des Liedes durch die der ständigen Klage überdrüssigen Rezipienten und der daraus folgenden Verteidigung des eigenen Sangs verhandelt diese Strophe selbstreflexiv die „Vermittlung
des 12. und frühen 13. Jahrhunderts. Göppingen 1989 (GAG. Bd. 515), S. 97–99, abgedruckt. Auch Kellner, Spiel der Liebe, bietet einen Abdruck einzelner handschriftlicher Versionen (B und E), S. 396 f. In E sind diese beiden Strophen mit vier weiteren Strophen Reinmars zu einem Lied mit identischem Metrum verbunden (E 326–331, Ein wîser man sol niht ze vil), dessen Strophenfolge auch der Text in Minnesangs Frühling (MF 162,7) bietet; in C wiederum sind diese vier Strophen ohne die genannten zwei in anderer Abfolge zu einem eigenständigen Lied verbunden (C 45–48, Ich weiz den wec nu lange wol [MF 163,14]). Obwohl beide Strophen MF 163,5 und MF 162,34 in C nicht an die vier Strophen von Ich weiz den wec nu lange wol anschließen, wurden sie nichtsdestoweniger als ein Lied ediert und interpretiert (vgl. die Ausgabe von Kasten, Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters, Nr. 132, S. 310–314; sowie: Reinmar. Lieder. Nach der Weingartner Liederhandschrift (B). Mhd. / Nhd. Hg., üb. u. kom. v. Günther Schweikle. Stuttgart 2002 [RUB 8318], Nr. X, S. 158–169). „Was ich jetzt Neues zu sagen habe, danach braucht mich niemand zu fragen: Ich bin nicht froh. Die Freunde sind meiner Klage überdrüssig. So ist es immer mit dem, was man zu oft hört. Nun habe ich beides, Schaden und Spott. Was mir doch an unverdientem Leid und ohne Schuld geschieht, das möge Gott mir gutschreiben! Wenn ich [...] bei der Herzliebsten liege, dann hat niemand Freude an mir.“ Da sich in I,8 in B und C keine Negationspartikel findet, ist die Ergänzung von Kasten, Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters, die sie in ihrer Textausgabe an dieser Stelle nach E vornimmt, getilgt und die Übersetzung entsprechend angepasst.
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des Singens an das Publikum“22: Reagiert der Sänger nämlich nicht auf die Bedürfnisse seiner Zuhörer, wiederholt er das ohnehin Bekannte – damit ist auf die eigene klage (I,3) angespielt, über die Verallgemeinerung (I,4) prinzipiell aber auch auf den Gesang Anderer –, ist mit (wenngleich unverschuldeter, vgl. I,6 f.) Ablehnung selbst der friunde zu rechnen. Die letzten Verse der Strophe akzentuieren innerhalb der verschiedenen Überlieferungszeugnisse den Zusammenhang zwischen subjektiver Erfahrung und Vermittlung derselben nun allerdings anders: Postuliert die insgesamt für weniger wahrscheinlich erachtete Version in B und C die Unmöglichkeit der Vermittlung tatsächlicher Liebeserfüllung – die dabei empfundene Freude kann nicht adäquat mitgeteilt werden23 – und stellt damit die Kongruenz von Affekt und Ausdruck infrage, behaupten A und E mit der Negation der Aussage (I,8: ich engelige herzeliebe bî. / so ne hât an mînen vröide nieman niht [A]24) gerade eine solche: Bleibt die Liebe unerfüllt, kann weder Freude empfunden noch von dieser gesungen werden. An einer solchen Kausalität zwischen Emotion und Ausdruck, die Klage als unmittelbarer Effekt des empfundenen Leids, setzt die zweite Strophe in B, C und E an, indem die hier konturierte andere Publikumsgruppe, die hôchgemuoten, dem Sänger mangelnde Authentizität, nämlich die Diskrepanz zwischen Affekt und Ausdruck vorwerfen und diesem unterstellen, er liebe die Dame nicht in dem vorgegebenen Maße: II
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Die hôchgemuoten zîhent mich, ich minne niht sô sêre, als ich gebâre, ein wîp. si liegent und unêrent sich, si was mir ie gelîcher mâze sô der lîp. nu getrôste si mir dar under nie den muot. der ungenâden muoz ich, und des si mir noch getuot, erbeiten, als ich mac. mir ist eteswenne wol geschehen, gewinne aber ich nu niemer guoten tac? (C 57)25
Kellner, Spiel der Liebe, S. 400. Vgl. Albrecht Hausmann: Reinmar der Alte als Autor. Untersuchungen zur Überlieferung und zur programmatischen Identität. Tübingen/Basel 1999 (Bibliotheca Germanica. Bd. 40), S. 142 f. Vgl. Heinen, S. 97. „Die Unbeschwerten beschuldigen mich, ich würde diese Frau nicht so sehr lieben, wie ich klage. Sie lügen und bringen sich in schlechten Ruf; sie bedeutete mir immer soviel wie mein Leben. Dabei hat sie mich nie getröstet. Ihre Ungnade, und was sie mir sonst noch zufügt, muß ich hinnehmen, so gut ichʼs kann. Einstmals ging es mir ganz gut, wird mir aber jetzt niemals mehr ein glücklicher Tag geschenkt?“.
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Der Sänger wird in den ersten beiden Strophen in B, C und E mithin doppelt hinterfragt: Während die friunde die wiederholte Klage als ästhetisches Problem kritisieren, zweifeln die anderen an der Echtheit der Liebe.26 Mit Rekurs auf diese beiden Positionen werden zugleich zwei Rezeptionsweisen diskutiert – Spott aufgrund des immer Gleichen einerseits, Zweifel an der Aufrichtigkeit andererseits – und als falsche entlarvt, womit wiederum implizit auf die richtige Art und Weise des Verstehens hingewiesen wird. Wie als Reaktion auf die beiden Positionen folgen in B, C und E in der dritten und vierten Strophe zunächst Frauenpreis und dann Reflexion über das eigene Leid, wobei bereits die beiden Strophenanfänge programmatischer Natur sind: III Sô wol dir, wîp, wie reine dîn name, wie senfte du ze nennen und zerkennen bist! ez wart nie niht sô rehte lobesame, dâ duz an rehte güete kêrest, sô du bist. 5 dîn lop mit rede niemen wol volenden kan. swes du mit triuwen pfligest, wol im, der ist ein saelic man und mac vil gerne leben. dû gîst al der welte hôhen muot, maht du mir ein wênic fröide geben? (C 58)27 IV Ich hân ein dinc mir für geleit, daz strîtet mit gedanken in dem herzen mîn: ob ich ir hôhen werdekeit mit mînem willen wolte lâzen minre sîn, 5 ald ob ich wolte daz si groezer sî und si vil reine, saelic wîp stê mîn und aller manne frî. si tuont mir beide wê. in wirde ir lasters niemer frô; vergêt si aber mich, daz klage ich iemer mê. (C 59)28
Vgl. Kellner, Spiel der Liebe, S. 399. „Gepriesen seist du, Frau; es ist das Wort, das für Reinheit steht, wie wohl es tut, dich so zu nennen und damit zu kennzeichnen! Es gab nie etwas, was wirklich so zu loben gewesen wäre wie dich, wenn du jene wahre Güte zeigst, die du bist. Was an dir zu loben ist, können Worte nicht beschreiben. Wem du Liebe gewährst, wohl ihm, der ist ein glücklicher Mann und kann mit Lust leben. Du schenkst der ganzen Welt Freude, kannst du mir auch ein wenig davon geben?“. „Ich habe mir eine Frage vorgelegt, die führt zu einem Widerstreit in meinem Herzen: Ob es mein Wille sein könnte, ihre hohe Würde zu schmälern, oder ob ich wollte, daß sie größer würde und sie als reine, glückselige Frau unzugänglich bleibt für mich und alle Männer. Bei-
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Während der Frauenpreis der Unterhaltung der von dem ständigen Klagegesang gelangweilten friunde dient, der Kritik der hôchgemuoten aber gerade nicht adäquat begegnet, reagiert die Klage umgekehrt nur auf eben diese Kritik, nicht aber auf den Unmut der Gelangweilten.29 Die Vermittlung der Liebe und ihrer Aporien erweist sich folglich als intrikat, das Scheitern der skizzierten Rezipienten an der richtigen Aufnahme wird explizit ausgestellt (II,3) und das tatsächliche Publikum damit in seiner Exklusivität bestätigt. Dieses kann der Komplexität des Liedes schließlich folgen und versteht, dass der Frauenpreis in Strophe drei als „argumentativ begründete Werbung“30 keinen Gegensatz zum postulierten Schmerz darstellt, sondern dass das Resultat der hier angestellten Imagination der durch Erhörung ausgelösten fröide letztlich genau zu jener geforderten Kongruenz von Affekt und Ausdruck führen könnte – wäre die Werbung nämlich erfolgreich, würde der Sänger Freude empfinden und davon singen.31 In A sind nun die Positionen der zweiten und dritten Strophe vertauscht: Auf die Kritik der vom gewohnten Klagegesang gelangweilten friunde und das Postulat der notwendigen Einheit von Emotion und Ausdruck folgt der Frauenpreis; auf den ersten Blick scheint dies wenig plausibel, wurde doch zuvor die Unmöglichkeit betont, trotz unerfüllter Liebe von Freude zu singen. Versteht man dies aber als direkte Reaktion auf den mit der Kritik implizierten Rezeptionswunsch, gerade keinen Klagegesang zu hören, und als Versuch, den geforderten Ansprüchen gerecht zu werden, erweist sich die Abfolge als durchaus nachvollziehbar. Vor diesem Horizont erscheint auch der hier erst in Strophe drei folgende Vorwurf einer Diskrepanz von Gefühl und Gesangsdarbietung der hôchgemuoten berechtigt, sofern auf klage unmittelbar lop folgt. Die emotionale Widersprüchlichkeit, auf die dieser Vorwurf unter anderem zielt, analysiert das Ich nun im Rahmen der Reflexionsklage in Strophe vier, die sich damit auch als direkte Stellungnahme verstehen ließe und sich somit ebenfalls durchaus stringent in den hier entfalteten Liedzusammenhang fügt. Die Plausibilisierung sowohl der liedinternen Rezipientenkritik als auch der jeweiligen Reaktion des
des tut mir weh: Verlöre sie ihr Ansehen, würde ich nie mehr froh; übergeht sie mich aber, muß ich das immer wieder beklagen.“. Vgl. Kellner, Spiel der Liebe, S. 399 f. Als Reaktion auf beide Positionen liest die Strophen auch: Gert Hübner: Frauenpreis. Studien zur Funktion der laudativen Rede in der mittelhochdeutschen Minnekanzone. 2 Bde. Baden-Baden 1996 (Saecvla Spiritalia 34 & 35), Bd. 1, S. 108. Hübner, Frauenpreis, S. 109. Vgl. Kellner, Spiel der Liebe, S. 400 f.
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Sängers stiftet einen kohärenten Liedzusammenhang, macht diesen nachvollziehbar und erleichtert die tatsächliche Rezeption.32 In Handschrift E wird diese Tendenz, obgleich die Strophenreihenfolge der in B und C entspricht, nun insofern verstärkt, als die nur hier überlieferte fünfte Strophe (E 310) das Lied abschließend resümiert, damit den Sinn noch einmal präzisiert und es „leichter goutierbar“33 macht: V
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Ob ich nu tuon und hân getân, daz ich von rehte in ir hulden solte sîn, und sie vor aller werlde hân, waz mac ich des, vergizzet si darunder mîn? swer nu giht, daz ich ze spotte künne klagen, der lâze im beide mîn rede singen unde sagen und merke, wâ ich ie spreche ein wort, ezn lige, ê iz gespreche, herzen bî. (E 310)34
Indem die Rezipienten, die an der Authentizität des Sangs zweifeln, explizit zu einem aufmerksameren Rezeptionsverhalten angehalten werden, beruft sich der Sprecher „auf die Evidenz und Überzeugungskraft seines Sangs in der Performanz.“35 Als explizite Auseinandersetzung mit der Rolle des Sängers für die Vermittlung der Liebe und für die höfische Gesellschaft – und insofern mit der hier postulierten Relation von Gesang, Konzeptualisierung und Rezeptionsinteressen – geriert sich das Lied, wenn man der genannten C-Überlieferung folgt, die beiden im Anschluss überlieferten Strophen MF 163,5 und MF 162,34 hinzunimmt und es als potenziell sechsstrophig versteht (C 56–61):36
Anderer Auffassung ist Kellner, Spiel der Liebe, S. 399, Anm. 12. Bauschke, Spiegelungen, S. 240, die dies für die Würzburger Handschrift E insgesamt postuliert. „Wenn ich nun so handle und gehandelt habe, daß ich mit Recht in ihrer Huld stehen könnte und sie über alles stelle, ist es meine Schuld, wenn sie mich doch nicht beachtet? Wer nun behauptet, daß ich zum Scherz klage, der höre auf das, was ich in meinen Liedern sage und merke sich, daß, wo immer ich ein Wort spreche – eh ich es ausspreche –, es an meinem Herzen gelegen ist.“. Kellner, Spiel der Liebe, S. 403. Vgl. Kasten, Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters, Nr. 132, S. 314. Obwohl die vier Strophen, mit denen die beiden genannten in E verbunden sind (E 326–328, 331, Ein wîser man sol niht ze vil [MF 162,7]), auch in C (C 45–48, Ich weiz den wec nu lange wol [MF 163,14]) überliefert sind und sich somit prinzipiell der gleiche Liedzusammenhang findet, werden die Strophen hier nicht zusammengeführt, sondern stehen im Anschluss an Swaz ich nu niuwer
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Des einen und dekeines mê wil ich ein meister sîn, al die wîle ich lebe: daz lob wil ich, daz mir bestê und mir die kunst diu werlt gemeine gebe, daz nieman sîn leit sô schône kan getragen. des begêt ein wîp an mir, daz ich naht noch tac niht kan gedagen. nu hân eht ich sô senften muot, daz ich ir haz ze fröiden nime. owê, wie rehte unsanfte daz mir doch tuot! (C 60)37 Ez tuot ein leit nâch liebe wê, sô tuot ouch lîhte ein liep nâch leide wol. swer welle, daz er frô bestê, daz eine er dur daz ander lîden sol mit bescheidenlîcher klage und gar ân arge site. zer welte ist niht sô guot, daz ich ie gesach, so guot gebite. swer die gedulteclîchen hât, der kam des ie mit fröiden hin. alsô dinge ich, daz mîn noch werde rât. (C 61)38
Auf die Reflexionsklage in der vierten (C 59) folgt in der fünften Strophe die Projektion der Idealität der Dame auf den Sänger, der für seine besondere Fähigkeit, seine kunst, das durch die Liebe ausgelöste Leid zu ertragen und darzubieten, das Lob des Publikums erhalten, darin sogar ein Meister sein möchte; in der Empfehlung zu bescheidenlîcher klage [...] ân arge site in der sechsten Strophe wird nicht nur das eigene (Klage-)Singen als das eines meisters – performativ pointiert im letzten Vers von Strophe fünf – konturiert, sondern auch die Fähigkeit thematisch, trotz Abweisung der Dame, mit dem Gesang Freude zu
maere sage: Die Überlieferung weist, so Hübner, Frauenpreis, S. 113, also darauf hin, dass die Strophen gerade nicht nur im in E abgebildeten Verbund tradiert wurden, sondern auch als eigenständiger Text oder eben im genannten Kontext als eigenständige Vortragsversion zirkulierten. Vgl. zur Interpretation dieses Liedzusammenhangs Hübner, Frauenpreis, S. 112–115. „In dem einen und in nichts anderem will ich ein Meister sein, solange ich lebe: Ich möchte, daß mir das eine Lob bleibt und daß alle Welt mir die Fähigkeit zugesteht, nämlich daß niemand sein Leid so würdig zu tragen vermag. Dies tut mir eine Frau an, daß ich weder Nacht noch Tag schweigen kann. Doch bin ich so geduldig, daß ich ihren Haß mit Freuden annehme. Ach, wie tut mir das so weh!“. „Es tut Leid nach Freude weh; so tut aber wohl auch Freude nach Leid gut. Wer will, daß er froh sein kann, der soll das eine um des anderen willen tragen mit maßvoller Klage und ohne die Form zu verletzen. Auf der Welt ist, soweit ich sehe, nichts so gut wie geduldiges Warten. Wer da geduldig ist, dem brachte das stets Freuden ein. So hoffe auch ich, daß mir noch geholfen wird.“.
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stiften: Denn zer welte ist niht sô guot wie das fröide[] bringende und sich in diesem Lied manifestierende Warten des Sängers. Die Zurückweisung der Kritik von friunden und hôchgemuoten in den vorangehenden Strophen mündet hier mithin in den Entwurf eines alternativen Programms – nämlich seinen Rezipienten mit der ob der Abweisung der Dame tatsächlich begründeten Klage Freude zu bringen39 –, das den Zusammenhang zwischen der kunst des Klagesingens, die immer in einer spezifischen Darbietung besteht, und ihre Bewertung durch die Zuhörer deutlich ausstellt. Die Versionen von Swaz ich nu niuwer maere sage (MF 165,10) unterscheiden sich folglich hinsichtlich Komplexität und Rezeptionsanforderungen und vermitteln die Paradoxien der Liebe zwar immer für ein exklusives, höchstwahrscheinlich aber nicht immer homogenes Publikum; da die jeweiligen Versionen – die hinsichtlich Stringenz plausibilisierte in A, die mit einem expliziten Rezeptionsauftrag versehene in E, die hinsichtlich Reflexionsniveau anspruchsvollere in B bzw. poetologischem Anspruch wohl anspruchsvollste sechsstrophige in C – durchaus sinnvoll sind, können sie wohl als potenzielle Vortragsvarianten verstanden werden.40 Die Liebe und ihre Vermittlung ist insbesondere im Minnesang somit eine immer auch von spezifischen rezeptions- und produktionsseitigen Interessen und sozialen wie pragmatischen Kontexten abhängige Kunstübung. Dies gilt nicht nur für die klassische, meist dem Konzept der Dienstethik verpflichtete
Vgl. Hübner, Frauenpreis, S. 113, der dieser Version auch eine freudenstiftende Programmatik unterstellt. Dass eine solche Varianz grundsätzlich auch auf „verschiedene Realisierungen des Liedvollzugs verweisen [könnte]“ (Kellner, Spiel der Liebe, S. 286), hat Kellner eindrücklich in ihrer Interpretation des Waltherschen Kranzliedes gezeigt, dessen drei in sich stimmigen und sinnvollen Versionen in A, C und E verschiedene Formen der Liebe und ihrer Erfüllung thematisieren und womöglich Varianten darstellen, die je nach Kontext und Publikum aktualisiert wurden (vgl. die Interpretationen bei Kellner, Spiel der Liebe, S. 286–296, sowie Kellner, Zum Hohen Sang, S. 188–203). Die Überlieferung unterscheidet sich dabei zwar hinsichtlich der Strophenanzahl, ist im Hinblick auf die Strophenreihenfolge aber vergleichsweise stabil. Bemerkenswert ist deshalb, dass in den meisten Editionen und Interpretationen die Reihenfolge gegen die Überlieferung verändert wurde, vermutlich um, so Kellner, „Ordnung in das Lied zu bringen“ (Kellner, Spiel der Liebe, S. 284) und es neuzeitlichen Kohärenzvorstellungen anzupassen. Die daraus resultierende eigene Version des Kranzliedes wäre damit letztlich ebenfalls Effekt strategischen Kalküls, nämlich Resultat einer gegen die Überlieferung arbeitenden, interessegeleiteten Editionspraxis, über deren konkrete Intention nur spekuliert werden kann; neben der Wahrung eines spezifischen Waltherbildes könnte auch die Einordnung in einen favorisierten Gattungszusammenhang eine Rolle spielen, wie Kellner, Spiel der Liebe, S. 284 f., vermutet. Das Ergebnis ist letztlich eine an – nun modernen – Rezeptionsinteressen orientierte sinnvolle neue Variante des Kranzliedes.
Überlieferungsvarianz als Kalkül?
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Minnekanzone, wie es hier exemplarisch an Reinmar entfaltet wurde, sondern grundsätzlich auch, und dies soll abschließend der kurze Blick auf ein Lied Friedrichs von Hausen zeigen, für einen hinsichtlich der propagierten Liebesauffassung grundlegend anderen Typus, nämlich das sog. Frauenlied.41 Das Lied Wol ir, si ist ein saelic wîp (MF 54,1), für das die Verfasserschaft Friedrichs lange angezweifelt wurde, ist in C unter dessen Namen mit drei (C 51–53), in F hingegen anonym mit fünf Strophen und anderer Reihenfolge überliefert (F 40–44).42 Beide Versionen skizzieren die Reflexion einer Dame über das Dilemma, entweder den beständigen Dienst des Mannes entsprechend seiner charakterlichen Dispositionen trotz gesellschaftlicher Sanktionen zu belohnen oder aber dies entgegen der eigenen Intention nicht zu tun, führen aber zwei völlig verschiedene Umgangsweisen mit dieser dilemmatischen Situation vor: Wird jene in C nämlich weiter entfaltet und die Lohngewährung trotz hoher emotionaler Affektion explizit negiert, ist in F bereits am Ende der ersten Strophe die Absicht eines Zusammenkommens deutlich stärker betont;43 die in der zweiten noch abwägend diskutierte Lohngewährung wird dann in der dritten Strophe mit dem Hinweis auf eine einvernehmliche körperliche Liebesvereinigung in der Vergangenheit und der sich in der Folge manifestierenden Vertrauenswürdigkeit des Mannes argumentativ gerechtfertigt, um in Strophe vier vollends entschieden zu werden. Der Mann personifiziert nicht nur das persönliche Glück der Dame, sondern qualifiziert sich für die beschlossene Lohngewährung vor allem über seine besonderen Eigenschaften; von diesen überzeugt sie sich und ihre Rezipienten – Hassel spricht hier überzeugend von einer „Persuasionsstrategie“44 – in der letzten Strophe und damit implizit auch von der Richtigkeit ihrer monologisch entfalteten Entscheidung.
Vgl. zum Liedtypus insgesamt: Frauenlieder. Cantigas de Amigo. Internationale Kolloquien des Centro de Estudos Humanísticos (Universidade do Minho) der Faculdade de Letras (Universidade do Porto) und des Fachbereichs Germanistik (Freie Universität Berlin), Berlin, 6. November 1998, Apúlia, 28.–30. März 1999. Hg. v. Thomas Cramer et al. Stuttgart 2002; Katharina Boll: Alsô redete ein vrowe schoene. Untersuchungen zu Konstitution und Funktion der Frauenrede im Minnesang des 12. Jahrhunderts. Würzburg 2007 (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie. Bd. 31). Vgl. den handschriftennahen Abdruck des Liedes nach C und F in der Edition von Veronika Hassel: Das Werk Friedrichs von Hausen. Edition und Studien. Berlin 2018 (Philologische Studien und Quellen. Bd. 269), S. 331–333, sowie die dortigen Hinweise zur Überlieferung, S. 326–330. Vgl. Hassel, S. 340. Hassel, S. 344.
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Nina Scheibel
Die Versionen in C und F weisen unabhängig von der Frage nach der konkreten Verfasserschaft45 nicht nur auf einen divergierenden Literaturgeschmack, sondern letztlich auch auf eine andere Auffassung von geschlechtlicher Liebe hin. Dass sich diese in der mittelalterlichen Lyrik enorm wandelt, lässt sich an dem hier besprochenen Typus des Frauenlieds besonders gut beobachten, sofern sich in der C-Version die Transformation der im frühen Sang in der Regel affektiv, von Sehnsucht und Begehren erfüllten Liebenden zu einer zwar noch abwägenden, aber schlussendlich doch ablehnenden Dame der Hohen Minne manifestiert, die in der späteren F-Version wiederum, womöglich als Objekt männlicher Projektion, als eine aktiv sexuelle Erfüllung suchende Frau erscheint. Die damit jeweils implizierten Konzepte der Liebe – als wechselseitige erotische Beziehung, der ethischen Vervollkommnung des Mannes dienendes Ritual, metapoetisches Spiel, auf Gegenseitigkeit angelegte Relation – zeigen nicht zuletzt ihre zwar stets historisch bedingte, hinsichtlich ihrer Vermittlung aber nichtsdestoweniger stets auch interessengeleitete Wandelbarkeit. Als literarischer Sonderraum des sonst Unsagbaren erweist sich dabei insbesondere der Minnesang als geeignetes Feld für die Aushandlung divergierender produktions- und rezeptionsseitiger Interessen und die poetisch höchst ertragreiche Interdependenz von Liebe, Kunst und ökonomischem Kalkül.
Während sich C durchaus ins Hausen-Œuvre fügt, wird F zuweilen für ein Rezeptionszeugnis gehalten, das „einer Männerphantasie entsprungen“ (Hassel, S. 348) sein könnte; aufgrund von Motivdopplungen und Parallelen weist Hassel allerdings darauf hin, dass man dem Nachdichter der F-Fassung – sofern man diese nicht Friedrich zusprechen will – eine genaue Kenntnis von dessen Werk unterstellen kann.
Verena Ebermeier
minne und kraeme – Pulsationsdynamiken als Daseinsprinzip in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg 1 minne, strît und kraeme – Daseinskräfte im Aushandlungsprozess Die „Polarität von minne und strît“1 sowie Facetten deren Relation sind ein beliebtes Thema der mittelalterlichen Literatur. Die Gattung des Antikenromans bildet mit ihren vielfältigen Erzählstoffen, welche „die höfischen Themen Heroik und Liebe variieren“2, diesbezüglich keine Ausnahme. So problematisiert Konrad von Würzburg in seinem Werk Trojanerkrieg aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts anhand des Paris und seiner einen Weltkrieg evozierenden Liebe Aspekte und Effekte ihrer Konstellation, „inseriert dem historischen Stoff nicht nur [...] die Frage nach Kausalität und Finalität, sondern auch die nach der Axiologie von Werten“3. Jene Perspektive auf die Welt und in ihr wirksame Dynamiken aber, auf die Relevanz der Ereignisse für die „Welt- und Heilsgeschichte“4 sowie auf den Eingang einzelner Episoden in Weltchroniken5 lässt eine umfassendere Bedeutsamkeit von minne und strît vermuten. Unter Berücksichtigung der antiken und mittelalterlichen Kosmologie können Anziehung und Abstoßung, die sich in Anlehnung an Empedokles’ Kosmosverständnis in mythologischer Sprache als Liebe und Zwietracht präsentieren6,
Udo Friedrich: Wilde Aventiure. Beobachtungen zur Organisation und Desorganisation des Erzählens in Konrads von Würzburg ‚Trojanerkrieg‘. Berlin 2018 (Veröffentlichungen der Wolfram von Eschenbach-Gesellschaft. Wolfram-Studien. Bd. XXV), S. 281–295, hier S. 286. Joachim Knape: Geschichte bei Konrad von Würzburg? Stuttgart 1988/1989 (Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft. Bd. 5), S. 421–430, hier S. 429. Friedrich, S. 287. Albrecht Juergens: Über den Umgang mit ‚Geschichte‘ in Konrads von Würzburg ‚Trojanerkrieg‘-Fragment. Stuttgart 1988/1989 (Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft. Bd. 5), S. 431–442, hier S. 433; vgl. auch Klemens Alfen: Der Trojanische Krieg in der Stadt. Stuttgart 1992/1993 (Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft. Bd. 7), S. 11–23, hier S. 11. Vgl. Knape, S. 430. Vgl. Oliver Primavesi: Zum Problem der epischen Fiktion in der vorplatonischen Poetik. In: Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters. Hg. v. Ursula Peters und Rainer Warning. München 2009, S. 105–120, hier S. 117 f.; vgl. Ruth Finckh: Minor Mundus Homo. Studien zur Mikrokosmos-Idee in der mittelalterlichen Literatur. Göttingen 1999 (Palaestra. Unterhttps://doi.org/10.1515/9783110740806-003
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Verena Ebermeier
minne und strît, als omnipräsente Daseinskräfte konstatiert werden, die den Makrokosmos konstituieren und in göttlich gewirkter Einheit verbunden sind. Im Menschen, der sich gemäß der Mikrokosmos-Idee als Analogon des Makrokosmos versteht7, offenbart sich deren Potenzial zur Pulsation, zu einem Übermaß einer der Kräfte. Aufgrund seiner Sterblichkeit im Vergleich zum Makrokosmos defizitär, ist der Mensch dazu angehalten, sich dessen Perfektion anzunähern, die Kräftedynamiken in einer Ökonomie des Gleichgewichts in sich selbst auszuhandeln, die Makroökonomie in einer Mikroökonomie zu spiegeln. Es gilt, eine Angleichung an die Harmonie des „göttlichen Ursprung[s]“8 zu bewerkstelligen, die durch eine maßvolle Anziehung, eine „‚geordnete Liebe‘ (ordinata dilectio)“9, sowie durch eine vor Überschwang bewahrende, maßvolle Abstoßung codiert ist. Wird mit Platon mitberücksichtigt, dass nicht allein der Einzelne, sondern auch interpersonale Verbünde – neben der Gesellschaft10 Paarbeziehungen, Ehen und Familien – als Mikrokosmoi betrachtet werden können, offenbart sich die Relevanz einer Ökonomie von Anziehung und Abstoßung als unumgängliches Daseinsprinzip auf vielfältigen Ebenen der Lebenswirklichkeit. Als zoon politikon, als „ein auf Gemeinschaft bezogenes Wesen“11, muss der Mensch in jedem Mikrokosmos eine ausgewogene Ökonomie der abstrakten Kräfte minne und strît generieren, die sich intra- wie interpersonal konkret als Selbstliebe oder -hass, als elterliche minne und Fürsorge, erotische minne12 oder gesellschaftliche Bündnisse respektive Kriege manifestieren.
suchungen aus der deutschen und skandinavischen Philologie. Bd. 306), S. 27; vgl. William K. C. Guthrie: Man’s Role in the Cosmos. Man the Microcosm: the Idea in Greek Thought and its Legacy to Europe. In: The Living Heritage of Greek Antiquity/L’héritage vivant de l’Antiquité grecque. Paris 1967, S. 56–73, hier S. 58 f.; vgl. Wolfgang Röd: Der Weg der Philosophie. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, I. Altertum. Mittelalter. Renaissance. München 1994, S. 64. Vgl. Finckh, S. 11–13. Christoph Horn: Augustinus. 2. Aufl. München 2012, S. 45. Horn, S. 48. Vgl. Platon: Politeia. In: Ders.: Werke in acht Bänden. Griechisch und deutsch. Übers. v. Friedrich Schleiermacher. Bd. 4.: Der Staat. Hg. v. Gunther Eigler. 2. Aufl. Darmstadt 1990, 434d–436a. Ulrich Dierse/Hannah Rabe: Ökonomie. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Bd. 6. Basel/Stuttgart 1984, Sp. 1149–1162, hier Sp. 1149. Mit verschiedenen Codierungen der Liebe – amor, cupiditas und laetitia – sowie der Relation von Passion und Willen in der Gedankenwelt der stoischen Philosophie und des Augustinus setzt sich Catherine Newmark intensiv auseinander (vgl. Catherine Newmark: Passion – Affekt – Gefühl. Philosophische Theorien der Emotionen zwischen Aristoteles und Kant. Hamburg 2008 [Paradeigmata. Bd. 29], S. 64 f.).
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Nicht minder komplex ist die Suche nach jener Kräfteökonomie, die der Roman in kraeme-Prozessen (vgl. Troj., V. 19628)13, in dem Tausch respektive der Anziehung und Abstoßung materieller und immaterieller Güter, zur Darstellung bringt und die Konrad als „Meister der disputatio“14 mit Tendenz zur Diskursivität15 durch die Inszenierung von Rhetorik präsentiert. Die Aushandlung ist aktiv in reflektierter Eigenverantwortung vorzunehmen, auf der Grundlage der durch Augustinus betonten Freiheit des Willens, der die göttliche providentia begleitet16, einer durch Abaelard konstatierten Möglichkeit zur Entscheidung17. Da die Pulsation der Daseinskräfte eine beständige Gefahr der Dysbalance birgt, bleibt die Ökonomieaushandlung, der kraeme-Prozess, auf Wiederholung angewiesen, ist Persistenz nur in Performanz denkbar. Will der Aushandelnde nicht selbst, von jener Pulsation überwältigt und in sie involviert, in immoderater Liebe oder immoderatem Hass zum handlungsunfähigen Verhandelten, krâme (Troj., V. 19559), geraten, muss eine Ökonomie, verstanden als Aushandlung, Ordnung und Verwaltung18 der Kräfte, auf dem augustinischen Gedanken des Maßes, modus, gründen, codiert als „das rechte Maß der Handlungen und des Charakters“19, auf einer Balance aus emotionaler sowie kognitiver Nähe und Distanz20, Anziehung und Abstoßung. So ist auch Gott in geistigem amor zu suchen, aber ohne dass die nach ihm Strebenden amore [...] subditi21 ihre Reflexionsdistanz verlieren, so postuliert der platonische eros ein Streben ohne Überwältigung.22
Die Sigle Troj. bezieht sich auf die Werkausgabe: Konrad von Würzburg: ‚Trojanerkrieg‘ und die anonym überlieferte Fortsetzung. Hg. v. Heinz Thoelen und Bianca Häberlein. Wiesbaden 2015 (Wissensliteratur im Mittelalter. Bd. 51). Daniel Rocher: Vom geistigen Standort Konrads von Würzburg. Stuttgart 1988/1989 (Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft. Bd. 5), S. 57–68, hier S. 67. Vgl. Rocher, S. 67. Vgl. Horn, S. 53; vgl. Aurelius Augustinus: De Libero Arbitrio. Hg. v. William M. Green. Turnholti 1970 (CCSL. Bd. XXIX, Pars II, 2), S. 205–321, III 3, 6. Vgl. Frederick C. Copleston: Geschichte der Philosophie im Mittelalter. München 1976, S. 84. Vgl. Dierse/Rabe, Sp. 1149. Horn, S. 44. Vgl. Horn, S. 44 f. Aurelius Augustinus: Confessionum libri XIII. Quos Post Martinum Skutella Iterum. Hg. v. Lucas Verheijen. Turnholti 1981 (CCSL. Bd. XXVII), X, 6, 10. Augustinus warnt vor der Gefahr, in übermäßiger Liebe zu dem Wahrgenommenen an Reflexionsfähigkeit zu verlieren. So wird auch in Platons Symposion die Möglichkeit einer Rückkehr zu einer Verbindung der Liebenden im Bild der Kugelmenschen, zu einer ursprünglichen Natur – ἀρχαίαν φύσιν (Platon: Symposion. In: Ders.: Werke in acht Bänden. Griechisch und deutsch. Übers. v. Friedrich Schleiermacher. Bd. 3: Phaidon, Das Gastmahl, Kratylos. Hg. v. Gunther Eigler.
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Prämissen und Effekte divergierender Aushandlungsstrategien zeigen sich in der Schilderung des Paris, seiner Kindheit und Verstoßung durch Priamos, des Apfelurteils sowie der Entführung Helenas. Fragen nach vorbewusstem, halbbewusstem und reflektiertem Agieren, nach Rhetorik sowie narrativen Spiegelungen entwickeln den Ökonomiediskurs anhand der Mikrokosmoi des Selbst, der Eltern-Kind-Bindung, Geschwisterbeziehung, Liebes- und Ehebeziehung sowie der Gemeinschaft. Mithilfe der Erzähltechnik wird zudem den Rezipierenden der Appell zur Aushandlung einer Ökonomie der Pulsationen vermittelt.
2 Minne mit gelîchem solt – Ökonomie als Naturgesetz Die Relevanz jener Ökonomieaushandlung als genuine Daseinsherausforderung offenbart Paris’ Kontextualisierung in den Diskurs noch vor dessen Geburt. Hekubas Fackeltraum als abstraktes Tangieren des Makro- und Mikrokosmos formuliert einen Reflexionsappell an die Elterngeneration – ein Interpretationspostulat, das Effekte auf den Mikrokosmos des Einzelnen, der Ehe und Familie evoziert. So gerät Hekuba, eine Frau, deren herze was von kindes jugent / vor allem wandel gar behuot (Troj., V. 340 f.), in Zweifel, den sie an ihren Ehemann Priamos, zuvor ebenfalls durch tugende (Troj., V. 326) und êre (Troj., V. 328) ausgezeichnet, vermittelt und ihn gleichermaßen in innecliche [...] sorgen (Troj., V. 371) drängt. Während Hekuba die Frage nach dem Umgang mit dem Ungeborenen, nach Anziehung oder Abstoßung, minne oder strît, mit einer Präferenz emotionaler Nähe und Mutterliebe beantwortet23, entscheidet sich Priamos für Kalkül, kognitive Distanz und Abstoßung des Sohnes, durch das die intrapersonale Ökonomieinstabilität auf die Ehe projiziert wird. Auf drohende verlüste (Troj., V. 404) bedacht und einer Tauschlogik folgend24, gemäß der Priamos’ geburt verderbe, / ê daz [er] 3. Aufl. Darmstadt 1990, 193c) – durch das Streben des eros an die Bedingung der Ehrfurcht gegenüber den Göttern, der Reflexionsdistanz, gebunden. Aus dem intrapersonalen Ungleichgewicht, das durch die Deutung des Fackeltraums evoziert wird, resultiert so eine interpersonale Dysbalance im Kosmos der Ehe. Während sich Priamos in Abstoßung, emotionaler Distanz, übt, indem er in Gestalt des Tötungsvorhabens ze râte (Troj., V. 437) kommt, pflegen Hekuba und die Hofgesellschaft vil jâmers mit genuht (Troj., V. 458), emotionale Nähe. Die Wiederaufnahme des herangewachsenen Paris verkehrt jene Konstellation, bereitet dieser doch der Gesellschaft hôher fröuden vil (Troj., V. 5443), wohingegen Priamos durch in aleine trûric saz (Troj., V. 5447). Dreifach thematisiert Priamos seine Entscheidung zur Selbstliebe (vgl. Troj., V. 394–401; V. 416–419; V. 424–429), die durch den Erzähler aufgegriffen (vgl. Troj., V. 435–441) und auf
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selbe ersterbe (Troj., V. 417 f.), kulminieren seine immoderate Selbst-25 und mangelnde Vaterliebe in dem Auftragsmord an Paris. In dem Tausch der Vaterrolle gegen die des Mörders, des Opfer- gegen den Täterstatus und der Entlohnung der Diener durch rîchen solt (Troj., V. 515) ist die Idee personaler wie pekuniärmaterieller Verhandlungsaspekte, kraeme-Prozesse, angelegt, die für Paris’ Lebensweg konstitutiv bleiben. Der Schuld des Erwachsenen, der in einer mit dem Zivilisationskontext assoziierten Handelslogik agiert, steht die schuldlose Unwissenheit des Kindes adversativ entgegen, das, in den Wald verstoßen, in der dortigen natürlichen Ausgewogenheit der Daseinskräfte von Fragen nach der Verantwortung zu einer Positionierung gegenüber diesen befreit ist. Erinnernd an Abaelards Vorstellung des Wissens als Prämisse potenzieller Schuld – ist ein Zuwiderhandeln gegen göttlichen Willen doch unmöglich, wenn der Mensch „der Wahrheit aus Unwissenheit widerspricht“26 – mangelt es Paris an dem Bewusstsein seiner Identität als Vorbedingung eigenverantwortlichen Agierens. Das Kind kann so in Gottes reine[r] huote (Troj., V. 531) dem Mordkomplott entkommen (vgl. Troj., V. 468–473), in einem vorverhandelten Kosmos verbleiben und dem Schwert der Diener eine ästhetische Funktion einschreiben. Paris’ vorbewusstes Lächeln, das er angesichts seines Spiegelbildes zeigt, offenbart kein Potenzial zu Kalkül. Dieses setzt sich als Tausch und Täuschung allein im Zivilisationskontext fort, in der Zunge eines Hundes als Beweis für Paris’ Tod (vgl. Troj., V. 504–513), während dessen Welt vorläufig nicht zu verhandeln, sondern für ihn durch Gott vorverhandelt ist, der seine Versorgung in Gestalt einer Hirschkuh – eines Agens ohne Verdacht der Berechnung – gewährleistet. Jene asymmetrische Kräfteökonomie ist defizitär und daher für Priamos und Paris notwendig nicht endgültig. Sie ist nicht singulär, sondern beständig auszuhandeln und muss einem bewussten Reflexionsprozess unterzogen werden. So erweist sich Priamos’ Eindruck einer restituierten Ausgewogenheit, die er wânde ân
eine Metaebene transferiert wird. So wird die dreifache Problematisierung einer Ökonomieaushandlung in den Episoden des Traumes, des Apfelstreites und der Entführung Helenas intradiegetisch vorgezeichnet. Bedenkt Priamos zunächst das Schicksal seines Herrschaftsgebietes (vgl. Troj., V. 391–397), gerät in seinem Monolog die Selbstliebe zum primären Entscheidungskriterium noch vor dem Wohl der Verwandtschaft und der Bevölkerung Trojas. Die Vorstellung einer „angemessenen Form von Selbstliebe“ (Christoph Horn, S. 48) und problematischer Ausprägungen thematisiert auch Augustinus (vgl. Aurelius Augustinus: De Trinitate. Libri XV. Hg. v. William J. Mountain und François Glorie. Turnholti 1968 [CCSL. Bd. L, Pars XVI, 2], XIV 14, 18). Copleston, S. 84. Explizit betont Abaelard die mangelnde Schuldhaftigkeit eines Kindes: quamdiu anima in infantili etate constituta est, peccato caret (Petrus Abaelardus: Scito te ipsum. Turnhout 2011. Hg. v. Rainer M. Ilgner [Fontes Christiani. Bd. 44], I 13, 4).
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allen widerstrît (Troj., V. 517) generiert zu haben, als trügerisch, beruht Paris’ Leben fernab des Hofes darauf, dass der süeze waenen wolte (Troj., V. 590), hier Harmonie gefunden zu haben. Nicht von ungefähr sieht sich Priamos an seinem geburtlichen tage (Troj., V. 5473) erneut mit der Verstoßung seines Sohnes konfrontiert, dessen Integration in den familiären Mikrokosmos im Zuge des Apfelurteils abermals zur Verhandlung steht27. Abseits der Gesellschaft und aleine trûric (Troj., V. 5447) in den wankenden Zustand des Zweifels zurückversetzt, wendet sich nun das Schwert, ein Symbol der Abstoßung, als Damoklesschwert gegen ihn selbst (vgl. Troj., V. 5499–5621). Die revidierende Entscheidung, Paris trotz Bedenken zu minnen (Troj., V. 5681), gründet nicht länger auf zorne (Troj., V. 5672), sondern auf senftekeit (Troj., V. 5671), die sich auf diu veterlichiu güete (Troj., V. 5670), diu natûre (Troj., V. 5676) und daz angeborne reht (Troj., V. 5677) beruft – eine Conclusio, die Natur und Recht, Subjektivität und Objektivität, Nähe und Distanz zu berücksichtigen scheint. Die durch Priamos ausgerufene êweclichiu suone (Troj., V. 5708) aber widerspricht in ihrer erneuten Absolutheit dem persistierenden Aushandlungsanspruch einer Kräfteökonomie und lässt die Harmonie als fragil vermuten. Auch Paris erscheint nach seiner Verstoßung als neu Geborener, der seiner kindlichen Unkenntnis entwachsen und zu eigenverantwortlicher Ökonomie heranwachsen kann. Von einer Hirtenfamilie adoptiert und in den naturzivilisatorischen Hybridraum eines bukolischen Idylls aufgenommen, beginnt sich für Paris jener Aushandlungsappell zu formulieren. Bereits mit Blick auf die Hirtin, die in übergroßer minne zu Paris ein ander ammen [...] gewan, / der si befalch ir selbes kint (Troj., V. 570 f.), zeigen sich abermals problematische Facetten einer Tauschmentalität – Bekanntes gegen Neues, Eigenes gegen Fremdes28 – in der Eltern-Kind- sowie Geschwisterbeziehung. Paris hingegen gelingt es in unwissender, vermeintlicher Balance zunächst, sich als versöhnender Richter in den Spielen der Hirtenkinder zu etablieren.
Dabei bildet die Reintegration des Paris in den familiären Kosmos eine Reversion des Abstoßungsprozesses. So erfolgt die Erkenntnis seiner Identität als Königssohn – vermittelt durch den zum Auftragsmörder bestimmten Diener des Priamos – zunächst durch den Hirten, wird auf der Ebene der Geschwisterbeziehung an Hector herangetragen, um in Priamos ihren Abschluss zu finden. Indem dieser den Hirten für die Rettung seines Sohnes entlohnt (vgl. Troj., V. 5722–5725), artikulieren sich Priamos’ Abstoßungsstrategie des Auftragsmordes und Anziehungsstrategie der Wiederaufnahme des Sohnes unter ähnlichen materiellen Vorzeichen. Jene Tauschmentalität, die Paris im Kontext seiner Adoption erfährt, erweist sich bezüglich des Apfelstreits, in dem der Herangewachsene Egenoe gegen Helena zu tauschen beabsichtigt, erneut als relevant.
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Neben ihrer Konkretisierung in den Mikrokosmoi der Ehe und Familie erlangen die Daseinskräfte minne und strît für Paris auch Relevanz hinsichtlich seiner Paarbeziehung. Mit der Nymphe Egenoe findet Paris ausgewogene Liebe, da si twanc gemeine güete / ûf der gelîchen minne solt (Troj., V. 722 f.). Ähnlich dem augustinischen Ideal aufrichtiger und von Materiellem befreiter Zuwendung29, können doch Hirte und Nymphe einander nichts als muot und lîp schenken (vgl. Troj., V. 718–729), bleibt die Liebe ân allen falschen mein (Troj., V. 725), ohne Kalkül, ohne ein Übermaß an Anziehung oder Abstoßung. Diese naturharmonische Einheit30 artikuliert sich in einer sprachlichen Umarmung der Liebenden: er wart ir man, si wart sîn wîp, / si wart im trût, er wart ir liep (Troj., V. 728 f.). Die Notwendigkeit beständiger Aushandlung aber deutet sich in Egenoes Zweifel an, eine andere Frau könne Paris – wenngleich in vorschuldhafter Logik des Naturkosmos von geschiht (Troj., V. 745), nicht durch Kalkül – von ihr scheiden (vgl. Troj., V. 770), Abstoßung um neuer Anziehung willen tauschend erfolgen31. Noch vermag Paris, die ihn umgebende Naturharmonie reziprok in diese einzuschreiben, seine ausgewogene minne als Naturgesetz tief an des boumes rinden (Troj., V. 784)32 zu gravieren. So müsse im Moment der Trennung das Wasser ze berge fliezen hinder sich / und widersinnes riuschen (Troj., V. 794 f.). Doch die Behauptung der Gültigkeit des Schwures hiute / und êweclîchen iemer mê (Troj., V. 788 f.) erinnert mahnend an die Problematik einer ewigen durch Priamos ausgerufenen familiären suone und stellt den Eindruck einer ausbalancierten staete[n] minne (Troj., V. 734) in Unkenntnis der eigenen Identität sowie ohne bewusste Reflexion in Frage. Erst das Apfelurteil, das Alternativen präsentiert, richtet den Appell zu einer eigenverantwortlichen Kräfteökonomie an den zu Willensfreiheit – ähnlich Abaelards Gedanken eines
So lehnt Augustinus die Last des Vergänglichen ab, sarcinam uanitatis (Confessiones VIII 7, 18) und warnt vor einer Logik des Erkaufens von Zuwendung (vgl. Confessiones VIII 10, 24). Die besondere Einheit des Paares wird durch die Formulierungen gemeine (Troj., V. 722), gelîch[...] (Troj., V. 723) und beide (Troj., V. 724) affirmiert. Auf die Relevanz temporaler und spatialer Grenzen hinsichtlich einer „Abgeschiedenheit der Liebenden“ (Eva Illouz: Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus. Frankfurt a. M. 2007, S. 143) verweist Eva Illouz. Diese Abgeschiedenheit aber deutet die Problematik einer Prüfung der Bindung zwischen Paris und Egenoe im Raum der Gesellschaft und die Problematik ihrer Dauer an. Das Naturgesetz artikuliert so den Gedanken an „Einzigkeit und Unersetzlichkeit“ (Hartmann Tyrell: Romantische Liebe – Überlegungen zu ihrer „quantitativen Bestimmtheit“. In: Theorie als Passion. Hg. v. Dirk Baecker, Jürgen Markowitz, Rudolf Stichweh, Hartmann Tyrell und Helmut Willke. Frankfurt a. M. 1987, S. 570–599, hier S. 584) und ist frei von einer Tauschlogik.
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„allgemein-menschlichen Ermöglichungsgrund[es] sittlichen Handelns“33 – gereiften, der vorverhandelten Kindlichkeit und halbbewussten Adoleszenz entwachsenen Paris. Nun ist es an ihm, anders als sein Vater nicht dem Übermaß der Pulsation anheim zu fallen, sondern eine Ökonomie in Balance zu generieren, die jene durch Augustinus betonte „Zerrissenheit des Willens“34 in ihrer Relation zu dessen Freiheit35 begreift, eine Ökonomie, in der gemäß Abaelard die potenzielle „Erblast [...] nicht die Selbstbestimmung des Willens zum Guten außer Kraft setz[t]“36.
3 Ein Urteil in niuwer minne – Ökonomie und Verantwortung Die Vorzeichen zu jener Kompetenz scheinen für Paris günstig zu sein, konfiguriert sich doch seine Identität im Kontext der Richtertätigkeit und ihrer Logik des Abwägens, die ihm seinen Namen verleiht – ‚par‘ und ‚gelîch‘ sint ebensleht (Troj., V. 664) – sowie die Fähigkeit zur Aushandlung einschreibt37. Paris fungiert als Repräsentant des Ausgleichens und Ausgeglichen-Seins, als gelîch erweist sich seine minne, als gelîch erweist er sich selbst. Doch das bukolische Idyll ist räumlich, Paris’ Verweilen notwendig temporal begrenzt, da er jenseits des Spiels Verantwortung und Konsequenzen seiner Abwägungen in den Mikrokosmoi erfahren muss. Im Apfelurteil verlagert sich daher die Verhandlungsperspektive auf Paris als potenziell handlungsfähiges Agens, erzielt jedoch abermals Effekte auch auf das Kräftegleichgewicht familiärer und gesellschaftlicher Mikrokosmoi. Paris’ Entscheidungsdruck artikuliert sich dabei in der materiellen Konkretisierung abstrakter Ökonomieaspekte, die die bereits in Paris’ minne zu Egenoe angelegte Idee des soldes intensiviert und weiterdenkt. Im Kontext einer Götterhochzeit, eines Festes der minne, formuliert Discordia als Göttin der Zwie Kurt Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli. 3. Aufl. Stuttgart 2013, S. 251. Horn, S. 137. Vgl. Horn, S. 136 f. Flasch, S. 251. Auf die etymologische Kontextualisierung des Paris geht auch Wiebke Freytag ein und konstatiert eine „Bestimmung des Individuellen durch Universales“ (Wiebke Freytag: Zur Logik wilder âventiure in Konrads von Würzburg Paris-Urteil. Stuttgart 1988/1989 [Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft. Bd. 5], S. 373–395, hier S. 384), da sich in Paris „wahre Gerechtigkeit“ (Freytag, S. 384) einschreibe.
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tracht das Postulat einer Positionierung zu Pulsationsdynamiken, das sich im Apfel manifestiert38. Dieser erinnert in seinem hemisphärischen Aufbau, da er von zwein stücken doch / z’ein ander wol geloetet (Troj., V. 1394 f.) und in seinem Äquator durch ein Spruchband eingefasst ist, das sich der Sprache des Betrachtenden anpasst (vgl. Troj., V. 1436–1481), an Kosmoskonstruktionen39, an die Vorstellung einer Zweiheit, zu deren Reflexion jeder Einzelne40 aufgerufen ist41. Er fungiert so als ‚be-greif-bares‘ Pendant zu Hekubas Traum, als in die Handlungsebene eintretendes Transzendenzmoment. Auch die Argumentation erfährt eine Verdinglichungstendenz, vermengen sich doch in der durch Paris zur Entscheidung geforderten Diskussion der Göttinnen Juno, Pallas und Venus Argumentierende und Argumente. In Divergenz zu der minne, die Paris und Egenoe einander tougen (Troj., V. 732) entgegenbringen42, wird nun in der Öffentlichkeit der Wert der minne zur Disposition gestellt, materielle und immaterielle Güter als Diskursobjekte und -subjekte in Konflikt gebracht. Wieder erweist sich Sprache als bedeutsam, jedoch gemäß dem Zivili-
Jupiters Versuch, in Discordia eine Repräsentantin des Streites aus dem olympischen Dasein zu verbannen, erweist sich vor dem Hintergrund der erforderlichen Ökonomieaushandlung als problematisch und in seiner Einseitigkeit ähnlich Priamos’ Vorhaben, Paris als Bedrohung auszugrenzen, eine eigenverantwortliche Auseinandersetzung mit Pulsationsdynamiken zu verweigern. Discordias Rache ist daher nicht ausschließlich als „überdeterminiert“ (Armin Schulz: Schwieriges Erkennen. Personenidentifizierung in der mittelhochdeutschen Epik. Tübingen 2008, S. 460) und als einem „‚Zuviel‘ an kausaler Motivation“ (Schulz, S. 460) geschuldet zu deuten, gehöre es doch „ohnehin zu ihrem ‚Wesen‘ [...], Haß und Neid zu säen“ (Schulz, S. 460). Sie thematisiert Entscheidungsfreiheit, Verantwortung und Verantwortlichkeit. Vgl. Verena Ebermeier: Die Insel als Kosmos und Anthropos. Dimensionen literarischer Rauminszenierungen am Beispiel des ‚Trojanerkriegs‘ Konrads von Würzburg und der Heiligenlegende ‚Navigatio Sancti Brendani Abbatis‘. Berlin 2019 (Regensburger Studien zur Literatur und Kultur des Mittelalters. Bd. 4), S. 388. So fungiert das Erzählen von Discordia nicht als wenig sinnträchtige Begründung für eine erneute Fokussierung des Paris (vgl. Wolfgang Monecke: Studien zur epischen Technik Konrads von Würzburg. Das Erzählprinzip der wildekeit. Stuttgart 1968 [Germanistische Abhandlungen. Bd. 24], S. 75), sondern impliziert einen Appell. Zugleich deutet die anspruchsvolle Dechiffrierung des Apfels (vgl. Troj., V. 1400–1433) auf die Komplexität der in den Mikrokosmoi der Figuren auszuhandelnden Kräfteökonomie, antizipiert der Weltapfel die Konsequenzen der Entscheidung des Einzelnen für die Gemeinschaft, die Welt, auf die der Krieg ausgeweitet wird. Elisabeth Lienert spricht hinsichtlich der Liebe zwischen Paris und Egenoe von einer ‚„private[n]’ Minne“ (Elisabeth Lienert: Helena – thematisches Zentrum von Konrads von Würzburg ‚Trojanerkrieg‘. Stuttgart 1988/1989 [Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft. Bd. 5], S. 409–420, hier S. 417).
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sationskontext nicht länger als durch „Unmittelbarkeit in der Kommunikation“43 codierte, harmonisierende Versicherung, sondern als rhetorisch stilisiertes44 Drängen zur Hierarchisierung im Sinne „mit dialektischer Rhetorik entworfene[r] orationes“45. Wenngleich um Objektivität bemüht46, droht Paris den intrapersonalen Kompass zur Aushandlung von Anziehung und Abstoßung, kognitiver Nähe und Distanz zu dem Verhandelten, zu verlieren, da nun sîn muot begunde wanken / dar unde dan, her unde hin (Troj., V. 2698 f.). Diese Instabilität bewirkt Paris’ Degradierung von einem Richter zur Verhandlungsreferenz, die für Bestechungen (vgl. Troj., V. 2704) zugänglich und in die Pulsationsdynamiken involviert ist. Adversativ zu Priamos verschuldet er als Konsequenz übermäßiger minne expansiven strît mit. Jene Logik der Korruption, der Vermengung des Materiellen und Immateriellen sowie des daraus resultierenden Soges des Richters in den Diskurs, bedingt mit Paris’ Urteilsspruch eine Zäsur, die dessen Heraustreten aus der Ganzheit des Idylls in eine Dynamik des Separierens bezeichnet, und verursacht eine modifizierte „Phänomenologie der Liebesbeziehung“47. Die auf Zweisamkeit fokussierte und nun als alt (vgl. Troj., V. 4377) wahrgenommene minne zu Egenoe wird ersetzt durch eine die „Konstellation von Zweiheit“48 des Menelaos und der Helena aufbrechende niuwe[...] minne (Troj., V. 4376) des Paris – ein durch Tauschhandel bestehende Ökonomien irritierendes Begehren. Mit Blick auf den Apfel als Währung und Vertragsobjekt zwischen Venus und Paris, der nach dem Besitz Helenas verlangt, die geheizen im ze lône was (Troj., V. 2745), ist eine minne mit gelîchem solt durch eine minne als solt substituiert – eine Entscheidung, die auch den Erzähler wunder (Troj., V. 2741) nimmt. Problematiken der Verantwortung und der
Annemarie Opp: Liebe und Konsum. Ästhetik und Poetik eines Zusammenhangs in Romanen der Moderne und Postmoderne. Bielefeld 2019, S. 53. Auf die „Maßgabe der Syllogistik und Topik“ (Freytag, S. 385) sowie die Positionierung der Argumentation der Göttinnen in den Kontext aus Logik und Rhetorik verweist Wiebke Freytag (vgl. Freytag, S. 385). Freytag, S. 385. Da Paris zwar wolt [...] vil gar betrahten (Troj., V. 2709), welcher Wert den präsentierten Gütern zuzusprechen ist, das Werk jedoch „die umfänglichen Plädoyers der involvierten Parteien und das kurz begründete Urteil des Richters“ (Freytag, S. 385) ohne Schilderung Paris’ Gedankenganges darlegt, bleibt die nur retrospektiv mit Erklärungsversuchen versehene Entscheidung in ihrer Begründung vage. Illouz, S. 263. Opp, S. 53.
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sich aufdrängenden Schuldfrage49 begegnet dieser durch einen Verweis auf die natûre (Troj., V. 2719) und art (Troj., V. 2719) der Jugend sowie daz gemeine reht / und sîn spilndiu kintheit (Troj., V. 2750 f.), die den adoleszenten Paris, in der Liminalität kindlicher Leichtmütigkeit und notwendiger Eigenverantwortung, zu seinem Urteil in erotischer Liebe, ebenfalls ein „Schwellenzustand“50, bewegen. Dieser Rekurs auf Natur, Recht und Kindheit erinnert an das durch Paris formulierte Naturgesetz seiner minne gegenüber Egenoe, die er in der Dysbalance der Tauschökonomie nun gänzlich vergisst, da si wart ûz sînem sinne / gestôzen bî der stunde (Troj., V. 4388 f.). Die Pulsation aus Abstoßung und Anziehung erzielt erneut Effekte auf interpersonale Bindungen. Die Synchronität des minne-Paares Egenoe und Paris, dessen Liebe auch temporal als gelîch zu verstehen ist, tritt zurück hinter eine ertauschte Verheißung zu erfüllender minne51. Die Problematik jener Zäsur zeigt sich nicht zuletzt im Agieren der Transzendenzinstanzen. Venus selbst, die unmittelbaren Gewinn in Gestalt des Apfels erhält, verweigert ein Negieren des Naturgesetzes und konterkariert die Logik eines Tauschanspruchs auf minne, da sie nach dem Urteil wolte im rîches lônes gelt / ze solde bieten unde geben (Troj., V. 2894 f.), nicht Helena, sodass Paris hinsichtlich deren Erwerbs auf sich zurückgeworfen bleibt52. Wieder artikuliert sich hierin die Verantwortung des Einzelnen für eine Ökonomie der Daseinskräfte. Bereits im Vorfeld des Urteils treten daher Gott und Jupiter in den Hintergrund – ein notwendiger Schritt des zur Bewusstheit qualifizierten Menschen aus der Sicherheit göttlicher Fürsorge in die Freiheit seiner Entscheidung. So erkennt Jupiter, bescheiden unde wîs (Troj., V. 1583), in jenem kriec (Troj., V. 2758)53 der Göttinnen den Schiedsspruch als ein swaere bürde (Troj., V. 1582) und verweigert die Verantwortung für das drohende Ungleichgewicht
Die Frage nach der Art des zu fällenden Urteils, nach Entscheidungskriterien und Folgen, rückt die Symbolik des Apfels in den Assoziationskontext des Sündenfalls, zwingt das geforderte Urteil doch Paris zur Reflexion über ein Verbleiben oder Verlassen des bukolischen Idylls. Opp, S. 60. Auch kommunikativ ist hinsichtlich Paris’ in den Baum gravierter Liebesaffirmation im Gespräch mit Egenoe eine Synchronität der Kommunikation der Minnenden zu konstatieren, mit Blick auf Paris und Helena zunächst eine asynchrone Kommunikation des Minnenden über sein Begehrsobjekt. Paris formuliert nach vergeblichem Warten auf Venus’ Hilfe daher Vorwürfe mangelnder Unterstützung (vgl. Troj., V. 18860–18873). Wiebke Freytag betont die konfrontative Darstellung der durch die Göttinnen repräsentierten Güter als „mit Worten ausgetragenen kriec oder strît“ (Freytag, S. 384).
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unter den gegeneinander Abgewogenen54. Diese obliegt dem Menschen, nun Paris, wie zuvor Priamos55. Ist Paris’ progressives Streben nach dem Konsum neuer minne Priamos’ regressivem Streben nach dem Erhalt des Bestehenden diametral entgegengerichtet, so gründet es doch erneut auf der Problematik einer adäquaten Ökonomie. Die Zäsur jener Verabschiedung des Naturidylls und seiner Balance offenbart sich in Paris’ Investitur in Kleidung, die in ihrem Prunk eine Absage an Naturgebundenheit impliziert56. Sie antizipiert die sich intensivierende Involviertheit des Trojaners in die Pulsationsdynamiken, seine Entwicklung von einem Richter zu einem Verhandelnden und zu einem Verhandelten, zu einer Währung, als die er im Kontext des Krieges fungiert. Erzählerisch wird dieses argumentative ‚Aber‘, das dem kindlichen Idyll die Eigenverantwortung des Erwachsenen entgegensetzt, der vermeintlichen Conclusio des Kindheitszyklus, der Wiederaufnahme des Paris in die Königsfamilie, vorgeschaltet, ist in ihr diskursiv-verhandelnd angelegt.
4 Kraeme als Konsequenz – Zwischen Handel und Handlungsunfähigkeit Jene Verdinglichung zu einem Verhandelten zeigt sich in einer dritten Episode, der Entführung Helenas, in der Paris als Konsequenz seiner distanzlosen Involviertheit in die Pulsationsdynamiken und kraeme-Prozesse selbst zu krâme gerät. Sie komplettiert mit der erneuten Darstellung von Ökonomie, Rhetorik und Naturgesetz den narrativen Dreiklang aus kindlicher Kosmosverbundenheit, adoleszenter halbbewusst-affektiver Entscheidung und den Effekten deren Ausagierens. Im ambigen Raumkontext der Insel Kythera, die in ihrer natürlichen Abgeschlossenheit und Ganzheit sowie als einziges Handelszentrum des Romans, als Ort der kraeme (Troj., V. 19628), eine Synthese des bukolischen Eine Überlegung zu den Konsequenzen einer modifizierten Ökonomie, wie sie in Jupiters Zögern angedeutet wird, legt Paris seinem Apfelurteil nicht zugrunde. Vor diesem Hintergrund ist das Unheil, das aus Paris’ Entscheidung für Helena und deren Entführung resultiert, keineswegs als ein „Kuriosum“ (Monecke, S. 81) zu verstehen, das lediglich durch eine Logik des „Unverhältnis[ses] zwischen kleiner Ursache und großer Wirkung“ (Monecke, S. 81) entsteht. Explizit ist Paris’ neue Kleidung codiert durch Reichtum und Kunstfertigkeit in übermuot (Troj., V. 2943), ausgestattet mit dem, was hôher kosten gelt (Troj., V. 2942) an Prunk ermöglicht, den aber kein gebirge nie getruoc / noch diu erde brâhte vür (Troj., V. 2956 f.) und der so Natürlichem entgegensteht.
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Idylls und des trojanischen Hofes bildet, erscheint abermals Transzendenz als Initiationsmoment. Anders als in Hekubas Traum wird diese nicht allein wie in Discordias Apfel ‚be-greif-bar‘, sondern in Entsprechung zu Paris’ zunehmender Involviertheit in die Kräftepulsation auch ‚er-fahr-bar‘. So spiegelt die Insel in ihrer Konstruktion als in sich geschlossenes Ganzes, das über konzentrisch angeordnete Raumsphären verfügt, den durch Gott gewirkten Makrokosmos57, vermittelt in ihrer Repräsentation durch Helena als personifizierte Schönheit und durch den Kriegsherrn Menelaos die Einheit und Ausgewogenheit der kosmischen Pulsationsdynamiken minne und strît. Während sich Paris im Apfelurteil zunächst theoretisch für einen Eingriff in diese Ganzheit entscheidet, steht er nun am Scheideweg eines konkreten Ausagierens – der Realisierung oder Revision. Räumlich artikuliert sich die Relevanz einer bewussten Wahl in der Verortung des betehûs (Troj., V. 19557) der Venus, der Inselpatronin, in unmittelbarer Nähe zu einem Handelsplatz, dâ man des mâles feile fant, / swaz man von krâme wolte (Troj., V. 19558 f.), rhetorisch in dem Verhandlungsdialog der Helena und des Paris, der in seiner Ausführlichkeit dem Streit der Göttinnen verwandt ist. Nicht von ungefähr erinnert die Königin in ihrer Absage gegenüber Paris an dessen Untreue gegenüber Egenoe und so an das gebrochene Naturgesetz (vgl. Troj., V. 22146–22155)58, das, nach der Formulierung durch diesen selbst und der Wiedergabe durch den Erzähler, der es im Apfelurteil auf einer Metaebene an die Rezipierenden vermittelt, konfrontativ auf seinen Urheber zurückgeworfen wird. Nicht zufällig erinnert Paris an Theseus, ebenfalls ein Entführer Helenas, der diese jedoch revidierend und frî vor allen minnen (Troj., V. 21121) heimkehren lässt – ein tôre (Troj., V. 21118) in den Augen des durch Begehren kognitiver Distanz und Abstoßung beraubten Paris, ein Indiz aber für Willensfreiheit angesichts drohender Dysbalance durch Affekte59. Diesen unterliegend, wird Paris zu einem Verhandelten,
Vgl. Ebermeier, S. 149–166. In ihrer Rede beantwortet Helena Paris’ minne mit Widerstand, mit strîte (Troj., V. 21929), – ein Unterfangen, das für die minne-Repräsentantin Helena problematisch ist. So erweisen sich die Ereignisse „als Summe von Abläufen des Mißlingens auf allen Ebenen, von der privaten Minnebeziehung bis zur Weltgeschichte“ (Elisabeth Lienert: Der Trojanische Krieg in Basel. Interesse an Geschichte und Autonomie des Erzählens bei Konrad von Würzburg. In: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991. Hg. v. Joachim Heinzle. Stuttgart 1993, S. 266–279, hier S. 274), jedoch liegt „kein fataler Automatismus“ (Elisabeth Lienert: wildekeit und Widerspruch. Poetik der Diskrepanz bei Konrad von Würzburg. Berlin 2018 [Veröffentlichungen der Wolfram von Eschenbach-Gesellschaft. Wolfram-Studien. Bd. XXV], S. 323–341, hier S. 339) vor, keine von Entscheidungsfreiheit losgelöste „Mechanik des Untergangs“ (Schulz, S. 459), die auf „mechanische[...] Reaktionen auf den sozialen Zeichenwert von Schönheit“ (Schulz, S. 459) gründet.
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krâme, das dem Konsum durch Helena entgegenstrebt, Helena von einem Verhandlungsobjekt zu einem -subjekt. Die Folgen aus Handel und Handlungsunfähigkeit werden nicht in den Natur-, sondern Zivilisationsraum extendiert, aus der Ökonomie des Einzelnen in die der Ehe und Familie bis in die der Gemeinschaften im Weltkrieg.60 Intrapersonal artikulieren sich Paris’ Dysbalancen in der kalkulierenden Verschleierung seiner gerade entdeckten Identität durch den Namen Alexander (vgl. Troj., V. 20662–20665). Interpersonal offenbart Paris’ Separation des Menelaos und der Helena, der durch sie repräsentierten Einheit von minne und strît, Disharmonien61. Paris aber hält an der Tauschlogik fest, fordert Helena, die erst in ihrer Vorstellung als von ihrem ausgleichenden Pendant Menelaos Getrenntes, Verfügbares zu einem „Inbegriff der Dialektik von [...] Positivität und Negativität“62 gerät. Reflexionsunfähig, fällt Paris doch angesichts Helenas im minne-Rausch und in asymmetrischer Passion63 in Ohnmacht64, sowie als zu Tauschendes, als krâme, nur bedingt handlungsfähig drängt er auf den Tausch des Ehemannes gegen den Geliebten. Dieser kann als minne-, nicht kampfes-
Klemens Alfen betont die im Vergleich zu Benoît – Dichter einer der Vorlagen des Romans – ausführlicher gestaltete Inszenierung des auch durch den Konflikt zwischen Jason und Priamos evozierten Krieges zu einem Weltkrieg, versteht diesen aber vorrangig als „weltweite[n] Konflikt der Ritterschaft“ (Alfen, S. 12). Nicht von ungefähr wird nicht Helena selbst für das Unheil des Krieges verantwortlich gemacht, sondern Paris (vgl. Lienert, Helena, S. 412–414). Er ist es, der in Helena, einer mit „übermenschliche[n] Beiworte[n]“ (Lienert, Helena, S. 412) attribuierten Figur, die Repräsentantin einer Daseinskraft aus ihrer mit Menelaos etablierten Ökonomie in Ganzheit löst. Dieser Eingriff in Folge eines im olympischen Kontext gefällten Urteils erinnert an die eine Einheit bildenden Kugelmenschen in Platons Symposion und die leidvollen Konsequenzen deren Trennung durch Zeus (vgl. Symposion, 189d–190e). Lienert, Helena, S. 410. Vgl. Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1998, S. 76. Beim Anblick Helenas nicht zu steigernder physischer Anmut (vgl. Jean-Marc Pastré: Typologie und Ästhetik: Das Porträt der Helena im ‚Trojanerkrieg‘ Konrads von Würzburg. Stuttgart 1988/1989 [Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft. Bd. 5], S. 397–408, hier S. 406) artikuliert sich Paris’ inneres Ungleichgewicht in dessen Ohnmacht. Die Asymmetrie jener zunächst nicht in gleicher Weise erwiderten Passion wird erst nach Paris’ wiederholter Bestätigung seiner Entscheidung zur Realisierung des Apfelurteils durch das Entführungsvorhaben aufgelöst, indem nun auch Helena überwältigt in Ohnmacht fällt (vgl. Troj., V. 22910–22915) und in dieser Paris’ Ohnmacht und die Dysbalance seines Agierens in übermäßiger Liebe spiegelt.
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Held Menelaos bezüglich einer Kräftebalance im Mikrokosmos Ehe indes kaum substituieren.65 Paris’ zunehmende Integration in die Handelslogik zeigt sich in Materialisierungstendenzen. In Anwesenheit des Menelaos findet Paris’ heimliches Begehren so sein Ventil in Kompensationsinstrumenten. Nicht von ungefähr zeigt sich Paris’ rauschhafte minne bei Tisch, bemüht sich dieser, aus Helenas Gefäßen zu trinken – dort, swâ [ihr] gestanden was der munt (Troj., V. 21672) –, mithilfe des Weines selbst, mit dem er vielfach amô (Troj., V. 20770; V. 20776) auf den Tisch schreibt, tet [Paris] si mit buochstaben / gewis, daz er si meinte (Troj., V. 20780 f.). Stuhl und Boden (vgl. Troj., V. 20794–20805), doch auch Helenas Tochter (vgl. Troj., V. 20782–20793), fungieren als Projektionsreferenzen, als „Objekte[...] der Begierde“66 in einer Aufladung des nüchternen Raumes67, um Paris’ verweigertes Bedürfnis nach minne-Konsum und Konsumiert-Werden zu befriedigen. Anders als die durch Synchronität codierte Natur-minne zu Egenoe sucht sich die durch die ovidischen quinque lineae amoris68 höfisch codierte Passion in ihrer Retarsion auf dem Weg aus visus, colloquium, tactus, osculum und coitus69 Begehrssubstitute. Personal-materiell ist ebenfalls Paris’ Einsatz, um sein Begehren zu realisieren. So lehnt Helena in einem Verhandlungsdialog Paris’ Bestechungsversuche ab, der ihr „als bewusste[r] Stratege mit einem klaren Sinn für ‚Investitionen‘“70 vil rîcheit unde guotes (Troj., V. 21620 f.) verspricht, nicht nur Egenoe und das Naturgesetz, sondern auch die Gemeinschaft vergisst und von sich stößt. Indem Paris sîn lant [...] haete [...] ê verlorn / und alle sîne mâge (Troj., V. 22974 f.), bevor ein Verzicht auf Helena denkbar erscheint, nähert er sich der Haltung seines Vaters an, der dessen Verstoßung umgekehrt mit der Überlegung begründet: wirt nû sîn leben niht verlorn, / mîn lant zergât in kurzer frist (Troj., V. 424 f.) – die Kräftepulsation weicht erneut von Ausgewogenheit ab.
So zeigt sich Helena in ihrer Teichoskopie auf das Schlachtfeld des Krieges in ihrer Erwartung, dass dieser baz minnen (Troj., V. 35374) als kämpfen könne, erstaunt über Paris’ Fähigkeit, sich zur Wehr zu setzen. Opp, S. 64. Vgl. Opp, S. 64. Rüdiger Schnell evaluiert diese Stufung der minne-Entwicklung unter Berücksichtigung der Ausführungen Ovids als Topos der Literatur des Mittelalters (vgl. Rüdiger Schnell: Ovids Ars amatoria und die höfische Minnetheorie. In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 69 [1975], S. 132–159, hier S. 135–143). Vgl. Schnell, S. 139. Illouz, S. 262.
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Jener Mangel71 an Balance artikuliert sich in Neucodierungen aus dem Kontext der Vorgeschichte des Paris bekannter Erzählmomente, die nun einen Konnex aus „Leidenschaft [sowie] Umsicht und durchdachte[r] Planung“72 offenbaren. Abermals findet ein Liebesgeständnis seinen Weg in die Schrift, doch das heimliche Schreiben in Wein auf einen Tisch – verortet in Kulturisations- und Zivilisationszeichen als Signum für Bewusstheit und Strategie, aber auch für Flüchtigkeit und Konstruiertheit –, konterkariert das in den Baum gravierte Naturgesetz. Die Schilderung, dass in Bezug auf die letztlich realisierte Hingabe Helenas an Paris diu minne wac in unde maz / gelîche ir wunnebaeren solt (Troj., V. 22944 f.), erfährt ebenfalls mit ihrer Einbindung in einen Verlustdiskurs73 sowie mit der Feststellung, in beiden wirke die Liebe âne mâze (Troj., V. 22947), eine Relativierung. Während sich Paris und Egenoe – der Hirtenjunge und die Nymphe – ähnlich dem augustinischen Ideal74 nur ihre minne zu schenken vermögen, konkretisiert sich für Paris und Helena – den Königssohn und die Königin – ihr Einsatz materiell, familiär und gesellschaftlich75, nimmt Paris Konsequenzen seines Ungleichgewichts für Troja und Helena den Verlust von man unde kint, liut unde lant (Troj., V. 22962) in Kauf. Auf dem Schlachtfeld des Weltkrieges zeigen sich die Effekte der Disruption gesellschaftlicher Mikrokosmoi anhand des Schwertes als narrativem Moment. Vermag das Kind Paris die zwêne mordigen man (Troj., V. 479), die ihr Schwert gegen ihn erheben, mit seinem Lächeln zu besänftigen, so versagt das Schwert Paris nun seinen Dienst in Konfrontation mit Achill, Menelaos, Castor und Pollux – eine quantitative Steigerung des Übermaßes an strît und Abstoßung, da si viere wâren im ein her (Troj., V. 34892)76. Involviert in die Pulsation und in maß Die Problematik des in Besitzgier künstlich generierten Mangels benennt auch Helena explizit, indem sie verkündet, Paris müsse mangel [...] hân / der schoenen sache wolgetân (Troj., V. 21753 f.), sich selbst gemäß jener Logik in der Vorstellung eines dinges (Troj., V. 21756) begreifend. Paris’ Gier und Dysbalance laufen, dies betont Helena, adeliger Tugend zuwider (vgl. Troj., V. 21756–21759). Luhmann, S. 76. Diese verlüste (Troj., V. 22959) beziehen sich für Helena sowohl darauf, daz si verlôs ir werden man / und swaz si geltes ie gewan (Troj., V. 22877 f.), auf Familie und Herrschaft, für Paris auf Troja, Freunde und Verwandtschaft (vgl. Troj., V. 22966–22975). Im Hinblick auf beide Liebenden fällt all dies einem Vergessen anheim (vgl. Troj., V. 22873; V. 22968). Siehe Anmerkung 29. Spricht Egenoe rhetorisch vergleichsweise neutral von ihrer Sorge, eine andere Frau könne Paris von ihr scheiden (Troj., V. 770), so kleidet Helena ihre anfängliche Ablehnung Paris’ Werbens in eine Sprache des Materiell-Ökonomischen, verweist auf ihren zu negierenden roup (Troj., V. 21829). In dieser Konstellation konterkariert Paris’ Geiselnahme durch die vier Krieger seine Wiederaufnahme in die trojanische Königsfamilie durch seine vier Brüder (vgl. Troj., V. 5632–5639).
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loser minne zu Helena zu ebenso maßloser des grimmen zornes tobesuht (Troj., V. 34931) gedrängt, wird Paris handlungsunfähig, gerät gar âne werc und âne wer (Troj., V. 34965) zur Geisel der Griechen, zu krâme ohne eigenen Wert. Erneut antizipiert Rhetorik, der Dialog des Paris und des Menelaos, jene Tendenz. So entwickelt Menelaos die Notwendigkeit, mit Paris kämpfend ze rechenunge (Troj., V. 34381) zu kommen, dessen Leben als zins (Troj., V. 34383) für Helenas Raub zu verlangen, nicht zuletzt aus dem Absolutum seiner minne-Beziehung: nieman uns zwêne scheiden sol (Troj., V. 34382), das an Paris’ Naturgesetz erinnert, dieses jedoch einer expliziten Entzeitlichung enthebt und mit der Vorstellung des berechnenden stelen (Troj., V. 34393) in den Kulturkontext transferiert. Ausdrücklich ist Helena seines herzen künigîn (Troj., V. 34368), ein nur temporär aus der Eheeinheit separierbares Moment mit „hochgradig identitätsstiftend[er]“77 Wirkung. Paris hingegen bezieht jenen zol oder zins (Troj., V. 34446) auf sich selbst und sucht die Entführung der durch ihn weniger emotional als mîn frouwe (Troj., V. 34442) bezeichneten Helena in kausallogischem Tauschverständnis als Rache für Hesiones Entführung durch die Griechen zu legitimieren. In Emotion und Bewusstheit ist Menelaos trotz angedrohter Rache zu Revision und Gnade gegenüber Paris fähig, der in realisierten Rache- und Tauschdynamiken (vgl. Troj., V. 34414–34417), in kraeme-Prozessen, zu krâme verdinglicht wird. Über weitere Konsequenzen schweigt der Fragment gebliebene Roman. Der intradiegetisch mehrfach an Paris adressierte Appell zu einer eigenverantwortlichen Aushandlung der Pulsationsdynamiken als Daseinsprinzip lässt sich jedoch auch als an die Rezipierenden des Werkes gerichtete Aufforderung verstehen. In Entsprechung ihrer jeweiligen Ausgangssituation sind diese dazu angehalten, die Relation von minne und strît, Anziehung und Abstoßung, in ihrer spezifischen Ökonomie als Auszuhandelndes hinsichtlich Mikrokosmoi intra- wie vielfältiger interpersonaler Prägung zu reflektieren und zu gestalten.
5 Rezeptionsminne und Rezeptionskraeme – Erzähltechnik als Aushandlung Jenen Appell formuliert der Roman selbst, die Dichtkunst, als Berührungspunkt zwischen Transzendenz und Immanenz, Makro- und Mikrokosmos, versteht sich der Dichter doch im Prolog des Trojanerkriegs als mit Sprachkunst göttlich
Opp, S. 54.
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Beschenkter, sodass „[n]icht er dichtet, [...] es dichtet in ihm“78. Ähnlich dem Fackeltraum Hekubas, dem Apfel der Discordia und der Insel Helenas auf intradiegetischer Ebene fungiert das Werk auf extradiegetischer Ebene als Initiationsmoment einer eigenverantwortlichen Aushandlung der Kräfteökonomie, der Pulsationsdynamik aus minne und strît. Wird Dichtung aber als Aufruf zu einer Auseinandersetzung mit Aspekten des Kosmos sowie der eigenen Lebensführung betrachtet, so ist auch die Rezeption adäquat auszuhandeln, da sie in Analogie zu den geschilderten Dysbalancen Gefahrenpotenziale einer Fehlökonomie birgt. Ein Erzählen in Episoden, die die Aufmerksamkeit der Rezipierenden wechselnd an Paris’ Lebensweg binden und von diesem distanzieren, spiegelt die Pulsation aus Anziehung und Abstoßung, die komplexe Dynamik der Daseinskräfte, auf poetologischer Ebene als narratives Prinzip. Das Spiel divergierender Distanzebenen des Erzählens, das sich in der multiperspektivischen Fokussierung der Ökonomieproblematik durch die Elterngeneration, den Sohn und den Erzähler sowie in der multidimensionalen Betrachtung der Ökonomie als intradiegetisch formuliertes, erzählerisch reflektiertes und intradiegetisch konfrontatives Naturgesetz offenbart, fordert zu einer eigenständigen Positionierung heraus. Nur in einer ausgewogenen Wahrnehmung können Rezipierende das Werk zu ihrer Lebensführung in Bezug setzen und in einer distanzierten Reflexion die Episoden in ihrer Ganzheit ohne Involviertheit in die Pulsation des Erzählens überblicken. Weder übermäßige Rezeptionsminne79, die Rezipierende unbedacht in einen kraeme-Prozess drängt, noch maßlose kognitive Distanz, die ein Decodieren des Rezipierten verhindert, darf die Rezeptionsökonomie prägen. In ausgehandelter Balance ist diese die Grundlage für Erkenntnisse hinsichtlich der Mikroökonomie der Rezipierenden selbst und der Mikrokosmoi ihrer Lebenswirklichkeit.
Heinz Rupp: Der Dichter der Stadt Basel. Stuttgart 1988/1989 (Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft. Bd. 5), S. 31–34, hier S. 33. Mit dem Konnex von „Liebes- und Leselust“ befasst sich Jonas Grethlein in seiner Analyse der Odyssee Homers (vgl. Jonas Grethlein: Die Odyssee. Homer und die Kunst des Erzählens. München 2017, S. 266).
Angelika Kemper
Ökonomische Liebeshändel: Zweisamkeit und Geld in Ruprechts von Würzburg Die zwei Kaufleute Wenn es um ‚Liebe und Ökonomie‘ geht, scheint die spätmittelalterliche Märendichtung ein vielversprechendes Untersuchungsobjekt zu sein. In den Mären, die (per se zur schwankhaften Gestaltung neigend) bevorzugt prekäre Geschlechterbeziehungen in den Mittelpunkt stellen, werden soziale Beziehungen nicht nur nach Stand, Geschlecht und Normerwartung ausdifferenziert, sondern auch über ökonomische Aspekte. Dies ist gegenüber hochmittelalterlichen höfischen Dichtungen, deren Wertvorstellungen von traditionellen adligen Größen wie êre dominiert werden, ein neuer Zug – denn das Märe entsteht als Typ der Kleinepik in einem städtischen Kontext, wo sich eine Frühform des Bürgertums herauszukristallisieren beginnt und mit dem Patriziat und Kaufmannsstand einflussreiche Akteure auftreten. Freilich ist dieses Sozialsegment weder in der traditionellen Dreiteilung der Stände vertreten (die Klerus – Adel – Bauern erfasst), noch wird es in der zeitgenössischen literarischen Darstellung überhaupt als eine einheitliche Gruppe wahrnehmbar.1 Dass die Literatur hier an einem Prozess sozialer Identitätsstiftung beteiligt ist und die Problematik einer – auch ethischen und normativen – Selbstverortung reflektiert, wird durch den überlieferten Textbestand der unterhaltenden Kleinepik einsichtig. Der prekäre protobürgerliche Status der mit Ökonomie verbundenen Handlungsträger lässt vor dem Hintergrund zeitgenössisch veränderter Wirtschaftsstrukturen auch eine neue Vermessung gesellschaftlicher Zustände in der Literatur zu: Die aufkommende Profitwirtschaft im kaufmännischen Milieu sorgt dafür, dass der Diskurs des Geldes in mittelhochdeutsche Kurzerzählungen vermehrt Eingang findet. Hier trifft dieser Diskurs auf bewährte alternative (z. B. höfische, schwankhafte, tugenddidaktische) Formen der Beziehungs- und Konfliktgestaltung, was auch und besonders eindrücklich die Geschlechterbeziehung und (außer-)eheliche Liebe anbelangt.
Vgl. Winfried Frey: Tradition und bürgerliches Selbstverständnis. Zu Ruprechts von Würzburg Märe ‚Von zwei Kaufleuten‘. In: Mittelalterliche Texte im Unterricht. 2. Teil. Hg. v. Helmut Brackert, Hannelore Christ, Horst Holzschuh. München 1976 (Literatur in der Schule. Bd. 2), S. 93–129, bes. S. 119. https://doi.org/10.1515/9783110740806-004
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Der Beitrag soll auf der Basis eines ausgewählten mittelhochdeutschen Märes, Ruprechts von Würzburg Die zwei Kaufleute,2 eruieren, wie sich ökonomische und anökonomische Positionen – zentriert um Profit und Preisgabe – in der Handlungswelt realisieren lassen und welche Folgen daraus für das Interagieren der Figuren bzw. für die Geschlechterbeziehungen entstehen. Das soziale Setting des Kaufmannsmilieus und das handlungsinitiative Wettspiel lenken die Aufmerksamkeit auf ein enges Segment der erzählten Welt, auf die Opposition von Gewinn und Verlust, die als Prüfstein erfolgreichen Handelns gilt. Etwas weiter ausgreifend werden daher auch die Handlungslogik und Konfliktgestaltung zu berücksichtigen sein sowie die textintern angelegte Evaluierung. Dabei soll der Diskurs des Geldes3 besondere Beachtung finden, der ökonomisches Werten und Handeln gegenüber anökonomischen Impulsen sichtbar macht. Im thematischen Großbereich der Ökonomie angesiedelt, lassen sich Auswirkungen dieses Diskurses im Modell der erzählten Welt nachweisen. Er ist in der Lage, sich auf Motivebene zu entfalten und so den Kontrast von materiellen und immateriellen Gütern aufzudecken und ihre Relation anzuzeigen. Der Umgang mit Geld macht den ökonomischen Tauschkreis und die soziale Praxis entschieden transparent auf Regeln, aber auch auf veränderte Muster des Denkens, Sprechens und Handelns.
Der Titel entstammt der verwendeten Edition, welche der Handschrift (Von zwein kaůfmañ) folgt. Es handelt sich dabei um eine zwischen ca. 1350 und 1400 in Würzburg entstandene Papierhandschrift (Gotha, Forschungsbibliothek, cod. Chart. A 216, f. 76vb–82rb), während das Märe selbst dem frühen 14. Jahrhundert zuzuweisen ist. Eine französische Vorlage ist aufgrund der verwendeten Namen naheliegend, konnte aber bislang nicht eruiert werden. Siehe Hans-Joachim Ziegeler: Artikel ‚Ruprecht von Würzburg‘. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearb. Aufl. Hg. v. Kurt Ruh et al. Bd. 8. Berlin/New York 1992, Sp. 418–421, bes. Sp. 418–419. Nach dem Vorschlag Hanns Fischers hat sich auch der Titel Die Treueprobe etabliert, siehe Frey, S. 104–105. Er ist in zeitgenössischen Verserzählungen virulent. Vgl. Andrea Schallenberg: Spiel mit Grenzen. Zur Geschlechterdifferenz in mittelhochdeutschen Verserzählungen. Berlin 2012 (Deutsche Literatur. Studien und Quellen. Bd. 7), S. 226–227. Frey bezeichnet das Geld dezidiert als „nervus rerum“; Tradition, S. 112–113. Siehe auch Linke, der die Rolle des Geldes in den Verserzählungen mit der „Ökonomisierung der Welt“ verbindet: Hansjürgen Linke: Wertewandel im Widerschein kleinepischer Versdichtung des späten Mittelalters. In: ZfdA 135 (2006), S. 450–473, bes. S. 463: „Es [Geld] ist allgegenwärtig, und zwar in den verschiedensten Formen und Funktionen. Es ist das Movens eines Geschehens, dient zur Motivation von Verhaltensweisen und fungiert als Instrument zur Erreichung erwünschter Ziele.“.
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1 Die märenhafte Repräsentation der städtischen Welt Die wegen ihrer Kürze und ihrer oft eingängigen Schwankmotivik als Unterhaltungsliteratur rezipierbaren Märentexte zeigen eine poetische Weltgestaltung, die erfolgreiches Handeln ausstellt – gleich ob normgerecht oder normsprengend – und komplementär auch das Scheitern vorführt. Die Wertungsgebung zeigt sich demgegenüber, zum Nachteil hermeneutischer Annäherungsversuche, oft unscharf bzw. lässt eine Diskrepanz zwischen Handlungserfolg und Erzählerkommentar bestehen. Gleich ob eher die didaktischen, exempelhaften oder unterhaltenden Aspekte im Vordergrund stehen, die in der älteren Forschung gattungstypologisch ausgewertet wurden,4 kann diese einfache, agonale Schematisierung nach dem diegetischen Sukzess variabel ausgestaltet werden. Sie bietet – speziell für ein städtisches Handlungsmilieu und kaufmännisches Personal – die Möglichkeit, den Erfolg der Figuren und ihres handlungsweltlichen Agierens auch im ökonomischen Sinn zu bestimmen, mit anderen Gratifikationen zu verrechnen und im Verhältnis zu immanenten Normerwartungen und (ethischen, intellektuellen) Defiziten zu perspektivieren. Nach sozialgeschichtlichen Forschungsbemühungen, die für die Weltreferenz der Märendichtung plädierten und diese methodisch auswerteten, hat die neuere Forschung die kontextbezogenen Ansätze weitergeführt und sich dabei vermehrt kulturwissenschaftlichen und diskursspezifischen Fragestellungen gewidmet (z. B. Geschlechterverhältnisse und Ordnungsreflexionen), aber auch narratologische und komparatistische Impulse befördert.5 Denn die komplexe soziale Wirklichkeit findet nur eingeschränkte Repräsentanz in den kleinepischen Reimpaartexten: Der soziohistorisch rekonstruierende Zugriff wird er Für die gattungsbezogene Aufarbeitung des Märenkorpus maßgeblich: Hanns Fischer: Studien zur deutschen Märendichtung. 2., durchges. und erw. Aufl. besorgt v. Johannes Janota. Tübingen 1983. Siehe auch Karl-Heinz Schirmer: Stil- und Motivuntersuchungen zur mittelhochdeutschen Versnovelle. Tübingen 1969. Ausgezeichnete Überblicke über die Forschungssituation bieten Timo Reuvekamp-Felber: Einleitung: Mittelalterliche Novellistik im kulturwissenschaftlichen Kontext. Forschungsstand und Perspektiven der Germanistik. In: Mittelalterliche Novellistik im europäischen Kontext. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Hg. v. Mark Chinca, Timo Reuvekamp-Felber, Christopher Young. Berlin 2006 (Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie. Bd. 13), S. XI–XXXII; Schallenberg, S. 14–32; mit profiliertem methodischem Ansatz Klaus Grubmüller: Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter: Fabliau – Märe – Novelle. Tübingen 2006, S. 1–39, sowie Coralie Rippl: Erzählen als Argumentationsspiel. Heinrich Kaufringers Fallkonstruktionen zwischen Rhetorik, Recht und literarischer Stofftradition. Tübingen 2014 (Bibliotheca Germanica. Bd. 61), S. 7–19.
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schwert durch die den Texttyp6 kennzeichnende Stilisierung, durch den Modellcharakter der erzählten Welt, ferner durch die didaktische Zweckbindung der Texte – in Pro- und Epimythien eingelegt – oder, andernfalls, durch das subversive Potenzial der märenhaften Gesellschaftsschilderung. Berücksichtigt man die Gegebenheiten und Muster dieses kombinatorischen (Wieder-)Erzählens – das narrative Bausteine nutzt und diachrone Reihen bildet –, so bleiben gesellschaftsorientierte Annäherungen dennoch lohnenswert. Denn die Mären, zu deren Bestimmung nach Fischer ja eine diesseitige Darstellung der Welt zählt,7 gewähren Einsichten (wenngleich nicht immer einen eindeutigen Sinn): Die Texte stellen mittels einer vorwiegend immanenten Gestaltung ihrer literarischen Weltentwürfe das Verhalten des Menschen in der Welt zur Diskussion. Sie werfen die Frage nach dem Zusammenleben und dem richtigen Verhalten auf,8 in einer weiten Spannbreite zwischen freizügiger Komik und exempelhafter Belehrung. Hierbei werden auch die sich wandelnden sozialen Regelsysteme eines städtischen Umfelds sowie zeitgenössische Diskursbewegungen einsehbar, ist die Märendichtung doch überwiegend in städtischer Umgebung zu finden. Die Märentexte sedimentieren damit gleichsam Sinnschichten9 und bilden Diskursverläufe ab. Die spätmittelalterlichen Erzählungen geben Aufschluss über soziale und wirtschaftliche Veränderungen,10 sie werfen – um mit Clas-
Der Begriff wird hier nicht als textlinguistische Klassifizierungsgröße behandelt, sondern unter Berücksichtigung der „Historizität der Formensprache“ als eine von relativ konstanten Strukturprinzipien geprägte Gruppe von Texten ohne normatives Muster, siehe Klaus W. Hempfer: Gattungstheorie. Information und Synthese. München 1973 (Uni-Taschenbücher. Bd. 133), S. 87–89. Speziell für die mittelalterliche Gattungssituation ist der Verzicht auf ein invariantes System und die Einbeziehung historischer Textgruppen und Kommunikationsspielräume sinnvoll. Vgl. die in Fischers Standardwerk Studien zur deutschen Märendichtung festgehaltene Präferenz für „[…] fiktive, diesseitig-profane und unter weltlichem Aspekt betrachtete […] Vorgänge […].“ Studien zur deutschen Märendichtung, S. 62–63. Dies weist Grubmüller dem lehrhaften Exempel zu, siehe die Einleitung in: Klaus Grubmüller (Hg.): Novellistik des Mittelalters. Berlin 2011 (Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch. Bd. 47), S. 1005–1018, bes. S. 1006–1007. Die These der Sinnvermeidung, die Haug dem Märenerzählen beilegte, war forschungsgeschichtlich nicht haltbar, vgl. Walter Haug: Entwurf zu einer Theorie der mittelalterlichen Kurzerzählung. In: Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts. Hg. v. Walter Haug, Burghart Wachinger. Tübingen 1993 (Fortuna vitrea. Bd. 8), S. 1–36, bes. S. 7: „Erzählen im gattungsfreien Raum impliziert […] einen programmatischen Verzicht auf jede prägnante Sinnvorgabe.“. Vgl. hierzu Linke, S. 450.
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sen zu sprechen – ein bezeichnendes Licht auch auf die zugrunde liegenden kulturellen Traditionen ihres Entstehungskontexts und Machtstrukturen.11 Die Kürze des Texttyps ‚Märe‘ und das typenhafte Personal hindern nicht, dass in seltenen Fällen auch komplexere und moralisch exempelhafte Erzählungen in Erscheinung treten. Ohne näher auf typologische Klassifizierungen und gattungsterminologische Kontroversen eingehen zu wollen, mit der die Forschung im Anschluss an Fischers und Schirmers Studien befasst war, soll das Märe Die zwei Kaufleute dieser Gruppe zugeschlagen werden.12 Auch in komplexer organisierten Erzähltexten dient die Geschlechterbeziehung als ein Prüfstein für menschliches und soziales Verhalten, wobei die Wertigkeit der Ehe – nicht nur als kirchliche Norm, sondern auch als soziale Institution in einer urbanen Umgebung – konturiert werden kann und gewissermaßen eine Aufwertung, aber auch eine normative Zurichtung gegenüber der höfischen Minneidee erfährt.
2 Ruprechts von Würzburg Die zwei Kaufleute Ruprechts von Würzburg Die zwei Kaufleute, eine im frühen 14. Jahrhundert entstandene Erzählung, stellt trotz des irreführenden Titels (den die handschriftliche Überlieferung bietet) ein Ehepaar in den Mittelpunkt. Das Märe basiert auf dem international gängigen Motiv der Treueprobe,13 die hier speziell als Wette auf die Treue der Ehefrau ausgestaltet wird. Durchleuchtet wird damit auch die Lebensführung einer sozialen und pekuniären Elite, wie sie im reichen Kaufmannsstand und Patriziat mittelalterlicher Städte zutage tritt.14
Albrecht Classen: A Woman Fights for Her Honour: Ruprecht von Würzburg’s Von zwein kouf mannen. Female Self-Determination versus Male Mercantilism. In: Seminar 42 (2006), S. 95–113, siehe S. 95. Schirmer ordnet Die zwei Kaufleute den „Moralisierte[n] Schwänke[n]“ zu, die dem moralisch-exemplarischen Typ nahestehen, siehe Stil- und Motivuntersuchungen, S. 222–223. Fischer klassifiziert das vorliegende Märe als ausgesprochenen Mischungstyp, da es neben der Schwankthematik Anklänge an höfische und moralisch-exemplarische Gestaltungen aufweise, siehe Studien zur deutschen Märendichtung, S. 114. Hierzu Frey, S. 105, mit Verweis auf Boccaccio (Decameron II, 9) und Shakespeare (Cymbeline). Obwohl Ruprecht als Autor nach Stand und Beruf nicht näher zu identifizieren ist und er keine weiteren literarischen Arbeiten hinterließ, kann er als den Würzburger patrizischen Kreisen zumindest nahe stehend eingestuft werden. Er wird gemeinhin dem Kreis um Michael de Leone zugeschlagen; siehe Ziegeler: Artikel ‚Ruprecht von Würzburg‘, Sp. 418–419.
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Das Märe handelt von der Verbindung zweier Kaufmannsfamilien in der französischen Stadt Verdun. Beide nehmen in der Stadt eine politisch beherrschende Position ein, wobei der mit göttlicher Hilfe reich gewordene Gilot – so die zu Beginn dargelegte Vorgeschichte – seine Tochter mit dem Sohn des finanziell schlechter gestellten Gillam verheiratet, um die Freundschaft zwischen den Familien und ihre innerstädtische Dominanz zu festigen. Eine adlige Einheirat wird für die Tochter, obwohl erwogen, vom Vater ausgeschlossen. So heiraten Irmengart und Bertram auf Geheiß ihrer Familien. Beide Figuren werden als vorbildlich gezeichnet, Irmengart ist ‚schön, jung, klug und tugendhaft‘ (si hete schoene unde jugent, / vernunftekeit unde tugent), Bertram aller Bosheit abgeneigt und ‚zu allem Guten aufgelegt‘ (zaller bosheite lam / und zaller vrumekeite snel).15 Der junge Mann erfreut sich großen Ansehens und beständigen Glücks (des wart sin lop breit unde hel. / sin heil daz was niht sinewel).16 Das Hochzeitsfest wird mit großem Aufwand und mit adliger Prachtentfaltung gefeiert: Der als palas bezeichnete Festsaal ist, in erkennbarer Anlehnung an höfische Festschilderungen, mit Tafeln und reichem Essen versehen, der Boden ist mit Blumen und frischem Gras bestreut, Musiker spielen, sogar Truchsessen und Schenken walten ihres Amtes.17 Das Paar lebt, so die summarische Raffung des Erzählers, zehn Jahre in großem Glück. Kein Streit trübt das Zusammenleben, die Eheleute zeigen vorbildliche Einmütigkeit, ihr Bund ist unzertrennlich: swaz si wolt, daz wolt ouch er; daz im geviel, daz was ir ger. sus muosten si mit vröuden leben. in hete got den wunsch gegeben und uf erden hie ein paradis. […] ir zweier liebe slozzes bant […] ez mohte werden nie zetrant.18
Zitate aus Die zwei Kaufleute richten sich nach der Ausgabe Neues Gesamtabenteuer. Das ist Fr. H. von der Hagens Gesamtabenteuer in neuer Auswahl. Die Sammlung der mittelhochdeutschen Mären und Schwänke des 13. und 14. Jahrhunderts. Erster Band. Hg. v. Heinrich Niewöhner. 2. Aufl. Hg. v. Werner Simon. Dublin/Zürich 1967; siehe hierzu bes. V. 58–59 und 61–62 (Zitate erfolgen unter Angabe der Sigle NGA und ggf. mit typographischer Anpassung). Die zwei Kaufleute (NGA), V. 63–64. Vgl. Die zwei Kaufleute (NGA), V. 197–216. Die zwei Kaufleute (NGA), V. 229–239 (‚was sie wünschte, war sein Wunsch; was ihm gefiel, das wollte auch sie; ihr Glück war vollkommen. Gott hatte ihnen das Paradies auf Erden geschenkt […] ihr Bund war unauflöslich‘; nhd. Übersetzungen richten sich hier und im Folgenden nach Frey: Tradition, zum Zitat siehe S. 97).
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Erwähnung erfährt im Erzählerbericht auch die kluge Geschäfts- und Haushaltsführung beider; Bertram handelt stets mit rate, Irmengart folgt in aller wiplicher art.19 So kann Bertram als Kaufmann sein Vermögen vermehren, und die profitorientierte Geschäftstätigkeit findet die volle Billigung der Erzählerstimme: wan swer zem dinge niht entuot und alzit davon nemen wil, des muoz wesen harte vil, ez enwerde schiere vertan.20
Die Reputation, das Gebaren des Paares und das Glück, so der evaluierende Zwischenstand am Ende der Exposition, stehen in Einklang. In knappen Worten wird auf göttliches Wirken als Ursache dieses Idealzustands verwiesen: in hete got […] gegeben / […] uf erden hie ein paradis.21 Dass für das Steigen und Fallen des Geschäftsglücks ein merkantiles fatum sorgt,22 macht die ersten Risse in diesem Idealbild kenntlich; die berufliche Konkurrenz und das Dominanzgefälle unter den Kaufleuten werden dem Märenpublikum angedeutet, es sind familiäre, ökonomische und politische Hierarchien unterscheidbar, zumal auch im Ehearrangement eine geschlechter- und generationenbezogene Rangordnung wirkt. Eine Handelsmesse in Provins, die der Kaufmann Bertram besucht, führt als Initialmoment zu einer Veränderung des Verhältnisses. Sie wird krisenhaft vor allem für Irmengart auserzählt, als willkürlich verhängte Bewährungsprobe, doch erstreckt sie sich nicht nur auf das Ehepaar, sondern auf die gesamte Familie mit Gesinde. Bertram steigt in Provins mit vielen wertvollen Waren bei einem reichen Gastwirt ab. Für eine gute Unterbringung ist gesorgt, für Unterhaltung ebenso. Unter seinesgleichen, also vermögenden Kaufleuten, am Tisch sitzend, hört er die abschätzigen Zoten und Anekdoten der anderen, mit denen sie von ihren Ehefrauen berichten; es handelt sich um misogyne Prahlreden, bei der offenbar die Hyperbolik leitend ist: Die Frauen seien eher Teufel als Menschen, sie seien nymphoman und trunksüchtig. Diese agonale Erzählreihe wird von Bertram unterbrochen. Nach Aufforderung des Wirtes be Die zwei Kaufleute (NGA), V. 242 und 245. Die zwei Kaufleute (NGA), V. 251–254 (‚denn wer seinen Reichtum nicht vergrößert und immer nur davon zehren will, der muss schon viel Geld haben, wenn er nicht schnell arm sein will‘; Frey, S. 97). Die zwei Kaufleute (NGA), V. 232–233. Das göttliche Wirken wurde zuvor lediglich einmal – und zudem formelhaft – im Zusammenhang mit dem großen Reichtum der Vätergeneration angeführt: „doch was der eine richer vil / und vaste über des andern zil / gestigen von dem gotes gebot. / er was geheizen Gilot.“ Die zwei Kaufleute (NGA), V. 41–44. Vgl. die Wertung Freys: „Der Gott aber, der ihr [Irmengart] seine hulde schenkt, […] ist ein anderer Gott als der des Adels, er ist ein Gott der Kaufleute.“ Frey, S. 115.
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ginnt auch der junge Kaufmann, freilich in höchsten Tönen lobend, von Irmengarts Eigenschaften zu berichten: Ich han daheim ein reinez wip, der vil minneclicher lip mich dicke vro gemachet. […] keinem wibe nie kein man lieber wart dan ich ir bin. si hat wiplichen sin. kiusch und reine gemüete, maz und rehtiu güete volgent miner vrouwen mite, zuht und witz und rehter site.23
Auch hier hyperbolisch zugespitzt, wenngleich gegenteilig evaluierend und elogisch hochgreifend, wirkt die Rede Bertrams provokant – was nicht nur an der minnelyrischen Anspielung auf die ideale Minnedame liegt: Sie sei die beste aller Frauen (si ist aller vrouwen bluome / und mines herzen ostertac).24 Der Wirt reagiert gereizt. Hogier bietet dem jungen Gast, den er für unklug und leichtsinnig hält,25 eine Wette an: Er wettet, Irmengart binnen eines halben Jahres verführen zu können; der Wetteinsatz soll aus dem gesamten Vermögen und Besitz der beiden Beteiligten bestehen. Der Kaufmann schlägt ein. Eine Handelsreise nach Venedig vortäuschend, überlässt der Kaufmann dem Rivalen das Feld. Der Wirt mietet sich gegenüber Irmengarts Haus ein und beginnt mit der Werbung um die Kaufmannsfrau. Obwohl er mit verschiedenen Versuchen scheitert – er bietet Komplimente und Geschenke –, kann er der Hausherrin schließlich über die vertraute Zofe, die geldgierig ist und bestochen werden kann, ein Angebot unterbreiten: Er bietet Geld für eine Liebesnacht. Auf Irmengarts empörte Ablehnung hin setzt er nach und erhöht schrittweise den Preis. Nachdem die Dienerin ihr vorge-
Die zwei Kaufleute (NGA), V. 366–377 (‚Ich habe zu Hause eine vollkommene Frau, die mich sehr glücklich macht […] Niemals hat eine Frau ihren Mann mehr geliebt als sie mich. Sie hat alle guten Eigenschaften einer Frau, ist sittsam und ausgeglichen; Bescheidenheit und Güte zeichnen sie aus, Anstand, Klugheit und Sanftheit‘; Frey, S. 98). Die zwei Kaufleute (NGA), V. 383–384. Vgl. Reinmars Lieder MF 170,15 („mîn ôsterlîcher tac“) und MF 159,1, welches Walther von der Vogelweide parodierte (L 111,23); Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moritz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearbeitet v. Hugo Moser und Helmut Tervooren. I Texte. 38., erneut revidierte Aufl. Stuttgart 1988, S. 305, 330; Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche. 15., veränderte und um Fassungseditionen erweiterte Aufl. der Ausgabe Karl Lachmanns. Aufgrund der 14., von Christoph Cormeau bearbeiteten Ausgabe neu hg., mit Erschließungshilfen und textkritischen Kommentaren versehen v. Thomas Bein. Berlin/Boston 2013, S. 412. ich sih iuch toben […]. Die zwei Kaufleute (NGA), V. 389.
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halten hat, dass so sehr schnell viel Geld verdient sei – und dass auch Bertrams Handelsreise so viel kaum einbringen werde –, sucht die Verzweifelte ihre Verwandten auf. Doch ausnahmslos alle raten ihr zum Ehebruch: die Tante, die Eltern, die Schwiegereltern, die Freundinnen und Freunde. Hier wiederum ist eine neue Gelegenheit für göttliches Eingreifen – aufgrund der großen Treue Irmengarts hilft Gott mit einem Rat.26 Allerdings ist es eine moralisch zweifelhafte Eingebung, die Irmengart erhält und die darin besteht, bei dem aufdringlichen Bewerber die Zofe vorzuschicken. Diese willigt ein. So zahlt der Wirt das Geld, wird ins Haus geholt und verbringt (listig getäuscht) eine Nacht mit Amelin, die er für Irmengart hält. Als Zeichen und Beweis seines Triumphs schneidet er der Dienerin am Morgen einen Finger ab, zynisch um ein Kleinod zur Erinnerung bittend.27 Bertram erfährt von der vermeintlich verlorenen Wette und reist zurück nach Hause. Ein großes Fest soll der Rahmen sein, in dem die Wahrheit ans Licht kommt. Hogier selbst erklärt der Festgemeinschaft die Wette und verkündet seinen Sieg. Die Behauptung des Wirts ist schnell überprüft, denn man sieht die unversehrten Hände Irmengarts. Der Wirt muss seinen ganzen Besitz abtreten und wird schließlich mit der Dienerin vermählt. Das Epimythion des Texts enthält, den Konventionen des Texttyps entsprechend, einen Deutungshinweis, der auf eine geschlechterbezogene Verhaltensregulierung zielt. Es lenkt die Aufmerksamkeit der Rezipientinnen und Rezipienten auf den Exempelcharakter des Gehörten, indem Frauen angeraten wird, sich zu beherrschen und Keuschheit zu wahren: Ditz maere darumb ist gesaget daz beide wip unde maget dabi nemen bilde, daz si ir muot wilde zemen mit kiuschlichen siten […].28
Dann sei für ihr Seelenheil und Ansehen gesorgt.
got an ir groze triuwe sach / und gap ir einen guoten rat […]. Die zwei Kaufleute (NGA), V. 689–690. vil liebiu vrouwe min, / ir sult mir ein kleinot geben […]. Die zwei Kaufleute (NGA), V. 793–794. Die zwei Kaufleute (NGA), V. 932–936 (‚Diese Geschichte wurde erzählt, damit Frauen und Mädchen daran sehen können, wie wichtig es ist, dass sie ihre wilden Begierden durch unbeirrbare Sittsamkeit zähmen‘; Frey, S. 104).
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3 Der Diskurs des Geldes: Geld und Tausch Die Konstellation des erzählten Falls besitzt erkennbar modellhafte Züge und scheint auf Exempelhaftigkeit hin angelegt zu sein; infolge dieser schematischen Verkürzung ist das in die Diegesis eingelegte Szenario mit unwahrscheinlichen Elementen durchsetzt, was die Figurenreaktionen und handlungskonstitutive Einstellungen angeht. Negativ und riskant stechen besonders die Wettbereitschaft des Liebenden und das geldgierige Zuraten der Verwandtschaft hervor. Diese erwartungsbrechenden Züge – zumal die Rahmenteile der Erzählung als beherrschendes Problem die Ehrenhaftigkeit und die Heilssorge explizieren – lenken den Blick auf einen neu auftretenden Diskurs29, den des Geldes, der im ökonomischen Gebaren der Figuren zunächst als ein Realitätsreflex auf zeitgenössische Gesellschaftsentwicklungen manifest wird und entsprechend in der älteren Forschung u. a. sozialgeschichtliche und sozioökonomische Interpretationsansätze initiierte.30 Zwei prägnante Beispiele mögen dies verdeutlichen. So wird die Priorität des Geldes durch emotionalen Druck und Drohungen aufgedrungen; die Dienerin rät Irmengart zur Annahme des Angebots mit folgenden Worten: liebiu vrouwe, dich versinne und samene din gemüete baz, daz du iht gewinst mins herren haz!31
Der Terminus des Diskurses wird in diesem Zusammenhang nicht nach der engeren linguistischen, philosophischen oder narratologischen Ansetzung verwendet, sondern bezeichnet allgemein ein „Aussagesystem“, das durch gemeinsame Gegenstände und Regularien bestimmt ist; vgl. Harald Neumeyer: Artikel ‚Diskurs‘. In: Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hg. v. Roland Borgards, Harald Neumeyer, Nicolas Pethes, Yvonne Wübben. Stuttgart 2013, S. 32–36, bes. S. 32. So z. B. Frey, passim. Diese Studie nimmt auch Bezug auf die Frage der Werte, die noch in neueren kulturwissenschaftlich ausgerichteten Beiträgen hervorsticht. Die Wertediskussion wird meist anhand der Tugendproblematik geführt, die durch die katalytische Wirkung des Geldes aufkommt. Eine kulturwissenschaftliche Annäherung bietet Udo Friedrich: Trieb und Ökonomie. Serialität und Kombinatorik in mittelalterlichen Kurzerzählungen. In: Mittelalterliche Novellistik im europäischen Kontext. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Hg. v. Mark Chinca, Timo Reuvekamp-Felber, Christopher Young. Berlin 2006 (Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie. Bd. 13), S. 48–75, passim; zur Werteproblematik siehe bes. S. 70–75. Sehr knapp auch Schallenberg, S. 276–277. Die zwei Kaufleute (NGA), V. 564–566 (‚Liebe Frau, besinne dich und nimm deinen Verstand besser zusammen, damit dein Mann nicht böse auf dich wird‘; Frey, S. 100).
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Die Tante stellt einen kollektiven Liebesentzug in Aussicht: dir würde nimmer mere holt / min herze noch kein vriunt din.32 Der Vater legt die Annahme des zweifelhaften Angebots als Wille der Sippe dar und dringt, die traditionellen Geschlechterrollen und das patriarchalische Gefälle nutzend, auf den Gehorsam der Tochter: du la din vragen vürbaz sin / und tuo swes man bite dich.33 Die Schwiegereltern drohen mit Gewalt: dim rücke wehset manec slac, / ob du niht daz guot erwirbest.34 Aber auch Irmengart selbst tröstet den sorgenvollen Ehemann, als er die Wette beichtet, zuerst mit dem Hinweis auf den materiellen Gewinn: din herze niht me truren sol. […] sin guot allez unser ist.35 Die gerettete Ehre scheint weniger erwähnenswert zu sein. Und auch Bertram stattet den Unterlegenen mit einem vergleichsweise geringen Betrag aus, denn den Rest des Geldes nimmt er selbst: daz ander wolt er selber han.36 Der Gelderwerb wird also auch auf der Seite des Paares nicht grundsätzlich in Frage gestellt und dient als legitime Motivation des Handelns. Freilich liegt eine Diskrepanz zu gängigen Tugendvorstellungen vor, wenn die weibliche Ehre zur Disposition steht. Mit einer Verschiebung des Wertesystems verbunden, mit der veränderten Beurteilung von Ehre und Tugend, welche in der erzählten Welt in der Wette konfliktträchtig wird, erzeugt der Diskurs des Geldes eine widerständige Handlungslogik. Er bewirkt irritierende Formen der Beziehungsgestaltung und Konfliktlösung; sie weichen von konsensuellen und patriarchalischen Steuerungen im Rahmen der Ehe und des Familienverbands ab, lassen sich weder kausal noch sozialpsychologisch begründen und meiden zugleich eine genretypische Ausgestaltung als Schwank. Der monetäre Diskurs untergräbt durch die Bindung an ökonomische Zwecke andere konventionelle Muster des sozialen Umgangs und kollidiert mit usuellen normativen Regeln, er stört somit Ordnungsvorstellungen und deren diskursive Ausprägungen (wie sie die Religion oder die Tugendethik bereitstellen). Denn es treten zweifelsfrei alternative (höfische, patriarchalische, konsensuelle, gewaltsame) Formen der Beziehungsgestaltung in Erscheinung, die in der Märenhandlung angelegt sind. Die Orientierung der patrizischen Kaufleute am Adel ist in der Vorgeschichte präsent, sie tritt markant hervor in der repräsentativen Prachtentfaltung des Hochzeitsfests, die der feudalen Tugend der Freigebigkeit folgt, und sie manifestiert sich
Die zwei Kaufleute (NGA), V. 606–607. Die zwei Kaufleute (NGA), V. 629–630. Die zwei Kaufleute (NGA), V. 647–648. Die zwei Kaufleute (NGA), V. 890–892. Die zwei Kaufleute (NGA), V. 931.
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im erhöhten Streben nach sozialem Ansehen.37 Gebunden ist dieses Ansehen allerdings primär an den Faktor des Geldes, das alle Beziehungen bestimmt und vorgeblich andere Werte verrechenbar macht.38 Die Abgrenzung von der adligen Sphäre, indem adlige Heiratsbewerber ausgeschlossen werden, belegt zugleich eine sich formierende ständische Selbstsicherheit sowie eine Suche nach wirtschaftlicher und politischer Eigenständigkeit der städtischen Elite. Das adlige Konkurrenzmodell, zentriert um Ehre und Prestige, kann so zwar auf die Welt des Geschäfts umgelegt werden, ohne dass jedoch mäßigende Tugenden (triuwe, mâze, staete usw.), die in der höfischen Literatur idealisiert werden, bindend wären; sie sind für das Gros der erzählten Alltagswelt erkennbar obsolet und deuten sich lediglich in der Zweierbeziehung an. Auch gewaltsame Formen der Beziehungsführung und Konfliktlösung werden in Ruprechts Märe gespiegelt. Sie zeigen sich handlungsprogressiv und konfliktbefeuernd, denn sie treten in der aggressiven Entschlossenheit des Wirtes hervor, sich neben dem Lustgewinn auch die finanzielle Belohnung für seinen Normbruch zu sichern, wobei er als einzige Figur zu körperlicher Gewalt greift. Somit wird ein Tausch des abgetrennten Körperteils gegen den Wettgewinn vorbereitet, wie bereits ein Tausch der minne gegen finanziellen Lohn – Hogier sandte Irmengart vorab tausend Mark – arrangiert war. Zu den Aktivitäten der Figur zählt es, eine rücksichtslose Verrechnung von körperlichen, sexuellen und materiellen Größen vorzunehmen, die zu unterschiedslos verschiebbaren Tauschobjekten in den Händen des Wettspielers werden. Dies wird in der Erzählung als nicht durchsetzungsfähig markiert; Wertindifferenz und gewaltsame Impulse scheitern als Lösungsverfahren, was im geschäftlichen Wettbewerb konsequent in Niederlage und Verlust übersetzt wird. Angesichts des ausgeprägten merkantilen Motivkreises erfassen neuere Forschungsarbeiten nicht nur Genderaspekte und kulturelle Codierungen, sondern auch eine „Tauschlogik“ mit ihren Optionen und Grenzen,39 die sich auf Basis der Dreieckskonstellation entwickelt. In der Tat sind Tauschbeziehungen, die sich auf die minne erstrecken,40 und Akte finanzieller Beziehungsanbahnung
Siehe Schallenberg, S. 276. Vgl. Friedrich, S. 73; Linke, S. 470–471. Die universalisierende Wirkung des Geldes nach Luhmann – alles erscheine käuflich und sei monetär bewertbar – erläutert Susanne Reichlin: Ökonomien des Begehrens, Ökonomien des Erzählens. Zur poetologischen Dimension des Tauschens in Mären. Göttingen 2009 (Historische Semantik. Bd. 12), S. 72. Friedrich, S. 61. Während Friedrich am Bsp. der Erzählung Fünfzig Gulden Minnelohn den Liebeslohn als geschäftlichen Tauschakt fokussiert („Geld gegen Lust“ bzw. „Lust gegen Geld“), scheint die Liebesgabe ökonomische Berechnungen zu sprengen; vgl. Friedrich, S. 66–67. Zum speziellen Fall der ‚Liebesgabe‘, die Verausgabung impliziert, vgl. Michael Wetzel: Liebesgaben. Streif-
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nicht nur im vorliegenden Beispiel, sondern in zahlreichen Mären nachweisbar. Da Tauschvorgänge in Mären meist einen „Tausch von Ungleichem“41 in Gang setzen, von materiellen und immateriellen Größen mit ihren verschiedenen Wertordnungen (Ehre, Geld, Sexualität), sind die Bewertungen neu auszuhandeln. Es kommt somit zum Auftreten einer hinderlichen Inkommensurabilität der Tauschobjekte und -medien sowie zu Wertungskonflikten, wie sie Susanne Reichlin jüngst für die Märendichtung theoretisch reflektiert und ausdifferenziert hat; die universalisierende Rolle des Geldes, gleichsam als Motor der Äquivalenzbildung unter heterogenen Größen, kann dabei als Störfaktor auftreten.42 Dieses Problem wird im vorliegenden Märe als aporetisches entworfen, indem Irmengart darum ringt, das angebotene Geld mit den Größen der Ehre, minne und Sexualität zu verrechnen – was für die Hauptfiguren des Märe nur mit List oder unter Zwang zu bewerkstelligen ist. Der Wertediskurs beginnt, wenn er dem ökonomischen Kalkül ausgesetzt ist, zwielichtig zu werden. Demonstriert wird dies augenfällig anhand des Motivs der ‚käuflichen Liebe‘.43 In der Tat ist diese Zuordnung motivisch durch den Geldlohn und das Dreiecksverhältnis naheliegend, das ja schwankhafte Zuspitzungen44 erlaubt, doch führt Ruprecht von Würzburg die Gewerblichkeit der minne nicht in diese Richtung. Er lenkt den Blick auf die merkantile Kernkompetenz des Tauschens, Bietens und Abwägens, die sich wiederholt in der Praxis der Figuren äußert – und freilich eine Erwartung maßvollen Agierens impliziert und so auch andere Bereiche des sozialen Lebens betreffen kann. Der Autor verbringt das schwankhafte Problem der Käuflichkeit illegaler Liebesbezie-
züge des literarischen Eros. In: Ethik der Gabe. Denken nach Jacques Derrida. Hg. v. Michael Wetzel, Jean-Michel Rabaté. Berlin 1993 (Acta humaniora. Schriften zur Kunstwissenschaft und Philosophie), S. 223–247, bes. S. 223–224: „Liebe will geben […] ohne zu tauschen.“. Vgl. Reichlin, S. 11–12, 27, 33–34. Der hier verwendete weite Begriff von ‚Tauschen‘, der verschiedenste Formen von Übergaben fasst (Tausch, Geschäft, Geschenk) und gegenüber reziproken und ökonomischen Prozessen zunächst neutral ist, wird im Folgenden adaptiert (Reichlin, S. 79). Zur universalisierenden Rolle des Geldes vgl., mit Bezug auf Simmel und Luhmann, Reichlin, S. 68–69 und 72–73. Reichlin konturiert demgegenüber den Sonderstatus des Geldes („[…] Geld [ist] nicht ein ‚Wert‘ neben anderen […], sondern [verändert] als Tauschmedium die Wahrnehmung und Funktion der anderen Werte“) und richtet sich damit gegen Friedrichs Feststellung, dass Geld offenbar ein „[…] Wertmaßstab für alles andere geworden“ sei; vgl. Reichlin, S. 33; Friedrich, S. 75. Andrea Schallenberg, die das Märe jüngst hinsichtlich kultureller Geschlechtermodelle untersuchte und soziale Hierarchien auch anhand der Ökonomie erörterte, stellte Ruprechts Märe unter die Überschrift Käufliche ‚Liebe‘, siehe Schallenberg, Kap. 3.2.2. Friedrich wertet das vorliegende Märe als „Umkehrung des Ehebruchschwanks“, da die Pointe des Texts gerade darin bestehe, eine Schwankentwicklung zu vermeiden und die Position der treulosen Frau umzubesetzen; vgl. S. 70.
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hungen damit auf eine reflexive Ebene, da implizit auch Bewertungsfragen und das Problem der Mäßigung aufgeworfen werden, die die Geldlogik hinter sich lassen.
4 Ökonomie und Anökonomie In der Tat herrschen in der Erzählung (durch das Geben und Nehmen, Bieten und Abwägen) thematische Analogien zwischen Liebe und Ökonomie, die in beiden Fällen auf Austauschbeziehungen45 beruhen. Freilich unterliegen sie nicht in gleicher Weise dem Prinzip der Akkumulation und eignen sich je anders für rationale Planung und Verhaltenskalkulation, doch sie sind beide in der erzählten Welt strikt konsequenzgebunden: Die Wette entlarvt diese Austauschbeziehungen in ihrem physischen und existenzbedrohenden Sinn, komisch „enthebbar“ im Sinne Stierles46 allein durch den glimpflichen Ausgang, sodass das Wettspiel zwar List und Gegenlist gegeneinander treibt, aber nach den sozialen Gesetzen der Diegesis folgenhaft ist. Vor diesem Hintergrund soll der Stellenwert von Ökonomie und Anökonomie47 für die geschilderte Handlung näher bestimmt werden, jedoch abstrahiert
Vgl. Friedrich: „Unabhängig von ihrer sozialhistorischen Fundierung basieren Sexualität und Ökonomie auf Tauschakten.“ (S. 66). Hiermit wird die Folgenlosigkeit des komischen Faktums bezeichnet, wenngleich Stierle für das enthebbare Faktum die Einbettung in eine lebensgeschichtliche Handlungs- oder Ereignisserie ausschließt; siehe Karlheinz Stierle: Komik der Handlung, Komik der Sprachhandlung, Komik der Komödie. In: Das Komische. Hg. v. Wolfgang Preisendanz, Rainer Warning. München 1976 (Poetik und Hermeneutik. Bd. 7), S. 237–268, bes. S. 251. Im mediävistischen Kontext sind ökonomische Fragen nicht nur sozialhistorisch, sondern jüngst vermehrt im Rahmen des Gabendiskurses behandelt worden; vgl. für eine literatur- und kulturwissenschaftliche Annäherung einführend Peter Brandes: Gabe, Gastfreundschaft. In: Handbuch Literatur & Ökonomie. Hg. v. Joseph Vogl, Burkhardt Wolf. Berlin/Boston 2019 (Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie. Bd. 8), S. 140–142. Zu den Impulsen der Gaben-Theorie durch Marcel Mauss (Essai sur le don, 1923/24), Pierre Bourdieu (z. B. Raisons pratiques, 1994) und Jacques Derrida (Donner le temps I: La fausse monnaie, 1991) speziell für die Märenforschung vgl. Reichlin, S. 39–63 sowie Schallenberg, S. 227–229. Während Mauss die Gabepraktiken in ‚archaischen‘ Gesellschaftsformen untersucht und den zweckrationalen Austausch von freier Verausgabung unterscheidet, hebt Bourdieu den unausgesprochenen Verpflichtungscharakter von Austauschvorgängen hervor (der als „Ökonomisierung des Anökonomischen“ beschrieben und als Machtfaktor gefasst werden kann), sodass eine Opposition von Ökonomie und Anökonomie in Frage steht; Derrida behauptet die Unmöglichkeit von Gabe, hervorgerufen durch eine auf Gegenleistung gerichtete Erwartung, was die Gabe tilge und zum Tauschakt mache, hierzu Reichlin, bes. S. 40, 51, 54–55.
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von einer engen wirtschaftlichen Bedeutung, die vor allem den Austausch von Gütern erfasst. Als verallgemeinerbare Formen sozialer Interaktion können sie so Relevanz gewinnen auch für die Handlungsgestaltung und die Motivationen der Figuren. Ökonomische und anökonomische Formen des Umgangs, welche sich in mittelalterlichen Texten manifestieren, zeigen je nach Kontext verschiedene Ausprägungen. Dem anökonomischen Handeln als einer in zwischenmenschlichen Beziehungen auftretenden Verkehrsform, wie sie in Liebesbeziehungen und Freundschaften erscheint, eignet die Verausgabung und Hingabe. Demgegenüber stehen in einer mittelalterlichen Lebenswelt Erwartungen der Reziprozität,48 welche auf dem feudalen Prinzip der Schenkung und Wiedervergeltung basieren, also Verpflichtungen aufrufen und festigend auf das früh- und hochmittelalterliche feudale Gesellschaftssystem wirken. Seit dem frühen 13. Jahrhundert etabliert sich ein höfischer Gabendiskurs, der die Schenkung, vorgeblich ohne Erwartung einer Gegenleistung, als Ideal kennt.49 Eine Steigerung gegenüber diesem höfischen Gabendiskurs bzw. dieser höfischen Praxis kann nun in rein anökonomisch ausgerichteten Verhaltensweisen gesehen werden. Sie implizieren eine unwiederbringliche Verausgabung ohne Rücksicht auf Tauschwert, auf Erstattung und Gewinn, welche Verausgabung z. B. für den Geliebten oder die Geliebte geleistet wird. Dieser Gabendiskurs ist in der erzählenden Literatur idealisierend einsetzbar. Ein solches Handeln ist dem merkantilen Prinzip des Tausches und der ökonomischen Gewinnorientierung scharf entgegengesetzt, aber widerspricht auch feudalen Erwartungen von Reziprozität und von Prestigegewinn durch extensives Schenken.50 Ökonomische Positionen, an Gewinn und Geld orientierte Entscheidungen und akkumulierende Aktivitäten, werden von fast allen Figuren vertreten und durchgeführt; dies ereignet sich unterschiedslos nach sozialem Rang und Geschlecht. Der Fernkaufmann Bertram erreicht auf diese Weise Ansehen, Macht und Vermögen, der Wirt als urbaner Geschäftsmann eignet sich vergleichbare rationale Strategien der Gewinnsteigerung an, der Verwandtenkreis befürwortet Für den höfischen Kontext vgl. Harald Haferland: Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200. München 1989 (Forschungen zur Geschichte der Älteren Deutschen Literatur. Bd. 10), S. 35–55 und 121–206. Die Ausführungen folgen der einleuchtenden Aufteilung bei Schallenberg, die Diskurse der Gabe bzw. des Geldes sondert, vgl. S. 230–236 („vier Codierungen der Gabe“, S. 235). Die Interpretation des Geldhandels als „Subspezies des Gabendiskurses“ (S. 229) erscheint jedoch angesichts der vielschichtigen Theoriediskussion verkürzend und soll daher im Folgenden außer Acht bleiben. Das Potenzial, als „idealisiertes Gegenmodell“ zu anderen Gabendiskursen zu fungieren, benennt Schallenberg, S. 235.
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bedenkenlos Profitstreben, sogar die Dienerin verrät ihre Loyalität zugunsten eines Geldbetrags. In diesem letzten Fall spätestens gerät die ökonomische Orientierung ins Zwielicht, auch wenn die Erzählerstimme schweigt; nach dem Kommentar des Epimythions, mit seiner moralisierenden Tendenz, auch nach der immanenten Handlungslogik mit ihren Gratifikationen zu urteilen – also angesichts der Versehrtheit der Figur Amelins, die als Einzige einen sichtbaren Makel davonträgt –, ist die ökonomische Position als destruktiv und moralisch fragwürdig zu kennzeichnen. Dies trifft zu, wenn sie den sozialen Nahbereich (d. h. Familie, Ehe und Freundschaft) zu dominieren beginnt und soziale Größen wie Treue, Solidarität und Besonnenheit überwuchert, damit literarisch prominente Tugenden (triuwe, mâze, staete) in Frage stellt51 und in der Handlungswelt zu Normverstößen und Tabubrüchen führt. Dass die Ökonomie sogar in die anfänglich als überhöhte Minnebeziehung gezeichnete Ehe des Kaufmannspaars eingreift, sogar den vollkommen Liebenden anspornt, macht die Gefährdung des harmonischen Zusammenlebens umso deutlicher. Die Struktur der Handlung markiert diesen Kontrast durch die Anfangs- und Endposition zweier Feste oder ‚Hochzeiten‘,52 deren erste vor allem der minne gewidmet ist, die zweite dem Geld und dem Gewinn; das zweite Fest erhält im Handlungsfinale eine herausgehobene Position und dokumentiert gewissermaßen Gewinner und Verlierer. Betrachtet man die ökonomische Position, erscheint sie trotz dieses Gewinns kritikwürdig, wenn die Risikobereitschaft dominiert und die merkantile Kunst des Abwägens schwindet. Sie ist mit Folgenhaftigkeit in der Handlungswelt verbunden und wird durch eine eklatante Kollision mit Tugenderwartungen als schädliche und heilsgefährdende Größe entlarvt. Die explizit ausgedrückte Wertung, die das Epimythion leistet, kann freilich nur die Tugendproblematik nach konventioneller Art erfassen, während die Konflikt- und Figurengestaltung die Komplexitäten eines angemessenen Verhaltens aufzeigt, wenn die Logik des Geldes durchgreift und die Möglichkeit der Evaluierung und Moralisierung stört: Geld als Tauschgröße wirkt auf andere Werte bemessend und nivellierend ein, was die verwandelten Muster des Denkens, Sprechens und Handelns der Figuren andeuten. Demgegenüber beweist allein die Kaufmannsfrau eine tugendethische Orientierung, Weitsicht und Klugheit (freilich um den Preis einer List). Die anökonomische Position, die Gewinn hintanstellt und der minne folgt, wird in dieser
Sie werden im Text benannt und zeichnen v. a. das Freundespaar Gillam und Gilot (staete) und Irmengart (staetekeit, maz, triuwe) aus; Die zwei Kaufleute (NGA), V. 79, 246, 375, 683, 689, 870. Beide Feste werden im Text mit dem gleichen Wort bezeichnet („hochzit“), vgl. Die zwei Kaufleute (NGA), V. 174 und 831.
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Figur verkörpert und erhält Rückendeckung durch traditionelle legitimatorische Instanzen: die christliche Ethik und die soziale Norm. Diese Position wird am Ende in der Figur Irmengarts prämiert und finanziell belohnt, damit also auch nach ökonomischen Gesichtspunkten ausgezeichnet. Die ökonomische und die anökonomische Position sind somit in diesem spätmittelalterlichen Märe nicht klar trennbar.
5 Fazit Wie bei der Sichtung ökonomischer und anökonomischer Positionen deutlich wurde, sind die Beziehungssteuerung und Konfliktlösung nach herkömmlichen Mustern erschwert: Weder die idealisierend gezeichnete, konsensuelle Gemeinschaft des Paares noch die patriarchalische Lenkung von Frau und Familie oder die soziale Norm des städtischen Umfelds können unbeschränkt wirken; gewaltsame und höfische Muster erscheinen dabei ohnehin weitgehend indiskutabel. Die anökonomische Leistung, ohne Kalkül und ohne Rücksicht auf Warnungen, wird in der Erzählung als Bewährung gestaltet und in einem Szenario der Prüfung tugendethisch aufgewertet; dies leistet neben dem knappen Epimythion die narrative Konstruktion, die das Geschehen steuert, final organisiert und letztendlich für die exemplarische Belohnung verantwortlichen Handelns sorgt. Die Anökonomie kann so verallgemeinert auch als Modus der sozialen Interaktion gelesen werden, der, über die Geschlechterbeziehung hinausgehend, mit keiner der in der Handlung aufgeworfenen Diskurstraditionen und Verhaltensoptionen übereinstimmt (z. B. der höfischen, der merkantilen), aber als deren idealisiertes Gegengewicht fungiert. Verschwimmen so die Grenzen zwischen ökonomischer und anökonomischer Position, so werden auch zwischen den beiden thematischen Kernbereichen, der Liebe und dem ökonomischen Wirken, Bezüge kenntlich. Wie sich beobachten ließ, sind Korrespondenzen und Kontraste gesetzt. Beide können aufgrund ihrer inhärenten Tendenz zur Steigerung und Maßlosigkeit nicht oder nur unzureichend nach den Erwartungen von Stand, Geschlecht und Norm gezügelt werden; die schwankhafte Märengattung legt hiervon ein reiches Zeugnis ab. Während aber das ökonomische Wirken, allein auf Profit gestellt, sozial zerstörerisch wirkt und eine fragile Wertbindung aufweist, ist die Liebe der Kaufmannsfrau – wie das Exempel zeigt – tugendhaft ausgerichtet und mit mäßigenden Rücksichten versehen. Damit ergibt sich im Ganzen ein paradoxes Fazit aus der erzählten Treueprobe: Die ökonomische und anökonomische Position fallen am Ende für das Kaufmannspaar in eins, da das gerettete Ideal von Einigkeit, Treue und Harmo-
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nie entgegen aller Widerstände mit einem Geldgewinn belohnt wird. Der Verzicht auf Berechnung schafft so in paradoxer Weise größere Berechenbarkeit und Solidität sowohl im sozialen Gefüge als auch in der wirtschaftlichen Subsistenz. Dies scheint ein utopisches Ende zu sein, das Widersprüche als überwundene zeigt, sodass selbst der Geldgewinn am Ende eine anökonomische Sanktionierung erfährt. Das Märe bezeugt damit die Auswirkungen gesellschaftlicher Wandlungen, es nimmt die Größe des Geldes als bestimmenden Antrieb in kulturelle Beziehungsmuster und in den Wertekanon traditionellen Zuschnitts auf, ohne aber die dabei auftretenden Bruchstellen und Versehrtheiten zu verdecken.
Zwischen Idealismus und Realismus
Viktoria Take-Walter
Zur Korrumpierbarkeit der Liebe in Schillers Verschwörung des Fiesko zu Genua Einen Gemahl verlieren heißt zehen Cicisbeo Profit machen. Friedrich Schiller: Die Verschwörung des Fiesko zu Genua
Mit der Verschwörung des Fiesko zu Genua erhoffte sich Schiller eine noch größere Resonanz, als bereits sein Dramenerstling, Die Räuber, erfahren hatte und in der Folge auch Kabale und Liebe erfahren würde. Die Hoffnungen, die er mit der Wahl eines republikanischen Themas in das Schauspiel gesetzt hatte, erfüllten sich jedoch mit der Uraufführung 1783 zumindest (noch) nicht. Ein Grund kann darin gesehen werden, dass Schiller den politischen Ereignissen ein Stück zu weit vorgriff; erst in der unmittelbaren „Zeit vor der Revolution in Frankreich“ avancierte das Verschwörungsdrama, gemessen an den Aufführungszahlen, „zum erfolgreichsten Bühnenstück eines lebenden deutschen Autors“1. Der zweite und vielleicht ausschlaggebendere Grund für die zunächst verhaltene Aufnahme mochte die Form und Narration dargestellt haben, die Art und Weise, wie Schiller das politische Unternehmen des Tyrannenmords mit zahlreichen Neben- und Liebeshandlungen verband, die sich nicht immer nahtlos in die „Staatsaktion“2 inte-
1 Peter-André Alt weist in seinem Band zu Friedrich Schiller. München 2004, darauf hin, dass das Drama „bis zum Ende der 1780er Jahre von knapp 50 deutschen Bühnen aufgeführt wurde. Der anfängliche Mannheimer Mißerfolg blieb damit eine Ausnahme[.]“ S. 35. Zu berücksichtigen ist dabei, dass Schiller mindestens zwei Versionen des Endes vorlegte: in der Version des Erstdrucks tötet Verrina Fiesko am Ende, um ihn als potenziellen Despoten zu verhindern; in der zweiten, variierten Schlussfassung hingegen, die Schiller auf Aufforderung des Mannheimer Intendanten verfasste, kann Fiesko schließlich zum „glücklichste[n] Bürger Genuas“ bekehrt werden. Die Uraufführung, auf die sich Alt bezieht, orientierte sich noch am Erstdruck, wohingegen die spätere (Mannheimer) Bühnenfassung ein positives Ende inszenierte. Meinen Ausführungen lege ich im Folgenden die Erstausgabe zugrunde, das als „republikanisches Trauerspiel“ titulierte Drama. Zur praxeologischen Beurteilung des doppelten Dramenschlusses s. Karl S. Guthke: „Die Verschwörung des Fiesko zu Genua“. Schwierigkeiten beim Schreiben der Geschichte. In: Ders.: Schillers Dramen. Idealismus und Skepsis. Tübingen 1994, S. 65–94. 2 Friedrich Schiller: Die Verschwörung des Fiesko zu Genua. Ein republikanisches Trauerspiel. In: Ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 2: Dramen I. Hg. v. Gerhard Kluge. Frankfurt a. M. Im Folgenden abgekürzt mit dem Sigle SW 2, Seitenangabe; hier zitiert: SW 2, 318 (Vorrede). Ergänzend zu dieser Ausgabe ziehe ich Hinweise aus dem Kommentar der Nationalaushttps://doi.org/10.1515/9783110740806-005
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grieren ließen. Anschaulich wird das vor allem an Fiesko Graf von Lavagna, der die Verschwörung mit Gleichgesinnten probt, während er Liebeshändel im Privaten treibt. Sein ambivalentes Spiel, das zwischen Libertinage und politischer Demagogie changiert, lässt seine Integrität zunehmend fraglich erscheinen, zumal er immer wieder Miene macht, die Revolution nicht um der Allgemeinheit willen, sondern seiner persönlichen Ambitionen wegen zu befeuern.3 Dass Die Verschwörung zudem nicht gerade den Rezeptionsgewohnheiten des Mannheimer Publikums entsprach, das in erster Linie auf die bürgerlichen Rührstücke nach Art August von Kotzebues und August Wilhelm Ifflands eingestellt war,4 lässt sich bereits an der Kritik eines zeitgenössischen Rezensenten feststellen. Adolph Freiherr von Knigge bemängelte neben der „abentheuerlichen“ Handlung vor allem die Sprache, die „zu bilderreich, zu voll von Wortspielen und Gleichnissen“ geraten sei – „Der Fehler aller neuern seyn-wollenden Shakespearschen Nachahmer“5. Offenkundig versuchte Schiller das brisante Thema des Coup d‘ Etat nicht politisch zu vermitteln, sondern setzte vielmehr darauf, wie er in der Vorrede schreibt, die kalte, unfruchtbare Staatsaktion aus dem menschlichen Herzen herauszuspinnen, und eben dadurch an das menschliche Herz wieder anzuknüpfen – den Mann durch den Staatsklugen Kopf [Hervorh. i. Original] zu verwickeln – und von der erfindrischen Intrigue [sic] Situationen für die Menschheit zu entlehnen[.]6
gabe heran: Schillers Werke: Die Verschwörung des Fiesko zu Genua. Bd. 4. Hg. v. Edith und Horst Nahler. Weimar 1983, im Folgenden zitiert unter der Sigle NA (4, Seitenzahl). 3 Wiederholt hat die Forschung die Ambivalenz des Charakters betont, und davon ausgehend Studien zum Verhalten Fieskos, beispielsweise zu seinem „Machiavellismus“ angestellt; s. Kurt Wölfel: Machiavellische Spuren in Schillers Dramatik. In: Achim Aurnhammer, Klaus Manger, Friedrich Strack (Hg.): Schiller und die höfische Welt. Tübingen 1990, S. 318–341. Bis heute ist die republikanische Idee des Dramas umstritten; manche Interpreten rechnen die Darstellung des Tugendideals dem Politikverständnis des klassischen Republikanismus zu und warnen vor einer anachronistischen, ‚modernen‘ Interpretation des Republikanischen im Sinne der Demokratie (vgl. Reginald Phelps: Schiller’s Fiesco – A Republican Tragedy? In: Modern Language Association, Vol. 89 (1974), No. 3, S. 442–453; hier insbesondere S. 445). 4 Vgl. Thomas Wortmann: Kreative Netzwerke, Theater als moralische Anstalt und Kultur als Konjunkturmaßnahme: ‚Mannheimer Anfänge‘. In: Ders. (Hg.): Mannheimer Anfänge. Beiträge zu den Gründungsjahren des Nationaltheaters Mannheim. 1777–1820. Göttingen 2017, S. 7–41; in diesem Kontext S. 21; Alexander Kosenina: Ifflands und Schillers dramatischer Start von Mannheims Bühnenrampe. In: Wortmann, Mannheimer Anfänge, S. 135–150, hier insb. S. 141 f. 5 Allgemeine deutsche Bibliothek, Bd. 56 (1783), 1. Stück; zitiert nach Norbert Oellers: Friedrich Schiller. Zur Modernität eines Klassikers. Hg. v. Michael Hofmann, Weinsberg 1996; das Zitat findet sich in Teil III. „‚Teutscher Shakespear‘. Bemerkungen zu Schillers Dramen, alte und neue“, S. 211–232 (S. 213). 6 SW 2, 318.
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Mit der individuellen psychologischen Motivierung der Rebellion verfolgt Schiller eine doppelte Textstrategie, die ähnlich wie in den Räubern zuvor die gemeinschaftliche Aktion mit dem Familiären verquickt7. Dabei bedient sich Schiller der Liebe als einem Topos der Empfindsamkeit8, die die Verschwörung einerseits begründet und begleitet – andererseits aber auch unterläuft und somit Risse in der Legitimation des Unternehmens sichtbar macht. Anschaulich wird das zuallererst am Beginn der Verschwörung: In Gang gesetzt wird die Rebellion zunächst von Verrina, dessen Tochter vom Neffen (Gianettino) des Potentaten vergewaltigt worden ist. Nachdem er kurz darüber nachdenkt, Berta zu erdolchen, besinnt er sich anderweitig und bietet sie schließlich als das Gründungsopfer der Republik auf. Verrina: Noch einmal Scipio. Ich verwahre sie zum Geisel deines Tyrannenmords. An diesem teuren Faden halt ich Deine, meine, eure Pflichten fest. Genuas Despot muß fallen, oder das Mädchen verzweifelt. Ich widerrufe nicht.9
Indem Berta wortwörtlich zum „Opfer“ des Tyrannenmords bestimmt wird, zeigt die Handlung eine befremdliche Tauschlogik, die sich über die Zeit und den Ausgang der Rebellion hin erstreckt: Berta nämlich soll für das aufrührerische Unternehmen haften – und solange im „unterste[n] Gewölb“ des Elternhauses ihr Dasein fristen, „bis Gianettino den letzten Odem verröchelt hat“10. Dass es ausgerechnet Verrina ist, der auf die sonderbare Idee dieser Verknüpfung von Stadtlos und dem Schicksal Bertas kommt, lässt nicht gerade auf ein liebendes, empfindsames „Vaterherz“ schließen, sondern vielmehr auf einen Charakter, der auf die absolute Identifikation des Privaten mit dem Öffentlichen setzt.11 Welche dramatischen Konsequenzen sich daraus für die Handlung ergeben, wird in meinem
7 Vgl. Nikola Roßbach: „Die Verschwörung des Fiesko zu Genua. Ein republikanisches Trauerspiel“ (1783). In: Matthias Luserke–Jaqui (Hg.): Schiller–Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Sonderausgabe. Stuttgart 2011, S. 53-65, hier S. 62. 8 Als „Empfindlerin“ wird z. B. Berta von Lomellin bezeichnet (SW 2, 330). 9 SW 2, 345. 10 SW 2, 345. 11 Zur Koppelung von Ehe- und Rachebund im Fluch Verrinas vgl. Eva Geulen: Schillernde Eide – Bindende Flüche. Die Verschwörung des Verrina zu Genua. In: Peter Friedrich, Manfred Schneider (Hg.): Fatale Sprachen. Eid und Fluch in Literatur- und Rechtsgeschichte. München 2009, S. 253–270, hier S. 255: „Verrina greift zum Mittel des Fluchs, um Ehebund mit Rachebund, ‚Vaterherz‘ mit ‚Bürgerpflicht‘ zu koppeln und so die fehlende Verbindlichkeit zwischen öffentlichen und privaten Interessen zu erzwingen.“ Ein „Formalismus der Legalität“ wird Verrina dort vorgeworfen, wo die Gesetzestreue zur Subordination des Privaten unter das Politische führt, s. Rolf-Peter Janz: Die Verschwörung des Fiesko zu Genua. In: Walter Hinderer (Hg.): Interpretationen. Schillers Dramen. Stuttgart 1992, S. 68–104; zu Verrina s. insb. S. 96.
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Beitrag ebenso zu erörtern sein, wie die metapoetische Strategie, die Schiller gegenüber seinen motivischen Vorlagen verfolgt. Man könnte sagen, die Verschwörung werde von einer ökonomisch verfahrenden Poetik begleitet, die auf Einsatz und Ausgleich bedacht ist: nämlich der Wiederherstellung bürgerlicher Ehre durch ein Frauenopfer, das im Zeichen der Rettung der Republik stehen soll. In seinem „gräßlichen Fluch“12 verknüpft Verrina die Aufforderung zum Tyrannenmord mit der Bedingung, dass, wenn Genua untergehe, die Tochter ebenfalls verloren sei, und umgekehrt: wenn der Staatsstreich gelänge, auch Berta frei sei (das heißt, „frei“ für die Ehe mit Bourgognino). Die problematische Gleichsetzung zwischen dem Individuellen und Politischen wird an anderer Stelle sowohl vom Gros der Mitverschworenen als auch von der Hauptfigur des Dramas konterkariert, die die revolutionären Pläne allesamt für eigene Belange nutzen wollen. Um die Liebe ist es dabei eher schlecht bestellt: Am Ende glaubt Fiesko, sich zwischen der Politik und Leonore entscheiden zu müssen; den Brautleuten Berta und Bourgognino steht ein Happy-End nur jenseits von Genua (nämlich in Marseille) offen. So entsteht der Eindruck, als seien Liebe und Politik im genuesischen Verschwörungsdrama unvereinbar oder als werde jene metonymisch auf eine Zeit nach dem Staatsumsturz verschoben, weil dieser keinen Platz für Privates lässt. Neben der Liebe und ihren Aporien zeigt Schiller im Drama außerdem den Tauschwert des Geldes auf. In den verschiedenen Dialogen der Stadtbewohner kommt in anschaulicher Weise zur Geltung, wie intrikat Schiller die Empfindungsals auch Ökonomie-Thematik miteinander verknüpft. Abschließend möchte ich herausstellen, auf welche Weise die Darstellung Genuas eine subtile Kritik an einer durch den Handel korrumpierten, frühneuzeitlichen Urbanität impliziert.
1 Verpfändung und Aufschub: Schillers Überbietung des Verginia-Stoffs Das Narrativ eines im Ehrbegriff aufgehenden Vaters, der bereit ist, das Leben seiner Tochter für die Republik zu opfern, hatte Schiller Titus Livius’ römischer Geschichtsschreibung Ab urbe condita entlehnt.13 Livius erzählt darin vom legendenhaften Schicksal Verginias, einer Bürgerstochter aus der Zeit der römi-
12 SW 2, 345. 13 S. Albrecht Koschorke, Susanne Lüdemann, Thomas Frank, Ethel Matala de Mazza (Hg.): Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas. Frankfurt a. M. 2007, S. 303 f. (IV. 10: Revolution nach römischem Vorbild: ‚Die Verschwörung des Fiesko zu Genua‘).
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schen Republik: Verginia sei die Tochter von Virginius gewesen und während einer Abwesenheit ihres Vaters vom Decemvirn Claudius Appius vergewaltigt worden. Akzentuiert wird dieser intertextuelle Bezug von Schiller durch den Dialog zwischen Berta und Verrina im Zehnten Auftritt des Ersten Aufzugs, in dem Berta ihrem Vater von der Vergewaltigung durch Gianettino berichtet. Als Verrina darüber nachdenkt, was nun zu tun sei, wendet er sich in bedeutend[er] Weise an Berta, und fordert sie auf, zu erzählen, „was […] jener eisgraue Römer“ getan habe, „als man seine Tochter auch so – wie nenn ich’s nun – auch so artig fand [Hervorh. i. Original]“: Verrina: […] Höre, Berta, was sagte Virginius zu seiner verstümmelten Tochter? Berta (mit Schaudern): Ich weiß nicht, was er sagte. Verrina: Närrisches Ding – Nichts sagte er. (Plötzlich auf, faßt ein Schwert.) Nach dem Schlachtmesser griff er – Berta: (stürzt ihm erschrocken in die Arme) Großer Gott! was wollen Sie tun? Verrina: (wirft das Schwert ins Zimmer) Nein! noch ist Gerechtigkeit in Genua!14
Verrina nimmt hierbei explizit Bezug auf die vielfach adaptierte15 römische Legende, die nicht nur dem Dramaturgen Schiller, sondern auch seinem Theaterpublikum bekannt gewesen sein dürfte. Eine der seinerzeit bekanntesten Dramatisierungen stammte von Gotthold Ephraim Lessing, der das Verginia-Motiv zehn Jahre vor Schillers Fiesko-Drama zum Bürgerlichen Trauerspiel Emilia Galotti ausformte. Indem Lessing die Örtlichkeit der Verginia-Episode von der römischen Republik in die feudale Gegenwart eines lüsternen Prinzen verlegt hatte, war es ihm gelungen, die Willkür eines übergriffigen Potentaten immerhin zu problematisieren, wenn auch die Handlung auf den häuslich-privaten Bereich begrenzt blieb. Anhand der Familie Galotti macht Lessing die Verfügungsgewalt des Tyrannen am übersteigerten Ehrund Tugendbegriff des Bürgertums ansichtig. Zur Vergewaltigung lässt er es in seiner Adaption gar nicht erst kommen; bereits durch Emilias Entführung wird ihre Unschuld öffentlich in Frage gestellt. Die Sittlichkeitsvorstellungen erweisen sich in Lessings Trauerspiel als derart internalisiert, dass Emilia ihren Vater beim ersten Gespräch bittet, sozusagen präemptiv jeden Verdacht
14 SW 2, 342. 15 Vor Lessing und Schiller bearbeitete z. B. schon Johann Samuel Patzke das Motiv in seinem Trauerspiel Virginia (1755), s. Peter–André Alt: Schiller. Eine Biographie. Bd. 1 (1759-1791). München 2009, S. 339.
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abzuwehren, und auf diese Weise „seine Tochter von der Schande zu retten“16. Indem er der Bitte nachkommt, ist „die Rose gebrochen, ehe der Sturm sie entblättert“17; getötet wird Emilia von Odoardo auf ihren Wunsch hin, da sie nicht sicher ist, der Versuchung „im Haus der Grimaldi“18 widerstehen zu können. Was Schiller aus dem Motiv der versehrten Tugend macht, unterscheidet sich insofern von dem dramatisierten Material seiner Vorgänger, als er Berta nicht von des Vaters Hand sterben lässt. Ihre Vergewaltigung, von Verrina – Odoardo nicht unähnlich – als Ehrverlust19 gedeutet, der sein ganzes Haus betrifft, wird weder mit dem Tod gesühnt, noch wird das Ansehen der Familie unverzüglich wiederhergestellt. Die Vergeltung stellt nach erster Überlegung keine unmittelbare Notwendigkeit dar, sondern kann aufgeschoben werden. So lässt sich ein etwaiger Schuldspruch herauszögern bzw. Bertas Schicksal an die Städterepublik sowie deren Legitimität knüpfen. Von Verrina zur „Geisel“20 der Republik erklärt, wird Bertas Leben zum Wetteinsatz für Genua bestellt. Die Idee, Selbstjustiz an Gianettino zu üben und Bertas Ehrverlust mit dem Tyrannenmord zu vergelten, beschreibt gewissermaßen die Grundlogik des republikanischen Handelns. Zugleich zwingt es Sacco und Calcagno in ein gemeinsames Aktionsbündnis. Dabei bezieht sich Verrina auf die „ewige Vorsicht“, die „Genua durch meine Berta erlösen“21 wolle. Nicht unproblematisch erscheint, dass die Passage auch als eine Probe auf die Gerechtigkeit gedeutet werden muss: Hinter der väterlichen Kalkulation steht nämlich der Gedanke, dass der Tochter – ebenso wie der Republik, wenn sie sich nicht als wehrhaft erweisen sollte – zu Recht der Untergang beschieden sei. Mit seiner Providenzvorstellung ließe sich ein solcher, übler Ausgang dann mit Verweis auf z. B. die Nemesis erklären und rechtfertigen; womit sich Verrina seiner Verantwortung für die Verpfändung der Tochter ex ante entzieht.22 Jedoch wägt er im symbolischen Kapital der Jungfräulichkeit offenkundig Unglei-
16 Gotthold Ephraim Lessing: Werke (1770–1773). Emilia Galotti. Hg. v. Klaus Bohnen. Frankfurt a. M. 2000, S. 370. 17 Lessing, Emilia Galotti, S. 370. 18 Lessing, Emilia Galotti, S. 369. 19 Vgl. Gesa Dane: ‚Zeter und Mordio‘. Vergewaltigung in Literatur und Recht. Göttingen 2005, S. 113–117 („3. Die Vergewaltigung in Friedrich Schillers ‚Die Verschwörung des Fiesko zu Genua‘“). 20 SW 2, 345. 21 SW 2, 344. 22 Tatsächlich entkoppelt Schiller ja dann in der Folge der Handlung beider Schicksal(e), das Schicksal Bertas und das der Republik, zu einem gewissen Teil, indem Verrina die Bedingung für die Hochzeit bereits mit dem Tyrannenmord für erfüllt anerkennt. Da Genuas Freiheit jedoch noch nicht wiederhergestellt ist, rät er dem frisch gebackenen Schwiegersohn Bourgognino sowie Berta, sich nach Frankreich abzusetzen: „Mein Sohn, ich hab alle meine Habseligkeiten zu Gold
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ches gegeneinander auf, die Zukunft der Republik und das Schicksal Bertas, was in der metaphorischen Stilisierung der Passage zum Ausdruck kommt: der „hässliche Flecken aus [Bertas] Ehre“ kann nämlich nur im übertragenen Sinne, d. h. durch „das Herzblut eines Doria“ ‚rein‘ gewaschen werden23. Zumindest zu diesem Zeitpunkt der Handlung scheint Bertas Leben „im untersten Gewölb“ des väterlichen Hauses verkorkst. Dass sie sich letztlich aber nicht mit der vom Vater (zynisch) eröffneten Option zufriedengibt, sich zu „freue[n], des Vaterlands großes Opfer zu sein“, wird im Verlauf der Rebellion (V. 8) deutlich. Dort tritt sie – ähnlich wie Leonore – in Männerkleider gehüllt auf, als ein um das Schicksal der Republik kämpfender Knabe. Damit setzt sie sich selbstbewusst über den Hausarrest hinweg und wird – ebenso wie Leonore – aktiv. Ein gegensätzliches Ende erfahren die Frauen aufgrund der Reaktionen ihrer Männer. Während Bourgognino Berta trotz ihrer Verkleidung erkennt, stirbt Leonore aufgrund einer tragischen Verwechslung: in Gianettinos Mantel gehüllt, hält Fiesko sie für den Erzfeind und tötet sie.
2 Amouröse und finanzielle Spekulationen im Zeichen der Staatskrise Während Verrina an das gemeinschaftliche Ehrgefühl appelliert, sind es heteronome Gründe, deretwegen sich die Mitverschworenen zur Rettung der Republik aufschwingen. Sieht Verrina im Übergriff Gianettinos auf Berta eine Bedrohung der Republik im Ganzen, motiviert die Staatskrise seine Mitverschwörer eher zu finanziellen oder amourösen „Gleichungen“. Deutlich wird das an einem Dialog zwischen Sacco und Calcagno (im Dritten Auftritt des Ersten Aufzugs), in dem sie den Umsturz der Doria erwägen, um ihre Schulden zu begleichen beziehungsweise sich als Liebhaber in Stellung bringen. Eindeutig wird Saccos Motivation für die „Staatsveränderung“ aus einer prekären Situation erhellt; er hat Schulden und hofft, die Verschwörung könne ihm „Luft machen“: „Wenn sie mir auch nicht zu Bezahlen hilft, soll sie doch meinen Gläubigern das Fodern [sic; Hervorheb. i. O.] entleiden.“24 Die Semantik des Forderns und Bezahlens bringt hier auf sprachlich verwobene, antithetische Weise den Gegensatz zwischen der republikanischen Tugendethik und ihrer größ-
gemacht und auf dein Schiff bringen lassen. Nimm deine Frau und stich unverzüglich in See. […] Ihr segelt nach Marseille, und (schwer und gepreßt sie umarmend) Gott geleit‘ euch.“ SW 2, 437. 23 SW 2, 344. 24 SW 2, 326.
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ten Bedrohung: dem Laster, der Libertinage zum Ausdruck. Das Paradoxon, wodurch gerade eine Gruppe von rufgeschädigten Stadtbürgern aus eigennützigen Motiven zur Rettung der Republik beitragen könnten, wittert auch Kalkagno: Ich verstehe – und am Ende, wenn Genua bei der Gelegenheit frei wird, läßt sich Sacco Vater des Vaterlands taufen. Wärme mir einer das verdroschene Märgen von Redlichkeit auf, wenn der Banquerott eines Taugenichts, und die Brunst eines Wollüstlings das Glück eines Staats entscheiden. […]
Daneben steht in den Gesprächen der Verbündeten auf ähnliche Weise, wie der Ausgang der Verschwörung noch nicht entschieden ist, und diese ständig verraten werden kann, immer auch die Wahrhaftigkeit der Aussagen sowie die Glaubwürdigkeit der Protagonisten auf dem Spiel. So fragt Sacco seinen Freund Kalcagno nach den Gründen für seine Unterstützung des Komplotts: Sacco: […] Ich dächte Bruder, wir beide könnten schon Geheimnis gegen Geheimnis tauschen, und am Ende hätte keiner beim Schleichhandel verloren – Wirst du aufrichtig sein? Kalcagno: So sehr, daß, wenn deine Ohren nicht Lust haben, in meine Brust hinunterzusteigen, mein Herz dir halbwegs auf meiner Zunge entgegenkommen soll – Ich liebe die Gräfin Fiesko. Sacco tritt verwundernd zurück: Wenigstens das hätt ich nicht entziffert, hätte ich alle Möglichkeiten Revue passieren lassen […] Kalcagno: Man sagt, sie sei ein Beispiel der strengsten Tugend. Sacco: Man lügt. Sie ist das ganze Buch über den abgeschmackten Text. Eins von beiden Kalcagno. Gib dein Gewerb oder dein Herz auf –25
Auf diese Weise erfährt das Publikum bereits im Ersten Akt davon, dass zwei der Hauptverschwörer aus eher unlauteren Absichten den politischen Umsturz wünschen. Es sind vornehmlich (affekt-)ökonomische Interessen, die das Vorhaben leiten. Im Dialog der beiden trete zudem das ‚Gewerbe‘ und die Liebe in einen einander ausschließenden Gegensatz. Da das ‚Gewerbe‘ sowohl für die ‚Brautwerbung‘ als auch das verschwörerische Unternehmen stehen kann, zielt Saccos uneigentlicher Rat an den Freund dahin, die Revolution ebenso wie das Werben um die Geliebte nicht zu ernst und leidenschaftlich zu betreiben. Vielmehr schlägt er vor, sein Verhalten in Abwägung der Risiken von seiner ‚wahren‘ Gesinnung zu entkoppeln, zumal er Leonores Tugendhaftigkeit für weder reizvoll noch authentisch erachtet. Dass nur derjenige Erfolg bei der Brautwerbung im genuesischen Patriziat hat, wer entsprechendes Vermögen akkumulieren konnte, wird an Bourgognino 25 SW 2, 325.
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anschaulich. Seinen Antrag bringt er im Hause Verrinas vor, kurz nachdem Berta ihrem Vater von der Vergewaltigung berichtet hat. In Bourgongnino variiert Schiller das im Grunde genommen deprimierende Verginia-Motiv, als er Berta im Moment ihrer größten Verzweiflung sogleich Bourgognino zuführt: Bourgognino (erhitzt): Springe hoch, Mädchen! Eine Freudenpost! – Edler Verrina, ich komme, meinen Himmel auf Ihre Zunge zu setzen. Schon längst liebte ich Ihre Tochter, und nie durft’ ich es wagen, um ihre Hand zu bitten, weil mein ganzes Vermögen auf falschen Brettern von Koromandel schwamm. Eben jetzt fliegt meine Fortuna wohlbehalten in die Reede und führt, wie sie sagen, unermeßliche Schätze mit. Ich bin ein reicher Mann. Schenken Sie mir Berta, ich mache sie glücklich. (Berta verhüllt sich. Große Pause.)26
Obwohl die beiden offenbar bekannt miteinander sind und Bourgognino Berta „längst liebte“, wie er sagt, war ihm der Weg zum Glück bisher dadurch verstellt worden, dass sein „ganzes Vermögen“ vor der indischen Küste lag – beziehungsweise Unsicherheit darüber herrschte, was mit der zweifelhaften Investition („auf falschen Brettern“) geschehen war. Jetzt aber, wo sich Fortuna ihm zugewandt zu haben scheint, möchte er Verrina um seinen Segen für die Hochzeit bitten. Ähnlich wie Fiesko im Politischen die Gelegenheit (occasione) zum Staatsstreich vorbereitet, versucht Bourgognino im ‚Gewerbe‘, das Momentum zu seinen Gunsten zu wenden und Berta für sich zu gewinnen. Verrinas List, den Freier der Verschwörung zu verbinden, und die Verlobung von der Staatsreform abhängig zu machen, stellt dabei nicht nur ein geschicktes politisches Manöver dar, sondern kann ähnlich wie der Dialog zwischen Sacco und Calcagno zuvor auch als sprachliches Exempel gedeutet werden. Beim Werbungsversuch steht nämlich nicht nur der väterliche Segen in Frage, sondern vor allem die Ernsthaftigkeit von Bourgogninos Antrag. Nichts von dem, was er behauptet, ist eigentlich sicher: weder sein Vermögen, dessen Kunde sich auf bloße Gerüchte stützt („wie sie sagen“), noch die Liebe zu Berta. Es verwundert daher nicht, dass Verrina, ein „Republikaner […] hart wie Stahl“27, Bourgognino dazu drängt, seine Worte in einer öffentlichen Tat zu beweisen – und sie im Tyrannenmord maximal aufzuwerten. Daneben zeigt Verrinas unverblümter Hinweis auf Bertas Vergewaltigung, dass er auf öffentliche Rache sinnt. Bourgognino erlangt seine Rolle als deus ex machina im Grunde genommen dadurch, dass es eines Mitverschworenen braucht, dessen Absichten noch nicht korrumpiert sind, und der Berta tatsächlich retten will.28
26 SW 2, 343 f. 27 SW 2, 333. 28 Damit trifft er, wie Dane folgert, „eine Entscheidung, bei der Ehre und Liebe nicht zwangsläufig einander widersprechen müssen“ (Dane, Zeter und mordio, S. 116). Allerdings bleibt
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3 Sublimierung der Liebe im Pragmatismus? Dass die „epikureeische“ Gesinnung Fieskos ein Problem für die Verschwörung darstellen könnte, wird bereits im Ersten Akt im Rahmen der Leonore–Handlung exponiert: Hier beklagt sich die Ehefrau, laut Personenbeschreibung eine „Dame von 18 Jahren. Blaß und schmächtig. Fein und empfindsam. Sehr anziehend, aber weniger blendend“, über das Flirtverhalten ihres Gatten, der ausgerechnet der Schwester des Prätendenten, einer „stolze[n] Kokette“, wie es heißt, in aller Öffentlichkeit den Hof macht. Ob es sich dabei um bloße „Galanterie“ handle oder gar „hinter jedem seiner Gedanken ihr Name im Hinterhalt läge“, versucht Leonore im Beisein ihrer Kammerzofe Rosa zu ergründen. Diese stimmt jedoch nicht in die boulevardeske Unterhaltung ein, wie man erwarten könnte, sondern lässt die bohrenden Fragen ihrer Herrin nüchtern an sich abprallen: „Nehmen Sie die Sache für das, was sie wirklich war – eine Galanterie“. Als der Beschwichtigungsversuch fehl geht und sich die Herzogin vielmehr an ihrem Leiden berauschen will, kontert Rosa wiederum mit Bauernschläue: „Einen Gemahl verlieren heißt zehen Cicisbeo Profit machen.“29 Hier zeugen die Antworten des Kammermädchens von einem nutzenkalkulatorischen Pragmatismus, der dazu anhält, nicht sogleich jeder empfindsamen Wallung nachzugeben, sondern sich in die Ereignisse zu fügen – vor allem, wenn sie sich umgekehrt verwerten lassen zu einem argumentativen oder eben ökonomischen Vorteil. An Fieskos Flirt mit der durchweg negativ gezeichneten Julia – ein Flirt, mit dem er seine politischen Pläne vor den Doria offenbar verschleiern will – zeigt sich in besonderer Weise, wie stark auch die Dialoge der Gräfin von ökonomischen Sprachmustern durchsetzt sind. Als Fiesko vor ihr auf die Knie fällt (I, 4), kokettiert sie: Diese Stellung taugte ausnehmend in das Schlafgemach Ihrer Frau, wenn sie im Kalender Ihrer Liebkosungen blättert und einen Bruch in der Rechnung findet. Stehen Sie doch auf. Gehen Sie zu Damen, wo Sie wohlfeiler markten.30
Ähnlich abwertend argumentiert Julia im Tête-à-tête mit Leonore (II, 2), als sie ihr Frigidität im Umgang mit dem Gatten vorwirft:
Bourgogninos Handeln tendenziell stärker am Ehrbegriff orientiert; nur so lässt sich seine temporäre Willfährigkeit verstehen, Berta zu ermorden, als die Nachricht vom gescheiterten Aufstand kursiert, vgl. Dane, S. 116. 29 SW 2, 321. 30 SW 2, 327.
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Der Graf hat Temperament, Feuer. Nun reißt er sich warm aus dem delikatesten Zirkel. Er kommt nach Hause. Die Ehfrau [sic] bewillkommt ihn mit einer Werkeltagszärtlichkeit, löscht seine Glut in einem feuchten frostigen Kuß, schneidet ihm ihre Karessen wirtschaftlich wie einem Kostgänger vor.31
Leonores sorgen- und eifersuchtsvolle Mimik, die mit dem aufgesetzten Verhalten Julias kontrastiert, kommentiert die Gräfin indes mit dem herablassenden Rat, „Ihr Gesichtchen“ werde „[so] nie einen Käufer finden“. Julia degradiert die Rivalin zur Ware, die vollends auf das Geschmacksurteil ihres Mannes angewiesen ist. Darüber hinaus deutet sie Leonores „Werkeltagszärtlichkeit“ als eine Zurschaustellung von Prüderie, die sie der an Sinnesfreuden (vermeintlich) armen, wirtschaftlich kalkulierenden Hausgemeinschaft des oikos zuordnet. Was sich als tendenziell übermäßige Gefühlsduseligkeit an Leonore zeigt, konterkariert Rosa im Gegensatz zur arroganten Julia wiederum als Mitglied einer städtischen Unterschicht, die sich mit ihrer sozialen Lage abgefunden hat – und offenbar um die Korrumpierbarkeit von Treueversprechen weiß. Dagegen wird Leonore als ein Charakter in Szene gesetzt, der – ähnlich wie Verrina – das Private zum Politikum stilisiert. Wie Verrina an seiner Tochter ein Exempel statuiert, das für die ganze Stadt gelten soll, identifiziert auch Leonore das Schicksal Genuas mit dem persönlichen Glück: „Ach Mädchen“, klagt sie gegenüber Rosa, „Nicht Genua allein verlor seinen Helden – auch ich meinen Gemahl!“ Mag man in Leonores Kummer einerseits die wirkungsvolle Dramaturgie einer für Schiller typischen Effektsteuerung abgebildet sehen, die auf die Einfühlung des Publikums setzt, so kann die unterschiedliche Anlage der drei Frauenrollen (Leonore, Julia, Rosa) andererseits kaum darüber hinwegtäuschen, dass sich hier Vertreterinnen nicht nur unterschiedlicher Gesellschaftsschichten, sondern auch verschiedener Tugendbegriffe gegenüberstehen. Die an den obigen Beispielen veranschaulichte Tauschlogik legt dabei den Eindruck nahe, dass der marktpolitische Bezugsrahmen der städtischen Kommunikation dramatisch kalkuliert ist – und auf die Fragilität des republikanischen Tugendkonzepts verweist.
31 SW 2, 349 f.
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4 Ökonomische Kompromittierung der republikanischen Tugend Am Beispiel der degenerierten Bürgergesinnung der genuesischen Bevölkerung hatte Schiller das Spannungsverhältnis zwischen einer auf ethischen Normen basierten Gesellschaftsordnung und einer zunehmend selbstbewusst, ja zweckrational agierenden Bürgerschaft aufgegriffen.32 Wurde dieser Konflikt in der Forschung zumeist am ambivalenten Handeln des Grafen aufgezeigt, machen die oben ausgewählten Beispiele auch anhand der Nebenfiguren deutlich, wie sehr das Drama in Frage stellt, ob der klassische Republikanismus mit seinem strikten Tugendkorsett in einem vom Handel korrumpierten Stadtstaat noch als glaubwürdige Handlungsmaxime gelten könne. Damit schließt Schiller augenscheinlich an die Zivilisationskritik Rousseaus an, zumal er diesen in der Erinnerung des Publikums33 als auch in privaten Schriftzeugnissen als Vorbild
32 Vgl. Alexander Schmidt: Athen oder Sparta? Friedrich Schiller und der Republikanismus. In: Klaus Manger (Hg.): Der ganze Schiller – Programm ästhetischer Erziehung. Heidelberg 2006, S. 103–130. Schmidt macht anhand von Schillers dritter universalhistorischen Schrift, Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon (1790), auf eine ähnliche Dichotomie zwischen dem klassisch-republikanischen Tugendkonzept und frühen liberalen Strömungen aufmerksam. Schillers „ungewöhnlich polemische[] Argumentation gegen Sparta“ schreibt Schmidt einer Haltung zu, die nun „auf klare Distanz zu einem klassischen Republikanismus“ (S. 129) gehe. 33 In dem als Handzettel zur (späteren) Inszenierung der Mannheimer Bühnenfassung (s. Anm. 1) beigegebenen Paratext sucht Schiller den Protagonisten direkt an das Vorbild Rousseaus anzulehnen, s. SW 2, 556 ff.: „[…] Fiesko ist der große Punkt dieses Stücks, gegen welchen sich alle darin spielende Handlungen und Charaktere, gleich Strömen nach dem Weltmeer, hinsenken – Fiesko, von dem ich vorläufig nichts Empfehlenderes weiß, als daß ihn J.J. Rousseau im Herzen trug – Fiesko, ein großer fruchtbarer Kopf, der unter der täuschenden Hülle eines weichlichen Epikurischen Müßiggangs, in stiller geräuschloser Dunkelheit, gleich dem gebärenden Geist auf dem Chaos einsam und unbehorcht eine Welt ausbrütet, und die leere lächelnde Miene eines Taugenichts lügt, während daß Riesenplane und wütende Wünsche in seinem brennenden Busen gären – Fiesko, der lange genug mißkannt, endlich einem Gott gleich hervortritt, das reife vollendete Werk vor erstaunende Augen stellt, und ein gelassener Zuschauer dasteht, wenn die Räder der großen Maschine dem gewünschten Ziel unfehlbar entgegen laufen – Fiesko, der nichts fürchtet, als seines Gleichen zu finden – der stolzer darauf ist, sein eigenes Herz zu besiegen, als einen furchtbaren Staat – Fiesko, der zuletzt den verführerischen schimmernden Preis seiner Arbeit, die Krone von Genua, mit göttlicher Selbstüberwindung hinwegwirft, und eine höhere Wollust darin findet, der glücklichste Bürger als der Fürst seines Volks zu sein.“ (Hervorh. i. O.) SW 2, 556. Dass Schillers „Erinnerung an das Publikum“ allerdings nicht wortwörtlich, sondern als „Werbetext“ verstanden werden müsse, schließt (m.E. richtig) Mirjam Springer: ‚Ich mus mich im offenen dehnen.’ Körper-Erzählungen
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nennt.34 Auch in philosophischer Hinsicht mochten sich der historische Stoff und die Topik der genuesischen Stadtrepublik dazu eignen, die Bedingungsformen sowohl der römischen als auch griechischen Vorbilder, republikanischer virtú und dem homosozialen Verbund der polis, an einer frühneuzeitlichen Stadt mit ausgeprägtem Bürgerhumanismus durchzuspielen. Rousseaus im Contrat Social (1762) ausgeführtes Argument, dass kleine, freie (Stadt-)Staaten die denkbar beste Realisierungsform der Republik seien, wurde am Vorabend der Französischen Revolution vielfach diskutiert. Nach dem Vorbild der Antike wurde die politische Stabilität der Republik klassischerweise von ihrer Größe und in wesentlichem Maße auch von der Tugend ihrer Bürger abhängig gemacht – neben geopolitischen Bedenken also vor allem moralische Argumente angeführt.35 Die Tugend, die seit Aristoteles zur unbedingten charakterlichen Vorbedingung des guten Stadtbürgers gehörte, sieht Rousseau in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmend von den luxuriösen Bedürfnissen der Bevölkerung und ihren individuellen ‚Begierden‘ bedroht. Als mögliche Folge warnt er vor einer Zersetzung der Republik aufgrund eines überzogenen Konsumverhaltens, aber auch vor Entfremdungseffekten (die eine eher kulturpessimistische Haltung offenbaren).36 Wo der Luxus „sowohl den Reichen wie den Armen [korrumpiere]“, schreibt Rousseau, gebe er
im Fiesko. In: Peter–André Alt, Stefanie Hundehege (Hg.): Schillers Theaterpraxis. Berlin 2020 (= Perspektiven der Schiller–Forschung 2), S. 57. 34 Anregung zur Bearbeitung ausgerechnet der Fiesquischen Verschwörung fand Schiller nachweislich durch die Lektüre einer Rousseau-Biografie, d. h. Helfrich Peter Sturz’ ‚Denkwürdigkeiten von Johann Jakob Rousseau‘. In: Ders.: Schriften. Erste Sammlung. Leipzig 1779, S. 145 f.; vgl. auch die Erläuterungen des Kommentars der NA (4, 244). 35 Jean-Jacques Rousseau: Der Gesellschaftsvertrag. Textkritische Ausgabe. Übersetzung u. Anmerkungen v. Klaus H. Fischer. Schutterwald 2002, S. 91 [3. Buch, 4. Kap.: Über die Demokratie]: „Ja, kann man denn in bezug [sic] auf diese Regierungsform [die Demokratie, Anm. d. Verf.] auch etwas anderes als schwer zu vereinbarende Dinge vorbringen? Erstens, einen sehr kleinen Staat, in dem das Volk leicht zu versammeln ist, und in dem jeder Bürger leicht alle anderen kennenlernen kann; zweitens, eine große Einfachheit der Sitten, die vor einer großen Zahl regelungsbedürftiger Angelegenheiten und vor schwierigen Diskussionen bewahrt; sodann eine große Gleichheit in bezug auf die sozialen Stände und die Vermögen, ohne welche die Gleichheit an Rechten und persönlichem Einfluß nicht aufrechterhalten werden könnte; schließlich wenig oder gar keinen Luxus, denn entweder ist der Luxus die Folge des Reichtums, oder er macht ihn nötig.“ 36 Mit einiger Wahrscheinlichkeit leitete er seine Befunde auch vom Niedergang der einst so prosperierenden, expandierten römischen Republik ab.
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das Vaterland der Verweichlichung und der Eitelkeit preis, er entzieht dem Staat alle seine Bürger, um sie in gegenseitige Abhängigkeit zu bringen und allesamt der öffentlichen Meinung zu unterwerfen.37, 38
Bei Schiller gerät die Adaption des republikanischen Krisenszenarios, das schon in Rousseaus Gesellschaftsvertrag zum Problemfall stilisiert wurde, in dem sich die Demokratie beweisen müsse, zur Retrospektive auf den italienischen Bürgerhumanismus. Auch topografisch wird das sichtbar. Die von Schiller dargestellte Stadt, deren Gewerbe mit Tuch- und Seidenwaren aufgrund ihrer günstigen Lage am Ligurischen Meer floriert, befindet sich nicht eigentlich im Jahr 1547, wie von Schiller zum Dramenbeginn angegeben, sondern in der Entwicklung hin zu einer ‚modernen‘, mit Pocock gesprochen: an „der Kommerzideologie des 18. Jahrhunderts“39 orientierten Gesellschaft. Opulent ist nicht nur die Eröffnungsszene des Balls mit Tanzmusik und „Tumult“40, sondern auch, inwieweit die Maskerade und Mode eine symbolische Verbindung eingehen. Die scharlachrote Kleidung des Dogengeschlechts verweist als Insignie der Macht auch auf das Textilgewerbe der Stadt und ihre Prosperität; in der pompösen Kostümierung erfolgt die sinnliche Zurschaustellung des politischen Körpers. Anteil hat der Luxus in negativem Sinne aber auch an der schon von Rousseau perspektivierten Erosion der städtischen Gesellschaft.41 Soweit die staatsbürgerliche Tugend in der Antike maßgeblich war für einen Republikbegriff, der erfolgreiches Regierungshandeln von der charakterli-
37 Rousseau, S. 91 f. 38 John G. A. Pocock: Die andere Bürgergesellschaft. Zur Dialektik von Tugend und Korruption. Aus dem Englischen v. Klaus Blocher. Frankfurt a. M./New York 1993, hat in jüngerer Zeit dieses Zusammenwirken von Tugend und Korruption als psychosoziale Vorbedingung einer an Wohlstand orientierten Bürgergesellschaft begriffen, deren Entwicklung man sich als „eine langwierige Auseinandersetzung zwischen zwei explizit post-feudalen Idealen vorzustellen“ habe: „Auf der einen Seite stand die antike Idee von der gleichen Verteilung des Grundbesitzes, auf der anderen das moderne Ideal des Kommerz.“ Pocock, S. 71. 39 Pocock, S. 81 („2. Die Mobilität des Eigentums und die Entstehung der Soziologie des 18. Jahrhunderts“). 40 Vgl. Regiehinweis zum Bühnenbild I 1: SW 2, 321. 41 Nicht nur die in den Dialogen herausgearbeitete ökonomische Semantik deutet auf Schillers Montage von zeitgenössischer Handelspraxis in die zum angegebenen Zeitpunkt der Handlung ja eher renaissancistisch anzunehmende Urbanität Genuas hin. Meine These stütze ich auch auf den Kommentar der Nationalausgabe, der darauf verweist, dass Schiller einer spezifischen Geschichtsabhandlung, d. h. Frantz Dominicus Häberlins Gründliche HistorischPolitische Nachricht von der Republik Genua den Ursachen ihres itzigen Schicksaals und umständliche Beschreibung des leztern noch daurenden Aufstandes in derselben die „Informationen über Örtlichkeiten, Wirtschaft und Münzwesen auf den Zustand im frühen 18. Jahrhundert [verdankte], so daß im ‚Fiesko‘ Details des lokalen Kolorits häufig keine historische Authentizität besitzen, sondern aus späterer Zeit stammen.“ NA (4, 242).
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chen Disposition seiner Bürger abhängig machte, wird diese „klassische“ Vorstellung gerade in der Verschwörung substanziell unterlaufen. Zwar ist „das Unternehmen […] gerecht, denn Genua leidet.“42 Allerdings eignen sich weder Fiesko noch ein Großteil seiner Mitverschwörer als tugendhafte Patrioten.43 Offensichtlich geht es den meisten Bürgern Genuas darum, die Staatskrise für persönliche Zwecke zu nützen. Auf die Revolution im Sinne eines eruptiven Vorgangs wird allerdings gerade dort spekuliert, wo sich die Liebe gleichermaßen wie der Gemeinsinn verflüchtigt, verliert bzw. überhaupt in Frage steht.
5 Fiesko als Fluchtpunkt: Krise der Republik Bis heute sieht die Forschung im Grafen einen zwiespältigen Charakter, der sich mal als Epikureer inszeniert, den sinnlichen Freuden des Feierns und der Liebe nicht abgeneigt, während er andererseits die Verschwörung vorantreibt, indem er den Verbündeten ihre „Rollen“ wie in einer „Komödie“ aufzutragen weiß. Auch betreibt er wiederholt politische Meinungsforschung und bezahlt den von ihm versklavten Mohren für seine Spionagetätigkeiten. So erfährt er beispielsweise im Vierten Auftritt des Zweiten Akts davon, dass auf „allen Kaffeehäusern, Billardtischen, Gasthöfen, Promenaden – auf dem Markt – auf der Börse […] laut“44 beklagt werde, dass Fiesko für den Staat verloren sei. Fiesko scheint über diese Nachricht zufrieden und gibt dem Mohren „Zechine[n] für diese Zeitung“45. Dieser wiederum lässt sich jede zusätzliche Frage mit neuen Geldstücken begleichen.46 Im Gespräch mit seinem Informanten lässt Fiesko erkennen, dass er sich nur zum Schein in der Öffentlichkeit als Libertin aufgeführt hat. Offenbar will er sich vor dem Staatsstreich der Unterstützung der Bevölkerung versichern – insbesondere der Seidenhändler, die er mit Geschenken bestochen hat. Zusätzlich zu der von Fiesko konstatierten „dumpfige[n] Schwüle“, die er an Genua beobachtet, weht insofern auch der Hauch der Korruption, der seine Vorbereitungen zum Staatsumsturz begleitet.
42 SW 2, 405. 43 Vgl. Lüdemann, Revolution nach römischem Vorbild, S. 301. 44 SW 2, 354. 45 SW 2, 354. 46 Das auf kalkulierter Herablassung beruhende Verhältnis wird besonders im Dritten Aufzug ersichtlich, als Fiesko den Mohren mit einem letzten Auftrag und einem Geldbeutel verabschiedet, den er hinter sich fallen lässt. Die Reaktion des Mohren macht deutlich, dass er sich über Fieskos Verhalten ärgert und sich für die Arroganz des Grafen revanchieren will – was zum vorzeitigen Verrat der Verschwörung führt.
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Was die Liebeshandlung betrifft, entpuppt sich das Techtelmechtel mit Gräfin Julia am Ende zwar als bloßes „Spiel“ mit der Ehre47. Allerdings spielt48 Fiesko vor allem mit den Gefühlen seiner Gattin. Da sie Fieskos Machtambitionen kritisch sieht und um sein Leben fürchtet, bittet sie ihn kurz vor dem Ausbruch der Rebellion (IV, 14) um die Auflösung der Verschwörung. Fiesko hingegen glaubt zu diesem Zeitpunkt der Handlung noch, das Glück auf seiner Seite zu haben und seine Machtambitionen im Coup d’état durchsetzen zu können. Ähnlich wie Verrina ist er bereit, dafür alles aufzubieten: „Größe will auch ein Opfer haben.“ Leonore hingegen ahnt, dass die Radikalität der Verschwörung jede Fähigkeit zur Liebe und Empathie auslöschen werde: Leonore: […] In dieser stürmischen Zone des Throns verdorret das zarte Pflänzchen der Liebe. Das Herz eines Menschen, und wär auch selbst Fiesko der Mensch, ist zu enge für zwei allmächtige Götter – Götter, die sich so gram sind. Liebe hat Tränen und kann Tränen verstehen; Herrschsucht hat eherne Augen, worin ewig nie die Empfindung perlt – Liebe hat nur ein Gut, tut Verzicht auf die ganze übrige Schöpfung; Herrschsucht hungert beim Raube der ganzen Natur – Herrschsucht zertrümmert die Welt in ein rasselndes Kettenhaus, Liebe träumt sich in jede Wüste Elisium.49 [Hervorh. i. Original]
Ihren Vorwurf bringt sie mit einer gewissen Berechtigung vor, da ihr Tod die Deutung nahelegt, hier habe die Politik über die Liebe gesiegt. Dass Fiesko seine Frau im Tumult versehentlich ermordet, kann insofern kaum als Verlegenheit des Dichters ausgelegt werden. Vielmehr orientiert sich Schiller bei der Inszenierung von Leonores Ende ebenso wie von Bertas Verpfändung an der historiographischen Tradition, die im weiblichen Gründungsopfer der Republik zugleich auch ihre Grenzen spiegelte50; eine Perspektive, die zugleich die Exklusion der Frau aus den republikanischen Bürgerrechten sichtbar macht. Tragisch ist der Tod auch deshalb, weil sich Leonore just im Moment des Aufruhrs zum Kampf entschieden hat. Ihr Versuch, sich im Mantel des Potentaten männliche Attribute anzueignen, scheitert ausgerechnet an der Hand ihres Mannes – der sie im Wortsinn verkennt. Dabei eröffnen ihre jeweiligen Dialoge auch punktuelle 47 Vgl. IV, 12 (SW 2, 414): Fiesko äußerst gleichgültig: Nein Madam. Sie haben vollkommen recht, wir beide haben die Ehre nur einmal auf dem Spiel. mit einem höflichen Handkuß. Ich habe das Vergnügen, Ihnen bei der Gesellschaft meinen Respekt zu bezeugen. er will schnell fort.) 48 Am Beispiel des Fiesko wurde von der Forschung wiederholt auch Schillers eigener, in seinem Protagonisten verdichteter (komödiantischer) Spielbegriff akzentuiert; vgl. u. a. Peter Michelsen: Schillers Fiesko: Freiheitsheld und Tyrann. In: Achim Aurnhammer, Klaus Manger, Friedrich Strack (Hg.): Schiller und die höfische Welt (s. Anm. 3), S. 341–359, insb. S. 351; in jüngerer Zeit griff Peter-André Alt das Thema aus systematischer Perspektive für Schillers Werk auf, s. Peter-André Alt (Hg.): Schiller, der Spieler. Göttingen 2013. 49 SW 2, 418. 50 Vgl. Koschorke u. a., S. 37f. (I. Erfundene Gründung. Livius’ Rom. 4. Weibliche Gründungsopfer).
Zur Korrumpierbarkeit der Liebe in Schillers Verschwörung des Fiesko zu Genua
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Übereinstimmungen in ihren jeweiligen Handlungsmaximen. Die Ausschließlichkeit ihres Denkens – Fieskos politischer Gestaltungswille, Leonores Sittlichkeit – führt im Grunde genommen auf ein idealisiertes, geglättetes Gemeinschaftsverständnis von der klassischen Republik zurück, nach der der Mensch als geselliges Wesen ebenso bruchlos in die polis integriert ist wie das oikos der Familie in die öffentliche Lebensführung. Dass dieses Konzept am Ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr unverbrüchlich gelten kann, zeigt die extreme Überformung dieser aristotelischen Anthropologie in Schillers Drama der Urbanität auf. Die Stadtrepublik Genua ist reif für den Aufruhr, und sie ist es nicht zuletzt aufgrund eines Erosionsprozesses, der die Depravation ‚klassisch-republikanischer‘ Normen im Rahmen einer frühkapitalistischen Handelsgesellschaft anzeigt.
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„Nun mußt du dich allmählich zur Ökonomie bilden“. Friedrich Schlegels Lucinde (1799) – Ein Vorschlag zur Neu-Fundierung der Ehe Soziologische Forschende, die den Einfluss des Kapitalismus auf Paarbeziehungen untersuchen, betonen die „wechselseitige Durchdringung von Ökonomie und Intimität“1. Gleichzeitig postulieren sie jedoch eine „kulturelle[] Ausgangslage“2, in der romantische Beziehungen einen Bereich beansprucht haben sollen, welcher ökonomischen Prinzipien in radikaler Weise opponierte.3 Hierdurch behaupten sie in der historischen Rückschau einen diametralen Gegensatz zwischen Liebe und Ökonomie. Demgegenüber möchte ich anhand von Friedrich Schlegels Lucinde aufzeigen, dass das Ideal der romantischen Liebe bereits zum Zeitpunkt seiner konzeptionellen Modellierung nicht unabhängig von ökonomischen Kontexten gedacht werden kann, sondern auf das Engste mit ihnen verwoben ist. Im Anschluss an literaturwissenschaftliche Studien, welche den 1799 veröffentlichten, Fragment gebliebenen Roman aufgrund des in ihm propagierten Liebes- und Eheideals als soziale Utopie interpretieren,4 lese ich die Lucinde als einen Vorschlag zur Neu-Fundierung der Ehe, der darauf zielt, die als defizitär wahrgenommenen Geschlechterbeziehungen zu stabilisieren. Dabei ist es mir wichtig zu verdeutlichen, dass der Roman nicht nur ‚revolutionäre‘ Aussagen enthält,5 son Günter Burkart: Liebe im Kapitalismus zwischen Geschlechtergleichheit und Marktorientierung. In: GENDER – Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft 6 (2014), H. 2, S. 85–101 (https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-403249; zuletzt abgerufen am 1.6.2021), hier S. 91; vgl. außerdem Eva Illouz: Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus. Frankfurt a. M. 2003. Axel Honneth: Vorwort. In: Eva Illouz: Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus. Frankfurt a. M., S. VII–XXI, hier S. X. Vgl. Honneth, S. VII; vgl. Burkart. Für einen Überblick über die vielgestaltige Lucinde-Forschung vgl. Mark-Georg Dehrmann: ‚Lucinde‘. In: Friedrich-Schlegel-Handbuch. Hg. v. Johannes Endres. Stuttgart 2017, S. 171–178, hier S. 172 f. Den revolutionären Charakter der Lucinde betont beispielsweise Peter Borscheid: Geld und Liebe. Zu den Auswirkungen des Romantischen auf die Partnerwahl im 19. Jahrhundert. In: Ehe, Liebe, Tod. Zum Wandel der Familie, der Geschlechter- und Generationsbeziehungen in der Neuzeit. Hg. v. Peter Borscheid, Hans J. Teuteberg. Münster 1983, S. 112–134, hier S. 112. https://doi.org/10.1515/9783110740806-006
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dern dezidiert an das zeitgenössische Wissen über die eheliche Verbindung und ihre staatsökonomische Bedeutung anschließt. Eingangs sollen daher ausgewählte Aspekte des Ehediskurses um 1800 im Fokus stehen.
1 Zur staatsökonomischen Bedeutung der Ehe Ende des 18. Jahrhunderts, als Schlegel die Arbeiten an seiner Lucinde aufnimmt, werden Menschen als „der größte, der wesentlichste Reichthum eines Landes“6, mithin als eigener Vermögenswert klassifiziert. „Volksmangel“ hingegen wird als Übel für den Staat, als „das größte Hindernis seiner Stärke, seiner Macht, seines Wohlstandes, und seines Glückes“7 betrachtet. Konsequent avanciert die Bevölkerungsvermehrung innerhalb des Kameralismus, jener deutschen Erscheinungsform des Merkantilismus, zu einem zentralen politischen Ziel, welches im Wesentlichen durch die „Vervielfältigung der Ehen“8 erreicht werden soll.9 Als „Fabriken“, die dem Staat „seine wichtigsten Produkte liefern“10, stehen Ehen – zumal sie um 1800 als „einzig legitimer Ort“11 zur menschlichen Fortpflanzung gelten – am Anfang einer komplexen ökonomischen Wertschöpfungskette: Indem sie Arbeitskräfte generieren, sollen sie wirtschaftliche Prosperität herbeiführen.12 Da nach zeitgenössischer Auffassung die Stärke eines Staates allerdings nicht nur aus dem „bloße[n] Daseyn der Bürger“ resultiert, sondern vielmehr
Vgl. außerdem Elke Reinhardt-Becker: Seelenbund oder Partnerschaft? Liebessemantiken in der Literatur der Romantik und der Neuen Sachlichkeit. Frankfurt a. M. 2005, S. 42. Johann Friedrich von Pfeiffer: Lehrbegrif sämtlicher oeconomischer und Cameralwissenschaften, Bd. 2, T. 2. Mannheim 1777, S. 1. D. Friedrich Benedict Weber: Systematisches Handbuch der Staatswirthschaft mit vorzüglicher Rücksicht auf die Literatur derselben, Bd. 1, A. 2. Berlin 1805, S. 9. Friedrich Nathanael Volkmar: Philosophie der Ehe. Halle 1794, S. 188; vgl. Joseph von Sonnenfels: Politische Abhandlungen (Neudruck der Ausgabe Wien 1777). Aalen 1964, S. 240. Vgl. weiterführend Michael Fuhrmann: Volksvermehrung als Staatsaufgabe? Bevölkerungsund Ehepolitik in der deutschen politischen und ökonomischen Theorie des 18. und 19. Jahrhunderts. Paderborn 2002, S. 72–114. Franz von Paula Steininger: Staatsarzneywissenschaft oder Medizinische Polizey. – Gerichtliche Arzneywissenschaft. – Medizinische Rechtsgelehrsamkeit. Wien 1793, S. 50. Diethelm Klippel: Familienpolizei. Staat, Familie und Individuum in Naturrecht und Polizeiwissenschaft um 1800. Sonderdruck aus Perspektiven des Familienrechts. Festschrift für Dieter Schwab. Hg. v. Sibylle Hofer, Diethelm Klippel, Ute Walter. Bielefeld 2005, S. 130. Vgl. bspw. Anonym: Über die Ehe und Ehelosigkeit in moralisch-politischer Hinsicht. Ein Versuch die ehelichen Verbindungen zu befördern. Berlin 1796, S. 92 f.
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aus der „Arbeit derselben, womit sie dem Staate nützlich, für ihn thätig sind“13, wird der Ehe überdies die Aufgabe zugeschrieben, als Ort erotischer Entschädigung zu fungieren: In einer ehelichen Verbindung soll der Mann dazu angeregt werden, „für den Staat, für das Vaterland seine besten Kräfte aufzuzehren, um in den Armen einer treuen Gattin die Freuden des Lebens ungetheilt zu genießen“14. Die Ehe wird folglich nicht nur als biopolitischer Hebel zur Skalierung der Bevölkerung, sondern auch als Mikro-Disziplinaranstalt betrachtet, aus der im Idealfall „robuste, zufriedne, enthaltsame, brauchbare Menschen“15 hervorgehen. Mithin ist sie keine Privatsache, sondern integraler Bestandteil der Staatsökonomie.
2 Kritik an konventionellen Ehen Zeitgenössischen Autoren zufolge befindet sich die Institution Ehe Ende des 18. Jahrhunderts allerdings in einer tiefen Krise. So konstatieren einige von ihnen, dass es immer weniger gute und glückliche Ehen gebe.16 Um dem steigenden „Elend unter den Familien“17 entgegenzutreten, entwickeln (Populär-)Wissenschaft und Literatur verschiedene Strategien, deren Ziel es ist, die Ehe – als eine für „das öffentliche Staatswohlergehen“18 fundamentale Institution – zu stabilisieren. Eine dieser Strategien besteht in der Einflussnahme auf die Ehegattenwahl19, wird diese doch als maßgeblich für das häusliche Glück angesehen. So wird beispielsweise innerhalb der Polizeiwissenschaft, der Schwesterdisziplin der Kameralistik, über die Organisation solider ehelicher Paarungen diskutiert.
Weber, S. 7. Johann Jakob Cella: Über Verbrechen und Strafe in Unzuchtsfällen. Saarbrücken 1787, S. 82. Cella, S. 87. Vgl. Johann Heinrich Füssli: Von der Berathschlagung und den rechtmäßigen Absichten bey der Auswahl eines Ehegatten. In: Schweitzersches Museum, Bd. 1. Zürich 1783, S. 83–94, hier S. 88; vgl. Christian Gottfried Flittner: Das Band der Ehe. Aus dem Archiv des Natur- und Bürgerstandes, T. 2. Berlin 1796, S. 150; vgl. Karl Heinrich Heydenreich: Mann und Weib ein Beytrag zur Philosophie über die Geschlechter. Leipzig 1798, S. 4. Heydenreich, S. 4. Joachim Heinrich Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter. Ein Gegenstück zum Theophron. Der erwachsenen Weiblichen Jugend gewidmet. Frankfurt/Leipzig 1789, S. 16. Zumal die Ehe in ihrer historischen Form um 1800 ausschließlich zwischen Mann und Frau geschlossen werden kann, sind, sobald ich von den (Ehe-)Gatten oder der (Ehe-)Gattenwahl spreche, stets sowohl das männliche wie auch das weibliche Geschlecht apostrophiert.
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Polizei20 bezeichnet sowohl „die bestimmte Ordnung und Einrichtung eines Staats“21 als auch den „Inbegrif aller Anstalten, das Wolseyn der Privatpersonen unmittelbar mit der Glückseligkeit des Ganzen zu verknüpfen.“22 Sie kann als ein Ensemble von vielgestaltigen Regierungsmaßnahmen begriffen werden, welche zu einem ganz wesentlichen Teil auf die – in ökonomischer Hinsicht zentrale – „Erhaltung und Vermehrung der Bürger selbsten, oder auf ihre physischen Kräfte“23 zielen.24 Im Hinblick auf die Gattenwahl kritisieren polizeiwissenschaftliche Autoren nun Ehen, „welche standesmäßig und nach einer klugen Arithmetik geschlossen werden, ohne daß eine reciproque Neigung die Hochzeitfackel angezündet habe“25. So moniert etwa Johann Friedrich von Pfeiffer: „[…] [M]an suchet entweder Geld, oder sich mit Familien zu verschwägern […].“26 Jene auch als Sach- oder Konvenienzehen bezeichneten Verbindungen, welche zumeist von den Eltern initiiert werden, erweisen sich für Polizeiwissenschaftler als gravierendes Problem, setzen sie doch die Funktionalität der ehelichen Verbindung aufs Spiel. Da nämlich nicht „Personen mit Personen, sondern […] Ducaten mit harten Thalern, ein Landhauß mit einem städtischen Pallast“27 verbunden werden, entstehen „übel gerathene, der Bevölkerung nachtheilige Ehen“28. Demnach sind Vermählungen, bei denen Braut und Bräutigam keine Zunei-
Neben der hier verwendeten Schreibweise finden sich noch zwei weitere im zeitgenössischen Diskurs: „Polizey“ und „Policey“. D. Heinrich Godfried Scheidemantel: Das allgemeine Staatsrecht überhaupt und nach der Regierungsform. Jena 1775, S. 95. Scheidemantel, S. 95. Johann Heinrich Jung[-Stilling]: Lehrbuch der Staats-Polizey-Wissenschaft. Leipzig 1788, S. 17. Zur Verschränkung von Polizeiwissenschaft und Kameralismus vgl. weiterführend Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen. Zürich/Berlin 2008, S. 73–82. Johann Peter Frank: System einer vollständigen medizinischen Polizey, Bd. 1. Von Fortpflanzung der Menschen und Ehe-Anstalten, von Erhaltung und Pflege schwangerer Mütter, ihrer Leibesfrucht und der Kind-Betterinnen in jedem Gemeinwesen (zweite, verbesserte Auflage). Mannheim 1784, S. 448. Pfeiffer, S. 69. Theodor Gottlieb von Hippel: Über die Ehe. Berlin 1774, S. 3. Pfeiffer, S. 69. Analog vermerkt ein anonymer Autor: „Denn eine […] übelgestiftete Ehe, schadet in mehr als einer Absicht der Bevölkerung unendlich.“ Anonym: Das Heirathen nimmt täglich ab, und es entstehen daher Legionen von Hagestolzen und alten Jungfern; wie ist diesem zu steuern? In: Der neue deutsche Zuschauer. Oder Archiv der denkwürdigsten Eräugnisse, welche auf die Glückseligkeit oder das Elend des menschlichen Geschlechts und der bürgerlichen Gesellschaft einige Beziehung haben, Bd. 6 (1791), H. 18, S. 330–333, hier S. 332.
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gung füreinander empfinden, sondern womöglich Antipathien hegen, vor allem biopolitischen Interessen zuwider. Aus diesem Grund sprechen sich polizeiwissenschaftliche Autoren dafür aus, „die tirannische Gewalt, welche Eltern bei Verheirathung ihrer Kinder öfters ausüben“29, zu begrenzen – damit fortan „die Gemüter der in der Ehe lebenden Menschen weniger gegeneinander aufgebracht, und das Geschäft der Zeugung, durch anhaltenden Zwietracht, in einzelnen Haushaltungen seltener hintertrieben werden.“30 Im Sinne der Bevölkerungsvermehrung fordern sie ferner, dass „Ehen zwischen Liebenden, so viel als möglich beförder[t]“31 werden. Um zweckmäßige Verbindungen zu stiften, die dem ‚menschenhungrigen‘ Staat dienen, lancieren polizeiwissenschaftliche Autoren also zwei Akzentverschiebungen bei der Gattenwahl: Erstens rufen sie eine – in Ansätzen – freie Entscheidung als Voraussetzung für fruchtbare Verbindungen aus. Und zweitens bereiten sie der Liebesheirat, für die auch Friedrich Schlegel eintreten wird, den diskursiven Weg. Die zeitgenössische Kritik an Vermählungen, welche vorrangig auf privatwirtschaftlichem und zweckrationalem Kalkül gründen, ist demzufolge zu einem wesentlichen Teil bevölkerungspolitisch und damit wiederum staatsökonomisch motiviert. Friedrich Schlegel greift diese Kritik auf, allerdings ohne biopolitische Argumente zu bemühen. So lässt er Julius, den Protagonisten seiner Lucinde, im Hinblick auf konventionelle Verbindungen pointieren, dass „der Mann in der Frau nur die Gattung [begehre], die Frau im Mann nur den Grad seiner natürlichen Qualitäten und seiner bürgerlichen Existenz“ (L 33).32 Dadurch erscheint es, als „gäbe [es] ihres gleichen viele, und einer sei als Mensch ungefähr so viel wert wie der andre“ (L 33). Unter dieser Prämisse „ist die Treue ein Verdienst“ (L 33) und zwangsläufig „auch die Eifersucht an ihrer Stelle“ (L 33), behauptet Julius. Demzufolge erweist sich eine Ehe, bei der die Persönlichkeit der Lebenspartner nicht berücksichtigt wurde, ja die nur auf sachlichen Erwägungen basiert, als instabil. Sie macht die Gatten zu austauschbaren Objekten, die ihren Wert mit zunehmender Nutzung verlieren. Die von den Zeitgenossen beklagte, „tägliche Erfahrung so vieler unzufriedenen Ehen“33 ergibt sich somit auch für
Anonym: Heirathen, S. 332. Frank, S. 425. Zacharias Gottlieb Huszty (Hg.): Diskurs über die medizinische Polizei. Preßburg/Leipzig 1786, S. 229. Vgl. außerdem Frank, S. 448. Friedrich Schlegel: Lucinde. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Dichtungen (Bd. 5). Hg. v. Hans Eichner. Bielefeld 1962, S. 1–82, hier S. 33. Nachfolgende Zitate aus diesem Werk werden im Fließtext mit der Sigle ‚L‘ und der jeweiligen Seitenangabe belegt. Flittner, S. 150.
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Julius aus einer fehlgeleiteten Heiratspraxis, in deren Folge Mann und Frau „im Verhältnis der Wechselverachtung neben einander weg […] leben“ (L 33). Für Julius hingegen „ist das Glück gewiß und die Liebe Eins mit der Treue“ (L 33). Seine Beziehung zu Lucinde, die er selbst als „Ehe“ (L 11) deklariert, weist er dezidiert als anders-artig aus (vgl. L 33). Schlegel gestaltet sie als einen Gegenentwurf zur konfliktanfälligen Konvenienzehe,34 zumal Julius und Lucinde sowohl auf geistig-seelischer wie auch auf körperlich-sinnlicher Ebene miteinander harmonieren, verschmelzen, einswerden (vgl. L 11).35 Zusammengebracht hat die beiden Seelenverwandten der Zufall; materielle Interessen waren für ihre Verbindung gerade nicht konstitutiv. Es ist wohl dieser neuartige Modus der Ehegattenwahl, der bis heute die Legende von einem ‚romantischen Urzustand‘ nährt: einem Zustand, in dem intime Beziehungen eine „Sphäre“ ausgemacht haben sollen, „die einst den ökonomischen Verwertungsprozessen am stärksten entgegengesetzt war“36. Dass die Annahme einer kategorialen Trennung von romantischer Liebe und Ökonomie allerdings bedeutsame diskursive Vernetzungen übersieht, möchte ich im Folgenden anhand von zwei weiteren Punkten untermauern: der Funktionalität von Schlegels Ehe-Utopie sowie der Geschlechterordnung, die ihr zugrunde liegt.
3 Romantische Liebe als Stabilisierungsstrategie im Dienste staatsökonomischer Interessen Zum ersten Punkt, der Funktionalität der romantischen Utopie: Indem er für eine rege Fortpflanzung wirbt und die Mobilisierung der Kräfte propagiert, arbeitet Schlegels Roman staatsökonomischen Interessen zu. So stellt der Text in Aussicht, dass sich die leidenschaftlich Liebenden erfolgreich reproduzieren.37 Lucinde erwartet ein Kind von Julius – er wird Vater, sie „Mutter sein“ (L 61). Zu Julius’ Ehekritik vgl. weiterführend Julia Bobsin: Von der Werther-Krise zur LucindeLiebe. Studien zur Liebessemantik in der deutschen Erzählliteratur 1770–1800. Tübingen 1994, S. 170; vgl. Marina Foschi-Albert: Friedrich Schlegels Theorie des Witzes und sein Roman ‚Lucinde‘. New York 1995, S. 110. Zu Schlegels Liebeskonzeption vgl. weiterführend Julia Schöll: Interessiertes Wohlgefallen. Ethik und Ästhetik. Paderborn 2015, insbesondere S. 182–199. Honneth, S. VII. In meiner Deutung weiche ich ab von Ethel Matala de Mazza: Der verfaßte Körper. Projekt einer organischen Gemeinschaft in der Politischen Romantik. Freiburg im Breisgau 1999, S. 241, die vom Scheitern biologischer Reproduktion in der Lucinde ausgeht. Mutmaßlich macht Matala de Mazza dies an einer Passage aus den „Tändeleien der Phantasie“ fest, in wel-
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Dies mag zunächst als (bio-)logische Konsequenz ihrer sexuellen Beziehung erscheinen. Bedenkt man jedoch weitere literarische Werke, in denen ein ausbleibender Kindersegen nicht selten als narrativer Anzeiger für eheliche Probleme fungiert, wird deutlich: Lucindes Schwangerschaft ist alles andere als marginal! Vielmehr ist sie ein diskursives Signal, mit dem Schlegel die Effizienz seines Modells akzentuiert. Dementsprechend beteuert Julius, auch fortan das zu tun, was Kameral- und Polizeiwissenschaftler im Rahmen der Ehe von ihm erwarten: Mit Lucindes Unterstützung will er sich „anbauen auf der Erde“ (L 62), um seinen Platz „in dieser schönen Welt [zu] verdienen“ (L 62). Überdies regt die romantische Liebe Julius dazu an, seine Tätigkeit an ökonomischen Prinzipien auszurichten. Die Nachricht von Lucindes Schwangerschaft lässt ihn verkünden, dass er all seine Arbeiten „von nun an mit größerer Liebe und frischer Kraft treiben werde“ (L 65). Julius’ beherzte Hingabe für den Beruf und der aktive Gebrauch der Kräfte fungieren als Signalworte, welche Schlegels Eheutopie überdeutlich in den Kontext disziplinartechnischer Interessen stellen. Denn analog zu den politischen Denkern und Philosophen, welche die Ehen als „Pflanzschulen der Tugend“38 und der Tauglichkeit proklamieren, kennzeichnet auch der Protagonist seine Verbindung als eine, die ihn zur Mobilisierung sämtlicher Energien anregt: „[I]ch will alle Kräfte brauchen, so lange es Tag ist, und mich dann am Abend in den Armen der Mutter erquicken, die mir ewig Braut sein wird.“ (L 62) Deutlich verweisen Julius’ Worte auf die libidinöse Kompensationsfunktion, welche zeitgenössische Autoren der Ehe für die vollständige Ausbeutung der Ressource Mensch zuschreiben.39 Doch wird bei Schlegel die Umarmung der einen Geliebten als ein nie versiegender Quell
cher es heißt: „Gedankenvoll streue ich Blumen auf das Grab des zu früh entschlafnen Sohnes“ (L 81). Wie Nicola Kaminski: Kreuz-Gänge. Romanexperimente der deutschen Romantik. Paderborn 2001, S. 173 f., anmerkt, lässt sich diese Textstelle auf zwei weitere Arten lesen: Mit dem Sohn könne einerseits Lucindes erster, früh verstorbener Sohn gemeint sein und andererseits – auf der discours-Ebene – der Roman selbst, zumal dieser im Prolog als Abkömmling des Sprechers metaphorisiert wird (vgl. Kaminski, S. 173 f). Auch eine dritte, biographische Lesart erscheint denkbar, wenn man den weiteren Verlauf des Satzes berücksichtigt und sich Schlegels enge Freundschaft zu Caroline Schelling (verw. Böhmer, gesch. Schlegel) vergegenwärtigt: „Blumen […], die ich bald voll Freude und voll Hoffnung der Braut des geliebten Bruders darreiche“ (L 81 f). Aufgrund dieser Fortsetzung ließe sich die Passage als Verweis auf den frühen Tod von Caroline Schellings Sohn Wilhelm Julius (1793–1795) und ihre anschließende Hochzeit mit August Wilhelm Schlegel 1796 interpretieren. Auch wenn dieser Lesart hier kein Vorzug eingeräumt werden soll, so wird doch klar, dass der Gehalt jener Textstelle zu vieldeutig ist, um ihn als Beleg für den Tod des Sohnes von Julius und Lucinde anzusehen. Volkmar, S. 188. Vgl. Cella, S. 82.
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der Vitalität akzentuiert. Aus staatsökonomischer Perspektive erscheint das romantische Ehemodell dadurch ungleich wertvoller, zumal der sich „liebend regenerierende[]“ Mann der Gesellschaft dauerhaft „nutzbringend zur Verfügung“40 steht. Was hier vorgeführt und der rastlosen Produktivität des homo oeconomicus entgegengesetzt wird, wie ihn beispielsweise Goethe in seinem Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) konstruiert,41 ist die lustvolle (Re-)Produktivität des homo amans. Wie Reinhard Saller zeigen konnte, wird jene Antithese in der „Idylle über den Müßiggang“ anhand von zwei mythologischen Figuren ausbuchstabiert.42 Dem Arbeitsethos des zum Schaffen verpflichteten Prometheus stellt Schlegel das Liebesethos des leidenschaftlichen Herkules gegenüber. Während der eine „mit größter Hast und Anstrengung“ (L 28) Menschen formt, werden dem anderen in einer Nacht „funfzig Mädchen“ (L 29) als Beischläferinnen offeriert, um „das Heil der Menschheit“ (L 29) – den Gattungserhalt – zu befördern. Dass Herkules’ mit den „rechten Werkzeuge[n]“ (L 28) operierende, genussbetonte Reproduktions-„Methode“ (L 28) weitaus tüchtigere Staatsmitglieder generieren könnte als Prometheus’ mechanisches Menschenmachen, verdeutlicht ein erneuter Blick in die Polizeiwissenschaft. So stimmen Autoren wie Johann Peter Frank und Zacharias Gottlieb Huszty darin überein, dass sich „Kinder der Liebe […] durch eine natürliche Wirksamkeit“, durch „Lebhaftigkeit“ und „Thätigkeit“43 auszeichnen, während „Kinder, die mehr aus Pflicht, als aus natürlicher Aufwallung gezeugt worden, […] immer das Ansehen [haben], als wäre es ihnen nicht recht Ernst, in der Welt ihre angewiesene Rolle mit zu spielen.“44 Die in der „allegorische[n] Komödie“ (L 29) umrissene Figur des zugleich wohltätigen und sich leidenschaftlich fortpflanzenden Herkules, die ihre zentralen Charakteristika aus der Gegenüberstellung mit dem zwanghaft wirksamen Prometheus bezieht, wird somit als Figur der Überbietung inszeniert,45 die ihr superiores Moment, ihren gesellschaftlichen und ökonomischen Nutzen, ge-
Dirk Kretzschmar: Geschlecht / Sexualität / Liebe. In: E.T.A. Hoffmann Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Christine Lubkoll, Harald Neumeyer. Stuttgart 2015, S. 261–267, hier S. 261. Vgl. Franziska Schößler: Ökonomie. In: Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hg. v. Roland Borgards et al. Stuttgart 2013, S. 101–105, hier S. 102. Vgl. Reinhard Saller: Schöne Ökonomie. Die poetische Reflexion der Ökonomie in frühromantischer Literatur. Würzburg 2007, bes. Kap. IV.4.3, S. 175–198. Frank, S. 448. Frank, S. 447; vgl. Huszty, S. 228. Für den Hinweis danke ich Harald Neumeyer.
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rade nicht aus ununterbrochener, asketischer Arbeit, sondern aus schöpferischer Muße, Sinnlichkeit und Genuss bezieht.
4 Rekurs auf die aristotelische Ökonomik Es dürfte bereits deutlich geworden sein, dass auch Julius eines weiblichen Gegenparts bedarf, um zum homo amans – zum sich liebend reproduzierenden Mann – zu werden. Seine Evolution zum „gebildete[n] Liebhaber“ (L 9) ist an die Begegnung mit einer von den gängigen Konventionen unverdorbenen Frau, an Lucinde geknüpft. Ihre Lebensaufgabe soll es sein, „gleich der Natur als Priesterin der Freude das Geheimnis der Liebe leise zu offenbaren“ (L 66), um anschließend „würdige Töchter und Söhne“ (L 66) zu gebären und „das schöne Leben zu einem heiligen Fest [zu] weihen“ (L 66). Klingt irgendwie bekannt! Ja, erinnert sogar stark an die Rollentrias der Frau,46 deren natürliche Bestimmung es gemäß zeitgenössischer Positionen sein soll, als zärtliche Gattin, liebevolle Mutter und eifrige Hausfrau zu wirken.47 Damit zum zweiten Punkt, der Geschlechterordnung,48 auf der die Funktionalität der Lucinde-Liebesehe49 basiert: Der Entwurf von Schlegels Ehe-Utopie greift Ordnungsvorstellungen auf, welche auf den traditionellen Bedeutungsgehalt der oikonomia, der Hausverwaltungslehre rekurrieren. Jene von Aristoteles im ersten Buch seiner Politik (zw. 345 und 325 v. Chr.) geprägte Theorie entwickelt in Abgrenzung zu Platon, der die Gleichheit der Natur von Mann und Frau postuliert, im Kapitel „Über das väterliche (patriké) und eheliche (gamiké) Verhältnis“ eine Geschlechterhierarchie, welche die Frau einerseits dem Hausherren
So auch Gerrit Hoche: Utopische Liebesentwürfe der Moderne. Zur narrativen Produktion und Reflexion von Geschlechterdifferenzen in Friedrich Schlegels ‚Lucinde‘ und Ingeborg Bachmanns ‚Malina‘. Frankfurt a. M. 2010, S. 127. Vgl. Campe, S. 14 f; vgl. Johann Ludwig Ewald: Die Kunst ein gutes Mädchen, eine gute Gattin, Mutter und Hausfrau zu werden. Ein Handbuch für erwachsene Töchter, Gattinnen und Mütter. Bremen 1798, S. 6; vgl. Carl Friedrich Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts. Ein Sittengemählde des Menschen, des Zeitalters und des geselligen Lebens, Bd. 1. Hannover 1797, S. 9. Vgl. in diesem Zusammenhang die feministische Deutung von Barbara Becker-Cantarino: Schlegels ‚Lucinde‘. Zum Frauenbild der Frühromantik. In: Colloquia Germanica 10 (1976/ 1977), S. 128–139; vgl. außerdem Sigrid Weigel: Wider die romantische Mode. Zur ästhetischen Funktion des Weiblichen in Friedrich Schlegels ‚Lucinde‘. In: Die verborgene Frau. Sechs Beiträge zu einer feministischen Literaturwissenschaft. Hg. v. Inge Stephan, Sigrid Weigel. Berlin u. a. 1988, S. 67–88. Begrifflich lehne ich mich an Julia Bobsins Begriff der „Lucinde-Liebe“ an. Vgl. Bobsin.
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(oikodespotos) unterstellt und sie andererseits aus dem Staat (polis) ausschließt. Ihr alleiniger Wirkungskreis ist das Haus (oikos).50 In seinem Roman schreibt Schlegel diese Geschlechterordnung fort. So lässt er Julius gegenüber Lucinde statuieren, mit ihrer Schwangerschaft beginne für sie „ein anderes Leben“ (L 61), „eine neue Ordnung der Dinge“ (L 66), die „zu neuem Ernst und zu neuer Tätigkeit“ (L 61) verpflichte. Diese, für Lucinde neue Ordnung ist eine im ursprünglichen Sinne ökonomische Ordnung, welche die aristotelische Theorie teilweise aktualisiert: Als Frau wird Lucinde an die häusliche Sphäre gebunden und auf das Aufgabenfeld verantwortungsvoller Mutterschaft verwiesen. Dementsprechend fordert Julius von ihr, sie müsse sich „allmählich zur Ökonomie bilden“ (L 66) – oder, um es überspitzt auszudrücken: so langsam mal den „Herd[]“ (L 62) anschüren.
5 Schlegels Schulterschluss mit medizinalpolizeilichen Positionen Doch mehr noch! Ganz im Sinne des Staates, der vorrangig aus wirtschaftlichen Gründen an der Vitalität seiner Bevölkerung interessiert ist, ermahnt Julius Lucinde, „Rücksicht“ (L 66) auf ihr Ungeborenes zu nehmen: „Ich mache mir oft Sorge über deine Gesundheit. Du kleidest dich gar zu leicht und liebst die Abendluft! Das sind gefährliche Gewohnheiten, die du wie manche andre ablegen mußt.“ (L 66) In das Gewand (haus-)väterlicher Fürsorge gehüllt wird der Körper der werdenden Mutter zweifach funktionalisiert: Er dient nicht nur für die Geburt von Nachkommen, sondern muss auch für deren optimale Aufzucht gesund erhalten werden. Julius, der homo amans, erweist sich damit als Patriarch alter Schule. Hieß er den ‚leichten Sinn‘ seiner Geliebten bisher für schön (vgl. L 66), fand er es anziehend, dass sie „völlig frei und unabhängig“ (L 53) lebte, möchte er Lucinde zukünftig lieber als domina privata sehen. Schlegel schließt hier an das Wissen der Medizinalpolizei an, die es sich zur Aufgabe macht, „für die Kinder [zu] sorgen, daß sie gesund gebohren […] werden mögen“51. In diesem Kontext entwickelt sich die Schwangerschaft – als
Vgl. Marion Heinz: Die Trennung von oikos und polis: Aristoteles. Einleitung. In: Philosophische Geschlechtertheorien. Ausgewählte Texte von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. v. Sabine Doyé, Marion Heinz, Friederike Kuster. Stuttgart 2010, S. 94–99. Jung[-Stilling], S. 17.
Schlegels Lucinde (1799) – Ein Vorschlag zur Neu-Fundierung der Ehe
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ein Zustand, der nicht nur dem „täglichen Ersatz neuer Weltbürger“, sondern auch dem „Aufkommen aller Staaten“52 dient – zu einem polizeilich zu regulierenden Problem: Alle „Gefahren, welche Mutter oder Kind, oder beiden zugleich drohen, [sollen] mit wirklicher Vatersorge“53 abgewendet werden. Dass diese Vatersorge vorrangig darauf zielt, die „Fruchtbarkeit gesunder Bürgerinnen so [zu] benutzen“54, wie sie dem Staate dient, wird von den zeitgenössischen Autoren nicht verhehlt. Dementsprechend fordern sie, dass den „Freiheiten“ schwangerer Frauen „Schranken gesezet, ihrem Verhalten gewisse Maaßregeln angewiesen, und wegen Erhaltung ihrer Leibesfrüchte eigene Vorschriften ertheilet“55 werden. Diese Vorschriften betreffen zum einen die Kleidung von Schwangeren, welche „entscheidend für das Wohl der Mutter und des Kindes“56 sein soll, und zum anderen einen Bereich, den man als Teilhabe am öffentlichen Leben umschreiben kann. Auch wenn im Visier der Polizeiwissenschaftler nicht „gar zu leicht[e]“ (L 66) Gewänder, sondern Mieder, Reifröcke und Absatzschuhe stehen,57 auch wenn sie nicht abendliche Aufenthalte im Freien (vgl. L 66), sondern „Bälle[], öffentliche[] Lustbarkeiten, Masqueraden, Schlittenfahrten, u. d. gl.“58 kritisieren, so stimmen sie doch mit Julius in der Ansicht überein, dass das Leben der Mutter durch einen Katalog von Ge- und Verboten zugunsten einer effizienten Reproduktion zu reglementieren sei.
6 Zusammenfassung Der Entwurf einer harmonischen, auf Liebe gründenden Ehe, den Friedrich Schlegel mit seiner Lucinde vorlegt, ist Teil eines Diskurses, der – im Wissen um die staatsökonomische Bedeutung der ehelichen Verbindung – verschiedene Vorschläge zur Stabilisierung jener in die Krise geratenen Institution produziert. Schlegels Forderung, Eheschließungen von materiellen Zwecksetzungen zu entkoppeln, ist nicht originär romantisch, sondern bereits in polizeiwissenschaftlichen Abhandlungen ausformuliert. Im Einklang mit deren Theorie, dass aus Ehen zwischen Liebenden eine größere Anzahl brauchbarer Menschen hervorgehe, charakterisiert Schlegel die Verbindung von Julius und Lucinde als eine, die der effizi
Frank, S. 503; vgl. Huszty, S. 4. Frank, S. 504; vgl. Huszty, S. 4. Frank, S. 520; vgl. Huszty, S. 5. Huszty, S. 5; vgl. Frank, S. 518. Frank, S. 550; vgl. Huszty, S. 15. Vgl. Frank, S. 550–555; Huszty, S. 15–17; vgl. Steininger, S. 202–206. Frank, S. 542; vgl. Huszty, S. 12; vgl. Steininger, S. 207.
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enten Fortpflanzung dient. Gleichzeitig präsentiert er sie als disziplinierend, zumal sie den Protagonisten zur kontinuierlichen Freisetzung männlicher Energien animiert. Zusammengenommen kommt die Lucinde-Liebesehe somit als eine durch und durch funktionale Verbindung daher, die sich den ökonomischen Interessen des Staates anträgt. Zu diesem Zweck wird auch das Geschlechterverhältnis arbeitsteilig und hierarchisch, nach dem Vorbild der aristotelischen Ökonomik, strukturiert: Lucinde soll Weisungen von Julius entgegennehmen und sich in die häusliche Sphäre zurückziehen. Dort kommt ihr die Aufgabe zu, Kinder zu gebären, großzuziehen und zugleich einen privaten Rückzugsraum für ihren Ehemann zu kreieren. Julius wiederum erklärt, künftig für die Gemeinschaft tätig, mithin ökonomisch produktiv zu werden. Erteilt Schlegels Konzept privatwirtschaftlichen Erwägungen auch eine Absage, so suggeriert sein Ehe-Ideal gleichwohl: Aus staatsökonomischer Perspektive ‚rechnet‘ sich die romantische Liebe.
Corinna Sauter
Des Leb/sens Überfluss (Ludwig Tieck) In der glücklichen Liebe wird, wie man mit Clemens Brentano sagen könnte, „jeder Mangel Zierde / Und jede Armut Überfluß“.1 Mit Blick auf das Verhältnis von Mangel und Überfluss, mit dem man es dort zu tun bekommt, wo Eros seine Finger im Spiel hat, widme ich mich in diesem Essay der Verhandlung von Liebe, Ökonomie und Literatur in Ludwig Tiecks spätromantischer Novelle Des Lebens Überfluß, geschrieben 1837/1838, veröffentlicht 1838 in Urania. Taschenbuch auf das Jahr 1839. Eine Urszene des Verhältnisses von Mangel und Überfluss in der Liebe ist Diotimas allegorisches Märchen von der Geburt des Eros, das Sokrates in Platons Symposion (203b-c) erzählt, demgemäß die Götter beim Geburtsfest Aphrodites einen Schmaus hielten, bei dem auch Πόρος – die Findigkeit, der Wegfinder zum Reichtum, der Überfluss – zugegen war. Als sie gespeist hatten, trat Πενία – die Armut bzw. der Mangel – bettelnd heran. Nachdem der vom Nektar berauschte Poros in Zeus’ Garten eingeschlafen war, legte sich Penia, die ob ihrer Dürftigkeit ein Kind mit Poros zeugen wollte, zu ihm und empfing den Eros. Dieses Denkbild der Geburt der Liebe aus der Vereinigung von Mangel und Überfluss hält Tieck präsent. Allerdings hat er das Verhältnis von Mangel und Eros ökonomisch konkretisiert und nicht nur die Subjekte, sondern mehr noch die (aporetische) Lage, in welche diese sich bringen, mit einem Mangel ausgestattet. In den Worten der Liebenden: „Wir entbehren fast Alles, […] nur uns selbst nicht […]. So ist die Armut mit unsrer Liebe eins geworden, und dieses Stübchen, unser Gespräch, unser Anblicken und Schauen in des Geliebten Auge ist unser Leben.“2 Später kommt auf das Paar die Wohlhabenheit, der monetäre Überfluss. Der Plot der Novelle ist schnell zusammengefasst: Der bürgerliche Heinrich, Schriftsteller, ehemals Diplomat, und die adelige Clara haben, nachdem ihre Liebesbriefe entdeckt sind, auf der Flucht trotz der Einwände von Claras Vater gegen die Mesalliance geheiratet. Im Anschluss leben sie zurückgezogen im Dachstübchen eines kleinen Hauses am Rande einer Residenzstadt. Da
Clemens Brentano: Text zum Oratorium von Ett zu lesen. Im Laboratorium vor dem Bett. In: Ders.: Werke. Bd. 1. Hg. v. Wolfgang Frühwald et al. 2. Aufl. München 1978, S. 560–561, hier S. 561. Ludwig Tieck: Des Lebens Überfluß. Novelle. In: Ders.: Schriften in zwölf Bänden. Bd. 12: Ludwig Tieck. Schriften 1836–1852. Hg. v. Uwe Schweikert. Frankfurt a. M. 1986, S. 193–249, hier S. 195. Im Folgenden wird Tiecks Novelle nach dieser Ausgabe im Fließtext mit Seitenzahlen zitiert. https://doi.org/10.1515/9783110740806-007
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sie nicht arbeiten, gehen die Ressourcen bald zur Neige. Zunächst leben sie vom Erlös von für überflüssig erklärten Dingen. Mit Nahrungsmitteln versorgt werden sie von Claras Magd Christine, die das Paar begleitet hat. Die Zeit vertreiben sich die Müßiggänger mit Gesprächen anhand der Lektüre von Heinrichs Tagebuch, das sie rückwärts lesend durchgehen, da in der kleinen Wirtschaft mittlerweile weder Bücher noch Schreibutensilien mehr vorhanden sind, weshalb der Schriftsteller nicht mehr schriftstellerisch tätig sein kann und sich stattdessen allein aufs Denken und Phantasieren verlegt. Als im Winter der Feuerholzvorrat erschöpft ist, verheizt Heinrich in Abwesenheit des Vermieters die Eichentreppe, so dass das Liebespaar nahezu gänzlich abgeschnitten ist von der äußeren Welt. Der Konflikt mit der Wirklichkeit eskaliert, als der Hausbesitzer von der Kur heimkehrt und empört über den Treppenverbrauch die Polizei ruft, wobei ein Tumult entsteht und das umstehende Volk sich in fehlgehenden Spekulationen ergeht – die Rede ist von Revolution, Sektiererei, Saint-Simonismus; in Heinrich vermutet es einen Verräter, Atheisten oder Emissär. Erlösung bringt ein reicher Freund Heinrichs, Andreas Vandelmeer, der von seiner Reise nach Ostindien den Gewinn aus einem Spekulationsgeschäft mitbringt, das er mit einem Teil von Heinrichs Kapital gemacht hat. Der Reichtum aus dem Orient finanziert ein unabhängiges Leben des nun auch wieder mit Claras Vater ausgesöhnten Paares – und Heinrich kann erfolgreich seiner Schriftstellerei nachgehen. Das Kapital ist der Deus ex machina (ein Deus ex oriente3), der den Konflikt zwischen der rhetorisch konstituierten Liebesidylle, die sich einer in der Not geborenen Armutsphilosophie verpflichtet hat, und der Wirklichkeit, die der Logik des Ökonomischen unterworfen ist, löst. Zum Lemma „ÜBERFLUSZ, m. abundantia“ verzeichnet das Deutsche Wörterbuch neben der wörtlichen Bedeutung – dem Überfließen von Wasser – den bildlichen Gebrauch: Überfluss kann im Sinne von lat. copia verstanden werden als Menge bzw. „fülle“ oder „reichthum“; dies im Gegensatz zu „mangel“ und „armuth“, wie es in den Wendungen „im überflusz […] schwimmen“ oder „leben“ geläufig ist. Zudem hat ‚Überfluss‘ auch die Bedeutung von lat. ubertas, Fruchtbarkeit, und kann daraus abgeleitet den „überflusz des herzens“ oder „des verstandes“ meinen. Endlich bedeutet Überfluss so viel wie „nimietas“ bzw. „luxuria“, also Übermaß, Üppigkeit, Schwelgerei und Verschwendung, wovon ‚Überfluss‘ als Wechselbegriff für „luxus“ herkommt. Schließlich konnte Überfluss auch den „übermuth“ meinen sowie die Überflüssigkeit im
Volker C. Dörr: „Alles aus Liebe zum Orient geläufig“. West-östliche Lesespuren in Ludwig Tiecks ‚Des Lebens Ueberfluß‘. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 2 (2011), H. 1, S. 63–76, hier S. 64.
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Sinne von „unnöthigkeit“.4 Der titelprägende Überfluss wird in Tiecks Novelle in diesen Bedeutungen – im Sinne von Unnötigem, Luxus oder Wohlhabenheit in Abgrenzung zu Mangel und Armut, im Sinne des launigen Übermuts, des Überflusses des Herzens wie des Verstandes und der luxurierenden Einbildungskraft sowie nicht zuletzt im Sinne der rhetorischen und ästhetischen Terminologie als copia und abundantia – apostrophiert, ironisch verhandelt und poetologisch fruchtbar gemacht, wie ich im Zuge meiner Rekonstruktion von Tiecks so verstandener Poetik des Überflusses zeige. Nach der Skizze einer ironisierenden Topik der romantischen Liebe im Hinblick auf die von den Liebenden betriebene Ökonomie der Verausgabung (1.) diskutiere ich diese im Kontext der Bezugnahme auf die zeitgenössische Luxusdebatte (2.), von der ausgehend die textinterne Konfrontation eines Luxus qua Spekulation mit einer romantischen Gabenlogik (3.) eruiert wird, um nach einer Bemerkung zur Ökonomie der Liebesgeschichte (4.) den titelprägenden Überfluss auch hinsichtlich Rhetorik, Intertextualität und Selbstreferentialität sowie vor der Folie des ‚Leseluxus‘ zu erörtern. Den Abschluss bildet ein Resümee zum Text als Gabe literarischen Überflusses (5.).
1 Topik der romantischen Liebe und die Ökonomie der Verausgabung In seiner Altersnovelle, die als ironisiertes „Archiv[]“ und als „parodistische ReLektüre der Romantik“5 interpretiert worden ist, reinszeniert Tieck die romantische Liebe und führt deren Konstitutionsbedingungen vor. Die im Gespräch konstituierte „Sonderwelt“6 ist eine Welt der Kommunikation und Konsumption. Die Liebenden, deren „Losung“ „[l]ieben und leben hieß“, gleich „wie“ (194) dieses Leben sich gestalten würde, erzählen sich ihre Liebesgeschichte nachträglich in „ÜBERFLUSZ, m.“, Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21 (https://www. woerterbuchnetz.de/DWB?lemid=U00546; zuletzt abgerufen am 1.11.2021). Detlef Kremer: Romantik als Re-Lektüre. ‚Des Lebens Überfluß‘ und ‚Waldeinsamkeit‘. In: Ludwig Tieck. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Claudia Stockinger, Stefan Scherer. Berlin/Boston 2011, S. 575–581, hier S. 575 u. 576. Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a. M. 1994, S. 178; zur romantischen Liebe als selbstbezüglicher Kommunikation vgl. auch Christian Schmitt: Privatgespräche. Ludwig Tiecks ‚Des Lebens Überfluß‘ und die Grenzen kommunikativer Idyllik. In: Prekäre Idyllen in der Erzählliteratur des deutschsprachigen Realismus. Hg. v. Sabine Schneider, Marie Drath. Stuttgart 2017, S. 61–79, hier S. 67.
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ihrem Dialog, den man mit Roland Barthes als ironisierende Topik der romantischen Liebe rekonstruieren könnte.7 Dieser Liebesdialog ist gespickt mit Zitaten und Anspielungen auf frühromantische Theoreme, mit deren Wörtlichnehmen und Anwendung auf das tägliche Leben,8 deren Trivialisierung oder parodischer Verkehrung. So zitiert Heinrich etwa Friedrich Schlegels Konzept der Liebesehe (vgl. 200). Doch wo in der Lucinde (1799) mit der Universalität der romantischen Liebe ein die Welt und Gesellschaft gerade einschließender intensivierter Daseinsbezug gemeint ist,9 isolieren sich Tiecks Liebende. Den Bewohnern des Dachstübchens ist ihre Liebe ein winziger Raum der „Bejahung dessen […], was seinen Wert in sich selbst hat“10, den sie der Entwertung der Liebe durch die gesellschaftlichen Konventionen entgegensetzen. Bejahung zeichnet den Dialog auch buchstäblich aus, setzen mit ihr doch die Entgegnungen bei den Sprecherwechseln ein. Den Liebenden, die sich einzigartig sind in ihrer Anbetungswürdigkeit, gerät ihr Beisammensein in liebevollen Blicken, Umarmungen, Küssen und gewitzten Unterhaltungen zu einem Fest – auch der Phantasie.11 Durch ihre luxurierende Einbildungskraft wird ihnen die dürftige Brot- oder Wassersuppe zum „Festmahl“ (200), das Trinkwasser zum „flüssig gewordenen Äther“ (198). Besonders Heinrich poetisiert so, das Theorem der Romantisierung zitierend, das Gewöhnliche. Man denke an Novalis’ berühmtes Fragment 105 (1798): „Die Welt muß romantisirt werden. […] Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisire ich es […]“.12 Bei dem zu flüssigem Äther romantisierten Wasser handelt es sich zugleich um eine Allusion auf Don Quixote, denn dieser schafft mittels seiner Phan-
Roland Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe [1977]. Übers. v. Hans-Horst Henschen. 18. Aufl. Frankfurt a. M. 2016. Vgl. Dagmar Ottmann: Angrenzende Rede. Ambivalenzbildung und Metonymisierung in Ludwig Tiecks späten Novellen. Tübingen 1990 (Stauffenburg Colloquium. Bd. 17), S. 60. Zum Verhältnis der Liebenden in Schlegels Lucinde vgl. auch den Interpretationsvorschlag von Dagmar Wahl in diesem Band. Barthes, S. 55. Zu den ‚Figuren‘ vgl. Barthes, S. 37–40, 44–46, 59 f., 214 f., 162 f., 114. Zum „Fest der Phantasie“ s. auch Leonhard Fuest: Poetik des Nicht(s)tuns. Verweigerungsstrategien in der Literatur seit 1800. München 2008, S. 76. Novalis: Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen. In: Ders.: Schriften. Bd. 2: Das philosophische Werk I. Hg. v. Richard Samuel et al. Darmstadt 1965, S. 505–651, hier S. 545.
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tasie auch „einen großen Becher kalte[n] Wasser[s]“ in ein „köstliches Getränk“ um.13 Heinrichs Versuch, Clara durch die gewitzte Poetisierung der dürftigen Wirklichkeit zu erheitern, steht im Zeichen der Produktion überschüssigen Sinns bis hin zum Unsinn. Der assoziativ entlang der Tagebucheinträge ausschweifende Liebesdiskurs ist ein überschüssiges Poetisieren, das, durch die Liebe bewegt, alles berührt – Gott und Mensch, Staat und Bürger, Körper und Seele, Leben und Tod. Die Produktion phantasmatischen Überschusses hält so den Zusammenhang von Eros und Poesie präsent bzw. die Verschwisterung von Eros und Fabel, wie sie Novalis in Klingsohrs Märchen im Heinrich von Ofterdingen (postum 1802) darstellt. Dass Tiecks Heinrich dabei eine lächerliche Figur macht, zeigt die ironische Distanz an, die Tieck zur romantischen Liebe einnimmt. Freilich bringt Heinrich, den Schein seiner Romantisierung bewusst haltend, die Poetisierung ironisch vor.14 Die unendliche Semiose, die mit seinem intertextuellen Diskurs und der permanenten Umdeutung der Realität durch Tropen in Gang gesetzt wird, folgt einer Ökonomie der semiotischen Verausgabung. Diese korrespondiert der Tatsache, dass das übermütig geführte Leben der beiden, die sich ihre Liebes-Opfer (vgl. 204) wiedererzählen, auch konkret im Zeichen der Verausgabung steht. Georges Bataille hatte „den Namen der Verausgabung“ für „sogenannte[] unproduktive[] Ausgaben“ wie u. a. den „Luxus“ – darunter die „Künste“ und die Poesie per se – reserviert.15 Tieck führt Liebende vor, die sich, anstatt dem Modell der auf die Zukunft ausgerichteten bürgerlichen Ökonomie zu folgen, in der auf den Augenblick ausgerichteten, nicht kalkulierenden Ökonomie der Verausgabung, der „Ökonomie des Festes“ ergehen.16 Freilich besteht diese Form der Verausgabung gerade in einer Konsumption, die auf den Selbstverzehr hinauslaufen würde, erfolgte nicht eine Intervention. Passend zur Ökonomie des Festes deutet Heinrich das Horazsche Carpe diem auch zu einem „genieße den Tag“ (218) und einer Philosophie des bewusst gelebten gegenwärtigen Augenblicks um, die er mit der Maxime „Alle Sorgen / Nur auf morgen“ (219) aus Goethes idylli-
Leben und Thaten des scharfsinnigen Edlen Don Quixote von la Mancha. Von Miguel de Cervantes Saavedra. Übers. v. Ludwig Tieck. Bd. 1. Berlin 1799, S. 53. Zur Ironie Leonhard Fuest: Die Ironie des Müßiggangs. Ludwig Tiecks ‚Des Lebens Überfluß‘. In: Romantik. Mythos und Moderne. Hg. v. Ulrich Wergin, Timo Ogrzal. Würzburg 2013, S. 213–223. Georges Bataille: Der Begriff der Verausgabung [1933]. Übers. v. Traugott König. Überarb. von Tim Trzaskalik. In: Ders.: Der Fluch der Ökonomie. Hg. v. Michel Surya, Tim Trzaskalik. Mit einem Nachwort von Michel Surya. Berlin 2020, S. 19–52, hier S. 24. Zu Batailles ökonomisch geprägten Begriff der Verausgabung s. auch Artur Boelderls Beitrag in diesem Band. Georges Bataille: Der Gebrauch der Reichtümer [1947]. Übers. v. Gerd Bergfleth. Überarb. von Tim Trzaskalik. In: Der Fluch der Ökonomie, S. 88–92, hier S. 88. Vgl. auch die Figur der Verausgabung bei Barthes, S. 223–225.
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schem Singspiel Jery und Bätely (1790) unterstreicht, womit qua Intertextualität auf die Idyllen-Inszenierung reflektiert wird.17 Denn das Dachstubenleben wird von Clara und Heinrich – dessen Namen man auch als ‚Herr des umfriedeten Hags‘ paraphrasieren könnte – als Idyll allererst erzeugt: durch die räumliche Abgeschlossenheit von der Außenwelt, durch die Eigenzeitlichkeit idyllischer Stasis und durch die Rede unter Apostrophierung von Topoi wie dem biblischen Paradies, dem locus amoenus oder dem „goldene[n] Zeitalter des Überflusses“.18 Das Idyll gerät so unter Rückgriff auf Örter des Überflusses trotz Dürftigkeit zum Chronotopos eines alternativen Luxus – der Liebe, des Müßiggangs und der Phantasie. Die Wirklichkeit und die Zukunft brechen indes mit dem Holzmangel in das „Paradies[]“ herein, das die beiden gegen die Ökonomisierung aller Lebensbereiche mit Phantasiezauber zu stabilisieren suchten und von dem Heinrich meinte, dass „kein Engel […] auf den ganz überflüssigen Einfall“ käme (195), sie daraus zu vertreiben. Die unerhörte Begebenheit der ereignisarmen Novelle – das Verheizen der Treppe – zeigt an, dass Heinrich die Verausgabung bis zum Eigentumsdelikt betreibt.19 Tieck lässt Heinrich, der – qua ironisch sprechendem Namen (von ahd. ‚heim‘ und ‚rīhhi‘) – als „Herr des kleinen Hauses“ (215) apostrophiert wird, einen zersetzenden Angriff auf den οἶκος ausführen („das Haus verderben!“, 213). Hier stellt sich die Frage nach der Anschlussfähigkeit der romantischen Liebe an den Staat und an die Ökonomie. Gewidmet ist ihr der Auktionstraum Heinrichs, der das Idyll in grotesker Überzeichnung als einen „realistische[n] Alptraum“ spiegelt, der mit der Unhintergehbarkeit der staatlichen Ordnung wie der Logik der kapitalistischen Ökonomie zugleich den Grund nachliefert für die romantische Transzendierung der dürftigen Wirklichkeit durch rhetorische Retusche.20 Heinrich träumt nämlich, dass er noch Diplomat sei und unter den „verstäubten Altertümlichkeiten“ (221) versteigert werde. Nachdem niemand auf den „Lump[en]“ (222) und „Taugenichts“ (222 f.) bieten will und er im Verbund mit einem Tagesschriftsteller, einem Wochenblattredakteur, einem Verfasser von Korrespondenzartikeln und einem Theaterkritiker verhökert werden soll, bietet Clara hoch und Vgl. Heinz Brüggemann: Arkadische Speisefolgen. Das Idyllische als Spiel- und Denkmaterial in Ludwig Tieck: ‚Des Lebens Überfluß‘ (1838). In: Prekäre Idyllen, S. 34–60, hier S. 46. Erwin Panofsky: Et in Arcadia Ego. Poussin und die elegische Tradition. Übers. v. Florens Felten. In: Europäische Bukolik und Georgik. Hg. v. Klaus Garber. Darmstadt 1976 (Wege der Forschung. Bd. 355), S. 271–305, hier S. 273. Zur Idylle vgl. exemplarisch Schmitt (dort auch zur Forschung). Zum Eigentumsdelikt vgl. Ingrid Oesterle: Ludwig Tieck: ‚Des Lebens Überfluß‘ (1838). In: Romane und Erzählungen zwischen Romantik und Realismus. Neue Interpretationen. Hg. v. Paul Michael Lützeler. Stuttgart 1983, S. 231–267, hier S. 256–258. Fuest, Ironie des Müßiggangs, S. 221.
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behauptet so in der Liebe ungeachtet der im Traum ausgestellten gesellschaftlichen Wertlosigkeit des nicht erwerbtätigen Schriftstellers den Wert des Individuums gegenüber seiner Verdinglichung in der kapitalistischen Gesellschaft. Es entsteht „ein Wettstreit“, und schließlich erhebt sich Heinrichs „Wert“ über 200.000 Taler, die ihm „gegen alle Gesetze der Auction“ (224) eingehändigt werden. Noch bevor er weggebracht wird, stellt sich Clara mit „unter den Hammer“. Tieck spielt mit dem Doppelsinn von ‚Schätzen‘ und ‚Wert‘ und legt so die Verquickung von ökonomischem und sozialem Kapital offen. Die ökonomische Semantik tangiert auch die Liebe: Der mit „mächtige[m] Kapital[]“ ausgestattete Heinrich überbietet seine Nebenbuhler und übertrumpft Clara, der er „[s]eine Liebe in größerem Maße zeigen“ will, „als [sie ihm] bewiesen“ (alle: 225). Die gegenseitige Wertschätzung erfolgt als ein Liebesgabenwettstreit, der in eine Verausgabung mündet, die lebensbedrohlich wird. Denn als Clara Heinrich zugeschlagen wird, stellt er fest, dass er die Summe nicht zahlen kann. Das Paar wird wegen „Hochverrat[s]“ ins Gefängnis geworfen, weil es „das Vertrauen des Publikums betrogen und den Kredit des Staates untergraben“ habe; die Überschätzung des Individuums ohne Rücksicht auf den Staat sei „ein furchtbarer Betrug“ und laufe „[d]em Patriotismus“ zuwider, „wo jedes Individuum sich unbedingt dem Ganzen opfern müsse“ (226). Mit dem Kredit als Mittelpunkt des Staates bricht sich offenkundig die romantische Ökonomie Adam Müllers Bahn.21 Der in diesem Sinne auch romantische, nicht nur „antiromantische[] Traum“22 zeigt in einer ersten Lektüre, dass die kapitalistische Logik alle Lebensbereiche inklusive des Teilbereichs der Literatur umfasst, und, dass hier Liebe einer Ökonomie der überbietenden Verausgabung und des Tauschs (dazu unten mehr) gehorcht.
2 Luxus Das Liebespaar setzt bei den Entbehrungen des dürftigen Lebens auf den Reichtum der „Liebe“, die ihnen „Alles ersetzen“ (204) muss, sowie auf den Luxus des Müßiggangs und des Phantasierens, mithin auf einen poetisch-ästhetischen Überfluss. Erklärt das Paar zunächst das Notwendige für Luxus, kommt es später zu monetärem Überfluss. Für das Verständnis der Novelle ist es daher nötig,
Vgl. Adam H. Mueller: Die Elemente der Staatskunst. Oeffentliche Vorlesungen. Bd. 2. Berlin 1809, S. 257. Benno von Wiese: Ludwig Tieck, ‚Des Lebens Überfluß‘. In: Ders.: Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka. Interpretationen. Bd. 1. Düsseldorf 1967, S. 117–133, hier S. 128.
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den Luxusbegriff vor der Folie der Luxusdebatte um 1800 zunächst in ökonomischer, später in ästhetischer und literarischer Hinsicht etwas zu schärfen.23
2.1 Luxusdebatte um 1800 Das 18. Jahrhundert ist – so schon Friedrich Schlegel – das Jahrhundert des Luxus.24 In der Geschichte der Ökonomie erfuhr der Luxus eine ambivalente Bewertung.25 Während sich der klassische Nationalökonom Jean-Baptiste Say im Traité d’économie politique (1803), wie größtenteils schon Adam Smith in The Wealth of Nations (1776), luxuskritisch äußert, weil Luxus als unproduktive Konsumption von Gütern einen falschen, müßiggängerischen Gebrauch des Reichtums darstelle, der auf künstlich erzeugte Bedürfnisse reagiere, anstatt die Produktion notwendiger Güter anzuregen, die den Lebensstandard auch der ärmeren Schichten hebe,26 argumentierte der Merkantilist James Steuart in An Inquiry into the Principles of Political Oeconomy (1767), dass der Luxus im Sinne einer „Verschaffung überflüssiger Sachen, zum Besten der Consumtion“ „nothwendig die gute Wir-
Dass der titelgebende Überfluss auch ins Feld der Ökonomie führt, ist nicht unbemerkt geblieben, allerdings unterschätzt worden. Vgl. Ingrid Oesterle, S. 240. Fuest (Die Ironie des Müßiggangs, S. 223) bemerkt ein mit dem Titel angekündigtes Programm einer „Dialektik von Überfluss und Notwendigkeit“, folgt dem aber nicht weiter, da er sich durch sein Argument, dass der Text kein positives Sinnangebot mache, der Untersuchung (polit)ökonomischer Positionen enthoben sieht. Lisa Heller (Die ‚Insel der Fantasie‘. Zum Müßiggang in Ludwig Tiecks ‚Des Lebens Überfluß‘. In: Ökonomie des Glücks. Muße, Müßiggang und Faulheit in der Literatur. Hg. v. Mirko Gemmel, Claudia Löschner. Berlin 2014, S. 325–345), die konstatiert, dass „[d]as titelprägende Wort […] kaum […] in seiner tatsächlichen Bedeutung, wonach es im Feld ökonomischer Luxus- und Bedürfnislehren mit Synonymen wie Üppigkeit, Luxus oder Reichtum korreliert“, begegne (S. 344), ist zu korrigieren, denn Tieck nennt den Überfluss nicht nur ausdrücklich im Sinne der ökonomischen Luxusdebatte, sondern die Erzählung läuft auch auf einen Wechselbegriff des Luxus – die Wohlhabenheit (abundantia) – zu. Dazu mehr in Kap. 4. Schlegel bemerkt, dass neben Kredit, Mode, Industrie und Zirkulation der „Luxus“ der „Gott des Zeitalters“ sei. Friedrich Schlegel: [IV] Philosophische Fragmente. Zweite Epoche. I. [1798–1799]. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. v. Ernst Behler et al. Paderborn et al. 1958–2020, Abt. II, Bd. 18, Teil 1. Paderborn et al. 1963, S. 195–321, hier S. 239 f. Vgl. die Darstellung von Christine Weder/Maximilian Bergengruen: Moderner Luxus. Einleitung. In: Luxus. Die Ambivalenz des Überflüssigen in der Moderne. Hg. v. dens. Göttingen 2011, S. 7–31, bes. S. 8–17. Vgl. Johann Baptist Say: Abhandlung ueber die National = Oekonomie oder einfache Darstellung der Art und Weise, wie die Reichthuemer entstehen, vertheilt und verzehrt werden. Übers., mit Anm. und Zus. versehen von Ludwig Heinrich Jakob. Bd. 2. Halle/Leipzig 1807, S. 275–287, bes. S. 278.
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kung haben müsse, den Fleissigen Arbeit und Brod zu schaffen.“27 Luxus sei, so liest sich Steuarts affirmative Luxus-Theorie bei Hegel, „eine weit sittlichere Art des Reichtums als das bloße Verschenken“, da er Menschen Arbeit verschafft.28 Und auch Johann Georg Büsch spricht sich für den Luxus aus, weil er für wirtschaftlichen Aufschwung und Wohlstand durch die Klassen hindurch sorge.29 Die Luxusdebatte wird im 19. Jahrhundert, etwa bei Friedrich Ancillon,30 Karl Heinrich Rau oder Karl Rosenkranz auf der Basis der genannten Positionen durch die politischen Lager hindurch (meist historisierend31) fortgeführt. Eine hinsichtlich der Luxusaffinität der merkantilistischen Position Steuarts verwandte findet sich im Aufsatz des Nationalökonomen Rau Ueber den Luxus (1816), der den Begriff des Luxus, wie u. a. schon Büsch, wo er sich auf den Zustand der Sozietät bezieht, durch „Wohlleben“ (Komfort) ersetzt und die Rolle des Handwerks für dasselbe diskutiert (mehr dazu unten).32 Der Hegelianer, Tieck-Liebhaber und -Exeget Karl Rosenkranz, der 1838 die Studie Ludwig Tieck und die romantische Schule veröffentlicht, führt 1835 in Ueber die Nothwendigkeit des Luxus die ökonomische Luxusdebatte mit einem anthropologischen, kulturgeschichtlichen und sozialen Aspekt eng, wobei er (wie schon Voltaire) zur paradoxen Formulierung eines ‚notwendigen Luxus‘ greift. Es sei die „Aufgabe“ der Zeit, mithilfe der Nationalökonomie „den Gegensatz schwelgerischen Reichthums und proletarischer Subsistenzlosigkeit auszugleichen“, da „die ungeheuren Nothstände der bürgerlichen Gesellschaft in Europa […] bald […] mit den furchtbarsten
John Steuart: Untersuchung der Grundsätze der Staatswissenschaft, oder Versuch über die Wissenschaft der innerlichen Politik in freyen Staaten. 2 Bde., aus dem Engl. übers., Bd. 1. Hamburg 1769, S. 330. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie des Rechts. Berlin 1819/ 1820. Nachgeschrieben von Johann Rudolf Ringier. Hg. v. Emil Angehrn et al. In: Ders.: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte. Bd. 14. Hamburg 2000, S. 120. Vgl. Johann Georg Buesch: Abhandlung von dem Geldumlauf in anhaltender Ruecksicht auf die Staatswirtschaft und Handlung. Bd. 1. 2., verm. u. verb. Aufl. Hamburg/Kiel 1800 [zuerst 1780], S. 341–343; vgl. ders.: Von dem Wolleben des handelnden Buergers, nebst drei Anhängen. 1776. In: Ders.: Erfahrungen. Bd. 5. Hamburg 1802, S. 3–89, hier S. 5. Friedrich Ancillon: Ueber den Geist der Staatsverfassungen und dessen Einfluß auf die Gesetzgebung. Berlin 1825, S. 220–230 [Kap. Der Luxus]. Vgl. Joseph Vogl: Luxus. In: Handbuch Literatur & Ökonomie. Hg. v. dems., Burkhardt Wolf unter Mitarbeit von Alexander Mionskowski. Berlin/Boston 2019 (Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie. Bd. 8), S. 202–204, hier S. 204. Karl Heinrich Rau: Ueber den Luxus [Einladungsschrift zu der im Koenigl. Gymnasium zu Erlangen am 28. und 29. Oktober 1816], Erlangen, S. 5.
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Umwälzungen [drohen]“.33 Die Notwendigkeit des Luxus bestehe in der Notwendigkeit der geistigen Freiheit, von Beschäftigungen wie Philosophie, Wissenschaft und Kunst, die über die materiellen Bedürfnisse hinausgehen; der Reichtum aber sei Bedingung eines solchen, die Sittlichkeit hebenden und die Zivilisation vorantreibenden Luxus.34 Dieser Punkt begegnet später auch bei Adorno, für den im Prinzip jede „menschenwürdige“ Beziehung, unter zweckrationalen Maßstäben betrachtet, „einen Aspekt von Luxus“35 gewinnt. Tiecks Des Lebens Überfluß hält subtil, wie sich zeigen wird, luxuskritische und komfortapologetische Positionen präsent, überblendet sie mit antiker Luxuskritik und reflektiert den Luxus, wie die ökonomische Semantik (Kapital, Wert, Kredit, Bankrott, Spekulation etc.) zeigt, gleichsam als jenes Phänomen, von dem aus (mit Sombart gesprochen) die kapitalistische Kultur ihren Ausgang nahm.36
2.2 Luxus in Tiecks Novelle Der Text spielt damit, dass Luxus ein relationaler, auf die Bestimmung des Bedürfnisses bezogener Begriff ist und je das bezeichnet, was über die Bedürfnisse hinausgeht.37 Als basale Bedürfnisse werden in der Luxusdebatte Nahrung, Kleidung, Wohnraum und Geräte diskutiert, wobei sich über diese hinaus im Lauf der Menschheitsgeschichte Luxusbedürfnisse herausgebildet haben. Präzis darauf bezogen ist die Aushandlung des Luxus in Tiecks Novelle. Die Luxus- wie die Grundbedürfnisse bzw. der Komfort werden vom Liebespaar stufenweise reduziert. So berichtet der Erzähler, wie die Gatten sich fröhlich zum „dürftigesten Mahle“ „an der einfachen Tafel“ zusammenfanden; es gibt „Brotsuppe“ (198) und zum „köstlichste[n] Frühstück“ wird ihnen eine mit „Kuß und Gespräch gewürzt[e]“ „Wassersuppe“ (206). Es ist der durch die Liebe beflügelte phantasmatische Überschuss, der das Paar das „schlechte“ Mahl „als ein köstliches ver-
Karl Rosenkranz: Ueber die Nothwendigkeit des Luxus. In: Vaterländisches Archiv für Wissenschaft, Kunst, Industrie und Agrikultur oder Preuß. Provinzial = Blätter 14 (1835), S. 106–128, hier S. 106. Vgl. Rosenkranz, S. 126. Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann. Bd. 4. 9. Aufl. Frankfurt a. M. 2014, S. 294. Vgl. Werner Sombart: Studien zur Entwicklungsgeschichte des modernen Kapitalismus. Bd. 1: Luxus und Kapitalismus. München/Leipzig 1913, S. 206. Dazu, dass gerade die Abgrenzung vom Bedürfnis eine zentrale Rolle in der Luxusdebatte um 1800 einnimmt, vgl. Joseph Vogl: Luxus. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hg. v. Karlheinz Barck et al. Bd. 3. Studienausgabe. Stuttgart/Weimar 2010, S. 694–708, hier S. 698.
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zehr[en]“ (212) lässt. Für überflüssig erklärt wird auch die über das Nötigste hinausgehende Kleidung: Heinrich streift den „Frack nebst Zubehör“ (197) ab, Clara verkauft ihr „gutes Kleid“ (210) und beklagt, dass sie nicht wie Lenette aus Jean Pauls Siebenkäs (die allerdings ihr Geschirr aus Zinn gerade ungern versilbern lässt) weitere „Kleider“ sowie Haushaltsgeräte wie „überflüssige Messingkannen und Mörser oder kupferne Kessel“ (195) zur Verfügung habe, um sie zu veräußern. Stattdessen erklärt Heinrich „Tafeltuch“ und „Servietten“ „für überflüssig“ (197). Sie deklarieren also zunächst ironisch jene Dinge zu Luxus, die den Grundbedürfnissen oder dem Komfort zuzurechnen sind,38 und demonstrieren so ihre „Distanz zur Sphäre des Notwendigen“39. Ökonomisch entzieht sich das Paar während des Dachstubenlebens dem gesellschaftlichen Produktionsprozess und wirkt so nicht daran mit, „den Fleissigen Arbeit und Brod zu schaffen“ (s. o.). Als der Holzvorrat ausgeht, geriert sich Heinrich, der zwar „nicht weiß“, woher er Geld nehmen könnte, als Firmian II. oder findiger Poros, der darauf vertraut, dass „sich die Mittel [finden müssen]“, weil es „undenkbar“ sei, dass sie „erfrieren sollten bei so heißer Liebe“ (195). Um in der Isolation des zur Insel erklärten Stübchens gleich Robinson Crusoe Bäume zu fällen, erklärt Heinrich das „Treppengeländer“ zu „eine[r] von des Lebens ganz unnützen Überflüssigkeiten“ (313). Wenn Heinrich die Rolle Robinsons einnimmt, dann stimmt dies zwar mit dessen Luxuskritik überein; ansonsten ist der Witz an dieser Stilisierung, dass Heinrich gerade kein homo oeconomicus ist. Bei der Verarbeitung des Treppengeländers zu Feuerholz durchlaufen die Müßiggänger durch rhetorische Winkelzüge verschiedene Tätigkeiten: Der Exdiplomat verrichtet die „Arbeit“ eines Holzhauers, bei der er gleichsam zum Handwerker, zum bildenden Künstler und zum Redner wird. Indem er seine Tätigkeit in rhetorischer Begrifflichkeit für Mittel und Ziel der kunstvollen Rede fasst – er macht die „zierlichen Kubusklötze“ mit „Überredung und Kunstgeschliffenheit […] feuerfähig“, damit sie „die Flammen der Begeisterung […] tragen“ (alle: 214) –, reflektiert er sein Verfahren der Verwandlung der Wirklichkeit durch metaphorische Rede, wobei er die Metapher des Waldes im Sinne des Stoff-Überflusses wörtlich nimmt und metonymisch40 realisiert. Denn Heinrich deutet, wenn er die Treppe zu Bäumen erklärt, den Gegenstand der Kultur in Natur, das Produkt handwerklicher Arbeit qua reductio ad materiam zum Rohstoff, zum „notwendig[en]“ „Wald“ (214 u. 213) um. Mit der sägenden Arbeit, bei der aus der Form (der Treppe) wieder Stoff (Holz) wird, hält
Zur Unterscheidung von Luxus und Komfort vgl. Lambert Wiesing: Luxus. 2. Aufl. Berlin 2015, S. 83–86. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Übers. v. Bernd Schwibs, Achim Russer. Frankfurt a. M. 1987 [1979], S. 396. Zur Metonymisierung Ottmann, S. 59. Auf die Metaphorologie des Waldes geht sie nicht ein.
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Tieck das Bild des Holzes/Waldes für den Stoff (hyle) präsent. Auch steht der Wald, im Sinne von lat. silva, in der Ästhetikgeschichte für die Fülle oder den Überfluss (ubertas; copia). Copia „bedeutet auch das Rohmaterial, den unbearbeiteten Stoff […], der einen potentiellen Reichtum in sich trägt und der sich in wirklichen Reichtum nur durch die Kunst oder die Vermittlung des Menschen verwandelt.“41 Und so verwundert es nicht, dass Heinrich seine destruktive Treppenarbeit ironisch mit einem Diskurs über seine rhetorischen Künste beschreibt: Während die copia dicendi eines Schriftstellers darin besteht, aus dem Rohmaterial der Sprache eine kunstvolle Rede zu machen, deklariert Heinrich wortgewandt die Treppe zu einem potentiellen Reichtum an Rohmaterial.42 Ironisch bezeichnet er das destruktive Holzspalten als „Gewerbe“ (215), mithin als eine produktive Tätigkeit, und den Treppenverbrauch als „vollendete[s] Werk“ (234). Nachdem er das Geländer verbraucht hat, das ihm „als ein Überfluß erschien[en]“ (232) war, verheizt er auch die Treppe selbst: „denn es war doch nur ein Luxus, ein Überfluß, so gut wie die dicke Lehne“ (233).43 Als der „Hauswirt“ (237) Emmerich (ein sprechender Name für den tatsächlichen Hausherrn) eintrifft, kommt es zum Eklat. Vom Hausbesitzer mit der verbrauchten Treppe konfrontiert, argumentiert Heinrich, der unter dem Pseudonym Brand lebt, nicht nur, dass die Treppe im Brandfall ungünstig sei, sondern auch, dass er sie verabscheue, weil sie den Verkehr mit Karrieristen und unliebsamen Repräsentanten des literarischen Marktes ermögliche – z. B. mit dem nun bankrotten Buchhändler, der ihm sein Manuskript für einen Schandpreis abgekauft hatte. Während Heinrich im Gespräch mit Clara seine Selbstgenügsamkeit von der kynischen Bedürfnislosigkeit abgrenzt, stützt er gegenüber dem Mietsherrn gerade das Argument, dass die Treppe „zu den Überflüssigkeiten des Lebens, zum leeren Luxus, zu den unnützen Erfindungen“ (240) gehöre, mit der kynischen Luxuskritik an-
Jean-Claude Margolin: Copia. Übers. v. Andrea Merger. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding. Bd. 2. Tübingen 1994, Sp. 385–394, hier Sp. 386. Zu einer selbstreferentiellen Lesart des Treppenverbrauchs im Dienste einer ‚narrativen‘ Ökonomie des Idylls vgl. anders Imke Meyer: Ludwig Tiecks Des Lebens Überfluß: Zur Dekomposition eines narrativen Zeit-Raumes. In: Seminar 37 (2001), H. 3, S. 189–208, S. 198. Die Metaphorologie des Waldes diskutiert sie nicht. Heinrich, der sich gegen die Rationalität der kapitalistischen Logik verwehrt, führt die „Rationalität“ gerade „ad absurdum“, insofern der Treppenabbruch „den paradoxen Endpunkt einer auf die Spitze getriebenen Philosophie der Überflüssigkeit bezeichnet“, bei der „alles, was sich keinem unmittelbaren Nutzen zuordnen läßt, wegrationalisiert“ wird. So Béatrice Dumiche: Tiecks Auseinandersetzung mit Goethe und Novalis in ‚Des Lebens Überfluß‘. Literarische Dekonstruktion als revolutionäres Erbe. In: La volonté de comprendre. Hommage à Roland Krebs. Etudes réunies par Maurice Godé & Michel Grunewald. Bern 2005, S. 367–391, hier S. 381 f.
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hand jener bei Antiphilos von Byzanz überlieferten Anekdote, gemäß der Diogenes, nachdem er sieht, wie ein „Bauer“ aus der bloßen Hand Wasser schöpft, auch noch seinen Becher weggeworfen habe (241).44 Mehr noch: Heinrich argumentiert nicht nur mit der Anekdote des Protokynikers Diogenes; seine Wörterdreherei bezüglich der Treppe, die er abwechselnd als „Stufenleiter der Begriffe“ (237), „arme Leiter für Emporkömmlinge“ (239), als „Treppengewächs[]“ (240) oder donquixotesk als „Zugbrücke“ zu seinem „Kastell“ (242) bezeichnet, seine Umdeutung vermittels Metaphorisierung, Metonymisierung und satirischer reductio ad materiam stilisiert er zur kynischen ‚Falschmünzerei‘ (παραχαράττειν τὸ νόμισμα).45 Dieses Beispiel macht deutlich, wie Theoreme aus verschiedenen Diskursen, hier der kynischen Luxuskritik, zitiert und in diesem Fall auch entsprechende sprachliche Verfahren angewendet werden, ohne als ein positives Sinnangebot für den Gesamttext belastbar zu sein (d. i.: Heinrich ist kein Kyniker, wenn auch mitunter zynisch). Das heitere Spiel mit letztlich nicht allzu ernstzunehmenden Diskursfetzen – Setzungen und Gegensetzungen46 – generiert einen poetischen Überschuss, der Mehrbedeutsamkeit suggeriert. Dazu passt, dass neben der Ironie für den Text ein weiterer Tropus wichtig ist: die Litotes, die charakteristisch ist für die Rhetorik der Schonung im Dialog der Liebenden und deren Name von altgriech. λιτός, ‚schlicht, einfach‘, herkommt.47 Einer Rhetorik, die auf die Litotes setzt, diesen „‚überflüssige[n]‘ Tropus, der aus dem Überfluß der Sprache entsteht“, insofern er sprachlichen Mehraufwand betreibt, um weniger zu sagen,48 folgt auch der Erzähler, der über die abgeholzte Treppe bemerkt: „Im Hause selbst war eine gewisse Zerstörung nicht zu verkennen.“ (194) Nicht nur wird Sprachaufwand betrieben, um weniger zu sagen, sondern es wird auch mehr räsoniert, als dass es etwas anderes bedeuten soll als das müßige Geplapper Liebender oder einen „Humor der Ängstlichkeit“ (237) – und (auch für den Leser) eine poetische Steigerung. So wird auf rhetorischer Ebene die Dialektik von Schlichtheit und Überfluss abgebildet, welche die Novelle insgesamt auszeichnet. Die gegen die Standesgesetze durchgesetzte Ehe ist ein antiökonomisches Desaster. Die hanebüchene Einstellung der bürgerlich-adeligen Müßiggänger
Vgl. Antiphil. Byz. Anth. Pal. 16,333; vgl. auch Hieronymos (adv. Iovin. 2,14). Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Übers. v. Otto Apelt. Neu hg. v. Klaus Reich. Bd. 1. Hamburg 2008, S. 288 f. [VI,2,20 f.]. Vgl. Fuest, Ironie des Müßiggangs, S. 219. Vgl. z. B. S. 195, 199. Zur Rolle der Schonung ohne Hinweis auf die Litotes vgl. Oesterle, S. 251, Fuest: Die Ironie des Müßiggangs, S. 219 u. Schmitt, S. 78. Wolfram Groddeck: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens. 2. durchges. Aufl., Frankfurt a. M. 2008, S. 227.
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zur Arbeit – sie leben parasitär von der Lohnarbeit der zur Proletarierin gewandelten feudalen Magd49 – geht indes durchaus mit einer Informiertheit übers tugendhafte Wirtschaften einher. Sie sprechen sich gegen Geiz und Verschwendung aus, wenngleich sie bei aller Sparsamkeit durch das Aufbrauchen ihres Vermögens und den Treppenmissbrauch auch selbst als Verschwender handeln.50 Wo sie betonen, in ihrer Selbstgenügsamkeit weder geizig noch verschwenderisch leben zu wollen, rufen sie, mit Aristoteles zu reden (Arist. NE, IV, 1120a), den schlechten Gebrauch des Reichtums im Gegensatz zur Freigebigkeit auf, von der Heinrich schwärmt (vgl. 197). Nicht zuletzt sind gieriger Geiz („‚ich will alles haben!‘“) und Verschwendung („‚ich will alles sein!‘“) auch die Pole der egoistischen Liebe, die es mit dem Sozialen allererst zu vermitteln gilt.51 So führt Tieck Ökonomie und Liebe anhand der Aushandlung des Luxus eng. Dass das Paar, das sich in der Liebe trotz Armut bewährt hat, am Ende mit Reichtum belohnt wird, wurde als die Clôture eines „Glücksmärchens“ diskutiert.52 Nicht, dass das Paar sich gemäß einer bürgerlichen Logik qualifiziert oder einen Erkenntnisprozess durchlebt hätte; gleichsam als ein „Überfluß des Lebens“53 kommt der Reichtum auf die Müßiggänger. Tatsächlich geht die Herrschaft, als die das Paar nach drei Jahren zu seinem früheren Haushalt zurückkehrt, aber zum Schluss mit ihrem Reichtum zumindest gemäß der skizzierten Luxusapologie im Sinne des Volkswohllebens doch auch ökonomisch um, wie ich nun zeige. Wieviel Gewicht dieser Pointe zu geben ist, bleibt allerdings fraglich vor dem Hintergrund der Schlusswendung durch die Spekulation.
Zu einer sozialkritischen Lektüre siehe Rolf N. Linn: Ludwig Tiecks Dienerin Christine. In: Weimarer Beiträge 18 (1972), H. 12, S. 164–170. Vgl. auch Christoph Brecht: Die gefährliche Rede. Sprachreflexion und Erzählstruktur in der Prosa Ludwig Tiecks. Tübingen 1993 (Studien zur deutschen Literatur. Bd. 126), S. 224 u. S. 221. Lou Andreas-Salomé: Die Erotik [1910]. In: dies.: Die Erotik. Vier Aufsätze. Neu hg. mit einem Nachwort von Ernst Pfeiffer. Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1985, S. 83–145, hier S. 116. von Wiese, S. 130; vgl. Paul Gerhard Klussmann: Idylle als Glücksmärchen in Romantik und Biedermeierzeit. Bemerkungen zu Erzählungen und Taschenbuchnovellen Ludwig Tiecks. In: Idylle und Modernisierung in der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Hg. v. dems., Hans Ulrich Seeber. Bonn 1986, S. 41–59, hier S. 56; Dumiche, S. 369; Fuest: Die Ironie des Müßiggangs, S. 223. Kremer, S. 577.
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3 Wohlleben, Spekulation und die romantische Gabenlogik Erzählt wird eine Geschichte davon, wie der Gewinn aus einem Spekulationsgeschäft alle schöne Rede über das Leben in Armut und Liebe in den Schatten stellt, insofern es der Geld-Überschuss ist, der die auf ein böses Ende zusteuernde Geschichte zum Happy End umlenkt. Erlösung bringt das Geld Vandelmeers, dem Heinrich auf Verlangen hin Kapital für ein Spekulationsgeschäft mit auf die Reise gegeben hatte. Nach der Aussage Vandelmeers, der zwecks „Geldgeschäfte[n]“ (247) aus London, dem Sitz der Britischen Ostindischen Company, anreist, hat dieses „Kapital […] in Indien so gewuchert“, dass Heinrich nun ein „reiche[r] Mann“ sei, der, „wie und wo“ er wolle, „unabhängig leben“ könne (246). Dass sich das Geld durch die Handhabung Vandelmeers vermehrt hat, ist präzis im sprechenden Figurennamen abgebildet:54 Vandelmeer ist der Mann, der durch seine Spekulation in Übersee das Geld vermehrt hat, mittelbar für den Ersatz des Schadens aufkommt und für die Änderung des Lebenswandels des Paares, für die Glückswendung in der Erzählung sorgt.
3.1 Von der Bedeutung des Handwerks fürs Wohlleben Ist es auch nicht viel, was man über das weitere Leben des Paares erfährt, das nun mit der Gesellschaft versöhnt ein unabhängiges Leben ohne Lohnarbeit fortsetzen kann; erwähnt wird doch, dass die Herrschaft dem geizigen Vermieter den Schaden großzügig ersetzt, der das Geld, indem er die hölzerne Treppe wiederherstellen lässt, fürs Handwerk einsetzt. Wie erwähnt, wird Luxus, wenn er zu vermehrtem Konsum führt und so etwa – darauf legt Rau sein Augenmerk – die handwerkliche Produktion steigert, aus volkswirtschaftlicher Perspektive als Hebel zur Steigerung des Volkswohlstandes betrachtet: Zwar sei es nachteilig, „[d]aß Reiche nicht arbeiten“55, doch überwiege ihr positiver Einfluss auf das Wohlleben, insofern sie als Konsumenten der „werthvolleren Güter“ wie „Klei Vandel kommt als Familienname entweder her von einer Kurzform aus dem Namenwort „wandal“, oder vom „Übername[n] zu mhd. wandel ‚Änderung, Tausch, Wechsel; Gebrechen, Makel, […] Tadelnswertes […]; Ersatz eines Schadens, Vergütung eines Unrechts […]; Handel und Wandel, […] Verkehr; Gangart; Lebenswandel‘.“ Lemma „Wandel“. In: Rosa und Volker Kohlheim: Duden Familiennamen. Herkunft und Bedeutung. Berlin 2005, S. 699–700, hier S. 699 u. 699f. Obgleich der zweite Namensbestandteil vom Namen ‚Meer‘ herkommt, der die Liquidität apostrophieren mag, ist eine Assoziation als Name für eine Figur, die etw. in mehr verwandelt, sicherlich nicht unpassend. Rau, S. 26.
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dung“, „Geräthe“, „Schmuck der Wohnungen“ oder delikater „Lebensmittel“ „reichlichen Unterhalt“ schaffen. Denn derlei Güter seien „Gegenstände des Handwerks“, „dessen Blüthe“ bekanntlich einen „wohlthätigen, mächtigen Einfluß […] auf den ganzen Volkshaushalt“ habe.56 Ein produktiver Einsatz des Luxus durch das Ehepaar zugunsten des Handwerks respektive des Volkswohlstandes ist auch eine Pointe des Erzählschlusses, der bislang die gebührende Aufmerksamkeit versagt blieb. Nicht allein in der Exposition ist das Augenmerk auf die Handwerker gerichtet, die Heinrichs Treppenverbrauch wiedergutmachen („Die Zimmerleute und Tischler besserten […] den Schaden aus.“, 194), sondern – entsprechend der Zirkelstruktur der Novelle – auch im Epilog („Nun sah man […] Maurer, Zimmerleute und Tischler tätig.“, 248). Neben den mit Heinrichs Geld bezahlten Handwerkern findet sich später auch ein Buchbinder beschäftigt mit der Einbindung der zweiten Auflage von Heinrichs Werk. Insofern Clara und Heinrich mit ihrem Reichtum Handwerker in Lohn und Brot setzen, folgt der Erzählschluss also gleichsam dem aus der Luxustheorie bekannten Argument, dass sich der Luxus einzelner günstig auf das Volkswohlleben auswirke. Liest man den Schluss vor der Folie der Luxusdebatte, bleibt er, könnte man meinen, nicht jenseits jedweder Wirtschaftsmoral. Der durch die Spekulation „ausgehöhlt[en]“ „Wirtschaftsmoral“57 wird überdies eine überkommene Ethik der Gabe entgegengesetzt, in die sich auch die prekäre Gabe Heinrichs einfügt, der den „arme[n] Buchbinder“ (248) zusätzlich „beschenkt“ (249). Diese Gabe steht freilich in einem Spannungsverhältnis zur Position, dass der Luxus zum Behufe des Volkswohlstands dem Almosengeben sittlich vorzuziehen sei (s. o.). Am Erzählschluss irritiert nicht, dass der Förderung des Handwerks, für das Tieck bekanntlich wie andere Romantiker ein Faible hatte, Aufmerksamkeit gilt. Befremdlich aber im Kontext der der Spekulation kritisch gegenüberstehenden Literatur des 19. Jahrhunderts sowie von Tiecks romantischem Antikapitalismus nimmt sich die Vorstellung des für den Wohlstand der Bevölkerung zu verteidigenden Luxus einiger Reicher sowie der scheints affirmative Einsatz der Spekulation für die Glückswendung aus. Erinnert werden kann an Tiecks Der Alte vom Berge, wo die Spekulation kritisch in den Blick kommt und die Spaltung der Gesellschaft in Reich und Arm als eine Schreckensvision vorgestellt wird.58
Rau, S. 27. Manuel Bauer: Ökonomische Menschen. Literarische Wirtschaftsanthropologie des 19. Jahrhunderts. Göttingen 2016 (Palaestra. Untersuchungen zur europäischen Literatur. Bd. 342), S. 308. Zudem stünde eine Apologie des Reichtums der Wenigen, wie sie Rau vorlegt, wie sie aber auch der Erzählschluss nicht kritisiert, quer zu Aussagen in Briefen Tiecks. Die aufgehende Schere zwischen Armen und Reichen sowie „Verschwendung und Geiz“ wird Tieck noch 1853
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3.2 Textinterne Spekulation über die Spekulation Nun begegnet die Spekulation im ökonomischen Sinn in zwei Figurenreden, die, wie ich meine, darauf angelegt sind, in der Zusammenschau zunächst die Frage aufzuwerfen, ob Heinrichs Kapital, wie Andreas behauptet, tatsächlich „gewuchert“ hat (246), oder ob Andreas die Behauptung als „Vorwand“ dient, seinem Freund „ein ansehnliches Geschenk machen zu können“, wie Heinrich „glauben [musste]“ (203). Man kann Heinrichs Annahme so lesen, dass er eine Logik der Gabe gegenüber dem modernen Kapitalismus präferiert: Ihm liegt die Vorstellung eines Geldgeschenks offenkundig näher als die eines Spekulationsgewinns. Das ließe sich damit erklären, dass der Spekulation „eine Erwartung über zukünftige Entwicklungen zugrunde [liegt], um entsprechende Handlungen in der Gegenwart zu begründen“.59 Spekulation betreibt Heinrich etwa, als er mit den künftig noch zu verbrennenden „Bretter[n] des Fußbodens“ (235) rechnet, sie liegt aber sonst (im ökonomischen Sinn) seiner Augenblicksphilosophie fern. Die Spekulation, die in Tiecks Novelle „märchenhaft[]“ verklärt wird, erscheint freilich in der Tat als die „adäquate ökonomische Tätigkeit des Müßiggängers, der für seinen neuen Wohlstand nicht selbst arbeiten muss, sondern sein Geld arbeiten lässt“.60 Mit einem Geldgeschenk stünde hingegen ein in der Literatur der Romantik beliebter Gebrauch des Geldes zur Debatte, in dem sich „der Wunsch nach einer sozialen Steuerungstechnik“ artikulieren mag, „die den mit sich selbst beschäftigten Geldumlauf korrigiert“.61 Diese ‚romantische‘ Gabenlogik scheint mit Heinrichs Vermutung aufgerufen. Die Lesart des Geldes als Spekulationsgewinn führte also zu einer finanzökonomischen Schlusswendung, die Lesart als Geschenk zu einer gabenlogischen. Die Pointe ist, dass beide überblendet werden, womit die (romantische) Gabe gleichsam auf das Fundament der Spekulation gestellt und zugleich die moderne Ökonomie der romantischen Vorstellung einer sozialen Steuerung unterworfen scheint. So oder so aber wird die Idee, dass die „Liebe Alles ersetzen“ (204) könne, als unhaltbar ausgewiesen. Und so vermittelt die Novelle hinsichtlich der Liebesgeschichte die (banale) Einsicht, dass noch die Realisierung der Fiktion
umtreiben, wie der Brief an Ida von Lüttichau vom 3. Februar 1853 zeigt. Vgl. dens. In: Ludwig Tieck und Ida von Lüttichau in ihren Briefen. Texte hg. u. erklärt von Otto Fiebiger. Dresden 1937 (Mitteilungen des Vereins für Geschichte Dresdens. Bd. 32), S. 38–40, hier S. 39. Michael Horvath: Spekulation, Spekulant. In: Handbuch Literatur & Ökonomie, S. 281–284, hier S. 281. Bauer, S. 307. Harald Neumeyer: Begehren – Macht – Umlauf. Romantische Geldanalyse. In: Romantik kontrovers. Ein Debattenparcours zum zwanzigjährigen Jubiläum der Stiftung für Romantikforschung. Hg. v. Gerhard Graevenitz et al. Würzburg 2015, S. 49–58, hier S. 52.
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einer alles ersetzenden Liebe ein ökonomisches Fundament braucht. Anders als im Realismus soll in dieser ironischen Novelle interessanterweise ein Spekulant Träger der glückbringenden Intervention mittels Liebesgaben sein.62
3.3 Das Luxusbuch als Liebesgabe Durch die Novelle zieht sich die (scheinbare) Konfrontation, vielmehr die Überblendung von Gabenlogik und kapitalistischer Tauschlogik. Alle Beziehungen – familiale, herrschaftliche, freundschaftliche und amouröse – werden von den Liebenden als Gabentauschverhältnisse betrachtet.63 Eine zentrale Rolle in der Novelle spielt eine Gabe im Zusammenhang der Männerfreundschaft. Erzählt wird ja nicht nur die Liebesgeschichte von Clara und Heinrich, sondern auch die ‚Liebesgeschichte‘ (eine Art man crush) von Heinrich und Andreas. Andreas pflegt eine erotisch aufgeladene Freundesliebe zu Heinrich. Wie dieser berichtet, habe ihn Andreas „mit seiner Liebe“ geradezu „verfolgt[]“, ihm seine Liebe „leidenschaftlich“ aufgedrängt (202) und geklagt, dass Heinrich die „Leidenschaft nicht erwidere“, ja dass dessen „Freundschaft zu kühl und ihm ungenügend sei“. Da Andreas „bei seinem großen Reichtum […] wohlwollend und allem Egoismus fern“ gewesen sei, habe er, der „an Allem Überfluß“ hatte, verlangt, Heinrich solle „Opfer von ihm begehren“ (203). Während der Liebesdiskurs zwischen Clara und Heinrich (auch) in narratologischer Hinsicht eine Pause ist,64 führt diese Liebesgeschichte mittels handlungsrelevanter Liebesgaben die Glückswen-
Von hier aus ließe sich der Text vom Realismus abgrenzen, der bezüglich Tiecks Altersnovelle ins Spiel gebracht wurde (vgl. Edwin Lüer: Romantik und Realismus. Zu Tiecks ‚Des Lebens Überfluß‘. In: Gustav-Freytag-Blätter 0 (1991), S. 22–36, bes. S. 22–25). Man denke etwa an Raabes Vom alten Proteus und die Intervention gegen die Intrige eines Spekulanten, um einem Liebespaar zu einem gemeinsamen Leben zu verhelfen. Das ist der Fall, wo Heinrich berichtet, dass er seiner Mutter „ihre Liebe etwas vergelten konnte“ (203), wo er von der feudalen „Treue“ „wie in alten poetischen Zeiten“ schwärmt, von der „Aufopferung“ und „Liebe“ (209) des Dieners für den Herrn sowie von dessen „Hingebung“ „über den bedingten Lohn hinaus“, oder wo er im Zuge seiner Kritik an der Pflichtvergessenheit der Herren über die Clara „ergeben[e]“ Dienerin nachdenkt: „[W]omit sollen wir das je gut machen, erwidern (denn vom Vergelten ist die Rede gar nicht)“ (210). Das Paar poetisiert die Verausgabung der Dienerin, was deutlich wird in den Reflexionen über die Speisegabe, welche diese von einem „Waschfest“ mitbringt. Die Herrschaften nehmen die „Gabe“ deshalb an, weil die Dienerin das Teilen geradezu beglücke. Da Christine zusätzlich arbeite, um weiter dienen zu können, liege die Gegengabe vorerst in ihrer dankbaren Annahme (215). Vgl. Meyer, S. 196 f.
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dung herbei.65 Eine Liebesgabe ist es, die Andreas zur Adresse des Freundes führt: Das Wertvollste, das Heinrich besaß, bevor er es als Luxus veräußerte, ist ein „seltenes Exemplar“ von Chaucers Canterbury Tales, die „alte kostbare Ausgabe von Caxton“, die ihm Andreas einst zum Geburtstag geschenkt und „nach seinem eigensinnigen Geschmack herrlich und reich mit vielen gotischen Verzierungen [hatte] einbinden“ lassen. Verdrießlich notiert Heinrich den Verkauf dieses im doppelten Sinne „teuerste[n] Eigentum[s]“ an einen „geizigen Buchhändler“, der das Buch, wie Heinrich spekuliert, „gewiß sogleich nach London geschickt“ habe, „um mehr als das Zehnfache wieder zu erhalten“. Hier erscheint die spekulative Logik in jenem für die literarische Reflexion der Spekulation typisch negativen Licht, was auch relativierend auf die scheinbar unkritische Affirmation der Spekulation in der Novelle abfärbt. Heinrich bereut, dass er nicht „wenigstens das Blatt herausgeschnitten“ habe, auf dem er „die Geschichte dieser Schenkung“ erzählt und die „Wohnung verzeichnet“ hat (alle: 202). Diese Gabe, die Andreas sorgfältig ausgewählt, teuer erworben und ausgestattet hatte auf der Suche nach einem feierlichen ‚Geschenk aus Liebe‘, das sich der „Begierde“ des Beschenkten „vollkommen anpassen wird“,66 entdeckt der Spekulant bei einem Londoner Bücherantiquar und erkennt die Not, die Heinrich veranlasst haben musste, es „wegzugeben“ (alle: 247). Es legt aufgrund der eingeschriebenen Schenkungsgeschichte und Adresse die Spur zum Freund, dem er das Buch als erneute Gabe überreicht. Die Glückswendung (qua Geld) hängt demnach ab von einer Liebesgabe, der Prachtausgabe des Chaucer (mithin von einem Buch67 bzw. von der darin befindlichen Schrift68). Andreas war der Liebhaberei Heinrichs mit einem der teuersten Bücher der Welt begegnet, wobei die Gabe vermittels ihres semiotischen Charakters einerseits die Liebe symbolisiert sowie das Begehren gleichsam materialisiert und andererseits metonymisch für Heinrich auf den abwesenden Geber verweist. Die verkaufte und dann wiederholte Liebesgabe weist dann auch für Andreas auf den Empfänger hin, ja in ihr sind die Akte des Gebens und Empfangens sowie der Geber und der Empfänger präsent gehalten. Denn der Geber hatte sich durch
Zu den narratologischen Funktionen von Liebesgaben vgl. Margreth Egidi/Moritz Wedell: Perspektiven einer Poetik der Liebesgabe. Einleitung. In: Liebesgaben. Kommunikative, performative und poetologische Dimensionen in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hg. v. Margreth Egidi et al. Berlin 2012 (Philologische Studien und Quellen. H. 240), S. 9–31, hier S. 20. Barthes, S. 261. Vgl. Kremer, S. 577. Vgl. Fuest: Die Ironie des Müßiggangs, S. 217.
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die eigenwillige Ausstattung gleichsam, der Empfänger buchstäblich in die Liebesgabe eingeschrieben. In welchem Verhältnis nun steht die Liebesgabe zur Unhintergehbarkeit der modernen Ökonomie, von der die Novelle erzählt? Es lohnt, Tieck mit Marcel Mauss ins Gespräch zu bringen, der die These von der Reziprozität des Gabentauschs vertreten hat, den er als einen permanenten, zirkulären, Sozialität begründenden Prozess begreift und den er (dies nicht unbestritten) vom Tausch in modernen kapitalistischen Gesellschaften unterscheidet. Für Mauss ist der Gabentausch weder ausschließlich eine „freie[] und kostenlose[] Leistung“ noch ein „eigennützige[s] und utilitaristische[s] […] Austauschen[]“.69 Vandelmeers Liebesgabe entspricht weder einem rein ‚eigennützigen Tausch‘ noch einer völlig ‚uneigennützigen Gabe‘, denn einerseits konnte er nicht auf Gewinn rechnen, andererseits aber steht das Luxusgeschenk im Zeichen des Begehrs nach einer immateriellen Gegengabe (Liebe und Dank), das Andreas auch artikuliert (vgl. 247). Aus diesem Verständnis des Gabentauschs heraus lassen sich ausgerechnet Vandelmeers Gaben auch als Intervention gegen eine kapitalistische Tauschlogik begreifen, mit der sie doch auch konform gehen und der sich Heinrich zu entziehen versucht hatte, die im Auktionstraum als Alpdruck wiederkehrt und der er sich dann gerade aufgrund der mangelnden Anerkennung als dem die Wirklichkeit beherrschenden Gesetz mit dem Verkauf der Gabe zu unterwerfen genötigt sieht. Dass Heinrich die Gabe durch ihren Verkauf wieder in die kapitalistische Tauschlogik einspeist, entspricht seiner Umdeutung der Gabe zur nicht-reziproken Schenkung.70 Ihre Preisgabe an den Markt, wodurch der Gebrauchswert des Buches in Tauschwert umgewandelt und der Gefühlswert durch den Geldwert der zur Ware reduzierten Gabe ersetzt wird, macht Vandelmeer durch den erneuten Kauf und die wiederholte Gabe rückgängig. Tieck bringt so die kapitalistische Tauschlogik, die Spekulation und die Gabenlogik in ein intrikates Bedingungsverhältnis – gerade die Figur, die sich der mo-
Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Mit einem Vorwort von E.E. Evans-Pritchard. Übers. v. Eva Moldenhauer. Anhang: Henning Ritter: Die ethnologische Wende. Über Marcel Mauss. 10. Aufl. Frankfurt a. M. 2013 [1925], S. 168. Die unterschiedliche Einschätzung des Geschenks korrespondiert der Asymmetrie der Freundesliebe: Während Andreas das Buch als Gabe begreift, bezeichnet es Heinrich mit dem juridischen Begriff der Schenkung. Er versteht das Geschenk offenkundig als Schenkung aus Freigebigkeit und der Freundschaft halber, als eine freiwillige Schenkung unter Lebenden, bei der, wo sie nicht eingeschränkt wird, Reziprozität vertraglich nicht angelegt ist. Die Retusche der Gabe zu einem Eigentum ohne gefordertes Entgelt mag den Zweck haben, ihren Verkauf ‚entschuldbar‘ zu machen. Vgl. zur Schenkung exemplarisch Franz Wilhelm Ludwig von Meyerfeld: Die Lehre von den Schenkungen, nach Roemischem Recht. Bd. 1. Marburg 1835.
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dernen Ökonomie nicht entzieht, verfügt über die Mittel zur individualisierten Liebesgabe, die sozial verbindet und die Freunde wieder zusammenführt („dies Buch ist wunderbarer Weise die Treppe, die uns wieder zu einander geführt hat“, 247).
4 Ökonomie der glücklichen Liebes(ehe)geschichte Wer mit Tiecks Novelle lesend müßig geht, den erwartet keine große Liebesgeschichte, der erfährt aber etwas über die Ökonomie einer glücklichen Liebesgeschichte. Man kann Des Lebens Überfluß auch als eine Umschrift des aristophanischen Denkbilds aus Platons Symposion begreifen, demgemäß die beiden Hälften der ursprünglichen Gestalt über dem Begehren zusammenzuwachsen aus Hunger und Fahrlässigkeit starben, da sie nichts voneinander getrennt tun wollten (191a-b). Das wäre – ohne Christine und Vandelmeer – gleichsam auch das Schicksal von Heinrich und Clara gewesen. Tieck überantwortet sein Paar indes nicht dem Liebestod. Er lässt sie – anders als den Verbrecher aus dem Märchen in Heinrichs letztem Tagebucheintrag, der sich selbst vor Hunger verzehren muss, bis nur noch Gebiss und Magen übrig sind (vgl. 197) – nicht an der Durchsetzung der Liebe gegen das väterliche Gesetz sterben, das sich durch die „ökonomische[] Logik“71 erfüllt. Es handelt sich ja um eine Novelle, die das Muster jener Liebesgeschichten aufruft, die von „einer von gesellschaftlichen Regeln verhinderten Liebe“ berichten, wie diejenigen von Romeo and Juliet oder Tristan und Isolde.72 Ein spitzfindiger Leser könnte behaupten, dass sich die Liebe gerade aufgrund der Ehe in „Verborgenheit“ (205) bewahrt, durch welche die Legalisierung der Liebe durch die Ehe zunächst gewissermaßen außer Kraft gesetzt war. Tatsächlich erfährt man nicht, wie sich die Novelle dazu verhält, dass „die Liebe an der Schwelle zu ihrer Legalisierung sterben muß, daß Eros und Gesetz unvereinbar sind“.73 Es scheint mir indes bemerkenswert, dass am Ende von den „glühenden Töne[n] der Liebe“ (208), von denen im Dialog aus der Retrospektive des sich an die Liebesinnigkeit erinnernden Paares gesprochen
Brecht, S. 222. Vgl. z. B. Ursula Kiermeier: Tiecks ‚Des Lebens Überfluß‘ als romantische Adaption von Gottfrieds ‚Tristan‘. In: Vita pro litteris. Festschrift für Anna Stroka. Hg. v. Eugeniusz Tomiczek et al. Warszawa/Wrocɫaw 1993, S. 231–242. Julia Kristeva: Geschichten von der Liebe [1983]. Übers. v. Dieter Hornig, Wolfram Bayer. Frankfurt a. M. 1989, S. 213.
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wird, keine Rede mehr ist. An die Stelle der Rede von der „Armut“, die mit der „Liebe eins geworden“ sei (195), ist die vom Leben in „behaglicher Wohlhabenheit“ getreten, für das die Eheleute „[g]ern […] die notgedrungene Philosophie der Armut fahren“ ließen (248). An die Stelle des Verbunds von Armut und Liebe tritt also – den Text beim Wort genommen – die Wohlhabenheit, d. i. der Überfluss bzw. Reichtum und Luxus, meint doch ‚Wohlhabenheit‘ in etwa das, was „abundantia“ bezeichnet.74 Vandelmeer kommt dabei in einer Art ménage à trois die Rolle zu, das Ehepaar zu finanzieren. Geschildert wird die Geschichte einer glücklichen Ehe in gleichsam unendlicher Dauer, deren Möglichkeitsbedingung die Ausblendung des Todes der Liebe in der (durch Armut gezeichneten) Ehe ist, von dem Jean Paul im Siebenkäs schreibt. Diese Dimension des satirischen Prosatextes ist im Rücken der Figuren aufgerufen und im Dialog signifikanterweise ausgespart. In der Tat aber durchwirken die gesamte Novelle (auch eine literarische ‚Grabbeigabe‘ für Tiecks 1837 verstorbene Gattin?) Bilder des Todes. Angefangen damit, dass Heinrich Claras Atem, mit dem sie Blumenschrift aufs vereiste Fenster schreibe, zur „Leichenschrift“ (199) gerät (vgl. auch 216, 228). Vor dieser Folie gewinnt die Novelle, an deren Ende es heißt, dass „[b]eide“ nachsannen „über den Inhalt des menschlichen Lebens, dessen Bedürfnis, Überfluß und Geheimnis“ (249), auch eine existenzielle Note.
5 Poetologie: Literatur als Gabe des Überflusses Die Allianz von Literatur und Luxus begegnet in der Kultur- und Ästhetikgeschichte in dreierlei Weise: Erstens wird Luxus als Bedingung von Kunst (mithin Literatur) gedacht, zweitens wird Literatur selbst als etwas beschrieben, das Luxus gibt, und schließlich gibt es rhetorische und literarische Verfahren, die als luxuriöse gepriesen oder verdammt wurden.75 Das entwicklungsgeschichtliche Argument, dass die Kunst durch den Luxus bedingt sei, findet sich etwa bei Flögel in der Rede vom „Ueberfluß“ als der „Mutter der schoenen Kuenste“76, bei Musäus, wo es heißt, dass „[d]ie schönen Künste“ in den „rohen Zeiten“ des Märchens
„WOHLHABENHEIT, f.“, DWb (https://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemid=W25484; zuletzt abgerufen am 30.10.2021). Vgl. dazu die Darstellung von Weder/ Bergengruen, S. 17–26 (Affinitäten von Luxus und Kunst). Carl Friedrich Floegel: Geschichte des menschlichen Verstandes. 3., verm. und verb. Aufl. Frankfurt/Leipzig 1778, S. 218 (§ 197).
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„noch nicht Kinder des Überflusses, sondern des Mangels und der Dürftigkeit“ gewesen seien und der Künstler anders als im „üppigen [18.] Jahrhundert“ noch keinen Erfolg gehabt habe,77 oder auch in Friedrich Schlegels Bemerkung, dass der Gang des „moderne[n] Geist[es]“, nachdem er „mit den notwendigen Bedürfnissen der Religion und Politik so viel zu schaffen“ gehabt habe, „erst spät an den Luxus des Schönen denken konnte“.78 Nur auf den ersten Blick tritt Tieck in seiner Novelle diesem Argument entgegen: Während die Liebenden in ihrem Idyll der These vom monetären Überfluss als Bedingung poetischer Produktivität widersprechen, wird die Affinität von Luxus und Literatur zum Ende hin wiederum bestätigt: ohne (monetären) Überfluss keine (zweite) Auflage des Manuskripts für eine Lesebibliothek. Die Novelle ist eine Gabe auch an die Leser, die mit einem an Witz überfließenden, intertextuell kopiösen und selbstreferentiell gesättigten Text nicht zuletzt im Sinne eines Luxus des Lesens konfrontiert sind.79 Des Lebens Überfluß ist also auch insofern eine Erzählung vom Überfluss, als sie den Überfluss der Poesie zelebriert,80 wobei Tieck diese Bestimmung der Poesie poetologisch in verschiedener Weise umsetzt: durch den Überfluss des Witzes, durch einen intertextuellen Überfluss, der die Leser mit der Copia librorum und so mit dem Bedeutungsüberschuss durch mehrdeutige textuelle Überlagerungen konfrontiert, sowie vermittels Selbstreferentialität und so durch eine besondere Art des Luxus des Lesens.
Johann Karl August Musäus: Stumme Liebe. In: Ders.: Volksmärchen der Deutschen. Vollst. Ausg., nach dem Text der Erstausg. von 1782–86, mit den Illustrationen von Ludwig Richter u. a. zur Ausgabe von 1842. München 1961, S. 497–578, hier S. 527. Friedrich Schlegel: Über das Studium der griechischen Poesie. In: Kritische FriedrichSchlegel-Ausgabe. Hg. v. Ernst Behler et al. Paderborn et al. 1958–2020, Abt. I, Bd. 1, Paderborn et al. 1979, S. 217–367, hier S. 236. In Anlehnung an den Text als Gabe bei Jacques Derrida: Falschgeld. Zeit geben I. Übers. v. Andreas Knop, Michael Wetzel. München 1993. Vgl. Goethes „Bin die Verschwendung, bin die Poesie“ (Johann Wolfgang Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil. In: Ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. v. Karl Richter et al. Bd. 18.1: Letzte Jahre 1827–1832 I. Hg. v. Gisela Henckmann und Dorothea Hölscher-Lohmeyer. München 2006, S. 103–351, hier S. 134 [V.5573]); Novalis’ Notiz zur Poesie „als ein gebildeter Ueberfluß“ (Novalis: Schriften. Hg. v. Ludwig Tieck, Fr. Schlegel. 5. Aufl. 2. Teil. Berlin 1837, S. 224).
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5.1 Der Überfluss des Witzes Man hat die rhetorische Umdeutungskunst Heinrichs sinnigerweise vor dem Hintergrund der romantischen Ironie gelesen (s. o.). Textintern wird allerdings noch ein anderer Bezugsrahmen angeboten durch Anspielung auf Jean Pauls Siebenkäs. Ja, die intertextuellen Referenzen im Dialog werden mit einem Verweis auf den satirischen Roman eröffnet (in der ersten Figurenrede, vgl. 194). Der Einfallsreichtum von Siebenkäs, der als Armenadvokat das Leben mit der Ratstochter Lenette durch Rezensionen und seine Satirenschriftstellerei zu finanzieren sucht, steht Modell für den Coup von Tiecks Heinrich, dem materialen Mangel mit Witz zu begegnen. Firmian verlegt sich aufs Satirenschreiben, bevor er als ‚Hülfmittel‘ das Versilbern einer Zinnschüssel und dreier Zinnteller (zum Entsetzen seiner Gattin) vorschlägt. ‚Ein satirisches Buch‘ kann Tiecks Heinrich in seiner Situation nicht schreiben, wenn er es nicht schon gemacht hat:81 Firmian begegnet der von Armut und Bedürfnis gezeichneten Wirklichkeit mit dem Überschuss uneigentlicher Rede, dem Überfluss des Witzes. An die Stelle von „verkaufen“ setzt er das sprichwörtliche „[v]ersilbern“.82 Wenn Siebenkäs das Zinn in Silber (Geld) umsetzt, ist das eine metonymische Operation. Gleichzeitig setzt er aber auch einen metaphorischen Prozess in Gang, insofern bei der Verwandlung des Zinns in Silber mittels Sprachalchemie aus einem minderwertigen ein höherwertiges Metall wird. Der Witz Firmians besteht demnach darin, die eigentliche Transaktion (Ware gegen Geld) durch eine uneigentliche Transmutation zu poetisieren. Der eingespielte Jean-Paul-Text steht im Zeichen des Verfahrens des bildlichen Witzes. Witz ist – im Gegensatz zum Humor – eine lokale Operation. Daher spricht sich Jean Paul in der Vorschule der Ästhetik (IX/§ 53) auch für eine „partial[e]“ „Witz-Sündflut“ aus; nämlich unter Rückgriff auf die Unter-
Referiert wird auf folgende Stelle aus Jean Pauls Siebenkäs: „[I]m Elend sagt’ er allemal: ‚Es soll mich wundern, was für ein Hülfmittel ich da wieder ausspinnen werde; denn verfallen werd’ ich so gewiß auf eines, als ich vier Gehirnkammern beherberge.‘ – Der beglückende Gedanke, wovon ich rede, war, das zu machen, was ich hier mache – ein Buch, obwohl ein satirisches.✶“ Jean Paul: Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs. In: Ders.: Sämtliche Werke, Abt. I, Bd. 2, hg. v. Norbert Miller, Nachwort von Walter Höllerer, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1996, S. 7–576, hier S. 81. Die Jean-Paul-Referenzen hat die Forschung immer wieder diskutiert, allerdings nicht im Kontext des Witz-Überflusses. Einen Überblick über die Parallelen und Unterschiede zum Siebenkäs bietet Burkhard Pöschel: „Im Mittelpunkt der wunderbarsten Ereignisse“. Versuche über die literarische Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Moderne im erzählerischen Spätwerk Ludwig Tiecks. Bielefeld 1994, S. 91–130, bes. S. 92–96 u. S. 120. Jean Paul: Siebenkäs, S. 164.
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scheidung von unzulässiger Verschwendung und zulässigem Überfluss, die aus der Luxusdebatte bekannt ist, in Abgrenzung zu einem bloß witzigen Schreiben der „Witz-Verschwender“83 für einen „Überfluß“84 des metaphorischen Witzes: „Auch muß der Witz darum gießen, nicht tröpfeln, weil er so schnell verraucht.“ Ferner: „Gebt uns Diogenes’ volle Hand, oder vollen Becher, oder sein Faß!“85 Heinrichs Umdeutungskunst stellt sich also selbst in die Nachfolge des bildlichen Witzes (Metapher). Man kann die Metapher als sprachlichen Luxus par excellence beschreiben. Hans Blumenberg bemerkt in diesem Sinne in seiner Theorie der Unbegrifflichkeit, in der er im „Exkurs über Ökonomie und Luxus“ die These vertritt, dass „[d]er Mensch […] seinem Ursprung nach an das Prinzip der Überflüssigkeit, des Luxus gebunden“86 ist, dass die Metapher „in ihrer Funktion einer Anthropologie des Mängelwesens“ Mensch entspreche: „Aber sie behebt den Mangel aus dem Fundus eines Überschusses, aus der Ausschweifung über den Horizont des Lebensnotwendigen hinweg, insofern dieser Horizont Möglichkeit und Wirklichkeit trennt.“ So verbindet die Metapher (und Tiecks Heinrich mit ihr) „die Sprachbereiche des primären Wirklichkeitsbezuges und der sekundären Möglichkeitsbeziehung.“ 87 Heinrichs phantasievolle Umdeutungskunst ergeht sich demnach in poetischem Luxus insofern, als er mittels Metaphern einen Überfluss der gewitzten Rede einsetzt. Dass die metaphorische Überformung der Wirklichkeit durch Heinrichs Retuschen dann mitunter durch metonymische Realisierung dekonstruiert (s. o.) wird, macht die tropologischen Operationen erst recht zu einer Angelegenheit des Luxus des Lesens.
5.2 Copia Librorum: Intertextualität Zu diesem Überfluss auf rhetorisch-ästhetischer Ebene gesellt sich der semantische Überschuss, der aufs Konto der hypertrophen Intertextualität geht, für die besonders der ehemalige Leser Heinrich verantwortlich zeichnet, indem er in-
Jean Paul: Vorschule der Ästhetik nebst einigen Vorlesungen in Leipzig über die Parteien der Zeit. In: Ders.: Sämtliche Werke, Abt. I, Bd. 5, hg. v. Norbert Miller, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1996, S. 7–456, hier S. 198. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 197. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 199. Hans Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit. Aus dem Nachlaß hg. v. Anselm Haverkamp. Frankfurt a. M. 2007, S. 17. Blumenberg, S. 88.
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tertextuelle Allusionen, Vergleiche, Parodien und Travestien dazu nutzt, die Wirklichkeit gewitzt zu transzendieren. Durch die intertextuell gesättigte Figurenrede wird in Abwesenheit von Heinrichs Bibliothek textintern gleichsam eine imaginäre Bibliothek konstituiert, zu der naturgemäß eine Menge von Büchern (copia librorum), eine Fülle an (in diesem Essay teils bereits genannten) Texten gehört, von denen einige, wie ich hier nur andeuten kann – Defoes Robinson Crusoe, Goethes Wilhelm Meister, Jean Pauls Siebenkäs, Fr. Schlegels Lucinde samt der Idylle über den Müßiggang und Novalis’ Ofterdingen –, selbst einen Luxusdiskurs führen oder je verschiedene Poetologien des Überflusses formulieren. Die Bibliothek macht das intertextuelle Verfahren der Novelle in einer bibliophilen und philologischen Textmetapher anschaulich. Dazu passt, dass Heinrich das einzige zur erzählten Zeit präsente Buch, sein Tagebuch, letztlich als seine Bibliothek bezeichnet (vgl. 196). Intertextualität und die aus ihr resultierende Doppelund Mehrfachkodierung generiert eine Fülle von Bezügen und konstituiert einen Überschuss an Sinn – mit der Möglichkeit auch, dass Sinn gerade verweigert wird.88 Man kann in Tiecks Novelle eine lokale, dem Witz dienende Intertextualität in der Figurenrede und eine davon abweichende, mitunter kryptische Intertextualität unterscheiden, die aufs Konto des Erzählers geht.89 Dies wurde von Robert Gould unter anderem am Beispiel von Cervantes’ Don Quixote (1605/15) bemerkt.90 Zunächst ist Don Quixote eine der Rollen, in die sich Heinrich (ironisch) als ein Leser begibt, der sich die Welt mittels Phantasie nach literarischen Vorbildern umschafft. Auch verwendet Heinrich die berühmte Szene der Bücherverbrennung und Vermauerung des Büchersaals, um dem Vermieter, der auf der Suche nach seiner Treppe buchstäblich im Dunkeln tappt, einen Mangel an donquixotesker Phantasie vorzuwerfen; denn Don Quixote hatte der Erklärung, dass ein „Zauberer“ Bibliothek samt Saal weggebracht hat, ohne Frage, „wo denn ein so abstraktes Ding, wie der Raum, hingekommen sei“ (236), geglaubt. Heinrich nimmt hier nicht die Rolle Don Quixotes, sondern von dessen Freunden ein. Freilich kommt die Bücherverbrennung zu spät, da der Edle von la Mancha diese schon lesend inkorporiert hat. Das gilt auch für den Leser Heinrich. Von diesen intertextuellen Verweisen abgesehen, ist Don Quixote auch der metapoetologische Modelltext für die Intertextualität der Novelle selbst. Das erhellt, wie ich meine, gerade auch aus dem Prolog, in dem der Leser als
Vgl. Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt a. M. 1990, S. 7–12. Vgl. Robert Gould: Tieck’s ‚Des Lebens Überfluß‘ as a Self-Conscious Text. In: Seminar 26 (1990), H. 3, S. 237–255. Vgl. auch Dumiche (S. 370) und Pöschel, S. 91–130. Vgl. Gould, S. 247–250.
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„[m]üssiger“91 apostrophiert wird und in dem der Autor seinem Freunde gegenüber klagt, der Mangel seines Buches bestünde darin, dass er nicht wie die Gelehrten einen Text voller Randbemerkungen und Zitate gemacht habe. Sein Freund rät, um den „Mangel“ zu „ersetze[n]“ und die „Leere“ „aus[zu]füllen“92, einige auswendig gekannte „Sentenzen und lateinische Brocken […] durch einander werfen“.93 Der Leser werde sich nicht die Mühe machen, die Übereinstimmung mit den Originalzitaten zu untersuchen. Das erste Beispiel – ein Zitat von Äsop, das als Zitat von Horaz ausgegeben wird – zeigt, dass eine solche karnevaleske Intertextualität ein Spiel mit dem Leser darstellt. Entsprechend parodistisch verfährt übrigens auch etwa The Wife of Bath’s Prologue aus den Canterbury Tales; denn die Frau aus Bath spickt ihre Argumentation mit sinnverfremdender Zitation dekontextualisierter oder falsch gebrauchter Sentenzen von Autoritäten. Tiecks Novelle konnte sich an einem solchen Umgang mit Intertexten ein Beispiel nehmen. Als weiterem ‚Bibliotheks-Text‘ kommt Shakespeares The Tempest (1611) eine Bedeutung für den Gesamttext zu – nicht im Sinne der Hypertextualität, sondern wie man vor der Folie von Tiecks Interpretation des Stücks argumentieren kann, im Hinblick auf das Moment des Wunderbaren. Zunächst begegnet Shakespeares Drama im Dialog der Figuren über das Verhältnis von Herren und Dienern „in alten poetischen Zeiten“ (209) im Unterschied zur Gegenwart der Restaurationsepoche, in dem Heinrich zu dem Schluss kommt, dass „Christine […] doch mehr wert [ist], als der Chaucer“ (210). Heinrich beschreibt den „Sklavensinn“ (211) Calibans und bespricht vor dieser Folie Christines Ergebenheit. Unmittelbar danach findet sich ein Absatz mit einem Kommentar Heinrichs (der aufgrund einer Ambiguität der Aussageinstanz auch dem Erzähler zurechenbar wäre): „Es braucht wohl für einen Leser, wie ich einer bin, nicht gesagt zu werden, daß hier einiger Unterschied stattfindet.“ (211) Signifikanterweise ist nach diesem Absatz ein Trennstrich eingefügt, der dem isolierten Satz zusätzlich Gewicht verleiht und zum Innehalten in der Lektüre auffordert. Auch hier ist der Nachvollzug des Witzes der intertextuellen Aneignung in der Figurenrede, deren Pointe nicht selten eine zum Intertext widersinnige Auslegung des zitierten Versatzstückes ist, erst die halbe Miete. Man wird den (Ab)Satz daher als Anweisung an die Leser begreifen, auf den ‚Unterschied‘ zu merken, also die beiden Texte einer kritisch vergleichenden Lektüre zu unterziehen.
Cervantes, S. VII. Cervantes, S. XIII. Cervantes, S. XIV.
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Leistet man dem Folge, so fällt zunächst ins Auge, dass sich Heinrich als „Zauberer“ (210 f., 214) bezeichnet und so zu einer Art Prospero stilisiert, dessen „Insel-Exil im spätromantischen Dachstübchen nachgebildet ist“.94 Man mag darüber hinaus an Gonzalos Insel-Utopie als Folie für das ‚Goldene Zeitalter‘ im Dachstübchenidyll denken, denn in Gonzalos Inselstaat sollen alle Männer müßig in einem Überfluss leben, der selbst jenen des Goldenen Zeitalters überbietet, wobei es sich gemäß Antonio also um einen Staat voller Taugenichtse handele. Auch mag man in der Holzarbeit der Liebenden eine Reminiszenz an die wechselseitig dienende Ergebenheit des Liebespaares Ferdinand und Miranda beim Holztragen entdecken.95 Schließlich gibt es in The Tempest die (allerdings nicht weiter spezifizierte) Bibliothek Prosperos, welche diesem im Exil sein ‚Herzogtum‘ ist. Während Caliban seinem neuen Herrn den Hinweis gibt, dass man, bevor man Prospero ermorden könne, seine Bücher verbrennen müsse, verbrennt Heinrich die Treppe, die qua Metapher mit dem Buch assoziiert ist. Und wie in The Tempest gibt es auch in Des Lebens Überfluß ein ominöses Buch – Heinrichs Manuskript. Was auch immer Prospero sonst noch ist, er ist auch der drameninterne Strippenzieher, der für jenes Stück verantwortlich zeichnet, das die Leser vor der Nase haben.96 Verweisen die ominösen Manuskripte in beiden Texten je metaleptisch auf die literarischen Texte, die den Lesern vorliegen? Freilich wird Heinrich anders als Prospero, der zum Ende verspricht, seine Kunst aufzugeben und sein Buch im Meer zu versenken, seine Kunst gerade nicht aufgeben; sein durch den bankrotten Buchhändler in der Versenkung verschwundenes Manuskript taucht wieder auf und stellt sich als Publikumserfolg heraus. Die Schwierigkeiten, auf welche die divergierenden Lektüren von The Tempest in der Rezeptionsgeschichte aufgrund von Leerstellen und Widersprüchen hinweisen, stehen im Zusammenhang mit dem Wunderbaren, in dem Tieck den Kern des Stücks entdeckte. In seiner Abhandlung über Shakespeare schreibt Tieck, der dort anhand des Wunderbaren eine Linie von The Tempest zum Don Quixote zieht, dass Shakespeare die „gewoehnliche Begebenheit zu einer ungewoehnlichen und wundervollen erhob“97. In Tiecks ironischer ‚Novellen-Novelle‘, in der selbstreflexiv Kremer, S. 576 f. Tieck hat am Motiv der Zubereitung des Holzes durch Liebende, wie u. a. in seinem Shakespeare-Kommentar von 1828 nachzulesen ist, seine Hypothese festgemacht, dass auch The Tempest eine Novelle zugrunde liegen mag, und zwar eine verschollene altdeutsche. Prospero führt vermittels seines Buches und des ihm dienenden Geistes Ariel bei dem das Drama eröffnenden Schiffbruch Regie, gemäß seinem Entwurf werden der gestrandete Ferdinand und seine Tochter ein Ehepaar. Ludwig Tieck: Ueber Shakspeare’s Behandlung des Wunderbaren. In: Der Sturm. Ein Schauspiel von Shakspear, fuer das Theater bearbeitet von Ludwig Tieck. Nebst einer Abhandlung ueber Shakspears Behandlung des Wunderbaren. Berlin/Leipzig 1796, S. 1–44, hier S. 11.
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und ironisch aufgezeigt wird, wie „das Gewöhnliche die Farbe der Fabel annimmt“ (193), wird dem Wunderbaren in Verschränkung mit der Wirklichkeit noch einmal zu seinem Recht verholfen, wobei die Unterscheidung zwischen dem Wunderbaren und der Wirklichkeit (Spekulation) zu kollabieren scheint.
5.3 Selbstreferentialität (Autor, Kritik und Leser auf der Textbühne) Die Interpreten haben die Selbstreferentialität der Novelle hinsichtlich der Intertextualität sowie der Dekonstruktion des Novellenerzählens diskutiert.98 Die Novelle bietet zudem eine Reflexion von Autorschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Der Auktionstraum weist nicht nur darauf hin, dass Heinrichs romantischer Individualismus mit der ökonomischen Gesellschaftsordnung auf Dauer unvereinbar ist, sondern auch darauf, dass der Literat nicht unabhängig von den Gesetzen des Markts operieren kann. Man mag, wie sich am Beispiel von Heinrichs (mit Tieck geteiltem) Faible für „Bücherauktionen“ und Auktions-„Kataloge“, die er „wie [s]eine Lieblingsdichter“ lesen konnte (221), andeutet, für eine Fiktionalisierung von Autobiographischem in der Novelle argumentieren.99 Tatsächlich wird auf Autorschaft auch vermittels Allusionen auf den Autornamen ‚Tieck‘ reflektiert – indem Tiecks Shakespeare-Kommentar oder seine Don Quixote-Übersetzung alludiert werden. Damit nicht genug: Tieck hat, wie ich meine, die Funktion Autorschaft auf der Textbühne inszeniert. In einer poetologischen Lektüre ist der im Auktionstraum auftretende Auktionator als textinternes Bild der Funktion Autorschaft zu lesen. Darauf führt ein durchsichtiges (Meta)Anagramm: Der AUTOR ist dem AUktionaTOR buchstäblich eingeschrieben. Die Bezeichnung ‚Auktionator‘ kommt wie ‚Auktion‘ her von lat. auctio (-ōnis), einem Nomen actionis zu „augēre (auctum) ‚vermehren, steigern‘“.100 Die Bezeichnungen ‚Auktionator‘ und ‚Autor‘ (Nomen agentis zu „augēre [auctum] ‚vermehren, fördern‘“) sind etymologisch verwandt.101 Wenn Tieck die Etymologie von ‚Autor‘ aktualisiert und damit die Autorschaft durchsichtig macht auf die Bedeutung von augēre, ‚vermehren, steigern‘, so
Vgl. Meyer. Vgl. Gould, S. 238 u. 247. Vgl. anders Kurt-Georg Cram: ‚Des Lebens Überfluß‘ und die buchhalterische Akkuratesse. Die Beziehungen des Dichters Ludwig Tieck zu seinem Verleger Georg Andreas Reimer im Spiegel des Kontobuchs. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 58 (2004), S. 171–195, hier S. 171 u. 172. Vgl. auch Bachmaier, S. 76. [Art.] Auktion. In: Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. von Elmar Seebold. 24., durchges. und erw. Aufl. Berlin/New York 2002, S. 74. [Art.] Autor. In: Kluge, S. 78.
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apostrophiert er die poetische Steigerung im schriftstellerischen Prozess, stellt sie aber zugleich in der Traumgroteske, welche die aus dem Figurenbewusstsein verdrängte ‚Wirklichkeit‘ aussagt, in einen ökonomischen Rahmen. Der qua poetischer Steigerung fruchtbare Autor wird in Verzerrung als Auktionator figuriert. Die Versteigerung des Schriftstellers stellt gleichsam die poetische Steigerung in ökonomischer Pervertierung dar.102 Vom „Auktionator“ fürchtet Heinrich im Traum, „zur Hinrichtung geführt“ (222) zu werden. Clara stellt sich „freiwillig unter den Hammer des Herrn Auktionators.“ (225) Unter den Hammer muss diejenige Literatur, die der Kritik nicht standhält; zumindest gehören bei Horaz gescheiterte Versuche, dem strengen Anspruch des Kritikers zu gehorchen, „zurück auf den Amboss“ (A.p. 440 f.).103 Im Raum steht der Vorwurf eines Betrugs am Vertrauen des Publikums (vgl. 226). Dazu passt, dass der Auktionator zur Rechenschaft gezogen wird. Vom „Kerkermeister“ erfährt Heinrich, dass der „alte Auktionator“ mit ihnen „zugleich hingerichtet werde[]“, da er „mit im Komplott“ gewesen sei und „auch dazu beigetragen“ habe, „die Summen der Bietenden so hoch hinaufzutreiben, weil er uns Beide übermäßig und ganz der Wahrheit entgegen den Kauflustigen als Wunderwerke der Schöpfung herausgestrichen habe.“ (226) Unverkennbar handelt es sich um eine poetologische Szene. Zur Debatte steht der Publikumsbetrug durch den Auktionator, der die Müßiggänger und Taugenichtse als „Wunderwerke“ angepriesen habe. Eingespielt ist so auch einer der ältesten Vorwürfe gegen die Dichter, nämlich dass sie lügen.104 Infrage steht in der Tat die Glaubwürdigkeit von Heinrich, der als Schriftsteller eine Spiegelfigur des Erzählers (und des Autors in dessen Rücken) ist.105 Seine Rede und sein Charakter erscheinen dort fragwürdig, wo er im Dienst der Ironie den Logos verdreht oder wo sich zeigt, dass es ihm an Ethos mangelt, denkt man z. B. an den Treppenmissbrauch. Die Glaubwürdigkeit des Erzählers wiederum ist durch die subvertierte auktoriale Position qua ausgestellten Mangels an Wissen über die erzählte Welt im Auftakt fraglich.106 Allzu viel Kredit dürfen die Leser der Erzählung mit Blick auf eine ‚realistische‘ Lesart also nicht geben. Allerdings wäre zu überlegen, ob hinter dem Vorwurf des Betrugs am Publikum nicht noch etwas anderes streckt. Denn mit dem an den „alte[n] Auktiona-
So – ohne auf die Anagrammatik und die Autorschaft auf der Textbühne einzugehen – auch Oesterle, S. 252. Quintus Horatius Flaccus: Ars Poetica. Die Dichtkunst. Lateinisch/Deutsch. Übers. u. mit einem Nachwort hg. v. Eckart Schäfer. Stuttgart 2011, S. 32/33. Lediglich genannt seien die Referenzstellen bei Platon (Pol. 595a–607b), Aristoteles (Poet. 1451b) und Lukian (Ver. Hist. 1,4). Vgl. Gould, S. 247. Vgl. Meyer, S. 193.
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tor“ adressierten Vorwurf kannte sich auch der alte Autor Tieck aus. Man erinnere sich an die Kritik von Hotho, Laube und Gutzkow, die (so Laube) an Tiecks „geistreiche[m] Indifferentismus“ Anstoß nahm. 107 Wie es dem bloß tändelnden Romantiker Tieck an „Charakter“ mangele, der dem deutschen Volke „die Müßiggänger“ aufgetischt habe,108 so entbehre sein Werk, das „Lüge“ sei, einer „Ethik“.109 Die Novelle antwortet nicht nur kritisch auf die Kritik,110 sie reflektiert sich, wie skizziert, auch als antikritische Prosa. Der Kritik zum Trotz lässt Tieck den Schriftsteller ohne Hinrichtung aus dem Traum erwachen und verschafft den romantischen Müßiggängern noch einmal Geltung. Selbstreferentiell bedacht wird neben dem Erzählen, der Autorschaft und der Kritik auch das Lesepublikum. Der Text setzt bekanntlich mit einer Gerüchteküche ein, die am Schluss wieder aufgegriffen wird. Heinrich liefert, als er sich gegen die Polizei verbarrikadiert – ausgestattet mit zwei Stäben und einem alten Stiefel, die er für Waffen ausgibt (vgl. 243) –, die Stichworte für die Mutmaßungen der Polizei und des umstehenden Volkes. Die Gerüchte basieren auf einem Missverstehen uneigentlicher Rede. Das Volk, das den Grund für den Tumult nicht kennt, generiert Fehldeutungen, indem sie entlang von Heinrichs Stichworten eine aggressiv durchgesetzte Herzensangelegenheit zum Ereignis von welthistorischer Dimension verlesen.111 Die Leser der Novelle wissen hingegen mittlerweile, was ‚eigentlich‘ geschehen ist, können Heinrichs Witz ebenso wie seine intertextuelle Reinszenierung als Götz von Berlichingen sowie den Witz des Erzählers in der Diskrepanz zwischen Heinrichs Verwendung und der intertextuellen Vorlage nachvollziehen.112 Freilich, eines müssen sie – nicht zuletzt vor der Negativfolie der selbstreferentiellen Leseszenen – dafür tun: nachlesen. In diesem Sinne befördert der Text eine kritische Leserschaft.
Heinrich Laube: Ludwig Tieck. In: Ders.: Moderne Charakteristiken. Bd. 2. Mannheim 1835, S. 145–169, hier S. 154–155. Laube, S. 159 u. 155. Laube, S. 158 u. 157. Vgl. Oesterle, S. 233. Bei den Deutungen, in denen „das Gewöhnliche“ „die Farbe der Fabel“ (193) annimmt, handelt es sich um eine Travestie der Romantisierung à la Novalis in Anwendung auf die plebejische Öffentlichkeit. Vgl. Schmitt, S. 71. Ausführlich dazu Gould, S. 243–247.
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5.4 Vom Leseluxus zu des Lesens Überfluss Die Expansion des literarischen Markts im 18. Jahrhundert führte zu dem, was Johann Gottlieb Beyer in Ueber das Bücherlesen, in sofern es zum Luxus unsrer Zeiten gehört (1795) Leseluxus nennt. Er wägt „Gewinn und Verlust für die öffentliche und häusliche Wohlfahrt“ durchs „Bücherschreiben und Bücherlesen“ ab, insofern dieses zu einem „Artikel des Luxus“ geworden ist.113 Luxus sei es, wo es müßiges Vergnügen sei, wo Bücher wie „Vasen“ oder „Meubles“ (B,5) verfertigt und als Luxus erstanden werden. Man ist fast verleitet, ein Echo auf Beyer zu lesen, wenn der Schriftsteller Heinrich im Auktionstraum als „altes Möbel“ ausgeboten wird, das als „Kaminschirm“ oder „Karyatide“ (222) noch nützlich sei. Die „Leselust und Lesesucht“ schade (so Beyer), da sie von den Geschäften abhalte, „de[m] häusliche[n] Wohlstand“ (B,13). Allerdings sei das Bücherlesen von „merkantilische[m] Nutzen“, da es dem Staat einen Industriezweig (Buchhandel, -binderei usw.) zuführe (B,11 f.). Dem Leseluxus sei – um zur Lektüre guter Bücher beizutragen – am besten mit einer wohlsortierten öffentlichen Leihbibliothek zu begegnen (B,34). In Kritik und deutsches Bücherwesen (1828) zitiert Tieck eine solche Kritik des Leseluxus, der „ein Volk durch […] lesenden Müßiggang […] ganz verderben könne“, 114 wobei er die Metaphorik der abundantia („diese Flut unnützer Bücher[, die] immer mehr anschwillt“115) nutzt. Wenn es im Epilog von Des Lebens Überfluß heißt, dass die zweite Auflage von Heinrichs Buch gerade für die „Lesebibliothek“ eingebunden werde, und der Buchbinder bemerkt, dass es „ein sehr beliebtes Buch“ sei, das „noch mehrere Editionen erleben“ werde (249), dann ist Heinrich offenkundig ein Erfolgsschriftsteller, der sich auf dem von literarischen Erzeugnissen, von Almanachen und Taschenbüchern überfließenden Markt durchsetzen konnte. Tiecks Text selbst, der als Publikation in einem Taschenbuch und damit in einem den Leseluxus befördernden Organ erscheint, stellt nun einen Luxus der Lektüre in anderer Hinsicht dar. Man erinnere sich daran, dass Tieck mit Jean Paul die Idee einer Bücherschau verfolgte, die angesichts des „Zustand[s] der neuesten Literatur“ und des „Mangel[s]“ der „Kritik“ eine „Aufmunterung[] an
Johann Rudolph Gottlieb Beyer: Ueber das Bücherlesen, in so fern es zum Luxus unsrer Zeiten gehört. In: Acta Academiae Electoralis Moguntinae Scientiarum utilium quae Erfurti est ad ann. 1794 et 1795. Erfurt 1796, S. 1–34, hier S. 3. Beyer wird im Fließtext mit der Sigle B und der Seitenzahl nachgewiesen. Ludwig Tieck: Kritik und deutsches Bücherwesen. Ein Gespräch. 1828. In: Ders.: Kritische Schriften. Bd. 2. Leipzig 1848, S. 133–170, S. 137. Tieck: Kritik und deutsches Bücherwesen, S. 435.
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das Publikum zum Lesen und Studiren“ sein sollte.116 Das führt zurück auf Eros. Er steht gemäß Platon am Anfang der Philosophie. Er treibt aber auch eine Erkenntnis in anderer Hinsicht an: Eine Literatur im Zeichen des Überflusses, wie sie in Tiecks Novelle statthat, erfordert Leser, die sich der Philologie im Wortsinn der φιλολογία verschrieben haben. Die Leser, welche die intertextuelle und selbstreferentielle Novelle lesen, der metaphorischen Textschicht ebenso wie deren metonymischer Dekonstruktion folgen, Deutungen erproben, auf die Widersprüche und die ironische Setzung divergierender diskursiver Positionen merken, sehen sich bei vergleichsweise kurzem Text konfrontiert mit einem Luxus des Lesens. Eine solche Literatur über Literatur, eine solche Metaliteratur über das Novellenerzählen wie über das (Ver)Lesen und (Fehl)Interpretieren ist nichts weniger als eine Gabe von literarischem Luxus: Des Lebens Überfluß ist so auch ein Text über des Lesens Überfluss.
Ludwig Tieck: Bücherschau. 1827. In: Kritische Schriften, S. 93–118, hier S. 95.
Beherrschung und Transgression: Liebe in der bürgerlichen Ordnung
Primus-Heinz Kucher
Die Disziplinierung der Leidenschaft im Konzept des bürgerlichen Liebes- und Familienideals: eine variable Konstante in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts 1 Im Einleitungskapitel seiner Studie Bändigung der wilden Seele (1995), die ihr Verfasser, Mathias Luserke, unter den sinnreichen wie signalhaften Titel Literatur und Disziplinierung gestellt hat, wird unter anderem die Frage nach dem genuinen Ort der Leidenschaft aufgeworfen, die semantisch der bei Niklas Luhmann verwendeten Diktion – jener der Passion – verwandt erscheint, aber im Ansatz auch über sie hinausverweist.1 Der Ort, an dem diese Leidenschaft verhandelt wird, auch im Sinn je nötig erscheinender bzw. vernunftorientierter Disziplinierung, war um 1800 vorwiegend jener der Literatur. Dieser Nexus ‚Leidenschaft – Literatur‘ habe sich, so Luserke, im Windschatten des „Strahlenszepter(s) der Aufklärung“ ausgebildet. Die Strahlenmetaphorik, die auf den Text Aufklärung (1787) von Christian Daniel Schubart Bezug nimmt2, ist insofern bemerkenswert, als sie die bei Schubart weiblich konturierte Gottheit ‚Aufklärung‘ auch mit Spiel- und Sprechräumen eines sie begleitenden, gefährlichen latenten Begehrens ausstattet, d. h. mit „Schriften mit dem Pesthauche der Wollust bedeckt“, gesendet von einer Abgesandten, einer „Zauberin“ der Hölle, die mitunter auch Paris zugeordnet wird, „um armen Betrogenen zu leuchten“ – eine Megäre, vor der ein „biederes Volk“ gewarnt werden müsse.3 Spätestens seit der Emilia-Figur Lessings wurde Leidenschaft bzw. ein Hauch an Wollust auch bühnenöffentlich ausgestellt, um mit der vernunft- (aber auch gewalt)orientierten Komponente dieser göttlichen Fackel in Einklang gebracht zu werden. Wer, wenn nicht die Literatur, wäre nun aufgerufen, diese Spielräume der verbalen und gestischen Thematisierung des Begeh-
Vgl. Mathias Luserke: Die Bändigung der wilden Seele. Literatur und Leidenschaft in der Aufklärung. Stuttgart: 1995, S. 13–22. Vgl. Christian Daniel Schubart: Aufklärung. In: Ders.: Gesammelte Schriften und Schicksale. Bd. VIII, Stuttgart 1840. S. 27–29; (Reprint Hildesheim-New York: 1972), hier S. 29. Schubart, S. 30. https://doi.org/10.1515/9783110740806-008
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rens und seiner gesellschaftlichen Sprengkraft auszuloten? Auszuloten zugleich auch dahingehend, letztere durch ein sich ausbildendes Register von mehr oder weniger expliziten Disziplinierungsmechanismen so einzugrenzen, dass einer dem Vernunftkonzept geschuldeten Maxime – „Ohne Disziplin keine Aufklärung“ (Kant) – Genüge getan und zugleich wegweisende Ausdifferenzierungen im literarischen Schreiben und im Gattungsspektrum selbst angepeilt werden können. Man denke nur an die Entdeckung und Re-Konfigurierungen des Ich (beiderlei Geschlechts) in den Briefromanen oder an die Dimension des Leidens und Mitleidens, das über die zuvor klassische Parametrisierung durch die Rhetorik entscheidende Schritte (z. B. Ablöse vom Schicksalhaften, vom Fatum, vom Ständischen) hinaus in die Unwägbarkeiten des Individuums zu setzen unternahm. Das Ansprechen von Leidenschaften einerseits und die Ausgestaltung von Formen ihrer Disziplinierung (impliziter wie expliziter Natur mit verschiedenen Perspektiven, in denen wiederholt, aber nicht zwingend Momente des Ökonomischen mit ins Spiel kommen) markiert nicht wenige Texte des ausklingenden 18. und vor allem des langen 19. Jahrhunderts, was im Folgenden an einigen Wegmarken erläutert werden soll. Spätestens mit Friedrich Schlegels Lucinde-Roman (1799) bricht auf der Ebene der schönen Literatur, vorbereitet und begleitet von dessen AthenäumsReflexionen, das wilde Moment bzw. das imaginative Potenzial der auf das Bild des Schönen festgelegten Seelen, vorwiegend weiblicher Natur, durch, das, in Kombination mit dem anderen Schlagwort der Epoche, d. h. dem der Bildung, auch auf den Männlichkeits-Topos applizierbar war („Lehrjahre der Männlichkeit“, so explizit bei Schlegel). Was Schlegel als emanzipatorisch konturierten, sprachlich eigenwilligen, im Ansatz revolutionären Versuch eines Überschreitens von Grenzen angelegt und ästhetisch (vgl. dazu den Beitrag von Dagmar Wahl) in eine „dithyrambische Phantasie über die schönste Situation“ kodiert hat, d. h. den geschlechtlichen Rollentausch mit der Idee „durch wunderbare Vermählung völlig in Eins verschmelzen“4, wird inzwischen von einer genderkritischen Lesart her angezweifelt. Elisabeth Bronfen z. B. hat in ihrem Nachwort
Zit. nach: Friedrich Schlegel: Lucinde. Friedrich Schleiermacher: Vertraute Briefe über Schlegels ‚Lucinde‘. Hg. v. Henriette Beese. Frankfurt a. M./Wien: 1980, S. 16. In der SchlegelForschung wurde diese Aufhebungs- und Verschmelzungsidee auch als übertragbare Chiffre einer Aufhebung der Dichotomisierung von öffentlichen und privaten Sphären und damit auch als politisch-gesellschaftlich emanzipatorische Perspektive gesehen. Vgl. dazu schon Jochen Hörisch: Die fröhliche Wissenschaft der Poesie. Der Universalitätsanspruch von Dichtung in der frühromantischen Poetologie. Frankfurt a. M. 1976, bes. S. 102 f. Auf diese Studie bezieht sich auch Gisela Dischner: Friedrich Schlegels ‚Lucinde‘ und Materialien zu einer Theorie des Müßgiggangs. Hildesheim 1980, S. 15.
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zum Band Die schöne Seele. Die Entdeckung der Weiblichkeit um 1800 die aus ihrer Sicht geradezu perfide Doppeldeutigkeit der Liebeserfahrung der Lucinde-JuliusKonstellation herausgestrichen, nämlich als zwar von Lucinde geleitete, doch als entgrenzend wirkende nur für Julius, insofern als er dabei den Akt der Entdeckung seines Selbst zu zelebrieren vermag. Denn die perfekte Modellierung der Protagonistin zum Typus und deren Kodierung zur quasi totalen und zugleich fragmentierten Metapher, welche letztlich die Auslöschung der Lucinde durch deren ÜberIdealisierung und die nachfolgende Einverleibung in das männliche Selbstverständnis zur Folge habe, werde dabei meist ausgeblendet oder zurückgedrängt.5 Die Versuchsanordnungen grenzüberschreitenden Sprechens in der Zurschaustellung des Intimen und Vorwegnahme von Problemlagen der Moderne wie z. B. der Gewinnung (mitunter auch als Usurpation) einer wilden, anderen Natur durch Anverwandlung, die das Andere primär zum Erkennen und Stärken des Eigenen instrumentalisiert, erfolgen zu Lasten eines sukzessiven Verstummens der Protagonistin. Trotz anvisierter Utopie des geschlechtlichen Rollentausches bleibt nämlich eine grundlegende, mehrfache Asymmetrie bestehen. Sichtbar wird dies vor allem im (vor)letzten dialogischen Kapitel in einer zweifachen Selbstbegrenzung, als Lucinde die Rollen als „Priesterin der Natur“ und zugleich „Priesterin der Nacht“ zugewiesen erhält. Die damit einhergehende Autodisziplinierung der Protagonistin, die ihr Gemüt definiert als „es sehnt sich nur nach Deinem Sehnen, ist ruhig, wo Du Ruhe findest“6, wirft sie auf eine dialogisch maskierte Auslöschung ihrer Leidenschaft in der Ver (klein)bürgerlichung der Beziehung am Ende des Romans zurück. Diese spiegelt sich in der Reihung Geliebte (wilde Natur) – Mutter (Rückkehr in ein bürgerliches Rollenbild) – Kind (Infantilisierung), während dem Mann Julius nach glücklich bestandener Reifung die Menschheit als Leitperspektive vorbehalten bleibt. Damit ließe sich dieser Text auch gegen die These Luhmanns positionieren, der – mit Beispielen aus dem 18. Jahrhundert meist französischer Provenienz argumentierend – die Liebe, so sie zur Passion wird, als „außerhalb des Bereichs rationaler Kontrolle“7 ansiedelt. Zwar suggeriert auch die sprachlich-gestische Si-
Vgl. Die schöne Seele. Erzähltexte von Johann Wolfgang von Goethe, Heinrich von Kleist, E. T. A. Hoffmann und anderen. Ausgewählt und mit einem Nachwort, Anmerkungen und bibliographischen Hinweisen versehen von Elisabeth Bronfen. München 1992, S. 373–416, hier S. 385–387. Vgl. auch den Beitrag von Barbara Becker-Cantarino: „Feminismus“ und „Emanzipation“? Zum Geschlechterdiskurs der deutschen Romantik am Beispiel der ‚Lucinde‘ und ihrer Rezeption. In: Hartwig Schulz (Hg.): Salons der Romantik. Berlin 1997, S. 21–44. Vgl. Schlegel, S. 87 bzw. S. 88. Vgl. Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a. M. 1982, 2. Aufl. 1994, S. 76.
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gnatur des Schlegel-Textes eine Passion außerhalb rationaler Kontrolle, bricht sie aber letztlich – rational – an Stellen wie z. B. „Da liebt der Mann nur den Typus“8 bzw. im Kapitel Eine Reflexion, das die klassische Dichotomie Natur/ weiblich versus Geist/männlich aufruft: Der (männliche) Mensch steht im „schönen Rätsel“ des Denkens für das Bestimmende, während das Unbestimmte, Geheimnisvolle in der Weiblichkeit läge.9 Nichtsdestotrotz ist Schlegel anzurechnen, den Diskurs der Leidenschaft nicht nur über jenen der Aufklärung hinausgeführt, sondern auch ein neues, mehr als nur ‚romantisches‘ Register des Aussprechbaren und dessen Kodierung entwickelt zu haben, das im Verbund mit Schleiermachers Vertraute[n] Briefen über die Lucinde als modellierendes Substrat und emanzipatorischer Schlüssel literarischer Einkreisungen der Leidenschaft – „Liebe ist ein unendlicher Gegenstand der Reflexion“ 10 – in das 19. Jahrhundert hineingewirkt hat.
2 Als einer der für unsere Kontexte eher überraschenden Autoren der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kann Ludwig Tieck angesehen werden. Von ihm kennen wir neben den auch hinsichtlich der Liebes-, Eros- und Bindungsthematik abgründig-pathologischen frühen Märchenerzählungen Der blonde Eckbert (1797) sowie Der Runenberg (1804) aus seiner Phase der Bekanntschaft mit Friedrich Schlegel aus der Spätphase vor allem noch die als ekstatisch gehandelte Novelle Des Lebens Überfluss (1834) sowie – in mehrfacher Hinsicht ihr Pendant – die tendenziell behäbig agierende und dem Konversationsmodell verpflichtete Zopfnovelle Die Gesellschaft auf dem Lande (1825). Diese Novelle darf hier vor allem deshalb kurz eingeführt werden, weil sie die bürgerlichprofane Kehrseite des Liebesdiskurses anspricht, jene seiner ökonomischen Perspektivierung (um nicht zu sagen: Pervertierung), die zugleich das vordergründige Leitmotiv des Textes, d. h. des ironischen Aufbrechens des überholten preußisch-friderizianischen Tugend- und Ordnungssystems als komplementären Subtext begleitet. Bereits das Expositionskapitel formuliert en passant eine durch galante Konversation überspielte, im Wesen jedoch stets präsente These, wenn der Freund und Begleiter des sich als Schwärmer verstehenden Protago-
Vgl. H. Beese: Nachwort (s. Anm. 4), S. 184. Vgl. H. Beese: Nachwort, S. 81. Vgl. F. Schleiermacher, zit. nach: Ebd. S. 115.
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nisten Franz auf dem Weg zu der von ihm ersehnten Adelheid Franz daran erinnert, dass „Liebe, die heiraten will“ auch als „Geschäft“ zu verstehen sei11 (GL, 212). Adelheid ist bekanntlich in der familiären (d. h. väterlichen) Planung als gute Partie gesetzt, d. h. von einem Bekannten des Vaters, einem Landaristokraten (Hr. v. Binder) „nicht mehr jung, aber gut und sanft“ (GL, 217), wohl eine Umschreibung für gesetzt und vermögend, versprochen. Eigentlich aber zielt auch Adelheid auf Franz ab, verhält sich jedoch, der Etikette folgend, lange Zeit distanziert, rational und leidend zugleich, weil sie es als töchterliche Pflicht – Joachim H. Campes Väterlicher Rath an meine Tochter (1789)12 scheint hier auf fruchtbaren Boden gefallen zu sein – und daher als Selbstverständlichkeit ansieht, dem „Vater gehorsam zu sein“ (GL, 285). Adelheid erweist sich jedoch auch als kongenial strategisch denkende Frau, die die durch Konvention stets eingebremste Emotionalität und Sehnsuchtssignale von Franz, Leidenschaft wäre hier zu viel gesagt, wohldosiert gerade durch Abweisungsgesten an sich bindet, um durch diese Bindungsstrategie den vorgeplanten anderen familiären Bindungsprojekten zu entgehen. Zum Beispiel durchschaut sie seine vorgetäuschte, romantische Malerexistenz in einer ihn geradezu bloßstellenden Weise: Alle ihre Handlungen, Ihre Blicke und Worte sagen mir, daß Ihnen an meinem Wohlwollen etwas liegt, und doch, junger Herr, hintergehen Sie mich […] schon beim ersten Eintreten […] durchsah ich Ihre Maske. (GL, 221)
So sehr darin, im Vergleich zu den erwähnten frühen Leidenschaftskonstellationen bei Tieck, eine Rationalisierung und gestisch-sprachliche Disziplinierung des Passionalen überhandnimmt, so zeigt dieser Text zugleich auch an, dass die Konzeptualisierung von Liebe und Ehe (in welche die Novelle schlussendlich einmündet) auch mit den (post)romantischen Alltagsrealitäten und Kalamitäten buchstäblich verrechnet werden kann und aus der Perspektive der Zeit offenbar auch verrechnet werden musste. Dem vordergründigen Wendepunkt der Novelle – die Sequenz zwischen dem Abschneiden des Zopfes, der Entdeckung der Lebenslüge des Verwalters Römer, dessen Tod und dem Versuch Binders, d. h. des vermögend-gesetzten Werbers um Adelheid, ihren Vater vor versammelter
Zit. Nach: L. Tieck: Die Gesellschaft auf dem Lande. In: Ders.: Werke in vier Bänden. Hg. v. Marianne Thalmann. Bd. III, München 1965, 2 Aufl. 1985. S. 209–299, hier S. 212. Künftig im Fließtext mit Sigle GL und Seitenzahl zitiert. Campes Text ist digital verfügbar unter: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/ bsb10761801?page=5; zuletzt abgerufen am 5.10.2021. Zum Kontext und zur Wirkungsgeschichte dieses bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wiederaufgelegten Programmtextes vgl. Michaela Jonach: Väterliche Ratschläge für bürgerliche Töchter. Mädchenerziehung und Weiblichkeitsideologie bei Joachim Heinrich Campe und Jean-Jacques Rousseau. Frankfurt a. M. 1997.
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Gesellschaft zur Vernunft zu bekehren und ebenfalls den Zopf abzulegen – korrespondiert auch eine Wendung, in der die emotionalen, familiären und ökonomischen Fäden als Subtext zusammenlaufen, um der Novelle eine schlüssige Auflösung in Aussicht zu stellen. Der soziale Fauxpas Binders erlaubt nämlich einen fliegenden Wechsel in der Werbungs-Konstellation zugunsten der FranzFigur, nicht zuletzt auch deshalb, weil ihm inzwischen ein ökonomisch vorteilhaftes Geschäft geglückt ist. Franz kann nun die Rolle des schlecht maskierten Künstlers abtauschen mit jener eines gesellschaftlich ebenbürtigen Werbers, was Adelheid erlaubt, weiterhin ‚gehorsame Tochter‘ bleiben zu können, nun aber unter dem Vorzeichen, Franz vom Vater als „künftigen Gemahl“ (GL, 286) gewissermaßen aufgetragen zu erhalten. Erst die Ordnung dieser Verhältnisse und eine weitere aufschiebende, kühle Geste Adelheids bildet die Grundlage für die vom Vater bereits sanktionierte Verbindung, aber auch für das – überraschende – Eingestehen einer Leidenschaft, die Adelheids Bindungsstrategie nachträglich Plausibilität unterlegt. Wird diese sprachlich auch über einen eher konventionellen Formelvorrat sichtbar, der sich deutlich vom sprachekstatisch-verrätselnden Gestus Schlegels, aber auch von den eigenen Anfängen unterscheidet – „‚Steh auf‘, sagte sie liebreich, ‚du Armer: steh auf und vergib mir […] Du hast es nicht gesehen, nicht gefühlt, wie ich dich liebte?‘“ (GL, 296) –, so werden hier sowohl veränderte Parameter in literaturästhetischer Hinsicht, d. h. die Rückführung universalprogressiver Reflexionsutopien auf lineare, einfache Narrative als auch strategische, im Ökonomischen explizit mitbegründete Bindungskalküls manifest. Indem diese gleichermaßen das Leidenschaftliche wie den Liebesdiskurs begleiten und mitunter subvertieren – eine Konstellation, die Tieck in chiffriert-radikalerer Form in der fallstudienartigen Novelle Die wilde Engländerin (1830) nochmals zu gestalten unternimmt, um dabei den stets verhüllten Kern, das Sexuelle, in Bildern wie in einer unerhörten, schicksalshaften Szene als evident, als nun sichtbar gewordenen Begehrenskontext zu markieren und auf seine Validität für eine angestrebte Bindung auszuleuchten – eröffnen auch einzelne seiner Konversationsnovellen überraschende Perspektiven auf poetisch-sprachliche Grenzverschiebungsanstrengungen im Liebes- und Disziplizierungsdiskurs seiner Zeit. Doch die Maxime, wie sie in den Reisenden ausgesprochen wird, nämlich Disziplinierung jeglichen ‚Amazonentums‘ durch ein (weitgehend) leidenschaftsloses Ehe- und Familienbündnis, hat sich spätestens seit der Novelle Die Gesellschaft auf dem Lande durchgesetzt.13
Vgl. dazu Christoph Brecht: Die gefährliche Rede. Sprachreflexion und Erzählstruktur in der Prosa Ludwig Tiecks. Tübingen 1993, bes. S. 148–154 (zu: Die wilde Engländerin) sowie Martina Schwarz: Die bürgerliche Familie im Spätwerk Ludwig Tiecks. „Familie“ als Medium
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3 Es stellt sich hier nun die Frage, wie die seit 1800 an die Öffentlichkeit tretenden schreibenden Frauen diese grundlegende Problemlage der – pointiert zugespitzt – Bewirtschaftung und Verbalisierung der Leidenschaften vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Rollenzwänge und Disziplinierungsgesten wahrnahmen und literarisch zu gestalten versuchten. Eine Schlüsselfigur in dieser Hinsicht war gewiss die heute kaum mehr gelesene Fanny Lewald (1811–1889), die allerdings um 1848 – den Ausbruch der Revolution erlebte sie in Paris – zu den bedeutenden Salonières in Berlin (im Kontakt mit Rahel Varnhagen, Henriette Herz u. a.) und zu den ersten gewichtigen weiblichen Stimmen der Emanzipation zählte sowie – aufgrund ihrer jüdischen Herkunft und einer Heinrich Heine vergleichbaren Konversionserfahrung – sich in einer mehrfach exponierten Lage befand. Zu diesem Zeitpunkt, d. h. 1848, konnte sie bereits auf vier Romane, mehrere Erzählungen und Novellen zurückblicken, auf ihren Debüttext Clementine (1843), den autobiographisch gefärbten Roman Jenny (ebf. 1843), auf Eine Lebensfrage (1845) und Diogena (1847), hatte im Zuge einer Reise nach Breslau 1832 Hoffmann von Fallersleben und bald darauf auch Exponenten der Jungdeutschen rund um Karl Gutzkow kennengelernt.14 Bei Brockhaus erschienen und damit einer weiten Resonanz sicher, positionierten sich ihre seit Ende der 1830er Jahre entstehenden Texte zu zeitaktuellen Debatten wie z. B. zum Antisemitismus, zu preußisch-protestantischen Standesdünkel oder zur Geschlechter- und Scheidungsfrage, womit sie auch Aspekte des Verhältnisses von Liebe und Ökonomie, von Tauschverhältnissen und Rollenzwängen zur Diskussion stellten, die Gegenstand eines erst posthum veröffentlichten Aphorismen- und Sprüche-Bandes sind.15 Unter den zuvor genannten Texten ist der Jenny-Roman zweifellos der literarisch anspruchsvollste; schreibende Zeitgenossen wie z. B. Berthold Auerbach, Ludwig Tieck oder Theodor Mundt wussten um die Verfasserschaft, zu der sie sich, zeitgenössischen Usancen Folge leistend, erst nach dem Tod des Vaters (1846) bekannte. Für unser Tagungsthema ist vor allem der erste der Zeitkritik. Würzburg 2002 (Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Schriften. Bd. 402), S. 27 und S. 42. Vgl. Brigitta van Rheinberg: Fanny Lewald. Geschichte einer Emanzipation. Frankfurt a. M./New York 1990, S. 89–91. Vgl. Ludwig Geiger (Hg.): Gefühltes und Gedachtes (1838–1888) von Fanny Lewald. Dresden-Leipzig 1900. In seiner Einleitung unterstrich der prominente Literatur- und Kulturwissenschaftler, Goetheforscher, aber auch wegweisend für die Konzeptualisierung der deutschjüdischen Literatur, ihre Eigentümlichkeit und Weitsichtigkeit gerade im Hinblick auf die Ausweitung eines weiblichen Sprecherraumes: „Sie scheute sich nicht, über Dinge zu reden, die wohlanständige Frauen zu beschweigen pflegen.“ (S. XIV).
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selbständige Text, der Clementine-Roman (wenngleich mit Debütschwächen wie z. B. plakativen Zügen und Schwächen im Dialogischen behaftet) von Interesse. Clementine, so der Name der Protagonistin, ist mit 27 Jahren eine Frau, die als geistreich und schön eingeführt wird, jedoch bereits mehrere Ehekandidaten zurückgewiesen hat, um einem aussichtslosen Traum, d. h. ihrer Jugendliebe (Thalberg), nachzuhängen – folglich als „leider zu überspannt“ (C, 9) gilt.16 Doch gerade dies macht sie frei für Reflexionen über Beziehungen, insbesondere über die Ehe, Reflexionen von fast blasphemischer wie weitreichender Natur. Indem sie den Anspruch der Leidenschaft, der Liebe verteidigt, allerdings weniger in einem abstrakten, romantisch-ekstatischen Sinn, sondern rational grundiert in einem Gleichheitsanspruch in der Ausgestaltung und in der Form des Sprechens über sie, vermag sie einen Schritt über die Schlegelsche Lucinde hinauszugehen, die ihre Liebe in als verzehrend modellierte Hingabe an Julius letztlich ins Verstummen verglüht, in Aufgabe der Autonomie als Liebende, um das auf Treue gründende (Kameradschafts)Ehemodell zu stabilisieren. In einem Brief Clementines an ihre Tante, die ihr den gutgemeinten Ratschlag gibt, doch auf die Werbung eines hochangesehenen und auf Familiengründung bedachten Medizinprofessors einzugehen, also auf das zeitgenössisch verbreitete Modell einer Konvenienz-Ehe17, wozu auch die jüngere, verheiratete Schwester und deren Gatte (zugleich auch Freund des Werbers) raten, schreibt sich die Protagonistin ihre Gedanken ungeschützt frei. Mehr noch: sie exponiert sich in schockierender Weise für die Adressatin wie für das zeitgenössische Lesepublikum. Gerade weil sie die Ehe hochhalten will, allerdings nicht als Tauschgeschäft, wie ihr diese durch die gängige Praxis von Konvenienz-Beziehungen kompromittiert erscheint, stellt sie sie auf eine Ebene, auf der sonst Tauschgeschäfte vollzogen werden und die von Frauen so explizit nicht thematisiert wurden: auf die der Prostitution und wirft das den Verfechterinnen dieser konventionellen Ehevariante brüsk an den Kopf: Aber was hat man aus der Ehe gemacht? Ein Ding, bei dessen Nennung wohlerzogene Mädchen die Augen niederschlagen, über die Männer witzeln und Frauen sich lächelnd anse-
Fanny Lewald: Clementine. 4. Aufl. Berlin 2015 (auf der Grundlage der Ausgabe: Gesammelte Werke, Bd. 8, Berlin 1872), S. 16 (in der Folge zitiert mit der Sigle C und der Seitenangabe). Diese Thematik steht im Mittelpunkt ihres dritten Romans Eine Lebensfrage; vgl. dazu ihre spätere autobiographische Bilanz: Fanny Lewald: Freiheit des Herzens. Lebensgeschichte. Briefe. Erinnerungen (basierend auf: Meine Lebensgeschichte, Berlin 1861–62), Hg. v. Günter de Bruyn, Gerhard Wolf, Berlin 1987, 2. Aufl. 1992 (Frankfurt a. M.), S. 217: „… wünschte ich es in dem Roman ‚Eine Lebensfrage‘ zu beweisen, daß die große Anzahl von Ehen, welche ohne innere Notwendigkeit geschlossen werden, nur zu häufig den Keim zu einer unheilvollen Entwicklung in sich tragen.“.
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hen. Die Ehen, die ich täglich vor meinen Augen schließen sehe, sind schlimmer als Prostitution. Erschrick nicht vor dem Worte […] Ist es nicht gleich, ob ein leichtfertiges […] Mädchen sich für eitlen Putz dem Manne hingibt, oder ob Eltern ihr Kind für Millionen opfern? Der Kaufpreis ändert die Sache nicht … (C, 11)
Als ‚wohlerzogenes‘ Mädchen fügt sich Clementine schließlich in die Verbindung mit dem etwa doppelt so alten Gelehrten Meining, allerdings erst nachdem sie ihm brieflich dargelegt hat, dass ihre durchaus unerwidert gebliebene Leidenschaft und Liebe einem anderen gegolten hat, dies nach wie vor nachwirke, was jener edle Werber großmütig akzeptiert, um dem Geständnis in paternalistischer Manier über die Formel der therapeutischen Herausforderung – „… wie sorgsam werde ich die wunde Seele meines krankes Weibes hüten und heilen!“ – zu begegnen (C, 14). Clementine steckt also den Rahmen ihrer Ehe klar ab, die sich, so der Roman, innerhalb des vorgezeichneten Abtausches mit ökonomischer Absicherung, gesellschaftlicher Anerkennung, aber auch Disziplinierungsanstrengung positioniert und entwickelt: in ein äußerlich glanzvolles soziales Leben (Gesellschaften, Theater und Bälle) in der Haupt- und Residenzstadt Berlin einerseits, und in eine innere Leere andererseits, die dem Tagebuch anvertraut und mit der ungebrochenen Leidenschaft für den Jugendgeliebten, den sie in Berlin wieder zu sehen beginnt – „ein Weib, die Frau eines so edlen Mannes, die einen Anderen liebt!“ (C, 56) – begründet wird. In den mit Dezenz und gerade noch möglicher Anspielungsdeutlichkeit geführten Gesprächen und Überlegungen im Zuge dieser Begegnungen und dem prämodernen Hinweis auf ihre angespannten Nerven – „… ihre Nerven hatten durch die leidenschaftliche, unterdrückte Aufregung der letzten Zeit gelitten“ (C, 62) – kommt die fast inflationär wirkende Metapher der Heine’schen Zerrissenheit (C, 46) ins Spiel. Das ambivalente Bild der unschuldig „weißen“ und zugleich verführerischen Lotosblume sowie die Kelchmetapher, in den sie „[…] ihr Gesicht mit den großen träumerischen Blättern [kühlte]“, erlaubt Lewald, ihre Protagonistin an die Grenzen ihrer Selbstdisziplinierung zu führen, die in der Folge auf ein Effi-Briest-vergleichbares Szenario eines Ausbruchsversuchs mit jenem Jugendgeliebten Thalberg zusteuert. Wirkt dieser auch aktiver als bei Fontane durch die verheiratete Clementine durchgeplant und gesucht, so wird – überraschenderweise – am Ende das Eskalationsschema durch eine beiderseitige Verzichtsanstrengung durchbrochen. Inmitten einer heimlichen leidenschaftlichen Begegnung der beiden fällt in einer von konventionellen Formeln überladenen Erklärung Thalbergs auch der Name ihres Gatten, der ihr zuvor, im Ahnen um ihre ‚zerrissene‘ Lage auch einen liebevollen Brief geschrieben hatte, und in extremis die Augen zu öffnen schien: „Meining’s Name hatte Alles um sie her verwandelt, das Paradies ihrer Wonne versank, und die Wirklichkeit machte ihre Rechte wieder geltend“ (C, 77). Das zuvor als Tauschhandel denunzierte Ehemo-
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dell wird in der „erste[n] Stunde des Glückes“ im Wissen, dass diese „auch sicher die einzige und letzte für sie sein werde“ (C, 77), nun doch kommensurabel und zur lebenswerten Perspektive. Kommensurabel und lebenswert aber erst vor dem Hintergrund der im Ausbruchversuch ein letztes Mal durchbrechenden Leidenschaft, welche im freigewählten Abbruch eine qualitativ neue, nämlich selbstbestimmte Disziplinierung und damit eine Befreiung von sozial normierten Rollenzwängen erfahren kann: „… das Verlangen ihres Herzens war befriedigt, ihre lang verschwiegene heiße Liebe war, wenn auch nur für einen Augenblick, frei und schön zur hellen Flamme emporgelodert“ (C, 77) bzw.: „Sie hatte eine Stunde des höchsten Glücks empfunden, nun fühlte sie die Kraft zu entsagen“ (C, 80). Man mag gegen den Roman alle Schwächen eines Debüttextes ins Treffen führen, z. B. einen mitunter aufgesetzt wirkenden sprachlichen Formelapparat, postheinesche, aber auch jungdeutsche Rhetorik; was man ihm jedoch nicht absprechen kann, ist die stringente Regie, mit der er zeitgenössische Sprech-Tabus um 1840 einkreist, Konversations-Praxen zuspitzt, Grenzen zu verschieben versucht, die finale Selbstbegrenzung mit einer ekstatischen Glückserfahrung zu verrechnen imstande ist und die dabei ausgestellte programmatische Reflexion stets mit dem fiktionalen narrativen Raum zu verknüpfen unternimmt.
4 Von so viel Freizügigkeit, wie sie Lewald ihren Protagonistinnen einräumte, war Adalbert Stifter, dessen Erzählungen mitunter erstaunlich dynamische und abgründige Konstellationen aus dem für die Protagonisten nicht immer ‚sanfte[n] Gesetz‘ bereithalten, weit entfernt. Er wird sie vermutlich nicht gelesen haben, und falls doch, dann präsentiert sich sein programmatisches Manifest Über Stand und Würde des Schriftstellers (1848)18 wie eine Kampfschrift gegen jegliche Ausstellung der Leidenschaft im Text, gegen jede Verbindung eines literarischen Charakters mit ihr. Ihr, der Leidenschaft, müsse sich jeder, der sich dem Ideal „dichtender Schriftsteller“ – im Gegensatz zum Tagesschriftsteller – annähern will, fernhalten. Denn „die Leidenschaft (für Baumgarten einst immerhin Movens des Poetischen; Anm. d. Verf.) ist das Anmaßendste, was es auf Erden gibt“, ver-
Vgl. Adalbert Stifter: Über Stand und Würde des Schriftstellers. In: Ders.: Werke und Briefe. Historisch-Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. Alfred Doppler, Wolfgang Frühwald, Bd. 8.1.: Schriften zu Literatur und Theater. Hg. v. Werner M. Bauer. Stuttgart 1997, S. 34–46.
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körpere sie den „fanatischen Affekt[e]“, ja strebe nach „Tierischem“, sei es als Wollust, sei es als Gewalt.19 Ein Lied davon können etwa die beiden Schwestern Johanna und Clarissa in Stifters früher Erzählung Der Hochwald anstimmen – eine „romantische Entromantisierung“ einer Versuchung, die plötzlich über den von der Außenwelt abgeschirmten dichten, unzugänglich scheinenden Wald und seinem Idylle suggerierenden und zugleich ihr fernen See hereinbricht20: die unerwartete Wiederbegegnung mit dem Jugendgeliebten Ronald, die Stifters wohlkomponierter, zunächst organisch aus der Landschaft erwachsender Sprache eine spezifische Signatur aufzwingt. Der Wald, apostrophiert u. a. als „liebliche grüne Fabel“, steht nämlich nicht nur für eine ursprüngliche, reine Landschaft, sondern auch als Produkt der Erzählung mit seinen zahlreichen anthropomorphisierenden Verweisen für eine Chiffrierung und kunstvolle Überzeichnung tieferer Bildkomplexe, denen hochambivalente Weiblichkeitsprojektionen – Landschaft als Frauenkörper – eingeschrieben sind. Das Zentrifugale der Innen-AußenDialektik sowie das dynamisch Fiebrige des Textes markierend, stimmen diese Bildkomplexe auf das finale Auseinanderbrechen ein, um am Ende in eine plausible Desintegration der vermeintlich durch die Natur geschützten, längst unrettbaren Ordnung überzuführen.21 Denn das Desintegrative ist schon der Exposition der Erzählung, d. h. dem Rückblick auf den vermeintlich intakten Kindheitsraum inhärent. Eine aufmerksame Lektüre lässt nämlich erkennen, dass dieser Rückzug in den Hochwald, motiviert durch eine äußere Bedrohung (Konflikt mit schwedischen Truppen im 30-jährigen Krieg), nicht nur Ausdruck einer Zuflucht ist, sondern auch Flucht aus dem – bei Stifter meist positiv konnotierten – familiären Raum, dem grenzwertige, nämlich quasi-inzestuöse Konstellationen zwischen den Schwestern und einer ambivalenten Vater-Position innezuwohnen scheinen,22 weshalb das Leben im Hochwald, die Konfrontation mit der gleichermaßen geordneten wie wilden Natur, für sie Züge eines utopischen Projekts annimmt. Dass sich gerade im Moment, als die sich wiederfindenden Liebenden
Stifter. S. 44. Vgl. dazu Christian Begemann: Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektüren. Stuttgart/Weimar 1995, S. 164–209. Vgl. Begemann, S. 170–171. Vgl. Hee-Ju Kim: Natur als Seelengeheimnis. In: Sabina Becker, Katharina Grätz (Hg.): Ordnung – Raum – Ritual. Adalbert Stifters artifizieller Realismus. Heidelberg 2007, S. 69–100, hier S. 73 f. Gemeint ist damit wohl jene Stelle im ersten Kapitel, in dem Clarissa die jüngere Schwester […] „unsäglich zärtlich auf den Mund [küßte] und zu ihr über „die heißen Blitze“ der Leidenschaft, die „Leiden von einer Innigkeit“ räsonniert und dabei – in der Textoberfläche durch Gedankenstriche deutlich erkennbar – fast die Kontrolle über ihre Sprache verliert. Vgl. Adalbert Stifter: Der Hochwald. In: Ders.: Studien. Hg. v. Fritz Krökel und Karl Pörnbacher. München 1950, 2. Aufl. 1979, S. 183–276, hier S. 191 (künftig zit. mit Sigle HW und Seitenangabe).
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gewahr werden, für eine Beziehung gereift und aus ihren jugendlichen Fesseln herausgetreten zu sein, der Fluss der Narration sich ändert, rhythmisch steigert und fragmentiert, d. h. eine Sprache und Matrix legitimen Begehrens zu entwickeln beginnt, wird in dieser Erzählung eindringlich vorgeführt: Leidenschaft impliziert aber zwangsläufig, so Stifter, ein Aufbrechen der Ordnung, der labilen, aber doch zu einem Gleichgewicht gefundenen Verhältnisse und verlangt daher deren Disziplinierung – in seiner, Stifters, Diktion als „sehr wunderbar“, wie sich die Wege der Vorsehung gestalten können (HW, 244). Diese Leidenschaft zelebriert das Kapitel Waldwiese und das Wiedersehen verwandelt sich zu einer Art vorgezogenen Brautnacht, wie die Innigkeit der beiden, die darüber „verwirrt[e]“ Johanna den besorgten Aufschrei „Clarissa, was tust du denn!?“ folgen lässt, auf den wieder der auch anwesende Diener Gregor milde repliziert, dies sei doch „der Wille Gottes“ (HW, 252). Johanna spürte dennoch, dass „sie etwas verloren“ hat, etwas „Fremdes“, das zugleich „Heimwehgefühl nach der Vergangenheit“ (HW, 259) aufkommen ließ, ein vages Präludium der dramatischen Wende, die auf dem Fuß mit dem Tod des Vaters wie jenem Ronalds folgt. Die kindheitlich ambivalente Konstellation einer schwesterlichen Gemeinschaft wird, allerdings zwangsläufig, wiederhergestellt im Zeichen eines lebenslangen Liebesbundes – „Johanna, ich liebe dich, jetzt nur dich - - - o Kind, liebe mich nun auch wieder“ (HW, 274) –, dem zugleich das Trauma des Unausgelebten eingeschrieben bleibt.
5 Bereits am Beispiel von Fanny Lewald wurde angemerkt, dass die Thematisierung der Leidenschaft bei Schriftsteller:innen jüdischer Provenienz spezifische Perspektivierungen aufweisen können. Eine geradezu klassische ist jene von interkonfessionellen und wechselseitig fremdkulturell mitkodierten Liebesbeziehungen. Nach Leopold Kompert, dessen Ghettoerzählungen um 1850 vor allem um Möglichkeitsräume einer Koexistenz von traditionellen Lebensformen und assimilatorischen Versuchungen oszillierten und den Liebesdiskurs weitgehend, aber nicht ausschließlich, innerhalb der Gemeinden anzusiedeln trachtete, war es vor allem Karl Emil Franzos, der seit den 1870er Jahren diese Konnexionen in zunehmend existenziell-konfliktträchtige Situierungen eingebettet hat. Eine erste Exploration von grenzüberschreitenden Leidenschaften, die für jüdische Gemeinden zusätzlich mit dem Stigma des Abfalls, des Verrats belegt wurden und auf der anderen Seite kaum adäquate Kompensation erwarten durften, hat er in der bündigen Erzählung Der wilde Starost und die schöne Jütta (1876) – die Geschichte spielt in Ostgalizien, dem Herkunftsraum von Franzos – vorgelegt. Darin ist die beiderseitige Grenzüber-
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schreitung – die der Tochter eines jüdischen Gemeindevorstehers und die eines polnisch-katholischen Gutsbesitzers (des Starost) – zwar auch mit ökonomischen, mehr aber noch mit wechselseitigen, gewaltsam durchgesetzten Machtansprüchen verknüpft, um im Freitod der jungen Frau und im Wahnsinn des Starosten zu enden. Bedeutend ausdifferenzierter begegnet uns eine interkonfessionelle Konstellation in seinem vorletzten Roman Judith Trachtenberg (1891).23 Es handelt sich, obgleich an der vormodernen Peripherie Halbasiens angesiedelt, um einen Schwellentext hin zur Moderne, in dem eine junge jüdische Frau und ein polnisch-katholischer Graf (Agenor Baranowski), eingebettet in die jeweiligen Familien sowie in die k.k. bürokratischen und lokalen Eliten einer galizischen Kleinstadt aufeinandertreffen. Judith präsentiert sich von den ersten Seiten an nicht mehr als das Mädchen, das sich züchtig auf den engen familiären Raum beschränkt, passiv ihrer Beschau, d. h. dem Ritual der von der Familie arrangierten Werbung, entgegenzittert, zumal sie als 20Jährige schon vorwurfsvolle Blicke, vor allem der orthodoxen Bekannten und Nachbarn, ob ihres Status als Unverheiratete auf sich zieht. Vielmehr will sie ihren Eintritt ins soziale und sentimentale Leben, zum Missfallen ihres Vaters, selbst in die Hand nehmen und dabei zwangsläufig festgeschriebene wie ungeschriebene Grenzen überschreiten. Letzteres insbesondere dann, als sie gegen das väterliche Verbot eine heftig durchbrechende Liebesbeziehung, einen ‚amour passion‘ 24 mit dem polnischen Grafen, der sie als galanter Verführer und Hasardeur zum riskanten Verlassen ihres Elternhauses motiviert, eingeht. Die nichtjüdische Umwelt belegt sie umgehend mit dem Stereotyp nicht nur der ‚schönen Jüdin‘, sondern der auch sexuell ko-agierenden ‚Verführerin‘, und exponiert sie damit ebenso wie sie die jüdische exkludiert. Als Tochter von zwar vermögenden, aber in ihren Rechten beschnittenen und von ihren kulturell-religiösen Traditionen her begrenzten jüdischen Eltern, ist sie dem sozialen Feld, auf das sie sich eingelassen hat, ein Feld geprägt vom Neben- und Ineinander von Vorurteilen, Standesdünkel, Traditionen und nicht funktionierender Rechtstaatlichkeit,
Vgl. Karl Emil Franzos: Judith Trachtenberg. Breslau 1891, hier zit. nach der Ausgabe im (DDR)Verlag der Nationen Berlin 1987. Künftig zit. mit Sigle JT und Seitenangabe. Zu diesem Text vgl. u. a. meinen Beitrag: Aspekte der Konstruktion und Dekonstruktion kultureller Räume und Identitäten in L. Komperts ‚Zwischen Ruinen‘ (1875) und K.E. Franzos’ ‚Judith Trachtenberg‘ (1891). In: Hans Joachim Hahn, Gerald Lamprecht (Hg.): Studien zur deutschsprachig-jüdischen Literatur und Kultur. Standortbestimmung eines transdisziplinären Forschungsfeldes. Wien/Köln/Weimar 2020, S. 271–282, bes. S. 279–81. Vgl. Luhmann, S. 137.
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nicht gewachsen. Der Versuch, sie von der Außenwelt in den häuslichen Mauern einzusperren, misslingt; Baranowski entführt sie, inszeniert einen klassischen Brautraub, was wiederum die jüdische Gemeinde veranlasst, den makabren Ritus eines Begräbnisrituals, bei dem zu nächtlicher Stunde ein „vollblühender Rosenstrauch“ zerknickt und beigesetzt wird, zu vollziehen und den für die Familie, insbesondere den angesehenen Vater, entehrenden Akt eines Abfalls mit nachfolgender Verstoßung im Sinn einer Disziplinierung zu ahnden. Judith ihrerseits, welche gemäß zeitgenössischer Liebessemantik die komplexe, d. h. konsekutive Verknüpfung von ehelichem Bund und Ausleben der Leidenschaft, inklusive des Körperlichen, das freilich im Text nur von den Konsequenzen her fassbar wird, aus dem Blick verliert, muss alsbald das Prekäre ihrer Flucht in die Liebe aufgrund der Verlogenheit des Grafen zur Kenntnis nehmen, für den die Familienehre eine offizielle Bindung nicht zulässt: „Mein Stolz auf unser Geschlecht, unseren Namen, unser Blut […] das Rückgrat meines Lebens.“ (JT, 109). Den Regimentsarzt, einen Vermittler zwischen den Fronten, hat der Graf zuvor brüsk denn auch mit den Worten „eine Heirat wäre moralischer Selbstmord“ (JT, 103) zurückgewiesen. Nur zu einer rechtlosen Scheintaufe und Scheinehe, für Judith eigens inszeniert, lässt sich der Graf überreden. Zwar wird ihr diese eine spätere Rückbesinnung auf und die Rückkehr in ihren Herkunftsraum eröffnen, aber auch die Liebesbeziehung de facto auslöschen. Mehrfach gebrochen, aber auch, als Mutter eines Kindes, ernüchtert, psychisch de facto am Ende wird sie in die Kleinstadt und ihre jüdische Gemeinde zurückzukehren. Vor ihrer Selbstopferung bringt sie jedoch die Kraft auf, den Vater und ehemaligen Geliebten dahin zu bewegen, ihren Rechtsanspruch auf den Status einer Gattin einzulösen und zwar in Form einer Zivilehe, in die Baranowski – vor dem Hintergrund des gemeinsamen Sohnes und Erben – einwilligt. So beklemmend der Roman ausklingt, so eröffnet er doch Judith einen zwar desillusionierten, aber auf Aussöhnung zielenden Abgang: als legitime Gattin, für die sie nicht nur ihre Leidenschaft eingesetzt und ausgelöscht, sondern beinahe alle sozialen Beziehungen geopfert hat, als Mutter, die für ihren Sohn ökonomisch-soziale Absicherung erlangt und die mit der Zivilehe eine in die Zukunft weisende Grenzüberschreitung anzeigt – sichtbar in der Grabinschrift: Judith Gräfin Baranowska, Tochter des Nathan ben Manasse aus dem Stamme Israel (JT, 230).
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6 Das Sample der hier besprochenen Texte ist, gemessen am einschlägigen Textfeld des langen 19. Jahrhunderts, zweifellos begrenzt, weshalb Schlussfolgerungen mit gebührender Vorsicht zu ziehen sind. Was sich jedoch auch an dieser Auswahl kanonischer und weniger bekannter Texte und deren Verfasser:innen zwischen den Schwellenzeiten um 1790–1800 und 1890–1900 ablesen lässt, ist der unübersehbare Umstand, dass sich die Dimension der ›Leidenschaft‹ seit Schlegels Lucinde nicht nur in vielfältiger Weise in die Ausgestaltung von Diskursen über Liebes- und eheliche Beziehungen und deren Anbahnungs- wie Verwerfungsdynamiken eingeschrieben, sondern auch die ästhetische Diskussion über die Genres, in denen sie exploriert wurden, mitgeprägt hat. Auffällig ist dabei die beobachtbare Tendenz, dass die Verbalisierung von Emotionen und die Codes der Liebessemantik mitunter avanciert verfochten werden konnten, zugleich aber mit einem nicht minder vielfältigen Register der Kontrolle, der Disziplinierung von Leidenschaft bzw. Passion zu verrechnen waren. Einerseits erfolgte dies durch deren Integration (und Brechung) in ästhetisch relevante Modelle wie z. B. in die zeitgenössische Novellenkonzeption, die den gefährlichen Augenblick durch den Wendepunkt-Charakter zu überwinden bzw. neutralisieren unternahm (siehe das Beispiel Tieck, im Ansatz auch Stifter, der programmatisch das Leidenschaftliche zwar als das „Anmaßendste“ verwarf, aber nicht selten in die dialektische Spannung von unkontrollierbarer Natur und disziplinierender Kultur integrierte). Andererseits trug die Aufwertung von Institutionen wie jener der Ehe und Familie als bürgerliche Lebens- und Vernunft zentrierte Ordnungsräume, in denen wiederum hierarchisch gelagerte Verhältnisse über die Utopie freier und gleichberechtigter Begegnungen einschließlich ihrer je unterschiedlichen emotionalen Erwartungen und – auch körperlich-sexuell grundierten Potenziale – zu stehen kamen, zu einer beständigen Fesselung leidenschaftlicher Dispositionen und deren Verbalisierung im Sinn ästhetischer Chiffrierung und Marginalisierung bei. Erst durch das Auftreten von Autorinnen wie z. B. Fanny Lewald zeichneten sich mögliche Verschiebungen und Ausweitungen von Verbalisierungsstrategien ab, die jedoch von ihr selbst nach dem Jenny-Roman sukzessive wieder zurückgenommen wurden. Ähnliches gilt für einzelne Texte der ebenfalls aus einer marginalisierten Position heraus sprechenden deutschsprachig-jüdischen Literatur nach 1870 – die schon Julian Schmidt als „fremdartiges Korpus“ klassifiziert hatte.25 Nichts-
Vgl. Julian Schmidt: Geschichte der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert. Bd. 3: Die Gegenwart. London-Leipzig-Paris 1855, bes. der Abschnitt zur Ghettoprosa, S. 352.
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destotrotz haben auch Texte wie jene Stifters oder Franzos’ Möglichkeiten eines anderen Sprechens aufzuzeigen versucht, wie es später – bei Hugo v. Hofmannsthal oder Arthur Schnitzler etwa – radikaler, auch selbstzerstörerisch, d. h. den Blick (am Beispiel einer Bourget-Besprechung) darauf richtend, wie „die eine Hälfte unseres Ich die andere mitleidlos niederzerrt“ oder das „Schrecknis der Liebe“ fass- und gestaltbar werden könne, zur Entfaltung kam bzw. kommen musste.26
Vgl. Hugo v. Hofmannsthal: Zur Physiologie der Modernen Liebe. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Bd. XXXII, Reden und Aufsätze I (1891–1901). Hg. v. Hans-Georg Dewitz et al. Frankfurt a. M. 2015, S. 7–11, hier S. 8 bzw. W. G. Sebald: Das Schrecknis der Liebe. Zu Schnitzlers ‚Traumnovelle‘. In: Ders.: Die Beschreibung des Unglücks. Zur österreichischen Literatur von Stifter bis Handke. Salzburg 1985, S. 38–60.
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Transaktionale Geschlechterbeziehungen bei Fontane: Cécile und Der Stechlin 1 „trivial wie Schuldenmachen“. Ausnahme und Alltäglichkeit: Zum Status des Ökonomischen Schuldenmachen und Verschuldetsein gehören zu den eklatantesten und am klarsten definierten ökonomischen Zuständen, in denen sich ein Mensch befinden kann. Bevor Darlehen, Leasing und Kartenkredit zur Norm des wirtschaftlichen Alltags auch für Normalbürger wurden, galt der Zustand des Verschuldetseins wohl eher als Defizienzzustand, der eine Einschränkung des gesellschaftlichen Manövrierspielraums, der Entscheidungsfreiheit und damit der persönlichen Autonomie darstellt, denn ein Verschuldeter haftet ja mit seiner Arbeitskraft, seinem Eigentum, seinen Zukunftsaussichten für die Schulden. Das Grundbuch des Bürgerlichen Realismus, Gustav Freytags Roman Soll und Haben (1855), stellt die Verschuldung durch fahrlässiges Aufnehmen von Hypotheken auf eine ungesicherte Zukunft als Inbegriff unbürgerlichen Verhaltens aus. In Fontanes Roman Cécile wird Schuldenmachen als Erklärung für das Ausscheiden eines Offiziers aus dem aktiven Dienst angeboten: Ein Lebensstil der Inkongruenz, wo Ausgaben und Einnahmen nicht ausgeglichen sind, fahrlässiger Leichtsinn oder Spielschulden als Symptome fehlender Selbstkontrolle und der Überantwortung des eigenen (finanziellen) Wohlergehens an die Ungewissheit kompromittieren die preußisch-deutsche Offiziersehre. 1 Verfolgt der homo oeconomicus seine Ziele mit Rationalität, das heißt mit einem Einsatz von Mitteln, die dem Ziel und dem eigenen Vermögen gemäß sind, so zeigt sich im Schuldenmachen eine Abkehr von solcher Ausgewogenheit: Die Lebenseinrichtung ist aus dem Lot geraten, die Transaktion zwischen Individuum und Umwelt ist asymmetrisch und somit – legt man „Gegenseitigkeit“, „Ebenbürtigkeit“
Offiziersleitfäden und Handbücher enthalten entsprechend Abschnitte zu diesem Thema, etwa Johann Jacob Otto August von Lilienstern: Handbuch für den Officier zur Belehrung im Frieden und zum Gebrauch im Felde. 2 Bde. Berlin 1817–1818; Friedrich August Paris: Heerwesen und Dienst des Deutschen Reichs-Heeres. Handbuch für Offiziere und Offiziers-Aspiranten aller Waffen des Dienst- und Beurlaubungsstandes. 2 Teile in einem Band. 2. Aufl. Gera 1881; Eduard Preuss: Die höheren Aufgaben des Offiziers für Armee und Volk. München 1906; Albert Pinner: Wucher und Wechsel. Ein Leitfaden zum Schutze gegen Bewucherung insbesondere für Offiziere. Berlin 1907. https://doi.org/10.1515/9783110740806-009
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oder andere Arten der Ausgeglichenheit zwischen Handelspartnern als Maßstab an2 – störanfällig geworden. Und so verwundert es, wenn Fontane seiner Titelfigur nicht nur die Abqualifizierung des „Schuldenmachen[s]“ als „trivial“ in den Mund legt, sondern dies auch noch in einem Atemzug mit der Herabsetzung des internationalen Berufs des Ingenieurs Gordon tut, von dessen Einsätzen im Kaukasus und an anderen fernen Orten ansonsten die Bekannten immerfort hören wollen:3 Buntes Leben genug. Und doch findʼ ich wirklich, daß einen Draht oder ein Kabel an einer mir unbekannten Küste zu legen […] schließlich ebenso trivial ist wie Schuldenmachen.4
Damit ist natürlich die Frage nach dem gesellschaftlichen Ort und Stellenwert des Ökonomischen aufgerufen – und darüber hinaus die prinzipielle Analogie menschlicher Interaktion mit ökonomischer Transaktion. Der Roman gibt zu bedenken, ob die Formatierung zwischenmenschlicher Belange in ökonomischen Kategorien tatsächlich als ‚Trivialität‘ abgetan werden kann, oder ob dieses Symptom nicht zutiefst verstörende Zustände kaschiert. In der heutigen Umgangssprache ist kaum mehr zu unterscheiden, ob die Verwendung ökonomischer Begrifflichkeit figurativ gemeint ist oder tatsächlich. Die Kategorie der Transaktionalität, des Austausches von Geben und Nehmen, scheint als gemeinsamer Nenner von ökonomischem Handeln im engeren Sinne und sozialem Handeln im allgemeinen, zum Beispiel im Bereich von Geschlechterbeziehungen tauglich.5 Wenn man etwas in eine Partnerschaft ‚einbringt‘, dann sind längst nicht immer Produktionsmittel, Expertise, Verbindungen oder andere ökonomisch relevante Einlagen gemeint; wenn man ‚investiert‘, dann längst nicht nur monetäres Kapital, sondern auch etwa Emotion und Engagement für eine Aufgabe. Etymologisch und pragmatisch bezeichnet ja beispielsweise der Begriff ‚Kredit‘ sowohl die „überlassenen Geldmittel“ wie die „Vertrauenswürdigkeit des Schuldners als Voraussetzung dieses Kredits“: „Beim Kredit handelt es sich also um den guten Ruf des Bürgers, der mit den aufgenommenen Geldmitteln gerade nicht identisch ist, also entweder seine Voraussetzung (im Sinne von ‚Leihwürdigkeit‘ […]) oder Erika Thomalla: Vertrag, Pakt. In: Joseph Vogl und Burkhardt Wolf (Hg.): Handbuch Literatur & Ökonomie. Berlin 2019, S. 317–320. Katharina Grätz: Tigerjagd in Altenbrak. Poetische Topographie in Theodor Fontanes ‚Cécile‘. In: Roland Berbig und Dirk Göttsche (Hg.): Metropole, Provinz und Welt. Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus. Berlin 2013, S. 193–211. Theodor Fontane: Sämtliche Werke, Schriften und Briefe. Hg. v. Walter Keitel und Helmuth Nürnberger. Abteilung I: Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes. Bd. 2. 3. Aufl. München 1971, S. 193. Zu Transaktion und Tausch als soziologischen Kategorien vgl. Hartmut Esser: Soziologie. Spezielle Grundlagen. Bd. 3: Soziales Handeln. Frankfurt a. M. 2000.
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sogar ein über das Finanzielle hinausgehendes Vertrauen in ihn beschreibt.“6 In der ‚bürgerlichen‘ Gesellschaft sind alle Aspekte der Öffentlichkeit von marktförmiger Qualität: Von Debütantenbällen über Schützenfeste bis hin zu Nachtklubs und Theatern fungieren soziale Begegnungsstätten als Partner‚börsen‘, in denen Ware ausgestellt, ‚Marktwert‘ austariert wird und Transaktionsoptionen ausprobiert werden. Die Marktförmigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen, also das Analogon zwischen Handelskalkül und Lebenseinrichtung, betrifft in besonderem Maße Geschlechterbeziehungen und Heiratspolitik; jedenfalls wird dieser Themenbereich in der Literatur zum Testfall für den Zustand einer Gesellschaft insgesamt. Gebärfähigkeit als Voraussetzung für dynastische Kontinuität bestimmte über Jahrtausende hinweg ‚Marktwert‘ und Versorgungschancen von Töchtern; Mitgift, Prestigegewinn (soziales Kapital), Allianzpotenzial und vieles mehr verweisen auf die ökonomische Dimension von Geschlechterbeziehungen in dynastischen Kontexten. Das Liebesideal als Voraussetzung für das Eingehen von Lebensgemeinschaften scheint solcher Praxis diametral entgegengesetzt zu sein – unter anderem deshalb thematisiert die bürgerliche Literatur das der Kommodifizierung des Geschlechts inhärente Konfliktpotenzial so hartnäckig. In weniger hierarchischen Geschlechterbeziehungen, wenn Frauen beispielsweise Entscheidungsrecht an ihrem Lebensschicksal einfordern, wird ebenfalls die eigene Existenz als Kapital eingesetzt; äußerlicher Reiz, gesellschaftliche Gewandtheit und „erotisches Engagement“ etwa beanspruchen hier ebenso Wertigkeit wie anderswo Erbschaft und Mitgift.7 Die Literatur verhandelt Geschlechterbeziehungen als Geschäftsbeziehungen, wenn sie den Einsatz von Versorgung und Prestige analog zu geschäftlichen Partnerschaften, zu Fusionen, Tauschbeziehungen mit unterschiedlichen Einlagen, zum Zusammenlegen von Kapital und zu Investition fasst, Aspekte wie Vertraglichkeit und Verlässlichkeit auf den Prüfstand stellt. Ein Anliegen im Kontext der bürgerlichen Gesellschaft, in der der Kapitalwert bestimmter Einlagen wie Geburt und Ansehen unsicher geworden sein mag, ist sicherlich, Entgleisungspotenzial zu begrenzen und Risiko zu minimieren, das jeder vertraglichen Asymmetrie, wie sie unter anderem die Verschuldung darstellt, immanent ist. Auch in der Anbahnung und in der Aufrechterhaltung des Geschlechtervertrages der Ehe gibt es Störungsanfälligkeit, etwa wenn eine Inkongruenz von Investition, Informa-
Maximilian Bergengruen und Jill Bühler: Kredit und Schuld(en). In: Joseph Vogl und Burkhardt Wolf (Hg.): Handbuch Literatur & Ökonomie, S. 185–189, hier S. 185. Zu der Kategorie der „sexuellen Arbeit“ und deren prekärem Status vgl. die Einleitung zu Franziska Schößler: Femina Oeconomica. Arbeit, Konsum und Gesellschaft in der Literatur. Frankfurt a. M. 2017, S. 11–36.
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tion oder Interesse vorliegt, also keine Gegenseitigkeit herrscht. Der bürgerliche Roman lebt von der Verlagerung von Konflikten und Risiken in den Innenraum der Partnerschaft; literarischer Konflikt, Spannung und Tragik erwachsen oft aus der Unmöglichkeit von Mittelwegen und Schnittmengen.8 Auf der anderen Seite postuliert die bürgerliche Ideologie das Ideal der Liebesheirat, mithin eine ‚höhere‘, immaterielle Art der Kompatibilität und der Gegenseitigkeit, ein „Liebeskonzept, demzufolge die Verbindung auf Basis der subjektiven und durch Zuneigung motivierten Entscheidung eingegangen und nicht durch die Eltern oder äußere Umstände herbeigeführt wird“: „Nichts […] ist bürgerlicher als die Liebe“.9 Allerdings spricht Friedrich Theodor Vischer, einer der großen Stichwortgeber des bürgerlichen Zeitalters, von der „Beruhigung der Liebe in der Ehe“,10 womit die Stabilität und Verlässlichkeit der geregelten Beziehung, die Vertraglichkeit des Verhältnisses gegenüber Affekt und erotischer Anziehung privilegiert sind. Unter anderem deshalb arbeitet sich die Literatur des realistischen halben Jahrhunderts daran ab, die Vereinbarkeit von Zuneigung und Vertraglichkeit über das Bindeglied der Bestimmung nachzuweisen. Die Heirat etwa von Jugendfreunden vereint Kontinuität und Neuanfang, überführt Bewährtes in ein Zukünftiges – und ermöglicht dennoch, da es ja ein Dazwischen gibt, den Weg zur Ehe als Reifung und Erprobung romanhaft zu gestalten: „Womit sich die Texte primär beschäftigen, ist dabei die Frage nach der Möglichkeit der Eheschließung […], die bei Erfolg Stillstellung des Schicksals und Glück bedeutet, während ihre Verfehlung kaum reparables Unglück anzeigt.“ Eine „Ordnung des Liebens“ summiert sich zu einer „Ordnung des Lebens“, indem die Liebe als sozial, bereits sozialisiert oder doch sozialisierbar inszeniert wird.11 Damit umgeht der versöhnlich gestimmte programmatische Realismus die Klippen des Unwägbaren, des Abgründigen, des sich der Kontrolle und des Reglements Entziehenden, des Aus-dem-Lot-Geratenen. In diesem Sinne gehört Fontane gewiss nicht zu den optimistischen Realisten. Bei Fontane wird immerzu geredet – und das heißt verhandelt, austariert, abgemessen. Zwischenmenschliche Beziehungen werden nicht nur in Bezug auf
Vgl. Peter von Matts These, auch bei Fontane habe „Stabilität in der Ehe mit Stabilität in der Politik zu tun“: „Wo die eine Ordnung reißt, da reißt die andere“. Peter von Matt: Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur. München 1989, S. 137. Philipp Böttcher: Gustav Freytag – Konstellationen des Realismus. Berlin 2018, S. 187. Friedrich Theodor Vischer: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Zum Gebrauch für Vorlesungen. Dritter Theil: Die Kunstlehre. Stuttgart 1857, S. 1310. Sebastian Susteck: Kinderlieben. Studien zum Wissen des 19. Jahrhunderts und zum deutschsprachigen Realismus von Stifter, Keller, Storm und anderen. Berlin 2010, S. 18, 92 und 95.
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Dritte debattiert, sondern im Gespräch ‚vollzogen‘. Die Teilnahme am Handel mit der Möglichkeit einer Übereinkunft, die Abwägung von Kosten und Nutzen, die Kompatibilitätsfeststellung geschieht auf dem öffentlichen Marktplatz im Ritual der Konversation, die sich in dieser Hinsicht als Geschäftsverhandlung zu erkennen gibt. Da die Dynamik des sozialen Vollzugs von Geben und Nehmen, von Eröffnungsgebot und Gegengebot gekennzeichnet ist, nehmen alle Beziehungsverhandlungen bei Fontane den Charakter von Transaktionen an. Bei Fontane geht es ständig um soziales Kapital, um Investition in Beziehungen, um Feststellung von deren Tragfähigkeit. Auch wenn wir wenig von Leidenschaft und Liebe hören, so werden doch – oft in chiffrierter Form – Neigungen mit Aussichten abgeglichen und permanent die charakterlichen Dispositionen, die Einsätze und Vertragsmodalitäten durchgehechelt. Der Ausgang von solchen Transaktionen fällt ebenso unterschiedlich aus wie die Bedingungsfaktoren variieren. Sowohl im Fiasko (Cécile) wie im Gelingen von sexuellen Verbindungen (Der Stechlin), der Verhandlung eines Anfangs in dem späteren und der Besiegelung des Scheiterns in dem früheren Roman wird Kompatibilität ausgetestet, werden Einsatz und Ertrag erwogen, Risikoabwägungen getroffen. Die Transaktionen finden statt in einem komplexen Geflecht von Bedingungsfaktoren; sie sind angesiedelt im Schnittpunkt horizontaler und vertikaler Bedeutungslinien (also historischer und synchroner). In Cécile verursachen die historischen Lasten und die gegenwärtige transaktionale Asymmetrie das Scheitern der Geschlechterbeziehung; im Stechlin ermöglicht ein zukunftsoffenes Durchexerzieren von Inklusion und Exklusion den erfolgversprechenden Abschluss eines Vertrages; die (gewissermaßen präventive) Ausschaltung von Konkurrenten auf beiden Seiten der Vertragsparteien eliminiert die Störanfälligkeit, die in Cécile von den unbewältigten Altlasten ausgeht, die von einem kontroversen Tauschvertrag ihren Ausgang genommen hatten. Wurde als ein Gegenstand von ‚literarischer Ökonomik‘ die Aufdeckung unter anderem der Ökonomisierung bestimmter Lebensbereiche namhaft gemacht,12 so kann dieser Aspekt ergänzt werden durch die Identifikation ökonomischer Prinzipien als Textverfahren und ökonomischer Transaktionen als handlungsstrukturierender wie sinngenerierender Textelemente.
Iuditha Balint: Was ist literarische Ökonomik? Wesensbestimmung und Entwicklung einer Methode. In: Iuditha Balint und Sebastian Zilles (Hg.): Literarische Ökonomik. Paderborn 2014, S. 9–16, bes. S. 10–13.
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2 „nach wenig schwierigen Verhandlungen“: Cécile In Cécile sind am Ende die drei Hauptbeteiligten entweder tot oder im Exil. An der Katastrophe und deren unmittelbarer Vorgeschichte sind mindestens drei weitere Personen beteiligt; im Verlaufe der Handlung treten noch einmal ein Dutzend Figuren auf, welche zur Entwicklung beitragen, selbige kommentierend begleiten oder bestimmte Wendungen auslösen – und dies, obgleich das Ausgangsfanal der Handlung ein Appell der Absonderung von der Gesellschaft ist: „‚Gott sei Dank, wir sind allein.‘ ‚Um es hoffentlich zu bleiben.‘“13 Die Problematik des Romans beruht mithin, so signalisiert diese markige Absichtserklärung, auf dem Wechselverhältnis zwischen der Kleinzelle des Paares und größeren Bezugskreisen, also auf der Interferenz des Sozialen im Leben von Individuen. Die Unausweichlichkeit sozialer Kontakte manifestiert sich in Fontanes Romanen als signifikantes Aufwirbeln von Transaktionskräften, die ein ohnehin nur theoretisch denkbares Gleichgewicht aufstören. Das Aufrollen der Vorgeschichte des merkwürdigen Verhältnisses von Cécile und Pierre von St. Arnaud sowie des auffälligen Verhaltens der jungen Frau zielt nicht allein auf die Rekonstruktion einer Ereignisfolge als vielmehr auf die Erklärung eines ursächlichen Zusammenhangs. Der Kern dieser Informationen ist in zwei Briefen enthalten, in denen prominent auch eine ökonomische Lesart der Ursachen des gegenwärtigen Zustandes angeboten ist. Zusammengefasst besagen diese Mitteilungen, dass Cécile in ihrer Jugend als „Vorleserin“ in einem fürstlichen Hause lebte. Nach dem Tod des alten Fürsten geht sie ein ähnliches Verhältnis mit dessen Neffen und Erben ein, das ebenfalls recht bald mit dem frühen Tod des kränklichen jungen Mannes endet. Am Anfang dieser Ereignisse steht eine ebenso schamhafte wie markige Formulierung, die den Wechsel des Fräuleins aus dem polnisch-schlesischen Kleinadel in den Haushalt des fürstlichen Standesherren besiegelt: Als sie kaum siebzehn war, sah sie der alte Fürst von Welfen-Echingen und ernannte sie bald danach, und zwar nach wenig schwierigen Verhandlungen mit Frau von Zacha, zur Vorleserin seiner Gemahlin, der Fürstin. Die Fürstin war derartige ‚Ernennungen‘ gewöhnt, erhob also keinen Widerspruch. (S. 280; Hervorhebung hinzugefügt)
Dies ist das Vokabular einer geschäftlichen Transaktion; hier wird ein Handel getätigt, werden Leistung und Gegenleistung, Warenwert und Preis festgelegt.
Theodor Fontane: Sämtliche Werke, Schriften und Briefe. Abteilung I, Bd. 2 (wie Anm. 4), S. 141. Weitere Nachweise im Text.
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Im Lichte dieser Schlüsselstelle erscheint dann auch vieles von dem ansonsten in verschiedenen Zusammenhängen verwendeten Vokabular eine ökonomische und transaktionale Komponente zu besitzen. Die Bekanntschaft zwischen den St. Arnauds und Gordon, der Beginn des verhängnisvollen Dreiecksverhältnisses also, wird von beiden Seiten betrieben: „Annäherungsversuch“ (Offerte) trifft auf „Entgegenkommen“ (Bereitschaft) – was Übereinkommen ermöglicht (S. 153 und 155). Die unausgesprochene Erlaubnis an Gordon zum vertrauten Verkehr mit der jungen Frau inauguriert den Austausch des Kapitals Ortskenntnis, Jugendlichkeit, Charme gegen Ablenkung, Zerstreuung, Aufmerksamkeit. Das Lob des Reisens, „weil sich beständig neue Beziehungen und Anknüpfungen ergeben“ (S. 191), mag als Chiffre gelesen werden, dass die Bedingungen von Transaktionen immer von Umständen und Akteuren abhängig sind. Angesichts einer Schieflage zwischen öffentlicher Meinung und Selbstbild spricht Oberst St. Arnaud davon, „die Rechnung in Richtigkeit [zu] bringen“ (S. 229). Das Scheitern dieser Absicht erklärt sich aus den historischen Lasten, welche die gegenwärtigen Transaktionen überschatten. Die Formulierung von den „Verhandlungen“ impliziert eine Gegenleistung materieller Natur für Céciles Familie, die von einem verantwortungslosen Vater schlecht versorgt und durch dessen Tod in noch größere Unsicherheit geworfen wurde, deren Mutter als schlechte Wirtschafterin und Verwalterin des Einkommens beschrieben ist. Damit nimmt die Transaktion den Charakter eines ökonomischen Tauschgeschäftes an, in dem Geselligkeit und auch Pflege für den alten Fürsten und seinen kränklichen Erben gegen Versorgung für die betroffene ‚Handelsware‘ und ihre Familie ‚verhandelt‘ werden. Die Jugendlichkeit der Gesellschafterin ist ihr Kapital, das auf ein Bedürfnis auf Seiten der Käufer trifft. Die sexuelle Dimension des Abkommens kommt außer in dem Begriff ‚Mätresse‘ im Roman noch nicht einmal in Andeutungen oder Innuendos zur Sprache. Die Bezeichnung „Ernennung“ stammt klar aus dem Vokabular der Höfe: Er bezeichnet Standeserhöhung, Postenzuweisung. Dass die Fürstin keinen Anstoß nimmt, deutet auf Gewohnheit als rechtssetzendem und moralsetzendem Faktor. Entlohnung und Gegenleistung spielen in zwei Anspielungen auf das Testament des alten Fürsten eine Rolle: Er „hinterließ dem schönen Teefräulein ein oberschlesisches Gut, zugleich mit der Bestimmung, daß es ihr freistehen solle, Schloß Cyrillenort noch ein Jahr lang zu bewohnen“ (S. 280). Das Legat ist also eine Apanage, eine Abfindung an Mitglieder eines Fürstenhauses, die nicht die primären Erbnehmer sind. Als Gegenstand einer weiteren Transaktion taucht dieses Gut an späterer Stelle erneut auf: Es ist Céciles Eigentum, in ihrer Verfügungsgewalt, Quelle ihres materiellen Status und Garant einer wenigstens ansatzweisen sozialen Selbstbestimmung – das Hinterlassen an ihren Gatten nach ihrem Selbstmord ist ihr vorbehalten. In all der Befangenheit, Destruktivi-
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tät und Volatilität der Vergesellschaftungsmodalitäten markiert dieser materielle Wert, dieses Resultat ökonomischen Austausches, einen raren Punkt von Stabilität, Kontinuität und sogar Zuflucht. Zwei Faktoren komplizieren allerdings die Gleichung: Erstens Céciles Ablehnung der Versorgungsheirat mit dem Kammerherrn. Zweitens die Assoziierung der Familie Zacha nicht nur mit feudalistischen Verhältnissen, sondern mit durchaus modernen bürgerlich-industriellen Wirtschaftsverhältnissen: Der Vater war „Betriebsdirektor bei den Hohenlohes“ (S. 282), also einer benachbarten fürstlichen Standesherrschaft. Wahrscheinlich ist mit dieser Bezeichnung kein landwirtschaftlicher Betrieb, sondern ein Gruben-, also Zechenunternehmen gemeint, worauf der Name der Familie und die Berühmtheit der Hohenlohes als Industriebarone hindeuten: Das Herzogtum Ratibor fiel 1834 an Viktor von Hohenlohe-WaldenburgSchillingfürst, einen Bruder des späteren Reichskanzlers. Der Name Hohenlohe (Hohenlohe-Öhringen) ist engstens mit der Entwicklung der oberschlesischen Montanindustrie verbunden. Das standesherrlich-feudalistische Element erscheint mithin überlagert von Erscheinungen neuerer, kapitalistischer Wirtschaftsordnungen. So kollidieren hier modern-kapitalistische Domänen mit altständischer Kultur. Die Protagonistin ist Spielball der entsprechenden Auseinandersetzungen. Wenn die „Pläne“ der Mutter für ihre schöne Tochter auf der Überzeugung basieren, dass „eine schöne junge Dame nur dazu da sei, zu gefallen“, wozu Bildung eher hinderlich sei (S. 283), dann betont sie in einem traditionell-dynastischen Sinne den Kapitalwert der Frau als Ware (Schönheit, Naivität, dekorative Funktion) und pointiert so den inhärenten Widerspruch. Die ursprüngliche Transaktion (die ‚Verhandlung‘ des Mädchens an den Fürsten) erscheint wie eine Reminiszenz aus einer vergangenen, vorbürgerlichen, feudalen Zeit und Sozialsphäre. Die vorgeschlagene Überführung des Verhältnisses durch Verheiratung an einen Kammerherrn oder Hofmarschall und, nach Verwerfen dieser Lösung, die Abfindung Céciles mit einem Landgut gewähren ebenfalls einen Blick in die Kultur des fürstlichen Absolutismus, als durch Heirat illegitime Liebespartner mit Versorgungsehen ausgestattet oder mit Pfründen versehen wurden, als Sexualpartner gleichermaßen zum Hausstand gehörten und in Erbschaftsregelungen einbegriffen waren. Im Damenstift Quedlinburg, wo im 18. Jahrhundert Mätressen als Fürstäbtissinnen und Stiftsfräuleins aus Versorgungs- oder Ruhigstellungsgründen untergebracht wurden und die Erinnerung an erotische Skandalgeschichten aus früheren Zeiten von deren Portraits an den Wänden wachgerufen werden, treten reale historische Parallelen ins Bewusstsein der Ausflügler und verursachen Verlegenheit. Durch die Musealisierung, also die Wahrnehmung solcher Verhältnisse als geschichtliche Kuriosität, wird auch Céciles Vergangenheit gewissermaßen in eine Zeitenferne entrückt, dem Bereich der gesellschaftlichen Aktualität enthoben. „Das Bild der Grafin Au-
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rora von Königsmark, Mätresse Augusts des Starken und später Äbtissin von Quedlinburg, erinnert an die einstmals reputierliche, nun aber obsolet und petrefakt gewordene Institution der fürstlichen Mätresse“.14 Die Frage stellt sich, was an die Stelle dieser anachronistischen Art der Regulierung zwischenmenschlicher Transaktionalität treten kann oder getreten ist, was vertraglich verlässlich in der bürgerlichen Kultur des Wilhelminischen Deutschland die Belange von Geschlechterbeziehungen regelt. Die Moral- und Ehrvorstellungen, die in zwei Duellen mit Todesfolge gipfeln, und der halbherzige Beschwichtigungsversuch eines Hofpredigers15 erweisen sich jedenfalls als unzulänglich. Das Duell ist die gewaltsame rituelle Regelung eines Verhältnisses, das ans Ende seiner Verhandelbarkeit gelangt ist. Von den beiden Duellen, welche die Ehe der St. Arnauds umrahmen, erzwingt das erste gewaltsam die gesellschaftliche Anerkennung der Partnerschaft, während das letzte Eingeständnis des Scheiterns einer tragfähigen Vertragspartnerschaft ist. Dieses archaische Ritual erwirkt weniger die Lösung der angestauten Konflikte als deren gewaltsame, eruptive Beendigung; das Duell markiert den „Zusammenbruch kommunikativer wie persönlicher Konstellationen“.16 Die verbreitete These, dass Grund für die Katastrophen in Cécile das Versagen der Beteiligten ist, eine Aussöhnung zwischen angeblich „obsoletem“ Aristokratismus, dem Cécile entstammt, und dem „ökonomischen Abenteuertum“, das der Kommunikationsingenieur Gordon repräsentiert, zu erreichen,17 muss mithin ergänzt werden: Der Ausgleich misslingt, weil die Spielregeln fragwürdig geworden sind, das Regelwerk, das die Transaktionalität grundiert, denn alte ständische Gepflogenheiten sind bisher nicht von einer verbindlichen ‚bürgerlichen‘ Ökonomie des Zwischenmenschlichen ersetzt worden. Doch die Katastrophe wird im Roman überboten durch ein letztes Wort der Protagonistin. Ihr Testament ist ein Bekenntnis zur Validität der vermeintlich überholten, moralisch fragwürdigen Transaktionsmodalitäten. Wenn der Ressource der (mit Schößler) weiblichen (ästhetischen und emotionalen) Arbeit in der nachständischen Realität Platz und Status aberkannt wird, dann kann ihre
Horst Thomé: Autonomes Ich und ‚Inneres Ausland‘. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848–1914). Tübingen 1993, S. 337. Vgl. Florian Krobb: „Die Welt ist eine Welt der Gegensätze, draußen und drinnen“. Fontanes ‚Cécile‘ und die Unmöglichkeit von „Mut“. In: Fontane Blätter 104 (2017), S. 28–45. Dania Hückmann: Rache im Realismus. Recht und Rechtsgefühl bei Droste-Hülshoff, Gottelf, Fontane und Heyse. Bielefeld 2018, S. 148 f. Franziska Schößler: Börsenfieber und Kaufrausch. Ökonomie, Judentum und Weiblichkeit bei Theodor Fontane, Heinrich Mann, Thomas Mann, Arthur Schnitzler und Émile Zola. Bielefeld 2009, S. 230 und 241.
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Trägerin nur in der Rückwendung zum Überkommenen Zuflucht finden. Dieses Motiv schließt an die briefliche Mitteilung über die Umstände Céciles an, wo sich die Einschätzung findet, „ihre frühesten Jugendjahre [seien] nicht unglückliche Jahre […] (vielleicht im Gegenteil)“ gewesen (S. 281). Damit ist Céciles eigene Einschätzung ihrer Reisen als ‚Inventar‘ des fürstlichen Haushalts als „Schöne, himmlische, glückliche Tage. Tage voll ungetrübter Erinnerungen“ von dritter Stelle bestätigt (S. 210). Die Kritik des Romans zielt auf die Absenz von tragfähigen Alternativen zu den Konfliktlösungsmodellen Duell und Selbstmord, die doch notwendig wären, um gewissermaßen die moralischen Bedenken und Sozialzwänge aufzufangen. In Abwesenheit solcher (transaktionaler, also kongruenter) Vertragsverhältnisse bleibt der Mätressen-Status von Céciles Jugend als unüberwundenes Zeichen bestehen. Die Katastrophe resultiert aus der Unfähigkeit zur Überführung redundanter Zustände in die neuen, ‚bürgerlichen‘ Realitäten. Céciles Testament umfasst drei zentrale Punkte: symbolische Rückkehr zum katholischen Glauben, Begräbnis zur Linken der fürstlichen Grabkapelle als posthume Interpretation des Mätressen-Verhältnisses als eine Ehe zur Linken Hand (morganatische Ehe) und Weitergabe des Gutes an St. Arnaud. Zwei dieser Punkte affirmieren Vertraglichkeiten, die wie das ursprüngliche Verhältnis und dessen ‚Verhandlungsbasis‘ einer vorbürgerlichen Ära entstammen. Selbst die posthume ReKonversion läuft auf eine Rücknahme der nach-feudalen Verhandlungsposition hinaus, denn ihr Konfessionswechsel war ja eine Investition gewesen, die keine Rendite abwarf. Ein Dilemma in der nach Transaktionalität strebenden Gesellschaft ist die fehlende Verfügungsgewalt über das eigene weibliche Kapital: „Schönheit ist eine Gefahr von Jugend auf“ (S. 276). Ironischerweise liegt in der posthumen Selbstkommodifizierung der bisher passiven Protagonistin, der Akzeptanz ihres Status als Handelsware, ein emanzipatorischer Akt, ein Aufbegehren und ein Zurückgewinnen von Agens. Ihr Testament schafft posthum Klarheit der Verhältnisse, schafft ökonomische Kongruenz.
3 „Ich glaube fast, ich bin verlobt“: Der Stechlin „Ich glaube fast, ich bin verlobt“18 – mit diesen Worten endet das 25. Kapitel des Stechlin, in dem die Beziehung von Armgard Barby und Woldemar Stechlin besiegelt wird. „Woldemars Entscheidung“, so ist bemerkt worden, sei „durch die der Theodor Fontane: Sämtliche Werke. Hg. v. Walter Keitel. Romane, Erzählungen, Gedichte. Bd. 5. München 1966, S. 245. Weitere Nachweise im Text.
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Verlobung vorangehende Szene zur Genüge vorbereitet, nur werden die entscheidenden inneren Vorgänge gleichsam lautlos dargestellt“.19 Aber: Das vorausgegangene Gespräch lässt kaum erkennen, wann diese Entscheidung gefallen sein mag und wie das Einverständnis der beiden Verlobten zustande gekommen ist. Außerdem ist die „Entscheidung“ und deren folgerichtige Besiegelung durch das Vertragsverhältnis der Verlobung eine reziproke, eine von beiden Seiten eingegangene und von beiden Seiten ratifizierte Transaktion (dass Fontane der Verlobten Armgard die Formulierung des Vertragsinhalts zuweist, unterstreicht deren aktive Rolle), die überdies öffentlich, vor Zeugen, performativ vollzogen wird. Die Verlobung besiegelt ein Verhältnis, das sich über lange Strecken hinweg angekündigt hat; sie markiert – wie Céciles Überwechseln in den fürstlichen Haushalt – einen Vertragsabschluss. Im Lichte dieses Befunds muss der bisherige Verlauf der Interaktionen zwischen den beiden Brautleuten und anderen Beteiligten als Vertragsverhandlungen um Einsatz, Wert und Art der Assoziation interpretiert werden. Die Feier des Heiligen Abends im nächsten Kapitel ist der Veröffentlichung der Einigung gewidmet. Die Feststellung der Kompatibilität der Brautleute erfolgt im Roman durch die Exklusion von Mitbewerbern auf beiden Seiten – der Schwester Melusine als vordergründig attraktiverer Partnerin Woldemar Stechlins und Niels Wrschowitzʼ als Bewerber um Armgard. In diesem Vorgang findet eine Art Schacher des Austarierens von gegenseitiger Wertschätzung der Partner statt, der auf die Feststellung der Tragfähigkeit des Zusammenzuführenden zielt, wobei Faktoren wie charakterliche Kompatibilität (Rücksichtnahme, Ausgeglichenheit, abgewogenes Urteil und ansprechende Umgangsformen) mit den äußeren Umständen (Junkerdasein, Geschick und Moral in Aspekten der Menschenführung und des Geschäftsgebarens, Arbeitsethos und Gemeinschaftsbindung) und moralische Werte als Voraussetzung für persönliche Dispositionen (Zuneigung) zur Debatte stehen. Die im engeren Sinne ökonomische Dimension dieser Verbindung kann nur erschlossen werden; zwar kommen ausgedehnte Ländereien des Grafen Barby und industrielle Interessen in der Schweiz zur Sprache, aber über deren Nutzung und Verfügung macht der Roman keine Aussagen. Das Ökonomische des Romans definiert sich nicht über die Kategorie des Materiellen. Worum geht es also dann bei den Verhandlungen, wie werden Angebot und Nachfrage austariert, Gleichwertigkeit der Einlagen festgestellt? Welches Kapital bringen die Parteien ein? Es ist wichtig festzuhalten, dass die Ausgangslage der
Renate Böschenstein: Fontanes Melusine-Motiv [1962]. In: Renate Böschenstein: Verborgene Facetten. Studien zu Fontane. Hg. v. Hanna Delf von Wolzogen und Hubertus Fischer. Würzburg 2006, S. 15–63, hier S. 48.
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beiden Parteien als sehr unterschiedlich dargestellt wird: Nicht nur warnt die Schwester des alten Junkers wiederholt und vehement vor der Inkompatibilität der Auserkorenen, weil sie ihrer Herkunft und Sozialisation nach einer eher fremden Sphäre zugehöre. Auch ist die Gegenüberstellung von arm und reich, von provinziell und weltläufig genüsslich ausgewalzt. Die wirtschaftliche Lage der Stechline muss als geradezu prekär angesehen werden (darauf deuten die Darlehen des alten jüdischen Familienbankiers hin). Dubslav Stechlins Wahlniederlage beleuchtet zudem eine Einbuße an politischem und Reputationskapital; der Aufstieg rivalisierender ökonomischer und politischer Faktoren, der Gundermanns als Kapitalisten, der Sozialdemokratie mit der politischen Macht des Massenanhangs und dem ideellen Rückhalt der Interessenvertretung für Benachteiligte, lässt das Prekäre an der Situation der Stechline akut und konkret hervortreten. Die Zukunftsaussichten der Familie sind durchaus zweifelhaft. Von den Barbys wird dagegen ihr Reichtum erwähnt, der nicht nur aus dem traditionellen adligen Landbesitz erwächst, sondern sich auf industrielle Kapitalinteressen erstreckt. Der Umgang mit einer katholischen bayrischen Familie namens Berchtesgaden (mit den so plakativen Echos Fürstabtei und Reichsunmittelbarkeit) signalisiert, dass in ihrem Kreise der Kulturkampf beendet und die konfessionelle Spaltung des Deutschen Reiches, die in Cécile ein beherrschendes Thema ist,20 irrelevant geworden ist. Diese Diskrepanz zwischen den beiden Familien pointiert das Geschehen der Annäherung zur Sicherstellung eines ausgeglichenen Tauschhandels bzw. einer gleichwertigen Kapitaleinlage in materiellem und im übertragenen, Bourdieuschen Sinne. Die Rekonstruktion der Verhandlungen muss sich auf zwei Ebenen vollziehen: Das Verfahren und die Substanz der Vereinbarung sind zwar unauslöslich verwoben, analytisch lassen sich diese Ebenen jedoch durchaus auseinanderhalten. Zu den Stufen der Vertragsverhandlungen gehören folgende Szenen: Nachdem von außenstehenden Beobachtern die Parameter erläutert worden sind (Kapitel 10), erfolgt die Verhandlung selbst in zwei markanten Schritten. Beides sind Gesprächsszenen im Barbyschen Hause, an denen außer den Hauptfiguren weitere Akteure beteiligt sind, das heißt die Verhandlungen beeinflussen. In Kapitel 13 bahnt sich die Annäherung an; hier erfolgt so etwas wie eine Absichtserklärung. Im 25. Kapitel geschieht die Ausformulierung der Positionen. Einher damit geht der Ausschluss von Konkurrenten, Mitbewerbern, Mitbietern. Von der ersten Erwähnung der Barby-Schwestern an werden ja beide als mögliche Hei-
Peter Sprengel: „Nach Canossa gehen wir nicht!“ Kulturkampfmotive in Fontanes ‚Cécile‘. In: Hanna Delf von Wolzogen (Hg.): Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Würzburg 2000, Bd. I, S. 61–71.
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ratskandidatinnen ins Spiel gebracht (obgleich von Melusine nie eine aktive Bewerbung ausgeht), wird die Aufmerksamkeit der Leser (als eines der wenigen Spannungsmomente im traditionellen Sinn der Erweckung von Erwartung) auf die Entscheidung gelenkt: „in einem solchen Hause verkehren und sich mit einer Tochter verloben [ist] so ziemlich ein und dasselbe […]. […] Die Schwierigkeiten liegen in was anderm. Es sind da nämlich, wie ich mir schon anzudeuten erlaubte, zwei Komtessen im Hause“ (S. 106) – von denen die ältere wegen ihrer Intelligenz und ihres Charmes zunächst ein größeres Kapital in die Waagschale zu legen fähig zu sein scheint; sie dominiert alle Szenen, in denen sie auftritt. Allerdings haftet ihr ein Makel an, der signifikanter Weise nicht in ihrem Status als Geschiedene, also nicht moralisch begründet ist. Die beiden Kommentatoren betonen in auffälliger Doppelung, Melusine sei „eine gleich nach der Ehe geschiedene Frau. Sie war nur ein halbes Jahr verheiratet, oder vielleicht auch nicht verheiratet“. „Verheiratet, oder vielleicht auch nicht verheiratet“, wiederholte Czako, während er unwillkürlich sein Pferd anhielt. „Aber Rex, das ist ja hoch pikant.“ (S. 106 f.)
Das ‚Pikante‘ liegt hier nicht etwa in einer möglichen Vergewaltigung als Scheidungsgrund, sondern eher in der Vermeidung ehelicher Aktivitäten in ihrem Verhältnis mit dem italienischen Grafen, die dem adelig-dynastischen und dem bürgerlich-zivilrechtlichen Verständnis von der Ehe als auf Fortsetzung der Generationenfolge zielendem Vertrag gemeinsam sind.21 Der Elaborierung dieses Verständnisses von Ehe und sexuellen Pflichten gilt auch das Gespräch über die wohlbekannte und -dokumentierte „Frauenfeindschaft“ des Prinzen Heinrich von Preußen (1726–1802): „Er soll […] ein sogenannter Misogyne gewesen sein“ (S. 132). Armgards Erklärung ihres Unverständnisses dieser Haltung gegenüber (denn als ‚Veranlagung‘ wird Heinrichs Homosexualität nicht anerkannt in diesem Gespräch) kommt einem Bekenntnis zur Erfüllung ihrer biologischen Bestimmung gleich.22 Armgards Wiedergabe von Melusines Ansicht, „die Weiberfeinde
Vgl. Lukas Gloor: Prekäres Erzählen. Narrative Ordnungen bei Robert Walser, Franz Kafka und Theodor Fontane. Paderborn 2020, S. 53 f. Es muss betont werden, dass die Verwendung von Homosexualität als Gesprächsanlass nicht mit einer Stellungnahme zum Sachverhalt der Homosexualität verwechselt werden darf. Kommentare zu Fontanes „Umgang mit der Homosexualität“ bleiben dem Biografischen verhaftet, attestieren dem Autor eine durch Briefäußerungen und persönliche Wertschätzung belegte Toleranz gegenüber der Homosexualität; die Stelle im Stechlin gilt als Beleg für die sich im zeitgenössischen sexualwissenschaftlichen Diskurs abzeichnende Umwertung von Homosexualität von einem Straftatbestand zur „Krankheit“. Vgl. Erwin In het Panhuis: Fontane, „sexuelle Incorrectheiten“ und der „dankbare Anus“ (https://www.queer.de/detail.php?article_id=35191; zuletzt abgerufen am 29.4.2020). Zusammenstellung einschlägiger Belege bei Georg Bartsch: Fontane und die „sexuellen
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[seien] sogar stolz darauf, Weiberfeinde zu sein, und behandeln ihr Denken und Tun als eine höhere Lebensform“ (S. 107), drückt den klaren Unterschied zwischen den Schwestern aus. In der Zusammenschau dieser Motive wird offenbar, dass eines der Aktiva, welche die jüngere Tochter in das Transaktionsgeschehen einbringt, ihre Bereitschaft zur Familiengründung ist, ihre Affirmation einer traditionellen Rolle der Frau als Mutter und Haushaltsführerin.23 Auch auf der anderen Seite tritt ein Mitbewerber (Mitbieter um Zuschlag) auf. In der ersten Verhandlungsszene bekundet der Musiklehrer Wrschowitz im Rahmen eines Gesprächs im engen Umkreis der Prinz-Heinrich-Behandlung seine schwärmerische („wie verklärte“) Leidenschaft durch einen „huldigendem Hinblick auf Armgard“ (S. 132). Im Zuge der Nachbereitung der vollzogenen Transaktion auf der erwähnten Weihnachtsfeier im 26. Kapitel zieht sich der Musiker – unter signifikanter Wiederaufnahme eines Motivs der ersten Verhandlungsszene, wo „eine Polonaise von Oginski“ Wrschowitzʼ Bekenntnisschwall ausgelöst hatte (S. 129) – mit großer Geste aus dem Wettbewerb zurück: Nach dem Tee wurde musiziert, und Wrschowitz spielte – weil er dem alten Grafen eine Aufmerksamkeit zu erweisen wünschte – die Polonaise von Oginski, bei deren erster, nunmehr um siebzig Jahre zurückliegenden Aufführung, einem alten on dit zufolge, der polnisch gräfliche Komponist im Schlußmomente sich erschossen haben sollte. Natürlich aus Liebe. „Brav, brav“, sagte der alte Graf und war, während er sich beinahe überschwenglich bedankte, so sehr aus dem Häuschen, daß Wrschowitz schließlich schelmisch bemerkte: „Den Piffpaffschuß muß ich mir versagen, Herr Graff, trotzdem meine Verehrung (Blick auf Armgard) serr groß ist, fast so groß wie die Vererrung des Grafen vor Graff Oginski.“ (S. 248)
Dies ist natürlich eine retrospektive Erklärung seiner Gefühle für Armgard, die auf sein eigenes Kapital, die künstlerische Leidenschaft und charakterliche Leidenschaftlichkeit verweist. Die Evokation der Passion des Komponisten Michał Kleofas Ogiński und seiner Musik (die in dem in Rede stehenden Stück seinem geteilten Heimatland galt und nicht einer geschlechtlichen Liebe) konfirmiert den Abbruch des Versuchs, eine Transaktion zu initiieren, die über das Lehrer-
Incorrectheiten“. Theodor Fontanes Umgang mit der Homosexualität. Ohne Ort 2014. Vgl. auch den Novellenplan über eine offensichtlich lesbische Beziehung: Theodor Fontane: ‚Susanne von Sandrascheck‘. Ein unveröffentlichtes Erzählfragment. Hg. v. Hanna Delf von Wolzogen und Christine Hehle. In: Fontane Blätter 96 (2013), S. 10–19. Diese Seite Armgards markiert eine Alternative zu Céciles Kränklichkeit, die im Lichte des Hysterie-Diskurses der Zeit als Konsequenz einer verfehlten weiblichen Bestimmung (Kinderlosigkeit) gelesen werden mag, welche wiederum auf mögliche Frigidität zurückführbar ist. Lilo Weber: „Fliegen und Zittern“. Hysterie in Texten von Theodor Fontane, Hedwig Dohm, Gabriele Reuter und Minna Kautsky. Bielefeld 1996, S. 43–92.
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Schüler-, das Angestellten- und Hausgast-Verhältnis hinausgeht. Die dramatische Kapitulation signalisiert, dass die Kapitalkraft Leidenschaft ungenügend ist für die angestrebte Transaktion. Verschränkt in diesen hier nur skizzenhaft aufgerollten Prozess des Ausscheidens von Konkurrenten bei gleichzeitiger Festlegung von Marktwert und Kompatibilität der Vertragspartner geschieht eine Offenlegung charakterlicher Dispositionen und inhaltlicher Standpunkte zur Lebensein- und -ausrichtung, das heißt eine Festlegung nicht nur der Vertragspartner, sondern auch des Vertragsinhalts. Auf dieser Ebene markiert die London-Deputation des Offiziers ein Aufholen mit den Barbys an Erfahrung und Weltläufigkeit, denn der Inhalt des zweiten, konfirmierenden Schrittes baut auf dieser Erfahrung auf. Während in dem frühen Gespräch über die Homosexualität des Prinzen Heinrich bereits die Bereitschaft Armgards zur Fortpflanzung festgestellt ist, erstreckt sich die zweite Verhandlungsrunde auf die Definition des Positiv-Verbindenden (also auf die Kompatibilität der Investition). Dies geschieht wieder über die Abgrenzung von dem glücklosen Wrschowitz, der sich als revolutionärer Wagnerianer zu Prinzip, Kritik und Revolution (in der Kunst) bekennt: „Frondeur ist Krittikk, und wo Gutes sein will, muß sein Krittikk.“ (S. 132) Die Zurückweisung Armgards betrifft zwar Prinz Heinrich, über die Verwendung desselben Begriffs trifft sie aber den Klavierlehrer: „Ich mag diesen Prinzen Heinrich nicht und seine ganze Fronde nicht“ (S. 133). Umgekehrt wird ebenfalls über den kuriosen Gegenstand revolutionärer Pose in Kunst und in der Lebensführung eine Synchronität der Auffassungen zwischen Armgard und Woldemar etabliert: Als „Etwas durchaus Krankhaftes in meinen Augen oder doch mindestens etwas sehr Sonderbares“ empfindet Armgard Prinz Heinrichs sexuelle Orientierung (S. 132), um bei Woldemar Bestätigung zu suchen; Woldemars Signal der Anteilnahme entspricht einem Verständnisangebot zwischen den Verhandlungspartnern: Ich betrachte sie [die ‚Misogynen‘] zunächst als Unglückliche. […] Und zum zweiten als Kranke. Der Prinz, wie Komtesse schon ganz richtig ausgesprochen haben, war auch ein solcher Kranker. (S. 133)
Über dieses delikate, intime und gleichzeitig tabuisierte Gesprächsthema findet hier nicht nur eine Koalitionsbildung gegen Wrschowitz und Festlegung der Konkurrentin Melusine auf eine nichtreproduktive Rolle statt, sondern auch eine Absichtserklärung zur Auslotung der Verträglichkeit der Positionen in der angestrebten Vertragsverbindung. In der ‚Verlobungsszene‘ nach der London-Reise kann das Vertragsverhältnis, der Wert des Einsatzes, dann auf verschiedenen Feldern ausführlicher definiert werden. Thema ist zuerst die klassische weibliche Ressource. Bestimmte Codes im Gespräch signalisieren den Einsatz der äußerlichen Erscheinung als
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Handelsgut. Woldemars geschickte Umwertung der Kategorie Schönheit markiert die weit über durchsichtige Schmeichelei hinausgehende Strategie des ‚Verkäufers‘, nämlich die Aufwertung des Gegenübers durch Abwertung der Konkurrenz: „Durchschnittsschönheit […] bin ich drüben begegnet.“ Ausschlaggebend für den Zuspruch ist allerdings die Sophisterei über das Wesen von Schönheit: „Wirkliche Schönheiten sind schließlich immer Seltenheiten. Wären sie nicht selten, so wären sie nicht schön.“ (S. 236) Diese Argumentation bedient sich natürlich der Figur der Tautologie; die zirkuläre Logik erreicht ultimative Deckungsgleichheit und Passgenauigkeit der Transaktion, da es keinen externen Referenzpunkt gibt. Ein weiteres Thema in dieser Verhandlungsrunde besteht in dem Vergleich der Elisabeths. Armgards Identifikation mit Elisabeth von Thüringen anstatt der machtbewussten Elisabeth von England ist das letztes Glied in einer Kette der Kompatibilitäts-Feststellung, denn hier begegnet das Äquivalent von Woldemars Mitleidsgeste gegenüber dem gesellschaftlich und moralisch randständigen Prinzen Heinrich bei gleichzeitiger kräftiger Abgrenzung des eigenen Lebensentwurfs. In dem Verlauf der Verhandlung markiert Armgards Identifikation mit der mildtätigen Heiligen des deutschen Mittelalters den Zuschlag; mit diesem Signal akzeptiert sie die Offerte Woldemars, und zwar weil er erstens in seinem Schönheitsdiskurs das richtige Angebot unterbreitet hat und weil er zweitens einen Zeugen, einen Fürsprecher gewinnt. Denn die Bildgabe des Malerprofessors Cujacius, der auch vorher schon einen entscheidenden Akzent gesetzt hatte und als Gegenpol des Musikers Gewicht besitzt, erfüllt gleichsam die Funktion der Verleihung eines Gütesiegels. Cujacius verspricht am Ende der als London-Nachbereitung verkleideten Vertragsverhandlungen die Zusendung einer Radierung nach John Everett Millaisʼ Gemälde A Dream of the Past: Sir Isumbras at the Ford als Anerkennung von Woldemars „Verständnis und Entgegenkommen“ (S. 239). Bei der ersten Ausstellung 1857, also während Fontanes Korrespondentenzeit in London, für ungeschickte Proportionen (das Pferd ist zu groß) und ungeschickte Farbgebung (dunkler Vordergrund) kritisiert,24 zielt Cujaciusʼ Geste hier aber klar auf das Ethos des Bildes: Güte, Wohltätigkeit, Wertschätzung der Arbeit, generationen- und klassenübergreifende Solidarität sind darin als Wolde-
Das Bild wurde auf der Arts Treasures-Ausstellung in Manchester gezeigt, die Fontane im Juli 1857 besuchte. Carmen Aus der Au: Fontane als Kunstkritiker. Berlin 2017, S. 23; Roland Berbig: Theodor Fontane Chronik. Berlin 2010, S. 756–758. Zum Kontext Moritz Wullen: Englische Malerei. „Kosmopolitismus in der Kunst“. Fontane in England. In: Claude Keisch, PeterKlaus Schuster und Moritz Wullen (Hg.): Fontane und die bildende Kunst. [Ausstellungskatalog, Nationalgalerie am Kulturforum Berlin 1998]. Berlin 1998, S. 42–120.
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mars Kapital präsent. „Ein Ritter – Sir Isumbras – in einer goldenen Rüstung“, so lautet die Beschreibung einer Kunsthistorikerin, „trägt zwei Bauernkinder, die Reisig gesammelt haben, auf seinem schwarzen Pferd über einen Fluss. Der Kontrast zwischen dem Alter des Ritters und der Jugend der beiden Kinder ist zugleich als Kontrast zwischen den unterschiedlichen sozialen Schichten des Adels und der Bauernschaft angelegt.“25 Genau darauf antwortet Armgard; genau diese hier evozierten Eigenschaften finden ihre Entsprechung in der Reputation der Elisabeth von Thüringen, die sich Armgard zum Vorbild wählt. Der Vertragsabschluss besiegelt mithin die Festlegung von Wert und Gegenwert durch die Einigung auf Wertschätzungskriterien und -inhalte. Die transaktionale, reziproke Begutachtung des Handelsgutes, der Vertragspartner selbst, hat die Validität, Gleichgestimmtheit als Ausweis von Gleichwertigkeit zum Ergebnis: Kompatibilität in zwischenmenschlicher Hinsicht entspricht und drückt sich aus über das Einpendeln des Marktwertes auf ein angeglichenes Niveau. Fontane legt der klarsichtigen Melusine das Fazit der London-Berichterstattung und der Schönheitsdebatte in den Mund – und lässt sie dabei einen Terminus verwenden, der Ökonomisches mit Charakterlichem verschmelzt: Schließlich weiß doch jeder, was er gilt, ob er geliebt wird oder nicht, vorausgesetzt, daß er ein Gentleman und nicht ein Gigerl ist. (S. 214, Hervorhebung hinzugefügt)
London und der Ausflug dorthin erscheinen in dieser Aussage – ganz im Gegenteil zu der stereotypen Semantisierung der Hauptstadt des Empire – als Schule gefestigter Selbsteinschätzung und entsprechenden Benehmens, die dem so Gereiften, wie er es im Gespräch demonstriert, alle Neigung zum Renommiergehabe (was der Begriff Gigerl = Modegeck ja impliziert) ausgetrieben hat. Die Ware hat gewissermaßen einen Gütetest bestanden; die Qualität des Einsatzes in die Transaktion ist damit verifiziert. Die Bedeutungsschattierungen des Verbs ‚gelten‘ – Bewusstsein der eigenen Bedeutung, Gültigkeit und Wert in einem materiellen Sinne – sind zur Deckung gebracht und damit die materiellen und ideellen Dimensionen der Transaktion. Das Resultat ist etwas Vereinbartes, etwas in geradezu systematischen Verhandlungen gefundenes Gemeinsames. Beide Vertragspartner bringen ähnliche Valuta in die Partnerschaft ein bzw. sie bewerten ihre Aktiva auf reziproke
Tina Rudersdorf: Die Ausstellungen der Präraffaeliten. Präsentationsformen viktorianischer Malerei und ihre Wirkung. Diss. Phil. Bonn, 2009, S. 144 (https://nbn-resolving.org/urn: nbn:de:hbz:5-17474; zuletzt abgerufen am 7.3.2021). In den Beiträgen zu Kunstdebatten bei Fontane bleibt die Funktionalisierung dieser Kunstreferenz unbemerkt. Vgl. George Wallis Field: Professor Cujacius, Turner und die Präraffaeliten in Fontanes ‚Stechlin‘. In: FontaneBlätter 5.5 (1984), S. 580–587; Aus der Au: Fontane als Kunstkritiker.
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Weise, anerkennen gegenseitige Wertigkeit. So wird Wechselseitigkeit erreicht, Kongruenz von Geben und Nehmen, von Tauschwert und Materialwert, Einsatz und Belohnung, und diese ökonomische Harmonie dient als Fundament für eine in die Zukunft hinein tragfähige, konsensuelle Verbindung, stellt also eine kluge Investition dar. Was Fontane hier vornimmt, ist eine Aussöhnung verschiedener Bewertungsmaßstäbe und Bedingungsfaktoren. Fontanes Vermächtnisroman postuliert – im Gegensatz zu Cécile – die Möglichkeit von Zukunft durch die Verschmelzung vermeintlich objektiver Mechanismen des Austarierens von Beziehungen mit subjektiven Vorlieben, Veranlagungen, Neigungen. Die Assoziation eines Vertragspartners und die Besiegelung der Transaktion unter dem Patronat des Millais-Bildes dehnt die vordergründig private Einigung zu einer gesamtgesellschaftlichen Aussage aus: Die Bebauung im Hintergrund weitet den Rahmen; die Zusammensetzung der Kleingruppe aus Altem und Jungen, Schutz und Arbeit macht sie zum Sinnbild für einen Gesellschaftsvertrag als Generationen- und Ständevertrag; die Brücke und das Stichwort der ‚Furt‘ im Titel signalisieren Überwindung von Trennendem; die Zugehörigkeit zur Schule der Präraffaeliten kombiniert mittelalterliches Ethos und Stilwillen mit Gegenwartsrelevanz. Es wird hier als kompatibel vorgeführt, was in Cécile als eine der Ursachen von Spaltung und Versagen benannt war.
4 „Vielleicht … Gute Nacht“: Volatilität Friedrich Theodor Vischers Bonmot von der „Beruhigung der Liebe in der Ehe“ erweist sich für Fontane als irrelevant; weder die hier angesehenen noch andere seiner Texte vermögen diese Behauptung zu bestätigen. In Cécile stellt sich die Frage nach der Liebe als Grundlage für das Vertragsverhältnis der Ehe nicht; die Altlasten und ihre Interferenz im Gegenwärtigen verhindern „Beruhigung“ in der Ehe mit St. Arnaud und lassen für Liebe keinen Raum. Im Stechlin steht die Verhandlung von Rahmenbedingungen für ein funktionierendes Miteinander im Vordergrund, das Austesten von Wechselseitigkeit, Verträglichkeit und Vertraglichkeit. Aber bei aller Anstrengung und bei allem Zukunftsoptimismus bleibt das Verhandelte als prekär greifbar. Denn die Öffnung des Privaten bleibt – über die Metapher des Kunstwerks – als Ideal markiert; der Roman selbst gilt ja über weite Strecken hinweg der Ausmalung von zentrifugalen Kräften, kontroversen Positionierungen, ja Antagonismen. Fontane zeigt in beiden hier angesehenen Texten ein akutes Bewusstsein für die Störanfälligkeit des menschlichen Zusammenlebens, die in Cécile krisenhaft zum Ausbruch kommt, im Stechlin durch Anerkennung und Anwendung ökonomischer Verfahren antizipierend eingehegt
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wird. Für beide Texte gilt allerdings die Einsicht: Partnerschaft hebt die Widersprüche des ökonomischen Zeitalters nicht auf, sondern sie verdichten sich dort, wo soziale Interaktion als Tausch- und als Austauschbeziehung nicht in ein Gleichgewicht der Gegenseitigkeit gebracht werden kann. Im Zeichen des Börsenkapitalismus (etwa gleichzeitig mit dem Entstehen des Stechlin verfasst in Göttingen Max Weber seine Schriften zum Börsenwesen) müssen sich zwischenmenschliche Beziehungen ökonomischen Regeln fügen, was im Stechlin durch ausgeklügelte Verhandlungen zu gelingen scheint, in Cécile deshalb nicht, weil die Regeln inkompatibel, Einsätze und Ziele auf der Zeitebene der Haupthandlung ambivalent bleiben. Das Empfangszimmer der Barbys (und dessen Extension zum Beispiel auf Ausflügen) erfüllt die Funktion einer Börse: „Die Zusammenführung von Angebot und Nachfrage und die Preisbildung als öffentlicher Prozess“.26 Im Stechlin erfolgt die Definition der Kapitaleinlage in Absetzung von dem überkommenen Handelsgut weiblicher Schönheit, aber in Affirmation der Mutterrolle. In Cécile vermag das Prestige- und Schönheitskapital die Unvereinbarkeit von Vergangenheit und Gegenwart nicht zu überspielen, da sich die Konfliktlösungs- und Stillstellungsmechanismen als unzureichend erweisen, dem Entgleisen der aversen Transaktionen vorzubeugen. So wird dann in subtilen Verhandlungen doch die Ehe als zumindest potenzielle Stillstellungsinstanz gedacht, nicht als Stillstellung von Liebe und Leidenschaft, sondern der ‚Aufhebung‘ all der Inkongruenzen und Asymmetrien auf den horizontalen und vertikalen Achsen, wie sie im Stechlin in Kunst- und Musikgesprächen, in der Handlung als Gegensatz von Provinzialität und Kosmopolität, als soziale und politische Fraktur sowie historische Unberechenbarkeit so eingehend thematisiert werden. Solche Spannungen hatten in Cécile zur Katastrophe geführt. Der gesellschaftliche Jetztzustand ist akkumulierte Geschichte, deshalb funktionieren Isolation, Ausblendung von Erblasten und von die Transaktionalität gefährdenden Faktoren nicht: Das ist unkluges Geschäftsverhalten, das sich in Cécile bitter rächt; die Überwindung der Vergangenheit scheitert. Als Gegenmodell propagiert Der Stechlin die Subsumption des Konfliktbelasteten in die vertragliche Gegenseitigkeit einer funktionierenden Geschäftsbeziehung, die auf symmetrischer Transaktion basiert. Deshalb begegnet uns in Cécile ein abortives Verhandlungsende, das nurmehr posthume Lösungen der Konflikte zulässt; im Stechlin ermöglicht der vielschichtige Verhandlungsprozess einen Vertragsabschluss mit Zukunftsoption.
Heiner Ganßmann: Börsenwesen. Schriften und Reden (1893–1899). In: Hans-Peter Müller und Steffen Sigmund (Hg.): Max Weber Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2014, S. 184–190, hier S. 185.
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Aber die Beruhigung der Transaktionsdynamik gilt nur für einen Moment, den historischen Moment zwischen dem Versprechen und der Einlösung, zwischen der Verlobung und dem Ableben des alten Stechlin, welcher das Einrücken des Nachfolgers und seiner Frau in eine Position der Verantwortung markiert – so wie sich bei Millais Jugend und alter Ritter für den Moment der Flussüberquerung aneinanderklammern. „Bei Woldemar von Stechlin ist alles auf die Zukunft hin angelegt“, so formuliert Renate Böschenstein.27 Anders ausgedrückt: Die Kompatibilität der Partner ist verhandelt und austariert worden, das Geschäft abgeschlossen. Die Tragfähigkeit der so vorbereiteten Zukunft allerdings muss sich in der Zeit bewähren. Und so bleibt die die Verlobung besiegelnde Floskel „Vielleicht … Gute Nacht“ (S. 244) durchaus ominös.
Renate Böschenstein: Caecilia Hexel und Adam Krippenstapel. Beobachtungen zu Fontanes Namensgebung [1996]. In: Verborgene Facetten, S. 329–360, hier S. 354.
Ingo Meyer
Liebe und Ökonomie im deutschen und französischen Realismus. Abschied von der Romantik? Liebestheorien sind seit einiger Zeit en vogue,1 Fragen nach der Zukunft des (Neo-)Liberalismus und Kapitalismus ohnehin, wie bereits ein Blick auf die Neuerscheinungen des Suhrkamp-Programms der letzten Jahre zeigt. Das könnte mich kalt lassen, kennte ich mich als Literaturwissenschaftler nicht mit dem Realismus, der Gattungen wie etwa den Desillusionsroman und die Resignationsnovelle gepflegt hat, als Nebenfachsoziologe hingegen mit Georg Simmel, dessen berühmtestes Buch bekanntlich Philosophie des Geldes heißt, am wenigsten schlecht aus. Der Simmel-Exegese zurzeit aber einigermaßen überdrüssig, wende ich mich tiefer zurück ins 19. Jahrhundert und frage nach dem, so viel sei vorweggenommen, intrikaten Übergang von romantischen Vorstellungen über die Liebe hin zu einer härteren, doch soziologisch sensibleren Präsentation des vornehmsten literarischen Themas überhaupt im französischen und deutschen Realismus unter Bedingungen eines sich als kapitalistisch ausdifferenzierenden Wirtschaftssystems. Überraschend dabei ist im Vorfeld, dass die Romantik, deren Liebessemantik nach 200 Jahren auch heute noch wesentlich in Kraft ist, wenig Schwierigkeiten mit der Ökonomie bzw. dem Geld hat,2 sehr wohl aber der Realismus.3 Die Einsicht, dass Liebe und Ökonomie, das sehr Konkrete, ja Individuelle par excellence und der ‚kalte‘ Bereich der Wirtschaft keineswegs oppositionelle ‚Seinssphären‘ sind, fällt dem deutschen Realismus (Storm, Freytag, Fontane), dessen Autoren beinahe durchweg dem Bildungsbürgertum entstammen,4 nicht
Siehe nur Barbara Kuchler, Stefan Beher (Hg.): Soziologie der Liebe. Romantische Beziehungen in theoretischer Perspektive. Berlin 2014. Ingo Meyer: Aus der Romantik-Forschung. Romantik international und kontrovers, Schleiermachers späte Ästhetik (Teil II). In: Philosophische Rundschau 66 (2019), S. 223–270, hier S. 224–226, 258–259. Pionierstudien zum weiteren thematischen Komplex bei Jochen Hörisch: Gott, Geld und Glück. Zur Logik der Liebe. Frankfurt a. M. 1983; Ders.: Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes. Frankfurt a. M. 1996. Zu dieser europäischen Spezialität akademisch gebildeter ‚Generalisten‘, die reputativ höher standen als das nicht selten von ihnen verachtete Besitzbürgertum ausführlich HansUlrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der ‚Deutschen Doppelrevolution‘ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914. München 1995, S. 125–130, 730–750. Die Ausnahme ist Fontane, der seine Bildung aus Tageszeitungen und dem Brockhaus bezog, https://doi.org/10.1515/9783110740806-010
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leicht. Während er vor allem auf stofflich-thematischer Ebene fragt, ob sich romantische Liebe auch unter fortgeschritten säkularen Bedingungen des 19. Jahrhunderts leben lässt, verhandelt der ungleich illusionslosere französische (Stendhal, Balzac, Zola) bereits Differenzierungsprobleme der Liebe als ‚Erfolgsmedium‘. Als theoretische Orientierung wird daher der unter Literaturwissenschaftlern zwar wenig geschätzte Ansatz Niklas Luhmanns aufgenommen, der die Liebe im Bereich der (unschön so genannten) symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien verortet, deren eines auch das Geld sei. Dies hat, ganz im Sinne Luhmanns, den Vorzug der funktionalen Äquivalenz bzw. Vergleichbarkeit der „Medien“ Liebe und Geld.5 Da allerdings selbst unter Soziologen häufig nicht recht klar scheint, was in Luhmanns Gesamtkonzeption mit diesem Theoriesegment eigentlich intendiert (und auch ersetzt) ist,6 möchte ich trotz Gefahr eines gar zu langen Vorlaufes zunächst erläutern, warum Luhmann die Liebe an welcher ‚Systemstelle‘ verortet.
1 Liebe mit Luhmann Liebe als Passion – übrigens ein verstecktes Nietzsche-Zitat7 – stand ziemlich quer zu den Erwartungshaltungen,8 vielleicht wurde das Anliegen des Buches als
vgl. die exzellente Gesamtdarstellung von Ivan-Michelangelo D‘Aprile: Fontane. Ein Jahrhundert in Bewegung. Reinbek 2018, S. 338, 422–424 u. passim. Zur funktionalen Analyse Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. 1984, S. 83–91. Zwei Beispiele mit 30 Jahren Abstand: Jan Künzler: Medien und Gesellschaft. Die Medienkonzepte von Talcott Parsons, Jürgen Habermas und Niklas Luhmann. Stuttgart 1989, S. 122, rechnet Letzterem im Anschluss an Searle eine „Marginalisierung der Sprache“, deren „Logizität“ (sic!) ihre „wesentliche Eigenschaft“ sei, S. 102, sowie die „Verwechslung von logischer und epistemischer Wahrheit“, S. 109, vor. Jurit Kärtner: Zur Theorie und Typologie der Erfolgsmedien. In: Zeitschrift für Soziologie 48 (2019), S. 116–135, hier S. 121, 124, bemüht sich um eine handlungstheoretische Refundierung und erfindet eine ganze Palette neuer Erfolgsmedien wie Moral, Recht, Humor und selbst noch „Seelenheil“. Liebe hingegen, S. 125, intendiere eine weberianische „‚innerweltliche Erlösung vom Rationalen‘“. Luhmann wird vorgeworfen, dass er Medien insgesamt nach dem Muster des Geldes konzipiere, was allerdings, S. 130–132, vor allem für den Autor gilt, wenn er annimmt, dass Institutionen Erfolgsmedien nach dem Muster der Wertschöpfung produzieren. Mit Luhmann hat das nichts mehr zu tun. Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. In: Ders.: Kritische Studienausgabe. Bd. 5. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München 1980, S. 9–243, hier S. 212 – notiert als „unsre europäische Spezialität“. So rechnet ganz typisch Gerhard Kaiser: Geschichte der deutschen Lyrik von Goethe bis Heine. Frankfurt a. M. 1988, S. 575–576, Luhmann vor, Literatur und Kunst nicht in ihrer Lite-
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Theoriebaustein und historisch-wissenssoziologische Fallstudie auch zu gedrängt vorgetragen.9 Deshalb verzeihe man meine Erläuterung, wovon es eigentlich handelt, nämlich um die Genese und Kontur eines der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien Vertrauen, Macht, Wahrheit, Geld und eben Liebe. Gelegentlich zählt Luhmann auch die Kunst dazu.10 Liebe ist für ihn wie alle anderen Erfolgsmedien eine „Problemlösung“11 und damit funktional befragbar, daher sein Diktum, Liebe sei „kein Gefühl“.12 Aber was dann? Technisch gesprochen ist sie die Unterstellung einer vollständigen Kongruenz der Erlebnissphären zweier Individuen (die natürlich niemals Wirklichkeit werden kann).13 Wie der andere mich erlebt und ich ihn, ist stets mitlaufender Bezugspunkt, nicht in Gadamer’scher Horizontverschmelzung, sondern in wechselseitiger Bereitstellung des einen Horizonts für Erleben und Handeln des Alter Egos, „Internalisierung des subjektiv systematisierten Weltbezugs eines anderen“.14 Deshalb kommunziert Liebe nicht selten auch ohne Worte, antizipiert der eine bald die Wünsche des anderen, ja kennt die Liebe Sinn, den Sprache nur deformieren würde.15 Indem sie Dauerhaftigkeit der temporal extrem zerfallsbe-
rarizität/Individualität zu würdigen, sondern nur auf ihre gesellschaftlichen Funktionen zu befragen. Genau das aber ist die Absicht, keine ‚Kunst der Interpretation‘. Selbst André Kieserling: Editorische Notiz. In: Niklas Luhmann: Liebe. Eine Übung, Frankfurt a. M. 2008, S. 93–95, hier S. 94, als der letzte Orthodoxe betont, dass „das sperrige Liebesbuch [...] seinen Lesern nichts schenkt“. Eine auffällige Unentschiedenheit, die Luhmann wohl mit verschiedenen möglichen Perspektiven auf dasselbe (?) Phänomen anti-ontologisch erklärt hätte. Einmal, Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1995, S. 229–234, erscheint sie als großes Funktionssystem, das gleichsam spielerisch für die Schärfung des Kontingenzbewusstseins sorge, dann wieder – und m. E. weiterführender – als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium, etwa in Luhmann: Ist Kunst codierbar?. In: Ders.: Soziologische Aufklärung. Bd. 3, Opladen 1981, S. 245–266, hier S. 246, allerdings mit dem fatalen Code-Vorschlag schön/hässlich, obwohl sich doch Kunst/Nichtkunst sehr viel eher aufdrängte. Eine letzte Einlassung zur Kunst als Medium wieder bei Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde. Frankfurt a. M. 1997, S. 351–355. Luhmann, Liebe. Eine Übung, S. 10. Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a. M. 1982, S. 23. Niklas Luhmann: Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie. Wien 1995, S. 25, lehnt den „Unbegriff der ‚Intersubjektivität‘“ ab – gäbe es sie, gäbe es keine Kommunikation, also keine Gesellschaft. Luhmann, Liebe als Passion, S. 30. Luhmann, Liebe als Passion, S. 29. Dies ist auch in der Freundschaft möglich – nur fehlt hier, S. 139–140, der Intimbezug, sehr hässlich „symbiotischer Mechanismus“ genannt. Was in der Intimbeziehung geschieht, S. 149, geht weit über das hinaus, was Freunde voneinander wissen. Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung.
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drohten Gefühle verlangt, ist sie hochanspruchsvoll, nicht zuletzt, weil sie sich nicht auf ‚Zeitfenster‘ bzw. Gelegenheitsliebe eingrenzen lässt. Wohl aber bedarf sie regelmäßiger Auffrischungen, die paradoxerweise gerade nicht erwartbar sein dürfen, oberhalb permanenter Aufmerksamkeit für den anderen sind noch kleine insulare Zuwendungen von spezifischen Gesten, Einladungen, Geschenken usw. notwendig, bei gebotener Vorsicht vor gedankenlosen Brüskierungen und Nachlässigkeiten. Und doch wird den Liebenden Verständnis für temporale Prioritäten und Unverfügbarkeiten (etwa Prüfungsvorbereitung, der ‚Job‘ etc.) abverlangt; schon die soziologische Klassik belehrt uns, dass sogar Kinder die Intimität von Ehen als prekärster Zweierbeziehung zerstören können.16 Überhaupt muss man sich, wiederum seit der Romantik, um einen Schutz vor Veralltäglichung und Profanierung der Liebe bemühen – „[u]nmerklich wandelt sich Leidenschaft in Geschichte und wird zugleich durch Geschichte ersetzt“17 –, allerdings kann Liebe, durchaus eine Investition, auch nicht eingeklagt werden.18 Und doch hält eigentlich „[e]inen solchen Dauertest [...] keine Dauerbeziehung aus.“19 Daher kann Luhmann sagen, im Gegensatz etwa zu Mitgliedschaften oder gar bloßen ‚Werten‘ binde Liebe soziologisch „zu stark.“20 Aber warum bloß lassen wir uns auf so etwas Heikles, Forderndes ein? Weil, mit Arnold Gehlen und dem frühen Luhmann, der viel von ihm gelernt hat, das Medium Liebe erlaube, „daß man einen beliebigen, ausgewählten anderen Men-
In: Ders.: Gesamtausgabe. Bd. 11. Hg. v. Otthein Rammstedt. Frankfurt a. M. 1992, S. 315, betont daher „Unsicherheit in der Basis“ in Intimbeziehungen und die damit einhergehende ungeheure Verletzungsoffenheit der Partner. Simmel, Soziologie, S. 105–106. Luhmann, Liebe. Eine Übung, S. 58. Luhmann, Liebe. Eine Übung, S. 50–51. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 387. Allerdings hat die phänomenologischwissenssoziologische Tradition auch herausgearbeitet, wie schwierig es ist, im „Abenteuer Ehe“ die neue, gemeinsame Welt zunächst einmal zu konstituieren und betont, dass dieser Prozess größtenteils unbewusst ablaufen muss, vgl. Peter L. Berger, Hansfried Kellner: Die Ehe und die Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Abhandlung zur Mikrosoziologie des Wissens. In: Soziale Welt 16 (1965), S. 220–235, hier S. 230–231. Alois Hahn: Konsensfiktionen in Kleingruppen. Dargestellt am Beispiel junger Ehen. In: Friedhelm Neidhardt (Hg.): Gruppensoziologie. Perspektiven und Materialien. Opladen 1983, S. 210–232, hier S. 221–222, hat dagegen gezeigt, dass frisch Vermählte mit einer Art Überziehungskredit, der jedoch nicht ausgereizt werden darf, arbeiten: Die stets offengelassene Zahnpastatube lohnt keinen Streit, der dazu führt, dass tagelang der Haussegen schief hängt, das Problem wird normalisiert (übersehen) oder gar weginterpretiert. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 344.
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schen liebt“.21 Das ist die Unwahrscheinlichkeitsabsorption22 romantischer Ideologie; der de facto beliebige Andere muss als der Einzige erscheinen, obwohl es für die materiell-organische Reproduktion der Gesellschaft völlig gleichgültig ist, ob sich Stefan mit Susanne oder Björn mit Alexandra fortzeugt. Letzterer Aspekt hingegen ist eine der zahlreichen „Hintergrundserfüllungen“, die wir erst bemerken, wenn sie wegfallen;23 die Geschäfte müssen geöffnet bleiben, der Strom aus der Steckdose kommen und die Renten gezahlt werden. Aufgrund beider, erkennbar engstens miteinander verzahnter Leistungen ist Liebe in modernen Gesellschaften ein Soll-Postulat, was sich bis zu Anspruchshaltungen potenzieren kann, „für jedermann soll das unwahrscheinliche Ereignis der Liebe zugänglich werden.“24 Da Gesellschaften aber mit hochspezifischen Semantiken überwölbt sind, mittels derer sie sich selbst ‚beobachten‘ und justieren, wird deutlich, wie intrikat moderne, also romantische Liebe ist, da sie sich mit dem und gegen das Soll-Postulat des Individualismus zugleich profilieren muss.25 So wird überhaupt erst klar, warum die Liebe gerade modern ein derartiger Dauerbrenner ist, denn nach Luhmann ist allein in der Liebesbeziehung Individualität gleichsam kriterienlos akzeptabel, findet in ihr unbedingte Bestätigung des eigenen Selbst, der personalen Identität statt. „Hier, und vielleicht nur hier, fühlt man sich als der akzeptiert, der man ist – ohne Vorbehalte und ohne Befristung, ohne Rücksicht auf Status und ohne Rück-
Luhmann, Liebe. Eine Übung, S. 30 (Kursivierung I.M.); in diesem Sinne auch Ders.: Institutionalisierung – Funktion und Mechanismus im sozialen System der Gesellschaft. In: Helmut Schelsky (Hg.): Zur Theorie der Institution. Düsseldorf 1970, S. 28–41, hier S. 38–39. Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Einf. v. KarlSiegbert Rehberg. 14. Aufl. Wiebelsheim 2004, S. 68–69, S. 158; Ders.: Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen. Hg. v. Karl-Siegbert Rehberg. 6. Aufl. Frankfurt a. M. 2004, S. 46–49, 120, 146, 155, 163, 180–189, 200 f., 215. Gehlen, Urmensch und Spätkultur, S. 14, 55–60, 108, 210, 213 u. passim. So Hartmann Tyrell: Romantische Liebe – Überlegungen zu ihrer ‚quantitativen Bestimmtheit‘. In: Dirk Baecker et al. (Hg.): Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag. Frankfurt a. M. 1987, S. 570–599, hier S. 591. Niklas Luhmann: Individuum und Gesellschaft. In: Universitas 39 (1984), S. 1–11, hier S. 3, unterscheidet die Trivialität, dass ich ich bin und jemand anderes ein anderer, von historischen Semantiken, die Individualität gezielt prämieren. Ders.: Selbstorganisation und Mikrodiversität: Zur Wissenssoziologie des neuzeitlichen Individualismus. In: Soziale Systeme 3 (1997), S. 23–32, hier S. 29, führt den „Mythos der Individualität“ aber auf gesteigerten Bedarf an Fachkräften der ausdifferenzierten Funktionssysteme, besonders Wirtschaft und Politik, seit dem Ende der Frühen Neuzeit zurück. Wer möchte, kann das mit einem beliebten Vorwurf an Luhmann ‚zynisch‘ finden.
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sicht auf Leistungen. Man findet sich in der Weltsicht des anderen erwartet als derjenige, der zu sein man sich bemüht.“26 Offenbar geht es ohne diesen Fluchtpunkt (dieses Arkanum) nicht, Luhmann stellt hier schon früh eine „gesellschaftliche Unentbehrlichkeit“ fest, allerdings auch eine „Überforderung der Gesellschaft.“27 Moderne Liebe ist seit der Romantik also im Kern eine Entlastungseinrichtung, gerade indem sie „Höchstrelevanz“ heischt,28 kürzt sie „die volle Kontingenz anderer Möglichkeiten“29 mit universalisiertem Bezug auf die Individualität des Anderen radikal ein. Deshalb ist sie in hohem Maße unwahrscheinlich und muss doch erwartbar sein, indem sie Individualismus zugleich voraussetzt und kompensiert, ihn nicht nur erträgt, sondern ihm einen dauerhaften Resonanzboden verschafft. Das ist die eher sozialphilosophische Seite. Die technische geht, vereinfacht, folgendermaßen: Durch die qua Grammatik regulierte, doch unendlich variable Sprache und ihre Negationsfähigkeit jeder beliebigen positiven Aussage wachsen die (virtuellen) Kommunikationsmöglichkeiten jeder Gesellschaft ins Unermessliche, Unbeherrschbare: „Mit Sprache kann etwas gesagt werden, was noch nie gesagt worden ist.“30 Diese Sprachfunktion, von Luhmann ungewöhnlich blumig als „Muse der Gesellschaft“31 metaphorisiert, ist zugleich fatal für die Sozialintegration. Wenn jeder jederzeit an jeden qua Sprache alles kommunizieren könnte, wäre Gesellschaft als Gesamtheit jeweils aktueller Kommunikationen nicht vorstellbar, die „am System Beteiligten würden sich auseinanderseligieren“.32 Hier springen die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien ein, sie schränken die durch Sprache ermöglichten Freiheitsgrade in der Zeit-, Sach-, besonders aber Sozialdimension wieder ein. Die Konzeption stammt von Talcott Parsons, der die Erfolgsmedien als Tauschrelation model-
Luhmann, Liebe. Eine Übung, S. 21. Interessant ist, dass Luhmann Individualität hier also gerade nicht in der philosophischen Tradition als Selbstbeziehung denkt, sondern als affirmativen Resonanzeffekt über einen Anderen. Das sollte jedoch nicht mit dem ‚significant other‘ des symbolischen Interaktionismus verwechselt werden. Luhmann, Liebe. Eine Übung, S. 23, S. 67. Erkennbar übrigens an der Penetranz ‚turtelnder‘ Frischverliebter in Geselligkeit, die nur Augen füreinander haben: Man will das nicht sehen und fühlt sich peinlich berührt. Viele interaktionsnahe Beobachtungen bei Tyrell, S. 586–588. So die schöne Formulierung Tyrells, S. 571. Luhmann, Liebe. Eine Übung, S. 23. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 215. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 225. Luhmann: Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbolisch generalisierter Komunikationsmedien. In: Ders.: Soziologische Aufklärung, Bd. 2. Opladen 1975, S. 170–192, hier S. 174.
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lierte,33 bei Luhmann sind sie evolutionär gewachsene „Zusatzeinrichtungen“ zur Sprache, verfügen sie doch analog zu deren Negationsfähigkeit im Kern über einen „Code“ als simple „Duplikationsregel“ (wahr/falsch; Lieben/Nicht Lieben usw.), der Zuständigkeiten reguliert. Um metaphorisch zu bleiben, die Medien wirken als Ampeln, Schleusen und positive Verstärker, indem sie mögliche bzw. anfallende Kommunikationen sortieren und kanalisieren – durch Reduktion sowie Verallgemeinerung zugleich. Es macht etwa wenig Sinn, sich am Samstagmorgen auf den lokalen Wochenmarkt zu stellen und lauthals ‚Ich brauche Liebe!‘ zu rufen – dafür gibt es andere, erfolgsversprechendere ‚Märkte‘ – oder als Minister zu versuchen, ein Gesetz durchzubringen, weil man ein bedeutender Wissenschaftler ist. Oder: Ob jemand, der schön ist, auch die Wahrheit sagt, ob jemand, der reich ist, auch mächtig ist, auch gut ist, auch gesund ist, ist dann eine Frage, die von weiteren Bedingungen abhängt, die nicht systemisch garantiert sind und die von Beobachtern als eine Zufälligkeit behandelt werden müssen, der man keine Stabilität unterstellen kann.34
Die Generalisierung hat dabei übrigens einen doppelten Sinn, denn jeder kann mit Geld bezahlen, auch die Armen verfügen über politische Macht, ebenso ist in der Provinz Kunstproduktion möglich. Immer aber ist über symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien ein Setting von „Vorleistungen“35 erbracht, sind Filter erzeugt, damit Verirrungen und ‚Kategorienfehler‘ möglichst nicht passieren. Ohne diese Zusatzeinrichtungen, die die Annahmewahrscheinlichkeit von Kommunikationen steigert, kollabierte die Gesellschaft als Gesamtheit bloß möglicher bzw. frei flottierender Kommunikation(sversuche) sofort bzw. käme gar nicht zustande. Deshalb meint Luhmann, im evolutionären Verlauf habe sich bei diesen Medien eine Asymmetrie zugunsten jeweils des positiven Code-Wertes herausgebildet:36 Die moderne Gesellschaft optiere für Liebe als Intimbeziehung, für das Zahlungsmedium Geld als „Triumph der Knappheit über die Gewalt“,37 für Macht (und nicht Zwang) als Medium auch von unpopulären politischen Entscheidungsfindungen, die natürlich stets mit Gegenmäch-
Parsons nennt in verstreuten Aufsätzen etwa Macht, Geld, Einfluss und Wertbezug, als Überblick Terence S. Turner: Parsons’s Concept of ‚Generalized Media‘ and its Relevance for Social Anthropology. In: Sociological Inquiry 38 (1968), S. 121–134. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 361–362. Luhmann: Systemtheorie der Gesellschaft. Hg. v. Johannes F. K. Schmidt, André Kieserling u. Christoph Gesigora. Frankfurt a. M. 2017, S. 504. Der letzte Stand der Theoriebildung bei Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 365 ff. Niklas Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1988, S. 253.
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ten zu rechnen haben,38 für Wahrheit (und nicht ‚Einfluss‘) in der Wissenschaft und für Kunst anstatt keiner Kunst. So führt Luhmanns Untersuchung der romantischen Liebessemantik völlig kontraintuitiv gerade nicht zur Bestätigung ihres der Gesellschaft oppositionellen Charakters, sondern im Aufweis ihrer Ordnungsleistung erweist sie sich als zutiefst soziales Phänomen. Nimmt man etwas Abstand und zieht die simpelste, auch schönste mir bekannte Definition der Institutionen als „die Art und Weise, wie bestimmte Dinge getan werden müssen“39 zu Rate, liegt eigentlich auf der Hand, dass der Entwurf symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien ihr systemtheoretisches Nachfolgekonzept ist. Eigentümlicherweise aber hat Luhmann, dessen Texte bis ungefähr in die frühen siebziger Jahre den Begriff der Institution noch führen,40 bevor er aus den Registern seiner Bücher wegen angeblich drohender Unschärfe verschwindet, allenfalls beiläufig darauf hingewiesen41 – und die Soziologie dieses Manöver kaum bemerkt. Am interessantesten an diesem ordnungsspezifischen, neben ‚Differenzierung‘ und ‚Evolution‘ dritten Axiom der Luhmann’schen Gesellschaftstheorie42 ist sicher das Problem der Interferenzen bzw. „Konvertibilitätsverbote“ solcher Semantiken:43 Vertrauen als „Wagnis“ bzw. „überzogene Information“ ist nicht nur bereits unabdingbar, um morgens das Bett zu verlassen,44 sondern auch in der Wissenschaft, den Intimbeziehungen und bei ökonomischen Transaktionen (Stichwort Betrug); Wahrheit hat in der Wissenschaft ihr Gravitationszentrum so wie Macht in der Politik, aber niemand wünscht heute Lügner als Politiker; ebenso weiß jeder, der am Wissenschaftssystem partizipiert, dass hier Macht und Geld bis hin zu gekauften Expertisen bzw. Gefälligkeitsgutachten aus Liebe durchaus eine Rolle spielen.45 Andererseits sieht Luhmann speziell die Funktion
Niklas Luhmann: Macht. 2. Aufl. Stuttgart 1988, S. 91 ff. René König: Art. „Institution“. In: Ders. (Hg.): Soziologie. Umgearbeitete und erw. Neuausgabe, Frankfurt a. M. 1967, S. 142–148, hier S. 143. So werden die Konzepte von Codierung, Generalisierung, Asymmetrie usw. sämtlich schon vorgetragen bei Luhmann, „Institutionalisierung“, S. 30, 32, 34. Mir selbst ist nur eine einzige Stelle bekannt, Niklas Luhmann: Warum AGIL?. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 40 (1988), S. 127–139, hier S. 135. Luhmann, Einführende Bemerkungen, S. 171. Von Luhmann in Fallstudien leider nicht verfolgt, vgl. aber Luhmann, Einführende Bemerkungen, S. 182. So Niklas Luhmann: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. 3. Aufl. Stuttgart 1989, S. 1, 27, 34. Luhmann kennt auch Zweitcodierungen, etwa für Wissenschaft Reputation und für Politik Legitimität, die hier aber außer Betracht bleiben können.
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der Liebe durch die anderen Medien kaum ersetzbar46 – wenn sie denn ernst gemeint ist.47 Bei einer monetären Transaktion etwa kann man sich unbegrenzt Gedanken darüber machen, warum jemand etwas veräußert, muss das aber nicht, die Inanspruchnahme des Mediums Geld enthebt gerade dieser Versuchung. Die „Reflexivität der Liebe“48 jedoch ist nachgerade ein Apriori, der mittlere Luhmann geht deshalb so weit anzunehmen, dass romantische Liebe und Geld „ihre Perfektion erst in der Gegenseitigkeit“ erzielen: Während Zahlungen das Erleben und Handeln von Ego und Alter unendlich vereinfachen, schafft Liebe in der kommunikativen Dyade einen unendlichen Kosmos für zwei.49 Dies muss sich gesellschaftshistorisch offenbar erst einspielen – und wird vornehmlich von Literatur registriert. Besonders, dass Liebe, Macht und Geld sich nicht selten ungut überlagern, ist heute hinreichend bekannt, soll aber als mitgeführter Lernprozess in der deutschen und französischen Literatur des 19. Jahrhunderts exemplarisch aufgezeigt werden. Deshalb: Romantische Liebe ist kein Code,50 sondern ein seit ca. 1800 historisch gewachsenes „Programm“, wozu Reflexion auf die Unwahrscheinlichkeit der Liebe und ihre Implikationen für Individualität zählen, Probleme des Alltags, ihre Dauerhaftigkeit usw., mitgeteilt über fiktionale Literatur, Traktate, Aphorismen u. ä.51 Nach Luhmann ist dieses Programm auch heute noch grundsätzlich intakt: Leidenschaftlichkeit, Dauerhaftigkeit, Konstitution und Abgrenzung einer dyadischen Intimbeziehung
Luhmann, Liebe. Eine Übung, S. 24 f. Luhmann, Liebe als Passion, S. 156, 179; ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 347, fasziniert seit je her, dass Aufrichtigkeit inkommunikabel ist: Wer sie beteuert, macht sich bereits verdächtig, wer sie einfordert, hat schon kein Vertrauen mehr. Luhmann, Systemtheorie der Gesellschaft, S. 500. Luhmann, Systemtheorie der Gesellschaft, S. 505. Dies wird immer wieder missverstanden. Bei Eva Illouz: Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus. Vorw. v. Axel Honneth, übers. v. Andreas Wirthensohn. Frankfurt a. M./New York 2003, S. 171–172, etwa wird Luhmanns Entwurf zwar genannt, aber nicht ansatzweise erfasst: Es gibt, anders als Illouz meint, keinen romantischen „Code“ der Liebe. Programme erst, worunter man Texte, Hits, Spielfilme, Ideologien, Habitualitäten usw. verstehen kann (Stichwort ‚Werther-Mode‘, Begeisterung für den Titanic-Film 1997 usw.), sorgen für das Fleisch an den semantischen Strukturen der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien, eine bloße, freischwebende Duplikationsregel wäre natürlich völlig untauglich, den Fluss sozialer Kommunikation zu regulieren. Dazu Luhmann: ‚Distinction directrices‘. Über Codierung von Semantiken und Systemen. In: Ders.: Soziologische Aufklärung, Bd. 4. Opladen 1987, S. 13–31, hier S. 14–16; Ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 362.
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gegenüber der Umwelt zählen noch immer, man möchte sagen, zu den erwartbaren Standards und Verpflichtungen für diejenigen, die sich auf Liebe einlassen.52
2 Hegels Hohn Und damit endlich bin ich beim Thema, ist romantische Liebe lebbar? Das Dilemma wurde von Hegel, „dem großen Empiriker“,53 illusionslos auf den Punkt gebracht. Obwohl die Einlassung bekannt ist, lohnt die „Auflösung des Romantischen“, das er auch als „Romanhaftes“ stigmatisiert, ein ausführliches Zitat. Durch die Säkularisierung verändert sich auch die Ritterlichkeit der in neueren Romanen agierenden Helden. Sie stehen als Individuen mit ihren subjektiven Zwecken der Liebe, Ehre, Ehrsucht oder mit ihren Idealen der Weltverbesserung dieser bestehenden Ordnung und Prosa der Wirklichkeit gegenüber, die ihnen von allen Seiten Schwierigkeiten in den Weg legt. Da schrauben sich nun die subjektiven Wünsche und Forderungen in diesem Gegensatze ins Unermeßliche in die Höhe; denn jeder findet vor sich eine bezauberte, für ihn ganz ungehörige Welt, die er bekämpfen muß, weil sie sich gegen ihn sperrt und in ihrer spröden Festigkeit seinen Leidenschaften nicht nachgibt, sondern den Willen eines Vaters, einer Tante, bürgerliche Verhältnisse usf. als ein Hindernis vorschiebt. Besonders sind Jünglinge diese neuen Ritter, die sich durch den Weltlauf, der sich statt ihrer Ideale realisiert, durchschlagen müssen und es nun für ein Unglück halten, daß es überhaupt Famile, bürgerliche Gesellschaft, Staat, Gesetze, Berufsgeschäfte usf. gibt, weil diese substantiellen Lebensbeziehungen sich mit ihren Schranken grausam den Idealen und dem unendlichen Rechte des Herzens entgegensetzen. Nun gilt es, ein Loch in die Ordnung der Dinge hineinzustoßen, die Welt zu verändern, zu verbessern oder ihr zum Trotz sich wenigstens einen Himmel auf Erden herauszuschneiden: das Mädchen, wie es sein soll, sich zu suchen, es zu finden und es nun den schlimmen Verwandten oder sonstigen Mißverhältnissen abzugewinnen, abzuerobern oder abzutrotzen. Diese Kämpfe nun aber sind in der modernen Welt nichts Weiteres als die Lehrjahre, die Erziehung des Individuums an der vorhandenen Wirklichkeit, und erhalten dadurch ihren wahren Sinn. Denn das Ende solcher Lehrjahre besteht darin, daß sich das Subjekt seine Hörner abläuft, mit seinem Wünschen und
Allerdings deutet der tastende Ausblick in Luhmann, Liebe als Passion, S. 204, 208, 213 f. an, dass sich etwas ändern könnte: Zunehmende Schwierigkeiten bei der Partnersuche wegen übersteigerter Individualisierung, Abbau der Geschlechterdifferenz, gesellschaftliche Akzeptanz des „‚Zusammenlebens‘“ und „Problemorientierung“ statt Passion (damals als ‚Beziehungskiste‘ geläufig) werden genannt. Der ‚Lebensabschnittspartner‘ aber war 1982 noch nicht auf den Begriff gebracht. Odo Marquard: Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen zum Menschen. In: Ders.: Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen. Stuttgart 1986, S. 117–139, hier S. 117.
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Meinen sich in die bestehenden Verhältnisse hineinbildet, in die Verkettung der Welt eintritt und in ihr sich einen angemessenen Standpunkt erwirbt. Mag einer auch noch soviel sich mit der Welt herumgezankt haben, umhergeschoben worden sein, zuletzt bekommt er meistens doch sein Mädchen und irgendeine Stellung, heiratet und wird ein Philister so gut wie die anderen auch; die Frau steht der Haushaltung vor, Kinder bleiben nicht aus, das angebetete Weib, das erst die Einzige, ein Engel war, nimmt sich ungefähr so aus wie alle anderen, das Amt gibt Arbeit und Verdrießlichkeiten, die Ehe Hauskreuz, und so ist der ganze Katzenjammer der übrigen da.54
Man kann folglich sagen, die Literatur ab ca. 1830 hat die Wahl, sich den Realitäten zu stellen – oder, wie vom späten Tieck in Des Lebens Überfluß (1839) dargetan, die Liebe als asozialen Rückzug von der Gesellschaft zu imaginieren: Heinrich und Clara verfeuern in einem harten Winter die hölzerne Eingangstreppe zu ihrem winzigen Haus, um künftig „völlig von allem Verkehr mit den Menschen abgeschnitten“ zu leben.55 Auffällig ist an dieser mit literarischen Referenzen (u. a. Wieland, Jean Paul, Goethe, Kant, Friedrich Schlegel, Cervantes) nur so gespickten Novelle zweierlei, sie ist, womöglich absichtsvoll, ganz ohne räumlichen (also ubiquitären?), nicht aber zeitlichen Bezug gestaltet,56 doch die romantischen Programme der Liebe greifen hier nicht mehr, der Ausweg eines Rückzugs in die Idylle nimmt sich selbst nicht ernst, er wird ironisiert – wofür schon der Titel der Novelle einsteht. Klar ist nur, zum Realismus bzw. einer Konfrontation mit der „trüben Wirklichkeit“57 führen Manöver der Selbstisolation nicht mehr.
3 Stendhals Liebesarena Der Auftakt der hier interessierenden Epoche ist vielmehr mit Stendhal markiert. Man hat lange gerätselt, warum gerade diese „doch nicht eigentlich [...] große Figur“,58 die Autoren wie Flaubert oder Zola keinesfalls als Vorläufer anerkennen wollten, für Realismus einstehen sollte: Die hölzern-unrealistischen Introspektio-
Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik II. In: Ders.: Werke. Bd. 14. Hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1986, S. 219–220. Ludwig Tieck: Des Lebens Überfluß. In: Ders.: Schriften in zwölf Bänden. Bd. 12: Schriften 1836–1852. Hg. v. Uwe Schweikert. Frankfurt a. M. 1986, S. 193–249, hier S. 217, 232, 238–239. So werden etwa die europäische Cholera-Epidemie 1831 und die französischen Jünger „Sänct Simon[s]“ genannt, Tieck, S. 193, 245. Tieck, S. 237. Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. 9. Aufl. Tübingen 1994, S. 426.
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nen, nachlässigen Motivationen sowie unwahrscheinlichen Sujets, Detailarmut und generelle Unsinnlichkeit des Erzählens stehen gegen Aktualismus, Gespür für sozialen Wandel und Erschließung einer postrevolutionär differenzierteren Wirklichkeit pro Realismus; Hans Ulrich Gumbrecht hat den Autor noch zu einem zentralen Vertreter des Leidens an der Foucault’schen Krise der Repräsentation ernannt.59 Mir hingegen scheint, dass Stendhal ob der konsequenten Einführung durchweg negativer Helden Aufmerksamkeit verdient, denn recht eigentlich ist Julien Sorel aus Le rouge et le noir bloß ein Ehrgeizling mit Hang zur eitlen Pose, für den man schwerlich Sympathien aufbringen kann, Fabricio del Dongo aus der Chartreuse de Parme dagegen, wie schon Balzac 1840 notierte, ein belangloser Tölpel, bei dem man sich wundert, wie es eine solche Figur zum Erzbischof bringen soll.60 Die von Stendhals gleichsam residualem Romantizismus aus konstruierten ‚großen Gestalten‘ in dürftiger Zeit61 nehmen ebenfalls wenig ein, Gina Sanseverina-Taxis gibt einen Giftmord in Auftrag, Mathildes fixe Idee einer Postfiguration der Liebesbeziehung ihres Vorfahrens Boniface de la Môle mit Margarete von Valois/Navarra und dessen Ende am 30. April 1574, dann ihre Ausstaffierung einer Grotte mit edlen Marmorskulpturen zu Sorels Gedenken ist um 1830 nur noch lächerlich.62 Hier aber geht es wesentlich um die Liebe, kaum erst um die Ökonomie. Anders als es marxistische Lektüren, die Rede vom Kapitalismus und der Breitbandbegriff ‚bürgerliche‘ Gesellschaft über Jahrzehnte suggerierten, ist ein echter Sinn für wirtschaftliche Zusammenhänge weder bei Stendhal noch Balzac zu verzeichnen, die Datierung der französischen Industrialisierung und einer damit korre-
„[M]al écrit et incompréhensible, comme caractères et intentions“, befand Gustave Flaubert im Brief an Louise Colet vom 22. November 1852, in: Ders.: Correspondance II. Juillet 1851–décembre 1852. Hg. v. Jean Bruneau. Paris 1980, S. 179; Émile Zola: Les romanciers naturalistes. Paris 1928, S. 106–107, dünkt Sorels Werdegang so realistisch wie d‘Artagnans aus den Drei Musketieren. Aktualismus und Unsinnlichkeit: Hugo Friedrich: Drei Klassiker des französischen Romans. Stendhal – Balzac – Flaubert. 8. Aufl. Frankfurt a. M. 1980, S. 23, 75; Realitätserschließung: Walther Killy: Wirklichkeit und Kunstcharakter. Romane des 19. Jahrhunderts. Göttingen 1963, S. 71; Unmöglichkeit des Sorel’schen Aufstiegs: Rainer Warning: Die Phantasie der Realisten. München 1999, S. 28; Transgression des Klassenantagonismus von Aristokratie und Bourgoisie: Jacques Dubois: Les romanciers du réel. Paris 2000, S. 195, 199; Hans Ulrich Gumbrecht: Stendhals nervöser Ernst. In: Karl Heinz Bohrer (Hg.): Sprachen der Ironie – Sprachen des Ernstes. Frankfurt a. M. 2000, S. 206–232, bes. 213–224. Honoré de Balzac: Étude sur M. Beyle. In: Stendhal: La chartreuse de Parme. Paris 1846, S. 484–519, hier S. 515–516. Für Friedrich, Klassiker des französischen Romans, S. 40–45, 56, und viele andere Stendhals eigentliches Thema. Stendhal: Le rouge et le noir II. In: Ders.: Œuvres complètes. Bd. 2. Hg. v. Victor del Litto u. Ernest Abravanel. Genf 1968, S. 128–131, 484–485.
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spondierenden Klassengesellschaft muss ohnehin kräftig nach vorn korrigiert werden.63 Hans-Peter Müller hat jüngst daran erinnert, dass von Kapitalismus nur gesprochen werden sollte, wo eine erwerbswirtschaftliche Bedarfsdeckung durch Unternehmen auf der Grundlage rationaler Kapitalrechnung stattfindet. Kapitalistisch ist eine Epoche dann, wenn die Bedarfsdeckung ohne deren kapitalistische Organisation zusammenbrechen würde.64
Damit liegt auf der Hand, dass die Kerngesellschaften Kontinentaleuropas nicht vor Mitte des 19. Jahrhunderts ‚kapitalisiert‘ waren, was Stendhal und Balzac nicht mehr erleben konnten. Fraglos aber ist zunächst ein Blick in Stendhals De l‘amour geboten, das 1822, also vor den großen Romanen und Erzählfragmenten entstand. Er unterscheidet in seinem berühmten Modell der „cristallisation“ nach dem Vorbild eines Zweiges, an dem sich, getaucht in den Schacht eines Salzbergwerkes, nach einigen Monaten feinste Kristallstrukturen anlagern, sieben Stufen des Sich-Verliebens.65 Diese müssen hier nicht referiert werden, bemerkenswert allein ist, dass Stendhal diesen Vorgang als rein autologischen Reflexionsprozess beschreibt, bei dem der ‚Gegenstand‘ der Attribution auffällig gleichgültig ist, [o]n se plaît à orner de mille perfections une femme de l‘amour de laquelle on est sûr; on se détaille tout son bonheur avec une complaisance infinie. Cela se réduit à s’exagérer une propriété superbe, qui vient de nous tomber au ciel, que l‘on ne connaît pas, et de la possession de laquelle on est assuré.66
Stendhals Liebeskonzept ist nichts anderes als über Bande gespielter „égotisme“, oder, mit dem traditionelleren Begriff der französischen Tradition, amour-propre, Autosuggestion, ja Selbstverhexung; am deutlichsten im Lucien Leuwen, wo sich die Verliebtheit als Folgeprodukt der Schmach des Titelhelden ergibt, vor Madame de Chasteller kurz hintereinander gleich zweimal vom Pferd gefallen zu sein – was die Augenzeugin genau erfasst.67 De l‘amour aber ist tatsächlich eine Programmschrift, deren Handlungsanweisung in den fiktionalen Texten immer
Wolfgang Mager: Frankreich vom Ancien Régime zur Moderne. Wirtschafts-, Gesellschaftsund politische Institutionengeschichte 1630–1830. Stuttgart 1980, S. 194–203; Heinz-Gerhard Haupt: Sozialgeschichte Frankreichs seit 1789. Frankfurt a. M. 1989, S. 78–83, 222. Hans-Peter Müller: Max Weber. Eine Spurensuche. Berlin 2020, S. 368. Stendhal: De l‘amour. Hg. v. Henri Martineau. Paris 1972, S. 8–11. Stendhal, De l‘amour, S. 8. Es sei auch auf die Valenz der Metapher hingedeutet: Der Zweig mag nicht mehr „reconnaître“ sein, S. 9, die Kristalle aber wären rückstandslos wieder zu entfernen!. Stendhal: Lucien Leuwen I. In: Ders.: Œuvres complètes. Bd. 9. Hg. v. Victor del Litto u. Ernest Abravanel. Genf 1967, S. 273, „‚Son amour-propre se rappelle sans doute, pensa-t-elle,
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wieder exekutiert wird, nur die Personen bzw. ihre Namen werden ausgetauscht. So rubriziert Stendhal etwa den ersten Händedruck einer geliebten Frau als das „plus grand bonheur que puisse donner l‘amour“68 und führt ihn in der Gartenszene von Le rouge et le noir auf: Julien spürt, dass die Gelegenheit günstig ist, um Madame de Rênal zu überfahren, ergreift ihre Hand, die zurückgezogen wird, ergreift sie noch einmal, schon schwächere Gegenwehr, dann verbleibt sie in der seinen. Nun das für die sentimentalen Konventionen des frühen 19. Jahrhunderts Ungeheuerliche, „non qu‘il aimât madame de Rênal, mais un affreux supplice venait de cesser“.69 Das ist die Standardsituation. Völlig gleich, ob sich Sorel und Mathilde de la Mole, Lucien Leuwen und Madame de Chasteller oder Fabrizio del Dongo und Clelia Conti umtanzen und belauern, immer70 geht es bei der „chasse de l‘amour“71 darum, die (übrigens stets blonde und blasse) Begehrte, die allerdings selbst sehr wohl auf der Hut ist, zu übertölpeln, zu erlegen, in Besitz zu nehmen. Mathilde, aus deren Augen „une grande froideur d‘âme“ spricht,72 hasst Sorel, der darin nicht nachsteht, zunächst inbrünstig, das gehört dazu, macht es die Jagd doch aufregender. Wer obsiegt? Stendhal lässt Vorteil gelten – und bald schon höchste Wonne: „Elle avait été méprisée par Julien, et ne pouvait le mépriser. Julien était au comble du bonheur“.73 Simmel identifizierte in einer seiner kühneren, gleichwohl subtilen sozialphilosophischen Spekulationen einen „apriorischen Kampfinstinkt“,74 der sämtliche Sozialverhältnisse von der Gemeinschaft „primitiver Gruppen“ bis zu den modernen Geschlechterverhältnissen grundiere,75 um noch die ‚Seele‘ als wesentlich apotropäische zu fassen: Nichts spreche dagegen, dass sie „nicht auch ein in ihr autochthones Bedürfnis,
que je l‘ai vu tomber de cheval le jour de l‘arrivée du régiment de lanciers.‘ [...] Et le beau cheval de ce jeune officier devenait ombrageux précisément quand elle pouvait l‘apercevoir!“. Stendhal, De l‘amour, S. 95. Stendhal: Le rouge et le noir I. In: Ders.: Œuvres complètes. Bd. 1. Hg. v. Victor del Litto u. Ernest Abravanel. Genf 1967, S. 95–96. Georg Lukács: Balzac und der französische Realismus. In: Ders.: Werke, Bd. 6: Probleme des Realismus III: Der historische Roman. Neuwied 1965, S. 431–521, hier S. 497–498, hat bemerkt, dass Stendhal immer wieder denselben Typus gestalte; ähnlich Friedrich, S. 41 f. Stendhal: La chartreuse de Parme II. In: Ders.: Œuvres complètes. Bd. 25. Hg. v. Victor del Litto u. Ernest Abravanel. Genf 1968, S. 3. Stendhal: Le rouge et le noir II, S. 29. Ebd., S. 117. Georg Simmel: Der Mensch als Feind. In: Ders.: Gesamtausgabe. Bd. 8: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908 II. Hg. v. Alessandro Cavalli u. Volkhard Krech. Frankfurt a.M. 1993, S. 335–343, hier S. 336. Simmel, Der Mensch als Feind, S. 339, 343.
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zu hassen und zu kämpfen besäße“.76 Man möchte meinen, auch Simmel habe gerade seinen Stendhal gelesen, doch deutlicher als in den großen epischen Entwürfen, die traditionell Deutungen als Zeitromane erfahren, wird dessen zutiefst agonale Sicht der Gesellschaft in den kleineren Erzählversuchen und -fragmenten wie Une Position sociale, Féder oder Le Rose et le vert.77 Selbst der in De l‘amour enthaltene, von Luhmann ob seiner Theoriehaltigkeit gepriesene, streng nach dem Sieben-Stufen-Modell konstruierte Kurzroman „Ernestine ou la naissance de l‘amour“ macht da keine Ausnahme. Um ihr den ennui zu vertreiben (!), induziert Philippe Astézan bei der 17-jährigen Ernestine, die er gar nicht kennt, erfolgreich die Selbstverhexung – die ihn dann kurzfristig selbst ereilt.78 Das ist Stendhals ureigenstes Sujet, „laissez travailler la tête d‘un amant pendant vingt-quatre heures, et voici ce que vous trouverez“.79 Wenn aber gilt, „Liebe hat sich im Alltag, nicht als Alltag zu bewähren“,80 wird deutlich, wie vollgültige romantische Liebe im Sinne Luhmanns, dass zwei ihren je eigenen Erlebnishorizont tatsächlich füreinander bereitstellen, beide bei ausnahmslos jeder Aktion mitreflektieren, dass sie Relevanz auch in der Welt des anderen hat, bei Stendhal gar nicht vorkommt – so wenig, wie er sich für das Wunder der auf Dauer gestellten Liebe interessiert, immer geht es nur um Liebesanbahnung und folgende Selbstverhexung. Jedem Leser muss dabei auffallen, dass die stereotypen Konstellationen mit polemogenen Vokabeln wie ‚lutte‘, ‚duel‘, ‚attaque‘, Reizvokabeln und zentralen Konzepten barocker Herrschaftspraxeologie wie ‚desinvoltura‘, ‚simulatio‘ und ‚dissimulatio‘ überwölbt sind.81 Kurzum, jeder Sozialkontakt, besonders aber die Liebe als gefährlichster, ist bei Stendhal eine Arena, in der man einen Sieg davonträgt oder unterliegt; Blicke, Gesten, Mienenspiel und noch die verräterische „Bildschirmhaut“82 müssen peinlichst genau beherrscht werden. Daher ist der Autor interaktionstheoretisch eine Fundgrube, selbst die vermeintlich zwanglos-‚herrschaftsfreie‘ Geselligkeit des Salons, für die Romantiker Inbegriff einer symphilosophischen Solidargemeinschaft, in
Simmel, Der Mensch als Feind, S. 338. Dazu Ingo Meyer: Protosoziologie. Stendhals Interaktionismus und die agonale Konzeption der Geselligkeit. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 38/1 (2013), S. 1–30, bes. S. 18–25. Stendhal, De l‘amour, S. 352–378. Luhmann, Liebe als Passion, S. 168, fasziniert hier, dass sogar (gerade?) ausbleibende Kommunikation Liebe provoziert. Stendhal, De l‘amour, S. 8. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 406. Meyer, Protosoziologie, S. 14–25. Erving Goffman: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt a. M. 1977, S. 240.
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der jeder sein Bestes gibt, um „die höheren Ziele des menschlichen Daseins“83 anzustreben, ist hier als besonders glattes Parkett agonal konstituiert.84 Das Gesicht zu verlieren bzw. seine Gefühle zu verraten, ist das Fatalste, was in Stendhals „Schamkultur“85 der Masken und Manöver überhaupt passieren kann. Wie aber soll so eine Öffnung des einen auf den anderen überhaupt statthaben? Es wurde zwar betont, wie sehr sich der Autor bemühe, die Romantik zu überwinden,86 wissenssoziologisch aber ist er dort noch gar nicht angekommen, sondern steht tief im 18., ja mehr noch im 17., dem eigentlich höfischen Jahrhundert, seine Romane lesen sich wie ein langer Kommentar zu Graciáns Oraculo manual, y arte de prudencia von 1647 und weisen en détail voraus auf Goffman’sche Analysen.87 Dass dies einer realistischen Liebesauffassung, ja negativen Anthropologie affiner ist als romantische Konzeptionen, sei nicht bestritten, nur eben, schon Vertrauen kennen Stendhals Figuren nicht, außerhalb der Selbstreflexion spricht kaum jemand die Wahrheit, Geld allein zwar macht nicht unglücklich, viel wichtiger freilich ist allen der Ruhm. Liebe und Macht als „Neutralisierung des Willens, nicht unbedingt [...] Brechung“88 des Anderen aber sind bei Stendhal schlicht identisch.
4 Ganz Paris ein Bordell? Balzacs La Cousine Bette Anders bei Balzac, schon Stefan Zweig bemerkte nicht nur, dass er „das Geld in den Roman gebracht“ habe, sondern registrierte auch dessen Nähe zur Erotik.89 Adorno hat dann, leicht freudianisch, hinter Balzacs „tableau économique der Gesellschaft“ das Movens unterdrückter Leidenschaften ermittelt.90 Ein Geheim-
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Versuch einer Theorie des geselligen Betragens. In: Ders.: Werke. Auswahl in vier Bänden. Hg. v. Otto Braun u. Johannes Bauer. Bd. 2. 2. Aufl. Leipzig 1927, S. 1–31, hier S. 7. Meyer, Protosoziologie, S. 18. Der Begriff von Eric R. Dodds. Die Griechen und das Irrationale. Übers. v. Hermann-Josef Dirksen. Darmstadt 1970, S. 16. Friedrich, Klassiker des französischen Romans, S. 35, 47. Meyer, Protosoziologie, S. 14. Luhmann, Macht, S. 11. Stefan Zweig: Balzac. In: Ders.: Gesammelte Werke in Einzelbänden: Drei Meister. Balzac – Dickens – Dostojewski. Frankfurt a. M. 1981, S. 13–48, hier S. 46. Theodor W. Adorno: Balzac-Lektüre. In: Ders.: Noten zur Literatur. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1981, S. 139–157, hier S. 142, 145–146.
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nis ist dieser Motivkomplex als „acteur obscur et terrible“, der geradezu „le nerf de la guerre sociale“ abgebe,91 also mitnichten, er wird in der Forschung regelmäßig reflektiert.92 Auch Balzac macht es dem heutigen Leser nicht leicht, der belehrende Tonfall mit seinen permanent „typisierenden Deiktika“,93 den Pseudo-, eher selten treffenden Weisheiten, der naseweisen Psychologie, die noch nicht die Evidenz derjenigen von Flaubert oder Zola heischt, die überstürzte Handlungsführung und der wuchernde, rhetorisch kaum kontrollierte Stil, alles auf einen hochgradig geführten, ja entmündigten Leser hinauslaufend,94 nehmen wenig für ihn ein. Als Symptom bleibt Balzac natürlich relevant, auch wenn das Thema Geld noch nicht das der Ökonomie überhaupt ist. Zeitgenössisch in Deutschland kaum rezipiert, hat Georg Lukács im Anschluss an Marx/Engels, deren Bewunderung Balzacs als Analytiker der französischen Gesellschaft von 1815 bis 1848 bekannt ist, seine berühmte literatursoziologische Prämisse expliziert, dass es aufschlussreicher sein kann, Texte bewusst gegen die Intention des Autors zu lesen.95 Für Auerbach gibt Balzac „atmosphärische Realistik“, Roland Barthes treibt in S/Z die strukturale Lektüre zum postmodernen Umschlag, indem er sich fortan für „das Plurale des Texts“, „Zerstreuung“ und „Digression“ interessierte;96 gerade die deutsche Romanistik dann bemühte sich während der Hochzeit der Funktionsgeschichte mit erheblichem Theorieaufwand um eine Würdigung der Balzac’schen Gesamtkonzeption.97
Dubois, S. 182. Siehe nur Alexandre Péraud: Le Crédit dans la poétique balzacienne. Paris 2012; zuletzt hat – allerdings lediglich allusiv – Francesco Spandri: De la ‚vérité pécuniaire‘ à la vérité littéraire: l‘usurier et le banquier chez Balzac. In: Revue italienne d‘études françaises 10 (2020), S. 1–10, hier S. 5–6, den Wucherer und Bankier als ‚autoreflexive‘ Figuren der Balzac’schen Poetik behauptet, arbeite doch auch der Autor strategisch mit Täuschungen, Simulationen Hochstapeleien usw. Erkennbar ist das der modische Versuch einer ‚Verkörperung‘ von Theoremen im fiktionalen Personal. Rainer Warning: Chaos und Kosmos. Kontingenzbewältigung in der ‚Comédie humaine‘. In: Ders.: Karlheinz Stierle, Hans Ulrich Gumbrecht (Hg.): Honoré de Balzac. München 1980, S. 9–55, hier S. 40. Warning, S. 44. Lukács, S. 443, 457, 466, vgl. Friedrich Engels: Briefentwurf an Margaret Harkness v. Anfang April 1888, in: Ders./Karl Marx: Werke. Bd. 37. Hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin 1967, S. 42–44, hier S. 44; Karl Marx. Das Kapital III. Ebd. Bd. 25. Hg. v. dens. 1964, S. 49. Engels’ Text hat mit seiner Definition „Realismus bedeutet [...] außer der Treue des Details die getreue Wiedergabe typischer Charaktere unter typischen Umständen“, S. 42, als erstes Gebot der marxistischen Realismusdebatten bekanntlich eine fatale Rolle gespielt. Roland Barthes: S/Z. Übers. v. Jürgen Hoch. Frankfurt a. M. 1976, S. 16–17. Auerbach, S. 441; in der Exegese von Sujetführung, Melodramatisierung, Modellierung sozialen Wandels und stilistischer Details bisher unübertroffen ist Warning, passim.
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Hugo Friedrich hat mit La Cousine Bette von 1846 den realistisch „mächtigsten Roman Balzacs“ gelesen,98 Wolfgang Preisendanz jedoch die französische Erstedition bei Pétion mit ihrer Mikroparzellierung in 130 Einzelkapitel sowie den launigen Überschriften konsultiert und einen karnevalistischen Text identifiziert, dessen narratologische Struktur ‚Realismus‘ torpediere, ja eine „komische Zersetzung des Informationsgehalts“ überhaupt betreibe.99 Wohl im Sog von Barthes’ besonders im angloamerikanischen Sprachraum immens einflussreicher Deutung der Novelle Sarrasine – ein homosexueller Exeget interpretiert eine Novelle über einen Kastraten und akzentuiert dabei die Differenz von Zeichen, Stimme und Körper100 – hat James R. McGuire in Cousine Bette ein großangelegtes Panorama der „inversion of sexual roles“ erblickt.101 Das Tandem Lisbeth Fischer und Valérie Marneffe übernehme zeitweise die Herrschaft und usurpiere das Geld, „Bette’s vengeance takes the form of a conscious plot to undermine the patriarchal, heterosexual order in favor of love between women. [...] Lisbeth sets out to create a counter-universe founded on a dominant femininity“,102 bis die patriarchalische Ideologie wieder ihre Herrschaft restituiere. Daran ist nur wahr, dass Baron Montès als erster Liebhaber der Marneffe und Vertreter des virilen Prinzips an ihrer Ermordung als „catalytic character“ wesentlich beteiligt ist und Hulots Sohn Victorin (mit sprechendem Namen) die Aktion für, angesichts der zirkulierenden Summen und obwohl die Preise im Verlauf des Romans selbst kräftig angezogen haben, vergleichsweise günstige 80.000 Francs in Auftrag gibt.103 Allerdings sind solche Deutungen völlig abhängig von der gelegentlich als solche kolportierten ‚Lesben-Szene‘: „Es-tu belle, ce matin! dit Lisbeth en venant prendre Valérie par la taille et la baisant au front. Je jouis de tous tes plaisiers, de ta fortune, de ta toilette ... Je n‘ai vecu que depuis le jour où nous nous sommes faites sœurs ...“ (239).104 Wer diese (einzige) Stelle auf 450 Seiten als Indiz für lesbische Liebe zwischen den beiden ‚partners in crime‘ nimmt, weiß nichts von Umgangs-
Friedrich, S. 91. Wolfgang Preisendanz: Karnevalisierung der Erzählfunktion in Balzacs ‚Les parents pauvres‘. In: Honoré de Balzac, S. 391–410, hier S. 402–403, 399. Barthes, S. 112–121. James R. McGuire: The Feminine Conspiracy in Balzac’s ‚La Cousine Bette‘. In: Nineteenth-Century French Studies 20 (1992), S. 295–304, hier S. 296. Der Autor nennt allerdings keinerlei Forschung. McGuire, S. 299. McGuire, S. 301–302, vgl. Honoré de Balzac: La Cousine Bette. In: Ders.: La Comédie humaine. Bd. VII. Hg. v. Pierre-Georges Castex et al. (éd. Pléiade). Paris 1977, S. 55–451, hier S. 435. Alle Belege nach dieser Ausgabe im laufenden Text. Das Problem der ‚Lesben‘-Szene wird selbst in der Pléiade-Ausgabe kommentiert, vgl. S. 1307, doch die Beziehung „reste effectivement une énigme“.
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formen und Freundschaftsbeweisen im 19. Jahrhundert; natürlich küssten sich Frauen105 und besonders deutsche Schriftsteller schrieben sich Briefe in Stillagen, die uns Heutigen die Schamesröte ins Gesicht treiben. Homosexuell waren sie deshalb noch lange nicht. Die ‚arme Verwandte‘ Lisbeth Fischer, pekuniär und äußerlich benachteiligt, gerät in die Nähe der Familie des Barons Hector Hulot d‘Ervy und ihrer wunderschönen Cousine Adeline, worauf sie aus Neid und jahrelang angestauter Frustration versucht, die Familie mittels einer komplizierten Intrige in den Abgrund zu ziehen. Paris wird hier von Balzac einmal nicht als danteske Hölle gezeichnet, sondern gerät zum riesigen Bordell. Die Männer sind von, mit einem barocken Begriff, „geiler Brunst“ getrieben, deren Befriedigung eine ganze Armee von Luxusdirnen übernimmt, deren Unterhalt und Ausstaffierung jedoch täglich, so muss der Leser schließen, Millionen verschlingt. Wie Pawlow’sche Hunde sind Männer absolut lernunfähig, triviale Maschinen: Crevel, der selbst vom Erzähler verachtete Bourgeois, wird nach Kräften und reihum geschröpft; nachdem Hulot seine Familie herabgewirtschaftet und zuletzt staatliche Gelder veruntreut hat, auch die Pension gepfändet wurde, kann er, der noch als Greis eine Sechzehnjährige nicht verschmäht, das Mausen nicht lassen. Reumütig in den Kreis der Familie zurückgekehrt und vom nahen Tod seiner Adeline wissend, steigt er wenige Zeilen vor Romanende einer Dienstbotin in ihre Dachkammer nach, „‚[m]a femme n‘a pas longtemps à vivre, et si tu veux tu pourras être baronne‘“ (451). Was dann auch geschieht, die Heirat folgt auf dem Fuße. Steinbocks, des begabten polnischen Bildhauers, Kreativität versiegt sofort, sobald man ihm Frauen und Geld zuführt. Die Männer werden hier durchgereicht. Marneffe hingegen hat ‚es‘ schon hinter sich, die jahrelange Libertinage hat ein Wrack aus ihm gemacht, er ist „‚un mort qu‘on a oublié d‘enterrer‘“ (199). Es ist bekannt, dass die im Guten wie im Schlechten eigentlich profilscharfen Figuren bei Balzac die Frauen sind,106 Lisbeth richtet die Marneffe, zunächst nur eine verschüchterte Kleinbürgerin (143), zur Prostituierten ab, oder freundlicher: fördert ihr Talent und weist ihr ihre wahre Bestimmung. Diese hat größtes Vergnügen an ihrer neuen Berufung, sowohl sexuell als auch ideell, nichts bereitet größere Freude, als dumme Männer zu ruinieren, in diesem Vergnügen sind Lisbeth, Valérie (und natürlich auch die Konkurrentinnen/Kolleginnen wie Josépha Mirah) vereint. Valérie aber wird gleichsam zur Meta-Kurtisane stilisiert, die ganz
So küsst auch in Theodor Fontane: Frau Jenny Treibel oder ‚Wo sich Herz zum Herzen findt‘. Hg. u. Nachw. v. Helmuth Nürnberger. München 1994, S. 15, die Titelfigur ganz selbstverständlich Corinna Schmidt „auf die Stirn“, man wird hier aber ganz gewiss keine lesbische Beziehung unterstellen wollen. Siehe nur Dubois, S. 178–179.
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Paris korrumpiere, nur ein Giftmord, der zuerst grausam ihren unwiderstehlichen Körper entstellt, kann dieses Übel stoppen – und doch nimmt sie sich in der Agonie als „dernière coquetterie“ noch vor, bald auch den lieben Gott zu verführen (433). Die Pariser Prostituierten verschlingen Abermillionen für ihre Paläste voller Luxusausstattung mitsamt alten Meistern an den Wänden, Kutschen und Équipagen, den Salons und Diners, halten sich aber ihrerseits Galane, die sich wiederum Mätressen halten, die sich wiederum Galane halten usw. Man könnte versucht sein, hier à la Georges Bataille eine Logik der Verausgabung zu ermitteln, etwa in Konfrontation einer ‚homogenen‘ Gesellschaft der Geldwirtschaft mit der ‚heterogenen‘ der Erotik und des Schmutzes.107 Die Zirkularität der stets käuflichen Liebesbeziehungen in La Cousine Bette aber kennt weder Akkumulation noch Freisetzung überschüssiger kreativer Energien, es entsteht schlechterdings nichts und die Begierden sind sozial völlig konventionalisiert (also ‚homogen‘); man geht zu den Kurtisanen, es gehört sich so. Die für die Prostituierten aufgewandten Riesenbeträge hingegen verrinnen einfach, bestenfalls wechseln sie gelegentlich für kurze Zeit identifizierbare Besitzer. Doch woher das Geld kommt, interessiert hier niemanden,108 weshalb ein völlig ertragloses Null- oder besser Unsummenspiel des kaskadierenden Lasters vorliegt. Frauen werden gekauft, betont Valérie (226), das ist in diesem Roman das Normalste von der Welt, der Erzähler aber bekräftigt nachdrücklich (und hochmodern), dass Schönheit ein Marktwert sei (186). Diese Logik der Kapitalisierung von bloßen Körperreizen zur Korrumpierung von tout Paris ist neben dem Umstand, dass die Hauptdichotomie des Romans, ein Duell zwischen der ‚bête‘ Lisbeth und der als Märtyrerin inszenierten Adeline,109 niemals aufgedeckt wird, sondern von der Intrigantin als Geheimnis mit ins Grab genommen wird, wohl das
Bataille erfährt als Sozialtheoretiker soeben eine gewisse Renaissance, vgl. Markus Schroer: Rausch, Fest, Ekstase. Zur Lebenssoziologie von Georges Bataille. In: Heike Delitz, Frithjof Nungesser, Robert Seyfert (Hg.): Soziologien des Lebens. Überschreitung – Differenzierung – Kritik. Bielefeld 2018, S. 91–112. [Vgl. auch Artur Boelderls Beitrag in diesem Band, Aufhebungen der Ökonomie: Liebe und Krieg in Robert Musils Mannohne Eigenschaften, S. 285–299.] Eine Einsicht in wertschöpfende Faktoren sei bei Balzac noch nicht vorhanden, so Warning, S. 51. Karin Westerwelle: Ästhetisches Interesse und nervöse Krankheit. Balzac, Baudelaire, Flaubert. Stuttgart 1993, S. 205–225, hat versucht, die ‚nervenkranke‘ Adeline nicht nur als Registratur gesellschaftlicher Verwerfungen, sondern auch als Präfiguration einer modernen Produktionsästhetik der ‚art névrose‘ zu deuten. Allerdings zittert Lisbeth ebenfalls – und der in Erregung auch stets zitternde Bildhauer Sarassine aus der gleichnamigen Novelle wäre vielleicht ein besserer Kandidat für diese These gewesen.
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Bemerkenswerteste.110 Bei Adeline, die wissentlich-duldsam seit 23 Jahren betrogen wird, steht daher auch gar nicht die Liebe im Vordergrund, sondern ihre Repräsentanz der Ordnung,111 genauer: der Familie, neben Katholizismus und Königtum das dritte Standbein der Balzac’schen Ideologie einer intakten Gesellschaft. Die Kapitalisierung von Körperreizen aber ist derart virulent, dass selbst Adeline droht, ihr zu erliegen, wenn sie ob der finanziellen Bedrängnis der Familie entscheidet, sich Crevel, der sie schon lange begehrt, zu verkaufen. Ein Blick in den Spiegel überprüft vorher den Marktwert: Adeline, rentrée dans sa chambre, alla s‘examiner au miroir. Elle se contempla tristement et curieusement en se demandent à elle-même: ‚Suis-je encore belle? ... peut-on me désirer encore? ... Ai-je des rides ... ?‘ [...] [T]out était frais comme chez une jeune fille. (318)
Noch die Lichtgestalt des Romans also wird vom Gesetz der Prostitution ‚beschmutzt‘ – und es verblüfft, dass ausgerechnet Crevel plötzlich Größe zeigt, indem er die Offerte unter diesen Umständen zurückweist und das Geld auch ohne Gegenleistung zu geben bereit ist. Was also wird hier vorgeführt? Eine ständig auf Hochtouren laufende Lastermaschine, die allerhand soziale Fahrstuhleffekte zeitigt, was kommod geht mit Balzacs Konzeption der Comédie humaine als typologisierende Sittengeschichte eines in Unordnung geratenen Sozialgefüges. Ist all das aber, neben Balzacs bekannten Schwächen,112 realistisch? Auf der Handlungsebene wohl kaum – Baudelaire war der zeitgenössisch Einzige, der nicht zu Unrecht in Balzac noch einen romantischen Visionär erkannte, der seinen Kosmos ohne Rücksicht auf Wahrscheinlichkeit bevölkere.113 Nur romantische Liebe, die sich im Alltag bewährt, kommt auch hier nicht vor, sie ist bereits kein Thema mehr. Wie der Roman auf etlichen hundert Seiten suggeriert, ist für Männer ‚Liebe‘ ohne Geld nicht zu haben, Frauen aber sind prinzipiell prostitutionsfähig (und auch -willig). Nicht auszudenken, hätte dieser einst höchst erfolgreiche Roman
Warning, S. 41 f., weist darauf hin, wie Balzac insgesamt zu einer Opposition von „‚Histoire officielle‘ vs. ‚Histoire secrète‘“ tendiere. Der Autor schreibe nicht so sehr die vernachlässigte, sondern, wie im „Avant-propos“ ebenfalls in Anspruch genommen, vielmehr die versteckte Geschichte von Restauration und Julimonarchie. So Westerwelle, S. 213. Z. B. wird Hortenses Liebe zu Steinbock nicht ansatzweise motiviert, Joséphas Läuterung ist so unglaubwürdig wie Valéries; das Ende, wie so häufig bei Balzac, völlig überstürzt etc. Auch fragt man sich, wie es der schöne, doch außerordentlich dumme und feige Hulot d‘Ervy überhaupt zum napoleonischen General gebracht haben soll. Charles Baudelaire: Théophile Gautier. In: Ders.: Œuvres complètes. Hg. v. Yves-Gérard Dantec u. Claude Pichois (éd. Pléiade). Paris 1961, S. 675–700, hier S. 692.
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eine nennenswerte zeitgenössische Rezeption auch in Deutschland erfahren; eine seltene Ausnahme der Wahrnehmung Balzacs von 1858 betont, [h]eftige Liebe ohne Achtung, die Perle des Gefühls auf dem Miste käuflicher Gemeinheit, das ist das Thema, welches überall anklingt, im Leben sowohl wie in der Poesie. Mit solchen Zuständen muß natürlich die Verherrlichung der liederlichen Dirne und aller mit echter Poesie unvereinbaren Dinge dieser Art Hand in Hand gehen.114
Fraglos intoniert Cousine Bette eine „Polyphonie menschlicher Gemeinheit“ oder „Götterdämmerung der moralischen Welt“,115 doch auch Adornos Beobachtung des entfesselten Funktionszusammenhangs der Ökonomie bei Balzac116 ist nur die eine Seite der Medaille. Im Kern nämlich entfaltet gerade dieser Roman, welche Verzerrungen entstehen, wenn die „Konvertibilitätsverbote“ zwischen den, so lernt man hier, dafür besonders sensiblen Kommunikationsmedien Liebe und Geld konsequent missachtet werden, die verprassten Summen sind „der Barometerdruck der nahenden Katastrophen.“117 Dass dies vordergründig nicht ohne Komik geschieht, insgesamt aber ein eher bedrückendes Gefühl hinterlässt, spricht dann doch für, nicht gegen Balzacs Realismus.
5 Ein Medienvirtuose: Zolas Saccard Realismus, Naturalismus – säuberliche Trennungsversuche waren schon im späten 19. Jahrhundert vergeblich und sind auch heute nur noch auf der Ebene der Poetik sinnvoll, nicht mehr hinsichtlich der Profile von Einzeltexten.118 Émile Zola, der 1878 auf die Spannung hingewiesen hat, dass der moderne Schriftsteller Produkte anbiete und dennoch geistige Freiheit nur in materieller Absicherung durchhalten könne, weshalb er auf eine liberale Selbstregulierung des Marktes
Anonym: Der Realismus im französischen Roman. In: Gerhard Plumpe (Hg.): Theorie des bürgerlichen Realismus. Eine Textsammlung. Stuttgart 1985, S. 190–193, hier S. 193. Friedrich, S. 92; Karlheinz Stierle: Epische Naivität und bürgerliche Welt. Zur narrativen Struktur in Balzacs Werk. In: Honoré de Balzac, S. 175–217, hier S. 193. Adorno, S. 140. Zweig, S. 47. So schon Arnold Hauser: Kunst und Gesellschaft. München 1973, S. 16. Ich bin dem gefolgt in Ingo Meyer: Im ‚Banne der Wirklichkeit‘? Studien zum Problem des deutschen Realismus und seinen narrativ-symbolistischen Strategien. Würzburg 2009, S. 196–201. Kurzschlüssig dagegen Colette Becker: Lire le réalisme et le naturalisme. Paris 1992, S. VI–VII, wenn „des differences capitales“ zwischen beiden literarhistorischen Epochen beschworen werden, weil sich ja die Gesellschaft verändert habe.
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ohne jede Gratifikation des Staates setzte,119 versucht sich bekanntlich ähnlich wie Balzac an einer systematisch-‚wissenschaftlichen‘ Anlage seines Zyklus der Natur- und Sozialgeschichte nun aber einer Familie, die exemplarisch den Aufstieg und Niedergang des II. Empire, später dann gar der ganzen Menschheitsgeschichte120 repräsentieren soll. Ein Erbschaden, seine große Metapher für die Abirrung der Epoche Napoléons III. vom rechten Pfad der französischen Historie (aber wie sähe der aus?), sorgt dafür, dass beinahe alle Familienmitglieder der Rougon-Macquart unter hypertrophen Begierden/appetits leiden. Man hat diese Konzeption (und Zolas naive Auffassung vom Romancier als Experimentator etc.121) so häufig rekonstruiert wie schon zeitgenössisch verspottet,122 entscheidend ist hier nur, dass nun, anders als bei Balzac, die Konvertibilitätsverbote den Protagonisten sehr bewusst sind und von ihnen deshalb instrumentalisiert werden, während ihr Autor, ungeachtet seiner Vererbungstheorie, einsieht, dass sich unsere anthropologische Grundausstatttung der „appetits“ verschieden ausprägen kann. Zola etwa weiß in Au bonheur des dames, dass exzessiver Konsum bzw. Kaufrausch von vermögenden, doch sexuell frustrierten Bürgersfrauen als Ersatzbefriedigung gedeutet werden kann – und Kleptomanie dabei einen zusätzlichen ‚Kick‘ verschafft (III, 793). Wenn aber von Liebe und Ökonomie gehandelt werden soll, ist es geboten, Aristide Rougon, der sich Saccard nennt, ins Licht zu rücken,
Émile Zola: De l‘argent dans la littérature. In: Ders.: Le roman expérimental. Paris 1923, S. 157–202, hier S. 196–199, 202. Das literatursoziologische Problem, dass Normen und Erwartungshaltungen die geistige Freiheit und den ökonomischen Spielraum des Autors nicht unerheblich determinieren, hat er, S. 196, schulterzuckend beantwortet: „Une littérature n‘est pas que le produit d‘une société.“. So Zola im Abschlussband ‚Docteur Pascal‘, in: Ders.: Les Rougon-Macquart. Histoire naturelle et sociale d‘une famille sous le Second Empire (éd. Pléiade). Bd. 5. Hg. v. Armand Lanoux u. Henri Mitterand. Paris 1967, S. 913–1220, hier S. 1141: „[T]irer de l‘histoire naturelle et sociale de sa famille une vaste synthèse, un résumé, à large traits, de l‘humanité entière.“ Alle Nachweise aus den Rougon-Macquart fortan im laufenden Text (Bandzahl römisch, Seite arabisch). Zu Recht bemerkt Karl Korn: Zola in seiner Zeit. Frankfurt a. M. 1980, S. 68, dass der Autor „sein Leben lang ein Vulgarisator geistiger und ideologischer Inhalte gewesen ist.“ Ausführliche Rekonstruktion der Schwierigkeiten von Synchronie und (eher undeutlicher Diachronie) bei Hans Ulrich Gumbrecht: Zola im historischen Kontext. Für eine neue Lektüre des Rougon-Macquart-Zyklus. München 1978, bes. S. 11, 20, 32 f., 61 f. Gumbrecht erblickt das zentrale Manko in Zolas positivistischer Annahme, soziale und psychische Phänomene seien nicht komplexer als naturwissenschaftliche, S. 41 f. Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. München 1976, S. 126, erblickt im Roman expérimental schlicht ein „Fiasko“; zur zeitgenössischen Rezeption Dubois, S. 235; allgemein zur Theorieentwicklung Henri Mitterand: Zola et le naturalisme. Paris 1986, S. 19–68.
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einen zentralen Vertreter der dritten Generation der Familie, dem mit La curée und L‘argent gleich zwei Romane gewidmet werden. Der Held stattet sich mit einem sprechenden Namen aus, klinge Saccard doch so, als würde Gold zusammengeharkt (I, 334), und ist nicht primär am Reichtum selbst, sondern am Spiel, Risiko, an der Entfesselung der ökonomischen Zirkulation interessiert (I, 518). Auch Hochstapelei und Betrug sind ihm legitime Werkzeuge, das System in Betrieb zu halten; je komplizierter die Manöver und Transaktionen, desto mehr Lust zieht Saccard in deutlicher Analogie zum sexuellen Vorspiel und verzögertem Orgasmus aus ihnen (I, 526). Ein charakteristisches Leitmotiv ist daher sein Stochern in und Wiederbeleben von Kaminasche, wenn er neue Manöver ausheckt (I, 461, 521; V, 215), Keim, Höhepunkt und Niedergang seiner Geschäfte sind hier in einem Bild verdichtet. In Paris kann er es kaum erwarten, „pour y pétrir l‘or de ses mains fiévreuses, comme une cire molle“ (I, 362). Äußerlich muss man sich diesen nicht eigentlich attraktiven Typus mit seinem verschlagenen, ‚schwärzlichen‘ Gesicht („noirâtre“, I, 574) wohl wie Nicolas Sarkozy vorstellen, der ebenfalls eine Frau geheiratet hat, die ihn deutlich überragt. La curée (dt. ‚Treibjagd‘, auch ‚Jagdbeute‘) von 1872, ein Roman, dessen naturalistische Beschreibungswut fast in ästhetizistische Dimensionen umschlägt, hat damals europaweit Skandal gemacht123 – nicht so sehr, weil Zola sich bemüht, die Spekulationen und Betrügereien während der Haussmannisierung von Paris, an der Saccard durch Insiderwissen wesentlich partizipiert, darzustellen, sondern aus moralischen Gründen; der Vorabdruck des Romans musste im Herbst 1871 abgebrochen werden. Warum? Saccard kann den Tod seiner ersten, für ihn ‚wertlosen‘ Frau Angélique kaum erwarten und heiratet die hochgewachsene, fremdartig schöne, doch ‚gefallene‘ Renée aus bestem Hause, da er ihre Mitgift von 700.000 Francs als Startkapital benötigt und ebenso weiß, dass eine attraktive Frau an der Seite eines Mannes auch diesen aufwertet, „elle était une associée, une complice sans le savoir“ (I, 420). Renée ist so bezaubernd, dass selbst Napoléon III. auf einem Ball nicht umhinkann, ihr ein obszönes Kompliment zu machen, was sie für den Höhepunkt ihres Lebens hält (I, 440). Bald so dekadent wie ihr Stiefsohn Maxime, degeneriert sie zum Objekt, ihr fehlt völlig die Kraft, sich gegen den Sog von Luxus und Ausschweifung aufzulehnen. Saccard hingegen ist der moderne Geschäftstyp, Repräsentation, ja Verschwendung ist unverzichtbares
Eine Erinnerung an dieses noch fast 30 Jahre später bei Georg Simmel: Philosophie des Geldes. In: Ders.: Gesamtausgabe, Bd. 6. Hg. v. David P. Frisby u. Klaus Christian Köhnke 1989, S. 525.
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Medium des Betriebs, auch wenn das Vermögen jeden Morgen erneut auf dem Spiel steht, neu erobert werden muss: Saccard en était arrivé à un tour de force quotidien. Il habitait un hôtel de deux millions, il vivait sur le pied d‘une dotation de prince, et certains matins il n‘avait pas mille francs dans sa caisse. Ses dépenses ne paraissaient pas diminuer. Il vivait sur la dette, parmi un peuple de créanciers qui engloutissaient au jour le jour les bénéfices scandaleux qu‘il réalisait dans certaines affaires. (I, 462)
Ob Saccard, der nichts dagegen hat, dass sich Renée mit anderen Männern, darunter eben auch Maxime, vergnügt,124 seine Frau de facto prostituiert, bleibt unklar. Im metaphorischen Sinn jedoch geschieht das unbedingt, die ehelichen Bande sind die lockersten, doch sie, ein bloßes Aushängeschild, erhält in völliger Abhängigkeit gleichsam als Kompensation stets so viel Geld, wie sie beliebt (I, 420). Wie oft bemerkt, wird Renée als Phädra inszeniert (I, 508–509) und ist die Göttin einer androgynen Erotik in ihrem neureich-eklektischen Palast am Parc Monceau, zu dem alles gravitiert; ein Katalysator, der Saccards Spekulationsgeschäfte schmiert. Interessanterweise begehrt er sie nur, wenn sie erniedrigt ist – und auch ihre Liebhaber werden ihr erst dann bemerkenswert, wenn sie schlecht behandelt, ja beinahe geschlagen wird (I, 422), Einsichten in die Sexualpsychologie, die ihrer Zeit meilenweit voraus sind. Als sie bemerkt, dass sie bloß „une valeur dans le portefeuille de son mari“ ist und sich bald in einem schönen Bild wie eine aufgeschlitzte Puppe fühlt, aus deren Brust die Kleie rinnt (I, 574), ist es für ein auch nur ansatzweise selbstbestimmtes Leben zu spät. Noch beeindruckender aber wirkt die ringkompositorische Geschlossenheit des Romans, denn so wie er beginnt, endet er auch, mit einem Korso der Stützen der Gesellschaft, Napoléon III. inklusive, durch den Bois de Boulogne. Renée, wegen Inzest geächtet, ist der Szene von stimmungsvoll impressionistischer Palette nur noch als stumme Beobachterin zugeordnet, schon vergessen, die Zirkulation der Luxuskarossen jedoch muss metonymisch für diejenige des Kapitals genommen werden. Zola schafft diese Frau mit den zwei letzten Sätzen des Buches aus der Welt, eine Meningitis rafft sie dahin, sie hinterlässt nichts als eine Schneiderrechnung von 257.000 Francs, die ihr Vater begleichen muss. In L‘argent von 1890, einem der in nüchterner, fast berichtförmiger Stilhöhe geschriebenen Romane des Zyklus – nur zweimal bricht der ekphrastische Zola durch, der noch die unsinnlichste Szene in ein „Bacchanal“ zu verwandeln
Die eindrucksvolle Treibhausszene, I, S. 483–489, ist ein Musterbeispiel Zola’scher Ekphrasis. Theodor Fontane: L‘Adultera [1882]. Hg. u. Nachw. v. Helmuth Nürnberger. München 1998, S. 81–83, hat sie kopiert.
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weiß125 – begegnet Saccard erneut, wie er mittellos um die monumentale Pariser Börse schnürt, worauf ihm Zola eine ‚repeat performance‘ zugesteht. Von seinem Bruder, dem Spitzenpolitiker Eugène Rougon, diesmal im Stich gelassen und vom nach James de Rothschild modellierten Gegenspieler Gundermann verspottet, stampft Saccard, nun als kreativer Phantast gezeichnet, mit der Banque Universelle, die Großprojekte in Entwicklungsländern finanziert, eine noch gewaltigere Geldmaschine aus dem Boden, die sich nach ihrer rücksichtslos betriebenen Überhitzung als Potemkin’sches Dorf erweist und nicht zuletzt ganze Legionen der berühmten französischen Kleinsparer ruiniert.126 Fast aber möchte man sagen, Saccard, der in La curée noch umstandslos „un bandit“ genannt wird (I, 377), bessere sich bzw. entwickele der Linksliberale Zola jetzt größere Sympathien für diesen Visionär, „il avait toujours été l‘homme d‘imagination, y voyant trop grande“ (V, 314). Von seinem schwärzlichen Gesicht jedenfalls ist keine Rede mehr, um die Geldangelegenheiten von Familienmitgliedern kümmert er sich zwischenzeitlich, etwa in La joie de vivre, durchaus beflissen (III, 888–889, 891), dafür attestiert ihm Zola nun einen geradezu physiologischen Antisemitismus, der die Sozialformation von Krämern, Unternehmern und Spekulanten seit Urzeiten intern spalte, von dem aber in La curée noch nichts zu vernehmen war: Ah! le juif! il avait contre le juif l‘antique rancune de race, qu‘on trouve surtout dans le midi et la France; et c‘était comme une révolte de sa chair même, une répulsion de peau qui, à l‘idée du moindre contact, l‘emplissait de dégoût et de violence, en dehors de tout raisonne(V, 91) ment, sans qu‘il pût se vaincre.127
Zugleich aber bewundert Saccard in seinem Kontrahenten Gundermann, einem Feldherrn der Spekulation, der seine Strategien gelassen inmitten herumtobender Enkelkinder ausheckt, die jüdische „science innée de chiffres, cette aisance naturelle dans les opérations les plus compliquées, ce flair et cette chance qui assurent le triomphe de tout ce qu‘ils entreprennent“ (V, 91). Gundermann zwar ist ein kalter Logiker, während Saccard sich an seinen Projekten immer wieder selbst berauscht, aber tot, ein kranker Milchtrinker, ein „homme fini, sans désir aucun“ (V, 319). Es ist diese zunehmend aufdringliche vitalistische Semantik der späteren Romane, dargetan in einer „hybriden Stilistik des Entzückens“,128 über
So richtig Heinrich Mann: Zola. In: Ders.: Geist und Tat. Franzosen von 1780 bis 1930. Essays. Hg. v. Peter-Paul Schneider. Frankfurt a. M. 1997, S. 119–203, hier S. 136. Zu den von Zola verarbeiteten zeitgeschichtlichen Stoffen, etwa den großen Bankengründungen und -Pleiten, den sozialutopischen Ideologemen v. a. Proudhons usw. Korn, S. 300–319. Zola selbst war kein Antisemit, er hätte sich sonst 1898 in der Dreyfus-Affäre kaum auf die Seite des Beschuldigten geschlagen. Korn, S. 392. Das gilt erst recht für den Folgezyklus der Trois villes.
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die Zolas eigenes Credo durchschlägt, das sich im letzten Band des Zyklus, Docteur Pascal, bereits bis zur ästhetischen Unlesbarkeit steigert.129 Sprachrohr dieser hier noch verhaltenen Botschaft ist die noble Caroline Hamelin, die sich wider Willen in Saccard verliebt, obwohl sie genau weiß, dass es bei ihm nicht mit rechten Dingen zugeht. Ihr Bruder, glühender Katholik, der den Nahen Osten rechristianisieren möchte und von Saccard bald als Bankpräsident in seine Machenschaften verstrickt wird, attestiert ihr daher, „tu es l‘amour de la vie!“ (V, 74). Zola, dessen Stärke die Zeichnung negativer Frauenfiguren ist, deren Psyche er wie vor ihm kein zweiter Autor erfasst, hat mit Caroline trotz seiner gelegentlich „grobkörnige[n] und gewaltsame[n] Phantasie“130 die wohl ausgewogenste positive weibliche Gestalt der 20 Bände gefunden.131 Ihr Gewissenskonflikt, die „sensation d‘un danger sourd, une crainte irraisonnée“ angesichts der immer schwindelerregenderen, ungedeckten Spekulationen Saccards, dann der Umschlag in Selbstbeschwichtigung, ihre „capitulations lâches“, das Schwanken zwischen Liebe und Vernunft macht ihm zu seiner Zeit höchstens noch Tolstoi nach: Elle ne savait plus, il y avait même des heures où elle l‘admirait davantage, pleine de cette infinie tendresse qu‘elle lui gardait, tout en ayant cessé de l‘estimer. Jamais elle n‘aurait cru son cœur si compliqué, elle sentait femme, elle redoutait de ne plus pouvoir agir. (V, 240)
Ganz anders die junge Baronin Sandorff, leidenschaftliche Spekulantin und wenigstens so gewissenslos wie Saccard. Sie, die sich besonders dafür interessiert, ob das Geschlechtsteil des bis dato noch ungeprüften Sabatini tatsächlich so gewaltig ist, wie sich die Damen zuflüstern (V, 263), tut ‚es‘ für Börsentipps natürlich auch mit Saccard, bleibt aber kalt wie „marbre“, erweist eine „froideur de glace“; selbst beim Koitus belauern sich beide und entlocken sich wechselseitig Insidertipps (V, 209–210, 256). Sie ist es, die nach dem Beischlaf Saccards Brieftasche durchwühlt, seine Kapitalschwierigkeiten entdeckt und Gunder-
So Rainer Warning: Kompensatorische Bilder einer ‚wilden Ontologie‘: Zolas ‚Les Rougon-Macquart‘. In: Poetica 22 (1990), S. 353–383, hier S. 383, 379–380, der Zolas Vitalismus und Poetik über die Bildsprache eines Mortalismus widerlegt sieht: Die meisten Romane des Zyklus enden mit grandiosen Zusammenbrüchen, Einstürzen, Feuersbrünsten usw. Viktoria Take-Walter macht mich hingegen zu Recht darauf aufmerksam, dass noch diese Katastrophenszenarios ebenfalls biologistisch-vitalistisch lesbar sind: Degeneration führt zwar zum Untergang, doch immer wieder erneuere sich so das ‚Leben‘. Auerbach, S. 476. Korn, S. 297, übertreibt, wenn er meint: „Die Männer in Zolas Romanen fürchten das Weib und das Geschlecht, weil es den Tod bringt. Die guten schenkenden Frauen sind in der Minderzahl. Sie sind gut und ungefährlich, weil sie gegen ihr Geschlecht leben, so Pauline in ‚La Joie de vivre‘, so Caroline in ‚L‘Argent‘.“.
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mann verrät, der so die finale Schlacht an der Börse führen kann, um nun von diesem einen Ratschlag zu erhalten. Sie bekommt ihn: „‚Écoutez-moi bien. Ne jouez pas, ne jouez pas. Ça vous rendra laide, c‘est très vilain, une femme qui joue‘“ (V, 320). Wütend rauscht die betrogene Betrügerin ab. Und Saccard selbst? Frauen bleiben ihm auch hier primär Statussymbole, die die Geschäftsanbahnungen erleichtern, er erwägt auf dem Höhepunkt seines Erfolges „en acheter une très cher, pour l‘avoir devant tout Paris“, gäbe das nicht „une excellente publicité?“ (V, 256). Er ist im Sinne Luhmanns Medienvirtuose (übrigens kauft er eine Tageszeitung, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen), da er um die Konvertibilitätsverbote bei den Erfolgsmedien weiß und pragmatisch gegen sie verstößt, indem er immer wieder im Dienste seiner Interessen Interferenzen von Liebe – Macht – Geld – Vertrauen erzeugt. Um im Bild zu bleiben, spielt er auf der Klaviatur weiblicher Emotionen wie ein Konzerpianist, nur hat er zwei Probleme: Ihm fällt nicht bei, dass sie das genauso beherrschen, auch verwechselt er, verblendet vom Erfolg, Promiskuität mit Käuflichkeit. Köstlich daher Saccards einen Monat währendes Gerangel mit der verheirateten Schreibwarenhändlerin Conin, die im Börsenviertel dafür bekannt ist, ‚es‘ mit jedem zu tun: „‚Non, je ne veux pas, jamais avec vous!‘ [...] ‚Pourquoi alors, dites pourqoui?‘ ‚Mon Dieu, c‘est simple ... Parce que vous ne me plaisez pas. Avec vous, jamais!‘“ Auch nicht für zehn oder 100.000 Francs: „Comment! l‘argent ne donnait donc pas tout? Voilà une femme que d‘autres avaient pour rien, et qu‘il ne pouvait avoir, lui, en y mettant un prix fou! Elle disait non, c‘était sa volonté. Il en souffrant cruellement“ (V, 257–258). Zolas vitalistische Grundorientierung verrät durchaus Sympathien für den ‚Macher‘ Saccard als Gründer der modernen Depositenbank auf Aktienbasis gegenüber dem älteren Typus der Privatbank Gundermanns, das wird im zweiten Roman sehr viel deutlicher als im ersten. Nur hat das, was er, dessen größter Fehler es ist, sich an seinen Projekten selbst zu berauschen, erzeugt, keinen Bestand oder missrät schlicht – wie seine beiden Söhne ganz handgreiflich illustrieren sollen. Saccard selbst hat an der Banque Universelle keinen Sou verdient (V, 386); während der hermaphroditische Maxime (mélange dissemination) sich, schon an Ataxie erkrankt, in schlaffer Dekadenz einrichten wird (V, 1138), verschwindet der aus Saccards einstigen Vergewaltigung einer Epileptikerin hervorgegangene, ‚undomestizierbare‘ Victor (mélange soudure) nach einer nun auch von ihm begangenen Vergewaltigung spurlos (V, 395). Anders aber als seinem virilen Neffen Octave Mouret, der sich in Pot-Bouille durch die Betten ehrbarer Bürgersfrauen schläft, um Gefälligkeiten zu erwirtschaften, bis er in Au bonheur des dames als schwerreicher Kaufhausbesitzer durch die Liebe zu einer kleinen Verkäuferin, die er bald heiratet, ‚besiegt‘ wird, bleibt Saccard der eigentliche Sinn der Liebe verschlossen, sie ist ihm stets nur Zweck-Mittel-
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Kalkulation. Wie der Erzähler lakonisch mitteilt, hatte er keine Zeit, sich auch darum noch zu kümmern (V, 256).
6 Die deutsche Ideologie: Liebe als Geschäft in Gustav Freytags Soll und Haben Nun ein Blick nach Deutschland. Obwohl Soll und Haben als anrüchige Spielart des Bildungsromans, der zeigen soll, wie Anton Wohlfart (!) ein tüchtiges Mitglied der Gesellschaft wird, als angebliche Bibel des liberalen Wirtschaftsbürgertums längst aus dem Kanon aussortiert wurde, wird er immer wieder untersucht.132 Zu Recht, birgt die Lektüre doch manche Überraschung. Seine Defizite liegen ohnehin offen zu Tage, der Antisemitismus, obwohl vom Autor wiederholt geleugnet, ist manifest,133 weil auktoriale Rede, doch wird Veitel Itzig auch früh als Milieugeschädigter präsentiert: Aus ihm, der durchaus ein Gewissen hat, in Kindheit und Jugend aber verachtet und gedemütigt wurde, kann nur ein Krimineller werden, sein wenigstens halbseidener Arbeitgeber Hirsch Ehrenthal dagegen verfällt der Demenz.134 Sehr viel vehementer freilich ist die Polenfeindlichkeit. Diese Ethnie, muss der arglose Leser annehmen, besteht beinahe ausnahmslos aus in Baracken hausenden Alkoholikern und Dieben, schlecht geführt von heuchlerischen und feigen Adligen, Freytag liefert hier bereits das ideologische Rüstzeug für den späteren Umgang mit immerhin dreieinhalb Millionen Polen im Rahmen einer „neuen ‚Ostmarkenpolitik‘“ des Deutschen Kaiserreichs;135 es ist kein Zufall, dass im Roman wiederholt die glorreiche Zeit des Deutschen Ordens alludiert wird. Wohlfarts Bewährung geschieht denn auch gar nicht im regulären Geschäft, sondern als freiwilliger Ostkolonisator bzw. edelmütiger Retter des herabgewirtschafteten Rothsattel’schen Gutes, wozu er sich, obwohl vom Freiherrn durchweg verachtet, verpflichtet fühlt. Die Nationalsozialisten träumten von Wehrbauern an der Ostgenze des ‚Großdeutschen Reiches‘, Wohlfart aber agiert
Eine Sammlung neuerer Beiträge bei Florian Krobb (Hg.): 150 Jahre ‚Soll und Haben‘. Studien zu Gustav Freytags kontroversem Roman. Würzburg 2005. So schon Leo Löwenthal: Gustav Freytag – der bürgerliche Materialist. In: Ders.: Schriften, Bd. 2: Das bürgerliche Bewußtsein in der Literatur. Hg. v. Helmut Dubiel. Frankfurt a. M. 1981, S. 349–363, hier S. 360. Gustav Freytag: Soll und Haben. Roman in sechs Büchern. München 1953, S. 92 f., 661, 682. Alle Nachweise aus dieser Ausgabe fortan im laufenden Text. Wehler, S. 963.
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als eine Art Wehrkaufmann, der, schlagkräftig unterstützt von Fritz von Fink, für Recht und Ordnung in „einem zivilisierten Staat“ (490) sorgt, man lese das breit ausgeführte Tableau „in der kleinen Kreisstadt Rosmin“ (488), das zeigen soll, wie unter deutscher Herrschaft „auf altem Slawengrund“ (490) dennoch gedeihliches Zusammenleben möglich ist. Zugleich aber ist Soll und Haben deutlich adelsfeindlich, es gibt wohl keinen deutschen Roman des 19. Jahrhunderts, der mit dem hochfahrenden, vor Standesdünkel schier platzenden, doch völlig inkompetenten Oskar von Rothsattel, der als Offizier sogar beim Suizidversuch versagt (610), ein unsympathischeres Bild dieses Standes zeichnet. Sein lasterhafter Sohn Eugen, längst kein Ehrenmann mehr, leiht sich Geld für seine Spielschulden bei einem Proletarier und fällt, wie der Leser zu assoziieren hat, darob auch verdient im Kampf gegen die polnische Insurrektion (469–471, 605–606). Die Geschichte Wohlfarts ist zudem bildungsfeindlich, was für einen Roman aus der Feder eines habilitierten Germanisten verwundern muss, finden sich doch nicht einmal Spurenelemente des Neohumanismus.136 Bernhard Ehrenthals Übersetzung des Firdusi wird, wie seine ganze Existenz, als schlicht fruchtlos dargestellt; dass dieser das Geistige liebende Sohn eines unseriösen jüdischen Unternehmers an der damals noch ‚romantischen‘ Krankheit Tuberkulose stirbt, ist ein weiterer Wink mit dem Zaunpfahl (196, 387). Letztlich erscheint das Buch sogar industrialisierungs- und damit fortschrittsfeindlich: Wer sich darauf einlässt, muss ganz so wie Rothsattel mit seiner Zuckerfabrik damit rechnen, sich zu ruinieren. Von Fink dagegen geht zweimal in die USA und kehrt zweimal angewidert vom dort bereits herrschenden Turbokapitalismus zurück – nicht freilich, ohne das gemachte Geld mitzunehmen und in die heimische Scholle zu investieren. Das ist Freytags Bild der Moderne. Der Gehalt des Romans ist folglich weniger liberal denn eindeutig reaktionär. Man hat richtig bemerkt, dass die ‚bürgerliche‘ Revolution von 1848 im dritten Buch gleichsam als fernes Grollen exterritorialisiert wird137 und sich Wohlfart Dies fiel schon Hartmut Steinecke: Gustav Freytag: ‚Soll und Haben‘ (1855). Weltbild und Wirkung eines deutschen Bestsellers. In: Horst Denkler (Hg.): Romane und Erzählungen des Bürgerlichen Realismus. Neue Interpretationen. Stuttgart 1980, S. 138–152, hier S. 143, auf. Bernd Bräutigam: Candide im Comptoir. Zur Bedeutung der Poesie in Gustav Freytags ‚Soll und Haben‘. In: Germanisch-Romanische Monatschrift NF 35 (1985), S. 395–411, hier S. 403, der auf Umsetzung der realistischen ‚Verklärungs‘poetik erkennt, sieht im liebevollen Betrachten der Waren eine Adaption von Kants interesselosem Wohlgefallen, nämlich „Abstraktion vom Gebrauchswert.“ Ich halte das für deutlich zu fantasievoll. Gerhard Plumpe: Roman. In: Ders., Edward McInnes (Hg.): Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848–1898 (Hansers Sozialgeschichte 6). München 1996, S. 529–690, hier S. 560.
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sowie Fink im Kampf gegen die Polen als Gegenrevolutionäre bewähren138 – Freytag pinselt hier eine regresssive Sozialutopie aus, die den ständestaatlichen Fantasien Friedrich Wilhelm IV. näher kommt als liberale Grundüberzeugungen. Eine Aufstiegsmobilität ist nicht vorgesehen, politisch-individuelle Freiheit gar kein Thema, das Leistungsprinzip wird charakterologisch verortet, Fortschritt ist des Teufels und der Nationalismus längst nicht mehr der romantische, sondern bereits der aggressiv-integrale; am deutschen Wesen soll schon hier durchaus die Welt genesen. Daher darf nicht übersehen werden, dass zum Ende die sich überkreuzenden Sphären Adel, Bürger- und Judentum, wovon der Plot eigentlich lebt, wieder entmischt werden; Wohlfart bekommt Sabine Schröter, der adlige Fink, der allerdings auf seinen Adel pfeift (78), die adlige Leonore und bleibt, wie es der Kriegerkaste geziemt, wehrhaft an der Grenze, um das gemeinsame Gut zu bestellen, der Fremdkörper des Judentums aber muss in Ehrenthal und Itzig zugrunde gehen, den Polen wurde vorerst heimgeleuchtet. Doch Liebe und Ökonomie? Beide ‚Seinsmächte‘ werden hier eigentlich nur behauptet. Dass der Roman eine bereits obsolete, nämlich frühneuzeitliche Wirtschaftsordnung verherrlicht, gibt er selbst zu (43). Sehr im Gegensatz zum vom ideologischen Mitstreiter Julian Schmidt geborgten Motto: „Der Roman soll das deutsche Volk da suchen, wo es in seiner Tätigkeit zu finden ist, nämlich bei seiner Arbeit“ (2), sieht man davon bei Freytag nicht viel, es gibt die schnurrighumoristische139 Führung durch Schröters Kontor und Lager mit der Vorstellung künftiger Kollegen, allesamt Kommiss-Typen, dann der Transportarbeiter, von denen lediglich Sturm und sein Sohn Karl individualisiert werden (und sich als biederer erweisen als der Biedermann Schröter) – sonst nichts. Wie Gewinnmargen, Akkumulation von Kapital und Wohlstand eigentlich zustande kommen, erfährt der Leser so wenig als auch, wie die alltägliche Arbeit eines Kaufmanns aussieht. Das ist kein Zufall, denn nichts ist langweiliger,140 der vielziterte Passus
Herbert Kaiser: Studien zum Roman nach 1848. Karl Gutzkow, ‚Die Ritter vom Geiste‘, Gustav Freytag, ‚Soll und Haben‘, Adalbert Stifter, ‚Der Nachsommer‘. Duisburg 1977, S. 83, spricht zu Recht von Geschichtsfälschung dieser gerade erst sieben Jahre zurückliegenden gesamteuropäischen Erschütterung. Bräutigam, S. 411. Den Einfluss des englisch-humoristischen Romans notierte schon Fontane: Gustav Freytag. ‚Soll und Haben‘. In: Theorie des bürgerlichen Realismus, S. 226–232, hier S. 227. Ferner instruktiv Antje S. Anderson: Ein Kaufmann ‚von sehr englischem Aussehen‘: Die literarische und soziokulturelle Funktion Englands in ‚Soll und Haben‘. In: 150 Jahre ‚Soll und Haben‘, S. 209–224. Weshalb sie übrigens auch in den Buddenbrooks weitestgehend ausgespart wird, mit denen Soll und Haben gerne verglichen wird, siehe nur Jürgen Barkhoff: ‚Eigentlich und bei Lichte besehen sei doch jeder Geschäftsmann ein Gauner‘. Zur Intertextualität von Gustav
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von der „eigentümlichen Poesie“ (50) der im Lager angehäuften Waren ist deutlich ironisierte Erzählerrede angesichts des noch kindlich staunenden Novizen Anton und steht in erkennbarer Korrespondenz mit der „Poesie“ seiner Kindheit in der Philisterwelt des Vaters samt Kaffeetasse, Samtmützchen und Tabakspfeife (6). Im Disput über Geist/Poesie versus Geschäft zwischen Bernhard Ehrenthal und Anton punktet Letzterer immerhin mit seiner Teilhabe am ökonomischen Weltsystem à la Immanuel Wallerstein, sodass im Gegensatz zum staubigen Gelehrtenkosmos über Wohlfarts Tätigkeit „jeder Mensch mit jedem andern Menschen in fortwährender Verbindung erhalten wird“ (197). Langweilig aber ist der Roman selbst gerade nicht, was für seinen Erfolg verantwortlich sein mochte, sondern straff geführt, es gibt mit dem Überfall auf einen Warentransport und der Verteidigung des Rothsattel’schen Gutes gegen polnische Aufständische sogar zwei breit ausgeführte, nach dem Muster von Kriminalerzählungen und Wildwest-Romanen vollgültige Actionszenen. Und die Liebe? Anton begegnet gleich eingangs auf seinem Weg zu Schröters Handelskontor Lenore von Rothsattel, attribuiert mit den erotischen Symbolen von Schwan, Papagei und saftigen Erdbeeren, die sie ihm reicht (12, 15).141 Der Roman ist nicht „außerordentlich prüde“,142 immerhin lässt Freytag Lenore ins Wasser springen, damit „die schönen Formen des Körpers [...] fast unverhüllt sichtbar“ werden (252), das sind die üblichen „schüchterne[n] Nuditäten“143 deutschsprachiger Literatur des 19. Jahrhunderts. Später erweist sie sich bei der Verteidigung des Gutes gar als kokettes Flintenweib zu Pferde, so „hinreißend schön“ (315), dass vor ihrer sexyness selbst aufständische Polen freiwillig das Knie beugen. Wohlfart aber lernt erst im täglichen Umgang mit dem Adel, dass nicht viel an ihm ist. Lenores Kleider weisen manchen Makel auf, „die wenigen Bücher, die sie mitgebracht“, liest er nebenbei in kurzer Zeit, während sie lernunwillig ist und lieber „in den Pferdestall“ flieht. Aber „sie war schön“ (452–453). Echte Liebesszenen traut sich der Roman ohnehin nicht zu.
Freytags ‚Soll und Haben‘ und Thomas Manns ‚Buddenbrooks‘. In: 150 Jahre ‚Soll und Haben‘, S. 187–208. Sie werden allerdings nicht zu mythischen Bezugssystemen ausgebaut, sondern bleiben im Fortgang ungenutzt. Assoziationen zu Leda stellen sich nicht ein, das Papageien-Motiv mit einer schönen Nackten wurde erst 1866 duch Courbet ikonisch, war aber bereits durch eine von Delacroix’ Odalisques seit 1827 populär. Warum jedoch Lenore ausgerechnet nach der berühmten Ballade von Gottfried August Bürger, dem scharfen Adelskritiker aus dem Umfeld des Sturm und Drang, benannt ist (oder gerade deshalb?), bedürfte einer eigenen Untersuchung. Plumpe, Roman, S. 560. So zu Recht Heinz Schlaffer, Die kurze Geschichte der deutschen Literatur, München 2002, S. 129. Zum generell defizienten Sinn für Erotik im europäischen Realismus mit Ausnahme Frankreichs Meyer, Im ‚Banne der Wirklichkeit‘?, S. 242–253.
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Sehr schön allerdings ist auch Rosalie Ebenthal mit ihrer „nur sehr wenig gebogenen Nase“ (38). Als sich abzeichnet, dass der Mörder Itzig nicht mehr als ihr Gatte in Frage kommt, erlaubt sich der Erzähler eine Prophetie in direkter Apostrophe, du findest mehr als einen, der bereit ist, der Nachfolger von Itzig zu werden. Dein Los ist, einem anheimzufallen, der dein Kapital heiratet und deine Glieder mit vergnügtem Lachen in Kauf nimmt, und du wirst ihn vom ersten Tage deiner Ehe an verachten, und du wirst ihn ertragen, wie man einen Schaden trägt, den der Arzt nicht wegschaffen kann. [...] [D]er Inhalt deines Lebens wird sein, als geschmückte Puppe umherzuwandeln und deinen Mann höhnisch mit andern Männern zu vergleichen. (685)
Ganz ähnlich ergeht es auch Zolas Renée, doch ist das dort die Selbsterkenntnis ihrer Schwäche, während sie hier von außen dekretiert wird. Es geht aber noch ärger, beim Endspurt der letzten 70 Seiten gerät der Roman schlecht motiviert und behauptet Sabines Liebe zu Anton „in stiller Fassung“ (633), wofür bisher freilich nicht einmal Anzeichen gestreut wurden. Dafür schwingt er sich zu wahrhafter Obszönität auf, ohne es doch im Mindesten zu bemerken. Es gibt in mediterran-archaischen Dorfgemeinschaften bis heute die Sitte, nach der Hochzeitsnacht das blutbefleckte Laken öffentlich auszuhängen, um zu testieren, dass die Braut jungfräulich in die Ehe ging. Über Sabines Sexualleben erfährt der Leser selbstredend nichts, aber sie zeigt Wohlfart ihr Kassenbuch, also Intimstes, damit er wisse, dass sie wohl ehefähig sei: „‚Wer in dies Buch gesehen hat, der weiß, was nie ein Fremder erfahren darf‘“. Darauf reagiert er verschreckt – und wird doch zum Einblick genötigt (699). Auch ich kann mir nicht helfen, ich musste dazu sofort die Situation einer gynäkologischen Untersuchung assoziieren. Obwohl sicher anders, als große Synthese intendiert, liegt die Botschaft auf der Hand: Selbst die Liebe ist ein Geschäft, und in dieser Grundüberzeugung unterscheidet sich die kerndeutsche Wirtschaftsethik in nichts von der just inkriminierten jüdischen. Man staunt, dass dies dem Autor tatsächlich nicht beifiel.
7 Schwankende Befunde: Fontanes Liebeskarussell Das Bild bei Fontane hingegen ist wechselhaft,144 fast möchte man meinen, der ‚frühe‘ Autor war mutiger als der späte. Ich konzentriere mich auf Romane, die Meine letzte Sicht der Dinge bei Ingo Meyer: Fontane. Ein Rückblick. In: Merkur 74 (848) (2020), S. 26–44.
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glimpflich ausgehen, in denen unglückliche Liebe überlebt wird. In L‘Adultera von 1882 sieht sich Melanie van der Straaten, deren Adel durchaus fraglich ist, außerstande, ihren jüdischen Gatten und Börsenspekulanten ob seines ungebildeten, parvenuhaften Benimms länger zu ertragen und begeht geschmackloserweise den Seitensprung mit dem weitgereisten, also weltgewandten – Paris, London, New York145 – Hausgast und Volontär Ebenezer Rubehn, wagt mit ihm dann sogar einen Neuanfang. Wohlgemerkt, allein van der Straatens mangelnder gesellschaftlicher Schliff ist der Grund für das Ende der ‚Liebe‘ seiner um 25 Jahre jüngeren Frau; von Romantizismen keine Spur, wohl aber die Allgegenwart der Konventionen, ihr ist der Mann schlicht peinlich. Es wurde zudem richtig festgehalten, dass Fontane, vorsichtig genug, den Ehebruch noch in die relative soziale Peripherie verlegt,146 jüdische Geschäftsleute und eine ‚Zugereiste‘ gehörten nicht zum Kernbestand der preußischen Elite. Dennoch fällt auf, dass schon hier nicht gestorben werden muss. Erstaunlich daher folgender Dialog: „‚Du willst fort, Melanie?‘ ‚Ja, Ezel.‘ ‚Warum?‘ ‚Weil ich einen anderen liebe.‘ ‚Das ist kein Grund.‘ ‚Doch.‘“147 Das nenne ich Emanzipation beider Seiten, die von Bismarck 1874 eingeführte Zivilehe und säkulare Geschlechterverhältnisse scheinen bereits Hand in Hand zu gehen. Melanie aber entdeckt erst, dass es die romantische Liebe überhaupt gibt. Anders in den abgeklärten Irrungen, Wirrungen. Auch hier muss ob der Mesalliance nicht gestorben werden, ungewöhnlich geht der Roman nach dem Ende der Beziehung noch ganze 70 Seiten weiter. Beiden, Botho von Rienäcker und Lene Nimptsch, ist von Anbeginn völlig klar, dass es bei einer Sommerliebe zu bleiben hat, doch interessant ist, dass Botho bereits Lenes zweiter Freund ist,148 das war selbst für eine Proletarierin kühn. Man hat daher nicht zufällig diese „‚gräßliche Hurengeschichte‘“149 beklagt, etliche Leser der Vossischen Zeitung, in der der Vorabdruck geschah, kündigten ihre Abonnements; noch Gerhart von Graevenitz unterschätzt diesen vermeintlichen „Grisettenroman“.150 Abgeklärt ist, dass sich Botho keinerlei Illusionen darüber macht, was passierte, wenn er Lene tatsächlich ehelichte: Ohne jede Begabung ausgestattet, von der Familie
Theodor Fontane, L‘Adultera, S. 18. Peter Demetz: Formen des Realismus: Theodor Fontane. Kritische Untersuchungen. München 1964, S. 154. Fontane, L‘Adultera, S. 97. Theodor Fontane: Irrungen, Wirrungen. Hg. u. Nachw. v. Helmuth Nürnberger. München 1994, S. 121. Zit. n. Conrad Wandrey: Theodor Fontane. München 1919, S. 213. Gerhart von Graevenitz: Theodor Fontane. Ängstliche Moderne. Über das Imaginäre. Konstanz 2014, S. 458.
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geächtet, müsste er den Dienst quittieren und seine Frau wohl recht bald anschaffen lassen: ‚Wer bin ich? Durchschnittsmensch aus der sogenannten Obersphäre der Gesellschaft. Und was kann ich? Ich kann ein Pferd stallmeistern, einen Kapaun tranchieren und ein Jeu machen. Das ist alles, und so hab’ ich denn die Wahl zwischen Kunstreiter, Oberkellner und Croupier. Höchstens kommt noch der Troupier hinzu, wenn ich in eine Fremdenlegion eintreten will. Und Lene dann mit mir als Tochter des Regiments. Ich sehe sie schon in kurzem Rock und Hackenstiefeln und ein Tönnchen auf dem Rücken.‘151
Es kommt, wie es kommen muss, Bothos Mutter befiehlt in einem Brandbrief die Ehe mit Bothos alberner Cousine, um die Finanzen der von Rienäckers zu sanieren, Lene hingegen bekommt den bigotten Frömmler Gideon Franke. Denkwürdig und für uns Heutige empörend aber ist die Szene, wie sich Letzterer in ihrer Abwesenheit bei Botho nach ihrem „Vorleben“ erkundigt. Der Bescheid zwar ist positiv – „‚Sie kriegen da eine selten gute Frau‘“152 –, doch man kann nicht umhin, hier an den Titel von George Dubys Aufsatzsammlung Frau ohne Stimme zu denken.153 Und gerade deshalb, im Abschiedsdialog hebt sich ausgerechnet die Proletarierin zur Größe. Zu Botho: „‚Und eines Tages bist du wieder glücklich und vielleicht ich auch.‘ ‚Glaubst du’s? Und wenn nicht? was dann?‘ ‚Dann lebt man ohne Glück.‘“154 Fontanes Romanproduktion aber gehorcht nicht dem Gesetz stetiger Steigerung. In der Jenny Treibel von 1892 ereignet sich, was Lukács als Abstieg zur „bloßen Belletristik“ empfand, die bei diesem Autor stets drohe und von Peter Demetz ganz ähnlich als „artistische Erschlaffung“ registriert wurde.155 Die quirlige Corinna Schmidt, Tochter eines Gymnasiallehrers, bandelt aus Übermut und wohl auch, um ihre Verführungsmacht zu testen, mit dem phlegmatischen Sohn der schwerreichen Fabrikantengattin Jenny Treibel, geborene Bürstenbinder,156 an, bis die Verlobung steht, worauf die Mutter einschreitet und den Spuk kurzerhand beendet. Was stimmt an dieser Konstruktion nicht? Corinna meint es gar nicht ernst,
Fontane, Irrungen, Wirrungen, S. 91. Fontane, Irrungen, Wirrungen, S. 129, 131. George Duby: Frau ohne Stimme. Liebe und Ehe im Mittelalter. Übers. v. Gabriele Ricke u. Ronald Vouillé. Berlin 2000. Fontane, Irrungen, Wirrungen, S. 96. Georg Lukács: Der alte Fontane. In: Ders.: Werke, Bd. 7: Deutsche Literatur in zwei Jahrhunderten. Neuwied 1964, S. 452–496, hier S. 481; Demetz, S. 134. Dies wird dem Leser immer wieder eingerieben, vgl. Theodor Fontane: Frau Jenny Treibel oder ‚Wo sich Herz zum Herzen findt‘. Hg. u. Nachw. v. Helmuth Nürnberger. München 1994, S. 15, 78, 148, 175.
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weiß sie doch ganz genau, dass Leopold „‚zu unbedeutend‘“ ist,157 sie spielt nur und testet ihre Macht, bis sie einem stärkeren Willen begegnet. „‚Liebst du’n denn noch immer?‘ ‚Ach, ich denke ja gar nicht dran, liebe Schmolke.‘“158 Fraglos, „Bonwitt und Littauer“ wären schon besser als „Schlackwurst“ und „Gilka“.159 Trägt das einen Roman? Eigentlich nicht, weshalb man aus Verlegenheit immer wieder eine „Komödie“ gelesen hat.160 Zudem sollte man Fontane als Chronisten der sozialen Verhältnisse im Deutschen Kaiserreich nicht überschätzen, hier einmal trifft das Bonmot zu, dass der Zeitzeuge der Feind des Historikers sei. Bildung ging vor Besitz161 und die Verheiratung ihres Sohnes, „‚als Charakter noch unter mittel‘“, „‚zu stumpf‘“, wie selbst die Mutter weiß,162 mit der Tochter eines Altphilologen, der sich, obwohl nur promoviert, Professor nennen darf (und mit dem sie selbst vor 40 Jahren tändelte), müsste der Treibel eigentlich hoch willkommen sein. Pindar und Horaz, auf Wunsch sogar Schopenhauer und Eduard von Hartmann!163 Fontane ist hier also ungenau. Auffällig aber, dass die Frauen die Sache völlig unter sich ausmachen, die Männer, unablässig schwätzend zwar, stehen untätig, weil machtlos, dabei. Da Liebe in der Treibel gar nicht vorkommt, bleibt als Gehalt, wie so oft bei Fontane, nur eine Allerweltsweisheit, nämlich, dass beim Geld die Freundschaft aufhört. Vornehmer formuliert: Auch hier regiert der Primat der Ökonomie. Zur seiner Ehrenrettung sei eingewandt, dass man die Fülle der Ehebruchsund Mesalliance-Romane der Zeit nicht platt mimetisch oder als Dokument über die konventionelle Wissenssoziologie mit ihrer Zurechnung auf Klassen nicht in dem Sinne lesen muss, als sei Ehebruch in der bürgerlichen Gesellschaft (noch
Fontane, Treibel, S. 54. Fontane, Treibel, S. 170, vgl. S. 181: „‚Und liebst ihn ganz ernsthaft?‘ ‚Nein. Aber ich wollte ihn ganz ernsthaft heiraten.‘“. Fontane, Treibel, S. 55. Es handelt sich um ein Berliner Geschäft für Designermode (Hoflieferant); Gilka ist ein noch heute produzierter Kümmelschnaps. Fontane hat die ‚beschränkten Verhältnisse‘ bei den Schmidts übrigens kräftig überzogen, so knapp musste ein (verwitweter) Gymnasiallehrer nicht leben. Zur illusionsbildenden Funktion der Markennamen Meyer, Fontane, S. 32 f. Fritz Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus 1848–1898. 4. Aufl. Stuttgart 1981, S. 788 („Lustspielelemente“); Ingrid Mittenzwei: Die Sprache als Thema. Untersuchungen zu Fontanes Gesellschaftsromanen. Bad Homburg 1970, S. 47; Walter Müller-Seidel: Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland. Stuttgart 1975, S. 316. Hans-Ulrich Wehler: Wie bürgerlich war das Kaiserreich? In: Ders: Aus der Geschichte lernen? Essays. München 1988, S. 191–217, hier S. 194. Fontane, Frau Jenny Treibel, S. 80, 86. Überhaupt sei darauf hingewiesen, dass die von Romanpersonal und Forschung durchweg als borniert veranschlagte Treibel Corinnas Manöver ganz genau durchschaut, aber nicht nachtragend ist. Fontane, Frau Jenny Treibel, S. 58.
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so eine Simplifizierung!) eine Art Breitensport gewesen, mit Luhmann lassen sich Madame Bovary, Anna Karenina, Effi Briest und all die anderen Artefakte auch als Kovariation gepflegter Semantik verstehen,164 die „nicht unbedingt die Realsachverhalte des Liebens wiedergeben“, sondern eher ‚Was wäre, wenn‘-Szenarien durchspielen und damit „funktionale Notwendigkeiten des Gesellschaftssystems in eine tradierbare Form bringen“,165 hier also durch die Erinnerung daran, dass die intakte Kernfamilie für die Geburtszelle der modernen Gesellschaft gehalten wurde.166
8 Eine Synthese von Realismus und Romantik: Theodor Storms In St. Jürgen Wie weit es der Realismus aber in der Vereindringlichung des prekären Verhältnisses von Liebe und Ökonomie bringen konnte, zeigt Storm mit seiner wenig bekannten und wenig untersuchten Novelle In St. Jürgen von 1867.167 Der Inhalt daher in aller Kürze, hoch im Norden besteht eine zarte Jugendliebe zwischen Agnes Hansen und Harre Jensen, der Tochter eines Kaufmanns und einer Waise. Agnes’ Vater, in finanzieller Bedrängnis und zugleich der Vormund Harres, veruntreut dessen Erbe, das zwar nicht für ein Studium, wohl aber als Grundstock eines künftigen Meisterbetriebes des fleißigen Tischlergesellen ausgereicht hätte. Harre nimmt leichthin als „Zufall“,168 was immerhin das Lebensglück zweier Liebender verhindert, und geht auf die Walz bis nach Wien, macht sich einen Niklas Luhmann: Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition. In: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1. Frankfurt a. M. 1980, S. 9–71, hier S. 19, beschränkt sich in seinen Durchgängen stets auf Textdokumente. Wie schon angedeutet, tut man aber gut daran, Bildmedien, Musik, Spielfilme usw. auch dazu zu zählen. Luhmann, Liebe als Passion, S. 24. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. I: Arbeitswelt und Bürgergeist. München 1990, S. 43–90, 99–102, teilt mit, „wie es eigentlich gewesen“; zu Folgeproblemen des Ehebruchs Ute Frevert: Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft. München 1991, S. 214–232. Übrigens der einzige deutsche Autor von Rang, der in dieser Zeit überhaupt einen Sinn für die Erotik der Zwischentöne und die gerade im Verschweigen beredt werdende „Gewalt des Sexus“ hatte. So eine Notiz bei Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Gretel Adorno. Frankfurt a. M. 1973, S. 411. Eine konzise Untersuchung darüber steht m. W. noch aus. Theodor Storm: In St. Jürgen. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 2. Hg. v. Peter Goldammer. 8. Aufl. Berlin 1995, S. 226–267, hier S. 252. Nachweise fortan im laufenden Text.
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Namen als Klavierbauer und lässt sich später im Schwäbischen via Vernunftehe nieder, indem er dort verspricht, Betrieb und Ehefrau eines ökonomisch ahnungslosen, bald an Tuberkulose sterbenden Meisters zu übernehmen. Agnes hingegen verdingt sich im sozialen Abstieg über Jahrzehnte als eine Art höhere Zugehfrau, etwa im Haus der Großmutter des Erzählers. Als längst gemachter Mann reist Harre nach fünfzig Jahren, das Sentiment treibt ihn dazu, noch einmal gen Norden, um seine Jugendliebe wiederzusehen, was ihr Tod verhindert. Es ist hier nicht der Ort, eine formale Analyse vorzunehmen,169 doch verblüfft, wie präzise kontrapunktisch Storm diese Novelle angelegt hat;170 erst der Erzähler führt nach einem stormtypischen Hiatus von „mehrere[n] Jahre[n]“ (249) die perspektivischen Erinnerungen beider Protagonisten, selbst noch einmal erinnernd, zusammen. So wie Harre sein Gelübde, Agnes zu heiraten, durch ein anderes bricht – „‚Vergiß das Wiederkommen nicht!‘“ –, spart sie, die den siechen Vater pflegt, im Laufe der Jahrzehnte von ihrem kargen Lohn eine Wiedergutmachung von dessen Schuld zusammen (248, 256, 263). Man fragt sich, wäre es nicht anders gegangen, Harre etwa als abhängig Beschäftigter vor Ort, oder eine Agnes, die einfach mitgegangen wäre, um mit dem Geliebten irgendwo eine Existenz zu gründen? Nicht bei Storm, was als Zufall genommen oder, sozialhistorisch gesehen, ökonomischer Zwang ist, gerät bei ihm natürlich zum Schicksal. Um das Bittere noch zu verstärken, lässt er sich die Liebenden nach fünfzig Jahren gar nur knapp, um wenige Stunden verpassen, wenn Agnes am Morgen des Tages von Harres Ankunft verstirbt. Die überreiche Ausstattung dieser Novelle mit den Symbolismen der beinahe penetrant gegenwärtigen Schwalben, Lindenblättern, einem ganzen Blumenkanon als zentralen Requisiten der Idylle, Agnes’ strahlend blauen Augen usw. mag heute überzogen wirken, nur handelt es sich trotz Herbheit und Melancholie gerade nicht um eine „Resignationsnovelle“.171 Zwar bekommen sich die Liebenden auf der Handlungsebene nicht, doch auf der semantischen sind sie längst vereint, denn die Jahrzehnte zurückliegende Abschiedsszene auf der exponierten Lokalität des Turms, von Schwalben in vollem Flug umgeben und ausgestattet mit Signalworten des Sublimen („Ätherraum“, „blitzte“, „Meer von Luft und Licht“ etc.) ist zugleich die ideale Vereini-
Unübertroffen zu den formalen Merkmalen seines Erzählens noch immer Martini, S. 630–664. Sogar Vor- und Zunamen beider Liebenden assonieren nicht nur, sondern nähern sich bereits dem unreinen Reim. So noch die Herausgeber der DKV-Ausgabe, vgl. Theodor Storm: Sämtliche Werke, Bd. 1. Hg. v. Karl Ernst Laage u. Dieter Lohmeier. Frankfurt a. M. 1987, S. 1207. Lange einflussreich war die existenzialisierende Deutung als „Entsagungsnovelle“ durch Franz Stuckert: Theodor Storm. Sein Leben und seine Welt. Bremen 1955, S. 293.
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gung des Paares in zeitenthobener Ekstase – und kein Zufall, dass Harre in der Präsenzerfahrung besinnungslos ist: „‚Wie ich durch den dunkeln Turm zur Erde gekommen bin, das weiß ich nicht‘“ (256–257).172 Man mag das heute für kitschig nehmen, doch dürfte mittlerweile ersichtlich sein, wie schwer sich Literatur tut, wenn sie meint, Realität beobachten zu müssen, also, im 19. Jahrhundert, den Ausdifferenzierungsprozess der modernen Gesellschaft mitsamt seinen Folgelasten. So schlägt erstmals das Ontologie- und Strukturproblem einer Literatur voll durch, die wähnt, im „Banne der Wirklichkeit“173 zu stehen und doch, angesichts der zunehmend abstrakten gesellschaftlichen Zusammenhänge, stets genötigt ist, mittels Emplotments, Charakteren, Lokalbezügen, Anschaulichkeit usw. diese Zusammenhänge zu individualisieren, also immer auch zu entkomplexisieren.174 Gerhard Plumpe etwa hält anlässlich des Umstands, dass bei Fontane niemals gearbeitet wird, die gesellschaftliche Komplexität unter Rekurs auf Hegel für bereits nicht mehr darstellbar, während Peter Demetz in Fontanes „schöne[r] Arbeitslosigkeit“ schlicht ein Ausweichen erblickt.175 Storms Antwort auf das Totalitätsproblem aber ist die Nobilitierung der kleinen Form Novelle zur „Schwester des Dramas“,176 Verdichtung und Reduktion statt epischer Breite, die das Ganze doch nie fassen könnte, intensive Totalität. In der phänomenalen Diversifikation hingegen exzelliert gewiss der französische Realismus, während das Ausweichen des deutschen vor den sozialen Tatsachen ein Topos der Forschung ist, den auch ich bisher teilte. Und gerade deshalb zeigt sich bei meiner Neusichtung der Realisten ein differenzierteres Bild. Unter dem Deckmantel der das ganze 19. Jahrhundert über verbindlichen romantischen Semantiken und Konventionen von Kniefall und Courtoisie, Krinolinen und Vatermördern, Schamhaftigkeit und Erröten, schmachtenden Briefen und dergleichen ergibt sich mit Storm doch ein sehr anderer, realistischer Befund von Liebe unter modern-kapitalistischen Bedingungen: Romantik muss offenbar evoziert werden, um die schnöde Wirklichkeit, nämlich Liebe als individuelle Vorteilsnahme, zu invisibilisieren. Dazu mag
Clifford A. Bernd: Theodor Storm’s Craft of Fiction. The Torment of Narration. 2. Aufl. Chapel Hill 1966, S. 65–67, zeichnet hingegen ein negatives Bild von Perspektivik und verrinnender Zeit, der so auch die Erinnerung als Täuschung und Fragmentierung anheimfalle. Theodor Storm: Brief an Gottfried Keller vom 7. August 1885. In: Dies.: Briefwechsel. Kritische Ausgabe. Hg. v. Karl Ernst Laage. Berlin 1992, S. 125–128, hier S. 125. Das eigentliche Problem aller Literatur, die ‚Realismus‘ für sich in Anspruch nimmt, vgl. Plumpe, Roman, S. 680. Plumpe, Roman, S. 680; Demetz, S. 123. Storm: Eine zurückgezogene Vorrede aus dem Jahre 1881. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 4. Hg. v. Peter Goldammer. 1995, S. 634 f., hier S. 634.
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eine simple rezeptionspragmatische Beobachtung kommen, denn nichts ist öder als die über Dutzende von Seiten gehende Feier gelingender Liebe. Hegel zählten die „Perioden des Glücks“ in der Weltgeschichte bekanntlich als „leere Blätter“,177 ähnlich verhält es sich mit der Liebe; ein Chronist der bundesrepublikanischen Gesellschaft, den man häufig für einen Realisten hält, weiß, dass harmonische Liebe „fir Kunst nix härgibt“.178 Im Ästhetischen also muss, um einen kulturkritischen Bestseller zu zitieren, Liebe weh tun,179 sonst gehen wir nicht mit. Genau deshalb markiert Storms kleine Novelle eine Art synthetischen Quantensprung in Sachen Realismus, man sollte sich nur frei machen von den in der Storm-Forschung lange Zeit gängigen ideologiekritischen Applikationen;180 auch die etwa bei Fontane beliebte Statusdifferenz verfängt hier nicht, Handwerker und Krämerstochter passen kleinbürgerlich trefflich zusammen. Mit Gehlen könnte man vielmehr sagen, dass Jensen zwar die Hintergrundserfüllung leistet, ihm aber die Unwahrscheinlichkeitsabsorption verwehrt bleibt, er lebt jahrzehntelang in Werkeltagsstimmung mit der ungeliebten, bald sogar gehassten Frau im Schwäbischen. Unverhofft erhält er die Möglichkeit, sie bei einer Wanderung zu Tode stürzen zu lassen – er wäre wieder frei (262). Natürlich tut er’s nicht, findet sich darauf vielmehr in eine Ehe von wechselseitigem Respekt, endlich gar stellt sich später Wohlstand ein.181 Und doch spürt seine Frau, dass er eine andere liebt, sie ist es, die ihn nach Husum schickt, um seiner Seelenqual ledig zu werden (264), übrigens psychologische Differenzierungen, die z. B. Fontane verschlossen bleiben.182 Auch forma-
Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. In: Ders.: Werke, Bd. 12, S. 42. Martin Walser: Das Einhorn [1966]. Frankfurt a. M. 1981, S. 170 f. Eva Illouz: Warum Liebe weh tut. Eine soziologische Erklärung. Übers. v. Mihael Adrian. Berlin 2011, S. 207, bleibt leider unergiebig, wenn sie nach großem Aufwand zur Einsicht gelangt, dass moderne „Sexualität und Liebe zu wichtigen Bestandteilen des Selbstwertgefühls eines Individuums geworden sind.“ Wer hätte das gedacht? ‚Materialistische‘ Standardargumente etwa bei Ingrid Schuster: Theodor Storm. Die zeitkritische Dimension seiner Novellen. Bonn 1971, S. 46, nach der Storm Armut nicht als konkreten Auswuchs des Kapitalismus, sondern als stets dräuende conditio humana verharmlose; ganz ähnlich Hartmut Vinçon: Theodor Storm mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1972, S. 117: Storm verkläre geradezu die Verhältnisse und sehe nicht den historischen Durchbruch bürgerlich-kapitalistischer Ökonomie. Dass Harre und Agnes primär ihrer Verantwortung folgen, betont Michael Schilling: Erzählen als Arbeit am kollektiven Gedächtnis. Zu Theodor Storms Novellen nach 1865. In: Euphorion 89 (1995), S. 37–53, hier S. 42. Emilie Fontane warf ihm im Brief v. 14. Juni 1883 beim Korrekturlesen vor, keinen Storm’schen „‚Bibber‘“ zu haben, worauf er am 15. Juni beipflichtete, Storm aber als „kränkliches Männchen“ abtat, vgl. Theodor Fontane: Graf Petöfy. Hg. u. Nachw. v. Helmuth Nürnberger. München 1997, S. 193–194, 198.
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listische Lektüren könnten dem Text noch einiges abgewinnen. Was z. B. hat es zu bedeuten, dass der „Spökenkieker“, der Agnes’ Vater einst mit der fixen Idee vom tief im Brunnen (Romantik!) versenkten Goldschatz aus der Schwedenzeit um das letzte Geld bringt, nun bereits weit über 90 und halb irr, Agnes überlebt (236–237, 266)? Wenn die lokalen Oppositionen, wie stets im Realismus, auch semantische sind, wäre ausgehend von oben/Turm/Liebe vs. unten/Brunnen/Gold oder gar ‚oben‘-Norddeutschland/Liebe und ‚unten‘/Süddeutschland/Wohlstand selbst eine gut strukturalistische Deutung plausibel. Luhmanns wissenssoziologische These behält insofern recht, als es ohne romantischen Überbau seither nicht mehr geht; wohl aber spricht es für Storms Artistik, dass er überkommene Motive nicht nur oberflächlich-sentimentalistisch herbeizitiert, sondern einem damals schon „fast zersungene[n]“183 Gedicht Friedrich Rückerts das Bauprinzip dieser zunächst unscheinbaren Novelle abgewinnt. Typisch für Storms erzählpragmatischen Andeutungsstil ist, dass er die Strophe von In der Jugendzeit nicht komplett wiedergibt, sondern nur anzitiert, da sonst bereits alles gesagt, der Gehalt ausgesprochen wäre und seine Novelle sich lediglich als Kommentar zum Gedicht ausnähme.184 Zwei konventionelle Symbole und eine intertextuelle Allusion evozieren das Stimmungsbild einer elegisch durchsetzten (Frühlings-)Idylle, diese setzt den Reflexionsprozess in Gang. Je länger die Schwalbe singt, „je mehr gedenke ich einer längst Verstorbenen“ (226), doppelt gebrochen also, gleichsam über Umwege initialisiert sich hier die Narration. Als realistisches Erzählverfahren verdeckter Motivation ist dies außerordentlich raffiniert konstruiert: Vielleicht gerät auf diesem Wege die Romantik einmal nicht zur Antithese und zähen Erblast des Realismus zugleich, sondern in eine hegelianische ‚Aufhebung‘, wenn sie selbst die Strukturform dieses Textes bestimmt. Aber damit endlich genug, keine Resignation, eher Storms Vorgriff auf die späten Schicksalsnovellen, elaborierter Sinn für ökonomische Zwänge und den-
Annemarie Schimmel: Einleitung. In: Friedrich Rückert: Werke. Ausgew. u. hg. v. ders., 2 Bde. Frankfurt a. M. 1988, Bd. 1. S 9–22, hier S. 9. Rückert, Aus der Jugendzeit (1817/18), Bd. 1. S. 77 f., hier S. 77: „Als ich Abschied nahm, als ich Abschied nahm, / War die Welt mir voll so sehr; / Als ich wiederkam, als ich wiederkam, / War alles leer.“ Es lohnt nicht, hier das komplette Gedicht wiederzugeben, doch sei darauf hingewiesen, daß Storm die Novellenhandlung dazu antiparallel führt. Heißt es: „Was die Schwalbe sang, was die Schwalbe sang, / Die den Herbst und Frühling bringt; / Ob das Dorf entlang, ob das Dorf entlang / Das jetzt noch klingt? // Als ich Abschied nahm, als ich Abschied nahm, / Waren Kisten und Kasten schwer; / Als ich wiederkam, als ich wiederkam, / War alles leer“, so nimmt Harre, In St. Jürgen, S. 256, doch im Frühling Abschied und kehrt, ebd., S. 249, 265, im Herbst als wohlhabender Mann, nicht aber mit ‚leerer Kiste‘ zurück.
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noch trotziges Beharren auf romantische Liebe, die freilich ins Ideelle transponiert werden muss – doch vor allem spricht der deutsche Realismus ausgerechnet hier das größte Wort, dessen er fähig war, gelassen aus, denn „‚das Leben ist auch so vergangen‘“ (267).
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Heine, Kraus, Adorno – Liebe und Ökonomie im lyrischen Tausch 1 Nuancen einer Polemik Karl Kraus’ Polemik Heine und die Folgen hat sich – auch wenn sie ihr Ziel, den Angegriffenen zu ‚erledigen‘, verfehlt hat – als „einschneidender Verriß“ in die Heine-Rezeption eingeschrieben.1 Noch mehr aber hat sie Fragen über ihren Urheber aufgeworfen: über dessen politischen und ästhetischen Konservatismus ebenso wie über dessen antisemitische und antizionistische Invektiven, die mithin als jüdischer Selbsthaß gedeutet wurden.2 Darüber hinaus verdankt sich ihr Nachhall der Inszenierung eines ‚modernen‘ Gegensatzes zwischen Feuilletonismus und ‚wahrer‘ Dichtung,3 der jenseits von Kraus oder Heine bis in den ästhetischen Diskurs unserer Gegenwart hineinreicht. Anknüpfend an diese in einer Vielzahl verdienstvoller Arbeiten erschlossenen literatur- und kulturhistorischen Voraussetzungen und intertextuellen Zusammenhänge der Kraus’schen Polemik intendiert der vorliegende Beitrag, einen bislang kaum diskutierten Aspekt deutlicher zu konturieren: die Gegnerschaft zu Heine wurzelt auch in Kraus’ eigenem, idiosynkratischen Lyrikbegriff. Diese gattungsspezifische Dimension der Polemik zeigt sich gerade dort, wo Kraus Heine für einmal affirmativ zitiert; in den folgenden vier Versen, eine freigestellte Strophe aus dem „Heimkehr“-Zyklus im Buch der Lieder, sei implizit immerhin das Bekenntnis enthalten, dass das Lyrische in Heines Texten keine authentische Empfindung repräsentiere, sondern nur als Sprechweise instrumentalisiert werde: Und als ich euch meine Schmerzen geklagt, Da habt ihr gegähnt und nichts gesagt; Doch als ich sie zierlich in Verse gebracht, Da habt ihr mir große Elogen gemacht.4
Vgl. Wolfgang Preisendanz: Heinrich Heine. Werkstrukturen und Epochenbezüge. 2., vermehrte Aufl. München 1983, S. 108–110, hier S. 108. Vgl. insb. Dietmar Goltschnigg: Die Fackel ins wunde Herz. Kraus über Heine. Eine „Erledigung“? Texte, Analysen, Kommentar. Wien 2000. António Ribeiro: Karl Kraus and Modernism: A Reassessment. In: The Turn of the Century. Modernism and Modernity in Literature and the Arts. Hg. v. Christian Berg, Frank Durieux, Geert Lernout. Berlin u. a. 1995 (European Cultures. Studies in Literature and the Arts. Bd. 3), S. 143–154. Zit. nach Karl Kraus: Heine und die Folgen. In: Die Fackel 329 (1911), S. 6–33, hier S. 27. https://doi.org/10.1515/9783110740806-011
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Zwar handle es sich bei diesen Versen nicht um ein Gedicht, sondern bloß um ein Epigramm, dennoch sei hier „die Massenwirkung Heine’scher Liebeslyrik, in der die kleinen Lieder nicht der naturnotwendige Ausdruck, sondern das Ornament der großen Schmerzen sind, [...] treffend bezeichnet“. Kraus’ Vorwürfe – Ornament, Journalismus, Massenwirkung – sind bekannt: Jene Massenwirkung, durch die der Lyriker Heine sich belohnt fühlt. Es ist ein Lyriker, der in einer Vorrede schreibt, sein Verleger habe durch die großen Auflagen, die er von seinen Werken zu machen pflege, dem Genius des Verfassers das ehrenvollste Vertrauen geschenkt, und der stolz auf die Geschäftsbücher verweist, in denen die Beliebtheit dieser Lyrik eingetragen stehe. Dieser Stolz ist so wenig verwunderlich wie diese Beliebtheit. Wie vermöchte sich eine lyrische Schöpfung, in der die Idee nicht kristallisiert, aber verzuckert wird, der allgemeinen Zufriedenheit zu entziehen? Nie, bis etwa zur Sterbenslyrik, hat sich eine schöpferische Notwendigkeit in Heine zu diesen Versen geformt, daß es Verse werden mußten; [...]. Es ist in der Tat nichts anderes als ein skandierter Journalismus, der den Leser über seine Stimmungen auf dem Laufenden hält. Heine informiert immer und überdeutlich. Manchmal sagt ers durch die blaue Blume, die nicht auf seinem Beet gewachsen ist, manchmal direkt. [...] Und ob dann von Heine mehr bleibt als sein Tod? Die Lyrik seines Sterbens, Teile des Romanzero, die Lamentationen, der Lazarus: hier war wohl der beste Helfer am Werke, um die Form Heines zur Gestalt zu steigern. Heine hat das Erlebnis des Sterbens gebraucht, um ein Dichter zu sein.5
‚Wahre‘ Dichtung lässt sich Kraus zufolge nicht in Geschäftsbüchern bilanzieren; das antisemitische Profil seiner Polemik tritt in Um Heine noch deutlicher hervor: „Den deutschen Mann geniert es gar nicht, die in Sentimentalität erweichte Empfindung Heine’scher Liebeslyrik beim Juden zu kaufen: erst wenn dieser ehrlich wird und mit einem gottlosen Wort den Gefühlshandel beschließt, fühlt sich jener beschummelt.“6 Dennoch lässt sich nicht der gesamte Heine-Essay auf das Ressentiment reduzieren.7 Adorno hat Kraus’ Polemik in Die Wunde Heine ausdrücklich etwa von August von Platens antisemitischer Rempelei und den nationalsozialistischen Diffamierungen unterschieden, denen Heine später ausgesetzt sein sollte. Als „versachlichende und präzisierende Weiterführung“8 stimmt Adorno in Kraus’ Kritik ein, Heine habe „das Goethesche Diktum vom Gelegenheitsgedicht so ausgelegt, daß jede Gelegenheit ihr Gedicht fand“.9 „Das Leben“,
Kraus, Heine und die Folgen, S. 21 ff. Karl Kraus: Um Heine. In: Die Fackel 199 (1906), S. 1–6, hier S. 4. Vgl. zuletzt Peter Pabisch: Die verquerten Folgen der Folgen von ‚Heine und die Folgen‘. Eine Stellungnahme. In: Jahrbuch für internationale Germanistik 42/1 (2010), S. 25–38. Preisendanz, Heine, S. 110. Theodor W. Adorno: Die Wunde Heine. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann. Bd. 11: Noten zur Literatur. Frankfurt a. M. 1997, S. 95–100, hier S. 96.
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von dem Heines Gedichte zeugten, so Adorno, „war ihnen verkäuflich; ihre Spontaneität eins mit der Verdinglichung. Ware und Tausch bemächtigten sich in Heine des Lauts, der zuvor sein Wesen hatte an der Negation des Treibens.“10 Die Heine-Forschung hat wiederholt eingewendet, Adorno habe weitgehend übersehen, dass dessen Gedichte „auf die Trivialisierung der romantischen Lyrik bereits antworten“.11 Die Ambivalenz seiner Kritik besteht aber gerade darin, dass er dem „Romantiker Heine“ einerseits anlastet, die Trivialisierung lyrischer Sprechweisen entscheidend befördert zu haben, andererseits anerkennt, der „Aufklärer Heine“ habe den „latenten Warencharakter“ der Kunst verdienstvoll „hervorgekehrt“.12 Adornos besonderes Lob wird dem gleichfalls im „Heimkehr“-Zyklus enthaltenen Gedicht Mein Herz, mein Herz ist traurig zuteil, in dem die „Entfremdung [...] in den nächsten Erfahrungskreis“13 hineingezogen werde. Seine besondere Spannung verdankt das Gedicht der zunächst subtilen Dekonstruktion einer scheinbaren Idylle, gipfelnd in der Schlussstrophe: Er spielt mit seiner Flinte, Die funkelt im Sonnenroth, Er präsentiert und schultert – Ich wollt’, er schösse mich tot.“14
Adorno nennt Heines Gedicht ein „absichtsvoll falsches Volkslied“, das nach hundert Jahren endlich ein „großes Gedicht“ geworden sei, weil das Schicksal, „das Heine fühlte“, sich nun – Adornos Text geht auf einen Vortrag zurück, der 1956 im Westdeutschen Rundfunk ausgestrahlt wurde – „buchstäblich“ erfüllt habe; das stereotype Thema von Heines Gedicht, die hoffnungslose Liebe als Gleichnis der Heimatlosigkeit, wäre nun die „Heimatlosigkeit“ aller geworden.15 Die Triftigkeit dieser Heine-Lektüre dahingestellt, sind die Übereinstimmungen zwischen Adorno und Kraus hinsichtlich des besonderen Status der Lyrik im Ensemble der Gattungen für den vorliegenden Zusammenhang von besonderem Interesse. Die ganze Tragweite der beiläufigen Gattungsbestimmung Adornos, derzufolge die eigentliche Funktion der Lyrik die „Negation des Treibens“ sei, zeigt sich in Lyrik und Gesellschaft. Im zeitlichen Umfeld seines Heine-Essays ent-
Adorno, Heine, S. 97. Peter Uwe Hohendahl: Heinrich Heine. Europäischer Schriftsteller und Intellektueller. Berlin 2008, S. 213. Adorno, Heine, S. 97. Adorno, Heine, S. 100. Heinrich Heine: Buch der Lieder. Hg. v. Manfred Windfuhr. Hamburg 1975 (Düsseldorfer Ausgabe. Bd. 1,1), S. 209 f. Adorno, Heine, S. 100.
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standen, argumentiert Adorno hier, das Gesellschaftliche der Lyrik bestehe gerade darin, wie sie sich gegen das Gesellschaftliche immunisiere: Sie empfinden die Lyrik als ein der Gesellschaft Entgegengesetztes, durchaus Individuelles. Diese Forderung an die Lyrik jedoch, die des jungfräulichen Wortes, ist in sich selbst gesellschaftlich. Sie impliziert den Protest gegen einen gesellschaftlichen Zustand, den jeder Einzelne als sich feindlich, fremd, kalt, bedrückend erfährt, und negativ prägt der Zustand dem Gebilde sich ein: je schwerer er lastet, desto unnachgiebiger widersteht ihm das Gebilde, indem es keinem Heteronomen sich beugt und sich gänzlich nach dem je eigenen Gesetz konstituiert. Sein Abstand vom bloßen Dasein wird zum Maß von dessen Falschem und Schlechtem. Im Protest dagegen spricht das Gedicht den Traum einer Welt aus, in der es anders wäre. Die Idiosynkrasie des lyrischen Geistes gegen die Obergewalt der Dinge ist eine Reaktionsform auf die Verdinglichung der Welt, der Herrschaft von Waren über Menschen, die seit Beginn der Neuzeit sich ausgebreitet, seit der industriellen Revolution zur herrschenden Gewalt des Lebens sich entfaltet hat.16
Adornos Charakterisierung einer Rezeptionshaltung, deren bestimmendes Merkmal darin liegt, das ökonomische Moment bewusst auszuschließen, scheint nach wie vor auch Präferenzen der germanistischen Lyrikforschung zu korrespondieren.17 Mit ihrem Hinweis auf die ausgleichende Funktion des Autonomieideals der Lyrik in einer durchökonomisierten Welt könnte die Passage zugleich aber auch als eine treffende Charakterisierung von Kraus’ lyrikpoetologischem Programm gelesen werden. Als pedantischer Beobachter der Sprache in ihrem Gebrauch – Kraus macht „Kritik am Sprechen der Epoche“, nicht „Kritik an der Sprache“18 – misst auch er die pragmatischen Verfehlungen seiner Zeitgenossen an einem Ideal des ‚jungfräulichen Wortes‘; und ganz ähnlich wie Adorno – dessen Heine-Essay belegt, dass seine Gattungsbestimmung nicht nur deskriptiven Gehalt hat, sondern bei ihm selbst zugleich als Kriterium ästhetischer Wertung fungiert – sieht Kraus die Integrität der Sprache einzig im Gedicht noch gewahrt. Für den vorliegenden Zusammenhang entscheidend ist dabei, dass Kraus’ Nobilitierung der Lyrik eine Aktualisierung der Homologie zwischen Liebe und Literatur zugrunde liegt – und zwar im Sinne eines Ideals anökonomischer Liebe, das dem Ideal der Kunstautonomie strukturell verwandt ist.
Theodor W. Adorno: Rede über Lyrik und Gesellschaft. In: Ders.: Noten zur Literatur. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1997 (Gesammelte Schriften. Bd. 11), S. 49–68, hier S. 51 f. Vgl. Fabian Lampart: Lyrik und Ökonomie im 19. Jahrhundert. Überlegungen zu einem spannungsreichen Verhältnis. In: Henning Hufnagel, Olav Krämer (Hg.): Das Wissen der Poesie. Lyrik, Versepik und die Wissenschaften im 19. Jahrhundert, Berlin/Boston 2015, S. 219–237, hier S. 219 f. Helmut Arntzen: Karl Kraus und die Presse. Wien 1975, S. 39.
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2 Lyrik bei Kraus Kraus gilt in der Geschichte der deutschsprachigen Lyrik als Randfigur.19 Das hat auch damit zu tun, dass seine Popularität als Kritiker und Essayist so groß ist; und damit, dass er mit der Lyrik im engeren Sinn erst spät anfängt. Von einigen wenigen Spruchgedichten abgesehen, setzt seine lyrische Produktion erst nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs ein. Roger Bauer liest die Gedichte als eine zweifache „Antwort [...] auf die Herausforderung des Augenblicks“; einerseits „verstärkt, erhöht [die metrische Form] die gewohnte satirisch-polemische Aussage und verleiht ihr eine neue, prophetische Kraft“, andererseits artikuliere sich in jenen Gedichten, die sich nach Einschätzung der Forschung entscheidend der Begegnung mit Sidonie von Nádherný verdanken – die ersten fünf Bänder der Worte in Versen sind ihr gewidmet –, „die deutliche Absicht, gleichzeitig eine heile Welt zu verklären“.20 Die wiederholt formulierte These, wonach Kraus’ lyrische Produktion im Angesicht des Krieges eine ‚Ausgleichsfunktion‘ wahrnehme, trifft aber nur auf einen Teil seines lyrischen Œuvres zu; alle neun Bände der Worte in Versen sind gerade durch ein Spannungsverhältnis zwischen satirischer und idyllischer Tendenz strukturiert. Kraus’ Lyrik, die eine Vorliebe für den Blankvers, das Distichon, die Volksliedstrophe und das Sonett erkennen lässt, bleibt überwiegend an etablierten metrischen Formen orientiert, weist inhaltlich aber ein durchaus großes Spektrum auf; dass vor allem die nichtsatirische Lyrik sowohl in der zeitgenössischen als auch der späteren literarischen und literaturwissenschaftlichen Rezeption wenig Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen vermochte, erklärt sich auch dadurch, dass sie, wie Kraus selbst geahnt hat, in gewisser Weise im Widerspruch zu seiner posture (J. Meizôz) steht: „Ich bin – mag ich auch manche Worte in Versen geschrieben haben – ein Niederreißer“.21 Umso erstaunlicher ist, dass es am Ende mehr als 600 Gedichte sein werden, die Kraus größtenteils zuerst in der Fackel veröffentlicht. Zwischen 1916 und 1930 erscheinen zudem neun Bände Worte in Versen, in denen die meisten der Gedichte ein zweites Mal publiziert sind. Im Unterschied zur Kraus-Forschung oder
Vgl. Sigurd Paul Scheichl: Karl Kraus. In: Primus-Heinz Kucher (Hg.): Ein Epochenprofil. Österreichische Kultur und Literatur der 20er Jahre – transdisziplinär (https://litkult1920er.aau.at/ portraets/kraus-karl/; zuletzt abgerufen am 20.12.2021). Für das Folgende vgl. Paul Keckeis: Lyrik und Nachdichtungen. In: Karl Kraus-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Katharina Prager u. Simon Ganahl. Stuttgart 2022, S. 183–195. Roger Bauer: Karl Kraus: Von der Prosa zum Vers. Bemerkungen zum ersten Band der ‚Worte in Versen‘ und zum Gedicht ‚Sonnenthal‘. In: Sprachthematik in der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Wien 1974, S. 83–99, hier S. 83. Die Fackel 676 (1925), S. 56.
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insgesamt der Germanistik, aber auch im Unterschied zu seinen Zeitgenossen, misst Kraus selbst seinen lyrischen Projekten die größte Wichtigkeit bei. Das ist ein wesentlicher Aspekt seiner Werkpolitik in den späten 10er und 20er Jahren; seine Publikationsstrategie zielt darauf, die Lyrik in den Rang eines wesentlichen Bestandteils seines Werks zu heben. Entsprechend tadelnd kommentiert er die zurückhaltende Rezeption seiner Gedichte und registriert ebenso aufmerksam jede positive Reaktion in den deutschsprachigen Feuilletons. Die Ankündigung zum zweiten Band der Worte in Versen ergänzt Kraus um den Hinweis, dass der erste Band, von einer „einzige[n] Erwähnung“22 abgesehen, in der deutschen Presse unbemerkt geblieben sei; anlässlich der Publikation des vierten Bandes bemängelt Kraus, „daß mit Ausnahme des I. Bandes der Worte in Versen noch keiner eine zweite Auflage erreicht“23 habe. Die vereinzelten Würdigungen seiner lyrischen Publikationen registriert Kraus aufmerksam, ein Artikel des mit Else Lasker-Schüler befreundeten Wuppertaler Juristen Heinz Kahn, der Kraus’ Gedichte anlässlich seines 50. Geburtstags „die leuchtendste Seite dieses Menschenwerkes“ nennt, wird in der Fackel, wohl auch angesichts Kahns treffender Charakterisierung der Kraus’schen Poetik, in extenso wiedergegeben: „Gleichviel, ob das zarteste Erlebnis der Liebe oder der Schönheit in die Seligkeit des Wortes eingeht, oder ob das Leid der in Schuld und Verblendung gefangenen Zeit sich zu Dichtungen der Klage und des Fluches türmt, immer ist Erlöserin die Sprache, vor deren Wundern der Dichter selbst geblendet und voll Ehrfurcht die Augen senkt.“24 Kraus selbst hat von seinen Gedichten den höchsten Begriff, allein seine Nachdichtung der Madame l’archiduc, die im letzten Band der Worte in Versen abgedruckt ist, enthalte „mehr sprachlichen Nährwert [...] als eine Generation deutscher Lyrik“ und biete „mehr Anreiz [...] zu Nachweisen der Sprachlehre als selbst ein Jahrgang der Fackel diesem Thema widmen könnte, bis zu den vertiefteren Mysterien des musikgebundenen Worts“.25 Kraus ruft den LeserInnen der Fackel seine lyrischen Publikationen wiederholt in Erinnerung: etwa, indem er die autorisierte englische Übersetzung einer Auswahl seiner Gedichte durch Albert Bloch bewirbt, die im Oktober 1930 in Boston erscheint; oder die Vertonung von sieben Gedichten durch Ernst Krenek, deren Partitur 1931 unter dem Titel Durch die Nacht im Verlag der Universal-Edition erscheint. Ein Grund dafür, dass Kraus mit seinen Gedichten nicht reüssiert, liegt darin, dass sie ästhetisch doch eher konservativ sind. Ihr bestimmendes Merkmal ist, dass sie sich dem ‚modernen‘ Bruch mit den ästhetischen Traditionen, die
Die Fackel 445 (1917), S. 106. Die Fackel 557 (1921), S. 43. Die Fackel 657 (1924), S. 140. Die Fackel 845 (1930), S. 34 f.
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das 19. Jahrhundert noch weitgehend prägen, widersetzen. Diese Traditionalität – Robert Musil hat Kraus’ Lyrik „ein wenig spießbürgerlich“26 genannt – hat aber etwas mit der Funktion seiner Lyrik im Werkkontext zu tun. Die Lyrik nimmt in Kraus’ Gattungsensemble eben deshalb eine besondere Position ein, weil sich seine Sprachauffassung an ihr positiv bewähren muss. Das lässt sich auch der Gattungsdefinition ablesen, die Kraus – in expliziter Abgrenzung zur Auffassung, wonach die Lyrik jene Dichtungsart sei, „die die Empfindung des Dichters zum Ausdruck bringt“ – in seiner lyrikpoetologischen Hauptschrift Der Reim vorschlägt: Ein Gedicht zu schreiben, bedeutet Kraus zufolge „die unmittelbarste Übertragung eines geistigen Inhalts, eines Gefühlten oder Gedachten, Angeschauten oder Reflektierten, in das Leben der Sprache, als die Gabe, das Erlebnis in der anderen Sphäre so zu verdichten, als wäre es ihr eingeboren“.27 Gerald Stieg hat darauf aufmerksam gemacht, dass diese „Ethik der sprachlichen Genauigkeit“ bei Kraus in eine „Ontologie der Sprache“ münde, in deren Zusammenhang der Lyrik wiederum die entscheidende Funktion zukomme.28 So wird das Gedicht bei Kraus zur „engsten und strengsten Sprachprobe“,29 an der sich die Integrität des eigenen Gebrauchs der Sprache beweisen muss: „Lyrik ist alles, was am tiefsten Grund, / mögt oben ihr die Widersprüche lesen, / identisch wird zu immer neuem Wesen, / aus Klang und Ding ein unlösbarer Bund“.30
3 Zwischen Käuflichkeit und Autonomie: Affinitäten von Liebe und Lyrik Die zeitgenössisch intensiv diskutierten sprachtheoretischen Aporien, die man als Argumente gegen eine solche ‚Sprachmetaphysik‘ mobilisieren könnte, versucht Kraus „unter dem Gesetz der Sakralisierung“31 aufzulösen. Goethe und Shakespeare stehen Kraus’ historischem Kanon eben deshalb vor, weil sie seinen Projektionen einer ‚reinen Sprache‘ noch am ehesten standhalten. Auch
Robert Musil: Wiener Theater [9. Mai 1924]. In: Ders.: Kritik. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1978 (Gesammelte Werke. Bd. 9), S. 1659–1661, hier S. 1660. Karl Kraus: Der Reim. In: Die Fackel 757 (1927), S. 1–37, hier S. 18. Gerald Stieg: Goethe als Maßstab der Ästhetik und Polemik von Karl Kraus. In: Stefan Kaszyński, Sigurd Paul Scheichl (Hg.): Karl Kraus – Ästhetik und Kritik. Beiträge des KrausSymposiums Poznań. München 1989, S. 71–81, hier S. 76. Karl Kraus: Zur Sprachlehre. In: Die Fackel 572 (1921). S. 1–76, hier S. 56. Die Fackel 508 (1919), S. 5. Stieg, S. 77.
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die Traditionsgebundenheit der Lyrik von Kraus ist in seiner Sprachauffassung begründet. Ein Gedicht, das als Schlüssel zum Verständnis seiner Lyrik insgesamt gilt, trägt den Titel Bekenntnis: Ich bin nur einer von den Epigonen, die in dem alten Haus der Sprache wohnen. Doch hab’ ich drin mein eigenes Erleben, ich breche aus und ich zerstöre Theben. Komm’ ich auch nach den alten Meistern, später, so räch’ ich blutig das Geschick der Väter. Von Rache sprech’ ich, will die Sprache rächen an allen jenen, die die Sprache sprechen. Bin Epigone, Ahnenwerthes Ahner. Ihr aber seid die kundigen Thebaner!32
Der Unterscheidung zwischen langue und parole verwandt wird hier das Ideal einer Sprache imaginiert, das durch ihren Gebrauch immer schon verfehlt werden muss. Schon Walter Höllerer hat Kraus’ Lyrik deshalb als Ausdruck einer ‚Heiligsprechung der Sprache‘ gedeutet.33 Kraus hat sein sprachliches Ideal in der lyrikpoetologischen Hauptschrift Der Reim, die in wesentlichen Punkten auf Goethe rekurriert,34 ausführlich dargelegt. Als Motto wählt er ein Verspaar aus seinem auf denselben Titel lautenden Gedicht: „Er ist das Ufer, wo sie landen, / sind zwei Gedanken einverstanden.“ Diesen Versen ist abzulesen, dass der Reim für Kraus kein Instrument ist, um eine Dissonanz zwischen Klang und Bedeutung hörbar zu machen, sondern um Harmonie zu erzeugen; für Kraus ist „jener Reim der dichterisch stärkste [...], der mit dem Klang zugleich der Zwang ist, zwei Empfindungs- oder Vorstellungswelten zur Angleichung zu bringen“.35 Anders als etwa bei Heine soll der Reim aber auch nicht nur „Draufgabe auf eine skandierte Prosa“36 sein und darf nicht als „Zutat“ missverstanden werden, „ohne die noch immer die Hauptsache bliebe“.37 Darüber hinaus ist Kraus’
Die Fackel 443 (1916), S. 28. Walter Höllerer: Der Irrgarten des Lyrikers Karl Kraus [1959]. Zit. nach: Dietmar Goltschnigg (Hg.): Karl Kraus im Urteil literarischer und publizistischer Kritik. Texte und Kontexte, Analysen und Kommentare. Bd. II: 1945–2016. Berlin 2015, S. 256–261, hier S. 257 f. Stieg, S. 78. Die Fackel 443 (1916), S. 31. Kraus, Heine und die Folgen, S. 21. Kraus, Heine und die Folgen, S. 37.
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Reimpoetik auch gegen die zeitgenössische Tendenz zur ungereimten Lyrik konzipiert.38 Peter Rühmkorff hat Kraus’ Schrift in seiner Entgegnung „Die soziale Stellung des Reims“ (1965) als „restaurative Harmonielehre“39 gelesen, die verleugne, dass „auch das Reimgedicht [...] die ungeratene Welt nicht einfach wieder zusammenreimen“40 könne.41 Walter Benjamin hat im Zusammenhang der Kraus’schen Sprachphilosophie auf die zentrale Bedeutung des ‚Ursprungs‘, ein zentrales, seit den frühesten Gedichten immer wiederkehrendes Motiv, hingewiesen. Benjamin zufolge ist der Reim als konstitutives Element des Sprachdenkens von Kraus aufs Engste mit dessen fast ans Transzendentale reichenden Konzeption des Ursprungs verknüpft. Ausgehend von dem Vers „Du kamst vom Ursprung – Ursprung ist das Ziel“ – bei Kraus lautet der Vers: „Du bliebst am Ursprung. Ursprung ist das Ziel“42 – deutet Benjamin Kraus’ Ursprung als „Gegenstand einer Entdeckung“, die sich „in einzigartiger Weise [...] mit dem Wiedererkennen“43 verbinde. „Schauplatz dieser philosophischen Erkennungsszene“, so Benjamin weiter, „ist im Werk von Kraus die Lyrik und ihre Sprache der Reim“. Benjamins KrausRezeption ist für den vorliegenden Zusammenhang nun deshalb von besonderer Signifikanz, weil er, um Kraus’ Sprachdenken fassbar zu machen, an dieser Stelle eine Unterscheidung zwischen Liebe und Prostitution einführt und damit offenlegt, wie stark Kraus’ Lyrikverständnis am Autonomieideal orientiert ist. Benjamin charakterisiert diese herausragende Stellung des Reims bei Kraus mit Bezug auf einen Satz aus Pro domo et mundo – „Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück“44 – als Ausdruck einer „platonische[n] Sprachliebe“: „Die
Vgl. Luigi Reitani: Karl Kraus’ Reimtheorie. In: Barbara Beßlich, Dieter Martin (Hg.): ‚Schöpferische Restauration‘. Traditionsverhalten in der Literatur der Klassischen Moderne. Würzburg 2014, S. 255–261. Peter Rühmkorff: Die soziale Stellung des Reims. Karl Kraus und die Grenzen der Wesensbeschwörung. In: Klaus Schröter (Hg.): Grüße. Hans Wolffheim zum sechzigsten Geburtstag. Frankfurt a.M. 1965, S. 103–111, hier S. 110. Rühmkorff, S. 108. Bei diesem Vorwurf des Anachronismus sollten die innovativen Aspekte der Kraus’schen Reimtheorie aber nicht übersehen werden; immerhin war Kraus der erste, der, etwa in Opposition zu Stefan George, dessen Gebrauch des Reims nur einem klanglichen Kalkül folge, „die Abkehr vom Prinzip der Reinheit des Reims“ gefordert hat. Vgl. Dieter Lamping: Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung. Göttingen 1989, S. 180 f. Die Fackel 381 (1913), S. 68. Walter Benjamin: Allmensch, Dämon, Unmensch [1931]. Zit. nach: Dietmar Goltschnigg (Hg.): Karl Kraus im Urteil literarischer und publizistischer Kritik. Texte und Kontexte, Analysen und Kommentare. Bd. II: 1945–2016. Berlin 2015, S. 449–471, hier S. 466. Die Fackel 326 (1911), S. 44.
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Nähe aber, der das Wort nicht entfliehen kann, ist einzig der Reim. So wird das erotische Urverhältnis von Nähe und Ferne in seiner Sprache laut: als Reim und Name. Als Reim steigt die Sprache aus der kreatürlichen Welt herauf, als Name zieht sie alle Welt zu sich empor“.45 Die letztliche Unverfügbarkeit einer solchen ‚reinen‘ Sprache veranschaulicht Benjamin dagegen in einem Bild käuflicher Liebe: „Am Reime erkennt das Kind, daß es auf den Kamm der Sprache angelangt ist, wo es das Rauschen aller Quellen im Ursprung vernimmt. Dort oben ist sie zu Hause, die Kreatur, die nun nach so viel Stummheit im Tier und so viel Lüge in der Hure im Kinde zu Wort kommt“.46 Mit dieser Unterscheidung zwischen Käuflichkeit und Autonomie identifiziert Benjamins Lektüre jenes konstitutive Element des Kraus’schen Lyrikbegriffs, dem sich Adornos Sympathie für Kraus verdanken dürfte. Unter der Überschrift „Entkunstung der Kunst“ überträgt Adorno, Juliane Rebentisch hat darauf aufmerksam gemacht, in der Ästhetischen Theorie das Verhältnis zwischen „Geliebter und Prostituierter [...] auf die kunst-kritische Unterscheidung von autonomer Kunst auf der einen und bloßen ‚Kulturwaren‘ auf der anderen Seite“47: Von der Autonomie der Kunstwerke, welche die Kulturkunden darüber aufreizt, daß man sie für etwas Besseres hält, als was sie zu sein glauben, ist nichts übrig als der Fetischcharakter der Ware, Regression auf den anarchischen Fetischismus im Ursprung der Kunst: insofern ist das zeitgemäße Verhalten zur Kunst regressiv. Konsumiert wird an den Kulturwaren ihr abstraktes Füranderessein, ohne daß sie wahrhaft für die anderen wären; indem sie diesen zu Willen sind, betrügen sie sie. Die alte Affinität von Betrachter und Betrachtetem wird auf den Kopf gestellt.48
Steht der Andere im Zuge des käuflichen Liebesdiensts „ausschließlich für die eigenen Projektionen zur Verfügung“, bildet dagegen „eine Erfahrung von Unverfügbarkeit“ das konstitutive Moment für Adornos Ideal wahrer Liebe.49 Eine Entsprechung findet dieser Gegensatz auch in Adornos sprachphilosophischer Unterscheidung zwischen Sprache und Kommunikation; auch hier zeigt sich eine gewisse Affinität zu Vorstellungen einer ‚wahren‘ Sprache als einer „Antriebskraft unverfälschten Darstellens“.50 Die Nähe zwischen Adorno und Kraus Benjamin, S. 468. Benjamin, S. 467. Juliane Rebentisch: Die Liebe zur Kunst und deren Verkennung. Adornos Modernismus. In: Texte zur Kunst 52 (2003), S. 78–85. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Hg. v. Rolf Tiedemann unter Mitwirkung v. Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M. 2003 (Gesammelte Schriften. Bd. 7), S. 33. Rebentisch, S. 78. Vgl. Britta Scholze: Kunst als Kritik. Adornos Weg aus der Dialektik. Würzburg 2000, S. 183–203, hier S. 202.
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zeigt sich also nicht zuletzt in ihrer einseitigen Aktualisierung der Homologie zwischen Liebe und Literatur. Luhmann zufolge besteht die Funktion der romantischen Liebe als Code darin, „Autonomie zur Reflexion zu bringen“51 und damit auch die Paradoxien einer Liebeskonzeption zu reflektieren, in der Selbstreferentialität das bestimmende Moment ist. Genau in dieser Ambivalenz wird die Liebe um 1800 zum privilegierten Gegenstand der Literatur, die sich selbst zu einem autonomen Funktionsbereich ausdifferenziert, diesen Prozess – und dazu gehören eben auch die Paradoxien oder Aporien des eigenen Anspruchs auf Autonomie – nun aber im Kommunikationsmedium Liebe thematisieren kann.52 Es wurde bereits angedeutet – es ist auch die Liebe, die Kraus zum Dichter macht. Die privilegierte Beziehung von Liebe und Gedicht hat damit sowohl eine biografische als auch eine poetologische Dimension: Einerseits figuriert die Liebe im Zusammenhang der Lyrik bei Kraus als Metapher einer reinen Sprache; so lautet bereits ein Aphorismus aus Sprüche und Widersprüche (1909): „Die Sprache tastet wie die Liebe im Dunkel der Welt einem verlorenen Urbild nach. Man macht nicht, man ahnt ein Gedicht.“53 Andererseits hat diese poetologische Affinität auch in einer Reihe von Gedichten Ausdruck gefunden, die sich Kraus’ Begegnung mit Sidonie von Nadherny verdanken. Exemplarisch zitiert sei hier das Sonett Zuflucht, das bereits mehrfach Gegenstand sowohl biografischer54 als auch poetologischer55 Deutungen geworden ist: Hab’ ich dein Ohr nur, find’ ich schon mein Wort: wie sollte mir’s dann an Gedanken fehlen? Von zwei einander zugewandten Seelen ist meine flüchtig, deine ist der Hort. Ich komme aus dem Leben, jenem Ort, wo sie mit Leidenschaft das Leben quälen und sich die Menschen zu der Menschheit zählen, und technisch meistern sie den Tag zum Tort.
Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a. M. 1982, S. 51. Vgl. Tobias Klinkert: Literarische Selbstreflexion im Medium der Liebe. Untersuchungen zur Liebessemantik bei Rousseau und in der europäischen Romantik. Freiburg im Breisgau 2002, S. 250. Die Fackel 381 (1913), S. 69. Caroline Kohn: Karl Kraus. Stuttgart 1966, S. 37. Dietrich Hakelberg: Taktile Texte. Karl Kraus und das Israelitische Blindeninstitut WienHohe Warte. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 62 (2018), S. 33–60, hier S. 58 f.
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So zwischen Schmach und Schönheit eingesetzt, rückwärts die Welt und vorwärts einen Garten ersehend, bleibt die Seele unverletzt. Fern zeigt das Leben seine blutigen Scharten, an mir hat es sich selber wundgehetzt. Öffne dein Ohr, um meines Worts zu warten!56
Wie im Bekenntnis-Gedicht wird auch hier eine Möglichkeit authentischen Sprechens imaginiert; aber anders als etwa nach dem Paradigma des subjektiven Erlebnisgedichts hat dieses Sprechen bei Kraus zugleich eine reziproke Anerkennung zur Voraussetzung – es ist wie ein Sprechen zwischen zwei Liebenden, die sich einander zu- und von der Welt abgewendet haben. Nicht nur, dass Heines Lieder, indem sie eben nicht „der naturnotwendige Ausdruck, sondern [bloß] Ornament der großen Schmerzen“ sind, einem solchen hohen Begriff der Lyrik nicht annähernd gerecht werden; vielmehr parodieren seine Liebesgedichte jene Sehnsucht bereits, die Kraus am Beginn des 20. Jahrhunderts zu aktualisieren versucht.
4 Jenseits der Ökonomie? Adorno konzipiert die Lyrik als sprachliche Tätigkeit, die sich den Regeln, welchen die normale Sprache unterworfen ist, zu entziehen versucht; bei Kraus steigert sich diese Tendenz zur poetologischen Maxime. Diese Konzeption der Lyrik korrespondiert Präferenzen der Lyrikforschung, die durch die jüngere und jüngste Lyriktheorie unter Hinweis auf die zentrale Bedeutung ihrer pragmatischen Ausrichtung allerdings einer umfassenden Revision unterzogen werden. Jonathan Culler erklärt das ‚Ritualistische‘ in seiner Theory of the Lyric überhaupt zum wesentlichsten Merkmal lyrischer Generizität: allein ihre sprachliche Struktur prädestiniere die Lyrik, eine intersubjektive, mithin kollektive Dimension zu stiften. Das große Paradox der Lyrik, so Culler, liege darin, dass ihre soziale Wirksamkeit selbst dort, wo sie Widerstand gegen den Status quo artikuliere, letztlich von ihrer etwa durch Rhythmus und Lautlichkeit gestützten Eingängigkeit oder Einprägsamkeit abhänge.57 In einem ganz ähnlichen Sinn hat schon Bourdieu auf die kommunikative Dimension der Lyrik hingewiesen. Das Bourdieu’sche Modell sprachlicher Produktion und Zirkulation basiert auf der Annahme, dass die Spra-
Die Fackel 443 (1916), S. 4. Vgl. Jonathan Culler: Theory of the Lyric. Cambridge MA 2015, S. 350.
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che nur in der Zirkulation sprachlicher Äußerungen existiert. In dieser Auffassung ist die alte Unterscheidung zwischen langue und parole aufgehoben: Jeder Sprechakt und allgemeiner jede Handlung ist eine bestimmte Konstellation von Umständen, ein Zusammentreffen unabhängiger Kausalreihen: auf der einen Seite die – gesellschaftlich bestimmten – Dispositionen des sprachlichen Habitus, die eine bestimmte Neigung zum Sprechen und zum Aussprechen bestimmter Dinge einschließen (das Ausdrucksstreben), und eine gewisse Sprachfähigkeit, die als sprachliche Fähigkeit zur unendlichen Erzeugung grammatisch richtiger Diskurs und, davon nicht zu trennen, als soziale Fähigkeit zur adäquaten Anwendung dieser Kompetenz in einer bestimmten Situation definiert ist; auf der anderen Seite die Struktur des sprachlichen Marktes, die sich als ein System spezifischer Sanktionen und Zensurvorgänge durchsetzen.58
Nach Bourdieus Sprachauffassung konstituiert sich der sprachliche Markt in der Zirkulation von Diskursformen. Unter Bezugnahme auf stilistische Normen und das rhetorische Kriterium der Angemessenheit – des aptum – rückt Bourdieu ganz ab von der Idee einer reinen Sprache; anstatt „in der Sprache zu suchen, was doch in die Sozialbeziehungen gehört“,59 plädiert Bourdieu für eine Analyse der spezifischen Sanktionen und Zensurvorgänge, die das sprachliche Handeln als Praxis regulieren. Die Lyrik repräsentiert Bourdieu zufolge eben deshalb ein besonders anschauliches Beispiel für die Ökonomie des sprachlichen Tauschs, weil das Paradox jeder Form von sprachlicher Kommunikation, demzufolge ein Sprecher durch jede sprachliche Äußerung – jenseits der bloßen Reproduktion grammatikalisch korrekter Sprache – einen Distinktionswert zu erzeugen versuche, der vom Empfänger der Botschaft dennoch ‚dechiffriert‘ werden kann, im Medium des Gedichts besonders akut sei: Für jeden Diskurs gilt, was nur über den lyrischen gesagt worden ist, dessen größte Wirkung – wenn er glückt – darauf beruht, daß er bei jedem Individuum andere Erfahrungen wachruft: Gerade weil die Konnotation [...] in einer gesellschaftlich bestimmten Beziehung entsteht, in die die Empfänger die ganze Vielfalt ihres Instrumentariums der symbolischen Aneignung einbringen, spricht sie die Einzigartigkeit der individuellen Erfahrung an. Es ist das Paradox der Kommunikation, daß sie ein gemeinsames Medium voraussetzt, aber ihr Ziel nur erreicht, wenn sie – wie an dem Grenzfall gut zu sehen ist, bei dem es, wie oft bei der Lyrik, um die Vermittlung von Gefühlen geht – einmalige, das heißt sozial geprägte Erfahrungen erzeugt oder wiederaufleben läßt.60
Mit dieser Rückbindung des Gedichts an das Spannungsverhältnis zwischen sprachlicher Norm und individuellem Ausdruck trifft Bourdieu einen neuralgi Pierre Bourdieu: Was heisst sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches. Wien 1990, S. 11 f. Bourdieu, S. 12. Bourdieu, S. 13.
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schen Punkt in der ‚modernen‘ Gattungsgeschichte der Lyrik: Lyrisches Sprechen ist immer, gerade dort, wo es authentischer Ausdruck einer individuellen Erfahrung sein und zugleich auch als Sprechakt gelingen will, in der Gefahr, entweder hermetisch oder stereotyp zu sein. Bourdieu macht allerdings darauf aufmerksam, dass sich diese beiden, scheinbar entgegengesetzten lyrischen Sprechweisen wechselseitig bedingen. Vor diesem Hintergrund lässt sich der spezifische Stellenwert der Lyrik in Kraus’ Gattungsensemble noch deutlicher konturieren: In seiner Praxis als Sprachkritiker nimmt Kraus eine Perspektive ein, die Bourdieus Konzeption des sprachlichen Tauschs durchaus verwandt ist; Kraus Sprachkritik liegt die Überzeugung zugrunde, man könnte aus der Beobachtung des Gebrauchs der Sprache Befunde über den gesellschaftlichen Zustand einer ganzen Epoche generieren kann. Diese analytische Position verbindet sich bei Kraus zudem mit dem Anspruch, selbst Sanktion auszusprechen und die sprachlichen Verfehlungen seiner Zeitgenossen zu markieren, Kraus will ein „Diener der Sprache“61 sein. Diese Rigidität, genau hierin liegt die spezifische Funktion des lyrischen Ideals von Kraus, lässt sich allerdings nur unter der Bedingung rechtfertigen, dass sich die eigene Sprachauffassung auch positiv bewähren kann. Zu diesem letzten Ort, an dem die sprachliche Integrität nicht gestört ist, bestimmt Kraus eben die Lyrik; hier existiert für ihn noch jene sprachliche Norm, die nicht immer schon durch ihren Gebrauch korrumpiert ist. An Kraus’ Gedichten wäre nachzuweisen, dass sie selbst, indem sie sich bewusst in den lyrikpoetologischen Diskurs einschreiben,62 an jener Ökonomie des sprachlichen Tauschs partizipieren. Manche dieser Gedichte von Kraus – zu denken wäre hier etwa an das Epigramm auf ein Hochgebirge – sind Heines prekären Idyllen nah verwandt; auch Kraus’ Gedichte sind bisweilen von poetologischen Reflexionen durchsetzt und legen ihren Konstruktionscharakter damit umso deutlicher offen. Die zugespitzte, antagonistische Konstellation zwischen dem Kraus’schen Strohmann „Heine“ und Kraus selbst macht sichtbar, dass Verdinglichung und Autonomie im Feld der Lyrik zwei divergierende Kräfte repräsentieren, die sich wechselseitig bedingen. Die Provokation besteht für Kraus nicht zuletzt darin, dass Heine bewusst preisgibt, wie die Lyrik zu einem Medium der Durchsetzung jener ‚antiökonomischen Ökonomie’ (Bourdieu) im
Vgl. dazu Joseph P. Strelka: Anstatt eines Vorworts. In: Ders. (Hg.): Karl Kraus. Diener der Sprache – Meister des Ethos. Tübingen 1990, S. 7–17. Vgl. Klaus Weissenberger: Zum Rhythmus der Lyrik von Karl Kraus. Das schöpferische Prinzip eines „Epigonen“. In: Joseph P. Strelka (Hg.): Karl Kraus. Diener der Sprache – Meister des Ethos. Tübingen 1990, S. 19–37.
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Feld der Literatur wird, während er selbst auf ein anökonomisches Ideal der Sprache angewiesen ist, um seine Sprachkritik zu fundieren. Um weiter in dieser Homologie zwischen Liebe und Literatur zu sprechen: Aus historischer Distanz hat sich das Konzept der romantischen Liebe zugleich als Symptom und Bewältigung von Kontingenz erwiesen, die einerseits Effekt des Verlusts höfischer und ständischer Konventionen war, zugleich aber auch nur ein Schein, weil an die Stelle dieser Konventionen in Gestalt einer neuen Produktionsweise andere Formen der Heteronomie traten, die nun, darin besteht vielleicht ein Unterschied zu den alten Konventionen, nicht mehr inszeniert, sondern verschleiert werden sollten. In diesem Sinn scheint es geboten, auch die Idee oder das Ideal des autonomen Kunstwerks als historisches Phänomen zu beschreiben. In Ausweitung von Adornos These, wonach das Gesellschaftliche der Lyrik eben darin bestehe, dass sie sich gegen das Gesellschaftliche immunisiere, ließe sich argumentieren, dass die Diskursform Lyrik auch jene Spielarten miteinschließt, die genau diese Tendenz reflektieren; und ebenso jene, die weder das eine noch das andere intendieren und in ihren Praxisbezügen so vielleicht wirklich eins sind in Verdinglichung. Kraus’ Gegnerschaft zu Heine verrät eine Sehnsucht danach, die Ökonomie, durch die jene Homologie zwischen Liebe und Literatur erst ihr volles Bedeutungspotenzial entfaltet, zum Verschwinden zu bringen; dagegen bestehtHeines Projekt gerade darin, immer wieder zur Kenntlichkeit zu bringen, wie die Lyrik dieses Autonomieideal notwendig verfehlen muss.
Zwischen den Kriegen – Zwischen den Systemen
Barbara Neymeyr
Eros als Machtinstrument: Zur Verflechtung von Liebe und Ökonomie in Schnitzlers Erzählung Spiel im Morgengrauen 1 Prolegomena: Handlungskonstellationen der Hasard-Novelle Arthur Schnitzlers Spiel im Morgengrauen gehört zu den bedeutenden Erzählungen seines Spätwerks.1 Spannungsreich und mit psychologischer Tiefenschärfe inszeniert dieser um die Jahreswende 1926/1927 erstmals erschienene Text die durch Hasard-Obsession verursachte Krisensituation eines jungen Leutnants. Dabei wird das narrativ entfaltete Geschehen im Militärmilieu der k.u.k.-Monarchie zugleich auf die soziohistorische Situation der Zwischenkriegszeit hin transparent. Darüber hinaus verbindet Schnitzlers Spiel im Morgengrauen eine exemplarische Gesellschaftsdiagnose mit kritischen Perspektiven auf den Geschlechterkonflikt. – Die Erzählung besteht aus zwei sehr unterschiedlichen Teilen: Während sich die Kapitel I–VII auf die Spielleidenschaft des Leutnants Willi Kasda konzentrieren, entfalten die Kapitel VIII–XV anschließend die problematischen, letztlich sogar katastrophalen Konse-
Schnitzler publizierte Spiel im Morgengrauen nach mehr als zehnjähriger Entstehungszeit (Schwerpunkt 1923/26) vom 5. Dezember 1926 bis 9. Januar 1927 zuerst als Fortsetzungsgeschichte in der Berliner Illustrirten Zeitung. Noch im selben Jahr 1927 folgte im Verlag S. Fischer die erste Buchausgabe, der innerhalb kurzer Zeit 25 Auflagen beschieden waren. (Vgl. dazu die detaillierten Angaben von Irène Cagneau: ‚Spiel im Morgengrauen‘ (1926/27). In: SchnitzlerHandbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Christoph Jürgensen, Wolfgang Lukas und Michael Scheffel. Stuttgart/Weimar 2014, S. 232–236, hier S. 232.) Arthur Schnitzler arbeitete auch am Drehbuch des amerikanischen Tonfilms Daybreak mit, dessen Premiere am 19. September 1931 stattfand, einen Monat vor seinem Tod. (Details zu den Filmplänen präsentiert Manfred Kammer: Das Verhältnis Arthur Schnitzlers zum Film. Aachen 1983, S. 180–190, 204–214.) – Zitiert wird im Folgenden nach dieser Edition: Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die Erzählenden Schriften. Zwei Bände. Frankfurt a. M. 1981. Bd. 2, S. 505–581. (Die Belege folgen jeweils im laufenden Text nach dem Zitat.) – Stefan Zweig würdigt Spiel im Morgengrauen am 18.5.1927 als „eine ausserordentliche Novelle, gradlinig im Ablauf und doch kreisförmig rund, rein abgeschlossen“ (Stefan Zweig: Briefwechsel mit Hermann Bahr, Sigmund Freud, Rainer Maria Rilke und Arthur Schnitzler. Hg. v. Jeffrey B. Berlin, Hans-Ulrich Lindken und Donald A. Prater. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 2007, S. 428). https://doi.org/10.1515/9783110740806-012
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quenzen seiner Hasard-Obsession. Am Ende erscheint der Suizid Kasdas als Bankrotterklärung einer nicht nur in ökonomischer Hinsicht ruinierten Existenz. Im Handlungsverlauf führt Schnitzlers Spiel im Morgengrauen eine materialistische Deformation der Lebensverhältnisse vor, die auch die erotische Dimension mit einschließt. Dabei inszeniert die Erzählung originelle Verflechtungen von Libido und Ökonomie. Mit sozialpsychologischer Tiefenschärfe wird zugleich die Gender-Problematik beleuchtet, und zwar insofern, als Retrospektiven die Handlung der Gegenwart mit fiktionalen Ereignissen der Vergangenheit verknüpfen und auf diese Weise auch die Geschichte einer weiblichen Emanzipation in das fiktionale Szenario mit einbeziehen. Die einfache Blumenverkäuferin Leopoldine Lebus, mit der Willi Kasda mehrere Jahre vor der Erzählgegenwart eine erotische Begegnung hatte, trifft er als erfolgreiche Geschäftsfrau wieder, der es durch Kapitalanhäufung zwischenzeitlich gelungen ist, ökonomische Unabhängigkeit zu erlangen. Allerdings wird ihr spezifisches Lebensmodell keineswegs als vorbildlich oder gar als Idealzustand vorgeführt. Denn es basiert letztlich nicht auf paritätischen Geschlechterverhältnissen, sondern beruht bloß auf der Übernahme tradierter männlicher Rollenmuster: Das asymmetrische Verhältnis von Mann und Frau wird dabei nicht aufgehoben, sondern lediglich invertiert. Warum Leopoldine Lebus nach der Wiederbegegnung mit dem Leutnant Kasda in der Erzählgegenwart ihre ökonomische Dominanz über ihn ausnutzt und inwiefern sogar der erotische Kontakt dabei der Machtinszenierung dient, kann nur im narrativen Kontext deutlich werden. Daher skizziere ich im Folgenden auch solche Aspekte, die wichtige Handlungsstränge verknüpfen und insofern den Hintergrund für das Verständnis der spezifischen Verflechtungen von Libido und Ökonomie in dieser Erzählung bilden. Abschließend beziehe ich durch vergleichende Seitenblicke auf Schnitzlers Erzählungen Casanovas Heimfahrt und Fräulein Else in komprimierter Form noch weitere Varianten des komplexen Beziehungsnetzes zwischen Eros und Ökonomie in die Analyse mit ein.
2 Geld im Spielfeld von Hasard-Obsession und Macht-Ambition In mehrfacher Hinsicht dominiert das titelgebende Spielmotiv die in Baden und Wien stattfindende fiktionale Handlung: als Glücksspiel2, als gesellschaftliches
Schon Dostojewskis Roman Der Spieler (1867) widmet sich dem Sujet des Glücksspiels. Wie Dostojewski, dessen Werke gerade in den 1920er Jahren Hochkonjunktur hatten, greift auch
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Rollenspiel und als erotisches Spiel. Sämtliche Formen des Spiels sind durch das Geld miteinander verbunden. – Kurz zum Plot: Ein früherer Regimentskamerad des Protagonisten Willi Kasda, der Oberleutnant Bogner, ist durch Geldnot in eine Krisenlage geraten und bittet Kasda um Hilfe. Dieser hofft, die fehlende Geldsumme dann ausgerechnet beim Kartenspiel aufzutreiben und gibt dabei seiner längst habituellen, von ihm selbst aber verdrängten Spielsucht nach. In welchem Maße er von einer Hasard-Obsession3 getrieben ist, macht die Erzählung durch intensiv gestaltete Spielszenen evident. In diesen Sequenzen, die mit mehrfachem Wechsel von Glück und Pech Handlungsdynamik und Spannung erzeugen, werden die äußeren Vorgänge zugleich auf die innere Disposition der Hauptfigur hin transparent. Dabei zeigen diese Spielpartien, wie sehr die Kartenspieler auf Geldgewinn beim Hasard fixiert sind. Das gilt auch für Willi Kasda, der nach gigantischen Verlusten allerdings hohe Spielschulden hat, die im Offiziersmilieu der k.u.k.-Epoche den Verlust der ‚Ehre‘4 nach sich ziehen, falls er sie nicht zu begleichen vermag. Und in der Hand des dubiosen, beim Glücksspiel jedoch besonders erfolgreichen Konsuls Schnabel, der Kasda beharrlich zum
Schnitzler bei der literarischen Gestaltung der Hasard-Thematik auf eigene Erfahrungen zurück (vgl. Arthur Schnitzler: Jugend in Wien. Eine Autobiographie. Hg. v. Therese Nickl und Heinrich Schnitzler. Mit einem Nachwort von Friedrich Torberg. Frankfurt a. M. 1981, S. 265–266, 307, 320–321). Vgl. auch Erich Kaiser: Arthur Schnitzler: ‚Leutnant Gustl‘ und andere Erzählungen. Interpretation. München 1997 (Oldenbourg-Interpretationen. Bd. 84), S. 69. – Schon in Schnitzlers früher Erzählung Reichtum (1889) ist das Spiel relevant, im Spätwerk gewinnt es noch an Bedeutung: Außer Schnitzlers Spiel im Morgengrauen (1926/27) sind Casanovas Heimfahrt (1918) und Fräulein Else (1924) sowie die Abenteurernovelle (1928) zu nennen. Mehrfach verbindet sich das Motiv des Glücksspiels bei Schnitzler mit der erotischen Thematik. Vgl. dazu Barbara Neymeyr: Aporien der Hasard-Leidenschaft im kulturanthropologischen Kontext. Die Inszenierungen des Glücksspiels in Stefan Zweigs ‚Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau‘ und in Arthur Schnitzlers ‚Spiel im Morgengrauen‘. In: Hasard. Der Spieler in der deutschsprachigen Literaturgeschichte. Hg. v. Louis Gerrekens und Achim Küpper. Würzburg 2012, S. 141–168. Schon in Schnitzlers Monolognovelle Leutnant Gustl (1900) bestimmt der fragwürdige Ehrenkodex der Offiziere die Mentalität des Protagonisten. Aber erst die späte Erzählung Spiel im Morgengrauen (1926/27) entlarvt diesen Ehrenkodex als fassadenhaft, indem sie alle Lebensverhältnisse auf das Geld reduziert. Zugleich greift dieses Werk sozialkritisch weiter aus, indem es an der individuellen Situation der Protagonisten die Problematik einer zerfallenden gesellschaftlichen Ordnung zeigt und kritische Epochendiagnose mit psychologischer Analyse verbindet. – Die Fragwürdigkeit des militärischen Ethos wird im Spiel im Morgengrauen auch durch das unehrenhaft-skrupellose Verhalten von Offizieren demonstriert. Kasdas Gegenspieler Schnabel attackiert den militärischen Ehrenkodex, indem er zu Recht das moralisch indifferente Verhalten der Offiziere gegenüber dem geschlechtskranken Leutnant Greising anprangert (538–539), der skrupellos das Risiko eingeht, Frauen zu infizieren, und sein Verhalten zynisch so kommentiert: „Das ist der Lauf der Welt, müssen halt andere auch dran glauben“ (517).
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Weiterspielen verführt, indem er ihm mehrfach Banknoten zuschiebt, wird Geld auf besondere Weise zum Machtinstrument: Der Konsul rächt sich an der etablierten Gesellschaft, die ihn (wie knappe Andeutungen vermuten lassen) für kriminelle Taten einst mit Inhaftierung bestrafte, indem er nun dazu beiträgt, dass sich mit dem Leutnant Kasda einer ihrer Vertreter in den finanziellen Ruin hineinmanövriert. Dessen Spielschulden belaufen sich am Ende „auf elftausend Gulden“, einen Betrag, der nach Kasdas eigener Kalkulation seiner „Gage von drei oder vier Jahren mit Zulagen“ entspricht (533).5 In welchem Maße das Geld die zwischenmenschlichen Beziehungen depraviert, führt Schnitzlers Spiel im Morgengrauen aber nicht allein in dem Geschehen vor, das die Erzählgegenwart dominiert. Erhellende Einblicke in dieser Hinsicht bieten zusätzlich nämlich epische Rückwendungen, durch die relevante Ereignisse der Vorgeschichte in den narrativen Kontext hineingeholt werden. In einer früheren Zeitphase hatte der Leutnant Willi Kasda seine erotische Begegnung mit der einfachen Blumenverkäuferin Leopoldine Lebus auf infame Weise degradiert, indem er sie für eine gemeinsame Nacht kaltherzig wie eine Prostituierte bezahlte, obwohl sie ihn durch ihre Fähigkeit zu besonderer emotionaler Hingabe persönlich besonders berührt hatte. Ihm selbst war damals durchaus bewusst, dass sich die Begegnung mit der jungen Frau durch eine singuläre Erlebnisintensität von seinen bisherigen erotischen Erfahrungen unterschieden hatte. Mehrere Jahre später pervertiert die mittlerweile längst zur pragmatischerfolgreichen Geschäftsfrau avancierte Leopoldine Lebus auf ungewöhnliche Weise die bürgerliche Institution Ehe, und zwar durch das finanzielle Arrangement, das sie als Ehefrau von Kasdas Onkel Robert Wilram durchgesetzt hat. In welche Korrelation dabei Eros und Ökonomie geraten, wird im Folgenden noch zu zeigen sein. – Und Willi Kasda sieht sich durch die ruinösen Spielschulden nach seinem Hasard-Desaster aus Geldnot dazu genötigt, sich in gewisser Weise selbst zu prostituieren und sich dabei so zu erniedrigen, dass sein Suizid am Ende plausibel erscheint: als Folge seiner ökonomischen Aporie und zugleich als Konsequenz aus dem Verlust von ‚Ehre‘ und Selbstachtung. Dem finanziellen Bankrott, in den sich Kasda durch seinen Spielexzess hineinmanövriert hat, folgt sein moralischer Ruin.
Gemäß der 1857 in Österreich eingeführten neuen Guldenwährung entspräche ein Gulden im Jahre 1892 heutzutage etwa einem Betrag von 10,2 Euro. Demnach hätten 11.000 Gulden etwa den Wert von 112.200 Euro. Da Kasda selbst den Betrag mit seinem Gehalt von „drei oder vier Jahren“ gleichsetzt, wäre das Jahresgehalt Kasdas etwa auf 32.057 Euro zu beziffern, sofern man den Mittelwert von dreieinhalb Jahren annimmt.
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In einem rhythmischen Wechsel zwischen hoher Handlungsdynamik und retardierenden Phasen gestaltet Schnitzlers Erzählung Spiel im Morgengrauen die Krisensituation eines innerlich haltlosen Hasardeurs. Dabei wird zugleich die auf obsoleten Konventionen und Vorurteilen basierende Gesellschaft der Vorkriegszeit kritisch in den Blick genommen, die auch Symptome einer moralischen Depravation erkennen lässt. Nur notdürftig kaschiert die bürgerliche Fassade einen inneren Zersetzungsprozess, der Desorientierung zur Folge hat und in der Spielobsession als exemplarischem Phänomen zutage tritt. Zudem ist die Hasard-Leidenschaft gut geeignet, um die Labilität des Leutnants, seine Tendenz zum Selbstbetrug und seinen fehlenden Wirklichkeitssinn evident zu machen.6 Durch interne Fokalisierung in Gestalt ‚erlebter Rede‘ zeigt der Text, auf welche Weise dem Leutnant Kasda sukzessive die Kontrolle über sich selbst und seine Spieleinsätze entgleitet. Spekulationssucht und Geldgier fördern seine Enthemmung beim Kartenspiel, und fatale Fehleinschätzungen der Situation beschleunigen sein Desaster: Durch Alkohol stimuliert und enthemmt, liefert er sich rückhaltlos dem unkalkulierbaren Rhythmus des Zufalls aus und geht unberechenbare Risiken ein, indem er sich dem steten Wechsel von Gewinn und Verlust überlässt. Kasdas eigene Überzeugung, anders als sein ehemaliger Kamerad Bogner über besondere „Selbstbeherrschung“ zu verfügen (520), die es ihm ermögliche, allen „Versuchungen zu widerstehen“ (513), wird durch seinen eklatanten Kontrollverlust beim Kartenspiel ad absurdum geführt und dadurch als Selbstbetrug erwiesen. Stattdessen erscheint Kasda als haltloser Hasardeur ohne stabile Identität, der von diffusen Impulsen getrieben ist. Wer sein Schicksal vom Zufallsprinzip abhängig macht, verspielt damit zugleich die Chance auf eine selbstbestimmte Existenz. Symptomatisch für die Einbuße der Autonomie erscheint Kasdas gedankliche Fixierung auf das Schicksal. Dass er sich von eigener Verantwortung für sein Desaster auch nachträglich noch freispricht, zeigt sein späterer Rückblick auf die Spielpartie, „die, anfangs ganz solid, im weiteren Verlauf, ohne sein Da-
Zur Psychologie des Spielers vgl. Susan Anderson: Profile of a Gambler: Willi Kasda in ‚Spiel im Morgengrauen‘. In: Arthur Schnitzler and His Age. Intellectual and Artistic Currents. Hg. v. Petrus W. Tax and Richard H. Lawson. Bonn 1984, S. 90–102. – Ekfelt betrachtet das Glücksspiel in Schnitzlers Erzählung als ein Symbol der menschlichen Existenz. Vgl. Nils Ekfelt: Arthur Schnitzler’s ‚Spiel im Morgengrauen‘: Free Will, Fate, and Chaos. In: The German Quarterly 51 (1978), S. 170–181. – Kecht schließt mit ihrem Versuch, Handlungsstruktur und Figurenkonstellation der Erzählung nach dem Modell eines Kartenspiels zu deuten, an Ekfelts Thesen an. Vgl. Maria-Regina Kecht: Analyse der sozialen Realität in Schnitzlers ‚Spiel im Morgengrauen’. In: Modern Austrian Literature 25 (1992), S. 181–197.
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zutun, in ein wildes Hasard ausgeartet sei“ (551). Abergläubisch konstruiert sich Willi Kasda aus Geschehnissen, denen jedweder Kausalbezug zu seiner Situation fehlt, gleichwohl „eine günstige Vorbedeutung“ (565). Dabei entzieht er sich der realistischen Einschätzung seiner finanziellen Lage: „Er wollte nicht zählen, das brachte vielleicht Unglück“ (529). Diese Einstellung signalisiert, dass rationale Kontrollinstanzen für den Leutnant unwirksam geworden sind, sobald er sich hemmungslos dem Rausch des Spiels überlässt. Sein Vertrauen auf Zufall und Schicksal lässt eine unreflektierte Selbstauslieferung an das Irrationale erkennen: „Wie, wenn man die Entscheidung dem Schicksal überließe?“ (521), überlegt er, kurz bevor er sich der Spielleidenschaft hingibt. Im Verhaltensrepertoire des notorischen Spielers schließt aber sogar ein solcher Irrationalismus keineswegs die Autosuggestion aus, man könne beim Hasard-Spiel mit rationaler Logik strategisch vorgehen: So glaubt Willi Kasda irrtümlich an ein „System“, das man nur konsequent durchzuführen brauche (525), um zu gewinnen. Und noch kurz vor seinem Suizid meint er, er habe am Spieltisch allein für seinen ehemaligen Kameraden Bogner „so lange das Schicksal versucht, bis er selbst als Opfer gefallen war“ (575). Indem sich Kasda suggeriert, sein Handeln entspringe aus einer altruistischen7 Einstellung, vollzieht er zugleich eine apologetische Umdeutung, mit der er die eigene Spielleidenschaft vor sich selbst verschleiert. Die tatsächlichen Gegebenheiten freilich nehmen sich anders aus: Erstens hatte Kasda lange vor Bogners Erscheinen in der Kaserne, also völlig unabhängig von dessen Anliegen, bereits geplant, „nach Baden“ zu fahren, um dort (übrigens nicht zum ersten Mal) „eine kleine Hasardpartie“ mitzumachen: „Einundzwanzig oder Bakkarat, je nachdem“ (511). Und zweitens verfällt er der magnetischen Anziehungskraft des Kartenspiels auch dann noch, als er die von Bogner benötigten knapp tausend Gulden längst gewonnen hat (519), das äußere Handlungsziel also erreicht ist. Und die angebliche Fähigkeit zur „Selbstbeherrschung“, auf die sich Kasda glaubt berufen zu können (520), dementiert er in actu: indem er am selben Sonntagabend noch zweimal dem Faszinosum des Hasards erliegt und an den Spieltisch zurückkehrt, obwohl er schon vor dem Abendessen mehr als zweitausend Gulden besitzt (522), also mehr als das Doppelte des Geldbetrages, den Bogner benötigt. Auch Kasdas Plan, die „Hälfte davon“ für sich selbst „als Spielfonds für nächsten Sonntag“ zu reservieren (522), ist für die Mentalität des notorischen Spielers symptomatisch. Dass er der Hasard-Obsession mit untergründig schlechtem Gewissen folgt, ist
Gegen eine solche altruistische Haltung spricht auch, dass Kasda mehrfach mit deutlicher Distanz an Bogners Notlage denkt (S. 512–513, 516, 520, 526, 548, 549, 565).
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daran zu erkennen, dass er sich – angesichts seiner zunächst unerwartet hohen Gewinne – „nicht so glücklich“ fühlt, „als es doch natürlich gewesen wäre“ (522). Zahlreiche Textsignale verraten die für Hasardeure typische Verkennung der kontingenzbedingten Risiken des Spiels. So glaubt Kasda während einer Glücksphase: „Seine Kühnheit belohnte sich: er gewann und gewann immer weiter“ (526). Und auf eine Pechsträhne reagiert er so: „Sind die hundert weg, so hör’ ich auf, unbedingt, schwor er sich zu. Aber er glaubte selbst nicht daran“ (526). Nach einer Phase abwechselnder Gewinne und Verluste verfügt Willi Kasda, der das Kartenspiel mit einem Startkapital von nur hundertzwanzig Gulden begonnen hat (529), schließlich über die stolze Summe von mehr als viertausendzweihundert Gulden (527). Charakteristisch für die Mentalität des Hasardeurs erscheint seine ambivalente Einstellung zum nahenden Ende des Spiels: „Willi fühlte sich zwiespältig bewegt. Wenn man jetzt aufhörte, so konnte ihm nichts mehr geschehen, und das war gut. Zugleich aber spürte er eine unbändige, eine wahrhaft höllische Lust, weiterzuspielen“ (527). Hier erscheint Kasda selbst nicht als autonomes Individuum, das sich aus eigenem Antrieb aus dem Spielgeschehen zurückziehen könnte, sondern als bloßes Objekt von Aktionen seiner Mitspieler, als käme ihnen allein die souveräne Entscheidungsgewalt über das Ende seines Spiels zu. Hat er sich zuvor dem Schicksal und der unkalkulierbaren Kontingenz des Spielprozesses überantwortet, so unterwirft er sich hier heteronom der Majorität der Spielergruppe. Die ruinöse Entwicklung kulminiert dann im Kapitel VII von Schnitzlers Spiel im Morgengrauen: Hier widerfährt Kasda ein katastrophaler Spielverlust, weil er unter Alkoholeinfluss in einen exzentrischen Irrationalismus gerät und dabei jedes Maß verliert (528). Beim vergeblichen Versuch, hohe Verluste durch noch höhere Gewinne zu kompensieren, manövriert er sich in ein immer größeres Schuldendesaster hinein. Eine irrationale Kausalität suggeriert sich Kasda, wenn er eine Spielkarte für sein Pech verantwortlich macht: „Pik-Neun. Verdammte Pik, die brachte ihm immer Unglück“ (531). Zur Suspendierung jeglichen Realitätssinns kommt es, als Kasda sogar darauf verzichtet, den Überblick über seine Spieleinsätze zu wahren: „Und zwei Tausender wanderten zum Konsul hinüber, und gleich wieder zurück. Oder waren es mehr? Drei oder vier? Besser gar nicht hinsehen, das brachte Unglück“ (531–532). Wenig später heißt es: „Er setzte – wieviel, wußte er nicht genau. Eine Handvoll Banknoten. Das war eine neue Art, es mit dem Schicksal aufzunehmen. Acht. Nun mußte es sich wenden“ (532). Bei seinen tollkühnen Spielentscheidungen folgt Kasda spontan seinen irrationalen Impulsen jenseits einer pragmatisch kalkulierenden Ratio und gibt sich sogar der Illusion hin, er könne gerade durch seine exzentrische Radikalität das Schicksal in seinen
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Dienst zwingen. Gigantisch nimmt sich am Ende allerdings nur der Schuldenberg aus, der sich schließlich auf elftausend Gulden beläuft (533). Angesichts solcher Verhaltensweisen erscheint Willi Kasda auch als typischer Repräsentant der sogenannten ‚impressionistischen Persönlichkeit‘8, die haltlos zwischen konträren Impulsen changiert und weder die Realität noch sich selbst als kohärente Einheit zu erleben vermag. Der Diskontinuität des Bewusstseins entspricht insofern die Diffusion der Wirklichkeit. Der bereits im Fin de siècle präsente ‚impressionistische‘ Figurentypus taucht wiederholt auch in Schnitzlers Œuvre auf: Dass sich der Protagonist in Schnitzlers frühem Einakter-Zyklus Anatol (1892) in so auffallendem Maße auf den singulären Augenblick fixiert, erscheint als antagonistischer Reflex gegen desorientierende Kontingenzerfahrungen der Moderne, aber auch als Symptom seiner labilen Identität. Mit einer solchen Mentalität können Aspekte von Eros und Ökonomie auf analoge Weise verbunden sein: Der Rausch des Glücksspiels verheißt dem Hasardeur Willi Kasda im Spiel im Morgengrauen ähnliche Erlebnisintensitäten, wie sie Anatol von seinen erotischen Abenteuern erhofft. In seinem Werk Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, das die Wiener Moderne bekanntlich maßgeblich beeinflusst hat, bezeichnet Ernst Mach das Ich schon 1886 als „unrettbar“9, als Konglomerat aus ständig wechselnden Empfindungen und Eindrücken von einer instabilen Außenwelt. Diese Diagnose trifft in besonderem Maße auf die spezifische Mentalität von Abenteurern im Bereich von Hasard und Eros zu, deren Bewusstsein sich in eine kontingente Abfolge ekstatischer Momente aufzulösen scheint. Die Sucht nach dem Erlebnis singulärer Intensität, in dem alle vitalen Energien rauschhaft zusammenschießen, verbindet Casanova-Naturen mit Hasard-Abenteurern, die überdies von einer irrationalen Risikobereitschaft angetrieben werden. Indem sie sich exzessiv dem Spiel des Zufalls überlassen, suspendieren sie jede Norm vernünftiger Selbstregulation. Die Leidenschaft für das Glücksspiel erscheint Spielernaturen wie Willi Kasda als Refugium der Erlebnisintensität – mit Aussicht auf rauschhafte Steigerungszustände in einer durch pragmatische Zweckorientierung zusehends ent-
Vgl. Rolf Allerdissen: Arthur Schnitzler: Impressionistisches Rollenspiel und skeptischer Moralismus in seinen Erzählungen. Bonn 1985, S. 61, 68. Ernst Mach: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen. Mit einem Vorwort zum Neudruck von Gereon Wolters. Nachdruck der 9. Aufl. Jena 1922. [1. Aufl. Leipzig 1886.] Darmstadt 1991, S. 20.
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zauberten Alltagsrealität.10 – Mehr als ein Jahrzehnt nach Schnitzlers Spiel im Morgengrauen betont Walter Benjamin in seinem Essay Über einige Motive bei Baudelaire (1939) die spezifische Ambivalenz des Glücksspiels, das er zwischen „reflektorische[m] Mechanismus“ und den Verlockungen „des Abenteuers“ oder der „Fata Morgana“ imaginärer Sinnerfüllung sieht11; laut Benjamin besteht „die regulative Idee des Spiels“ im „Immer-wieder-von-vorn-anfangen“.12 Wenn der niederländische Historiker Johan Huizinga in seinem Buch Homo ludens (1938) generell die befreiende Funktion des Spiels betont, das von pragmatischen Handlungszwängen wegführe und den Menschen mental entlaste, indem es ihm alternative Szenerien eines ‚Als ob‘ eröffne, dann ist eine solche Charakterisierung der eigengesetzlichen Spielwelt, in der Huizinga sogar den Ursprung der Kultur sieht13, von den spezifischen Konstellationen des Glücksspiels weit entfernt. Von lustvoller Befreiung jedenfalls kann schwerlich die Rede sein, wenn der Hasardeur mitunter geradezu zwanghaft agiert, weil ihm das unkalkulierbare Risiko des Glücksspiels zur Droge geworden ist. Das konkrete Lebensdesaster eines hemmungslosen Kontingenz-‚Junkies‘ zeigt den Spieler nämlich als existenziell gefährdeten Grenzgänger. – Interessante kulturanthropologische Horizonterweiterungen ergeben sich übrigens, wenn die Risikobereitschaft des modernen Menschen im ‚Lebensspiel‘ analog zum Glücksspiel beschrieben wird wie in den Kulturdiagnosen von Richard Sennett, der das Hasardspiel durch anthropologische Implikationen in einen größeren Zusammenhang stellt.14
Perlmann beschreibt das Glücksspiel „als letztes Abenteuerpotential in einer entzauberten Welt“ (Michaela L. Perlmann: Arthur Schnitzler. Stuttgart 1987 (Sammlung Metzler. Bd. 239), S. 166). Walter Benjamin: Über einige Motive bei Baudelaire. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I, 2. Hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1974, S. 605–653, hier S. 632, 633. Walter Benjamin (vgl. Anm. 11), S. 636. Vgl. Johan Huizinga: Homo ludens. Versuch einer Bestimmung des Spielelementes der Kultur. Basel/Brüssel/Köln/Wien (o.J.), S. XV–XVI, S. 2–4, 8. Vgl. Richard Sennett: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Deutsch von Martin Richter. Berlin 1998 [Die englische Originalausgabe trägt den Titel: The Corrosion of Character. New York 1998.], S. 11–13, 107–110, 114–121. – Der amerikanische Soziologe Richard Sennett meint, der Mensch der Gegenwart führe nicht mehr ein von Kontinuitätsvorstellungen und langfristigen Plänen bestimmtes Leben auf der Basis einer konstant bleibenden Identität. Vielmehr setze sich seine von Zäsuren bestimmte Biographie aus einer Kette spontaner Neuorientierungen zusammen, deren Erfolg auch davon abhänge, wie weitgehend die Erinnerung an Vergangenes verdrängt werde. Diese conditio humana in der Postmoderne analogisiert Sennett mit Charakteristika des Glücksspiels, in dem das Ergebnis jeder neuen Spielrunde das Resultat der vorangegangenen hinfällig macht. Wie das Hasardspiel sieht Sennett das Leben des Gegenwartsmenschen als Nacheinander immer neuer ‚Nullpunkt‘-Situationen. Gewisse Strukturanalo-
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Schnitzler führt im Spiel im Morgengrauen auf charakteristische Weise vor, wie die Hasard-Obsession einer Spieler-‚Persönlichkeit‘ in Kontrollverlust, Desorientierung und Realitätsentfremdung mündet. Dabei ist es auch sozialpsychologisch aufschlussreich, inwiefern die Folgen von Glücksspiel, Liebesspiel und Machtspiel in der Konfliktsituation des Protagonisten zusammenwirken. Denn die Aporie des Hasardeurs intensiviert sich durch die spezifischen Verflechtungen von Eros und Ökonomie, die in der Handlungskonstellation des Textes angelegt sind. Die Hasard-Novelle drängt das Geschehen auf eine erzählte Zeit von nur zwei Tagen zusammen und erzeugt auf diese Weise eine hohe dramatische Intensität. Und gerade die rasante Abfolge der Ereignisse verbindet sich mit besonderem Handlungsdruck. Schon zu Beginn wird die prekäre Lage des früheren Oberleutnants Bogner deutlich, der früher wegen einer Spielaffäre den Militärdienst quittieren musste und sich dann in seinem Zivilberuf als Kassierer in einer familiären Notsituation einer Veruntreuung schuldig gemacht hat (508). In der Anfangspassage von Schnitzlers Spielernovelle offenbart Bogner seine Krisenlage: Von der unmittelbar bevorstehenden Kassenrevision bedroht, bittet er seinen ehemaligen Kollegen Kasda um sofortige Hilfe, um das entstandene Defizit von 960 Gulden rechtzeitig ausgleichen zu können. Später gerät auch Willi Kasda selbst unter großen Druck, als der Konsul nach dem nächtlichen Hasard-Desaster beim Kartenspiel auf der Begleichung der „Ehrenschulden“15 innerhalb einer sehr knapp bemessenen Zahlungsfrist von vierundzwanzig Stunden beharrt (541). Den Zugzwang, unter dem der Leutnant steht, hat Schnitzler durch eine präzise Vermittlung äußerer Handlungsimpulse mit inneren Vorgängen psychologisch konsequent gestaltet. Erzählstrategisch korrespondiert damit der Wechsel zwischen szenisch-neutralen Textpassagen und
gien zur ‚impressionistischen Persönlichkeit‘ seit dem Fin de siècle weist hier also die Anthropologie der Postmoderne auf. Rechtspolitisch fragwürdig war damals die Diskrepanz zwischen dem allgemeinen Strafrecht und dem davon unabhängigen militärischen Standesrecht. Obwohl Glücksspiele in Österreich gesetzlich verboten waren (laut § 522 des Strafgesetzbuches von 1852), ähnlich wie das Duell, muss Willi Kasda für die weder strafrechtlich noch zivilrechtlich einklagbaren Spielschulden standesrechtlich einstehen; anderenfalls droht ihm die unehrenhafte Entlassung aus der Armee. Zur Uneinheitlichkeit der Rechtsnormen und ihrer soziologischen Bedeutung vgl. Klaus Laermann: ‚Spiel im Morgengrauen‘. In: Akten des Internationalen Symposiums ‚Arthur Schnitzler und seine Zeit‘. Hg. v. Giuseppe Farese. (Jahrbuch für Internationale Germanistik Reihe A. Bd. 13). Bern 1985, S. 182–200, hier S. 191–193. – Weil Kasda den Ehrenkodex des Militärs unreflektiert verinnerlicht hat, bleibt auch der Denkanstoß, den ihm später sein Onkel Robert Wilram zu geben versucht, folgenlos: „meiner Ansicht nach, kann man immer noch ein ganz anständiger Mensch sein – und werden, auch in Zivil. Die Ehre verliert man auf andere Weise. Aber so weit, daß du das begreifst, kannst du heute noch nicht sein“ (554).
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personalen Partien, die Kasdas Krisensituation und seine Ambivalenzen durch interne Fokalisierung zum Ausdruck bringen. Vielfältige narrative Gestaltungsmöglichkeiten nutzt Schnitzler, indem er in der Hasard-Novelle Bewusstseinsbericht und Gedankenzitat variantenreich mit Erzählertext und erlebter Rede verbindet.16 Der extreme Handlungsdruck setzt einen Prozess in Gang, der die Persönlichkeitsschwäche des Leutnants schließlich vollends evident macht. Da er aufgrund von Labilität und fehlender Willensenergie kaum noch autonom zu entscheiden vermag, wird er leicht zum Opfer fremder Absichten: Er selbst spielt, und andere treiben ihr fragwürdiges Spiel mit ihm. Dies ist bereits während der Hasardpartien zu erkennen, wenn der Konsul die psychische Ausnahmesituation des Spielers für eigene Zwecke nutzt, indem er ihm immer wieder mit größeren Geldbeträgen aushilft, um ihn als Schuldner von sich abhängig zu machen. Und nach Kasdas katastrophalen Verlusten nimmt Leopoldine Lebus die Notlage des Hasardeurs zum Anlass, ihm eine Lektion zu erteilen. Hilflos seinen changierenden Stimmungen ausgeliefert und zwischen verschiedenen Handlungsoptionen schwankend, fühlt sich Willi Kasda am Ende in einer ausweglosen Situation. Während die erste Hälfte von Schnitzlers Erzählung Spiel im Morgengrauen ganz von der Hasard-Thematik und der mit ihr verbundenen ökonomischen Problematik dominiert wird, beziehen die späteren Textpassagen, in denen Kasda verzweifelt nach einer Lösung für sein finanzielles Desaster sucht, verstärkt auch die erotische Dimension mit ein. Zugleich vermitteln diese späteren Phasen des Handlungsverlaufs in psychologisch aufschlussreicher Weise Vergangenheit und Gegenwart, und zwar im Medium von Kasdas Erinnerungen, die einen intensiven Einblick in seine Mentalität bieten. Sie machen auch das frühere Fehlverhalten des Leutnants gegenüber Leopoldine Lebus evident, das in der Erzählgegenwart zu einer späten Revanche der damals von ihm gedemütigten Frau führt.
3 Experimentelle Spannungsfelder: Zur Vermittlung von Eros und Ökonomie Die folgenreiche Verflechtung der Figurenschicksale, die Schnitzler in seiner Erzählung Spiel im Morgengrauen inszeniert, kann als eine Art von psychologischem
Darauf weist Scheffel hin (Michael Scheffel: Arthur Schnitzler. Erzählungen und Romane. Berlin 2015, S. 118–119).
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Experiment betrachtet werden.17 Im Gespräch mit seinem Onkel Robert Wilram, an den sich Willi Kasda angesichts seiner katastrophalen Spielschulden zunächst hilfesuchend wendet, weil er von ihm finanzielle Unterstützung erhofft, erfährt er von dessen Ehe mit Leopoldine Lebus, mit der er selbst vor längerer Zeit eine Liebesnacht verbracht hatte. Die vergangene Lebensepisode, die sich aus Kasdas Erinnerungsfragmenten rekonstruieren lässt, ist charakteristisch für seine Mentalität: Zwar hatte ihm das einfache „Blumenmädel“ (557) mit dem „rührendkindliche[n] Gesicht“ (559) in der gemeinsamen Nacht „so gut gefallen, daß er sich beim Abschied fest entschlossen glaubte, sie wiederzusehen; es traf sich aber zufällig, daß gerade damals ein anderes weibliches Wesen ältere Rechte an ihn hatte“, das ihn „als die ausgehaltene Geliebte eines Bankiers keinen Kreuzer kostete“, und so kam es, dass „er sie seit jener einzigen Nacht niemals wiedergesehen“ hatte (559). Diese knapp pointierten Ereignisse offenbaren, in welchem Maße das Verhalten des Leutnants Kasda in eroticis von einem kalten, ja rücksichtslosen Pragmatismus dominiert ist. Offenbar verblassen Gefühlsregungen bei ihm bis zur Bedeutungslosigkeit, sobald ihm die Aussicht auf materiellen Nutzen andere Prioritäten nahelegt. Und mehr noch: Trotz der „wundersamen, niemals sonst erlebten Hingegebenheit“ (573) der damals noch sehr jungen Frau, die Kasda in der Erzählgegenwart retrospektiv erneut bewusst wird, brachte er es damals fertig, ihr wie einer Prostituierten einen Geldschein auf den Nachttisch zu legen. Dieses infame Verhalten wiegt umso schwerer angesichts von Leopoldines Bitte „Laß mich nicht allein, ich hab’ dich lieb“ (574), an die sich Kasda auch nach Jahren noch genau erinnern kann. Die Tat des Leutnants lässt ein gravierendes Persönlichkeitsdefizit erkennen. Von Leopoldines Hingabe berührt und zugleich irritiert, weicht er dem Wagnis der Liebe aus und zieht sich auf das Ritual zurück, das den Geschäftsverkehr zwischen einer Prostituierten und ihrem Freier regelt. Zu einer persönlichen Bindung, die über die Oberflächlichkeit sexueller Affären hinausreicht, scheint er nicht bereit zu sein, weil er sich von dieser Option offenbar überfordert fühlt. So lässt es sich erklären, „dass der sonst so sparsame Kasda Leopoldine bezahlt, obwohl er sie ‚umsonst‘ hätte ‚haben‘ können“.18
Vgl. dazu auch Herbert Knorr: Experiment und Spiel – Subjektivitätsstrukturen im Erzählen Arthur Schnitzlers. Frankfurt a. M. 1988 (Europäische Hochschulschriften Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur. Bd. 1020), S. 178, 185–187. Horst Thomé: Autonomes Ich und ‚Inneres Ausland‘. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848–1914). Tübingen 1993 (Hermaea N.F. Bd. 70.), S. 683. Vgl. auch S. 684.
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In psychologisch aufschlussreicher Weise zeigt diese Vergangenheitsepisode also eine problematische Amalgamierung von Eros und Ökonomie, bei der finanzielles Kalkül wichtiger erscheint als emotionale Bindung. War in diesem Sinne die Entscheidung gegen eine Liaison mit Leopoldine Lebus von Kasdas Sparsamkeit und Beziehungsunfähigkeit diktiert, so wird seine nur scheinbare Großzügigkeit nach der Liebesnacht auf ein perfides Kalkül hin transparent, das emotionale Defizite des Leutnants erkennen lässt. – Schuldhaft ist an seinem Verhalten also, dass er Leopoldine trotz ihrer liebevollen Hingabe den entwürdigenden Hurenlohn zukommen ließ, um sich selbst von jeder persönlichen Verantwortung ihr gegenüber zu befreien. Demzufolge handelt es sich nicht um eine objektivierende Darstellung, sondern schlicht um Realitätsverleugnung, wenn es im Medium interner Fokalisierung aus Kasdas Perspektive heißt, er habe ihr „nobel einen Zehnguldenschein“ hingelegt (574). Indem der Leutnant seinen feigen Fluchtreflex verdrängt und sein Fehlverhalten sogar zum Ausdruck von Großzügigkeit stilisiert, negiert er die realen Gegebenheiten und versucht sie nachträglich durch eine untergeschobene positive Motivation vor sich selbst zu rechtfertigen. In der Erzählgegenwart wird deutlich, dass die von Kasda gedemütigte Leopoldine aus ihrer traumatischen Erfahrung mit ihm inzwischen weitreichende Lehren gezogen und diese in der Folgezeit in ihrem eigenen Leben auch strategisch umgesetzt hat. Mithilfe pragmatischer Zielstrebigkeit und realistischer Einschätzung von Chancen und Risiken gelang es der ehemals armen und arglos-unerfahrenen Blumenverkäuferin mittlerweile, ihr gutgläubig-schlichtes Naturell, das sie so leicht zum Spielball fremder Interessen werden ließ, durch wachsende Lebenserfahrung zu überwinden. So konnte sie allmählich sogar zur erfolgreichen Geschäftsfrau avancieren, weil sie ihre berufliche Existenz ganz konsequent nach dem in der bürgerlichen Gesellschaft geltenden Prinzip des Machterwerbs durch Kapitalanhäufung ausrichtete. Durch klug kalkulierte Selbstorganisation bei ihrer Lebensgestaltung vermochte sie Autonomie zu erringen und sich von Abhängigkeiten zu befreien19 – vor allem von männlicher Dominanz aufgrund finanzieller Potenz. Im Unterschied zur intellektuell emanzipierten Mathematikerin und Philosophin Marcolina in Schnitzlers Erzählung Casanovas Heimfahrt, die trotz ihrer Jugend ihrem ganzen sozialen Umfeld – auch der Titelfigur Casanova selbst –
Ein groteskes Missverständnis liegt der These von Rolf Geißler zugrunde, Kasda habe Leopoldine „zur Geschäftsfrau, ja zum ‚Mann‘ [..] gemacht, wie sie bekennt, und er hat ihr ihre jetzige Freiheit verschafft“ (Rolf Geißler: Die Welt als Spiel. Arthur Schnitzlers Erzählung ‚Spiel im Morgengrauen‘. In: Literatur für Leser 9 (1986), S. 204–211, hier S. 210).
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durch besondere Reflexionsfähigkeit und Urteilsschärfe weit überlegen ist20, repräsentiert Leopoldine die auf finanzieller Selbständigkeit basierende weibliche Emanzipation. Beiden Figuren ist allerdings der Anspruch auf eine uneingeschränkte Selbstbestimmung gemeinsam – auch in sexueller Hinsicht. In Gestalt von Marcolina und Leopoldine hat Schnitzler für Casanovas Heimfahrt und Spiel im Morgengrauen also Frauen entworfen, die souverän jenseits etablierter Geschlechterrollen und gesellschaftlicher Konventionen agieren. Selbstbewusst können sie ihr jeweils spezifisches Gegenmodell zu den normierten Konzepten weiblicher Existenz verwirklichen und sich dadurch einen größeren Handlungsspielraum erobern, als ihnen ein traditionelles Rollenverständnis zubilligen würde. Zukunftsweisende Perspektiven verbinden sich mit diesen Formen weiblicher Emanzipation insofern, als diese Frauenfiguren Schnitzlers den engen Radius der damals in der Gesellschaft etablierten Weiblichkeitskonzepte überschreiten und dadurch ein Entwicklungspotenzial freilegen, das jenseits der gewohnten Beschränkungen neuartige Möglichkeiten eröffnet. In der Erzählgegenwart von Schnitzlers Spiel im Morgengrauen beantwortet Leopoldine Lebus die Frage des Leutnants Kasda, „ob sie glücklich sei“, mit dem Selbstbewusstsein der emanzipierten Frau folgendermaßen: „Ich glaub’ schon“, sagt sie, um dann fortzufahren: „Vor allem bin ich ein freier Mensch, das hab’ ich mir immer am meisten gewünscht, bin von niemandem abhängig, wie – ein Mann“ (570). – Trotz des Nachdrucks, mit dem sie hier ihre Autonomie hervorhebt, scheint über dieser mit leiser Stimme eher zögernd gegebenen Antwort ein Schatten von Melancholie zu liegen, als müsse sie sich gegen eigene skeptische Anwandlungen selbst versichern, dass ihr Glück tatsächlich in der Selbstbestimmung liegt. Denn das fiktionale Szenario lässt zugleich auch deutlich werden, dass Leopoldine Lebus für ihren Emanzipationsprozess einen hohen Preis gezahlt hat. Indem Schnitzlers Erzählung die Rahmenbedingungen und Grenzen dieses primär auf Autonomie und finanzielle Unabhängigkeit zielenden Lebenskonzepts aufzeigt, wird eine differenziertere Bewertung dieser Frauenfigur nahegelegt.
Marcolinas intellektuelle Überlegenheit sogar gegenüber dem viel älteren Casanova, der sie vergeblich mithilfe seiner größeren Lebenserfahrung zu beeindrucken versucht, macht Schnitzlers Werk Casanovas Heimfahrt auch durch aufschlussreiche Kontroversen evident. Vgl. dazu die Detailanalyse von Barbara Neymeyr: Die Entzauberung des Mythos: Schnitzlers Novelle Casanovas Heimfahrt als subversive Charakterstudie im Spannungsfeld intertextueller Bezüge vom Barock bis zur Décadence. In: Textschicksale. Das Werk Arthur Schnitzlers im Kontext der Moderne. Hg. v. Wolfgang Lukas und Michael Scheffel. Berlin/Boston 2017, S. 139–170, hier S. 146–152.
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Obwohl sich Leopoldine Lebus von männlicher Dominanz befreit, gelangt sie dadurch nicht zu einem positiven Gegenentwurf zur traditionellen Geschlechterbeziehung. Denn sie kehrt die Machtverhältnisse lediglich um. In der Konventionsehe mit Kasdas Onkel Robert Wilram vollzieht sie einen Rollentausch, bei dem sie den Partner auf ähnliche Weise entwertet, wie es ihr selbst etliche Jahre zuvor durch Willi Kasda widerfahren war. Mit pragmatischem Kalkül hat sie eine bürgerliche Ehefassade errichtet und dem ihr verfallenen älteren Mann ein bizarres Arrangement auferlegt, bei dem sie seine sexuelle Abhängigkeit missbrauchte (555–557), um ihn auch in finanzieller Hinsicht zu versklaven. In dieser nach eigenen Vorstellungen konzipierten Pseudo-Ehe kann die souveräne Geschäftsfrau dann emotions- und kompromisslos ihren ‚Willen zur Macht‘ ausleben. Leopoldines Emanzipation führte also keineswegs zu paritätischen Lebensverhältnissen in einer harmonischen, emotional erfüllenden Partnerschaft. Vielmehr schuf sie bewusst Asymmetrie, indem sie als Siegerin im Geschlechterkampf dem Ehemann ihre Bedingungen diktierte und ihn dadurch in die Opferrolle zwang. Grotesk mutet jedenfalls der von ihr festgesetzte Rahmen dieser Ehe an: Ein „Kontrakt“ regelt unerbittlich-penibel die ökonomischen und erotischen Lebensbedingungen der Ehepartner, und zwar „pünktlich“, vernünftig, „haushälterisch“ und auf die „ordentlichste“ Weise (555). – Diese Konditionen kamen dadurch zustande, dass Robert Wilram ihr strategisches Machtkalkül nicht durchschaute, als er sich in gutgläubigem Leichtsinn darauf einließ, Leopoldine Lebus sein Vermögen zu überschreiben, damit sie es gewinnbringend für ihn anlegen konnte. Zweimal im Monat zahlt sie ihm davon eine knapp bemessene Rente aus. Nur „alle acht Tage“ sind persönliche Begegnungen der Ehepartner vorgesehen, einmal jährlich ein Urlaub über „vierzehn Tage“ (555); ihre Unabhängigkeit weiß Leopoldine durch eine separate Wohnung zu wahren. Strikt achtet sie auf die konsequente Einhaltung des Kontrakts; Ausnahmen von der Regel duldet sie nicht. Dieses Lebensmodell mit seiner pedantisch dosierten Mischung aus pragmatisch organisierter Vermögensverwaltung und Triebökonomie erscheint wie eine Persiflage der bürgerlichen Ehe, weil es die zwischenmenschliche Beziehung zur bezahlten Ware degradiert. Aufschlussreich ist auch das Spannungsverhältnis zwischen bürgerlicher Zweckrationalität und erotischer Abenteuerlust, das Leopoldines Doppelleben bestimmt: Einerseits tritt sie als streng organisierte und kühl kalkulierende Geschäftsfrau mit „Zwicker“ auf (560), andererseits jedoch scheint sie sich ein freizügiges Triebleben zu erlauben (556, 557). Trotz der Vorzüge, die diese Lebensform für die auf ihre finanzielle Selbständigkeit und persönliche Autonomie bedachte Leopoldine Lebus hat, erweist sich ihr durch Übernahme männlicher Herrschaftsstrategien und Ausbeutungsmechanismen erkämpftes Glück letztlich doch als fragwürdig. Denn die auf materieller
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Independenz beruhende Emanzipation erscheint in ihrem sehr speziellen Fall eher als eine bloß negative Reaktion auf frühere Abhängigkeit, weniger als ein durch Selbstfindung ermöglichter positiver Alternativentwurf autonom gelingenden Lebens. – Darüber hinaus zeigt Schnitzlers Spiel im Morgengrauen, dass Leopoldine Lebus die vormaligen Machtverhältnisse nicht nur in ihrer Konventionsehe umkehrt, in der sie kompromisslos ihr Dominanzbedürfnis ausagiert, sondern auch im Rollentausch mit Willi Kasda. Für ihre einstigen traumatischen Erfahrungen aufgrund der Demütigung durch ihn revanchiert sie sich nämlich, indem sie ihm das Erlittene später mit gleicher Münze heimzahlt. Schon beim ersten Wiedersehen mit Leopoldine Lebus erlebt der von seinen gigantischen Spielschulden existenziell bedrohte Leutnant Kasda ein Wechselbad der Gefühle: Er schwankt zwischen „Hoffnung“ auf Hilfe und einer „Entmutigung“ durch ihre offenkundige Reserviertheit (563). Bereits in der Anfangsphase der Begegnung zeigt sich die Verunsicherung des Leutnants dadurch, dass seine Wahrnehmungen in widersprüchliche Impressionen zerfallen: Zunächst vermag er Leopoldine kaum wiederzuerkennen, um kurz darauf jedoch festzustellen, „daß ihre Züge eigentlich ganz unverändert waren“ (560). So sehr entgleitet ihm die Realität, daß ihm ganz „sonderbar zumute“ ist, „beinahe wie in einem Traum“ (560). Die zunehmende Diffusion seiner Eindrücke hängt wesentlich mit der Uneindeutigkeit seiner eigenen Einstellung zu Leopoldine und zur Gesamtsituation zusammen. Die dadurch bedingte Ambivalenz von Nähe und Distanz verweist zudem auf die unbewältigten Erfahrungen der Vergangenheit, die in die Gegenwart hineinreichen und sie entscheidend beeinflussen. Während in Leopoldines Gesprächsverhalten zunächst „kühle Höflichkeit“ (562) und ein konventioneller Ton dominieren, wird die Contenance der nüchtern agierenden Geschäftsfrau später mehrmals durch Augenblicke durchbrochen, in denen ihre früheren Emotionen für Kasda partiell wieder aufzuflackern scheinen: So registriert er in ihrer Mimik erleichtert „Anzeichen des Mitgefühls“ (562). Und sogar ihre Reserve gegenüber seinem Wunsch, sich zur Begleichung der Spielschulden Geld von ihr zu leihen, gerät in einen verräterischen Widerspruch zu der Art, wie sie ihren Vorbehalt artikuliert: seine geschäftliche Naivität nachsichtig belächelnd sagte sie: ‚Du stellst dir diese Dinge etwas einfacher vor, als sie sind [...]. Und noch dazu ohne jede Sicherstellung! – Wie komm’ ich eigentlich dazu?‘ Diese letzten Worte klangen nun wieder so freundlich, ja kokett, als sei sie innerlich doch schon bereit nachzugeben und erwarte nur noch ein bittendes, ein beschwörendes Wort aus seinem Mund. (562–563)
Gleichwohl überwiegt bei Leopoldine Lebus am Ende der ersten Wiederbegegnung mit Willi Kasda letztlich doch eine Ausstrahlung von „Härte“, Kälte und Distanz (563). Ihr Changieren zwischen emotionaler Zuwendung und plötzli-
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cher Reserve, zwischen „weibliche[r] Anmut“ und einem „harten, beinahe strengen Ausdruck“ (564) allein als ein „sadistisches Katz- und Mausspiel“21 zu deuten, das Leopoldine mit Kasda spiele, um sich zu rächen (so eine Forschungsthese), bietet keine plausible Erklärung für sein Verhalten. Denn unberücksichtigt bleiben dabei die ambivalenten Emotionen, die Leopoldine für Kasda hegt. Sie erscheinen als die primäre Ursache für ihr heterogenes Verhalten, in dem untergründige Anflüge ihrer alten Gefühle für ihn spürbar sind. In seiner psychologisch virtuosen Darstellung verdichtet Schnitzler die Kommunikation zwischen Leopoldine und Kasda, indem er die wörtliche Rede durch nonverbale Botschaften ergänzt oder sogar konterkariert. Auf diese Weise zeigt er die innere Zerrissenheit des Leutnants, der zwischen Hoffnung und Resignation schwankt, und bringt zugleich auch Leopoldines Ambivalenzen intensiv zum Ausdruck – ein für Schnitzlers psychologisches Interesse an inneren Übergangssituationen charakteristisches Verfahren.22 Zwar fühlt sich Leopoldine immer noch zu Kasda hingezogen, zugleich jedoch ist sie darauf bedacht, ihre Gefühle zu unterdrücken, um sich nicht erneut instrumentalisieren zu lassen. Deshalb versucht sie die innere Souveränität zu bewahren, die sie sich mühsam erkämpft hat – in dem Prozess der Selbstverwirklichung, dem sie ihre Emanzipation und Unabhängigkeit verdankt. Wie sehr Leopoldine Lebus um ihre Contenance ringen muss, zeigt der Text durch den mehrmaligen Wechsel zwischen emotionalen Anwandlungen und kühler Distanz. Ambivalenzen sind im Gespräch mit Willi Kasda auch daran zu erkennen, dass Leopoldines Anrede auf symptomatische Weise zwischen Du und Sie changiert (562). Diese Beobachtung lässt ihn spontan zu dem Eindruck gelangen, dass „in ihrem Herzen noch etwas für ihn sprach“ (564). Und dadurch sieht er sich zunächst sogar zu unrealistischen Zukunftsträumen veranlasst: „dieses Gefühl wirkte so stark in Willi nach, daß er sich, im Geist eine lange Frist überspringend, plötzlich als Gatten der verwitweten Frau Leopoldine Wilram, nunmehriger Frau Majorin Kasda, zu erblicken glaubte“ (564). Adäquater erscheint freilich der ambivalente Eindruck, den er von der ersten Wiederbegegnung mitnimmt:
So Erich Kaiser, S. 77. Paradebeispiele für Frauenfiguren in Schnitzlers Werken, die durch ausgeprägte innere Ambivalenzen auffallen, sind die Protagonistinnen der Erzählungen Fräulein Else und Frau Berta Garlan. In beiden Werken wird auch die Relation zwischen Eros und Ökonomie kritisch reflektiert. Vgl. Barbara Neymeyr: Libido und Konvention. Zur Problematik weiblicher Identität in Arthur Schnitzlers Erzählung ‚Frau Berta Garlan‘. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 41 (1997), S. 329–368. – Barbara Neymeyr: [Arthur Schnitzler:] ‚Fräulein Else‘: Identitätssuche im Spannungsfeld von Konvention und Rebellion. In: Interpretationen. Arthur Schnitzler: Dramen und Erzählungen. Hg. v. Hee-Ju Kim und Günter Saße. Stuttgart 2007, S. 190–208.
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Während der kurzen Zeit, die Willi bei Leopoldine verbracht hatte, war er durch so wechselnde Stimmungen der Entmutigung, der Hoffnung, der Geborgenheit und neuer Enttäuschung gegangen, daß er die Treppe wie benommen hinabstieg. (563)
Später, beim zweiten Treffen in seiner Kasernenstube, verfolgt Willi Kasda eine pragmatische Handlungsstrategie, mit der er letztlich aber scheitert: Von Leopoldines Hinhaltetaktik irritiert, entschließt er sich nämlich zur erotischen Offensive, indem er zu Zärtlichkeiten übergeht, die dann sogar erneut in eine gemeinsame Nacht münden. Dass Kasda am nächsten Morgen nur „wie sehnsüchtig“ die Arme nach Leopoldine ausstreckt (571), erscheint allerdings als unauthentische Geste. Denn die Vergleichspartikel „wie“ lässt erkennen, dass sein Verhalten Sehnsucht und Hingabebereitschaft lediglich simuliert, letztlich aber vor allem von Berechnung bestimmt ist. Denn mit pragmatischem Kalkül setzt er erotische Verführung strategisch als Mittel ein, um sie zu finanzieller Hilfe zu bewegen – eine weitere Variante der Verflechtungen von Eros und Ökonomie in Schnitzlers Erzählung Spiel im Morgengrauen. War zuvor schon das Kartenspiel zum „Einzelkampf“ (526) zwischen Kasda und dem Konsul geworden23, so pervertiert im Finale der Erzählung auch das erotische Spiel zum Kampf. Nicht zufällig hält Leopoldine in der Abschiedsszene ihren Schirm „fast wie eine Waffe“ in der Hand (571). Diese Symbolik antizipiert bereits das für Kasda enttäuschende Ende dieser Begegnung: Mit „Spott, wenn nicht gar mit Schadenfreude“ (572) beobachtet Leopoldine zunächst die nervösen Blicke Kasdas, der ungeduldig das Geld zur Begleichung seiner Schulden von ihr erwartet. Dann revanchiert sie sich für die einstige Demütigung, indem sie ihn mit einem Tausendguldenschein ausdrücklich „für die vergangene Nacht“ bezahlt (573), ihm zugleich aber die elftausend Gulden vorenthält, die er zur Begleichung seiner exorbitanten Spielschulden beim Konsul dringend benötigt. Schnitzler gestaltet diese Episode in spiegelbildlicher Korrespondenz zur ersten gemeinsamen Nacht, die Willi Kasda und Leopoldine Lebus mehrere Jahre zuvor erlebten, variiert sie aber durch eine symptomatische Inversion von Täter und Opfer: Denn nun ist es Leopoldine, die den Leutnant durch Bezahlung für die erotische Begegnung erniedrigt. – Unter dem Schock dieser Erfahrung löst sich die ohnehin labile Selbstachtung Kasdas vollends auf, während
Über diese Duell-Konstellation ist sich Kasda selbst allerdings nicht hinreichend im Klaren. So kann er die von blankem Eigennutz motivierte Unterstützung durch den Konsul, der ihm in der Schlussphase des Spiels große Geldbeträge als Leihgabe geradezu aufdrängt, in einem Augenblick sogar als noble Geste missverstehen (531). – Lukas weist auf Wiederholungsstrukturen hin: In der ersten Nacht habe Willi Kasda das ‚Duell‘ mit dem Konsul verloren, in der zweiten Nacht das ‚Duell‘ mit Leopoldine (Wolfgang Lukas: Das Selbst und das Fremde. Epochale Lebenskrisen und ihre Lösung im Werk Arthur Schnitzlers. München 1996, S. 132).
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aus einem Gefühlskonglomerat von „Abwehr, Zorn, Erbitterung“ (574) plötzlich eine für ihn kaum zu ertragende Selbsterkenntnis aufsteigt und zur Gewissheit wird. Zunächst dominiert noch die Empörung: Indessen aber, während jene längst verflossene Nacht in ihm so unbegreiflich lebendig ward, erlosch allmählich der kindlich-holde Schimmer in Leopoldinens Auge wieder. Kalt, grau, fern starrte es in das seine, und in dem Maße, da nun auch das Bild jener Nacht in ihm verblaßte, stieg Abwehr, Zorn, Erbitterung in ihm auf. Was fiel ihr ein? Was nahm sie sich heraus gegen ihn? Wie durfte sie sich anstellen, als glaubte sie wirklich, daß er für Geld sich ihr angeboten? Ihn behandeln wie einen Zuhälter, der sich seine Gunst bezahlen ließ? Und fügte solchem unerhörten Schimpf noch den frechsten Hohn hinzu, indem sie wie ein von den Liebeskünsten einer Dirne enttäuschter Lüstling einen Preis heruntersetzte, der ausbedungen war? Als zweifelte sie nur im geringsten daran, daß er auch die ganzen elftausend Gulden ihr vor die Füße geschmissen, wenn sie es gewagt hätte, sie ihm als Liebessold anzubieten! (574)
Die innere Wahrheit freilich sieht anders aus. Und so folgt der spontanen Aggression gegen Leopoldine eruptiv eine Gewissheit, durch die sich Kasda illusionslos mit seiner eigentlichen Mentalität konfrontiert sieht: Doch während das Schmähwort, das ihr gebührte, den Weg auf seine Lippen suchte, während er die Faust erhob, als wollte er sie auf die Elende niedersausen lassen, zerfloß das Wort ihm unausgesprochen auf der Zunge, und seine Hand sank langsam wieder herab. Denn plötzlich wußte er, – und hatte er es nicht früher schon geahnt? – daß er auch bereit gewesen war, sich zu verkaufen. Und nicht ihr allein, auch irgendeiner andern, jeder, die ihm die Summe geboten, die ihn retten konnte; – und so – in all dem grausamen und tückischen Unrecht, das ein böses Weib ihm zugefügt –, auf dem Grunde seiner Seele, so sehr er sich dagegen wehrte, begann er eine verborgene und doch unentrinnbare Gerechtigkeit zu verspüren, die sich über das trübselige Abenteuer hinaus, in das er verstrickt war, an sein tiefstes Wesen wandte. (574–575)
Diese psychologisch dichte Reflexion, die in der Forschung mitunter gründlich missverstanden wurde, veranlasst in Willi Kasda eine abgrundtiefe Selbsterkenntnis.24 Allerdings setzt sich diese selbstkritische Einsicht erst allmählich gegen die anfängliche Empörung über Leopoldines Verhalten durch. All die Interpreten, die dieser Frauenfigur – in affirmativer Übernahme von Kasdas erstem Affekt – dezidiert das Etikett „böses Weib“ anheften oder ihr sogar
Kasdas Selbsterkenntnis gestaltet Schnitzler als mühsames Erwachen aus einem dumpfen vorbewussten Zustand: „allmählich erst, ungern, aber mit Notwendigkeit erwachte er zum klaren Bewußtsein der Wirklichkeit“ (565). Das mehrfach wiederholte Motiv des Aufwachens aus dem Schlaf bekommt in der Erzählung besondere Bedeutung – ebenso wie Traumbilder, Schlaftrunkenheit und der Schock der Ernüchterung beim Blick in den Spiegel (575). Das Kapitel XII endet sogar mit einer symptomatischen Aussage, die das desaströse Finale der HasardNovelle zu antizipieren scheint: Kasda „sank in den Schlaf wie in einen Abgrund“ (565).
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„unmenschliche Bösartigkeit“, Sadismus sowie „Geschlechterhaß“ attestieren25, übersehen dabei, dass die oben zitierte Textpassage durch interne Fokalisierung bestimmt, also ganz von der personalen Erlebnisperspektive Kasdas dominiert ist. Daher sind seine Gedanken keineswegs objektivierend im Sinne einer kritischen Diagnose von Charakterdefekten bei Leopoldine Lebus zu verstehen. Und das bedeutet konkret: Die Radikalität des eruptiven Ressentiments, die dazu führt, dass Kasda ihr Verhalten extrem negativ bewertet, entspringt aus seiner desolaten Lage, sobald er nach der gemeinsamen Nacht jede Hoffnung auf finanzielle Hilfe durch Leopoldine schwinden sieht. Ein Gefühlskonglomerat, in dem sich Angst und Schrecken mit Enttäuschung und Empörung verbinden, fördert bei der ersten Aufwallung seiner Affekte eine Tendenz zur Verdrängung seiner eigenen Schuld an dem Desaster: Indem er in seinen Gedanken zunächst Leopoldine anklagt, sich selbst hingegen lediglich als Opfer eines „grausamen und tückischen Unrecht[s]“ betrachtet, „das ein böses Weib ihm zugefügt“ habe (574), versucht er sich im ersten Augenblick der Enttäuschung zu entlasten. Bei der Deutung dieser Szene sollte man jedoch keinesfalls übersehen, dass Kasda seine von heftigem Ressentiment bestimmte Assoziation „böses Weib“ alsbald selbst revidiert und durch die intuitive Einsicht in eine dem Geschehen immanente „Gerechtigkeit“ ersetzt (574–575). Erst damit nähert er sich einer realistischen Einschätzung der Gesamtsituation. Dass sich Willi Kasda mit seinem Verdikt über die angebliche Bosheit Leopoldines im Moment der ersten spontanen Empörung in ihr täuscht, ist übrigens auch daran zu erkennen, dass sie sich mit dem Tausendguldenschein für die erotische Begegnung zwar tatsächlich für die früher durch ihn erlittene Demütigung revanchiert, sich aber später – rechtzeitig vor dem Ablauf der vom Konsul Schnabel gesetzten Frist – dennoch dazu durchringt, ihm die hohe Geldsumme von elftausend Gulden, die heutzutage etwa einem Betrag von 112.200 Euro entspräche, zur Begleichung der Spielschulden zu übermitteln. Dass ihre Hilfsbereitschaft für ihn dann allerdings zu spät kommt, nämlich erst nach seinem Suizid, hat nicht Leopoldine zu verantworten. Denn natürlich konnte sie nicht ahnen, dass sich Kasda schon vor dem Ablauf der Zahlungsfrist des Konsuls in seiner Kasernenstube mit einem Revolver erschießen würde.
Rey verwendet dieses Negativetikett (William H. Rey: Arthur Schnitzler. Die späte Prosa als Gipfel seines Schaffens. Berlin 1968, S. 140). – Allerdissen (Anm. 8) schreibt Leopoldine sogar „unmenschliche Bösartigkeit“ (S. 72), Sadismus (S. 69) sowie einen „von der mythischen Feindschaft der Frau dem Mann gegenüber“ zeugenden „Haß“ zu (S. 70). – Lindken formuliert die radikale These: „Leopoldines Triebkräfte sind Sozialhaß und gleichzeitig ein aus gekränkter Ehre entsprungener Geschlechterhaß“ (Hans Ulrich Lindken: Interpretationen zu Arthur Schnitzler. Drei Erzählungen. München 1970, [Interpretationen zum Deutschunterricht], S. 46).
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In mehrfacher Hinsicht inszeniert Schnitzlers Spiel im Morgengrauen eine problematische Instrumentalisierung des Eros zu ökonomischen Zwecken: Dies gilt für das Verhalten von Leopoldine Lebus im Umgang mit Robert Wilram ebenso wie für die Mentalität, die Willi Kasda nach der gemeinsamen Nacht mit Leopoldine Lebus zu erkennen gibt. – Nachdem das Spiel-‚Duell‘ mit dem Konsul bereits Kasdas materielle und gesellschaftliche Existenz ruiniert hat, fühlt er sich durch das „trübselige Abenteuer“ (575) auch in seiner moralischen Existenz als Mann geradezu vernichtet, so dass er nun in den Abgrund tiefster Selbsterniedrigung gerät. Sowohl die Hasard-Obsession als auch das von egoistischen Zwecken bestimmte erotische Spiel haben problematische Persönlichkeitskomponenten des Leutnants zum Vorschein gebracht. Durch radikale Selbsterkenntnis illusionslos mit eigenen Charakterdefekten konfrontiert, sieht er am Ende keinen anderen Ausweg mehr, als mit dem Suizid die Konsequenz aus seinem Desaster zu ziehen.26 Trotz seiner Misere gerät ihm aber die Notlage seines früheren Kameraden Bogner nicht aus dem Blick: So beauftragt Kasda seinen Burschen, die tausend Gulden, mit denen ihn Leopoldine nach der erotischen Begegnung gedemütigt hatte, an Bogner zu übermitteln (576), um zumindest dessen prekäre Situation aus der Welt zu schaffen. Die kritische Gesellschaftsdiagnose, die Schnitzler in seiner Erzählung Spiel im Morgengrauen mit psychologischer Tiefenschärfe entfaltet hat, transzendiert übrigens das Offiziersmilieu der k.u.k.-Monarchie. Denn über die Epoche des Habsburger Kaiserreichs weist der Text insofern hinaus, als er auch Tendenzen der 1920er Jahre mit einbezieht: Desorientierung und Krisenstimmung in einer Epoche des Umbruchs. – Und auch der soziale Horizont von Schnitzlers HasardNovelle beschränkt sich keineswegs auf die militärische Sphäre. Denn sie bietet darüber hinaus Einblicke in die Zivilgesellschaft, die aber durchaus nicht als positiver Alternativschauplatz zum Militär erscheint. – Während die von der Familie Keßner repräsentierten Besitzbürger in Schnitzlers Hasard-Novelle mit gewohnter Manier ihre gesellschaftlichen Rituale pflegen und dabei einen oberflächlichen Wohlstandshedonismus kultivieren, lebt der in seinem Naturell differenzierter gezeichnete Vertreter des Bildungsbürgertums, Kasdas Onkel, von den Resten eines ererbten Vermögens, das er durch die ökonomische Abhängigkeit von seiner Ehefrau Leopoldine dann aber gänzlich einbüßt. Dass er immerhin „philosophische Bemerkungen über Tod und Unsterblichkeit“ (547) zu notieren vermag
William H. Rey hingegen deutet Kasdas Suizid erstaunlicherweise als heroische Tat, mit der er seine Würde wiederherstelle, und erblickt in diesem Akt sogar eine „Rehabilitierung der alten österreichischen Armee“ durch Schnitzler, der hier die „echten Werte des soldatischen Lebensstils“ präsentiere (vgl. William H. Rey, S. 133, 147, 127, 135). Dabei scheint Rey zu übersehen, dass solche Klischees bei Schnitzler kritisch reflektiert werden.
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und in seiner Bibliothek noch „einige alte Lederbände“ (550) aus besseren Zeiten aufbewahrt, signalisiert eine Diskrepanz zwischen dem konventionellen Selbstverständnis einer Bildungselite mit gehobenen Ansprüchen und der durch ökonomische Schieflage bereits desolat gewordenen Lebensrealität. Durch das soziale Spektrum dieser Figurenkonstellation reflektiert Schnitzlers Spiel im Morgengrauen zugleich auch bereits die krisenbedingte Verarmung des Bürgertums in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Insofern weist der Text historisch tendenziell über die Erzählgegenwart hinaus, die noch in der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie vor dem Ersten Weltkrieg angesiedelt ist. Denn mitunter geraten hier auch Aspekte des gesellschaftlichen Wandels während der 1920er Jahre ins Sichtfeld – und damit die Entstehungszeit von Schnitzlers Hasard-Novelle, die um die Jahreswende 1926/27 erstmals publiziert wurde. Erfahrungen von Décadence27 und Depravation, die sich in den gesellschaftlichen Konstellationen von Schnitzlers Spiel im Morgengrauen manifestieren, schlagen sich zugleich in problematischen Entwicklungen individueller Biographien nieder, so dass sich in den Figurenschicksalen auch soziale Prozesse prolongieren.
Einerseits inszeniert der Text eine typische Décadence-Konstellation, wenn sich der Leutnant Kasda nach seinem Spieldesaster selbst in einem über Generationen fortschreitenden Prozess des Niedergangs sieht: „Der Vater war Offizier, der Großvater ist als Feldmarschalleutnant gestorben. Um Gottes willen, es kann doch nicht so mit mir enden“ (552). Im Hinblick auf das Décadence-Schema wäre an Thomas Manns Roman Buddenbrooks (1901) zu denken, der gemäß dem Untertitel den „Verfall einer Familie“ über vier Generationen darstellt, vor allem aber an Joseph Roths Roman Radetzkymarsch (1932), der erst nach Schnitzlers Hasard-Novelle (1926/27) erschien, mit ihr die Situierung im militärischen Milieu teilt und in der Endphase der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie die individuelle Décadence der Figuren mit dem historischen Verfallsprozess vor einer Epochenwende korreliert. – Allerdings zeigt Schnitzlers Spiel im Morgengrauen gewisse Affinitäten auch zu Charakteristika der 1920er Jahre. Dem Ruin des Leutnants Kasda stehen die materialistischen Interessen des Konsuls Schnabel gegenüber, die zugleich Tendenzen der Gesamtgesellschaft widerspiegeln und partiell bereits auf die Neue Sachlichkeit vorauszuweisen scheinen. Als zynisch-souveräner Gegenspieler Kasdas nutzt der Konsul die Schwäche des Leutnants zu seinem Vorteil und will nach Kasdas Spieldesaster Kasse machen, um sich dann nach Amerika abzusetzen, in das Land auch ökonomisch unbegrenzter Möglichkeiten; denn dort hat er „ein Geschäft“ (540). – In einem positiven Alternativentwurf zum desaströsen Finale der Erzählung hat Schnitzler die Aporie Kasdas nachträglich wieder aufgelöst und ihn gemeinsam mit dem Konsul auf die Reise nach Amerika geschickt. Da dieser Textfassung allerdings die Stringenz fehlt, mit der Kasdas Problematik in die Katastrophe mündet, ist es plausibel, dass Schnitzler die viel konsequentere NegativVersion des Finales letztlich vorgezogen hat. Punktuell liegen Assoziationen an die Figur Huguenau in Hermann Brochs Epochenroman Die Schlafwandler (1931/32) nahe, der den Typus des ‚sachlich‘-kalten Konkursvollstreckers in einer vom Wertzerfall bedrohten Welt repräsentiert.
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Dies gilt übrigens nicht nur für die symptomatische Korrelation von Eros und Ökonomie, die in Schnitzlers Spiel im Morgengrauen mehrere Erzählstränge bestimmt. Denn punktuell ist dieses Spannungsverhältnis zuvor bereits in seinem Werk Casanovas Heimfahrt (1918) präfiguriert.28 Hier erleichtern die Spielschulden von Marcolinas Geliebtem Lorenzi das perfide Vorhaben Casanovas, in Absprache mit Lorenzi der weder durch intellektuellen Disput noch durch die erotische Verführungskunst Casanovas zu beeindruckenden Marcolina schweigend einen nächtlichen Besuch abzustatten: Allein durch diesen Betrug kann der durch seine Alterskrise moralisch depravierte Casanova die lange ersehnte sexuelle Begegnung mit der ahnungslosen Marcolina herbeiführen, die sich zu diesem Schritt freiwillig unter keinen Umständen bereit erklärt hätte. In Schnitzlers Erzählung Spiel im Morgengrauen sind erdrückende Schulden infolge eines vorangegangenen Fehlverhaltens in zweifacher Hinsicht relevant: durch Bogners Griff „in eine fremde Kasse“ (509) und durch die gigantischen Spielschulden, die Kasda dann durch seine Hasard-Obsession auf sich lädt. – Aber nicht nur in Casanovas Heimfahrt und Spiel im Morgengrauen avancieren Schulden zu einem wichtigen Handlungsstimulans. Entsprechende Erzählstrategien sind zuvor bereits in Schnitzlers Monolognovelle Fräulein Else (1924) festzustellen: Hier ist es der Vater der Protagonistin, ein angesehener Advokat, der gleichwohl Mündelgelder veruntreut, sie durch seine Spielsucht eingebüßt und die Familie dadurch in eine ökonomische Notlage gebracht hat. Wenn Else durch Fürsprache bei dem vermögenden Kunsthändler Dorsday das zur Rettung aus dieser Misere erforderliche Geld auftreiben soll, dann spekulieren ihre Eltern mit diesem Ansinnen auf die erotische Attraktivität ihrer Tochter für den potenziellen Geldgeber, der die Lage später tatsächlich ausnutzt, indem er mit dem Wunsch, Else nackt zu sehen, eine für sie unerträgliche Bedingung an seine Zahlungsbereitschaft knüpft. Erotische Anziehungskraft erscheint allerdings entzaubert, entfremdet und enteignet, sofern sie zum schnöden Gegenwert in einem von materiellen Interessen dominierten Tauschgeschäft zu verkommen droht. In ein prekäres Verhältnis geraten Eros und Ökonomie, wenn Else durch fremdverschuldete finanzielle Zwänge ihren Anspruch auf erotische Autonomie gefährdet sieht. Sozialpsychologisch relevant ist diese Problematik übrigens auch im Hinblick auf die traditionellen Geschlechterverhältnisse, in denen sich Frauen ohne eigene Berufsausbildung durch ihre Chancen auf einem Heiratsmarkt definieren mussten, auf dem sinnliche Reize als adäquater Tauschwert gegen finanzielle Versorgung galten. Sogar Else selbst
Zum Persönlichkeitsprofil der Casanova-Figur und ihren komplexen Interaktionen vgl. Neymeyr, Entzauberung des Mythos, S. 139–170.
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zieht beim Nachdenken über die eigene Lebenssituation vorübergehend auch ein solches konventionelles Rollenmodell in Betracht, obwohl sie die tradierte weibliche Heteronomie zugleich sehr kritisch bewertet und Zukunftsphantasien von selbstbestimmter Sinnlichkeit mit wechselnden Geliebten entwirft.29 Anders gestaltet sich die Perspektive auf die Ehe in Schnitzlers Spiel im Morgengrauen, wenn das Vermögen der Familie Keßner, die dem Besitzbürgertum angehört, bei Kasda Begehrlichkeiten weckt. Vom gehobenen Lebensstandard dieser Familie beeindruckt, phantasiert er über eine potenziell zu erwartende „nicht unbeträchtliche Mitgift“ der Tochter Emilie: „Aber bis man so weit war – wenn man überhaupt von solchen Möglichkeiten zu träumen wagte –, dauerte es noch lange, sehr lange“ (515). Dass Kasda die junge Frau Keßner demnach bewusst als ‚gute Partie‘ betrachtet und sie insofern hypothetisch als Zukunftschance für sich selbst anvisiert30, erscheint zudem als zusätzliche Variante einer Vernetzung von Eros und Ökonomie in Schnitzlers Spiel im Morgengrauen. – Während die Protagonistin in Schnitzlers Monolognovelle Fräulein Else die Problematik der traditionellen Geschlechterordnung mit Blick auf die ökonomische Instrumentalisierung des Eros kritisch reflektiert, durch die Sinnlichkeit heteronom vereinnahmt wird, ist es in Schnitzlers Spiel im Morgengrauen der unter finanziellen Engpässen leidende Willi Kasda, der sich eine Befreiung von ökonomischen Einschränkungen durch eine ‚gute Partie‘ erhofft. Abgesehen von diesem Seitengedanken Kasdas dominieren in Schnitzlers Hasard-Novelle allerdings ganz anders geartete Verflechtungen von Eros und Ökonomie, die – über bloße Phantasien hinaus – auch in der fiktionalen Realität Gestalt annehmen: So verursacht das strategische Kalkül von Leopoldine Lebus, die sich Kasdas Onkel Robert Wilram durch ihre erotische Attraktivität gefügig zu machen weiß und die Handlungsvollmacht über sein Vermögen erhält,
Zu Elses widersprüchlichen Selbstentwürfen, die zwischen der Utopie einer sorglosen Luxusexistenz im Sinne der traditionellen Versorgungsehe und rebellischen erotischen Ausbruchsphantasien changieren, vgl. Barbara Neymeyr: [Arthur Schnitzler:] ‚Fräulein Else‘: Identitätssuche im Spannungsfeld von Konvention und Rebellion. In: Interpretationen. Arthur Schnitzler: Dramen und Erzählungen. Hg. v. Hee-Ju Kim und Günter Saße. Stuttgart 2007, S. 190–208. Symptomatisch ist übrigens Kasdas Traumvision nach dem Hasard-Exzess. Denn hier erscheint Emilie Keßner ausgerechnet als „Herzdame“: „die Augen fielen ihm zu. Karo-Aß – Treff-Sieben – Herz-König – Karo-Acht – Pik-Neun – Pik-Zehn – Herz-Dame – verdammte Kanaille, dachte Willi. Denn die Herzdame war eigentlich das Fräulein Keßner. Wär’ ich nicht bei dem Tisch stehn geblieben, so wär’ das ganze Malheur nicht passiert. Treff-Neun – Pik-Sechs – Pik-Fünf – Pik-König – Herz-König – Treff-König – Nehmen Sie’s nicht leicht, Herr Leutnant. – Hol’ ihn der Teufel, das Geld kriegt er, aber dann schick’ ich ihm zwei Herren – geht ja nicht – er ist ja nicht einmal satisfaktionsfähig [...]. Es gab gewiß auf der ganzen Welt nicht so viele Kartenspiele, als vor ihm in dieser Stunde vorüberrasten“ (545).
Eros als Machtinstrument: Schnitzlers Spiel im Morgengrauen
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für ihn dauerhaft eine heteronome Lebenssituation. Die traditionelle Geschlechterasymmetrie erscheint hier invertiert. Die innere Haltlosigkeit und ökonomisch desolate Lage des „früh gealterten“ (547) Robert Wilram lässt – in dieser Hinsicht – durchaus gewisse Affinitäten zur Titelfigur in Schnitzlers Erzählung Casanovas Heimfahrt erkennen. Allerdings unterscheidet sich die Mentalität Wilrams in Schnitzlers Spiel im Morgengrauen von der exzessiven erotischen Libertinage des Protagonisten Casanova, auch wenn sich Kasda an ein früheres Faible seines Onkels für „muntere junge Dame[n]“ erinnert (547). Eine fundamentale Differenz besteht aber insofern, als Wilram in seiner Ehemisere als melancholischer Einzelgänger zu vegetieren scheint, während die Casanova-Figur in Schnitzlers Erzählung Casanovas Heimfahrt durch moralische Depravation auffällt: vor allem im perfiden Verhalten gegenüber Marcolina und Teresina.31 Obwohl Schnitzlers Spiel im Morgengrauen vorrangig den Militärstand ins Visier nimmt, zielt die pessimistische Diagnose partiell auch auf die zerfallende traditionelle Gesellschaft insgesamt, deren Werte durch einen dominanten Materialismus in erheblichem Maße korrumpiert zu sein scheinen. Besonders eindringlich wird diese Problematik dort entfaltet, wo Erotik zum Druckmittel oder Machtinstrument depraviert – zumal dann, wenn Libido und Ökonomie dabei in einen fragwürdigen Funktionszusammenhang geraten. – Für das pragmatisch strukturierte Ehemodell von Leopoldine Lebus, in dem Triebökonomie und Vermögensverwaltung gleichermaßen rationell organisiert sind, gilt dies ebenso wie für Kasdas Strategie bei der Wiederbegegnung mit ihr. Denn sein erotisches Engagement erscheint dabei primär als Verführungsmedium mit dem Ziel, ihr die Bereitschaft zu finanzieller Unterstützung abzunötigen. – Erotisches Abenteuer und Hasard-Obsession, funktionalisierte Libido und strategische Triebökonomie bilden in Schnitzlers Erzählung Spiel im Morgengrauen also ein facettenreiches Experimentierfeld, in dem sich Verflechtungen von Eros und Ökonomie spannungsreich entfalten. Dabei steht die sozialpsychologische Versuchsanordnung, die den Protagonisten im narrativen Szenario unter Ausnahmebedingungen agieren lässt, zugleich im Horizont einer subversiven Zeitdiagnose.
Vgl. Neymeyr, Entzauberung des Mythos, S. 151, 152, 158, 160, 169.
Zbigniew Feliszewski
Liebe und Sexualität in Bertolt Brechts frühen Stücken Das Thema Liebe bei Brecht leitet zu zweierlei wissenschaftlichen Hauptreflexionen weiter. Die erste betrifft Themen und Motive seines Werkes und stellt sie im wechselnden Verhältnis von politischem, sozialem und ästhetischem Interesse dar, wobei hier dem Lyriker Brecht die meiste Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die zweite Reflexion führt zu biographischen, meist in den differenzierten Darstellungen des männlichen Chauvinismus Brechts angesiedelten Interpretationen. Von den Monografien und Artikeln klaffen manche inhaltlich und methodologisch weit auseinander. Sabine Kebir leistet mit ihrer im essayistischen Ton gehaltenen Monografie Ein akzeptabler Mann? Streit um Bertolt Brechts Partnerbeziehungen (1987) eine eingehende Brecht-kritische, jedoch ziemlich subtile Darstellung von Brechts Arbeit mit den Frauen, die mit ihm die berufliche und private Sphäre teilten. Dagegen partizipieren die aufschlussreichen und größtenteils interessanten Arbeiten, etwa von Sarah Bryant-Bertail, Sarah Lennox oder Sue-Ellen Case, am amerikanischen feministischen Diskurs. Zusammengestellt und besprochen hat dies Ana Kugli in ihrer Monografie Feminist Brecht? Zum Verhältnis der Geschlechter im Werk Bertolt Brechts aus dem Jahre 2006. Zu nennen seien auch Publikationen, die selbst die kleinsten Verfehlungen in Brechts Leben verfolgen und deren Skandalisierungspotenzial überhöhen, ohne einem wissenschaftlichen Anspruch gerecht zu werden. Hierzu gehört das umstrittene Buch von John Fuegi The Life and Lies of Bertolt Brecht aus dem Jahre 1994. Laut Dave Riley sei Fuegis Interpretation der Epoche, in der Brecht lebte, oberflächlich und in streng verurteilenden Begriffen formuliert, die sogar darauf bestehen würden, dass Brecht am Aufstieg des Faschismus und Stalinismus und an den Extremen des Kalten Krieges beteiligt gewesen sei.1 Hans-Thies Lehmann unterstellt diesen Büchern das Festhalten an „psychologischer Zufälligkeit.“2 Ohne all diesen Studien, die ja im Zeitalter der #MeToo-Bewegung und anderen skandalträchtigen Missbräuchen in der künstlerischen Szene Aufmerksamkeit verdienen, ihre Wichtigkeit abzuerkennen, will ich in diesem Beitrag nicht das Private Brechts ins Visier nehmen, das zwar oft in dem Werk evident, aber zugleich künstlerisch stark um-konzipiert ist, sondern die
Vgl. Dave Riley: Review of John Fuegi, The Life and Lies of Bertolt Brecht. In: Green Left Weekly, 20 March (1995) (http://www.hartford-hwp.com/archives/61/002.html; zuletzt abgerufen am 30.5.2021). Hans-Thies Lehmann: Brecht lesen. Berlin 2016 (Recherchen. Bd. 123), S. 299. https://doi.org/10.1515/9783110740806-013
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künstlerischen Ausgestaltungen der Liebe in ihrer Materialität und Sozialität in den frühen Dramen Bertolt Brechts. Im Vergleich mit dem lyrischen Werk nimmt Liebe, sei es als Motiv, Thema oder Grundgedanke – zumindest quantitativ gesehen – in relativ wenigen Stücken Brechts einen zentralen Platz ein. Im Volksstück Herr Puntilla und sein Knecht Matti, dem Einakter Kleinbürgerhochzeit oder auch in Trommeln in der Nacht und natürlich in Baal werden Liebe und Geschlechterbeziehungen als Thema verhandelt, jedoch handeln diese Texte nicht von der Liebe an sich, sondern grundsätzlich von ihrer sozialen Kontextualisierung. Wie in den meisten Dramen werden Beziehungen zwischen den Geschlechtern nur nebenbei als eins der diversen Sozialphänomene anvisiert. Schon in den 1920er Jahren erklärte Brecht, Liebe sei kein Thema für ein Stück mehr, Romeo und Julia nicht mehr möglich, das Begehren sei ein Nicht-Thema.3 Anders sieht es in seiner Lyrik aus. Brecht ist Autor von kunstvoll gestalteten Gedichten. Bei ihrer Lektüre entsteht die Versuchung, sie durch den Filter der Biografie des Autors zu lesen: „Kein anderer Teil seines Werkes trägt wirklich privaten, die Persönlichkeit des Autors enthüllenden Charakter. Denn meistens entsteht die Liebeslyrik nicht aus abgeklärter Weisheit, sondern spontan, aus einer aktuellen Konfliktsituation heraus“.4 Solcher biografischer Nuancen ungeachtet nimmt Jan Knopf im umfangreichen poetischen Werk Brechts einige gemeinsame Merkmale wahr, die als Charakteristika seiner Liebesgedichte, aber auch der gesamten Lyrik Brechts bezeichnet werden können. Seine Gedichte seien irdisch, nützlich und direkt kommunikativ, ohne dass dabei die charakteristische poetische Stimme Brechts verloren gegangen sei.5 Auf eine besondere Art und Weise korrespondiert diese Sichtweise mit dem bereits 1927 formulierten Plädoyer des Dichters für die Nützlichkeit der Lyrik, für ihre Rückgewinnung in die Welt und für den Gebrauchswert des Gedichts, das insbesondere in der produktiven Kommunikation seine eigentliche Funktion erfüllen sollte: […] solche ‚rein‘ lyrischen Produkte [werden] überschätzt. Sie entfernen sich einfach zu weit von der ursprünglichen Geste der Mitteilung eines Gedankens oder einer auch für Fremde vorteilhaften Empfindung. Alle großen Gedichte haben den Wert von Dokumenten. In ihnen ist die Sprechweise des Verfassers enthalten, eines wichtigen Menschen.6
Vgl. Hans-Thies Lehmann, S. 301. Sabine Kebir: Ein akzeptabler Mann? Streit um Bertolt Brechts Partnerbeziehungen. Berlin 1987, S. 11. Vgl. Jan Knopf: Brecht als Lyriker. In: Brecht Handbuch. Herausgegeben von Jan Knopf. Band 2: Gedichte. Stuttgart-Weimar 2001, S. 4. Bertolt Brecht: Kurzer Bericht über 400 (vierhundert) junge Lyriker. In: Bertolt Brecht: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Jubiläumsausgabe zum 100. Geburtstag. Sechster Band: Schriften 1920–1956. Frankfurt a. M. 1997, S. 49.
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Sein berühmter Aufsatz Die Lyrik als Ausdruck (1927) gibt darüber Auskunft, was Brecht eigentlich von der Poesie erwartete. Der Ausdruck in der Lyrik soll nicht als Mittel an und für sich fungieren, sondern immer in einer kommunikativen Situation verwendet und gelesen werden. Dabei impliziert die Kommunikation immer den Akt des Handelns: Wenn die Bankleute sich zueianander ausdrücken oder die Politiker, dann weiß man, daß sie dabei handeln; wenn der Kranke seinen Schmerz ausdrückt, gibt er dem Arzt oder den Umstehenden noch Fingerzeige damit, handelt also auch, aber von den Lyrikern meint man, sie gäben nur noch den reinen Ausdruck, so daß ihr Handeln eben in Ausdrücken besteht und ihre Absicht nur sein kann, sich auszudrücken.7
Im Gegensatz zur gängigen Überzeugung, die durch jahrhundertelange Tradition verfestigt wurde, kann sich die Poesie nicht lediglich darin erschöpfen, etwas zum Ausdruck zu bringen, sondern bedarf einer auf etwas verweisenden Geste, einer Mitteilung, die alsbald in die reale Handlung umschlägt. Durch die Einbettung der Poesie in eine Kommunikationssituation versucht Brecht sie für die Wirklichkeit zurückzugewinnen, ihren weltlich-materiellen Charakter vor der Eingemeindung durch das Idealistisch-Erhabene zu retten. Um die basale Auffassung der Liebe bei Brecht zu veranschaulichen, lohnt es sich mit einem Gedicht anzufangen. Das Gedicht heißt Liebesunterricht und ist 1945 im amerikanischen Exil entstanden. Liebesunterricht Aber, Mädchen, ich empfehle Etwas Lockerung im Gekreisch: Fleischlich lieb ich mir die Seele Und beseelt lieb ich das Fleisch. Keuschheit kann nicht Wollust mindern Hungrig wär ich gerne satt. Mag’s, wenn Tugend einen Hintern Und ein Hintern Tugend hat. Seit der Gott den Schwan geritten Wurd es manchem Mädchen bang Hat sie es auch gern gelitten: Er bestand auf Schwanensang.
Bertolt Brecht: Die Lyrik als Ausdruck. In: Bertolt Brecht: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Jubiläumsausgabe zum 100. Geburtstag. Sechster Band: Schriften 1920–1956. Frankfurt a. M. 1997, S. 55–56.
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Die Liebe ist nicht auf eine sinnlich-seelische Leidenschaft in der Tradition der schwärmerischen Romantik8 reduziert. Das Gedicht stellt vielmehr eine kritische Auseinandersetzung mit bestimmten Denkmustern und Narrativen der literarischen Tradition dar.9 Und es handelt sich nicht lediglich um die intertextuellen Bezüge etwa auf Goethes „Sehen mit fühlendem Aug, Fühlen mit sehender Hand“ aus der V. Römischen Elegie (Bei Brecht heißt es: Fleischlich lieb ich mir die Seele / Und beseelt lieb ich das Fleisch), sondern um die Bloßstellung idealistisch anmutender Denkmuster, die das Geistig-Ewige über das Materiell-Vergängliche stellen. Hans-Thies Lehmann behauptet: „Brechts Schreiben wandte sich sein Leben lang gegen die Eingemeindung des Lebens in die Logik“,10 wobei die Logik nicht nur als vernünftiges Schlussfolgern und die Folgerichtigkeit der Ereignisse aufzufassen ist, sondern als „soziale Logik“ – unkritische Multiplizierung von festen Überzeugungen, denen der literarischen Tradition inklusive. Für Brecht ist alles: Leben, Kultur, Liebe immer „unterwegs“, stets im Werden, gelöst von Ursprung und Tradition. Er sieht sie – wie Günther Heeg mit Recht behauptet – „in Auflösung begriffen (…) von ihrem Ursprungsort entfernt (…)“11 Der Tradition zuwider fordert er die Zurückerlangung der Materialität. Schon 1920 äußerte sich Brecht kritisch über die himmelsreichende Ignoranz des Materiellen in der deutschen Kunst und insbesondere in der Literatur: Wir Deutschen haben einen Materialismus ohne Sinnlichkeit (…) In unserer Literatur ist überall dieses Mißtrauen gegen die Lebendigkeit des Körperlichen zu spüren. Unsere Helden pflegen der Geselligkeit, aber sie essen nicht; unsere Frauen haben Gefühle, aber keinen Hintern, dafür reden unsere Greise, als hätten sie noch alle Zähne.12
Der Materialismus resultiert aus der Absage an eine idealistisch, immateriell und geistig geprägte Tradition, die er sich mit großem Vergnügen aneignete, um sie dann umzustülpen. Seine literarische Aneignungsmethode ähnelt einer erbarmungslosen Ausbeutung.13 Sie besteht hauptsächlich in der Reduzierung der Texte der Weltliteratur eben auf ihren Materialwert. Ein früher Aufsatz veranschaulicht beinahe methodisch seine Vorgehensweise im Schreibprozess:
Vgl. Ulrich Kittstein: Das lyrische Werk Bertolt Brechts. Stuttgart/Weimar 2012, S. 81. Vgl. Ulrich Kittstein, S. 81. Hans-Thies Lehmann, S. 21. Günther Heeg: Das Transkulturelle Theater, Berlin 2017 (Recherchen. Bd. 130), S. 22. Bertolt Brecht: Werke: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. v. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei und Klaus-Detlef Müller. Bd. 26. Berlin/Weimar/Frankfurt a. M. 2003, S. 317. Vgl. Florian Vaßen: „Erst kommt das Fressen … “. Bertolt Brecht – Glücksverlangen, Produktivität und Materialwert. In: Acta Germanica. Geman Studies in Africa 40 (2012), S. 93.
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Krieche in deinen Mann hinein und mache dir’s bequem drinnen. Versuche, ob du seine Haut spüren kannst und wie sie sich benimmt gegen die Unterschiede der Luft. Probiere sein Darmsystem, und sieh nach, was sein Herz aushält. Auch mußt du ihn anstrengen und auf das Herz aufpassen. […] Esse mit ihm, klatsche seinen kleinen Gedanken Beifall, schaue aus seinen Augen heraus!14
Auffällig ist hier weniger die Betonung der Materialität in der Darstellung literarischer Stoffe, sondern vielmehr die Relevanz der Reihenfolge ihrer Schilderung. Dem Ideen- und Gedankengehalt soll immer das Materiell-Körperliche vorangehen, was auch in dem oft zitierten Bonmot aus der Dreigroschenoper: „Erst kommt das Fressen und dann kommt die Moral“ deutlich zum Ausdruck kommt. Eben die Haut, also etwas Anfassbares, Spürbares, Vergängliches, ist, wie Rainer Nägele zu Recht behauptet, „der Umschlagplatz für Literatur und Theater bei Brecht.“15 Der Weg führt durch die Haut ins Innere, aus dem das Bild der Welt und der Realität, in der ein bestimmter Mensch funktioniert – mit seinem System der Sozialisation, Akkulturation und politischen Ideologisierung –, erstmals nach Außen durchbricht. Auf diese Weise erfasst Brecht mit äußerster Präzision das Subjekt in einem sozialen, klassenstrukturierten Großfeld, er lässt den Menschen in seiner Fähigkeit zu unerwarteten und unkalkulierbaren Handlungen als ein fungibles Wesen in seiner ganzen Breite erscheinen. Wie Adorno zurecht schlussfolgert, besteht Brechts poetisches Programm im Bemühen, „Denkprozesse in Bewegung zu setzen, nicht Kernsprüche mitzuteilen.“16 Darin steckt neben der vielschichtigen Gestaltung seiner Texte ein gewichtiger politischer Sinn, eine starke ideologische Substanz, die die Brechtlektüre vielerorts nach wie vor problematisch macht. Grundsätzlich aber kann und soll man das Politische Brechts nicht von der Hand weisen, genauso wie das Materialistische, das mit dem Ideologischen Hand in Hand geht. Es resultiert aus Brechts Überzeugung, dass jegliches menschliches Bewusstsein einzig und allein ideologischer Natur ist. Brechts Drang zum Materialismus hat eingehende Studien der Weltphilosophie und Weltgesellschaftstheorie zur Voraussetzung. Er liest die römischen und chinesischen Philosophen, Diderot und die französischen Enzyklopädisten,
Bertolt Brecht: Aus einer Dramaturgie. In: Bertolt Brecht: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Jubiläumsausgabe zum 100. Geburtstag. Sechster Band: Schriften 1920–1956. Frankfurt a. M. 1997, S. 12. Rainer Nägele: Der Andere Schauplatz: Büchner, Brecht, Artaud, Heiner Müller. Frankfurt a. M./Basel 2014, S. 66. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Hg.v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 2003, S. 55.
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aber auch Hegel, Marx und Engels sowie Spinoza, Nietzsche und Freud.17 Neben Marx, mit dem sich Brecht nach dem Börsen-Finanzkrach 1929 auseinanderzusetzen begann, gehört Nietzsche ohne Zweifel zu seinen wichtigsten Bezugsautoren. Besonders viele Referenzpunkte fand der junge Brecht, der sich Nietzsche allerdings ziemlich selektiv aneignete, in dessen Antiidealismus und Vitalismus, seinem Antimoralismus und seiner Kritik am Christentum. Insbesondere für die Gestaltung der Körperlichkeit beim jungen Brecht ist Nietzsches Auffassung, wonach der Mensch ein durch und durch leibliches Wesen sei, von Bedeutung: „Leib bin ich ganz und gar, und Nichts ausserdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe.“18 Während des Studiums Marx’ erkannte Brecht – hier bediene ich mich einer Aussage von Florian Vaßen – dass der Mensch seine Grundbedürfnisse wie z. B. Essen und Trinken befriedigen muss, bevor er moralisch agieren kann, dass aber Genuss, der mit Geld gekauft wird bzw. mit Entfremdung von den eigenen Bedürfnissen erkauft werden muss, also Genuss als Ware, nicht wirklich glücklich macht, sondern als scheinbare Befriedigung zu einer Sucht nach immer mehr Konsum führt und so den Menschen deformiert.19
Die spätere, schon im Exil vorgenommene Lektüre Marx’, insbesondere dessen Frühschriften, leitete ihn zur Überzeugung, „Religion, Familie, Staat, Recht, Moral, Wissenschaft, Geist etc.“ seien nicht autonome ontologische Größen, sondern nur besondere Formen der menschlichen Produktion und „fallen unter ihr allgemeines Gesetz.“20 Alle diese Institutionen und Werte sind Resultate menschlicher Tätigkeit, denn anders als Tiere, die im unmittelbaren Zusammenhang mit der Natur existieren, schaffen Menschen alleine die Bedingungen ihres eigenen Lebens. Melanie Selfe untersuchte Brechts handschriftliche Einträge und Markierungen in den Büchern von Marx und fand u. a. die folgende Stelle, die Brecht unterstrich:
Vgl. Florian Vaßen: Nowe bierze swój początek w nieznanym. Eksperymenty teatralne Bertolta Brechta i ich oddziaływanie w XXI wieku. In: Wokół Bertolta Brechta. Studia i szkice. Hg. v. Grażyna Barbara Szewczyk, Zbigniew Feliszewski, Marta Jadwiga Bąkiewicz. Kraków 2016, S. 13–16. Friedrich Nietzsche: Von Verächtern des Leibes. In: Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra (I–IV). In: Digitale Kritische Gesamtausgabe Werke und Briefe. Hg. v. Giorgio Colli, Mazzino Montinari. Berlin/New York 1967 (http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/Za-I-Ver aechter; zuletzt aufgerufen am 30.5.2021). Florian Vaßen, S. 90–91. Melanie Selfe: Brecht’s Reading of the Early Marx: The Alienation of Labor and the Dialectic of the Familiar and the Strabge. In: The Brecht Yearbook 45 (2020), S. 74.
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Das, was der Mensch jeweils ist, ist immer das Resultat seiner eigenen Tätigkeit. Tätigkeit, „Produzieren“ (d. h. heraus-führen) setzt aber ein Wesen voraus, das sich selbst Zwecke setzt, welches das, was er schaffen will, bevor er beginnt, in sich selbst fertig haben muss. … Aus seinem Kopf „führt“ er es „heraus,“ produziert er. Das, was er in sich gehegt und in sich entworfen hat, ein Element seines eigenen Wesens „entäußert“ er.21
Daraus ergibt sich eine fundamentale Frage, die für die Lektüre Brechts wichtige Aufschlüsse gibt, andererseits eine konzeptionelle Herausforderung darstellt: Wenn nämlich all die genannten Begriffe, Werte und Institutionen Produkte menschlicher Tätigkeit sind, können Liebe, Sexualität, Erotik etc. nie als autonome Phänomene, sondern nur im Wechselverhältnis anderer „Produzenten“ verstanden werden. Dies führt erneut zur eingangs angesprochenen kommunikativen Situation und rückt den gesellschaftlichen Kontext in den Vordergrund. Eine Herausforderung stellt die Idee der Abschaffung des Privateigentums dar. Bei Marx markierte Brecht folgende Passage: „Die positive Aufhebung des Privateigentums als die Aneignung des menschlichen Lebens ist daher die positive Aufhebung aller Entfremdung, also die Rückkehr des Menschen aus Religion, Familie, Staat etc. in sein menschliches d. h. gesellschaftliches Dasein.“22 Angenommen, die Liebe – ähnlich der Religion, Familie und dem Staat – sei eine von Menschen konstruierte Erscheinung, dann ist die Abschaffung des Privateigentums die notwendige Voraussetzung für die Beendigung der Entfremdung des Menschen und für dessen Rückkehr zu seinem richtigen sozialen menschlichen Leben.23 Die Abschaffung der Entfremdung macht die Schaffung der Distanzierung möglich. Dieser Gedanke führt zu Hegel, mit dessen Wissenschaft der Logik Brecht sich ebenfalls in der Exilzeit bekannt machte. Hegel plädiert für die Notwendigkeit, vertraute Ideen und Begriffe zu hinterfragen. Dabei handelt es sich um Begriffe wie Krieg, Volk, Tier, Gott, Liebe. Um für das kritische Denken von Nutzen zu sein, müssen vertraute Begriffe als ungewohnt und von der gewöhnlichen Betrachtungsweise getrennt in ihrer Dialektik erscheinen.24 Um hier nur stichwortartig die Bezugspunkte zu anderen Philosophen in Erinnerung zu rufen: mit Freud verbindet Brecht das menschliche Streben nach Glück als Zweck und Absicht des Lebens, mit Spinoza den Materialismus und Pantheismus, also die untrennbare Zugehörigkeit des Menschen zur Natur.25
Marx zitiert nach Melanie Selfe, S. 73. Melanie Selfe, 74. Vgl. Melanie Selfe, S. 74. Vgl. Melanie Selfe, S. 69. Vgl. Florian Vaßen, S. 96.
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Überblickt man Brechts dramatisches Werk, so sticht die Dominanz von Figuren mit materialistischer Haltung hervor. Von Baal bis Galilei handeln Subjekte zunächst körperbezogen, manchmal auch triebbezogen, um mit der Zeit sich in Richtung des dialektischen Materialismus zu entwickeln.26 Die Konstellation der frühen Dramen zeigt die Dominanz der erotisch aufgeladenen Rivalitäten zwischen Männern (Baal – Ekart, Mjurk – Kragler, aber auch Garga – Schlink in Im Dickicht der Städte). Frauen spielen meist die zweitrangige Rolle eines Ersatzes, sie werden meistens getauscht.27 An zwei exemplarischen Beispielen will ich im Folgenden Brechts dramatische Absage an den Idealismus und die Hinwendung zum Materialismus und insbesondere die Körperlichkeit und die sozialen Auffassungen der Liebe veranschaulichen. Baal war das Erstlingsdrama des zur Zeit der Uraufführung 23-jährigen Autors, mit dem sich Brecht einen eigenen Rang in der Dramaturgie erwerben wollte. Gedacht war es als Huldigung für Francois Villon, den Dichter des französischen Spätmittelalters. Gleichzeitig war es eine provokante Antwort auf Hanns Johsts Drama Der Einsame. Ein Menschenuntergang (1917). Im Grunde genommen richtet sich Brecht hier nicht nur gegen Johsts Drama, sondern gegen die ganze Tradition der expressionistischen Überhöhung der Künstler, die gleichermaßen die Werke Kaisers, Tollers oder Hansenclevers umfasst.28 Kontradiktorisch dazu „propagiert der nicht nur hässliche, sondern geradezu unästhetische und dennoch magische Anziehungskraft besitzende Baal einen Materialismus des Genusses und der Ausschweifung, der für seine dichterische Kraft […] unerlässlich ist […].“29 Brechts Künstler ist verkommen, anarchistisch, „mit Kot besudelt“, vulgär, egoistisch und selbstverständlich talentiert. Diese hedonistische Grundhaltung, die vitales Lebensgefühl, Sinnlichkeit und Rücksichtslosigkeit vereint, ist Ausdruck und Mittel eines Protestes gegen die soziale und ideologische Vereinnahmung des Künstlers und gegen die Verwertung und Verwahrlosung der Kunst durch ihr Einschreiben in die soziale, sprich kapitalistische Ordnung. Insgesamt interagieren sechs Personen mit Baal auf sexueller Ebene. Davon sind fünf Frauen, die letzte Person ist sein Freund Ekart, der letzten Endes Baal zum Opfer fällt. In bildhaften Szenen zeigt Brecht Baals teils willkürliche, teils aggressive Haltung gegenüber den Frauen, die ihn allesamt lieben oder ihm ihre Liebe zumindest bekunden. Emilie zwingt er zur großen Freude der in einer Branntweinschenke versammelten Gesellschaft zum Kuss mit dem dreckigen
Vgl. Florian Vaßen, S. 96. Vgl. Hans-Thies Lehmann, S. 305. Vgl. Brecht Handbuch. Bd. 1: Stücke. Hg. v. Jan Knopf. Stuttgart 2001, S. 70. Brecht Handbuch, S. 70.
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Fuhrmann, und ist über das Spektakel, das er damit veranstaltet, begeistert: „Das war Zirkus! Man muß das Tier herauslocken! In die Sonne mit dem Tier! Bezahlen! Ans Tageslicht mit der Liebe! Nackt in der Sonne unter dem Himmel!“30 Johanna war die Verlobte Johannes’, fromm und jungfräulich, die in sein Netz hineingelockt wurde beziehungsweise hineingelockt werden wollte, um sich nach dem Geschlechtsakt in den Fluss zu werfen. Sophie lässt er schwanger allein zurück, da er seine Freiheit beeinträchtigt sieht. Hinzu kommen noch zwei Schwestern, mit denen Baal verkehrt, die jedoch weder beim Namen genannt werden noch eine relevante Rolle für die Ausformung der Liebesproblematik und der Sexualität haben. Zwei Fragen stechen in diesem Kontext hervor. Die erste bezieht sich auf die enorme Anziehungskraft Baals, der jede Frau im buchstäblichen Sinne haben kann. Die zweite, die sich mit der ersten verbindet, betrifft den Aspekt der anarchistisch anmutenden Asozialität der Figur, die Brecht bekanntlich ja nicht ganz akzeptierte. Baals Attraktivität resultiert weniger aus seiner Ich-Bezogenheit, Alkoholsucht und der sozialen Degradierung, sondern vielmehr daraus, dass er sich die Freiheit gibt, diese Lebensweise zu wählen. Er lässt sich von der Gesellschaft mit ihren Normen und Normvorstellungen, mit ihren Geschlechtszuschreibungen und Rollen nicht vereinnahmen. Er lebt zwar abseits des sozialen Systems, erhebt sich aber zugleich darüber. In der Baal-Figur zeigt Brecht einen Mann, der die Frauen ausbeutet, jedoch immer im Moment, in dem sie zu eng an die gesellschaftlichen Normen gebunden sind und Baal selbst in diese Richtung schieben.31 Wenn er zu Johanna sagt „Lieben ist besser als Genießen“,32 dann ist es verfremdend, weil das eben aus dem Munde eines auf Sinnlichkeit, Sex und Körper Bedachten kommt. Im Grunde genommen geht Baal immer sehr konsequent vor. Zum einen, indem er die Kunst vor der „Verwurstung“ zu schützen versucht und sich selbst dadurch zu Grunde richtet, zum anderen, indem er die Liebe außerhalb der gesellschaftlichen Normen und Regeln praktiziert und erlebt. Nicht die Frauen an sich lässt er zurück, sondern gesellschaftliche Konstrukte eines bürgerlichen Ordnungssystems. Durch die Materialisierung und Hervorhebung des Körperlich-Sexuellen wird paradoxerweise das Reine, Unschuldige und Essenzielle zutage gefördert. Paradox ist es, weil Brechts Intention war, das Ideale abzulehnen. Dabei handelt es sich weniger um den „natürlichen Egoismus“, wie Brecht den Protagonisten seines anderen unvollendeten Stückes Der Untergang
Bertolt Brecht: Baal. In: Bertolt Brecht: Werke. Zusammengestellt von Wolfgang Jeske. Frankfurt a. M./Wien 1990, S. 25. Vgl. Grażyna Krupińska: Männlichkeitsbilder bei Brecht. Zu den Dramen ‚Baal‘ und ‚Trommeln in der Nacht‘. In: The Brecht Yearbook 38 (2013), S. 230–231. Bertolt Brecht: Baal, S. 20.
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des Egoisten Johann Fatzer (1926–1931) bezeichnete, sondern um Liebe und Sexualität als ein „unumgängliches Problem [des] politisch-sozialen Diskurses“33, das konstruierbar, manipulierbar und ideologisierbar ist. Übrig bleibt die Frage nach dem sexuellen Verhältnis Baals zu seinem Freund Ekart, der anfänglich den Künstler verführen will, worauf Baal antwortet: „es ist zu früh“, um dann letzten Endes, als alle Frauen zurückgeblieben sind, sich dem Mann körperlich zuzuwenden. Als Ekart ihn abstößt, ersticht er ihn mit einem Messer und wird zum Mörder. Den homosexuellen Aspekt erklärt die einschlägige Literatur oft mit der zwiespältigen Natur Baals und deutet Ekart als Baals Alter Ego. Nach Julia Kristeva sieht sich „Der Autor als Subjekt […] als ein Mann, der sich als Frau weiß und es nicht sein will.“34 Der Künstler als Subjekt befindet sich immer in einer sexuellen Ambivalenz und ist somit – mit Lehmann gesprochen – „in einer psychosexuellen und ästhetischen Bewegung begriffen“.35 Lenkt man das Augenmerk auf die sozialkritische Dimension des Stücks, wird klar, dass Brecht den semitischen Sturm- und Fruchbarkeitsgott, der biblischer Überlieferung nach Ernte gedeihen ließ und Kinder schenkte, zu einer Figur steigerte, deren ausschweifende Sexualität und exzessiver Alkoholgenuss zu den moralischen Kategorien der Gesellschaft in krasser Opposition steht. Somit handelt es sich bei der Schilderung bilderstürmischer Exzesse weniger um eine skandalträchtige Provokation, sondern um eine verweisende Geste, die, in Anlehnung an Nietzsche, auf die Möglichkeit einer Existenz jenseits der christlich geprägten Konventionen und moralischen Kategorien hindeutet. Fruchtbarkeit bei Brecht geht weniger im biblischen Bild einer Sicherung des Fortbestandes auf, vielmehr liegt ihr die Idee der Begabung des Menschen zugrunde, aus sich selbst heraus Werte schaffen zu können. Diese Grundüberzeugung macht die teils manieristische, teils gekünstelte Schilderung der Sexualität plausibel. Sie ist Ausdruck eines maßlosen Subjektivismus, an dem die an die Gesellschaft eng gebundenen Menschen entweder Anstoß nehmen oder gar zugrunde gehen müssen. Jene Überhöhungen in der Schilderung rasender Ekstase und Wollust legen nahe, was für Baal wichtig ist: „Sexualität ohne moralische Zwänge bedeutet für Baal die intensive Form des Naturerlebens und die weitestgehende Übereinstimmung mit dem Prinzip, das der Himmel verkörpert“,36 d. h. Unveränderbarkeit und Unberührtheit vom „Geschick des Menschen.“37 Gleichzeitig legt sie Zusammen
Hans-Thies Lehmann, S. 300. Hans-Thies Lehmann, S. 303. Hans-Thies Lehmann, S. 303. Brecht Handbuch, S. 80. Brecht Handbuch, S. 80.
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hänge und Aspekte offen, die dem Gesellschaftssystem eigen sind. Liebe wird nur dann akzeptiert, wenn sie in das System integrierbar ist. Dabei ist das Absurde des Systems darin begründet, dass alle Dinge ihm dienen und nichts souverän ist.38 Folgt man George Batailles Auffassung von der Erotik, die zwischen zwei Polen angesiedelt ist, der begehrenswertesten, erschaudernden Lust und der Schmach, wird klar, dass es eben die Erotik ist, die „Urteile des gewohnten Lebens außer Kraft setzt“.39 Dies führt zur Schlussfolgerung, wonach das Wechselverhältnis von Lust und Schmach das eigentlich Menschliche repräsentiert: „Wenn wir nur an eine der beiden Sichtweisen halten, dann verwerfen wir die Erkenntnis: kehren wir jedoch der Erotik den Rücken, so kehren wir uns ab vom Möglichen und Angemessenen des Lebens.“40 Baals demütigende Agonie in der Schlussszene des Dramas ist somit die Folge seiner Entscheidung, diese Schmach abzulehnen und sich ganz der ungezügelten Lust hinzugeben. Baals einsames Sterben ist keine Strafe für sein ungestümes Leben. Er stirbt – und das ist von Anfang an klar –, weil dies der Preis ist, den er für diese Geste, durch die die soziale Kontrollübernahme über das Subjekt bloßgestellt wird, bezahlen muss. Baal stirbt, sobald alle sozialen Konventionen offengelegt und negiert worden sind. Es gibt hier jedoch eine Unstimmigkeit: Im Sterben appelliert er an das Gewissen seiner Gefährten und bittet um deren Anwesenheit, damit er nicht allein abtritt. Baal ist also kein Prophet, der nach der Erfüllung seiner Mission friedlich sterben kann. Er erscheint durch und durch menschlich: sterblich, zerbrechlich und angsterfüllt. Wie Jürgen Hillesheim mit Recht schlussfolgert: „Baals Lebensethos ist damit nicht relativiert, nicht am Ende aufgehoben und ad absurdum geführt. Es zeigt jedoch Brüche, bleibt in bestimmten Punkten Postulat und führt dazu, dass der Zuschauer Baal letztlich distanziert ‚als Fall‘ erlebt.41 Wie in Baal, so wird die Liebe auch in Trommeln in der Nacht einerseits als Ausdruck des Aufbegehrens gegen systemimmanente Versuche, das Subjekt zu bestimmten Rollen und Haltungen zu zwingen, andererseits als Mittel zur Erlangung von persönlichen Zielen dargestellt. Während jedoch Baal in radikaler und provokativer Weise alle Sozialnormen und -zwänge verwirft und es ablehnt, Liebe als Mittel der sozialen Kontrolle zu betrachten, wendet sich Kragler durch und durch der bürgerlichen Bequemlichkeit zu, indem er auf revolutionäres Engagement verzichtet und sich für „das große, weiße, breite Bett ent-
Vgl. Georges Bataille: Historia erotyzmu. Übers. v. Ireneusz Kania. Warszawa 2008, S. 11. George Bataille: L’Histoire de l’érotisme. Paris 2015. Georges Bataille: Die Erotik. Neu übers. u. mit einem Essay versehen von Gerd Bergfleth. München 1994, S. 272. Georges Bataille: Die Erotik. S. 271. Brecht Handbuch, S. 77.
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scheidet“.42 Das Stück, ursprünglich Spartakus genannt, soll Brecht, so Lion Feuchtwanger, fürs Geld geschrieben haben. In Wirklichkeit hatte er damit eine neue Dramatik eingeleitet, die „das Individuelle der Helden unlösbar mit der Epochenproblematik verband.“43 Um die Geschichte kurz zu rekapitulieren: Der Soldat Andreas Kragler, Heimkehrer aus dem Ersten Weltkrieg und eine komische Figur, erscheint unerwartet in Berlin, als seine Geliebte Anna die Verlobung mit dem tüchtigen und erfolgversprechenden Friedrich Murk feiert. Für den unangenehmen Gast empfindet Anna immer noch eine Zuneigung. Die Revolutionäre der proletarischen Erhebung 1918/1919 versuchen ihn für den politischen Kampf zu gewinnen. Als die Spartakus-Gruppe zum Zeitungsviertel marschiert, setzt sich Kragler allerdings mit der schwangeren Anna ab: Mein Fleisch soll im Rinnstein verwesen, damit eure Idee in den Himmel kommt? […] Der Dudelsack pfeift, die armen Leute sterben im Zeitungsviertel, die Häuser fallen auf sie, der Morgen graut, sie liegen wie ersäufte Katzen auf dem Asphalt, ich bin ein Schwein, und das Schwein geht heim.44
Kragler begehrt gezielt gegen das Soldatentum als Ausdruck der konstruierten Männlichkeit auf, zu deren Attributen „Willenskraft, Ehre, Mut, Selbstbeherrschung, Mäßigung und klassische Schönheit“45 gehören, wie es der amerikanische Historiker George L. Mosse 1996 formulierte. Beide Männer – Baal und Kragler – betrachten außerdem die Sexualität als eines der Mittel zur eigenen Selbstverwirklichung. Baal benutzt sie im Prozess seines unstillbaren Glücksverlangens, von dem Brecht im Jahre 1953 behauptete, es könne als Ausgangspunkt zu gesellschaftlichen Veränderungen dienen. Im Falle von Kragler handelt es sich ebenfalls um ein Glücksverlangen, jedoch im wesentlich engeren Sinne. Während Baal sich als Sozialwesen degradiert, sorgt Kragler für seine soziale Bequemlichkeit. Da er aber die vom Murk geschwängerte Frau zu seiner Lebensgefährtin wählt, während ihm die notwendigen Sozialkompetenzen wie eine entsprechende gesellschaftliche Stellung und materielle Sicherheit fehlen, wird sein soziales Leben nicht ohne Probleme abgehen. Kragler kämpft gegen die stereotype Auffassung von Männlichkeit. Bis zum Ersten Weltkrieg war das Soldatentum mit Prestige verbunden. Die gängige Überlieferung des Soldaten zeigte gutaussehende, uniformierte, zufriedene Männer mit Eigenschaften wie Heldentum, Mut, Stärke,
Bertolt Brecht: Trommeln in der Nacht. In: Bertolt Brecht: Werke. Zusammengestellt v. Wolfgang Jeske. Frankfurt a. M./Wien 1990, S. 121. Schuhmacher, Ernst und Renate: Leben Brechts in Wort und Bild. Berlin 1979, S. 23. Bertolt Brecht: Trommeln in der Nacht, S. 120. Vgl. Grażyna Krupińska, S. 233.
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Selbstüberwindung, Aufopferung und Disziplin.46 Somit ist das Stück eine Stimme im Diskurs über idealisierte, idealistische und ideologisierte Überlieferung bestimmter Mythen. Dass Brecht diese konsequent auf ihren materiellen Wert zurückführen wollte, wird an der oben rekapitulierten Handlung evident. Dies betrifft auch die Liebe in ihrer Sozialausformung. Annas Vater Karl Balicke suchte eine gute Partie für seine Tochter, denn „eine Frau ohne Mann, das ist eine gotteslästerliche Budike.“47 Auch die Mutter stimmt ihrem Mann trotz der Sympathie zu Kragler zu. Liebe ist für sie nur dann berechtigt, wenn sie mit der Ehe einhergeht. Diese ist wiederum für beide Eltern von ökonomischem Charakter, ihre Priorität heißt, aus der ehelichen Verbindung Profit zu schlagen. Hier stellt sich jedoch die Frage nach der Bedeutung der Liebe im Kontext der Revolution. 30 Jahre nach der Entstehung des Stücks distanzierte sich Brecht ausdrücklich von seiner Figur: Anscheinend reichten meine Erkenntnisse nicht dazu aus, den vollen Ernst der proletarischen Erhebung des Winters 1918/1919, sondern nur dazu, den Unernst der Beteiligung meines randalierenden ‚Helden‘ an der Erhebung zu realisieren. Die Initiatoren des Kampfes waren die Proleten; er war der Nutznießer.48
In dem Stückfragment Fatzer wird Sex als Kern des Egoismus dargestellt, der zur Spaltung des Kollektivs führt. Dies trifft in ähnlicher Weise auch auf Trommeln in der Nacht zu, mit dem Unterschied, dass Kragler vor der Revolution flieht, weil sie mit dem menschlichen Bedürfnis der individuellen Selbsterfüllung im Kontrast steht. Beide Fälle verbindet jedoch die Überzeugung von der enormen Kraft der Sexualität und ihrem wirklichkeitsverändernden Vermögen. Nach Georges Bataille ist die Kraft der Erotik darauf zurückzuführen, dass sie Obszönes und Sakrales verbindet: Die Erotik öffnet einen Abgrund. Dessen Tiefe aufzuhellen, erfordert nicht nur eine große Entschlußkraft und eine ruhige Klarsicht, sondern zugleich das Bewusstsein alles dessen, was eine derart dem allgemeinen Schlaf entgegengesetzte Intention ins Spiel bringt: es ist gewiß das Schrecklichste, und es ist auch das Heiligste.49
Kragler will sich nicht in den Brennpunkt der Ereignisse begeben, denn die Revolution ist ein Akt kollektiver Rebellion, bei dem vom Einzelnen erwartet wird, dass er seine Individualität dem Kollektiv opfert. Seine Absage, an militärischen
Grażyna Krupińska, S. 238. Grażyna Krupińska, S. 234. Bertolt Brecht: Bei Durchsicht meiner ersten Stücke. In: Bertolt Brecht: Schriften 1920–1956. Frankfurt a. M. 1997, S. 601. Georges Bataille: Die Erotik, S. 280.
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Aktionen teilzunehmen, muss nicht zwangsläufig Desertion, Gleichgültigkeit gegenüber den politischen Postulaten oder deren Ablehnung bedeuten. Vielmehr ist es eine Stimme im Diskurs von der Überlegenheit der Politik über die Menschengeschichte. Genauso wie das Subjekt als widersprüchliches Konstrukt, das „nicht der Ordnung des Seins, sondern der Ordnung des Ereignisses“50 gehört, sind auch Liebe und Sexualität ständig der Macht der Verhältnisse ausgesetzt. Als ein Ereignis unterliegen sie den gesellschaftlichen Prozessen der Kontrolle – und dies von allen möglichen Seiten, von der bürgerlichen Gesellschaft, den Immobilienbesitzern in Baal über Annas Eltern, ihrem Verlobten in Trommeln in der Nacht bis hin zu den Revolutionären. In den Notizen zum Fatzer (1926–1931) kommt Brecht zu der Einsicht, dass es die Sexualität und die damit verbundene Rivalität sei, die der Bildung jedes Kollektivs im Wege stehe.51 In dem Stückfragment geht es um die innere Zersetzung eines kleinen Kollektivs, doch diese Einsicht kann man auf die Gesellschaft beziehen. Die Aussage des Stückfragments korrespondiert mit Heiner Müllers Kunstauffassung: Die Berufung der Kunst besteht darin, die Wirklichkeit unmöglich zu machen. Brechts ästhetischer Ansatz ist offensichtlich darin begründet, herrschende Vorstellungen und Konventionen außer Kraft zu setzen.
Hans-Thies Lehmann, S. 19. Vgl. Hans-Thies Lehmann, S. 300.
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Zur Kritik der libidinösen Ökonomie: Liebe und Klassenkampf in der Literatur der chinesischen Moderne Der alte Konflikt zwischen Neigung und Pflicht, der Friedrich Schiller gegen Immanuel Kant in Stellung brachte,1 wird in den emanzipatorischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts neu aufgerollt. Jetzt steht die Frage im Vordergrund, ob Paarliebe und Klassenkampf in einem antagonistischen oder kongenialen Verhältnis stehen. Innerhalb der Kritik wurde diese Frage unterschiedlich beantwortet. Der rotwangige Verliebte, der nur Augen für seine Angebetete hat, ist kaum für den Straßenkampf mobilisierbar, weil er die Quelle seines Glücks und Unglücks nicht mit seiner materiellen Basis verbindet. Erwischt man ihn jedoch im richtigen Moment, etwa nach einer vehementen Zurückweisung durch die Geliebte oder nach ihrer Zwangsverheiratung an einen reichen Fabrikanten, kann frustrierter Liebesdrang flugs in die Sache der Revolution eingespeist werden. Für sozialistische Schriftsteller stellte diese erzählerische Verknüpfung von Individual- und Kollektivschicksal eine erzählerische Blaupause dar, mit der sowohl ideologische Ansprüche als auch sentimentale Leserbedürfnisse bedient werden konnten. Diese ergebnisoffene Formel wurde im sozialistischen Realismus russischer Prägung durchkonjugiert,2 schlug sich in Romanen der DDR nieder, etwa im Spätwerk Anna Seghers,3 und erwies sich auch im Roman der chinesischen Moderne als fruchtbarer Lösungsansatz für die maßgebliche Aufgabe des neuzeitlichen Romans: die Erzeugung von Totalität angesichts „transzendentaler Obdachlosigkeit“4.
Für eine Überblicksdarstellung vgl. Harald Köhl: Kants Gesinnungsethik. Berlin/New York 1990, S. 62–114. Maxim Gorkys Poetik spricht der romantischen Liebe eine zivilisierende Kraft zu, welche den Menschen über das Tier erhebt. Sowjetische Pädagogen wie Anton Makarenko hielten nur die asexuelle Liebe für vereinbar mit dem Klassenkampf. Vgl. Evgenii A. Dobrenko: Political Economy of Socialist Realism. New Haven 2007, S. 82, 132. In Die Entscheidung (1959) führt Seghers vor, wie die Prioritäten der Protagonisten kollidieren. Während Herta Fürth und Ernst Riedl bereit sind, ihrem Bekenntnis zum Sozialismus alles andere unterzuordnen, bleibt die Liebe für Friedrich Rentmair imperativ. Vgl. Loreto Vilar: Die Kritik des realen DDR-Sozialismus im Werk Anna Seghers: ‚Die Entscheidung‘ und ‚Das Vertrauen‘. Würzburg 2004, S. 149. Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Darmstadt 1982, S. 47. https://doi.org/10.1515/9783110740806-014
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Die Prominenz des Themas Paarliebe in der chinesischen Gesellschaftskritik der 1920er und 1930er Jahre steht im Gegensatz zu der essentialisierenden Feststellung, dass sinnliche Erfüllung innerhalb des konfuzianisch-daoistischen Kulturraums stets mit weniger Verboten behaftet war als im christlich geprägten Westen. Zwar kann eine gelassene Haltung zur menschlichen Reproduktion im Buch der Riten (Li Ji 禮記, ca. 2. Jhdt. v. Chr.) nachgewiesen werden,5 dennoch zeichnete sich die Feudalherrschaft unter den Ming- und Qing-Dynastien (1368–1644 bzw. 1644–1911) durch eine dem Westen um nichts nachstehende Unterdrückungsmaschinerie aus, die von der Propagierung eines rigiden Tugendethos über die Zensur frivoler Literatur bis hin zur unhinterfragten Praxis der Zwangsverheiratung reichte.6 Dieses Paradigma änderte sich mit der Modernisierungswelle, die China spätestens 1911 erreichte, als das Kaiserreich einem modernen Nationalstaat Platz machte. In diese Zeit fallen die beiden intellektuellen Strömungen, welche die chinesische Gesellschaft nachhaltig umformten, insbesondere die Vierte-Mai- und die Neue-Kultur-Bewegung. Vergleicht man die gesellschaftskritische Literatur im China der 1920er und 1930er Jahre mit europäischen Debatten, fällt die wachsende Deutungshoheit der Kommunistischen Partei gegenüber emanzipatorischen Themen auf. 1921 gegründet, entwickelte die Partei bis zum Ausbruch des chinesischen Bürgerkriegs (1927–1949) ein strenges ideologisches Programm, das der linken Intelligenzija zusehends aufoktroyiert wurde. Das Werk von Schriftstellern wie Yu Dafu 郁達夫 (1896–1945) und Ba Jin 巴金 (1904–2005) ist an den Rändern dieser Entwicklung angesiedelt und besetzt einen Imaginationsraum, in dem Libido, Paarbeziehung und ökonomische Basis auf heterodoxe Weise in Beziehung gesetzt wurden. Erst nach und nach schaltete sich die Partei-Orthodoxie ein und stellte anarchistische Ansätze, die dem Individualschicksal eine maßgebliche Rolle zuschreiben, unter den Verdacht kleinbürgerlichen Denkens. Dieser Abschnitt der chinesischen Literaturgeschichte ist Teil der Globalgeschichte der Paarromantik, die sich
Das Buch der Riten vertritt eine Anthropologie, welche die sinnlichen Bedürfnisse des Menschen hervorkehrt. So heißt es: „Das, was der Mensch im Leben begehrt, sind Essen und Trinken sowie die Lust zwischen Mann und Frau; das, was er verabscheut, sind Tod und Armut.“ Zitiert in: Peter Kupfer: Neue Weinkultur und der Wandel der Gastlichkeit in China. In: Gastlichkeit. Rahmenthema der Kulinarik. Hg. v. Alois Wierlacher. Münster 2011, S. 375–387, hier S. 375. Vgl. auch Geling Shang: Excess, Lack, and Harmony. Some Confucian and Taoist Approaches to Family Planning and Population Management. Tradition and the Modern Challenge. In: Sacred Rights. The Case for Contraception and Abortion in World Religions. Hg. v. Daniel C. Maguire. Oxford, S. 217–236. Vgl. Susan Whitfield: Eintrag: China. To 1912. In: Censorship. A World Encyclopedia. 4 Bde. Hg. v. Derek Jones. London, Bd. 1, S. 475–486, hier S. 485.
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bis in die Gegenwart zur unhinterfragten Norm der Kulturproduktion entwickelt hat.
1 Sexuelle Befreiung und/oder Klassenkampf Da die Gründerväter des Marxismus psychologische Faktoren in ihrer Gesellschaftsanalyse ausklammerten, fand die Liebesthematik auf unterschiedlichen Wegen Eingang in emanzipatorische Literatur, mal als Erweckungserlebnis, mal als Schreckbild bürgerlicher Verblendung. Innerhalb westlicher marxistischer Diskussionen veranschaulicht die Sexualtheorie Wilhelm Reichs besonders gut, wie schnell diese thematische Verknüpfung den Rahmen der Orthodoxie sprengt. In seiner 1933 erschienenen Studie Massenpsychologie des Faschismus wird Sigmund Freunds Sublimierungstheorie des Individuums auf gesellschaftliche Verhältnisse übertragen, um Sexualität, Ökonomie und Herrschaft in ein funktionales Verhältnis zu setzen. Reich zufolge fungiert die Familie als Ideologiefabrik der Gesellschaft, die via Sexualunterdrückung die Unterwerfungsbereitschaft des Menschen stärkt: Die moralische Hemmung der natürlichen Geschlechtlichkeit des Kindes […] macht ängstlich, scheu, autoritätsfürchtig, gehorsam, im bürgerlichen Sinne brav und erziehbar; sie lähmt, weil nunmehr jede aggressive Regung mit schwerer Angst besetzt ist, die auflehnenden Kräfte im Menschen, setzt durch das sexuelle Denkverbot eine allgemeine Denkhemmung und Kritikunfähigkeit; kurz, ihr Ziel ist die Herstellung des an die privateigentümliche Ordnung angepassten, trotz Not und Erniedrigung sie duldenden Staatsbürgers.7
Versteht man mit Reich die repressive Sexualmoral des bürgerlichen Zeitalters als maßgebliches Kontrollinstrument der herrschenden Klassen, wird einem psychologischen Faktor eine Rolle zugewiesen, die innerhalb der marxistischen Orthodoxie nur der Ökonomie zukommt.8 Kein Wunder also, dass Reichs idiosynkratrischer Zugang nicht bloß zu seinem Ausschluss aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, sondern auch zu seinem Rauswurf aus der Kommunistischen Partei führten. Mit diesem institutionellen Machtwort im Jahr 1933 war das Spannungsfeld Marxismus und Sexualität allerdings nicht behoben, sondern wurde in die Nachkriegszeit vertagt, als
Wilhelm Reich: Massenpsychologie des Faschismus. Köln 1971, S. 50. Zum revolutionären Kern von Reichs Psychoanalyse vgl. Bertell Ollman: Social and Sexual Revolution. Essays on Marx and Reich. Cambridge, MA 1979, S. 176–204.
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Herbert Marcuses Eros und Zivilisation (1955) die Frage nach der Rolle der sexuellen Befreiung zur Freisetzung revolutionären Bewusstseins neu aufrollte. Obwohl Reichs Schriften zu keinem Zeitpunkt Ostasien erreichten und selbst Freud und Karl Marx am Anfang des 20. Jahrhunderts nur selektiv und oft entstellt rezipiert wurden,9 traten auch dort Klassenkampf und Paarliebe als ideologisches Tandem auf, das sinnfällige Diagnosen der gesellschaftlichen Wirklichkeit ermöglichte. Innerhalb chinesischer Debatten kommt Zhang Jingsheng 張競生 (1888–1970) die Rolle des Visionärs der sexuellen Befreiung zu. Mit der Herausgabe der Geschichten der Sexualität (Xing Shi 性史, 1926) sprach Zhang ein breites Publikum an und prangerte darin die vorherrschende konfuzianische Sexualmoral an.10 Eine feste Institution der neo-konfuzianischen Sexualpolitik besaß bis in die Republikzeit hinein Geltung: die Norm arrangierter Ehen (lifa de jiehe 禮法的結合), neben denen Liebesheiraten (lian’ai de jeihe 戀愛 的結合) die Ausnahme bildeten. Unter die gesellschaftlichen Unbilden, welche diese Praxis nach sich zieht, zählt Zhang den notorischen Bordellbesuch der Ehemänner und die damit einhergehende Verbreitung von Geschlechtskrankheiten. Gleichzeitig grassiere unter den sexuell vernachlässigten chinesischen Ehefrauen die „Hysterie“. Obwohl Klassenaspekte in Zhangs Ausführungen keine Erwähnung finden, ist seine Herangehensweise kompatibel mit den Beiträgen der ersten Generation marxistisch-orientierter Intellektueller, die zu Fürsprechern von Liebesheiraten wurden – nicht zuletzt, weil sie selbst unter dem Elend der Zwangsehe litten. Sensibilisiert durch seine erste Ehe, befasste sich etwa Mao Zedong (1893–1976) in seinen frühen Beiträgen als Journalist mit einer Selbstmordwelle unter zwangsverheirateten Frauen in Changsha. Als treibende Kraft dahinter nennt Mao zwei Quellen der Unterdrückung, welche Suizid als einzige Form der Befreiung nahelegen: einerseits die kapitalistische Gesellschaft, welche ihre Ausbeutungspraxis auf die Ehe erstreckt, andererseits die konfuzianische Tradition, welche Sippenpolitik und Aberglauben über das Gebot der Zuneigung stellt. 11 Auch der junge Guo Moruo (1892–1978), später Kulturminister der Volksrepublik China, wurde noch in Jugendjahren verheiratet. Später bezeichnete er die chinesische Gesellschaft als ein Reich für Sexualneurotiker, deren
Vgl. Jianmei Liu: Revolution Plus Love. Literary History, Women’s Bodies, and Thematic Repetition in Twentieth-Century Chinese Fiction. Honolulu 2003, S. 15, S. 34. Für eine umfassende Darstellung von Zhangs Sexologie-Projekt vgl. Hsiao-yen Peng: Sex Histories: Zhang Jingsheng’s Sexual Revolution. In: Feminism/Femininity in Chinese Literature. Hg. v. Peng-hsiang Chen und Whitney C. Dilley. Amsterdam 2016, S. 159–177. Vgl. Brantly Womack: The Foundations of Mao Zedong’s Political Thought, 1917–1935. Honolulu 2019, S. 21.
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sadomasochistischer Sexualfetisch in der Praxis des Füßebindens zum Ausdruck käme.12 Ungeachtet solcher Verdikte sind Zhangs, Maos und Guos finstere Porträts der chinesischen Gesellschaft von einer utopischen Vision unterfüttert, die voraussetzt, dass Veränderung möglich ist. Würden sexuelle Freiheit und Liebesheiraten nicht länger zur sozialen Deklassierung führen, so die stille Annahme, wäre die Grundlage für eine harmonischere Gesellschaft geschaffen.
2 Frustrierte Libido als pars pro toto In der chinesischen Literaturgeschichte gehört der Protest gegen Zwangsheiraten zu den kraftvollsten Motiven. Cao Xueqins Qing-zeitlicher Großroman Traum der Roten Kammer (Hong Lou Meng 紅樓夢, 1791) führt eindrücklich die Misere der Zwangsverheiratung anhand des selbstgewählten Tods der jungen Daiyu vor. An ihrer Seite steht Baoyu, der ebenfalls um sein Liebesglück betrogen wird, den Verstand verliert und zuletzt der Welt entsagt. Unter den Intellektuellen der Vierten-Mai-Bewegung wurde dieser Text zur sprachlichen und geistigen Vorlage für eine vernakulare Literatur, die sich von der elitären Hofbeamtenkultur absetzen wollte. Neben der autochthonen Vernakularliteratur fungierte auch der westliche Literaturkanon als Quelle für eine neue Art von Protagonisten. Goethes Werther und Ibsens Nora wurden als Gegenmodelle zu konfuzianischer Sittlichkeit herangezogen, die kaum Platz für individuelle Leidenschaften lässt und das Gebot des Maßhaltens preist. Während dieser Zusammenhang das Metanarrativ des zur Liebe befreiten Individuums reproduziert, das seinerseits bloß neue Zwänge generiert,13 führt die Literaturgeschichte der chinesischen Republikzeit (1911–1949) vor, dass libidinöse Konflikte nicht nur in einen gesellschafts-, sondern auch geopolitischen Zusammenhang gestellt werden können. Sexueller Mikro- und historischer Makrokosmos sind hier nicht länger geschieden, sondern bedingen sich wechselseitig. Möglicherweise hängt diese Kopplung damit zusammen, dass die Auslotung der Geworfenheit des Menschen in China in eine ausgesprochene Krisenzeit fällt. Die chinesische Rezeption des Marxismus und der Psychoanalyse fällt ins sogenannte „Jahrhundert der Erniedrigung“ (bainian guochi 百年國恥), das laut der Geschichtsschreibung der Volksrepublik China mit dem Ersten Opiumkrieg (1839–1842) begann und erst 1949 mit der Gründung der
Vgl. Shu-mei Shih: The Lure of the Modern. Writing Modernism in Semicolonial China, 1917–1937. Berkeley 2001, S. 102. Laut Foucault verrät gerade der Diskurs über die Unterdrückung des Sexes die anhaltende Schamhaftigkeit im Umgang mit der Sexualität. Vgl. Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit. Übersetzung v. Ulrich Raulff und Walter Seitter. Frankfurt a. M. 1977, S. 12–16.
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Volksrepublik endete.14 Angesichts kolonial verwalteter Hafenstädte wie Shanghai und der bedrohlichen Machtfülle Japans lag es nicht fern, individualpathologische Beobachtungen auf eine Weise zu lesen, die dem Zeithorizont stärker Rechnung trug, als es die Universalismen Freuds oder Marx’ zuließen. Für die Einordnung des Liebesdrangs in einen gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang nimmt Yu Dafus Prosa eine Schlüsselrolle ein. Hier gehen frustrierte Libido und gesellschaftliche Unterdrückung Hand in Hand und treiben das Individuum in den Selbstmord. Yus Erzählung Ertrinken (Chen Lun 沈淪) von 1921 handelt von einem einsamen chinesischen Studenten, der in Japan studiert. Gerade seit dem Sieg gegen Russland (1895) wurde der Inselstaat gleichermaßen zum Vorbild und Schreckbild in Südostasien, wo Japan eine aggressive Kolonialpolitik verfolgte, welche die Unterwerfung Koreas und die Errichtung japanischer Konzessionsgebiete in China umfasste. Yus Protagonist, dem im Gastland die Position des Untermenschen zugewiesen wird, ist Barometer für ein Klima, das sich im Pazifischen Krieg (1937–1945) entladen sollte. Der Protagonist zieht sich zunehmend vor der feindlichen Umwelt zurück, rezitiert und übersetzt stattdessen englische Romantiker. Diese Ausweichstrategie wird nachhaltig gestört, als der Geschlechtstrieb in ihm erwacht. Begegnet er Klassenkolleginnen, beginnt er zu stottern. Folgt er der Tochter seines Gastwirts, um ihr durch ein Guckloch bei der Morgenhygiene zuzusehen, überfällt ihn eine kleine Ohnmacht. Völlig überfordert von der Diskrepanz zwischen seinen geistigen Höhenflügen und den Auswüchsen seines Geschlechtstriebs zieht er in eine verlassene Hütte im Wald, um sich dort ungestört seinen Studien widmen zu können – und stößt ein paar Tage später auf ein kopulierendes Pärchen im Freien. Zuletzt fasst er den Entschluss, ein Bordell zu besuchen. Doch als er vor der Prostituierten sitzt und sie ihn nach seiner Herkunft fragt, fühlt er nur seine eigene Minderwertigkeit: „Wo sind Sie zu Hause?“ Nach Vernehmen dieses Satzes erschien wieder die Röte auf seinem mageren blassen Gesicht. Er antwortet unklar. Mit lauterer Stimme konnte er immer noch nicht deutlich sprechen. Leider stand er wieder auf dem Richtplatz. Eigentlich verachten die Japaner die Chinesen, wie wir Schwein und Hund geringachten. Die Japaner riefen alle Chinesen: „China-Mann“. Diese Bezeichnung war in Japan viel un-
Viele Schriftsteller der Vierten-Mai-Bewegung wurden durch die Verträge von Versailles (1919) mobilisiert, als das deutsche Konzessionsgebiet Kiaotschou (Jiaozhou 膠州) Japan zugesprochen wurde. Fortan galt die ökonomische, militärische und kulturelle Erneuerung Chinas als oberste Priorität. Für eine Überblicksdarstellung dieser Periode vgl. Michael Dillon: China. A Modern History. London 2010, S. 170–187.
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angenehmer zu hören als das Schimpfwort „gemeiner Dieb“. Nun mußte er vor diesem hübschen Zimmermädchen sagen: „Ich bin ein Chinese.“ „China, ach China! Warum bist du nicht stark!“ Sein ganzer Körper zitterte, beinahe rollten ihm die Tränen herunter!15
Noch in derselben Nacht beschließt der Protagonist, sich zu ertränken. Seine letzten Worte bekräftigen, dass es sich hier nicht länger um eine Individualbiographie handelt: „Er wischte die Tränen ab, blieb stehen und stöhnte tief, dann sprach er in abgerissene Worten: ‚Heimatland, ach, Heimatland! Mein Tod ist deine Schuld! Werde schnell reich! Stärke dich! Du hast so viele Söhne und Töchter, die Not leiden!‘“16 Ungeachtet der zahlreichen Hinweise auf das selbstverschuldete Unglück des Protagonisten, der selbst von seinen chinesischen Kommilitonen gemieden wird, stellt diese Schlusspassage sein Individualschicksal in einen geopolitischen Gesamtzusammenhang. Weil die Imperialmächte, allen voran Japan, China die Rolle einer zurückgebliebenen, semi-kolonisierten Nation zuweisen, leidet auch der Protagonist unter einem internalisierten Fremdbild, das wesentlich von der Beschimpfung „China-Mann“ (im Original: shinajin/ zhinaren 支那人) geprägt ist. Ihm bleibt nur die Selbstauslöschung. Der erzählerische Fokus auf frustrierte Libido ist typisch für Yus frühe Erzählungen, in denen die Protagonisten durchwegs jenem „Krankenhaus für Sexualneurotiker“ entspringen, als das Guo Moruo China bezeichnete. Unterdrückung wird hier jedoch nicht von der chinesischen Tradition ausgeübt, sondern von der Kolonialmacht Japan. Während sich die psychopathologischen Diagnosen eines Zhang Jingsheng (oder eines Wilhelm Reich) nur mit den partikularen Auswüchsen einer oppressiven Gesellschaft befassen, fungiert die gehemmte Libido in Yus Kurzgeschichten als Anlass, eine politische Neuordnung der Welt zu fordern. Ex negativo handelt Ertrinken von einer utopischen Welt, in der sich die verhinderten Begegnungen des Protagonisten mit seinen Kommilitoninnen oder seiner Gasttochter in erfüllte Beziehungen verwandeln könnten – vorausgesetzt, dass China endlich „reicher und stärker“ würde. Nüchterne Leser würden zwar einwenden, dass diese krude Erfolgsformel gar nicht aufgehen kann. Schließlich kann man von starken Nationen schwerlich auf die sexuelle Erfüllung ihrer Staatsbürger rückschließen.17 Betrachtet man jedoch Yus Ertrinken als rein psychopathologische Studie, die einen Helden zeigt, der sich schlichtweg nicht im
Yu Dafu: Die späte Lorbeerblüte. Erzählungen. Übersetzung v. Yang Enlin. Peking: Verlag für fremdsprachige Literatur 1999, S. 42–43. Yu: Die späte Lorbeerblüte, S. 48. Studien zum autoritären Charakter belegen eher das Gegenteil. Vgl. Theodor W. Adorno: Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt a. M. 2016, S. 303–359.
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Griff hat,18 wird damit die emanzipatorische Signifikanz ausgeblendet, welche die chinesische Literaturgeschichte dem Text zuschreibt. Nach der Kanonisierung des Schriftstellers Yu Dafu von Seiten der chinesischen Kritik setzte sich eine Lesart von Ertrinken durch, in welcher dem Protagonisten durchwegs die Rolle des Märtyrers für die Volksrepublik zugewiesen wird.19 Forderte er in dem 1921 erschienenen Text noch ein reiches und starkes China, so der Tenor dieser triumphalistischen Lesart, wurde dieses Versprechen 1949 mit der Staatgründung eingelöst. Als einer der wenigen westlichen Interpreten, die den patriotischen Kern des Textes nicht durch das psychopathologische Porträt konterkariert sehen, schreibt Kirk Denton: „For Yu Dafu, the libidinous act is the critical site at which national identity is in crisis.“20 Hier wird die Welt im Inneren des Individuums nicht als von der Umwelt abgeschnitten gedacht, wo das atomisierte Ich eingeschlossen ist. Stattdessen stellt das psychologische Innenleben den Punkt dar, an dem Ich und Gesellschaft zusammentreffen. Schickt sich also das empfindsame Individuum dazu an, Selbstmord zu begehen, handelt es sich – wie auch im Fall von Mao Zedongs Selbstmörderinnen – um einen Mord, der einer Gesellschaft anzulasten ist, die dem Individuum keinen Ausweg gelassen hat.21 Auch wenn der Nexus Individuum – Nation in Yus Erzählwerk besonders deutlich ausgeprägt ist, fügt sich sein Text in eine literarische Landschaft, in der
In diesem Sinne deutet Wolfgang Kubin Yus Protagonisten als Neo-Werther. Vgl. Wolfgang Kubin: Yu Dafu. Werther und das Ende der Innerlichkeit. In: Goethe und China, China und Goethe. Hg. v. Günter Debon und Adrian Hsia. Bern u. a. 1985, S. 155–181. Diese Lesart wurde durch Yus biographisches Heldentum begünstigt. Im indonesischen Exil setzte er sich für chinesische Kommunisten ein und wurde schließlich von der japanischen Geheimpolizei liquidiert. Patriotische Lesarten von Yus Werk finden sich noch heute in zahlreichen Beiträgen. Vgl. Shi Xiaoshi 施曉詩: Die Entwicklung von Yu Dafus Patriotismus in Ertrinken (orig. 從沈淪 看郁達夫在愛國主義題材上的新開拓). In: Yalujiang Literary Monthly (Yan lu jiang) (2015), H. 1, S. 56–63. Etwas differenzierter nimmt sich der folgende Beitrag aus: Fu Zhiwei 傅智偉: Unterscheidung zwischen patriotischem und individualistischem Affekt in Ertrinken. Die Genese von Überdruss und Unterdrückung (orig. 沈淪的愛國情感與個人情感之辯 —憤世之情與被壓迫感的產生). In: Comparative Literature and Transcultural Studies (Bijiao wenxue yu kua wenhua yanjiu) (2017), H. 1, S. 45–51. Kirk Denton: The Distant Shore. The Nationalist Theme in Yu Dafu’s Sinking. In: Chinese Literature, Essays, Articles, Reviews (CLEAR) 14 (1992), S. 107–123, hier S. 114. Die Diskrepanz zwischen den beiden Lesarten erinnert an die Rezeption von Goethes Werther, den Georg Lukács 1936 aus der biographischen Lesart zu befreien versuchte. Letztendlich konnte sich dieser Interpretationsansatz selbst in der DDR kaum durchsetzen, stand er doch im Gegensatz von Friedrich Engels’ Diktum von Werthers Klagen als „Jammerschrei eines schwärmerischen Tränensacks über den Abstand zwischen der bürgerlichen Wirklichkeit und seinen nicht minder bürgerlichen Illusionen über die Wirklichkeit.“ Karl Marx und Friedrich Engels: Werke. 44 Bde. Berlin 1972, Bd. IV, S. 236.
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frustrierte Libido oft metonymisch für eine Gesellschaft steht, in der das empfindsame Individuum unter die Räder kommt. Auch die frühe Prosa des WertherÜbersetzers Guo Moruo besticht durch drastische psychosexuelle Porträts. Seine männlichen Protagonisten leben meist in Japan, sind verheiratet und träumen unentwegt von neuen Liebesobjekten, wodurch sie sich in Kaskaden des Schuldgefühls verstricken, die nicht selten im Freitod enden (vgl. Trilogie des Dahintreibens, Piao Liu San Bu Qu 漂流三部曲, 1924–1926). Autorinnen der 1920er konzentrierten sich ebenfalls auf individuellen Protest gegen gesellschaftlichen Zwang. In den frühen Texten von Ding Ling 丁玲 (1904–1984) und Lu Yin 廬隱 (1898–1934) entwickeln schwindsüchtige junge Damen ein Bewusstsein für die eigene Tragik und verlassen den strengen Rahmen der Sittlichkeit. Während die genannten Literaten eine neue Sexualethik durch Negativbilder umreißen, entwerfen die folkloristischen Erzählungen von Shen Congwen 沈從文 (1902–1988) einen positiven Gegenentwurf. Hier treten Figuren aus dem Volk der Miao auf, die, vom Konfuzianismus unberührt, das Modell einer Klan-basierten Gesellschaft vorführen und als innerchinesische Alternative zur repressiven Kultur der Han heranzitiert werden.22 Shen verklärt den lockeren Umgang mit außerehelichen Beziehungen zur heiß ersehnten Erlösung von konfuzianischer Doppelmoral. In der bukolischen Erzählung Nach dem Regen (Yu Hou 雨後, 1928) zeigt die flüchtige Begegnung der beiden Erntehelfer Sigou und Meizi, wie eine sexuell befreite Zukunft aussehen könnte. Nachdem sich die Wege der beiden Jugendlichen wieder trennen, vermeidet der Erzähler jegliche moralische Einordnung und konzentriert sich auf das erlebte sinnliche Glück der beiden: Was hatte Sigou davon? Es ist schwer zu sagen. Er nahm all das Glück in Empfang, dass sie ihm gab. Aber wie misst man Glück, in Litern oder mit einer Waage? Er wusste es nicht. Sie erhielt auch etwas im Gegenzug, doch nicht das gewöhnliche Glück, das Sigou begriff. Er gab ihr Energie, Kraft und Wärme. Sie war davon ganz betäubt, verlor ihre Sinne.23
Shens Welt der erfüllten Sinnlichkeit führt eine Welt vor, in der Yus Protagonist möglicherweise glücklicher geworden wäre als in Japan. Auch Maos Selbstmörderinnen aus Changsha würde bei den Miao ein besseres Los zufallen, wo es keine Zwangsheirat gibt. Die Utopie der befreiten Miao-Gesellschaft ist allerdings Vgl. Ling Yu: Looking at Shen Congwen from the Perspective of Cultures in Confrotation. Miao and Han, Chinese and Western. In: Routledge Companion to Shen Congwen. Hg. v. Gang Zhou et al. London 2019, S. 85–97. Orig: „四狗得了些什麼?不能說明。他得了她所給他的快活。然而快活是用昇可以量還是用 秤可以稱的東西呢?他又不知道了。她也得了些,也得的更不是通常四狗解釋的快樂兩字。四狗 給她一些氣力,一些強硬,一些溫柔,她用這些東西把自己陶醉,醉到不知人事。“ Shen Congwen: Writings (Wen Ji 文集). 3 Bde. Hong Kong: Sanlian shudian 1982, Bd. 1, S. 95.
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genauso Produkt des urbanen Eskapismus wie die Beschäftigung mit englischer Romantik, mit der sich Yus Protagonist bei Laune hält. Bis heute hält sich die Verklärung der Miao, dass Louisa Schein in diesem Zusammenhang sogar von einem „internal orientalism“24 der chinesischen Mehrheitsgesellschaft spricht. Sie weist lokalem Brauchtum den Status des Anderen zu, das auch zunehmend im Gegensatz zur konservativen Agenda der Kommunistischen Partei Chinas stand. Wie andere Blockstaaten hütete sich die Volksrepublik vor sexualpolitischen Experimenten und verzichtete auf die Bildung einer Gesellschaft nach Vorbild der Miao.25
3 Revolte statt Liebe Während die Sehnsucht nach Paarliebe für Autoren wie Yu Dafu und Guo Moruo noch einen positiven Bezugspunkt darstellte, erfolgte in den 1930ern eine Umwertung der Figur des gefühlsduseligen jungen Mannes. Diese Entwicklung zeichnet sich bereits in einem Text ab, der sich nur am Rande mit dem Thema der Paarliebe befasst: Mao Duns Gesellschaftsroman Zwielicht in Shanghai (Zi Ye 子夜) von 1933. Hier taucht die Lektüre des Werther-Romans als Emblem für eine Ästhetik auf, die Teil eines leeren Rituals zwischen Mann und Frau geworden ist. Wie etwa bei Lieutenant Lei, einem bürgerlichen Karrieristen, der sentimental wird, als er in den Krieg ziehen muss. Zu dieser Gelegenheit überreicht er seiner verflossenen Liebe ein Exemplar von Goethes Buch nebst getrockneter Rose. Bewegt nahm sie das Büchlein in ihre Hand. Sie war unfähig, ein Wort zu sprechen. „Nehmen Sie es, bitte, als Andenken oder bloß zur Verwahrung, wie Sie wollen“, fuhr er fort. „Es ist das Liebste und Teuerste, was ich auf der Welt besitze. Bevor ich an die Front gehe, möchte ich es in guten Händen aufgehoben wissen.“ Sie tat vor Rührung einen kleinen Schrei und wurde Rot. […] „Nun habe ich nichts mehr vom Leben zu erwarten, wenn es diesmal an die Front geht, mag ich getrost fallen! Aber diese Rose, dieses Buch sollen nicht mit mir im Dreck des Schlachtfelds verderben.“26
Louisa Schein: Gender and Internal Orientalism in China. In: Modern China 23 (1997), H. 1, S. 69–98. Was sich mit der kommunistischen Machtergreifung änderte, war das Eheschließungsgesetzt von 1950, das zumindest juristisch die Gleichstellung von Mann und Frau garantierte. Vgl. Louise Edwards: Women’s Suffrage in China. Challenging Scholarly Conventions. In: Pacific Historical Review 59 (2000), H. 4, S. 617–638. Mao Dun: Schanghai im Zwielicht. Übersetzung Franz Kuhn, revidiert v. Ingrid und Wolfgang Kubin. Frankfurt a. M. 1983, S. 76.
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Entgegen seiner Ankündigung kehrt Lieutenant Lei unversehrt aus dem Feld zurück. Dazu wurde er befördert und kann nun in der Fabrik einsteigen, die dem Ehemann seiner ehemaligen Geliebten gehört. Seiner Verflossenen gedenkt er nie wieder. Hier wird Liebe nicht allein dem ökonomischen Kalkül untergeordnet, sondern als Spiel der besitzenden Klasse markiert. Ähnlich verhält es sich mit dem Erzählwerk, das in Ba Jins anarchistische Phase fällt. Wie Shanghai im Zwielicht spielt Ba Jins Trilogie der Liebe (Ai Qing San Bu Qu 愛情三部曲, 1931–1935) im Shanghaier Konzessionsgebiet. Die drei Hauptfiguren, Renmin, Peizhu und Rushui, sind Teil eines Haufens junger Revolutionäre aus dem Kleinbürgermilieu, die sich regelmäßig auf Vereinsabenden treffen, um gemeinsame Aktionen zu planen. Nach und nach stellt sich heraus, dass die Selbstlosigkeit, die zum Phantasma der romantischen Liebe gehört, nun auf den Klassenkampf angewendet wird. Vor allem Renmin ist von einem Heroismus beseelt, der alles andere dem Kollektivschicksal unterordnet: Das Tragische ist bloß, dass wir das Neue Leben nicht mehr miterleben werden. Wenn ich daran denke, dass die künftige Menschheit das Glück der Freiheit erleben wird, uns aber am Weg der Zerstörung ein unvermeidliches tragisches Schicksal ereilt, durchfährt mich ein Schmerz bis ins Knochenmark. Wir dürfen nicht unverzagt sein. Vielleicht müssen wir sterben, doch wenn ich an unseren langjährigen harten Kampf denke, weiß ich: Wir dürfen vor unserem Schicksal der Vernichtung nicht zurückschrecken.27
Trotz solch knallharter Devisen handelt Ba Jins Roman zunächst von Liebschaften. Schon im nächsten Kapitel verliebt sich Renmin in ein lungenkrankes Mädchen, wodurch bekannte romantische Konnotationen aktiviert werden. Als sich Renmin noch Geld für die Hochzeit mit der Kranken leihen möchte, zieht er den Spott der anderen Revolutionäre auf sich, die mit den Schultern zucken und abwarten, bis sich dieses Missverständnis von selbst löst. Andere Revolutionäre tun sich schwerer mit der Liebe, allen voran Rushui. Er ist zwar Teil der jungen Verschwörerbande, sein Leben wird jedoch primär von verhinderten Liebschaften bestimmt. Im ersten Teil der Trilogie (Nebel, Wu 霧) ist er noch zwangsverheiratet, zögert aber so lange mit der Scheidung, bis die attraktive Ruolan schließlich einen anderen heiratet. Im zweiten Teil (Regen, Yu 雨) ist er über diesen Schmerz hinweg und verliebt sich in Peizhu, eine Mitstreiterin. Fortan benutzt er jede Gelegenheit, ihr Bücher vorbeizubringen. Der Erzähler berichtet:
Orig.: „我們的理想並不是不可實現的夢。可悲的是我們也許會得不到新生。想到將來有一 天世界上所有的人都會得到自由的幸福,而我們卻在滅亡的途中掙扎終於逃不掉悲慘的命運,這 真叫人感到痛徹骨髓。真叫人不甘心。也許我們應該滅亡,但是想到我們這許多年的艱苦的奮 鬥,我們對這個滅亡的命運絶不能甘心。“ Ba Jin: Werke (Wen Ji 集). 14 Bde. Peking: Renmin wenxue chubanshe 1958, Bd. 1, S. 178.
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Zhou Rushui verstand seine Lage überhaupt nicht. Wenn er sie [d.i. Peizhu] emsig lesen sah, machte ihn das glücklich und unglücklich zugleich. Glücklich, weil Li Peizhu von diesen Büchern profitierte und er damit die Gelegenheit bekam, ihr zu Diensten zu sein […]; unglücklich, weil Li Peizhu dadurch kaum Gelegenheit bekam, mit ihm zu plaudern. Ihr Herz wurde ganz von den Büchern in Anspruch genommen. Rushui verstand, dass die intensive Lektüre dieser Bücher auch mit einer zunehmenden Distanz ihm gegenüber einherging. Er wünschte, sie würde ihre Gefühle ändern und diese Bücher liegen lassen, aber er wollte sie auch nicht einschränken. Außerdem war er naiv und nahm sich keine Frechheiten heraus.28
Mit derselben Sicherheit, mit der sich Werth er eine verlobte Frau als Objekt der Begierde heraussuchte, gerät Rushui an eine junge Frau, die gerade ihr politisches Erwachen erlebt und der romantischen Liebe abgeschworen hat. Ausgelöst wurde ihre Transformation von der Lektüre von Wera Figners Lebensbeschreibung, einer russischen Revolutionärin.29 Die junge Chinesin, die aus dem Shanghaier Kleinbürgertum stammt, verkündet stolz: „Ich möchte mich von der Liebe nicht betäuben lassen. Ich will aus der Tatkraft Befriedigung und Kraft ziehen.“30 Zunächst wird sie dafür von den anderen belächelt. Ein scharfzüngiger Revolutionär meint während einer Sitzung: „Frauen gehören zu den leidenschaftlichsten Unterstützern des Privatbesitzes.“31 Folglich würde Peizhus revolutionärer Furor nur so lange halten, bis sich ein Bräutigam einfindet. Ihre Mitstreiter malen ihr das klassische Werther-Szenario aus: Würde ihr ein junger Mann mit Selbstmord drohen, würde sie nicht alles für ihn liegen und stehen lassen? Nachdem sie betont, dass es nichts an der Sache ändern würde, wird sie von Rushui, ihrem geheimen Verehrer, zur Seite genommen: „Du meintest vorhin, falls jemand dir ein Liebesgeständnis macht und dich damit bedrängt, dass er sich sonst umbringen würde– du würdest ihn auch dann ablehnen. Denkst du wirklich so?“
Orig.: „這個情形是周如水所不瞭解的。他看見她忙著讀書也高興,也不高興。高興的是這 些書對李佩珠有益處,而且他也有了機會給她服務 […];不高興的是李佩珠多讀書就少有時間和 他談話,她的時間、她的心都給那些書占去了。[…] 周如水知道她讀那一類的書愈多,離他便 愈遠。他願意她改變心思不再讀那些書,但是他也不想阻止她。而且他是一個老實人,又不會暗 中搗鬼。“ Ba Jin: Werke, S. 214. Die Aristokratin Figner schloss sich in den 1880er Jahren einer Gruppe von Verschwörern an, die ein Attentat auf den Zaren Alexander II. planten. Als das Komplott aufflog, musste sie zwanzig Jahre in Einzelhaft, wo sie ihre Memoiren niederschrieb. Vgl. Wera Figner: Nacht über Russland. Lebenserinnerungen. Berlin 1926. Orig.: „我不想在愛情裡求陶醉。我要在事業上找安慰,找力量。“ Ba Jin: Werke, S. 254. Orig.: „女人是私有財產制度的最熱心的擁護者。“ Ba Jin: Werke, S. 169.
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Sie blickte ihn überrascht an und verstand nicht, was er damit sagen wollte. Dann blickte sie fort, antwortete leise: „Natürlich denke ich so. Ich brauche keine Liebe. Wenn er sich umbringen will, hat das nichts mit mir zu tun. Ich trage keinerlei Verantwortung dafür.“32
Als Rushui weiterhin nachbohrt, ob sie es denn wirklich ernst meine, verliert sie die Geduld: „Rushui! Wieso fragst du mich die ganze Zeit solche Sachen? Willst du vielleicht, dass ich eine Hausfrau werde, die ihren Mann bedient? Denkst du nicht, dass Frauen auch ihren eigenen Kopf haben?“ Als sie merkte, dass ihn ihr Spott beschämte, änderte sie die Tonlage und meinte: „Ich habe mir nun mal in den Kopf gesetzt, etwas Sinnvolles zu tun.“33
Für Rushui bedeutet diese Aussage nichts weniger als sein Todesurteil. Als er im Regen nach Hause geht, stürzt er sich in den Huangpu. Die Narration hält sich nicht lange bei seiner Agonie auf, stattdessen wird lakonisch berichtet: „Am nächsten Tag stand in der Abendpresse eine Nachricht, die so schlecht platziert war, dass sie niemandem auffiel: Anonymer junger Mann ging ins Wasser.“34 Sein Selbstmord und Verschwinden wird hier nicht durch die Minderwertigkeitsgefühle angesichts einer übermächtigen Imperialmacht erzeugt, sondern durch die Verweigerung eines Mädchens, das hehre Ziele im Kopf hat. Mantrahaft zieht sich eine Aussage durch Ba Jins Roman: „Die Liebe ist ein Spiel, das von der Klasse betrieben wird, die Freizeit hat. Wir aber haben kein Recht, sie zu genießen.“35 Damit sind nicht nur Menschen wie Lieutenant Lei aus Mao Duns Shanghai im Zwielicht gemeint, sondern vielleicht auch die Romantiker der 1920er, unter denen Yu Dafus Literatur Kultstatus genoss.36 Für die Orthodoxie der Kommunistischen Partei Chinas stellte Ba Jins Werk ein größeres Problem dar als Yu Dafu, dessen Parteimitgliedschaft und zeitiges Ableben seine zügige Kanonisierung begünstigten. Ba Jin blieb bis 1949 bekenn Orig.: „,你說過,倘使真有人向你求愛,甚至拿自殺的話要挾你,你也會拒絶。你真是這樣想法?‘ 她的兩隻發光的眼睛驚訝地注視著他的臉,她不明白他為什麼要問這些話。然後她移開眼睛,淡 淡地回答道:,當然是真的。我並不需要愛情。他要自殺,當然跟我不相干。我不負一點責任。‘“ Ba Jin: Werke, S. 265. Orig.: „,周先生,你為什麼總是拿這些話來問我?難道你要我做一個伺候丈夫的女子嗎?難道 你不相信女人也有她自己的思想嗎?‘ 她先帶笑地問他,後來看見他受窘的樣子,她就改變了語調 解釋道:,我現在只想出去做一點有益的事情。‘“ Ba Jin: Werke, S. 265. Orig.: „第二天的晚報上在一個不被人注意的地方刊出了一段小消息 … :, 無名青年投江自 殺 。‘“ Ba Jin: Werke, S. 274. Orig.: „愛情本來是有閒階級玩的把戲,我沒有權利享受它。“ Ba Jin: Werke, S. 232. Ähnlich wie Goethe nach der Publikation von Werther wurde die Kunstfigur Yu Dafu bald zum Klischee, das seinerseits Eingang in die Literatur fand, wie etwa in Lu Xuns Erzählung Der Einsame (Gu Du Zhe 孤独者) aus der Kurzgeschichtensammlung (Pang Huang 彷徨, 1924–1925).
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ender Anarchist und verstand sich bis zu seiner Konversion als Revolutionär im Sinne Mikhail Bakunins und Peter Kropotkins. Innerhalb dieses Weltbilds wird der Leninismus, der den Führungsanspruch einer Avantgardepartei bekräftigt, als direkter Nachfolger des Zarismus verortet. An die Stelle der von oben herab verordneten Revolution steht die selbstverwaltete Kommune und der zur revolutionären Tätigkeit erwachte Einzelne. Ba Jins anarchistische Position kommt in Trilogie der Liebe durch den Aufruf zu individuellem Protest zum Ausdruck, der sich keiner Parteidisziplin unterordnet. Individuelle Kämpfer beschließen im Alleingang Attentate, das individuelle Gefühl wird zum Katalysator des politischen Aktionismus. Da Ba Jin zu den wenigen revolutionären Autoren zählte, deren Texte breit rezipiert wurden, wurde sein Erzählwerk von der Parteileitung zunehmend als Provokation empfunden. Yao Wenyuan, einem der einflussreichsten Literaturkritiker des Landes, fiel die Aufgabe zu, den ideologischen Gehalt von Ba Jins Trilogie zu rektifizieren. In einem Aufsatz erklärte er, dass es sich bei den jungen Revolutionären um eine Gruppe kleinbürgerlicher Individualisten handle, deren Wut sie blind für die großen gesellschaftlichen Zusammenhänge mache. Ba Jins Protagonisten dürfen nicht als Vorbilder missverstanden werden: „Wenn junge Menschen heutzutage dieses Buch lesen, müssen sie unbedingt eine kritische Perspektive einnehmen und den extremen Individualismus, der sich als revolutionäre Linke maskiert, als das ansehen, was er wirklich ist. Ausgehend von der anarchistischen Ideologie dieses Buchs müssen wir uns vor Augen halten, dass Anarchismus Individualismus begünstigt.“37 Wer sich ein eigenes Urteil bilden möchte und um Freiheit ringt, der verweigere sich gegenüber den Massen und überschreite die untergeordnete Position, die Schriftstellern im Klassenkampf zufällt. Ein zeitgenössisches Gegenmodell zu Yu Dafus empfindsamem Selbstmörder und Ba Jins ungestümem Anarchisten bildet der Protagonist aus Der junge Wanderer (Shao Nian Piao Bo Zhe 少年飄泊者, 1926), einem Kurzroman von Jiang Guangci 蔣光慈 (1901–1931). Hier wird der Werdegang eines jungen Menschen beschrieben, der drei Entwicklungsphasen durchläuft: Als seine Eltern ermordet werden und er die Ungerechtigkeit der Klassengesellschaft am eigenen Leib erfährt, verfällt er zuerst in Selbstmitleid und sucht Trost bei einer
Originalzitat auf Englisch, aus dem Chinesischen übers. v. Daniel M. Youd: „Nowadays, then, when young people read this book, they must be sure to take a discriminating stance […] and see the extreme individualism that masquerades as revolutionary ‚leftism‘ for what it truly is. […] Based on this book’s anarchist ideology, we have clear evidence that anarchism does indeed valorize individualism.“ Yao Wenyuan: On the Anarchist Ideas in Ba Jin’s Novel Destruction. In: Contemporary Chinese Thought 46 (2015), H. 2, S. 56–69; hier S. 67.
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Geliebten, die ihn für sein Unglück entschädigt. Als sie zwangsverheiratet wird, schließt er sich zuerst einer Gruppe revolutionärer Studenten, später einer Gewerkschaft und der revolutionären Armee an. Der Unterschied zu Ba Jins Helden besteht darin, dass er keine Terrorzelle bildet, sondern sich einer Organisation unterordnet. Zuletzt stirbt er den Heldentod am Schlachtfeld. Sowohl die Paarliebe als auch der anarchistische Drang nach Rache müssen weichen, damit das Individuum seinen angeordneten Platz in der Geschichte einnehmen kann. Obwohl der streitbare Schriftsteller Jiang schon 1930 von der Partei ausgeschlossen wurde, machte das Modell aus Der junge Wanderer Schule und wurde zur Blaupause für eine Vielzahl revolutionärer Romane, welche die proletarische Kultur der 1950er Jahre prägten. Yang Mos 楊沫 Lied der Jugend (Qing Chun Zhi Ge 青春之歌, 1958) und Luo Guangbins 羅廣斌 und Yang Yiyans 楊益言 Roter Fels (Hong Yan 紅岩, 1961) räumen psychischem Leid und romantischer Paarliebe keinen Platz ein, sondern bezeugen die Aufopferungsbereitschaft junger Menschen, die sich in widrigen Umständen als glänzende Helden behaupten.
4 Schlussbemerkung In welches Verhältnis pendeln sich die Faktoren Liebe und Ökonomie in den vorliegenden Texten ein? Versteht man Ökonomie im marxistischen Sinne als die Freisetzung der Produktivkräfte und Liebe als den Drang des Individuums, sich an einen Partner seiner Wahl zu binden, handeln Yu Dafus, Shen Congwens, Ba Jins und Jiang Guangcis Texte von sehr unterschiedlichen Kurzschlüssen zwischen beiden Sphären. Während Yus triebischer Held sein Individualleid als tragisches Schicksal der Nation verstehen möchte (und darin von der orthodoxen Literaturgeschichte bestärkt wird), handelt Shen Congwens Miao-Utopie von einem zwar entlastenden, doch wenig praktikablen Zurück zur Natur, das dem sexuellen Impuls eine bejahende gesellschaftliche Rahmung verpasst. Für Ba Jins Helden ist der Liebesimpuls bloß Ablenkung von einem bedeutenderen Projekt, dem individualistischen Widerstand gegen ein ausbeuterisches System. Bei Jiang Guangci werden solche Selbstermächtigungsfantasien zugunsten der Einordnung des Individuums in Parteidisziplin aufgegeben, die in Augen der Parteiorthodoxie allein den aussichtsreichen Kampf sowohl gegen die nationale Bourgeoisie als auch die japanische Invasion erlaubt. Wurde eingangs behauptet, dass emanzipatorische Debatten des 20. Jahrhunderts den alten Widerstreit zwischen Pflicht und Neigung neu aufrollten, muss diese Dichotomie an dieser Stelle präzisiert werden. Die Kritik an Ba Jins Trilogie
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zeigt, dass auch hochgehaltener Pflicht, etwas Peizhus Vorsatz, sich „von der Liebe nicht betäuben zu lassen“, unterstellt werden kann, einer bloßen Neigung zu entsprechen. Um im Rahmen der Orthodoxie zu bleiben, darf die Unterscheidung von Pflicht und Neigung eben nicht vom Individuum entschieden werden, sondern bedarf der Steuerung durch eine zentrale Autorität, etwa die der Kommunistischen Partei Chinas. Nur so kann das epochale Projekt des historischen Materialismus, die Schaffung von Verteilungsgerechtigkeit, in die Tat umgesetzt werden. Weshalb die orthodoxe Literaturgeschichte Yu Dafus impulsivem Protagonist allerdings die Rolle eines legitimen Patrioten zuweist und die jungen Terroristen Ba Jins als kleinbürgerliche Individualisten abgekanzelt werden, entspricht keineswegs einer systematischen Einordnung psychologischer Faktoren in den Klassenkampf. Stattdessen obliegt diese Unterscheidung bloß der ideologischen Inquisition von Autorenbiografien, die es sich erspart, die interne Logik einzelner Erzählwerke unter die Lupe zu nehmen. Einmal abgesehen von Yu Dafus Sonderstellung, kann die Orthodoxie wenig mit dem emanzipatorischen Impuls anfangen, der von der Liebe ausgeht. Ganz im Gegenteil, die Liebe kann der Revolution sogar gefährlich werden. Der Agitator, der den jungen Liebenden nach seiner Zurückweisung durch die Geliebte (oder nach ihrer Zwangsverheiratung an einen reichen Fabrikanten) als revolutionären Mitstreiter gewinnt, muss sich der Gefahr bewusst sein, dass frustrierter Liebesdrang bis zu einem gewissen Grad unberechenbar bleibt. Ein von individuellen Absichten gelenkter und nicht von Gehorsam bestimmter Drang kann sich jederzeit auch gegen andere Ziele richten, eingerechnet der Partei. Deshalb bedarf es in den Lebensläufen der großen Revolutionäre nicht bloß einer einzelnen Transformation von Kränkung in Revolte, sondern auch noch einer weiteren Wandlung, welche die persönliche Revolte dem Pragmatismus der Institutionen unterordnet. Die Biografien von Mao Zedong und Guo Moruo führen vor, dass sie die Befreiung aus der Zwangsehe nicht unmittelbar in professionelle Revolutionäre umformte. Beide nahmen den Umweg über Anarchismus (Mao) oder Ästhetizismus (Guo), bis ihr entschlackter Freiheitsdrang in die Maschine der Revolution eingespeist werden konnte. Ausgeschlossene oder bekämpfte Autoren wie Ba Jin und Jiang Guangci unterstreichen die filigrane Scheidung zwischen gefährlichem und konformem Märtyrertum. Gerade die Emphase der sexuellen Befreiung, die Reich ins Feld führt, um die Genese des repressierten, autoritären Charakters zu verhindern, stellt für eine leninistisch-stalinistische Avantgardepartei eine Provokation dar. Sie bedarf autoritärer Charaktere, um die staatliche Kontrolle über alle Lebensbereiche auszudehnen.
Artur R. Boelderl
Aufhebungen der Ökonomie: Liebe und Krieg in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften Alles Konkrete ist ökonomisch. (Novalis)
1 Spieleinsatz: Bausteine zu einer ‚an(ti-)ökonomischen‘ Lektüre Musils 1.1 Allgemeines zum Ökonomie-Begriff Spätestens seit Freud und in zumindest teilweiser zeitlicher Überlappung mit einer entsprechenden Erweiterung des Textbegriffs hat auch der Begriff ,Ökonomie‘ eine Ausdehnung seiner Tragweite über das engere Verständnis im wirtschaftswissenschaftlichen Sinn hinaus erfahren. Sofern damit keine Universalisierung im Sinne einer schlechten Verallgemeinerung verbunden wird, lässt sich Ökonomie gleichwohl als ein allgemeiner Begriff verstehen, unter dessen Dach sämtliche kulturellen Vermögen und Leistungen des Menschen ihren Platz finden. Ein mit dem erwähnten Freud zeitgenössisches Zeugnis für diese Entwicklung stellt eine Notiz Musils im Zusammenhang mit seinen Plänen zur Fortsetzung des Zweiten Buches des Mann ohne Eigenschaften unter dem Stichwort (bzw. Kapiteltitel) ,Planmäßigkeit‘ dar, wo es heißt: „[D]ie planvolle Bewirtschaftung der menschlichen Kräfte, das heißt die von allen Übertreibungen gereinigte Psycho = Ökonomie [ist] eine Angelegenheit von höchster Wichtigkeit.“1 Solche
Robert Musil: Kommentierte Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften. Hg. v. Walter Fanta unter Mitwirkung v. Rosmarie Zeller. DVD-ROM Klagenfurt 2009, Update 2015 (Klagenfurter Ausgabe). Bd. 4: Aus dem Nachlass Ediertes. III. Kapitelgruppe. 47. Planmäßigkeit. (Diese digitale Ausgabe wird im Folgenden zitiert unter der Sigle KA mit Band- bzw. konkreter [Nachlass-]Seitenangabe.) Vgl. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Zweites Buch, Fortsetzung aus dem Nachlass 1933–1936. Hg. v. Walter Fanta. Salzburg-Wien 2018 (Gesamtausgabe. Bd. 5), S. 10–16 = Kap. 40: Planmäßigkeit, bes. S. 16. (Aus dieser Buchausgabe wird im Folgenden zitiert unter der Sigle GA mit Band- und Seitenangabe.) https://doi.org/10.1515/9783110740806-015
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Psycho-, also seelische Ökonomie, deren „vollständige[s] Fehlen“2 Musil an anderer Stelle beklagt, weist starke Parallelen auf mit den einschlägigen Überlegungen zum Begriff einer ,Allgemeinen Ökonomie‘, wie sie in etwa zeitgleich sein französischer Schriftstellerkollege und Kulturtheoretiker Georges Bataille zu entwickeln beginnt, um sie freilich erst nach 1945 ausführlich darzulegen. Die Verwandtschaft tritt umso deutlicher zutage, wenn man in Rechnung stellt, dass Musil den erwähnten Mangel einer gleichsam universalökonomischen Betrachtungsweise des Menschen und seines Lebens in der Welt dadurch zu kompensieren sucht, dass er seinem eigenen schriftstellerischen Verfahren das Prinzip einer „schöpferischen Ökonomie“ zu Grunde legt, „die alle Bedingungen constant hält bis auf die eine, die sie zu ersetzen wünscht“3, und die er ihrerseits mit der „vielzieligen Welt der Triebe“4 verbunden sieht. Darin klingt recht unzweideutig eine ähnliche Unterscheidung an wie jene, die Bataille zwischen einer ,beschränkten‘ (i. S. v. limitierten, partikulären) Ökonomie einerseits, welche einer Logik des Mangels folgt und sämtliche Bemühungen von Menschen zur Behebung desselben umfasst, und einer ,allgemeinen‘ (i. S. v. unendlichen, universalen, letztlich „kosmologischen“) Ökonomie andererseits trifft, deren Ausgangspunkt die Feststellung des Überflusses und Reichtums bildet,5 den diese Welt insgesamt ihren Bewohnern bietet. Ein solches Verständnis von Ökonomie ‚à la mesure de l’univers‘6 widersetzt sich nicht nur der erwähnten engeren Auffassung von Ökonomie, die unter der Maßgabe nicht des Universums, sondern des wirtschaftlichen Nutzenkalküls steht, sondern entzieht sich auch der die abendländische Philosophie seit Platon kennzeichnenden Absetzung der Philosophie als reiner Wahrheitsliebe gegenüber ebendiesem Nutzenkalkül. Nur ist das sog. ökonomische Nutzenkalkül Resultat einer verkürzten Sicht auf die Ökonomie, die solange dominant bleibt, bis erkannt wird, dass ein integratives, nämlich auf der Ebene des anthropologischen Diskurses angesiedeltes Verständnis von Ökonomie sich nicht darin erschöpft, geschweige denn darin kulminiert, die wirtschaftlichen Belange menschlicher Tätigkeit von einem gleichsam metaökonomischen philosophischen Standpunkt zu erfassen, zu beurteilen und zu kritisieren, sondern dass
KA/Bd. 16/Frühe Hefte 1898–1926/11: Schwarzes Heft/Stilistische Studien und Projekte, 1905. KA/Transkriptionen und Faksimiles/Nachlass Mappen/Mappe II/8/186. KA/Transkriptionen und Faksimiles/Nachlass Mappen/Mappe II/8/25 Kapitel Unterhaltungen mit Schm[eißer] 1. In analoger Bezugnahme auf Batailles Begriff der Verausgabung vgl. Corinna Sauters Analyse von Tiecks Des Lebens Überfluß in diesem Band. Vgl. Georges Bataille: Œuvres complètes. Tome VII. Paris 1976.
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es vielmehr um die Gewinnung eines gleichsam metaphilosophischen ökonomischen Standpunkts zu tun sein muss. Dies nicht in dem Sinn, dass philosophische Reflexion sich den Zwängen einer beschränkten Ökonomie, die als nicht hinterfragbarer Masterdiskurs für alle anderen fungiert, zu unterwerfen habe, sondern dass die Identität einer allgemeinen Ökonomie nach Maßgabe des Universums mit der menschlichen Sinnfrage überhaupt, die traditionell im Doppelgewand philosophischer Reflexion und literarischer Selbstverständigung auftritt, erkannt und dieser Identität Rechnung getragen wird. Eine kosmologische Ökonomie wie die von Bataille ins Spiel gebrachte würde die dem wirtschaftlichen Treiben des Menschen insgesamt zugrundeliegende anthropologische Dimension zu verknüpfen suchen mit der jeglicher menschlichen Tätigkeit (so auch der ganz und gar ,unökonomischen‘ eines – wie der philosophische Diskurs auch – einer ,reinen Wahrheit‘ verpflichteten literarischen Schreibens) innewohnenden Ökonomie: Schon allein die Tatsache, dass ich mich, um etwas auszudrücken, eines Systems wie der Sprache, mit ihren vorab aller Kodifizierung bereits wirksamen grammatikalischen Regeln, bedienen muss, die mir zwar einerseits zu Gebote stehen, die mir aber andererseits auch ihrerseits bereits gewisse unumstößliche Vorgaben machen, schreibt mich ein in ein Wechselspiel von Kräften, deren Zusammenwirkung nicht anders denn ökonomisch verstanden werden kann. Ökonomie beginnt also nicht erst mit dem instrumentellen Denken, auf das die Rede vom Nutzenkalkül zielt, und traditionell ,unwirtschaftliche‘ Bereiche menschlicher Betätigung wie etwa die künstlerische Rede und Schrift stehen keineswegs abseits jeglicher Ökonomie; so sind beispielsweise die Regeln der antiken Rhetorik nichts anderes als ein ,geisteswissenschaftliches‘ Nutzenkalkül in Form eines über Jahrhunderte gewachsenen und gelehrten, ständig verfeinerten Kodex rednerischer Mittel und Wege zur Erreichung bestimmter, durchaus verschiedenartiger Ziele. Die in diesem Sinn ‚globalökonomische‘ Welt (wie sie in Ansätzen schon in Platons Timaios, näherhin in der dort vorgestellten Kosmogonie, vorhanden ist, der zufolge die Welt ihre Autarkie erwirtschaftet, indem sie sich aus ihrem eigenen Schwinden nährt)7 hat nicht erst der Mensch mit seinem Wirtschaftstreiben geschaffen. Letzteres ist im Gegenteil seinerseits Ausdruck und Ausfluss besagter ‚Wirtschaftlichkeit‘ der Welt, wie in der Moderne als einer der ersten Nietzsche erkannt und in seiner Auseinandersetzung mit Aristoteles formuliert hat: Der Mensch als zoon logon echon, als Tier, welches über den Logos verfügt, ist insofern von Anfang an ein homo oeconomicus, als er über die (je nach Überset-
Vgl. Platon: Timaios 33c.
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zung) Sprache und/oder Vernunft am Logos (was auch Rechnung, Proportion, Anteil heißen kann) der Welt partizipiert. Er ist daher gerade sub specie oeconomiae in einen ungleich weiteren wirtschaftlichen Horizont hineingestellt als sowohl der rationale Nutzenmaximierer, als den ihn die Neuzeit gern verkürzend begreift, als auch der homo reciprocans, wie er im gegenwärtigen ökonomischanthropologischen Diskurs häufig vorgestellt wird. Bei Nietzsche insbesondere erhellt der oben beanspruchte Zusammenhang zwischen Ökonomie und Sprache sehr deutlich, wenn er in seiner Genealogie der Moral die erwähnte aristotelische Formel übersetzt als „Thier […], das versprechen darf“8: Dadurch hebt er die ökonomische Dimension heraus, die der Sprache – und zwar vorab all ihrer im engeren Sinne ‚ökonomischen‘ Funktionen wie der Kommunikation, Verständigung etc. – per se innewohnt. Insofern der sprechende Mensch ‚sein Wort gibt‘ als etwas, worauf Verlass ist, konstituiert sich damit eo ipso eine ökonomische Beziehung zwischen den Gesprächspartnern, die der Logik eines Vertragsverhältnisses zwischen Gläubiger und Schuldner folgt. Dabei arbeitet Nietzsche lediglich heraus, was bereits bei Aristoteles selber in seiner Darstellung der sozialen Kräfte in der griechischen polis angelegt ist. In ihrem Rahmen heißt wirtschaftliches Handeln nicht Verfügung über oder Verteilung bestimmter Ressourcen – gerade das unterscheidet sie grundlegend vom oikos, vom Haus, in dem es um die Machtfrage i. S. d. Verfügungsgewalt geht. Die polis bezieht ihre Kohäsion vielmehr aus dem Kredit, dem Vertrauen, den ihre Bürger sich selbst und einander entgegenbringen; ihre Ressource besteht nicht aus bereits durch vergangene Tätigkeit angehäufte Mittel welcher Art immer, sondern genaugenommen aus der Freiheit der Mitbürger im Sinne des politischen Selbstbestimmungsrechts, also gerade aus keiner Ressource im eigentlichen Verständnis, denn diese besondere Quelle des Miteinanders wird durch Auf- und Verteilen nicht weniger, sondern mehr (sie ist ein Luxus im Bataille’schen Sinn, der nicht erst erwirtschaftet werden muss, ja der nicht einmal erwirtschaftet werden kann). In diesen weiteren Horizont seines ökonomischen Denkens integriert Aristoteles im Übrigen auch solche Kräfte und weist auf deren immense Produktivität hin, die wegen ihrer im engeren Sinn ökonomischen Wertlosigkeit in herkömmlichen wirtschaftswissenschaftlichen Ansätzen der Folgezeit kaum berücksichtigt, oft dezidiert ausgeschlossen werden, als da wären z. B. uneigennütziges Handeln und – am Beispiel der Freundschaft entwickelt – das Unbezahlbare: die Liebe.
Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hg. v. Giorgio Colli, Mazzino Montinari. Bd. 5. Neuausg. d. 2. Aufl. München 2005, S. 291.
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1.2 Batailles Theorie von der Ökonomie und ihrer ‚Aufhebung‘ Die Allgemeine Ökonomie ist grundgelegt in der Studie La part maudite / Der verfemte Teil (1949).9 Sie baut auf einer ethnologisch-anthropologisch-biologischen Einsicht auf, die von Bataille ins Kosmologische gewendet wird: Jedes einzelne Lebewesen – und jeder produktive Zusammenschluss von Einzelwesen – verfügt über mehr Energie, als zu seiner Selbsterhaltung nötig ist. Wenn immer es (er) die Grenzen seines Wachstums und seiner Reproduktionsfähigkeit erreicht, muss es die überschüssige Energie loswerden. Dies kann nicht wieder auf produktivem Wege geschehen (denn dann wären ja die Grenzen der Produktivität nicht erreicht), sondern unproduktiv, nutzlos, auf dem Wege der Verschwendung. In Opferritualen, Festen, Wettkämpfen u. ä. veranstaltet der Mensch gleichermaßen bewusst einen solchen Verschwendungsvorgang und gewinnt dadurch Souveränität, indem er sich über den Status eines bloß passiven Objekts in diesem Spiel von Energieanhäufung und Energieverausgabung erhebt und „durch freiwillige ekstatische Selbstverschwendung übertrumpft“.10 Er kann freilich auch passives Objekt dieses Prozesses bleiben; dann allerdings „kommt die Verschwendung in katastrophischer Form über ihn“ – in Gestalt von „Krisen, Pogromen, Kriegen“.11 Dieses Wechselspiel von Produktion und Verschwendung analysiert Bataille sowohl als solches wie auch durch zahlreiche Einzelstudien hindurch und gewinnt daraus eine Basis für seine radikale Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft, die einzig in der Produktion ihr Ziel und ihr Heil suche und sehe. Wie für Musil bieten sich auch für Bataille im Kontext dieser Kritik mystische Praktiken als Gegenmodell an, insofern sie von sich aus dazu tendieren, Grenzen nicht zuletzt moralischer Art zu übertreten. Diese Grenzen sind tabuisiert, sie schließen alles aus, was die Vereinzelung (Bataille sagt mit Vorliebe ‚Diskontinuität‘) zu sprengen droht: den animalischen Anteil des Menschen, aber auch die Tiere als solche (bzw. die Abgrenzung zu ihnen), die Sexualität und den Tod.12 „Wir tragen unser Tierfell mit den Haaren nach innen und können es Vgl. Georges Bataille: Der verfemte Teil. In: Ders.: Die Aufhebung der Ökonomie. 3. Aufl. München 2001, S. 33–234. Zu Bataille im Allgemeinen vgl. z. B. Artur R. Boelderl: Georges Bataille. Über Gottes Verschwendung und andere Kopflosigkeiten. Berlin 2005; ders.: Georges Bataille (1897–1962). In: Helmut Reinalter u. Andreas Oberprantacher (Hg.): Außenseiter der Philosophie. Würzburg 2012, S. 323–345; sowie ders. (Hg.): Welt der Abgründe. Zu Georges Bataille. Wien/Berlin 2015. Traugott König: Bataille, Georges. In: Metzler Philosophen Lexikon. Hg. v. Bernd Lutz. Stuttgart 1989, S. 75–78, hier S. 76. König, S. 76. Vgl. König, S. 77: „Der Tod läßt uns am radikalen Wüten der Gewalt gegen die Diskontinuität teilhaben, stellt aber auch die stärkste Versuchung eines Zurücksinkens in die Kontinuität
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nicht ausstreifen“,13 heißt es bei Musil in den Druckfahnen-Kapiteln zur Fortsetzung des Mann ohne Eigenschaften an einer Stelle. Im Grunde vollzieht Bataille mit diesem Zugang eine Ausweitung des Gegenstandsbereichs dessen, was Freud ‚Triebökonomie‘ genannt hat, auf die Ökonomie überhaupt. Wenn er von Ökonomie spricht, meint er also tatsächlich so etwas wie jene im Musil’schen Sinn schöpferische Ökonomie, die ihre Verbindung zur vielzieligen Welt der Triebe an keiner Stelle kappt oder leugnet,14 und nicht die tonangebende Lesart der modernen Ökonomik, die einen gegenüber ihren eigenen Ursprüngen in der Sozialökonomie stark verengten Begriff des Wirtschaftens vertritt; seine Perspektive ist nicht die der Mikroökonomie mit ihrer leitenden Fragestellung, wie „knappe Ressourcen auf alternative Verwendungsmöglichkeiten verteilt“ werden, wobei die „optimale Verteilung […] gemäß [vorgegebenen] Präferenzen die effizienteste“ ist, was jede „andere Lösung […] un-wirtschaftlich“ und als „Verschwendung“ erscheinen läßt.15 Vielmehr erinnert Batailles Vorgangsweise in gewisser Hinsicht an das Analogiedenken in der Verhältnisbestimmung zwischen dem Makrokosmos (Universum) und dem Mikrokosmos (Mensch), wie es unter anderem aus der hermetischen Tradition bekannt ist. Wohl nicht von ungefähr wählt Bataille als Motto für seine Schrift Der verfemte Teil eines von William Blakes Proverbs of Hell aus dessen Marriage of Heaven and Hell (1790–1793): „Exuberance is beauty.“ [Überschwang ist Schönheit]16 „Menschen und soziale Gebilde (produzieren also) mehr Energie, als sie produktiv verwenden können“,17 woraus die Notwendigkeit des Abbaus folgt,
dar. Daher sind der Tod und Tote heilig. Das zweite Tabu betrifft das Tier, weil dieses […] ungesühnt vernichtet und tötet. So sind ursprünglich die Tiere heilig, und erst später treten anthropomorphe Götter an ihre Stelle. Das dritte Tabu richtet sich gegen die Sexualität, die sowohl in den Konvulsionen der sexuellen Vereinigung als auch mit der Fortpflanzung die Diskontinuität sprengt.“. GA 4, S. 34. Vgl. Anm. 3 und 4 oben. Alle Zitate aus: Thomas Wex: Ökonomik der Verschwendung. Batailles Allgemeine Ökonomie und die Wirtschaftswissenschaft. In: Andreas Hetzel u. Peter Wiechens (Hg.): Georges Bataille. Vorreden zur Überschreitung. Würzburg 1999, S. 187–210, hier S. 191. Vgl. dazu unter dem Stichwort ‚Der Überschwang‘ den auf einen Hauptbegriff Batailles rekurrierenden Eintrag in Roland Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe. Frankfurt a. M. 1984, S. 223: „Verausgabung. Figur, mit der das liebende Subjekt darauf abzielt und gleichzeitig zögert –, die Liebe in eine Ökonomie der reinen Verausgabung, des Verlustes ‚für nichts und wi[e]der nichts‘ einzubringen.“. Wex, S. 200.
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die Bataille, wie gesagt, kosmologisch (weniger vorsichtig könnte man auch sagen: naturalistisch) abzusichern bestrebt ist. Er schreibt: Ich gehe von einer elementaren Tatsache aus: Der lebende Organismus erhält, dank des Kräftespiels der Energie auf der Erdoberfläche, grundsätzlich mehr Energie, als zur Erhaltung des Lebens notwendig ist. Die überschüssige Energie (der Reichtum) kann zum Wachstum eines Systems (zum Beispiel eines Organismus) verwendet werden. Wenn das System jedoch nicht mehr wachsen und der Energieüberschuß nicht gänzlich vom Wachstum absorbiert werden kann, muß er notwendig ohne Gewinn verlorengehen und verschwendet werden, willentlich oder nicht, in glorioser oder in katastrophischer Form.18
Wie im Energiehaushalt des Menschen, so ist auch im makroökonomischen Bereich die Verausgabung unerlässlich. Dem psychoanalytischen Bild von der Homöostase der Triebregungen entspräche in Batailles Allgemeiner Ökonomie eine an derartige Gleichgewichtsvorstellungen angelehnte, sie aber leicht variierende, gleichsam geschichtlich ausgespannte Vorstellung, nämlich die eines „dynamischen Wechsels von Akkumulation und Verschwendung“.19 Im Verfemten Teil formuliert er „das allgemeine Gesetz der Ökonomie“, das zugleich das Gesetz seiner Allgemeinen Ökonomie ist und als Kriterium für die Analyse und Kritik bestehender Gesellschaften fungiert: Eine Gesellschaft produziert als Ganzes immer mehr, als zu ihrer Erhaltung notwendig ist, sie verfügt über einen Überschuß. Und eben der Gebrauch, den sie von diesem Überschuß macht, macht sie zu einer bestimmten Gesellschaft. Der Überschuß ist die Ursache für Bewegung, Strukturveränderungen und Geschichte schlechthin.20
Dieses allgemein-ökonomische Prinzip setzt Bataille dazu ein, die Beschränktheit einer – unserer – an Produktivität und Arbeit orientierten Gesellschaft vorzuführen. Die von ihm selbst in einem Nietzscheanischen Gestus als Aufhebung der Ökonomie, ja als deren kopernikanische Wende apostrophierte Umkehrung aller ökonomischen Grundsätze führt über das zunächst noch traditionell-dialektisch anmutende Verhältnis von Akkumulation und Verschwendung hinaus zu einer Apologie der letzteren, die für Bataille unmittelbar mit dem Ziel der Erreichung des Status der Souveränität verknüpft ist: Durch die mit der Verschwendung einhergehende Zerstörung der Dingwelt erhebt sich das Subjekt selbst über die dingliche Sphäre, in die es durch die Arbeit hineingeraten und in der es sich seiner selbst entfremdet hat. Es gewinnt eine abgründige Freiheit: „Diese abgründige Freiheit“, schreibt Bataille ebenfalls im Verfemten Teil, „besteht in der Zerstö-
Bataille, Der verfemte Teil, S. 45. Wex, S. 201. Vgl. Bataille, Der verfemte Teil, S. 140 f. Bataille, Der verfemte Teil, S. 140.
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rung, deren Wesen es ist, profitlos zu verzehren, was der Verkettung der nützlichen Werke hätte verhaftet bleiben können.“21 Solche Zerstörung kennt, wie bereits angedeutet, zwei Weisen, in denen sie hauptsächlich in Erscheinung tritt, zwei Formen, wie sich diese Aufhebung der Ökonomie jeweils realisiert: Liebe – und zwar eine nicht auf Prokreation, auf Fortpflanzung angelegte, sondern eine sich im Anderen verschwendende Liebe; und Krieg – die nutzlose Verausgabung jener Ressourcen, die sonst wie im Falle der Sexualität ebenfalls auf Selbst- wie Arterhaltung verwendet werden. Der utopische Charakter – einmal positiv, einmal negativ – dieser beiden Alternativen, die sich nicht auf eine Dialektik rückbinden lassen, sondern jeglicher solchen Dialektik ein Ende – eine Art Ende zumindest – setzen, wenn man Bataille Glauben schenkt, ist nur allzu deutlich.
2 Zwischenspiel: Barthes liest Musil In seinem Spätwerk Fragmente einer Sprache der Liebe ordnet Roland Barthes bekanntlich um seinen Basis-Referenztext, Goethes Leiden des jungen Werthers, herum zahlreiche weitere Versatzstücke sowohl schriftlicher als auch mündlicher Provenienz an, mitunter in direkter, d. h. wörtlicher Zitation, öfter aber in Paraphrase, immer jedoch (oder fast immer) marginal, also am Rande gekennzeichnet.22 Unter denjenigen Texten, mit deren Hilfe Barthes den Diskurs des liebenden Subjekts zu zeichnen sucht, indem er sie alphabetisch um Goethes Werther herum anreichert, finden sich neben üblichen Verdächtigen, will sagen Texten von Autoren wie Proust und Joyce, auch (vielleicht) weniger übliche, darum freilich nicht minder Verdächtige wie Ruysbroeck oder Winnicott, und eben auch solche von Musil. Dieser gelangt sogar zweimal zu Ehren: Unter dem Stichwort ‚Vereinigung‘, präzisiert als „Traum von der sozialen Vereinigung mit dem geliebten Wesen“, ist vom „Ziel aller unserer Hoffnungen“ (seinerseits ein Zitat aus dem Halsband der Taube des im 11. Jahrhundert in Córdoba lebenden maurischen Universalgelehrten Ibn Hazm) die Rede, nämlich der „ungeteilte[n] Ruhe“.23 Diese bezieht Barthes aus dem mit ‚Traum‘ überschriebenen Nachlasskapitel der seit der Klagenfurter Bataille, Der verfemte Teil, S. 88. Vgl. Barthes sowie dazu – im Allgemeinen wie zu Barthes und Musil im Besonderen – auch Artur R. Boelderl: Verrückte Bejahung der obszönen Askese festlicher Verausgabung im nächtlichen Herzen des monströs entstellten Körpers der zugrunde gegangenen Kindheit, oder: die Liebe, eine Montage. In: Peter Clar u. Julia Prager (Hg.): Was bleibt von ‚Fragmente einer Sprache der Liebe‘? Wien/Berlin 2021, S. 53–65. Alle Zitate: Barthes, S. 231.
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Ausgabe und auch in der neuen Musil-Gesamtausgabe als Erste Fortsetzungsreihe edierten Kapitelgruppen zum Zweiten Buch des Mann ohne Eigenschaften: Und weil sie [sc. Ulrich und seine Zwillingsschwester Agathe] in dieser Ruhe eines waren und ohne Scheidungen, auch so ohne Scheidungen in sich selbst, daß ihr Verstand wie verloren war und ihr Gedächtnis sich auf nichts besann und ihr Wille kein Tun hatte, stand sie [sc. Agathe] in dieser Ruhe wie vor einem Sonnenaufgang und ging mit ihren irdischen Einzelheiten in ihm unter.24
Den bei Musil unmittelbar vorhergehenden Satz zitiert Barthes unter dem Stichwort ,Zärtlichkeit‘, um seine Behauptung zu illustrieren, die „Wurzel jeder Beziehung“ liege dort, „wo Bedürfnis und Begierde zusammentreffen“25: „Der Körper ihres [sc. Agathes] Bruders [sc. Ulrich] schmiegte sich so liebreich und gütig an sie, daß sie in ihm ruhte; wie er in ihr; nichts bewegte sich in ihr, auch die schöne Begierde nicht mehr.“26 Bemerkenswerter Weise stehen beide Musil-Referenzen – resp. beide Lemmata, unter denen Barthes seine eine Musil-Referenz anführt – im Kontext einer jeweils ebenso offenkundigen wie klandestinen Referenz auf Bataille.27 Im Umfeld des ersten Verweises kommentiert Barthes nicht ohne Selbstironie seinen Versuch, die im platonischen Symposion „als Gestalt d[]er ,ursprünglichen Beschaffenheit‘“28 des ,Kugelwesens‘ Mensch von Aristophanes eingeführte Figur des Zwitters zeichnerisch einzufangen, zunächst mit den für sich schon bedeutungsschwangeren Worten: „[D]er Zwitter ist für mich nicht darstellbar; oder wenigstens bringe ich es nur zu einem monströsen, grotesken, unwahrscheinlichen Körper“,29 um dieses persönliche künstlerische Unvermögen sodann mit der Feststellung zu quittieren: „Aus dem Traum [sc. dem Trachten nach Ganzen, das Liebe heißt, m. a. W. der stichwortgebenden Vereinigung] geht eine
GA 5, S. 239 f., vgl. S. 234. Barthes, S. 256. GA 5, S. 239, vgl. S. 257. Zur bisweilen auffälligen Nähe dieser beiden sonst jenseits einer gewissen zeitlichen Überlappung ihres Schaffens nicht unmittelbar als benachbart geltenden Autoren Musil und Bataille vgl. Bernd Mattheus: Georges Bataille. Eine Thanatographie III. München 1995, S. 210–219; Georg Tscholl: Die Poésie [sic!] bewegter Bilder: Georges Bataille. Wien 2018, S. 74–77, passim; Artur R. Boelderl: Die Literatur und das Kranke. Eine homöopathische Poetik des Exzesses zwischen Musil, Bataille und Nancy. In: Ders. (Hg.): Vom Krankmelden und Gesundschreiben. Literatur und/als Psycho-Soma-Poetologie? Innsbruck u. a. 2018, S. 146–154; ders.: Erkennen zwischen Gut und Böse. Zum ‚Gebrauchswert‘ des Eros bei Musil und Döblin. In: Peter Clar u. Walter Fanta (Hg.): Alfred Döblin und Robert Musil. Essayismus, Eros und Erkenntnis. Bern u. a. 2021, S. 231–249. Barthes, 232. Barthes, 232.
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farcenhafte Gestalt hervor“30 – ein ungestalter Körper,31 dessen Undarstellbarkeit im physischen Sinn Barthes in gleichsam harter Fügung psychoökonomisch extrapoliert, wenn er unmittelbar seine Deutung anschließt: „[S]o erwächst aus dem verrückten Paar das Obszöne des Haushalts (der eine besorgt dem anderen lebenslang die Küche).“32 Anders ausgedrückt, und um das gewissermaßen invers Bataille’sche Echo der Stelle deutlicher vernehmbar zu machen: Die wahre, die eigentliche Obszönität besteht nicht in der zugleich als unmöglich vorausgesetzten Zwitterhaftigkeit der nach Vereinigung trachtenden Liebenden bzw. allen denk- oder undenkbaren, d. h. darstellbaren oder undarstellbaren Handlungen, die sie unternehmen, um sie herbeizuführen, ebenso wenig wie in der Perversion des sei’s gedachten, sei’s vollzogenen Inzests wie zwischen den Musil’schen Geschwistern Ulrich und Agathe. Sie besteht in der Zähmung und Lähmung dieser Ver-rückung des Paars auf die biederen Erfordernisse des Oikos, die Rationalisierung der auf Erschöpfung und Verausgabung zielenden Bemühungen der Liebenden, miteinander auf eine Weise zu kommunizieren, die sie jenseits ihrer unaufhebbaren Unterschiede (geschlechtlicher wie anderer Natur) dennoch verbände. Wie ein dislozierter Kommentar dazu nimmt sich jene Stelle aus, mit der Barthes unter dem zweiten Stichwort ,Zärtlichkeit‘ neuerlich eine – diesmal vergleichsweise unübersehbare – Bataille-Referenz ohne Namensnennung einflicht: „Die sexuelle Lust ist nicht metonymisch: einmal entfacht, wird sie verausgabt: das war das verbotene Fest, das, durch zeitweilige, überwachte Aufhebung des Verbots, immer hinter verschlossenen Türen zustande kommt.“33 Gegenüber diesem auflodernd-ekstatischen Typus der Lust, den Barthes hier zugleich aus dem Deutungsraum der Lacan’schen Psychoanalyse herausnimmt, welcher ja das (freilich nicht zwingend bzw. nicht allein sexuell konnotierte) Begehren als metonymische Kette der Selbsterneuerung par excellence gilt, profiliert er sein Verständnis von Zärtlichkeit als der eigentlichen, „unendliche[n], unersättliche[n] Metonymie“,34 die sich weniger in einer Bewegung des Springens von einem zum anderen (Moment des Genusses) denn vielmehr in einer Geste des Auf-
Barthes, 232. Vgl. Artur R. Boelderl: De_formatio_ne corporis oder: Unbilden des Körpers. Natologische und topologische Aspekte der Lacan’schen Psychoanalyse. In: Ulrike Kadi u. Gerhard Unterthurner (Hg.): Macht – Knoten – Fleisch. Topographien des Körpers bei Foucault, Lacan und Merleau-Ponty. Stuttgart 2020, S. 131–152, sowie ders.: Ungestalt/e Körper. In: Ders. et al. (Hg.): Körperglossar. Wien/Berlin 2021, S. 178–182. Barthes, S. 232, Hervorh. i. O. Barthes, S. 256. Barthes, S. 256.
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schubs ausdrückt, der das Ende möglichst lang, idealiter ewig hinauszögern soll: „[V]ergiß […] nicht, daß ich dich ein wenig, leichthin begehre, ohne sofort etwas haben zu wollen.“35 Den nämlichen Aufschub findet man in der Gestalt der Dauer dann auch andernorts wieder, diesmal als mögliches Kriterium „der normalen Liebe“36 in den (Zeit-)Raum des Oikos hineingestellt, wobei die ihm zuerkannte Leichtigkeit des Begehrens Barthes nun als wechselseitige Erträglichkeit der Liebespartner erscheint („Wäre die wahre Liebe nicht ganz einfach die des Paares, das sich erträgt: das verheiratete Paar?“37) und ihm Anlass zur kritischen Reflexion über die (nicht zuletzt von Lacan attestierte) Reziprozität der darin zum Ausdruck kommenden Gefühle gibt. Dieser stellt Barthes weniger entgegen denn vielmehr zur Seite, was er in bewusster terminologischer Abhebung „Gegenseitigkeit“ nennt: Der Exzess des Begehrens, dem sich das liebende Subjekt hingibt – immer in seinem Diskurs, wohlgemerkt, denn schließlich, so lautet ja die thematische wie methodische Maxime der Fragmente insgesamt, ist „[d]er Liebende […] ganz Diskurs“38 –, befreit es, indem er ihm eine Position „außerhalb des Austauschs“39 ermöglicht oder besser: aufzwingt – ein weiteres verschwiegenes, weil gleichsam ,hinter‘ einer marginalen Lacan-Referenz verstecktes Echo von Barthes’ Bataille-Lektüren, wie die Verwendung der Begriffe ,Austausch‘, ,Verausgabung‘ und ,Fest‘ ebenso unzweifelhaft belegt wie der Umstand, dass Barthes die damit einhergehende Haltung des Liebenden mit der „des Sadeschen Subjekts“40 identifiziert: „Ich verspotte die Reziprozität der Gefühle; […]. Ich […] gebe in reiner Verausgabung; […] ich verletze den großen Brauch, der verhindert, etwas für nichts zu geben. Es ist das Fest, das großartige Fest […].“41 Eröffnet dieser radikale – und insofern obszöne, ja perverse – Bruch mit der Reziprozität dem liebenden Subjekt den „Zugang zum reinen Begehren“42, so stellt im Unterschied dazu die erwähnte Gegenseitigkeit eine vergleichsweise mildere Distanznahme ihr gegenüber dar, „ohne Übermaß an Zärtlichkeit“43
Barthes, S. 256, Hervorh. i. O. Roland Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe. Erweiterte Neuausgabe. Berlin 2015, S. 320. Barthes, Neuausgabe, S. 320. Barthes, Neuausgabe, S. 340. Barthes, Neuausgabe, S. 323. Barthes, Neuausgabe, S. 324. Vgl. zu dieser Filiation Sade-Bataille-Barthes Artur R. Boelderl: Ganz schön in der Scheiße. Zum Diskurs der ‚Skatontologie‘ zwischen Philosophie und Literatur nach Marquis de Sade. In: Zagreber Germanistische Beiträge 27 (2018), S. 119–140. Barthes, Neuausgabe, S. 323. Barthes, Neuausgabe, S. 323. Barthes, Neuausgabe, S. 325.
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einerseits, aber auch an „Zurückhaltung“44 andererseits, wie sie sich im liebenden Umgang der Mutter mit ihrem Kind zeigt: „nicht reziprok, aber gegenseitig: der Andere hält mir die Hand, lehrt mich etwas, ändert mich, während ich das gleiche mit ihm tue.“45 Ist es nicht das darin zur Geltung gelangende Ethos des Maßhaltens, um nicht zu sagen: der beinah unverhohlene, an sich selbst wie den/die Leser/in als liebende Subjekte gleichermaßen adressierte Appell zu diskursiver Mäßigung, der die Fragmente durch die gesuchte Zufälligkeit ihrer alphabetischen Anordnung und willkürlichen Benennung hindurch orientiert und, mehr noch, der sie – subkutan vielleicht, gleichwohl intratextuell – organisiert? Und gemahnt diese Form diskursiver Mäßigung nicht zugleich an jene zunehmend moderierte Entwicklung, die die nicht nur nicht erzählte, sondern in erster Linie nicht zu Ende erzählte Geschichte von Musils Mann ohne Eigenschaften im Zweiten Buch entlang der Geschwisterliebe zwischen Ulrich und Agathe nimmt, bevor sie sich im Nachlass ganz verliert – vielleicht auch deswegen, weil damit letztlich eben nicht mehr, wie ursprünglich geplant, „alle Linien zum Krieg führen“46?
3 Zum Spielverlauf: Spielende oder Endspiel? Liebe und Krieg als Aufhebungen der Ökonomie im Mann ohne Eigenschaften Schlußteil Umfassendes Problem: Krieg Die // [= Parallelaktion] führt zum Krieg! Seinesgleichen führt zum Krieg. Krieg als: Wie ein großes Ereignis entsteht. Alle Linien münden in den Krieg. Jeder begrüßt ihn auf seine Weise. Das religiöse Element im Kriegsausbruch. Tat, Gefühl, u aZ [= anderer Zustand] fallen in eins. Jemand bemerkt: das war es, was die // immer gesucht hat. Es ist die gefundene große Idee Entsteht (wie Verbrechen) aus all dem, was die Menschen sonst in kleinen Unregelmäßigkeiten abströmen lassen. U. erkennt: entweder ordentliche Zusammenarbeit (Gs. [= Gesinnung] Indukt. Frömmigkeit) oder aZ oder es muß von Zeit zu Zeit das kommen.47
Barthes, Neuausgabe, S. 325. Barthes, Neuausgabe, S. 325. KA/Bd. 4: Der Mann ohne Eigenschaften/Die Vorstufen/Der Erlöser. Aufbau/Zur Gesamtkonzeption. KA/Nachlass/Mappe II/2/15 Musil.
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Hans Christoph Binswanger hat in Geld und Magie. Eine ökonomische Deutung von Goethes Faust (1985) mit Bezug auf ebendiesen Faust die These vertreten, dessen erster Teil suche die Aufhebung der zeitlichen Beschränktheit menschlichen Strebens nach Erkenntnis und gültiger Wahrheit in der Liebeserfahrung zu erreichen, die jenen Augenblick gewähren soll, von dem man mit ganzem Herzen wünschen könne, dass er verweilen, also ewig währen möge – und scheitere daran. Der zweite Teil hingegen suche eben diesen Augenblick vermittels der Wirtschaft, näherhin der Geldwirtschaft, also des aufkommenden Kapitalismus anzuzielen, die die Produktion von Wahrheit, nunmehr als (Mehr-)Wert im allgemeinen Tauschgeschäft verstanden und nicht mehr als per se Gültigkeit beanspruchende Idee, gewährleiste – und dieser, der zweite Versuch, sei von Erfolg gekrönt.48 Dort, bei Goethe, könnte man vor diesem Hintergrund schließen, hebe also die Ökonomie solche unweigerlich den individuellen wie kollektiven Zeitläuften geschuldeten, vermeintlich existenziellen Grunderfahrungen wie Liebe und Krieg tatsächlich erfolgreich auf, im Sinne einer gegenüber der vorhin geschilderten Bataille’schen Allgemeinen Ökonomie geradezu konträren Logik. Wie verhält es sich nun aber in Musils Mann ohne Eigenschaften? Meine Hypothese ist, wenig überraschend, dass hier umgekehrt und in weitgehender Übereinstimmung mit Batailles Ansatz Liebe und Krieg als zwei verschiedene Möglichkeiten zur Aufhebung der Ökonomie – in einem undialektischen Verständnis, ja auf eine die Dialektik, die dem Kapital selbst zugrunde liegt, als solche nachgerade zerstörende Weise – in Szene setzt und erprobt werden. Prüfstein dieser Hypothese ist u. a. die Frage, wie die im obigen Zitat aus einer Studie Musils zum Problemaufbau des Mann ohne Eigenschaften aufscheinende Verwobenheit der Erzählstränge und Motive zu deuten sei, die Frage also, ob wirklich alle Linien zum Krieg führen, und das hieße: nicht nur die Parallelaktion, die im Ersten Buch dominiert, sondern auch die ,letzte Liebesgeschichte‘ zwischen den Geschwistern Ulrich und Agathe, die im Zweiten Buch, sowohl in den veröffentlichten Kapiteln wie im Nachlass, in den Vordergrund rückt. Mein Rekurs auf Bataille hat selbstverständlich nicht zum Ziel, diese Frage ein für allemal einer Antwort zuzuführen, ein solches Ziel auch nur verfolgen zu wollen, wäre nichts weniger als obszön angesichts der vielstimmigen Gemengelage, die der Roman bietet; zieht man diese Bataille’sche Theorie der Verausgabung indes, wie ich es für hier und heute vorschlage, heuristisch als Interpretament der nämlichen Frage heran, dann – und nur dann, unter dieser Voraussetzung – zeichnet sich eine gewisse Tendenz ab, die ich abschließend
Vgl. Hans Christoph Binswanger: Geld und Magie. Eine ökonomische Deutung von Goethes ‚Faust‘. Stuttgart 1985. 2. Aufl. Hamburg 2005.
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zur Diskussion stellen möchte, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass auch besagte Tendenz nur hält, wenn man sich stärker am kanonischen Romantext orientiert als am gleichsam apokryphen der Kapitelentwürfe im Nachlass. Es wäre durchaus vertretbar, die zahlreichen Antworten, die die Musilforschung beim Versuch, das Unvollendetbleiben des Romans zu erklären, in den letzten Jahrzehnten bereits vorgebracht hat, um diese eine zu ergänzen, dass dieses, also der Nichtabschluss des Romans, einen maßgeblichen Grund in Musils Unentschiedenheit bezüglich jener Frage findet: Aufhebungen der Ökonomie sind Liebe und Krieg nämlich allemal, wenn wir Bataille glauben wollen; liegen sie aber deswegen auch schon auf derselben Linie, sind sie gleichgültig bzw. indifferent, was die Menschheitsgeschichte und deren Entwicklung betrifft? Führt die Ökonomie im großen Stil, also die in Batailles Sinn ‚eingeschränkte‘ der kapitalistischen Marktwirtschaft mit ihrem auf der Überzeugung von der Beschränktheit der Ressourcen basierenden Kosten-Nutzen-Kalkül, mit Notwendigkeit in den Krieg und ebenso die Ökonomie im Kleinen, auf der Ebene zwischenmenschlicher (Paar-)Beziehungen, die jene Ökonomie aufhebt und unterwandert, wie Barthes nach Bataille in den Fragmenten einer Sprache der Liebe zu zeigen können geglaubt hat? Scheitert der andere Zustand, der die kanonischen Kapitel des Romans im Zweiten Buch dominiert, als geglückte Aufhebung der Ökonomie in dem Sinn, dass er/sie den Ausbruch des Krieges wenn nicht regelrecht verhindert, so doch unendlich hinauszögert, wie der faktisch vollzogene Inzest der Geschwister nicht einfach nicht stattfindet, sondern gleichsam permanent aufgeschoben wird? Oder ist nicht doch genau dies das ‚Fazit‘ des Romans, Ulrichs „Ich komm nicht mehr her!“49 gegenüber General Stumm, mit dem er die Parallelaktion verlässt, ein insofern finaler Ausstieg aus dem Zug der Mobilisierung, der unweigerlich zum Krieg fährt, zugunsten der Utopie des anderen Zustands der freilich unmöglichen (weil in geschlechtlicher Perspektive inzestuösen) androgyn-hermaphroditischen Zwillingsliebe zu Agathe? Dafür spräche, wie gesagt, dass mit den letzten veröffentlichten Kapiteln unter dem kapitelübergreifenden Titel ,Ein großes Ereignis ist im Entstehen‘ dieses nämliche Ereignis, wenn man es auf den Krieg zuspitzt, de facto außen vor bleibt, außerhalb der Romanhandlung, also permanent im Entstehen; dagegen spricht allerdings die konsequente Weiterarbeit nach Veröffentlichung des Teilbands des Zweiten Buches bis zu Musils Tod, die doch zeigt, dass – zumindest zeitweilig – die Utopie des anderen Zustands einer anderen Utopie weichen sollte, der der induktiven Gesinnung, und dass Musil sich immer wieder bemüht hat, dem ursprünglichen Plan treu zu bleiben bzw. diesen modifiziert
GA 3, S. 615.
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doch zur Ausführung zu bringen, dass ,Eine Art Ende‘ jene ,Eine Art Anfang‘ spiegeln sollte, mit der das Erste Buch beginnt, mit der Konsequenz, dass nach der Ulrich-Agathe-Erzählung doch wieder auf die Parallelaktion und damit auf das Kriegsvorbereitungsnarrativ rekurriert hätte werden müssen. Geben wir aber, und damit bin ich bei einer Art Ende angelangt, für hier und heute im Blick auf unser Tagungsthema, der anderen Möglichkeit ihren guten Sinn: dass die Liebe als Aufhebung der Ökonomie, wie sie die Fiktion des anderen Zustands umschreibt, letztlich doch obsiegt …
Liebe als Provokation: Prä/Post 68
Anna Estermann
Affektivität und Geschlecht: Zur Rezeption der frühen Lyrik von Ingeborg Bachmann und Paul Celan Im Dankesbrief an Hermann Kasack, Präsident der Akademie für Sprache und Dichtung, gibt Paul Celan im Mai 1960 seiner Freude über die Zuerkennung des Büchner-Preises in einer Weise Ausdruck, die Hochachtung vor dem Namengeber des Preises in Zuneigung für die Dichtung als solche überführt: Diesen Preis, der den Namen Georg Büchners trägt, annehmen zu dürfen: mir bedeutet das, vor allem, Begegnung. Begegnung, Menschennähe, Begegnung mit einem hohen Namen der Seelenmonade Mensch. [...] Worte, zumal im Gedicht, – sind das nicht werdende – und vergehende – Namen? Sind Gedichte nicht dies: die ihrer Endlichkeit eingedenk bleibende Unendlichsprechung von Sterblichkeit und Umsonst? (Entschuldigen Sie, bitte, die Emphase: sie gehört zu dem Staube, der uns und unsere stimmhaft-stimmlosen Seelen freisetzt und aufnimmt.)1
Die Emphase wird in Klammern relativiert, um sogleich nicht weniger emphatisch fortgeführt zu werden. Der Brief an Kasack ist in seiner innigen Zugewandtheit und Leidenschaftlichkeit beispielhaft für den Briefschreiber Celan. Und auch in seiner Dankesrede zum Büchner-Preis, Der Meridian, wird er im darauffolgenden Herbst auf emphatischste Weise sein Verhältnis zur Dichtung darlegen. Die Rede entstand im Sommer 1960, in einer für Celan besonders schwierigen Zeit. Im April des Jahres war unter dem Titel Unbekanntes über Paul Celan ein Artikel in der Münchner Literaturzeitschrift Baubudenpoet erschienen.2 Die Verfasserin Claire Goll beschuldigt darin Celan des Plagiats am Werk ihres verstorbenen Mannes Yvan Goll. Der Text stellt den Höhepunkt der sogenannten „Goll-Affäre“ dar, einer regelrechten Rufmord-Kampagne, die Goll, seit sie 1953 erste Anschuldigungen erhoben hatte, zunehmend aggressiver betrieb. Celan hatte das in Paris lebende Ehepaar Goll auf Empfehlung seines Mentors Alfred Margul-Sperber im Herbst 1949 kontaktiert und freundete sich mit den beiden an. Inspiriert von Celans Bukarester Gedichten aus Der Sand aus den Urnen, begann Goll, der damals bereits schwer krank war, nach langer Zeit selbst wieder Paul Celan an Hermann Kasack, Paris, 16. Mai 1960, zitiert nach Paul Celan: Der Meridian. Endfassung – Vorstufen – Materialien. Hg. v. Bernhard Böschenstein u. Heino Schmull unter Mitarb. v. Michael Schwarzkopf u. Christiane Wittkop. Frankfurt a. M. 1999, S. 222. Claire Goll: Unbekanntes über Paul Celan. In: Baubudenpoet 5/1960, S. 115–116. https://doi.org/10.1515/9783110740806-016
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auf Deutsch zu dichten. Goll starb 1950; seine Witwe bat Celan, sie bei der Verbreitung des Werks im deutschsprachigen Raum zu unterstützen; er übersetzte daraufhin drei französische Gedichtbände ins Deutsche. Goll weigerte sich jedoch plötzlich, die Übersetzungen zu publizieren und begann, die Gedichte ihres verstorbenen Mannes selbst ins Deutsche zu übertragen – unübersehbar ‚inspiriert‘ von Celans Fassungen. 1953 machte ein amerikanischer Germanist Goll bei einer Lesung in den USA auf Ähnlichkeiten zwischen den Gedichten in Yvan Golls Traumkraut und Celans Mohn und Gedächtnis aufmerksam: Claire Goll verschickte daraufhin einen Rundbrief an Verleger, Kritiker und Rundfunkanstalten, in dem sie Celan des Plagiats beschuldigte.3 Die Affäre wird ab 1960 zu einer auch öffentlich ausgetragenen Angelegenheit. Involviert sind befreundete Dichterkolleg✶innen und Literaturwissenschaftler, die Celan in den Medien verteidigen, Kritiker und Besucher✶innen von Lesungen, die sich ungefragt und mitunter verletzend dazu äußern, und Institutionen wie die Akademie für Sprache und Dichtung, die ein Gutachten in Auftrag gibt, das die Vorwürfe Golls ein für alle Mal entkräften soll, jedoch an dieser Aufgabe in Celans Augen scheitert. Am Höhepunkt der Affäre meldet sich auch Ingeborg Bachmann zu Wort und ergreift gemeinsam mit Klaus Demus und Marie Luise Kaschnitz in einer „Entgegnung“ für Celan Partei.4 Diese Affäre kann in ihrer Bedeutung für den westdeutschen Lyrik-Diskurs um 1960 kaum überschätzt werden; so könnte etwa Hans Magnus Enzensbergers Konzeption einer „Weltsprache der modernen Poesie“ in diesem Zusammenhang gelesen werden.5 Enzensberger, der Celan in einem Leserbrief öffentlich verteidigte, spricht noch 1999 in seinem Postskriptum zu Geisterstimmen. Übersetzungen und Imitationen im Hinblick auf „schiere Originalität“ als von einer „Wahnvorstellung der Moderne“, sei doch Dichten stets „ein Fortschreiben am endlosen Text
Vgl. dazu den Überblick bei Barbara Wiedemann: Die Goll-Affäre. In: Celan-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. 2. akt. u. erw. Ausgabe. Hg. v. Markus May, Peter Goßens und Jürgen Lehmann. Stuttgart/Weimar 2012, S. 20–23. Goll startete eine richtiggehende Kampagne, verfolgte Celan mit immer heftigeren Anschuldigungen, die sie gezielt unter deutschsprachigen Kritikern streute und diese dazu brachte, in Publikationen über Celans Werk die Plagiatsvorwürfe öffentlich zu verbreiten. Alle relevanten Dokumente dazu liegen gesammelt vor in: Die Goll-Affäre. Dokumente zu einer „Infamie“. Hg. v. Barbara Wiedemann. Frankfurt a. M. 2000. Marie Luise Kaschnitz, Klaus Demus, Ingeborg Bachmann: Entgegnung. In: Neue Rundschau 71 (1960), H. 3, S. 547–549. Hans Magnus Enzensberger: Vorwort. In: Museum der modernen Poesie, eingerichtet von Hans Magnus Enzensberger. Frankfurt a. M. 1960, S. 7–20.
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der Überlieferung“.6 In den 1950er Jahren perpetuierte eine Riege von arrivierten Kritikern – Hans Egon Holthusen, Curt Hohoff, Günter Blöcker – diesen Originalitätsdiskurs und etablierte den Vorwurf der Epigonalität im Lauf der 1950er Jahre als Topos der Celan-Kritik. Dichtung schreibt nicht nur am endlosen Text der Überlieferung fort, sie führt mitunter auch ein komplexes Gespräch mit Werken von Zeitgenossen, zumal wenn es sich um Gedichte von befreundeten Kolleg✶innen handelt. Diese ‚dialogische‘ Dimension, die abseits allen Ringens um den Beweis einer jeweiligen ‚ErstUrheberschaft‘ prinzipiell als Geste der wertschätzenden Zugewandtheit gesehen werden könnte, pervertiert Claire Goll zum lyrischen Diebstahl, indem sie aus positionierungsstrategischen Gründen oder einer persönlichen Kränkung wegen Celans Werk dazu benützt, um das symbolische Kapital ihres Mannes posthum zu vermehren. Die Kritiker wiederum definieren die Regeln des Spiels und erklären Agonalität und Originalität zur Norm. Offenkundig legen sie dabei jedoch an Celans Dichtung nicht dieselben Maßstäbe an wie an jene seiner Kolleg✶innen; am Beispiel Ingeborg Bachmanns wird dies überdeutlich. Celan war scharfsinnig genug, um diese Ungleichbehandlung als das zu erkennen, was sie war: als überaus wirksame soziale Exklusionsstrategie. Er wird den Grund für dieses Verhalten am tiefsitzenden Antisemitismus der Kritiker festmachen.7 Diese Erklärung liegt nahe und trifft auch eine wesentliche Dimension, erfasst die Problematik jedoch nicht in all ihren Aspekten. Ein Vergleich der zeitgenössischen Rezeption von Ingeborg Bachmanns und Paul Celans Lyrikbänden in den 1950er Jahren wird zeigen, dass der Einschätzung der Kritiker eine hegemoniale Konzeption von ‚Männlichkeit‘ bzw. – im Umkehrschluss – eine als defizitär markierte Konzeption von ‚Weiblichkeit‘ zugrunde liegt.
Hans Magnus Enzensberger: „Postskriptum“. In: Ders.: Geisterstimmen. Übersetzungen und Imitationen. Frankfurt a. M. 1999, S. 391–394, hier S. 392. Er verweist in diesem Zusammenhang neben anderen auch auf Celan als Übersetzer. Vgl. dazu etwa Marc-Oliver Schuster: „Bestätigung“ und „Rechtfertigung“. Celans Briefe mit Bachmann und anderen als Kommentare zum Gespräch im Gebirg. In: Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Historisch-poetische Korrelationen. Hg. v. Gernot Wimmer. Berlin/Boston 2014 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte. Bd. 145), S. 71–89, der Celans Gespräch im Gebirg als eine Art literarische Versuchsanordnung liest, in der ein gesellschaftlich virulenter verdeckter Antisemitismus in der Erzählanlage prozessiert wird.
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1 „Poetische Korrespondenzen“ Bachmann lernte Celan im Mai 1948 in Wien kennen; es ist der Beginn eines Liebes- und Freundschaftsverhältnisses, das mit Unterbrechungen bis Anfang der 1960er Jahre andauert. Angesichts der unterschiedlichen Herkünfte der beiden – Bachmann ist die Tochter eines Kärntner Hauptschullehrers und frühen NSDAPMitglieds, Celan, der in Czernowitz aufgewachsen war, verlor seine Eltern im Holocaust und wurde selbst in Arbeitslagern interniert – ist die Konstellation von Anfang an höchst ambivalent; Bachmanns Zugehörigkeit zur Seite der Täter definierte für beide das Liebesverhältnis, das im Frühling 1948 in Wien begann; seit der gemeinsamen Teilnahme an der Niendorfer Tagung der Gruppe 47 im Mai 1952 wurde die Beziehung zusätzlich belastet durch die Konkurrenzsituation, in der sie nun als Schriftsteller standen; dazu trug wesentlich die unterschiedliche Einschätzung der jeweiligen Gedichte seitens der Kritik bei. Nicht erst seit der Veröffentlichung des Briefwechsels Herzzeit 2008 sind die „poetischen Korrespondenzen“ zwischen den Werken von Bachmann und Celan eingehend beforscht worden.8 Sigrid Weigel widmet Bachmanns poetischem und poetologischem Dialog mit Celan ein eigenes Kapitel in ihrer Bachmann-Monographie.9 Es seien „Weniger Motive oder Themen, eher einzelne Wörter, sprachliche Bilder oder Schriftbilder, die zwischen der Lyrik Celans und Bachmanns kursieren“.10 Celan-Zitate finden sich nicht nur in Bachmanns Gedichten, sondern ebenso in der Prosa – etwa in Undine geht oder Malina – und auch in den programmatischen Schriften. Dabei, so Weigel, seien die Zitate „sowohl markiert als auch unmarkiert, zugleich identifiziert und maskiert, wörtlich und entstellt“, und müssten somit, anstatt sie „auf Original und Fälschung hin zu untersuchen, als Zeichen einer konkreten Lektürespur betrachtet werden.“11
Herzzeit. Ingeborg Bachmann – Paul Celan. Der Briefwechsel. Mit den Briefwechseln zwischen Paul Celan und Max Frisch sowie zwischen Ingeborg Bachmann und Gisèle Celan-Lestrange. Hg. v. Bertrand Badiou, Hans Höller, Andrea Stoll u. Barbara Wiedemann. Frankfurt a. M. 2008. Vgl. an dieser Stelle nur die Sammelbände zum Verhältnis Bachmann-Celan: Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Poetische Korrespondenzen: Vierzehn Beiträge. Hg. v. Bernhard Böschenstein u. Sigrid Weigel. Frankfurt a. M. 2000; Im Geheimnis der Begegnung. Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Hg. v. Dieter Burdorf. Iserlohn 2003; Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Historischpoetische Korrelationen. Hg. v. Gernot Wimmer. Berlin/Boston 2014 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte. Bd. 145). Sigrid Weigel: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses. [1999] Mit einem Vorwort zur Taschenbuchausgabe. München 2003, S. 410–453. Weigel, S. 426. Weigel, S. 431.
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Zu einer anderen Einschätzung kommt Barbara Wiedemann. Sie stellt in Abrede, dass im Fall der zahlreichen intertextuellen Verweise auf Celan-Gedichte in Bachmanns lyrischem Frühwerk von einem „Dialog“ die Rede sein könne, habe Bachmann ein solches poetisches Gespräch doch gänzlich einseitig geführt.12 Wiedemann sieht „Ingeborg Bachmann als Lyrikerin im Zeichen Paul Celans“ – so der Untertitel eines 2010 erschienen Aufsatzes: Bachmanns Gedichte sind, wie auch ihre Erzählungen und das große Romanprojekt, die einer Leserin. Sie integriert Lesefrüchte aus Werken von Goethe bis Hölderlin, Mörike bis Eichendorff, aber auch aus denen von Zeitgenossen wie Günter Eich. Das sind punktuelle Anspielungen, die Präsenz von Celans Werk in Bachmanns Gedichten hat eine völlig andere Dimension: In Die gestundete Zeit ist mehr als die Hälfte der Gedichte betroffen, dazu kommen aus dem gleichen Entstehungszeitraum einige 1952 im Rundfunk gesprochene oder separat gedruckte, aber in den Band nicht aufgenommene Texte[.]13
Wiedemann suggeriert, Bachmann habe sich an Celans lyrischer Idiomatik bedient, um sich erfolgreich als maßgebende deutsche Lyrikerin der 1950er Jahre zu etablieren. Besonders die Gedichte im Debütband Die gestundete Zeit seien voll von Anspielungen und Verweisen auf Celan. Als Hauptquelle identifiziert Wiedemann den 1948 in Wien erschienenen Band Der Sand aus den Urnen, der gleich nach seinem Erscheinen aufgrund zahlreicher sinnentstellender Fehler auf Celans Wunsch hin vom Markt genommen wurde. Wiedemann zufolge zwinge diese Identifikation der Quelle, Bachmanns intertextuelles Verfahren und die mit diesem verfolgte Absicht neu zu stellen.14 Was, so müsse man sich „angesichts der Zitate aus den vielleicht in eingeweihten österreichischen Kreisen, keinesfalls aber in Deutschland bekannten frühen Celan-Gedichten fragen, was sollte der Leser überhaupt verstehen können?“15 Celans „Ton“ übernehme Bachmann in ihren Gedichten nur äußerst selten; es handle sich bei den Verweisen zwar einerseits um Anspielungen, andererseits seien Bachmanns Gedichte „aber zugleich doch sehr weit weg von Celan“, wie Wiedemann einräumt.16 Zu hinterfragen sei aber dennoch „diese Beobachtung: Will die stilistische Einbettung der Anspielungen die Differenz besonders deutlich machen? Oder soll sie gerade die Elemente aus dem
Barbara Wiedemann: Paul Celan und Ingeborg Bachmann. Ein Dialog? In Liebesgedichten? In: Im Geheimnis der Begegnung. Hg. v. Dieter Burdorf. Iserlohn 2003, S. 21–43; dies.: „Bis hierher und nicht weiter“. Ingeborg Bachmann als Lyrikerin im Zeichen Paul Celans. In: Zur Präsenz deutschsprachiger Autorinnen. Hg. v. Günter Häntzschel, Sven Hanuschek u. Ulrike Leuschner. München 2010, S. 178–207. Wiedemann, Bachmann als Lyrikerin im Zeichen Paul Celans, S. 181 f. Wiedemann, Bachmann als Lyrikerin im Zeichen Paul Celans, S. 184. Wiedemann, Bachmann als Lyrikerin im Zeichen Paul Celans, S. 184 f. Wiedemann, Bachmann als Lyrikerin im Zeichen Paul Celans, S. 189 f.
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Werk des andern verschleiern, verbergen, um, ja doch sehr erfolgreich, das – ein? welches? – Geheimnis zu bewahren?“17 Zwar spielt Wiedemann hier auf den Verdacht an, Bachmann habe Celans Lyrik ‚missbraucht‘, indem sie seine Tropen übernommen habe, formuliert eine solche Anschuldigung jedoch nicht explizit, sondern konzentriert sich im zweiten Teil ihres Aufsatzes auf die zeitgenössischen Kritiker und ihr jeweiliges Verhältnis zu den Werken Bachmanns und Celans. Ausgangspunkt ist hier die Frage, warum die zahlreichen Anspielungen auf Celan in Bachmanns Gedichten nicht wahrgenommen wurden, wo man die beiden als Lyriker und Lyrikerin doch ansonsten durchaus in Verbindung miteinander brachte. Im Zuge ihrer Analyse von Texten der Tageskritik macht Wiedemann plausibel, dass Bachmanns Gedichte von Rezensenten wie Hans Egon Holthusen oder Curt Hohoff instrumentalisiert wurden, um Celans Lyrik zu diskreditieren, und zwar implizit: Um so erstaunlicher ist aber: Trotz aller hier vorgetragener Beobachtungen über die merkwürdige Nichtbeachtung der Celan-Zitate und ihres Autors in Bachmanns Gedichten, ist dieser dennoch ausgesprochen präsent in der Bachmann-Kritik der 1950er Jahre, allerdings implizit und um so überraschender: als Negativfolie. Auch die Literaturkritik hat ihre Kassiber!18
Wiedemann hat die Funktionalisierung von Bachmanns Gedichten zur (indirekten) Diskreditierung von Celans Lyrik überzeugend herausgearbeitet. Fragwürdig bleibt in ihrer Sichtweise die Klärung von Bachmanns Rolle in der untersuchten Konstellation. Zwar attestiert sie ihren Gedichten einen „ureigensten Ton“19, moralisiert jedoch im Hinblick auf Bachmanns Verhalten in der literarischen Öffentlichkeit: Mit ihrer Abwendung von der Lyrik und dem Wechsel zur Prosa Ende der 1950er Jahre – nach 1960 erschienen nur noch vereinzelt Gedichte – habe Bachmann den einzig richtigen Schritt vollzogen, so Wiedemanns Fazit, die sich in Celan ‚hineinzuversetzen‘ und seine damalige Perspektive auf die Problematik zu übernehmen scheint. Wo Moral ins Spiel gebracht wird, ist zumeist die Ökonomie am Werk. Diese Einsicht, die nicht nur, aber eben auch auf den Bereich der künstlerischen Felder zutrifft, soll im Folgenden berücksichtigt werden, wenn in Anknüpfung an und gleichzeitiger Abgrenzung von Wiedemann das Verhältnis zwischen Bachmann und Celan und die Rezeptionspraxis der Kritiker neu in den Blick genommen wird. Es wird dabei weniger um die Liebesbeziehung als solche gehen, vielmehr wird ein beziehungs- und geschlechtertheoretischer Zugang gewählt, der sich
Wiedemann, Bachmann als Lyrikerin im Zeichen Paul Celans, S. 190. Wiedemann, Bachmann als Lyrikerin im Zeichen Paul Celans, S. 193 f. Wiedemann, Bachmann als Lyrikerin im Zeichen Paul Celans, S. 189.
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auf Bini Adamczaks Studie Beziehungsweise Revolution stützt, die als heuristisches Instrument dazu dienen kann, bislang Übersehenes sichtbar zu machen.20 Die Konstellation „Liebe und Ökonomie“ ist dabei insofern von Bedeutung, als ‚affektökonomische‘ Belange eine zentrale Rolle spielen. Celans Poetik speist sich aus einer emphatisch-affektiven Beziehungsweise, die Kritiker wie Hans Egon Holthusen oder Günter Blöcker scharf sanktionieren auf dem Feld der Ökonomie der symbolischen Güter. Dieses erweiterte Verständnis des Ökonomischen, das über den verengten Kapitalbegriff der Wirtschaftswissenschaften hinausgeht, folgt Pierre Bourdieus Konzeption einer „allgemeinen Wissenschaft von der Ökonomie der Praxis [...], die den Warenaustausch lediglich als speziellen Fall unter mehreren möglichen Formen von sozialem Austausch behandelt.“21 Nicht auf die antisemitischen Tendenzen, die den Rezensionen auch abzulesen sind, richtet sich der Fokus im Folgenden, sondern auf wirkmächtige Konzeptionen von „Männlichkeit“, die den kritischen Blick zeitgenössischer professioneller Leser bei der Einschätzung sowohl von Bachmanns als auch Celans Lyrik lenken.
2 Doppeltes Spiel. Bachmann, Celan und die Kritik Ich bin oft sehr bitter, wenn ich an Dich denke, und manchmal verzeihe ich mir nicht, dass ich Dich nicht hasse, für dieses Gedicht, diese Mordbeschuldigung, die Du geschrieben hast. Hat Dich je ein Mensch, den Du liebst, des Mordes beschuldigt, ein Unschuldiger? Ich hasse Dich nicht, das ist das Wahnsinnige, jedoch, wenn je etwas gerad und gut werden soll: dann versuch auch hier anzufangen, mir zu antworten, nicht mit Antwort, sondern [sic] mit keiner schriftlichen, sondern im Gefühl, in der Tat.22
Diese Stelle aus einem nicht abgesandten Briefentwurf an Paul Celan formuliert Ingeborg Bachmann im Herbst 1961. Im Herzzeit-Band ist er als eines der letzten brieflichen Zeugnisse abgedruckt, darauf folgen nur noch drei Mitteilungen von ihr, eine vom 24. Oktober desselben Jahres, eine Anfang Dezember; knappe Weih-
Bini Adamczak: Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende. Frankfurt a. M. 2017 (edition suhrkamp 2721). Für den Hinweis auf Adamczaks Buch danke ich Didi Neidhart. Pierre Bourdieu: Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital – Soziales Kapital. In: Ders.: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Schriften zu Politik & Kultur 1. Hg. v. Margareta Steinrücke. Aus dem Französischen v. Jürgen Bolder unter Mitarb. v. Ulrike Normann u. a. Hamburg 1992, S. 49–79, hier S. 51. Ingeborg Bachmann an Paul Celan, Zürich, nach dem 27. September 1961, nicht abgesandt, in Bachmann/Celan, Herzzeit, S. 152–156, hier S. 156.
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nachtsgrüße von Bachmann und Max Frisch an Celan und seine Frau Gisèle Celan-Lestrange beschließen den Briefwechsel. Zwei weitere Kontaktversuche Celans – ein Brief vom September 1963 und ein weiterer, der auf Juli 1967 datiert – bleiben unbeantwortet. Die von Bachmann in dem Briefentwurf erwähnte „Mordbeschuldigung“ bezieht sich auf Celans Gedicht Wolfsbohne, mit dem er zwei Jahre zuvor, im Oktober 1959, auf eine Rezension von Günter Blöcker über seinen Gedichtband Sprachgitter reagierte, die Celan als durchsetzt von antisemitischen Untertönen wahrnahm.23 Blöcker nennt die Gedichte „kontrapunktische Exerzitien auf dem Notenpapier“ und greift den von H. E. Holthusen einige Jahre zuvor geprägten Celan-Topos vom „Fremdling und Außenseiter der dichterischen Rede“24 auf: als Dichter habe Celan „der deutschen Sprache gegenüber eine grössere Freiheit als die meisten seiner dichtenden Kollegen. Das mag an seiner Herkunft liegen. Der Kommunikationscharakter der Sprache hemmt und belastet ihn weniger als andere.“25 Blöcker spricht den Gedichten jeden Realitätsbezug ab: „Celans Metaphernfülle ist durchweg weder der Wirklichkeit abgewonnen, noch dient sie ihr. [...] Seine Bildersprache lebt von eigenen Gnaden.“ Entscheidend für Celans Gedichte sei nicht die „Anschauung“, sondern die „Kombinatorik“; Blöcker konstatiert einen „Mangel an dinghafter Sinnlichkeit“ und stellt fest: „Uns wollen diejenigen seiner Gedichte am überzeugendsten scheinen, in denen er die Fühlung mit der ausserhalb seines kombinationsfreudigen Intellekts gelegenen Wirklichkeit nicht ganz aufgegeben hat.“26 Wolfsbohne entstand kurz nachdem Blöckers Rezension erschienen war.27 Bachmann, die damals mit Max Frisch in Zürich lebte, wurde von Celan in der Sache vergeblich kontaktiert – sie war zu dieser Zeit in Deutschland, wo sie an der Tagung der Gruppe 47 auf Schloss Elmau teilnahm. Er schickte das Gedicht an seinen Lektor Rudolf Hirsch, sprach sich allerdings im Dezember gegen eine Veröffentlichung aus – es sei „zu privat“. Die „Mordbeschuldigung“, von der bei Bachmann die Rede ist, findet sich in der vierten Strophe:
Günter Blöcker: Gedichte als graphische Gebilde. In: Der Tagesspiegel, Berlin, 11. Oktober 1959, im Folgenden zitiert nach dem Wiederabdruck in Bachmann/Celan, Herzzeit, S. 124 f. Hans Egon Holthusen: Fünf junge Lyriker. In: Ders.: Ja und Nein. Neue kritische Versuche. München 1954, S. 124–165, hier S. 154 (es handelt sich um eine erweiterte Fassung des ursprünglichen Textes, der zuerst erschienen ist in: Merkur 8 (1954), S. 384–390. Blöcker, Gedichte als graphische Gebilde, S. 124. Blöcker, Gedichte als graphische Gebilde, S. 124. Zur Datierung vgl. Paul Celan: Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Mit den zugehörigen Radierungen von Gisèle Celan-Lestrange. Hg. u. kommentiert von Barbara Wiedemann. Berlin 2018, S. 1071.
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(Weit, in Michailowka, in Gaissin, in der Ukraine, wo sie mir Vater und Mutter erschlugen: was blühte dort, was blüht dort? Welche Blume, Mutter, tat dir dort weh mit ihrem Namen? Mutter, dir, die du Wolfsbohne sagtest, nicht: Lupine. Gestern kam einer von ihnen und tötete dich zum andern Mal in meinem Gedicht.28
Dass Bachmann die Lupinen auf ihr Gedicht Die gestundete Zeit bezogen hat, liegt nahe. Weder die „Mordbeschuldigung“ noch die „Wolfsbohne“ verweisen indessen direkt darauf. Die Lupinen-Stelle ist mit Blick auf den unmittelbaren ‚Auslöser‘ für das Gedicht – Blöckers Rezension von Sprachgitter – vielmehr in Zusammenhang mit einem älteren Text des Kritikers in Beziehung zu setzen, nämlich mit einer Rezension, die wesentlich zu Bachmanns Ruhm als Lyrikerin beigetragen hatte: In seiner 1954 erschienenen Kritik Lyrischer Schichtwechsel sieht Blöcker mit Bachmann „einen neuen Stern am deutschen Poetenhimmel“ aufgehen und nobilitiert sie, indem er sie auf Augenhöhe mit Gottfried Benn und Brecht stellt, endgültig als die deutschsprachige Nachwuchsdichterin.29 Rund ein Jahr nach Erscheinen ihres Debüts Die gestundete Zeit schrieb er damals: „Zum Unterschied von vielen
Paul Celan: Wolfsbohne. In: Ders.: Die Gedichte, S. 419–421, hier S. 419 f. Günter Blöcker: Lyrischer Schichtwechsel. In: Süddeutsche Zeitung, 13. November 1954. Das „lyrische Jahr 1953/54 habe „alle Aussicht, in die Literaturgeschichte einzugehen, und zwar aus doppeltem Grund“: es habe „uns“ das „Ereignis“ Bachmann beschert sowie die Destillationen Benns. Diesem Zusammenhang wurde bislang in der Forschung keine Beachtung geschenkt. Vgl. den Kommentar zu Bachmanns nicht abgesandtem Entwurf (Brief Nr. 191) in Bachmann/Celan, Herzzeit, S. 342, dort nur der Hinweis, dass sich die „Mordbeschuldigung“ in Strophe vier nicht auf Bachmann, sondern auf Blöckers „Gedichte als graphische Gebilde“ und seine dortigen Aussagen über die Todesfuge bezieht. Wann bzw. auf welchem Weg Bachmann das Gedicht las bzw. hörte, ist nicht eindeutig zu klären, möglicherweise Anfang 1960. Am 19. Februar 1960 schreibt Bachmann an Celan, sie glaube, dass es, „nach allem, was geschehen ist, [...] für uns kein Weiter mehr gibt.“ Celan notiert oben links auf dem Kuvert handschriftlich „Bravo, Blöcker! / Bravo, Bachmann! / 20.2.1960“ (Zitiert nach Bachmann/Celan, Herzzeit, S. 325).
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ihrer lyrischen Zeitgenossen bedient Ingeborg Bachmann sich kaum je des Jargons und der Vulgärsprache. Sie hält sich durchaus fern von lyrischer Halbseide, Drugstore-Poesie und allem, was nach wohlfeiler, leicht abzuguckender Modernität aussieht.“30 Ihr „lyrische[r] Plakatstil von hämmernder Eindringlichkeit“ sei seit Brecht „in der deutschen Literatur“ nicht mehr anzutreffen gewesen. Den Lupinen-Vers aus Bachmanns Gedicht Die gestundete Zeit zitiert Blöcker in diesem Text gleich zwei Mal: „In ihrem berühmtesten Gedicht wird die Zeit gestundet, auf Widerruf gestundet wie eine Summe Geldes: ‚Es kommen härtere Tage. Die auf Widerruf gestundete Zeit wird sichtbar am Horizont.‘ Die Lupinen werden gelöscht wie eine Lampe: ‚Jag die Hunde zurück. Wirf die Fische ins Meer. Lösch die Lupinen!‘ In einem anderen Gedicht hängen die Glocken in den Strängen der Stille“.31 Indem Celan Blöckers Lyrischer Schichtwechsel in Wolfsbohne nachhallen lässt, ruft er 1954 auf und damit jenes Jahr, in dem mit Blöckers Rezension und dem berühmten Artikel im Spiegel mit Bachmanns Porträt auf der Titelseite zwei Publikationen erschienen, die ihren Ruhm als lyrische Stimme ihrer Generation nachhaltig begründen sollten.32 Er ruft eine Geschichte auf, die er mit Bachmann teilt, aber nicht mit ihr allein. Spätestens seit Niendorf handelte es sich nicht um ein Liebes- bzw. Freundschaftsverhältnis zwischen zwei Menschen, sondern um ein ‚Dreiecksverhältnis‘, wobei die dritte Partei – Kritiker wie Blöcker oder Hans Egon Holthusen – permanent von außen auf die Zweierbeziehung einwirkte, und zwar indirekt, eben in der Funktionalisierung von Bachmanns Gedichten, um Celans Dichtung zu diskreditieren. Die Kritiker spielten ein doppeltes Spiel, indem sie in ihre positiven Rezensionen zu Bachmanns Gedichten Zuschreibungen einbauten, die Celans Lyrik implizit denunzierten – und zwar ex negativo, indem alles, was Bachmanns Lyrik auszeichne – und das, was sie zu ihrem Vorteil zu vermeiden wisse –, sich im Umkehrschluss auf Celans Lyrik beziehen ließ.33 Gleichzeitig sahen die Kritiker, wie Barbara Wiedemann gezeigt hat, über die intertextuellen Bezüge zu Celan-Gedichten bei Bachmann hinweg, wo diese
Blöcker, Lyrischer Schichtwechsel. Blöcker, Lyrischer Schichtwechsel. Die Wendung „Glocken in den Strängen der Stille“ stammt aus Bachmanns Ein Monolog des Fürsten Myschkin zu der Ballettpantomime „Der Idiot“. N. N. [Peter Dreeßen]: Stenogramm der Zeit. In: Der Spiegel, 18. August 1954, S. 26–29. Die Bachmann-Forschung identifizierte den Verfasser als Klaus Wagner, tatsächlich handelt es sich um Peter Dreeßen. Vgl. dazu „halten wir einander und halten wir alles fest“. Ingeborg Bachmann, Ilse Aichinger, Günter Eich. Der Briefwechsel. Hg. v. Irene Fußl und Roland Berbig. Mit einem Vorwort von Hans Höller. München, Berlin 2021 (Ingeborg Bachmann. Werke und Briefe. Salzburger Bachmann Edition. Hg. v. Irene Fußl und Uta Degner. Unter Mitarbeit von Silvia Bengesser), S. 321 f. Vgl. Wiedemann, Bachmann als Lyrikerin im Zeichen Paul Celans.
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doch vor allem den ersten Band Die gestundete Zeit durchziehen. Im Hinblick auf den von Blöcker in Lyrischer Schichtwechsel zitierten Vers aus Bachmanns Ein Monolog des Fürsten Myschkin, „hängen die Glocken in den Strängen der Stille“, bemerkt sie zurecht: Hätte es sich um Verse von Yvan Goll gehandelt – auch deshalb ist die Blindheit der Rezensenten so erstaunlich, oder gerade deshalb nicht? – hätte sich die Kritik nicht gescheut, einen solchen Vers neben Celans „schwangen die Hämmer frei im Glockenstuhl deines Schweigens“ aus „Zähle die Mandeln“ zu stellen und „haltet den Dieb“ zu schreien, wohlgemerkt, ohne zu überlegen (und das sollte man!), ob wir es hier mit einer gewollten Anspielung oder womit auch immer zu tun haben. Celan wäre ohne weiteres als unkreativer Plagiator denunziert worden[.]34
Dass dies eben nicht geschehen sei, sei umso bemerkenswerter, als zu diesem Zeitpunkt bereits ein Teil der Rezensenten von den gegen Celan erhobenen Plagiatsvorwürfen wusste. Dennoch loben die Kritiker ausdrücklich „die ‚eigene Form‘“ und betonen „fast euphorisch die ‚eigene Kategorie‘“, in der die Dichterin einzuordnen sei.35 Blöcker unterstreicht bereits 1954 an mehreren Stellen Bachmanns Originalität: „So wenig sie dazu beiträgt, die Legion der [...] BennNachahmer zu vergrößern, so sicher ist sie unter den Jüngeren diejenige, die seine lyrischen Eroberungen fortsetzt.“36 Im Gegensatz dazu verweist Holthusen etwa im Nachwort zu seiner gemeinsam mit Friedhelm Kemp herausgegebenen Anthologie Ergriffenes Dasein auf die vermeintliche Rückständigkeit von Celans dichterischem Ausdruck: „[E]in ganz neues, auf die Situation von 1920 nicht mehr bezogenes Muster ist nirgends zu finden; auch wo die surrealistische Manier mit Glück gemeistert wird, wie bei dem jungen Paul Celan, da werden poetische Möglichkeiten genutzt, die schon vor dreißig Jahren gestiftet worden sind.“37 Holthusens Rezeption von Celans Lyrik ist besonders unheilvoll für die weitere Celan-Kritik. Er etabliert Gemeinplätze, die in der Folge von anderen Rezensenten übernommen wurden. Diese betreffen die Einordnung des Werks in eine romantische Tradition sowie die Kritik an der ‚willkürlichen‘, realitätsfernen Phantastik seiner Gedichte. In seinem im Mai 1954 publizierten Aufsatz Fünf junge Lyriker, einer Sammelbesprechung zu Gedichten von Heinz Piontek, Walter Höllerer, George Forestier, Albert Scholl und Paul Celan, stellt Holthusen mit
Wiedemann, Bachmann als Lyrikerin im Zeichen Paul Celans, S. 192. Wiedemann, Bachmann als Lyrikerin im Zeichen Paul Celans, S. 193. Blöcker, Lyrischer Schichtwechsel. Hans Egon Holthusen, Friedhelm Kemp: Nachwort zur ersten Auflage (1953). In: Dies. (Hg.): Ergriffenes Dasein. Deutsche Lyrik des zwanzigsten Jahrhunderts. Erw. Ausgabe. 11. Aufl. Ebenhausen bei München 1965, S. 397–405, hier S. 403.
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Blick auf Celans Gedichte fest, diese hätten keinerlei Bezug zur Wirklichkeit; es handle sich um reine Sprachspielereien: „Die Verstehbarkeit solcher Gedichte scheint abhängig zu sein von einem irrationalen Kontakt zwischen Autor und Leser. Indem der Autor eine absolute Freiheit des Phantasierens für sich in Anspruch nimmt, räumt er dem Leser eine nicht weniger absolute Freiheit des Verstehens ein.“38 Die Rede ist von der „blaue[n] Blume einer rebellischen Romantik“.39 Und mit Bezug auf die Todesfuge heißt es: „Die Frage: ‚Was will er damit sagen?‘ kann zunächst einmal dispensiert werden: zwischen der unbedingten Willkür der dichtenden Phantasie und der entsprechenden Willkür der verstehenden Phantasie kann der Sinngehalt eines Gedichts als etwas unbestimmt Schwebendes nur erahnt werden.“40 Es sei an dieser Stelle noch einmal auf Bachmanns nicht abgesandten Briefentwurf vom Herbst 1961 verwiesen. Barbara Wiedemann sieht in diesem Briefentwurf eine „Bankrott-Erklärung für die Freundschaft zwischen den beiden“.41 Bachmann, so Wiedemann, stelle sich auf eine Stufe mit Claire Goll, akzeptiere sie doch „Celans Opferstatus nicht mehr als unveränderliche Tatsache“; Bachmanns Briefentwurf zeige vielmehr, „dass sie sich selbst als das eigentliche Opfer, und zwar als das Opfer eines ‚Juden‘, fühlt.“42 Abermals wird hier eine Bewertung von Bachmanns Verhalten aus moralischer Perspektive vorgenommen.43 Wiedemann stößt sich vor allem daran, dass die Autorin Analogien zwischen ihrer eigenen Situation als ‚Opfer‘ der Kritik und derjenigen Celans zieht, indem sie auf Blöckers Verriss ihres Kleist-Librettos Der Prinz von Homburg und ihres Erzählungsbandes Das dreißigste Jahr verweist, der kurz zuvor unter dem Titel „Nur die Bilder bleiben“ im Septemberheft des Merkur erschienen war.44 Ihre Argumentation stütze Bachmann dadurch, so Wiedemann, „dass sie sich
Holthusen, Fünf junge Lyriker, S. 156. Holthusen, Fünf junge Lyriker, S. 161. Holthusen, Fünf junge Lyriker, S. 157. Barbara Wiedemann: „du willst das Opfer sein“. Bachmanns Blick auf Celan in ihrem nicht abgesandten Brief vom Herbst 1961. In: Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Historischpoetische Korrelationen. Hg. v. Gernot Wimmer. Berlin/Boston 2014 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte. Bd. 145), S. 42–70, hier S. 64. Wiedemann, „du willst das Opfer sein“, S. 64. Sie befördert damit eine Erregungskurve, die aus der Rezeption des Briefwechsels erwachsen ist: „In fast allen Rezensionen wird deutlich, dass die Autoren meinen, Ingeborg Bachmann gegen Celan verteidigen zu müssen – die Bachmann-Imago vom ‚zarten, beschützenswerten Mädchen‘ ist immer noch erstaunlich wirksam –, und eben froh sind, dass sie in diesem Brief zur Selbstverteidigung übergeht.“ (Wiedemann, „du willst das Opfer sein“, S. 65). Günter Blöcker: Nur die Bilder bleiben. In: Merkur (1961), S. 882–886.
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als Vergleichsmodell neben ihn stellt, ja, als gutes Vorbild anbietet.“45 Es geht also letztlich um die Illegitimität dieses Vergleichs.46 Spricht Bachmann hier Celan aber tatsächlich seinen jüdischen Opferstatus ab, indem sie ihre negativen Erfahrungen mit der Kritik den seinen gleichstellt und damit die antisemitische Schlagseite Blöckers eskamotiert? Verweigert sie ihm ihr Verständnis? Statt individuelles Verhalten nach moralischen Gesichtspunkten zu bewerten, wären die Aporien zu berücksichtigen, mit denen sowohl Bachmann als auch Celan im Kontext der Lyrik-Rezeption um 1960 konfrontiert waren. Es geht dann nicht darum zu klären, wer das ‚wirklichere‘ Opfer war, sondern welche Mechanismen symbolischer Gewalt sowohl auf Bachmann als auch auf Celan einwirkten. Wiedemann zufolge lege Blöcker in seinem Verriss von Bachmanns Erzählungsband Das dreißigste Jahr qualitative Kriterien die Texte betreffend an, wohingegen er zwei Jahre zuvor im Fall von Celans Sprachgitter allein nach antisemitischen Gesichtspunkten argumentiert habe: „Celan echauffiert sich daher keineswegs aus verletzter Eitelkeit, wie ihm Max Frisch dies nahe legt, sondern weil ihn Blöcker als ‚Juden‘ abqualifiziert und gleichzeitig seine Gedichte, die engstens mit der Jüdischen Katastrophe, also mit der Lebensgeschichte des Traumatisierten zusammenhängen, als ‚Geklimper‘ abtut.“47 Wiedemann geht nicht näher auf Blöckers Bachmann-Rezension ein, dabei ist der Text aufschlussreich im Gesamtzusammenhang der hier untersuchten Konstellation. Blöckers Verriss von Das dreißigste Jahr und Der Prinz von Homburg und mehr noch sein Lob von Bachmanns Die gestundete Zeit, das er in dieser Rezension im Gestus des Bedauerns ob der weiteren literarischen Entwicklung Bachmanns noch hymnischer vorbringt als 1954 in „Lyrischer Schichtwechsel“, offenbart eine geschlechterspezifische Dimension als maßgeblich für die Bewertung der frühen Lyrik Bachmanns, die im Umkehrschluss auch auf Blöckers Aversion gegen Celans Gedichte neues Licht wirft. Blöcker verweist in „Nur die Bilder bleiben“ auf Bachmanns „kleidsame[] Geste einer Unwichtigtuerin“; „Zweifel an der Echtheit dieses Dichtertums schienen vorsorglich schon durch die Attitüde der Untertreibung abgewehrt“; dennoch regen sich solche Zweifel, so Blöcker weiter, „und dies nicht erst nach dem ‚Homburg‘-Libretto, das allerdings nicht einmal als Gefälligkeit für den befreundeten Komponisten zu entschuldigen ist.“48 Blöckers Rezension kann als eine Art Schlüsseltext gelesen werden; er führt zur Entladung all der bis dahin
Wiedemann, „du willst das Opfer sein“, S. 46. Vgl. Wiedemann, „du willst das Opfer sein“, S. 51. Wiedemann, „du willst das Opfer sein“, S. 51. Blöcker, Nur die Bilder bleiben, S. 882.
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aufgestauten Spannungen zwischen Bachmann und Celan. Bachmanns Enttäuschung resultiert aus Celans Ignoranz gegenüber der Kränkung, die sie durch diese Kritik erfährt und mehr noch, aus seiner Weigerung, sich mit Bachmann zu solidarisieren.49 Diese Weigerung könnte innerhalb der hier geschilderten intrikaten Gemengelage nicht unwesentlich mit Blöckers Aussagen in Bezug auf Bachmanns Lyrik zusammenhängen, die den gesamten Mittelteil der Rezension dominieren. Blöcker gibt dem Debütband Die gestundete Zeit ganz klar den Vorrang gegenüber der Anrufung des Großen Bären, und das nicht ohne erneute implizite Seitenhiebe auf Celans Poetik: Der Bachmann-Ton, wie er in harter Reinheit in den besten Gedichten der ‚Gestundeten Zeit‘ vernehmbar wurde, hält sich frei von den sprachlichen Selbstbehexungen der nachrilkeschen und nach-bennschen Lyrik. Es ist ein knapper, fester, zuweilen bedrohlicher Ton, der in Bildern von heftiger Anschaulichkeit Tatbestände mitteilt.50
Die Tatsache, dass Blöcker fast die Hälfte des Umfangs seiner Rezension zu Das dreißigste Jahr und Der Prinz von Homburg darauf verwendet, über Bachmanns lyrisches Debüt zu schreiben, das acht Jahre zuvor erschienen war, lässt unweigerlich die Frage nach der Funktion dieser Schwerpunkt-Verlagerung aufkommen. In autoritärer Manier übt er Kritik an Bachmanns literarischer Entwicklung der vergangenen Jahre. Er macht ihre Qualitäten als Autorin an dem gelungenen ersten Lyrikband fest und verwirft zugleich den gesamten Rest ihrer literarischen Produktion. Er hebt besonders die Entschlossenheit und Härte der ersten Gedichte hervor: Schicksalsbereitschaft und radikale Illusionslosigkeit werden in Metaphern eingelassen, die wie Beckenschläge in die schmucklose Komposition gesetzt sind. Eine befehlende Kraft wohnt diesen Versen inne. Sie verschmähen (einstweilen noch) die Zuflucht beim Reim wie die Scheinsicherheit einer wohlgefügten Melodik. Mit hartem Sprachbegriff wird der Leser [...] auf „härtere Tage“ vorbereitet, ermahnt, „den Schuh zu schnüren“ und die „Lupinen zu löschen“ [...]. Das leidige Gefühl von Verseschmiederei, von Sprachbastelei und poetischer Raumgestaltung oder gar von dekorativ geordneten Lesefrüchten, das einen großen Teil der zeitgenössischen Gedichtproduktion als eine Sache ohne Existenzgrund erscheinen läßt, entfällt völlig.51
Vgl. Bachmann an Celan im Briefentwurf vom September 1961: „Du hast mich einmal gefragt, was ich von der Kritik von Blöcker halte. Jetzt gratulierst Du mir zu meinem Buch, bzw. Büchern, und ich weiss nicht, ob da die Blöckerkritik eingeschlossen ist, die andern Kritiken alle, oder meinst Du, dass ein Satz gegen Dich mehr bedeutet als dreissig Sätze gegen mich? Meinst Du es wirklich?“ (Bachmann an Celan, 27. September 1961, nicht abgesandter Briefentwurf. In: Bachmann/Celan, Herzzeit, S. 154). Blöcker, Nur die Bilder bleiben, S. 884. Blöcker, Nur die Bilder bleiben, S. 884 f.
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Blöckers maskulinistische Zuschreibung einer heroischen Entschlossenheit kippt zuweilen ins Parodistische, etwa wenn es heißt, Bachmann habe mit „hochgemute[r] Kraft“, „Kühnheit“ und „amazonische[r] Selbstsicherheit“ gleich in ihren ersten Gedichten die Sprachverzweiflung überspielt, „indem sie sich ihrer bediente und sich von ihr wie von einem Katapult in sprachliches Ödland befördern ließ, das sie dann gewissermaßen mit bloßen Händen zu bestellen begann“.52 Kritik übt Blöcker vor allem an der Erzählung Alles. Während Bachmann die ‚männliche Haltung‘ in manchen ihrer Gedichte überzeugend umgesetzt habe – Das Gedicht kann zuweilen durch Masken sprechen, sie färben den Klang und rufen eine Person herauf, die der Dichter auch ist. So hat Ingeborg Bachmann ihre Verse gelegentlich nicht nur in männlicher Tonart, sondern ausdrücklich als Mann artikuliert („Curriculum Vitae“)
–, werde die Ich-Erzählung des Vaters in Alles „durch solches Sprechen mit verstellter Stimme fast zu Fall gebracht“, sei doch [b]etont herausgekehrte Subjektivität [...] im strengen Haus der Prosa ein Formverstoß; sie bedeutet ganz allgemein [...] nicht Facettierung, sondern Aufweichung. Um wieviel mehr gilt das für das prätendierte männliche Ich dieser Erzählung, das uns mit falschem Raunen in die inneren Bezirke maskuliner Erfahrung einzuweihen wünscht.53
Die autoritären ‚Übergriffe‘ der Kritiker, so viel sollte an dieser Stelle deutlich geworden sein, betreffen um 1960 Bachmann genauso wie Celan. Während Blöcker Bachmann tendenziell auf den als maßgebend erachteten ‚männlichen‘ Gestus des Debütbandes Die gestundete Zeit festschreibt, den er in all ihren nachfolgenden Werken vermisst, lassen sich im Umkehrschluss viele Topoi der zeitgenössischen Celan-Kritik einem Paradigma wirkmächtiger historischer Konstruktionen von inferiorer ‚Weiblichkeit‘ zuordnen. Die Tatsache, dass die geschlechterspezifischen Zuschreibungen, mit denen die Kritiker die jeweiligen Œuvres belegen, eine Dichterin und einen Dichter betreffen, legt eine gendertheoretische Beleuchtung nahe, umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass diesem Aspekt in der Forschung bislang keine Beachtung geschenkt wurde. Im Dreiecks-Verhältnis zwischen Bachmann, Celan und der Kritik stehen zeitgenössische hegemoniale Konzepte von ‚Männlichkeit‘ in einem intrikaten Verhältnis zur Zu- bzw. Aberkennung symbolischen Kapitals. Bachmann sieht sich im September 1961, als sie den Briefentwurf formuliert, nicht „als Opfer eines Juden“, wie Wiedemann meint, sondern ist verletzt durch die mangelnde
Blöcker, Nur die Bilder bleiben, S. 884. Blöcker, Nur die Bilder bleiben, S. 886.
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Solidarität Celans ihr gegenüber im Hinblick auf die Frontstellung, in der sie sich nun wiederfindet; sie legt damit sozusagen eine übergeordnete Kategorie an, die an den Bereich der Ethik rührt und Celans affektintensive Autorschaft ebenso umgreift wie ihre ‚weibliche‘. Blöckers Kritik an Bachmanns ‚Verweichlichung‘, die den Verlust ihrer männlichen Härte und Kraft beklagt, wie er ihn in Die gestundete Zeit noch verwirklicht sah, geht über das Ästhetische hinaus und betrifft eine grundlegendere ‚Haltung‘, die im Folgenden aus beziehungstheoretischer Perspektive in den Blick gerückt werden soll.
3 Inkompatible Beziehungsweisen Nachdem im Winter 1950 der Versuch, gemeinsam in Paris zu leben, gescheitert war, versucht Bachmann, Celan von Wien aus in seinen Bestrebungen zu unterstützen, einen Verlag für seine Gedichte zu finden.54 Zu einem Wiedersehen kommt es erst im Mai 1952 bei der Tagung der Gruppe 47 in Niendorf. Die Tagungsteilnahme markiert für Celan den Anfang einer überaus schwierigen Beziehung zum deutschen Literaturbetrieb. Dass Celans Eintritt in das westdeutsche literarische Feld als Jude und Überlebender der NS-Zeit alles andere als eine neutrale Ausgangslage voraussetzte, wurde in der Forschung umfassend herausgearbeitet.55 Auf Bachmanns und Celans „kraß unterschiedliche[] Stellung in der literarischen Öffentlichkeit“ macht auch Sigrid Weigel aufmerksam: „Die literaturöffentliche Konstellation Bachmann-Celan beginnt erst mit ihrem gleichzeitigen Erscheinen im westdeutschen Literaturbetrieb, Niendorf 1952 [...]. Und mit diesem Datum beginnt zugleich eine schwere Belastung, die aus der so unterschiedlichen Resonanz beider Dichterstimmen im Nachkriegsdeutschland auf sie zukommt.“56 Die meisten Kritiker hoben die ‚habituelle‘ und poetische Alterität hervor; in Niendorf stieß seine Lesung zum Teil auf massive Ressentiments bei den anderen Tagungsteilnehmern, wie Celan seinem Freund Klaus Demus berichtet:
Zur Geschichte der Liebesbeziehung vgl. Hans Höller/Andrea Stoll: Das Briefgeheimnis der Gedichte. Poetologisches Nachwort. In: Bachmann/Celan: Herzzeit, S. 224–243. Vgl. etwa Klaus Briegleb: Ingeborg Bachmann, Paul Celan: Ihr (Nicht-)Ort in der Gruppe 47 (1952–1964/65). Eine Skizze. In: Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Poetische Korrespondenzen: Vierzehn Beiträge. Hg. v. Bernhard Böschenstein u. Sigrid Weigel. Frankfurt a. M. 2000, S. 29–81. Weigel, Ingeborg Bachmann, S. 435 f.
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es ist so schwer zu sagen, was ich von all dem halten soll – es war aufregend und dennoch beinah ganz ohne Niveau. Inge hat mich wieder sehr enttäuscht. Sie hat mich nämlich wieder verleugnet und es sogar so weit gebracht, sich gegen mich ausspielen zu lassen: ihre Gedichte, nicht die meinen, blieben die gültigen, und sie ließ es sich, lächelnd vor Glück, gefallen, als die Dichterin angesprochen zu werden ... Und dieser Erfolg hatte nun keineswegs rein literarische Ursachen. Und dann kam sie und fragte mich, ob ich sie heiraten wolle. Und kam und bat mich um einen Titel für eines ihrer Gedichte, das nun in der ‚Literatur‘, der Zeitung der Gruppe 47, erschienen ist. Ich fand diesen Titel – ich griff eine ihrer Gedichtzeilen heraus – und man beglückwünschte sie dazu. Sie nahm das an und freute sich. [...] Ich war dort oben beleidigt worden: H.W. Richter, der Inge nach Hamburg gebracht hatte, sagte nämlich, meine Gedichte seien ihm auch darum so zuwider gewesen, weil ich sie im „Tonfall von Goebbels“ gelesen hätte [x nach der Lesung der Todesfuge!]. Und so etwas muß ich erleben! Und zu so etwas schweigt Inge, die mich zu dieser Reise mitveranlaßt hatte!57
Das Verhältnis zwischen Celan und Bachmann war bereits zu diesem frühen Zeitpunkt von dem Konkurrenzverhältnis überschattet, in dem sie als Dichter und Dichterin standen. Beide waren noch weitgehend unbekannt, der Positionierungsdruck groß.58 Nach Niendorf bricht Celan den Briefkontakt zu Bachmann ab; sie schreibt ihm im Juli, sie wolle nicht länger auf einen Brief von ihm warten und nimmt ihre Rolle als Förderin seiner Arbeiten ein. Er solle sich mit der DVA in Stuttgart in Verbindung setzen und das Manuskript von Mohn und Gedächtnis außerdem an Rowohlt schicken; sie habe ihres „natürlich nicht abgeschickt“, Niendorf, wo man sie gegeneinander „ausgespielt“ habe, dürfe sich nicht wiederholen: „Ich werde Rowohlt in diesen Tagen endgültig ab-
Paul Celan an Klaus Demus, Frankfurt, 31. Mai 1952, in: Paul Celan, Klaus Demus, Nani Demus: Briefwechsel. Mit einer Auswahl aus dem Briefwechsel zwischen Gisèle CelanLestrange und Klaus und Nani Demus. Mit einem Bildteil. Hg. und kommentiert v. Joachim Seng. Frankfurt a. M. 2009, S. 100–101, hier S. 100. Bei dem Gedicht handelt es sich um Dunkles zu sagen. Anfang Juni relativiert Celan seine harte Kritik an Bachmanns Verhalten, allerdings in einer Weise, die den ersten Brief nicht wirklich entkräftet: „Kläuschen, mein Brief war im Affekt geschrieben, er war zum Teil ungerecht und dumm. Inge hat eine so schöne silberne Stimme. Und außerdem steht ihr der neue Mantel so gut!“ (Celan an Demus, S. 101 f.). Celan lebte unter prekären finanziellen Bedingungen in einem kleinen Hotelzimmer in Paris; Bachmann ging ihrem ‚Brotberuf‘ beim Sender Rot-Weiss-Rot nach (für kurze Zeit stand auch eine Assistenzstelle am philosophischen Institut der Universität Wien zur Debatte), vom Schreiben zu leben, war jedoch zunächst undenkbar. Erst nachdem sie im Frühling 1953 den
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schreiben.“59 Celan antwortet weder auf diesen Brief noch auf weitere; erst im März 1953 sendet er ihr seinen Gedichtband Mohn und Gedächtnis, versehen mit der Widmung „Für Ingeborg, / ein Krüglein Bläue“. Bachmann bedankt sich erst Ende Juni 1953, weil sie, wie sie schreibt, den Mut nicht gefunden habe.60 Zwischenzeitlich hatte sie den Preis der Gruppe 47 in Mainz gewonnen. Sie teilt Celan mit, dass sie Wien im August verlassen werde, um in Italien als freie Schriftstellerin zu leben. Auch auf diesen Brief ist keine Antwort Celans überliefert; Bachmann erfährt schließlich von Klaus und Nani Demus, dass Celan eine Anthologie mit österreichischer Lyrik plant und schickt ihm vier Gedichte („Sterne im März“, „Fall ab, Herz, vom Baum der Zeit“, „Einem Feldherrn“ und „Große Landschaft bei Wien“), abermals reagiert er nicht, ebenso wenig wie auf die Übersendung ihres ersten Gedichtbands Die gestundete Zeit, den sie ihm im Dezember 1953 schickt, versehen mit einem seiner Verse als Widmung: „Getauscht, um getröstet zu sein“. Hans Werner Richters Aversion gegen Celans Vortragsweise wie generell die Bewertung seiner Lyrik durch die Kritik scheint eine Problematik zu berühren, die über bloße Geschmacksfragen im Ästhetischen hinausgeht. Sigrid Weigel schreibt über die unterschiedliche Aufnahme von Bachmann und Celan: Die Abwehr der (Ver-)Störung durch die Stimme Celans, die seinen Ort am Rande und jenseits der Gruppe begründet, und bald einsetzende Feier der ‚Dichterin‘, deren Bild mit Zügen des Exotischen koloriert wird, sind zwei Seiten einer Medaille: Unbehagen hier und behagliche Inbesitznahme eines jungen Talents dort. Eine Urszene, die die beiden Autoren in ihrem Ort im Literaturbetrieb voneinander distanziert, zugleich aber eine verschwiegene Verbindung zwischen ihnen stiftet.61
Virulente antisemitische Ressentiments spielen – bewusst und unbewusst – zweifellos eine gewichtige Rolle, die Konstellation ist damit jedoch nicht in all ihren Facetten erfasst. Celans affektintensives Verhältnis zur eigenen dichterischen Praxis wie zur Dichtung generell, das auch seine Vortragspraxis prägt, wird augenscheinlich als nicht kompatibel mit zeitgenössischen Haltungen angesehen, sowohl innerhalb des sozioästhetischen Zusammenhangs der Gruppe 47 als auch vonseiten arrivierter konservativer Kritiker wie Holthusen oder Blöcker. Blöcker favorisiert in Lyrischer Schichtwechsel den ‚kalten‘ Präzisionsprogrammatiker Gottfried Benn sowie Bertolt Brecht, der wie Benn von den „Verhaltensleh-
Preis der Gruppe 47 gewinnt, entscheidet sie sich für die Lebensform der ‚freien Schriftstellerin‘ und wagt den Schritt heraus aus der gesicherten Angestelltenexistenz. Ingeborg Bachmann an Paul Celan, 10. Juli 1952, in Bachmann/Celan, Herzzeit, S. 50. Ingeborg Bachmann an Paul Celan, 29. Juni 1953, in Bachmann/Celan, Herzzeit, S. 54. Weigel, Ingeborg Bachmann, S. 437.
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ren der Kälte“ (H. Lethen) in der Zwischenkriegszeit geprägt war. Celans affektive Beziehungsweise ist weder kompatibel mit der Haltung ehemaliger deutscher ‚Landser‘62 noch mit derjenigen von elitistischen arrivierten Kritikern wie Curt Hohoff63 oder Hans Egon Holthusen (beide Jahrgang 1913).64 Statt die Erklärung dieses Befremdens allein auf Celans jüdische Herkunft festzulegen und somit das antisemitische „othering“ der Kritiker zu perpetuieren, soll nach frühen Sozialisationserfahrungen gefragt werden, indem Celans ‚Einübung‘ in seine affektive Beziehungsweise rückgebunden wird an seine frühen Erfahrungen mit Spielformen eines utopischen Sozialismus in der Jugendzeit in Czernowitz. Ausgehend von Bini Adamczaks Studie Beziehungsweise Revolution interessieren im Folgenden „die in der Sphäre der Reproduktion ausgebildeten affektiven und sozialen Fertigkeiten (= Subjektivitäten) wie die jene hervorbringenden Modi des Sozialen (= Beziehungsweisen)“.65 Im Verhältnis zwischen Bachmann, Celan und den genannten Kritikern träfen somit zwei inkompatible habitualisierte Beziehungsweisen aufeinander: eine solidarische der affektiven, emphatischen Zugewandtheit und eine agonale der kalten Rationalität, die Celans (und schließlich auch Bachmanns) Affektivität als defizitär (‚romantisch‘, ‚irrational‘ und realitätsfern) bzw. ‚unmännlich‘ verwirft. Die Kategorie des „Geschlechts“ bringt Adamczak auch in ihrer Studie ins Spiel. Sie untersucht Beziehungspraxen in revolutionären Konstellationen um 1917 und um 1968 und interessiert sich dafür, wie sich revolutionäre Individuen untereinander verbanden, welche Subjektivitäten und Beziehungsweisen praktiziert und gefördert oder marginalisiert und verworfen wurden. Die Kategorie des Geschlechts wird dabei insofern bedeutsam, als Adamczak nach den jewei-
Vgl. auch Peter Goßens, Artikel „Reaktionen und Kritiken zu Lebzeiten“. In: CelanHandbuch, S. 16–20, hier S. 19: „Eine weitere Schwierigkeit dürfte auch die soldatische und damit auch politisch fragwürdige Biographie vieler Gruppenangehöriger gewesen sein: Das Soldatentum und die teilweise verdrängte Nähe zum Nationalsozialismus erweisen sich – das zeigen die frühe, von Hans Werner Richter herausgegebenen Anthologie Deine Söhne, Europa. Gedichte deutscher Kriegsgefangener (1947) ebenso wie Günter Grass’ spätes Eingeständnis seiner Mitgliedschaft in der SS (2006) – als ein konstitutiver Bestandteil der Gruppendynamik und ihrer ästhetischen Paradigmen. C. war als Jude und staatenloser Flüchtling in jedem Sinne ein Außenseiter, dessen Gedichte nicht wegen, sondern trotz oder besser: gegen die Gruppe 47 Erfolg hatten.“. Vgl. Curt Hohoff: Flötentöne hinter dem Nichts. In: Neue deutsche Hefte 1 (1954), H.1, S. 69–73. Hanne Lenz hatte mit Holthusen, der auch in Vorlesungen seine SS-Uniform trug, in München studiert. Von ihr wusste Celan über Holthusens Mitgliedschaft bei der SS. Vgl. Wiedemann, Ingeborg Bachmann als Lyrikerin im Zeichen Paul Celans, S. 200, Anm. 99. Adamczak, S. 173.
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ligen (re)aktivierten affektiven Ressourcen im revolutionären Prozess fragt, die in den historischen Konstruktionen von „Weiblichkeit“ bzw. „Männlichkeit“ gespeichert sind. Die Konstellation 1917 ff. beschreibt sie als „Universale Maskulinisierung“, jene um 1968 als „differentielle Feminisierung“. Adamczak analysiert die revolutionären Geschlechterverhältnisse als Verhältnisse, die zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, „Nahbeziehungen“ und „Fernbeziehungen“ geknüpft sind. In den Fokus rücken Relationen und Prozesse: Wenn Revolutionen Beziehungsweisen konstruieren, dann liegt es nahe, zu ihrer Untersuchung ein Feld zu wählen, in dem Beziehungen über einen weiten gesellschaftlichen Bereich, über zentrale soziale Grenzen hinweg, gesponnen werden. Eine der zentralen Fragen, die Revolutionen beantworten müssen, ist die der gesellschaftlichen Arbeits- und Affektteilung. Wie sollen Emotionalität und Rationalität, Intimität und Instrumentalität zueinander in Beziehung gesetzt, wie Beziehungen des Privaten und Öffentlichen, des Intimen und Anonymen miteinander vermittelt werden? Mit anderen Worten, wie sollen die sozialen Konstruktionen von Geschlecht rekonstruiert werden?66
Das „Geschlechterverhältnis“ interessiert Adamczak nicht als Verhältnis ‚zwischen den Geschlechtern‘. „Mann“ und „Frau“ gelten hier vielmehr im Anschluss an Butler als „von jenen Verhältnissen hervorgebracht.“ Sie versteht Geschlecht mit Joan Scott „nicht als Kategorie des Subjekts [...], nicht als Attribut oder Identität von sozialen Individuen oder Gruppen [...], sondern als Atmosphäre oder Ladung, die Körper wie Texte, Räume wie Dinge, Institutionen wie Sphären durchläuft, auflädt oder umschließt“.67 „Geschlecht“ bezeichnet bei Adamczak also überindividuelle Beziehungsweisen, die das Soziale strukturieren: „Geschlechterverhältnisse können soziale Bereiche statisch voneinander abgrenzen und zueinander ordnen oder diese Bereiche dynamisch passieren, transformieren und auflösen.“68 „Geschlecht“ erscheint aus dieser Perspektive als ein Reservoir an „historisch
Adamczak, S. 107. Adamczak, S. 107. Adamczak bezieht sich auf Joan Scott: Gender: A Useful Category of Historical Analysis. In: The American Historical Review 91 (1986), H. 5, S. 1053–1075. Adamczak, S. 107 f. Adamczak präzisiert: „Die revolutionären Wellen von 1917 und 1968 stellen solche Dynamisierungen dar, in denen das Geschlecht der Gesellschaft bewegt und verschoben wird. Da die Revolutionswellen durch Subjekte, Gruppen oder Klassen hindurchlaufen, lassen sie sich nicht so verstehen, als änderten sie lediglich die Beziehungen zwischen vorgefundenen und unveränderten Positionen, die Kräfteverhältnisse zwischen weiblichen und männlichen, heterosexuellen und homosexuellen, cis- und transgeschlechtlichen Subjekten etwa. Vielmehr rekonstituieren sie diese Positionen und Identitäten, laden soziale Räume geschlechtlich neu auf und verschieben sie in ihrer Ausformung und Begrenzung. Das Geschlechterverhältnis interessiert hier also, weil es im Herzen der Revolution liegt, im Zentrum der Neugestaltung der Gesellschaft [...]. Die geschlechtlichen Beziehungsweisen handeln, weil
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gewachsenen affektiven, habituellen, professionellen, kognitiven Qualifikationen und Praxen sowie Techniken und Formen sozialer Organisation. Geschlecht kann verstanden werden als spezifische Weise, sich aufeinander zu beziehen.“69 Dass sich die Weise, wie Celan sich auf andere bezieht, fundamental unterscheidet von hegemonialen Beziehungsweisen im literarischen Feld der 1950er Jahre in Deutschland, ist unübersehbar. Um 1960 wird Celan sein affektintensives Begehren nach Teilhabe und Gemeinschaft metapoetisch auf den Bereich der Dichtung lenken und mit der Meridian-Rede poetologisch eine Idealform der solidarischen Anerkennung und der affektiven Zugewandtheit formulieren: „Das Gedicht, so prekär und fragil es ist, es ist solidarisch; es steht zu dir, wenn sobald du dich, auf dich auf dich selbst besinnend, ihm zuwendest“70. Celan verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff der „Beziehungspunkte“.71 An anderer Stelle heißt es: „Das Gedicht ist die Gestalt gewordene Sehnsucht des Ich, das sich, indem es sich ausgrenzt, zu erkennen gibt; wir sind wörtlich da und vorhanden –“.72 Gedichte steuern auf ein Gegenüber zu, sie suchen ein ansprechbares, ein erreichbares „Du“, wobei [n]icht diese oder jene „erogene Zone“ des Anderen ansprechende Botschaft [ist, A.E.] – soll man hier nicht „message [...]“ sagen = sondern das gestalthaft der Gestalt des Andern Gegenübertretende; es ist Begegnung, begleitet vom Geheimnis der Freundschaft und der Liebe.73
Wo könnte nun der Ursprung liegen für Celans „affektive[] und soziale[] Fertigkeiten“, die im Westdeutschland der Nachkriegszeit zunächst nur bedingt einen Resonanzboden finden konnten? Woher stammen die Affekte und Bilder, die er nun vor allem poetologisch produktiv macht? Celan wurde in Czernowitz geboren, in einer „Gegend, in der Menschen und Bücher lebten“, wie es in seiner Dankesrede für den Bremer Literaturpreis heißt.74 Dort wurde er als Autor innerhalb seines jüdisch-bukowinischen Freundeskreises sozialisiert: C. war schon 1934/35 in Czernowitz Mitglied einer illegalen kommunistischen Jugendorganisation geworden und hatte aktiv an der Herausgabe einer ‚roten‘ Schülerzeitschrift in
sie die für diese Gesellschaft konstitutiven Grenzen überbrücken, von der Gesellschaft selbst: Gesellschaft als Ensemble von Beziehungen, sachlichster wie intimster.“ (Adamczak, S. 108). Adamczak, S. 108. Celan, Der Meridian, S. 201. Celan, Der Meridian, S. 205. Celan, Der Meridian, S. 115, H. v. m. Celan, Der Meridian, S. 138. Paul Celan: Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen. In: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Bd. 3: Gedichte III. Prosa. Reden. Hg. v. Beda Allemann und Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rolf Bücher. Frankfurt a. M. 2000, S. 185–186, hier S. 185.
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rumänischer Sprache mitgearbeitet. Er hatte mit Begeisterung Revolutionslieder gesungen und Schriften von Karl Marx, Karl Kautsky und Rosa Luxemburg sowie der Anarchisten Graf Pjotr Alekseevič Kropotkin und Gustav Landauer gelesen[.]75
Diese frühen Erfahrungen mit Versuchen einer praktischen Neugestaltung von Beziehungsweisen in seinem sozialen Zusammenhang als Jugendlicher und junger Erwachsener prägt auch Zeit seines Lebens Celans antiautoritäre politische Einstellung. Die jugendliche Begeisterung für einen utopischen Sozialismus resoniert im poetischen Utopismus der Meridian-Rede. Die Beschäftigung mit Landauers Schriften dürfte für Celan zeitlebens aufs Engste an die konkrete Situation geknüpft geblieben sein, in der die Lektüre gemeinschaftlich im Kollektiv stattgefunden hatte: Zahlreiche Jugendfreunde berichteten seinem Biographen der Kindheit und Jugend, seinem Landsmann Israel Chalfen, davon, dass der halbwüchsige Paul sich mit seinen Freunden an illegalen Treffen der ‚Antifaschistischen Jugend‘ beteiligte. Die Freundin Ilse Goldmann initiierte 1937 einen politischen Lesekreis im Elternhaus von Edith Horowitz, der Tochter eines Germanisten mit großer Bibliothek.76
Celan wird um 1960 an seiner affektiv-zugewandten und solidarischen Beziehungsweise festhalten, indem er sie in den Bereich der Dichtung verlagert und poetologisch produktiv macht. Es ist eine Zeit der Krise, in der er massiv unter den Exklusionsstrategien deutscher Kritiker leidet, als Celan Gustav Landauers utopischen Sozialismus für sich ‚wiederendeckt‘. Auf die Wichtigkeit dieser Haltung weist er selbst hin, wenn er im Meridian von sich als von einem „auch mit den Schriften Peter Kropotkins und Gustav Landauers Aufgewachsenen“ spricht.77 In seiner nachgelassenen Bibliothek befindet sich u. a. eine Ausgabe von Landauers Aufruf zum Sozialismus!, der von Martin Buber herausgegebene Band Der werdende Mensch mit Landauers Schriften zur Literatur sowie eine Wolfgang Emmerich: Autoren aus der DDR. In: Celan-Handbuch, S. 337–343, hier S. 338. Lydia Koelle: „Ein geistiges Konstituens seiner Existenz“. Paul Celan in der Spur Gustav Landauers. In: Blondzhende Stern. Jüdische Schriftsteller aus der Ukraine als Grenzgänger zwischen den Kulturen in Ost und West. Hg. u. mit einer Einleitung v. Kerstin Schoor, Ievgeniia Voloshchuk u. Borys Bigun. Göttingen 2020, S. 99–128, hier S. 101. Vgl. dazu die Erinnerungen von Edith Silbermann, geb. Horowitz: Begegnung mit Paul Celan. Erinnerung und Interpretation. Aachen 1993, S. 55 und passim. Celan, Der Meridian, S. 3. Vgl. dazu auch Bernd Auerochs: Kulturelle und religiöse Kontexte des Judentums, Mystik. In: Celan-Handbuch, S. 256–262, hier S. 256: „Dennoch wird man auch sagen können, dass die Identitätsbildung des jugendlichen Czernowitzer Gymnasiasten sich nicht vorrangig entlang von jüdischen Paradigmen vollzog. Die Initiation in die Welt der modernen europäischen Poesie sowie die (von manchen Zeugen als eher oberflächlich beschriebene) politische Sozialisation im linken, romantisch-anarchistischen Ideenspektrum waren wichtiger.“.
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Auswahlausgabe von 1968.78 Auf Landauer beruft sich auch Adamczak, die mit Blick auf dessen Schriften bemerkt: Gustav Landauers Erkenntnis, dass sich der Staat nicht zertrümmern, sondern nur durch andere soziale Beziehungen ersetzen lässt, ist nicht auf den Staat beschränkt. Sie trifft ebenso auf das Kapital zu, auf die Liebe, das Geschlecht, die Nation. Und so weiter. In den großen Revolutionswellen des 20. Jahrhunderts, jener von 1917 ff. und jener von 1968 ff., wurde das erkannt. Mehr oder weniger implizit, mehr oder weniger programmatisch wurde mehr verlangt als die Konstruktion einer veränderten Produktionsweise, einer veränderten objektiven ökonomischen Struktur und mehr verlangt als die Konstruktion neuer Menschen, anderer Bedürfnisse, neuer Subjektivitäten. Tatsächlich bemühten sich die Revolutionärinnen beider Revolutionswellen – ohne entsprechendes begrifflich epistemologisches Instrumentarium – darum, neue Beziehungsweisen zu schaffen. Darin sollten die Spaltung und die damit einhergehende Verkümmerung der herrschenden Beziehungsweisen aufgehoben werden.79
Die genuin gesellschaftspolitischen Implikationen treten bei Celan in den Hintergrund; wenn im Folgenden im Zusammenhang mit Celans Beziehungsweise das Attribut ‚kommunistisch‘ verwendet wird, dann bezieht sich dieses nicht auf seine ideologische Haltung, sondern auf seinen solidarisch-affektiven Beziehungsmodus.
4 Effeminierung – Maskulinisierung Unter Berücksichtigung von Celans früher Prägung lässt sich sein Verhältnis zu den Kritikern als Inkompatibilität von Beziehungsweisen beschreiben: Sein ins Literarisch-Poetische überführtes Begehren ist ein affektintensives Begehren nach Wärme und Solidarität, das in der mit anderen geteilten Liebe zur Literatur gründet. Das Begehren der Kritiker dagegen ist agonal strukturiert und schließt die als ‚irrational‘ markierten Bereiche von Affektivität und Emotionalität aus; ihre Beziehungsweise gehorcht der Affektkontrolle und dem ‚männlichen‘ Leistungsprinzip, das aus der Forderung nach ‚zeugender‘ Innovation im formalen Bereich spricht. In den Topoi der Celan-Kritik der 1950er Jahre schwingt untergründig nicht nur eine antisemitische Haltung mit, sie spannen auch ein Netz
Gustav Landauer: Aufruf zum Sozialismus! Berlin 1920; ders.: Der werdende Mensch. Aufsätze über Leben und Schrifttum. Im letztwilligen Auftr. des Verf. hg. v. Martin Buber. Potsdam 1921; ders.: Zwang und Befreiung. Eine Auswahl aus seinem Werk. Eingel. und hg. v. HeinzJoachim Heydorn. Köln 1968. Zu Gustav Landauers Bedeutung für Celan während der Studentenrevolte im Mai 1968 vgl. Koelle, „Ein geistiges Konstituens seiner Existenz“, S. 116–121. Adamczak, S. 275.
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aus zeitgenössischen Konzeptionen von defizitärer „Weiblichkeit“ auf. Diskursgeschichtlich betrachtet treffen beide Motive in einer tradierten antisemitischen Praxis der Effeminierung jüdischer Männlichkeit aufeinander. Welche Rolle kommt nun Ingeborg Bachmann in diesem Komplex zu? Sigrid Weigel zufolge reagierte man innerhalb der Gruppe 47 auf Bachmanns „poetische Sprache und persönliche Erscheinung [...] mit Befremden, das sofort im Bild des Ewig-Weiblichen stillgestellt wird, im Bild ‚rührender Hilflosigkeit‘, das sie fortan verfolgen sollte.“ Bachmanns „Fremdheit“ sei damit „auf etwas Vertrautes zurückgebogen und mit Hilfe des Geschlechterdiskurses gleichsam naturalisiert“ worden.80 Das mag auf den Kreis der Gruppe 47 zutreffen, nicht jedoch auf die Rezeption Holthusens und vor allem Blöckers, die Bachmanns Lyrik vielmehr in einer Art von chiastischer ‚Geschlechtlichkeits-Inversion‘ in das hegemoniale ‚männliche‘ Prinzip einpassten und im Gegensatz dazu Celans Gedichten ein als inferior konnotiertes ‚weibliches‘ Prinzip zuschrieben.81 Dieser traditionell negativ konnotierten Semantik entspricht der Vorwurf der Irrationalität, der Fantasterei und des fehlenden Wirklichkeitsbezugs und damit der ‚weiblichen Innenorientierung‘, die im Umkehrschluss das Fehlen eines ‚männlichen Außenbezugs‘ aufruft; die Begriffe ‚freischwebend‘ (Blöcker) bzw. „Freischwebendes“ (Holthusen) verweisen auf die abwesende binäre Entsprechung eines ‚männlichen Verankert-Seins‘, der Hinweis auf Celans Praxis einer ‚weiblich-epigonalen‘ Kombination von Vorhandenem auf die ‚männlich-innovatorische‘ (Er-)Zeugung des Neuen. Bachmanns Lyrik lädt man im Gegenzug mit genuin männlich konnotierten Attributen auf und betreibt eine ‚Maskulinisierung‘ der Gedichte: gelobt wird die „hämmernde[] Eindringlichkeit“, es ist von „lyrischen Eroberungen“ die Rede, von „Härte“, „Entschlossenheit“, „Kraft“, „Kühnheit“, „Selbstsicherheit“ (Blöcker) und vom „[k]ämpfenden Sprachgeist“ (Holthusen).82 Ihre Gedichte werden in Beziehung gesetzt zu jenen von Brecht und Benn. Schließlich wird die Binarität weiblichmännlich auch noch in Kategorien des Nationalen und des ‚Stils‘ konstelliert: Celans surrealistische Prägung wird hervorgehoben, aus deutscher Sicht stellt man ihn damit in eine ‚effeminierte‘ französische Tradition; zudem wird er mit der (hier
Weigel, Ingeborg Bachmann, S. 436. Zur geschichtlichen Herausbildung dieser binären Geschlechtskategorien vgl. Karin Hausen: Die Polarisierung der ‚Geschlechtscharaktere‘. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbsarbeit und Familienleben. In: Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen. Hg. v. Werner Conze. Stuttgart 1976, S. 363–393. Hans Egon Holthusen: Kämpfender Sprachgeist. Die Lyrik Ingeborg Bachmanns [1958]. In: Christine Koschel, Inge von Weidenbaum (Hg.): Kein objektives Urteil, nur ein lebendiges. Texte zum Werk von Ingeborg Bachmann. München/Zürich 1989, S. 24–52.
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ebenfalls negativ konnotierten) Romantik assoziiert, wohingegen Holthusen in Bachmanns Gedichten „das Klassische selbst“ am Werk sieht.83 Diese Form von symbolischer Gewalt ist überaus subtil, weil sie indirekt auf dem Weg über die Bewertung der Gedichte ausgetragen wird und die Zubzw. Aberkennung symbolischen Kapitals steuert. Im Hinblick auf die feldinterne Dominante einer „umgekehrten Ökonomie“, die Pierre Bourdieu in seiner Strukturanalyse des literarischen Feldes als konstitutiv für Positionierungen am Pol der eingeschränkten Produktion beschreibt, wäre die Ablehnung von Celans Lyrik seitens der arrivierten Kritiker Blöcker und Holthusen nicht weiter problematisch gewesen, zumal Celans Rang für die meisten Lyriker✶innen und Schriftstellerkolleg✶innen unbestritten war und dies auch bleiben sollte.84 Es dürfte die subtile geschlechterspezifische Aufladung der Kritikpunkte unter Funktionalisierung von Bachmanns Lyrik gewesen sein, die sich in Verbindung mit dem Vorwurf der mangelnden Originalität (der auf der Folie der Goll-Affäre besonders schwer wog) verheerend auf das Verhältnis zwischen Bachmann und Celan auswirkten. Der Vorwurf, Bachmann habe sich Celan gegenüber unsolidarisch verhalten, übersieht die Aporien, die das Dreiecksverhältnis im Spannungsfeld der zeitgenössisch virulenten Geschlechtskonstruktionen prägt. Diese Sichtweise reproduziert zudem den historischen männlich-leistungsorientierten Originalitätsdiskurs unter Umkehrung der Vorzeichen, wenn Bachmann in der Celan-Forschung tendenziell als Epigonin denunziert wird. So bezeichnet etwa Jean Bollack Bachmanns Dichtung als im Wortsinn „sekundär“ gegenüber derjenigen Celans.85 Dagegen lässt sich aus einer beziehungstheoretischen Perspektive einwenden, dass Bachmann von Celan nicht etwa „dichten“ gelernt hat, wie Bollack meint.86 Sie wurde von ihm vielmehr im Frühling 1948 in seine affektivsolidarische Beziehungsweise assoziiert. Bachmanns Poetik der intertextuellen
Holthusen, Kämpfender Sprachgeist, S. 37. Vgl. etwa Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übers. v. Bernd Schwibs u. Achim Russer. Frankfurt a. M. 2001 (stw 1539), S. 136: „Auf symbolischem Terrain vermag der Künstler nur zu gewinnen, wenn er auf wirtschaftlichem Terrain verliert (zumindest kurzfristig), und umgekehrt (zumindest langfristig).“. Jean Bollack: Ingeborg. In: Ders.: Dichtung wider Dichtung. Paul Celan und die Literatur. Hg. v. Werner Wögerbauer. Aus dem Französischen v. Werner Wögerbauer unter Mitwirkung von Barbara Heber-Schärer, Christoph König u. Tim Trzaskalik. Göttingen 2006, S. 337–376. Bollack spricht von einem „Pakt“, den Bachmann und Celan geschlossen hätten. Celan habe Bachmann das Dichten beigebracht und habe dafür eine „Gegengabe“ gefordert: „Die Begegnung mit Deutschland über die Begegnung mit einer Frau mußte zu jener Zeit als etwas Unmögliches erscheinen. Man muß es sich sagen, muß sich davon überzeugen, indem man die Texte von diesem Paradoxon her liest. War es die Attraktion des Verbotenen? Man nähert sich ihrer beider Geschichte auf dem Umweg über die Texte, und die Gedichte der Bachmann
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Bezüglichkeit, die sie vor allem in Die gestundete Zeit praktiziert, ließe sich dann beschreiben als ästhetische Praxis der affektiven Adressierung, mit der sie die warme, emphatisch-zugewandte Beziehungsweise pflegt und Zugehörigkeit stiftet. Die geteilte Affektivität konstituiert zudem eine Sphäre des Übergangs zwischen Kunst und Leben, indem sie ausgehend von Praktiken des Liebens und des Sich-aufeinander-Beziehens zum poietologisch-kreativen Impuls wird, der die dichterische Praxis allererst in Gang setzt. Biographeme, in denen affektive Spannungszustände abgelagert sind, werden gleichsam zu ‚Poetizitätskernen‘, um die herum sich die Gedichte entfalten. Celan hat seine Beziehungsweise gewissermaßen nach Wien ‚mitgebracht‘; den ursprünglichen sozialen Zusammenhang, in dem sie generiert und praktiziert worden war, hatte er verloren. Bachmann wiederum war zugänglich und offen dafür (wie etwa auch Klaus Demus). In der Konstellation Bachmann – Celan – Kritiker trifft somit eine von Celan vertretene affektiv zugewandte, emotional-nahe Beziehungsweise, die er in seiner Dichtung auch poietisch praktiziert, auf eine kalte, rational-distanzierte die – mit Einschränkungen – weite Teile des westdeutschen literarischen Feldes der 1950er Jahre dominiert. 1948 in Wien wird Bachmann für Celan zu einem ‚ansprechbaren‘, zu einem erreichbaren ‚Du‘ und partizipiert selbst auch als Schreibende an Celans Beziehungsweise; gleichzeitig wird ihre Teilhabe jedoch permanent subvertiert: zum einen von Celan selbst, der – aus nachvollziehbaren Gründen – seit dem ersten Widmungs-Gedicht In Ägypten an einem Loyalitäts- bzw. Solidaritätskonflikt laboriert, der aus den Schuldgefühlen des Überlebenden gegenüber den Ermordeten resultiert; schließlich durch die ‚kalte‘, dem Originalitätsprinzip verpflichtete Logik des literarischen Marktes, die die Zu- bzw. Aberkennung symbolischen Kapitals vonseiten eines spezifischen Teils der literarischen Kritik betrifft; und drittens durch die Verstrickung in hegemoniale Konstruktionen von „Männlichkeit“ und ‚inferioren‘ Weiblichkeits-Konzepten, deren Wirkungsmacht sich Bachmann und Celan selbst nicht entziehen können. Celans affektive Beziehungsweise der solidarischen Zugewandtheit, wie er sie im Umfeld der Meridian-Rede poetologisch ausarbeitet, stellt ein Ideal dar, in Analogie zu Bachmanns Utopie-Begriff. Dass sozusagen ‚im Leben‘ jedoch eigene autoritäre, ‚toxisch-männliche‘ Prägungen
sind in diesem Sinne nicht weniger eloquent, wenn auch, in einem wörtlichen Sinne, sekundär. Sie zeigen die Spuren eines komplexen Verhaltens, in dem sich die Erfahrung des Schreckens mit der einer Bestrickung verbindet. Es dürfte sich um eine Art von Bündnis, einen Pakt gehandelt haben, gewiß nicht um einen im einzelnen festgelegten, aber um einen de facto bestehenden. Er konstitutierte sich im Wechselspiel der Begebenheiten. Was er, der fremde, von weither gekommene Geliebte ihr anbot, ging wohl dahin, daß sie seine Fremdheit mit ihm teilen sollte, und zwar im strengen Sinn einer Entzweiung, die nur aufgrund einer radikalen Trennung von der Welt möglich war.“ (Bollack, Ingeborg, S. 340).
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nicht verschwunden sind, die das selbstgesetzte ethische Ideal beständig unterlaufen, dürfte sowohl Bachmann als auch Celan bewusst gewesen sein. Die kulturellen Konstruktionen von Geschlecht und Geschlechtlichkeit strukturieren nicht nur das Begehren der Anderen, sondern auch das eigene. Das ist spätestens ab 1960 vor allem Bachmann klar geworden; sie wird diesen Komplex ins Zentrum ihres Todesarten-Projekts stellen und ihn literarisch bearbeiten.
5 Postskriptum Waren es Mitte der 1930er Jahre die politischen Schriften von Landauer, Luxemburg und Kropotkin, die ihn begeisterten, so wendet sich Celan Ende der 1950er Jahre russischen Dichtern wie Ossip Mandelstamm (Celans Schreibweise) und Sergej Jessenin zu. Dem Slawisten Gleb Struve schreibt er im Jänner 1959: „ich habe, als meine Heimat, die Bukowina, sowjetisch wurde, Russisch gelernt (unter Verhältnissen, die Ihnen bekannt sind ... ), gerne und dankbar, habe aber erst jetzt, nach Jahren, wieder zu dieser Sprache zurückgefunden.“87 Das Russische, so John Felstiner, bot Celan „etwas Östliches, Heimatliches, Gegengermanisches, die Erinnerung an eine Revolution und ein reineres lyrisches Medium.“88 Der dezidierte Antistalinist Celan verurteilt an dieser Stelle „die ‚schöngereimten Banalitäten‘ im Doktor Schiwago und die Zelebrität Pasternaks: ‚all das zeugt, auf das tragischste, von der Isoliertheit des Geistes in Russland. Kennen Sie das Schicksal Majakowskijs? Jessenins? Isaak Babels? Boris Pilnjaks?‘“89 In Celans Bibliothek findet sich ein russisches Exemplar von Pilnjaks Razskazy [Geschichten] in einer Pariser Ausgabe von 1933.90 Celan mag außerdem
Zitiert nach John Felstiner: Paul Celan. Eine Biographie. Deutsch von Holger Fliessbach. München 1997, S. 172. Celan, der Jessenin bereits 1940 übersetzt hatte, wählte 1958 Gedichte „der Enttäuschung und der Wehmut“ (Felstiner, Celan, S. 172). Wie Celan im August 1962 an Petre Solomon schreibt, habe er versucht, mit den Übersetzungen „das Bild dieses Dichters, der der Oktoberrevolution nahestand, wiederherzustellen.“ (Zitiert nach Felstiner, Celan, S. 172). Felstiner verweist in diesem Zusammenhang auch auf Alexander Block, „dessen berühmt-berüchtigtes Gedicht Die Zwölf einigen rauschhaften Tagen im Januar 1918 entsprang. Block fängt in seinem Gedicht den brutalen Sturmwind und die wilde Musik einer Roten Garde ein, die in den verschneiten Straßen Petrograds marodiert, um die alte bourgeoise Welt wegzusäubern. In seiner Übersetzung bannt Celan diese ganze chaotische Wucht, eine Mischung aus Straßengespräch, Jargon, Parolen, Balladen, Flüchen, knisternder Lautmalerei und christlicher Vision.“ (Felstiner, Celan, S. 172 f.). Zitiert nach Felstiner, Celan, S. 171. Boris A. Piln´jak: Razskazy. Pariž [Paris] 1933 (Biblioteka illjustrirovannoj rossii. Bd. 45).
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Pilnjaks Erzählung Mahagoni [krasnoye derevo] – eine seiner berühmtesten – gekannt haben, die 1929 von den russischen Behörden zensuriert wurde. Bini Adamczak sieht in dieser Erzählung exemplarisch einen affektiven Zustand beschrieben, den sie als PRD, als „postrevolutionäre Depression“ bei einstigen Revolutionär✶innen bezeichnet.91 Das melancholische Begehren der PRD, das sich auf einst erfahrene solidarische Beziehungsweisen richte, so Adamczak, sei „am deutlichsten konserviert und kultiviert“ worden in den „Subkulturen trauriger Kommunistinnen, deren – vor allem satirische – Beschreibung in der Literatur der NEP-Zeit ein wiederkehrendes Thema bildet“.92 So auch in Mahagoni, wobei Adamczak zu bedenken gibt, dass Pilnjak keinen Grund hatte, „die traurigen Kommunisten in beschönigendem Licht darzustellen“;93 Mahagoni gelte denn auch gemeinhin „als Satire, die die Nostalgikerinnen, die Alkoholiker, die depressiven Revolutionärinnen der Lächerlichkeit preisgibt, indem sie ihre hilflosen Träume mit dem Erfolg jener konfrontiert, die sich der Zeit hatten anpassen können.“ Dennoch, oder gerade weil in der Erzählung die „beschönigende“ Tendenz fehle, steige „eine eigene, traurige Schönheit aus ihr auf“, so Adamczak, die diese längere Passage aus Pilnjaks Mahagoni zitiert: Iwan Karpowitsch sprach im Delirium weiter. Er erzählte von seiner Kommune und davon, wie er seinerzeit der Erste Vorsitzende des Komitees war, von den damaligen Zeiten und wie diese untergegangen seien, von den ereignisreichen Jahren und wie er jetzt unter den Menschen herumgehe, um sie an die damaligen Zeiten zu erinnern, um sie zum Weinen zu bringen und sie zu lieben. Wieder erzählte er von seiner Kommune, von der Gleichheit und Brüderlichkeit – er behauptete, dass der Kommunismus sich auf Nächstenliebe gründe, auf ein lebendiges, gegenseitiges Interesse, auf Freundschaft, Zusammenwirken, Zusammenarbeit. Kommunismus bedeute den Verzicht auf Dinge, und bei einer echten kommunistischen Liebe stehe die Achtung vor dem Menschen und der Mensch selbst über allen
Adamczak verwendet den Begriff Depression „nicht im Sinne einer klinischen Pathologisierung“, sondern „im Sinne des Alltagsgebrauchs, der hierunter ein Set verschiedener Affekte und Affektlosigkeiten fasst, das von schlechter Laune über Antriebslosigkeit hin zu Hoffnungslosigkeit und Leere reicht, vor allem aber ein Gefühl der Traurigkeit bezeichnet, wo für dieses kein gesellschaftlicher Raum bleibt.“ (Adamczak, S. 14). Adamczak., S. 33. „Boris Pilnjak, Autor dieser Beschreibungen, war kein Kommunist, er verweigerte es, sich so zu bezeichnen, geschweige denn der Partei beizutreten, obwohl ihm dies deutliche Nachteile brachte – auch der Abdruck dieser Erzählung, Mahagoni, wurde 1929 abgelehnt. Er blieb gegenüber den Anfeindungen der parteilichen Kritik nur solange geschützt, wie Gorki seine schützende Hand über ihn hielt, und wurde kurz nach dessen Tod umgebracht.“ (Adamczak, S. 36).
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anderen Dingen. Der pedantische Greis zitterte im Wind, während er mit seinen abgemagerten, knöchernen Händen den Kragen seines Rockes abtastete.94
Adamczak sieht das Begehren dieser ehemaligen Revolutionärinnen nicht auf die Rückkehr zu Kampf und Heldentum gerichtet, sondern auf die in der Revolution gelebten solidarischen Beziehungsweisen innerhalb einer „Gemeinschaft der Gleichen“ – jedenfalls lege diesen Schluss die Darstellung der Subkultur bei Pilnjak nahe: „Was hier unübersehbar begehrt wird, ist eine bestimmte, nämlich solidarisch-kooperative Beziehungsweise.“95 Allerdings, so Adamczak – und hier lässt sich eine Analogie zu Celan ziehen –, verfüge ihr Begehren „in dem historischen Raum, in dem es seine Klagelieder anstimmt, über keinerlei kulturelle Intelligibilität. [...] Ihr kommunistisches Begehren wird von den Realpolitikerinnen der Revolution als rein affektiv, irrational, sentimental denunziert.“96 Es sei eine ungewöhnliche Form der Politik, von der Mahagoni erzähle: „Politische Reden, zumal die revolutionären dieser Zeit, zielen für gewöhnlich auf andere Affekte als jenen der Trauer. [...] Sie [d.i. die Politik der Trauer, A.E.] verlangt das Eingedenken, sie ruft den Schmerz über einen Verlust hervor – oder in Erinnerung“.97 Celan hat nicht nur seine Eltern verloren, sondern seinen gesamten sozioästhetischen Zusammenhang. Man könnte seine Situation nach 1945 beschreiben als Dislozierung einer unter bestimmten sozialen und kulturellen Umständen erwachsenen oder geprägten Beziehungsweise, die im westdeutschen literarischen Feld als inkompatibel abgelehnt wird; seine emphatische, affektive Praxis der Wärme und Zugewandtheit wird marginalisiert und aus der deutschen literarischen Gemeinschaft ausgeschlossen. Es waren hier Strukturen am Werk, die allenfalls indirekt adressiert werden konnten. Das dürfte mit ein Grund sein für das Gefühl der Ohnmacht und Ausweglosigkeit, in das sich Celan angesichts der ‚fehlenden Passung‘ zunehmend gedrängt sah: Seine ‚Überempfindlichkeit‘ gegenüber Kritikerstimmen stieß bald selbst bei engen Freund ✶innen auf Unverständnis; die Unmöglichkeit, das permanente Unbehagen und dessen Ursache konkret zu benennen, beförderte eine zunehmend paranoische Grundstimmung. Dem Vorwurf der „Fremdheit“ bzw. „Dunkelheit“ der dichterischen Rede wird Celan um 1960 die Notwendigkeit zur Bereitschaft, sich auf ‚das Andere‘ einzulassen, entgegenhalten. Im Topos des „Verjudens“ – „[e]s ist das Anderswer-
Boris Pilnjak: Mahagoni. In: Ders.: Mahagoni. Erzählungen. Aus dem Russischen übertragen und mit einem Nachwort versehen von Valerian P. Lebedew. München 1962, S. 5–56, hier S. 46. Adamczak, S. 38. Adamczak, S. 37. Adamczak, S. 34 f.
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den“ – findet er in den Entwürfen zur Meridian-Rede ein poetologisches Bild dafür.98 Der Sozialismus bringt nicht den neuen Menschen hervor, sondern die Menschen müssten versuchen, sich auf eine ‚kommunistische‘ Solidarität hin zu transformieren – das konnte Celan bei Landauer lernen, wie seine Antwort auf die 1968 von Hans Magnus Enzensberger im Spiegel durchgeführte Umfrage („Ist eine Revolution unvermeidlich?“) unter Schriftstellern und Künstlern insinuiert: Ich hoffe, nicht nur im Zusammenhang mit der Bundesrepublik und Deutschland, immer noch auf Änderung, Wandlung. Ersatz-Systeme werden sie nicht herbeiführen, und die Revolution – die soziale und zugleich antiautoritäre – ist nur von ihr her denkbar. Sie fängt, in Deutschland, hier und heute, beim Einzelnen an. Ein Viertes bleibe uns erspart.99
Vgl. Celan, Der Meridian, S. 199: „Man kann verjuden; das ist zwar, zugegeben, schwer und ist, warum nicht auch das zugeben, schon manchem Juden mißlungen; gerade deshalb halte ich es für empfehlenswert: Es ist letzten Endes nur ein Wort für das Sich-im-AnderenErkennen, es ist Einkehr beim Anderen als bei sich selbst, es ist Umkehr.“. Celan, Gesammelte Werke in sieben Bänden. Bd. 3: Gedichte III. Prosa, Reden, S. 179.
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Erotischer Widerstand: Liebe und Ökonomie in Botho Strauß’ Paare, Passanten 1 Reflexionen des beschädigten Eros – Paare, Passanten (1981) Um 1980 herrschte im öffentlichen Diskurs ein auffälliges „Interesse am Kulturthema Sexualität“1. Gerhard Neumann nennt einschlägige Texte von Michel Foucault,2 Roland Barthes,3 Niklas Luhmann4 und Helen Fisher,5 die in der Zeit von 1976 bis 1982 publiziert wurden, in denen Sexualität als „Schlüsselthema der Kulturgeschichte“6 anerkannt wurde. Botho Strauß’ Paare, Passanten, das 1981 erscheint, ist als Beitrag zu diesem neu entstandenen intellektuellen Feld zu verstehen. Der Begriff der Ökonomie wiederum wird in diesem Beitrag aus der Perspektive der literarischen Romantik betrachtet: als utilitaristische Ideologie, Nützlichkeitsdenken, Fortschrittsoptimismus, die der klassische Philister verfolgt und gegen die sich die romantische Poesie wie auch deren aktualisierte Form bei Botho Strauß richtet. Immer wieder kreisen seine Texte, sowohl in Lyrik, Dramatik und auch Prosa, um die Liebe im Zeitalter des Massenkonsums, um Erotik, die durch Werbung, Unterhaltungs- und Animationsindustrie, Psychotherapie, Ratgeberliteratur und elektronische Medien eingehegt und massiv beeinflusst wird.7 Für Strauß
Gerhard Neumann: Erotik und Wissensbegehren. Eine Relektüre von Michel Foucault. In: Erregungsmomente. Funktionen des Erotischen in der Literatur. Hg. v. Juliane Blank, Anna Gerigk. Berlin 2017, S. 23–42, hier S. 25. Christine Weder nimmt in ihrer Studie die Zeit um 1968 in den Blick, sodass bei ihr besonders Adorno, Reich, Marcuse, Sontag, Fiedler und Barthes untersucht werden. Christine Weder: Intime Beziehungen. Ästhetik und Theorien der Sexualität um 1968. Göttingen 2016. Michel Foucault: Histoire de la sexualité I: La vonlonté de savoir. Paris 1976. Roland Barthes: Fragments d’un discours amoureux. Paris 1977. Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a. M. 1982. Helen Fisher: The Sex Contract. The Evolution of Human Behaviour. London 1982. Neumann: Erotik und Wissensbegehren, S. 31. Vgl. zum Zusammenhang von Massenkonsum und Romantik: Eva Illouz: Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus. Übers. v. Andreas Wirthensohn. 5. Aufl. Frankfurt a. M. 2014; zum Konsum als Religionsersatz Daniel Miller: A Theory of Shopping. Cambridge 1998. https://doi.org/10.1515/9783110740806-017
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ist Liebe eine Kulturtechnik, die ständig transformiert wird. Was seines Erachtens in der Gegenwart verlorengeht, ist ihr transgressives Potenzial und ihre leidenschaftliche Intensität, wie sie besonders in den Schriften Georges Batailles betont werden. Dort wird Erotik als Verschwendung und damit der utilitaristischen Ökonomie entgegengesetzt gedacht, sodass Formen des Rausches, der Gewalt, der Grenzüberschreitung, des Tabubruchs, der Todesnähe und des Risikos zu ihren Kernelementen werden und der Kühle, dem Mittelmaß, der Rationalität und der Selbsterhaltung einer aufgeklärten Erotik diametral gegenüberstehen.8 In diesem Beitrag sollen Strauß’ Textverfahren untersucht werden, in denen er die kapitalistische, verwaltete Welt aus der Perspektive des Erotischen betrachtet. Mit Hilfe von Eva Illouz’ Theorie zur Warenförmigkeit der Liebe im Kapitalismus,9 Byung-Chul Hans Gedanken zur Agonie des Eros im Zeitalter des Neoliberalismus10 und Georges Batailles Erkundungen zur ‚antiökonomischen‘ und transgressiven Erotik11 sollen Strauß’ Notate im Spannungsfeld von Liebe und Ökonomie untersucht werden. Im Zentrum der Analyse sollen dabei die von Strauß als beschädigt wahrgenommene Realität des Erotischen in der Bundesrepublik und die poetischen Gegenerzählungen stehen, die er dem rationalisierten Eros entgegenstellt. Neben der Metapher der „Körperfreunde“, die als Inkarnation der negativen Beziehung12 gelten kann, soll auch die Verschlingung von Liebe und Kulturindustrie – etwa in Form der Ratgeberliteratur – in der Geburtsdekade des Neoliberalismus betrachtet werden. Dem „Glücksdiktat“13 dieser Ideologie setzt Strauß eine transgressive Form von Erotik entgegen, die in ihrer Verausgabungslogik das utilitaristische Prinzip der domestizierten Paarbeziehung konterkariert. Diese ambivalente ästhetische Darstellung soll als erotischer Widerstand bezeichnet werden, der insbesondere über die poetische Form funktioniert.
Vgl. Georges Bataille: Die Erotik. Neu übers. u. mit einem Essay versehen von Gerd Bergfleth. München 1994. Eva Illouz: Warum Liebe endet. Eine Soziologie negativer Beziehungen. Aus dem Englischen von Michael Adrian. Berlin 2018; Eva Illouz: Warum Liebe weh tut. Eine soziologische Erklärung. Aus dem Englischen von Michael Adrian. Frankfurt a. M. 2012; Eva Illouz: Konsum der Romantik. Byung-Chul Han: Agonie des Eros. Berlin 2012. Georges Bataille, Die Erotik. „die Verweigerung, Vermeidung oder Aufkündigung von Bindungen, Verstrickungen und Beziehungen im Namen von Freiheit und Selbstverwirklichung.“ Illouz: Warum Liebe endet, S. 38. So der deutsche Titel von Edgar Cabanas/Eva Illouz: Manufacturing Happy Citizens. How the Science and Industry of Happiness Control our Lives. Cambridge 2019.
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2 Kapitalistische Körperfreunde – Die Kritik des erotischen Status quo Auf jene Austreibung der Passion aus dem erotischen Diskurs konzentriert sich Strauß in Paare, Passanten, ein Werk, das Peter von Becker als „Notate zur Sterilität der sogenannten permissiven Gesellschaft“14 bezeichnet. Paare, Passanten kann als eine Textsammlung zur erotischen Negativität betrachtet werden, als Reflexionen des beschädigten Eros, um hier den Untertitel von Adornos Minima Moralia zu variieren, die formal wie auch inhaltlich einen wichtigen Einfluss auf diesen Text ausgeübt haben.15 Wollte Adorno laut Peter Zima in seinem Text „Verletzungen erkennen, die der kapitalistische Alltag den Individuen zufügt“16, verlagert Strauß seine Kulturkritik verstärkt auf die Ebene des Erotischen. In den „erzählerischen Klein- und Kleinstformaten“17 widmet Strauß sich dem zeitgenössischen Liebesdiskurs, der von seinen Erzählern als „nichtseinsollend“18 wahrgenommen wird und dem er in vorzugsweise poetologischen Skizzen Gegenentwürfe gegenüberstellt, die über intertextuelle19 Verflechtungen aus vergangenen Formen der Liebe schöpfen. In Paare, Passanten, den „Minima Moralia der 80er Jahre“,20 wird also erotischer Widerstand in ästhe-
Peter von Becker: Platos Höhle als Ort der letzten Lust. Das Motiv der Liebe, am Abend der Aufklärung – Zu den neuen (Theater-)Texten von Botho Strauß. In: Strauß lesen. Hg. v. Michael Radix. München/Wien 1987, S. 10–36, hier S. 19. Vgl. Klaus Modick: Das Fragment als Methode. Zum Bauprinzip von ‚Paare, Passanten‘. In: Botho Strauß. Text und Kritik 81 (1984) S. 72–79, hier S. 73 f. Peter V. Zima: Ästhetische Negation. Das Subjekt, das Schöne und das Erhabene von Mallarmé und Valéry zu Adorno und Lyotard. Würzburg 2018, S. 133. Strauß teilt mit den vier von Zima analysierten Denkern die radikale Ablehnung der Kulturindustrie. Vgl. Zima, S. X. Günter Blöcker: Zwei Fußbreit über der Leere. Botho Strauß’ Prosaband ‚Paare, Passanten‘. In: Strauß lesen. S. 258–262, hier S. 259. Emil Angehrn: Dispositive des Negativen. Grundzüge negativistischen Denkens. In: Arbeit des Negativen. Negativität als philosophisch-psychoanalytisches Problem. Hg. v. Emil Angehrn, Joachim Küchenhoff. Weilerswist 2014, S. 13–36, hier S. 14. Angehrn bezeichnet diese Form von Negativität als ‚praktischen Negativismus‘. Vgl. Angehrn, S. 27 ff. Zu Strauß intertextuellem Verfahren vgl. Bernhard Winkler: „Außer Dante kein Weltbild“ – Zur mythophorischen Intertextualität in Dantes Divina Commedia und Botho Strauß’ Oniritti Höhlenbilder. In: Literatur. Cathedra Magistrorum. Beiträge zur Lehrerforschung, Bd. 4. Hg. v. Ilona Feld-Knapp. Budapest 2018, S. 350–371. Peter von Becker: Die Minima Moralia der achtziger Jahre. Über Botho Strauß, die Texte ‚Paare, Passanten‘ und das neue Stück ‚Kalldewey, Farce‘. In: Ders.: Der überraschte Voyeur. Theater der Gegenwart. München 1982, S. 132–145.
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tischer Form geübt, der über die Negation des status quo und die formale complicatio des Kunstwerks eine politisch-ästhetische Position bezieht.21 Strauß schildert Figurationen,22 die durch ihre Verdichtung eine sinnliche wie auch intellektuelle Tiefe erreichen, indem er sowohl deren äußere Realität en détail beschreibt als auch verdeckte Motivationen und Prozesse skizziert. Eine wichtige Facette des Erotischen, die Strauß der Leser✶in mit nur wenigen Strichen vor Augen stellt, betrifft die Bindungslosigkeit des Individuums in der Spätmoderne. Die Negativität des Eros tritt hier nicht als Sehnsucht, Leidenschaft und Suche in Erscheinung, sondern als deren Gegenteil, dem Mangel an jeglicher Passion in Folge der sexuellen Befreiung: Von Zeit zu Zeit, wenn ihr eben danach ist, sucht sie einen gutgekleideten, kräftigen Burschen auf und er ist meist für sie da. Sie muß dafür nichts bezahlen. Sie sind Körperfreunde. Sie wissen wenig voneinander, nichts Tieferes, vom Lebensweg des anderen nur eben soviel, wie man in Zigarettenpausen spricht und dann leicht vergißt. So wird es getan, genauso wie es in tausend Magazinen schon beschrieben und sogar empfohlen wurde. So vorbildlich helfen sich hier zwei, die es vorziehen, allein und ungebunden zu leben.23
Was hier über die Metapher der „Körperfreunde“ beschrieben wird, bezeichnet den Übergang von stabilen sozialen Beziehungen hin zu einer freiheitlichen und individuellen Wahl des Körperfreundes in der Spätmoderne. Strauß erkennt in den starren Mustern der Kulturindustrie – hier in Synekdoche vertreten durch Magazine – eine massenpsychologische Beeinflussung des Individuums, das seine Freiheit auch auf sein Liebesleben überträgt. Was dabei verloren geht, ist eine von Strauß als „Tiefe“ bezeichnete Dimension, die in sozial stabileren Formationen gefunden werden könnten. Eva Illouz geht auf den Gedanken der gegenseitigen Verknüpfung von Ratgeberliteratur und gelebter Liebeskultur ein: Vielmehr scheint die Auflösung (potenziell oder realiter) enger und intimer Bindungen stark mit dem Wachstum (realer oder virtueller) sozialer Netzwerke, mit Technologie und einer beeindruckenden ökonomischen Beratungs- und Lebenshilfemaschinerie zusammenzuhängen: Psychologen aller Art, Talkshow-Moderatoren, die Porno- und die Sexspielzeugindustrie, die Selbsthilfebranche, Einkaufspaläste und Konsumtempel – sie alle sorgen für den permanenten Prozess des Knüpfens und Lösens sozialer Bindungen.24
Vgl. hierzu Theodor W. Adorno: Engagement. In: Ders.: Noten zur Literatur. Hg. v. Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno. Frankfurt a. M. 1981, S. 409–430, hier S. 426 f. Näheres zum Figurationsbegriff in Bernhard Winkler: Wollust am Text. Figurationen des Eros in Botho Strauß’ zu oft umsonst gelächelt. In: Figurationen der Gegenwart. Hg. v. Dana Steglich et al. (in Vorbereitung). Botho Strauß: Paare, Passanten. München/Wien 1981, S. 16. Illouz, Warum Liebe endet, S. 12.
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Für Strauß und Illouz ist die erotische Zweierbeziehung in den 1980ern bzw. der Gegenwart daher eine ökonomisierte, marktförmige und besonders durch die Wahl gekennzeichnete Form: „Unter der Ägide der sexuellen Freiheit haben heterosexuelle Beziehungen die Form eines Marktes angenommen.“25 Der mediale Einfluss auf das Liebesleben, der auf die Verherrlichung der liberalen, offenen, gesunden und jederzeit kündbaren Beziehung zielt, wie Strauß ihn beschreibt, ist demnach nur scheinbar einer Utopie der sexuellen Freiheit verschrieben, sondern untersteht einer ökonomischen Struktur der Gewinnmaximierung und wird daher zum integralen Bestandteil des kapitalistischen Systems. Jean Baudrillard weist auf den naturalisierten sexuellen Imperativ hin, der geradezu einen „Zwang zur Liquidität“ 26 erzeuge und Sexualität damit als Erscheinungsform des Kapitals auf die Ebene des Körpers übertragen werde. Die erotische Freiheit des Individuums, die üblicherweise als regelbrechende und subversive Möglichkeit des Protests wahrgenommen wird, verwandelt sich damit in eine den status quo affirmierende Beziehungsform frei von Negativität und entfernt sich dadurch von der Quelle der Erotik.27 Strauß fährt im gleichen Fragment fort, diese domestizierte Form der Liebe zu beschreiben: Vor dem Haus streichelt sie dem Mann in seinen weißen Hosen zum Abschied über die Wange. Weich und dankbar sieht es aus, lebensklug und nicht frivol. Eine umfassende Gebärde gleichwohl für die lasche Güte und Auswegsfülle, in der mittlerweile das Lieben abseits der Liebe verläuft. Wir haben es hier eher zu tun mit einer liberal-demokratischen Einrichtung, chaoslos und angstfrei, die Liebe dem Guten untergeordnet, domestiziert und der Freiheit gewidmet. Die Angst gehört den Atomkraftwerken. Keiner ist mehr gezwungen, sie an ihrer geschlechtlichen Quelle selbst zu ertragen. Und vielen scheint es zu gelingen, die Angst zu provinzialisieren, umzulagern.28
Diese aufgeklärte Beziehung hat in den Augen des Erzählers nichts mehr mit Erotik zu tun. Ihm zufolge wird die Angst, die zur Ambivalenz des Begehrens gehört, komplett aus der modernen Zweierbeziehung vertrieben und auf andere außer-
Illouz, Warum Liebe endet, S. 33. Jean Baudrillard: Von der Verführung. München 1992, S. 59. Damit einher geht für Baudrillard ein Verschwinden der Verführung als Ritual, die einen Aufschub des sexuellen Begehrens zelebriere. Er folgert: „Wir sind eine Kultur der ejaculatio praecox“. Baudrillard, S. 58. Todd McGowan sieht das Hauptproblem der libertär-hedonistischen Sexualmoral der 68er darin, dass die Zerstörung der Hindernisse des Genießens zugleich die Zerstörung der Quelle des Genießens sei. Todd McGowan: Capitalism and Desire. The Psychic Cost of Free Markets. New York 2016, S. 30. Strauß, Paare, Passanten, S. 16.
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erotische Bereiche verschoben.29 Liebe und Erotik werden dabei zu Schwundformen, in der zwar mittelmäßiges Glück und Sicherheit gefunden werden können, die aber zu keiner Äußerung von Leidenschaft mehr fähig sind.30 Die „Erosion des Anderen“31, die Byung-Chul Han für die Jetztzeit beschrieben hat, bezieht sich in diesem Fall auch auf die Angst vor der Andersheit des Anderen, die in der spätmodernen Beziehung keinen Platz mehr hat. Der Körperfreund verweigert die Dimension der Negativität zugunsten einer positivierten Form der Beziehung. Han schreibt hierzu: „Die Negativität der Andersheit, nämlich die Atopie des Anderen, die sich jedem Können entzieht, ist konstitutiv für die erotische Erfahrung.“32 Hier wie auch bei Strauß wird Liebe als emphatische und leidenschaftliche Erfahrung gedacht, die der oberflächlichen, mittelmäßigen und sterilen Verbindung der Körperfreunde diametral gegenübersteht. Liebe ist hier mit dem Wagnis verbunden, sich zu öffnen und dadurch auch verletzbar zu machen. Die von Strauß beschriebene Gebärde33 der Frau wird bei ihm als Chiffre für die erotische Agonie der Gegenwart gewertet, weil sie eine die Negativität vermeidende Geste ist, durch die archaische Dimensionen der Liebe blockiert und verdrängt werden. Han beschreibt diese Vernachlässigung der Passion wie folgt: Die Liebe wird heute zu einer Genussformel positiviert. Sie hat vor allem angenehme Gefühle zu erzeugen. Sie ist keine Handlung, keine Narration, kein Drama mehr, sondern eine folgenlose Emotion und Erregung. Sie ist frei von der Negativität der Verletzung, des Überfalls oder des Absturzes. Verfallen (in Liebe) wäre schon zu negativ.34
Die fehlende Handlung wird offenbar, wenn man die rein beschreibenden Zeilen der Strauß-Zitate betrachtet. Dort fehlt jede Form der erotischen und ästhetischen Intensität, die der Erzähler erst durch die kritische Attacke auf die liberale Liebe aufbauen kann. Diese Kritik am Liebesbegriff der Post-68er-Ära ist jedoch kein Selbstzweck oder eine ressentimentgeladene Invektive, sondern
„Libidinöse Energien werden wie bei Kapitalanlagen über viele Objekte gestreut, um den Totalverlust zu umgehen.“ Byung-Chul Han: Die Errettung des Schönen. Frankfurt a. M. 2015, S. 44. Vgl. hierzu Gert Mattenklott: Sexualität und Leidenschaft. In: Lust und Liebe. Wandlungen der Sexualität. Hg. v. Christoph Wulf. München 1985, S. 218: „Im Sprachatlas der Gefühle wird das Idiom der Leidenschaft nur noch als eine Schwundform verzeichnet.“. Han, Agonie des Eros, S. 5. Han, Agonie des Eros, S. 18. Auf die „Wahrheit“, die Strauß durch seine Körperbeschreibungen hervorbringe, weist Hinz hin. Klaus-Michael Hinz: Der schwatzhafte Physiognomiker. Bemerkungen über ein Leitbild. In: Text und Kritik (1984), S. 80–85, hier S. 81. Han, Agonie des Eros, S. 20.
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eine Figuration des beschädigten Eros, die ebenfalls Aussagen zum Zustand der Gesellschaft in der verwalteten Welt35 macht: Allein das Wort Beziehungen immer wieder zu hören, wirkt sich handschweißhemmend aus. So handelsplatt wie es klingt, sucht es den Umgang mit der gründlichen Gefahr, welche die Liebe ihrem Wesen nach für das Gemeinwohl darstellt, künstlich zu ernüchtern und eine Berechenbarkeit hineinzubeschwören in eine Sphäre, die immer noch die ursprünglichste, undurchdringlichste und verschlingendste des Menschen ist. Es mag sein, daß daran die Herrschaft alles Möglichen, die totale Erlaubnis, der Konsum auf die Dauer etwas ändern werden und alle Bindungen lose und schwächlich machen.36
Freie Liebe erscheint hier nicht als Subversion, sondern als Affirmation des beschädigten Lebens, in dem der Mensch „zum Knotenpunkt konventioneller Reaktionen und Funktionsweisen“37 zusammenschrumpft. Sie ist eine Einfriedung der passionierten und gefährlichen Form der Liebe und versucht durch Aufklärung und Ernüchterung eine Herrschaft über diese auszuüben. Die Anomie38 als Schwächung traditioneller Bindungen wirkt sich daher auch auf die erotische Beziehung aus, die durch Beliebigkeit, Flexibilität und Verwerfbarkeit gekennzeichnet ist und daher vorzüglich in die kapitalistische Marktlogik integrierbar wird.39 Alain Badiou bezeichnet dieses Zurückschrecken vor dem Risiko, das mit der Bindung in der passionierten erotischen Dyade einhergeht, als „Vollkaskoversicherung der Liebe“40, die den Widerfahrnis-Charakter der Begegnung vermeiden will und somit (wirtschaftliche) Planbarkeit mit der Liebeswahl verbindet. Eine utilitaristische Form der Liebe, die nach Lust und Laune beendet werden kann, wird dann nichts weiter als ein Austausch ohne bindende Regeln, abgesehen von der Verpflichtung zur vollständigen und offenen Kommunikation. Eine Beziehung sollte, solange sie andauert, jedem Partner geben, was er braucht, und wenn die Beziehung endet, haben beide zumindest einen angemessenen Gegenwert für ihre Investition erhalten.41
Strauß’ Kritik richtet sich also gegen einen positivierten und utilitarisierten Liebesbegriff, bei dem keine verausgabende Transgression möglich ist, die auf die
Strauß, Paare, Passanten, S. 16 f. Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S 45. Illouz übernimmt diesen Begriff von Emile Durkheim: Der Selbstmord. Übers. v. Sebastian u. Hanne Herkommer. Frankfurt a. M. 1995; Illouz, Warum Liebe endet, S. 52. Vgl. Illouz, Warum Liebe endet, S. 14. Alain Badiou: Lob der Liebe. Übers. v. Richard Steurer-Boulard. 2. Aufl. Wien 2015, S. 16. Robert Bellah et al.: Gewohnheiten des Herzens. Individualismus und Gemeinsinn in der amerikanischen Gesellschaft. Übers. v. I. Peikert. Köln 1987, S. 138.
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Überwindung von Hindernissen42 angewiesen ist und in der permissiven und marktrational organisierten Gesellschaft unmöglich wird. Sigmund Freud beschreibt diese Verringerung des Begehrens in einer Kultur der Permissivität, und behauptet, daß der psychische Wert des Liebesbedürfnisses sofort sinkt, sobald ihm die Befriedigung bequem gemacht wird. Es bedarf eines Hindernisses, um die Libido in die Höhe zu treiben, und wo die natürlichen Widerstände gegen die Befriedigung nicht ausreichen, haben die Menschen zu allen Zeiten konventionelle eingeschaltet, um die Liebe genießen zu können.43
Eine Möglichkeit, Hindernisse zu erfinden und damit das Begehren zu entfachen,44 ist die Darstellung der Liebe in der Literatur, wo sie durch Negativität, Aufschub, Tabuisierung, Verbote und Umwege einer direkten Konsumption entzogen wird. Die domestizierte Zweierbeziehung aber ist frei von Negativität, von Gefahr und Angst und entbehrt dadurch wichtiger Elemente, die etwa Bataille und Han als maßgeblich für die erotische Erfahrung betrachten. In der Erotik Georges Batailles ist eine klare kapitalismuskritische Stoßrichtung auszumachen, die – an Nietzsche geschult – die unnütze Verausgabung („dépense improductive“)45 und den dionysischen Rausch, das Opfer und die Überschreitung als Grundelemente des Erotischen ausmachen und damit eine Kritik an Produktivität, Kalkül und Rationalisierung ausspricht.46 Neben der poetischen Beschreibung einer Verlusterfahrung findet sich in Strauß’ Reflexionen auch eine gesellschaftskritische Stoßrichtung, die über die Analyse erotischer Beziehungen den Blick auf soziologische und psychologische Verwerfungen der Gegenwart richtet. Das freie Spiel, dem die beschleunigte und mobile Bevölkerung auch auf dem Feld des Eros ausgesetzt ist,
„Ses limites, sans doute, sont nécessaires à l’être, mais il ne peut pas toutefois les endurer. C’est en transgressant ces limites nécessaires à le conserver qu’il affirme son essence.“ Georges Bataille: La littérature et le mal. In: Ders.: Œuvres complètes, Bd. 9: Lascaux ou la naissance de l’art. Manet. La littérature et le mal. Annexes. Paris 1979, S. 169–316, hier S. 214. Sigmund Freud: Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens (Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens II). In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. VIII. Hg. v. Anna Freud. London 1943, S. 78–91, hier S. 88. Girard zeigt die masochistische Tendenz, die in diesem Begehren des Hindernisses steckt. Vgl. René Girard: Figuren des Begehrens. Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität. 2. Aufl. Weinheim 2012, S. 182. Georges Bataille: La Notion de Dépense. In: Ders.: Œuvres Complètes, Bd. 1: Premier écrits 1922–1940. Paris 1988, S. 301–320, Zitat S. 27. Vgl. hierzu auch Roland Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe. Aus dem Französischen v. Hans-Horst Henschen. Frankfurt a. M. 2015, S. 221. Vgl. Bataille, La notion de dépense, S. 27.
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entscheidet sich für den Erzähler „je nach Lust und Laune und dem Angebot der Reize“ und es bleibt daher kein Platz mehr für eine leidenschaftliche Liebe, die für den Erzähler ein „schöner Herzenstrug“47 und daher im Bereich der Fantasie anzusiedeln ist. Es geht hier also nicht nur um den Verlust von stabilen Bindungen, sondern auch um den Rückzug der erotischen Imagination. Für Octavio Paz ist Erotik notwendigerweise an die Vorstellungskraft gebunden und daher eine Domäne des Dichters: „Erotik ist sublimierte Sexualität: Metapher. Agens des erotischen wie des poetischen Aktes ist die Imagination.“48 Wenn also die Erotik sich im „Zeitalter der radikalen persönlichen Freiheit“49 verändert, wenn sie ebenso domestiziert, positiviert und enträtselt wird, verändert sich auch das Sprechen über die Erotik, es verändert sich die Literatur. Strauß’ Fragmente sind also elegische Fragmente einer erotischen Trauer, die den Untergang bestimmter Liebesarten bedauern, aber durch die Transformation des Verlusts in poetische Texte ein Werk schaffen, dessen inhärente Negativität Kritik, Trost, Erschütterung und Lust in einem bietet. Für den Erzähler in Paare, Passanten ist die Beziehung der Körperfreunde eine „Liebe-Kälte“,50 die allein aufgrund hedonistischer Lustbefriedigung funktioniert und damit ohne jegliche erotische Liebeskunst auskommen muss. Was Herbert Marcuse als ‚repressive Entsublimierung‘51 bezeichnet hat, das Verschwinden der Erotik in der kulturindustriell geprägten Spätmoderne und der Umschlag der sexuellen Liberalisierung in einen systemaffirmativen Konsumzwang, wird hier von Strauß durch literarisch-kulturkritische Reflexionen entfaltet.52 Die entstehenden negativen Bindungen, die durch Gefühllosigkeit, Narzissmus, Kurzlebigkeit und Oberflächlichkeit gekennzeichnet sind,53 sieht der Erzähler als rein reizge Strauß, Paare, Passanten, S. 17. Octavio Paz: Die doppelte Flamme. Liebe und Erotik. Aus dem Spanischen von Rudolf Wittkopf. Frankfurt a. M. 1995, S. 14. Illouz, Warum Liebe endet, S. 48. Strauß, Paare, Passanten, S. 18. Pia Janke weist in ihrem Vergleich zwischen Strauß und Handke auf die große Bedeutung des Liebesverlusts bei Strauß hin: „Der Verlust der Liebe, des erotischen Begehrens, die Auflösung der Subjektivität, der Dimension der Geschichte wird von Strauß als viel endgültiger beschrieben als von Handke.“ Pia Janke: Der schöne Schein – Peter Handke und Botho Strauß. Wien 1993, S. 72. Vgl. Weder, Intime Beziehungen, S. 67–120. Robert Heim erkennt eine „kulturkritische Brisanz“, die mit dem Begriff des Begehrens schon in Freuds Psychoanalyse verbunden sei. Vgl. Robert Heim: Bedürfnis, Begehren, Befriedigung. In: Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe. Hg. v. Wolfgang Mertens, Bruno Waldvogel. 3. Aufl. Stuttgart 2008, S. 89–94, hier S. 89. Illouz: Warum Liebe endet, S. 40. Illouz gibt folgende Beispiele für negative Beziehungen (im Jahr 2019): „One-Night-Stand, Spontanfick, Abschleppen, Seitensprung, Fickbeziehung, Freundschaft Plus (friends with benefits), Gelegenheitssex, Casual Dating, Cybersex“.
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steuerte Formen des Begehrens, die dem Individuum keine Freiheit verschaffen, sondern zum Knecht seiner Triebe machen: Die Begegnung, die unter den Bedingungen der größtmöglichen äußeren Freiheit und Verantwortungslosigkeit stattfindet, wird bald ein geschundenes Opfer der Zwänge, der Lust- und Zerstörungslaunen des Unbewußten. Auf diesem Feld, wo das Soziale (Aufbau einer Gemeinschaft, Fortpflanzung, Überlieferung eines kulturellen Erbes usw.) seine vorherrschende Rolle eingebüßt hat, verkehren unbehindert die Launen mit den Gelegenheiten, die äußeren Reize, das Neue mit dem schnellen Verkehrsstrom, wo das Gewünschte mit dem Gegebenen sich immer kurzfristig einigen kann, wird sich keine noch so fest versprochene Verbindung heraustrennen können. Er zieht durch uns alle.54
Adornos und Horkheimers These von der Dialektik der Aufklärung kommt hier auf dem Gebiet des Erotischen zur Anwendung. Der Umschlag der vermeintlich aufgeklärten Sexualität endet in der Knechtschaft des Triebs, der aber innerhalb des Verblendungszusammenhangs der Kulturindustrie nicht bemerkbar wird, sondern als Fortschritt und Freiheit wahrgenommen wird. Dass diese Freiheit lediglich eine scheinbare des Konsums ist, arbeitet die Kritische Theorie schon früh heraus. Laut Herbert Marcuse werde die Mechanisierung und Standardisierung des Lebens nicht mehr durch direkte Machtausübung ausgedrückt, sondern verstecke sich hinter „unechten Freiheiten, lügenhafter Wahlfreiheit, Scheinindividualitäten“,55 sodass die Schematisierung und Automatisierung des Menschen als Freiheit verkauft werde. Kritik an den Manifestationsformen des Erotischen wird damit zur allgemeinen poetischen Kulturkritik, die Strauß in Paare, Passanten vorlegt.
Strauß, Paare, Passanten, S. 18. Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud. Frankfurt a. M. 1969, S. 101; Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 158: „Amusement ist die Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus. Es wird von dem gesucht, der dem mechanisierten Arbeitsprozeß ausweichen will, um ihm von neuem gewachsen zu sein. Zugleich aber hat die Mechanisierung solche Macht über den Freizeitler und sein Glück, sie bestimmt so gründlich die Fabrikation der Amüsierwaren, daß er nichts anderes mehr erfahren kann als die Nachbilder des Arbeitsvorgangs selbst.“ Vgl. hierzu auch für die Gesellschaft der Gegenwart: Byung-Chul Han: Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken. Frankfurt a. M. 2014.
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3 Transgressive Erotik – Der Aufstand gegen die lustlose Welt An zahlreichen Stellen in Paare, Passanten baut Strauß Miniaturen ein, die den erotischen Diskurs der Gegenwart attackieren, indem sie alternative – insbesondere transgressive – Varianten von Liebe und Sexualität präsentieren. Diese Darstellungen stehen in scharfem Kontrast zu den als abgekühlt, entzaubert und rationalisiert beschriebenen Szenen, wie sie bisher vorgestellt wurden, und zeigen Formen der Liebe, in denen eine tragische Fallhöhe konstruiert wird, um so eine maximale erotische Intensität zu generieren. Gegen die „beiden Feinde der Liebe: die Sicherheit des Versicherungsvertrages und der Komfort der begrenzten Genüsse“56 wird hier über das Medium der Literatur ein Widerstand gegen die Versachlichung des Eros in der „verwalteten Welt“57 errichtet. Alain Badiou sieht in der Verteidigung der Liebe eine philosophische Aufgabe, die er mit Arthur Rimbaud als Neuerfindung der Liebe beschreibt: „Die Welt ist tatsächlich voll von Neuerungen und auch die Liebe muss von dieser Neuerung erfasst werden. Man muss gegen die Sicherheit und den Komfort das Risiko und das Abenteuer neu erfinden.“58 Botho Strauß versucht diese Neuerfindung durch die Schaffung erotischer Figurationen, in denen Leidenschaft, Risiko und Intensität in transgressiven Szenarien entfaltet werden und besonders literarische Intertexte dichterisch transformiert werden. Die Sprache der Liebe erscheint dadurch als „Andersrede“,59 die genuin über das Medium Literatur gebildet und fortentwickelt wird. Seine Reflexionsprosa kombiniert über sinnliche Akzente diese wirkungsästhetische Absicht mit philosophischer Reflexion und „vermählt Eros und Erkenntnis“60.
Badiou, Lob der Liebe, S. 18. Theodor W. Adorno: Kultur und Verwaltung. In: Ders.: Soziologische Schriften I. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1990, S. 122–146, hier S. 125. Vgl. hierzu Markus Schroer: „Ende des Individuums“. In: Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Richard Klein, Johannes Kreuzer u. Stefan Müller-Doohm. 2. Aufl. Berlin 2019, S. 332–337, hier S. 334. Badiou, Lob der Liebe, S. 19. Das Rimbaud-Zitat, das als Motto von Badious Text dient, lautet: „Die Liebe muss neu erfunden werden, das weiß man.“ Arthur Rimbaud: Ein Aufenthalt in der Hölle, Delirien I. In: Badiou, Lob der Liebe, S. 11. Karin Peters u. Caroline Sauter: Allegorien des Liebens. Liebe – Literatur – Lesen. Einleitung. In: Allegorien des Liebens. Liebe – Literatur – Lesen. Hg. v. Karin Peters u. Caroline Sauter. Würzburg 2015, S. 7–16, hier S. 8. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 490. Die Bedeutung dieser Kombination von Eros und Erkenntnis für seine Ästhetische Theorie bekräftigt die Publikation eines Jubiläums-Sammelbands, in dem zahlreiche Adorno-Forscher✶innen ihren Umgang mit diesem Text reflektieren. Martin
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Eine radikale Annäherung an die Negativität des Erotischen leistet der Erzähler in einer Deutung des Films Im Reich der Sinne61 des japanischen Regisseurs Nagisa Ōshima. Strauß’ Erzähler liest die Geschichte, in der sich ein Liebespaar völlig isoliert, ihre Begierde bis zum äußersten Lustschmerz steigert und die Frau den Mann tötet und dessen Geschlechtsteile abschneidet, als rauschhafte „Lektion der Lust“62 und als „Sieg der Liebe über die Zeit.“63 Selten wird die oben herausgearbeitete Opposition von ekstatischer und transgressiver Erotik und sozial domestizierter Sexualität, die Strauß’ Texte durchweg strukturiert, klarer sichtbar als in diesem Fragment. Während sich der Erzähler jedoch im Großteil der anderen Miniaturen auf die Kritik des zeitgenössischen Sexus konzentriert, dient die „Liebes-Isolation“64 von Ōshimas Figuren als Gegenerzählung im Zeichen des dionysischen Eros. Diese Gegenerzählung kann als Versuch beschrieben werden, um – in den Worten Roland Barthes’ – „die unter dem Stereotyp verdrängte Wollust historisch wieder auftauchen zu lassen“.65 Ritualhaftigkeit, die Ausklammerung von jeglicher Sozialität und Alltäglichkeit, also der profanen Sphäre der Arbeit, und die totale Konzentration auf die Strukturen und Prozesse des Begehrens zeichnen dieses Experiment der Lust aus, das damit Parallelen zu einer Opferung erhält. Strauß’ Erzähler beginnt seinen Kommentar, indem er den Fokus auf die Ausschließlichkeit und Radikalität der Liebes-Dyade legt, wie er es 1987 in Niemand anderes in zahlreichen poetischen Variationen fortsetzen wird: ‚Nur wir‘, sada kichi futari/Sada und Kichizo, nur wir: diesen Schriftzug hat die Prostituierte in Oshimas Film ‚Im Reich der Sinne‘ ihrem getöteten Liebsten in den linken Oberschenkel eingeschnitten. Sie hat ihn in Liebe erwürgt und ihm Penis und Hoden vom Leib getrennt. Vier Tage irrt sie darauf in euphorischem Wahn durch Tokio und trägt das Geschlechtsteil ihres Herrn um den Hals. ‚Nur wir‘ heißt diese große Geschichte. Und sie ist es in dem Maße, als sie ohne schmückende Handlung uns in die Klausur einer radikalen Liebe einbeschließt, in der unserer korrupten Sexualität, die zwischen beliebigem Kon-
Endres, Axel Pichler u. Claus Zittel (Hg.): Eros und Erkenntnis. 50 Jahre ‚Ästhetische Theorie‘. Berlin/Boston 2019. Nagisa Ōshima: Im Reich der Sinne. Japan/Frankreich 1976. 102 (Orig. 110 Minuten). Im Original (japanisch): 愛のコリーダ Ai no korīda. Eine wortgetreue Übersetzung wäre etwa ‚Stierkampf der Liebe‘. Der Zusammenhang von Stierkampf und Erotik spielt darüber hinaus im fiktionalen Werk Georges Batailles eine tragende Rolle, vor allem in der Histoire de l’œil. Vgl. zum realen Vorbild des Filmes William Johnston: Geisha, Harlot, Strangler, Star. A Woman, Sex, and Morality in Modern Japan. New York 2005. Strauß, Paare, Passanten, S. 57. Strauß, Paare, Passanten, S. 59. Strauß, Paare, Passanten, S. 57. Roland Barthes: Die Lust am Text. Übers. v. Ottmar Ette. Berlin 2010, S. 54.
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sum einerseits und häuslicher Frustration andererseits stets ihr Wesen flieht, eine gestrenge Lektion der Lust erteilt wird.66
Was Strauß’ Erzähler hier vollzieht, ist eine Umwertung der Lustwerte, sodass Gewalt, Rausch, Verausgabung und Tod als erstrebenswerte und sogar wesenhafte Elemente des Erotischen erscheinen und den Gegensatz zu einer „korrupten Sexualität“ bezeichnen. Wie Adorno geht Strauß hier davon aus, dass die „zeitgemäße Krankheit gerade im Normalen besteht“,67 und offeriert über den Weg des imaginierten Erotischen einen Ausbruch aus diesem als Freiheit getarnten Käfig der Normalität. Was Georges Bataille als das Wesen des Erotischen bezeichnet, ist hier in den Handlungen der Liebenden in seiner Radikalität ausagiert: „Die Erotik kann man bestimmen als das Jasagen zum Leben bis in den Tod“.68 Die Beschränkung auf einen einzigen Sexualpartner, den das Wort futari (Paar, Zweisamkeit) markiert, erscheint hier als weitaus extremer als die domestizierten Glücksversprechungen des freizeitlich praktizierten Sexus. Der Unterschied besteht in dieser Reduktion69 und dem quasiliturgischen Ernst, mit dem diese antisoziale Zweisamkeit begangen wird, wie sie auch schon im Titel Paare, Passanten markiert wird, der jene Gegenüberstellung antizipiert. Den Figuren geht es um radikale Steigerung ihrer Lust, die hier nicht nur als „lustvolles Spiel mit dem Tod“70, als Annäherung an die bataillesche Kontinuität, sondern als Performation der Tötung am Höhepunkt der Ekstase durchgeführt wird. Als Imagination der ekstatischen Lust erzeugt Ōshimas Film keine angenehmen Gefühle, die zur „Genussformel positiviert“71 werden, sondern bildet
Strauß, Paare, Passanten, S. 57. Adorno, Minima Moralia, S. 65. Bataille, Die Erotik, S. 13. Dies betont auch der Eintrag im Lexikon des internationalen Films: „Oshima verzichtet sowohl auf narrative Ausschmückung der Handlung als auch auf psychologische Motivation der Figuren, stattdessen beschreibt der Film in äußerster ästhetischer Reduktion die menschliche Sexualität als eine nicht kontrollierbare, in letzter Konsequenz zerstörerische Kraft. In Japan und einigen europäischen Ländern wurde der Film verboten, anläßlich seiner Aufführung bei den Berliner Filmfestspielen 1977 von der Staatsanwaltschaft wegen „Pornographieverdachts“ vorübergehend beschlagnahmt.“ Anders als bei Strauß wird hier jedoch die nicht umgewertete Negativität der Sexualität beschrieben (https://www.filmdienst.de/film/details/32198/imreich-der-sinne; zuletzt abgerufen am 18.7.2021). Thomas Anz: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen. München 1998, S. 133. Hierzu Strauß: „Alle großen Anmutungen scheinen Emanationen jenes zentralen Gefühls für den Tod zu sein. Selbst das Glück ist nur dann etwas wert, wenn wir spüren: es kommt nicht von oben; es erhebt uns zwei Fußbreit über die zitternde Leere.“ Strauß, Paare, Passanten, S. 57. Han, Agonie des Eros, S. 20.
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die düsteren Elemente der Erotik, wie Verletzung, Grenzüberschreitung und Tod, direkt ab.72 Das hohe Maß an Intensität, das diese Form der Erotik produziert, funktioniert über eine Seduktion zum verbotenen Genießen, das abseitige und verdrängte Elemente der Lust als Basis hat.73 Der direkte Gegensatz zur Sphäre des Nützlichen, Gemäßigten, sozial Kontrollierten wird deshalb von Strauß’ Erzähler derart gefeiert, weil die Selbstöffnung, die Verletzbarkeit und das Todesrisiko Elemente einer tragisch verstandenen und leidenschaftlichen Liebe sind, die Strauß in seinen poetischen Miniaturen aufleben lässt. Für Bataille und Han sind es eben diese Elemente, die das Individuum aus seiner alltäglichen Existenz gewaltvoll herausreißen: „Der Eros als Exzess und Überschreitung verneint sowohl die Arbeit als auch das bloße Leben.“74 Wieder treten also Kulturkritik und erotische Beschreibung gemeinsam auf, wobei die Reflexionen zum Charakter des Erotischen hier überwiegen: Indem Sada und Kichizo, die Dirne und der Herr, sich in eine Ort, Stand und Stunde auslöschende Liebes-Isolation begeben, erinnern sie jeden von uns an die Früh-Zeit eines Verliebtseins, wann immer es gewesen sein mag, an die grenzenlose Versprechung der Ersten Runde. Was im Film extrem erscheint, ist jedem bekannt als der rauschhafte Beginn einer großen Begegnung: ausschließlich sein, die eigentlich asoziale, d.i. ekstatische Auflehnung gegen den mäßigen Betrieb des Alltags und der Arbeit, an dem das permanente Versteck der Liebeskörper und das zeitraubende Verlangen Sabotage verüben. Jedoch mit der Ersten Runde ist für die meisten Leidenschaftler der äußerste Umfang des Verfallenseins bereits durchmessen. Was folgt, nimmt ab. Der Rausch übersteht nicht die Einfügung in das soziale Leben.75
Liebe und Alltag werden hier diametral voneinander unterschieden, ist die erste durch Rausch und Ekstase bedingt, werden unter der Herrschaft des Realitätsprinzips genau diese vom Trieb hervorgebrachten Impulse vermieden. Strauß thematisiert diesen Gegensatz in seinen Texten sehr häufig, er bedeutet für ihn Ähnliches wie die Gegenüberstellung des Dichters und des Philisters in der Romantik.76 Jean Baudrillard beschreibt die antierotische Perspektive des Gesell-
Vgl. Strauß: „Jedoch eine solch mächtige Ergriffenheit wird uns stets nur der Schmerz gewähren, nie die Freude, die uns so sehr viel oberflächlicher beschäftigt.“ Strauß, Paare, Passanten, S. 56. Vgl. hierzu die Seduktionstheorie von Marcus Stiglegger: Ritual & Verführung. Schaulust, Spektakel & Sinnlichkeit im Film. Berlin 2006. Han, Agonie des Eros, S. 30. Strauß, Paare, Passanten, S. 57 f. Vgl. Lothar Pikulik: Romantik als Ungenügen an der Normalität. Am Beispiel Tiecks, Hoffmanns, Eichendorffs. Frankfurt a. M. 1979. Zur romantischen Liebe vgl. Bernhard Winkler: „Das Unum des Universums“. Zur synthetisierenden Kraft der Liebe bei Hölderlin, Novalis und Schlegel. In: Athenäum. Jahrbuch der Friedrich Schlegel-Gesellschaft 26 (2016), S. 121–160.
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schaftlichen, die auch bis heute77 als Strauß’ Perspektive in dieser Frage gelten kann: „gibt es denn etwas weniger Verführerisches als die Idee des Sozialen schlechthin? Nullpunkt der Verführung. Gott selbst ist niemals so tief gefallen.“78 Für Strauß’ Erzähler jedoch hat Kunst eine Erinnerungsfunktion,79 die den Rezipient✶innen durch die Präsentation von Liebesgeschichten verschüttete Formen des Erotischen wieder zugänglich machen kann. Über erotisierte Erinnerungen ist die Imagination eines „geschichteten Augenblick[s]“80 denkbar, die uns in die Frühzeit des Verliebtseins zurückführt und uns das Verhältnis von sozialem Alltag und ekstatischer Intensität überdenken lässt. Dadurch wird eine Revision sowohl der ästhetischen als auch der erotischen Erfahrung möglich, die durch die Lektüre von Liebes-Fragmenten ausgelöst werden, in denen vergessene oder alternative Diskurse des Erotischen beschrieben werden. Strauß’ Fragmente haben einen induktiven81 Charakter in mehrfacher Hinsicht: sie evozieren sinnliche Intensität, die aber jeweils in intellektuelle Reflexion eingebettet ist und dadurch Bild und Reflexion vereinen.82 Der Erzähler beschreibt die Isolation des Paares als Ritual, in dem einzig und allein die Steigerung der Lust von Belang ist und wo alle Determinanten des Gesellschaftlichen, Sozialen, Geschichtlichen und Politischen ausgeschlos-
„Soziomania, Soziozentrismus: Die Gesellschaftsgesellschaft war die Geistesleidenschaft des 20. Jahrhunderts, soll es ewig dabei bleiben? Spielte bei einem Epochenwechsel, wie wir ihn erleben, der Intellekt überhaupt noch eine Rolle, so würde er zunächst seine Interessenzone überprüfen und sich mit Überdruss von den entleerten Diskursen des Sozialen abwenden, dem er zuvor die Vorherrschaft über alle menschliche Belange gesichert hatte.“ Botho Strauß: Kritisches Denken. Reform der Intelligenz. In: Die ZEIT (30.03.2017) (https://www.zeit.de/2017/14/kritisches-denkenbotho-strauss-intelligenz-populismus/seite-2; zuletzt abgerufen am 18.7.2021). Strauß’ Kritik in Paare, Passanten richtet sich auch gegen eine Lektüremethode, in der die Autonomie des Kunstwerks vernachlässigt wird und Literatur besonders nach seinem nützlichen, politischen oder gesellschaftskritischen Gehalt beurteilt wird: „Die Unsitte aber, ein Kunstwerk ausschließlich auf seinen kritischen Gebrauchswert hin durchzumustern, es auf dem Prüfstand entweder einer subjektiven ‚Betroffenheit‘ oder eines flachen Sozialkritizismus zu messen, untergräbt gewissermaßen die freiheitlich symbolische Grundordnung der Kunst.“ Strauß, Paare, Passanten, S. 109f. Baudrillard, Von der Verführung, S. 217. Vgl. hierzu auch Strauß, Paare, Passanten, S. 50 ff. Botho Strauß: Der junge Mann. Roman. München 1984, S. 10. Diesen induktiven Charakter hebt Strauß auch bei Ōshimas Film hervor, wenn er dessen Wirkung als „Aufstachelung, über die Sinne zu sprechen“ bezeichnet. Als reflexives Moment dieses Impulses kann hier folgendes gelten: „wir suchen hierdurch die schmerzliche Spaltung, daß unsere Sexualität für etwas bereit ist, das sich nicht leben läßt, zu überbrücken.“ Strauß, Paare, Passanten, S. 60. Vgl. hierzu Volker Hage: Schreiben ist eine Séance. Begegnungen mit Botho Strauß. Erster Teil: 1980. In: Strauß lesen, S. 188–206.
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sen sind. Es handelt sich um ein erotisches Experiment, das auch mit naturwissenschaftlichen Vokabeln erläutert wird: ‚Im Reich der Sinne‘ aber herrscht eine Art Generator, der durch physische Reibung immer neue Ströme des Begehrens erzeugt, ein Konstruktivismus der Lust, der nur Wachstum, Steigerung und Übersteigerung kennt. Es bleibt bei dem asozialen, hermetischen Ritual [...]. In der Isolationshaft der Lust gib es keine Verworfenheit, keine Reibung an äußeren Widerständen, nicht den Schmutz irgendeiner Ablenkung, keine Biologie und schließlich kein Essen, keine Träume, keine Arbeit; der Purismus des sexuellen Tauschs ist total. Und da kein anderes Lebewesen auf Erden zu einer solchen sexuellen Verschwendung und Autonomie die natürlichen Anlagen besitzt, ist der Film zugleich auch ein elementarisches Lehrstück über ein Grunddilemma der menschlichen Gattung.83
Auch Baudrillard hebt die „verführerische, agonistische Logik“84 des Films hervor, der nicht Sexualität als solche darstelle, sondern Erotik als Ritual, Zeremonie und kriegerischen Akt inszeniere, die durch gegenseitige Überbietung funktioniere. Bei Strauß und Baudrillard steht daher die Zeichenhaftigkeit von Sexualität und Verführung im Zentrum von Ōshimas Film, weswegen von äußeren Kontexten komplett abstrahiert werden kann, um ein Kammerspiel der Lust zu präsentieren.85 Diese Reduktion des Settings, kombiniert mit einer sexuellen Übersteigerungslogik, wie sie sich in Reich der Sinne findet, erprobt Strauß dann auch in seinem Drama Die Fremdenführerin (1986) und später in Kongreß. Die Kette der Demütigungen (1989). Deutlich wird auch die Unmöglichkeit der vollendeten Liebe in der Realität, sodass der Höhepunkt der erotischen Ekstase gleichzeitig die Trennung der Individuen – hier explizit durch den kastrierenden Schnitt – bedeutet. In Strauß’ Reflexion wird der notwendig imaginäre Charakter eines Lustsystems offengelegt, der lediglich im Bereich des ästhetischen funktionieren kann, „denn, wie gesagt, ist die Lust zur immerwährenden Lust lediglich eine Konstruktion der Sinne“.86
Strauß, Paare, Passanten, S. 58. Baudrillard, Von der Verführung, S. 67. Marcus Stiglegger klassifiziert nach Linda Williams Im Reich der Sinne als Werk des „ästhetischen Sadomasochismus“, bei dem sadomasochistische Impulse der Sexualität über Regeln und Rituale „in einem komplexen, ausgeklügelten Szenario vermittelt werden“. Marcus Stiglegger: SadicoNazista. Geschichte, Film und Mythos. 4. Aufl. Norderstedt 2016, S. 69; Linda Williams: HardCore. Macht, Lust und die Traditionen des pornographischen Films. Basel 1995, S. 239 ff. Strauß, Paare, Passanten, S. 58.
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Hier zeigt sich eine düstere Seite der Erotik, die – in der Paraphrase Georges Batailles – vom Marquis de Sade formuliert wurde, „daß nämlich der Liebesimpuls, bis zum äußersten gesteigert, ein Todesimpuls ist“.87 Erotik ist in diesem Sinne eine maximale Entfernung vom Alltäglichen und Sozialen des regelmäßigen Lebens, eine gewalttätige Störung des diskontinuierlichen Individuums, die ihre höchste Intensität in der Nähe des Todes besitzt: „Die ganze erotische Veranstaltung ist auf eine Zerstörung der Struktur jenes abgeschlossenen Wesens ausgerichtet, das der Partner des Spiels im Normalzustand ist.“88 Etwas anders als Bataille aber interpretiert der Erzähler den „Aufwand der radikalen (im Unterschied zur eingemeindeten und nachlassenden) Liebe“89 als Erinnerung und rituelle „Erfüllung des Ersten Augenblicks“90. Strauß‘ sakral-poetisches Verständnis des Rituals aber – das ich an anderer Stelle rekonstruiert habe91 – scheint auch hier über den vergegenwärtigenden Akt der Erinnerung auf den Zugang zu einer transzendenten Sphäre der Kontinuität gerichtet zu sein, wie sie für Batailles Theorie des Erotischen fundamental ist. Erotik ist hier als gewaltsame Bewegung aus der Alltäglichkeit zu sehen, als Figuration der Transzendierung, die über Ekstase, Rausch und Frenesie eine maximale Distanz zur Sphäre des Profanen schaffen will. Medium dieser Bewegung ist die Literatur, die damit den sakralen Charakter des Rituals erhält und über die Rezeption des Werkes die Vergangenheit in der Gegenwart präsentisch erlebbar macht.92 Über poetische Gegenerzählungen schafft Strauß also nicht nur einen erotischen Widerstand, der sich als Gesellschaftskritik geriert, sondern einen „Weg von der Sinn-Leere zur ästhetisch gesetzten Sinnhaftigkeit“,93 wie es Pia Janke formuliert. Diese Figuration, die als Bewegung von Abwesenheit zu Anwesenheit beschrieben werden kann, verbindet bei Strauß religiöse mit erotischen Aspekten, sodass Ritus, Zeremonie und andere genuin ästhetisch geprägte Elemente des Heiligen bei ihm häufig erotisch aufgeladen sind. Strauß’ Figurationen sind also Ausdruck einer negativen Erotologie, die über Techniken der Distanzierung eine Steigerung der Lust am Text hervorbringen und durch transgressive Textstrategien ein hohes Maß an ästhetischer Intensität gene Bataille, Die Erotik, S. 43. Bataille, Die Erotik, S. 20. Strauß, Paare, Passanten, S. 59. Strauß, Paare, Passanten, S. 59. Vgl. Bernhard Winkler: Die Rettung des Heiligen durch die Kunst. Literatur als Ritual bei Botho Strauß. In: „Polytheismus der Einbildungskraft“. Wechselspiele von Literatur und Religion von der Aufklärung bis zur Gegenwart Hg. v. Tomas Sommadossi. Würzburg 2018, S. 275–292. Vgl. Winkler: Literatur als Ritual, S. 290–292. Janke, Der schöne Schein, S. XII.
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rieren. Dem durch Nützlichkeit und Nüchternheit geprägten rationalisierten Eros der Bundesrepublik der 1980er Jahre stellt er poetische Entwürfe gegenüber, die aus einer Vielzahl von Intertexten aufgebaut sind und verschiedene vergangene (und verlorene) Liebescodes variieren. Dieser erotische Widerstand gegen konsumkapitalistische Phänomene funktioniert in Paare, Passanten durch eine enge Bindung an gesellschaftliche Phänomene und deren flaneurhafte Beobachtung. Ökonomische Kalkulation, die Warenförmigkeit der erotischen Beziehung, die Rationalisierung der Liebe und die banale Konsumierbarkeit des Eros sind also die erklärten Feindbilder in Strauß’ fragmentarischem Erzählkosmos. Der romantische Kampf gegen das Philistertum wird von Strauß auf die kulturindustriell geprägte Gesellschaft der 1980er Jahre übertragen und als poetischer Außenseiter94 hält er den Schild der Poesie hoch gegen die Banalisierung des Erotischen.
Vgl. Bernhard Winkler: Der Dichter als Idiot. Zur Poetik des Außenseiters in Botho Strauß’ ‚Lichter des Toren‘. In: Studia theodisca 23 (2016), S. 33–52.
Philippe Roepstorff-Robiano
Der Homo oeconomicus als Lustmörder. Liebe und Ökonomie in Elfriede Jelineks Gier „Zwei Beine spreizen sich, ganz für ihn allein, einfach so, und ein ganzes Haus kommt in ihrer Mitte daher.“1 So heißt es in Elfriede Jelineks Gier (2000) aus der Perspektive des Landgendarmen Kurt Janisch, der die alleinstehende ehemalige Fremdsprachenkorrespondentin Gerti sexuell hörig macht, um sich ihr Haus unter den Nagel zu reißen. Die surrealistische Metapher eines Hauses, das dem Schoß einer verdinglichten Frau entspringt, deutet auf eine diskursive Engführung von Liebe und Ökonomie, die Jelineks sogenannten Unterhaltungsroman durchzieht. Dabei werden zwei Arten von Gier gegeneinander ausgespielt: „Der Gendarm wird von einer Art Gier, die unmerklich kam, [...] inzwischen ganz beherrscht“ (G, 8), und zwar der Geldgier. Nach jeder Finanzkrise wird die Geldgier von Bankern, Managern und CEOs routiniert als Ursprung des Übels kapitalistischer Exzesse angeprangert und damit auf ein paar schwarze Schafe geschoben, deren sich allzu schnell vermehrenden Nachkommen die blühenden Landschaften kapitalistischen Wachstums abgrasen; nicht umsonst heißen Zinsen im Altgriechischen tókos, also Sprösslinge. Jelinek macht es sich freilich nicht so einfach, zumal der Protagonist ihres Romans ein belangloser Landbeamter ist. In ihrem Text gesellt sich zur Geldgier noch eine zweite Spielart der Gier, die Jelineks Konzeption der gesellschaftlichen Funktion und Funktionsweise von Gier zu einer komplexen Konstellation werden lässt: die Gier nach Liebe. Während Janisch nach ökonomischen Werten giert, verkörpert Gerti diese diffusere Form der Habgier, die dem geldgierigen Mann bedrohlich werden könnte: „Nur mir hat er [Janisch] einmal, schon sehr betrunken, erzählt, daß er von den Frauen lebendig gegessen zu werden fürchte“ (G, 129). Das Ich, das Janisch indirekt zitiert und mit ihm getrunken hat, verweist auf die immer wieder in ihrer eigenen erzählerischen Einöde erscheinenden auktorialen Erzählerin, der es in erster Linie nicht um (psychologisch) wahrscheinliches Erzählen geht, sondern darum, die ‚libidinöse Ökonomie‘2 des Spätkapitalismus „bis
1 Elfriede Jelinek: Gier. Ein Unterhaltungsroman. Reinbek bei Hamburg 2002, S. 161. Im Folgenden wird aus Jelineks Roman in Klammern mit der Abkürzung „G“ zitiert. 2 Den Begriff entlehne ich Jean-François Lyotard: Libidinöse Ökonomie. Zürich u. a. 2007. Lyotard dekliniert in diesem von Gilles Deleuze und Félix Guattaris Anti-Ödipus inspirierten Werk die verschiedenen Weisen durch, wie Ökonomie und Libido im Kapitalismus zusammenhängen. https://doi.org/10.1515/9783110740806-018
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zur Kenntlichkeit [zu] entstellen“3. Jelineks Erzählerin frisst sich gierig4 durch das diskursive Material Landidyllen, Krimis, Artikel aus der Regenbogenpresse und Fernsehsendungen hindurch und speibt es als Montage namens Gier wieder aus.
1 Gier im ökonomischen Diskurs Der homo oeconomicus wird spätestens von Max Weber als protestantischasketischer Meister der Triebsublimierung kodiert. Auch die Habgier sei dabei verworfen worden: Auf der Seite der Produktion des privatwirtschaftlichen Reichtums kämpft die Askese gegen [...] rein triebhafte Habgier, – denn diese ist es, welche sie als „covetousness“, als „Mammonismus“ etc. verwirft: das Streben nach Reichtum zu dem Endzweck, reich zu sein. Denn der Besitz als solcher ist Versuchung.5
Dass Weber von der rein triebhaften Habgier spricht, deutet anscheinend auf eine andere Spielart der Habgier, die nicht rein triebhaft wäre. Diese fehlt jedoch in seinem Buch zur protestantischen Ethik und dem Geist des Kapitalismus. Weber kodiert die Genese des homo oeconomicus individuell als – tendenziell gerechtfertigten6 – sozialen Aufstieg der Fleißigen und Sparsamen. Dabei gehört auch die Sparsamkeit zum semantischen Vorhof des lateinischen Begriffs avaritia. In der Nachfolge von Weber hat Albert O. Hirschman diese nicht rein triebhafte Habgier bei aufklärerischen Philosophen wie Montesquieu oder David Hume aufgespürt. Laut Hirschman haben diese Denker in eher randständigen Bemerkungen die Todsünde der avaritia implizit aufgewertet. Dabei verschiebt sich der Blick vom protestantischen Individuum auf den kapitalistischen Handel als
3 Elfriede Jelinek: Sturm und Zwang. Schreiben als Geschlechterkampf. Elfriede Jelinek im Gespräch mit Adolf-Ernst Meyer. Hg. v. Adolf-Ernst Meyer. Hamburg 1995, S. 49. 4 Vgl. Gabriella Nádudvari: Kommunikation gegen die Gier – eine Sonderform des EuropaDiskurses. In: Europa in den europäischen Literaturen der Gegenwart. Hg. v. Wulf Segebrecht, Claude D. Conter, Oliver Jahraus u. Ulrich Simon. Frankfurt a. M. 2003, S. 415–424. 5 Max Weber: Die Protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. Hg. v. Klaus Lichtblau u. Johannes Weiß. Wiesbaden 2016, S. 164. 6 Er schreibt sich damit bewusst oder unbewusst in die bis Adam Smith zurückreichende Tradition ein, den Ursprung materiellen Reichtums und damit auch der ungleichen Verteilung des Reichtums auf die Tugendhaftigkeit des Bürgertums zurückzuführen. Eine Kritik dieser Vorstellung der ‚sogenannten ursprünglichen Akkumulation‘ liefern bekanntlich Karl Marx und Rosa Luxemburg.
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System.7 Montesquieu beispielsweise stelle sich den Handel als doux commerce unter nach Geld gierenden Individuen vor. Der schottische Moralist Francis Hutcheson wiederum unterscheidet die Art Gier, die hier im Spiel ist, folgendermaßen von der rein triebhaften Habgier: „... the calm desire of wealth will force one, tho’ with reluctance, into splendid expences when necessary to gain a good bargain or a gainful employment; while the passion of avarice is repinging at these expences.“8 Hirschman kommentiert, dass sich ‚calm desire of wealth‘ nicht hinsichtlich seiner Intensität von der avaritia unterscheide, sondern bezüglich der „willingness to pay high costs to achieve even higher benefits. A calm desire is thus defined as one that acts with calculation and rationality“.9 Unter dieser fortan als Interesse firmierenden Leidenschaft lässt sich unschwer die neuvermarktete Habgier erkennen, wobei das Interesse sich ebenfalls vom Geiz im Sinne des Besitzstrebens abhebt: Fortan werden nicht mehr irdische Güter oder Geld begehrt und gehortet, vielmehr werden diese dem entleibten Mammon im Zuge von splendid expenses geopfert. Das Objekt dieses Begehrens ist nicht mehr ein Gebrauchswert, dieses Begehren richtet sich – notfalls auch asketisch – auf den Tauschwert. Statt die Entwicklung des Kapitalismus auf eine Ethik zurückzuführen, die die Tugend des Fleißes legitimierte und zugleich das Streben nach Reichtum ablehnte, bettet Hirschman die Produktion habgieriger Individuen in einen diskursiven Wandel ein, der den Begriff des Reichtums selbst betrifft. Der Geizhals und der Habgierige wären demnach nicht etwa verschwunden, weil die protestantische Ethik sie besiegt hätte; ihre Art, Güter an sich zu reißen und zu horten oder zu verzehren, wäre vielmehr ab einem gewissen Punkt obsolet geworden. Dementsprechend merkt Karl Marx im Kapital an: „Verschluß des Geldes gegen die Zirkulation wäre grade das Gegenteil seiner Verwertung als Kapital, und Warenakkumulation im schatzbildnerischen Sinn reine Narrheit.“10 Narrisch an der Habgier alter Couleur wäre die Nichteinhaltung des obersten Gebots der kapitalistischen Produktion: die Verwandlung von Geld in Kapital. Geld kann aber nur in Kapital verwandelt werden, indem es wieder in den Produktions7 Hirschman richtet sich explizit gegen Webers individualisierenden Ansatz: „Weber claims that capitalistic behavior and activities were the indirect (and originally unintended) result of a desperate search for individual salvation. My claim is that the diffusion of capitalist forms owed much to an equally desperate search for a way of avoiding society’s ruin, permanently threatening at the time because of precarious arrangements for internal and external order.“ (Albert O. Hirschman: The Passions and the Interests. Political Arguments for Capitalism before Its Triumph. Princeton u. a. 2013, S. 130.) 8 Zit. n. Hirschman, S. 65. 9 Hirschman, S. 65. 10 Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Berlin 1966, S. 615.
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kreislauf eingespeist wird und damit – sei es in Form von Expansion oder Innovation – zur Produktion von mehr und mehr Mehrwert beiträgt.
2 Der habgierige Landgendarm Diskursiv lassen sich also mindestens drei Spielarten der avaritia im politökonomischen Denken des 18. und 19. Jahrhunderts nachweisen: der Geiz des Goldstücke hortenden Schatzbildners; die Habgier als Gelüst nach Besitztümern zwecks Genusses; und schließlich die Profitgier des homo oeconomicus. Es ist nun offensichtlich, dass den Landgendarmen aus Jelineks Gier zu Beginn der Erzählung eine Gier nach ökonomischen Werten antreibt. Das hat auch seinen Grund: Er ist hochverschuldet. Diese Verschuldung selbst lässt sich in Jelineks Text implizit als eine Folge jener rein triebhaften Habgier auffassen, welche die sich in den 1990er Jahren sogar bis in die Steiermark ausbreitende Konsumgesellschaft antrieb. Im Vergleich zu einem städtischen Milieu eignet sich der ländliche Schauplatz des Romans besser, um diesen Wandel mit scharfen Kontrasten nachzuzeichnen, denn an diesem abgelegenen Chronotopos bestehen die patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen aus dem letzten Jahrhundert immer noch fort und der moderne homo oeconomicus muss sich allererst herausbilden. Ein Landgendarm, „der süß im Traum von Macht und Größe schläft“ (G, 12), steht im Zentrum, ein Mann, der seine Macht schamlos ausnützt, um an Geld, Grundbesitz und Frauen zu kommen, aber sich dabei auch verschuldet hat, also mit seiner Macht unter neuen kreditwirschaftlichen Rahmenbedingungen nicht so recht umzugehen weiß. Mit einer solchen Figur lässt sich im Stile Jelineks recht unglimpflich umgehen: „Ich hoffe, ich schaffe es, daß Sie noch einen glücklichen Moment von ihm [dem Gendarmen] erleben!“, heißt es in Richtung Leserschaft. „Aber ich bezweifle es, ich mag ihn jetzt schon nicht. Das wirft man mir oft vor, daß ich dumm dastehe und meine Figuren fallenlasse, bevor ich sie überhaupt habe, weil sie mir offengestanden rasch fade werden“ (G, 13). Der Gendarm hat seinem – ebenso ungustiösen – Sohn das Haus einer alten Frau in Form einer Leibrente11 gekauft. Der Kaufvertrag sieht vor, dass die Verkäuferin ihre Immobilie bis an ihr Lebensende bewohnen darf und bis dahin vom Käufer eine Rente erhält. Erst nach dem Tod der alten Frau ginge
11 Vgl. Finanzlexion von A bis Z. http://www.finanzlexikon-online.de/leibrente.html (letzter Zugriff am 27.6.2022).
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die Immobilie in den Besitz der Janischs über; leider will sie nicht schnell genug sterben: Ein Häuschen hat der Sohn auch schon, super, wenn es ihm auch noch nicht richtig gehört, es ist auf Leibrente erworben. Aber der Leib, der derzeit noch Eigentümer des Hauses ist, hat danach leider und unerwartet, mit wechselndem Erfolg, aber im großen und ganzen doch recht tüchtig weitergelebt, obwohl er ursprünglich nichts als eine Ruine schien [...] Man kann sie auch noch nicht z. B. mit Maiglöckchenblättern umbringen, es wäre zu früh, es entstünde Gerede in dieser eng begrenzten Gemeinschaft [...]. (G, 15)
Aus diesem Zitat in freier indirekter Rede geht hervor, dass Vater und Sohn in ihrer Geldgier durchaus über (Frauen)leichen gingen. Dieser erste Eindruck bestätigt sich später: „Sein Sohn ist jetzt schon eifrig am Raffen wie der Vater, und er ginge über Leichen, wenn die Leute nicht vorher freiwillig sterben würden, manchmal allerdings recht spät“ (G, 21). Der Gendarm droht, sein Auto, sein Haus, seinen Status in der Gemeinde zu verlieren, er steht kurz vor dem Ruin. Zwar ist er mit dem Filialleiter der örtlichen Raiffeisenbank in sämtlichen Vereinen und übt am Stammtisch Druck auf ihn aus, „die Frist [...] noch einmal auf dieser Folterbank“ zu strecken, aber der Filialleiter könnte seine Stellung verlieren und sein Schuldner sich „in ein winselndes Wrack“ (G, 24) verwandeln, die Freunderlwirtschaft hilft auch nichts mehr, wenn die Zahlen nicht stimmen. Deshalb kommen Sohn und Vater auf die Idee, sich zur „Firma Häuserklau und Sohn“ zusammenzuschließen und „Frauen den Hof“ (G, 33) zu machen, die in ihr Beuteschema passen: „Die Männer dieser Frauen sollten möglichst verstorben oder nie vorhanden gewesen sein.“ Das trifft auf Gerti zu. „Eigene Kinder sollen auch nie dagewesen sein“ (G, 34). Auch das trifft auf sie zu. Und freilich sollen sie, wie Gerti, „Häuser oder Eigentumswohnungen in der benachbarten Kleinstadt besitzen“ (G, 33), die sie dem Gendarm überschreiben würden. Alle diese Informationen holt sich der Gendarm als Vertreter einer Behörde ein, bevor die Wahl auf Gerti fällt. Dabei treibt die beiden Männer der Erwerb von mehr und mehr Grund und Boden an: Nur keine Sorge, wir haben bei alledem schon das übernächste Haus im Auge, obwohl wir uns mit dem letzten und dessen Umbau schon übernommen haben werden. Der Grund dafür wird genug Besicherung für die Hypothek des ersten liefern. Wir können eine ganze Kette von Eigenheimen erwerben, eins sichert immer das andre [...], wenn auch nicht rechtmäßig und wenn wir nur wüßten welche. (G, 22)
Dieser homo oeconomicus ist allerdings nicht so, wie ihn sich die Aufklärer Montesquieu oder Hume vorgestellt haben. Er braucht seine Leidenschaften gar nicht zu zügeln, um Gewinn zu erzielen, ganz im Gegenteil lebt Kurt Janisch, dieser seine homoerotischen Neigungen unterdrückende Faschist, seine gegen Frauen gerichteten Gewaltfantasien in vollen Zügen aus und macht dabei eine
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Marge. Zudem beruht sein Geschäftsmodell darauf, dass ihm eine lüsterne, liebesgierige Frau in den Schoß fällt.
3 Liebeshungrige Damen Die oben skizzierte Strategie des „Liebeskommandos“12 (G, 34) Häuserklau und Sohn beruht auf der Täuschung einer „liebeshungrige[n] Dame[]“ (G, 8). In Jelineks Text wird die Wollust (lat. luxuria) also gerade nicht durch den Handel zwischen rationalen Männern ausgeschaltet, wie es die Aufklärer vorsahen, vielmehr beruht das in ihm beschriebene Geschäftsmodell auf dem Entzünden der Liebe. Damit diese Kombination von sexueller und ökonomischer Ausbeutung gelingt, braucht es allerdings ein weibliches Pendant zu Janisch, diesem „gutaussehende[n] und scheinbar leichtherzige[n] Mann, [...] wie er uns Frauen eben gefällt“. „Damit lässt sich arbeiten“, kommentiert eine auktoriale Erzählerin13, sich mit jenen Frauen gleichsetzend, die dem zweifelhaften Charme eines Janisch zu verfallen drohen. Bereits dieser ironisch gefärbte Erzählerinnenkommentar offenbart das Dilemma der Arbeit an diesem Text: Die Konzeption eines weiblichen Pendants zu Janisch impliziert die Darstellung einer schwachen weiblichen Figur, die sich nur mit Bezug auf ihr männliches Gegenüber definieren lässt. Die Figur der Gerti entsteht zunächst als Buchstabenkombination am Computerbildschirm einer die Illustrierten und das Fernsehen konsumierenden auktorialen Erzählerin. Im Gegensatz zu ihrem männlichen Pendant ist diese literarische Figur nicht von Anfang an adamitisch benannt und bekannt, sondern zunächst nur als Stimme vernehmbar, die sich erst im Laufe des Schreibprozesses zu einer Figur materialisiert, ja die Erzähl- und Figurenrede sind nicht klar voneinander unterschieden, was sich auch im Einsatz der Ersten Person Plural niederschlägt: Es ist ja verständlich, daß wir, vor allem die mit den älteren Geschlechtern, die nicht viel gesehen haben durch die kleinen Ausstiegsluken des Körpers, uns trotzdem Fremde bleiben müssen! wir liebeshungrige Damen, wir kennen diesen Gendarmen [...] leider nicht persönlich. Keine Sorge, ich mach das schon: Um ihr kleines Liebesglück, das, wie
12 Vgl. Elisabeth Pfister: Unternehmen Romeo. Die Liebeskommandos der Stasi. Berlin 1999. 13 Jeanine Tuschling-Langewand weist nach, inwiefern diese Erzählerin als auktoriale Erzählerin inszeniert wird. Vgl. Jeanine Tuschling-Langewand: Autorschaft und Medialität in Elfriede Jelineks Todsündenromanen Lust, Gier und Neid. Marburg 2016, S. 105–119.
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jedes andere auch, auf Täuschung beruht, nicht zu gefährden, übernehme ich jetzt lieber allein das Erzählen. (G, 8)
Es sind austauschbare Frauen, die hier entworfen werden, keine Individuen. Will die Erzählerin die Lage dieser Frauen kritisch schildern, muss sie sie misogyn auf einen Abklatsch ihrer Männer reduzieren. Das Narrativ, auf das Jelinek zurückgreift, gleicht, wie schon beim Vorläufer Lust (1989), einem satirischen Pornoskript. Der sexy Cop mit dem Schuldenproblem gabelt liebeshungrige Damen bei der Kontrolle an der Landstraße auf. Die Frauen sind manchmal schon dankbar, daß sie ihr Getriebe überhaupt noch haben, wenn des Lebens Treiben, Lachen, Rufen langsam zu verebben beginnt. Da muß man bloß, zumindest für eine Weile, ihre Anlagen pflegen, man muß während der Dienstzeit mit seinem PKW immer wieder kurz, wie zufällig, vorbeikommen, auf eigens erdachten Routen und Umwegen, auch alles in Ordnung die Dame? Ich hatte vorhin ein ganz schlechtes Gefühl, aber immerhin war es eins. Ich hatte schon lang keins mehr. (G, 37)
Der PKW, der im Zuge eines Ruins verlorenginge, wird hier zu einer recht geschmacklosen Metapher für den Sexualverkehr, und der Besuch artet schnell zum Porno aus: „Vorsicht, mein Schwanz entspringt mir sonst noch bei Ihrem Anblick, schauen Sie, wie er tropft, Moment, ich ginge vielleicht vom Teppich weg, aber Ihr Melanboden ist verdammt hart, doch ich kenne Härteres, sehen Sie es hier und jetzt?“ (G, 37). Die Parallelisierung von hartem Schwanz und hartem Boden durch eine mit dem Gendarmen verschmelzende Erzählstimme verbindet das Begehren des Mannes metonymisch mit dem Haus der Frau, wobei das Begehren der Frau von Anfang an negiert wird. Somit wird eigentlich nicht der Frau „der Schwanz eingeführt“ (G, 36), um „ihr den Rahm“ (G, 36) abzuschöpfen, sondern der auf ihr Haus reduzierten Frau, der Haus-Frau, deren oikos das Sexualobjekt des Habgierigen ist. Das schlägt sich auch in einer metaphorischen Verhäuslichung des weiblichen Geschlechts nieder: Was die wünscht, ist, mit dem Bauch voran in die Matratze gedrückt und rasch geöffnet zu werden, für den sofortigen Verbrauch bestimmt, denn sie ist für alles längst aufgeschlossen, hat aber nur selten die Gelegenheit, zum Aufsperren auch noch gut geölt zu werden. Damit man das Quietschen der Scharniere (das Geheimfach wird nicht oft ausgezogen!) nicht so laut hört. (G, 41)
Es ist ein völlig verkehrter Sexualverkehr. Während der Gendarm die verdinglichte Haus-Frau metonymisch auf ihr Hab und Gut reduziert und sie somit als fühlendes Lebewesen negiert, steigert sich die Frau in Liebesphantasien, die durch die systematische Vernachlässigung des Gendarmen nur intensiviert werden:
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Der Gendarm versteht es, mit den Frauen umzugehen, sakra. Diese Person, allein auf der staubigen Straße, im Fensterrahmen einer Mietwohnung, die müßte jetzt eigentlich ganz sie selbst sein in ihrer gähnenden ungeduldigen Verstimmtheit, so, die hat jetzt lange genug gekocht, jetzt müßte eigentlich das Telefon klingeln. O du bist es. Angenehm. Wo bist du. Die ganze Zeit hat sie nach sich selbst gesucht, aber eigentlich nach einem anderen, der sie versteht, denn dann wird sie auch wissen, wer sie ist. (G, 261)
Verstehen heißt hier, dass die Identität der Geliebten sich im Rekurs auf das Liebesobjekt konstituiert. Auch in Niklas Luhmanns Liebe als Passion spielt das Verstehen diese Rolle. Es wird dort dargestellt als alltagssprachliche Codierung eines komplexen Kommunikationsprozesses, durch den die „Internalisierung des subjektiv systematisierten Weltbezugs eines anderen“14 erreicht wird. Das Individuum könne sein Verhältnis zur Welt nicht als eine Handlung begreifen, dafür brauche es einen anderen, „der in die Rolle des Weltbestätigers gedrängt“15 werde, also auf den eigenen Weltbezug wiederum reagieren müsse, indem er ihn entweder annehme oder ablehne. Abstrakt formuliert wird das Erleben des Alters somit zur Grundlage des Handelns eines Egos. Spielen wir das einmal für Gerti/Janisch durch. Gerti wäre willens, Janischs Weltbezug kennenzulernen und zu internalisieren, also auf Janischs Weltverhältnis positiv zu reagieren, ja sich vollkommen danach auszurichten. Ego (Gerti) will gemäß dem Erleben des Alters (Janisch) handeln und handelt gemäß ihm: banges Warten am Telefon; Empfänge im Negligé; Analsex. Die Gewalttätigkeit des Alters Janisch deutet jedoch auf eine Zurückweisung dieses Begehrens, ihn kennenzulernen und dadurch sich selbst kennenzulernen, denn sein Handeln geht ja eben nicht auf Gertis Erleben ein, sondern übergeht dieses Erleben systematisch. Beispielsweise mag Gerti Analsex eigentlich gar nicht, er tut ihr sogar weh. Der romantische Liebesfunke springt aber nur über, wenn das Verstehen auf Gegenseitigkeit beruht, also symmetrisch ist: Ego lernt sich durch Alter, Alter durch Ego kennen und lieben. Setzen wir nun Janisch an die Stelle des Egos, wird klar, worum es diesem Ego geht: das Handeln des Alters zum eigenen Erleben zu machen, das heißt konkret, von der Überschreibung des Grundbesitzes (Handeln des Alters) zu profitieren (Erleben des Egos). Das ist auch, gemäß der Kreuztabelle, die Luhmann entworfen hat (s. Tab. 1), die Funktion der Kommunikationsmedien Eigentum und Geld.
14 Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a. M. 1994, S. 30. 15 Luhmann, S. 26.
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Tab. 1: Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien nach Luhmann.16 Ego erlebt
Ego handelt
Alter erlebt
Ae → Ee Wahrheit Wertbeziehungen
Ae → Eh Liebe
Alter handelt
Ah → Ee Eigentum/Geld Kunst
Ah → Eh Macht/Recht
Sexuell weist Janisch aber noch einen anderen intersubjektiven Bezug zu Gerti auf, und zwar insofern, als er sie zum Analverkehr nötigt, was einem Machtgestus gleichkommt. Janisch reagiert auf Gertis sexuelle Impulse, indem er gewalttätig wird. Alter handelt (bereitet sich zum Sexualverkehr vor), Ego handelt (wählt eine vom Alter abgelehnte Sexualpraktik). Dies entspricht wiederum dem Kommunikationsmedium Macht. Geht es Gerti um romantische Liebe, so geht es Janisch um Geld und Macht. Die Erwartung der Erwiderung romantischer Liebe gerät bei Jelinek zum Schlüsselmoment der Ausbeutung, die in der Auslöschung eines verwechselbaren, austauschbaren, zum allgemeinen Äquivalent geronnenen Individuums kulminiert: Gelt, Kurti. Geld, Gerti. Die Liebenden. Sie gehören einander schließlich zu jeder Zeit auch noch, ganz wie sie wollen. Zu allen Zeiten. Die Frau hat aufgehört zu existieren und lebt nur noch durch ihn. Ihre Schamlippen werden einmal kurz angehoben, wie vereinbart, er kommt herein, und die Lippen schließen sich zufrieden hinter ihm. (G, 293)
Christina von Braun weist in einem Beitrag zu Jelineks Stück Rein Gold (2013) darauf hin, dass das hier vorkommende germanische Wort ‚gelt‘ ursprünglich Götteropfer bedeutete, wobei das moderne Geld nicht mehr durch das Opfer, sondern durch den weiblichen Körper beglaubigt werde:17 Der Mann hat das
16 Vgl. Luhmann, S. 27. 17 Vgl. Christina von Braun: Das rote Blut des Kapitals. Die Realitätsmacht der Zeichensysteme Geld und Schrift. In: Kapital Macht Geschlecht. Künstlerische Auseinandersetzungen mit Ökonomie und Gender. Hg. v. Silke Felber. Wien 2016, S. 102. Der Band, aus dem dieses Zitat entnommen ist, widmet sich zwar Jelineks Auseinandersetzungen mit Ökonomie und Gender; leider gibt es keinen Beitrag zu Gier, der Fokus liegt eher auf Jelineks dramatischem Werk. Insgesamt gibt es bis dato wenige Beiträge zur Ökonomie in Jelineks sogenannten Todsündenromanen. Einer dieser wenigen Beiträge ist: Juliet Wigmore: Crime, Corruption, Capitalism:
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Geld, die Frau ist das Geld.18 In Gier wohnen wir einem pekuniären Opferritus bei, im Zuge dessen die Frau sich zunächst als Individuum nicht jenseits einer phallozentrischen Geschlechterordnung konstituieren kann, um dann körperlich ausgelöscht zu werden.
4 Auslöschung In Jelineks Roman Gier werden die Todsünden luxuria und avaritia zu einem die Frauen gängelnden Chiasmus des verkehrten Geschlechtsverkehrs konstelliert: Die wollüstige Gerti sucht in der Entfaltung ihrer Sexualität romantische Liebe, während ihr Gegenpart habgierig die Frau auf die Haus-Frau reduziert und „sie am liebsten in Fetzen reißen [würde], diese Frau“ (G, 292). Die prekären weiblichen Figuren materialisieren sich zunächst aus dem klischeehaften Sprachmaterial weiblicher Liebesdiskurse, und daraufhin wird ihre totale Auslöschung von Jelineks Text durchdekliniert. Etwas anderes als Liebe brauchen sie jetzt aber wirklich nicht mehr. Weil sie sonst nichts mehr haben. Ich frage Sie: Brauchen Sie etwas? Und das haben Sie mir geantwortet. Mit der Selbstfindung haben sie mir geantwortet. Irgendwo müssen sie sich einmal verloren haben, wo war das nur gleich, damit sie sich, umso triumphierender, aufrappeln und sofort wieder jemandem in den Rachen werfen können. (G, 263)
Die Frauen werfen sich freudig in die Rachen der Männer, wo sie sich selbst suchen, während die Männer sich bereits tief in ihre Vaginen gebohrt haben, um darin pekuniäre Werte zu finden. Ein gestaffelter Abgrund tut sich auf – der Abgrund des anderen (Rachen), der sie selbst (Vagina) als einen zu Grund und Boden (Haus) führenden Abgrund begreift. Eine surrealistische mise en abyme. Darüber hinaus stellt sich Jelineks Roman als eine doppelte Zerstückelung und Parzellierung dar, des Körpers und des Korpus. Grabienski, Kühne und Schönert weisen nach, inwiefern in Jelineks Roman ein Stimmen-Wirrwarr vorherrscht, das die narratologische Unterscheidung zwischen Fokalisierung und Stimme systematisch unterläuft.19 Die Erzählinstanz erscheint in einer Rahmen-
Elfriede Jelinek’s Gier. In: Cityscapes and Coutryside in Contemprorary German Literature. Hg. v. Julian Preece u. Osman Durrani. Bern u. a. 2004, S. 277–290. 18 Vgl. Christina von Braun: Der Preis des Geldes. Eine Kulturgeschichte. Berlin 2012, S. 386. 19 Vgl. Olaf Grabienski, Bernd Kühne u. Jörg Schönert: Stimmen-Wirrwarr? Zur Relation von Erzählerin- und Figuren-Stimmen in Elfriede Jelineks Roman Gier. In: Stimme(n) im Text. Narratologische Positionsbestimmungen. Hg. v. Andreas Blödorn, Daniela Langer u. Michael Scheffel. Berlin u. a. 2006, S. 195–232.
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erzählung nicht nur als an ihrem Laptop sitzende, stark an die biographische Person Elfriede Jelinek angelehnte auktoriale Erzählerin, die diese Erzählung eher widerwillig konstruiert, sondern taucht, wie schon mehrfach zu sehen war, auf der intradiegetischen Ebene als homodiegetische Erzählerin auf, die ihre Figuren manchmal sogar, wie im letzten Zitat, direkt anspricht. Dieser Verschleiß der Erzählstimme ist für die Figuren und die Erzählerin gleichermaßen bedrohlich. Denn die (Frauen)figuren können sich nicht konstituieren und bleiben tote Buchstaben, während die Erzählerin als inkompetente Lenkerin ihrer Geschicke mit einem Hang zu Kalauern hilflos „durchs Erzählgeröll“ (G, 162) stolpert. Das Dilemma eines weiblichen Schreibens, das sich der männlich eingerichteten Sprache bedient, findet Eingang in die Schreibweise. Die Zerstückelung betrifft also nicht nur den Körper der Frauen, die parzelliert und metaphorisch neu konstelliert werden, wenn sie in den Rachen ihres bereits in sie eingedrungen Liebhabers und damit in ihre eigene Vagina fallen; sie betrifft auch das Korpus der Schriftstellerin, das an jeder Stelle droht, seine Grenzen zu verlieren und fluide zu werden. Fluide sind nicht nur die Grenzen zwischen Autorin, Erzählerin und Figuren, auch Gerti zerfließt geradezu vor Verlangen: Manche Frau ist, offenbar aus Bösartigkeit, ziemlich hart im Nehmen und erbarmungsloser noch im Geben. [...] Diese Frau aber ist und bleibt weich und nachgiebig. Sie zerrinnt. Oder ist sie zu hart, um jemanden zu kränken? Ihr Wasser ist von niederen Organismen bevölkert, und sogar die duldet sie, die kleinen Trichomonaden, die sie auch vom Gendarmen bekommen hat. Geschenke von ihm kommen sonst nur äußerst spärlich. (G, 138)
Die Freigiebigkeit der Frau wird hier naturalisiert, wenn von einem Gewässer die Rede ist, das der Mann verseucht hat. Diese Wasser-Metaphorik wird weiter ausbuchstabiert: „Da willst du doch die ganze Zeit schon hinein, Kurti, mein Kurti, hab ich nicht recht, oder willst du was anderes? Nein. Nichts. Greif mal, wie feucht mein Sumpfland dort unten ist. Das ist alles für dich und deinetwegen passiert“ (G, 289). Aber dort will Kurti leider doch nicht hinein, vielmehr will er in den seit Ferenczi mit Geld assoziierten Anus20; Kurti will ins Nichts des Tauschwerts.
20 Vgl. Sándor Ferenczi: Zur Ontogenie des Geldinteresses. In: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 2 (1914), H. 6, S. 506–513.
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In einem weiteren Sumpfland, dem von der Industrie verseuchten Baggersee , wird die Leiche von Janischs zweiter ‚Geliebten‘ Gabi entsorgt, nachdem dieser sie beim Oralverkehr erdrosselt hat. Die junge Angestellte hat offenbar vom Plan des ‚Liebeskommandos‘ Wind bekommen und verlangt für ihr Schweigen mehr und mehr Geschenke. Der Mord aus Habgier ist eigentlich die logische Konsequenz von Janischs gewalttätigem Sexualtrieb. Er wird en passant geschildert: 21
Also noch einmal auf Position: Der Mann, verstanden?, der Frau: zugewandt, das Becken vorgeschoben, und der Kronenkorken, mit dem das Glied verschlossen ist, damit es nicht dauernd explodiert, womöglich ins eigene Gesicht hinein, der befindet sich im ebenfalls weit aufgespreizten Mund einer Frau, na, sag’s endlich, also: ein flüchtiger Druck auf, wie soll ich es erklären, also die Halsschlagader teilt sich an einer bestimmten Stelle etwas vorn am Hals, ja, dort, in zwei Teile, und dazwischen ist ein Nervenknoten, und der hats [sic] in sich, auf den dürfen Sie niemals drücken, das heißt auf beide Knoten gemeinsam, links und rechts, weil, sonst sterben Sie oder andere den Sekundentod [...]. (G, 178 f.)
Eine zunehmend an ihrer Erzählung verzweifelnde Erzählerin wird hörbar, sie verhaspelt sich im Aussprechen einer trigger warning, die mehrfach wiederholt wird: „Also, nein, nicht noch einmal: Es gibt einen Ort, dort sollte man nicht einmal hingreifen. [...] Die Menschen dürfen alles sehen und überall hingreifen und nichts begreifen, aber dorthin: bitte wirklich nicht.“ Der Frauenmord selbst wird von dieser Erzählerin, die „sowieso immer die letzte [ist], die etwas erfährt“ (G, 180), ausgespart. „Und jetzt wird es weggeschafft, das Mädchen“ (G, 181). In dieser bitteren Passage fällt die zynische auktoriale Erzählerin aus der Rolle, insofern sie sich offenbar schämt, das nicht verhindern zu können, was aus der Anlage ihres eigenen Romans notwendig folgt – die totale Auslöschung der Frauenfiguren.
5 Horror vacui des Tauschwerts In Gier überlebt einzig der Frauenmörder. Alle Klischees und Topoi wie das der liebeshungrigen Dame werden zerschrieben und zur umgekippten Idylle, alles, was sich Gerti von der Beziehung zum Gendarmen erwartet, erweist sich als
21 Der Baggersee repräsentiert laut Rita Svandrlik eine ‚umgekippte‘ Idylle, die zerschrieben wird. Vgl. Rita Svandrlik: Gestörte und umgekippte Idyllen. Zum Komplex ‚See‘ in Adalbert Stifters Hochwald und Elfriede Jelineks Gier. In: Idyllik im Kontext von Antike und Moderne. Tradition und Transformation eines europäischen Topos. Hg. v. Nina Birkner u. York-Gothart Mix. Berlin u. a. 2015, S. 284–289; 294–301.
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Illusion, und Frauen wie Gabi, die sich am Gewinn beteiligen wollen, werden erdrosselt. Den Frauenmörder – der sich, wie wir oben gesehen haben, in die Vagina jener Frau begibt, die er bereits im Rachen sitzen hat, – interessiert ausschließlich die Liquidität im übertragenen Sinne, die zum Haus gerinnt, das der Frauenmörder aus Gertis Vagina birgt, und bevor die Tinte auf dem notariell beglaubigten Dokument noch getrocknet ist, wirft er blutüberströmt die Frau aus. Dabei gibt es aber auch ein Moment des horror vacui, das in einen die weibliche und die männliche Perspektive auf eine eigentümliche Weise verschaltenden Satzbau gegossen wird: Zuerst hat sie ihn sanft in sich hineingeleitet, und dann hat er geglaubt, er kommt nicht mehr heraus. [...] Diese Frau hat sich damals auf ihn geschleudert, hat seinen Schwanz mirnichts diraberauchnichts herausgenommen und ihn als Leitfaden in ihr Inneres benutzt. Doch als er drinnen war: gähnende Leere. (G, 255)
Der Schwanz als Leitfaden ins Innere der Frau, das erinnert an Luhmanns Modell des Verständnisses, wobei die Selbstreflexivität dieser Form des Verständnisses auch auf eine grundlegende Asymmetrie im Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern hindeutet, die Luhmann nicht eigens reflektiert: Gerti selbst kann nur die passioniert Leidende sein, die ihren Kurti als Leitfaden nimmt, andersherum geht es nicht. Diese asymmetrische Liebe kann mit der marx’schen Leitdifferenz zwischen Gebrauchswert und Tauschwert noch näher bestimmt werden. Der Männliche Körper mit seinem lustig aufrichtbaren Phallus stellt für die liebeshungrige Dame einen Gebrauchswert dar, sie benützt ihn, um sich sexuell zu befriedigen und in ihrer Suche nach Liebe. Wollust und Fleischeslust bedingen eine nicht in die Profitlogik integrierbare Verschwendung, die den ökonomischen Mann in seiner Existenz bedroht. Der homo oeconomicus wiederum ekelt sich vor dem weiblichen Körper, den er negiert. Für ihn ist er zwar auch ein Gebrauchswert, aber einer, aus dem Tauschwert gewonnen werden kann, und sobald dies getan ist, geht ihn der weibliche Körper nichts mehr an, die Verbindung wird gekappt. Wie ein Kapitalist, der den Gebrauchswert Arbeitskraft aufbraucht, konsumiert der ökonomische Mann die ihn liebende Frau. Aber der Gebrauchswert des Phallus ist auch endlich, er erschlafft, sobald allzu deutlich wird, dass der Mann die Frau gar nicht liebt. Der Mann ist nicht liquide, er macht die Frau also liquide, um selbst wieder liquide zu werden, liquidiert sie aber letztlich; dabei bleibt der aufgelösten Frau nur ihr eigener Körper, der, wie sich am bitteren Ende herausstellt, nicht begehrt worden ist. Der Lustmörder Kurt Janisch ist gleichermaßen ein Mörder der weiblichen Lust wie ein Mörder aus Lust am Geldgewinn. Gabi und Gerti sind dabei bloß zwei Seiten einer Medaille, und beide müssen sterben, bevor sie sich überhaupt
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als eigenständige literarische Figuren konstituiert haben. „Es war ein Unfall“ (G, 462) heißt es am Ende des Romans über Gertis Selbstmord. Diese das Ende von Bachmanns Malina (1971)22 variierenden letzten Worte von Jelineks Roman zeigen auf, dass Gertis Selbstmord im Unterschied zu Gabis Mord nicht einmal zum polizeilich ermittelbaren Fall erhoben wird und somit die gesamte Erzählung um eine Todesart kreist, die nur im Rahmen einer gänzlich anderen libidoökonomischen Logik jenseits des heteronormativen Phallozentrismus aufgelöst und abgeschafft werden könnte.23
22 Vgl. Ingeborg Bachmann: Malina. Frankfurt a. M. 1997, S. 356: „Es war Mord.“. 23 Ich bin Till Breyer für sein aufmerksames Lektorat sowie Gerda Moser und Sabine Seelbach für ihre präzisen und anregenden Kommentare während der Tagung sehr dankbar.
Ubiquität vs. Exzess: Liebe abseits der Norm
Arno Rußegger
Kinder- und jugendliterarische Motive der Liebe im Zeichen ihrer ökonomischen Rahmenbedingungen am Beispiel von Christine Nöstlinger, Jenny Valentine, Mats Wahl, Kevin Brooks Radix malorum est cupiditas.
1 Einleitung „Not for Sale“ – so lautet der Titel des ersten Kapitels eines Romans aus dem Jahre 1940. Er reflektiert das besondere Verhältnis, das die Bewohner der nordenglischen Grafschaft Yorkshire zu den von ihnen gezüchteten Hirtenhunden pflegen. In sämtlichen Dörfern des Landstrichs, so wird uns von einer auktorialen Erzählerstimme mitgeteilt, verstanden und liebten die Leute ihre Hunde, die ihr ganzer Stolz waren. Die weithin bekannteste unter ihnen ist eine dreifärbige Colliehündin; sie lebt in dem Kaff Greenall Bridge, ist die beste Freundin des kleinen Jungen Joe, den sie täglich auf die Minute pünktlich von der Schule abholt, und hört – wie die meisten wohl schon vermutet haben dürften – auf den Namen Lassie. Der erstklassige Leumund, den die Hündin genießt, ist geradezu legendär, ihre Wesensart wird längst symbolhaft überhöht ins Über-Tierische: Lassie [...] stood for something that they could not have explained readily. It had something to do with their pride. And their pride had something to do with money. Generally, when a man raised an especially fine dog, someday it would stop being a dog and instead would become something on four legs that was worth money. It was still a dog, of course, but now it was something else, too, for a rich man might hear of it [...] and then [...] would want to buy it.1
Wenngleich hinsichtlich der Tierliebe keinerlei Unterschied bestehe zwischen den Armen und Reichen, so bestehe doch, meint der Erzähler, ein Unterschied in Bezug auf den Umgang mit Geld. Denn ein armer Mann müsse sich Sorgen machen, wie er mit seiner Familie durch den Winter komme, wie viele Paar Eric Knight: Lassie Come-Home. Hertfordshire 2016, S. 8. https://doi.org/10.1515/9783110740806-019
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Schuhe dafür nötig seien, ebenso wie viel Kohle zum Heizen und wie viele Nahrungsmittel für alle. Aus solchen pekuniären Gründen hätten viele gute Hunde letztlich doch ihre Herrschaften wechseln müssen – ein Schicksal, das Lassie freilich erspart blieb. Denn ihr Herrchen, der stramme Sam Carraclough, habe einst sogar dem Herzog von Rudling widerstanden, der drei Jahre lang hartnäckig versuchte, Lassie zu erwerben, ohne Erfolg: „she’s not for sale for no price.“2 Wie die folgende Geschichte zeigt, sollte es sich aber nicht um das letzte Wort handeln, das in dieser Angelegenheit gesprochen wird. Mitunter komme nämlich eine Zeit, so die allgemeinen Erläuterungen der Geschehnisse auf der narrativen Meta-Ebene, in der ein Mann seinen Kopf beugen müsse „and decide that he must eat his pride so that his family may eat bread.“3 Das Zustandekommen einer solch heiklen Lebenslage wird romantisiert und einem anonymen Schicksal („fate“) zugeschrieben. Es scheint den Menschen aufoktroyiert zu sein, ohne Chance sich dagegen zu wehren oder etwas zu verändern. Gegen offensichtliche Ungerechtigkeiten wie die ungleiche Verteilung des Wohlstands in einer nach wie vor feudal geprägten, von längst verselbstständigten Traditionen besessenen Gesellschaftsordnung kommt eben niemand an; dergleichen ist undenkbar. Man kann sich vorstellen, dass einem naiven Knaben wie Joe derartige Sachverhalte nicht erklärt werden können; er kann nicht nachvollziehen, warum plötzlich eine Not herrscht, die nur durch den Verkauf des Liebsten zu lindern sei, das seine ganze Existenz mit Freude und Seelenfrieden erfüllt. Die harte Lektion bleibt ihm trotzdem nicht erspart. Er muss ertragen, dass ihm der Herzog von Rudling den Collie wegnimmt, um ein besonderes Geburtstagsgeschenk für seine Enkelin Priscilla zu haben. Bei genauer Betrachtung erweisen sich in Lassie Come-Home von Eric Night (1938) letztlich sämtliche Beziehungen, auch innerhalb von Familien, von geschäftlichen Überlegungen durchdrungen. Diese bilden das Korsett, in das sich jede Person einzuzwängen hat, auch dann, wenn man über viele Mittel verfügt. Einzig dem edlen Tier bleibt es vorbehalten, das herrschende System aus Macht, Abhängigkeiten, Neid, Eifersucht, Eigennutz und Angst zu durchbrechen, denn Lassie läuft ihrem neuen Eigentümer bald davon und kehrt zu den Carracloughs zurück. Dann geht es mehrmals hin und her, um sie an ihr neues Zuhause zu gewöhnen, wenn nötig mit Zwangsmaßnahmen. Doch immer wieder gelingt es
Knight, S. 9. Knight, S. 9.
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ihr, die Flucht zu ergreifen, wobei sie eine Reihe von gefährlichen Abenteuern erlebt, die sie charakterlich noch mehr läutern, bis Lassie zum guten Ende des Romans völlig erschöpft wieder auf dem Schulvorplatz auftaucht, um Joe zu erwarten, als wäre nichts passiert. Das hier skizzierte kinderliterarische Motiv der Tierliebe ließe sich an unzähligen Beispielen illustrieren; die Tiergeschichte in allen (realistischen und fantastischen) Variationen hat wie eh und je Konjunktur und erfreut sich großer Beliebtheit. Dabei wird deutlich, dass es nicht nur um eine Veranschaulichung der vollkommen reinen, idealistisch konzipierten Variante von Liebe geht, die sich allen schnöden materialistischen Vereinnahmungen entzieht, sondern nicht selten auch um kinderliterarisch taugliche Darstellungen von Zwangslagen, in die Gefühle wie Eltern-, Kinder- und Freundesliebe aus ökonomischen Ursachen schlagartig und unerwartet geraten können. Der dichterische Umweg über die Schilderung von Tierschicksalen bietet offensichtlich genau die richtige Mischung aus Identifikations- und Distanzierungsmöglichkeiten, um eine Thematisierung und Darstellung von leidige(re)n Formen der Liebe zuzulassen, deren Betrübnisse in Wirklichkeit auf Aspekte des Wirtschaftslebens zurückzuführen sind. Dergleichen übersteigt normalerweise den Erfahrungshorizont von Kindern, sogar dann, wenn sie als Hauptbetroffene zu unmittelbaren Zeugen von finanziellen Belastungen und daraus resultierenden Zerwürfnissen ihrer Eltern werden. Analoges gilt für die erotischen Dimensionen der körperlichen Lust. Daher geben käufliche Liebe, Prostitution, Promiskuität oder Heiratsschwindler keine kinderliterarischen Motive ab; der Fokus des vermittelten Problembewusstseins wird in den emotionalen, psychologischen und moralisch konnotierbaren Bereich verschoben, der auf eine Weise behandelt wird, dass Kinder die Motivation erhalten, sich den verschiedensten Herausforderungen der Erwachsenenwelt zu stellen und eine möglichst positive Rolle bei deren Bewältigung zu spielen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass im Falle von Lassie, diesem Ausbund an Treue und Hingabe, sich letztlich auch die Erwachsenen eines Besseren besinnen und zu einer gütlichen Win-win-Lösung für alle finden, indem Joes Vater vom Herzog eine Stelle als Hundewart angeboten erhält und mit der Übersiedelung der Familie auf den Landsitz von Rudling die bittere Phase der Arbeitslosigkeit beenden kann. Joe seinerseits ist auf diese Weise in der Lage, Freundschaft mit Priscilla zu schließen. Nach einem Jahr erfreuen sie sich gemeinsam an Lassies Wurf von sieben Welpen („balls of fur“4).
Knight, S. 156.
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Die wirtschaftliche Gesamtsituation, an der viele andere zwar immer noch leiden, ist über das wiederhergestellte Familienidyll der Carracloughs hinaus keine Frage mehr. Lassie erhält von Joe für ihre ausschlaggebende Leistung in diesem Zusammenhang eine entsprechende Namenserweiterung – „my Comehome“5, woraus sich der Bindestrich im Buchtitel erklärt.
2 Liebesgeschichten vom Franz Einen typischen, ziemlich pragmatischen Zugang zum Thema Liebe findet in der Kinderliteratur die Figur des Franz Fröstl von Christine Nöstlinger. In den Liebesgeschichten vom Franz (1991)6 wird eingangs dargelegt, dass es „viele Menschen“ gebe, die der Schulbub mit seinen ungefähr sieben, acht Jahren „liebt“: Seine Mama und seinen Papa liebt er. Seine Oma und seinen großen Bruder, den Josef, liebt er. Die Gabi, die in der Wohnung nebenan wohnt, liebt er. Den Eberhard Most, der mit ihm in die Klasse geht, liebt er. Und dann liebt er noch drei Tanten. Und weil die Mama, der Papa, die Oma, der Josef, die Gabi, der Berhard, die drei Tanten den Franz auch lieben, hat der Franz mit der Liebe keine großen Probleme. Liebe ist für Franz: wenn zwei einander sehr gern haben und miteinander sehr glücklich sind. (Ein bischen streiten dürfen die zwei, die einander gern haben, zwischendurch natürlich auch hin und wieder.)7
In drei Episoden wird die hier umrissene Ausgangssituation einer Prüfung gleichsam auf Herz und Nieren unterzogen, insgesamt durchaus dazu angetan, den kleinen Franz in seinen allzu naiven Ansichten über den eigenen Gefühlshaushalt ein wenig erwachsener werden zu lassen. Zunächst geht es um Josef, den großen Bruder, der sich in Anna-Liese verliebt, allerdings unglücklich, weswegen ihm Franz gerne helfen möchte. Er muss jedoch erkennen, dass man sich von außen in eine Beziehung zwischen anderen nicht heimlich einmischen kann, ohne zwangsläufig – das heißt trotz bester Vorsätze – Fehler zu begehen. Außerdem zeigt sich, dass Sympathie und Zuneigung unter Jugendlichen überaus flüchtige Phänomene darstellen, die weder auf tiefer Überzeugung beruhen noch Verbindlichkeit bezwecken. Josef hat sich nämlich binnen Kurzem bereits umorientiert („Die ist mir doch längst Wurscht“8), während Franz sich noch wie ein kleiner Rosenkavalier gebärdet, um ihn bei Anna-Liese attraktiv erscheinen zu lassen.
Knight, S. 158. Christine Nöstlinger: Liebesgeschichten vom Franz. Hamburg 1996. Nöstlinger, S. 6–8. Nöstlinger, S. 25.
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Dann muss Franz lernen, dass Eifersucht eine unangenehme Begleiterscheinung von Liebesempfindungen sein kann. Als seine Gabi aus der Nachbarswohnung (siehe oben) eines Tages mehr Interesse für ihre Freundin Sandra zu entwickeln beginnt und lieber mit ihr spielt, fühlt sich Franz tief verletzt und muss sogar von Gabis Mutter getröstet werden, die er dafür „von nun an zu den Leuten zu zählen [beschließt], die er liebt.“9 So einfach ist es mit der Liebe aber wieder nicht. Franz muss sein ganzes Talent zur theatralischen Inszenierung einer Lektion in puncto Eifersucht aufbieten, bis Gabi „es selber durch [macht]“10 und am Ende alle drei Kinder zufriedengestellt sind. Mit Ökonomie im weitesten Sinn hat dies praktisch wenig zu tun. Die dritte Geschichte allerdings rundet den liebespsychologischen Lernprozess von Franz erst ab und fügt seinen bisherigen Erfahrungen ein wesentliches Detail hinzu. Anlässlich eines Besuchs auf dem Land bei den drei geliebten Tanten (siehe oben) läuft ihm ein gleichaltriges Mädchen über den Weg, in das er sich Hals über Kopf verliebt: „Elfe hieß es und sah auch genauso aus. [...] Es knallte in ihm, als er sie zum ersten Mal im Nachbargarten sah.“11 In der Folge schlägt er Warnungen der Tanten („Angeblich ist sie ein kleines Luder.“12) in den Wind. Daher erkennt er nicht gleich die Gefahr, als Elfe vorschlägt, am liebsten „etwas Verbotenes“ mit ihm spielen zu wollen, „Supermarkt“ zum Beispiel: „Der Franz war etwas enttäuscht. Er dachte: Supermarkt-Spielen wird wohl so wie Kaufmannsladen-Spielen sein.“13 Else hat aber, wie sich herausstellt, etwas anderes gemeint: Sie sagt(e) zum Franz: „Jetzt geh rein und hol mir einen Kaugummi!“ „Tut mir Leid, ich hab kein Geld eingesteckt“, sagte der Franz. „Du sollst keinen kaufen, du sollst einen holen“, sagte die Elfe. „Holen?“, piepste der Franz. Mit einem Mal war ihm das Supermarkt-Spiel klar! Kaugummi sollte er klauen!14
Die Zwickmühle für Franz besteht natürlich darin, einerseits nicht als Feigling dastehen zu wollen, andererseits plagt ihn das schlechte Gewissen. Da findet er zufällig „in der hinteren Hosentasche ein nagelneues Fünfer-Paket Kaugummi“15 und gibt nun vor, den von Elfe eingeforderten Diebstahl ihr zuliebe begangen zu Nöstlinger, S. 35. Nöstlinger, S. 40. Nöstlinger, S. 46–47. Nöstlinger, S. 47. Nöstlinger, S. 51. Nöstlinger, S. 54. Nöstlinger, S. 56.
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haben. Ein anderer Junge, der vor Franz zu Elfes Günstlingen gehört hat, wird deswegen eifersüchtig und denunziert ihn bei einer Verkäuferin im Supermarkt. Da just diese Kaugummi-Marke, wie sich herausstellt, aber gar nicht zum dortigen Sortiment gehört, fühlt sich die resolute Frau, die Franz gerade eben noch eine Moralpredigt halten wollte, getäuscht und von den Kindern auf den Arm genommen. Elfe hat sich im Zuge der Ereignisse ohne Zögern von dem Diebstahl (und Franz!) distanziert: Sie habe von nichts gewusst und nichts damit zu tun; und als der erfundene Diebstahl ans Licht kommt, steht Franz plötzlich nicht nur als „Angeber“ da. Elfe beschimpft ihn noch als „Trottel“16 und tröstet sich umstandslos mit anderen Burschen als Verehrern, die sie – wie immer – hofieren. In diesem Fall liegt der fatale Zusammenhang zwischen Zuneigung bzw. Verliebtheit und Ökonomie auf der Hand: Denn die Aufrichtigkeit und Heftigkeit von Gefühlen sind keine Garantie dafür, dass sie nicht von unredlichen Hintergedanken korrumpiert werden können. Niemand ist gefeit davor, sich verstellen zu müssen, um seinen Empfindungen einen adäquaten Ausdruck zu verleihen, da diesen oft etwas Doppelsinniges, Zwiespältiges anhaftet. Franz lernt, dass Liebe Kraft verleihen kann, um über den eigenen Schatten zu springen; zugleich macht die Liebe verletzlich und angreifbar, weil man vielleicht etwas tut, das gegen die eigenen Überzeugungen steht. In der direkten Konfrontation mit Elfe gerät Franz in eine wahrlich knifflige Lage, in der er jeweils beides bereuen muss: den Diebstahl zu begehen oder nicht zu begehen, ehrlich zu sein oder zu einer Hinterlist zu greifen. Mit Geld verhält es sich ähnlich; es stellt keinen Wert an sich dar. Besonders Kinder müssen erst lernen, inwiefern es gleichermaßen das Gute wie das Böse (in uns und anderen) hervorzubringen und zu fördern vermag. Geld hat die Eigenschaft, Dinge, Gefühle, Gedanken, Überzeugungen und Planungen relativieren zu können, in alle Richtungen. Was Franz betrifft, so besteht sein großes Glück darin, als Kind in ein verlässliches soziales Umfeld eingebunden zu sein, das bei Konflikten ausgleichend wirkt, anstatt bei jedem Malheur mit Liebesentzug zu reagieren.
3 Durchs Feuer Von hier aus lässt sich gut eine Brücke schlagen zu einigen Jugendbüchern, die in den letzten Jahren das Thema Liebe in Zeiten neoliberalen Profitdenkens auf Nöstlinger, S. 59.
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gegriffen haben. Wir beginnen mit Durchs Feuer (2015)17 der britischen Autorin Jenny Valentine. Die Geschichte dreht sich um ein halbwüchsiges Mädchen namens Iris, die pyromanisch veranlagt ist und mit den Feuern, die sie zu Hause, in der Schule, in einem Wald oder sonst irgendwo zu legen pflegt, einer inneren Wirklichkeit zum Ausdruck verhelfen möchte, die mit den herrschenden Konventionen ihres biederen Familienmilieus und Lebenskreises nicht kompatibel ist. Es greift sicherlich zu kurz, die durchaus psychopathologisch markierte geistige Disposition von Iris mit der üblichen Protesthaltung Jugendlicher abzutun. Da Jenny Valentine ihren Text in Form einer Ich-Erzählung im Rückblick sehr unmittelbar aus der Perspektive der Protagonistin entwickelt,18 wird den Leserinnen und Lesern noch etwas Weiteres vermittelt, das mit einer persönlichen Haltung und geradezu künstlerischen Gesinnung zu tun hat. Iris sind Besitztümer nicht wichtig, sie bedeuten ihr nichts. Ihre Brandstiftungen hingegen erlebt sie in einem synästhetischen Sinnestaumel, nach dem sie süchtig wird. Dem hysterisch aufgeladenen, oberflächlichen Lebensstil von Hannah, ihrer Mutter, samt Lebensgefährten, einem drittklassigen Reality-SoapDarsteller, kann Iris nichts abgewinnen, haben die beiden doch nichts im Kopf, als von Minute zu Minute ihre äußerlich-körperliche Attraktivität zu optimieren und möglichst viel Geld anzuhäufen, egal wie, um ihrer unbändigen Konsumgier zu frönen und andere Leute damit zu beeindrucken. Demgegenüber ist Iris jederzeit bereit, ohne mit der Wimper zu zucken, alles in Schutt und Asche zu legen, wenn es dazu dient, eine Befreiung von ritualisierten Wahrnehmungs- und Verhaltensmustern bei sich und Mitmenschen herbeizuführen. Ein kongenialer Partner, der für eine Fülle von weniger gefährlichen Inspirationen sorgt, ist ein siebzehnjähriger Bursche namens Thurston, den Iris während ihres mehrjährigen Aufenthalts mit ihrer Mutter in New York zufällig auf der Straße kennenlernt. Durch performanceartige Interventionen im Alltag gelingt es dem jungen Mann eine alternative Gegenwelt aufzubauen, in welche Iris immer mehr Einblicke und Zugang erhält, wohingegen die unfreiwilligen Mitspieler bei seinen Inszenierungen sich oft wie vor den Kopf gestoßen fühlen und herausgefordert werden, ihre sich in Ignoranz und Monotonie erschöpfende Existenz zu hinterfragen. Diesem besagten Thurston verdankt sich übrigens auch das Motto die-
Jenny Valentine: Durchs Feuer. Aus dem Englischen v. Klaus Fritz. München 2016. Vgl. Carsten Gansel: Rhetorik der Erinnerung – Zur narrativen Inszenierung von Erinnerungen in der Kinder- und Jugendliteratur und der Allgemeinliteratur. In: Kinder- und Jugendliteratur und Narratologie. Hg. v. Carsten Gansel u. Hermann Korte. Göttingen 2009, S. 11–38.
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ses Beitrags („Die Gier ist die Wurzel allen Übels.“19), da der junge Amerikaner seine Art von Kunst ohne kommerzielle Absichten ausübt, wobei unklar bleibt, wovon er seinen Lebensunterhalt tatsächlich bestreitet. Dass er in den USA zurückbleibt, ohne Abschied, während Iris überstürzt mit ihrer Mutter nach England zu ihrem sterbenden Vater fahren muss, der sich allem Anschein nach nie um sie gekümmert hat, bildet den zentralen Handlungsstrang und Wendepunkt des Buches. Obwohl bereits tot, wenn Iris zu ihrem ausladenden Monolog ansetzt, ist es „Ernest Toby Jones“20, der die übrigen Plot Points in der Geschichte liefert. Diese rekapituliert einen sensiblen Annäherungsprozess von Vater und Tochter, die sich zunächst kaum mehr an ihn erinnern kann, nachdem sich ihre Eltern früh getrennt haben. Da er aber auf einem feudalen englischen Landsitz wohnt und im Ruf steht, ein steinreicher Kunstsammler zu sein, beschließt Hannah, selbst dem Bankrott nahe, mit ihrer Entourage umgehend nach Europa zurückzukehren, um das Erbe ihres nach wie vor nicht von ihr geschiedenen Gatten zu beanspruchen. Die moralischen Verwerfungen in der geschilderten Extremsituation sind evident. Angesichts des Todes entwickeln sie sich zwischen angemessener Zuneigung, Respekt, Pietät einerseits und ökonomischen Verbindlichkeiten unter nahen Verwandten andererseits, die ersetzen sollen, was an emotionalen Haftungen und symbolischen Guthaben von Urvertrauen und familiärer Solidarität längst verloren gegangen ist.21 In manchen Passagen treten sie fast handgreiflich klischeehaft hervor, wenn es etwa Hannah gar nicht mehr erwarten kann, dass ihr Ex-Mann endlich am Krebs zu Grunde geht. Dennoch sind am Ende weder der Augenschein der vermeintlichen Tatsachen noch Tücke und Bosheit von Erfolg gekrönt; die wahren Verhältnisse beruhen nämlich auf einer umfassenden Fälschung, der alle aufgesessen sind. So werden die Relationen unter den Beteiligten endlich richtiggestellt, vor allem zwischen Ernest und Iris, die sich darin bestätigt fühlen darf, dass Reichtum niemals erzwungen werden kann und als Lebensziel wenig taugt. Jeman-
Valentine, S. 151. Valentine., S. 8. Vgl. Heinrich Kaulen: Vom bürgerlichen Elternhaus zur Patchwork-Familie. Familienbilder im Adoleszenzroman der Jahrhundertwende und der Gegenwart. In: Familienszenen. Die Darstellung familialer Kindheit in der Kinder- und Jugendliteratur. Hg. v. Hans-Heino Ewers u. Inge Wild. Weinheim/München 1999, S. 111–132, bes. 126–129. Vgl. Vito Paoletić: Die Utopie scheitert nie. Über den Umgang mit jugendlichem Unbehagen im Adoleszenzroman des 21. Jahrhunderts. Unveröffentlichte Dissertation. Klagenfurt 2019.
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des Wert ist davon unberührt, auch wenn er (oder sie) selbst dergleichen gar nicht richtig einzuschätzen vermag. Derartige Erzählkonstruktionen, die trotz aller Wirrnisse und Restriktionen im Hinblick auf individuelle Selbstverwirklichung und Entscheidungsfreiheit ein gewisses Entwicklungspotenzial für Jugendliche und junge Erwachsene eröffnen, entsprechen sicherlich nicht mehr den herkömmlichen Vorstellungen von einem Happy End. Positiv konnotierte Werkschlüsse, wie sie hier behandelt und erkennbar werden, sind eher der Gattung Adoleszenzroman geschuldet, in der letztlich keine radikale Abrechnung mit der herrschenden Weltordnung ins Werk gesetzt wird, sondern eine konziliantere Lösung von Problemen – und wenn dabei auch das Zufallsprinzip und geradezu märchenhaft anmutende Handlungsumschwünge inmitten eines im Übrigen realistisch ausstaffierten Settings überstrapaziert werden. Die Liebe präsentiert sich jedenfalls nicht mehr als die hehre Himmelsmacht, als welche sie in romantischer Verklärung einst gegolten haben mag. Vielmehr ist sie es, die Geschehnisse verkompliziert, die ohne sie reibungsloser ablaufen würden. Das gilt vor allem auch für das bis ins Kleinste kapitalisierte, hauptsächlich auf wirtschaftliche Effizienz und Profitmaximierung ausgerichtete System, in dem sich die Menschen heute überall eingerichtet haben, als gäbe es keine Alternative. Liebe tritt in diesem Kontext als eine nicht kalkulierbare Größe im Getriebe des Alltags von Jugendlichen hervor, aber nicht einfach als Kontrapunkt und Idealbild, sondern als zusätzlicher Irritationsfaktor auf dem Weg eines holprigen Sozialisierungsprozesses.
4 Winterbucht Analoges kann ebenso gut von Mats Wahls Winterbucht (1995)22 gesagt werden – dem ersten Teil einer Trilogie rund um einen jungen Burschen namens JohnJohn, die uns ins zeitgenössische Stockholm versetzt. Dort stellt die titelgebende topographische Gegebenheit eine symbolische Trennzone zwischen ganz verschiedenen Bevölkerungsschichten dar: Die reichen Schweden leben etwa rund um Bromma23, das sich aus der Perspektive des männlichen, in bescheidenen Verhältnissen aufwachsenden Erzähler-Ichs auf der gegenüberliegenden Seite
Mats Wahl: Winterbucht. Aus dem Schwedischen von Maike Dörries. Weinheim/Basel 1998. Wahl, S. 5.
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seines Wohnbezirks befindet. Die Gegend um Bromma ist ein Projektionsort für John-Johns Wunschfantasien, seien sie auf einen etwaigen gesellschaftlichen Aufstieg gerichtet, seien sie erotisch aufgeladen. Sie kulminieren in beiden Fällen in Schwärmereien, irgendwie an drüben lebende Mädchen heranzukommen. Doch John-Johns Sehnsucht nach Zuneigung und Gemeinschaft mit Gleichgesinnten, die er zu Beginn eines jeden Kapitels in Form von überaus emphatischen, tagebuchartigen, vom Haupttext kursiv abgesetzten Botschaften an fiktive „O Brüder & Schwestern“24 zum Ausdruck bringt, wird in mehrfacher Hinsicht einer Nagelprobe unterzogen. Zum einen fühlt er sich zu Hause ungeliebt und möchte am liebsten weg, seitdem seine geschiedene Mutter mit einem Liebhaber zusammenlebt, für den ihr Sohn nur das Schmähwort „Scheißhaufen“25 erübrigen kann; seine kompromisslose Missbilligung bestätigt sich, als John-John herausfindet, dass der Mann seine jüngere Schwester sexuell missbraucht, ohne deswegen von seiner Mutter zum Teufel gejagt zu werden. Zum anderen durch seinen besten Freund mit dem sprechenden Spitznamen „Fighter“26, der ihn zu einem Einbruch in eine der vornehmen Villen jenseits des Meerbusens überredet, als sich unvermutet eine günstige, offenbar völlig ungefährliche Gelegenheit bietet, selbst einmal ein größeres Stück vom allgemeinen schwedischen Wohlstandskuchen zu ergattern. In weiterer Folge wird sich Fighter einer nationalpatriotischen, faschistoiden Gruppierung anschließen, was die Freundesliebe der beiden Burschen endgültig bis zum Zerreißen unter Spannung setzt.27 Und dann, last, but not least, auch noch durch Elisabeth, die ältere Tochter just derselben Familie, in deren Haus der Einbruch erfolgt. Denn John-John ist in das unerreichbar scheinende Mädchen, das er aus der Schule kennt, verliebt. Elisabeths Privat- und Intimsphäre erschließt sich ihm zunächst also nur in verbotener Weise und äußerst bruchstückhaft während des Einbruchs; erst allmählich glätten sich die unsichtbaren moralischen und materiellen Gräben zwischen den zwei jungen Leuten, die – über einige Lebenslügen hüben und drüben der Winterbucht hinweg – Vertrauen zueinander entwickeln. Am Ende haben sie sich noch viel mehr zu sagen, als die abgedroschen wirkende Formu-
Wahl, S. 5. Wahl, S. 7. Wahl, S. 5. Vgl. Karin Flaake: Junge Männer, Adoleszenz und Familienbeziehungen. In: Männliche Adoleszenz. Sozialisation und Bildungsprozesse zwischen Kindheit und Erwachsensein. Hg. v. Vera King u. Karin Flaake. Frankfurt a. M./New York 2005, S. 99–119.
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lierung „Ich liebe dich“28 beinhaltet. Im Gegenteil: Ihre jeweiligen Erfahrungen mit den üblichen Verkrustungen von Standesdünkeln und Spekulationen auf den gutbürgerlichen Ehrbegriff erlauben es, die drei Worte mit einer persönlichen, für sie gültigen Bedeutung neu zu definieren. Das Dilemma zwischen Liebe und Ökonomie entwickelt sich in den hier untersuchten Jugendbüchern parallel zu den Friktionen, die die Generationen voneinander trennen. Eltern als die Hauptvertreter der Sphäre des Erwachsenseins und des vorhandenen Establishments nehmen oft keine Vorbildfunktion wahr, wenn es darum geht, ihren halbwüchsigen Kindern andere Werte zu vermitteln als eine krude Kosten-Nutzen-Rechnung für alles, was man tut. Allerdings zeigen viele von ihnen, gemessen an ihren eigenen Vorgaben, gar kein erfolgreiches Durchsetzungsvermögen: Sie predigen zwar die Segnungen einer konsumorientierten Erfolgsmentalität, sind selbst aber kaum in der Lage, entsprechende Maßnahmen umzusetzen und ein praktikables Lebensmodell für ihre Nachkommen zu präsentieren. Bemerkenswerterweise betrifft das sowohl begüterte als auch weniger oder gar nicht wohlhabende Eltern gleichermaßen. Eigennutz und Raffgier richten sich, da wie dort, nicht selten gegen ihre nächsten Hausgenossen. Davon ein vielstimmiges Lied zu singen vermag auch Martyn Pig (2002)29, die Titelfigur eines Romans des Briten Kevin Brooks.
5 Martyn Pig Denn der Vierzehnjährige ist mit einem Vater konfrontiert, der seit Langem der Trunksucht anheimgefallen ist und seinen Sohn immerzu unterdrückt und schikaniert. Relativiert wird das geschilderte Ungemach des Burschen jedoch durch den literarischen Stil, in dem er – übrigens wieder in Form einer Ich-Erzählung, die wohl als wesentlichstes Element jugendliterarischer Prosa gelten darf – davon berichtet. Denn so skurril wie die Lautung seines Namens (mit y im Vornamen und aufgrund der peinlichen Bedeutung des Nachnamens im englischsprachigen Original) ist das Buch insgesamt geschrieben, was unweigerlich zu Szenen voll schwarzen Humors und tragikomischer Kippeffekte führt. Martyns Vater kommt in den unerwarteten Genuss einer Erbschaft, immerhin dreißigtausend Pfund, ein kleines Vermögen für Leute wie die Pigs. Um das Geld
Wahl, S. 304. Kevin Brooks: Martyn Pig. Aus dem Englischen v. Uwe-Michael Gutzschhahn. 13. Aufl. München 2018.
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ungestört versaufen zu können, sagt er seinem Sohn kein Wörtchen davon. Diese Unterschlagung kommt eher zufällig ans Licht, nachdem Martyn während eines der üblichen Streitgespräche eine unbedachte Bewegung macht, die seinen Vater zum Stolpern bringt. Er schlägt so unglücklich mit dem Kopf an einer Kante des Kamins im Wohnzimmer auf, dass er stirbt. Aus diesem Szenario entwickelt sich ein veritabler Krimi, in dem Alexandra/Alex, ein Mädchen aus der Nachbarschaft, zu einer Femme fatale im Jugendformat avanciert. Ihr Charakter ist für den Protagonisten schier unergründlich; was sie wirklich getan bzw. verbrochen hat, bleibt bis zuletzt unklar. Zu dem ironisch-coolen Beigeschmack der geschilderten Ereignisse trägt bei, dass Martyn ein ausgesprochenes Faible für Noir-Stories hat. Er kennt etliche Genre-Filme und -Romane und nimmt daher viele Situationen, in die er gerät, auf eine Weise wahr, als seien sie durch einschlägige narrative Muster und Versatzstücke gefiltert. Kevin Brooks spielt mit seiner eigenen Erzählkonstruktion, was Gefühle einer allgemeinen Zweifelhaftigkeit und Bedrohung, aber auch der Witzigkeit und Spannung hervorbringt. Dies betrifft in erster Linie die Veränderungen in den zwischenmenschlichen Beziehungen, welche plötzlich durch die hohe Geldsumme ausgelöst werden. Denn niemand ist frei von der Versuchung, die sich in den Herzen der Menschen breitmacht, um sich den besagten Jackpot anzueignen. In Manier von Dashiell Hammets Klassiker Der Malteser Falke (1930), der gerade dadurch zum Symbol für sinnlose Habsucht wurde, dass sich die vorgeblich unermesslich kostbare Skulptur am Ende als wertlose Fälschung herausstellt, gerät Martyn in eine durchaus gefährliche Konstellation aus Eifersucht, Erpressung, Betrug, Diebstahl, Gewalt und Mord. Die Verliebtheit, die er gegenüber Alex empfindet (ohne fassbare Gegenseitigkeit übrigens), bietet keinen Trost, im Gegenteil. Einmal mehr erweist sich die Koppelung von Zuneigung und finanziellen Verbindlichkeiten als eine gewaltige Herausforderung für einen Heranwachsenden, der in beiden Lebensbereichen noch über wenig Erfahrung verfügt und letztlich nur knapp einer strafrechtlichen Verurteilung seiner Aktivitäten entgeht.
6 Fazit Mit Hilfe von Martyn Pig wird die Argumentationslinie quer durch die hier getroffene Buchauswahl zu einem gewissen Höhepunkt geführt, und zwar insofern, als das Verhältnis von Liebe und Ökonomie mit zunehmendem Alter der Protagonist*innen ein geradezu intrinsisches Zwangsverhalten hervorruft, dem sich offensichtlich keine Figur entziehen kann.
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Mädchen bzw. junge Frauen fungieren dabei tendenziell als eine Art Katalysator der mehr oder weniger kriminologischen Handlungsverläufe. Trotzdem wahrt die Kinder- und Jugendliteratur ihre moralischen Ambitionen, fällt die Ernüchterung der Held✶innen doch eher gelinde aus, sodass deren Liebesmotivation und -fähigkeit als solche keinen dauerhaften Schaden nehmen.
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Sexuell-ökonomische und therapeutischkünstlerische Gemeinschaften in der Mühl-Kommune Die Mühlkommune, benannt nach dem Wiener Aktionisten Otto Mühl (Muehl)1, war ein Experiment zur Überwindung der Liebe, Kleinfamilie und bürgerlichen Sexualordnung, das rund 20 Jahre lang existierte. Der Hauptsitz der Kommune war das 1972 gekaufte, völlig heruntergekommene landwirtschaftliche Gut Friedrichshof in der Parndorfer Heide im Burgenland, in vielen europäischen Städten gab es Filialen. Insgesamt lebten ca. 2.000 junge Menschen kürzer oder länger in der Kommune, bei der Auflösung Ende der 1980er Jahre gehörten ca. 300 Personen zur Kommune. 10.000 junge Menschen kamen bei den Kursen der Kommune oder bei Besuchen mit den Ideen der Kommune in Berührung.2 Bekannt wurde die Kommune für die radikale Umsetzung der „freien“ Liebe und die Abschaffung von Paarbeziehungen und herkömmlichen Familienstrukturen. Im Kommunemanifest von 1973 heißt es: „in der kommunegesellschaft herrscht freie sexualität. Die zweierbeziehung, eine krankheit der kleinfamilienmenschen, existiert nicht. Es gibt in der kommune keinen besitz an personen, und keine sexuellen verpflichtungen. in einer gut funktionierenden kommune gibt es keine eifersucht, da alle die möglichkeit zu[r] sexuellen befriedigung haben.“3 Anzumerken ist hier freilich, dass die Sexualität keineswegs „frei“ war, denn Mühl normierte sie als heterosexuellen Penetrationsakt mit wechselnden Personen. Die Zweierbeziehung galt als krank und kriminell. Der Kleinfamilienmensch, KFM oder Wichtl genannt, war das Feindbild. Die ehemalige Kommunardin Toni Altenberg erinnert sich, dass Otto Mühl Liebe oft als „eine Hundekrankheit“4 bezeichnete. Seiner Meinung nach waren die Zweierbeziehungsmenschen verant-
Otto Mühl (1925–2013) schrieb sich als Künstler Muehl. Die Kommune bezeichnete sich als AA-Kommune oder AAO, Aktions-analytische Organisation. Von 1974 bis 1977 gab die Kommune die „AA-Nachrichten“ heraus. Sven Reichardt: Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren. Berlin 2014, S. 649–659, S. 689–698; Andreas Schlothauer: Die Diktatur der freien Sexualität. Wien 1992. Kommunemanifest 1973. In: Das AA-Modell, Band 1, AA-Verlag. Neusiedl/See 1976, S. 10. Toni Elisabeth Altenberg: Mein Leben in der Mühlkomme. Freie Sexualität und kollektiver Gehorsam. Wien 1998, S. 73. https://doi.org/10.1515/9783110740806-020
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wortlich für Krieg, Massaker, Folterungen, den elektrischen Stuhl, Kriminalität und überhaupt für alles Böse.5 Die Intention der Kommunarden war es, die Liebe, Ehe und Kleinfamilie in körperzentrierter Analyse (der Aktionsanalyse) zu überwinden. Nach der Auflösung der Kommune 1990 erfolgte die Rückkehr zu Paarbeziehung, Ehe und Familie.
1 Die Kommune als Kunstprojekt des Aktionisten Otto Muehl Otto Mühl, ein seit den frühen 1960er Jahren bekannter Performancekünstler6, hatte wegen der Skandalisierung der Gruppe der Wiener Aktionisten durch die Boulevardmedien auch außerhalb der Kunstszene Bekanntheit erlangt, nicht zuletzt durch die gemeinsam mit Günter Brus, Oswald Wiener, Peter Weibel und Malte Olschewski durchgeführte Hörsaal 1-Aktion „Kunst und Revolution“, die sogenannte „Uni-Ferkelei“, die in Österreich das spektakulärste Ereignis im Jahr 1968 war.7 Zur Zeit der Gründung der ersten Wohngemeinschaft, aus der die Kommune hervorgehen sollte, war Muehl zwar ein international anerkannter Künstler, der seit 1962 Performances durchführte, 1972 an der von Harald Szeemann kuratierten Documenta V in Kassel teilnahm, die einen Schwerpunkt zu Happening & Fluxus hatte, aber von seiner Kunst nicht leben konnte. In den 1960ern lebte er von seiner Ehefrau8 und seiner Mutter, die als Kriegswitwe eines im Krieg gefallenen Lehrers eine Beamtenpension bezog. Neben den Aktionen, die den Körper als Material inszenierten, verfertigte er damals Siebdrucke, meist bekannter Leute, in einem „klobigen, alpenländischen Pop-art Stil“.9 Als er die
Kommunemanifest 1973. In: Das AA Modell. 1962 fand die erste Aktion „Blutorgel“ gemeinsam mit Adolf Frohner und Hermann Nitsch in Muehls Wiener Kelleratelier in der Perinetgasse Nr. 1 statt. Fritz Keller: Wien, Mai 68. Eine heiße Viertelstunde. Wien 2008. Friedl Neiss hatte Otto Mühl 1964 geheiratet, sie erhielt mit ihrer Erwerbsarbeit als Lehrerin die Familie, Otto Mühl kümmerte sich um das gemeinsame Kind. Aus Angst vor beruflichen Schwierigkeiten wollte Friedl Mühl mit den Kunstaktionen der Aktionisten in der Öffentlichkeit meistens nichts zu tun haben. Sie half allerdings im Hintergrund mit, z. B. bei Reinigungsarbeiten. Vgl. Almuth Spiegler: Namenlose Nymphen und unbedankte Helferinnen. Die Frauen neben und hinter den Wiener Aktionisten. In: Das Feminine im Wiener Aktionismus. Sammlung Hummel Wien. Wien 2012, S. 277–283, hier S. 280. Robert Fleck: Die Mühl-Kommune. Freie Sexualität und Aktionismus. Geschichte eines Experiments. Köln 2003, S. 23.
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Wohngemeinschaft gründete, war er Mitte 40, eben geschieden, ohne Ausübung eines bürgerlichen Berufs und damals noch ohne Anerkennung am Kunstmarkt.10 In den 1970er und 1980er Jahren konzentrierte er sich auf das Kommuneleben. Die Kommune wurde sein Kunstwerk, die Kommunardinnen und Kommunarden waren sein Material. Die Kommune hatte den „Anspruch der allumfassenden, persönlichkeitsbildenden Kreativität im Alltag, um durch das kreative, künstlerische Potenzial auch das soziale, mitmenschliche Verhalten zu verändern“.11 Die Heilung der Kommunarden von ihrer Kleinfamilienschädigung sollte durch kreativen körperlichen Ausdruck in einem Kollektiv erfolgen. Der ehemalige Kommunarde Theo Altenberg sagt dazu: „wir verstanden uns als kadertruppe für ein leben als kunst, alle sollten ihren alltag wegwerfen und sich als ein kunstwerk in eigenregie betrachten.“12 Für den Kunsthistoriker Robert Fleck ist die Kommune „ein Versuch, aus den formalen Prinzipien des Happenings eine neue Gesellschaftsordnung zu entwickeln“.13 Peter Gorsen betont, dass die von Mühl entwickelte Aktionsanalyse engstens an die Darstellungsformen des Wiener Aktionismus anknüpfte. „In ihrer spezialisierten averbalen Ausdrucksform weicht die ‚Aktionsanalyse‘ von der psychoanalytischen Kommunikation bei Reich völlig ab und verweist auf ihre Herkunft aus dem Wiener Aktionismus der sechziger Jahre, der im Sinne Muehls ‚eine neue Sprache, die Sprache des Bauches’ eingeführt hat.“14 Mitte der 1970er Jahre nahm er die Malerei wieder auf, in den 1980er Jahren waren sechs bis acht Kommunarden ganztägig in seinem Atelier am Friedrichshof für ihn tätig. Der Kommunemitbegründer Otmar Bauer, der bereits zur Zeit des Aktionismus assistiert hatte, kritisiert diesen „gigantomanischen Kunstbe Mühl war ausgebildeter Lehrer für Deutsch und Geschichte, 1952 schloss er mit der Lehramtsprüfung ab, er machte das Praktikum an der Schule und zwar beim Dichter Ernst Jandl, der damals am Gymnasium Waltergasse unterrichtete. Danach verließ Mühl den Schuldienst, begann ein Studium der Kunstpädagogik an der Akademie der Bildenden Künste in Wien und arbeitete nebenbei als Zeichenlehrer in einem Therapieheim. 1958 bis 1963 war er als Zeichentherapeut in einem Heim für entwicklungsgeschädigte Kinder beschäftigt. Biografische Informationen vgl. Das Feminine im Wiener Aktionismus, S. 303; Otto Muehl. Sammlung Leopold, Hg. v. Diethard Leopold. Katalog. Wien 2010, S. 233–235. Brigitte Marschall: Aktionsanalyse, Selbstdarstellung und Erinnerungsarbeit: Otto Mühls Kommune Friedrichshof und Paul-Julien Roberts Film ‚Meine keine Familie‘. In: Maske und Kothurn, Bd. 65, Jg. 2019, Nr. 1–2, S. 112–123, hier S. 114. Theo Altenberg: Das Paradies Experiment. The Paradise Experiment. Die Utopie der freien Sexualität. Kommune Friedrichshof 1973–1978. Wien 2001, S. 116 f. Fleck, Die Mühl-Kommune, S. 97. Peter Gorsen: Die verlorene Utopie, das festgehaltene Leben. Otto Muehl redivivus. In: Otto Muehl. Leben / Kunst / Werk. Aktion Utopie Malerei 1960–2004. Hg. v. Peter Noever. Katalog des MAK, Wien, Köln 2004, S. 11–15, hier S. 13.
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trieb“ um Otto Muehl.15 In den sechseinhalb Jahren im Gefängnis und der Zeit danach, die Mühl in einer Kleinstkommune mit engsten Vertrauten in Portugal verbrachte, wandte er sich von der therapeutischen Einbettung der Sexualität und der Pflicht zur heterosexuellen Penetration ab und entfaltete in seiner Kunstproduktion „polymorphe Perversität“. Muehl sei „es leid geworden, den gestörten genitalen Eros therapeutisch zu verwalten“,16 schreibt Gorsen zur letzten Phase des Künstlers.
2 Die Therapiegemeinschaft mit dem Ziel der „freien“ Sexualität Ausgangspunkt der Kommune waren zwei lebensgeschichtliche Brüche in der Biografie Otto Mühls. Zwei Liebesdramen standen am Beginn seines Weges zur freien Sexualität. Mühls Ehefrau trennte sich von ihm, er bezog daraufhin 1970 eine neue Wohnung, die seine Mutter finanzierte und eröffnete dort eine Wohngemeinschaft.17 Zunächst lebte man in Zweierbeziehungen, Mühl mit Elke, einer deutschen Studentin. Als 1972 Elke auszog, verkündete er das Ende der Zweierbeziehungen. Nicht alle WG-Bewohner✶innen machten mit, einige verließen die WG. Andere junge Menschen zogen bei Mühl ein und die WG wurde zur Therapiegemeinschaft, denn Therapie wurde als Königswegs zum befreiten Subjekt und zur befreiten Sexualität gesehen. Dass Mühl Revolution als sexuelle Befreiung dachte, entsprach durchaus dem Zeitgeist. Terese Schulmeister, ein Gründungsmitglied der Kommune, erinnert sich, dass es Wartelisten für Therapien bei Otto Mühl gegeben habe,18 der keinerlei
Otmar Bauer: 1968. Autobiographische Notizen rund um Wiener Aktionismus, Studentenrevolte, Underground, Kommune Friedrichshof, Mühl Ottos Sekte. Maria Enzersdorf 2004, S. 109. Gorsen, Die verlorene Utopie, S. 15. Seine Wohngemeinschaft war im Wiener Umfeld durchaus einzigartig. „Dazu ist seine Wohngemeinschaft die einzige Wiener Kommune mit Konzept – Psychoanalyse und Aktionismus – sowie der zukunftsweisenden Vision, eine gesellschaftliche Alternative aufzubauen. Die Atmosphäre hat in Wien kein Gegenstück. Wer zum ersten Mal die Türschwelle überschreitet, denkt unwillkürlich an Andy Warhols kollektive Produktionsstätte ‚Factory‘ in New York […].“ Fleck, Die Mühl-Kommune, S. 24. Interview mit Terese Schulmeister zit. nach Irene Bandhauer-Schöffmann: Die Anfänge der Mühlkommune. Ein lebensgeschichtliches Interview mit Terese Schulmeister. In: Geschlechtergeschichten vom Genuss. Zum 60. Geburtstag von Gabriella Hauch. Hg. v. Theresa Adamski et al. Wien 2019, S. 144–158, hier S. 151.
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seriöse Ausbildung hatte, nur ein paar Stunden bei Josef Dvorak absolviert hatte, der damals in Wien sehr ungewöhnliche Körpertherapien machte, auch Drogen einsetzte und später Satanist wurde.19 In Abgrenzung zur traditionellen Linken dachte Mühl Gesellschaftsveränderung nicht über Ökonomie und verbale Reflexion, sondern über den Körper und Sexualität. Er entwickelte eine Therapieform, die Psychoanalyse (vor allem nach Wilhelm Reich), Urschreitherapie und Ausdrucksformen des Wiener Aktionismus verband. Die Analysen seien „zum zentrum unserer entwicklung geworden“ und hätten die gemeinsamen Drogenerfahrungen mit LSD abgelöst, erinnert sich Otmar Bauer.20 Die Analyse bei Mühl war ein körperliches Ereignis, das alle Tabugrenzen überschritt, mit dem Ziel des Aufbrechens des Körperpanzers, Sex mit dem „Therapeuten“ war üblich.21 Die zu Therapierenden wurden erniedrigt, trugen Schnuller, um zu demonstrieren, dass sie sich im Stadium der Regression befanden, sie erbrachen, urinierten, defäkierten, schrien. Nach dieser Hölle sollte dann das Paradies der „freien“ Sexualität folgen. Die Kommunarden – alle mehr als 20 Jahre jünger als Mühl, viele davon Studienabbrecher✶innen aus bürgerlichen Elternhäusern – genießen die sexuellen Freiheiten mit den anderen Mitbewohnern und mit Besucher✶innen.22 Aus der Aktionsanalyse entstand am Friedrichshof schließlich die Selbstdarstellung, die allabendlich stattfand und in der die Kommunarden im Kreise der Zusehenden ihre Befindlichkeiten und die Schädigungen durch die Kleinfamilie durch- und vorspielten. selbstdarstellung hat den begriff analyse abgelöst. er passt besser zu ottos aktivem konzept. analyse ist auch gefährlich wegen einer möglichen anzeige bei der ärztekammer
Josef Dvorak, ein ehemaliger Jesuit, der die ordensübliche Lehranalyse absolviert hatte, spielte in Wien „Guru und Analytiker für fünfzehn Jugendliche“ (Bauer), er verlangte kein Geld, sondern nahm Geschenke, um nicht mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen. Seinen Lebensunterhalt bestritt er mit den Einnahmen der väterlichen Firma. Er warf Personen aus persönlichen Gründen aus der Gruppe, verfolgte persönliche libidinöse Ziele in den Therapien und er verwendete LSD für seine Sitzungen. Vgl. Bauer, 1968, S. 58; Schlothauer, Diktatur, S. 14 f. Dvorak meinte rückblickend in einem Interview aus dem Jahre 2018, dass es sich nicht um „Analysen“ gehandelt habe. Vgl. Josef Dvorak in einem Interview mit Gerhard Oberschlick. Öffentliche Präsentation des Videointerviews 15.6.2018 (http://forvm.contextxxi.org/dvorakserzahlungen-als-text-video.html; zuletzt abgerufen am 7.3.2021). Bauer, 1968, S. 82. Terese Schulmeister erinnert sich im Interview, dass es am Ende der Analysestunden „fast immer Sex“ gab. Vgl. Bandhauer, Die Anfänge, S. 150 f. Sexualität mit Besuchern der Kommune wurde nach massenhaften Geschlechtskrankheiten stark reguliert, mit dem Aufkommen von AIDS schloss sich die Kommune nach außen ab.
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wegen kurpfuscherei. es geht darum, den sd-künstler – statt wie bisher analysand – in seiner ganzen persönlichkeit zu erschüttern. eine neue erfindung ottos, der sd-leiter ohrfeigt dich pausenlos, bis du zusammenbrichst. oder die phasen-sd. Der sd-leiter wechselt ständig im rollenspiel zwischen bösen und guten eltern, versteht dich liebevoll, beschimpft dich im nächsten augenblick. diese rollen spielen bei den sd-abenden mehrere abwechselnd, bis man verwirrt ist, seinen charakter und damit seine panzerung aufgibt, um wieder zu seinen gefühlen zu finden, seine bedürfnisse zu verspüren.23
Durch die Therapien hatte Mühl ein Herrschaftswissen über die Kommunard✶innen, durch seine dominante Rolle bei den Selbstdarstellungen im Kreis der Kommunemitglieder steuerte er die Entwicklung des Einzelnen und seinen/ihren Platz in der Hierarchie. Die Sozialstruktur der Kommune wurde von ihm anhand des Bewusstseinszustands der Personen, den er öffentlich festlegte, organisiert. In den Lebenserinnerungen der Kommunarden ist nachzulesen, wie sehr ein plötzlicher Abstieg in der Hierarchie traumatisierte. Im Rückblick kritisiert Bauer diese Therapiegemeinschaft als inhuman, denn „jeder ist hauptsächlich seine krankheitsgeschichte.“24
3 Regeln und Organisation der „freien“ Sexualität Der Übergang von einer Wohngemeinschaft zu einer Kommune mit freier Sexualität fiel den jungen Menschen um Otto Mühl zunächst schwer. Mühl ordnete Gruppensex an und entwickelte ein Kartenspiel, um Sexualpartner zu wählen: „alle haben vier karten von sich gezeichnet, dann wird gespielt. die frauen sammeln die männerkarten und umgekehrt. hat man vier karten von einem, ist das der partner für die nächste nacht.“25 1974 übersiedelten alle Kommunarden, die in Wien bereits drei Wohngemeinschaften bewohnten, auf den Friedrichshof, der weitab vom nächsten Dorf lag und der Kommune erlaubte, Nacktheit und Sexualität auch im Freien auszuleben. Als die Kommune in den 1980er Jahren ökonomisch sehr erfolgreich war, wurde großzügig ausgebaut. Zunächst waren die Lebensbedingungen sehr primitiv, mit viel Handarbeit ohne Geld wurde das Gut bewohnbar gemacht. Die jungen Leute lebten mit Gemeinschaftseigentum und freier Sexualität, mehrmals täglich hatte man Sex mit wechselnden Partnern. Um Zweierbeziehun-
Bauer, 1968, S. 89. Bauer, 1968, S. 106. Bauer, 1968, S. 77.
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gen zu verhindern, gab es Regeln, wie Sexualität ablaufen sollte. Toni Altenberg beschreibt das in ihren Erinnerungen „Mein Leben in der Mühlkommune“: Der Sexualakt sollte nicht länger als 30 Minuten dauern, Zärtlichkeiten waren verpönt. Partner sollten gewechselt werden. Man verabredete sich für die Nacht im Voraus, das wurde in einen Kalender eingetragen.26 Privatheit gab es für die Kommunarden nicht. Nur Mühl hatte Privaträume. Als mehr Räume bewohnbar gemacht wurden, hatten Frauen eigene Zimmer mit Doppelbett, Männer hatten keine eigenen Zimmer. Sie mussten sich eine Sexualpartnerin für die Nacht angeln, oder im wenig attraktiven Männergemeinschaftsraum schlafen. Letzteres galt als Niederlage, erinnert sich Otmar Bauer: „eine beschämende und verachtete situation.“27 Mühl bestimmte erst spät nachts, mit wem er die Nacht verbringen möchte. Das führte dazu, dass auch andere Verabredungen neu verhandelt werden mussten und die Kommunemänner nochmals dem Stress ausgesetzt waren, eine Partnerin für die Nacht zu finden. „später lässt otto seine beischlafliste von seiner haushälterin führen, erschöpft vom gezanke und machtkampf der frauen, wer schläft am öftesten mit otto.“28 Eine Zeitlang gab es auch eine computergeführte Liste über die Sexualpartner✶innen, die „Computerfickliste“29, die als Ausdruck aufgehängt wurde. Wer sich zu oft mit demselben Partner verabredete, wurde scheel angesehen. Oft trennte Mühl die Paare, indem er jemanden in eine Stadtgruppe versetzte. Gerade die Stadtgruppen, die mehr Autonomie hatten, boten aber Raum für Paare.30 „Eine Zweierbeziehung zu haben war ein schwerer Vorwurf,“ erinnert sich Karl Iro Goldblat. „Dennoch konnte man der ständig neu entstehenden Paarbeziehungen nicht wirklich Herr werden. Viele, die ihre Beziehung nicht aufgeben wollten, hielten sie geheim oder verließen gemeinsam die Gruppe.“31 In den letzten Jahren der Kommune habe das „Zweierbeziehungsfieber“32 um sich gegriffen, schreibt Otmar Bauer, der mit seiner Freundin Jivana in einer eigenen Hütte am Kommunebesitz auf La Gomera zusammenlebte. Um noch den Schein zu wahren, deklarierte Mühl die Paarbeziehungen zu therapeutischen Einheiten um: „otto er-
Altenberg, Mein Leben, S. 77. Bauer, 1968, S. 115. Bauer, 1968, S. 115. Bauer, 1968, S. 163, 114. Bauer, 1968, S. 136, berichtet, dass in München sieben Paare in eigenen Zimmern lebten und sich der Gruppensexualität entzogen. Goldblat, Karl Iro: Die Kommune / Eine Chronologie. In: Otto Muehl. Leben / Kunst / Werk. Aktion Utopie Malerei 1960–2004. Hg. v. Peter Noever. Katalog des MAK. Wien, Köln 2004, S. 195–209, hier S. 204. Bauer, 1968, S. 183.
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klärt den mann als therapiefall und sie zur betreuerin“.33 Letztlich hatte er aber seine Autorität in dieser Hinsicht bereits verloren, als er 1986, damals 61 Jahre alt, seine langzeitige Hauptfrau Claudia heiratete. „Die plötzliche Selbstlegitimation einer Ehe an der Spitze stiftete in der Gruppe einige Verwirrung.“34 Rückblickend auf die gescheiterte Kommune meinte Mühl, der nie zu einer Reflexion seiner sektenartigen Kommune und der dort ausgeübten (strukturellen) Gewalt in der Lage war, dass die Kommunarden von der freien Sexualität überfordert gewesen seien, weil sie durch einen Mangel an mütterlicher Zuwendung zu geschädigt gewesen seien, um Gefühle der Eifersucht zu überwinden.35
4 Die Sex-Klassengesellschaft Die Kommunardinnen und Kommunarden waren hierarchisch eingeteilt, das hieß die „Struktur“. Jede und jeder wusste, wo ihr oder sein Platz war, welche Nummer in der Hierarchie sie oder er hatte. Die Sitzordnung beim Essen folgte der Hierarchie, und wenn jemand, der höhergereiht war, später kam, musste man Platz machen. Nr. 1 war Mühl, der als potentester Mann galt, als Sexprotz, der allein alle Kleinfamilienschädigungen überwunden habe. Sex war zunächst das wichtigste Bewertungskriterium. Karl Iro Goldblat meinte, jeder und jede hatte einen Platz in der „Geilheitsstruktur“36. Diese Rangliste wurde öffentlich ausgehandelt, was Anbiederung an die Oberen und Denunziationen beförderte. unsere sexualität ist rein physisch. redest du mit der frau deiner nacht etwas anderes als über die doku37, über sie, über dich, kann sie dich nächsten tags beim palaver anzeigen. Otto bezeichnet so was angewidert: der hat wieder einmal die frau als emotionalen mistkübel missbraucht. das bedeutet strukturabstieg, von otto sarkastisch eingeleitet mit: purzel, purzel, purzel! Will eine frau über dich in der struktur, gibt’s eine zuverlässige methode: sie ist eiskalt zu dir im bett und du versagst. Nächstes palaver: er war impotent mit mir. aha, meint otto: er projiziert die mutter. ich glaube, du solltest dich auf einem unteren rang entspannen, purzel … 38
Bauer, 1968, S. 179. Goldblat, Die Kommune, S. 206. Otto Muehl: Weg aus dem Sumpf (2001). In: Otto Muehl. Leben / Kunst / Werk. Aktion Utopie Malerei 1960–2004. Katalog des MAK. Wien, Köln 2004, S. 24–30, hier S. 26. Karl Iro Goldblat: Als ich von Otto Muehl geheilt werden wollte. 2. Aufl. Klagenfurt 2019, S. 130. Die „doku“ war die Verschriftlichung dessen, was Mühl sagte. Jedes Wort des Kommunechefs wurde protokolliert und die Mitglieder waren verpflichtet, es zu lesen. Bücher gab es kaum, Fernsehen, Kino und Theater waren verpönt. Bauer, 1968, S. 115.
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Die öffentliche Thematisierung von Sexualität in sogenannten „Palavern“ diente dazu, Machtpositionen abzustecken. Otto Mühl, den man wohl mit einer gewissen Ironie als „Begründer der ersten österreichischen Sexualreligion“39 bezeichnen kann, galt bei den Kommunard✶innen als Mann, der seinen Körperpanzer durch den Aktionismus und eine radikale Selbstanalyse erfolgreich durchbrochen und die „vollkommene genitale und soziale Identität“ erlangt habe.40 Er war in der Kommune der Inbegriff des orgiastisch potenten (Hetero-)Mannes. „Der einzig wirklich starke Mann war quasi der Otto“, sagt Terese Schulmeister, eine seiner Hauptfrauen. Für die anderen Männer in der Kommune bedeutete das, sich nicht in Machtkämpfe mit Mühl einzulassen. Die Männer hätten sich gehütet „vor Otto den Sexprotz zu spielen, obwohl manche waren es eh, aber dann eher halt im Geheimeren“.41 Diejenigen, die in der Hierarchie unten waren, mussten die unangenehmen Handarbeiten übernehmen und hatten wenig individuellen Spielraum. Allerdings auch wenig Sorgen: für Sex, Essen, Wohnen, Unterhaltung wurde in der Kommune gesorgt. Der erste Kreis um Mühl war in ständige Hierarchiekämpfe verwickelt. Sexualität sollte ausschließlich in den eigenen Kreisen stattfinden. Sogenannte „Untere“ durften nur mit „Unteren“ schlafen. Regelübertretung war für die Oberen natürlich leichter. Für Personen, die Mühl in der „Struktur“ abstufte, bedeutete das soziale Isolierung durch Ranghöhere: „alle gehen dir aus dem weg, keiner spricht mit dir, keine teilt das bett mit dir, aus angst, selbst als negativ eingestuft zu werden,“42 erinnert sich Bauer, der Mühls „primitive Gruppensoziologie“, die Personen in „negativ“ oder „positiv“ einteilte, als Brutalität erlebte, insbesondere auch, weil man Personen, die als negativ eingestuft worden waren, im öffentlichen Palaver auch Fehler anhängen konnte, die andere Personen verschuldet hatten.43
5 Matriarchat von Muehls Gnaden Basisdemokratie, wie sie in anderen Landkommunen verwirklicht wurde, gab es in der Mühlkommune nie. Mühl war ein autokratischer Herrscher, und alles
Karl Iro Goldblat: Matriarchat von Ottos Gnaden. In: Das Feminine im Wiener Aktionismus. Sammlung Hummel Wien. Wien 2012, S. 293–297, hier S. 297. Goldblat, Matriarchat, S. 297. Interview mit Terese Schulmeister, zit. nach Bandhauer-Schöffmann, Die Anfänge, S. 156. Bauer, 1968, S. 119. Bauer, 1968, S. 119.
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drehte sich darum, ihm nahe zu sein. Er umgab sich mit starken Frauen, die von ihm ermächtigt wurden, zu herrschen – ein „Matriarchat von Muehls Gnaden“.44 Im ersten Kreis um Mühl gab es immer mehr Frauen als Männer. Selbst die Gründung einer Frauengruppe war eine Idee Mühls, der sie dann auch spontan wieder beendete. 1976 organisierte sich in der Kommune eine Frauengruppe, die sich „Frauenforderung“ nannte und drei Nummern der gleichnamigen Zeitschrift herausbrachte.45 Anlass für diesen Kommune-Feminismus war das Problem der Verhütung, die den Frauen überlassen wurde, die alle die Pille nahmen. Mit dieser Thematisierung der Nebenwirkungen hormoneller Verhütung griffen die Kommunefrauen ein Anliegen der Frauenbewegung auf. Für Frauen konnte das Leben in der Kommune durchaus attraktiv sein: weil Mühl sie ermächtigte, weil es keine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung gab, weil für die Hausarbeit und die Kindererziehung gemeinsam gesorgt wurde. Wer Kinder wollte, musste um Erlaubnis ansuchen, nur die in der Hierarchie obenstehenden Frauen durften am Friedrichshof bei den Kindern bleiben, die anderen Mütter verdienten in den Stadtkommunen Geld und sahen die Kinder nur sporadisch. Alle Kinder galten als Kinder von Otto Mühl. Ihre biologischen Väter lernten sie erst im Zuge des Zerfalls der Kommune kennen, als Vaterschaftstests gemacht wurden. Mit ihrem Verständnis von Sexualität lag die Kommune weit weg von dem, was in den 1970er Jahren in alternativen Bewegungen wie der Frauen- oder Homosexuellenbewegung diskutiert wurde. Für Otto Mühl war Sex heterosexuelle Penetration mit wechselnden Partnern. Wer das nicht wollte, war in seinem Verständnis „krank“. Homosexualität wurde vehement abgelehnt, „schwul“ war ein Schimpfwort, das generell für Weichheit verwendet wurde46, auch alle Formen von Zärtlichkeit und sexueller Raffinesse waren verdächtig. Es ging ums „Ficken“ – und das wurde bei öffentlichen Sexpalavern auch beurteilt: Mangelhafte sexuelle Performance konnte zum Abstieg in der Hierarchie führen. Die Frauengruppe in der Mühlkommune griff zwar Ideen der Frauenbewegung auf, jedoch distanzierte sie sich in ganz grundlegender Weise von den Feministin-
Goldblat, Als ich von Otto Muehl, S. 117. Die Zeitschrift ist archiviert im Archiv „Stichwort“ und im Archiv der Kommune am Friedrichshof. So wurde etwa die „schwule Anpassung“ der Frauen kritisiert. Vgl. Frauenforderung 1/ 1976, S. 8.
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nen der 1970er Jahre.47 Die Feministinnen stellten die Klitoris ins Zentrum der Sexualdiskussion, die Frauen aus der Mühlkommune thematisierten die Klitoris nicht und betonten die Vagina, die in der Sprache der Mühlkommunarden „Loch“ oder „Fut“ genannt wurde. Die „Frauengeilheit“ war in der Kommunensprache eine Apologie der Penetration.48 Jedoch wurde auch den Frauen eine aktive Rolle zugedacht, die nicht allen Männern zusagte, wie dem Bericht einer Kommunardin zu entnehmen ist: „allerdings gibt es auch männer bei uns, mit gebrochener sexualität, die meine aktivität erschreckt ablehnen […] sie fühlen sich von meiner fut missbraucht, ihr schwanz wird zum objekt, sie haben angst vor meinem loch.“49 Die Diskussionen der Frauenbewegung zum klitoralen Orgasmus und die Erkenntnisse der Sexualwissenschaften, wie z. B. von Masters und Johnson, die zu dieser Zeit breit rezipiert wurden, wurden von den Kommunard✶innen als „demütiger blödsinn und absoluter schwachsinn von schwulen männern und frigiden frauen“ bezeichnet.50
6 Scheitern der alternativen Ökonomie 1978 war die Kommune in ernsthaften ökonomischen Schwierigkeiten und innerhalb kürzester Zeit wurde die Ökonomie völlig neu aufgestellt. Bis dahin hatte sich die Kommune durch die Gelder, die neu eintretende Mitglieder mitbrachten, und durch Kurse erhalten. Die Betriebe im Milieu der alternativen Ökonomie (Jeansgeschäfte, Entrümpelung, Ausmalen, Tischlern etc.) waren allesamt defizitär. Ende der 1970er Jahre nahmen die Neuzugänge ab und die Kommune setzte nun auf „Außenarbeit“, das hieß, ein Teil der Kommunard✶innen musste in Stadtkommunen in Zürich, München, Berlin, Düsseldorf und Amsterdam51 Geld verdienen und es beim Zentrum der Kommune abliefern. Ca. 140 Personen waren berufstätig, was weniger als die Hälfte der Kommunemitglieder war. „Die Kommune wurde immer reicher und das Klima immer rauher“52, schreibt der ehemalige Kommunarde Goldblat. Die Kommunarden starteten Berufskarrieren im boomenden Finanzkapitalismus der 1980er Jahre, zunächst mit Bauherrnmodellen (Steuerabschreibungen über Immobilien), später mit Termin Zu den Diskussionen um Sexualität in der Frauenbewegung in Wien vgl. Zündende Funken. Wiener Feministinnen der 70er Jahre. Hg. v. Frauenkollektiv RitClique. Wien 2018, S. 101–110. FF Ultra. In: Frauenforderung, 1. Jg, Nr. 1, 1/1976, S. 11–12, hier S. 12. Die Homosexualität der Frauen. In: Frauenforderung, 1. Jg., Nr. 2, 2/1976, S. 12. Über die Geilheit der Frau. In: Frauenforderung, 1. Jg., Nr. 2, 2/1976, S. 11. Bauer, 1968, 148. Goldblat, Als ich von Otto Muehl, S. 150.
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geschäften, privaten Krankenversicherungen, Lebensversicherungen usw.53 Sie deklarierten sich nicht als Kommunebewohner, wohnten in den Stadtkommunen gemeinsam und fuhren immer wieder zwecks Erholung und Kontrolle zum Friedrichshof. Die Geschäfte dieser „Verkäufer“, wie sie intern genannt wurden, liefen so erfolgreich, dass die Kommune auf La Gomera eine 400 Hektar große Finca El Cabrito, eine 350 Hektar große Landzunge La Gaviota und in San Sebastian vier Häuser kaufte.54 Auf der kanarischen Insel und am Friedrichshof wurde eine rege Bautätigkeit entfaltet. Fleck schätzt das Vermögen der Kommune Ende der 1980er Jahre auf 200 Millionen DM.55 Erwirtschaftet wurde das „auch dank geringster ausgaben – substandardwohnen in den arbeitslagern, kaum sozialausgaben, die meisten arbeiten unangemeldet“56, kritisiert Otmar Bauer, der sich als Kulturschaffender verstand, aber von Mühl dazu eingeteilt wurde, Telefonmarketing zu machen. So entstand eine Art Kolonial-Ökonomie, in der alle für das Zentrum arbeiteten und persönlich nichts davon hatten, abgesehen von den Urlauben am Friedrichshof oder auf La Gomera. Die „Verkäufer“ in den Stadtkommunen hatten hingegen ein viel freieres Leben, sie waren nicht permanent in Machtkämpfe um Ottos Gunst verwickelt und hatten mehr Außenkontakte als die Personen am Friedrichshof, sprich die Führungsschichte und vor allem Frauen und Kinder.
7 Zerfall der Kommune – die Spannungen zwischen Sexualität und Ökonomie Mit der völlig veränderten Ökonomie entstanden in der Kommune starke Spannungen zwischen den Personen, die das Geld verdienten, und denjenigen, die sich kulturell oder pädagogisch betätigten. Karl Goldblat beschreibt in seinen Lebenserinnerungen sehr eindrücklich, wie er als Kulturarbeiter plötzlich an Einfluss verlor, in eine tiefe Krise verfiel und schließlich zum Verkäufer von privaten Krankenversicherungen wurde. „Der Sinn und Zweck der Stadtgruppen bestand nur noch darin, das Geld für den Ausbau der Zentrale am Friedrichshof zu verdienen. Die Gruppenmitglieder nahmen ihre Ausbeutung nicht als solche wahr […] Erfolg bedeutete auch einen Aufstieg in der Hierarchie.“57 Nachdem die Führungsschichte um Mühl auf das Geld angewiesen war, verschob sich die
Bauer, 1968, S. 120, 142. Die Kommune arbeitete auch mit sehr dubiosen Firmen zusammen. Bauer, 1968, S. 153, 165. Fleck: Die Mühl-Kommune, S. 200. Das wären heute inflationsbereinigt ca. 184 Millionen Euro. Bauer, 1968, S. 153. Goldblat, Als ich von Otto Muehl, S. 135.
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interne Hierarchie weg von der Beurteilung der sexuellen Performance (die als Ausdruck des Bewusstseinsstands galt), hin zur ökonomischen Performance. Diese Verkäufer und Verkäuferinnen entmachteten schließlich auch Mühl und die alte Führung und Gründungsgeneration um Otto Mühl.58 Der Zerfall erfolgte (1.), weil ökonomische Performance gegenüber der sexuellen Performance an Gewicht gewann und das ursprüngliche Gefüge der Kommune sprengte. Und (2.) weil sich die in der Kommune aufgewachsenen Jugendlichen nicht mehr an das Dogma der „freien“ Sexualität hielten und die sexuellen Normen der Kommune ihnen gegenüber mit Gewalt durchgesetzt wurden.59 Die ältere Generation hatte sich autonom für dieses Lebensmodell entschieden, die Jungen waren hineingeboren worden und hatten andere Sehnsüchte. Sie verliebten sich, wollten Zweierbeziehungen, viele zogen mit Volljährigkeit aus – in der Kommune wurde das als völliges Versagen der Erziehung interpretiert. Die Gewalt gegen Mädchen und Buben, die Mühl und seine damalige Ehefrau Claudia ausübten, führte schließlich zur gerichtlichen Verurteilung.60 Mühl lebte seine Vorliebe für Teenies aus – „teenies sind die minderjährigen, von mühl vergewaltigten mädchen, die er in psychopathischer eifersucht an sich bindet“61 –, er war ein völlig abgehobener Tyrann geworden, der längst von Haschisch und Alkohol zu Kokain umgeschwenkt war. Vergewaltigung und Missbrauch von Minderjährigen beiderlei Geschlechts sowie völlig sadistische Kinderpalaver, bei denen die Kinder und Jugendlichen öffentlich erniedrigt wurden, fanden ohne Widerspruch der anderen Kommunard✶innen statt. Die Frauen, die ihre Führungspositionen absichern wollten, übergaben Mühl ihre Töchter. „ottos sexualität mit den mädchen, mit manchen schon ab zwei bis drei jahre alt, war geheim, und zwar wurden die kinder immer von den zu ihren führungsweibermüttern erklärten frauen ins bett mitgebracht.“62 Ein utopisches Lebensmodell, das „freie“ Sexualität unter Erwachsenen zum Ziel gehabt hatte, endete in sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen.
Fleck, Die Mühl-Kommune, S. 236 f. Der Dokumentarfilm Meine keine Familie (AUT 2012) von Paul-Julien Robert zeigt eindrücklich die sexuelle Gewalt in der Kommune und die Sehnsucht der jungen Generation nach dem bürgerlichen Ehe- und Familienmodell, das sie in ihrer Kindheit nicht hatten. Ab 1988 gab es polizeiliche Ermittlungen gegen Mühl, im Juni 1991 erfolgte seine Inhaftierung. Er wurde zu sieben Jahren Haft verurteilt, von denen er sechseinhalb Jahre verbüßte. Seine Frau Claudia wurde zu drei Jahren Haft, eines davon unbedingt, verurteilt; zehn weitere Kommunarden erhielten bedingte Haftstrafen. Fleck, Die Mühl-Kommune, S. 230. Bauer, 1968, S. 157. Bauer, 1968, S. 181.
Gerda E. Moser
Unheimliches Familienglück: Zur Persistenz traditioneller Gesellschaftsund Geschlechterordnungen in der Bestseller Trilogie Fifty Shades of Grey Im Rahmen spannungsreicher Leseerlebnisse tritt Unheimliches meist aus zwei Gründen in Erscheinung und verbreitet Unbehagen, Angst oder Schrecken auf lustvolle Art – die Gefahren sind eben nur fiktiv. In Thriller- oder Horrorromanen zum Beispiel zeigt es sich als eine Bedrohung der Ordnung, die von außen (oder von innen) kommt, etwa als wildes Tier, dessen Schreie schauerlich klingen und unerbittlich näher rücken (oder als blutrünstige Missgestalt, in die sich ein bislang eher harmloses oder unauffälliges und freundliches Wesen verwandelt). Darüber hinaus kann Unheimlichkeit als Bedrohung inszeniert sein, die von Ordnung selbst ihren Ausgang nimmt. In Science-Fiction-Romanen übernimmt diese Rolle oft ein Gesellschafts- und Herrschaftssystem, das für seine Bewohnerinnen und Bewohner zum Gefängnis geworden ist und die wenigen Heldinnen und Helden, die dagegen kämpfen, auf paranoide Weise verfolgt und auszulöschen versucht. Auf dem ersten Blick lässt sich der große Erfolg der Bestseller-Trilogie Fifty Shades of Grey (Filmstart im Februar 2015; als englisches Original in dutzende Sprachen übersetzt und weltweit rund 80 Millionen Mal verkauft) dadurch erklären, dass die drei Romane sexuell-erotisch konnotierte Unheimlichkeit der Kategorie I, also Unheimlichkeit als Bedrohung von Ordnung, erzeugen. So wirbt der Goldmann-Verlag, in dem die deutschen Ausgaben erschienen sind, mit dem Hinweis auf „dunkle Leidenschaften“, die (wie durch die Klappentexte suggeriert wird) Ordnung in Chaos verwandeln und in Gestalt eines düsteren und charmanten Verführers auf der Suche nach einem Opfer sind, wobei sie sehr rasch das Herz und ebenso den Unterleib der Jungfrau zu entflammen wissen, die zur Beute auserkoren worden ist. Die Bildgestaltungen der englischen Cover (ganz in Schwarz-Weiß gehalten) lassen zudem sadomasochistische Inhalte vermuten. Magazine und Boulevardzeitungen (so auch die österreichische Krone) besprechen die Trilogie in Kombination mit Product-Placement für tiefschwarze und blutrote Dessous. Und in einem rasch einberufenen Interview unternimmt Alice Schwarzer den Versuch, Verdachtsmomente in Hinblick auf Pornografie sowie Verherrlichung weiblicher Unterordnung und männlicher Dominanz zu entkräften: „Shades of Grey“ sei „das Gegenteil von Pornografie, https://doi.org/10.1515/9783110740806-021
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in der der Sex entpersonalisiert ist“. Die weibliche Hauptfigur sei eine „charaktervolle junge Frau“, die „nie zum passiven Objekt degradiert“ werde, sie sei „denkendes und handelndes Subjekt“ und „Herrin der Lage“, die „letztendlich die Reißleine“ ziehe. Alice Schwarzer ist überzeugt, dass sich Millionen Leserinnen vor allem deshalb für Fifty Shades of Grey begeistern, weil ihnen ein „Spiel mit dem Feuer“ präsentiert wird, „das sie selbst löschen können“.1 Alice Schwarzer ist nicht die einzige Kommentatorin der Trilogie, die nur das erste Buch gelesen hat. Doch die Lektüre von Band eins genügt nicht, um alle Facetten wahrzunehmen. Wer sich durch die rund 1.900 Seiten der deutschen Ausgaben durchgearbeitet hat, sieht sich (je nach Möglichkeit und Maßgabe des Blickwinkels) dazu veranlasst, ein anderes und vor allem kritisches Bild zu entwickeln. Als Leseerlebnis könnte Fifty Shades of Grey einiges an vergnüglicher Unheimlichkeit der Kategorie 2, also eine Unheimlichkeit, die von einer bedrohlich gewordenen Ordnung ausgeht, hervorrufen, wäre seiner Autorin E. L. James (alias Erika Leonard) daran gelegen, die von ihr beschriebenen gesellschaftlichen Normen ironisch, parodistisch oder auf andere Weise distanzierend darzustellen. Ihre Romane entwickeln stattdessen eine naiv (oder ungeschickt oder perfid) anmutende Form von literarisch-fantastischer Utopie. Aufgrund des falschen Bewusstseins, das damit zum Ausdruck gebracht wird, entfaltet sich Unheimliches auf problematische und ärgerliche Art. Nur so lassen sich die erregten Reaktionen von Leserinnen und Lesern deuten, die im Umgang mit den Büchern einerseits von Begeisterung und Faszination sprechen, andererseits von Verwunderung und Belustigung, Enttäuschung und Wut. Im letzten Drittel dieses Beitrags werden diese Leserreaktionen im Rückgriff auf Postings bei Amazon.de vorgestellt und im Überblick zusammengefasst, wobei sie (so wie zunächst die Trilogie selbst) aus kultursoziologischer und dramaturgischer sowie vergnügens- und gendertheoretischer Sicht kommentiert und interpretiert werden.
1 Asymmetrien der Macht und Lust Das Grundgerüst der Handlung der Fifty Shades of Grey-Trilogie lässt sich wie folgt skizzieren: Im Zuge eines Interviews, das die 21-jährige Literaturstudentin Ana(stasia) Steele anstelle ihrer erkrankten Freundin Kate für eine Studentenzeitung führt, lernt sie den 27-jährigen millionenschweren Unternehmer Christian
1 Nina Jerzey: Interview mit Alice Schwarzer (https://ninajerzy.org/2012/07/13/alice-schwar zer-das-ist-kein-sadomaso-roman/; zuletzt abgerufen am 7.3.2021).
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Grey kennen. Beide sind sofort voneinander fasziniert, doch die gegenseitige Annäherung erweist sich als schwierig: Ana hat keine sexuelle Erfahrung, Christian wiederum scheut durch Liebe begründete Beziehungsformen und ist es gewohnt, sich auf Frauen in erster Linie sexuell, als Sad(omasoch)ist und auf der Basis eines rechtsgültigen Vertrags einzulassen. Das Paar ringt um Übereinkunft und einen Kompromiss, geht zunächst (und auch sehr rasch) eine sexuelle Bindung ein, die sich sukzessive und über zwei kurzfristige Trennungen hinweg (einmal flüchtet sie, einmal er) zu einem klassischen Liebesverhältnis entwickelt sowie im zweiten Band der Trilogie in Verlobung und Ehe mündet. Neben den Aspekten Sex und Liebe kommt das Kriminelle nicht zu kurz. Als spannungsreiche Begleitumstände fungieren vielerlei und stets erfolgreiche Auseinandersetzungen mit ungünstigen Gegebenheiten und missgünstigen Menschen, die sich mit Hilfe von Waffengewalt, Brandstiftung, Sabotage und Kidnapping zwischen die beiden Liebenden und späteren Eheleute drängen. Im Vordergrund stehen Christians Kindheitstraumata (er wurde von seiner drogensüchtigen und sich prostituierenden leiblichen Mutter vernachlässigt, von seinem Vater und von Kunden seiner Mutter verprügelt, als 15-Jähriger von einer älteren Frau zum SM verführt) sowie seine Neigung, sich nicht gerne berühren zu lassen und eine mitunter sehr schlagkräftige Form von SM zu praktizieren. Diese Fülle an Belastungen muss aufgearbeitet werden, wobei sich Ana als seine bislang beste Therapeutin erweist. Darüber hinaus treten zwei ehemalige Gespielinnen Christians auf den Plan, die ihn wieder für sich gewinnen wollen; hinzu kommt Anas Vorgesetzter im Büro, der aufgrund seines sexuellen Übergriffs auf Ana von Christian gefeuert wird und gegen letzteren einen Rachefeldzug führt. Der dritte Band der Trilogie schließt mit einem Picknick im Garten der Villa mit Meerblick, die Christian und Ana mit ihrem inzwischen zweijährigen Sohn (das zweite Kind, eine Tochter, ist unterwegs) und Personal bewohnen. Das Ehepaar trifft sich immer noch in einer Art Spielzimmer, in dem Christians spezielle Neigungen in einer moderaten Form erfüllt werden. Der Rest der Beziehung wird so gestaltet, wie es sich Ana von Anfang an erträumt hat: Christian ist nicht nur erfolgreich als Unternehmer, er ist nun auch (und sehr zur Freude seiner Adoptiveltern und Stiefgeschwister) verheiratet und ein guter Ehemann und Familienvater. Ana wiederum, die ehemalige Literaturstudentin, hat es nicht nur zu Ehemann und Familie gebracht, sondern ebenso (und nicht ganz ohne die Unterstützung von Christian) zur Chefin eines Verlags mit dem Namen „Grey Publishing“, der zur Firmengruppe ihres Angetrauten gehört. Aus gendertheoretischer Sicht kann die Beziehung von Christian und Ana als ein Paradebeispiel für Geschlechterasymmetrie gedeutet werden, in der es zwar keine umfassende Unterordnung oder Unterdrückung von Frauen (mehr) gibt, aber auch (noch) nicht ein Gleichgewicht der Kräfte. Der männliche Part,
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also Christian, nimmt großen Einfluss auf den Lauf der Welt. Sein Aufgabengebiet ist das Gesamt- gesellschaftliche und Ökonomische, und er entpuppt sich als durchaus menschenfreundlicher, wenn auch resolut regierender Herrscher, der die Welt von Hunger und Not befreien will. Seine Frau, Ana, arbeitet ihm zu, verdient etwas eigenes Geld, profitiert jedoch in erster Linie von den finanziellen Mitteln ihres Freundes und späteren Ehemanns und hätte nicht im geringsten die Möglichkeit, mit ihm auf dieser Ebene in einen Konflikt zu geraten, geschweige denn einen solchen zu gewinnen. Undenkbar, dass Ana mit Christian geschäftlich fusioniert oder sein Imperium übernimmt. Ganz ohnmächtig ist sie dennoch nicht, als weiblicher Part hat sie einen gewissen Anteil an der Macht, wenn auch den wesentlich kleineren und massiv reduzierten. Ihr zentrales Aufgabengebiet ist Christian selbst, dessen Therapie, die Pflege der Beziehung zu ihm (die Trilogie ist fast zur Gänze aus der Sicht Anas und aus diesem Blickwinkel geschrieben) und der Aufbau einer Familie. Weibliche Macht besteht in einem derartigen Verhältnis darin, der Macht des Mannes die Spitze zu nehmen und ihn zu besänftigen, vor allem zuhause und ein wenig in seinem Unternehmen, und dafür zu sorgen, dass er seinen Anteil (im Idealfall sowohl wirtschaftlich als auch emotionell) am Aufbau der Familie übernimmt. Es gibt Romane, in denen Geschlechterasymmetrie quasi en passant zur Sprache kommt oder unhinterfragt mitschwingt. Zudem gibt es Romane, in denen sie kritisch ausgestellt wird. In Fifty Shades of Grey wird sie zelebriert. Das mag auch daran liegen, dass die Autorin sehr einfache Mittel des Spannungsaufbaus einsetzt (als Fan der Twilight-Saga und ehemalige Fernsehproduzentin sind ihr solche Dramaturgien gut bekannt) und mit plakativen Kontrasten sowie unwahrscheinlichen und psychologisch nicht immer nachvollziehbaren Entwicklungen und Stimmungswechseln arbeitet. So ist Ana, als sie zum ersten Mal auf Christian trifft und ihm in seinem Büro stolpernd vor die Füße fällt, Christian nicht nur finanziell massiv unterlegen, auch im Sexuellen und Kulturellen ist ihre Unerfahrenheit immens. Abgesehen davon, dass sie gerne liest (typischerweise Romantisches aus dem 19. Jahrhundert), zwei Literaturklubs geleitet und in der Universitätsbibliothek mitgearbeitet hat, in einem Baumarkt jobbt, gerne kocht und ins Kino geht, hat sie so gut wie nichts erlebt. Vergleichbar der Aufklärungs- und Ratgeberliteratur der 1950er Jahre2 stellt sie das Rollenklischee und Idealbild einer Frau dar, die wie Dornröschen darauf wartet, von einem Mann (am besten ihrem Ehemann) wachgeküsst und in die Sexualität und das Leben eingeführt zu werden: „Christian, mein sexueller Mentor.
2 Iris Osswald-Rinner: Oversexed and underfucked. Über die gesellschaftliche Konstruktion der Lust. Wiesbaden 2011, S. 125 ff.
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[…] Diesen Wissensvorsprung werde ich wohl nie aufholen. Offen gestanden kennt sich Christian in nahezu jedem Lebensbereich besser aus als ich … bis auf Kochen, vielleicht.“3 Christian findet ein unbeschriebenes Blatt vor, in das er seine – „Du gehörst mir!“ und „Komm‘ für mich, Baby!“ verlautet er immer wieder – besitzergreifenden und selbstbezogenen Markierungen und Zeichen setzen kann. Ana wird von ihm unter anderem angeleitet, ausreichend und gut zu essen, sich schick, elegant und nicht zu sexy zu kleiden, qualitativen Wein zu erkennen, Sport zu treiben und darauf zu achten, dass sie nicht zu verhüten vergisst, wobei ihre erste Schwangerschaft prompt aus dieser Nachlässigkeit resultiert. Ana erweist sich als sehr gelehrig und willig und trotz ihrer Unerfahrenheit nicht allzu gehemmt. Für Christian wird die Freude am reizvollen pädagogischen Spiel noch dadurch erhöht, dass sein Erziehungsobjekt seinen Anweisungen meistens, aber nicht immer Folge leistet. Als besonders bezeichnend (und mitunter unfreiwillig komisch) erweist sich das lebensweltliche Ungleichgewicht des Paares im sexuellen Bereich. Dort wird Ana von Christian in alle möglichen Stellungen gebracht – auch in solche, die Frauen gern von sich aus einnehmen, da sie auf diese Weise den Rhythmus vorgeben können. Ana wagt dies nicht: „Unter seiner Anleitung setze ich mich vorsichtig auf ihn […] passe mich seinem Rhythmus an.“ (II, 129; vgl. auch II, 84; III, 194 und 280) Zum Glück beziehungsweise aufgrund einer psychologisch nicht ganz schlüssigen Entscheidung der Autorin sind Christians Kindheitstraumata und die daraus folgenden großen Aggressionen nicht immer vorhanden, kann Christian ebenso gut ein hervorragender und raffinierter wie achtsamer und zärtlicher Liebhaber sein. Deshalb ist er auch dazu bereit, seine Partnerin zu mehr Mitsprache einzuladen, was Ana, inaktiv-reaktiv wie sie ist, überrascht und dankbar zur Kenntnis nimmt: „,Wenn wir das nächste Mal miteinander schlafen, wirst du mir ganz genau erklären müssen, was du möchtest.‘ –, Oh.‘“ (II, 44) Freilich bestimmt Mentor Christian, wie weit Anas Lust und Selbständigkeit gehen dürfen. Schließlich ist er der erfahrenere Kenner ihres Genitals: „Ich kenne diesen Teil deines Körpers besser als du.“ (III, 58) Auch sich selbst zu berühren, bringt er ihr bei. Allerdings darf sie es nicht zu Ende bringen, sondern wird von ihm zum Höhepunkt getrieben, indem sie von ihm beschlafen wird (vgl. III, 445 f.). Ana soll nicht nur keine anderen Männer haben neben ihm, es ist ihr auch untersagt, Lustgefühle zu verspüren und diese zu genießen, wenn Christian es nicht will („Wage es nicht, es dir selbst zu machen. Ich will,
3 E. L. James: Fifty Shades of Grey. Bde. 1–3. Bd. 2. München 2012, S. 546. Nachweise im Folgenden unter Angabe der Bandnummer im Fließtext.
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dass du frustriert bist.“ I, 405) oder wenn er nicht die Ursache dafür ist (vgl. III, 445 f.). Ana ist fasziniert von diesem dominanten Mann, der sie nicht nur nach allen Regeln der romantischen Kunst verwöhnt (gemeinsam schick und teuer essen gehen, per Sportwagen, Helikopter oder Business Class reisen, Segelfliegen und Segeln etc.), sondern ihr auch die meisten Entscheidungen abnimmt. Ihr Freiraum ist klein, und sie muss dafür sorgen, dass Christian nicht ihr ganzes Leben bestimmt, sie während des SM-Spiels nicht mit voller Wucht schlägt (am Ende des ersten Bands passiert es tatsächlich, worauf sie ihn kurzfristig verlässt) und sie nicht total in Beschlag nimmt: „Ich mag ihn so – herrisch –, solange ich mich ohne Angst vor Bestrafung gegen ihn behaupten kann.“ (II, 48) Da Ana letztlich bei Christian bleibt und sich unter seiner fast erdrückenden Obhut auch wohlzufühlen scheint, muss sie immer wieder auf Christians Großzügigkeit hoffen oder an diese appellieren und selbst kleinste Freiheiten und Lustbarkeiten ertrotzen. So muss sie geduldig darauf warten, dass er sie mit dem Auto fahren lässt, das ihr gehört, nachdem er es ihr geschenkt hat (vgl. II, 437). Während der Hochzeitsreise muss sie sich zum Jetski-Fahren davonschleichen, da sie nicht sicher ist, ob er ihr diesen Spaß erlauben würde (vgl. III, 7 ff.). Und mit Freude und Erleichterung nimmt sie zur Kenntnis, dass Christian so freundlich war, ihr in seiner riesigen Wohnung ein Zimmer inklusive Arbeitsfläche zur Verfügung zu stellen: „Es freut mich, dass Christian mir die Bibliothek überlassen hat. Nun steht darin ein weißer Holzschreibtisch, an dem ich arbeiten kann.“ (III, 136) Konsequenterweise sind die Angst, Christian zu verlieren, sowie eine nervöse Achtsamkeit darauf, wie Christians Laune ist, bis zu Verlobung, Hochzeit und Schwangerschaft ein bedeutender Faktor in Anas Leben: „Aber wie lange wird er bereit sein, bei der Stange zu bleiben, ohne mich windelweich zu prügeln, weil ich irgendeine willkürliche Grenze überschritten habe?“ (II, 134) – „Ich versuche verzweifelt, seine Stimmung einzuschätzen.“ (III, 34) Anas Widerstand erinnert kaum (und wie könnte es anders sein) an den Widerpart oder die Kraft und Energie einer erwachsenen und gleichberechtigten Frau und hat etwas mädchenhaft Trotziges, beleidigt Eingeschnapptes und aufmuckend Maulendes (die zweite Seite der Medaille ist, dass Ana mit Fortgang der Beziehung ebenfalls eine erzieherische Haltung einnimmt und Christian immer wieder wie eine Mutter tröstet, betüddelt und ermahnt, siehe den nächsten Abschnitt in diesem Beitrag). Kurz und gut: Ana benimmt sich nicht aktiv-, sondern passiv-aggressiv. Nur sehr selten wagt sie es, etwas von sich aus zu ergreifen und anzustreben und sei es Christian selbst. Sie muss deutliche Liebesschwüre hören (vgl. I, 412; II, 425), vier Cocktails getrunken haben (vgl. I, 503) oder alles aus seiner schweren Kindheit wissen (vgl. III, 610), ehe sie sich zutraut, offensiv zu werden, Christian zu küssen und ihm einen Zun-
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genkuss zu geben. Sie muss verheiratet und schwanger sein, ehe sie wagt, ihn im Bett zu reiten oder zu mehr Tempo und Druck anzuspornen (vgl. III, 610, 613 f., 619, 621). Mitunter wächst sie über sich hinaus, gibt beim Autofahren Gas oder legt sich mit lüsternen Angreifern und anderen üblen Gestalten an. Dabei setzt sie sich auch kraftvoll durch, jedoch kann (darf?) sie keinen Sieg erringen, ohne hinterher (eine typisch weibliche Schwäche haftet ihr – so scheint es – hartnäckig an) in Tränen auszubrechen, zusammenzusinken und ohnmächtig zu werden (vgl. II, 107, 404; III, 524). So verwundert es auch nicht, dass Ana klein beigibt, wenn es für ihre Unabhängigkeit wichtig wäre. Nach einer Menge Theaterdonner fügt sie sich zum Beispiel darin, in dem kleinen Verlag, den Christian aufgekauft hat, um sie zu kontrollieren, beschäftigt zu bleiben und seinen Namen anzunehmen. Im Gegenzug muckt sie auf oder schweigt beleidigt, wenn Christian sie zu Recht vor einem Fehler oder einer Dummheit bewahren will. Eine typische Szene dafür ist jene, in der Ana pikiert reagiert, als Christian sich nach ihrer Monatsblutung erkundigt und ihr nahe legt, sich selbst um Verhütung zu kümmern. Immerhin hat das Paar bereits allerlei Sex-Stellungen inklusive Blowjob ausprobiert, und Christian hat bislang brav Kondome verwendet: „Wann bekommst du deine Periode?“, fragt er. Wie bitte? […] „Und?“, fragt er, als ich nicht reagiere, und sieht mich gespannt an, als warte er auf die Wettervorhersage. Das ist doch Privatsache, verdammt nochmal. „Nächste Woche.“ Ich blicke auf meine Hände. „Du musst dir Gedanken über die Verhütung machen.“ Immer muss er den Ton angeben. Ich sehe ihn ausdruckslos an. (I, 308)
Es ist, als simulierten Ana und der Text, der sie beschreibt, weibliche Selbständigkeit und Unabhängigkeit, wozu gehört, dass diese mehr sprachlich behauptet, als in die Tat umgesetzt wird. So treten immer wieder Nebenfiguren auf, die Christians Lob für seine Frau ergänzen und der Hauptprotagonistin versichern, wie klug, eigenständig und selbstbewusst sie sei. Und fast schon lächerlich wirkt es, wenn auch die von Christian organisierte Ärztin nach der gynäkologischen Untersuchung von Anas Klugheit (?!) überzeugt und beeindruckt ist (vgl. I, 362). Im Gegensatz dazu lösen Anas Unbekümmertheit oder Unbedarftheit eine Katastrophe nach der anderen aus. Aus dramaturgischer Sicht treibt dies die Handlung voran, bietet kriminellen Widersachern die Möglichkeit, in das Grey’sche ausgeklügelte Sicherheitssystem einzudringen sowie für Christian Grey selbst die Chance, seine unbedachte Partnerin mit einer prickelnden Prise SM-Sex zu bestrafen und seine Wut über ihr Verhalten an ihr selbst abzureagieren. Erfreulich für ihn ist, dass Ana Bestrafungen wie diese zunehmend bewusst hervorruft und genießt: „Ich muss in Zukunft öfter unartig sein.“ (III, 47)
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2 Der (Tausch)Wert der Tugend Wäre die Figur der Ana in einer besseren gesellschaftlichen und ökonomischen Position, vermögend ohne den finanziellen Beitrag eines Freundes, Liebhabers oder Ehemanns, beruflich firm, engagiert und durchsetzungsfähig, sexuell und kulturell raffiniert, niemand müsste bei Alice Schwarzer nachfragen, ob ihre Bereitschaft, sich auf SM-Spiele einzulassen, aus feministischer Perspektive bedenklich sei. Vor dem Hintergrund der großen gesellschaftlichen und ökonomischen Macht, die diese Figur innehätte, könnte ihre Neigung als rein sexuell und gesellschaftlich neutral eingestuft werden oder als eine besonders delikate Form von ausgleichender sozialer Gerechtigkeit und individueller Kompensation. Für die Figur der Ana jedoch, wie sie in der Fifty Shades of Grey-Trilogie gezeichnet ist, bleibt SM nicht bloß SM, erweist sich als mehr als eine bloß sexuelle Orientierung und als ein Beleg für die Asymmetrie zwischen ihr und ihrem Freund/Ehemann, die alle Bereiche ihres Lebens tangiert. Alice Schwarzers positiver Einschätzung muss daher mit Skepsis begegnet werden. Schwarzer scheint der trotzig-naiven und maulend-reaktiven Aufmüpfigkeit der Heldin auf den Leim gegangen zu sein und diese als Ausdruck einer machtvollen oder gleichberechtigen Position misszuverstehen. Zudem hat Schwarzer zum Zeitpunkt des Interviews den zweiten Band, in dem Ana zu Christian zurückkehrt, nicht gelesen. Darüber hinaus konzentriert sich Schwarzer auf die Frage, ob Fifty Shades of Grey pornografisch sei, und gibt sich damit zufrieden, in Fifty Shades of Grey keine Pornografie definiert als entpersonalisierten Sex vorzufinden. Das führt dazu, dass sie die Problematik des Rahmens, der den Sex „persönlich“ macht, nämlich die romantische Liebesgeschichte, aus den Augen verliert. Und Schwarzer denkt auch nicht weiter darüber nach, welche Art von Persönlichkeit oder weiblicher Identität es ist, die Ana zu einer – so Schwarzer – „charaktervollen“ Figur macht. Wenn Christian über Anas Vorzüge schwärmt, dann sieht er tugendhafte Weiblichkeit, die – was andere Betrachterinnen und Betrachter verwundern mag – für ihn auf berauschende Weise verführerisch ist. Ana wirkt auf Christian „betörend unschuldig“ (II, 41), wie eine „Unschuld, die aus der Masse der Gewöhnlichkeit hervorsticht“ (I, 534), „schüchtern, unsicher […] und mörderisch sexy“ (III, 651). Da Ana von Christian auch als „aufrichtig“ und „liebenswert“ (II, 41), „anständig“ und „süß“ (II, 293) sowie „ehrlich“ und „rätselhaft“ wahrgenommen wird, weil sie sich „sehr zurückhaltend“ (I, 52) benimmt, ist die Strategie der Darlegung klar: Moral, konnotiert als weibliche Unerfahrenheit und Bescheidenheit, Arg- und Harmlosigkeit wird sexualisiert. Sexualität hingegen wird sehr moralisch betrachtet und in ihrer offensiven Form vor allem bei Frauen abgelehnt.
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Ehe sie auf Christian trifft, lebt Ana aus zweiter Hand. Sie liest und schaut sich Filme an, und sie begleitet und beobachtet ihre (sowohl im Umgang mit Männern als auch mit dem Leben selbst) wesentlich mutigere und erfahrenere Freundin Kate. Für Ana selbst jedoch gilt, sich vor allem, was real ist und Vergnügen bereiten könnte, zu bewahren, wenig Umstände zu machen und so wenig wie möglich in Erscheinung zu treten oder zu glänzen: „Ich hasse es, im Mittelpunkt zu stehen.“ (I, 505), „Mode ist nicht mein Ding.“ (I, 238), „Eigentlich hasse ich shoppen.“ (II, 436) Auf überzeichnete und mitunter nahezu karikaturhafte Weise ist Ana ein Inbegriff bürgerlicher oder mittelständischer Dezenz. Typisch für sie ist eine Szene wie jene, in der sie ihrer ersten feinen Spitzenunterwäsche begegnet und diese mit Ehrfurcht und Misstrauen betrachtet: „Es handelt sich um exquisite europäische Designerwäsche mit hellblauer Spitze. Wow. Sie flößt mir Respekt und auch ein wenig Angst ein.“ (II, 82) Als ginge es immer noch darum, sich von den Ausschweifungen eines primär als dekadent, verlogen und intrigant verstandenen Adels abzugrenzen und sich von dessen Kunstfertigkeit und Raffinesse abzusetzen (auch Pornografisches und anderes Freizügiges aus der unmittelbaren Gegenwart scheint ein gewisses Feindbild zu sein), wird penibel genau die Grenze beobachtet und eingehalten, hinter der Opulenz, Schwelgerei und unbekümmerte Lustbarkeit lauern. Alle drei Bücher der Trilogie hindurch und unabhängig von dem Fortgang und der Vertiefung ihrer Beziehung wird Ana immer wieder rot, wenn sie mit Christian ins Bett geht. Es ist, als könnte sie den Sex mit ihm nicht genießen, ohne gleichzeitig peinlich berührt davon zu sein und sich für ihre Verwegenheit zu schämen. Und es ist, als könnte sie Lust nur ertragen, wenn diese mit einer gehörigen Portion Leid einhergeht. Lust um ihrer selbst willen scheint verpönt zu sein (im Übrigen ein Aspekt, der im Rahmen von feministischen Theorien über weiblichen Masochismus herausgestrichen wird4). Dementsprechend wird auch Verführung eher farblos und niedlich-verspielt inszeniert und vor dem Hintergrund einer gewissen Nüchternheit auf das Notwendige reduziert. Als sich Ana einmal bewusst reizvoll kleidet (zu diesem Zeitpunkt ist sie bereits verheiratet, hat erfahren, dass sie schwanger ist, und fühlt sich nach einem heftigen Streit von Christian vernachlässigt), entscheidet sie sich für einen „fast unanständig kurzen schwarzen Rock und eine weiße Seidenbluse mit Rüschen”, streift sich „die spitzenbesetzten schwarzen Seidenstrümpfe über“, schlüpft in passende „Louboutins“, trägt „ein bisschen Wimperntusche und einen Hauch Lipgloss auf“, bürstet „die Haare kräftig durch“ und
4 Birgit Rommelsbacher: Der weibliche Masochismus – ein Mythos? In: Roswitha Burgard u. Birgit Rommelsbacher (Hg.): Leideunlust. Der Mythos vom weiblichen Masochismus. Berlin 1989, S. 11–40.
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beschließt, „sie offen zu tragen. Ja. Das sollte genügen.“ (III, 593 f.) Immer wieder achtet Ana darauf (oder hat sie darauf zu achten), dass sie „verführerisch“ und „züchtig“ ist – wie ihr Hochzeitskleid, an dem „die Spitze ein wenig über der Schulter sitzt“ (III, 17). Anas Bescheidenheit geht tief – bis hinein in ihre Körperstruktur, die sich der Zurückhaltung ihrer Seele anschließt. Da sie nur wenig isst, ist Ana sehr schlank mit einer Figur, die eher mädchenhaft als fraulich ist. Und so sieht Ana, wenn sie vor dem Spiegel ihre Silhouette kontrolliert, das „taillierte Kleid“, das sich um „die wenigen Kurven“ legt, „die ich habe“ (II, 137). Konsequenterweise „mag“ Ana „Gia nicht“, eine erfolgreiche Architektin und Gegenspielerin mit „weiblichen Hüften“, „vollen Brüsten“, „teuren Designerklamotten“ und „dem teuren Parfüm“ (III, 103). Auch bei Gia lassen Körper und Stilisierung darauf schließen, welche Art von Moral sie als Frau (nicht) besitzt. Vital, lustvoll und im Gegensatz zu Ana mit der sowohl gefährlichen als auch unbotmäßigen Aura einer Frau ausgestattet, die selbst etwas will und die nicht darauf wartet, dass es ihr zugeteilt oder geschenkt wird, ist Gia die Femme fatale, die „meinen Mann so aufreizend anlächelt“ (III, 103). Und so wird Gia, nachdem sie Christian am Arm berührt hat, eine mögliche Entlassung aus den Umbauarbeiten an der ehelichen Villa angedroht (III, 178 f.), und so muss die eifersüchtige Ana, die sich angesichts ihrer Verlustangst und des moralischen Fehltritts ihrer Konkurrentin kaum fassen kann, von Christian wie folgt beruhigt werden: „Ana, sie ist sexuell aggressiv, überhaupt nicht mein Typ“ (III, 181). Anas zentrale Strategie im Leben ist, dass sie von sich aus kaum etwas will (zumindest einen Job) und dass sie in erster Linie aus Angeboten wählt, die an sie herangetragen werden. Als in einem zärtlichen Moment Christian und Ana einander ihre Liebe und Treue gestehen (vgl. III, 84 f.), ergibt sich daher im Rahmen der Treueformeln, die die beiden einander vortragen, ein kleiner und nicht unwesentlicher Unterschied. Ana schwört, Christian bei seinen „Plänen und Träumen“ beizustehen. Im Gegenzug versichert Christian, Ana bei ihren „Hoffnungen und Träumen“ zu unterstützen. Anstelle von Plänen hat Ana Hoffnungen, im Vergleich zu Christian ist sie weniger aktiv und vor allem weniger aggressiv, wobei damit nicht nur blinde Wut gemeint sein muss, sondern ebenso die Bereitschaft und Fähigkeit, das Leben selbst in die Hand zu nehmen und eigene Ziele zu verfolgen. Am leichtesten ist Ana zu gewinnen, wenn sie das Gefühl hat, gebraucht zu werden. Dem traditionellen Klischee weiblicher Dienstbarkeit folgend springt sie ein und tut, was man von ihr verlangt. So lernt sie als Vertretung für ihre erkrankte Freundin Kate Christian kennen; so rückt sie weiter vor im Verlag, wo sie eine höhere Position erreicht, als sich eine Vakanz ergibt, die schnell gefüllt werden muss. So eilt sie an das Krankenbett ihres Stiefvaters Ray, so versucht sie
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Mia, die Schwester Christians, aus der Hand von Entführern zu befreien, und so schlägt sie sich vor allem mit der Traumatisierung von Christian herum, wobei sie es als ihre Aufgabe sieht, Christians Verletzungen mit ihrer ganzen Liebe und Hingabe zu heilen. Es ist vor dem Hintergrund realer moderner, vielfältiger Entwicklungsmöglichkeiten für junge Frauen und Paare erstaunlich und auch bedenklich, zu beobachten, wie im Rahmen der in der Fifty Shades of Grey-Trilogie hochgehaltenen Weltordnung und Moral aus dem Mädchen Ana die Mutter Ana wird. Benimmt sich Ana Christian gegenüber zunächst wie eine Tochter, einerseits gehorsam, andererseits ein wenig widerständig, trotzig und frech, nimmt Anas Rollenbild in weiterer Folge immer mehr Aspekte einer treusorgenden, verständnisvoll-bekümmerten und fürsorglichen Mütterlichkeit an, wobei sie auch Christian wie einem Kind begegnet: „Mein armer, verlorener Junge […] bei seinem Anblick blutet mir das Herz.“ (II, 345) An der Schwelle zum Erwachsenensein wird aus Ana keine freibeuterische Liebhaberin, die ihre Sexualität in einem Wechselspiel von Kraft und Zärtlichkeit, Verführen und Verführtwerden, Kontrolle und Kontrollverlust sowie Nähe und Distanz leben und genießen kann oder die dazu fähig wäre, mit ihrer Lust an einem Mann, der sie fasziniert, auf vergnügliche und raffinierte Weise zu spielen. Weibliches Erwachsensein wird in der Fifty Shades of Grey-Trilogie in erster Linie mit Mutterschaft gleichgesetzt beziehungsweise darauf fokussiert, und dieser Effekt verdoppelt sich, als Ana schwanger wird (vgl. III, 491 f.). Mögen durch das Zusammentreffen mit Christian Grey auch endlich Sex und unterschiedliche Techniken des Liebesspiels in Anas Leben gekommen sein, als zentrales Ziel und Fluchtpunkt ihres Lebenswegs erweisen sich für sie Ehestand und Familiengründung. In der Entwicklung bis dorthin nimmt sie Christian mit und hilft ihm dabei, traditionell-bürgerliche oder rückwärtsgewandt-romantische und in jedem Fall einseitige Vorstellungen von Liebe und Bindung zu verwirklichen. Und so kommt es nicht von ungefähr, dass Christians Familie von Anfang an hinter Ana steht und sie lobt und feiert, sobald sie sich an Christians Seite zeigt. Auch Anas Mutter und Stiefvater sind mit der „knallharten Zweisamkeit“5 des Paares und mit dessen Eheschließung sehr zufrieden (vgl. I, 165 f., 389 f., 408; II, 143, 145, 174 f., 583; III, 20, 547, 57l f., 575 ff.). Aus der einschränkenden und mitunter auch diskriminierenden Sicht der Fifty Shades of GreyRomane gibt es nichts Unschicklicheres für einen Mann, als sich ohne eine dauerhafte Gefährtin in der Öffentlichkeit zu zeigen und damit den Verdacht zu erregen, homosexuell zu sein (vgl. I, 172, 285; II, 143; III, 302). Im Gegenzug ist das
5 Nina Pauer: Knallharte Zweisamkeit (https://www.zeit.de/2012/29/Shades-of-grey; zuletzt abgerufen am 7.3.2021).
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Ehrenrührigste für eine Frau, sich zu prostituieren (vgl. I, 98, 182, 285, 316 f.; II, 124; III, 38, 541). Und so liegt es ebenso an Ana, etwas zu beweisen, nämlich, dass sie nicht in erster Linie an Christians Reichtum interessiert ist: „Ich werde dir noch sehr viele Geschenke machen […] Ich kann es mir leisten. Ich bin ein sehr wohlhabender Mann.“ […] „Bitte. […] Ich komme mir dabei nur so billig vor“, erwidere ich. […] „Nichts an dir ist billig, Anastasia.“ (I, 285) „Nein Christian. Du hast mir schon so viel geschenkt. Romantische Flitterwochen, London, Paris, die Côte d’Azur und … dich. Ich bin wirklich ein Glückspilz.“,,Anastasia, der Glückspilz bin ich.“ „Danke.“ Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, schlinge meine Arme um seinen Hals und küsse ihn … nicht weil er mir das Armband geschenkt hat, sondern weil er mir gehört. (III, 66)
Da Ana selbst wenig besitzt, weder Macht noch Geld, ziemt es sich für sie beziehungsweise wird von ihr erwartet, Christians großzügigen und teuren Geschenken mit der Bescheidenheit und Ambivalenz einer Frau zu begegnen, die nichts weiter vorzuweisen hat als die Tugend, zu widerstehen und sich nicht kaufen zu lassen. Nichtsdestotrotz ist es Teil ihres Selbstverständnisses, auf beiläufige Weise zu bezeugen, dass ihr ihr Mann sehr viel zu bieten hat. Dabei weist die eine Hand zurück, was die andere mit nachlässiger Geste nimmt und benützt. „Ich habe ja versucht, abzulehnen,“ wendet sie sich an ihre Freundin Kate, „aber ehrlich gesagt, ist es den Streit nicht wert“ (I, 345). In ihren Rollen als Mann und Frau therapieren6, domestizieren und depotenzieren sich Christian und Ana gegenseitig: Während er ihr die Welt zeigt und erklärt (unter anderem vom Cockpit eines imposanten Hubschraubers oder Segelfliegers aus), treibt sie ihm sukzessive seine erotisch-sexuellen Flausen aus oder mildert sie ab (zum Beispiel, dass er vor ihr keinen „Blümchensex“ und keine Fortpflanzung wollte). Während er sie immer weiter in das Land der sexuellen Lust einführt und aus ihrem sexuellen Schlaf erweckt, nimmt sie ihm die Angst vor Berührung (beim Streicheln seiner Brust) und Bindung (beim Gedanken an Ehe und Vaterschaft). Über allem schwebt die Idee, dass Liebe heilt (selbst tiefe Wunden und auch solche, die professionelle Therapeutinnen und Therapeuten vor große Herausforderungen stellen würden: vgl. II, 455) und dass es in erster Linie die Frau ist, die ihre Liebe bedingungslos schenkt (vgl. II, 391). Im Gegenzug erhält sie von dem Mann, um den sie sich auf diese Weise bemüht, dessen Rücken sie stärkt und dessen Geschäftsimperium sie mit der
6 Vgl. Julika Griem: Shades of Grey. Eine literarische Magersuchttherapie (http://www.faz.net/ aktuell/feuilleton/shades-of-grey-eine-literarische-magersuchttherapie-11958482.html, zuletzt abgerufen am 7.3.2021).
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umsichtigen Leitung eines Subunternehmens bereichert, Schutz und Macht, Verlobungsring, eheliche Treue, liebreizenden und legitimen Nachwuchs sowie ein herrschaftliches Haus in einem Villenviertel mit der „Aura von Wohlstand und Rechtschaffenheit“ (II, 470).
3 Das Rumoren im Netz Bücher, die sich gut verkaufen, müssen nicht bei allen beliebt sein oder allen Leserinnen und Lesern gefallen. Bestsellerliteratur generiert sich aus Feedbackschleifen, die nicht ganz kontrollierbar sind (auch nicht von den MarketingStrategien der Verlage) und etwas Selbsterfüllendes haben. Ein Buch wird gekauft und vielleicht auch gelesen, weil darüber diskutiert wird und weil die Kundinnen und Kunden mitreden möchten. Die mehr oder weniger begeisternden Lektüreerlebnisse, von denen erzählt wird, ziehen weitere Käuferinnen und Käufer an, die an der Debatte teilhaben und herausfinden wollen, wie sie selbst das Buch einschätzen würden. Bei den Kunden-Rezensentinnen und Rezensenten von Amazon.de schneiden die Fifty Shades of Grey-Romane mit der Durchschnittsnote „Dreieinhalb“ und „Vier Sterne“ ab. Zahlreiche Top-Bewertungen mit „Fünf Sternen“ halten sich mit einer vergleichbar großen Anzahl von Benotungen die Waage, die sich auf alle Grade zwischen vier Sternen und einem Stern verteilen. Für den ersten Band vergeben zum Zeitpunkt des Filmstarts und der Korrektur dieses Beitrags, also im Februar 2015, rund 990 Posterinnen und Poster nur einen Stern. Bereits daraus lässt sich schließen, dass das Meinungsbild kontrovers ist. Brennpunkt der Auseinandersetzungen ist die Frage, ob Ana in ihrer Abhängigkeit und Unterwürfigkeit gegenüber Christian zu weit geht und damit nicht dem modernen Rollenbild einer selbstständigen und selbstbewussten Frau entspricht. Weitere Streitpunkte sind die Sprache und der Bezug zur Realität sowie die Art, wie Sexualität und Liebe dargestellt werden. Geht es nach der scharf formulierenden Posterin Sophie Retz (1.11.2012), ist Christian Grey ein „unsympathisches Arschl✶✶✶“ und Anastasia Steele „eine dämliche Nuss ohne jeglichem [sie!] Rückgrat“. Nofret78 (20.10.2012) hält Christian für „Mr. McHecht“, NeChaR (25.9.2012) versteht Ana als „naiv und weltfremd“. Leseratte 88 (13.1.2013) ist der Meinung, dass Christian ein „höchst therapierbedürftiges Verhalten“ zeigt, sieht in Ana „wohl eine der dümmsten Hauptfiguren, die jemals in einem Buch vorkamen“ und fragt konsterniert: „Welche Frau lässt sich bitte vorschreiben was sie anziehen, essen, … wann sie Sport machen soll, wie sie ihren Körper pflegen soll?“ Mitunter höchst aggressiv, schadenfroh und sadistisch werden der Heldin die Prügel, die
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sie gegen Ende des ersten Bands bezieht, gegönnt. So notiert etwa Benjamin Blümchen „lesekaenguru“ (24.9.2012): „Nach dem Lesen dieses Dreigroschenromans kann ich den männlichen ,Helden‘ nur all zu [sie!] gut verstehen. Auch ich würde gerne die ‚Heldin‘ verprügeln. Wie kann frau in den heutigen Zeiten nur so hörig und naiv sein!?“ Es gibt eine große Anzahl von Leserinnen und Lesern, denen das Machtgefälle zwischen Christian und Ana nicht nur auffällt, sondern auch gegen den Strich und auf die Nerven geht. Freilich wird dabei oft übersehen, dass die Trilogie in diesem Punkt keine Schwarz-Weiß-Malerei betreibt, sondern die ungleichgewichtigen Anteile an Macht und Ohnmacht zwar massiv, aber eben auch relativ und nicht absolut verteilt. Das bietet anderen Kommentatorinnen die Möglichkeit, beschwichtigend einzugreifen. Einzelne argumentieren spannungstechnisch. Der breite Abstand zwischen Christian und Ana sei dem Spannungsaufbau der Romane geschuldet, und es ginge in erster Linie um den „Kontrast von Arroganz und Schüchternheit, Arm und Sehr reich“ (Robina Hofmann, 26.11.2012). Es sei alles nicht so schlimm, Ana werde nicht komplett beherrscht, so lautet der Grundtenor von anderen Stimmen, die zahlreicher sind, primär inhaltlich argumentieren und auf diese Weise erst recht belegen, wie groß die Unterschiede sind. Christian, so schreibt zum Beispiel M. Kautz „Jessie9974“ (21.1.2013), sei zwar „herrschsüchtig, aber zeigt auch mal Gefühle“, Ana „bietet ihrem Herrn und Meister auch mal die Stirn und zeigt Rückgrat“. Noch weitaus positiver, aber auch problematischer ist die Einschätzung von Iris A. Hahn (2.7.2012). Sie hält Anas Verhalten für vorteil- und vorbildhaft und schlägt vor: „Frauen sollten sich (wieder) auf ihre subtile Macht besinnen – und somit den größten Spaß erleben. Weniger Kampf – dafür mehr Genuss!“ BlaueElfe (21.8.2012) geht noch einen Schritt weiter und sieht in Anas Verhalten eine Möglichkeit, sich vielerlei Anstrengungen der Eigenverantwortung und des Emanzipiertseins zu ersparen. Ihr erscheint es verlockend, jemand anderen für sich entscheiden zu lassen in der Hoffnung, dass offen bleibt, abzulehnen, was unbedingt verneint werden muss. Dabei wird von ihr das Ausmaß der Freiheit, das dadurch verlorengeht, heruntergespielt sowie die Bandbreite weiblicher Frei- und Handlungsspielräume mehr reaktiv als aktiv definiert und in erster Linie zwischen „Dankbarkeit“, „Trotz“,,,Aufmucken“ und „Unterwerfung“ verortet. Interessanterweise schwingt die (durchaus berechtigte) Befürchtung mit, wegen einer derartigen Meinung wenig respektiert und womöglich sogar verspottet zu werden: Heutzutage ist Frau unglaublich bemüht emanzipiert zu sein: Wir gehen arbeiten, tragen unsere schweren Koffer selbst, sind finanziell unabhängig und können sowieso alles mindestens genauso gut wie Männer. Das ist ja auch schön und gut und wir alles sollten dankbar
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dafür sein, dass es diese Möglichkeit gibt. Dennoch bietet Shades of Grey eine ganz andere Welt, in der Mann wieder die Zügel in der Hand hält. Ana braucht sich eigentlich um nichts zu kümmern, sie könnte sich entscheiden vollkommen in der Beziehung zu diesem Mann aufzugehen. Dennoch bewahrt sie sich ein gewisses Maß an Trotz und Selbstständigkeit, das sie irgendwie sympathisch macht. Ich kann zumindest für mich sprechen, wenn ich sage, dass ich den Gedanken angenehm finde mich bedingungslos auf einen Mann verlassen zu können, auch wenn das bedeutet einen kleinen Abstrich im eigenen Freiraum machen zu müssen. […] Frau hat nicht nur das Recht aufzumucken, sondern auch darauf sich zu unterwerfen, ohne dafür ausgelacht und beleidigt zu werden. Viele Frauen haben auch heute noch Probleme damit zu äußern, was sie sich wünschen, nicht nur im sexuellen Bereich. Christian nimmt Ana unglaublich viel von diesem Stress ab, lässt ihr aber freie Entscheidungen wenn sie es unbedingt will. [Fehlende Beistriche unter anderem, sic!]
Andere Postings bringen es gezielt auf den Punkt: „Leider geht es ja nicht nur um ein wenig BDSM im Bett, was man ja akzeptieren kann, wenn jemand drauf steht, der psychopatische Kontrollfreak Christian dominiert aber alle Bereiche ihres Lebens. Ana wehrt sich zwar manchmal halbherzig, aber letztlich ordnet sie sich unter“, formuliert Angelika Becker (2.8.2012) und weist damit darauf hin, dass die Rolle der immer wieder Unterlegenen für die weibliche Hauptfigur keine bloße Spielart des Schlafzimmers ist, sondern das ganze Leben tangiert. Nicht nur für Angelika Becker transportiert daher die Fifty Shades of GreyTrilogie ein „erzkonservatives Frauen [sic!] und Weltbild“. In der Frage, welche Vorbilder der populären Literatur und Kultur in den Fifty Shades of Grey-Romanen wirksam werden, entwickeln die Kunden-Rezensentinnen und Rezensenten von Amazon.de pointierte Formeln. So ortet Anja Günther (1.7.2013) ein „,Aschenputtel findet Märchenprinz‘-prinzip“, und unter dem Titel „Hedwig Courts-Mahler trifft Beate Uhse“ fasst Leseratte (6.2.2013) zusammen: „Story […] uralt: Unschuldiges Mädchen trifft gut aussehenden reichen jungen Mann durch elende Kindheit verdammt und erlöst/bessert ihn durch ihre Liebe, dazu trendiges SM zum Bestseller-Fishing.“ Leseratte identifiziert damit souverän den Mix der Muster, der das Erfolgsrezept der Fifty Shades of Grey-Trilogie auszumachen scheint: eine Liebesgeschichte nach traditionell-romantischer Vorlage (Liebe heilt; Unschuld betört; brave Frau zähmt bösen Mann) wird mit sexuell Explizitem aufgepeppt. Das wirkt zeitgemäß und ist neu für das Genre, das sich auf diese Weise allerdings weder grundlegend verändert noch transformiert. An den beiden Grundbausteinen der drei Romane (viel Romantisches auf der einen, einiges Pornografisches auf der anderen Seite – das „Kamasutra ist ein Sch … … dagegen“, kommentiert Gabriele, 18.9.2013) scheiden sich daher auch das meiste Lob und der größte Teil der Kritik. Während Leserinnen wie Sunny (23.10.2012) begeistert darüber sind, „nicht nur ein Buch über Sex [zu lesen], sondern auch […] eine tolle Hintergrundgeschichte“, „die echt ans Herz geht“, fühlen sich Leserinnen
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wie Isabella Gründhammer (21.1.2014) von Märchenhaftigkeit gelangweilt und von Versatzstücken genarrt: Ana ist dumm, ständig geil, natürlich wunderschön auf ihre Art, ätzend unschuldig. Christian ist irrsinnig schön, unglaublich erfolgreich und dementsprechend reich, ätzend verdorben und wird von der unschuldigen Ana ins Licht, sprich in den Blümchensex, Ehe- und Kinderglück geführt. … und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
Während sich zahlreiche Leserinnen an der fesselnden (vgl. zum Beispiel Tanja Kern, 28.3.2013) und aufwühlenden Liebesgeschichte (vgl. etwa Snjóflygsa, 11.10.2012) erfreuen können und sich die augenzwinkernde Mary O’Brien (24.8.2012) so sehr in die männliche Hauptfigur verliebt, „dass sie sich vielleicht ebenfalls den Hintern versohlen lassen würde – WENN er sich denn dazu herabließe;-)“, formiert sich die Gegenfraktion. Sie kann dem romantischen Rahmen der Geschichte, der im zweiten und dritten Band noch stärker zum Ausdruck kommt, wenig bis gar nichts abgewinnen. Meist entlang von vereinzelten Beobachtungen wahrgenommen oder in einzelnen Facetten gefühlt, regt sich Unmut und Widerstand. Dabei erscheint Ana, die immer mehr in ihrer Mutterrolle aufgeht und in dieser Eigenschaft das Geschehen zunehmend kontrolliert, als „schnippisch“ (kleinbrina „Kleinbrinas Bücherblog“, 10.7.2012), während Christian, der sich immer mehr in seine Funktion als Ehemann und Familienvater fügt, wie ein „häusliches Weichei“ (Claudia Ha., 24.10.2012) oder „Softie” (Sylvia, 26.9.2012) wirkt. Posterin Nefret (7.7.2012) würde ihn „nicht geschenkt haben wollen“. Insgesamt und prinzipiell ist Kunden-Rezensentin Andrea (1.7.2012) überzeugt, dass mit der Fifty Shades of Grey-Trilogie das Interesse an Sexualität auf spießig-heuchlerische Weise bedient und den Vorstellungen politisch-gesellschaftlicher Strömungen unterworfen wird, die sexuelle Lust massiv einschränken: „In diesem hübsch-[…]-korrekten Kokon findet der kleine Reigen der vermeintlich unanständigen Begegnungen statt, sodass jede konservative Leserin sich beruhigt zurücklehnen kann. Wohl aufgrund dieser puritanischen Hülle spricht das Buch auch Käuferschichten an, die sonst keine Erotik-Prosa in die Hand nehmen würden.“ Auch in Hinblick auf ihre Sprache werden die Bücher einerseits gelobt, andererseits kritisiert. Leicht zu lesen (vgl. etwa Farn. Boy, 9.6.2013) oder als Lektürepensum schnell zu bewältigen (vgl. zum Beispiel Tanja Kern, 28.3.2013), erscheinen sie gefüllt mit zahlreichen stilistischen und inhaltlichen Wiederholungen und den immer gleichen Phrasen und Bildern (siehe unter anderem Mary Lie, 9.11.2012: „Dieses hohle Gequatsche“). Die kritiklose Übernahme von Klischees wird dabei in Summe (und zu Recht) einschlägigen und fragwürdigen Interessen beider Geschlechter zugeschrieben. So sieht SinaPink (25.7.2012) „Kleinmädchenfantasien“ am Werk, Romi (26.11.2012) „eine Geschichte aus
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dem Kopf einer 14-Jährigen“ und Silke Hockmann (3.11.2012) „absolute Männerfantasien“. Wie schlecht es um das Bild der sogenannten Hausfrau in den gegenwärtigen mitteleuropäischen Gesellschaften bestellt sein kann, lässt das erboste Posting von Seven Summit „Anapurna“ (5.7.2013) erahnen: „Lektüre für verklemmte untervögelte Hausfrauen mit zuviel [sic!] Zeit.“ Manche Leserinnen und Leser zeigen sich darüber erstaunt, verärgert oder sogar entsetzt, welches Bild von Weiblichkeit und Männlichkeit sowie von Sexualität und Liebe die Fifty Shades of Grey-Romane vermitteln. Angesichts der Vorschriften, Übergriffe und Demütigungen, denen Ana ausgesetzt ist, fragt sich Löwenzahn (29.8.2013), ob es tatsächlich eine Frau ist, die die Romane geschrieben hat. Ein männlicher Leser gibt sich auf sarkastische Weise verzweifelt und verwirrt angesichts der Willigkeit, mit der sich weibliche Romanfiguren und geneigte Leserinnen vor einem als Ausbeutertum inszenierten Götzenbild von Männlichkeit verbeugen, gerade auch in Zeiten der Emanzipation: Welche Lehren soll ich als Mann aus dieser Geschichte ziehen? Es spricht ja offenbar so viele Frauen an. Absolute Kontrolle, absolute Unterwerfung, absolute Verfügbarkeit, damit der Mann stets seinen Willen bekommt und seine Lust befriedigen kann? Die Aufgabe des eigenen Ichs, um einen Mann zufriedenzustellen? Ist das tatsächlich euer Wille, werte Damen? Ich hab bisher geglaubt, dass wir viel weiter sind. Um Aufklärung wird gebeten! (SunnyboyXP0, 23.9.2013)
In weiterer Folge wird der von der Autorin plakativ zur Schau gestellten hehren Haltung der Heldin misstraut: So fragt sich etwa g.pro (10.1.2013), „ob die liebe auch noch so groß wäre, wenn der hauptdarsteller hässlich und arm wär“, und Prixi (3.6.2013) geht davon aus, dass „der Roman nicht funktionieren [würde], wenn Christian Grey ein ordinärer Buchhalter mit Durchschnittsgehalt und Bauchansatz wäre“. Hasky (5.3.2013) wiederum legt seinen Finger in die Wunde der ambivalenten Zugriffs- und Abwehrbewegungen, mit der Ana den Geschenken Christians begegnet: „sie ist doch nicht käuflich! – aber sie nimmt’s trotzdem, wenn sie sich auch manchmal ein bisschen ziert“. Wie viele andere KundenRezensentinnen und Rezensenten hält Fritz Weikusat (28.9.2013) sowohl die Geschichte insgesamt als auch die in ihr dargelegten Höhepunkte sexueller Leistungsfähigkeit, besonders in der Zeichnung der männlichen Hauptfigur, für „abgehoben“ und übertrieben: „Vier Mal am Tag kein Problem, dazwischen immer erfolgreich bei seinen Geschäften.“ Ein realistischeres Maß aus der Sicht der Frauen mahnt hingegen (und unter anderem) NeChaR (25.9.2012) ein: „Und natürlich kommt sie seit dem 1. Mal wirklich immer zum Höhepunkt und immer ganz doll heftig und ganz viele Male hintereinander. Wow! [„ .] Ich bin berauscht von soviel [sic!] Realitätsnähe.“
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Schließlich wird speziell an junge Leserinnen die Warnung (vgl. Kritisch, 15.12.2012) ausgesprochen, die Absolutheit, mit der in den Fifty Grades of GreyRomanen an die helfende und rettende Macht der Liebe geglaubt wird, nicht ganz ernst und nicht zum Vorbild zu nehmen. Ana folge problematischen, auf Mütterlichkeit und Retterinnenwesen fixierten Handlungsorientierungen und leide an einer Art Helferinnen-Syndrom: Sobald in der Psyche des Mannes Anzeichen einer leichten „Verkorksung“ entdeckt werden, wird sich [sic!] vollauf damit beschäftigt, den Mann zu heilen und auf den rechten Weg zu bringen (quasi dem armen, kleinen Jungen das aufgeschlagene Knie zu verarzten). Das natürlich durch die Liebe, die sie ihm schenken, eine wahrhaft, reine Liebe, die heilt und alles Gute bewirkt. (Kundin2007, 6.8.2012)
Noch drastischer formuliert es Dylene (29.4.2013), die dem Verhalten der beiden Hauptfiguren einen Suchtcharakter attestiert: „Es geht hier um Missbrauch und Kontrollzwang, nicht um Liebe.“ Leserinnen und Leser freilich, die durch keine literaturwissenschaftlichen oder -kritischen Aufgaben dazu aufgerufen sind, Texte und Kontexte in ihrem Ganzen zu erfassen, lesen Bücher auch sehr selektiv. Diese Einseitigkeit in der Wahrnehmung kann zwar eine umfassend-reflektierte und kritische Rezeption verhindern, andererseits macht gerade sie es möglich, auf befreiende und befriedigende Weise ignorant zu sein, über problematische Textstellen und deren ideologische Implikationen hinwegzusehen und aus dem Text das herauszuholen, was Nutzen bringt oder gefällt. Und so gibt es ebenso Formen von Genusslektüren, die sich von der Fifty Shades of Grey-Trilogie auf eigenwillige und vergnügliche Weise inspirieren lassen. Statt sich mit der Protagonistin zu identifizieren oder gar mit ihr zu hadern, liest Andrea Koßmann (18.7.2012) die Figur der Ana gegen den Strich und freut sich darüber, nicht deren Probleme zu haben. Einige Leserinnen konzentrieren sich darauf, zu beobachten und zu genießen, wie Christian Ana verführt und was er sich dabei immer wieder Neues ausdenkt: So schreibt unter anderem Nicole (16.7.2012): „Er gibt Ana das Gefühl etwas besonderes [sic!] zu sein und zeigt es ihr durch Geschenke und Worte: ‚Du hast mich verzaubert‘, ,Ich kann nicht ohne dich sein‘.“ Und letztlich sind es die offen dargelegten Sexszenen, die für sich genommen beziehungsweise als mega-prickelnde (vgl. Mia Mia „Die Auswanderin“, 11.8.2012) Anregung rezipiert, zu den erfreulichsten Ergebnissen und Erlebnissen führen. Stellvertretend seien Melanie Semig (11.11.2012) und Farbenpfote (12.8.2013) zitiert, die von lustvoll-spielerischen Übergriffen sowie der Überwindung ehelicher Langweile und weiblicher Schamhaftigkeit berichten: „Habe es [Buch eins] in nur 2 Tagen verschlungen, danach meinen Mann!!!!!” – „hatte gestern abend [sic!] in meiner langjährigen Ehe meinen Kick bekommen und meinen Mann verführt. Und dar-
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auf sollte es hinauslaufen. Es kann keine Schande sein, noch etwas mehr Pepp ins Bett zu kriegen, das Buch hat mir dazu verholfen. Die Geschichte war dabei für mich ein nettes Nebenbei.“
4 Zusammenfassung Am Eingang dieses Beitrags wurde zwischen zwei Formen von Unheimlichkeit unter- schieden. Im Rahmen spannungsreicher und lustvoller Leseerlebnisse, so die These, zeige sich Unheimliches als eine Bedrohung der Ordnung oder als eine Bedrohung, die von Ordnung selbst ihren Ausgang nimmt. Der Werbestrategie des Goldmann Verlags folgend hat sich rund um die Fifty Shades of Grey-Trilogie ein medialer Hype entwickelt, der suggeriert, dass die Bände Unheimlichkeit der ersten Kategorie erzeugen. Sowohl die Klappentexte als auch die Diskussionen im Boulevard sind darauf ausgelegt, bei potenziellen Leserinnen und Lesern den Eindruck zu erwecken, dass die Romane nur deshalb faszinieren und umstritten sind, weil sie Sexualität und Liebe auf besonders tabulose Weise darstellen. In das gleiche Horn stoßen Kommentatorinnen wie Alice Schwarzer, die die Bücher entweder nicht zur Gänze oder nicht mit der entsprechenden Genauigkeit und einem kritischen Blick gelesen haben. Mit diesem Beitrag sollte der Beweis dafür erbracht werden, dass es nicht so ist, wie es der Hype erscheinen lässt. Aus kultursoziologischer sowie vergnügens- und gendertheoretischer Sicht erscheint die Fifty Shades of GreyTrilogie sehr konventionell und konservativ, wobei sich entlang der zunächst noch verwunderten und in weiterer Folge auch zunehmend verärgerten Lektüre wenig genussreiche Unheimlichkeit der Kategorie zwei einstellen kann. Mit den Fifty Shades of Grey-Romanen wird derart alternativ- und skrupellos auf Norm gebaut, dass es die Ordnung selbst ist, die zur Bedrohung wird. So werden zwar sexuelle Szenen explizit gezeigt, diese jedoch in den Rahmen einer altbackenromantischen Liebesgeschichte eingearbeitet, die die Geschlechterasymmetrie nicht nur kritiklos fort- und festschreibt, sondern auch auf hymnische Weise feiert. Unter dem Deckmantel sexueller Freizügigkeit und emotionaler Leidenschaftlichkeit verbirgt sich ein Plädoyer für sexuell-erotische, gesellschaftliche und ökonomische männliche Dominanz und weibliche Unterwerfung sowie für Ehe und Familie als allein seligmachende Form von Begegnung und Bindung. Dabei werden diskriminierende Seitenblicke auf Homosexualität und vor allem auch auf moderne weibliche Rollenbilder geworfen, die Frauen mehr ökonomische und kulturelle Macht und sexuelle Aktivität zuschreiben. Darüber hinaus wird Liebe als eine Form bedingungsloser und rettender Hingabe dargelegt, die
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sich als Besessenheit von der Partnerin beziehungsweise als Selbstaufgabe gegenüber dem Partner versteht und als Berechtigung dafür, ihn oder sie immer wieder zurechtzuweisen und -zurücken oder auf den rechten Weg zu bringen. Dass letztlich nicht die Freizügigkeit, sondern die Biederkeit der Fifty Shades of Grey-Romane für Leserinnen und Leser Aspekte der Unheimlichkeit annehmen kann, sollte mit einem Überblick über Kundenrezensionen bei Amazon.de belegt werden. Nicht in erster Linie auf die Bedrohung von Ordnung, sondern auf die Bedrohung von Freiheit, nicht auf die freizügige Darlegung von Sexualität, sondern auf das eherne Loblied von Geschlechterasymmetrie, Eheschließung und Familiengründung reagieren viele Amazon.de-Posterinnen und Poster mit distanziert-kritischen, ungläubig-spöttischen und aggressiv-sadistischen Abwehrbewegungen. Dabei zeigt sich, dass Leserinnen und Leser im Umgang mit Büchern sowohl eingeschränkter als auch freier agieren als Expertinnen und Experten aus Germanistik und Literaturkritik. So kann es ihnen einerseits passieren, dass sie nicht alle kritikwürdigen Zusammenhänge wahrnehmen und durchschauen, andererseits gelingt es ihnen, den Lesestoff wie einen Steinbruch zu verstehen, dem sie die brauchbarsten und vergnüglichsten Stücke entnehmen. Die im Beitrag zitierten Amazon.de-Postings wurden zwischen Anfang Juli und Ende September 2014 aufgerufen und werden im Beitragstext mit Datum und Namenscode/nickname/ (vermeintlich) realem Namen der Kundenrezensentin oder des Kundenrezensenten belegt.
Autorinnen und Autoren Irene Bandhauer-Schöffmann ist Lehrbeauftragte am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, Gastprofessuren an der Universität Wien und der University of Michigan in Ann Arbor. Buchveröffentlichungen (Auswahl): Entzug und Restitution im Bereich der katholischen Kirche (2004) (= Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich, Band 22/1), When the War Was Over: Women, War and Peace in Europe 1944–1956, hg. mit Claire Duchen (2000), Der Linksterrorismus der 1970er-Jahre und die Ordnung der Geschlechter, hg. mit Dirk van Laak (2009). Artur R. Boelderl ist Universitätsdozent am Institut für Philosophie der Alpen-AdriaUniversität Klagenfurt und Senior Scientist am Robert-Musil-Institut für Literaturforschung/ Kärntner Literaturarchiv ebenda. Kuratoriumsmitglied des Internetportals MUSIL ONLINE (http://www.musilonline.at) und Redaktionsmitglied des RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse (https://www.risszeitschriftfuerpsychoanalyse.org). Jüngste Veröffentlichungen als (Mit-) Herausgeber: Von den Schwierigkeiten, zur Welt zu kommen (2021); Robert Musil und die Phänomenologie (2022); Musil – diskursweise. Wirklich mögliche Kontexte zum „Mann ohne Eigenschaften“ (erscheint 2022). Verena Ebermeier ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Historische Narratologie und Raumchronistik: Herkunfts- und Gründungserzählungen in der bayerischen Landesgeschichtsschreibung des 15. Jahrhunderts“ am Lehrstuhl für Ältere deutsche Literatur an der Universität Regensburg tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte beziehen sich auf die Historische Narratologie, die Raumchronistik, die mittelalterliche Antikenrezeption und die Philosophie des Mittelalters. Mit Thematiken aus jenen Forschungsgebieten befasste sie sich unter anderem in ihrer Dissertation „Die Insel als Kosmos und Anthropos. Dimensionen literarischer Rauminszenierungen am Beispiel des Trojanerkriegs Konrads von Würzburg und der Heiligenlegende Navigatio Sancti Brendani Abbatis“ (2019). Im Erscheinen befinden sich Beiträge zu den Themen „Literarische Erkenntnisreisen im Spannungsfeld von curiositas und conversio voluntatis“ und „Stadt ohne Bewohner – Allusionen auf Urbanität als metaphysisches Konzept in der Heiligenlegende Navigatio Sancti Brendani Abbatis“. Anna Estermann, Studium der Germanistik in Salzburg, von 2013 bis 2018 ebd. Universitätsassistentin; 2014/2015 Junior Fellow am IFK (Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften an der Kunstuniversität Linz mit Sitz in Wien); WS 2015 IFK-FellowAbroad an der Humboldt Universität zu Berlin; SoSe 2016 IFK-Fellow-Abroad am Department of Germanic Languages at Columbia University in the City of New York; 2018/2019 MarieAndeßner-Dissertationsstipendium der Universität Salzburg; 10/2019 – 10/2021 Projektmitarbeiterin an der Ingeborg Bachmann Forschungsstelle am Literaturarchiv Salzburg; im Februar 2021 Promotion an der Universität Salzburg mit der Arbeit Literatur als Lebensform. Zur Genealogie von Peter Handkes praxeologischer Poetik, 1960–1980. Zbigniew Feliszewski, Univ.-Prof. an der Schlesischen Universität Katowice, Literaturwissenschaftler, Germanist; Studium der Germanistik, Promotion mit Literarizität der Filmszenarien von Rainer Werner Fassbinder (Katowice 2001). Habilitation zu den Dramen von
https://doi.org/10.1515/9783110740806-022
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Autorinnen und Autoren
Franz Xaver Kroetz aus konsumtheoretischer Perspektive (Kraków 2015). Gastvorträge und -professuren u. a. an der Staatlichen Iwan-Franco Universität Zhytomir und der Universität des Saarlandes in Saarbrücken. Leiter der Forschungsgruppe „Interdisziplinäre Studien zum deutschen Gegenwartsdrama und -theater“ an der Schlesischen Universität Katowice. Autor von Beiträgen u. a. für „Theater heute“. Forschungsschwerpunkte: Drama und Theater Bertolt Brechts, deutschsprachiges Gegenwartstheater, Kulturtransfer und Kulturmobilität (insbesondere zwischen der DDR und Volkspolen). Johannes D. Kaminski erhielt seinen PhD an der Universität Oxford und war Marie Curie Fellow an der Universität Wien. Aktuell ist er mit einem Horizon Europe-Drittmittelprojekt am Institut für Weltliteratur der Slowakischen Akademie der Wissenschaften (Bratislava) tätig. Kürzlich erschienen „Dream Realities in Chinese Tales of the Strange (Zhiguai)“ in: Mediating the Dream (2020) und „Leaving Gaia Behind: The Ethics of Space Migration in Cixin Liu’s and Neil Stephenson’s Science Fiction“, World Literature Studies 13.2, 2021. Paul Keckeis, Studium der Germanistik und Geschichte in Wien, Cambridge, Zürich und Salzburg; 2011/2012 Junior-Fellow des IFK; 2013 bis 2017 Universitätsassistent am Institut für Germanistik der Universität Salzburg, seit 2018 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Klagenfurt. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: österreichische Literatur, Lyrikgeschichte- und theorie, (post-)marxistische Ästhetik (Engels, Fredric Jameson, Franz Fühmann); Buchveröffentlichungen: Robert Walsers Gattungen (2018), gem. m. Werner Michler: Gattungstheorie (2020). Angelika Kemper, Studium der Germanistik, Latinistik und Mittel-/Neulateinischen Philologie; Promotion an der Universität Mannheim, Habilitation an der Universität Klagenfurt; seit 2019 Assoz. Prof. an der Universität Klagenfurt (Ältere deutsche Sprache und Literatur). Forschungs- und Publikationstätigkeit mit Schwerpunkten im Bereich des Wissenstransfers, des Geistlichen Spiels und des frühneuzeitlichen Theaters (Performativität, Intermedialität, Rhetorik), der Mnemotechnik und der Editionsphilologie. Florian Krobb ist Professor emeritus of German an der National University of Ireland Maynooth und Extraordinary Professor an der Universität Stellenbosch/Südafrika. Buchveröffentlichungen (Auswahl): Erkundungen im Überseeischen. Wilhelm Raabe und die Füllung der Welt (2009), Vorkoloniale Afrika-Penetrationen. Diskursive Vorstöße ins „Herz des großen Continents“ in der deutschen Reiseliteratur ca. 1850–1890 (2017), „Afrikas Zukunft“. Jugend- und Abenteuerliteratur in Deutschlands ‚afrikanischem Jahrhundert‘ ca. 1840–1940 (2021). Mitherausgeber der Jahrbücher Germanistik in Ireland (2005–2009), Austrian Studies (2010–2017), des Jahrbuchs der Raabe-Gesellschaft (2011–2015), des Raabe-Handbuchs (2016) sowie zahlreicher Sammelbände, Texteditionen und Übersetzungen. Primus-Heinz Kucher lehrte Neuere deutsche Literatur an der Universität Klagenfurt. Nach der Habilitation (1997; Ungleichzeitige/verspätete Moderne. Prosaformen in der österreichischen Literatur 1820–1880, publiz. 2002) war er u. a. Max Kade Professor an der Univ. of Illinois/ Chicago (2008) und Botstiber-Fulbright Visiting Professor an der Univ. of Burlington (2013). Er leitete FWF-Projekte, z. B. Transdisziplinäre Konstellationen in den 1920er Jahren, sowie aktuell das internat. Verbundprojekt Deutschsprachig-jüdische Literatur seit der Aufklärung. Neue Forschungszugänge in Paradigmen. Weitere Forschungsschwerpunkte: Literarisch-
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kulturelle Beziehungen in Zentraleuropa, Moderne und Avantgarde, Exil-Postexil und (Im-) Migration. Zuletzt Mithg. von Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹ und Exploration urbaner Räume – Wien 1918–1938 (beide 2019). In Vorbereitung: Programm- und Manifest-Texte zur Österreichischen Kultur und Literatur 1918–1938 (2023). Ingo Meyer, Studium der Literaturwissenschaft, Philosophie, Soziologie und Geschichtswissenschaft in Bielefeld, Berlin, Bonn und Bochum. Privatdozent an der Universität Bielefeld. Publikationen: Im ‚Banne der Wirklichkeit‘? Studien zum Problem des deutschen Realismus und seinen narrativ-symbolistischen Strategien (2009), Frank Zappa (2010), Georg Simmels Ästhetik. Autonomiepostulat und soziologische Referenz (2017), Frank Zappa. Hundert Seiten (2018). Herausgeberschaft: Georg Simmel, Jenseits der Schönheit. Schriften zur Ästhetik und Kunstphilosophie (2008), mit Hartmann Tyrell u. Otthein Rammstedt: Georg Simmels Große ‚Soziologie‘. Eine kritische Sichtung nach hundert Jahren (2011). Zahlreiche Arbeiten zum historischen Realismus, ästhetischer Theorie, Gegenwartsliteratur, Heinrich Heine, Christian Geissler, Historischer Bildwissenschaft und zu den soziologischen Klassikern. Regelmäßiger Beiträger für den Merkur, die Philosophische Rundschau und www.soziopolis.de. Gerda Elisabeth Moser † 2021, Studium der deutschen Philologie und Anglistik/Amerikanistik an der Universität Klagenfurt, Dissertationsschrift: Materialisierung der Literatur als Bedingung ihrer Krise. Zur Rekonstruktion und Kritik neomarxistischer Literaturtheorie (1992). Seit 1990 als wissenschaftliche Mitarbeiterin in verschiedenen Funktionen an der Universität Klagenfurt beschäftigt, beteiligt an mehreren, z. T. FWF-geförderten Drittmittelprojekten, zuletzt zur Lesegruppenforschung; Lehraufträge an der Universität Innsbruck, am Zentrum für Frauen- und Geschlechterforschung sowie an den Instituten für Kultur-, Literatur- und Musikwissenschaft, Geschichte, Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung, Medienund Kommunikationswissenschaft und Geographie und Regionalforschung der Universität Klagenfurt, zuletzt Senior Scientist am dortigen Institut für Germanistik (Fachbereich Angewandte Germanistik). Publikationen und Herausgeberschaften zur Ästhetik der Postmoderne, zu Geschlechterkonstellationen und Theorien des Vergnügens in Literatur, Film und Gesellschaft (u. a. zusammen mit Katharina Herzmansky und Friedbert Aspestberger: „Klug und stark, schön und erotisch.“ Idyllen und Ideologien des Glücks in der Literatur und in anderen Medien, 2006). Barbara Neymeyr, seit 2013 Univ.-Prof. am Institut für Germanistik der Universität Klagenfurt. Studium der Germanistik, Philosophie, Latinistik und Pädagogik sowie Staatsexamen an der Universität Münster. 1993 Promotion über Schopenhauers Ästhetik an der Universität Freiburg i. Br. Dort 2000 Habilitation über Psychologie als Kulturdiagnose bei Robert Musil und Lehrtätigkeit von 1993 bis 2013. Mitarbeit am Forschungsprojekt „Nietzsche-Kommentar“ der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. – Monographien zu Schopenhauer (1996), Kafka (2004), Musil (2005, 2009), Intertextualität: Goethe, Büchner, Hauptmann (2012), E.T.A. Hoffmann (2014). Zuletzt zwei Kommentarbände zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen (2020). – Sammelbände zum Stoizismus (2008), zu Nietzsche (2012) und zu Büchner (2013).
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Philippe Roepstorff-Robiano ist Literaturwissenschaftler, Übersetzer und Lyriker. Zuletzt erschienen sind die literaturwissenschaftliche Studie Kreditfiktionen. Der literarische Realismus und die Kunst, Schulden zu erzählen (2020) und die Übersetzung von René Crevels surrealistischem Erstling Umwege (2019). Er hat zahlreiche Aufsätze zu Themen wie Literatur und Meteorologie, Intermedialität und Risiko veröffentlicht und ist Mitglied der Lyrikgruppe G13 sowie des Übersetzer*innenkollektivs Versatorium. Derzeit arbeitet er zum Thema letzter Worte. Arno Rußegger ist Ao. Univ.-Prof. am Institut für Germanistik der Universität Klagenfurt. Seine Lehr- und Publikationstätigkeiten umfassen die Schwerpunkte: Österreichische Literatur seit 1900, Intermedialität der Literatur (vor allem Literatur und Film; Filmanalyse), Kinder- und Jugendliteratur, angewandte Germanistik (Literaturbetrieb, Literatur- und Filmvermittlung). Er ist u. a. Mitherausgeber der Bände Visuelle Medien und Visualität, Kultur und Gesellschaf (beide 2014) sowie Hans Moser. Wiener Weltschmerzkomiker (2020) und Österreichbilder. Mediale Konstruktionen aus Eigen- und Fremdperspektive (2022). Corinna Sauter, Studium der Slavistik, Germanistik sowie der Literatur- und Kulturtheorie in Tübingen. 2014–2016 Wissenschaftliche Angestellte im DFG-Graduiertenkolleg 1808; zwischen 2015 und 2018 Lehrbeauftragte am Deutschen Seminar Tübingen; seit 2022 gepr. Wissenschaftliche Hilfskraft (Projektassistenz) in Tübingen. Forschungsschwerpunkte: Theorie der Prosa, der Satire und des Humors sowie der Lyrik; Rhetorik, Poetik, Ästhetik; poetische Anagrammatik. Publikationen zu Jean Paul, Keller und Raabe. Nina Scheibel ist seit 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Germanistische Mediävistik an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und wurde 2017 mit der Arbeit Ambivalentes Erzählen – Ambivalenz erzählen. Studien zur Poetik des frühneuhochdeutschen Prosaromans promoviert. Ihre Forschungsinteressen sind Historische Narratologie und Anthropologie sowie Phänomene der Polyvalenz und Mehrdeutigkeit. Aktuell beschäftigt sie sich zudem mit theoretischen Zugängen zur mittelhochdeutschen Lyrik, insbesondere mit Fragen der Überlieferung, mit narrativen Interferenzen und poetologischen Aspekten. Sabine Seelbach, seit 2011 Univ.-Prof. für Ältere deutsche Literatur und Sprache am Institut für Germanistik der Universität Klagenfurt. Studium der Germanistik und Philosophie und Promotion (1986) an der Karl-Marx-Universität Leipzig. 1999 Habilitation an der Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg. Gastprofessuren u. a. an den Universitäten Osnabrück, Bielefeld, Freiburg i. Br., Opole (Polen) und Wien. Monographien und Konferenzbände u. a. zu den Themen Sebastian Brant (1990), Mittelalterliche Gedächtniskunst (2000), Friedrich von Logau (2006), Kontingenz in mittelalterlichen Erzählungen (2010), Wissenstransfer in der Vormoderne (2012), Wirnt von Grafenberg (2. Aufl. 2014), Heilige Hedwig (2016) und Narrative des Dreißigjährigen Krieges (2019). Viktoria Take-Walter, Doktorandin und von 2017–2021 Universitätsassistentin am Institut für Germanistik der Universität Klagenfurt. Magisterstudium der Neueren deutschen Literatur, Politischen Wissenschaften und Interkulturellen Kommunikation in München und Paris; 2015 bis 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Editionsprojekt Narragonien digital an der Universität Würzburg, zudem bis 2017 im juristischen Lektorat des C.H. Beck-Verlags (München) beschäftigt. Publikationen zu Schiller (Jahrbuch für Rhetorik; JdSG), romantischen
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Kunstmärchen und dem George-Kreis; Dissertation (in Vorbereitung) zum Thema Eid und Bund. Zur politischen Ästhetik in Friedrich Schillers Dramen. Dagmar Maria Adelheid Wahl, Doktorandin an der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg, wohnhaft in München. 2007–2014 Studium der Germanistik und Geschichte für das Lehramt an Gymnasien an der Universität Bayreuth; 2014–2017 Promotionsstipendiatin der Hanns-Seidel-Stiftung e.V.; Interdisziplinäre Dissertation (in Begutachtung) zum Thema Ehe um 1800. Ein Beitrag zur Wissensgeschichte. Bernhard Josef Winkler, DAAD-Lektor an der Universität Ljubljana. Studium der Germanistik, Geschichte und Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft an der Universität Regensburg, der École Normale Supérieure de Lyon und der University of Colorado at Boulder. Teaching Assistant an der University of Colorado (2015–2016), DAAD-Assistent an der Eötvös Loránd-Universität Budapest (2017–2019), Lehrbeauftragter an der Universität Regensburg (2019–2020). Promotionsprojekt: Traumliebeskampf. Figurationen des Eros bei Botho Strauß. Forschungsschwerpunkte: Literatur der Romantik, Moderne und Gegenwart. Diskurse von Gefühlen und Affekten in der Literatur (Scham, Ekel, Liebe).