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German Pages [238] Year 2023
Wolfgang Weimer
Barfußschuhe und Holzeisenbahnen Unsere paradoxe Kommunikation
https://doi.org/10.5771/9783495996799 .
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Philosophie erzählt Band 9
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Wolfgang Weimer
Barfußschuhe und Holzeisenbahnen Unsere paradoxe Kommunikation
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© Titelbild: Wolfgang Weimer
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99678-2 (Print) ISBN 978-3-495-99679-9 (ePDF)
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1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495996799 .
Die abergläubische Angst und Verehrung der Mathematiker vor dem Widerspruch. (Ludwig Wittgenstein: Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik. Hrsg. v. G. E. M. Anscombe et al. Frankfurt/Main 1974, S. 122)
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Vorwort
Paradoxien sind in sich widersprüchliche Aussagen. Wer sich wider spricht – so die gängige Ansicht -, begeht einen Fehler. Speziell in der Logik fürchtet man kaum etwas mehr, als einem Widerspruch zu erliegen. Ein Beweis, der zu einem Paradox führt, gilt als gescheitert. Würden widersprüchliche Aussagen als gültig anerkannt, könnte man Beliebiges behaupten (ex falso quodlibet – aus dem Falschen folgt Beliebiges), klares Denken und sinnvolle Kommunikation stünden vor dem Scheitern. Haben wir es also hier mit den Bastarden des Denkens zu tun, seinen illegitimen Kindern? Die wären dann allerdings weit verbreitet – hier werden viele von ihnen vorgestellt werden. Wie weit verbreitet, soll dabei deutlich werden. Wenn man in der Logik von einem hölzernen Eisen spricht, dann meint man damit redensartlich einen fehlerhaften Selbstwiderspruch. Doch dann begegnet uns in der Umgangssprache die Holzeisenbahn, und die Sprecher denken sich nichts Schlimmes dabei – ein Kinderspielzeug halt. Was die Logiker stört, das fällt normalen Menschen oft nicht einmal auf. Aber mehr noch wird sich zeigen: nämlich daß es sich bei Paradoxien nicht einfach um Fehler, um Unsinn handelt, sondern um eine in mehreren Hinsichten und in vielen Bereichen legitime Art zu denken. Mit den Paradoxien in der Logik befassen sich zahlreiche Bücher, die das Thema auch unter dem Begriff der Antinomien behandeln. Ein berühmter Fall des 20. Jahrhunderts, der eine Grundlagenkrise in der Mathematik ausgelöst hat, ist Bertrand Russells sog. Mengen antinomie. Die Auseinandersetzung mit ihr zeigt ganz und gar das Bemühen, derlei Widersprüche um jeden Preis zu vermeiden. Meine Untersuchung hingegen soll ausgehen von den Phänome nen unserer Tradition, nämlich dem ersten Auftreten von bewußt paradoxen Aussagen in der Antike, die Widersprüche noch nicht als Tabu behandelt, sondern mit ihnen experimentiert und gespielt hat, um dann ihren Weg in der weiteren, nicht-wissenschaftlichen
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Vorwort
Literatur und – dies vor allem – in unserem täglichen Leben zu verfolgen und zu analysieren. Dieser Arbeit liegt zugrunde ein jahrelanges Sammeln des Bestandes. Wo immer mir ein Paradox begegnet ist, habe ich es notiert. Dabei haben mir mehrere Bekannte geholfen, bei denen ich mich dafür bedanken möchte; die Verwertung ihrer fruchtbaren Anregungen liegt freilich in meiner Verantwortung, alle etwaigen Fehler eingeschlossen. Die Fülle meines Materials soll keineswegs irgendeinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, sondern lediglich die These belegen, daß Paradoxien beinahe allgegenwärtig sind, insbesondere in unserem Alltag, und daß sie weit mehr sind als eine Schwäche, ein Fehler; sie bereichern vielmehr unser Leben, indem sie es vielfäl tiger, anregender und oft auch witziger machen. Paradoxien sind, so behaupte ich, eine höhere Form geistiger Tätigkeit, und wenn wir hoffen dürfen, daß es einen Bereich des Geistes gibt, der logisch simplen Algorithmen und damit künstlicher Intelligenz auf absehbare Zeit verschlossen bleibt, dann wird es dieser sein. Bei ihnen sind wir menschlich in einer Weise, wie es Maschinen (noch?) nicht sein können. Entsprechend meinem Anliegen wird der Fokus der Untersu chung auf die Weise gelegt, wie Paradoxien in unserem Leben auftre ten, was schon in der Antike den damaligen Zeitgenossen aufgefallen ist. Man beobachtet, was passiert, überlegt und bemerkt etwas: einen Widerspruch. Dieses Vorgehen klammert die durch reines Nachden ken auftretenden Phänomene weitgehend aus, denn sie sind primär in Logik-Seminaren von Interesse und durch zahlreiche bereits exis tierende Untersuchungen erforscht. Dem muß ich nichts hinzufügen; außerdem ermöglicht dieser Verzicht die Reduzierung des Materials auf ein noch halbwegs überschaubares Maß. Der eingangs zitierte Ludwig Wittgenstein vertritt einen Stand punkt, der mir plausibel erscheint: Die Bedeutung sprachlicher Äuße rungen liegt in dem Gebrauch, den wir von ihnen in unserem »Sprach spiel«, d.h. durch Sprache gestalteten Leben machen. Es wird sich zeigen, daß die Sprache reichlich und oft mit Freude Gebrauch von Widersprüchen bzw. Paradoxien macht. Wer sich allgemein über das informieren möchte, was ich akademi sche Paradoxien nenne, dem seien die folgenden Bücher empfohlen:
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Vorwort
Johann Berger: Paradoxien aus Naturwissenschaft, Geschichte und Philosophie. Köln 2010 Michael Clark: Paradoxien von A bis Z. Stuttgart 2012 Nicholas Falletta: Paradoxon. Widersprüchliche Streitfragen, zweifel hafte Rätsel, unmögliche Erläuterungen. Frankfurt/Main 1988 R. M. Sainsbury: Paradoxien. Stuttgart 1993
Auch im Internet findet sich eine umfassende Übersicht zu den einzelnen Fachbereichen: https://www.wikiwand.com/de/Liste_von_Paradoxa [aufgerufen am 11.11.2021]
Hier aber soll, wie gesagt, der Schwerpunkt ein anderer sein, zu dem es meines Wissens bislang keine Darstellung gibt.
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Inhaltsverzeichnis
Die Entdeckung des Paradoxen in der Antike . . . . . .
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Unser paradoxer Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . .
35
1. Partnerschaft, Liebe und Ehe . . . . . . . . . . . . . . .
35
2. Politik
52
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3. Religion und Kirche
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88
4. Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
99
5. Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
106
6. Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
113
7. Medizin und Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . .
117
8. Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
123
9. Vermischtes
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128
Aus der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
173
Paradoxie im Witz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
225
Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Entdeckung des Paradoxen in der Antike
Die antike Literatur ist voll von Paradoxien. Man kann sagen, daß vor allem die Griechen erkennbar ihre Freude an diesem Phänomen hatten und es gerne diskutierten. Meine Entscheidung, mich auf Paradoxien zu beschränken, die uns im Miteinander-Leben, im Alltag, begegnen, hat zur Folge, daß einige ihrer sehr berühmten Paradoxien außen vor bleiben, weil sie vorzugsweise im Rahmen einer akademi schen Diskussion auftauchten: so etwa der Kreter, der versichert, daß alle Kreter Lügner sind (der Eubulides), der verlorene Wettlauf Achills mit einer Schildkröte (Zenon der Eleat) und der fliegende Pfeil, der in Wahrheit ruht (ebenfalls Zenon). Wer sich dafür interessiert, den verweise ich auf die Fülle der Bücher, die darüber schon geschrieben sind – auch dies ein Grund, sich nicht auch hier noch damit zu befassen. Eine amüsant geschriebene Einführung ist etwa: Sokrates ist nicht Sokrates. Der Kampf mit dem gesunden Menschen verstand. Klassische Trug- und Fangschlüsse. Dargestellt und aufgelöst von Horst Rüdiger. Zürich/München 21978
Ich hingegen möchte mich beschränken auf das, was die Griechen im Bereich dessen entdeckt haben, was wir erleben, wenn wir unser Leben führen: mit anderen Menschen umgehen, unseren Teil der Welt zu begreifen versuchen, um unser Recht und unseren Vorteil kämpfen, Erfolg haben oder scheitern, und schließlich darüber alt werden.
1. Die Dinge – und mit ihnen die Menschen – ändern sich. Sie werden älter, verändern ihre Gestalt; nicht einmal ihre kleinsten Bestand teile bleiben davon verschont. Menschen erwerben neue Kenntnisse, vergessen alte, sie wachsen heran und verfallen. Es gibt reinweg nichts, vor allem nichts Physisches, was von diesem ständigen Wandel verschont bleibt, und die unveränderliche Ewigkeit ist auf den Bereich des Denkens, der Mathematik vor allem, beschränkt.
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Auf der anderen Seite sind es ein und dieselben Dinge, dieselben Menschen, die sich verändern. Stünde es nicht so, dann könnten wir sie gar nicht mehr identifizieren und bemerken, daß sie es sind, die sich ändern. Es ist ein und derselbe Fluß, der einmal Niedrigwasser, ein andermal Hochwasser führt. Ein und derselbe Mensch, der uns aus Jugendtagen als frisch und dynamisch in Erinnerung ist, begegnet uns eines Tages als ergrauter, behäbiger Greis. Wir schauen hin und stellen fest: Wahrhaftig, er ist es! Dieses Paradox, daß jedes einzelne Ding, jeder einzelne Mensch ihre identifizierbare Identität wahren und sich zugleich ununterbro chen verändern, hat der griechische Philosoph Heraklit aus der ioni schen Stadt Ephesos (ca. 550–480 v.u.Z.) folgendermaßen formu liert: In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht; wir sind es und wir sind es nicht. [fr. 49a]
Der Fluß, in den wir gestern gestiegen sind, ist nicht derselbe Fluß wie der, in den wir heute steigen; beispielsweise Wasserstand und -temperatur sind anders, auch ist er älter geworden. Und dennoch ist es derselbe Fluß, sagen wir: der Rhein. Ebenso steht es mit uns selbst, denn wir waren gestern anders gestimmt als heute, haben seitdem ein paar Informationen dazu gewonnen und andere verges sen. Und dennoch sind weiterhin wir es, sagen wir: zum Beispiel Wolfgang Weimer. Natürlich bin ich ein anderer als gestern oder vor einem Jahr; daß ich dennoch derselbe bin, zeigt sich daran, daß ich anders anders bin als irgendein anderer Mensch, wie auch der Fluß Rhein heute anders anders ist als etwa die Donau. Die Donau ist ein ganz anderer Fluß als der Rhein, während der Rhein gestern und der Rhein heute immerhin noch der Rhein ist, und ich bin immer noch Wolfgang Weimer und verhalte mich zu dem früheren Wolfgang Weimer nicht so anders, wie sich eine Person, die mir im Bus begegnet, zu mir verhält. Wolfgang Weimer damals, das war immerhin doch ich, während der Mensch im Bus in keiner Weise ich und mit mir identisch ist. (Man kann in einem anderen Bereich z.B. auch fragen, ob die Übersetzung eines Buches dasselbe Buch ist wie das Original oder ein anderes.) Heraklit hat damit – und mit anderen Beobachtungen – eine Sichtweise der Welt begründet, die man Dialektik nennt: Die Wirk lichkeit ist widersprüchlich, ist paradox. Man kann dies akzeptieren oder versuchen, es weg zu interpretieren; aber das Phänomen ist nicht
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Die Entdeckung des Paradoxen in der Antike
völlig aus dem Weg zu räumen, daß wir uns mitsamt allem anderen ändern und doch wir es sind und bleiben, die sich ändern. Stünde es anders, blieben wir gar nicht dieselben, dann könnte man niemanden für eine vergangene Tat verantwortlich machen, und umgekehrt, blieben wir einfach nur dieselben, dann könnten wir nicht aus Vergangenem lernen.
2. Gemeinsam ist tatsächlich allen Menschen Krieg. [fr. 38 D]
Von dem Dichter Archilochos (7. Jhdt. v.u.Z.) ist dieser Ausspruch überliefert, wobei er wörtlich für »Krieg« den Gott des Krieges, Ares, anführt. Das heißt: Gemeinsam ist allen Menschen das, was sie trennt. Sieht man einmal von elementaren Funktionen wie Atmen, Essen, Schlafen und Fortpflanzung ab, die wir mit anderen Lebewesen teilen, fällt es schwer, etwas anzugeben, das allen Menschen und zugleich nur ihnen gemeinsam ist. Für Intelligenz, Sprache, Kultur und selbst für den aufrechten Gang lassen sich immer Ausnahmen angeben, nämlich eine mehr oder weniger große Zahl von Menschen, die nicht daran teilnehmen. Nicht einmal daß wir von Menschen abstammen, kann man von allen Menschen behaupten, denn die ersten Menschen (biblisch oder evolutionsbiologisch) stammen klarerweise nicht von Menschen ab, sondern von ihren nicht-menschlichen Vorfahren oder, wenn man so will, von Gott. Archilochos wendet auf der Suche nach dem, was uns gemeinsam ist, den Blick und nimmt eine überraschende Perspektive ein: Ist es nicht paradoxerweise gerade etwas, das uns trennt? Daß wir uns nämlich ständig in Konflikten und Rivalitäten befinden, daß wir die größten Anstrengungen unternehmen, um anderen überlegen zu sein. Und daß dies nicht nur im politischen und gesellschaftlichen, sondern auch im privaten Leben stattfindet. Es mag sogar so sein, daß wir uns gerade auf diese Weise entwickeln und wachsen, indem wir nämlich nur unter dem Druck des Kampfes uns auf die äußerste Weise anstrengen, während Frieden Bequemlichkeit und Stagnation fördert. Der erwähnte Heraklit drückt einen ähnlichen Gedanken aus: Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König. Die einen erweist er als Götter, die andern als Menschen, die einen läßt es Sklaven werden, die andern Freie. [fr. B 53]
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Die Entdeckung des Paradoxen in der Antike
Allerdings ist Heraklit hier, anders als sonst, nicht zu einer para doxen Formulierung gelangt wie Archilochos: Was uns trennt, ist uns gemeinsam. In diesen Zusammenhang gehört auch die berühmte Formel von der concordia discors (zwieträchtige Eintracht) des römischen Dichters Horaz (65–8 v.u.Z.) [Episteln I 12, 19]. Hinzufügen kann man ferner die von einem anonymen Autor der Antike überlieferte Bezeichnung des Brettspiels als eines freundlichen Krieges (φιλικὸς πόλεμος) [Anthologia Graeca XV 18]. Auch auf eine spezielle Form des Getrenntseins mag man dieses Paradox anwenden und sagen: Alle Menschen sind dadurch verbun den, daß sie einsam sind. So kann man, als Resultat all dieser Aus einandersetzungen und der damit einhergehenden Verständigungs schwierigkeiten, eine weitere Paradoxie formulieren, die Paradoxie der Einsamkeit: Wir sind alle einsam. Für diese Einsicht ist mir allerdings kein Beleg aus der Antike bekannt. Immerhin finde ich bei Stanisław Jerzy Lec: Einsamkeit, wie bist du überbevölkert! [Sämtliche unfrisierte Gedanken. München/ Wien 1996, S. 49] Ein wenig älter, nämlich aus dem Jahre 1932, ist der Jazz-Standardtitel Alone Together [aus dem Broadway-Musical Flying Colors]. Man muß solchen Aussagen nicht zustimmen, aber das Paradoxe zeigt hier eine bestimmte Fähigkeit: Durch das Ungewöhnliche, das Überraschende des Selbst-Widerspruchs wird unsere Aufmerksam keit geweckt, unser Denken angeregt. Und ja, der Widerspruch weckt die Lust am Widerspruch. Ist das wirklich wahr? Das kann doch nicht wahr sein!
3. Eine gängige Form des Streits ist der Rechtsstreit, der Kampf vor Gericht um das eigene Recht. Der römische Autor Aulus Gellius (2. Jhdt. u.Z.) hat in seiner Sammlung von Exzerpten aus verschiede nen Wissensgebieten einen bemerkenswerten Rechtsfall, den eines gewissen Euathlus, überliefert [Attische Nächte V 10]1, der sich folgendermaßen zusammenfassen läßt: Ein Rechtslehrer hat einen Schüler angenommen und mit ihm vereinbart, daß dieser die Ausbildung mit dem Honorar seines ersten 1
in einer stark verkürzten Version: Diogenes Laërtios IX 56.
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gewonnenen Prozesses zahlen solle. Der Unterricht wird absolviert und abgeschlossen, der Schüler hat sich als gelehrig erwiesen ... aber er denkt nicht daran, anschließend einen Mandanten anzunehmen und einen Prozeß zu führen. Das wird dem Lehrer, der auf sein Geld wartet, zu dumm, weshalb er den Schüler auf Zahlung der Ausbildungskosten verklagt. Dieser hat nun seinen ersten Prozeß, wenn auch anders als gedacht. Der Lehrer argumentiert vor Gericht sehr klug: Mein Schüler muß auf jeden Fall zahlen, denn entweder wird meiner Klage stattge geben – dann muß er wegen des Gerichtsurteils zahlen; oder meiner Klage wird nicht stattgegeben – dann muß er wegen unseres Vertrages zahlen, denn er hat ja damit seinen ersten Prozeß gewonnen. Der Schüler aber zeigt, was er gelernt hat: Ich muß auf keinen Fall zahlen, denn entweder urteilt das Gericht zu meinen Gunsten – dann muß ich aufgrund dieses Urteils nicht zahlen; oder das Gericht gibt dem Kläger recht – dann muß ich nicht zahlen wegen des Vertrages, denn ich habe diesen meinen ersten Prozeß verloren. Leider unterrichtet uns Aulus Gellius nicht darüber, wie dieser Prozeß ausgegangen ist. Die Richter waren, sofern der Prozeß histo risch und nicht nur literarische Fiktion ist, um ihre Aufgabe nicht zu beneiden, stützen sich doch beide Seiten auf exakt die gleichen Argumente, nur gegensätzlich gedeutet. Alles, was für die eine Seite spricht, spricht ebenso stark für die Gegenseite. Das macht die Para doxie aus. Das Dilemma entsteht dadurch, daß der Vertrag, der sich ja eigentlich auf einen externen Prozeß beziehen sollte, hier selber zum Gegenstand eines Prozesses wird. Man kann sich durchaus vorstellen, daß ein vergleichbarer Fall noch heute vor Gericht landet; Juristen, die ich danach gefragt habe, haben bedenklich den Kopf geschüttelt. Jedenfalls bezeugt dieser Streit den Vorzug eines Honorars im Voraus, verglichen mit dem Honorar im Erfolgsfall.
4. Ebenfalls von Aulus Gellius ist ein Brief des Philosophen Aristoteles (384/4–322/1 v.u.Z.) an König Alexander den Großen überliefert. Dieser hatte seinen Lehrer Aristoteles dafür kritisiert, daß er seine esoterische, nur für Kenner bestimmte Lehre veröffentlicht hatte. Aristoteles antwortete darauf:
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Aristoteles wünscht König Alexander Wohlergehen. Du hast mir über die esoterischen Abhandlungen geschrieben in der Meinung, ich hätte sie unter den Geheimnissen bewahren sollen. Wisse, daß sie sowohl herausgegeben wie auch nicht herausgegeben sind. Verständlich sind sie nämlich nur jenen, die uns gehört haben. Möge es dir gut gehen, König Alexander. [Attische Nächte XX 5; vgl. Plutarch: Alexander 7]
Selbst Aristoteles, der als erster den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch formuliert hat [Metaphysik IV 3–6; 1005a 19 ff.], scheut sich nicht, mit den herausgegebenen und zugleich nicht herausgege benen Schriften eine Paradoxie zu formulieren.
5. Eine andere dem Leben geschuldete Paradoxie aus der Antike betrifft ein Schiff und einen Haufen Getreide, sogar eine Glatze. Das Schiff, auf dem Theseus mit den jungen Menschen ausfuhr und glücklich heimkehrte, den Dreißigruderer, haben die Athener bis zu den Zeiten des Demetrios von Phaleron aufbewahrt, indem sie immer das alte Holz entfernten und neues, festes einzogen und einbauten, derart, daß das Schiff den Philosophen als Beispiel für das vielumstrittene Problem des Wachstums diente, indem die einen sagten, es bleibe dasselbe, die anderen das verneinten. [Plutarch: Leben des Theseus 23]
Ein berühmtes Schiff, an prominenter Stelle ausgestellt, verfällt im Laufe der Zeit, weshalb nach und nach immer mehr der ursprüngli chen Planken durch neue ersetzt werden. Ab wann, ab wie vielen Planken handelt es sich um ein neues Schiff? Man könnte sich sogar vorstellen, daß ein nostalgisch gesinnter Bürger die aussortierten Planken mit nach Hause nimmt und dort zusammensetzt, so morsch sie auch sein mögen. Wo ist die Grenze, ab der man zweifeln muß, welches nun das echte Schiff des Theseus ist? Der berühmte Philosoph und Redner Cicero erwähnt – mit erkennbarem Abscheu vor der Spitzfindigkeit – die Frage, vom wievielten Korn an man von einem Haufen Getreide reden könne [Lucullus 49] – er nennt dieses Problem den »Sorites«. Und so kann man auch bei Haarverlust fragen, ab wie vielen oder wie wenigen Haaren jemand ein Glatzkopf ist.
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Das Paradoxe in der Frage liegt darin, daß eine einzelne Planke, ein einziges Korn oder Haar von minimaler Bedeutung sind, sie an der Grenze (wie immer man sie zieht) aber eine maximale Bedeu tung bekommen. Der Philosoph Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770–1831) wird dies später den Umschlag von Quantität in Qualität nennen: eine einzige kleine Einheit mehr, und man spricht von einem anderen Etwas, einem Nachbau (statt eines Originals), einem ganzen Haufen oder einer Glatze. Im Rechtswesen, wo wichtige Entscheidungen davon abhängen, sind Gesetzgeber und Richter bemüht, präzise Grenzwerte anzuge ben, etwa bei Alkohol am Steuer oder Besitz von Haschisch; aber das ändert nichts daran, daß auch eine Winzigkeit einen großen Unterschied ausmachen kann. Wer immer auf einer scharfen, präzi sen Abgrenzung (Definition) von Begriffen beharrt, sollte sich des Problems bewußt sein.
6. Gewiß eine der berühmtesten Paradoxien aus der Antike ist die fol gende: [Sokrates:] Denn von mir selbst wußte ich, daß ich gar nichts weiß. [Platon: Apologie des Sokrates 22d]
Der Athener Sokrates (469–399 v.u.Z.) spricht hier den Grundsatz seines Lebens aus: Da er selbst nur eines weiß, nämlich daß er nichts weiß, wendet er sich an seine Mitbürger und befragt sie, scheinbar höchst neugierig: nach dem, was Gerechtigkeit, Wahrheit, Schönheit ist; wenn er dabei feststellt bzw. aufdeckt, daß auch sie nicht mehr wissen als er, dann rechtfertigt er damit den Ausspruch des delphischen Orakels, Sokrates sei der Weiseste aller Sterblichen. Denn nur er weiß, daß er nichts weiß, während die anderen glauben zu wissen, was sie in Wahrheit nicht wissen. Das klingt nach Skepsis, d.h. nach der Annahme, daß wir nichts wissen oder sogar nichts wissen können. Paradox wird die Annahme erst dann, wenn man behauptet, das wenigstens zu wissen: daß wir nichts wissen, denn wer weiß, daß er nichts weiß, der weiß doch wenigstens dieses. Was hat sich Sokrates dabei gedacht? Auf der einen Seite kann man annehmen, daß er hier – wie auch sonst gerne – ironisch spricht. Die Ironie, eine gespielte Unwissenheit, besteht dann in diesem Falle
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darin, so zu tun, als ob er den Widerspruch nicht bemerkte. Das lädt andere dazu ein, sich überlegen zu fühlen (weil sie es ja bemerken), während in Wahrheit diese Überlegenheit gar nicht besteht oder vielmehr umgekehrt besteht, denn Sokrates weiß ja sehr wohl, daß er die anderen dazu verführt hat, in die Falle der Selbstüberschätzung zu treten. Versteht man es so, dann ist die Paradoxie Teil eines Spiels: Ich weiß, daß du glaubst, ich hätte einen Fehler begangen, den ich aber, weil ich das weiß, gar nicht begangen habe. Eine bewußt einge setzte Paradoxie kann also eine Provokation mittels einer erwarteten, geplanten Reaktion des anderen sein. In diesem Falle wüßte Sokrates sogar eine ganze Menge, nämlich darüber, wie andere Menschen ticken. Wie dann der andere darauf reagiert, sobald er die Ironie bemerkt, also daß der Gesprächspartner sich nicht irrtümlich und unbewußt widersprochen hat, ist allerdings unabsehbar. Man kann freilich das Paradox auch ohne Ironie als Aufforderung zum Nachdenken verstehen: Ich weiß, daß ich nichts weiß. Was weißt du? Was weißt du wirklich? Weißt du mehr als ich? Das Unge wohnte, Überraschende des Selbst-Widerspruchs irritiert und weckt die Aufmerksamkeit des Gesprächspartners. Die Kommunikation, die ja häufig nur im Austausch von im Grunde absehbaren Vorurteilen und Schlagworten besteht, bekommt dadurch sofort eine Wendung ins Unberechenbare und Offene. Ins Interessante.
7. Im Grunde kann man auch den berühmten Ödipus-Mythos, von Sophokles (497/6–405 v.u.Z.) als Tragödie auf die Bühne gebracht, als Paradoxie ansehen. Laios, König von Theben, und seine Frau Iokaste bekommen einen Sohn. Wie in vornehmen Kreisen Griechen lands üblich, suchen sie beim Delphischen Orakel um eine Auskunft über sein künftiges Schicksal nach und erhalten die niederschmet ternde Auskunft, dieses Kind werde seinen Vater töten und seine Mutter heiraten. Um diesem schrecklichen Schicksal zu entgehen, tun sie etwas, das damals bei unerwünschten Kindern nicht unüblich war: Sie setzen es in der Wildnis aus – in der Erwartung, es werde sterben. Gerade durch diesen Versuch, dem Orakelspruch zu entgehen, ermöglichen die Eltern allerdings erst dessen Erfüllung (Paradox!); denn Ödipus überlebt dank eines freundlichen Hirten und kennt nun aber seine eigentlichen Eltern nicht mehr. Seinen eigenen Vater hätte er keinesfalls getötet, seine Mutter niemals geheiratet. Wie
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hätte er von dem ›Fremden‹, der ihm eines Tages an einer engen Wegstelle begegnet, einen Streit mit ihm beginnt und von ihm getötet wird, ahnen sollen, daß es sein Vater war? Ödipus kennt zu diesem Zeitpunkt nicht einmal den ihn betreffenden Orakelspruch. Und als er dann nach Theben kommt, wo eine frisch verwitwete Königin ihm die Chance eröffnet, selber König der Stadt zu werden, hat er nicht die geringste Ahnung, daß es sich dabei um seine eigene Mutter handelt. Es ist der Versuch, der Prophezeiung zu entgehen, der dazu führt, daß sie eintritt. Ödipus, der Sohn, aber wird unschuldig des ärgsten denkbaren Verbrechens schuldig. Wenn uns ein unangenehmes Ereignis droht, dann kann jeder Versuch, ihm zu entgehen, gerade zu diesem Ereignis führen; wenn uns ein Schicksal bestimmt ist (durch welche Instanz auch immer), dann muß alles, was wir dagegen tun, genau zu diesem Schicksal füh ren. Ein gutes Beispiel dafür – nun jenseits des Ödipus-Stoffes – ist die Eifersucht. Sie fürchtet nichts mehr als das Fremdgehen des Partners, führt aber durch die spannungsgeladene Stimmung, die sie in einer Beziehung erzeugt, beinahe zwangsläufig dazu, daß sich der Partner von einem ab- und einem anderen zuwendet. Dies gilt sicherlich für jede Art von Mißtrauen: es erzeugt das, was man befürchtet und vermeiden will. Eifersucht und Mißtrauen ziehen paradoxe Reaktionen auf sich. Weiterhin hat Sophokles mit diesem Stoff die – ebenfalls para doxe – Möglichkeit thematisiert, daß ein Mensch unschuldig (unwis sentlich) schuldig werden kann (Tabubruch: Mord am Vater, Ehe mit der Mutter).
8. Wer viele Freunde hat, hat keinen Freund. [Aristoteles: Eudemische Ethik 1245b 20]
Wer viele Freunde hat, hat viele Freunde – das ist logisch, tautologisch sogar, also ohne weiteres und unbedingt wahr. Aristoteles sagt aber das Gegenteil, er sagt etwas Paradoxes, und selbstverständlich sagt er es bewußt. Die Aussage hat im Zeitalter der »Freunde« bei Facebook und der »Follower« bei Instagram gewiß noch an Bedeutung gewonnen. Freunde in der Mehr- und Vielzahl sind Leute, die sich so nennen und die man und im Bann eitler Selbsttäuschung vielleicht auch selber
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so nennt, die aber gerade in ihrer Masse keine enge persönliche Bindung mehr besitzen und auf die man sich in einer Notlage auch in keiner Weise verlassen kann. Es handelt sich um einen inflationären Gebrauch des Wortes ›Freund‹, bei dem – wie in jeder Inflation – der einzelne Fall an Bedeutung verliert. Ein Freund in einem tieferen Sinne ist gar nicht mehr dabei oder zumindest nicht mehr identifizierbar. Je mehr man davon hat, desto weniger hat man davon. Weniger ist mehr, wie oft im Leben. Die Frage ist, ob man dieses Verhältnis auch auf andere Bereiche übertragen kann: Wer viele Informationen hat (etwa im Internet), hat keine Information (keinen Überblick) mehr. Wer viele Musikstücke hat (bei Spotify), hat kein Musikstück (mit einer innigen Beziehung) mehr. Wer viele Bücher hat (die Regalwände voll), hat kein Buch mehr (wie die Christen es in der Bibel, die Moslems im Koran haben). Ist daran etwas Wahres?
9. In der Geschichte sind häufiger Menschen unter dem Vorwurf, magische, zauberische Fähigkeiten zu besitzen, festgenommen und verfolgt worden – man denke nur an die Verfolgung der Hexen in der frühen Neuzeit, denen man ein Bündnis mit dem Teufel zum Vorwurf machte. Einen angeblichen Zauberer in Fesseln zu legen, ist nun – leider ist das kaum einem der Verfolger oder der Opfer aufgefallen – paradox. Der antike Autor Philostratos (2./3. Jhdt. u.Z.) hat in seinem Bericht über das Leben des Magiers Apollonios von Tyana (1. Jhdt. u.Z.) darauf aufmerksam gemacht. Ihm zufolge sagte Apollonios bei seiner Festnahme: Wenn du mich für einen Zauberer hältst, wie willst du mich fesseln? Wenn du mich aber fesselst, wie kannst du behaupten, ich sei ein Zauberer? [VII 17]
Ein sehr gutes Argument! Und ginge es bei einer Verfolgung um vernünftige Annahmen, dann könnte es helfen. Es steht aber wohl so, daß die Hexenverfolger aller Zeiten und Kulturen lieber einer paradoxen Ansicht anhängen, daß nämlich ein Magier über magische Kräfte verfüge und dennoch mit ganz unmagischen Mitteln wie Kerker und Ketten zu bekämpfen sei. Diese paradoxe Konfrontation geht in der Regel zuungunsten des Beschuldigten aus. In einem seltenen und ›nur‹ literarischen Fall aber, dem Drama Die Bakchen des Euripides, als König Pentheus den ihm bedrohlich erscheinenden Gott Dionysos ins
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Die Entdeckung des Paradoxen in der Antike
Gefängnis werfen läßt (einen Gott!), endet dieser Versuch tragisch für den Verfolger: er wird von seiner eigenen Mutter, einer Anhängerin des Dionysos, zerrissen. So oder so löst sich diese paradoxe Annahme nach der einen oder der anderen Seite hin auf, und zwar offenbar tödlich, denn der Widerspruch führt mangels Einsicht nicht dazu, die ganze Annahme als falsch zu verwerfen.
10. In der ganzen Antike war ein Sprichwort beliebt, das wir auch wir kennen, wenngleich es nur noch selten zu hören ist, wie vieles, was wir aus der Antike übernommen haben: Beeile dich langsam! Der Historiker Sueton (2. Jhdt. u.Z.) etwa zitiert es als einen Lieblingsspruch des Kaisers Augustus: »σπεῦδε βραδέως, festina lente.« [Divus Augustus 25, 4] Er spricht schweigend war ebenfalls ein in der Antike verbreiteter Spruch (z.B. dum tacent, clamant bei Cicero: Gegen Catilina I 8, 28), was entweder heißen kann: er spricht viel und sagt damit nichts, oder er teilt uns durch sein Schweigen etwas mit. Jedenfalls sollte man einen wachen Sinn dafür entwickeln, was und worüber ein Mensch nicht spricht, wenn er spricht. Oft ist dies der interessantere Teil seiner Mitteilung. Der antike Fabel-Autor Phaedrus (1. Jhdt. u.Z.) charakterisiert einen bestimmten Menschentypus, den man den geschäftigen Tauge nichts nennen kann, als trepide concursans, occupata in otio, / gratis anhelans, multa agendo nil agens. – Das schießt herum, bei aller Eile müßig, / Das keucht um nichts, tut allerlei und doch nichts. [Fabeln II 5] Hier wird nun die Freude vieler Menschen an der paradoxen Zuspit zung erkennbar. Es ist nicht tiefsinnig gemeint, sondern witzig, und so kommt die Mahnung, es mit der Eile nicht zu übertreiben, nicht in der Weise einer Predigt, sondern augenzwinkernd daher. Dadurch können einem Paradoxien sympathisch werden, indem sie uns verdeutlichen, daß man mit einem Scherz leichter zum Erfolg kommt als mit einer verkniffenen Ermahnung. Dieser Rolle der Paradoxie im Witz werde ich später in einem eigenen Kapitel nachgehen.
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11. Auch das bis heute beliebte Paradox der Bescheidenheit ist schon aus der Antike bekannt: Uns alle treibt das Verlangen nach Lob, und gerade für die Besten ist der Ruhm der stärkste Köder. Selbst für die Philosophen: sie versehen auch die Schriften mit ihrem Namen, in denen sie von der Verachtung des Ruhmes handeln – gerade dort, wo sie geringschätzig auf Ehre und Anerkennung herabblicken, wollen sie genannt und anerkannt sein. [Cicero: Pro Archia 26]
Wo immer die eigene Bescheidenheit besonders betont wird und jemand seine Verachtung des Ruhmes hervorhebt, lacht uns dieses spezielle Paradox an. Sich selbst hervorzuheben und auf diese Weise Anerkennung zu finden, ist ja eine weit verbreitete menschliche Neigung; und in einer Gesellschaft, in welcher »die Letzten als die Ersten gelten«, muß man sich halt, will man der Erste sein, als den Letzten darstellen. Interessant ist, daß dies nicht erst in der Tradition der christlichen Wertvorstellungen der Fall ist (Matthäus 20, 16; Markus 10, 3; Lukas 13, 30; Augustinus: Vom Gottesstaat XIV 13 – man sieht, wie sehr das im Christentum betont wird), sondern schon vorher, also unter den ›Heiden‹. Bezeichnenderweise sind es Philosophen, welche diese spezielle, paradoxe Form des elitären Anspruchs entwickelt haben. Und es waren solche Philosophen, deren Denken das frühe Christentum am leichtesten in seinen Glauben integrieren konnte. In erster Linie gilt dies für den jüngeren Seneca (4 v.u.Z.-65 u.Z.); doch den konnte Cicero (106–43 v.u.Z.) nicht kennen und also auch nicht meinen. Er wird an die älteren Stoiker gedacht haben und an die Kyniker, deren Verachtung aller Äußerlichkeiten und allen Ansehens geradezu sprichwörtlich war und die dadurch großen Ruhm gewannen. Noch heute kennt man den legendären Kyniker Diogenes »aus der Tonne« (von Sinope), der selbst Alexander dem Großen so herrlich frech gesagt haben soll: »Geh mir aus der Sonne!« Sehr schön wird die Paradoxie des Hochmuts in einer anderen Anekdote über ihn ausgesprochen: Als Platon ihn einst zu Gaste geladen hatte nebst Freunden, die von Dionysios her eingetroffen waren, trampelte er auf dessen Fußteppichen herum mit den Worten: »Ich trete des Platon anmaßende Hohlheit mit Füßen«, worauf Platon sagte: »Welchen Grad von Aufgeblasenheit, o Diogenes, gibst du damit kund, der du dir einbildest, nicht aufgeblasen
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zu sein.« Andere erzählen die Sache in folgender Form: Diogenes habe gesagt: »Ich trete des Platon Aufgeblasenheit mit Füßen«, worauf dieser erwidert habe: »Ja, mit einer anderen Aufgeblasenheit, Diogenes.« [Diogenes Laërtios VI 26]
12. In vielen Kulturen und so auch in der Antike ist die Paradoxie der »jungfräulichen Mutter« populär. Hierbei handelt es sich klarerweise um einen Widerspruch zwischen dem Begriff ›Jungfrau‹ und dem biologischen Gesetz der Schwangerschaft: Eine Frau wird Mutter durch Geschlechtsverkehr, und eine Frau, die Geschlechtsverkehr hatte, ist dem Begriff nach keine Jungfrau mehr. Alles andere wäre eine sogenannte Parthenogenese, die unter Menschen – vorsichtig gesagt – eigentlich nicht vorkommt. Der Mythos will es anders. Man denkt zunächst natürlich an die Jungfrau Maria als Mutter Jesu; aber auch außerhalb des Christentums war diese Vorstellung in der Antike bekannt: etwa im Glauben an die VESTA MATER (die Mutter Vesta), die auf einer Münze des Kaisers Septimius Severus (um 200 u.Z.) dargestellt ist2, wobei die Vesta im römischen Glauben die jungfräuliche Göttin schlechthin war, deren Priesterinnen, die Vestalinnen, zu strikter Jungfräulichkeit verpflichtet waren. Auch ist von Athene, einer weiteren jungfräulichen Göttin, eine befremdli che Geschichte überliefert, derzufolge Hephaistos sie vergewaltigen wollte, seinen Samen auf den Schenkel der sich Sträubenden ergos sen hat, wobei aus diesem Samen, von Athene abgewischt und auf die Erde geworfen, ein Kind namens Erichthonios entstanden ist. [Pseudo-Apollodor: Bibliotheké III 188] Athene, so heißt es, habe sich sogar um das Kind gekümmert. Man erkennt, daß Menschen, wo es um Religion geht, aufge schlossen sind für allerlei Paradoxien (ein Gott in drei Personen, ein Gott-Mensch, ein lebender Toter u.ä.), und das keineswegs nur unter Christen. Die geläufige Logik legt da schonmal bereitwillig eine Pause ein.
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Vgl. Neil MacGregor: Leben mit den Göttern. München 2018, S. 42 f.
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So sprechen denn auch auf antiken Grabinschriften oft die Toten zu uns und betonen ihre Nicht-mehr-Existenz: Ich bin tot. Ein Toter aber ist Kompost und Kompost ist Erde. | Wenn aber Ge (Erde) eine Gottheit ist, bin ich nicht tot, sondern eine Gottheit. [dem Epicharm zugesprochen; vgl. CIL 6, 35887]
Oder, etwas nüchterner: N. F. N. S. N. C. (= Non fui, non sum, non curo = Ich bin nicht gewesen, ich bin nicht, ich kümmere mich nicht darum.) [CIL 5, 1813]
Der nicht mehr existierende Tote spricht zu uns. Fiktiv, klar, von seinen Erben aufgesetzt; aber diese Fiktion ist möglich, auch wenn sie paradox ist, und funktioniert in der Kommunikation: Die Lesenden, normale Menschen doch, verstehen, was gemeint ist.
13. Die Paradoxie des glücklichen Unglücks begegnet uns oft, und so auch in der Antike: Zenon von Kition, der nachmalige Begründer der stoischen Schule, ist durch einen Schiffbruch, bei dem er sein Vermögen einbüßte, zum Nachdenken und zur Philosophie gekommen. Dies kommentierte er: »Das ist doch nun eine glückliche Fahrt gewesen, als ich Schiff bruch erlitt.« [Diogenes Laërtios VII 4]
Es ist das Unglück, das sich als Glück erweist, indem es eine Wendung ins Gute bewirkt. Glück im Unglück, sagt das Sprichwort. Hat man dann Unglück gehabt oder Glück? Beides in einem. Hier gilt kein Entweder–Oder mehr. Den glücklichen Aspekt im Unglück zu sehen, hilft zudem bei der Aufrichtung der Stimmung. Eine ironische Version überliefert als seinerzeit gängiges Sprich wort der griechische Historiker Polybios (ca. 200–120 v.u.Z.): Wären wir nicht so schnell untergegangen, wären wir nicht gerettet worden. [Historien XXXVIII 18] Das bezieht sich auf Menschen, die im Begriff sind, eine für ihr Volk katastrophale Entscheidung zu treffen, und nur durch eine rasche Niederlage davon abgehalten werden. Eine für ihr Volk glück liche Niederlage. Eine ähnliche Äußerung ist von einem gewissen Vibius Crispus überliefert, der dank einer Krankheit für einige Tage den Freßorgien
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des Kaisers Vitellius (68 u.Z.) fernbleiben durfte und dies so kommen tierte: Wäre ich nicht krank geworden, so hätte ich sterben müssen. [Cassius Dio LXIV 2, 3]
14. Damit verwandt, aber nicht genau bedeutungsgleich ist der berühmte »Pyrrhussieg«, den wir einem Ausspruch des Königs Pyrrhos von Epeiros und Makedonien (319/8–272 v.u.Z.) verdanken. Anlaß war ein äußerst verlustreicher Sieg in einer Schlacht bei Ausculum (279 v.u.Z.) während eines Feldzuges gegen die Römer in Italien: Wenn wir noch eine Schlacht über die Römer gewinnen, werden wir ganz und gar verloren sein. [Plutarch: Pyrrhos 21] Der erstrebte und mühsam erkämpfte Sieg erweist sich als Ankündigung einer Katastrophe. Es gibt Siege, die den Aufwand nicht wert sind; und es gibt sogar Siege, bei denen der Aufwand so groß ist, daß sich eine baldige Niederlage abzeichnet. Nicht nur die Militärstrategen wissen davon ein Lied zu singen.
15. Daß das Leben in der Welt durch Widersprüche geprägt ist, indem ständig sich eines als das andere erweist, wird in einem apokryphen (d.h. alten, aber nicht in den Kanon der Heiligen Schrift aufgenomme nen) Evangelium ausgesprochen: Licht und Finsternis, Leben und Tod, Rechts und Links sind Brüder. Man kann sie nicht trennen. Deswegen sind die Guten nicht gut, die Bösen nicht böse, Leben ist nicht Leben, und Tod ist nicht Tod. Alles wird zu dem zerfließen, was im Ursprung war. Doch die über die Welt erhaben sind, können nicht zerfließen. Sie sind ewig. [Evangelium des Philippus, Logion 10]
Wir sehen die ›irdische‹ Welt als eine sich allzeit wandelnde charak terisiert, in der alles sich in sein Gegenteil verwandelt (wir denken an den zitierten Ausspruch des Heraklit) und genau dadurch miteinander verwoben ist. Wer lebt, wird nicht nur eines Tages sterben, sondern ist schon tot, nämlich schwach, hinfällig und vom Tode gezeichnet. In einem schönen Hexameter-Vers des römischen Dichters Manilius (1. Jhdt. u.Z.) aus seinem astronomischen Lehrgedicht heißt es: nascentes morimur, finisque ab origine pendet. (Von Geburt an sterben wir, und von Anfang an droht das Ende.) [Astronomica IV 16]
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Der Tod beherrscht unser ganzes Leben, zum mindesten dadurch, daß er beständig droht. Die Guten richten (auch ohne Absicht) Böses an, und die Bösen bewirken (ebenfalls ohne Absicht) Gutes; beides hängt damit zusam men, daß wir die Folgen unseres Handelns nicht berechnen können. Hinzu kommt, daß das Leben unweigerlich den Tod bringt, indem es anderes Leben töten muß, um sich zu erhalten (zu ernähren). So bilden Licht und Finsternis, Leben und Tod, Gut und Böse die fluktuierenden Bestandteile eines Ganzen: unserer Welt. Man denkt an das taoistische Yin und Yang, das zwar aus einer ganz anderen Tra dition stammt, aber das im Philippus-Evangelium Gemeinte perfekt symbolisiert. Die Tropfenform der Gegensätze, Yin und Yang, stehen für das Ineinanderfließen, die kleinen Punkte der entgegengesetzten Farbe in jedem der beiden Tropfen dafür, das jedes sein Gegenteil enthält und in es umschlagen kann.
Das paradoxiefreie Jenseits unserer Welt, in dem es kein Fließen, keine Zeit, sondern Ewigkeit gibt, ist christlich und taucht als Idee der Transzendenz erst mit dem Christentum auf, wenngleich mit platonischem Vorläufer. Im spätantiken Neuplatonismus und in der Gnosis wird einiges davon übernommen. Wir aber, wir im Diesseits, leben in einer paradoxen Welt.
16. Nichts ist so heikel für einen um seine Alleinherrschaft Besorgten, einen Tyrannen, wie die Frage der Nachfolge, denn es ist der Nachfol ger, der ihn ablösen wird. Wer immer er ist (und er weiß zu seiner Beunruhigung nicht, wer es sein wird) – er ist der naturgegebene
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Feind und Rivale des amtierenden Herrschers. Daher muß er alle, die für seinen Posten in den Startlöchern stehen, bekämpfen und beseiti gen. Gemäß dem Motto eines sehr großen Tyrannen, nämlich Stalins, gilt: »Ein Mensch – ein Problem. Kein Mensch – kein Problem.« Jeder potentielle Nachfolger muß beseitigt werden. Da gibt es jedoch ein Problem: das Paradox des Nachfolgers. Das mußte schon ein früherer Tyrann, der römische Kaiser Nero (37–68 u.Z.) sich von seinem Lehrer Seneca d.J. sagen lassen: Magst du auch noch so viele töten, deinen Nachfolger kannst du nicht ums Leben bringen. [Cassius Dio, Epitome zu Buch LXII] Man kann, um die vorzeitige Nachfolge zu verhindern, noch so viele Menschen umbringen – es ist gewiß, daß einer der Nachfolger werden wird, und genau diesen kann man unmöglich umbringen, denn sonst wäre er nicht der Nachfolger. Wieviele Nachfolger auch immer man beseitigt, man kann nicht den Nachfolger beseitigen. Aber sehr wohl kann man durch exzessive Nachfolger-Beseitigung das Bedürfnis nach einem Nachfolger und damit dessen Wahrschein lichkeit vergrößern, was wiederum paradox ist. Da Nero nicht auf seinen Lehrer hören mochte, ist er im Jahre 68 ermordet worden und hat sogar eine ganze Reihe von Nachfolgern auf den Plan gerufen: Galba, Otho, Vitellius, Vespasian – weshalb man für 68/69 von einem Vierkaiserjahr spricht. Nicht aus der Antike, aber im selben Sinne spricht zu uns Sta nisław Jerzy Lec: Caesaren werden meist von ihren Freunden getötet. Denn sie sind ihre Feinde. [Sämtliche unfrisierte Gedanken, a.a.O., S. 43] Diese Einsicht hat also etwas Zeitloses.
17. Es gibt auch eine Paradoxie des Sports: Wer im Fünfkampf auftreten will, soll eher schwer als leicht und eher leicht als schwer sein. [Philos tratos: Über Gymnastik 31] Der antike Fünfkampf (Pentathlon) bestand aus Diskuswurf, Weitsprung, Speerwurf, Laufen und Ringen, stellte also ganz unter schiedliche Anforderungen an das Gewicht des Athleten, wobei Lau fen und Ringen die extremen Gegensätze bilden. Es mag damit zusammenhängen, daß der moderne Zehnkampf auf das Ringen verzichtet. Einen Sumo-Ringer mag man sich eben nicht beim Laufen und Weitsprung vorstellen. Die Spezialisierung hält diese Gegensätze auseinander, selbst in einer solchen auf Vielseitigkeit angelegten Disziplin wie dem Zehnkampf.
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Gleichwohl ist es im Leben manchmal günstig, leicht und schnell, manchmal aber auch, ein Schwergewicht zu sein. Dicke Kinder, so sagt man, sind schwer zu kidnappen. Wohl dem, der je nach Erfor dernis die Gegensätze zu vereinen vermag. Der legendäre Schwerge wichts-Boxer Muhammad Ali war von dieser Art: leichtfüßig und zugleich schwer.
18. Der persische Großkönig Dareios I. (522–486 v.u.Z.) hatte vor seinem Angriff auf Griechenland (persische Niederlage 490 bei Marathon) die Griechenstädte durch Boten aufgefordert, ihm zum Zeichen ihrer Unterwerfung Erde und Wasser zu übersenden. Diese Boten waren von den Spartanern (Lakedaimoniern) einen Abhang hinuntergestürzt worden, während die Athener sie in einen Brunnen geworfen hatten mit der Aufforderung, sie möchten sich dort Erde und Wasser holen. Der griechische Historiker Herodot (ca. 484–430 v.u.Z.) berichtet, wegen dieses Verstoßes gegen das Völkerrecht sei es den Spartanern in der Folge nicht gut ergangen, indem die Götter ihre Opfer zurückgewiesen hätten. Die Spartaner beschlossen daraufhin, dem persischen Großkönig – inzwischen war es Xerxes (486–465 v.u.Z.), der ohnehin einen Straffeldzug plante – ihrerseits zwei Boten als Genugtuung zu senden. Da diese ihre Ermordung zu erwarten hatten, war das eine heikle Aufgabe, für die sich dennoch zwei Freiwil lige fanden: Sperthies und Bulis waren bereit, sich für ihr Vaterland zu opfern. Und obwohl die spartanischen Boten sich hartnäckig weigerten, sich vor dem König auf den Boden zu werfen (sie sprachen erhebende Worte über die gewohnte Freiheit), reagierte Xerxes auf unerwar tete Weise: Da erwiderte Xerxes großmütig, er wolle es den Lakedaimoniern nicht gleichtun. Sie hätten alles Völkerrecht mit Füßen getreten, indem sie die Herolde ermordeten. Er selbst wolle nicht tun, was er an ihnen tadle, aber auch die Lakedaimonier von ihrer Schuld nicht lösen, indem er sie töte. [Herodot VII 136]
Was tut Xerxes hier? Er ruft zunächst die Goldene Regel in Erinne rung: Behandle andere Menschen so, wie du von ihnen behandelt werden willst! So sind seine Boten nicht behandelt worden. Das tadelt er. Er selbst will es anders machen, nämlich die spartanischen Boten so behandeln, wie er gewollt hätte, daß seine eigenen Boten
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behandelt würden. Er begnadigt die beiden Spartaner. Wollte Xerxes sich an die Goldene Regel halten, dann hätte er damit die Boten so behandelt (nämlich begnadigt), wie er und seine Boten behandelt werden wollten. Indem Xerxes das tut, behandelt er aber – und er hebt das eigens hervor – die Spartaner gerade nicht nach der Goldenen Regel, d.h. so, wie sie behandelt werden wollen. Denn indem er sie begnadigt, verurteilt er sie: zum anhaltenden Zorn der Götter, die nun nicht durch das Opfer der spartanischen Boten besänftigt werden. Mit anderen Worten: Xerxes handelt nach der Goldenen Regel, indem er gegen sie verstößt. So kann man jemanden durch Gnade bestrafen.
19. Wie in der Antike Paradoxien gerne als witzige Bonmots eingesetzt wurden, zeigt auch der folgende Fall. Favorinus (2. Jhdt. u.Z.), ein Eunuch, Vertreter der sog. Zweiten Sophistik und Zeitgenosse Kaiser Hadrians, sagte über sich selbst: Daß es in seiner Lebensgeschichte drei Paradoxa gebe: Obwohl er ein Gallier sei, lebe er als Grieche; obwohl er ein Eunuch sei, stehe er wegen Ehebruchs vor Gericht; obwohl er sich mit seinem Kaiser gestritten habe, sei er noch am Leben. [Philostratos: Leben der Sophisten I 8]
20. Daß ein und dieselbe Frau zu alt und zu jung sein kann zum Heiraten, versichert uns der römische Dichter Martial (ca. 40–104 u.Z.): Nubere Paula cupit nobis, ego ducere Paula nolo: anus est. vellem, si magis esset anus. (Paula wünscht mich zum Mann, ich will Paula nicht heiraten: Sie ist eine alte Frau; ich wollte schon, wenn sie älter wäre.) [Epigramme X 8]
Es kommt halt darauf an, ob man sie als Geliebte oder als Erblasserin in Betracht zieht.
21. Zum Abschluß dieses Kapitels über die Entdeckung der Paradoxie in der Antike möchte ich einige witzige Beispiele vorstellen, die alle
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samt nicht der Diskussion von Fachgelehrten entstammen, sondern verschiedenen Situationen des normalen Lebens entnommen sind: ●
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Der Kaiser Tiberius (reg. 14–37 u.Z.) wollte einen gewissen Curtius Rufus, den Sohn eines Gladiatoren, zum Prätor ernennen. Dies war ein hohes Staatsamt, und im Senat gab es Murren wegen der niedrigen Abstammung des Kandidaten. Tiberius erwiderte darauf: Curtius Rufus scheint mir von sich selbst abzustammen. [Tacitus: Annalen XI 21] Der Sinn ist klar (er verdankt seinen Aufstieg seinen eigenen Fähigkeiten), die Formulierung aber spielt mit dem Paradox. Ebenfalls mit einem Paradox der Abstammung hat das folgende Rätsel zu tun: Bin ich geboren, alsbald gebäre die Mutter ich selber, / bin bald größer und bald bin ich die kleinere doch. [Anthologia Graeca XIV 41] Was gebärt – immer wieder! – die eigene Mutter, ist bald kleiner, bald größer als sie? Die Lösung: Tag und Nacht. Ein weiteres Rätsel ist das folgende, das mit dem Sprechen zu tun hat: Sprich nicht, so sprichst du dabei meinen Namen aus; mußt du mich aber aussprechen, sprichst du beim Sprechen – wie seltsam! – auch dann meinen Namen. [Anthologia Graeca XIV 22] Als Lösungen kommen hier die Worte »Schweigen« oder »nicht« in Betracht, d.h. sprich nicht bzw. sprich »nicht«. Auch die paradoxe Frage, was zuerst dagewesen sei, das Ei oder die Henne (da doch das Ei nicht ohne Henne und die Henne nicht ohne Ei entste hen kann), stammt aus der Antike: Censorinus: Das Geburtstagsbuch IV 3. Die Paradoxie, die wir für ein Orakel kennengelernt haben, gibt es auch als Witz: Ein grober Astrolog stellte das Horoskop eines kränklichen Knaben und versprach, daß er ein langes Leben haben werde. Danach forderte er seinen Lohn. Als die Mutter sagte: »Ich will ihn dir morgen geben«, erwiderte er: »Wie, wenn er heute nacht stirbt? Soll ich da meinen Lohn einbüßen?« [Philogelos 187] Ebenfalls aus der Witzsammlung Philogelos [2] stammt die bekannte Äußerung eines ängstlichen Menschen, der beinahe ertrunken wäre und nunmehr schwört, nicht eher wieder ins Wasser zu gehen, als bis er schwimmen gelernt hat. Ein Graffito aus Ostia, der Hafenstadt Roms provoziert mit folgendem Spruch: Alle haben [hier] geschrieben, ich allein habe nicht[s] geschrie ben. / Ich ficke alle die, die auf die Mauer schreiben. [CIL 4, 2254] Das erinnert an ein Paradox, das erst später berühmt geworden ist, nämlich die Aussage eines Barbiers: »Ich rasiere alle, die sich nicht selbst rasie ren.« Darf er sich selber rasieren? Wobei der Anonymus aus Ostia nicht nur vor einem logischen, sondern auch einem technischen Problem
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gestanden hat, falls er denn willens war, mit seiner Ankündigung ernst zu machen. Ein populärer Spruch besagt: Duo cum faciunt idem, non est idem. – Wenn zwei dasselbe tun, ist es nicht dasselbe. Dies geht zurück auf eine längere Version des Komödiendichters Terenz [2. Jhdt. v.u.Z.] aus Adelphoë; schaut man dort nach (V. 823–825), dann entschärft sich die Paradoxie etwas, denn gemeint ist, daß das, was dem einen erlaubt ist, dem anderen noch lange nicht erlaubt ist: »Daß man, wo zwei dasselbe tun, oft sagen kann: / Der eine tut es ungestraft, der andere nicht. / Die Tat ist nicht verschieden, nur die Täter sind’s.« Das ist wohl so, auch wenn es im Zeitalter der Gleichheit vor dem Gesetz nicht mehr so sein sollte. In der Antike verhängte man über Menschen (insbesondere Herr scher), die sich extrem unbeliebt gemacht hatten, die sog. damna tio memoriae, d.h. sie wurden aus dem kulturellen und politischen Gedächtnis getilgt und durften nicht mehr erwähnt werden. Ein berühmtes Beispiel dafür ist der ägyptische Pharao Echnaton (1353– 1335 v.u.Z.), über dessen Existenz tatsächlich jahrtausendelang nichts mehr bekannt war. Eine naheliegende, aber paradoxe Frage lautet nun: Wieviele Personen sind der damnatio memoriae verfallen? Qui desiderat pacem, praeparet bellum. – Wer den Frieden begehrt, möge (sich auf) den Krieg vorbereiten. Aus diesem Ausspruch des antiken Militärschriftstellers Flavius Renatus Vegetius (um 400 u.Z.) [Epitoma rei militaris, Prolog zum III. Buch] ist in späterer Zeit das berühmte Si vis pacem para bellum geworden. Ebenso hat die antike Redensart vero verius (wahrer als wahr) ihre Eigentümlichkeit und lebt offenbar von einer Liebe zur Steigerung ins Paradoxe. Auch Ciceros bereits erwähnte Aussage dum tacent, clamant (während sie schweigen, schreien sie) über die catilinarischen Verschwörer [1. Rede gegen Catilina 8, 21] zeigt einen Sinn fürs Paradoxe. Die Antike kannte nur Großbuchstaben (Majuskeln), keine Kleinbuch staben (Minuskeln); insofern hatte sie noch nicht die Neigung, beim Buchstaben Omega (= großes O) das kleine Omega (ω) vom großen (Ω) zu unterscheiden, ebensowenig beim Omikron (= kleines O) das kleine (ο) vom großen (Ο); heute aber spricht man umstandslos vom kleinen Omega (= kleines großes O) und vom großen Omikron (= großes kleines O). Das aber nur als Glosse am Rande. Man hat sich abgewöhnt, daran zu denken, was es eigentlich bedeutet.
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1. Partnerschaft, Liebe und Ehe Ein Lebensbereich, in dem es von Paradoxien geradezu wimmelt, ist – wen wundert es? – der von Liebe und Ehe. Mehr als sonst im Leben sind wir hier emotional bestimmt und gleichzeitig bemüht, den unvermeidlichen Meinungsverschiedenheiten wenigstens einen Anschein von Rationalität zu geben. Wir argumentieren, und wir argumentieren über Gefühle – das kann schwerlich widerspruchs frei ablaufen. So klagt eine Frau: »Immer widersprichst du mir!« Und der Mann erwidert: »Das ist überhaupt nicht wahr!« (1)
Hat er nun seiner Frau widersprochen oder nicht vielmehr, indem er ihr widersprach, zugestimmt? Was aber wäre gewesen, wenn der kleine Dialog folgendermaßen abgelaufen wäre? Sie: »Immer widersprichst du mir!« Er: »Das stimmt.« (2)
Zugeben, diese zweite Version ist weit weniger wahrscheinlich, denn so einsichtig läuft ein Streit selten ab. Aber hätte er ihr nicht gerade durch seine Zustimmung widersprochen? In diesen Bereich des Bestätigens durch Widersprechen gehört auch: Marc-Uwe:»Du musst ja immer noch deinen Senf dazugeben, musst immer das letzte Wort haben.« Das Känguru:»Muss ich gar nicht.« [Marc-Uwe Kling: Die Känguru-Chroniken. Berlin 2009, S. 261– 263] (3)
In einer Eheberatung soll schon der folgende Fall vorgekommen sein: Er: Sie fällt mir ständig ins ... Sie: Ist ja überhaupt nicht wahr! (4)
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Wie kann man eigentlich auf den Vorwurf des immerwähren den Widersprechens nicht paradox reagieren? Ein weise-gelassenes »manchmal!« ist ein guter Vorschlag; doch wer verhält sich schon während eines Streites weise-gelassen? Die bedingungslose Zustimmung hingegen mag ich nicht emp fehlen, denn sie führt zu Verdruß bei Leuten, die nicht mit einer Memme liiert sein wollen. Letztlich führt das zu Dialogen wie dem folgenden: Sie: »Nun widersprich mir doch endlich einmal!« Er: »O.k., wenn du es so willst.« (5)
Und schon stehen wir erneut vor einer Paradoxie. Es erweist sich als nicht leicht, ohne Paradox verheiratet zu sein. Und vor allem: Man kann gerade durch die Bemühung, jeden Streit zu vermeiden, Widerwillen und damit Streit erzeugen. Überhaupt: Wenn man einer stark gehorsams- bzw. anpassungs bereiten Person sagt, daß man sie sich kritischer, selbstbewußter wünscht und gerne mal einen Widerspruch von ihr hören würde, dann setzt man sie dem Druck aus, ungehorsam sein zu müssen, um gehorsam zu sein. Gerade im Streit kommt es darauf an, eine vorteilhafte Position einzunehmen, und als vorteilhaft erscheint es nun mal, wenn man – im Gegensatz zum Gesprächspartner, versteht sich – die Dinge objektiv sieht. Da kann es dann zu einer Äußerung kommen wie: Ich glaube, daß ich die Dinge objektiv sehe. (6) »Ich glaube, daß ich ...«, das klingt nicht nur subjektiv, das ist es auch – ganz objektiv. Das wird aber nur schwer eingesehen und noch schwerer zugegeben. Auch auflockernd gemeinte Wünsche wie Sei ganz spontan! oder Sei natürlich! oder Sei um Himmelswillen ganz entspannt! (7) erweisen sich regelmäßig als von paradoxer, sogar paralysierender Wirkung. Sag mir nie aus Pflicht, daß Du mich liebst, aber sag es unbedingt! (8) Wie auch könnte man auf Befehl spontan und ohne Pflicht zu etwas verpflichtet sein? Zur Entspannung des Liebeslebens ist das ganz ungeeignet. Und gerade für das Liebesleben gilt: Immer nur Abwechs lung ist langweilig. (9) Während den Moralisten vor allem die wahllose Partnerwahl stört. [Friedhelm Prayon: Die Etrusker. München 42004, S. 28] (10).
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1. Partnerschaft, Liebe und Ehe
Es steht überhaupt nicht gut mit Wünschen, die auf ein von Zwängen freies Miteinander zielen und dabei selber als zwanghaft rüberkom men, mithin paradox sind. In dieser Hinsicht wirkt das paradoxe Element gerade nicht witzig und locker, weil die Absicht ernst ist und das Paradoxe darin unbewußt bleibt. Überhaupt gilt ja in der Liebe die beliebte Regel: Man sollte in einer Liebesbeziehung keine Bedingungen stellen. Oder: Liebe muß bedingungslos sein! (11)
Stimmen wir dem nicht zu? Aber Vorsicht: Es ist eine Bedingung für eine gelingende Beziehung, also paradox. Hier wird die Bedingungs losigkeit zur Bedingung. Auch dieser Falle ist schwer zu entgehen, und man müßte lange nachdenken, wie eine unbedingte Zuneigung anders denn als Bedingung zu wünschen wäre. Man kann es – vielleicht – einfach tun, aber man kann es schwer als Norm formulieren, ohne sich zu widersprechen. Hierzu gehört auch: Nimm mich so, wie ich bin! (12) Zunächst enthält diese Forderung das moralische Problem, daß der andere mit einer Forderung konfrontiert, also nicht so genommen wird, wie er ist. Dieser moralische Fehler wird jedoch durch den Inhalt der Forderung sogleich entschuldigt: Ich habe da etwas Widersprüch liches gesagt, aber nimm mich halt so, wie ich bin. Eine mir nahestehende Person mit psychotherapeutischem Beruf bemängelte einmal meinen Sprachgebrauch während eines Gesprächs über Beziehungsprobleme und meinte: Man sollte nicht ›sollte‹ sagen! Man sollte stattdessen sagen: Ich wünsche mir ... (13). Das Problem dabei fällt doch sehr ins Auge, aber sie hat es tatsächlich so gesagt – nicht absichtlich, versteht sich. So kann man auf sich selber hereinfal len. Es sind auch solche Fehler, die uns menschlich machen: der blinde Fleck oder der Balken im eigenen Auge. Stellen wir uns ein altgedientes Ehepaar beim im Laufe der Jahre schweigsam gewordenen Frühstück vor. Die Ehefrau: »Sag was!« Der Ehemann: »Nö.« (14)
Immerhin hat er nun etwas gesagt. Kann die Frau damit zufrieden sein? Sie kann es nicht, denn er ist ihrem Wunsch gefolgt, indem er ihn abgelehnt hat. In diesem Falle dürfen wir annehmen, daß er die Paradoxie billigend in Kauf genommen hat.
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Unser paradoxer Alltag
Hat man den Wunsch, einen lebhaften Ehestreit mit einer Paradoxie zu würzen, dann kann man in vorwurfsvollem Ton sagen: Immer machst du mir Schuldvorwürfe! (15) Oder auch so: Sie: Es ist schade, daß wir uns so schlecht verstehen. Er: Warum fängst du auch immer wieder Streit an? (16) Oder: Ich möchte einfach nur Frieden und Harmonie, aber du machst immer alles kaputt! (17)
Der Schuldvorwurf, Schuldvorwürfe zu machen, läßt sich leicht mit dem Schuldvorwurf, sich zu widersprechen (also paradox zu spre chen), beantworten. Man weiß nicht, wo dieses Spiel dann enden soll. In der Einsicht, daß hier keiner besser ist als der andere, oder vor dem Scheidungsrichter. Dem kann man dann vorhalten: Immer urteilen Sie über andere Leute! (18) Was natürlich wiederum paradox ist, nämlich ein Urteil über andere Leute. Schon die Konversation am Frühstückstisch ist paradoxiegefährdet, vor allem dann, wenn es einen Ehepartner reizt, eine grundsätzliche Bemerkung fallen zu lassen: Sie: Unsere Ehe ist ein Spiegelbild für die Zerrissenheit unserer Gesellschaft. Er: Ist sie nicht. [Hauck & Bauer: Am Rande der Gesellschaft; Frankfurter Allge meine Sonntagszeitung vom 18.11.2018] (19)
Bereits die Wahl des Ehepartners ist kritisch. Denn extreme und – zugegeben – nicht ganz alltägliche Eheschließungen können zu para doxen Verwandtschaftsverhältnissen führen, die dem Leser Rauch aus dem Kopf steigen lassen: Ich heiratete eine Witwe mit erwachsener Tochter. Darauf heiratete mein Vater die Tochter meiner Frau. Dadurch wurde also meine Frau die Schwiegermutter ihres Schwiegervaters, meine Stieftochter wurde meine Stiefmutter und mein Vater mein Schwiegersohn. Meine Stiefmutter bekam einen Sohn, der also mein Stiefbruder war, aber er war auch der Onkel meiner Frau, also war ich Großvater meines Stief bruders. Als nun meine Frau auch einen Jungen bekam, war der auch der Schwager meines Vaters (als Bruder seiner Frau). Meine Stieftochter ist aber auch zu gleich die Großmutter ihres Bruders, denn der ist ja der Sohn ihres Stiefsohnes. Da ich der Stiefvater meines Kindes bin, ist mein Sohn auch der Stiefbruder meines Vaters, zugleich aber auch der Sohn meiner Großmutter, da ja meine Frau die Schwiegertochter ihrer Tochter ist. Ich bin der Stiefvater meiner Stiefmutter, mein Vater und seine Frau sind
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1. Partnerschaft, Liebe und Ehe
meine Stiefkinder, mein Vater und mein Sohn sind Brüder, meine Frau ist meine Großmutter, weil sie die Mutter meiner Stiefmutter ist, ich bin der Neffe meines Vaters und zugleich mein eigener Großvater. (20)
Ausgedacht hat sich diesen – wir wollen es hoffen! – Scherz Hanjo Lehmann: Die Truhen des Arcimboldo. Berlinische Nachrichten vom 20. August 1869, S. 351. Schon die beiden ersten Schritte, die dazu führen, daß der eigene Vater zugleich der Schwiegersohn wird, sind technisch bzw. biologisch nicht ausgeschlossen, nicht einmal juris tisch verboten; der Rest nötigt einen dann zur Einführung unge bräuchlicher Begriffe wie dem eines Stiefgroßvaters. Ohne Zweifel stellen manche Verwandtschaftsverhältnisse die gewöhnlichen Vor stellungen auf den Kopf, verhalten sich zu diesen also paradox. Zu den verwirrenden Verwandtschaftsverhältnissen gehört auch der Song Shame and Scandal in the Family (1943, mit vielen Coverver sionen): Nachdem der puerto-ricanische Vater seinem Sohn die Ehe mit verschiedenen Mädchen verboten hat, weil das seine Schwestern seien (»but your Mama don’t know«), beklagt sich der Sohn bei seiner Mutter, die ihn mit den folgenden Worten beruhigt: Your Daddy ain’t your Daddy, but your Daddy don’t know. (21) Ein Vater, der nicht der Vater ist – das kommt wohl gar nicht so selten vor. Immerhin löst dieser Umstand hier die Heiratsprobleme. Dazu gehört wohl auch die Tatsache, daß nicht jede Lesbierin lesbisch ist (22); zur Erinnerung: die Lesbier(innen) sind eben auch die Bewohner(innen) der griechischen Insel Lesbos. Selbst der Begriff des Freundes ist vor Paradoxien nicht sicher. So bin ich einmal einer früheren Schülerin begegnet, die im Park mit einem jungen Mann passenden Alters auf einer Bank saß. Am nächsten Tag habe ich sie erneut getroffen und gefragt: »War das gestern dein Freund?« – »Nein«, erwiderte sie, »das war nur mein bester Freund.« (23) Ein bester Freund sollte doch mehr sein als ein bloßer Freund; hier jedoch gilt er offenbar weniger. Ein sehr wirksamer Störfaktor in Beziehungen besteht darin, dem Partner zwei Möglichkeiten zur Wahl zu geben und, sobald er eine wählt, ihn unter allerlei Vorwänden zu beschuldigen, sich nicht für die andere entschieden zu haben. (24) Paul Watzlawick erwähnt das in seiner Anleitung zum Unglücklichsein (München 1983, S. 80). Dies gehört zur großen Gruppe der Fallen, in denen jede Entscheidung falsch ist, man
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Unser paradoxer Alltag
sich also nicht richtig verhalten kann. In der Umgangssprache nennt man dies eine Zwickmühle. Gelegentlich oder sogar häufiger kann man in Beziehungen etwas beobachten, das man eine geleugnete Anmache nennen könnte. So berichtete mir ein Freund, er sei von einem Homosexuellen angespro chen worden. Dessen Äußerungen liefen auf drei Aussagen hinaus: 1. 2. 3.
Ich bin Chefarzt. Ich bin schwul. Ich will dich nicht anmachen. (25)
Hier wird der Sinn der beiden ersten Sätze durch den dritten Satz dementiert. Sei dies nun auf ein gespaltenes Gefühl oder eine als Trick eingesetzte vornehme Zurückhaltung zurückzuführen – es ist paradox, denn es ist eine Werbung, die vorgibt, keine zu sein. Da es in Liebe und Ehe vorkommt, daß ein Partner fremdgeht und er dies gerne vor dem anderen geheim halten möchte, kann es ebenfalls vorkommen, daß er zum Opfer einer Erpressung wird. Erpressung? Da haben wir die Erpressungsparadoxie: – –
Eine Frau darüber zu informieren, daß ihr Mann fremdgeht, ist legal. Einen Mann um Geld zu bitten, ist legal. Wie kann die Kombination zweier legaler Handlungen illegal, nämlich Erpressung, sein? (26)
Das ist natürlich schlitzohrig argumentiert, und ich empfehle nicht, es auszuprobieren, wie Gerichte darauf reagieren – auch wenn der Standpunkt etwas für sich hat, daß entweder das Mittel oder das Ziel illegal sein muß, wenn man von einer illegalen Erpressung sprechen will. Selbst wer auf Erpressung verzichtet, vielmehr diskret sein will, kann dabei in einer Paradoxie geraten: A: B:
»Hatte X ein Verhältnis mit meiner Frau?« »Ich habe Ihrer Frau versprochen, nichts zu verraten.« [so im Film Meine fremde Frau von Lars Becker (2015)] (27)
In einer eigenen Liebesbeziehung ist mir mal eine beunruhigende Einsicht gekommen: Meine Partnerin, ein Psychologiestudium im Rücken, überzeugte mich mehr und mehr davon, daß Argumenten in der Diskussion keine entscheidende Bedeutung zukomme. Wer etwas sage, sei wesentlich. Das leuchtet mir im Laufe der Jahre bzw. unserer
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1. Partnerschaft, Liebe und Ehe
Ehe immer mehr ein, daß wir die wesentlichen Entscheidungen im Leben nicht aufgrund von Argumenten treffen. Ist das nun paradox, weil sie mich doch mit Argumenten von der Unwichtigkeit der Argumente überzeugt? Oder werde ich überzeugt, weil es meine Frau ist, die das sagt? (28)
Das heißt, stimme ich ihr vielleicht zu, weil ich ihr nicht zustimme? Oder gebe ich das Argumentieren auf und stimme ihr einfach zu? Noch komplizierter wird die Lage, wenn Außenstehende sich in eheliche (oder sonstige) Auseinandersetzungen einmischen: Wenn der Mann sagt: »Ich habe recht, und du, Frau, hast unrecht«, die Frau darauf sagt: »Ich habe recht, und du, Mann, hast unrecht« und ein Freund daraufhin sagt: »Ihr habt beide recht«, dann sagt der Freund damit: »Ihr habt beide unrecht.« (29)
Wieso das? Wenn er beispielsweise behauptet, das bessere Verhältnis zum gemeinsamen Sohn zu haben, und die Frau dagegenhält, sie verstehe sich mit ihm besser, dann meint der Freund, der beiden recht gibt, damit einen Kompromiß vorzuschlagen, widerspricht aber in Wahrheit beiden, denn beide nehmen ja für sich einen Vorzug in Anspruch, während der Freund vielleicht ein gleich gutes Verhältnis und damit einen Ausgleich im Sinn hat. Nach Ausgleich steht den beiden Kontrahenten aber offensichtlich nicht der Sinn. Es beiden Seiten recht machen zu wollen, führt offenbar leicht in eine Paradoxie. Andererseits schützt auch die größte Verständnisbereitschaft nicht vor einer paradoxen Reaktion. Wenn nämlich ein Ehepartner – aus Harmoniebedürfnis oder ähnlichem Grund – immer und immer wieder betont, wie sehr und wie gut er den anderen verstehe, dann kann dem anderen das im Laufe der Jahre arg auf die Nerven gehen und ihn zu dem Ausruf bringen: Versteh doch, ich will, daß du mich einmal nicht verstehst! (30) So erzeugt allzuviel Verständnis Unver ständnis. Unverständnis kann mithin den Wunsch entwickeln, verstanden zu werden: A: B: A:
Ach, ich werde nicht verstanden. Unsinn, du bist nicht unverstanden. Verstehst du nicht, dass ich Verständnis erwarte für mein Gefühl, unver standen zu sein? B blickt A verständnislos an, A lächelt zufrieden.
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Unser paradoxer Alltag
[filix; https://www.albertmartin.de/altgriechisch/forum/?view =5181#220; aufgerufen am 19.1.2021] (31)
Wer seinem Partner gerne etwas verspricht, es aber selten einhält, muß mit folgender Paradoxie rechnen: Sie: Tu mir einen Gefallen: Versprich mir nie wieder etwas! Er: Versprochen. (32)
Gerade zwanghaft gewordene Verhaltensmuster können zu solchen Situationen führen, indem sie auch dann angewandt werden, wenn das geradezu widersinnig ist. Ein vom Partner ersehntes Telephongespräch mit der Bemerkung zu eröffnen: Ich rufe heute nur aus Höflichkeit an! (33), etwa weil man sich selbst eigentlich zu erschöpft dafür fühlt, mag vieles sein, aber eine eigens betonte Höflichkeit ist keine Höflichkeit mehr, sondern unhöflich. Ruft aber die Partnerin nicht an, obwohl man es erwartet hat, dann kann das Anlaß zu dieser paradoxen Klage werden: Sie hätte sich doch wenigstens melden können, um mir zu sagen, daß sie sich nicht meldet! [Marunde in Hörzu 11/2021 vom 12.3.2021] (34)
Ein anderer Fall einer sich selbst dementierenden Aussage ist der folgende, wie er mir einmal unter Eheleuten begegnet ist: Ein Ehepartner nach eingetretenem Mißgeschick: »Ich will jetzt nicht sagen: Ich habe dich gewarnt!, denn das wäre besserwisserisch und herablassend. Aber gewarnt habe ich dich.« (35)
Wenn man einmal genauer darauf achtet, findet man diese Art der Paradoxie sogar ziemlich häufig, daß nämlich jemand etwas sagt, was zu sagen er gerade bestreitet, und zwar sowohl in- wie auch außerhalb der Ehe. Etwa: Ich will bewußt das Wort X vermeiden (36), und indem man angibt, es vermeiden zu wollen, hat man es natürlich schon ausgesprochen. Man kann – aus welchen Gründen auch immer – ein Wort bewußt vermeiden, aber nur paradox kann man das Wort benennen, das man vermeiden möchte. Eine Variante dieses Musters: Er vertritt eine Meinung; sie antwortet: »Da sage ich jetzt nichts zu.« Oder: »Das kommentiere ich jetzt nicht.« (37)
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1. Partnerschaft, Liebe und Ehe
Es gilt auch: Zu etwas, das einen stört, den Mund zu halten, aber einmal pro Woche zu betonen, daß man den Mund dazu hält, ist nicht den Mund zu halten. (38)
»Ich halte ja den Mund zu dem, was du machst«, kommt als Vorwurf unter altgedienten Eheleuten gar nicht so selten vor. Geradezu klassisch ist der folgende Fall einer Bestätigung durch Leugnung, gerne auch während eines Ehestreits praktiziert: Was? Ich kann keine Kritik vertragen? Das ist ja eine unverschämte Behaup tung! (39) Selbstverständlich gibt es auch heute noch viele Ehemänner, die nur eine geringe Neigung entwickeln, sich neben ihrer anstrengenden Berufstätigkeit an »ihrer« häuslichen Arbeit zu beteiligen. Der reine Egoismus. Da kann ihr dann schon einmal die Bemerkung entschlüp fen: Sei doch mal selbstlos und tu‘ etwas für mich! (40) Selbstlos = nicht egoistisch. Diese Äußerung mag an sich vollauf berechtigt sein, aber selbstlos ist sie nun gerade nicht, denn sie vertritt ja ihre Interessen. Verwerflich ist dies nicht, aber da geht’s ums eigene Ego. Die Ehe gründen wir heute meist auf Gefühle, nämlich auf Liebe. Denn, so denken wir: Das Herz kann nicht irren. Der eheerfah rene Skeptiker mag antworten: Da irrst du dich aber gewaltig! (41) Die gefühlte Sicherheit ist halt nur eine Annahme über eine gefühlte Sicherheit. Eine besonders heikle Phase in jeder Liebesbeziehung ist natürlich ihr Anfang. Meist ist man sich seiner eigenen Gefühle noch nicht sicher und schon gar nicht der des anderen. Man hat Interessen und Wünsche, weiß aber nicht, wie man sie mitteilen soll, ohne den anderen vor den Kopf zu stoßen oder sich selbst lächerlich zu machen. Kann die folgende Methode helfen? Einem erfolglosen Verehrer hat man geraten, seiner Liebsten die folgenden zwei Fragen zu stellen: 1. 2.
Wirst du mir diese Frage ebenso beantworten wie die folgende? Wirst du mit mir schlafen? Wenn sie ihr Wort hält, muß sie auf die zweite Frage mit Ja antworten, egal was sie auf die erste geantwortet hat.
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Unser paradoxer Alltag
[Sainsbury: Paradoxien, a.a.O., S. 210] (42)
Nach meiner Erfahrung ist zunächst die Bereitschaft groß, bei dem Spiel mitzumachen (Neugierde), aber das Bedürfnis, ein gegebenes Versprechen dann auch einzuhalten, zumindest in diesem Falle ausge sprochen unterentwickelt. Ob es günstig ist, die Phase des Kennenlernens mit einem Kompliment zu beginnen, lasse ich dahingestellt, denn dies soll kein Ratgeber in Liebesangelegenheiten werden; aber wenn, dann tue man es besser nicht mit dem folgenden: Lassen Sie mich Ihnen ein Kompliment machen: Sie waren bestimmt mal eine sehr attraktive Frau! (43) So kann ein Kompliment zur Beleidigung werden. In späteren Phasen staunt man dann darüber, wie ein einst so starkes Gefühl sich im Laufe der Zeit verändern kann, und man bemerkt im Vergleich zu den Annahmen des Anfangs: Er hoffte, daß sie sich nicht ändert, aber sie änderte sich. Sie hoffte, daß er sich ändert, aber er änderte sich nicht. (44) Dann kommt es zu Szenen wie der folgenden: Ein Ehepaar. Der Mann sitzt vor dem Fernseher und schaut sich eine Talkshow an. Sie: »Du guckst diese Sendung doch nur, damit du morgen im Büro mitreden kannst. Warum versuchst du bloß immer, jemand zu sein, der du nicht bist?« Er: »Ich bin eben so.« [Marunde; Hörzu 27 vom 30.6.2017] (45)
So ist »er« nun mal: nicht der sein zu wollen, der er ist. Die Aufforde rung: »Sei doch mal du selbst!« läuft dann ins Leere. Übrigens: Frauenfeindlich bin ich nicht. Das würde mir meine Frau auch gar nicht erlauben. (46)
Der Versuch, dem zermürbenden Ehealltag durch eine Affäre wenig stens auf Zeit zu entkommen, macht die mit unseren Gefühlen ver bundenen Probleme nicht kleiner ... und die Paradoxien nicht seltener: Nach einer wundervollen Nacht mit ihm, kurz bevor sie nach Hause ging zu ihrem Mann und ihren Kindern: Er: »Ich liebe dich.« Sie: »Ich glaube dir.« Er: »Du lügst.«
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Sie: »Du auch.« [Stelzie; https://www.keinverlag.de/411299.text; inzwischen wegen Abmeldung aus diesem Literaturforum gelöscht] (47)
Daß das Lügen, gerade wenn es eingestanden wird, zu zahlreichen Paradoxien führt, ist altbekannt; das hängt damit zusammen, daß eine Aussage, die man über eine andere eigene Aussage macht, diese dementieren, ihr also widersprechen kann. Das gilt ganz allgemein und damit selbstverständlich auch in Liebesdingen, bei denen ja bekanntlich besonders viel gelogen wird. Ihre eigene Tücke hat die propagierte Toleranz in der Ehe, wie man an diesem Beispiel sehen kann: Von Bunte befragt, ob sie einen Seitensprung verzeihen könnte, entgegnet sie [sc. die Schauspielerin Anna Schudt]: »Und wie ich dem verzeihen würde! Das interessiert mich überhaupt nicht. Ich bin da sehr tolerant.« Und sie fügt hinzu: »Das Lustige ist, dass das Bedürfnis, mit jemand anderem ins Bett zu gehen, rapide abnimmt, wenn man es darf.« Schudts Ehemann wird nun womöglich rätseln, wie er mit den Informationen umgehen soll: Einerseits erteilt sie ihm die Absolution, andererseits behauptet sie, er werde dann ja eh keine Lust haben. Steckt darin dann nicht doch wieder implizit ein Verbot, welches ihn wiederum anspornen müsste? Vertrackte Situation. [Jörg Thomann in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 28.10.2018] (48)
Da ist was Wahres dran. Es reizt bekanntlich vor allem das Verbotene, und deshalb ist die Vermutung, der erlaubte Seitensprung verliere viel von seinem Reiz, nicht aus der Luft gegriffen. Dies gegenüber dem Partner auszusprechen und ihm somit eine Erwartung mitzuteilen, bedeutet allerdings, die Toleranz mit einer Norm zu verknüpfen: Nun verhalte dich auch entsprechend! So wird dann aus dem Nicht-Verbot unversehens und ganz paradox plötzlich wieder ein Verbot. Und Verbote ... haben ihren Reiz. Auf ein anderes Paradox der Toleranz werde ich an späterer Stelle, wenn es um die Dimension des Politischen geht, noch zu sprechen kommen. Hier aber kann ich nicht umhin, in aller Ausführlichkeit die köstliche Beschreibung einer Verknüpfung von sexuellem Interesse, Toleranz, Eingehen auf die Wünsche des anderen und Reflexion zu zitieren, bei der die Kombination alle dieser Neigungen zu einer wahren Orgie an Paradoxien führt, bis hin zur völligen Paralyse:
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[...] Der Bereich des Sex bietet weitaus interessantere, weil verzwicktere Möglichkeiten für individuelle Schuld. Man kann nämlich sowohl ein schlechtes Gewissen dafür haben, dass man zu viel oder schon wieder Sex haben will, als auch, sich schuldig dafür fühlen, wenn man keinen Sex haben will. Wenn sich also das junge Paar nach einem schönen gemeinsamen Abend in einer Bar nach Hause begibt, beginnt es für beide Beteiligten, schwierig zu werden. Der Mann (besetzen wir die Rollen einmal dem Klischee nach) hofft heute Abend auf Sex, er weiß, dass sie (er nicht), um in die richtige Stimmung zu kommen, Kerzenbeleuchtung schätzt. Nun sucht er nach Kerzen, doch während des Suchens beschleicht ihn der Gedanke, dass sie es vielleicht als zu großen Druck empfinden würde, wenn sie merkt, dass er, kaum zu Hause angekommen, sofort alles für das Miteinanderschlafen vorbereitet. Er erinnert sich, dass sie ihm das letzte Mal sagte, dass sie verkrampfe, wenn sie merke, dass sie funktionieren müsse und es keinen Raum gebe für eine spontane Entscheidung, miteinander ins Bett zu gehen. Wenn die Kerzen brennen, dann habe sie wollen zu müssen, wolle sie nicht, dann müsse sie sich entschuldigen und mit Schuldgefühlen ins Bett legen. Aber sie habe keine Lust, sich dafür zu entschuldigen, deshalb solle er bitte nicht solchen unglaublichen Druck ausüben und die Kerzen auslassen. Solchermaßen erinnert, verzichtet er doch auf das Kerzenanzünden, obwohl er weiß, daß es im normalen Halogenlampenlicht schwer werden wird, zu erkennen, ob sie in romantischer Stimmung ist. Während sie noch im Bad ist, überlegt er, wie er sprachlich die Überleitung zum zweiten Teil des Abends gestalten soll. Nachdem er zweimal kurz hintereinander die Formulierung »Wollen wir es uns noch ein bisschen gemütlich machen?« benutzt hatte und sie schon beim zweiten Mal so guckte, als wolle sie ihm sagen, dass »gemütlich machen« nicht automatisch »Liebe machen« bedeutet, war er auch in diesem Punkt gehemmt. Ähnlich empfunden werden kann auch die Tatsache, wenn man sich abends wider die Regel vor dem Zubettgehen noch einmal rasiert oder gar duscht. Man kann dann noch so viel beteuern, sich einfach noch einmal frisch gemacht zu haben, wenn sie das Duschen mit dem Hinweis quittiert, sie sei leider zu müde, dann weiß man, dass man mal wieder unzulässig Druck ausgeübt hat. Ob es allerdings hilfreich ist, abends um elf in die Dusche zu steigen, mit dem Hinweis: »Ich gehe jetzt in die Dusche, weil ich mich freue, kurz vor dem Zubettgehen zu duschen, auch wenn ich das sonst nicht oft mache, aber heute ist es so, und das hat nichts damit zu tun, dass ich mich waschen will, damit wir danach ins Bett gehen wollen, überhaupt nicht, ganz wie du willst, natürlich heißt das nicht, dass ich nicht mit dir schlafen wollte, falls du es wollen solltest, aber ich wollte dir einfach nur sagen, dass ich jetzt ganz spontan einmal kurz dusche, und danach komme ich zu dir ins Bett, und wir können ja dann einfach sehen, wonach uns zumute
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ist, eigentlich bin ich auch sehr müde, und morgen ist ein anstrengender Tag, und habe auch keine Angst, das Duschen macht mich nicht wieder zu wach, wenn man warm duscht, ist das entspannend, vielleicht willst du ja auch duschen, nein, nicht mit mir gemeinsam, sondern danach, einfach so, zur Entspannung, nein, nur damit du dich besser fühlst, ich will damit keineswegs sagen, dass du dich auch duschen sollst, nur damit wir danach miteinander schlafen können, aber falls du wolltest, solltest du dürfen können ...« Das sind die verheerenden psychischen Schäden bei der ersten Generation von Männern, die mit dem streberhaften Lesen von Frauenzeitschriften groß geworden ist. Wer sich so lange gefragt hat, ob er Kerzen anzünden und sich vor dem Schlafengehen duschen darf, ohne dass dies als sexuelle Nötigung gewertet wird, der wird sich auch dann, wenn man gemeinsam unter der Decke liegt, bemühen, möglichst nicht zielorientiert, sondern ergebnisof fen zu streicheln. Von weiblicher Seite aus stellt sich das ganze Drama genauso kompliziert dar. Sie wehren sich dagegen, dass die Männer sagen, es sei alles zu komplex, weil sie nicht mehr wissen, was die Frauen eigentlich genau wollen. Doch damit geben sie den schwarzen Peter natürlich wieder an die Frauen zurück. Weil die Frauen angeblich so kompliziert sind, dass es den Männern angeblich nicht mehr möglich ist, sich normal zu verhalten, liegt es nun wieder an ihnen, die weltweit angespannte Geschlechtersituation zu entkrampfen. Dem Klischee folgend, stellt sich für die Frauen schon beim Betreten der Wohnung die Frage, wie es ihr gelingt, den Abend harmonisch enden zu lassen, ohne dass sie sich zu schuldig dafür fühlen muss, nicht mit ihm schlafen zu wollen. Eventuell geht sie in die Offensive und erklärt, heute zu müde zu sein, aber morgen Abend könne man sich doch einen schönen Abend zu zweit machen. Wenn er dann sagt, aber sie hätten doch gerade einen schönen Abend zu zweit, dann kann sie antworten, für ihn sei ein geglückter Abend zu zweit offenbar nur einer, bei dem man am Ende miteinander im Bett landet. Das schlechte Gewissen lagert dann vorübergehend bei ihm, und die Dame hat eine kurze Verschnaufpause. Doch es ist keinesfalls so, dass sich schlechte Gewissen nur bei der theoretischen Erörterung des Geschlechtsaktes entwickeln können. Auch die Praxis hält einige schöne Klippen bereit: Besonders schwierig ist es etwa, wenn einen der beiden ein irgendwie geartetes kleines körperliches Problem daran hindert, das Liebesspiel fortzusetzen – allein Niesanfälle und Krämpfe im Bein sind wegen der Unkontrollierbarkeit gestattet, wer aber nur das Gefühl hat, sein Arm sei abgestorben oder er falle gleich vom Bett, der wird sich hüten, wegen solcher Lappalien das wunderbare Spiel der Körper zu unterbrechen, aber natürlich wird derjenige weitaus mehr
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an den absterbenden Arm denken als an die Küsse des Partners und somit schon bald ein sehr schlechtes Gewissen dafür haben, an seinen Arm zu denken und nicht an den Partner, er wird, unter zunehmenden Schmerzen, darüber nachdenken, ob dies eventuell ein ernsthaftes Anzeichen dafür ist, dass es in seiner Beziehung nicht mehr richtig läuft, und er wird dann zum garantiert völlig falschen Zeitpunkt seinen Arm aus der Umklammerung befreien oder seinen Körper von der Bettkante wuchten. Immer wieder gerne genommen wird auch das kleine Schuldgefühl dabei, dass man beim Akt selbst, und sei es nur eine Sekunde lang, nicht an den Partner denkt, sondern an den Fahrradverkäufer von vorhin, die Sekretärin oder Laetitia Casta. Wer ausreichend Männer- und Frauenzeitschriften oder Groschenromane gelesen hat, weiß leider so viel über die 101 geheimen Wünsche des anderen Geschlechts, dass er sich immer ein klein wenig dafür schämt, mindestens 96 davon wieder vergessen zu haben. Besonders lächerlich ist der Druck der sexuellen Totalbefriedigung, der heute noch von den Frontarbeitern Cosmopolitan, Stern, Max, Petra und so weiter mit jeder neuen Ausgabe erhöht wird, weil deren Leser meist längst in der weitge hend nonsexuellen Realität angekommen sind. Die dauernde Präsenta tion von Nacktheit, das permanente öffentliche Reden über Sex hat eine stabile Illusion errichtet, die mit der Wirklichkeit nichts mehr gemein hat. Und das begann schon in unserer Pubertät. Wenn ein Junge auch mit siebzehn Jahren noch nicht mit einem Mädchen geschlafen hatte, musste er sich, verstand er die Statistik in der Bravo richtig, eigentlich bereits gehörig dafür schämen. Deswegen log er seinen Freunden vor, mit wie vielen Mädchen er schon im Bett gewesen war, wofür er dann das nächste Schuldgefühl hatte. Eine Spirale, die nur dadurch unterbrochen werden konnte, dass er irgendwann wirklich seine erste Freundin hatte und dann nur noch, wie üblich, ein schlechtes Gewissen hatte, weil er Angst hatte, dass die Nachbarn sie gehört hatten. Für die Mädchen waren die Probleme mit den Entjungferungsstatistiken dieselben. Doch das war harmlos im Vergleich zu dem Erwartungsdruck, der dann folgte: Denn ihre Freunde, auch wenn sie vorgaben, nur zum Musikhören zu kommen, wollten ja eigentlich immer mit ihnen schlafen. Und selbst, wenn ein Freund wirklich nur Musik hören wollte, glaubten sie, er sage das nur so. Und das ging ein Leben lang im Wesentlichen so weiter. Neben dem Schuldgefühl, das sie vor sich selbst empfand, weil sie ihm signalisierte: »Heute nicht« und damit zeigte, dass sie, wie sie befürchtete, lustfeindlich und verklemmt ist, kamen regelmäßig noch die schlechten Gewissen hinzu, die sie vor ihm empfand. Zum einen wusste sie, dass er nach Sex besonders gut einschlafen konnte, und wenn sie dann merkte, wie er sich, nachdem sie ihn abgewiesen hatte, minutenlang hin und her wälzte, gehörte viel Disziplin dazu, sich nicht doch erweichen zu
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lassen. Schlimmer jedoch lastete auf ihr das Gefühl, durch ihre Absage sein Selbstwertgefühl beschädigt zu haben. So musste sie in jedem Falle leider hochrechnen: Da ich ihm gestern schon sagte, ich sei zu müde, kann ich es ihm heute unmöglich schon wieder sagen, denn das würde er als wirkliche Zurückweisung verstehen, und sein Selbstbewusstsein ist wegen des Ärgers im Büro ohnehin schon angeknackst, also sollte ich eigentlich mit ihm schlafen, aber eigentlich ist es auch nicht in Ordnung, wenn ich nur mit ihm schlafe, weil ich ihn nicht zum zweiten Mal abweisen kann, denn eigentlich will ich ihn zum zweiten Mal abweisen, weil ich heute zu müde bin. Aber vielleicht stimmt ja auch einfach irgendetwas nicht mehr zwischen uns, und meine Unlust ist nur ein Anzeichen dafür, vielleicht bin ich ja ohnehin nicht die richtige Frau für ihn, er braucht jemand, die ihm weniger Probleme macht, bei dem harten Job, den er hat. Sehr schön ist nun, hat man erst einmal angefangen, so zu denken, und vielleicht sogar einmal dem Partner von diesen Gedankengängen erzählt, die Tatsache, dass ab sofort das gesamte Gelände vermint ist. Denn wenn die Dame nun doch mit ihm schläft, dann könnte er befürchten, dass sie es nur macht, um ihm eine Freude zu machen, und dann könnte er erst recht ein schlechtes Gewissen bekommen dafür, dass seine Freundin sich selbst verleugnet und mit ihm schläft, obwohl sie keine Lust hat, aber weil sie Angst hat, wenn er schon wieder zurückgewiesen wird, dass er es als Beleidigung ansieht, dass sie sein Selbstbewusstsein für so klein hält, dass sie glaubt, er könne noch nicht einmal eine zweimalige Absage im Bett verkraften. Wer in so einem Fall eine Kerze anzündet oder duschen geht, ist selber schuld. [Florian Illies: Anleitung zum Unschuldigsein. Berlin 2001, S. 208–215] (49)
Das ist großartig beobachtet. Ich möchte es die Paradoxie der Rück sichtnahme nennen, hier fein in all ihren Verästelungen vorgeführt. Sie kann, wie man sieht, katastrophale Folgen haben angesichts des Umstandes, daß man oft nicht weiß, worauf man Rücksicht zu nehmen hat, weil vieles eben nicht ausgesprochen, sondern verhehlt wird. Besser als von Illies beschrieben, kann man die Paradoxie der Rücksichtnahme wohl kaum formulieren. In milderer Form ist mir das Problem einmal in einem Comic strip begegnet: Er denkt: Wahrscheinlich sagt sie nein, wenn ich sie frage, ob sie mit zu mir kommt. Er sagt: Stimmt’s, du sagst nein, wenn ich dich frage, ob du mit zu mir kommst? Sie antwortet: Nein. Er denkt: Ich hab’s ja gewußt.
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[Rauschenbach 1994; keine näheren Angaben bekannt] (50)
Als Beispiel von Rücksichtnahme in bezug auf eigene Rechthaberei ist auch der folgende Fall paradox: Zwei Eheleute hatten abends diskutiert, ob der Schauspieler Robin Williams und der Sänger Robbie Williams heiße (wie er meint) oder umgekehrt (wie sie meint). Am nächsten Morgen sagt der Mann: »Es ist nicht gut, morgens das erste Gespräch gleich mit ›Ich hatte recht‹ zu beginnen. Deshalb lasse ich das und sage nur: Der Schauspieler heißt Robin Williams.« (51)
Von ähnlich paradoxer Qualität ist die Rücksichtnahme in diesem Fall: Sie kommt von der Arbeit zurück. Er darauf: »Oh, ich sehe, daß Du gestreßt bist. Dann warte ich mit meinen Beschwerden, bis du dich etwas erholt hast.« (52)
Eine weitere Möglichkeit, den heimkehrenden Ehepartner paradox zu begrüßen, besteht darin: Er: Frag mich mal, wie’s mir geht. Sie: Wie geht es dir? Er: Ach, frag nicht! [vor vielen Jahren bei F. K. Waechter gelesen] (53; vgl. 490)
Im Alltag des Ehelebens begegnet einem auch – gelegentlich oder öfters – die sanfte Kritik des Partners: Du, das ist jetzt nicht negativ gemeint, sondern nur eine sachliche Feststellung: Du hast Mundge ruch. (54) Wer mag da – angesichts der Betonung, es sei schließlich nicht negativ gemeint – beleidigt sein? Wer das dennoch als eine sich selbst verleugnende Beleidigung ansieht, muß erstmal sagen, wie man eine Bemerkung über negative Eigenschaften des Partners neutral formulieren könnte. Glücklich, wem der Partner sagt: Ich liebe dich so, wie du bist, mit all deinen Mängeln. (55) Über den Zusatz »mit all deinen Mängeln« muß man dann halt hinweghören ... falls man es kann. Immer gut ist es, in einer Beziehung und auch sonst, mit der Arbeit an den eigenen Fehlern zu beginnen. Als Forderung kann das freilich leicht paradox geraten: Sag mir nicht, was ich in unserer Beziehung ändern soll, schau lieber, was du selber ändern kannst! (56) Paradox ist dies dann, wenn der Sprecher »man soll anderen nichts vorschreiben« meint und zugleich selber einem anderen etwas vorschreibt.
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Oder ist die höfliche Lüge besser? Auch sie kann leider zu para doxen Äußerungen führen, wie in diesem Gespräch eines Ehepaares: Er:
»Gerade habe ich im Fernsehen eine Sendung über das Lügen gesehen. Da wurde behauptet, daß jeder Mensch jeden Tag zwischen zwei- und achtzigmal lügt. Stimmt das?« Sie: »Davon habe ich schon gehört.« Er: »Ich meine, ob du das für richtig hältst? Dann müßte das ja auch für dich gelten.« Sie: »Und für dich.« Er: »Ich kann das nicht glauben. Mit Sicherheit bin ich dann eher unter durchschnittlich. – Übrigens, du siehst heute gut aus!« (57)
Bei der letzten Bemerkung hätte er wohl besser einen zeitlichen Sicherheitsabstand eingelegt. Zum guten Ende möchte ich eine ganz reizende Paradoxie erwähnen, die ich in einem Literaturforum gefunden habe [vgl. https://kei nverlag.de/texte.php?text=455437; aufgerufen am 28. 1. 2022; Autor: Willibald]: Eine Achtzehnjährige erhält den Brief eines Bekannten. Statt ihn zu öffnen, läßt sie ihn ungeöffnet liegen, denn: In diesem Moment konnte er noch alles enthalten: Verstummen, Allein sein, Trauer, Spott, Tränen und Tränen und Tränen. Atmen, Zukunft, leiterwagenweise ausgelassenes Gelächter, kuschelnde, schnurrende Katzen, das Leben in Blau. Solange der Brief daliegt, weiß auf weiß, bleibt alles möglich.
Inzwischen ist sie eine 90jährige Frau, und der Brief liegt immer noch unberührt bei ihr. Die Paradoxie: Dadurch, daß alles möglich blieb, wurde alles unmöglich. (58) Schließen wir damit die Beobachtungen von paradoxer Kommunika tion im Bereich von Partnerschaft, Liebe und Ehe. Es ist ein wichtiger Bereich, aber keineswegs der einzige, im dem wir diesem Phäno men begegnen.
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2. Politik Werfen wir einen Blick in die Politik. So heftig, wie da diskutiert und polemisiert wird, ist es nicht erstaunlich, daß wir zahlreichen Paradoxien begegnen. Recht häufig kommt es vor, daß ein Redner betont, ein bestimmtes Wort nicht verwenden zu wollen, und indem er es benennt und betont, hat er es natürlich verwendet; und dies nicht nur in einem beiläufigen Sinn, vielmehr hat er die Wichtigkeit dieses Wortes hervorgehoben: Ich vermeide bewußt das Wort Krieg (59) ... und schon steht es drohend im Raum. In ähnlicher Weise: Welchen Eindruck das in der Öffentlichkeit macht, brauche ich wohl nicht eigens zu betonen. (60) Kann man es noch deutlicher betonen? Eine andere Art spezieller Betonung ist die der Wiederholung; paradox wird es, wenn diese Wiederholung als Aufzählung, als Liste vorgetragen wird: Diesmal war der ukrainische Außenminister nicht nur zugeschaltet aus Kiew. Dmytro Kuleba erschien am Donnerstagmorgen persönlich im Brüsseler Hauptquartier der NATO, und er kam gleich zur Sache. Seine Agenda sei sehr einfach, sagte er: »Es stehen nur drei Dinge drauf, nämlich Waffen, Waffen und Waffen.« [Frankfurter Allgemeine vom 8.4.2022] (61)
Dieser rhetorische Kunstgriff wird häufiger eingesetzt, etwa so: Jetzt gilt für uns dreierlei: Kämpfen, Kämpfen, Kämpfen! (62) Also: 3 = 1. Der am 24. Februar 2022 erfolgte Angriff Rußlands auf die Ukraine hat auch ein anderes, sehr schwerwiegendes Paradox hervorgebracht, das sich aus der in einem Essay »Krieg und Empörung« ausgespro chenen Warnung des Philosophen Jürgen Habermas (geb. 1929) ergibt, der Ukraine mit Waffenlieferungen zu helfen: Habermas deutet die aktuelle Konfliktlage in altbewährter Manier als kommunikationstheoretisches Problem: Da der rechtsbrechende russische Präsident frei darüber entscheide, wann er den Westen als aktive Kriegspartei betrachtet, falle dem eine Verständigung mit ihm schwer. Bei jedem Schritt seiner militärischen Unterstützung müsse der Westen daher abwägen, ob er nicht die »unbestimmte, weil von Putins Definitionsmacht abhängige Grenze des formalen Kriegseintritts überschreitet«. Was als Problem beschrieben wird, läuft
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in Wahrheit auf ein Paradox hinaus. Wie soll jemand bei allem kommu nikativen Geschick denn Grenzen beachten, die ein anderer zieht? Wie soll der Westen Grenzüberschreitungen verhindern, wenn die Gegenseite definiert, was eine Grenze ausmacht? Vielleicht, indem er Putin jedes Mal um Erlaubnis fragt, bevor er eine Entscheidung trifft? [Simon Strauss: Hart verteidigte Illusionen; in: Frankfurter Allge meine vom 30.4.2022] (63)
Aus einer anderen Perspektive spricht Marina (Pseudonym), die Leiterin einer Gruppe von russischen Müttern, die Müttern gefallener Söhne beisteht, ein Paradox an: Doch offiziell befindet man sich nicht im Krieg. Obwohl Putin die Teilnehmer gelobt und Auszeichnungen befohlen hat, sieht Marina Verschleierung am Werk – wie 2014. »Die Operation ist offiziell, aber nicht offiziell«, sagt sie, »man nennt die Dinge nicht beim Namen.« [Friedrich Schmidt: Putins verratene Krieger; in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 1.5.2022] (64) Und so wie der Krieg droht, wächst oft auch seine Gegenkraft, der Wille zum Frieden. Diese Phänomen kann man, muß man freilich nicht, so martialisch ausdrücken wie hier: Der Pazifismus befindet sich unaufhaltsam auf dem Vormarsch. [Teolein; https://keinverlag.de/457816.text; aufgerufen am 10.4.2002] (65)
Was sich anscheinend ebenfalls auf dem Vormarsch befindet, ist der Faschismus, und zwar unter anderem in einer neuen Variante. Defi nieren wir Faschismus als eine anti-demokratische, anti-liberale, autoritäre, gewaltbereite, expansionistische und militaristische, dazu oft rassistische Ideologie; dann kann man feststellen, daß sich etwas Derartiges seit Wladimir Putin in Rußland ausgebreitet hat – aller dings in der Form, daß es sich antifaschistisch gebärdet: Das war eine neue Variante des Faschismus, die man Schizofaschismus nennen könnte: Faktische Faschisten nennen ihre Gegner »Faschisten«. [Timo thy Snyder: Der Weg in die Unfreiheit. Russland – Europa – Amerika. München ³2022, S. 155] (66) Als faschistisch galt und gilt in Rußland die Ukraine, während man selber gegen Faschismus zu kämpfen behauptet ... mit einer Politik, die doch deutlich faschistische Züge trägt: anti-demokratisch, anti-liberal, autoritär, gewaltbereit, expan sionistisch (der »eurasische Raum«) und militaristisch (mit besonders starker Rolle der Geheimdienste); hinzu kommt eine stark anti-
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homosexuelle Komponente, wie sie auch im Nationalsozialismus gegeben war.3 Timothy Snyder stellt uns an anderer Stelle auch eine geradezu absurde Paradoxie des originalen Faschismus, nämlich in seiner natio nalsozialistischen Ausprägung vor. Es geht um den massenhaften Import von slawischen Zwangsarbeitern ins Deutsche Reich während des Zweiten Weltkriegs: Dies war das besonders spektakuläre Beispiel einer deutschen Rekru tierungskampagne von Zwangsarbeitern im Osten, die im polnischen Generalgouvernement begonnen hatte und in der Ukraine fortgesetzt worden war, bevor sie ihren blutigen Höhepunkt in Weißrussland erreichte. Bei Kriegsende arbeiteten etwa acht Millionen Menschen aus dem Osten im Reich, die meisten Slawen. Das war ein verrücktes Ergebnis, selbst nach den Maßstäben des NS-Rassismus. Deutsche Männer zogen ins Ausland und töteten Millionen von »Untermenschen«, nur damit weitere Millionen von »Untermenschen« importiert wurden, um in Deutschland die Arbeit zu tun, die sonst deutsche Männer getan hätten – wenn sie nicht im Ausland »Untermenschen« getötet hätten. Das Resultat war, vom Massenmord im Ausland abgesehen, dass Deutschland ein slawischeres Land wurde, als es in seiner Geschichte je gewesen war. (Die Verrücktheit erreichte ihren Höhepunkt in den ersten Monaten des Jahres 1945, als überlebende Juden in Arbeitslager im Reich geschickt wurden. Nachdem sie 5,4 Millionen Menschen als »Rassenfeinde« ermordet hatten, brachten die Deutschen jüdische Überlebende nach Deutschland, um die Arbeit zu tun, die die Mörder selbst hätten tun können, wenn sie nicht im Ausland gemordet hätten.) [Timothy Snyder: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin. München 62022, S. 254 f.] (67)
Diesen Wahnsinn muß man wohl nicht eigens kommentieren. Eine eigentümliche Sache ist es mit dem Relativieren. Das heißt eigentlich: etwas in Beziehung (lat. relatio) zu etwas anderem set zen, also vergleichen. Dem steht die Behauptung entgegen, manche Phänomene seien gleichsam absolut, also unvergleichbar mit irgend etwas. Natürlich kann man alles miteinander vergleichen, sogar Äpfel mit Birnen, und dann Gemeinsamkeiten (Obst) ebenso wie Unter schiede (verschiedenes Obst) feststellen. Das ist harmlos; aber im politischen Diskurs können Tabus hinzukommen, die zu paradoxen 3
Vgl. Timothy Snyder, a.a.O., S. 139 ff.
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rhetorischen Verrenkungen führen – beispielsweise der Holocaust, bei dem jede Relativierung tabu ist: Im Namen der römisch-katholischen Kirche wurden in Mittel-, Südund Nordamerika Genozide veranstaltet, welche die schlimmsten NaziGräuel weit in den Schatten stellen (was diese nicht relativieren soll). [Lothar Atzert; https://keinverlag.de/428045.text; aufgerufen am 23.5.2022] (68)
Speziell bei diesem Vergleich kommt wohl noch hinzu, daß das Ver gleichbare (Zahl der Opfer, Dauer der Verbrechen, Motive der Täter) in verzerrender Weise überbetont wird gegenüber den Unterschieden. Ein Vergleichen ohne Relativieren bleibt in jedem Falle paradox, weil das Relativieren (In-Relation-Setzen) zum Wesen des Vergleichs gehört. Und daß man bestimmte Dinge gar nicht vergleichen dürfe, setzt schon selbst ein Vergleichen voraus: »Dies ist vergleichbar, jenes aber nicht«, ist ein Vergleich. Selbstgerechtigkeit ist ein Phänomen, das man sehr oft beobachten kann – selbstverständlich nur bei anderen. Im Bereich der Politik ist das dann aus der Perspektive der Regierung die Opposition, aus der Perspektive der Opposition die Regierung: Die Opposition urteilt selbstherrlich über andere Menschen! (69) Und was tut der, der das Folgende sagt? Woher nehmen Sie sich das Recht, über andere zu urteilen? (70) Auch dies ist ein Urteil über andere Menschen. Und ein Gutmensch, von dem in der politischen Auseinandersetzung häufig die Rede ist, ist kein guter Mensch. (71)
Aus der Zeit des Kalten Krieges ist die Paradoxie der Abschreckung geläufig, die bis heute ihre Bedeutung nicht verloren hat: Man benutzt Atombomben, um Gegner davon abzuschrecken, ihrerseits Atombomben einzusetzen, also – das ist ja der Sinn von Abschreckung – um sie nicht einzusetzen. Um nun die Gegner glaubhaft abschrecken zu können, muß man freilich ernsthaft bereit sein, selbst Atombomben einzusetzen. (72)
Sehr beliebt ist die rhetorische Hervorhebung des Tuns statt »bloßer« Worte, der Praxis statt der Theorie: Ich halte nichts von Theorien, Weltanschauungen und Ideologien – die Praxis zählt! Handeln statt reden! (73) Was dieses Bekenntnis zu einer Paradoxie macht: Es
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handelt sich um eine Rede, und daß die Praxis wichtiger sei als die Theorie, ist eine Theorie. Dabei kann man sich fragen: Ist die Idee der Ideologielosigkeit selber eine Ideologie? (74) Wenn man unter Ideologie eine interessen geleitete Weltanschauung versteht, dann verhält es sich wohl so. Eine feinere Paradoxie dieser Art ist der folgende Aufruf: Man soll die Dinge so nehmen, wie sie kommen. Aber man sollte auch dafür sorgen, daß die Dinge so kommen, wie man sie nehmen möchte. [Gesehen am 4.3.2006 auf einem Plakat am Hauptbahnhof Düsseldorf] (75)
Gegensätzlich sind in der Politik Konservatismus und Einsatz für den Fortschritt. Bewahren des Bestehenden oder Veränderung und Schaffung von etwas Neuem? Betrachtet man aber das Verhältnis der beiden Gegensätze genauer, dann kann man feststellen: Das Paradox ist nur allzu offensichtlich: Der Konservatismus kann ebenso eine Quelle des Fortschritts sein, wie die Faulheit die Mutter der Effizienz ist. [Michel Houellebecq: Ein bisschen schlechter. Neue Interventio nen – Essays. Köln 2020, S. 9] (76)
Dies ist – wie mir scheint – auf verschiedene Weise möglich: Der Konservatismus oder die Faulheit können dermaßen erstarrend und hemmend sein, daß sie unerträglich werden und das Bedürfnis nach Veränderung und Aktivität massiv verstärken; ebenso kann der Kon servatismus eine aufgeregte und hyperaktive Stimmung beruhigen und so zu einem neuen, besseren Zustand führen, während die Faul heit (Bequemlichkeit) oft das Motiv für technische, Arbeitsaufwand sparende Neuerungen ist. Beinahe endlos sind die Beispiele dafür, daß ein Politiker die allge meine Ignoranz gegenüber einem bestimmten Problem beklagt, etwa: Niemandem fällt auf, in welchem Maße die Tiere in unserer Gesell schaft leiden müssen. (77) Niemandem? Selbstverständlich nimmt der Sprecher sich selbst stillschweigend davon aus, denn er erwähnt es ja. Ist das eine Variante der Paradoxie der Bescheidenheit, von der bereits einmal die Rede war? Oder handelt es sich um eine verdeckte Arroganz, da man offenbar sehr, sehr klug sein muß, um das Problem trotz der allgemeinen Ignoranz zu bemerken? Das läuft wahrscheinlich auf das Gleiche hinaus, ob nun die Bescheidenheit oder die Arroganz paradox wird.
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Ebenso offenherzig wie paradox ist es, wenn ein erfolgreicher, mächtiger Politiker – etwa in einem Interview – stolz über sich sagt: Für mein Ego brauche ich keine Anerkennung mehr. (78) Von vergleichbar herablassender Bescheidenheit ist diese Selbst kennzeichnung: Ich mache nie Voraussagen und werde das nie tun. [Westdeutschen Zeitung vom 26.9.2008] (79) Und werde das nie tun! Man beachte: Ich sage immer: man darf nicht generalisieren. (80) Eine verallgemeinernde Ablehnung von Verallgemeinerungen. Zum Bereich des Paradoxes der Bescheidenheit gehört auch die para doxe Unauffälligkeit, in der manche Politiker sich gerne geben. Ein vorzügliches Beispiel dafür ist Kaiser Napoleon I.: Man kann durch Unauffälligkeit inmitten von Auffälligkeit auffallen – so wie Napoleon, der scheinbar bescheiden, in schlichter Militärkleidung inmitten seiner goldbetreßten und ordenbehängten Marschälle auftrat. Das ist, als ob eine Sonne von ihren Planeten beschienen würde. (81)
Eine andere hervorhebende Eigenschaft eines Politikers ist der Spezia list fürs Allgemeine (82), eine Etikettierung, die man meiner Erinne rung nach zuerst auf Helmut Kohl angewendet hat, bevor er zum Bundeskanzler gewählt wurde. Diktaturen insbesondere können alles vertragen, aber keine Kritik. Wehe jedoch, wenn jemand das ausspricht! »Alles ist gut in diesem Land«, versicherte er, »und wer was anderes behauptet, wird erschossen.« Für diese verleumderische Behauptung wurde er erschossen. (83)
Und auch wenn das in dieser Formulierung nur ausgedacht ist, mag man niemandem, dem sein Leben lieb ist, raten, sein Lippenbekennt nis für das eigene Land (und seinen Machthaber) auf eine derart unvorsichtige Weise zu formulieren. Ebenfalls aus undemokratischen Zeiten stammt ein Erlaß des Reichs führers-SS zum Kriegsbeginn am 1. September 1939: SS-Befehl! SS-Männer, ich erwarte, daß Ihr mehr als Eure Pflicht tut. Gott befohlen und Heil Hitler!
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H. Himmler4 (84)
Da haben wir dann die paradoxe Situation, daß es Pflicht ist, mehr als seine Pflicht zu tun, wobei wir uns vorstellen können, daß Himmler damit eine Pflicht zur Begeisterung meinte. Zur Rechtspolitik gehört der folgende Fall: Die Väter (und wenigen Mütter) des Grundgesetzes wollten nach den Erfahrungen der Wei marer Republik die Grund- und Menschenrechte sowie die demo kratische Struktur besser gegen ihre Abschaffung schützen. Die Wei marer Verfassung konnte nämlich durch Mehrheitsentscheidungen der Volksvertretung in jeder beliebigen Weise geändert und sogar aufgehoben werden. Nun erschien es in der 1948 geführten Diskus sion nicht angebracht, alle einschlägigen Artikel zu Menschen- und Bürgerrechten für unabänderlich zu erklären; das hätte jeden Rechts fortschritt ausgeschlossen, wie er sich später z.B. im Hinblick auf die Wehrpflicht und das Diskriminierungsverbot ergeben hat. Also ist man auf die Idee gekommen, einen eigenen Artikel ins Grundgesetz einzufügen, der besagt: Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grund sätze berührt werden, ist unzulässig. [Art. 79 (3)] (85)
So schien man wenigstens einige zentrale Entscheidungen (Art. 1: das grundsätzliche Bekenntnis zu Menschenrechten; Art. 20: das grund sätzliche Bekenntnis zur Demokratie) vor jedem Eingriff gesichert zu haben. Allerdings gehört zu den Artikeln, die nicht geändert werden dürfen, nicht der Artikel 79 (3)! Und daher ist beispielsweise die Änderung des Artikels 1 durch Artikel 79 (3) zwar ausgeschlossen, durch die Änderbarkeit von Artikel 79 (3) jedoch zugleich erlaubt – eine paradoxe Situation. Auch die Bildungspolitik ist weder vor schematisierender Begrifflich keit noch vor Paradoxien sicher: Die Verdummung durch schematisierende Begrifflichkeit, der schon in der Schulerziehung zu wenig entgegengearbeitet wird, richtet auf vielen Ebenen Schaden an. Facsimile Querschnitt: Das Schwarze Korps. Hrsg. v. Helmut Heiber und Hildegard von Kotze. München/Bern/Wien 1968, S. 154.
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[Dorothee Frank: Menschen morden. Düsseldorf 2006, S. 111] (86)
Ich jedenfalls kann nicht anders, als diese Aussage für ein schemati sches, schablonenhaftes Vorurteil über die Bildungspolitik zu halten. In (meist) politischen Diskussionen ist Das ist ein Totschlagargument! (87) ein beliebtes Totschlagargument. Denn mit dieser Behauptung kann man sich beinahe jedes Argument vom Leibe halten; man braucht es nur als Totschlagargument zu (dis)qualifizieren. Als politischen Witz dicht an der Wahrheit müssen wir wohl die folgende Plebiszit-Frage aus Rußland ansehen: Haben Sie keine Einwände gegen die Politik unseres Präsidenten Wladi mir Putin? Mögliche Antworten (bitte ankreuzen!): O Ja, ich habe keine Einwände. O Nein, ich habe keine Einwände. (88)
Das Paradox liegt darin, daß hier eine Frage mit zwei alternativen Antworten (Ja/Nein) vorgestellt wird, die Alternativen jedoch keine Alternativen sind. Diese Spitze richtet sich gegen Scheinwahlen, die in bestimmten politischen Systemen eben kein Witz, sondern trauriger Ernst sind. So kann eine Paradoxie selbst als Witz eine Wahrheit aussprechen. Der US-amerikanische Philosoph Alan Watts (1915–1973) hat dieses Prinzip auf unser ganzes Leben erweitert: »Das Leben ist ein Spiel, dessen Spielregel Nr. 1 lautet: Das ist kein Spiel, das ist todernst.« Die einzige Regel, die dieses Spiel beenden könnte, ist nicht selbst eine seiner Regeln. [Paul Watzlawick: Anleitung zum Unglücklichsein. A.a.O., S. 121, 127] (89)
Und so muß man dann leben – in einem Staat, einer Gesellschaft, deren Mitglieder und Protagonisten oft nach Homer Simpsons Grundsatz verfahren: Ich dulde keine Intoleranz! (90) Ein interessanter Fall politischer Fehlkalkulation ist im Zusammen hang mit Rußlands und Wladimir Putins Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 vorgekommen: Wenn man bei einer politischen
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Analyse zu einer falschen Prognose gelangt (Putin wird die Ukraine nicht angreifen, weil die Folgen für Rußland katastrophal wären) und sich dann in der Prognose irrt, tatsächlich aber die erwarteten Folgen eintreten, dann kann man sagen: Wir haben uns geirrt, weil wir uns nicht geirrt haben. So sagte es Iwan Timofejew vom Russischen Rat für Internationale Angelegenheiten. [Friedrich Schmidt/Markus Werner: Immer wieder Nazis und Terroristen; in: Frankfurter Allgemeine vom 19.4.2022] (91) In genau gleicher Weise hat Stalin es 1941 nicht für möglich gehalten, daß Hitler die UdSSR angreifen würde, weil Deutschland nicht auf einen Winterkrieg vorbereitet war. Die Analyse war richtig, die Prognose dennoch falsch. Über Intrigen in der Politik ließe sich mancherlei sagen – paradox ist diese Feststellung: »Es gab keine Intrige«, sagte William, »und ich habe sie aus Versehen aufgedeckt.« [Umberto Eco: Der Name der Rose. München 1986, S. 624] (92) Dieser Fall kann dort auftreten, wo alle eine Intrige vermuten. Bei extremen und wirklich nicht tolerablen Verhaltensweisen kann einem diese Argumentation begegnen: Für die Einweisung in die Psychiatrie sprechen [...] viele Gründe, in erster Linie Breiviks ständiges Beharren darauf, dass er trotz seiner Taten nicht verrückt sei – was ist dann verrückt in dieser Welt? [Frankfurter Allgemeine vom 23.6.2012] (93)
Anders Behring Breivik, man erinnert sich, ist ein norwegischer Amokläufer und Massenmörder. Interessant und diskussionswürdig an dem hier vertretenen Standpunkt ist: Das hartnäckige Beharren darauf, nicht verrückt zu sein, kann angesichts bestimmter Verhal tensweisen das stärkste Argument für Verrücktheit sein. Offenbar meint der Autor ja damit, daß nicht die Tat selber das stärkste Argument sei, sondern ihre Einordnung durch den Täter. Wäre dann das Eingeständnis Breiviks, verrückt zu sein, ein Argument dafür, daß er nicht verrückt ist? Das scheint zumindest die logische Konsequenz zu sein. »Man sollte schon bereit sein, eigene Fehler zuzugeben«, hört man häufig in politischen Reden, die ja gerne einmal den Charakter einer Moralpredigt annehmen. Gemeint ist natürlich: die andere Seite, der
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politische Gegner. Dann muß man sich als im Stillen mitgemeint hinzudenken: »Ich persönlich habe da Glück, weil ich keine Fehler mache.« Das ist peinlich, wenn dabei offenkundig ein Fehler gemacht wird, und sei er nur sprachlicher Natur. Das könnte (geschrieben) so aussehen: Ein Mensch sollte schon bereit sein, Fehler zuzugeben. Ich habe in dieser Hinsicht Glück, weil ich keine mahce. (94) Ob das dann zugegeben wird, steht auf einem anderen Blatt. Man darf da nicht allzu optimistisch sein. Beliebt ist der Begriff des primus inter pares (des Ersten unter Glei chen) (95). Sehr kollegial und auf Ausgleich bedachte Politiker neh men das gerne für sich in Anspruch. Und dennoch ist es paradox, denn der Primus kann nun einmal nur einer sein, und der steht eben nicht auf der gleichen Stufe wie alle anderen. Für Journalisten, die über politische (und andere) Ereignisse berich ten, gilt im Hinblick auf den medialen Erfolg: Good news are bad news. Bad news are good news. (96) Dazu muß man nicht viel sagen: das ist bewußt paradox ... und erfahrungsgemäß zutreffend. Schlechte Nach richten verkaufen sich – abgesehen vom Sex – am besten, weshalb sie eben aus der Perspektive von Journalisten gute Nachrichten sind. Politiker müssen gegenüber ihren Wählern einen hohen Anspruch erheben. Sie dürfen nicht bescheiden in ihren Zielen daherkommen, weil andernfalls das Angebot der Konkurrenz, die mehr verspricht, attraktiver wirkt. Andererseits möchte auch niemand als unrealisti scher Träumer wirken. Hier ist sprachliche Kreativität gefragt. Das Non-plus-ultra in dieser Hinsicht dürfte sein: Seien wir Realisten und versuchen das Unmögliche. [Frankfurter Allgemeine vom 14.1.2015; Todesanzeige des Managers Günther Cramer] (97) In der Politik müssen Entscheidungen getroffen werden. Dafür gibt es verschiedene Verfahren: von den einsamen, aber schnellen Ent scheidungen bis hin zum demokratischen, aber oft langwierigen Abstimmen. Welches Verfahren ist zu bevorzugen? Der paradoxe Weg, der scheinbar auf Nummer Sicher geht, ist dieser: Wie wollen wir entscheiden? Wer ist für Abstimmen? (98) Sehr unbeliebt ist in der politischen (oder demagogischen) Rede die Theorie. »Wir sollten nicht so viel theoretisieren, denn die Praxis
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zählt!« Ist das, so ausgedrückt, nicht bloß eine Theorie über die Praxis, daß nämlich die Theorie nicht zählt? (99; vgl. 73) Denn die Theorie ist eine weltanschauliche oder wissenschaftliche Annahme über die Struktur der Welt, und daß in der Welt die Praxis entscheidet, ist dann doch wohl eine theoretische Annahme über die Welt. Gibt es über haupt einen systematischen Unterschied zwischen Theorie und Pra xis? Sind nicht beide unauflöslich miteinander verbunden, indem wir gemäß theoretischen Annahmen praktisch handeln? Albert Einstein freilich warnt vor dieser Auffassung: In der Theorie gibt es keinen Unterschied zwischen Theorie und Praxis. In der Praxis schon. [Albert Einstein; zitiert nach: Max Tegmark: Unser mathematisches Univer sum. Berlin 2015, S. 111] (99) Bei dem in Demokratien üblichen Grundsatz der Gleichheit aller vor dem Gesetz kann man einen durchgängigen Kontrast zur Pra xis erkennen, den George Orwell in eine berühmte Formulierung gebracht hat: ALL ANIMALS ARE EQUAL BUT SOME ANIMALS ARE MORE EQUAL THAN OTHERS [Animal Farm. Harmondsworth 131963, p. 114] (100)
Nicht nur bei Tieren, wohlgemerkt, denn der ganze Roman spiegelt ja menschliche Verhältnisse. Ein paradoxes Spiel mit dem Gesetz konnte man in Deutschland im Jahre 2005 beobachten: Am 1. Juli 2005 stellte Bundeskanzler Schröder im Bundestag die Ver trauensfrage in der Absicht, durch Verfehlung der Mehrheit eine Auflö sung des Bundestages und eine gewünschte Neuwahl zu erreichen. Das war eine rechtlich umstrittene Verfahrensweise und zwang die Angehö rigen seiner eigenen Partei dazu, ihm durch Verweigerung ihres Vertrauens in der Abstimmung das Vertrauen auszusprechen, während Teile der Opposition ihm das Vertrauen verweigerten, indem sie es ihm ausspra chen. [Frei nach: Günter Bannas: Das Ende des Neoliberalismus; in: Frankfurter Allgemeine vom 20.9.2021] (101)
Unter dem Titel »Tagt das Verfassungsgericht, oder tagt es nicht? Das polnische Paradox« hat die Frankfurter Allgemeine am 9.3.2016 den folgenden Artikel von Konrad Schuller veröffentlicht:
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WARSCHAU, 8. März. [...] Die polnische Regierung unter der informel len Führung der nationalkonservativen Parteichefs Jaroslaw Kaczynski nämlich vertritt ehern die Ansicht, das »Konstitutionstribunal« habe am Dienstag von Anfang an keine Befugnis gehabt, zu verhandeln. Nach einem eilig durchgepeitschten Gesetz vom vergangenen Dezember nämlich hat die neue polnische Führung die Bedingungen für Beschlüsse des Verfassungsgerichts verschärft: Verfahren dürfen nicht mehr sofort begonnen werden, sondern nach einer Wartezeit von sechs Monaten, und auch dann nur in der Reihenfolge des Eingangs – also frühestens nach Jahren. Zusätzlich ist das Quorum der Kammer von neun auf 13 von ins gesamt 15 Richtern heraufgesetzt worden, und Urteile können nur noch mit Zweidrittelmehrheit fallen. Gegen all diese Vorschriften hat eine Reihe von Institutionen geklagt – vom Obersten Gericht, der zweithöchsten Kammer Polens, über den Menschenrechtsbeauftragten bis hin zu den Abgeordneten der Opposition. Das Verfassungsgericht stand damit vor der Frage, ob es die Klage schon nach den neuen, inkriminierten Vor schriften behandelt (also de facto gar nicht, weil gegenwärtig nur zwölf Richter einsatzbereit sind und nicht die erforderlichen 13) oder ob es das neue Gesetz der Nationalkonservativen, den Gegenstand der Klage, zunächst ignoriert. Es hat sich für das Letztere entscheiden: Am Dienstag ist die Kammer mit nur neun Richtern zusammengetreten, der »vollen Besetzung« nach den alten Spielregeln, und das Gericht hat durch Vor ziehen des Verfahrens auch die neuen Vorschriften über die Reihenfolge der Fälle ignoriert. [...] Regierung, Parlament und Generalstaatsanwalt schaft, die Institutionen unter Kontrolle der Nationalkonservativen, haben deshalb ihre geladenen Vertreter nicht zu der Verhandlung geschickt. Ihr Boykott dreht die Eskalationsspirale zwischen Gericht und national konservativer Exekutive wieder ein Stück weiter. Immer wieder haben die Vertreter der Regierung verkündet, das Verfassungsgericht sei die »letzte Bastion des Postkommunismus«, ein Hindernis für den »Volkswillen«. Diese Bastion müsse nun geschleift werden, hatte der Abgeordnete Sta nislaw Piotrowicz ins Parlament gerufen, als es das umstrittene neue Verfassungsgesetz beschloss, und so hat Kaczynskis absolute Mehrheit im Parlament denn auch beschlossen, ihre Novelle, die nach Ansicht der Opposition das Verfassungsgericht blockiert, ohne die übliche Über gangszeit (»Vacatio Legis«) in Kraft zu setzen: Alles gilt ab sofort, und wenn das Gericht seine neuen Regeln prüfen will, muss es sie bei der Prü fung schon anwenden. Für den Vorsitzenden Rzeplinski entstand dadurch eine Situation, die der Vertreter der Anwaltskammer, Mikolaj Pietrzak, im Gerichtsflur als »Paradox« bezeichnet hat: Das Gericht ist gezwungen, bei der Prüfung einer möglicherweise verfassungswidrigen Vorschrift diese Vorschrift
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schon anzuwenden. Und würde das Verfassungsgericht die Verfassungs widrigkeit der Regeln feststellen, wäre die Feststellung damit ungültig – weil auf fehlerhafter Grundlage getroffen. Rzeplinski hat den gordischen Knoten dann am Dienstag mit Hilfe der Verfassung selbst durchschlagen: Dort nämlich sagt Artikel 195, sein Tribunal unterstehe »allein der Ver fassung« – also nicht der einfachen Gesetzgebung. Aber egal, was die Richter beschließen: Ministerpräsidentin Beata Szydlo hat schon ange kündigt, dass sie die Rechtskraft des Urteils nicht anerkennen werde. (102)
Das ist ein leuchtendes Paradox aus dem Bereich von Politik und Rechtsprechung, wie man es sich paradoxer auch unter Einsatz von viel Phantasie nicht ausdenken könnte. Ein ähnlich konkretes und bis heute unaufgelöstes Paradox ist mit dem Brexit verbunden, dem Austritt Großbritanniens aus der Europä ischen Union, vollzogen am 1. Januar 2021: Großbritannien will aus der EU austreten. Nordirland soll Teil von Großbritannien bleiben. Die Republik Irland will in der EU bleiben. Zwi schen Nordirland und der Republik Irland soll es keine EU-Außengrenze geben. (103)
Das heißt: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß! Ebenfalls mit Irland verbunden ist das folgende Paradox, das auf den Gegensatz zwischen Katholiken und Protestanten Bezug nimmt und die Erfahrung einer irischen Atheistin reflektiert, die zwischen diesen Fronten steht: Five years after the Good Friday Agreement (GFA), I was in Belfast again for work. This time there was no border, no indignity and no fear. Hearing my Dublin accent, a man in his sixties asked, »Are you Catholic or Protestant?« »Neither, I’m atheist!« I said triumphantly. »Yes, but are you a Catholic atheist or a Protestant atheist?« Religion in Northern Ireland is like the Hotel California, I was told. You can check out, but you can never leave. [Tess Finch-Lees: Anyone who thinks Brexit won’t bring back violence to Ireland doesn’t understand the Good Friday Agree ment. The Independent, Tuesday 10th April 2018 – tinyurl.com/ y9hazyr9] (104)
(Der Schlußsatz spielt auf den Song Hotel California der Eagles an.) In Irland, so hat es den Anschein, bleibt man auch als Atheist
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entweder Katholik oder Protestant, obgleich beide Begriffe dem Athe ist-Sein widersprechen. Die Politik ist im Wesentlichen ein Kampf um Macht. Daß schon darin eine Paradoxie liegt, zeigt der folgende, sicher nicht nur witzig gemeinte Ausspruch: Es ist eine allseits bekannte Tatsache, daß die Leute, die sich am meisten wünschen, Leute zu regieren, gerade deshalb diejenigen sind, die am wenigsten dazu geeignet sind. [...] Wer kann denn regieren, wenn jeder, der es will, um alles in der Welt daran gehindert werden muß? [Douglas Adams: Das Restaurant am Ende des Universums. München 1982, S. 173] (105)
Wer regieren will, ist machtgierig, und wer machtgierig ist, ist ungeeignet zu regieren. Wer aber soll dann regieren? Es bliebe nur derjenige, der nicht regieren will. Doch wer nicht regieren will, so darf man vermuten, wird ebendeshalb nicht an die Regierung gelangen – nicht in Konkurrenz zu all den, die es wollen. Das ist so ähnlich wie: Ein Arschloch ist jemand, der nicht weiß, daß er eines ist. Wüßte er es, wäre er schon kein komplettes Arschloch mehr. (106; vgl. 398) Besonders für die Möchtegern-Tyrannen in der Politik gilt dies. Man möchte manchmal diese rechthaberischen Selbstdarsteller fragen: Haben Sie eigentlich immer Recht? Eine ehrliche Antwort würde vermutlich lauten: Nein. Einmal hatte ich Unrecht. Da habe ich nämlich geglaubt, ich hätte Unrecht, und hatte doch Recht. (107)
Das hochgehaltene Motto lautet dann sicher: Ich kann Kritik gut annehmen, sofern sie berechtigt ist. (108) Aber leider, leider, ist sie bei mir nie berechtigt. Was in der Politik häufig vorkommt, ist das Lügen. Eine Lüge besteht in einem Gegensatz zwischen Ansicht und Aussage, was nicht para dox, sondern unaufrichtig ist. Paradox aber kann die Sache werden, wenn sie so steht: Metternich hat ständig gelogen, aber niemanden getäuscht, während Talleyrand nie gelogen und die ganze Welt getäuscht hat. [Lord Macaulay; zitiert nach: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.1.2022, »In herzoglichen Umständen« von Gina Thomas; sie zitiert dort Anthony Kenny] (109) Charles-Maurice de TalleyrandPérigord (1754–1838) war ein berühmter politischer Wendehals von
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Unser paradoxer Alltag
der vorrevolutionären bis zur Restaurationszeit; bei Clemens Wenzel von Metternich (1773–1859) handelt es sich um einen reaktionären österreichischen Staatskanzler aus der Zeit der Restauration. Beide hatten ein eigentümliches Verhältnis zur Zuverlässigkeit, aber offen bar auf sehr unterschiedliche Weise. Günstig ist es für einen Politiker, wenn er über Charme verfügt. Doch auch der Charme hat eine paradoxe Seite: Charme ist die Fähigkeit zu bewirken, daß sich Menschen in unserer Gegenwart wohlfühlen, daß sie freudig werden und unsere Nähe suchen. Da dies bei manchen Menschen, die über keinen oder weniger Charme verfügen, Neid hervorruft, bewirkt Charme, daß Menschen uns gegenüber feindselig werden und sich abgestoßen fühlen; sie sind neidisch. Dies ist die Paradoxie des Charmes und belegt einmal mehr, daß uns keine ungetrübte Freude möglich ist. (110) Zum Glück schützt uns vor selbstherrlichen und machtbesessenen Politikern das Gesetz. Tut es das? Kriminell, was so alles legal ist. [leorenita auf www.keinVerlag.de; in einem Kommentar] (111)
Wie sehr Politiker auf ihr Ansehen bedacht sind und welche paradoxen Folgen das haben kann, beleuchtet das folgende Beispiel: WORDING STATT WARNUNG Wie die frühere Landesumweltministerin und heutige Bundesfamili enministerin Spiegel bei der Ahr-Katastrophe agierte Am Morgen des 15. Juli [2021] bot sich an der Ahr ein Bild der Ver wüstung: Die Häuser waren zerstört, in den Bäumen hingen Autos, im noch hoch stehenden Fluss trieben Gascontainer. Zu dem Zeitpunkt war das tatsächliche Ausmaß der Katastrophe unklar, doch es wurden bereits Dutzende Menschen vermisst, auch gab es Hinweise auf Tote. Bei der rheinland-pfälzischen Umweltministerin Anne Spiegel (Grüne) sowie einem ihrer Mitarbeiter stand jedoch offenbar vor allem die Sorge im Vordergrund, Spiegel könnte eine Verantwortung für die Katastrophe angelastet werden und sie könnte innerhalb der Landes regierung an den Rand gedrängt werden. Das legen nichtöffentliche Akten aus dem Untersuchungsausschuss zur Ahrtal-Katastrophe nahe, die die F.A.Z. einsehen konnte. Um kurz nach sechs Uhr morgens am 15. Juli schrieb demnach eine Mitarbeiterin der Pressestelle des Umweltministeriums an Spiegel per SMS, die Lage sei »sehr ernst«, es sei in mehreren Landkreisen der
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Katastrophenfall ausgerufen worden, es würden Menschen vermisst. An Spiegels damaligen Pressesprecher Dietmar Brück, mittlerweile stellvertretender Sprecher der rheinland-pfälzischen Landesregierung, ging eine fast gleichlautende Nachricht. Brück schrieb daraufhin an Spiegel sowie die Pressemitarbeiterin: Das Starkregenereignis werde »das beherrschende Thema«, »Anne braucht eine glaubwürdige Rolle«, es dürfe aber »nicht nach politischer Instrumentalisierung aussehen«. Die »Anteilnahme macht MP« (Ministerpräsidentin Malu Dreyer, SPD), aber vom Umweltministerium könnten Informationen zur Hochwasserlage und zu Warnungen kommen. Es gelte aufzupassen, »dass MP und Roger« (gemeint sind Dreyer und der SPD-Innenmi nister Roger Lewentz) »jetzt nicht Fünf-Punkte-Plan gegen Starkregen entwickeln«. »Das deckt sich mit meinen Überlegungen«, antwortete Spiegel kurz darauf. »Das Blame Game könnte sofort losgehen, wir brauchen ein Wording, dass wir rechtzeitig gewarnt haben, wir alle Daten immer transparent gemacht haben, ich im Kabinett gewarnt habe, was ohne unsere Präventionsmaßnahmen alles noch schlimmer geworden wäre etc.« Weiter schrieb Spiegel: »Ich traue es Roger zu, dass er sagt, die Katastrophe hätte verhindert werden können oder wäre nicht so schlimm geworden, wenn wir als Umweltministerium früher gewarnt hätten.« Vom Umweltministerium hieß es dazu am Dienstag auf Nachfrage, Spiegel werde als Zeugin im Untersuchungsausschuss »zu allen Fra gen, die ihre persönliche Wahrnehmung betreffen, Stellung nehmen«. Auch aus Respekt vor dem parlamentarischen Verfahren wolle man diesem Vorgang nicht vorgreifen. [...] [Julian Staib, in: Frankfurter Allgemeine vom 9.3.2022] (112)
Hier kann man sehen: Die Sorge um das Ansehen beschädigt das Ansehen – jedenfalls dann, wenn sie publik wird. Und wenn dann noch die heilige Religion ins Spiel kommt, wird es vollends düster bzw. paradox: [...] Dabei stellt schon die Zuschreibung von Blasphemie [sc. in Pakistan] ein Problem dar, da eine Erörterung, ob etwas Gotteslästerung ist, wegen der Gefahr ebendieser Gotteslästerung nicht statthaft ist. 2015 musste sich ein Gericht mit der Frage befassen, ob die Kritik an Pakistans Blasphemie-Gesetzen bereits Blasphemie darstelle. [Frankfurter Allgemeine vom 30.3.2017] (113)
Gut ist es für einen Politiker, wenn er kein Einzelkämpfer, sondern – z.B. in seiner Partei – teamfähig ist.
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»Sind Sie teamfähig?« »Alleine ja.« (114)
Gut ist es ferner, wenn man – in der Politik und auch sonstwo – Werte vertritt. Dabei ist ein neuerdings hochgehaltener Wert die Nachhaltigkeit. Mit der ist es allerdings nicht immer so weit her. So heißt es in einer akademischen Stellenanzeige: Professur (W2) für Nachhaltigkeit. Die Stelle ist auf 5 Jahre befris tet. (115)
Ganz schlecht ist es, ein Rassist zu sein, geradezu ein Tabu. Ein Tabu allerdings, das nicht leicht einzuhalten ist: Sei kein Rassist! Klassifiziere die Menschen nicht nach ihrer Hautfarbe! (116) Dabei dürfte es sich um eine psychologische Paradoxie handeln, wie: Denke an einen Elefanten, aber nicht an seinen Rüssel! Lenkt doch gerade das Verbot die Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Eigenschaft: die Hautfarbe. Aha, du hast diese spezielle Hautfarbe, da darf ich dich jetzt auf keinen Fall nach klassifizieren! Es ist eine Klassifikation mittels eines Klassifikationsverbotes. Das hat schon mit der Bemühung zu tun, nirgends anzuecken und es allen recht machen zu wollen. Und das geht nicht immer gut, gerät aber oft zur Paradoxie, wie die folgende Anekdote verdeutlicht: Auf dem Höhepunkt seiner Macht, so eine Anekdote, lud der argentinische Präsident Juan Perón (1895 bis 1974) einen Neffen in die Casa Rosada ein, um ihn in die Geheimnisse der Politik einzuführen. Am ersten Tag verfolgte der junge Mann im Präsidentenpalast im Herzen von Buenos Aires ein Treffen Peróns mit einer Delegation von Kommunisten. Zum Abschied sagte Perón: »Ihr habt ganz recht.« Tags darauf empfing der Präsident eine Abordnung von Faschisten, denen er zum Abschluss des Gesprächs beschied: »Ihr habt ganz recht.« Hernach fragte Perón seinen Besucher, was er über die Begegnungen denke. Der Neffe erwiderte: »Du hast mit zwei Gruppen gesprochen, die entgegengesetzte Positionen vertreten haben, und du hast beiden recht gegeben. Das ist vollkommen inakzeptabel!« Antwort Peróns: »Du hast ganz recht.« Perón machte aus der Widersprüchlichkeit eine Kunstform der politischen Herrschaft: Weil er mit allem und allen übereinstimmte, konnte er nach Gutdünken jede Maßnahme durchsetzen. Er perfektionierte den populis tischen Personenkult und den Machterhalt ohne ideologisches Unterfut ter. [Matthias Rüb: Ihr habt alle ganz recht; in: Frankfurter Allge meine vom 14.7.2018] (117; vgl. 29)
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Dabei hat gerade die extreme Toleranz ihre eigenen Tücken. Der Philosoph Karl Popper (1902 – 1994) hat sich damit intensiv ausein andergesetzt: Weniger bekannt ist das Paradox der Toleranz: Uneingeschränkte Tole ranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Denn wenn wir die unbeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdeh nen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen. Damit wünsche ich nicht zu sagen, daß wir z. B. intolerante Philoso phien auf jeden Fall gewaltsam unterdrücken sollten; solange wir ihnen durch rationale Argumente beikommen können und solange wir sie durch die öffentliche Meinung in Schranken halten können, wäre ihre Unterdrückung sicher höchst unvernünftig. Aber wir sollten für uns das Recht in Anspruch nehmen, sie, wenn nötig, mit Gewalt zu unterdrücken; denn es kann sich leicht herausstellen, daß ihre Vertreter nicht bereit sind, mit uns auf der Ebene rationaler Diskussion zusammenzutreffen, und beginnen, das Argumentieren als solches zu verwerfen; sie können ihren Anhängern verbieten, auf rationale Argumente – die sie ein Täuschungsmanöver nennen – zu hören, und sie werden ihnen vielleicht den Rat geben, Argumente mit Fäusten und Pistolen zu beantworten. Wir sollten daher im Namen der Toleranz das Recht für uns in Anspruch nehmen, die Unduldsamen nicht zu dulden. Wir sollten geltend machen, dass sich jede Bewegung, die Intoleranz predigt, außerhalb des Gesetzes stellt, und wir sollten eine Aufforderung zur Intoleranz und Verfolgung als ebenso verbrecherisch behandeln wie eine Aufforderung zum Mord, zum Raub oder zur Wiedereinführung des Sklavenhandels. [Karl R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. 2 Bde. Bern 21970, Bd. 1, S. 359] (118)
Herbert Marcuse (1898 – 1979) hat dies – ebenfalls paradox – repressive Toleranz (119) genannt.5 Da Toleranz ein Wert ist, liegt es nahe, politische Gegner der Intoleranz zu beschuldigen. Das birgt eine eigene Gefahr: Eine Politik der Toleranz kann leicht intolerant werden, indem sie alle Andersden kenden der Intoleranz beschuldigt. (120)
5 Herbert Marcuse: Repressive Toleranz; in: Robert Paul Wolff / Barrington Moore / Herbert Marcuse, Kritik der reinen Toleranz. Frankfurt/Main 61968, S. 91 ff.
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Mit der Politik ist auch die Pflege der Erinnerungskultur verbunden, was in Deutschland vor allem auf die Zeit des Nationalsozialismus bezogen ist. In einer Schilderung der Auschwitz-Erinnerungsstätte las ich: Fotos von Menschen, die auf Pritschen liegen. Erwachsene Frauen, die nur noch 35 Kilo wiegen. Sie bestehen buchstäblich nur noch aus Haut und Knochen. Ihre Blicke sind leer, ihre Seelen zerbrochen. (121)
Hier wird der eindeutig metaphorische Gebrauch von »nur noch aus Haut und Knochen bestehend« durch »buchstäblich« dementiert. Eine politisch zu treffende Entscheidung ist die nach den zu tref fenden Regeln für autonom fahrende Autos, d.h. solche, die sich ohne Einfluß des Fahrers durch den Straßenverkehr bewegen. Wer trägt hier im Falle eines Unfalls die Verantwortung? Und wie, mit welchen Entscheidungskriterien sollen solche Autos programmiert werden? Da gibt es offenbar eine paradoxe Vorstellung, wenn man die Bevölkerung danach fragt: Bei der Frage, mit welchem Programm autonome Autos ausgestattet werden sollen, bevorzugt die Mehrzahl der Befragten für Konfliktfälle den Schutz der größeren Zahl und von Kindern. Kaufen will die Mehrzahl aber nur ein Auto, das stets den Insassen den Vorzug gibt. [Spektrum der Wissenschaft 1/19, S. 37] (122)
Es macht also einen Unterschied, in welche Situation man sich hinein versetzt: die des Insassen oder die des Verkehrsteilnehmers auf der Straße. Davon kann aber das Programm nicht abhängig sein! Eine vergleichbar widersprüchliche Beurteilung ergibt sich im sog. Paradox der Kriminalitätsfurcht: Bei der einfachen Gegenüberstellung von objektiven Belastungsziffern und subjektiven Furchtwerten hat sich gezeigt, dass gerade diejenigen Bevölkerungsgruppen, die gemäß der Angaben aus der polizeilichen Kriminalstatistik weniger stark belastet sind, mehr Furcht äußern, als diejenigen Gruppen, für die eine hohe Viktimisierung ausgemacht wer den kann. Ältere Menschen äußern häufiger Furcht als jüngere und Frauen häufiger als Männer, obwohl ältere Menschen und Frauen laut amtlicher Daten und der Ergebnisse der Viktimisierungssurveys wesentlich seltener Opfer krimineller Handlungen werden. [Frauke Kreuter: Kriminalitätsfurcht, Messung und methodische Probleme. Berlin 2002, S. 25] (123)
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Je geringer die Betroffenheit, desto größer die Furcht! Man kann hier auch an die sehr ähnliche Furcht vor Ausländern denken, die – zumindest in Deutschland – besonders stark dort ausgeprägt ist, wo die wenigsten Ausländer leben. Wollen Politiker die Rechte von Schutzbedürftigen (oder sol chen, die sie so ansehen) stärken, geraten sie in eine eigene Para doxie, nämlich die Paradoxie der Identitätspolitik bzw. der subjekti ven Rechte: Die Paradoxie liegt darin, »dass Rechte, die eine Bestimmung unserer Leiden, Verletzung oder Ungleichheit enthalten, uns in eine Identität einschließen, die durch Unterordnung definiert ist; wohingegen Rechte, die solche Bestimmtheit vermeiden, nicht nur die Unsichtbarkeit unse res Unterworfenseins aufrechterhalten, sondern sie sogar noch verstär ken können.« [Wendy Brown, zitiert nach: Frankfurter Allgemeine vom 13.2.2019] (124)
Also: durch Förderung legt man jemanden darauf fest, förderungsbe dürftig zu sein; unterläßt man hingegen die Förderung, beläßt man es bei der Förderungsbedürftigkeit bzw. verstärkt sie sogar noch. Man diskriminiert so oder so. Wie kommen überhaupt Rechte zustande, grundsätzlich gese hen? Darin liegt eine eigene Paradoxie: Die Frage, auf welche spezifische Quelle Recht zurückgeführt wird, ob und welche Änderungsregeln es gibt und auf welche Weise eine praktische »Anwendung« und Durchsetzung erfolgt, ist für die Frage, ob eine Normordnung »Recht« ist, im Grundsatz gleichgültig: Als Recht können Regeln gelten, die angeblich göttlich gesetzt und unver änderbar sind; aber auch solche, deren Geltung ganz und gar »posi tivistisch«, also als schlichte »Gesetztheit« begründet wird. Wenn man die Geltungslinie von Recht zu Ende denkt, stößt man auf die paradoxe Erkenntnis »Recht kann nur durch Recht entstehen – jede Anerkennungsregel, die aus einer normativen Erwartung »Recht« macht, muss ihrerseits schon Recht sein, um selbst Geltung zu erlangen. [Thomas Fischer: Über das Strafen. München 2018, S. 57] (125)
Damit ein Rechtsgrundsatz nicht Willkür (etwa als Ausfluß von Macht), sondern Recht ist, muß er Recht voraussetzen, insbesondere daß der Rechtsetzende ein Recht darauf hat, also nicht bloß die Macht, dafür zu sorgen, daß ein Grundsatz in ein Gesetzbuch aufgenommen wird. Wer ist wodurch berechtigt, ein Recht zu setzen? Selbst wenn
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es, wie manche annehmen, Gott ist, auf den das Recht zurückgeführt werden kann, stellt sich die Frage, wodurch er dazu berechtigt ist. Als Schöpfer und Herr der Welt? Dann wäre Recht auf seine Macht zurückzuführen und im Grunde beliebig, d.h. als Machthaber könnte er ebensogut irgendein anderes Recht setzen. Ebenso steht es natür lich bei menschlichen Gesetzgebern. Man benötigt ein Kriterium für Recht (wer legt das fest?), um ein Recht zu bestimmen.
Exkurs: Man nennt dieses Dilemma einen logischen Zirkel, in dem – verein facht gesagt – A mit B begründet, gerechtfertigt oder erklärt wird und B mit A. Recht (B) wird gesetzt durch eine Instanz (A), und diese Instanz soll eine rechtmäßige (B) sein. Diese Paradoxie erfaßt einen weitaus größeren Bereich als den des Rechts. Der Philosoph Hans Albert (geb. 1921) hat hierzu ein Trilemma konstruiert, das er nach dem berühmten Baron, der sich an den eigenen Haarens aus einem Sumpf gezogen haben soll, »Münch hausen-Trilemma« genannt hat. Es bezieht sich allgemein auf das Prinzip der Begründung einer Aussage (A) durch eine andere Aussage (B). Eine Aussage (A) soll dann als wahr gelten, wenn sie begründet ist, d.h. logisch aus einer anderen Aussage (B) folgt. Nun führt dieses allgemeine Begründungsprinzip aber zu einer bestimm ten Schwierigkeit, deren Eigenart wohl im Laufe der Geschichte immer wieder bemerkt worden ist, die aber in ihrer Tragweite meist unterschätzt wurde, zu derjenigen Schwierigkeit nämlich, die im folgenden Trilemma zutage tritt, das ich »Münchhausen-Trilemma« genannt habe: Wenn man dieses methodologische Postulat ohne Einschränkung formuliert, also für alles eine Begründung verlangt, dann führt das – ganz abgesehen von der Problematik der Selbstanwendung, die übrigens für das Prinzip das gleiche Trilemma zur Folge hat – zu einer Situation mit drei gleichermaßen unannehmbaren Alternativen. Man kann nämlich nur wählen zwischen: 1. einem infiniten Regreß, der sich aber als nicht durchführbar erweist, 2. einem logischen Zirkel, der ebenfalls zu keiner Begründung führen kann, und 3. einem Abbruch des Verfahrens an einem bestimmten Punkt, der sich zwar durchführen läßt, aber eine Suspendierung des Prinzips bedeuten würde, deren Willkür schwerlich bestritten werden kann. Es ist nun natürlich angesichts dieser Situation relativ leicht, sich plausi bel zu machen, daß man die dritte dieser Alternativen zu wählen hat, und das ist in der Tat seit Aristoteles, der ja zu diesem Zweck seine
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wahren und evidenten ersten Prinzipien eingeführt hat, immer wieder geschehen. Man spricht hier dann etwa von Selbstbegründung, Selbst evidenz, Letztbegründung oder von einer Fundierung in unmittelbarer Erkenntnis, aber all diese Umschreibungen sind nur geeignet, die Tatsache zu verdecken, daß man bereit ist, den Begründungsprozeß an einem Punkt abzubrechen, der prinzipiell durchaus bezweifelt werden könnte, und daß man diesen Punkt zum archimedischen Punkt macht. Das läuft de facto darauf hinaus, daß man an einer bestimmten Stelle ein Dogma einführt, eine Behauptung, die angeblich nicht der Begründung bedürftig ist, weil ihre Wahrheit gewiß erscheint und daher nicht in Frage gestellt werden kann. Voraussetzungen, für die in dieser Weise prinzipielle Kritikimmunität in Anspruch genommen wird, kann man wohl mit einigem Recht Dogmen nennen. Sie unterscheiden sich in diesem epistemologisch wesentlichen Punkt nicht von entsprechenden Aussagen in theologischen Gedankengebäuden, für die diese Bezeichnung üblich ist. [...] [Hans Albert: Kritische Vernunft und menschliche Praxis. Stutt gart 1977, S. 35 f.]6 (126)
Wenn Satz (A) logisch aus Satz (B) folgt und so begründet wird, dann stellt sich die Frage nach der Begründung von Satz (B). Wird dieser seinerseits mit Satz (C) begründet, dann ahnt man schon, worauf es hinausläuft: 1. auf eine unendliche Folge von Sätzen (infiniter Regreß), 2. auf einen logischen Zirkel, indem man beispielsweise (C) oder (D) mit (A) oder (B) begründet, also mit dem, was zu begründen war, oder 3. mit dem Abbruch des Verfahrens an irgendeiner Stelle. Akzeptabel im Sinne einer zureichenden Begründung ist keines dieser drei Verfahren: 1. ist wegen der Unendlichkeit unmöglich, 2. ist ein logischer Fehler, und 3. ist selbst dann willkürlich, wenn behauptet wird, der letzte der Sätze, aus denen man ableitet, verstehe sich von selbst (sei »evident«) – was natürlich bestritten werden kann und von irgendjemandem auch zuverlässig bestritten werden wird. Angesichts dieses Trilemmas bleibt, so Albert, nichts anderes übrig, als das Begründen auf etwas Unbegründetes zurückzuführen – eine Paradoxie. Und das hat Albert begründet! (Um auf das von Albert angedeutete Problem der Selbstanwen dung kurz zu sprechen zu kommen: Das Prinzip »Ein Satz soll wahr genannt werden, wenn er zureichend begründet ist« müßte
6 Vgl. etwas ausführlicher: ders., Traktat über kritische Vernunft. Tübingen 31975, S. 11–15.
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seinerseits – als wahrer Satz – begründet werden, wobei dann genau das Trilemma wieder aufträte.) Ganz ähnlich steht es – worauf Albert nicht zu sprechen kommt – übrigens mit dem Definieren: Man definiert ein Wort durch andere Wörter (»Unter einem Buch versteht man ...«) und hat damit nichts gewonnen, solange nicht auch diese Wörter definiert sind, was dann durch weitere Wörter erfolgen muß usw., ad infinitum. Und auch hier hat man nichts weiter als die genannten drei Möglichkeiten: 1. ins Unendliche fortzufahren, 2. ein Wort durch ein vorher schon verwendetes Wort zu definieren oder 3. das Spiel mit einem »das ist doch klar!« abzubrechen. Ein Trilemma auch dies, und ebenso ein Definieren durch Undefiniertes, also ein Paradox. (127) Insofern wir unsere Ansichten durch Begründungen bestimmen lassen und in unserem Leben miteinander in Wörtern sprechen, die eine bestimmte Bedeutung haben sollen, kann man sagen, daß unser Leben auch in diesen Hinsichten (zwei für die Kommunikation ganz elementaren!) paradox ist.
Ende der Exkurses Bei Menschen allgemein wie auch bei Politikern gilt die Regel: Fehler machen die anderen. Alles Negative findet sich nur bei ihnen. (Kleine paradoxe Randbemerkung: Ich verallgemeinere nie!) Das ist schon Jesus aufgefallen in seinem Gleichnis vom Splitter im Auge des anderen gegenüber dem Balken im eigenen [Matthäus 7, 3; Lukas 6, 41]. Selbstverständlich gilt dies auch für den Haß. GEGEN RECHTS! GEGEN HASS! FÜR SOLIDARITÄT! DIE LINKE (128)
So war es auf einem Wahlplakat der Partei »Die Linke« zur Europa wahl 2019 zu lesen. Und dies sollte kein Haß auf »Rechte« sein? Nein, im eigenen Auge stecken weder Splitter noch Balken. Ähnlich sagte Roland Habeck (damals noch Bundesvorsitzender der Grünen) am 20. Februar 2020 zum Amoklauf von Hanau: »Dies ist auch ein Tag des Zornes über den Hass.« (129) Wenigstens hat er nicht gesagt: des Hasses auf den Haß. Er selber nicht, aber der Publi zist Ernst Friedrich ist im Titel seines 1924 erschienenen Buches über den Ersten Weltkrieg so weit gegangen: Krieg dem Kriege! Guerre à la
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Guerre! War against War! Oorlog aan den Oorlog! [Berlin 1924; Nachdruck Frankfurt am Main 121982] (130) Vielleicht kann mancher sogar sagen: Ich liebe den Haß. (131) Mit Sicherheit gesagt worden ist schon: Vive la mort! [Graffito in dem Film French Connection II, 1975] sowie Viva la muerte! [Schlachtruf der spanischen Falange] (132) Etwas anders steht es da mit dem offenen Zynismus, der sich seiner Bosheit wohl bewußt ist, sie jedoch (wenn auch aus schwer nachvoll ziehbaren Gründen) für gerechtfertigt hält. So hieß es im Zusam menhang mit der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Lübcke von rechtsextremer Seite im Internet: Über Tote soll man nur Gutes sagen. Es ist gut, dass er tot ist. [Einer Nachrichtensendung vom 20. Juni 2019 entnommen.] (133) Dimmt man die politische Diskussion auf Stammtisch-Niveau herab, dann kann man Sprüche hören wie diese: Mich nennst du einen Rassisten, aber wenn Neger rassistisch sind, dann sagst du nichts! Oder: Mich nennst du einen Sexisten, aber wenn Schlampen sexistisch sind, dann sagst du nichts! (134) So kann man einen Vorwurf durch seine Bestreitung bestätigen. Ist es Zufall, daß man auf ein solches Spiel mit der Sprache oft dort trifft, wo Rassismus eine Rolle spielt? Im Rahmen der Konflikte zwischen Indern und Schwarzen in Südafrika flammen immer wieder gewalttätige Auseinandersetzungen auf, speziell in dem von beiden Bevölkerungsgruppen bewohnten Ort Phoenix. So hat die linksradikale Oppositionspartei »Economic Freedom Fighters (EFF)« zu einer Demonstration aufgerufen unter dem Motto: Marsch nach Phoenix gegen rassistische Inder! [Frankfurter Allgemeine vom 31.8.2021] (135) Nicht anders steht es mit dem Vorwurf an die Gegenseite, politische Krisen für die eigenen politischen Ziele auszunutzen. So etwas tut nur die Gegenseite, ganz grundsätzlich. Die CDU-Fraktion hat der Opposition vorgeworfen, die Vorwürfe sexuel ler Belästigung in der baden-württembergische[n] Polizei für politische Geländegewinne zu nutzen. Man nehme das Thema sexuelle Belästigung sehr ernst, sagte Fraktionschef Manuel Hagel am Freitag in Stuttgart. »Das unterschiedet uns von der Opposition, dass wir es deshalb nicht nutzen für billige politische Geländegewinne oder Parteiengezank.«
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[Schwarzwälder Bote vom 15. Januar 2022] (136)
Und schon hat man etwas ausgenutzt, was auszunutzen man gerade bestreitet und verurteilt. Ein kompliziertes Paradox ist die sog. Bielefeld-Verschwörung – kom pliziert dadurch, daß die Stadt Bielefeld diese verbreitete Behauptung, es gebe sie gar nicht, für Marketing-Zwecke aufgegriffen hat: Wer auf einer Party sagt, dass er aus Bielefeld kommt, erhält so gut wie immer als Antwort: »Bielefeld gibt es doch gar nicht.« Viele Bielefelder können über diesen immer gleichen Dialog nicht mehr lachen, die meisten Nicht-Bielefelder finden ihn trotzdem lustig. Wieder andere nehmen die Verschwörungstheorie für bare Münze – die Stadt Biele feld zum Beispiel. Sie hat in einem Wettbewerb eine Million Euro für den ersten Einsender ausgelobt, der beweisen kann, dass die Theorie stimmt. In den offiziellen Wettbewerbsbedingungen heißt es: »Der Teilnehmer muss die Nichtexis tenz beweisen. Hierzu ist eine erschöpfende Beweisführung erforderlich, die durch nichts und niemanden zu erschüttern ist.« Die Resonanz ist enorm. »Die Zahl der Einreichungen sprengt unsere kühnsten Erwartungen«, sagt Jens Franzke, der Leiter des Teams Stadt werbung und Kommunikation. Kurz vor Ende der Einreichungsfrist am Mittwoch um Mitternacht hatten bereits 1800 Menschen mitgemacht. Die meisten von ihnen kommen aus Deutschland, jeder fünfte Beweis aber wurde per Mail aus dem Ausland abgeschickt. Unter den Einsen dern sind Menschen aus Weißrussland, Japan und Neuseeland, aus Kanada, Australien und Südamerika. »Die Bandbreite der Beweise ist riesig«, sagt Franzke. Einige seien »richtig gut gemacht«. Die aussichtsreichsten Bewerber argumentier ten mit der Erkenntnistheorie, die auf philosophischer Basis die Vor aussetzungen für Erkenntnisgewinn hinterfragt. Andere Einreicher bemühten die Quantenphysik. Ein Mathematiker wiederum schickte eine zweiseitige Herleitung voller komplizierter Formeln. »Am Anfang hat er Bielefeld als Variable eingesetzt, die am Ende herausgekürzt wird«, sagt Franzke. »Als Laie haben Sie da keine Chance. Sie wissen nicht, wo er den Trick eingebaut hat.« Um diesen und andere Beweise zu prüfen, wird die Marketingabteilung der Stadt in den kommenden Wochen wissenschaftliche Experten hin zuziehen. Anschließend entscheidet ein dreiköpfiges Gremium. »Sollte es jemandem gelingen, die Nichtexistenz zu beweisen, benachrichtigen wir schriftlich«, versichern die Teilnahmebedingungen, in denen der Rechtsweg ausgeschlossen wird.
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Was aber, wenn sich jemand damit nicht zufriedengibt und mit seiner »erschöpfenden Beweisführung« vor ein real existierendes Gericht zieht? Um das zu verhindern, hatte die Marketingabteilung im Vorfeld eine Anwaltskanzlei beauftragt, den Ausschreibungstext zu verfassen. »Wir gehen davon aus, dass unsere Teilnahmebedingungen gerichts fest sind und wir nichts zu befürchten haben.« Doch auch an den Fall der Fälle hat er gedacht: Sollte ein Gericht die Stadt anweisen, die Million auszubezahlen, ist das Geld vorhanden. Die Stadt hat nämlich 56 Sponsoren, die ihr jedes Jahr zusammen 330000 Euro für Werbeaktivitäten spenden. Sollte die Million also ausgezahlt werden müssen, wäre »nur« der Werbeetat für drei Jahre weg, nicht aber das Geld der Steuerzahler. »Das Preisgeld steht zur Verfügung«, beteuert Franzke. Mit einer Einschränkung: »Wenn jemand beweisen kann, dass es uns nicht gibt – wer soll dann das Preisgeld zah len?« [Christoph Schäfer in: Frankfurter Allgemeine vom 5.9.2019] (137)
Selbst der allerklarste Beweis, daß es Bielefeld nicht gibt, gerade der allerklarste Beweis könnte also von der Stadt Bielefeld dazu genutzt werden, die Auszahlung eines von ihr ausgelobten Preisgeldes zu verweigern, weil es – wie dieser Beweis zeigen würde – niemanden gibt, der ihn ausgelobt hat und auszahlen könnte. So sagt es ... ja, wer eigentlich? Eine Variante des bekannten Aufmerksamkeits-Paradoxes (»Denken Sie an einen Elefanten, aber nicht an seinen Rüssel!«) ist die folgende: Denken Sie an einen US-Präsidenten, der im Weißen Haus Sex mit einer Praktikantin hatte, aber dabei nicht an einen bestimmten Präsiden ten! (138)
Versuchen Sie es! Das gelingt höchstens dann, wenn Sie zufällig den Namen vergessen haben. Manche britische Politiker, so heißt es, betonen ihre Volkstümlichkeit durch den sog. Oxford Stutter: ein antrainiertes Stottern von Studenten und Absolventen der Elite-Universität – eine sehr britische Form der Arroganz. [Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 8.9.2019] (139)
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Eine weitere anglophone Paradoxie mit herablassender Tendenz aus dem Bildungswesen sind die »Sophomores«: Als Sophomores (vermutlich von griechisch σοφός sophós, deutsch ›weise‹, und μωρός mōrós, deutsch ›närrisch, dumm‹, gemeinsam in etwa »weiser Narr«) werden im Bildungssystem der Vereinigten Staaten und anderer Staaten, wie beispielsweise Malaysia, in der Regel Schü ler und Studenten im zweiten Jahr an ihrer jeweiligen Bildungseinrich tung bezeichnet. [Wikipedia s.v. Sophomores, aufgerufen am 12.11.2019] (140)
Beide Seiten müssen verlieren, damit eine Win-win-Situation entsteht. (141) So sagte es paradox und auch kryptisch der serbische Präsident Vučić in einem Interview zu den Verhandlungen mit dem Kosovo über künftige Beziehungen zwischen Serbien und einem Staat, von dem Serbien bestreitet, daß er einer ist. [Der Standard, 21. Oktober 2019] Da ahnt man schwierige Verhandlungen. Womöglich noch kryptischer, aber doch ernstgemeint ist die Klugheitsregel, die ein Priester Untergrundkämpfern für das Überle ben im Widerstand auf den Weg gibt: Don’t trust what you know. [Ang Hupa (Lav Diaz, Philippinen 2019) – Fundstelle im Internet: https://www.hollywoodreporter.com/review/halt-review-1212 084, aufgerufen am 3.11.2019] (142) »Don’t trust what you see«, dachte ich beim Anblick der folgenden Zeitungsschlagzeile: Freie Bahn für Tempo 30. [Pforzheimer Zeitung vom 18. Januar 2020 zu einem Leitartikel über die Ausweitung von Tempo-30-Zonen] (143) Ob da ein witziger Redakteur am Werke war? Aber vielleicht hat er tatsächlich nur im Blick, daß da ein verkehrspolitisches Projekt durchgesetzt werden konnte. Da Demokratien auf freien Wahlen beruhen und freie Wahlen eine Auswahl gestatten, ist die Auswahlparadoxon von Bedeutung: Je mehr Wahlmöglichkeiten, desto schwieriger die Wahl. [Dynamische Wege aus dem Dilemma – Interview mit der Psychologin Katharina Voigt; in: Frankfurter Allgemeine vom 13.11.2019] (144) Das kann zu einer Lähmung der Entscheidungsfähigkeit führen und läuft dann hinaus auf: Je mehr Wahlmöglichkeiten, desto weni ger Wahlmöglichkeiten. Natürlich gilt dies nicht nur für politische Wahlen, sondern für all die Möglichkeiten, die uns eine liberale Gesellschaft bietet. Ein Leben, in dem unsere Entscheidungen durch
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vorgegebene Rollen und Verhaltensmuster bestimmt, also nicht frei sind, mag beengter sein, ist aber auch einfacher. Das zeigt sich sogar in der Ökonomie, mit einer ebenfalls paradoxen Folge: Dort kennt man das Paradox des Überflusses (oder Ressourcenfluch): Eine Wirtschaft, die so erfolgreich ist, daß sie einen Überfluß produziert, zerstört den Anreiz, erfolgreich zu produzieren, und erzeugt so einen Mangel. Ein Zuviel wird zu einem Zuwenig. [https://de.wikipedia.org/wiki/Res sourcenfluch; aufgerufen am 7.10.2022] (145) Staaten mit wehr wenigen Wahlmöglichkeiten, also Diktaturen, haben ihre eigenen Probleme: mit Mißtrauen, Überwachung und Geheimhaltung. In der DDR etwa konnte das eigentümliche Blü ten hervorbringen: STANDARD: Unter Ihren damaligen Bandkollegen gab es auch IMStasi-Spitzel. Sind Sie nicht wütend auf den repressiven Überwa chungsstaat DDR? Flake: Auf IM-Spitzel in den Bands bin ich nicht wütend. Denn die haben durch ihren IM-Status oft erst ermöglicht, dass die Bands überhaupt existieren konnten. Die Stasi hat ja nicht ihre eigenen Leute eingesperrt. Bestes Beispiel dafür ist die DDR-Band Die Firma. Die wurde von IMSpitzeln gegründet. Der Gag bestand darin, dass »Die Firma« eigentlich ein Synonym für »Stasi« war. Von der Stasi gedeckt, haben die dann staatsfeindliche Texte gesungen. Fast schon wieder genial. [aus einem Interview mit dem Rammstein-Keyboarder Flake in: Der Standard, 26. Jänner 2020] (146)
Ein erfolgreicher Spitzel muß sich halt geschickt tarnen, und wenn es sein muß, dann als Systemkritiker, um unter Systemkritikern nicht durch ostentative Staatstreue aufzufallen. Besonders zu Paradoxien neigen anscheinend Kriege und Kriegsberi cherstattung. So zitiert der Schriftsteller Paul Auster eine Meldung der US-Streitkräfte aus dem Vietnamkrieg: Wir mussten das Dorf zer stören, um es zu retten. [Paul Auster, 4321. Reinbek bei Hamburg 2017, S. 735] (147) Nun, ehe man es dem Feind in die Hände fallen läßt ... In diesem Sinne werden im Krieg natürlich viele Dörfer, sogar ganze Städte gerettet. Und die Menschen darin gleich mit. Überhaupt, der Krieg: Niemand will Krieg, und doch werden seit Jahrtausenden immer wieder Kriege geführt. (148) Ist die Beteuerung »Wir wollen keinen Krieg« schlicht eine Lüge, oder gerät man in einen Krieg, ohne ihn zu wollen?
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Lernen die Menschen aus solchen Erfahrungen? Lernen sie aus der Geschichte? Mahatma Gandhi war da offenbar skeptisch: Die Geschichte lehrt die Menschen, daß die Geschichte die Menschen nichts lehrt. [Zitiert nach: Emma Braslavsky: Leben ist keine Art mit einem Tier umzugehen. Berlin 2016, S. 238] (149) Nicht nur die Politik, sondern auch das Berichten über sie, also der Journalismus, steht vor einer paradoxen Situation: Für die Zeitung zu arbeiten hieß, sich auf die Welt einzulassen, und zugleich, sich von ihr zurückzuziehen. Wenn Ferguson seine Sache gut machen wollte, würde er beide Seiten des Paradoxes annehmen und ler nen müssen, das Sowohl-als-auch auszuhalten: einerseits ins Getümmel eintauchen, andererseits als neutraler Beobachter am Rand zu stehen. [Paul Auster: 4321. A.a.O., S. 744] (150)
Speziell blüht im Krieg die Propaganda – natürlich auch sonst, aber hier ganz besonders. Das ergibt das Paradox des Lauten: Jeder, der brüllt und übertreibt, will auffallen, um gehört zu werden. Aber wenn alle brüllen und übertreiben, fällt niemand mehr auf, wird niemand mehr gehört. (151)
Jedes erfolgreiche Mittel, herauszustechen aus dem Normalen, wird nachgeahmt, dadurch normal, und so zerstört es seinen eige nen Effekt. Zugleich empfiehlt sich in einer Demokratie die Beherrschung der paradoxen Fähigkeit, über andere herauszuragen, ohne zu sagen, daß man über andere herausrage; beim Gleichheitsgrundsatz sind die Bürger empfindlich, und zwar so empfindlich, daß man jetzt von Bürgerinnen und Bürgern sprechen muß. Da gilt das Motto: Man sieht herab auf Leute, die auf Leute herabsehen. Um das Paradox zu verschleiern, läßt man freilich gerne den ersten Teil dieser Aussage weg und schimpft »nur« über solche Leute. Ich meinerseits sehe auf Leute herab, die auf Leute herabsehen, die auf Leute herabsehen, denn sie sind blind für die Paradoxie, die darin liegt. (152) So kann man mit Jonathan Franzen sagen: Dummheit hielt sich für Intelligenz, während Intelligenz ihre eigene Dummheit durchschaute. Ein interessantes Paradox. [Jonathan Franzen: Unschuld. Reinbek bei Hamburg 2015, S. 204] (153) Auch macht man sich gerne lustig über Leute, die sich über andere Leute lustig machen. (154)
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Kritisch wird es – wie das Wort schon sagt – in einer Krise; dann sind bei Politikern griffige Formeln gefragt, die entweder über das Problem hinwegreden oder es doch zumindest so benennen, daß den Zuhörern das Gefühl vermittelt wird: hier hat jemand die Lage souverän im Griff. So gab die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel am 18. März 2020 zur Corona-Krise die Parole aus: Eng beieinander ste hen, indem wir Abstand voneinander halten! (155) Das klang nicht nur witzig, sondern erweckte auch den Eindruck, es gebe einen Weg, um die Krise zu meistern, und Frau Merkel kenne ihn – auch wenn es paradox klang. Oft gilt dann für Politiker: Wenn sie ernst werden, wir ken sie komisch. (156) Da läßt dann klarerweise die Satire nicht lange auf sich warten: Alle Corona Regeln, endlich vollständig und übersichtlich zusammenge fasst und erklärt* 1. 2. 3. 4.
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Im Prinzip dürfen Sie das Haus nicht verlassen, aber wenn Sie möchten, dann dürfen Sie das natürlich. Masken sind nutzlos, aber Sie sollten unbedingt eine tragen, denn das kann Leben retten. Alle Geschäfte sind geschlossen, außer denen, die geöffnet sind. Also die kleinen, die wichtigen, die etwas größeren und manche anderen auch. Dieses Virus ist potenziell tödlich, aber dennoch nicht allzu beängstigend, außer dass es eventuell zu einer globalen Katastrophe führt, bei der dann sehr viele sterben. Oder es sterben weniger, dafür aber mehr durch die Folgen des Wirtschaftskollapses oder auch beides. Es stirbt auf jeden Fall jemand. Jeder muss ZUHAUSE bleiben, aber es ist wichtig, auch RAUSZUGEHEN, besonders bei Sonnenschein, aber es ist besser, nicht rauszugehen, außer natürlich für Sport, aber eigentlich: NEIN. Es gibt keinen Mangel an Waren im Supermarkt, aber es gibt Dinge, die fehlen, und andere sind zur Zeit nicht da. Das Virus hat keine Auswirkungen auf Kinder, außer auf diejenigen, auf die es sich doch auswirkt. Haustiere sind nicht betroffen, aber es gibt immer noch eine Katze, die im Februar in Belgien positiv getestet wurde, als sonst noch niemand getestet wurde, plus ein paar Tiger hier und da und selten Hunde, eigentlich keine Hunde, aber manchmal schon. Jegliche Oberflächen, außer dem Fell ihres Haustieres, können die Krankheit natürlich übertragen. Sie werden viele Symptome haben, wenn Sie krank sind, aber Sie können auch ohne Symptome krank werden, Symptome haben, ohne krank zu sein, oder ansteckend sein, ohne Symptome zu haben.
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10. Man darf nicht in Altersheime gehen oder seine Großeltern besuchen, um sie zu schützen. Aber man muss sich um die Alten kümmern und ihnen am besten Lebensmittel und Medikamente mitbringen. 11. Das Virus bleibt auf verschiedenen Oberflächen zwei Stunden lang aktiv. Nein vier, ich meine sechs! Habe ich Stunden gesagt? Vielleicht Tage. Es braucht auch eine feuchte Umgebung um zu überleben. Aber nicht unbe dingt. 12. Das Virus verträgt keinen Alkohol, der die Symptome aber verschlimmern kann. Dasselbe gilt für Nikotin. Das Rauchen können Sie ohnehin verges sen, denn drinnen schadet es Ihren Mitmenschen, und rausgehen dürfen Sie nur zum Sport. 13. Das Virus bleibt eigentlich nicht in der Luft, aber manchmal schon. Vor allem in geschlossenen Räumen. Gehen Sie also viel an die frische Luft, falls Sie das dürfen. 14. Es handelt sich grundsätzlich nicht um Schmierinfektionen, aber eine Schmierinfektion ist auch möglich. 15. Wir sollten so lange eingesperrt bleiben, bis das Virus verschwindet, aber es wird nur verschwinden, wenn wir eine kollektive Immunität erreichen, also wenn es zirkuliert. Dafür dürfen wir nicht zu viel eingesperrt sein, deswegen bleiben Sie besser die meiste Zeit Zuhause. 16. Sollten Sie erkrankt gewesen sein, werden Sie möglicherweise später wieder erkranken, zwischen den Infektionen sind Sie aber immun und gesund, es sei denn sie sind ohnehin krank. 17. Benutzen Sie Ihr Gehirn, und wenn nicht, halten sie einen enormen Vorrat an Mehl, Hefe, Nudel und Toilettenpapier bereit – das wird helfen. 18. Wenn Sie alle diese Regeln befolgen, sind Sie gerettet. Oder auch nicht. Oder Sie sind gerettet, aber durchgedreht. Dann halten Sie sich bitte unbedingt an Regel 1. * In Ihrem Bundesland kann es abweichende Regeln oder zusätzliche oder gänzlich andere Regeln geben. Und in Ihrer Stadt natürlich auch! Manchmal auch nur zeitversetzt dieselben Regeln, nachdem diese abge schwächt oder verschärft wurden oder die Kanzlerin eine Pressekonferenz von Sebastian Kurz gesehen hat. Verfolgen Sie deshalb die lokale Presse ihrer drei Nachbarstädte, die Pressekonferenzen Ihres Ministerpräsidenten und die von Kanzleramt, Innenministerium und Gesundheitsministerium und folgen Sie dem Robert-Koch-Institut und drei Virologen ihrer Wahl auf Twitter, TikTok und Tinder. [https://unbesorgt.de/alle-corona-regeln-endlich-vollstaen dig-und-uebersichtlich-zusammengefasst-und-erklaert/ – aufgerufen am 25.4.2020] (157)
Wer da noch sagt: alles klar!, der weiß mehr als alle Fachleute.
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Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie sprachen selbst diese Fachleute 2020 von einem Präventionsparadox: Damit war gemeint, daß die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie in Deutschland (Shutdown) so erfolgreich waren, daß viele Leute die Maßnahmen für übertrieben hielten, weil die Pandemie doch gar nicht so schlimm sei. (158) In der Tat können Maßnahmen durchaus zu erfolgreich sein; in diesem Falle hat jedoch die Entwicklung der Infektionszahlen wegen neuer Covid-Varianten die Fachleute eines Besseren belehrt. Kombiniert man noch die Corona- mit der Flüchtlingskrise, dann können sogar die Bürger (und Bürgerinnen) zu paradoxen Konse quenzen neigen: 2015: »Macht die Grenzen dicht!« 2016: »Macht die Grenzen dicht!« 2017: »Macht die Grenzen dicht!« 2018: »Macht die Grenzen dicht!« 2019: »Macht die Grenzen dicht!« 2020: »Alter, wieso sind die Grenzen dicht? Ich will in Urlaub fahren!« [Sarah Bosetti, 2020] (159)
Es gibt ferner einen Typus von Paradoxien durch zirkuläre Vorausset zungen. Das bekannteste Beispiel dürfte das aus dem Hauptmann von Köpenick stammen (oder sogar aus der Behördenpraxis): Um eine Wohnung zu bekommen, muß man einen Arbeitsplatz nachweisen; um einen Arbeitsplatz zu bekommen, muß man eine Wohnung nachweisen. Von dieser Art habe ich während der Corona-Pandemie zwei Fälle erlebt: ●
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Im Zuge der Corona-Bekämpfung wurden hier auf dem Lande keine Fahrscheine mehr im Bus verkauft. Fahrscheine konnte man online kaufen oder – und jetzt folgt für diejenigen, die kein Smartphone bzw. nicht die App dazu besitzen, die Paradoxie – im Vorverkauf. Um mit dem Bus fahren zu dürfen, mußte man im Vorverkauf einen Fahrschein erwerben. Um zur nächsten Vorverkaufsstelle zu kommen, mußte man mit dem Bus fahren. (160) Eine Bekannte wohnt im Elsaß und arbeitet in Baden. Nach der Grenzschließung zwischen Frankreich und Deutschland, ebenfalls dank Corona-Maßnahmen, durfte sie von ihrer Wohnung nur noch mit der Bescheinigung ihres deutschen Arbeitgebers (systemrelevante Tätigkeit) nach Baden zu ihrer Arbeitsstelle einreisen; um aber die Bescheinigung zu bekommen, mußte sie nach Baden zu ihrer Arbeitsstelle reisen. (161)
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Überhaupt sind Sicherheitsmaßnahmen häufig einer speziellen Art von Paradoxie ausgesetzt: 1.
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Um mehr Sicherheit zu gewähren, soll man oft seine Paßwörter wechseln. Wenn man aber oft seine Paßwörter wechselt, wählt man einfachere Paßwörter, um nicht durcheinander zu kommen und sie sich leichter merken zu können. (162) Eine Linie zwischen Straße und Fahrradweg soll beide Straßen voneinan der trennen und den Fahrradfahrern Sicherheit bieten. Untersuchungen haben aber ergeben, daß Autos näher an die Fahrradfahrer fahren, wenn es eine Linie gibt, als wenn es keine Linie gibt. (163) [https://www.albertmartin.de/altgriechisch/forum/?view=518 1#144; aufgerufen am 28.12.2022]
Politik ist überhaupt ein schwieriges Geschäft, vor allem dann, wenn man es allen recht machen will. Und wenn das dann auch noch für Gott und den Teufel gelten soll ... Kaiser Napoleon I. hat es auf den Punkt gebracht: Politik ist die Kunst, Gott so zu dienen, daß der Teufel darüber nicht böse wird. [Karl Julius Weber: Und so verzeiht mein spöttisch Maul. Demo kritos oder Hinterlassene Papiere eines lachenden Philosophen. Auswahl in 2 Bdn., hrsg. v. Jürgen Rauser. Schwäbisch Hall 1966; Bd. 2, S. 151] (164)
Auch in der Bildungspolitik gelten Normen, die zu beachten sind, will man nicht empörte Reaktionen hervorrufen. So darf man z.B. über behinderte Kinder nichts Negatives sagen, am besten nicht einmal mehr, daß sie behindert sind. Das gestaltet sich freilich in der Durchführung schwierig. So heißt es über eine Schule mit Inklusion: Was für die Kinder das Normalste von der Welt ist, bringen sie zu Hause ihren Familien bei: Die blinde Freundin ist nicht »anders«, sie kann nur nicht sehen. [Frankfurter Allgemeine vom 14.9.2020] (165)
Da wird ein Anderssein bestritten und direkt danach zugestanden, denn ohne das Anderssein zu benennen, kann man ja nicht ausdrü cken, wer »nicht anders« ist. Ein Staat mit offenbar besonders paradoxer Struktur war anschei nend die DDR, jedenfalls wenn man dem folgenden Plakat traut: DIE SIEBEN WELTWUNDER DER DDR:
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Obwohl niemand arbeitslos ist, hat die Hälfte nichts zu tun. Obwohl die Hälfte nichts zu tun hat, fehlen Arbeitskräfte. Obwohl Arbeitskräfte fehlen, erfüllen und übererfüllen wir die Pläne. Obwohl wir die Pläne erfüllen und übererfüllen, gibt es in den Läden nichts zu kaufen. Obwohl es in den Läden nichts zu kaufen gibt, haben die Leute fast alles. Obwohl die Leute fast alles haben, meckert die Hälfte. Obwohl die Hälfte meckert, wählen 99,9 Prozent die Kandidaten der Nationalen Front. [Schaufenster eines Geschäftes (»Volkskammer Wismar«) in Wismar 2016] (166)
Das ist sicher nicht in polemischer Absicht aus der Luft gegriffen; es reflektiert lediglich den Widerspruch zwischen Theorie (Ideologie) und Praxis (gesellschaftliche Realität). Und diese Art von Paradoxie ist nun wirklich üppig erblüht in denjenigen sozialistischen Staaten, die durch die Prägungsphase der Stalin-Ära gegangen sind, in der Hunderttausende erschossen wurden, während die Todesstrafe offizi ell abgeschafft war, in der man in der besten aller Gesellschaften lebte und es nicht wagen durfte, daran den geringsten Zweifel zu äußern. Das hat, was das Ausmaß an Absurdität angeht, schon die Qualität von The Flat Earth Society has members all around the globe. [https://twitter.com/daily_hegel/status/988097805813239808; aufgerufen am 12.10.2020] (167) Man kann geradezu konstatieren: Ein Kriterium für eine Diktatur ist, daß man sie nicht Diktatur nennen darf. Ein Staat, den man ungestraft als Diktatur bezeichnen darf, ist keine. (168)
Und: Wenn jemand nur Gutes über sich berichtet, ist das ein schlechtes Zeichen. (169) Diese systembedingte Paradoxie, welcher geradezu als Wille zur Lüge auftritt, findet man – wenig überraschend – auch in der Ära des Nationalsozialismus. Die Paradoxie als Lüge: So schrieb etwa der SS-Brigadeführer Franz Walter Stahlecker, Leiter der Einsatzgruppe A des SD, im Oktober 1941 über die Judenpogrome in Lettland: [...] Nicht minder wesentlich war es, für die spätere Zeit die feststehende und beweisbare Tatsache zu schaffen, daß die befreite Bevölkerung aus sich selbst heraus zu den härtesten Maßnahmen gegen den bolschewis
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tischen und jüdischen Gegner gegriffen hat, ohne daß eine Anweisung deutscher Stellen erkennbar ist. [...] Ebenso wurden schon in den ersten Stunden nach dem Einmarsch, wenn auch unter erheblichen Schwierigkeiten, einheimische antisemiti sche Kräfte zu Pogromen gegen die Juden veranlaßt. Befehlsgemäß war die Sicherheitspolizei entschlossen, die Judenfrage mit allen Mitteln und aller Entschiedenheit zu lösen. Es war aber nicht unerwünscht, wenn sie zumindest nicht sofort bei den doch ungewöhnlich harten Maßnahmen, die auch in deutschen Kreisen Aufsehen erregen mußten, in Erscheinung trat. Es mußte nach außen gezeigt werden, daß die einheimische Bevölke rung selbst als natürliche Reaktion gegen jahrzehntelange Unterdrückung durch die Juden und gegen den Terror durch die Kommunisten in der vorangegangenen Zeit die ersten Maßnahmen von sich aus getroffen hat. [E. F. Zielke / H. Rothweiler: Sittengeschichte des Zweiten Welt krieges. Hanau o.J., 2. Aufl., S. 516 f.] (170)
Eine feststehende und beweisbare [!] Tatsache zu schaffen, das kann hier ja nichts anderes bedeuten, als sie zu erlügen. Die Lüge schafft ihre eigenen Beweise, womit der Begriff des Beweises in eine Parado xie verwandelt wird. Und dies wird, zumindest im vertrauten Kreis, explizit ausgesprochen! Da es in der Politik um Erfolg geht, paßt auch die folgende Bemer kung hierher: Warum will alle Welt immerzu Erfolg haben? Ich möchte mal jemand kennenlernen, der scheitern will. Nur im Scheitern ist Erhabenheit. [John Dos Passos: Manhattan Transfer. Reinbek 22016, S. 231] (171)
Daß nur im Scheitern Erhabenheit liegt, ist eine anspruchsvolle Annahme, die sich unter Politikern wohl nicht ausbreiten wird; sie ist dem Erfolg nicht günstig. Deswegen sagte ein Politiker auch, wenngleich nicht ohne Paradoxie: Aufgeben existiert nicht in meinem Wortschatz. [so der brasilianische Präsident Lula nach seiner Entlas sung aus dem Gefängnis; in: Frankfurter Allgemeine vom 12.3.2021] (172) Weil er es verwendete, gehörte es offensichtlich doch zu seinem Wortschatz. Etwas, das man angeblich überhaupt nicht kennt und dennoch erwähnt, begegnet einem in Reden häufiger. Das hat die Glaubwürdigkeit eines Dementis. Dementi: Bestätigung einer Nach richt, die bisher nur ein Gerücht war. [Ambrose Bierce: Wörterbuch des Teufels] (173) Man bestätigt durch Leugnung – so ist menschliche
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Kommunikation gestrickt. Selbst »Kein Kommentar!« ist ein Kommen tar. (174) Und wird in Interviews auch gerne so eingesetzt. Wie schon das Sprichwort sagt: Keine Antwort ist auch eine Antwort. (175) Hier gilt: Wenn jemand sagt: »Es ist nicht so, wie du denkst«, dann ist es garantiert genauso, wie man denkt. [Film In Berlin wächst kein Orangenbaum (2020)] (176) Und so auch im folgenden Fall: Die US-amerikanische Regierung hat angekündigt, angesichts der chinesischen Menschenrechtsverlet zungen (Uiguren usw.) keine offiziellen diplomatischen Vertreter zu den Olympischen Winterspielen 2022 nach China zu schicken. Das chinesische Außenministerium beruft eine Pressekonferenz ein und läßt seinen Sprecher die Drohung mit »resoluten Gegenmaßnahmen« äußern. Der Sprecher der chinesischen Botschaft in Washington schreibt auf Twitter: Es kümmert niemanden, ob diese Leute kommen oder nicht, und es hat keinerlei Einfluss auf die erfolgreiche Austragung von Peking 2022. [Frankfurter Allgemeine vom 8.12.2021] (177)
Es kümmert niemanden, schon gar nicht die chinesische Regierung? Um das zu verkünden, betreibt man auffällig viel Aufwand. Eine Posse aus dem Bereich des höchstrichterlichen Rechts ist die folgende Geschichte: Eine Journalistin namens Lydia Rosenfelder begehrte vom Bundesverfassungsgericht Auskunft über ein gemein sames Abendessen von Verfassungsrichtern mit der damaligen Bun deskanzlerin Angela Merkel und einigen ihrer Minister. Was wurde da besprochen? Das Verfassungsgericht schrieb der Journalistin wiederholt, es ver weise auf die bisherige Korrespondenz. Ein perfider Zug, schreibt LTO-Chefredakteur Felix W. Zimmermann [LTO: eine juristische Fachpublikation]: »Diese Formulierung wurde zur Standardantwort, mit der das Gericht die Fragen der Journalistin jedes Mal aufs Neue ins Leere laufen ließ. Ihre Fragen wurden nicht beantwortet, stattdessen auf eine vorangegangene Korrespondenz verwiesen, die mit den Fragen nichts zu tun hatte.« Besonders kafkaesk: Auch auf die Frage, auf welche bisherige Korrespondenz Bezug genommen würde, erhielt Rosenfelder die Antwort: »Ich verweise auf die bisherige Korrespondenz.« [Frankfurter Allgemeine vom 29.6.2022: Karlsruhe war zu maul faul] (178)
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Schließen wir das Kapitel Politik mit einer Paradoxie zum Schmun zeln: Diese Woche sagte Bundeskanzler Olaf Scholz einen Satz, der nicht nur typisch für ihn ist, sondern programmatisch. Es war am Ende einer Pressekonferenz am Dienstag. Ein Journalist hatte wissen wollen, ob die westlichen Partner jetzt doch noch ein Gasembargo gegen Putin planten, und Scholz antwortete, seine Regierung arbeite daran, von russischem Gas unabhängig zu werden: »Wie schnell wir damit fertig werden, sagen wir, wenn wir’s geschafft haben.« Ein Satz wie in Watte gemeißelt. [Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 24.4.2022] (179)
Hier handelt es sich zwar um einen aktuellen Fall, aber die Formulie rung taugt für so manche Politiker-Äußerung im Wettbewerb der Kunst, mit vielen Worten möglichst wenig zu sagen.
3. Religion und Kirche Wir verlassen nun den Bereich der Politik, um uns dem Thema Religion und Kirche zuzuwenden. Auch dort werden wir rasch und vielfach fündig. Beginnen wir mit dem Wichtigsten: Wer ist das eigentlich – Gott? »Du sollst dir kein Bildnis machen«, heißt es, leicht verkürzt, im Dekalog. Und bei den Juden darf man den Namen Gottes nicht einmal aussprechen. Selbst unter christlichen Theologen gibt es die Auffas sung, die Transzendenz Gottes mache es uns unmöglich, irgendeine bestimmte, definierte Aussage über ihn zu machen (die sog. Negative Theologie). So gelangen wir zu dem Standpunkt: Es gibt etwas, das man nicht benennen kann. (180) Nun ist aber genau dies der einzig angemessene Name für Gott, d.h. die Unbenennbarkeit ist sein Name. Nehmen wir uns weiterhin einmal das christliche Glaubensbe kenntnis vor: Credo in unum Deum, patrem omnipotentem, factorem caeli et terrae, visibilium omnium et invisibilium. Et in unum Dominum Jesum Christum, Filium Dei unigenitum. Et ex Patre natum ante omnia saecula. Deum de Deo, lumen de lumine, Deum verum de Deo vero,
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3. Religion und Kirche
genitum, non factum, consubstantialem Patri: per quem omnia facta sunt. [...] Wir glauben an den einen Gott, den Vater, den Allmächtigen, der alles geschaffen hat, Himmel und Erde, die sichtbare und die unsichtbare Welt. Und an den einen Herrn Jesus Christus, Gottes eingeborenen Sohn, aus dem Vater geboren vor aller Zeit: Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt, nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater; durch ihn ist alles geschaffen. [...] [Das Große oder Nizäno-Konstantinopolitanische Glaubensbe kenntnis] (181)
Wir sollen also an einen Gott glauben, der zugleich einen Sohn hat, der mit ihm – ein seinerzeit heftiger Streit – wesensgleich ist, »gezeugt, nicht geschaffen«, »vor aller Zeit«. Der Heilige Geist als dritte Person des einen Gottes kommt dann noch hinzu. Das ist wahrlich ein mysterium fidei, ein Glaubensgeheimnis. Schon bei der Aussage »vor aller Zeit« stockt die Logik: Drückt denn das »vor« nicht ein zeitliches Verhältnis aus? Erst gab es keine Zeit, dann gab es die Zeit – und das soll keine zeitliche Folge sein? Und die eine dieser drei Personen soll dann auch noch zugleich Gott und Mensch sein, wobei man Menschen wohl unter die Nicht-Götter wird rechnen müssen. Da schreibt der frühe Kirchenschriftsteller Tertullian (2. Jhdt.) nicht ohne Grund: Et mortuus est dei filius: prorsus credibile est, quia ineptum est. Et sepultus resurrexit: certum est, quia impossibile. – Und gestorben ist der Sohn Gottes: Das ist geradewegs glaubhaft, weil es unpassend ist. Und begraben ist er auferstanden: Das ist sicher, weil es unmöglich ist. [Tertullian: De carne Christi V] (182)
Wenn es so schwierig ist, Gott zu denken oder auch nur anzusprechen – obgleich viele Menschen es glauben -, dann möchte man mit Luis Buñuel sagen: Ich war gottseidank immer Atheist. (183) Andererseits gehört zum traditionellen Gottesverständnis, d.h. wenn man von der Akribie der Negativen Theologie absieht, gewiß
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seine Ewigkeit. Götter sind unsterblich. In einer Zeit, in der man an Nietzsches Diktum »Gott ist tot« [Die fröhliche Wissenschaft III 125] gewöhnt ist, muß man dann allerdings feststellen: Alle Götter waren unsterblich. [Stanisław Jerzy Lec: Sämtliche unfrisierten Gedanken, a.a.O., S. 28] (184) Etwas unsicherer fragt Lec an anderer Stelle: Viel leicht hat Gott selber mich zum Atheisten erwählt? [a.a.O., S. 32] (185) Und dann sogar: Ob ich gläubig bin? Das weiß nur Gott allein. [a.a.O., S 35] (186) Lec benutzt in Fragen der Religion gerne paradoxe For mulierungen, was sicher seinen Grund hat, und möglicherweise liegt der in einer der Sache angemessenen zweideutigen Einstellung. Eine sehr interessante Gruppe unter den Atheisten gibt es offen sichtlich: Die Jesuiten sind die einzigen Atheisten, die an Gott glauben. [Guillermo Arriaga: Der Wilde. Stuttgart 2018, S. 223] (187) Daß sie an Gott glauben – nun sie sind Jesuiten, Jesus-Jünger; aber die spe zielle Art ihres Glaubens ist schon oft ... seltsam. Auch sind die Anforderungen an ein christliches Leben nicht frei von Paradoxie: Denn wer sich selbst erhöht, der soll erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der soll erhöht werden. [Lukas 14, 11] (188) Darin spricht sich nicht nur eine Sympathie für die »kleinen Leute« aus, sondern auch das Anraten, sich selbst als klein, unbedeu tend und sündhaft anzusehen ... um letztendlich hervorzuragen – ein weiteres Beispiel für die schon erwähnte Paradoxie der Bescheiden heit. Angesichts der zahlreichen Paradoxien speziell im christlichen Glau bensverständnis überrascht uns schon nicht mehr die Jahreslosung der Evangelischen Kirche Deutschlands für das Jahr 2020: Ich glaube, hilf meinem Unglauben. (189) Wie Gott das machen sollte, ist dann schon wieder mehr eine Sache des Glaubens als der Verständnisses. Jedenfalls sagt der auf Gott Hoffende: Ich wünsche mir, daß dieser Wunsch kein bloßer Wunsch bleiben möge. (190) Andere hingegen: Protect me from what I want. [Text einer 1982 von der Konzeptkünstle rin Jenny Holzer in Leuchtschrift über dem Times Square projizierten Arbeit] (191) An den an sich befremdlichen Umstand, daß Jesus Christus ca. sieben Jahre vor Christi Geburt geboren worden ist, (192) haben wir uns inzwi schen gewöhnt. Neue Einsichten führen zu neuen Ansichten, aber dafür muß man nicht gleich die gesamte Zeitrechnung verschieben, was unabsehbare Folgen für ältere Dokumente hätte. (Es ist schon
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schwierig genug, zu verstehen und zu erklären, daß der neunte Monat der siebte [September] ist, der zehnte der achte [Oktober], der elfte der neunte [November] und der zwölfte der zehnte [Dezember].) (193) Für viele Jahrhunderte war die westeuropäische Politik mit der Kirche untrennbar verbunden, d.h. bis zur Reformation mit der katholischen Kirche. Als ein hierarchisches, autoritäres System mit einer als unum stößlich behaupteten Ideologie, christlicher Glaube genannt, war (und ist?) diese ebenfalls systembedingt mit einer Tendenz zur Paradoxie bestückt. Hierfür gebe ich einige Beispiele: Als ein Ungeheuer [Papst Johannes XII.] aus dem Weg war, wählten die Römer Benedikt V. als Ersatz. [Kaiser] Otto [I.] war überlistet und wütend. »Niemand kann ohne Zustimmung des Kaisers Papst sein«, erklärte er. »So ist es immer gewesen.« Seine Wahl war Leo VIII. [4. Dezember 963] Im sechzehnten Jahrhundert behauptete Kardinal Baronius in seinen Kirchlichen Annalen, die Acton als »größte je geschriebene Kirchenge schichte« bezeichnet hat, Benedikt sei der wahre Papst gewesen und Leo der Gegenpapst. Dies ist schwer zu widerlegen. Doch Benedikt fiel reuig zu Ottos Füßen und erklärte sich selbst zum Schwindler. Um dies zu beweisen, legte er seine Regalien ab und bekannte auf den Knien vor Leo, er sei der rechtmäßige Nachfolger Petri. Es ist nicht klar, ob die Behauptung eines echten Papstes, er sei nicht echt, eine Übung in Unfehlbarkeit ist – doch es muß eine Botschaft an die ganze Kirche über Glauben und Moral darin liegen. [Peter de Rosa: Gottes erste Diener. Die dunkle Seite des Papst tums. München 1989, S. 67] (194)
Es ist klar, daß es beim Vorkommen von Papst und Gegenpapst zu allerlei Komplikationen in Form gegenseitiger Beschuldigungen kom men muß; ebenso klar ist es, daß ein solcher Zustand dem Glauben der Gläubigen einiges abverlangt; aber daß ein echter, d.h. für echt erklärter Papst feierlich von sich behauptet, er sei der falsche, das muß, wenn man es recht bedenkt, den Glauben in den Wahnsinn treiben. Es geht aber – unter Einsatz der Folter – noch toller: 1568 wurde die spanische Christin Elvira del Campo von der Inquisition verhaftet und verhört. Sie war denunziert worden, kein Schweinefleisch zu essen und samstags, d.h. am Sabbat, ihre Unterwäsche zu wechseln, also eine heimliche Jüdin zu sein. Wie üblich wurde sie mit dem Vor wurf der Anklage nicht offen konfrontiert, erst recht nicht mit den Zeugen, so daß die Frau, unter Folter aufgefordert, »die Wahrheit« zu
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Unser paradoxer Alltag
sagen, gar nicht wußte, was sie gestehen sollte. »Señores«, schrie sie, »ich habe alles getan, was Sie sagen, und ich gebe falsches Zeugnis gegen mich selbst.« [Peter de Rosa: Gottes erste Diener, a.a.O., S. 210] (195) In dem nebligen Bereich von päpstlicher Unfehlbarkeit und mensch licher Fehlbarkeit kann auch der zum Glück heute abgeschaffte Index verbotener Bücher (Index librorum prohibitorum), welche Rechtgläu bige auf keinen Fall lesen durften (= Zensur), sein Potential für Paradoxien zur Geltung bringen: Selbst bei der Zensur gab es Spaßiges. Zuerst vollbrachte [Papst] Paul IV. [Petrus Carafa, zuvor Generalinquisitor] die Heldentat, sich selbst auf den Index zu setzen [1555]. Es ist eine merkwürdige Geschichte. Ein paar Jahre zuvor hatte Paul III. ein halbes Dutzend Kardinäle ernannt, die unter Carafas Führung alle zu durchleuchten hatten, die in Glauben und Moral von der Orthodoxie abwichen. »Die Schuldigen und die Verdächtigen«, sagte Paul, »sind zu verhaften und vor Gericht zu stellen bis zum end-gültigen Urteil (Tod).« Carafa hatte den Befehl buchstabengetreu ausgeführt. Der Papst wurde nicht belästigt, obwohl er ein hervorragender Kandidat für Nachforschungen war – mit seiner Mätresse, seinen unehelichen Kindern, seinen Geschenken von roten Hüten an seinen Enkel und seine Neffen, die vierzehn und sechzehn Jahre zählten. Im abschließenden Consilium oder Ratschlag an Papst Paul gab es tatsächlich offene Kritik am päpstlichen Absolutismus, Simonie, Mißbräuchen in der Verleihung von Bischofsämtern an unwürdige Kandidaten und vielem mehr. Unglücklicherweise für den Vatikan wurde dies Dokument bekannt. Die Protestanten lasen es mit Entzü cken, weil es alles bestätigte, was sie je über das Papsttum gesagt hatten. Als Carafa Papst wurde, hatte er keine Wahl, als das Consilium, das er geschrieben hatte, auf den Index zu setzen. [Peter de Rosa: Gottes erste Diener, a.a.O., S. 214 f.] (196)
Vor solchen Verrenkungen findet selbst die Wissenschaft keine Gnade. So sagte Papst Urban VIII. zu Galileo Galilei in dem legendär gewordenen Streitfall: »Du magst unwiderlegbare Beweise für die Bewegung der Erde haben. Das beweist nicht, daß die Erde sich wirklich bewegt.« Galileos Augen wurden rund. »Gott ist über dem menschlichen Verstand; und was Menschen vollkommen vernünftig erscheint, kann sich für Gott als Dummheit erweisen.« [Peter de Rosa: Gottes erste Diener, a.a.O., S. 281] (197)
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Daß nicht einmal unwiderlegbare [!] Beweise etwas beweisen, beweist [?], daß schlechthin alles möglich ist, alles behauptet werden kann; und wenn ich einen Kandidaten für eine unüberbietbare Para doxie angeben sollte, dann wäre dies einer. Hier scheint es nur noch um Unsinn zu gehen, und doch können wir nicht ausschließen, daß Papst Urban VIII. daran ernsthaft geglaubt hat. Schließlich hätte er andernfalls zugeben müssen, daß er unrecht hatte. Und das ist nun für gar nicht so wenige Menschen das Allerschlimmste. Vor allem für Päpste. Ein grassierendes Problem der mittelalterlichen Kirche (der heutigen wohl nicht mehr) war der sog. Nepotismus. Darunter ist die Versor gung päpstlicher Verwandter mit wohldotierten kirchlichen Ämtern zu verstehen. Hielten die Päpste sich an den Zölibat, dann handelte es sich dabei natürlich um Neffen (nepotes), andernfalls konnte es auch einmal ein Sohn sein. Diese Sitte wurde nicht von allen Gläubigen als passend für den christlichen Glauben angesehen, und einmal kam es zu einem Widerspruch, der uns ins Paradoxe führt: Papst Innozenz IV. (1243–1254) versuchte, seinen Neffen als Prätendenten für die Nachfolge des Bischofs Grosseteste von Lincoln zu etablieren. Grosseteste empfand das als unschicklich und schrieb dem Papst: Als gehorsamer Sohn bin ich ungehorsam, ich widerspreche, ich rebelliere. Ihr könnt nicht gegen mich vorgehen, denn all meine Worte und Taten sind nicht wirklich rebellisch, sondern die kindliche Achtung, die man nach Gottes Gebot seinem Vater und seiner Mutter schuldet. [Peter de Rosa: Gottes erste Diener, a.a.O., S. 508] (198)
Da ist jemand aus Gehorsam ungehorsam, und wir können es nach vollziehen, denn der Gehorsam bezieht sich auf ein höheres Gebot als das, dem Papst als von Gott eingesetzter höchster Autorität zu gehorchen. Da, so möchte man hoffen, auch der Papst selbst diesem höheren Gebot untersteht, gilt der Gehorsam dem, was der Papst sein müßte, der Ungehorsam dem, was er ist. Eine unappetitliche Quelle von Paradoxien ist das in der katholischen Kirche verbindliche Sakrament der Beichte, wie man an dem folgen den Fall beispielhaft erkennen kann: Im Februar 1535 wurde der Gemeindepriester von Almodovar zahlreicher sexueller Vergehen angeklagt, darunter des Besuchs von Bordellen und der Anstiftung in der Beichte. Er hatte einer jungen Frau die Absolution verweigert, bis
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sie sich bereitfand, mit ihm zu schlafen. Er bekam dafür eine kleine Geldstrafe und dreißig Tage Hausarrest. Das heißt: Ich spreche dich nicht von deinen Sünden frei, bis du zu einer Sünde bereit bist. [Peter de Rosa: Gottes erste Diener, a.a.O., S. 521] (199) In den Bereich der Beichte gehört auch die folgende Geschichte, die zwar als Witz gedacht ist, jedoch – clever genug vorgetragen – auch in der Wirklichkeit funktionieren könnte: [Der Jude] Fleckeles hat frisch konvertiert. Gleich bei der ersten Beichte stiehlt er dem Pfarrer die Uhr und beichtet: »Ich habe eine Uhr gestohlen. Es bedrückt mich. Darf ich die Uhr Ihnen übergeben, Hochwürden.« Pfarrer: »Was fällt Ihnen ein! Ich nehme sie nicht. Geben Sie sie dem Eigentümer zurück.« Fleckeles: »Das habe ich eben versucht. Er will sie nicht.« Pfarrer: »Dann brauchen Sie sich nicht weiter bedrückt zu fühlen und können die Uhr mit gutem Gewissen behalten.« [Salcia Landmann (Hrsg.): Der jüdische Witz. Frankfurt/MainWien-Zürich 1976, S. 501] (200)
Das »Beichtkind« (so wurde das einst ausgedrückt) folgt also der Anweisung des Beichtvaters wörtlich und widerspricht damit dessen Intention, nämlich der Rückgabe des gestohlenen Gutes, zumal es sich um dessen eigene Uhr handelt – nur daß der Beichtvater diese seine Doppelrolle als Beichtvater und Opfer nicht durchschaut. Das ist clever gemacht, vermutlich aber wiederum eine Sünde. Auch auf andere Weise kann man in der Beichte und durch die Beichte sündigen: Ein Mädchen mußte vor der Erstkommunion beichten. Dem Kind fiel nun aber keine Sünde ein. »Dann sagte ich, ich hätte gelogen, obwohl das gar nicht stimmte. Aber weil ich nun hiermit den Beichtvater angelogen hatte, stimmte es wiederum, dass ich die Unwahrheit gesagt habe.« [Leserbrief in der Frankfurter Allgemeine vom 1.8.2009] (201)
Ganz in diesem Sinne habe ich an anderer Stelle das folgende Bei spiel gefunden: Mit der Einführung der Kinderbeichte ab dem 7. Lebensjahr zu Beginn des 20. Jhdts. entsteht ein mir in einigen persönlichen Erinnerungen begegnetes Paradoxon: Das von der Situation überforderte Kind, das nicht weiß, was es beichten soll, oder seine tatsächlichen Verfehlungen für so gering achtet, dass es Gefahr zu laufen glaubt, für unaufrichtig gehalten zu werden, belügt den Beichtvater (im kindlichen Verständnis augustini
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scher Strenge allemal eine schwere Sünde) und erfindet Beichtwürdiges, d.h. in dieser Innenperspektive des Beichtkindes wird eine Verfehlung begangen, um Vergebung zu erlangen für Schuld, die man gar nicht auf sich geladen hat, während diese tatsächliche Verfehlung selbst unerwähnt und unvergeben bleibt. [filix, https://www.albertmartin.de/altgriechisch/forum/?view =5181#148; aufgerufen am 28.12.2022] (202)
Man muß sich halt manchmal eine Lüge ausdenken, um die Wahrheit zu sagen. Zumal dann, wenn die Wahrheit nicht genügt, den Hörer nicht zufriedenstellt. Zu sagen: »Ich bin kein Sünder« ist eine Sünde. [https://www.roemische-messe-regensburg.de/JugendmitGott /pdf/beichtspiegel.pdf, 1. Satz; aufgerufen am 16.8.2020] (203)
Daran führt, christlich gesehen, kein Weg vorbei ... und deshalb auch nicht an der Beichte. Profan gesagt: Anzunehmen, man mache keine Fehler, wäre ein Fehler. Denn wenn jemand nur Gutes über sich berichtet, ist das ein schlechtes Zeichen. Oder: Et non facere facere est. – Auch Unterlassen ist Tun. [Detlef Liebs: Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter. Darmstadt 61997, S. 74] (204) Nun sind die Gelegenheiten zur Sünde aber auch wirklich zahlreich – vor allem dann, wenn man die moralischen Regeln in der folgenden Weise auffaßt, nämlich gemäß dem inoffiziellen Motto des Puritanis mus: Du darfst tun, was du willst, solange es dir keinen Spaß macht. (205) Also: Tu, was du willst, Hauptsache du willst es nicht! Denn nichts anderes bedeutet es ja, Spaß bzw. Freude an etwas zu haben. Wer mag da ein Heiliger sein? Die Heiligsprechung tötet in meinen Augen den Menschen, den ich für einen Heiligen halten könnte. [Sta nisław Jerzy Lec, a.a.O, S. 29] (206) Nicht einmal dann, wenn man nicht glaubt, ist man vor der Sündenschuld sicher: »Mein früherer Rabbi sagte immer: »In Gottes Augen sind wir alle schul dig.« »Glaubst du denn an Gott?« »Nein, aber deshalb fühle ich mich schuldig.« [Woody Allen in Broadway Danny Rose (1984)] (207)
Der Ungläubige denkt freilich: Gott ist wahr, lügt die Bibel. (208) Und wer beharrlich sündigt, ohne zu beichten? Kommt der in die
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Hölle? Dazu habe ich einen ganz eigenen Wunsch: In die Hölle sollten diejenigen kommen, die sie anderen wünschen. (209) Selbst der direkte Umgang mit Gott, nämlich in einem Gebet, kann ohne große Anstrengung paradox geraten: Herr, gib mir Geduld, aber sofort! (211) Man muß, wie man sieht, nur konsequent ungedul dig sein. Am Ende ist uns, sofern wir uns an die Gebote Gottes halten und in unserem Glauben unerschütterlich bleiben, ein Lohn verheißen. Wie auch immer er beschrieben wird, es kann eine Paradoxie darin lie gen: 144000 Menschen werden nach Überzeugung der Zeugen Jehovas am Königreich Christi teilnehmen dürfen. Selbstverständlich nur gute Zeugen Jehovas ... allerdings nicht alle Zeugen Jehovas, denn es gibt und gab ja mehr davon als 144000 – ein gewisser Prozentsatz nur. Ein guter Zeuge Jehovas ist einer, der u.a. mehr Mitglieder für diese Gemeinschaft wirbt, was aber den Prozentsatz der zur Erlösung Zugelassenen vermindert. Durch das Werben neuer Mitglieder vergrößert und verschlechtert also ein Zeuge Jehovas seine Aussichten auf das Königreich Christi. (212)
Zu ihrem Glück legen sich die allermeisten Religionen nicht auf eine genaue und begrenzte Zahl für die Erlösten fest; das ist eine vorsichtige und kluge Entscheidung. Ein eigenes Kapitel macht bei Religionen die Frage der Toleranz innerhalb ihrer Sphäre aus. So sagte mir einmal ein Moslem: »Es steht keinem Moslem zu, über andere Moslems zu urteilen, sie seien keine wahren Moslems.« Ich erwiderte: »Wissen die anderen Moslems außer dir das auch?« Und er sagte: »Die wahren Moslems schon!« (210)
Wie es scheint, erkennt man einen wahren Moslem daran, daß er sich selber nicht als wahren Moslem gegenüber anderen, unwahren Moslems abhebt. Wahr ist in dieser Auffassung ein Moslem also erst dann, wenn er genau das nicht beansprucht. Das könnte eine tiefere Wahrheit beinhalten. Über den Umgang mit der Gotteslästerung, der Blasphemie habe ich im Kapitel über Politik bereits gesprochen: Schon die Frage, ob etwas wirklich blasphemisch sei, kann als Blasphemie gewertet wer den. Bei vielen Menschen unseres Kulturkreises ist heute die religiöse Toleranz beliebt: Man weiß nichts Genaues, und irgendwie mögen sie ja alle recht haben. Leider erweist sich diese Toleranz nicht als eine
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Position, die alle anderen verbindet, sondern als eine mit den anderen konkurrierende Position: Wenn A sagt: »Ich habe recht, und du, B, hast unrecht«, B darauf sagt: »Ich habe recht, und du, A, hast unrecht« und C daraufhin sagt: »Ihr habt beide recht«, dann sagt C damit: »Ihr habt beide unrecht.« Beispiel: A sagt: »Die Gläubigen kommen nach dem Tode in den Himmel, die Ungläubigen in die Hölle«, B aber sagt: »Nach dem Tode sind wir alle nichts«, dann behauptet C, daß beide unrecht haben, indem C sagt: »Beide haben recht, die Gläubigen kommen nach dem Tode in den Himmel, während die Ungläubigen zunichtewerden«, denn dies widerspricht sowohl der Meinung von A als auch der von B. (213; vgl. 29 & 117)
Das heißt, wenn A und B ihren Glaubensstandpunkt als einzig richtig annehmen, dann widerspricht C ihnen durch die Behauptung, beide hätten (irgendwie) recht. Das erinnert ein wenig an das Große Schisma der katholischen Kirche zwischen 1378 und 1417: Als 1409 das Konzil von Pisa einen dritten Papst wählte, um dem Elend zweier konkurrierender Päpste ein Ende zu setzen, erwies sich dieser dritte Papst (Alexander V.) nicht als Überwinder des Streites, sondern als dessen dritter Kontrahent. Paradox ist dies insofern, als sie – sei es nun der obengenannte C, sei es der dritte Papst – gerade dies ja nicht als Absicht hatten; man will den Streit überwinden und macht ihn dadurch nur noch komplizierter. Für all diejenigen, die sich von den monotheistischen Religionen und ihrem anhaltenden Streit um den wahren Glauben nicht angezo gen fühlen, gibt es noch die asiatische Alternative: das »donnernde Schweigen des Buddha« oder »dröhnendes Schweigen«. (214) Die Verweigerung des religiösen Streites in der Form des Schweigens, aber eines Schweigens, das dermaßen auffällig ist, daß es geradezu dröhnt. Ein schwarzes Loch der Kommunikation durch Kommunikationsver weigerung. Besonders systematisch wird dies im Zen-Buddhismus eingesetzt. Hierfür möchte ich drei Beispiele angeben. Die ersten Zeilen des ältesten erhaltenen Zen-Gedichtes lauten: Der vollkommene Weg (Tao) ist schwer nur für die, die (immer) aussuchen und wählen; Habe nicht gerne und ungerne, dann wird alles klar sein. Ein haarbreiter Unterschied, und Himmel und Erde sind getrennt!
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Wollt ihr die Wahrheit klar vor euch stehen sehen, so seid nie ›für‹ oder ›gegen‹. Der Konflikt zwischen ›für‹ und ›gegen‹ ist die schwerste Krankheit des Geistes. [Alan W. Watts: Zen-Buddhismus. Tradition und lebendige Gegenwart. Reinbek 1961, S. 145] (215)
Bedenkt man, daß es paradox für eine Logik mit nur zwei Wahrheits werten ist, weder für noch gegen irgendetwas zu sein, hat man schon die erste Schwierigkeit erfaßt. Daß uns aber hier ein Standpunkt präsentiert wird, der gegen (!) das Für und Wider stehen, also ein Standpunkt gegen Standpunkte sein soll, ist sozusagen eine Paradoxie höherer Ordnung. Da löst sich das Denken selbst auf, und manchmal ist – so heißt es – die Erleuchtung (Satori) die Folge. Roll beide, Gut und Böse, zu einer einzigen Kugel, wickle sie in Papier und wirf sie weg. [Ursula Baatz (Hrsg.): Jittoku lacht den Mond an. Texte der ZenMeister. Wien/Freiburg/Basel 1983, S. 51] (216)
Auch hier haben wir es mit einem paradoxen Befehl zu tun, der wiederum beide Gegensätze verneint und zugleich besagt, daß es gut sei, den Gegensatz von Gut und Böse zu verlassen. Das (verneinte) Gegenteil dazu wäre dann, es bei dem Gegensatz zu belassen. Das aber soll man nicht mehr tun, das wäre nicht gut. Fast wie ein Liebesgedicht in der Phase des Abschiednehmens ist dies: Wenn ich denke, daß ich nicht mehr an dich denke, denke ich immer noch an dich. So will ich denn versuchen, nicht zu denken, daß ich nicht mehr an dich denke. [Paul Watzlawick: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn – Täu schung – Verstehen. München 91982, S. 25] (217)
Auch dies wird von Watzlawick als Zen-Ausspruch zitiert. Das Denken des Nicht-Denkens wird als Denken erkannt und mit dem (immer noch!) Denken des Nicht-mehr-Nicht-Denkens beantwortet. Solange, bis sich das Denken selber vergißt.
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4. Werbung
4. Werbung In einem Bereich, in dem es darum geht, zum eigenen Vorteil (dem des Verkäufers) den Eindruck zu erwecken, es sei einem in erster Linie am Nutzen des anderen (des Käufers) gelegen, in dem obendrein diese Vorteile einseitig hervorgehoben werden (Preise ab ..., Menge bis ...), werden wir erwarten dürfen, daß es gehäuft zu Paradoxien kommt. Und zumindest in dieser Erwartung werden wir – anders als oft beim beworbenen Produkt – nicht enttäuscht. So war auf einem Plakat, das für eine Düsseldorfer Obdachlosen zeitschrift namens »fiftyfifty« warb, zu lesen7:
Ich habe dieses Plakat schon einmal verwendet, nämlich in meinem Buch: Logisches Argumentieren. Stuttgart 2005, S. 132.
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SEX SELLS. ARMUT NICHT. Andere verkaufen mit viel nackter Haut. Das Straßenmagazin fiftyfifty verkauft die ungeschminkte Wahrheit. Und die Hälfte vom Erlös geht direkt an einen obdachlosen Verkäufer. (218) Dabei war »Sex sells« mit dem Bild einer (fast) nackten Frau unterlegt, die dem Betrachter »fiftyfifty« präsentierte. »Armut nicht« war mit dem Bild eines Obdachlosen unterlegt, der ebenfalls »fiftyfifty« prä sentierte. Diese Ausgabe des Magazins soll sich überdurchschnittlich gut verkauft haben – offensichtlich indem man ein Prinzip anwandte, das man zugleich kritisierte. Auf einem anderen Plakat war zu lesen: Gute Plakate müssen nicht gelesen, sie brauchen nur gesehen zu werden! [So der Text! eines Plakates, gesehen am 8.6.2010 in Duisburg; Werbung für Werbung] (219) Ein Text also, der sich von sich selber distanziert und sich für unbedeutend erklärt, jedoch als bedeutend genug angesehen wird, um plakatiert zu werden. Zuweilen – nicht sehr häufig, aber doch manchmal – dient Werbung nicht dem Verkauf eines Produktes, sondern, gleichsam im öffentli chen Interesse, der Förderung eines vernünftigen Verhaltens: etwa der Abstinenz von Alkohol und Nikotin oder der Gewichtsreduzierung durch Sport. Doch auch dabei kann es zu Paradoxien kommen. In diesem Falle: Schützen Sie Ihre Daten vor Mißbrauch! So kann man beobachten und wird mitgeteilt, daß unter den PIN-Codes die Ziffernfolge 1–2–3–4 die am häufigsten gewählte, die Folge 8–0–6–8 die am seltensten gewählte ist. Die daraus abzu leitende Empfehlung ist naheliegend, die Konsequenz ebenfalls: Da die Menschen natürlich an einem schwer zu erratenden Code inter essiert sind, wird diese Nachricht Folgen haben; 8–0–6–8 wird an Beliebtheit zu-, 1–2–3–4 hingegen abnehmen. Dies bedeutet aber: Die Information falsifiziert sich selbst. (220) Das ist wohl immer dann der Fall, wenn mit dem Gegensatz von selten/wenig einerseits und oft/viel andererseits geworben und dadurch für die erste Möglichkeit plädiert wird. Auf diese Weise wird aus einsamen, aber schönen Inseln und malerischen leeren Stränden gerade durch die Werbung für sie das Gegenteil. Die Sehnsucht vieler nach dem, was nur wenige
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haben. Womit wir wieder bei der normalen, der verkaufsfördernden Werbung wären. Gerne wird die Besonderheit eines Produktes hervorgehoben: etwas, das die anderen nicht anbieten – etwas, das das Produkt von allen anderen unterscheidet. So warb die Deutsche Bahn, damals noch Bundesbahn, im Herbst 1966 mit dem Slogan: Alle reden vom Wetter. Wir nicht. (221) Unterlegt mit dem Bild eines damals hochmodernen Zuges inmitten einer Schneelandschaft. Abgesehen davon, daß hier mehr versprochen wurde, als die Bahn zu halten vermochte (die Unab hängigkeit des Bahnverkehrs von Eis und Sturm), redete man durch diese Formulierung natürlich sehr wohl vom Wetter, nämlich indem man seine (angebliche) Unabhängigkeit davon herausstellte. Die Bahn hat diesen Slogan rasch aufgegeben, wenn auch weniger wegen der Paradoxie und mehr wegen der offensichtlich wahrheitswidrigen Angeberei. In der Realität des Bahnverkehrs war dann wohl doch zu häufig vom Wetter die Rede (woran sich bis heute nichts geändert hat). Zuvor hatte jedoch der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) die günstige Gelegenheit ergriffen, in der politisch aufgeregten Zeit von 1968 auf sich aufmerksam zu machen:
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(222) Das war nicht einmal falsch, jedenfalls bei weitem nicht so falsch wie die Werbung der Bundesbahn, denn vom Wetter haben Marx, Engels und Lenin nun tatsächlich wenig bis gar nicht geredet. So ist aus einer unbeabsichtigten Paradoxie ein gelungenes, weil witziges Plakat geworden – obgleich auch hier natürlich von dem die Rede war, von dem die Rede nicht sein sollte. Daß Die Grünen 1990 in den Wahlkampf gezogen sind mit dem Slogan »Alle reden von Deutschland. Wir reden von Wetter.« sei am Rande bemerkt; immerhin war auch dabei von Deutschland die Rede. Auf dem Buchmarkt stößt man auf ein spezielles Phänomen, das bei mir einmal zu folgendem Dialog geführt hat: Ein Taschenbuch wurde verbilligt angeboten mit dem Stempel Preisredu ziertes Mängelexemplar. Ich fragte den Buchhändler: »Worin besteht denn der Mangel?« Er erwiderte: »In dem Stempel.« (223)
Dieses Prinzip erscheint mir unbedingt ausbaufähig, und ich kann mir gar nicht erklären, warum es nicht schon längst Kleidung, Autos und sogar Essen im Restaurant mit entsprechendem Stempelauf druck gibt. Eine schöne Satire auf derlei Tricks in der Werbung lesen wir in einem Kriminalroman: In einer Werbeagentur wird ein neuer Texter namens Mr. Bredon von seinem Vorgesetzten, Mr. Ingleby, in seine Arbeit eingewiesen. Bredon soll einen Text zu einer Margarine-Reklame ver fassen. [...] »So, und nun wollen wir Ihnen einmal auf die Sprünge helfen«, meinte Mr. Ingleby. »Hier ist die Kladde. Blättern Sie die mal durch, damit Sie eine Vorstellung bekommen, worum es geht, und dann denken Sie sich ein paar Überschriften aus. Im Text sollte natürlich rauskommen, daß Dairyfields ›Grüne Aue‹-Margarine alles das ist, was Butter sein sollte, aber nur [9?]8 Pence das Pfund kostet. Und dann hätten die noch gern eine Kuh im Bild.« »Wieso? Wird Margarine aus Rinderfett gemacht?« »Wenn Sie mich fragen, ja, aber sagen dürfen Sie das nicht. Das würde den Leuten nicht gefallen. Die Kuh erinnert eben nur unterschwellig an Butter. Und der Name – ›Grüne Aue‹ – läßt einen gleich an Kühe denken, verstehen Sie?«
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Lücke wegen eines Druckfehlers im Text.
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»Ich denke dabei eher an dieses Theaterstück, das mit den Negern«, meinte Mr. Bredon. »Lassen Sie die Neger aus dem Spiel«, entgegnete Mr. Ingleby. »Und vor allem die Religion. Keine Anspielungen auf Psalm 23, bitte.9 Gottesläste rung.« »Aha. Also etwas wie ›Besser als Butter und halb so teuer‹. Spricht das Portemonnaie an.« »Schon, aber Sie dürfen nichts gegen Butter sagen. Die verkaufen nämlich auch Butter.« »Oh!« »Sie können sagen: ›So gut wie Butter.‹“ »Aber wenn das so ist«, begehrte Mr. Bredon auf, »was kann man dann noch zugunsten von Butter sagen? Ich meine, wenn das andere Zeug genauso gut ist und weniger kostet, gibt es kein Argument mehr, Butter zu kaufen.« »Sie brauchen keine Argumente, um Butter zu kaufen. Das ist ein natür licher Instinkt.« »Aha, verstehe.« »Machen Sie sich jedenfalls über Butter keine Gedanken. Konzentrieren Sie sich auf ›Grüne Aue‹-Margarine. Wenn Sie was fertig haben, lassen Sie’s tippen und schwirren damit ab zu Mr. Hankin. Klar? Kommen Sie zurecht?« »Ja, danke«, sagte Mr. Bredon mit gründlich verwirrtem Gesichtsaus druck. [...] [Dorothy L. Sayers: Mord braucht Reklame. Reinbek 2001, S. 16 f.] (224)
Da verstehen wir den verwirrten Gesichtsausdruck des logisch über forderten Werbeagenten. Interessant ist die Bedienung nostalgischer Bedürfnisse (»die gute alte Zeit«), in der Werbung auch dort eingesetzt, wo die bewor bene Ware dieser alten Zeit geradewegs widerspricht: Netflix, das keinen konventionellen Kinovertrieb besitzt und mitverant wortlich gemacht wird für das Verschwinden jenes magischen Ortes der Moderne, des Saalkinos oder Filmtheaters nämlich, hat David Finchers Huldigung Voir: a collection of visual essays about the love of cinema produziert. Schon der Teaser zeigt jede Menge Versatzstücke dieser Magie untermalt von den unvermeidlichen Klangflächen der minimal music:
9 »Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Auf grünen Auen läßt er mich lagern; an Wasser mit Ruheplätzen führt er mich.« usw.
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lange Sitzreihen voller gespannter Kinogeher, große Leinwände, den Lichtkegel des Projektors, in dem der Staub tanzt & c., nichts jedoch, was an die fragmentierte Privatheit des Streamers erinnert: https://m.youtube.com/watch?time_continue=15&v=D_0vHst567 0&feature=emb_logo Mit Prince Paradox zu reden: Yet each man kills the thing he loves, bisweilen auf kulturinstitutioneller Ebene. [filix; https://www.albertmartin.de/altgriechisch/forum/?view =5181#301, aufgerufen am 9.12.2021] (225)
Eine elementare Regel im Bereich des Verkaufs ist die unbedingte Höflichkeit und Dienstbeflissenheit gegenüber dem Kunden, der bekanntlich König ist oder sich doch zumindest als solcher fühlen soll. Da heißt es dann schonmal: »Ich komme sofort zu Ihnen!« sagt der Kellner/Verkäufer, während er sich einem anderen Gast/Kunden zuwendet. (226) Kaum zu zählen, wie oft man dieses »sofort!« zu hören bekommt von einem davoneilenden Verkäufer! »A Momen terl«, sagt man in Wien, und das ist einem alten Scherz zufolge so zu verstehen: Es gibt die Sekunde, die Minute, die Stunde, den Tag, den Monat, das Jahr, das Jahrhundert, die Epoche, den Äon ... und dann kommt das Momenterl. Zur Gastronomie in Wien heißt es in einem Leserbrief: Die Burenwürste sind mit nichts zu rechtfertigen, außer vielleicht mit viel Senf; aber es gibt schon auch noch anderes zu essen, und dabei erwähnen wir hier nicht einmal das Schnitzel. [Stephan Löwenstein in Frankfurter Allgemeine vom 5.9.2019] (227)
Dieses erwähnende Nicht-Erwähnen begegnet uns freilich auch andernorts, nicht nur in der Werbung. Zugegeben, die Wünsche der Kunden sind auch leicht zu erfüllen und lassen sich durch das Motto charakterisieren: Den Kuchen essen und ihn zugleich behalten. (You can have your cake and eat it too.) (228) Das stammt wohl aus den USA, dem Land, dem wir so viele Einfälle zum Thema Werbung verdanken. [Paul Auster: 4321. A.a.O., S. 767; Bob Dylan: Lay Lady Lay] Dem entspricht aus dem deutschsprachigen Bereich: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß. (229) Das Angenehme gerne, aber ohne seinen Preis, und sei er auch noch so notwendig damit verbunden. Dazu paßt dann: Luxus für alle! (230) Das könnte der Werbe slogan sein, der alles zusammenfaßt. Das ist nur ausgedacht? Was
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genau in diese Richtung weist, ist das folgende: Höffner Personalkauf tage für alle – 40 %! [ARD-Werbung am 25.1.2022] (231) Vielleicht noch dichter dran an diesem Werbe-Ideal: Exklusiv für alle! [Spar kassenwerbung in der ARD am 3. März 2021] (232) Das ist es, das Besondere, das Ausgezeichnete, aber für alle. Es vereint den Traum des Kunden von einem günstigen Gelegenheit mit dem Traum des Verkäufers, möglichst alle Menschen anzusprechen. Aber es ist natürlich paradox. So paradox, wie es die Wünsche der Kunden sind: Das Privatsphäre-Paradoxon: 2019 führte der Psychologe Gerd Gigeren zer zusammen mit dem Versicherer Ergo eine repräsentative Umfrage unter 3200 Menschen in Deutschland durch. Demnach sahen 75 Prozent der Befragten den Verlust der Privatsphäre als die größte Gefahr der Digitalisierung an. Auf die Frage, wie viel Geld sie im Monat bereit wären, auszugeben, damit Dienste wie Facebook, Whatsapp oder Instagram keine persönlichen Daten über sie sammeln oder weitergeben, gaben drei Viertel an: nichts. 18 Prozent würden bis zu fünf Euro im Monat bezahlen, nur zwei Prozent würden mehr als zehn Euro in die Hand nehmen. [Spektrum der Wissenschaft 2.22, S. 93 f.] (233)
Und selbst das Gute soll möglichst noch überboten werden: Fast is too slow. [Bandenwerbung von adidas am 3.9.2020 beim Spiel Deutschland vs. Spanien in der Nations League] (234) Manchmal sind Kunden freilich einfach nervig für die armen Verkäu fer, die sich mit ihnen herumschlagen müssen: »17, 60 Euro. Haben Sie’s klein?« fragt die Kassiererin im Supermarkt. Nein, hat er nicht. Nur einen 50-Euro-Schein. Sie gibt ihm das Wechselgeld heraus, und er strahlt sie an: »Jetzt habe ich’s klein!« (235)
Kreativ ist die Werbung oft beim Ausdenken neuer, gut klingender Begriffe; manchmal ist das Ergebnis logisch verblüffend: ● ● ● ● ●
Selbstbedienung (Bedienung durch sich selbst?) (236) Barfußschuhe (Damit ist nicht gemeint, daß man in ihnen ohne Socken läuft.) (237) Plastikstrohhalm (238) Holzeisenbahn (Dabei gilt, wie erwähnt, das hölzerne Eisen als der Selbstwiderspruch schlechthin.) (239) Miniriesenrad (240)
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im Angebot (Selbstverständlich ist alle Ware im Laden im Angebot, und einiges davon, wie man es früher nannte, im Sonderangebot, d.h. zu besonders günstigen Konditionen; anscheinend erschien aber dieses Wort zu lang, weshalb heute »im Angebot« sinnwidrig, d.h. paradox verwendet wird.) (241)
Daneben gibt es außerhalb der Werbung noch einige merkwürdige, paradox klingende Begriffe, die man bei dieser Gelegenheit hinzufü gen kann: ● ● ●
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Unkosten (= Kosten, aber mit einer Verneinung davor), so auch Menge und Unmenge (klingt wie ein Antonym, ist aber keins) (242) Zahlreich und zahllos sind bedeutungsgleich, im Gegensatz zu kinder reich und kinderlos. (243) Auch der gängige Begriff Flüssiggas klingt verdächtig, wenn man bedenkt, daß Gas einer der vier Aggregatzustände der Materie ist und Flüssigkeit ein anderer. Diesem Umstand verdanken wir das unschöne Wort Regasifizierung. (244) Mit Schwarzlicht ist heute nicht einmal die phantastische Erfindung von Daniel Düsentrieb aus den früheren Jahren der Comic-Literatur gemeint (»macht helle Räume dunkel«), sondern es ist eine umgangs sprachliche Bezeichnung für eine ultraviolette Strahlung (Licht), wel che für unsere Augen unsichtbar ist. (245) Die bundesdeutsche Politik führt, in letzter Zeit gehäuft, Sondervermö gen in den Haushalt ein, etwa für die Aufrüstung der Bundeswehr; gemeint sind mit dieser speziellen Art von Vermögen: neue Schul den. (246) Selbst der auch außerhalb der Werbung gängige Flughafen ist nicht ganz frei vom Geruch eines Paradoxons. (247) Nachdenken könnte man über Wörter wie Wahlpflichtfach (in Schulen gängig), Busbahnhof, Handschuh, Trauerfeier, Hörbuch und Fleischsa lat. Sie klingen etwas paradox, aber wir sollten nicht kleinlich sein.
5. Wirtschaft Mit der Werbung sind wir auch im Bereich der Wirtschaft, speziell der (freien oder sozialen) Marktwirtschaft. Fangen wir mit einer ganz grundsätzlichen, von Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895) in ihrem populären Kommunistischen Manifest (stärker wissenschaftlich in Das Kapital) herausgearbeiteten strukturellen Eigenschaft der von ihnen »Kapita lismus« genannten Marktwirtschaft an: Sie basiert auf dem Privat
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5. Wirtschaft
besitz von Produktionsmitteln, die von den Besitzern (Kapitalisten, Bourgeoisie) eingesetzt werden, um mit größtmöglichem Gewinn (Profit) Waren herzustellen und zu verkaufen. Die eigentliche Her stellung der Waren erfolgt durch die von ihnen beschäftigten Arbeiter mit den ihnen zur Verfügung gestellten Maschinen (Produktivkräfte). Die Bezeichnung für diese Umstände lautet: Produktionsverhältnisse. Der Gewinn (Mehrwert) ist dann am größten, wenn die Kosten für Rohstoffe, Herstellung und Vertrieb minimiert, die Preise hingegen maximiert werden. Das führt nun zu einem eklatanten Widerspruch (d.h. zu einer Paradoxie) im System. Denn diejenigen, die mit den geringstmögli chen Löhnen die höchstmöglichen Preise für die Waren bezahlen sollen, sind ja dieselben: die Arbeiter. Woher sollen sie angesichts niedriger Löhne das Geld dafür nehmen? Es steht nicht nur so, daß ein grundlegender Interessengegensatz zwischen Kapitalisten einerseits (hohe Preise, niedrige Löhne) und Arbeitern andererseits (niedrige Preise, hohe Löhne) existiert, sondern möglichst viele Waren zu verkaufen an Leute, die möglichst wenig Geld dafür erhalten, ist ein immanenter Widerspruch im System. Es ist paradox. Seit Dezennien ist die Geschichte der Industrie und des Handels nur noch die Geschichte der Empörung der modernen Produktivkräfte gegen die modernen Produktionsverhältnisse, gegen die Eigentumsverhältnisse, welche die Lebensbedingungen der Bourgeoisie und ihrer Herrschaft sind. [Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei I] (248)
»Empörung« ist ein emphatischer Ausdruck für den geschilderten Widerspruch mitsamt seinen Folgen für die unter ihm leidenden, ver elendenden Arbeiter, die untergehen oder sich gegen dieses System zur Wehr setzen müssen. Dabei hilft ihnen – paradoxerweise – das System selbst, denn es ist zum Scheitern verurteilt, da es in sich einen Widerspruch trägt und nicht funktioniert. Dem benötigten Absatz fehlen die ebenso benötigten Kunden. Die Kapitalisten mögen diese im Ausland suchen (Export) und/oder ihre Rohstoffe noch billiger aus dem Ausland beziehen (Import); in jedem Falle bedrohen sie dadurch die ausländische Eigenproduktion, d.h. sie exportieren zugleich mit dem Kapitalismus dessen grundlegendes Problem. Gerade ein erfolg reicher Export von Waren schadet der einheimischen Produktion, damit den dortigen Löhnen und der dortigen Kaufkraft – er ruiniert sich selbst.
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Unser paradoxer Alltag
Die Option, für sein persönliches Unternehmen auf Profitmaxi mierung zu verzichten, also höhere Löhne zu zahlen oder niedrigere Preise zu nehmen, hat der Kapitalist nicht. Denn wenn er dies tut, wird er von der Konkurrenz, die nicht gleichermaßen mitfühlend bzw. vernünftig agiert, geschluckt: Sie erwirtschaftet halt, solange das System existiert, mehr Profit und kann Konkurrenten aufkaufen. So ganz von der Hand zu weisen ist dieses Problem ja nicht. Für unser Thema ist wichtig, daß der Widerspruch (die Paradoxie) hier als (1) existierend und (2) für das System zerstörerisch gesehen wird; es kann nicht dabei bleiben – an die Stelle dieses Systems muß ein anderes treten. Marx und Engels haben hier einiges von der dialektischen Logik G. W. F. Hegels (1770–1831) übernommen, in der (schematisiert) die These jeweils eine ihr entgegengesetzte Antithese hervorbringt, welcher Widerspruch zu einer neuen Synthese führt, die ihrerseits als neue These auftritt usw. Das gehört allerdings in den Rahmen einer philosophischen Auseinandersetzung mit Widersprüchen, während es mir in einem konkreteren Sinne um das Auftreten von Paradoxien im Leben der Menschen geht – in diesem Fall der Wirtschaft. Auch ist hier nicht der Platz für eine Auseinandersetzung mit dem Marxismus, schon gar nicht mit der von ihm prognostizierten und welthistorisch grandios gescheiterten Alternative: dem Sozialismus. Es mag uns genügen, sich diesen Widerspruch bewußt zu machen: niedrige Löhne und hohe Preise ruinieren den Absatz und damit das worum es geht, den Profit. Niedrige Löhne und hohe Preise widersprechen zudem den existentiellen Interessen derjenigen, welche, um zu überleben, die Waren kaufen und mit ihren Löhnen bezahlen müssen. Wasch mir den Pelz, mag sich der Kapitalist sagen, aber mach mich nicht naß! Ob die in der Folge dieses Problems eingeführte soziale Markt wirtschaft geeignet ist, das Problem zu lösen (was Marxisten bestrei ten), können wir hier dahingestellt lassen; wenigstens historisch hat es diese Paradoxie gegeben, und sie hat das Leben von sehr vielen Menschen im 19. und 20. Jahrhundert bestimmt. Mehr in die Details der Wirtschaft gehen wir mit den folgenden Fällen: Um ihre Absatzchancen zu verbessern, bedient sich die Wirt schaft gerne repräsentativer Umfragen, etwa im Hinblick auf ein bestimmtes Produkt und künftiges Kaufverhalten. Wie erfaßt man bei einer repräsentativen Umfrage die Meinung desjenigen Bevölkerungs
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teils, der nicht bereit ist, an repräsentativen Umfragen teilzunehmen? (249) Der Anteil an der Gesamtbevölkerung ist sicherlich berechen bar, aber die Ansicht? Da erscheint es angemessen vorsichtig, wenn gleich nicht frei von Paradoxie, entschieden zu sagen: Ich mache nie Voraussagen und werde das nie tun. [ein Fußballspieler in der Westdeutschen Zeitung vom 26.9.2008] (250) Das bewahrt uns freilich nicht vor allen Problemen, denn nicht alle liegen in der Zukunft – etwa der steigende Absatz bei steigenden Preisen, das sog. Giffen-Paradox: Können sich die armen Leute, die nur wenig Fleisch kaufen können, wegen gestiegener Brotpreise auch das wenige Fleisch nicht mehr leisten, steigt der Absatz von Brot (sogenanntes inferiores Gut) – man muss ja irgendwas essen. Das bedeutet, dass der Absatz trotz steigender Preise ansteigt – und eben nicht sinkt, wie es normal wäre. [Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Giffen-Paradoxon; aufge rufen am 8.3.2022] (251)
Dies gilt allerdings, wie man versichert, nur für geringwertige (infe riore) Güter. Ein damit verwandtes ökonomisches Paradox trägt den Namen Jevons‘ Paradox: Unter Jevons’ Paradoxon versteht man in der Ökonomie eine Beobach tung von William Stanley Jevons, derzufolge technologischer Fortschritt, der die effizientere Nutzung eines Rohstoffes erlaubt, letztlich zu einer erhöhten Nutzung dieses Rohstoffes führt, anstatt sie zu senken. In einem erweiterten Sinn wird heute von Rebound-Effekt gesprochen. In seinem 1865 erschienenen Buch »The Coal Question« stellte Jevons fest, dass Englands Kohlenverbrauch nach der Einführung von James Watts kohlebefeuerter Dampfmaschine anstieg, obwohl sie sehr viel effi zienter war als Thomas Newcomens frühere Variante. Watts Neuerungen machten aus Kohle eine kostengünstigere Energiequelle und führten zu einer steigenden Verbreitung seiner Dampfmaschine im Verkehrsbereich und anderen Industriebereichen. Dies führte zu dem insgesamt erhöhten Kohlenverbrauch, obwohl zugleich der Verbrauch jeder einzelnen Anwen dung nachließ. Vergleichbare Beispiele: Zeitgewinne durch neue Verkehrsinfrastruktur und Verkehrsträger wer den durch höhere Reiseentfernungen, Reisehäufigkeiten und vermehrtes Pendeln ausgeglichen und führen auf Dauer ebenfalls nicht zu Zeitund Energieeinsparungen.
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Unser paradoxer Alltag
Höhere Computerleistung wird zumeist durch aufwendigere Software und anspruchsvollere Computerspiele wettgemacht. [Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Jevons-Paradoxon; aufge rufen am 8.3.2022] (252)
Als ein weiteres Beispiel dafür gilt die CO2-sparende Nutzung von E-Autos: Natürlich wird für die Herstellung dieser Autos und von Strom CO2 verbraucht – aber eben weniger (so hoffen wir) als für benzingetriebene Autos. Nun scheinen aber die Nutzer von E-Autos im Bewußtsein ihrer Umweltfreundlichkeit, also guten Gewissens, mehr Auto zu fahren als die Besitzer von Benzinern. Auf diese Weise erzeugt der Einspar-Effekt zumindest möglicherweise (ganz sicher ist das anscheinend noch nicht zu sein) sein Gegenteil. Ein weiteres Paradox des Fortschritts ist dieses am Beispiel des antiken Rom: Ein zunehmender ökonomischer Wohlstand verlängerte die Lebenserwartung (keine Mangelerkrankungen), verkürzte sie aber zugleich (Krankheitskeime in öffentlichen Bädern, Brunnen usw.). [Geheimnisse der Antike, Teil 3: Der Untergang von Rom; Buch und Regie: Jonathan Drake, GB 2021] (253) Man müßte darüber nachdenken, ob dieses Phänomen selbst unter der Bedingung eines medizinischen und hygienischen Fortschritts verallgemeinerbar ist, indem etwa eine höhere Lebenserwartung zur Vermehrung der leben den Individuen und damit zu einem Nahrungsmangel führt. Vergleichbar paradox kann auch der Verzicht von Ausgaben in der Politik sein: Der Ausgabestau [sc. in den Ministerien der Bundesrepublik Deutsch land] wirkt sich gerade bei Investitionen fatal aus. Wenn der Staat sein Geld nicht ausgibt, schwächt er die Nachfrage, was die Konjunktur zusätzlich dämpft. Zum anderen fallen die Möglichkeiten für zukünftiges Wachstum geringer aus, wenn Investitionen in moderne Infrastruktur unterbleiben. So führt der Bundeshaushalt seit Jahren einen paradoxen Beweis: Zu viel Geld kann Wohlstand kosten. [DER SPIEGEL 34/2022: Wenn Sparen arm macht, S. 66] (254)
Den Preis von Waren betreffend gibt es das Wasser-Diamanten-Para dox:
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Niemand kann ohne Wasser leben. So gesehen ist es ein sehr hohes Gut. Nur ganz wenige Menschen brauchen wirklich Diamanten. So gesehen sind Diamanten fast wertlos. Trotzdem zahlt man für Diamanten horrende Summen, für Wasser hingegen fast nichts. [Rudolf Taschner: Die Mathematik des Daseins. Eine kurze Geschichte der Spieltheorie. München 2015, S. 12] (255)
Daß man für etwas, das für nur ganz wenige Menschen einen prak tischen Wert besitzt, einen immens höheren Preis bezahlt als für ein allseits benötigtes Gut, ist in der Tat auch dann erstaunlich, wenn man bedenkt, daß das eine Gut extrem selten, das andere sehr häufig vorkommend ist. Der Gebrauchswert ist etwas anderes als der Tauschwert. In diesen Zusammenhang gehört ebenso das ökonomische Para dox des Überflusses, der sog. Ressourcenfluch: Eine Wirtschaft, die so erfolgreich ist, daß sie einen Überfluß produziert, zerstört den Anreiz, erfolgreich zu produzieren, und erzeugt so einen Man gel. [Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Ressourcenfluch; aufgeru fen am 8.3.2022] (256)
Das leuchtet psychologisch ein, denn warum sollte man etwas pro duzieren, wovon es schon zu viel produzierte Ware gibt? Läßt man das dann bleiben, wird aus dem Zuviel ein Zuwenig. Und wohlge merkt: es gibt zu wenig, weil es zu viel gab. Die Dialektiker wird’s freuen, zumindest bestätigen: etwas erzeugt durch sich selbst sein eigenes Gegenteil. Sehr beliebt ist bekanntlich im Handelsbereich das Umtauschen. Auch hier gibt es ein (Umtausch-)Paradox, das allerdings so konstruiert ist, daß ich seine Anwendbarkeit auf den Alltag bezweifle. Es mag in irgendeiner Form dort auftauchen, wo mit Kunden reizvolle Spiele gespielt werden. Nehmen wir an, Herr Lemke ist ein Gönner von Herrn Schmidt. Die Sekretärin von Herrn Lemke hat zwei gleich aussehende Briefumschläge genommen und in den einen einen Geldbetrag x hinein getan. In den anderen Briefumschlag hat sie den doppelten Betrag hineingetan. Von außen sehen beide Briefumschläge völlig gleich aus. Am Abend treffen sich Herr Lemke und Herr Schmidt auf einer Party. Herr Lemke legt beide Briefumschläge auf einem Tisch ab. Andere Partygäste bringen die Brief umschläge durcheinander. Zur fortgeschrittenen Stunde – man hat schon
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etwas getrunken – zeigt Herr Lemke die beiden Briefumschläge Herrn Schmidt mit den Worten: »In beiden Briefumschlägen befindet sich ein Geldbetrag, in dem einen doppelt so viel wie im anderen. Ich weiß aber nicht, in welchem wie viel ist. Sie dürfen einen Umschlag öffnen und dann entscheiden, ob Sie die beiden Umschläge austauschen und den anderen nehmen möchten.« Herr Schmidt ergreift zufällig einen der beiden Umschläge, findet zum Beispiel 100 Euro und überlegt: »Ich habe in die sem Umschlag 100 Euro. Wenn ich tausche, habe ich mit einer Wahr scheinlichkeit von 50 % 200 Euro und mit derselben Wahrscheinlichkeit 50 Euro. Dies macht einen Erwartungswert von 125 Euro.« 125 = 0,5 x 50 + 0,5 x 200 Lohnt sich das Tauschen? Wenn die Rechnung von Herrn Schmidt für jeden beliebigen Betrag das Ergebnis liefert, dass sich Tauschen lohnt, so braucht er den Umschlag gar nicht zu öffnen, sondern kann gleich den anderen Umschlag nehmen. Es kann aber nicht sein, dass der andere Umschlag immer besser ist, da ja beide Umschläge vor dem Öffnen offensichtlich gleichwertig sind. [http://de.wikipedia.org/wiki/Umtauschparadoxon; aufgeru fen am 19.7.2009] (257)
Die logische Analyse besagt also, daß das Umtauschen einerseits vorteilhaft ist, andererseits aber nicht vorteilhaft sein kann. Das läßt einen verwirrt zurück. Die schon bekannte Paradoxie des erwähnten Nicht-Erwähnens findet sich – wenig überraschend – auch in wirtschaftlichen Zusammenhän gen: [...] Wie damals bei Daimler [sc. durch die Übernahme von Chrysler] wurden auch jetzt bei Bayer [sc. durch die Übernahme von Monsanto] gigantische Vermögen vernichtet, weil die, denen die Unternehmen gehö ren, ebenfalls keine zwingende Logik in den Akquisitionen, dafür aber die Risiken erkannten, und die Unternehmen fluchtartig verließen: den Kurs binnen zwei Jahren mehr als zu halbieren (19. Juni 2017: 121,34 Euro, heute 56,47 Euro), muss man auch erst einmal hinbekommen (und da will ich gar nicht an den Höchstkurs in den letzten fünf Jahren (143,87 Euro am 10. April 2015) erinnern). [Leserbrief von Hans Arno Simon (Erfurt) in der Frankfurter Allgemeinen vom 12.6.2019] (258)
Diese Paradoxie gehört einfach zum normalen Sprachgebrauch – viel leicht von ihren Verwendern nicht recht bedacht, aber doch beinahe
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6. Sport
alltäglich. Möglicherweise beeinträchtigt in diesem Falle auch der Schmerz über verlorenes Geld die Aufmerksamkeit auf den Sprachge brauch. Ein einträgliches Geschäft ist wohl das Glücksspiel, bei dem immer auffallend ist, daß die Anbieter, die diesen Weg zu Reichtum und Glück anpreisen, es vorziehen, nicht selber um ihr Glück zu spielen, sondern auf der anderen Seite zu stehen. Man kann sagen: Glücksspiel ist ohne Zweifel eine zweifelhafte Sache. (259) Dabei sind Paradoxien wie diese ein gefundenes Fressen für diejenigen, die Paradoxien nicht mögen und Widersprüche gerne auflösen, d.h. als Scheinwidersprü che enttarnen. Hier bezieht sich nämlich der eine Zweifel auf die Sache Glücksspiel (eine zweifelhafte Sache), der andere auf etwas anderes, nämlich auf eine Aussage über diese Sache (ohne Zweifel wahr). Wenn etwas sich nicht auf dasselbe bezieht, gilt es nicht als echter Widerspruch. Das mindert unsere Neigung zu bewußt paradoxen Äußerungen nicht – sie klingen dann zumindest paradox. Was das Warenangebot angeht, so fällt mir Tofu als Fleischersatz auf, was es umgekehrt ermöglicht, Fleisch als Tofuersatz (260) zu sehen. Das gilt sicher für vieles, das uns als besserer Ersatz verkauft, aber nicht von allen auch so eingeschätzt wird. Zum Abschluß eine nicht ganz ernstgemeinte, aber doch nicht völlig absurde Paradoxie aus dem Leben des normalen Konsumenten: Angenommen, ein Brief bis 20 Gramm kostet 0,85 € Porto, darüber 1,40 €. Ein Brief wiege 20 Gramm, mit aufgeklebter 0,85-€-Briefmarke aber wenig mehr. Ist er mit dieser Briefmarke richtig frankiert? (261)
6. Sport Sportler und ihre Trainer, vor allem in Interviews nach dem Spiel bzw. Kampf, stehen noch unter starker Anspannung; und überhaupt sind sie nicht wegen ihrer rhetorischen Brillanz in ihrem Metier erfolgreich. Da darf man einiges an Paradoxa erwarten, was nicht immer absichtlich und in vollem Bewußtsein geäußert wird. Jetzt bin ich sprachlos! (262) ist da noch ein recht harmloser, wenngleich häufig vorkommender Fall.
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Unser paradoxer Alltag
So hat Norbert Meier, damals (2008–2013) noch Trainer von Fortuna Düsseldorf, den folgenden Standpunkt vertreten: Die Mann schaft soll nicht an den Aufstieg denken [sondern nur an das nächste Spiel], wenn sie aufsteigen will. [Saison 2011/2012] (263) Das heißt, sie soll nicht an ihr Ziel denken, wenn sie ihr Ziel erreichen will (was sie natürlich will bzw. wollen soll) – das erinnert stark an die Aufforderung, an einen Elefanten zu denken, aber auf keinen Fall an seinen Schwanz. Die Fortuna ist damals übrigens tatsächlich in die erste Bundesliga aufgestiegen, wenn auch »nur« nach einem skandalösen Relegationsspiel gegen Hertha BSC. Der Trainer von Eintracht Frankfurt (2016–2018), Niko Kovac, äußerte zu der an dem damals neuen Eintracht-Spieler Kevin-Prince Boateng geübten Kritik: Leider maßen sich zu viele Leute an, über Leute zu urteilen, die sie gar nicht kennen. [Frankfurter Allgemeine vom 17.8.2017] (264) Man kann das durchaus als Kritik an Leuten verste hen, die Niko Kovac gar nicht kannte (und von deren Fußballverstand er daher auch nichts wußte) – was dann paradox wäre. Ein anderer Trainer kommentierte: Unser Spiel hatte Schwächen und Stärken: Wir haben schwach begonnen und dann stark nachgelas sen. (265) Das ist sogar sprichwörtlich geworden: schwach beginnen und dann stark nachlassen. Zu dieser Sorte gehört ebenfalls: Erst hatten wir kein Glück, und dann kam auch noch Pech dazu. (266) Oder: Manchmal verliert man, manchmal gewinnen die anderen. (267) Bedenklich ist es für einen Spieler, wenn sein Trainer über ihn sagt: Seine einzige Schwäche ist seine Kopfballstärke. (268) Ich weiß nicht mehr sicher, wer es war, der das folgende Motto von sich gegeben hat – ich vermute, Lukas Podolski: Hauptsache wir gewinnen – alles andere ist primär! (269) Eindeutig unter Lukas Podolski habe ich mir einen Dialog mit einem Interviewer notiert: Frage: Wie geht es Ihnen, sind Sie enttäuscht über das 1:1, oder freuen Sie sich, daß Sie ein Tor gemacht haben? Antwort: Es überwiegt eigentlich beides. (270)
Der Tabellenerste kann jederzeit den Spitzenreiter schlagen. (271) Auf den ersten Blick klingt das logisch, doch ist es schwer sich vorzustellen, wer da gegen wen spielen sollte. Als der bekannte Trainer Otto Rehhagel alias »Rehhakles« sagte: Ich bleibe Optimist. Ich hänge mich erst auf, wenn alle Stricke reißen, da hat er (vermutlich unbewußt) Johann Nestroy zitiert: Wenn alle Strick
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6. Sport
reißen, so gib ich mir ein gutes Wort und häng’ mich selbst auf. [Johann Nestroy, Zampa der Tagedieb oder: Die Braut von Gyps 1832; 1. Akt, 15. Szene] (272) Auf Otto Rehhagel sollen auch diese weiteren Bonmots zurück gehen, bei denen man nicht ganz sicher sein kann, ob der Meister da nicht doch bloß gescherzt hat: ● ● ● ●
Jeder kann sagen, was ich will. (273) Die von der südlichen Halbkugel, also die mit dem braunhäutigen Blut ... (274) Jetzt müssen wir gegen Stuttgart gewinnen. Ob wir wollen oder nicht. (275) Wir spielen am besten, wenn der Gegner nicht da ist. (276)
Von Berti Vogts, zunächst als eisenharter Verteidiger, dann als Trainer bekannt, ist überliefert: ●
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Wir werden alle Gewißheiten bis zuletzt ausschöpfen. (277) Das ist zunächst ein Metaphernsalat, dann aber auch, insofern hier deutlich ein Zweifel durchschimmert, paradox. Die Breite an der Spitze ist dichter geworden. (278)
Ein hoher Anspruch, wenn auch vielleicht ein zu hoher, steckt in der Feststellung: Das zeichnet einen Spitzentorwart aus, daß er auch mal das Glück hat, einen unhaltbaren Ball zu halten. (279) Wer immer das gesagt hat, er dachte nicht gering von einem Spitzensportler! Unter einem für das klare Denken gefährlichen Streß stehen aber auch die Sportreporter, die sich während eines Spiels unter starkem Zeitdruck ihre Meinung bilden und sie vor allem auch äußern müssen. So sagte einer von ihnen: Foul? Elfmeter? – Nein, es war nichts, und was nicht war, war auch noch außerhalb des Strafraums. (280) Selbst wenn ein Sportbericht während des Spiels geschrieben werden soll, steht der Reporter unter Strom. Das kann dann ergeben: Der Leipziger [sc. Kluivert] kommt zu vielen guten Aktionen über die rechte Seite in dieser Anfangsphase. Nur die Zuspiele in den Strafraum sind noch zu unegnau. [https://www.bundesliga.com/de/bundesliga/spieltag/20 20-2021/10/fc-bayern-muenchen-vs-rb-leipzig/liveticker; aufgerufen am 5.11.2020] (281)
Wohl nicht unter Zeitdruck, sondern – so nehme ich an – in der relativen Ruhe eines normalen Interviews ist die folgende Aussage
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Unser paradoxer Alltag
zustande gekommen: Wenn wir schon nichts haben, dann wollen wir uns zumindest das nicht auch noch nehmen lassen. [Der Gelsenkirche ner Olivier Kruschinski, über Schalke 04; Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 13.12.2020] (282) Ebenfalls aus dem Umfeld von Schalke 04 (aber das ist sicher nur ein Zufall) stammt diese Äußerung: In unseren Köpfen ist jetzt nur Platz für die kommende Partie. Wir waren [sc. im letzten Spiel] zu passiv und hatten im eigenen Ballbesitz zu schnelle Ballverluste. Ich hätte mir gewünscht, dass wir druckvoller nach vorne agieren können. [Trainer Christian Gross am 20.1.2021; https://www.bundesliga .com/de/bundesliga/spieltag/2020-2021/17/fc-schalke-04-v s-1-fc-koeln/liveticker] (283)
Unmittelbar nach der Forderung, nur noch an das nächste Spiel zu denken, redet der Trainer (vermutlich ohne zwischendurch Luft zu schöpfen) über das vergangene Spiel. Der Sinn des bekannten Spruches Nach dem (vorigen) Spiel ist vor dem (nächsten) Spiel (284) ist klar und eigentlich nicht paradox; dennoch wird hier erkennbar mit dem Reiz der paradoxen Formulie rung gespielt. Geradezu berüchtigt für seine Äußerungen ist der ehemalige Natio nalspieler und spätere Fußball-Trainer Lothar Matthäus. Hier ist eines seiner Statements: Ich sehe viele Leute, die diese Position [sc. des Bundestrainers] gerne machen und gut ausfüllen können. [...] Ich weiß, dass mein Name gespielt wird, aber ich beschäftige mich mit diesem Thema absolut nicht. [Lothar Matthäus in Frankfurter Allgemeine vom 10.3.2021] (285)
Er redet darüber bzw. beschäftigt sich damit, worüber er sich nicht beschäftigt – angeblich, möchte man hinzufügen. Eher unter die Rubrik »beabsichtigt« (d.h. die witzigen Bemerkun gen) fällt die Äußerung des ehemaligen Fußballtrainers Max Merkel (1918–2006): Dieser Spieler geht hinter dir in die Drehtür und kommt vor dir wieder raus. (286) Über welchen offenbar genialen Spieler er das gesagt hat, ist mir leider nicht mehr erinnerlich.
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7. Medizin und Psychologie
Nicht witzig, sondern eher ein Problem für Sportler ist das Mara thon-Paradox: Ausdauersport verlängert die Lebenserwartung, der Wettkampf verkürzt sie durch Schädigung des Immunsystems. [gehört in einer Quizsendung am 7.9.2021] (287) Das betrifft zumindest Menschen, die ihren Sport im Rahmen von Wettkämpfen praktizie ren. Am Abschluß dieses Kapitels soll eine Paradoxie stehen, die wohl nur einem Sportmuffel wie mir einfallen kann. Für Sport wird gerne damit geworben, daß er sehr gesund sei. Das gilt wohl nicht unbedingt für den Hochleistungssport, aber lassen wir den einmal beiseite. Dann bleibt immer noch ein Problem: Wer Sport treibt, lebt länger, verschwendet aber mehr Lebenszeit für Sport. Wenn der Sinn des Lebens für einen Menschen im X-en besteht, dann kann er bei längerer Lebenszeit mehr x-en. Treibt er aber, um länger zu leben, mehr Sport, dann kann er weniger x-en. Ein Mensch steht morgens auf und möchte am liebsten gleich x-en. »Aber nein«, entgegnet seine Frau, »du mußt erst noch Sport treiben!« »Ah«, seufzt er, »warum soll ich so viel Sport treiben?« »Damit du gesund bleibst und länger lebst«, belehrt ihn seine Frau. »Und wozu ist es gut, länger zu leben?« beharrt er. »Dann kannst du mehr x-en, und das liebst du doch!« So behält sie recht. Oder etwa nicht? Selig der, für den Sport und X-en dasselbe sind! (288)
All diese Gedanken sind mir übrigens beim X-en gekommen, nicht beim Sport – wobei in meinem Falle für X-en Schreiben einzuset zen ist, was man nun wirklich nicht gut während des Sports betrei ben kann.
7. Medizin und Psychologie Im Bereich der Medizin erwartet man eigentlich keine Paradoxa, in der Psychiatrie und Psychologie schon eher, zumal dazu auch in anderen Kapiteln Fälle vorkommen, die man ebenso hier einordnen könnte (etwa der Begriff der Verrücktheit im Breivik-Fall, die BorderlinerClaudia, die Corona-Pandemie und etliche andere). Das Folgende ist, was meine Sammlung ergänzend ergibt.
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Da haben wir eine Krankheit, die Orthorexie genannt wird: Orthor exie, d.h. das zwanghafte Bedürfnis, sich richtig zu ernähren, ist eine psychische Krankheit. (289) Mit anderen Worten: Das Richtige (jeden falls wenn es in einer bestimmten Weise erstrebt wird) ist nicht das Richtige. Über den medizinisch umstrittenen Begriff der Immunschuld heißt es: Eine solche Interpretation von Immunschuld unterstellt dem Immun system, dass es träge wird, wenn es nicht laufend mit Viren, Bakterien, Pilzen oder anderen Fremdkörpern konfrontiert wird. Nur wer regelmä ßig krank wird, bleibt gesund, so die Quintessenz. [Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 11.12.2022]
Wenn wir Fragen der Diät dem medizinischen Bereich zuordnen, kommt auch »Liems Paradoxon« in Betracht: Eine Vorliebe für Nahrung, an die eine Spezies eigentlich nicht ange passt ist, kommt im Tierreich so häufig vor, dass es dafür einen eigenen Begriff gibt: Liems Paradoxon. Der 2009 verstorbene Bio loge Karl Liem von der Harvard University stieß in den 1980er Jahren im Norden Mexikos auf ein interessantes Phänomen: Der hier vorkommende Buntbarsch Herichthys minckleyi besitzt flache, kieselsteinartige Zähne, die sich hervorragend zum Aufknacken harter Schneckenhäuser eignen. Doch die Süßwasserfische schwimmen an den Schnecken vorüber, wenn es weichere Nahrung gibt. Warum entwickeln sich in der Evolution Zähne, die auf weniger bevorzugtes, selten verzehrtes Futter spezialisiert sind? Solange diese Spezialisierung den Verzehr weicher Nahrung nicht behindert, stehen damit bei Bedarf mehr Möglichkeiten offen. Das Paradoxon besteht also weniger darin, dass ein Tier die Nahrung meidet, an die es angepasst ist, sondern dass eine spezialisierte Anatomie mit einer generalisierten Ernährung einhergehen kann. [Die wahre Steinzeitdiät; in: Spektrum der Wissenschaft 12.19, S. 37] (292)
Das gilt es für all diejenigen zu beachten, die ihre Ernährungsgewohn heiten an einer Vorstellung von »natürlicher« Nahrung im Laufe unserer Millionen Jahre langen evolutionären Geschichte orientie ren wollen. Von einer anderen Art der Paradoxie ist die Traditionelle Chinesi sche Medizin (TCM), bei der es sich nicht um die traditionelle chinesische Medizin handelt (302), sondern um ein unter Mao Zedong neu eingeführtes Amalgam aus verschiedenen traditionellen Elementen;
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7. Medizin und Psychologie
hier widerspricht der Name dem Inhalt. [https://de.wikipedia.org/w iki/Traditionelle_chinesische_Medizin; aufgerufen am 31.5.2022] Ein Problem, mit dem es die einschlägigen Fachleute zu tun haben, ist dieses: Wenn Psychologen Lügner an bestimmten Merkmalen (Sprachstil, Körpersprache usw.) erkennen, dann werden geschickte Lügner sich gerade bei diesen Merkmale verstellen. So gefährden die Kriterien für die Erkennbarkeit von Lüge deren Erkennbarkeit. (290) Noch etwas komplizierter wird es, wenn Psychologen uns – etwa in Medien – ihre Fähigkeiten demonstrieren: Eine Psychologin führt für eine Dokumentationssendung im Fernse hen einen Lügentest an zwei Versuchspersonen vor. Sie will zeigen, wie sie anhand des Sprachgebrauchs und der Körpersprache einen Lügner durchschauen kann. Ganz untypischerweise gibt die eine VP auch sofort zu, gelogen zu haben. Die Situation wirkt künstlich für die Kamera inszeniert, und ich frage mich, wie wahrscheinlich es ist, daß ein Wissenschaftler in einem echten Experiment öffentlich seine Reputation aufs Spiel setzt. Hat die Psychologin in diesem Test übers Lügen gelogen? War auch der Titel der Sendung (»Die Wahrheit über die Lüge«) eine Lüge? War die Darbietung ein Test für uns Zuschauer, ob wir eine Lüge erkennen? [aus Anlaß der arte-Sendung Die Wahrheit über die Lüge am 7.9.2019] (291)
Selbstverständlich können auch Forscher lügen, selbst Forscher, wel che das Phänomen der Lüge erforschen. Wenn man das Prinzip der Lüge erkennt und berücksichtigt, daß sie jederzeit möglich ist, wird alles möglich. Ein Problem, mit dem es ein Psychiater zu tun bekommen könnte, ist das des aus Menschenliebe einsamen Menschen: [...] es mag indessen ein Paradoxon oder sogar ein Widerspruch scheinen, aber es ist gewiß, daß große Menschenliebe zuvörderst uns die Menschen meiden und verachten läßt; das nicht so sehr wegen ihrer privaten und selbstsüchtigen Laster als wegen der Laster von allgemeiner Art, wie Neid, Bosheit, Verräterei, Grausamkeit und jede andere Form des Übelwollens. Das sind die Laster, die der wahre Menschenfreund verabscheut; und ehe er sie sehen und sich mit ihnen abfinden will, meidet er lieber die Gesellschaft selbst. [Henry Fielding: Tom Jones. München 1965, S. 407 f.] (293)
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Unser paradoxer Alltag
Das Paradoxe besteht in diesem Falle darin, daß es gerade die Nähe (die Verbundenheit) ist, welche Ferne (Distanz) erzeugt. Es wäre interessant zu erfahren, was ein Psychiater dazu sagt. Es könnte sich daraus ein Dialog ergeben wie dieser von Hauck & Bauer: Psychotherapeutin: »Es geht nicht darum, dass Sie von allen gemocht werden. Es geht darum, was Sie wollen.« Patientin: »Ich will von allen gemocht werden.« [Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 8.11.2020] (294)
Dabei ist dies natürlich nicht exakt das, was Fielding mit Menschen liebe und Menschenfreundlichkeit meint; doch es steckt dahinter wohl das gleiche Bedürfnis nach einer allgemeinen Harmonie, das uns in derlei Paradoxien treibt. Ein Therapeut, der seinem Patienten sagt: Alles, was Sie tun, ist so unzulänglich! Denken Sie doch mal positiv! (295), ist nicht nur paradox, sondern begeht einen schweren therapeutischen Fehler. Das heißt freilich nicht, daß dergleichen nicht vorkäme. Ermahnungen zu besserem Verhalten haben immer eine positive und eine negative Seite, wobei letztere darin besteht, daß ein besseres Verhalten für dringend erforderlich gehalten wird, weil das bisherige so betrüblich schlecht ist. Es ist überdies eine Kommunikation von oben herab. Damit verwandt, aber als Methode öfters empfohlen ist die paradoxe Intervention in der Psychotherapie. [https://de.wikipedia. org/wiki/Paradoxe_Intervention; aufgerufen am 31.5.2022] (296) Hierbei wird vom Therapeuten das erwünschte Verhalten dadurch gefördert, daß das unerwünschte verstärkt wird. So habe ich einmal meinen Sohn als Kind nicht anders dazu bewegen können, abends ins Bett zu gehen, als dadurch, daß ich ihm verboten habe, ins Bett zu gehen – seine Neigung zur Trotzhaltung ausnutzend. Man unter schätzt freilich sein Kind, wenn man hofft, daß dergleichen mehrmals funktioniert. Reaktanz nennt man dieses Verhaltensmuster in der Psychologie und erklärt es als Bedürfnis, sich in einer einengenden Situation einen Freiraum zu erkämpfen; für unser Thema ist es von Bedeutung, weil gerade eine bestimmte Handlungsintention (des Vaters) zu dem nicht-intendierten Ergebnis (beim Kind) führt. Ein Klassiker der paradoxen Kommunikation ist natürlich die Doppel botschaft (double bind), die, soweit sie von Eltern gegenüber ihren Kindern eingesetzt wird, in dem Verdacht steht, an er Entstehung von
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7. Medizin und Psychologie
Schizophrenie beteiligt zu sein10: »Na klar, Mama liebt dich«, sagt die Mutter zu ihrem Kind, sich mit Zeichen der Abneigung von ihm abwendend. (297) Da ist nun keine richtige Reaktion des Kindes mehr möglich: Beschwert es sich über mangelnde Zuneigung, verweist die Mutter auf die ihre Versicherung; vertraut das Kind auf diese Versiche rung, erlebt es ihre Widerlegung durch das Verhalten der Mutter. In den Bereich der Psychiatrie gehört auch das Experiment, das der Psychologe Milton Rokeach in der Klinik von Ypsilanti in Michigan 1959 durchgeführt hat: Er hat drei Patienten, die sich alle für Jesus Christus hielten, zusammengebracht und geschaut, ob diese logische Paradoxie von drei Christi (298), obwohl es da doch nur einen geben kann, irgendeinen, möglicherweise sogar heilenden Effekt auf sie hatte. Nach zwei Jahren war der Befund eindeutig negativ, der Irr glaube stabil.11 In den Bereich des psychischen Leidens gehört auch der Wunsch, belogen zu werden bzw. sich selbst zu betrügen. Dabei besteht das Auffallende nicht in dem Belogenwerden oder dem Selbstbetrug (das sind alltägliche Phänomene), sondern in dem Wunsch danach. Zwei Beispiele möchte ich dafür anführen: Lie to me and tell me everything is all right Lie to me and tell me that you’ll stay here tonight Tell me that you’ll never leave Oh, and I’ll just try to make believe That everything, everything you’re telling me is true Come on baby won’t you just Lie to me, go ahead and lie to me Lie to me, it doesn’t matter anymore It could never be, the way it was before If I can’t hold on to you Leave me somethin’ I can hold onto For just a little while won’t you, won’t you let me be
Vgl. Schizophrenie und Familie. Beiträge zu einer neuen Theorie von Gregory Bateson et al. Frankfurt/Main 1984, S. 16–23. 11 Milton Rokeach: Die drei Christi von Ypsilanti. Eine psychologische Studie. Ber lin 2021. 10
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Unser paradoxer Alltag
Oh, anyone can see That you love him more than me But right now baby let me pretend That our love will never end Lie to me, go ahead and lie to me [Jonny Lang: Titelsong seiner CD von 1997] (299)
Hier wird deutlich, worum es geht, nämlich angesichts einer trost losen Realität wenigstens die Lüge einer schöneren Lage gesagt zu bekommen. Da eine Lüge aber, um im eigentlichen Sinne wirken zu können, geglaubt werden muß, handelt es sich bei der erbetenen und daher bewußten Lüge um einen Akt äußerster Verzweiflung und zugleich um ein Paradox. In einer nicht ganz so krassen Variante findet sich dieses Bedürf nis in dem Gedicht »Die Züge deiner ...« von Gottfried Benn: Die Züge deiner, die dem Blut verschworen, der Menschheit altem, allgemeinen Blut, die sah ich wohl und gab mich doch verloren, schlummerbedeckt und schweigend deiner Flut. Trugst mich noch einmal zu des Spieles Pforten: die Becher dunkel und die Würfel blind, noch einmal zu den letzten süßen Worten und zum Vergessen, daß sie Träume sind. Die Vesten sinken und die Arten fallen, die Rasse Adams, die das Tier verstieß, nach den Legionen, nach den Göttern allen, wenn es auch Träume sind – noch einmal dies. [Gottfried Benn: Das Hauptwerk in vier Bänden. Hrsg. v. Mar guerite Schlüter. Wiesbaden/München 1980; Bd. 1, S. 328] (300)
In diesem Falle wird an einer Stelle zumindest das Verlangen ausge drückt, das bloß Erträumte der »letzten süßen Worte« (etwa: Ich liebe dich!) für eine Weile vergessen zu können – was das Paradoxe des Wunsches etwas abmildert, auch wenn das lyrische Ich seine Resignation, seinen verlorenen Glauben deutlich ausspricht, also wenigstens zeitweilig etwas glauben möchte, woran es im Grunde nicht mehr glaubt. Die Schlußzeile wiederholt diese paradoxe Hoff nung sogar ohne den Zusatz des Vergessenwollens. Ohne Zweifel eine extreme psychische Lage, die, obwohl sie eher für alte, durch
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8. Kunst
Erfahrung skeptisch gewordene Menschen typisch sein dürfte, im Falle von Jonny Lang von einem sehr jungen Mann (geb. 1981, damals also 16 Jahre alt) artikuliert wird. Eine psychisch komplexe, paradoxe Stimmungslage schildert auch das elsässische Volkslied »Hans im Schnakenloch«: Hans, Hans im Schnockeloch hat alles, was er will Was er hat das will er nit und was er will das hat er nit Hans, Hans im Schnockeloch hat alles, was er will [https://www.volksliederarchiv.de/hans-im-schnakenloch/; aufgerufen am 2.10.2022] (301)
Daß der Elsaß ein Gebiet mit vielen Schnaken ist, muß bemerkt werden, ist aber nicht entscheidend für das Gefühl, alles, was der Hans will, zu haben, und dennoch weder zu wollen, was er hat, noch zu haben, was er will. So ist keine Zufriedenheit mehr möglich, wenn jemand nicht einmal mehr zufrieden ist, der alles hat, was er will. Auch die Erforschung des menschlichen Gehirns hat ihr eigenes Paradox: Wenn das menschliche Gehirn so einfach wäre, dass wir es verstehen könnten, dann wären wir so einfach, dass wir es nicht verstehen würden. [Emerson Pugh (1977); Motto der Ausstellung Das Gehirn in Kunst und Wissenschaft in der Bundeskunsthalle (2022)] (303) Diese Feststellung hat eine tiefere Bedeutung, die unsere Fähigkeit zur Selbsterkenntnis betrifft. Wir hinken uns unweigerlich selbst hinterher; unsere Erkenntnisfähigkeit ist evolutionär auf den Umgang mit der Außenwelt fokussiert, in der wir überleben müssen – uns selbst angemessen zu verstehen, hat hingegen keine sehr große Bedeutung für unser Überleben. Philosophische Reflexion ist, wie manches andere auch und im Gegensatz zur Behandlung von Erkrankungen, ein Luxus, ein Überschuß-Vermögen.
8. Kunst Was die Kunst angeht, so fallen einem wohl als erstes die Bilder des niederländischen Malers und Graphikers M. C. Escher (1898–1972)
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Unser paradoxer Alltag
ein: die Treppen und Wasserfälle vor allem, die im Viereck von oben nach unten führen und dennoch wieder oben ankommen. Derartiges macht nicht Eschers gesamtes Werk aus, bildet ab doch einen seiner bekanntesten Teile. Zu diesem Typus gehört auch das sogenannte Penrose-Dreieck (benannt nach dem britischen Mathematiker und Physiker Roger Penrose):
[https://de.wikipedia.org/wiki/M._C._Escher; aufgerufen am 31.5.2022] (304)
Ein Künstler mit einer erkennbaren Liebe zu Paradoxa ist der Cartoo nist Joscha Sauer: https://joscha.com/nichtlustig. Vieles bei ihm, wenn auch nicht alles, bezieht sich auf Zeitparadoxa, mit denen ich mich nicht näher befasse, weil sie im täglichen Leben extrem selten auftreten. Eine Witz- und Comic-Webseite »nichtlustig« zu nennen (305), stellt natürlich schon für sich genommen ein Paradox dar. Die Erfahrung zeigt, daß bereits die Aufforderung »Bitte lachen Sie nicht, lachen Sie auf keinen Fall!« ein Lachen verursachen kann. In der Musik sind für unser Thema vor allem die Revival-Bands von Interesse: Wenn jemand Musik macht wie die Beatles (The Beatles Revival Band), dann macht er keine Musik wie die Beatles. (306) Die Kopie kopiert das Original, sie ist nicht das Original, denn das Original ist keine Kopie. Ganz generell: »Kunst machen wie ...« ist kein Kunstmachen wie das Vorbild. Mag die Musik auch noch so ähnlich klingen, das Gemälde noch so sehr den Stil eines berühmten Malers treffen – es bleibt der fundamentale Unterschied, daß das Original originell war, während die Kopie nur eine Kopie ist, der es genau daran – an der Originalität – mangelt. Günstig nur, weil die Preise günstiger sind und der eigentliche Künstler vielleicht nicht mehr zur Verfügung steht. Der Unterschied ist ein logischer
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8. Kunst
und bedeutet nicht unbedingt, daß man beim Hören bzw. Sehen das Original von der Nachbildung unterscheiden könnte. Letzteres wird vor allem dann schwierig, wenn Künstliche Intelligenz (KI) eingesetzt wird, um mittels eines Programms alle erfaßbaren Details eines Künstlers bzw. Werkes zu einem neuen Werk ganz im Stil des alten zusammenzusetzen. Dann können allenfalls noch Fachleute entscheiden, ob das Gedicht tatsächlich von Stefan George stammt oder Humphrey Bogart wirklich in einem solchen Film vor der Kamera gestanden hat. In einem gewissen Sinne stammt dann das Werk ja doch von dem betreffenden Künstler – nur daß sich die Nachschöpfung an der Schöpfung orientiert, während die eigentliche Schöpfung nichts derart nachahmt. Der titellose Titel stellt bei zahlreichen Kunstwerken ein eigenes Paradox dar: Ist ein Bild in einer Ausstellung, unter dem »ohne Titel« steht, unbetitelt oder hat es den Titel »ohne Titel«? Falls es der Titel ist, haben viele Bilder denselben Titel. The Byrds haben 1970 ein Doppelalbum »Untitled« herausgebracht. Zu dieser Zeit war von der Original-Besetzung der Byrds nur noch Roger McGuinn dabei. In welchem Sinne waren das dann noch die Byrds? (307)
In diesem speziellen Fall der Byrds, berühmt vor allem durch ihre Version von Bob Dylans Mr. Tambourine Man, haben wir es dann zusätzlich noch mit dem Problem zu tun, das weiter oben als »Schiff des Theseus« behandelt worden ist. Aber mit »Ohne Titel« als Titel eines Kunstwerkes kommt hier als ein anderes Paradox hinzu; es unterläuft die eigentliche Funktion eines Titels: die Kennzeichnung.
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Unser paradoxer Alltag
Eine beeindruckende, kreative Paradoxie habe ich auf dem Grabstein eines Musikers gefunden:
Sie ziert das Grab des wolgadeutschen Komponisten Alfred Schnittke (1934–1998) auf dem Nowodewitschi-Friedhof in Moskau. [https:/ /de.wikipedia.org/wiki/Datei:Schnittke-Grab_2.jpg; aufgerufen am 11.9.2017] (308) Die Notenlinien kündigen Musik an, doch es steht da lediglich das Pausenzeichen – also keine Musik; dazu kommt das Legato-Zeichen, d.h. die Anweisung eines ununterbrochenen Klanges ... der Pause. Das Ganze dann fff, also ganz laut. Ein höchst intensives, andauerndes Nichts, das ist der Tod aus der Perspektive eines Musikers. Und der Tod, das daseiende Nichts, ist paradox. Mit Bezug auf die damals aufgekommene Zwölftonmusik zeichnete R. Großmann unter dem Titel »Moderne Musik« 1923 in der satiri schen Zeitschrift Simplicissimus die Anweisung eines Dirigenten bei der Orchesterprobe: »Nochmal! Das klang so richtig – das muß falsch gewesen sein.« [Simplicissimus. Bilder aus dem Simplicissimus. Hrsg. v. Herbert Reinoß. Birsfelden-Basel 1970, S. 210] (309) Wenn man es als die Aufgabe von Kunst ansieht, Schönheit darzu stellen (also etwas, das uns gefällt), dann verweigert die Darstellung des Häßlichen (in der Musik: des Kakophonen) diese Aufgabe. In die
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8. Kunst
sem Falle kann aber etwas Paradoxes geschehen, was man das Paradox der Häßlichkeit nennen könnte: Gegenstände bzw. Kunstwerke, die als unschön, als häßlich empfunden werden, können einen ästhetischen Reiz ausüben. [gemäß Nelson Goodman: Sprachen der Kunst. Frank furt/Main 1995, S. 235; vgl. Marc Aurel: Selbstbetrachtungen III 2] Anders ausgedrückt: Das Abstoßende kann faszinierend sein. (310) Das ist ein verblüffender Effekt, der sich jedoch häufig beobachten läßt. Wobei es eine Frage an die Psychologie ist, was genau Absto ßendes so anziehend macht. Zur Kunst muß man selbstverständlich auch die Photographie rech nen, in einem weiteren, sich mit der Politik überschneidenden Sinne auch die Kriegsphotographie. Bei dieser letzteren läßt sich ein parado xer Effekt beobachten: Schaut man sich die Kriegsfotografie des letzten Jahrhunderts an, zeigt sich eine ungeheure Zunahme von Bildern, die Opfer physischer Gewalt zeigen. In digitalen Zeiten, in denen jeder filmen und veröf fentlichen kann, sind diese nicht mehr zu zählen. Für preiswürdig hält man vor allem jene Fotografen, die nah am Geschehen sind, die den ganzen Schrecken dokumentieren. Je mehr man von den grauenvollen Einzelheiten des Krieges aber zu sehen bekommt, desto fremder und beliebiger erscheinen sie. Das Übermaß an Nähe produziert demnach eine gewisse Ferne. [...] Neben einem allgemeinen Abscheu, den tote und übel zugerichtete Körper verursachen, provozieren Affekte, die Schreckensbilder hervorrufen, Zweifel an ihrer Echtheit und stehen unter Ideologieverdacht. Diese Zweifel scheinen ein probates Mittel zu sein, die Bilder wieder los zu werden, sie zumindest zu relativieren. Es entsteht demnach eine komplizierte Verbindung unterschiedlicher Wirkungen, Neugier, Entsetzen, Abwendung und die tatsächliche oder unterstellte Instrumentalisierung für andere Zwecke greifen ineinander. Das eigentliche Geschehen rückt dabei weitgehend in den Hintergrund, ja verschwindet geradezu aus der Wahrnehmung. Die Bilder verstellen paradoxerweise den Blick auf das, was tatsächlich passiert ist. [Martin Zimmermann: Gewalt – Die dunkle Seite der Antike. München 2013, S. 16 f.] (311)
Ein Zuviel an schrecklicher Nähe erzeugt Ferne – zunächst allgemein als Abwehr des allzu Entsetzlichen, dann aber auch durch eine Einbet tung in eine komplizierte Urteilsbildung, bis schließlich die Bilder das Abgebildete verdrängen. Der Schrecken ist gebannt.
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Unser paradoxer Alltag
9. Vermischtes Als ich vor einiger Zeit mit meiner Frau im Foyer des Pforzheimer Stadttheaters in einer Schlange auf den Einlaß wartete, fiel mein Blick auf einen an der Wand stehenden Flügel. Sofort war ich elektrisiert.
(312) »Warum fällt das außer mir niemandem auf? Warum lächelt niemand?« fragte ich meine Frau. »Du hast einen speziellen Blick dafür«, erwiderte sie. Nehmen wir das einmal an. Selbstverständlich ist klar, was hier gemeint ist – das ändert aber nichts daran, daß das Verbotsschild auf dem Flügel abgestellt war. Ausgerüstet mit diesem speziellen Blick bzw. Ohr läuft man durch die Welt und bemerkt es überall: das Paradox. In diesem Kapi tel werden unsystematische, keinem speziellen Bereich zugeordnete Fundstücke präsentiert und kommentiert. So muß es einst zu einer erstaunlichen Begegnung zwischen zwei namhaften Physikern gekommen sein: Der berühmte Physiker Wolfgang Pauli besuchte den nicht minder berühmten Physiker Niels Bohr in dessen Landhaus und sah, daß Bohr ein Hufeisen über der Tür hängen hatte. »Herr Professor!« staunte Pauli,
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9. Vermischtes
»Sie? Ein Hufeisen? Glauben Sie denn daran?« Worauf Bohr antwortete: »Natürlich nicht. Aber wissen Sie, es soll einem auch helfen, wenn man nicht daran glaubt.« [Gefunden bei Harry Mulisch: Die Entdeckung des Himmels. München/Wien 1993, S. 654 – frei zitiert; die Anekdote wird vielfach berichtet.] (313)
Ausgedacht habe ich mir den folgenden Dialog, der freilich anknüpft an einen Standpunkt, dem man häufiger begegnet: A: B: A: B:
»Es gibt keine absolute Gewißheit.« »Bist du dir da absolut sicher?« »Ich merke das Problem. Also sage ich: Ich vermute es.« »Bist du dir absolut sicher, daß du es vermutest?« (314)
Wer bestreitet, daß es eine absolute Gewißheit in irgendetwas gebe, der muß, damit seine Behauptung überhaupt irgendeinen Sinn hat, sich doch absolut sicher sein in dem, was er da behauptet – was auch die Bedeutung von Wörtern in der Sprache, die er denkt und spricht einschließt. Man kann, wie der Philosoph Ludwig Wittgen stein einmal festgestellt hat (Über Gewißheit), unmöglich zweifeln, wenn man auch an der Bedeutung des Wortes »Zweifel« zweifelt. Also ist es paradox, an der Möglichkeit absoluter Gewißheit zu zweifeln. Dennoch geschieht es oft. Von dieser Art ist auch: Keine Aussage ist sicher. (315) Das gilt dann auch für diese Aussage ... und ist also paradox. Ebenso verbreitet ist ein melancholischer bis depressiver Seufzer: A sagt zu B: »Niemand versteht mich.« B erwidert: »Mich auch nicht.« (316)
Zunächst ist schon paradox, daß A seine traurige Ansicht B mitteilt, obwohl A doch davon ausgehen müßte, daß auch B ihn nicht versteht. Und nun bestätigt B auch noch A, was ja bedeuten muß, daß er A ver standen hat, obwohl er die Unmöglichkeit dieses Vorgangs bestätigt. Es ist schwierig, ein allgemeines Unverständnis zu behaupten, ohne paradox zu werden. Dergleichen zu empfinden, mag leichter sein. Auch im nächsten Beispiel gehe ich von einer verbreiteten, sich zudem als tolerant gebenden Ansicht aus, die in diesem Falle von B vertreten wird:
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Unser paradoxer Alltag
A: B: A:
»Die Ansichten vieler Menschen erscheinen mir sehr dumm!« »Woher nimmst du dir das Recht, andere Menschen zu beurteilen?« »Und was tust du soeben?« (317)
B verurteilt den Standpunkt von A (wegen Arroganz), tut aber damit genau das, was B an A verurteilt. Man kann das leicht auf eine verwandte Meinung übertragen, die von ihren Anhängern ebenfalls als tolerant oder gar wissenschaft lich-objektiv, von ihren Gegnern hingegen als Kulturrelativismus bezeichnet wird. (1) Es gibt keine ›höheren‹ und ›niederen‹ Kulturen. (2) Es gibt aber Menschen, die glauben, ihre eigene Kultur stehe höher. (3) Menschen, die (1) vertreten, stehen moralisch höher und haben daher eine höhere Kultur. (4) Menschen, die (2) vertreten, stehen moralisch niedriger (sind überheblich) und gehören daher eine niederen Kultur an. (318)
(1) gibt den Toleranz-Standpunkt wieder, (2) denjenigen, gegen den (1) sich wendet – ein Standpunkt ohne Gegenstandpunkt wäre ja sinnlos. Da (1) den moralisch besseren Standpunkt zu vertreten behauptet, wird dadurch (2) als überheblich herabgesetzt: Wer von sich behauptet, auf einem höheren kulturellen Standpunkt zu stehen, steht damit auf einem niedrigeren Standpunkt ... und damit hat (1) genau diejenige Eigenschaft, die von ihm verurteilt wird. In den Bereich des paradoxen Eigenlobs gehört auch dieser Umstand: Wer ein besserer Mensch ist und sich selbst für einen solchen erklärt, der ist kein besserer Mensch. (319) Wie das Sprichwort sagt: Eigenlob stinkt. Computerfreaks vertreten gerne die Ansicht, daß alle Fehler ihres geliebten Gerätes entweder auf die Programmierung (systemische Fehler) oder die Hardware-Konstruktion (technische Fehler) zurück zuführen sind. Das klingt dann so: »Menschen können Fehler machen – Computer nicht«, sagt ... ein Mensch. (320) Wenn der Computer HAL 2000 in Stanley Kubricks Film 2001 – A Space Odyssey (1968) so etwas von sich behauptet, ist es nicht paradox (obgleich auch er sehr wohl einen Fehler macht, also sich irrt); doch wenn ein Mensch es behauptet, hebt es sich selber auf.
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9. Vermischtes
Liebhaber des Abwechslungsprinzips könnten sagen (und denken es vielleicht auch so): Wäre man immer nur glücklich, dann wäre man nicht glücklich. (321) Wer jemanden überraschen und zugleich hereinlegen möchte, könnte das folgendermaßen machen: A: B: A:
»Komm’ doch mal hierher! Ich habe eine Überraschung für dich!« (kommt) »Was denn? Wo denn? Ich sehe ja nichts!« »Du siehst nichts, wo du etwas zu sehen erwartest. Genau darin besteht die Überraschung.« (322)
Wobei die letzte Äußerung von A etwas lehrerhaft rüberkommt; einfacher wäre: »Siehst du? Das ist die Überraschung!« Eine Friseuse sagte einmal zu mir: Hier in meinem Laden wird nicht geklatscht. Wenn Sie Klatsch in diesem Dorf hören wollen, müssen Sie zum Metzger gehen. (323) Daß sie damit über den Metzger klatschte und sich damit selbst dementierte, war ihr wohl nicht bewußt. Dazu brauchte es wieder dieses spezielle Hören. Und jetzt habe ich Klatsch über die Friseuse verbreitet. Masochist zum Sadisten: »Bitte quäle mich!« Sadist: »Nein!« Masochist: »Danke.« (324)
Mangels Blick in die Schlafzimmer anderer Leute kann ich mich nicht dafür verbürgen, daß das so schon einmal vorgekommen ist – aber es könnte funktionieren. Durch sein »Nein!«, also durch die Verweigerung der Bitte, erfüllt der Sadist diese Bitte, und so kann sich der Masochist bedanken. »Bitte quäle mich physisch!« hatte er ja nicht gesagt. Insofern der Masochist etwas will, was man gemeinhin gerade nicht will, ist er logisch kompliziert: A: B: A:
»Für mich ist Essen eine Strafe.« »Und warum nimmst du dann immer noch zu?« »Ich bestrafe mich damit für meinen Masochismus.« (325)
Zum Glück sind solche Komplikationen selbst im Bereich des Maso chismus selten, denn zumindest in den geglückten Beziehungen auf der Basis dieser Veranlagung geht es um williges Quälen und williges Gequältwerden.
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Weit mehr Belegfälle gibt es hingegen für die alltägliche, höflich gemeinte Frage: Darf ich Ihnen mal eine Frage stellen? (326) »War sie das schon?« habe ich einmal geantwortet bzw. gegengefragt. Das hat zu großer Irritation geführt; wir dürfen wohl generell davon ausgehen, daß diese Paradoxie eine unbewußte ist. Ausgesprochen beliebt, geradezu sprichwörtlich ist das Motto Der Weg ist das Ziel. (327) Der Weg ist also nicht der Weg (zum Ziel), sondern selbst das Ziel; der Weg hat kein Ziel außer sich selbst. Abgesehen davon, daß man so etwas im (wieder mal verspäteten) Zug oder im Flugzeug nicht gerne hört, ist der Weg doch als Strecke von A (Start) nach B (Ziel) definiert. Da schüttelt jeder, der irgendwohin will, irgendwo ankommen will, speziell ein Wettkampfläufer, den Kopf. Es mag einen tieferen Sinn geben in diesem mystisch klingenden Spruch, aber er hat sich mir noch nicht recht erschlossen. Das große Ziel, auf das wir alle zulaufen, so scheint mir eher, ist der Tod. Einige Beobachtungen zum Thema Film. Zunächst kann man ganz grundsätzlich feststellen: Wenn Menschen sich im Film, also vor der Kamera, normal verhalten, dann verhalten sie sich nicht normal. (328) Das ist das Wesen der Schauspielerei, nämlich in einer nicht normalen Situation (auf der Bühne, vor der Kamera) normal zu agieren (als ob es keine Bühne, keine Kamera gäbe). Nun kommen wir zu spezielleren Fällen. Leute, die in Metaphern spre chen, können mir den Schritt shampoonieren (329), sagt Jack Nicholson in dem Film Besser geht’s nicht (1997) ... und hat einen Oscar als bester männlicher Hauptdarsteller gewonnen – wenn auch diese Paradoxie (denn es handelt sich, sollen wir hoffen, bei der Äußerung nicht um eine wörtlich gemeinte Aufforderung, sondern um eine Metapher) dabei keine entscheidende Rolle gespielt haben dürfte. In dem Vietnam-Film Full Metal Jacket von Stanley Kubrick (1987) schnauzt der Ausbilder seine Rekruten bei den Marines an: Ich dulde keinerlei Vorurteile gegen Nigger, Latinos und Spaghettis! (330) Dies ist dann schon eine sehr drastische und bewußt eingesetzte Paradoxie, denn das – nicht nur in diesem Film vorkommende – Aus bildungsprinzip besteht darin, die Auszubildenden durch unmöglich zu erfüllende, weil paradoxe Forderungen nach Art einer Gehirnwä sche in die Enge zu treiben.
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9. Vermischtes
Bewußt paradox und rätselhaft ist der Titel von Stanley Kubricks letztem Film: Eyes Wide Shut (1999) (331). Dieses Sehen mit geschlossenen Augen habe ich auch erwähnt gefunden in der Todesanzeige von Urs Jaeggi, eines seiner Gedichte zitierend: auf dem rücken liegend manchmal genügt es einem fluss zuzusehen die augen geschlossen urs jaeggi [Todesanzeige für Urs Jaeggi in der Frankfurter Allgemeine vom 20.2.2021] (332)
Ganz traurig und verwirrend wird es in einem anderen Film: Ich will nicht das, was ich will, und ich will das, was ich nicht will. Um es noch komplizierter zu machen: Im Moment weiß ich weder, was ich will, noch, was ich nicht will. [Calista Flockhart als Ally McBeal in der gleichnamigen Fernseh serie] (333)
Hat hier ein Drehbuchautor zu dick aufgetragen, oder gibt es eine solche Stimmung wirklich, wie es das erwähnte Lied vom »Hans im Schnakenloch« suggeriert? Wie könnte man etwas wollen, was man nicht will, bzw. nicht wollen, was man will – und das alles ohne zu wis sen, was man will und was nicht? Eine mögliche und gar nicht absurde Erklärung wäre, daß wir – zumindest in einer solchen Lage – aus einer Vielzahl unkoordinierter Willens- und Gedankenregungen bestehen, also eine anarchische statt einer monarchischen psychischen Struktur haben. Gleich wenn sich eine Willensregung artikuliert, meldet sich eine gegenteilige, und dabei lösen dann auch noch die Gedanken jeden Sinn ins Sinnlose auf (der Wortsinn von »analysieren«). Eine desintegrierte Persönlichkeit oder wenigstens Persönlichkeitsphase. Wie schön glatt geht im Vergleich dazu die alte Aufforderung auf: »Folgt mir!« rief der Weise und hielt sich hinten. (334) Leider weiß ich nicht mehr, wo ich das einmal gehört habe; aber es klingt chinesisch, nämlich taoistisch: Dort erscheint der Weise oft als jemand, der führt, indem er eine unauffällige Stellung einnimmt, insbesondere dient. Wahrlich: Das eine erniedrigt sich,
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Unser paradoxer Alltag
Um dadurch zu gewinnen. Das andere ist niedrig, Und dadurch gewinnt es. [Lao-tse: Tao-Tê-King. Hrsg. v. Günther Debon. Stuttgart 21979, S. 90 (Gedicht 61)] (335)
Im oben erwähnten Aufruf des Weisen kommt dazu noch eine gewisse Schlitzohrigkeit zum Tragen, indem es bei vielen Gelegenheiten sicherer ist, hinten zu stehen als vorne in der ersten Reihe, besser zu folgen als zu führen – wobei dann die Paradoxie in dem »Folgt mir! Aber nach hinten!« aufscheint. Gewiß ist sie hier bewußt eingesetzt und nicht als logischer Lapsus zu werten. Von einer tieferen Problematik ist das Geist-Körper-Paradox, das darin besteht, daß wir (jeder, der »ich« denkt und sagt) uns mit unse rem Körper identifizieren und zugleich nicht mit ihm identifizieren. Etwa so: Ich kann mich nicht mit meinem Körper identifizieren. Begründung: »Ich = mein Körper« (oder »Ich = mein Gehirn«) ergibt Unsinn, weil in »mein« das Ich drinsteckt (»mein« als besitzanzeigendes Fürwort) und weil ich dann nicht mehr beschreiben kann, was meinen Körper von all den Milliarden anderer Körper unterscheidet, denn dieser Unterschied ist von grundsätzlich anderer Art als der zwischen verschiedenen Körpern. Mein Körper ist der Körper, den ich habe, und das unterscheidet ihn von all den Milliarden anderen Körpern. Ich kann mich andererseits nicht nicht mit meinem Körper identifizie ren, d.h. ich muß mich mit meinem Körper identifizieren. Begründung: Wenn ich sage: »Meine Gelenke schmerzen, mein Brustkorb ist beengt, mein Puls rast, und mir selbst geht es auch nicht gut«, dann ist dies ebenfalls Unsinn. Obwohl sie beide falsch sind, verhalten sich die beiden Sätze kontradik torisch zueinander, d.h. einer von beiden muß wahr, der andere falsch sein. (336)
Über das Verhältnis von Körper zu Bewußtsein (ich) ist schon eine ganze Bibliothek geschrieben worden, aber ich (!) kann nicht sehen, daß es dabei zu einer zufriedenstellenden Antwort gekommen wäre. Was bin ich nun? Für und gegen beide Annahmen spricht etwas. Es erscheint paradox.
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9. Vermischtes
Hiermit in Verbindung steht auch etwas, das man das »Paradox des Leichnams« nennen könnte: Viele, die zum ersten Mal mit einem menschlichen Leichnam konfrontiert werden, behalten diese Erfahrung als etwas zutiefst Irritierendes im Gedächtnis. Ein radikaler Absturz hat stattgefunden – so radikal, dass das Kategoriensystem, mit dem wir uns die Welt verständlich machen, ein Stück weit in Unordnung gerät. Einerseits ist der Körper, aus dem das Leben gewichen ist, eben dies: ein Körper, ein Stück Materie, eine Ansammlung von vollständig physikalisch und chemisch beschreibbaren Teilen. Nicht nur hat dieser Körper Selbstbewusstsein und Bewusstsein eingebüßt, auch die rein vegetativen Lebensprozesse, von denen beide abhängen, sind zum Stillstand gekommen. Andererseits ist er aber ganz ohne Zweifel auch die Person, deren Leben zu Ende gegangen ist. Er ist nicht der Nachfolger, der Schatten oder ein wie immer geartetes Abbild dieser Person, sondern ist mit ihr identisch, und zwar aufgrund des härtesten und unverbrüchlichsten Identitätskriteriums, des Kriteriums der raumzeitlichen Kontinuität. Die Kontur der ansonsten für unsere Sicht auf die Welt fundamentalen Unterscheidung zwischen Personen, Tieren und Sachen verschwimmt. Der menschliche Leichnam ist weniger als eine Person, aber er ist auch mehr als eine bloße Sache. [Dieter Birnbacher: Tod. Berlin/Boston 2017, S. 159] (337)
Denn auch hier beruht die Paradoxie darauf, daß man den Körper bzw. Leib mit der Person identifizieren muß, aber zugleich – vor allem wenn er tot ist – nicht kann. Es ist die ungeklärte Frage, was eigentlich unser Ich ausmacht. Es bleibt ein Rätsel. Vor allem dann, wenn man im Angesicht des Leichnams feststellen muß: Die Mutter sah sich gar nicht ähnlich. [Ljudmila Ulitzkaja: Alissa kauft ihren Tod. München 2022, S. 92] (338) Dabei ist das liebe Ich den Menschen so unendlich wichtig – eine Wichtigkeit, die sogar die Begriffe des Egoisten und des Egozentrikers hervorgebracht hat. So kann ein Egozentriker scheinbar bescheiden sagen: Jetzt reden wir doch mal nicht immer nur von mir! Wie denkst du denn über mich? (339) Ja, wer mag schon rhetorische Fragen? (340), könnte man da rhetorisch fragen. Recht egozentrisch klingt auch das folgende Paradox: Was mich an Menschen stört, ist, daß viele glauben, sie hätten immer recht. Mich betrifft das zum Glück nicht, denn ich habe halt wirklich immer recht. (341)
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Überhaupt: Ich will mich nicht selber loben. Sollen doch andere sagen, daß ich der Beste bin. (342) Einem penetranten Rechthaber könnte ein peinlicher Fehler unterlaufen: Ich kann mir nicht irren! (343) Die Kritik am Egoismus, etwa die Aufforderung, nicht so egoistisch zu sein, läuft ins Leere: Man soll kein Egoist sein? Worin liegt denn da der Vorteil, was hab‘ ich denn davon? (344) Gibt es darauf eine nicht-egoistische Antwort? Nicht nur von Egoisten wird die eigene Individualität hochge halten. Und da sehr viele, wenn nicht gar alle Menschen Egoisten sind, sind sie alle gleich darin, ungleich zu sein. Dies wird sehr schön karikiert in dem bekannten Monty-Python-Film Das Leben des Brian (1979): Brian wird, zu seinem Unwillen, von einer wachsenden Menschen menge für den Messias gehalten. Um sie von diesem Glauben abzu bringen, hält er eine kleine Ansprache: Brian: »Ihr habt das ganz falsch verstanden. Ihr braucht mir nicht zu folgen. Ihr braucht niemandem zu folgen! Ihr müsst selber denken! Ihr seid lauter Individuen.« Die Menge (einstimmig): »Ja, wir sind lauter Individuen!« Brian: »Ihr seid alle verschieden.« Die Menge (einstimmig): »Ja, wir sind alle verschieden!«
Worauf aus der Menge eine einzelne Stimme sagt: »Ich nicht.« (345) Oder wie die Band Dire Straits in Brothers in Arms singt: We have just one world / But we live in different ones. (346) Nicht in den Bereich des Egoismus, sondern den des Pessimismus gehört dieser Dialog: A: B:
»Wie geht es Ihnen?« »Leider kann ich mich nicht beklagen.« (347)
Sicherlich gilt: Es ist nicht alles schlecht; z.B. Pessimismus ist gut. (348) Zumindest würde B. dies bestätigen. Ein solcher kann von sich sagen: Ich bin ganz zufrieden damit, daß ich immer unzufrieden bin – das ist halt so meine Art. (349) Eine sehr eigentümliche, aber eindrucksvolle pessimistische Ein stellung hat Woody Allen in seinem Film Verbrechen und andere Kleinigkeiten (1989) präsentiert: Er spielt einen erfolglosen und an sich selbst (ver)zweifelnden Dokumentarfilmer namens Cliff Stern,
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der an einem Porträt des jüdischen Philosophen Louis Levy arbeitet. Dieser verteidigt den Optimismus und die Möglichkeit, es doch zu schaffen im Leben. Noch bevor Cliff Stern seinen Film abgeschlossen hat, geht der Professor allerdings »aus dem Fenster«, d.h. er bringt sich um. Im Nachspann des Films läßt Woody Allen Auszüge aus dem Interview laufen, mit – wie gesagt – einem emphatischen Lob des Lebens; wir aber wissen, daß der, der das sagt, sich umgebracht hat. (350) Das unterläuft natürlich komplett die Aussagen, die wir hören. Eine eigene Problematik liegt im Typus des Transvestiten, verglichen mit einem Schauspieler: Ein Transvestit ist eine echte unechte Frau, ein Schauspieler, der einen Transvestiten spielt, ist eine unechte unechte Frau. (351) Würde man einen Transvestiten lediglich als eine unechte Frau bezeichnen, könnte man ihn nicht mehr unterscheiden von einem Schauspieler, der einen Transvestiten bloß spielt. Schauspieler aber können alles spielen, sogar einen Schauspieler – wobei dies nicht zwingend paradox ist, sondern erst dann dazu wird, wenn sie betonen, dies – ihr Spiel – sei das echte Leben: Wir sind nicht in einem Film, das hier ist die Wirklichkeit! [Columbo: Mord im Bistro (1976)] (352) Einen ernsten Sinn mag es haben, wenn ein Filmschauspieler äußert: Ich sage immer die Wahrheit – sogar wenn ich lüge. [Al Pacino in Scarface (1983)] (353) Das, was der Schauspieler »lügt« (d.h. spielt), kann ja eine tiefere Wahrheit ausdrücken – wobei in diesem Falle zusätzlich ein paradoxer Effekt entsteht, weil er durch seine Äußerung sein Spielen aufhebt; aber möglicherweise ist diese Deutung hier zu tiefsinnig, und der Spruch ist lediglich »cool« gemeint, wobei diese Coolness durch die offensichtliche Paradoxie entstünde. Noch weiter treibt es Oscar Wilde: Between two truths, the falser is truer. [Zitiert nach: Matthew Sturgis: Oscar Wilde. A Life. New York 2021] (354) Cool soll sicher auch der unkonventionell und antibürgerlich daher kommende Grundsatz »Nichts ist wahr. Alles ist erlaubt« wirken. Paradox? Nein. Eine Paradoxie entsteht erst, wenn in einem Latein forum um eine Übersetzung ins Lateinische (vermutlich zum Zweck einer Tätowierung) gebeten und ausdrücklich hinzugefügt wird, die Übersetzung solle unbedingt korrekt sein. [albertmartin.de/latein am 31.7.2009] (355) Schließlich möchte man nichts Falsches auf der Haut verewigt haben. So weit meint man es dann doch nicht ernst mit der Negierung der Wahrheit.
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Auch hier gilt: Es ist ein großer Fehler, nie Fehler zu machen. (356) Aber man muß die richtigen, nicht die falschen Fehler machen, und schlechtes Latein auf dem Oberarm ist eindeutig ein falscher Fehler (357). Man könnte dagegenhalten: »Warum sich an Regeln halten? Lass die leute doch schreiben was sie wollen!« [am 19.6.2010 im selben Lateinforum] Ist das paradox? Nein, eher konsequent, jedenfalls in den Augen der meisten leute/Leute. Mein Grundsatz jedenfalls lautet: Ich mache niemandem Vorschriften und dulde auch nicht, daß mir jemand welche macht. (358) Niemand macht das mit mir – so viel Vorschrift muß sein! Nach paradoxer Selbstüberschätzung klingt das folgende Anliegen: Ich bitte um Übersetzung des Satzes »Ich kann alles, wenn ich will« ins Lateinische. [albertmartin.de/latein am 6.5.2011] (359) Alles? Latein offenbar nicht. Das genaue Gegenteil wäre eine paradox geleugnete Sprachkompetenz: No, I don’t speak English. Not a single word. (360) Dies auf die Frage: »Do you speak English?« geantwortet, löst Irrita tion aus. Tätowierungen gab es in früheren Jahren nur bei Seeleuten; heute sind sie weit verbreitete Mode, und die Mode ändert sich, überhaupt alles ändert sich. Es geschieht immer dasselbe: Veränderung. (361) Daß man erleben muß: Immer nur Abwechslung ist langweilig, habe ich in einem früheren Kapitel bereits erwähnt. Und nicht nur langweilig – es beunruhigt, vor allem die alten Leute, die seufzen: Früher war alles besser, sogar die Zukunft. [Karl Valentin zugeschrieben.] (362) Eine interessante Lebensmaxime mit ebenfalls hohem Anspruch an die (eigene) Freiheit ist diese: Ich handle nicht nach Maximen, sondern mal so, mal so. (363) So formuliert – und das kommt nicht selten vor – handelt es sich um eine Anti-Maximen-Maxime, ähnlich der schon erwähnten, grundsätzlich nicht (= nie) verallgemeinern zu wollen. Ein eigentümliches, paradoxes, aber doch nachvollziehbares Berufs verständnis ist dieses: »Mein Beruf«, pflegte er [sc. ein niederländischer Offizier] zu sagen, »ist, zu verhindern, daß ich ihn ausüben muß.« [Harry Mulisch: Die Prozedur. München 1999, S. 108] (364) Genau das macht den Soldaten in seinem besten Sinne aus!
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Selbst die des Denkens unverdächtige Dusche scheint einer Vorliebe für Paradoxa zu haben, wenn man an die Wirkung einer kalten Dusche denkt: Ich muß jetzt kalt duschen, um wieder warm zu werden. (365) Das hat mir eine Frau tatsächlich einmal nach einem winterlichen Ausflug gesagt. Auch die Uhr ist nicht frei von logischen Herausforderungen: Eine Uhr, die steht, geht zweimal am Tag richtig. Eine Uhr, die eine Minute vorgeht, geht niemals richtig. Also ist eine Uhr, die steht, besser als eine Uhr, die eine Minute vorgeht. Wenn ich aber weiß, daß meine Uhr eine Minute vorgeht, dann zeigt sie mir die richtige Zeit an, obwohl sie mir die falsche anzeigt. (366)
Um wieder auf eine ernstere Seite des Lebens zu sprechen zu sprechen kommen, erwähne ich das leidige Alter. Es liegt ein Widerspruch darin, daß, während alle Menschen alt zu werden wünschen, sie doch nicht alt sein wollen. [Jacob Grimm: Rede über das Alter (1860). Göttingen 2010, S. 21] (367) Etwas älter noch: Jeder möchte lang leben, aber keiner möchte alt werden. [Jonathan Swift: Aphorismen; in ders.: Die menschliche Komödie. Schriften – Fragmente – Aphorismen. Stuttgart 1957, S. 267] (367a) Die älteste Version, die ich gefunden habe, steht in der Anthologia Graeca, einer antiken Gedichtsammlung, und wird dort dem nicht weiter bekannten Menekrates aus Samos zugesprochen: Ist das Alter noch fern, dann wünscht es sich jeder, und kommt es, schilt man’s; besser jedoch, steht es geschuldet noch aus. [IX 54] (367b)
Dieser wahre Ausspruch hat inzwischen eine gewisse Popularität erlangt. Und obgleich man darüber lächelt, bleibt es doch bei dieser paradoxen Einstellung. Alt werden ist gut, alt sein ist schlecht. Das ist instinktiv, da muß die Logik sich fügen. Sind wir ein bißchen verrückt? Jedenfalls stillschweigend tolerant im Hinblick auf gewisse paradoxe Denkweisen, sofern wir sie bei uns selber feststellen (anderen werfen wir es gerne vor). Die ausdrückliche Verrücktheit, die wir als Krankheit bezeichnen, ist allerdings von anderer, wenngleich ebenfalls paradoxer Art:
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Ein mit dem Etikett ›Geisteskranker‹ Versehener gilt für verrückt, solange er die Beziehungsdefinition »Wir sind normal, du bist verrückt« still schweigend hinnimmt, und für verrückt, wenn er sie in Frage stellt. (368)
Das heißt, hat man diesen Stempel des Verrücktseins einmal aufge drückt bekommen, kann man es durch Bestreiten ebenso wie durch Akzeptieren nur noch bestätigen – wobei das Bestreiten womöglich noch weit eher als Bestätigung gilt, während man, wenn der Betref fende es akzeptiert, wenigstens zu sagen geneigt ist: Immerhin, das weiß er noch! Es gilt gleichsam als weniger verrückt, wenn jemand, den wir als verrückt etikettieren, dieses Etikett übernimmt. Wie man es aber bestreiten und damit ernstgenommen werden kann, das wissen die Götter. (Auf dieses Problem war ich schon im Kapitel über Politik bei der Erwähnung des Andreas Breivik zu sprechen gekom men.) Wer sich dann tatsächlich selber für verrückt hält, gerät in eine noch mißlichere Lage, wie sie auch bei depressiven Menschen vor kommt: Ich achte mich selbst nicht. Ich kann niemanden achten, der mich achtet. Ich kann nur jemanden achten, der mich nicht achtet. [Paul Watzlawick: Anleitung zum Unglücklichsein. A.a.O., S. 101] (369)
Ist die Selbstachtung verloren, beeinflußt sie auch das Verhältnis zu anderen Menschen, indem wir sie ebenfalls negativ bewerten, sofern sie uns – irrtümlich oder heuchlerisch, wie wir annehmen – Achtung entgegenbringen, und lediglich ihre uns bestätigende Mißachtung gilt uns noch als Zeichen von Achtsamkeit. Der Philosoph G. W. F. Hegel hätte dies unter die Dialektik des Selbstbewußtseins gerechnet – das unglückliche Bewußtsein: Dieses unglückliche, in sich entzweyte Bewußtseyn muß also, weil dieser Widerspruch seines Wesens sich Ein Bewußtseyn ist, in dem einen Bewußtseyn immer auch das andere haben, und so aus jedem unmittelbar, indem es zum Siege und zur Ruhe der Einheit gekommen zu seyn meynt, wieder daraus ausgetrieben werden. [Phänomenologie des Geistes (1807), IV B] (370)
Womit Hegel mehr über ein unglückliches als ein verrücktes, gar im klinischen Sinne verrücktes Bewußtsein etwas sagt.
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Über manche Leute sagen wir: er ist ein unmenschlicher Mensch (371) – eine paradoxe Bezeichnung, die oft auch auf einen anderen, nämlich rücksichtslosen und grausamen Typus angewendet wird. Da vor allem die Aussicht auf den Tod viele Menschen unglück lich macht (sofern sie sie nicht aus ihrem Leben verdrängen, kann es ein Schritt zur Befreiung sein zu sagen: Mit meinem Tod kann ich leben. (372) Die Einsicht, (möglicherweise) verrückt zu sein, liefert einen auch noch auf andere Weise den Unwägbarkeiten des Paradoxen aus: Nur weil du paranoid bist, heißt das noch lang nicht, dass sie nicht trotzdem hinter dir her sind. [Wird verschiedenen Autoren von Woody Allen über Philip K. Dick bis hin zu Terry Pratchett zugeschrieben.] (373) Daß eine Ausnahme die Regel bestätigt (statt sie, wie bei Karl Popper vorgesehen, sie in ihrer Allgemeingültigkeit zu falsifizieren), läßt die Frage aufkommen: Wird die Regel »Ausnahmen bestätigen die Regel« durch eine Ausnahme bestätigt? (374) Das ist eine logische Spielerei, die aber doch den ernsten Hintergrund hat, wie wir eigentlich das Ver hältnis von Regel, Bestätigung durch einzelne Fälle und Ausnahmen von der Regel festlegen wollen. Anders ausgedrückt: Wie gehen wir mit Erfahrungen um, die nicht zu den Regeln passen, von welchen wir in unserem Leben ausgehen? Manche Gegenargumente mögen wir ja überhaupt nicht und nennen sie deshalb verächtlich »Totschlagargument«. Das setzen wir so freigebig ein, daß man sagen kann: »Das ist ein Totschlagargument« ist ein Totschlagargument. (375; vgl. 87) Und damit hebt sich das Argument des Totschlagargumentes selbst auf: es wird selber zum bloßen Totschläger. Welcher der beiden folgenden, einander widersprechenden Aussagen soll man zustimmen? Jeder Mensch lebt in seiner eigenen Welt. Alle Menschen leben in derselben Welt. (376; vgl. 346)
Auch nach einiger Überlegung bin ich der Ansicht, daß beide wahr sind: Jeder Mensch sieht die Dinge aus seiner spezifischen Perspek tive, und diese bildet insgesamt seine eigene Welt; andererseits sind wir eine Vielzahl von Menschen, mannigfaltig verwoben mit anderen Menschen – in einer gemeinsamen Welt.
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Intellektuelle (sagen wir: Philosophen), welche die Sache logisch durchdenken, gelangen oft zu dem Ergebnis, daß der erste dieser bei den Sätze zu der Annahme führt, im Grunde gebe es nur eine einzige Welt, von der ich wirklich sicher weiß, daß sie existiert: nämlich meine eigene. Denn alle anderen Menschen und sonstigen Bestandteile dieser Welt seien ja so, wie ich sie mir vorstelle, und mir anders völlig unbekannt. Man nennt diesen Standpunkt »Solipsismus« – unangenehm logisch und gleichzeitig geradezu irre, führt er doch zu der paradoxen Konsequenz: Viele Intellektuelle sind Solipsisten. (377) Was nichts anderes bedeutet, als daß viele sich für die einzigen halten. Manches, was ich sage, klingt besserwisserisch; aber das weiß ich besser: ich bin kein Besserwisser. (378) Natürlich gibt es sie, diese Besserwisser, auch wenn alle (?) besser wissen, daß sie selbst nicht dazugehören. Man erkennt sie daran, daß sie allem widersprechen. Etwa so: A: B: A:
»Wann immer ich etwas sage, habe ich eine Chance von 90:20, daß du mir widersprichst.« »90:20? Das geht doch gar nicht!« »Siehst du?«
Die Geschichte kann noch weitergehen: C: A:
»Aber 90:20 ist mathematisch durchaus möglich! 90 + 20 ergibt 110. Du mußt jede Zahl mit 100/110 multiplizieren. Also 81,8181 : 18,1818.« »Siehst du, B.?« (379)
Es ist leidig, mit ihnen zu diskutieren. Und man findet sie keineswegs nur unter Lehrern, bei denen das sozusagen eine Berufskrankheit (Lehrer: Besserwisser vor Minderjährigen) ist. Was ist der Unterschied zwischen Gott und einem Lehrer? Gott weiß alles, der Lehrer weiß alles besser. (380)
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Oder auch in dieser Form:
[Gronau-Epe, gesehen am 22.5.2022] (381)
Dabei ist dieser Unterschied natürlich paradox – ebenso paradox wie Es gibt keine Wahrheit und Alle Wahrheit ist relativ. (382) Schließlich soll diese Behauptung wahr sein ... wahr, und zwar nicht nur relativ wahr. Zwei Leute könnten sich unterhalten: A: B:
»Es gibt keine Wahrheit.« »Das ist wahr.« (383)
Ich halte es für möglich, daß A. bei B.s Antwort nicht einmal stutzig würde ob der Paradoxie. So habe ich einst einmal gedichtet: Alles ist falsch, und das ist wahr. Alles ist dunkel, und das ist klar. (384) Unmöglich? Seien wir Realisten und versuchen das Unmögliche. [Frankfurter Allgemeine am 14.1.2015; Todesanzeige des Mana gers Günther Cramer] (385)
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Das kann auch nur ein Manager sagen. Berufsmotto: Schwieriges erledigen wir sofort, Unmögliches etwas später. (386) Ins Grübeln versetzt hat mich die E-Mail eines Bekannten: Mein E-Mail-Postfach ist einem Hacker zum Opfer gefallen, und Du könntest manipulierte E-Mails von mir erhalten. Es wäre nicht der erste Trojaner, der als Warnung von Trojanern daherkommt. Die Gefahr mag in der Warnung vor ihr lauern. Es gibt E-Mails, die vor verseuchten E-Mails warnen und auf einen (verseuchten) Anhang mit Ratschlägen verweisen. (387) Zwar hatte ich in meinem Leben noch keinen bedrohlichen Kontakt mit der Polizei, aber Hände hoch! Keine Bewegung! (388) hört man in Filmen und anderen Spielszenen häufiger, und ich möchte dann fragen: »Ja, was von beiden denn nun?« Ähnlich unbedacht ist die häufig zu hörende Aufforderung: Ach komm, geh! (389) Mit Letzterem ist man dann wohl, was die Reaktion angeht, auf der sicheren Seite. Setz dich ordentlich hin! Gleich müssen wir aussteigen. (390) Dies sagte eine pädagogisch engagierte Mutter im Bus zu ihrem Kind. Was das angesprochene Kind davon hielt, war nicht eindeutig zu erkennen; möglicherweise war es logischen Kummer gewöhnt. Als Paradoxie der Initiative kann man die folgende Bitte auffassen: Gib Bescheid, wenn ich dich zuerst anschreiben soll! (391) Die dazu passende Situation wäre die, daß jemand einen Kontakt ersehnt, gleichzeitig aber sehr rücksichtsvoll sein und sich auf keinen Fall aufdrängen möchte. Für große Rücksichtnahme und dazu auch noch Hilfsbereitschaft spricht dieses Angebot: Ich bin immer für dich da, wenn du mal wirkliche Probleme brauchst. [Gesehen auf einer Scherz-Postkarte] (392) Spricht es auch für weise Selbsterkenntnis? Nun, in diesem Falle sollte es ein Witz sein; manchmal mag es sich um einen freudschen Versprecher handeln. Wen die Probleme schier überwältigen, der mag sich an den alten Sponti-Spruch erinnern: Du hast keine Chance. Nutze sie! (393) Die Welt ist so verwirrend, und manchmal bin ich so kraftlos, daß ich kämpfen muß. (394) Gemeint ist natürlich: dagegen ankämpfen – aber wie, bei all dieser Kraftlosigkeit?
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Immerhin: Wer zugibt, daß er feige ist, hat Mut. [Fernandel zugeschrieben] (395) So gibt es selbst für den Feigling noch eine Hoffnung: die Aufrichtigkeit. Eine spezielle Art von Feigheit spricht aus der folgenden Szene in der Verfilmung von Die Feuerzangenbowle (1944) nach dem gleichna migen Roman von Alexander Spoerl: Lehrerkonferenz. Der Direktor hat sich noch nicht zum anstehenden Thema geäußert. Ein Lehrer: »Ich schließe mich der Meinung des Herrn Di-rektors an.« Der Direktor: »Aber ich habe doch noch gar nichts gesagt. Haben Sie denn keine eigene Meinung?« Der Lehrer: »Doch, aber der schließe ich mich nicht an.« (396)
Ist das nun Mut, weil es wenigstens ehrlich ist, oder die bis zur Dummheit reichende Form von Feigheit? Leute, die von Katastrophen profitieren (und das gibt es nicht so selten), leben nach dem Motto: Je schlimmer, desto besser. [Soll auf Lenin zurückgehen] (397) Zu derartigen Leuten fällt mir ein schlimmes Wort ein: Ein Arschloch ist jemand, der nicht weiß, daß er eines ist. Wüßte er es, wäre er schon kein komplettes Arschloch mehr. (398; vgl. 106) Es bleibt zu hoffen, daß besagte Profiteure wenigstens wissen, was sie sind. Wenig Gutes läßt der Grundsatz erahnen: Ich kann Kritik gut anneh men, sofern sie berechtigt ist. (399) Man muß dabei fürchten, daß sich jede relevante Kritik als nicht berechtigt erweisen wird, daß also die behauptete Offenheit für Kritik eine Resistenz gegenüber Kritik bemänteln soll. Auf dem oft zitierten Gegensatz von Verstand und Herz beruht das Geständnis: An Liebe glaube ich nicht. Und dennoch liebe ich dich. (400) In der Version von Erich Kästner heißt das: Träumst von Liebe. Glaubst an keine. Kennst das Leben. Weißt Bescheid. [Kleines Solo; in: Erich Kästner: Gesammelte Schriften für Erwachsene. 8 Bde. Zürich 1969; Bd. 7, S. 140] (400a)
Nicht ganz frei von Paradoxie ist auch der Refrain dieses Gedichtes: Einsam bist du sehr alleine – / und am schlimmsten ist die Einsamkeit
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zu zweit. [das., S. 140 f.] Und: Bist sogar im Kuß alleine. [das., S. 141] (401) Unbeabsichtigt paradox wirkt sich die folgende Szene aus: Ich begegne einer in ihre Arbeit versunkenen Frau von hinten und sage: »Erschrecken Sie jetzt nicht!« Sie erschrickt. (402)
Das war unbedacht. Im Nachhinein denkt man sich dann: Das hätte ich auch ahnen können. Aber wie spricht man eine in ihre Arbeit versunkene Person an, ohne sie zu erschrecken? Eine schöne Paradoxie finden wir bei dem großen Philosophen Imma nuel Kant (1724–1804), der doch sehr logisch zu denken vermochte. Sein vertrauter Diener über viele Jahrzehnte, Martin Lampe, ein gewesener Soldat, wurde mit zunehmendem Alter unleidlich, aggres siv und unverschämt. Kant wußte sich deshalb schließlich nicht anders zu helfen, als ihn – mit einer Pension versehen – zu entlassen. Das war für den Gewohnheitsmenschen Kant alles andere als einfach, und obwohl er einen anderen Diener eingestellt hatte, fiel es ihm sehr schwer, den alten zu vergessen. Darüber schreibt sein früher Biograph Ehregott Andreas Christoph Wasianski, der die Szene aus eigenem Erleben kannte: Ein sonderbares Phänomen von Kants Schwäche war folgendes. Gewöhnlich schreibt man sich auf, was man nicht vergessen will; aber Kant schrieb in sein Büchelchen: der Name Lampe muß nun völlig vergessen werden. [E. A. Ch. Wasianski: Immanuel Kant in seinen letzten Lebens jahren. Königsberg 1804]12 (403)
Er hätte sich denken können, daß durch diese Art des Erinnerns ans Vergessen die Erinnerung ans zu Vergessende ständig erneuert wird. Seine zunehmende Demenz wäre ihm in dieser Hinsicht eine größere Hilfe gewesen. Diener Lampe war offenbar auch in seinen Launen unberechen bar und in seinen Reaktionen störrisch. Das läßt einen fragen: An einem Tag gibt ein Mensch zu, launisch zu sein; an einem anderen Tag Zitiert nach: Immanuel Kant – Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen. Die Biographien von L. E. Borowski, R. B. Jachmann und A. Ch. Wasianski. Darmstadt 1968, S. 264.
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bestreitet er das vehement. Ist das Teil seiner Launen? (404) Dann wäre die Behauptung »Ich bin nicht launisch!« ein Beleg seiner Launen. Kinder lieben Paradoxa, wohl weil sie sie als witzig, nämlich dem ›normalen‹ Denken widersprechend empfinden: Dunkel war’s, der Mond schien helle, als ein Auto blitzeschnelle langsam um die Ecke fuhr. Drinnen saßen stehend Leute, schweigend ins Gespräch vertieft, als ein totgeschossner Hase auf ´nem Sandberg Schlittschuh lief. (405)
Ich weiß nicht, in welchem Umfang heute noch den Kindern von ihren Eltern derlei Verse vorgetragen werden, aber ein Erfolg, der für leuchtende Augen und Lachen sorgt, wäre es allemal. Ihren Spaß hätten Kinder – zumindest in sprachlich etwas fort geschrittenem Alter – sicherlich an der folgenden Auflistung von Merkwürdigkeiten der deutschen Sprache: Buchstabe ist ein Wort, einsilbig und zweisilbig sind dreisilbig, Jambus ist ein Trochäus, lang ist kurz, Verb und Adjektiv sind Substantive, großgeschrieben wird kleingeschrieben, untrennbar ist trennbar, ungebeugt ist gebeugt, englisch ist deutsch, selten ist häufig, falsch ist richtig, und wortlos ist ein Wort wie soll man da überhaupt noch schreiben? [Martin Möllerkies, http://www.keinverlag.de/texte.php?text= 355551; aufgerufen am 11.12.2013] (406)
Eine schöne Beobachtung pessimistischer Einstellung enthält das folgende Gedicht, passend »Paradoxon« betitelt: Mancher kann sich der Sonnenstrahlen nicht freuen,
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weil sie ihn bei der Suche nach Regenwolken blenden. [gimme_shelter, https://www.keinverlag.de/59552.text; inzwi schen gelöscht] (407)
Wer Kinder erzieht, hat angesichts ihrer Eigensinnigkeit eine schwere Aufgabe, und selbst wenn er es in möglichst freier und toleranter Weise versucht, kann ihm dies passieren: Ich erziehe meine Tochter antiautoritär, aber sie macht trotzdem nicht, was ich will. [Nina Hagen; in: Hörzu vom 20.5.2016] (408) Bei einem solchen Kind kann es dann schonmal zu dieser provo kanten Gesprächssituation kommen: Mutter: »Ich hasse es, wenn man mit Gegenfragen reagiert.« Tochter: »Warum haßt du Gegenfragen?« (409)
Da braucht es dann – wie auch sonst im Umgang mit Kindern – eine Portion Gelassenheit. Immerhin bezieht sich in diesem Falle die Allergie lediglich auf Gegenfragen; anders hier: Das Leben ist zu kurz, um Fragen zu stellen. – Wie kann man das auf Latein ausdrücken? [https://albertmartin.de/latein/forum/?view=37502#5; aufgerufen am 1.1.2023] (410) Mit dem für die Älteren so bedrückenden Generationenkonflikt hat die folgende Äußerung zu tun: Die junge Generation drang drohend vor und nahm von den Taten der Aelteren keine Notiz; ja, das Aergerlichste war, daß die Jungen dieselben Entdeckungen machten, die wir gemacht hatten; und, was schlimmer war, sie trugen ihre alten Neuigkeiten vor, als habe man die noch nie geahnt. [August Strindberg: Einsam, 1. Kap.] (411)
Jede Generation entdeckt aufs Neue das Altbekannte (spätestens ab der Pubertät: das Alter, in dem die Eltern anfangen komisch zu werden), und jede Generation hält dies für eine Sensation. Eines muß man aber doch festhalten in diesem zeitlosen Generationenkonflikt: Zu allen Zeiten haben die alten Leute über die jüngeren geschimpft und über den Verfall der Sitten. Aber wir sind die erste Generation, die recht damit hat! (412) Hier liegt (muß man es sagen?) der paradoxe Sinn in der Selbstironie.
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Zu einer besonderen Art der Paradoxie neigt das Verhältnis von Glauben und Zweifeln. Wer etwas glaubt, hat den Zweifel im Nacken. Wer aber zweifelt, muß auch etwas glauben. (413) Der Glaube, speziell der religiöse, soll vor dem Zweifel schützen; ein vom Zweifel völlig unberührter Glaube wäre eine fraglose Gewißheit – etwa so, wie wir diesseits aller philosophischen Fragen von der Realität der uns umgebenden Welt ausgehen – erst angesichts des Zweifels (etwa des Hinweises auf Sinnestäuschungen, Matrix-Phänomene etc.) beharren wir, leicht verunsichert, auf dem Glauben daran. So verhält es sich auch mit dem Glauben an Gott, den manche dem Zweifel an seiner Existenz entgegenhalten; dieser Glaube ist kein kindlicher mehr. So setzt der Glaube den Zweifel voraus. Auf der anderen Seite setzt aber auch der Zweifel den Glauben voraus, und dies in mehreren Hinsichten13: den Glauben an die Existenz des Gesprächspartners (sofern man mit ihm diskutiert), vor allem aber den Glauben an die Sinnhaftigkeit der Sprache, in welcher sich der Zweifel artikuliert. Das Wort »Zweifel« muß eine festgelegte Bedeutung haben (und zwar im Rahmen eines sprachlichen Systems, denn kein Wort funktioniert völlig isoliert), damit man sinnvoll zweifeln kann. Auf diese Weise setzt der Glaube den Zweifel und der Zweifel den Glauben voraus. Die Gegensätze bedingen einander. Es gibt auch eine Art der Paradoxie, die darin besteht, etwas zu wollen, aber auf keinen Fall die Konsequenzen, die unweigerlich daraus erwachsen, z.B.: Viele wollen die Freiheit zur eigenen Entschei dung haben, aber nicht die Verantwortung für die Folgen der eigenen Entscheidungen übernehmen. (414) In verschiedenen Varianten existiert die folgende Paradoxie:
13 Vgl. Ludwig Wittgenstein: Über Gewißheit (1949–1951). Hrsg. v. G. E. M. Ans combe und G. H. von Wright. Frankfurt/Main ²1977.
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A: B: A: B: A:
»Ich habe zwei Nachrichten für Sie, eine gute und eine schlechte.« »Oh, wirklich? Dann bitte zuerst die gute!« »Wir werden Ihr Gehalt erhöhen.« »Großartig, ich freue mich! Und die schlechte Nachricht?« »Die erste Nachricht ist nicht wahr.« (415)
Hier wird nun tatsächlich das, was angekündigt wird (eine gute und eine schlechte Nachricht), umgesetzt, aber in der Weise, daß die erste, die gute Nachricht eben keine gute Nachricht mehr ist, sondern eine Lüge. Damit wird jemand veralbert. Hierzu gehört auch das bereits erwähnte Darf ich Ihnen mal eine Frage stellen?, insbesondere wenn nach bejahender Antwort hinzugefügt wird: »Danke, das war sie schon.« Ernster steht es bei dieser Feststellung: Es ist ein Paradox, daß jeder, der über Dummheit spricht, voraussetzt, über den Dingen zu stehen, also klug zu sein, obwohl genau diese Anmaßung als Zeichen für Dummheit gilt. [Robert Musil zugeschrieben] (416)
Da viele Menschen auf Dummheit herabsehen (die sich merkwür digerweise stets bei anderen findet), betrifft dieses Paradox wohl ebensoviele Menschen, kann sogar geradezu als menschlich-allzu menschlich gelten. Und selbstverständlich versteht auch die Schlauheit es oft, sich als Bescheidenheit zu tarnen: Daran festhalten, daß unsere Erfolge uns zugeteilt werden von der Vorsehung und nicht von der Schlauheit, ist eine Schlauheit mehr, um in unsern Augen die Wichtigkeit dieser Erfolge zu vermehren. [Cesare Pavese: Das Handwerk des Lebens, Berlin 1986; 4. November 1938 (S. 153)] (417)
Sollte aber jemand seine eigene Dummheit und Hohlheit eingeste hen, dann tritt meist dieser Fall ein: Menschen, die von Grund aus falsch und hohl sind, versuchen nur selten, diese Laster vor sich selbst zu verbergen; und dennoch erheben sie durch die Tatsache, daß sie sie offen bekennen, Anspruch auf gerade die Tugenden, die sie vorgeben am meisten zu verachten. »Denn«, so sagen sie, »dies eben ist die Ehrlichkeit, dies eben ist die Wahrheit. Alle Menschen sind so wie wir, aber sie haben nicht den Mut, es einzugestehen.« Je mehr sie vorgeben, das Vorhandensein der Ehrlichkeit in der Welt zu leugnen, um so mehr schreibt man sie ihnen in ihrer kühnsten Form zu; und dies
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ist ein unbewußtes Kompliment an die Wahrheit gerade seitens jener Philosophen, die am Tage des Gerichts verhöhnt und verlacht sein werden. [Charles Dickens: Barnaby Rudge. München 1963, S. 263 f.] (418)
Auf diese Weise wird das eingestandene Defizit zu einem Vorzug stilisiert, die darin enthaltene Lüge ist ein unbewußtes Kompliment an die Wahrheit. »Alter Schwede!« möchte man da ausrufen; im Englischen kann selbst der Ausdruck des Staunens über eine solche Chuzpe paradox ausfallen: Alter Knabe! (Old boy! oder Old chap!). Auch junger Greis oder the young old man habe ich schon einmal gelesen, letzteres als Kennzeichnung des jungen Bob Dylan. (419) Besuchen wir nach Jahren einmal wieder eine uns von früher her ver traute Stadt, dann kann dieser Eindruck aufkommen: Alles verändert und nichts verändert. [Samuel Beckett in einem Brief an Ruby Cohn vom 20.1.1973 über seinen Eindruck von London14] (420) Vielleicht erinnert man sich dann an Heraklits Paradox, leicht umformuliert: »In dieselben Städte kommen wir und kommen wir nicht ...«15 Das kann Ihnen nie passieren? Man sollte nie »nie« sagen. (421) War das ein guter Hinweis? Dann sagt man, ähnlich beliebt: Bitte, nichts zu danken! (422) Nun, es gibt Sachen, die gibt’s gar nicht (423), weiß der Volksmund seit langem. Ein Beispiel für den Brauch, im Zusammenhang mit falschen Annah men von »wir« zu sprechen, sich selbst aber dabei stillschweigend auszunehmen, ist dieses: Das Bewusstsein wird oft unterschätzt: Es geschieht weit mehr im Gehirn von Neugeborenen, Tieren oder Komapatienten, als wir glauben. [Steven Laureys: Wir müssen bei der Diagnose vorsichtig sein; in: Gehirn & Geist 05/2018] (424)
Selbstverständlich weiß der Betreffende, daß er selbst diesem Irrtum keineswegs erlegen ist; warum er dennoch das einschließende »wir« gebraucht, kann man nur vermuten – vielleicht klingt das »ihr« allzu herablassend.
14 Samuel Beckett: Was bleibt, wenn die Schreie enden? Briefe 1966–1989. Hrsg. v. George Craig et al.; Berlin 2018, S. 439. 15 Vgl. das Kapitel über die Entdeckung des Paradoxen in der Antike.
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Gerne wird ein »natürliches« Leben gepriesen. Doch was ist natürlich? In manchen extremen Fällen mag es dazu einen Konsens geben. Aber ist Kleidung natürlich? Die anderen Tiere tragen keine. Ist es natürlich, Lebensmittel herzustellen? Welches Lebewesen außer uns täte das? Oder das Anlegen eines Ackers, eines Gartens? Allem Anschein nach gehört es zur Natur des Menschen, unnatürlich zu sein – was ein Philosoph folgendermaßen ausdrückt: Die Störung der Naturordnung ist für den Menschen das Natürlichste überhaupt. [Dieter Birnbacher: Natürlichkeit. Berlin/New York 2006, S. 153] (425) Über die Natur des Menschen kann man sagen: Der Mensch ist dazu da, das Unmögliche zu wollen. Dies ist seine Begnadung, sein heiliges Privileg. Er ist, angefüllt mit allen seinen Widersprüchen, die wandelnde Utopie und immer auf dem Wege zu noch höheren, noch paradoxeren, noch unmöglicheren Utopien. [...] [Egon Friedell; zitiert nach: Kultur ist Reichtum an Problemen. Extrakt eines Lebens gezogen und vorgesetzt von Heribert Illig. Zürich 1989, S. 27] (426)
Recht unnatürlich ist auch unser menschlicher Umgang mit Haustie ren, also Tieren, die weiter keine Funktion für uns haben, als daß sie unser Leben als Freunde oder Ersatz für Freunde begleiten. Damit sie für den Haushalt kompatibel sind, müssen sie »natürlich« (= selbst verständlich) erzogen werden. Und auch dabei kann es zu paradoxen Situationen kommen, vor allem dank unserer Inkonsequenz. So sitzt ein Mann bei Tisch, sein Hund neben ihm, die Nase begierig auf die dort befindlichen Leckereien gerichtet. Der Mann sagt zum Hund: Es gibt nichts vom Tisch! (nach einer Weile:) Nein, es gibt nichts vom Tisch! (Der Hund resigniert, worauf Herrchen sagt:) Sooo ist’s brav. Braves Hundi! (und dann, als Belohnung:) Da, komm her! (und reicht ihm etwas vom Tisch) [Hauck & Bauer; in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 18.8.2019] (427) Was soll der Hund nun davon lernen? Es muß ähnlich verwirrend für ihn sein, wie wenn jemand ihm, der auf seinem Platz sitzt, den Befehl zuruft: Geh auf deinen Platz! (428) Was Tiere angeht, möchte ich noch auf einen bemerkenswerten Fall verweisen: das Erdmännchenweibchen. (429) Wenn man die Spezies insgesamt nach ihrer männlichen Version benennt, führt die weibliche zu einem Paradox. Zwei Gäste sitzen nach abgeschlossenem Frühstück im Hotel und unterhalten sich. Eine Reinigungskraft hat neben ihnen einen laut
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starken Staubsauger in Betrieb genommen, hat jedoch den Verdacht, das könne stören. Reinigungskraft: »Soll ich den Staubsauger ausschalten während Ihres Gesprächs?« Gast: »Was haben Sie gesagt? Der Staubsauger ist so laut, daß ich Sie nicht verstanden habe.« (430)
So scheitert selbst der Versuch herauszufinden, ob eine Belästigung vorliegt, an dieser Belästigung. In den Bereich des Bestätigens durch Dementieren (im Kapitel über Politik bereits erwähnt) gehören auch Sätze wie dieser: »Rabulistik« gehört lediglich zu meinem passiven Wortschatz. (431) Für »Rabulis tik«, ein in der Tat selten vorkommendes Wort, kann man auch etwas anderes einsetzen, und das »passiv« mag entfallen – entscheidend ist, daß ein Wort verwendet wird, das zu verwenden man bestreitet. Für alle, die an ein Lebensmotto glauben, mag die folgende Einstel lung, von berufener Seite vorgetragen, interessant sein: Frage: Ihr Lebensmotto? Antwort: Zum Glück habe ich keins. [Günther Jauch in HÖRZU vom 23.8.2019] (432)
Dabei handelt es sich wohl um die spezielle Variante eines Lebens mottos. Ein anderes, etwas dickköpfiges, spricht sich hier aus: Ich mache es so wie du, nämlich nicht so wie du, sondern so, wie ich es will. (433) Ebenfalls ungewöhnlich ist: Meine Lebensversicherung ist der Tod. [https://www.albertmartin.de/altgriechisch/forum/?view=30 2#947; filix, aufgerufen am 30.8.2019] (434) In diesem Falle weiß ich allerdings nicht genau, was damit gemeint sein soll. Vielleicht: Wenn in meinem Leben die allerunerträglichsten Umstände eintreten, bleibt mir immer noch der Tod aus Ausweg. Viel leichter verständlich ist die Aussage zu meinem Alter, die ich einmal von einer Schülerin gehört habe: Eine Schülerin wird 15 Jahre alt. »Dann bist du ja ein Viertel so alt wie ich«, sage ich. Darauf sie: »Sie sind 60? Dann sind Sie ja so alt wie mein Opa!« Sie denkt nach. »Aber Sie sind gar nicht so alt wie mein Opa!« (435)
Das liegt nun schon eine Reihe von Jahren zurück, aber immer noch bin ich mir sicher, daß ich das als Kompliment verstehen
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durfte. Durchaus zweifelhaft hingegen ist der Kompliment-Charakter in diesem Fall: Mein liebster Feind. [Titel des 1999 entstandenen Dokumentarfilms von Werner Herzog über seine Beziehung zu Klaus Kinski] (436) Ein gleichermaßen bewußtes Spiel mit dem Paradox ist der Film titel Der fremde Sohn [Regie: Clint Eastwood, 2008] (437), ebenso – wenn man das Bett als Ort intimer Nähe versteht – Der Feind in meinem Bett [Regie: Joseph Ruben, 1991] (438). Etwas anders, nämlich nicht so unmittelbar und absichtlich paradox, steht es mit der folgenden Filmankündigung: Das Trojanische Pferd – Mythos und Wahrheit (Südafrika 2019) – Der griechische Dichter Homer erzählt in seiner Ilias vom Trojanischen Krieg und der berühmten List, die ihn beendete. Literatur mit wah rem Kern? [Hörzu 49/2020, S. 72]
Hier wird der Mythos selbst zum Mythos: daß Homer in der Ilias vom Trojanischen Pferd berichte – was nicht zutrifft. (439) Als eine feine meteorologische Beobachtung kann gelten: Im Herbst wird es abends immer früher spät. (440) Zum Ausgleich dafür wird es dann morgens immer später früh und im Frühling immer früher früh. Selbst ein solch alltägliches Ereignis wie Bauarbeiten kann zu einer paradoxen Kommunikation führen: In der Tiefgarage unseres Hauses standen Bauarbeiten an, weshalb mir die Hausverwaltung mitteilte, meine Frau müsse an dem betreffenden Tag, nämlich morgen, ihr Auto anderswo parken. Das habe ich ihr pflichtgemäß ausgerichtet: »Du mußt morgen dein Auto falsch parken, weil an deinem Stellplatz gebaut werden soll.« Als sie am nächsten Morgen von einer mit dem Auto erledigten Besorgung heimkam, fragte ich sie besorgt: »Hast du auch falsch geparkt?« »Ja«, beruhigte sie mich, »ich habe falsch geparkt.« (441)
Dann ist ja – der gewöhnlichen Bedeutung von »falsch« zum Trotz – alles in Ordnung. In den Bereich der schon erwähnten paradoxen Aufforderung »Sei ganz spontan« gehört die folgende Erinnerung aus Schulzeiten: Immer hatte der Leiter der Schule In den verschiedenen Pausen kleiner und größerer Art
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Sein Fenster mehrmals geöffnet Und in den Hof hinuntergerufen: »Ungezwungen, seid ungezwungen! Kinder, seid ungezwungen, ungezwungen!« Mehrmals am Tage habe So Kastner Der Leiter dieses Stück Wort in den Hof gerufen [Hanns-Dieter Hüsch: ... dass die Erziehung seiner Kinder eine völlig verfahrene war. Die Hagenbuch-Texte. Berlin 2015] (442)
Um bei Hanns-Dieter Hüsch (1925–2005) zu bleiben, der als Komi ker einen Sinn fürs Paradoxe hatte: Ferner, der Niederrheiner weiß nix, kann aber alles erklären. Umgekehrt, wenn man ihm etwas erklärt, versteht er nichts, sagt aber dauernd: Ist doch logisch! Wenn man dann fragt: Wieso logisch?, antwortet er meist: Ja, wieso, weiß ich auch nicht. Wenn man dann fragt: Wieso sagst du dann dauernd »Ist doch logisch!«?, sagt er oft: Man wird doch noch mal etwas in Frage stellen dürfen! [Hanns-Dieter Hüsch: Am Niederrhein. Doppel-LP/CD 1987] (443)
Mir scheint, den Typus, der nix weiß, aber alles erklären kann, gibt es auch anderswo als am Niederrhein. Weshalb Harald Schmidt, auch er ein Komiker, einmal sagte: Woran man einen Dummkopf erkennt? Er weiß alles. (444) Auf Italienisch klingt das sogar noch schöner: Ci sono persone che sanno tutto e questo è tutto quello che sanno. [Es gibt Leute, die alles wissen, und das ist alles, was sie wissen.] [Roberto Begnini: Il mio Dante, Turin 2008] (444a) Der Typus des Anti-Sokrates, sozusagen. Ich möchte noch einmal auf Hanns-Dieter Hüsch zurückzukommen, denn er hat gut bemerkt, zu welchen paradoxen Formulierungen es in der dialektgeprägten Umgangssprache kommen kann: Mein Omma väterlicherseits war eine geborene Husmann Katharina, das war die, die immer sagte: »Geh ma auf de Bank sitzen.« In Homberg am Niederrhein, da sagt man nämlich nicht: »Nimm Platz«, sondern da sagt man: »Geh sitzen«, in Homberg am Niederrhein, wo mein Omma im Garten immer nach den Tomaten
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und Stachelbeeren guckte und wo Onkel Fritz der Lieblingsbruder von Tante Liese auch mal Bürgermeister war und wo der Rhein oft über die Felder bis ins Haus kam, da sagt man: »Geh sitzen«. Die Engländer sagen ja auch: »I am going to see«, das heißt: »Ich bin gehend am sehen«. Dat is von England über Holland zu uns an den Niederrhein gekommen. Und wenn mein Omma väterlicherseits sagte: »Geh ma auf de Bank sitzen«, da wußte ich nie, wat ich machen sollte. Ich bin dann immer erst drei Schritt auf de Bank gegangen, un dann erst hab ich mich, plumps, hingesetzt. Dat is zwar ein ziemlich krummes Deutsch, geh ma auf de Bank sitzen, aber sowat von gemütstief kriegen se später nie wieder, nie. [Hanns-Dieter Hüsch: Mein Traum vom Niederrhein. Duisburg ²1997, S. 11–13] (445)
»Geh sitzen«, das ist von der Art wie das schon genannte »Komm, geh!« und vor allem für Kinder, die Sprachäußerungen noch ohne Sinn für Ironie, vielmehr ganz wörtlich verstehen (wollen), irritie rend. Völlig unverständlich wäre für sie der folgende Dialog aus den höheren Sphären paradoxer Kommunikation: Eine Dame fragt in New York den Busfahrer: »Sind Sie Jude?« Der verneint, sie läßt aber nicht locker, fragt noch mal und noch mal. Um die Sache zu beenden, sagt der Fahrer schließlich: »Wenn Ihnen so viel daran liegt, ja, ich bin Jude.« Sie lehnt sich tief befriedigt zurück, mustert ihn noch einmal und meint: »Sie sehen nicht so aus.« [Martin Grotjahn: Vom Sinn des Lachens; zitiert nach einem Leserbrief in der Frankfurter Allgemeine vom 27.9.2019] (446)
Gewöhnlich unterscheidet man (logisch), ob ein Mensch anwesend oder abwesend ist. Aber: Ein Mensch kann abwesend anwesend sein, z.B. wenn sich den ganzen Abend lang das Gespräch um ihn dreht. (447) Er ist dann also weder ab- noch anwesend oder sowohl ab- als auch anwesend. Die Logik seufzt.
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Ist es eigentlich möglich, das Problem, das man mit der Unzuverläs sigkeit vieler Leute hat, durch ein Versprechen, sich zu bessern, zu überwinden? »Man kann sich auf deine Versprechen nicht verlassen.« – »Ich verspreche, daß ich mich bessern werde.« (448) Wirkt das beruhigend? Dann ist man ein Optimist, was bekanntlich etwas anderes ist als ein Realist. Noch irritierender ist es, wenn gleich eine Einschränkung eingebaut wird: Ich verspreche dir etwas [z.B.: dich zu besuchen], aber ich kann dir nicht sagen, ob ich dieses Versprechen auch halten werde. (449) Ein besonderes Problem stellt in dieser Hinsicht die sog. BorderlinePersönlichkeit dar. Ihr habe ich einmal einen fiktiven Brief gewidmet: Hallo Claudia, auf dein unfaires und gemeines Verhalten mir gegenüber in der vorigen Woche möchte ich kurz eingehen, auch wenn es mich im Grunde nicht trifft, weil du mir nämlich am Arsch vorbeigehst. Dass das, was du mit mir gemacht hast, unmöglich war, ist klar, da kannst du auch gerne Brigitte und Thorsten fragen. Die sehen das auch so, beide. Du denkst sicher, dass die mir nur schmeicheln wollen, aber da irrst du dich gewaltig. Das sind echte Freunde, nicht nur so falsche Schlangen wie du eine bist. Wie du damals gesagt hast, ich hätte den Tisch falsch gedeckt, die Gabel auf die falsche Seite vom Teller gelegt, angeblich, da ist mir das klar geworden. Das habe ich dir nicht vergessen! Immer nimmst du dir irgendeine Kleinigkeit zum Vorwand, meinst aber eigentlich etwas ganz anderes. Schon wie du mich dabei angeschaut hast, habe ich gemerkt, dass du mich bloß fertigmachen willst und du deshalb irgendwas vorschiebst, um mir mal wieder das Gefühl zu geben, dass ich nichts richtig mache und zu nichts tauge. Es tut mir Leid, wenn ich mal etwas falsch mache, obwohl ich die Gabel gar nicht auf die falsche Seite gelegt habe, denn rechts ist richtig, das Messer muss links. Aber natürlich mache ich manchmal Fehler. Du aber auch! Ich meine nur, dass es dir eigentlich gar nicht darum geht. Du kannst mich einfach nicht leiden, du hältst mich für unsympathisch, deshalb mache in deinen Augen alles falsch. Brigitte und Thorsten, die kennen mich besser, die mögen mich total. Erinnerst du dich noch, wie du gesagt hast, dass es etwas wärmer sein könnte in der Wohnung? Klar erinnerst du dich. Was für eine hinterhältige Art mir zu sagen, dass ich zu geizig bin, um beim Essen mit Freunden die Heizung hochzudrehen! Aber das ist typisch für dich. Nicht dass ich nachtragend wäre! Wenn du deine Fehler einsiehst und dich entschuldigst, dann können wir uns gerne wieder vertragen. Du
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darfst nur nicht glauben, dass ich da-rauf warte, dazu bist du mir viel zu unwichtig. Ich bin überhaupt viel lieber allein, ich brauche keine anderen Leute, um mich toll zu fühlen. Ich weiß, daß ich Schwächen habe und nicht so ein Sympathiebolzen bin wie du. Deshalb hast du ja auch viel Erfolg bei anderen Leuten. Es kann halt nicht jeder so liebenswürdig sein wie du. Ich bin oft zu gereizt und empfindlich. Aber manchmal bist du auch gemein, so wie bei dem Tischdecken. Dann solltest du einfach mal die Größe haben, dich zu entschuldigen. Bei nächster Gelegenheit. Jetzt will ich erstmal meine Ruhe haben und niemanden sehen. Schon gar nicht dich. Du kommst mir sehr klein vor. Als Mensch, meine ich. Nie zeigst du Gefühle, niemals Wärme. Auf dich kann man sich einfach nicht verlassen! Das musste ich dir mal sagen. Barbara *** Hallo Brigitte, ich muss dir kurz sagen, dass ich dein Verhalten überhaupt nicht in Ord nung fand, als wir vorige Woche mit Claudia und Thorsten zusammen waren. Es ist mir zwar im Grunde egal, aber ... [Wolfgang Weimer: Ich, Borderliner; in: Der Homo sapiens im Alltag. Gera 2020, S. 69 f.] (450)
Wie hier ständig etwas gesagt bzw. behauptet und im Folgenden wieder in Frage gestellt, im Grunde sogar negiert wird, das ist kaum angemessen zu erklären. Bestreitet man die Ernsthaftigkeit der Zuneigung, wird darauf verwiesen, man habe sie doch ausdrück lich hervorgehoben; nimmt man dies aber ernst, so folgt sogleich der Rückzug. In kleinerem Format und in harmloserer Weise konnte ich diese Selbst-Dementierung einmal während einer Fahrt mit dem Bus bei einer Mutter erleben, die ihrem Kind nachdrücklich vorhielt: Ich habe dir schonmal gesagt: Es reicht, wenn ich dir etwas einmal sage! (451) Nun weiß das Kind Bescheid. Oder? Man braucht überhaupt nur die Ohren zu öffnen in öffentlichen Verkehrsmitteln, dann erlebt man allerlei, z.B. eine Busfahrerin im Streitgespräch mit einem weiblichen Fahrgast, der seinen Fahrschein nicht ohne weiteres vorzeigen wollte und extrem laut diskutierte: Die Fahrerin (sehr laut): »Schreien Sie mich nicht so an!«
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Die Frau (rasch antwortend): »Ich bin taub.« (452)
Dem muß eine überraschende Definition vom Taubheit zugrunde lie gen. Kritiker müssen vorsichtig sein. Sie bemängeln an anderen deren (angebliche oder wirkliche) Fehler, stehen aber in der Gefahr, dabei selber welche zu machen: ... deine diletantischen literarischen Bemü hungen ... (453), so schrieb es einmal jemand. Auf diese Weise gerät dann die Kritik am Dilettantismus dilettantisch und damit peinlich. Das ist ein plumper Fall von Paradoxie. Feiner ist, was ein offensicht lich in Großbritannien lebender Autor einmal berichtete: Auf einem Spaziergang entdeckte ich neulich eine in die schwarz gestrichene Außenmauer einer Bar eingelassene chrom-glänzende Türklingel, darunter eine Plakette mit der Aufschrift: »This doorbell is only here to remind you to keep quiet while being outside. Never ring it.« Die paradoxe Intervention gilt offensichtlich den vom Gesetz vor die Tür verbannten Rauchern, die sich nächtens dort versammeln. [https://www.albertmartin.de/altgriechisch/forum/?view=518 1#95 (filix); aufgerufen am 12.1.2020] (454)
Eine Klingel, die sich selber dementiert, indem sie ihre eigene Betäti gung untersagt – very British? In den Bereich der paradoxen Intervention gehört auch dies, unter dem Titel »Kontraproduktiv«: In 27 amerikanischen Bundesstaaten stehen am Rande des Highways Tafeln, welche die Autofahrer mit Statistiken wie »Dieses Jahr schon 1669 Verkehrstote in Texas« konfrontieren. Eine nun in Science veröf fentlichte Untersuchung legt nahe, dass dies die Unfallzahlen nicht senkt, sondern erhöht. Am Beispiel Texas, wo die aktuelle Statistik nur an [sic!] einer Woche des Monats an den Straßenrändern prangt, stieg in ebendieser Woche die Zahl der Unfälle auf den zehn Kilometern Strecke, die den Hinweistafeln jeweils folgten, um durchschnittlich 4,5 Prozent. Die naheliegende Deutung ist, dass die Maßnahme eher ablenkt als abschreckt und allein in Texas jedes Jahr 2600 zusätzliche Unfälle und 16 Verkehrstote mehr verursacht, als wenn sie unterblieben wären. [Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 24.4.2022] (455)
»Das Gegenteil von gut«, so kann man auch in diesem Falle mit Gottfried Benn sagen, »ist nicht schlecht, sondern gut gemeint.«
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In manchen Fällen genießt eine lokale Berühmtheit ein derartiges Ansehen, daß man beispielsweise sagen kann: Johannes Reuchlin ist in Pforzheim weltberühmt. (456) Da Pforzheim nun einmal nicht die Welt ist, ist dies eine – absichtliche – Paradoxie. In esoterischen Kreisen wird gerne eine sog. dualistische Weltsicht kritisiert, die unterscheidet zwischen Mensch und Natur, Ich und Du, Diesseits und Jenseits, Körper und Geist, Mensch und Gott usw. Dem wird dann gegenübergestellt eine monistische Perspektive, wie sie z.B. als Pantheismus oder All-Einheits-Lehre, jedenfalls als eine irgendwie höhergeartete Sichtweise auftritt. So heißt es dann: Ich bin kein Dualist, sondern Nicht-Dualist. Non-Dualismus statt Dualismus! Du aber bis ein Dualist. (457) Und schon kehrt der aus dem Haus gewiesene Dualismus durch die Hintertür zurück, denn dieser Standpunkt unterscheidet klarerweise und ganz dualistisch zwischen Dualismus einerseits und Non-Dualismus andererseits. So einfach wird man den Dualismus nicht los. Alles Interpretationssache? Fakt ist, daß es keine Fakten gibt, sondern nur Interpretationen. (458) So etwa interpretiert es zumindest der sog. Konstruktivismus. Jeder »Fakt« ist, sobald er in einer Aussage formuliert wird, durch die interpretierenden, deutenden Funktionen unsers Informationsverarbeitungssystems hindurchgegangen, also durch bestimmte Ordnungskategorien und theoretische Annahmen. Ist dieser Umstand ein Fakt? So entsteht die Paradoxie. Die menschliche Spezies neigt dazu, möglichst alles, vor allem die natürlichen Vorgänge wie materielle Bedürfnisse, Fortpflanzung, kör perliche Schwächen, Krankheit und Tod, ihrer Herrschaft und Kon trolle zu unterwerfen. Dem Willen, alles zu beherrschen, steht aber paradoxerweise der, der herrschen will, selbst entgegen, nämlich als Selbstbeherrschungsparadox: Wer alles beherrschen will, dem gelingt es vielleicht sogar, seinen Körper zu beherrschen, aber nicht über seinen eigenen Willen zu herrschen. (459) Das hat durch seine Selbstüberschätzung (Hybris) durchaus eine komische Seite: Wenn er ernst wird, wirkt er komisch. (460) Zuweilen ist es sogar tragisch. Vermutlich nicht strafbar ist die folgende Aussage: Wenn ich sagen würde, was ich von dir halte, würde ich mich strafbar machen. (461)
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Strafbar ist eine Beleidigung (§ 185 StGB). Aber ist dieser Satz nicht eine Beleidigung? Jedenfalls wirkt sie sich nicht mildernd oder ent spannend auf die Qualität einer Beziehung aus. Ebensowenig tut dies ein Ausruf des preußischen »Soldatenkönigs« Friedrich Wilhelm I. (1688–1740). Wenn die Leute auf der Straße ängstlich vor ihm aus wichen, prügelte er (wie ich einmal in einer Biographie gelesen habe) auf sie ein und schrie: Ihr Hundsfotte! Nicht fürchten sollt Ihr mich, sondern lieben! Lieben! (462) Was sollen wir fürchten? Einen cholerischen König? Nein: The only thing we have to fear is fear itself. [Franklin D. Roosevelt, USPräsident (1882–1945)] (463) Hierbei dürfte es sich um eine konge niale Neuentdeckung handeln, denn ich nehme nicht an, daß Roose velt dies gekannt hat: Man sollte sich vor nichts fürchten als vor der Furcht ... [Karl Julius Weber, a.a.O., Bd. 1, S. 162] (463a) Das klingt eindrucksvoll und auch mutig, dürfte jedoch in seiner Umsetzung psychologisch schwierig sein, zumal die Frucht schwerlich einem Befehl gehorcht: Fürchte nur die Furcht! Gerne zitiert wird (in dieser oder ähnlicher Form) eine höfliche Rechtfertigung mit unbekanntem Urheber: Entschuldige die Länge des Briefes, ich hatte keine Zeit, mich kurz zu fassen. (464) Stammt dies, wie oft behauptet, von Goethe? Never ever (465), wie die englische Redensart sagt. Auch dies gehört in den Bereich der Beruhigung und des zwischen menschlichen Friedens, funktioniert aber vermutlich nur bei Kindern: Ein Fünfjähriger ist nicht begeistert, das letzte Eis mit seinem kleinen Bruder zu teilen. Mit Argusaugen überwacht er die Handlung seiner Mutter. Das Messer in der einen, das Eis in der anderen Hand und neben ihr das Söhnchen ... Leicht gereizt spricht so die Mutter zum Kind: »Ich teile das genau in der Mitte, und du bekommst das größere Stück.« Das Kind war einverstanden. [Stelzie; https://www.keinverlag.de/438953.text, aufgerufen am 10.7.2020] (466)
Dazu kann man das sagen, was eine Rangerin aus Namibia über eigene Wasserstellen für Elefanten sagte: Das minimiert die Probleme maximal. [ARD, Weltspiegel am 7.2.2021] (467)
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Will man etwas Unangenehmes nicht aussprechen, dann kann man auf das Prinzip zurückgreifen: Das Schweigen ist eine effektive Form des Redens. Das beredte Schweigen, wie man sagt (468); diese Einsicht wurde bereits in dem Kapitel über die Antike sowie bei Buddha erwähnt, ist mithin alt. Vom Fluchen hingegen ist abzuraten; es gilt als vulgär und kann sogar paradox werden: Ehe man sich versieht, geht uns die Natur durch, und wir fluchen über das Fluchen wie jener Feldprediger: »Flucht und schwört nicht so! Hol mich der Teufel, ich leids nicht!« [Karl Julius Weber, a.a.O., Bd. 1, S. 169] (469)
Von dem geistvollen Karl Julius Weber wird auch die folgende Parado xie überliefert: Wir kommen mit der Wahrheit oft in eine so sonderbare Lage, wie Nero, der dem hundert Drachmen versprach, der ihm die reine Wahrheit sagen würde. »Du gibst mir keine hundert Drachmen«, sagte einer. Gab sie ihm nun Nero, so hatte dieser ihm keine Wahrheit gesagt und gab er sie ihm nicht, so hielt er nicht Wort ... [Karl Julius Weber, a.a.O., Bd. 1, S. 243] (470)
Und wenn ich dies auch nicht aus antiker Überlieferung kenne, so gibt es doch eine ganz ähnliche Version von einem Krokodil, das den Säugling einer Mutter im Maul hat und dieser dessen Freilassung verspricht, falls sie ihm korrekt sage, was er mit dem Kind tun werde. »Du wirst es mir zurückgeben.« Nun darf das Krokodil das Kind fressen, ohne gegen seine Zusage zu verstoßen. »Du wirst es fressen.« Jetzt darf das Krokodil den Kleinen nicht fressen, denn dann verstieße es gegen sein Versprechen. Gibt es nun aber das Kind zurück, dann hat die Mutter eine falsche Voraussage getroffen, und das Krokodil darf jetzt ... Nein, darf es nicht, denn dann würde die Aussage der Mutter ja wieder wahr! [Der Krokodilschluß: Lukian: Vitarum auctio 22] (471) Ich gebe zu, daß dieser Fall nicht zu solchen aus unserem Leben gehört, in dem es keine (ver)sprechenden Krokodile gibt; es mag jedoch als kleiner Exkurs durchgehen. Beliebt, wenn auch illusionär ist die Frage, ob jemand, dem man nicht recht traut, wirklich die Wahrheit sagt. Wenn ich dich etwas frage, antwortest du dann die Wahrheit? Oder: Bist du auch ehrlich? (472) Die Paradoxie liegt hier in der Sinnlosigkeit der Frage, denn die
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Antwort muß »ja« lauten: Der Aufrichtige wird sie so geben, ebenso aber der Lügner, denn Lügen und dabei sagen, daß man lügt, ist ein Paradox – zudem ein Paradox, das dem Sinn der Lüge (der Täuschung) widerspricht. Es ist gewiß schwierig herauszufinden, ob jemand lügt; eine Frage danach reicht dafür klarerweise nicht aus. In meinen Augen handelt es sich dabei eher um ein Zeichen der Verzweiflung. Und am Ende mag man resigniert fragen: »Sagst du eigentlich jemals die Wahrheit?« »Die Wahrheit? Nein.« [Der große Eisenbahnraub (1978); Edward Pierce/Sean Connery, Regie: Michael Crichton] (473)
Dem ähnlich ist die Frage, ob jemand ein Geheimnis für sich behalten könne ... vor allem dann, wenn sie von jemandem gestellt wird, der die Absicht hat, ein Geheimnis (vertraulich, versteht sich!) auszuplau dern. Auch in diesem Kontext wird wohl jeder mit »ja« antworten, und genau deshalb sind solche Antworten nicht informativ. Da kann man im Scherz sagen: A: B: A: B:
»Kannst du was für dich behalten?« »Ja. Du auch?« »Äh ... ja, natürlich.« »Dann behalt’s bitte für dich.« [Hauck & Bauer, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 30.8.2020] (474)
Nicht nur beim Lügner, sondern auch beim Dummkopf hätten wir gerne ein Kriterium, an dem man ihn rasch und sicher erkennt. Wer von uns ist ein Dummkopf? Es ist halt so: Anzunehmen, man mache keine Fehler, wäre ein Fehler. (475) Daraus folgt im Umkehrschluß: Wer klug ist, weiß, daß er auch dumm ist. (476) Schon wenn jemand nur Gutes über sich berichtet, ist das ein schlechtes Zeichen. (477) »Hab ich recht oder hab ich recht?« (478), ist eine beliebte Redensart von Besserwissern. Die Verführung ist stark, mit »weder – noch« zu antworten. Unser Bedürfnis nach der Rechtfertigung unseres Tuns gerät vor allem dann in eine Krise, wenn wir etwas Extremes getan, beispielsweise einen Menschen getötet haben. Dann sagen wir gerne: »Ich hatte keine Wahl!« Daß wir aber im Grunde immer eine Wahl haben zumindest bei dem, was wir nicht gänzlich reflexhaft tun, wird
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aus dieser Formulierung, in einem Film gehört, deutlich: Ich hatte echt keine Wahl! Er oder ich. [American Gangster (2007), Regie: Ridley Scott] (479) Hier wird die Wahl sogar ausgesprochen ... und zugleich negiert. Zunehmender Beliebtheit bei den Todesanzeigen, die ja gerne mit einem sinnigen Spruch garniert werden, erfreut sich dies: Du bist nicht mehr da, aber überall wo wir sind. [Todesanzeige Wolfgang Theile, Frankfurter Allgemeine vom 10.10.2020] (480) Zwar bist du nicht mehr da, aber irgendwie doch da. Gemeint ist eigentlich: Du bist jetzt auf andere Weise da als bisher; aber die paradoxe Formulierung hat ihren eigenen, ersichtlich gewünschten Effekt. Diese irdische Version der Unsterblichkeit kann auch zu einer anderen Art der Paradoxie führen: Was er wirklich wolle, fragt Jean Seberg in »Außer Atem« den von Godard bewunderten Regisseur Jean-Pierre Melville. »Unsterblich werden – und dann sterben«, antwortet der. [Frankfurter Allgemeine vom 3.12.2020: Der Zauberlehrling des Kinos] (481)
Das ist schön, das hat Charme. Sterben müssen wir alle, aber einigen von uns gelingt es, zuvor, in ihrem Leben – unsterblich zu werden. Das ist keine wahre Unsterblichkeit? In dem Film Queenie in Love [Regie: Amos Kollek, 2001] drückt die weibliche Hauptperson ihre Bewunderung für Marilyn Monroe aus. Warum?, fragt ihr männlicher Partner. Sie: »She’s immortal.« – Er: »She’s dead.« – Sie [geflüstert:] »But we’re talking about her.« (482) Ja, du bist nicht mehr da, aber du bist überall, wo wir sind. Das Gegenteil dieser Sehnsucht nach dem Tod als Bedingung der Unsterblichkeit, aber ebenfalls paradox ist das Sterben aus Angst vor dem Tod (483) – eine Redensart, der man häufiger begegnet und die ausdrücken soll, daß gerade die Angst vor etwas das herbeiführen kann, wovor man sich ängstigt. Ebenfalls verbreitet ist die generelle Ablehnung des Generellen: Das Wort akzeptiere ich generell nicht, weils Unsinn ist. Immer und Nie sind Killerworte. [Sätzer; https://www.keinverlag.de/442844.t ext; aufgerufen am 27.11.2020] Generell nicht = nie = vermeide ich immer, oder: Ich sage nie nie. (484)
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Und weiterhin: Das Wort praktisch bedeutet praktisch nichts. [Antonio Tabucchi: Indisches Nachtstück. München 1990, S. 41] (485) Kinder gehen in die Schule, und schon dort begegnen sie einer paradoxen Kommunikationssituation: Derjenige, der alles weiß, stellt die Fragen; derjenige, der nichts weiß, muß sie beantworten. (486) Damit ist auf Dauer nur schwer auszukommen. Man wird eine ungefähre Vorstellung von dem haben, was Liebe ist, und es wird dabei um ein intensives Gefühl gehen. Beim Schreiben von Briefen verkümmert dieses Gefühl oft zu »lieben Grüßen«, was schon dürftig genug ist; aber beim heute populären LG oder gar GLG (487) handelt es sich um mehr als eine bloße Abkürzung: da bleibt vom Gefühl reinweg gar nichts mehr übrig als eine Floskel. Ähnlich steht es mit dem gläubigen Verhältnis zu Gott einerseits und der zu OmG (488) degenerierten Anrufung »O mein Gott!«. Man kann sagen: Floskeln sind die Hülsen von Gefühlen ohne Gefühl. (489) Eine solche Floskel ist auch die Frage: »Wie geht es dir?« Ich erin nere mich an einen witzigen und paradoxen Dialog dazu, der, so meine ich, von F. K. Waechter stammt und schon einmal erwähnt wurde: A: B: A:
»Frag mich mal, wie’s mir geht.« »Wie geht es dir?« »Ach, frag nicht!« (490; vgl. 53)
Mit das Erste, was wir einst im Englisch-Unterricht gelernt haben, war, daß man auf die Frage »How do you do?« nicht antwortet, wie es einem geht. (491) Floskeln legen Reaktionen nahe, die eigentlich paradox sind. Toll wird es, wenn von Floskeln behauptet wird, sie seien kurz und klar, ohne Hintergedanken und ohne Subtext: ich schreibe halt kurz&knapp, ohne Schnörkel, ohne Subtext! [https://www.keinverlag.de/teamkolumne.php?kid=7&bid= 1958; Dieter_Rotmund; aufgerufen am 1.1.2023] (492) Texte ohne Subtext, gibt es das? Das wäre: ohne Intention, ohne Hintergrund, ohne Bedeutung des Stils und ohne erwartete Reaktion des Empfän gers. Nein, das gibt es nicht, und die Behauptung, es gebe keinen Subtext, stellt lediglich eine bestimmte Art des Subtextes dar. Selbst Stilbruch ist ein Stil. (493)
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Für Menschen, die gerne etwas verstecken, hatte Edgar Allan Poe (1809–1849) überraschenden Einfall: In seiner Kriminalgeschichte The Purloined Letter (Der stibitzte Brief) ließ er den Protagonisten einen Brief dadurch verstecken, daß er ihn offen plazierte. (494) Zwar bin ich mir nicht ganz sicher, daß das funktioniert (immerhin könnte der Dieb Edgar Allan Poe gelesen haben), aber möglich ist es. In manchen Fällen kann man eine Aussage nicht bestreiten, ohne sie zu bestätigen. In der Philosophie des René Descartes (1596–1650) ist es das »Ich existiere«; allerdings findet man die eigene Existenz eher in philosophischen Diskursen als im normalen Leben bestritten, also eher theoretisch. Doch wie steht es mit Rechthabern wie diesem? A: B:
»Es gibt zu dieser Frage unterschiedliche Ansichten.« »Das stimmt nicht!« (495)
B. bestätigt, was er bestreitet, bzw. bestreitet, was er bestätigt. Wir hatten etwas ähnliches weiter oben bei: »No, I don’t speak English. Not a single word.« In manchen Fällen benötigt man nicht einmal einen Kontrahenten: »Ich bin tot.« (496) Das kommt vor, wenn jemand ausdrücken möchte, daß er sehr erschöpft ist, ist jedoch durch Übertreibung paradox. »Ich bin sprachlos«, (schon einmal erwähnt) ist ebenfalls von dieser Art. In extremen Lagen, die keine normalen, sondern extreme Verhaltens weisen nahelegen, kann man sagen: Manchmal ist normal zu sein ganz schön verrückt. [Ralf_Renkking https://www.keinverlag.de/446128. text; aufgerufen am 7.3.2021] (497) Auch das Paradox der Bescheidenheit kam schon einmal vor, nämlich mit Bezug auf Politiker. Natürlich finden wir es auch bei normalen Menschen: Ich bin sehr bescheiden. (498) Gerne auch mit besonde rer Betonung des »Ich«. Dafür muß man nicht verrückt sein, Eigen liebe genügt. Zur Bescheidenheit gehören weiterhin bestimmte Benimmre geln, die man schon Kindern beibringt. Eine von ihnen, das Schreiben betreffend, ist die folgende: Ich habe schon als Kind gelernt, dass man Sätze nicht mit ,ich‘ beginnen soll. [Gregor Gysi: Ein Leben ist zu wenig. Die Autobiographie. Berlin 2017, Prolog] (499) Nicht immer ist Erziehung erfolgreich; oft reizt sie sogar zum Widerstand.
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Ganz normale Menschen übertreiben halt gerne – wobei man heute im Sprachgebrauch oft eine merkwürdige Art der Einschränkung damit verbunden findet: ein wenig fassungslos, ein wenig verzweifelt, ein bißchen begeistert, ein stückweit schockiert usw. (500) Hier geraten Extrem und Einschränkung in ein paradoxes Verhältnis, dessen Sinn sich mir nicht recht erschließt; es erinnert mich an das als offenbare Abstrusität gerne zitierte ein bißchen schwanger (501). Eindeutig bescheiden und dennoch paradox kommt dies rüber, offenbar von der Seite einer Musiker-Gruppe bei Facebook: Ich kann keine Instrumente spielen und meine Stimme eignet sich nicht sehr gut für Gesang. Was ich hingegen kann, sind Texte schreiben. [https://www.keinverlag.de/beitrag.php?forum=17&thread =8631199&beitrag=8639851&alle=1; eingestellt von Owald, aufgerufen am 16.4.2021] (502)
Man achte auf das »sind«. Dabei ist mir aufgefallen: Viele Sprachfehler entstehen durch die automatische Sprachkorrektur. (503) Da werden dann Wörter vorgeschlagen, die weder gemeint sind noch zum Sinn passen, aber übernommen werden, wenn man nicht aufpaßt. Die Maxime einer betont in den Vordergrund gestellten Bescheiden heit könnte lauten: Ich fühle mich denen überlegen, die sich anderen überlegen fühlen. (504) Eine sublime Steigerung der Verachtung durch Ablehnung von Verachtung drückt sich in folgender Aussage aus: ich verachte dich nicht. das wäre verschwendung emotionaler energie. [Walther; https:/ /keinverlag.de/456338.text#k_456338_842130, aufgerufen am 5.4.2022] (505) Das ist eine überaus scharfe Art der Auseinander setzung. Von mäßig ausgeprägter Zurückhaltung zeugt dieses Motto: Niemals werde ich mich negativ über das Äußere eines Menschen auslassen, nicht einmal wenn jemand so scheußlich aussieht wie du. (506) Das ist jetzt sehr grob formuliert, aber in feiner angedeuteter Form hört man es durchaus öfter. Eine Variante ist diese: Ich könnte jetzt natürlich so gemein sein und über dich sagen, daß ... [es folgt eine detaillierte Beschuldigung], sage ich aber nicht! (507)
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Eine ganze Reihe von Paradoxien entsteht durch unsere seltsame Verwendung des Wortes »ich«: ● ● ● ● ●
Ein Mensch kehrt vom Einkaufen zum Parkplatz zurück und fragt sich: »Wo stehe ich denn?« Oder er stellt fest: »Ich stehe da hinten.« (508) »Ich sitze da hinten.« [in der Kneipe] – »Wir liegen da vorne.« [am Strand] (509) »Hallo, Leitstelle! Ich bin der 46er[-Bus] von Huckingen nach Großen baum und habe ein Problem ...« (510) Kellnerin: »Der große Salat?« – Gast: »Das bin ich!« (511) [In einem Internetforum verwendet jemand »Ich« als Nickname; sein Beitrag wird von einem anderen beantwortet mit:] »Ich, ist das dein Ernst?« (512)
Diese Identifizierung mit Dingen (in allen außer dem letzten Beispiel) ist befremdlich, aber allenthalben anzutreffen. Ich als Salat, das wird nicht einmal als komisch empfunden, sondern als normaler Sprach gebrauch! Und »ich« als Eigenname muß zu Mißverständnissen führen, ähnlich wie bei Odysseus alias »Niemand« und dem Kyklopen Polyphem in Homers Odyssee. Einem peinlichen Paradox erliegt ein Autor, der öffentlich äußert: Texte, die nichts weiter ausdrücken als ein »... finde ich«, müssen nicht veröffentlicht werden, finde ich. (513) Wer das argumentationslose Äußern von Ansichten ablehnt, sollte dafür mehr bieten als das argumentationslose Äußern einer Ansicht. Aber auch etwas nicht zu äußern, kann paradox ausfallen: Zu etwas, das einen stört, den Mund zu halten, aber einmal pro Woche zu betonen, daß man den Mund dazu hält, ist nicht den Mund zu halten. (514) Da gilt das populäre Sprichwort: Weniger kann mehr sein. (515) Ähnlich wie beim Etwas-als-etwas-Finden steht es bei diesem Standpunkt: Meine Meinung ist nicht wichtig. Wichtig ist die Meinung von [Autorität einsetzen: Einstein, Papst usw.]. Das ist jedenfalls meine Meinung. (516) Eine interessante autobiographische Charakterisierung ist diese: »Der sesshafte Reisende«; so nennt sich der österreichische Schriftsteller Karl-Markus Gauß, dessen Familie aus der Wojwodina vertrieben wurde. [Frankfurter Allgemeine vom 12.3.2022] (517) Hier wird wieder einmal unsere Neigung zu bewußt paradoxen Formulierun gen deutlich, was offenbar die Komplexität und Widersprüchlichkeit unseres Lebens ausdrücken soll, die sich gegen eine simpel logische
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Beschreibung sperren. Man kennt auch das schon aus der Antike, wo der entwurzelte, ruhelos umherschweifende Dichter Leonidas aus Tarent (3. Jhdt. v.u.Z.) in einem selbstverfaßten Epitaph schrieb: Ach, solch schweifendes Leben kann Leben nicht heißen. Ein ἄβιος βίος heißt es noch paradoxer im Original: ein Leben ohne Leben. (518) Dabei begegnet uns diese Sinnlosigkeit in einer tieferen Weise, wenn wir sensibel dafür sind, aber auch beinahe täglich in einer trivialen Art – etwa: Die Option »In Kürze verfügbar« wird in Kürze nicht mehr verfügbar sein. [Meldung von »Outlook« über seine Tastenkombina tionen am 10.4.2022] (519) Über die aktuell wieder sehr populären Verschwörungstheorien kann man sagen: Verschwörungstheorien resultieren aus großem Mißtrauen und münden in Leichtgläubigkeit. (520) Nämlich als Mißtrauen gegen über den Informationen aus dem »Mainstream« und Leichtgläubig keit gegenüber obskuren Außenseiterquellen. Eine geradezu existentialistische Verzweiflung drückt sich aus in dem Zitat des US-amerikanischen SF-Autors Philip K. Dick (1928–1982), dem wir zahlreiche verfilmte Romane (Blade Runner, Total Recall, Minority Report u.a.) verdanken: Ich fühlte eine große Sinnlosigkeit angesichts der Sinnlosigkeit alles Tuns – es gibt nichts Sinnloseres als ein geschärftes Bewußtsein für das Sinnlose. [Philip K. Dick: Bemerkung zu Ein kleines Trostpflaster für uns Temponauten; in: ders., Der Fall Rautavaara. Sämtliche Erzählun gen, Band 10. Zürich 2000, S. 309] (521)
Ein geschärfter Sinn ohne Sinn ist schon sinnlos, aber erst ein geschärfter Sinn für das Sinnlose, das ist tragisch. Ich kann das nach vollziehen – nur hat diese Tragik auch ihre komische Seite, und Philip K. Dick war in dieser Hinsicht, der Schilderung des Tragikomischen, ein wahrer Meister. Ein ebenfalls tragisches und paradoxes Verhältnis von Nähe und Distanz spricht aus dem folgenden Leserbrief, der das Verhältnis eines Sohnes zu seinem Vater zum Inhalt hat: Zu »Außenminister Lawrow empört mit Hitler-Vergleich« (F.A.Z. vom 3. Mai) und Lawrows Äußerung, Hitler sei jüdischer Abstammung: Weit vor Anschluss des Hitler-süchtigen Österreichs an Deutschland
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beauftragte Hitler meinen Vater – den Massenmörder Dr. Hans Frank, der als Hitlers Generalgouverneur des besetzten Polens dort für jeden Mord politisch verantwortlich war – nachzuforschen, ob in seinem geliebten Führer etwa auch noch jüdisches Blute seiner Ahnen brodeln würde. Nach umfangreichen Recherchen durch Untergebene meines Vaters wurde nichts gefunden. Wenn doch, hätte mein Vater es Hitler sicher nicht gebeichtet, aber es lauthals während des Nürnberger Prozesses verkündet, in dem er zu Recht zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Niklas Frank, Ecklak [Frankfurter Allgemeine vom 7.5.2022]
Einerseits maximale Distanz (»mein Vater, der Massenmörder«), anderseits ein Bekenntnis zur Nähe (»mein Vater, der Massenmör der«). In diesem Paradox von Nähe und Distanz (522) liegt unendlich viel. Zwischen purer Distanz (Namenswechsel, Verschweigen des Vaters – wie es manche Nachkommen von Nazi-Verbrechern prak tizierten) oder purer Identifizierung (ungebrochener Stolz auf den Vorfahren, wie es andere, Unbelehrbare hielten) entscheidet Niklas Frank sich für dieses Paradox, das den Widerspruch aushält, ohne ihn zu verdrängen. In früheren Jahren sagte man gerne: Wie Sie sehen, sehen Sie nichts, und warum Sie nichts sehen, werden Sie gleich sehen. (523) Daß man beim Sehen auch auf das achtet, was man nicht sieht, kann ich nur empfehlen (so wie ich schon auf die Wichtigkeit dessen hingewiesen habe, was in einer Äußerung nicht gesagt wird); aber geradewegs sehen kann man das, was man nicht sieht, natürlich nicht – dazu braucht es schon die reflektierte Achtsamkeit für das, was man sieht. Das hindert die Umgangssprache nicht in ihrer Freude am Aufeinanderstoßen des Paradoxen. Im diesem Sinne ist auch ein Spruch meines Vaters zu verstehen, der, als er langsam erblindete, oft sagte: Gut sehen kann ich schlecht, aber schlecht sehen kann ich gut. (524) Das englische Sprichwort the longest way round is the shortest way home (525) hat wohl den Sinn, daß eine sorgfältige und umfassende Bemühung der sicherste Weg zum Erfolg ist – was man gewiß auch ohne Paradoxie hätte ausdrücken können, aber offensichtlich nicht wollte; es klingt auf diese Weise anregender.
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Unsere Sprache, unser Leben kennen die Abneigung gegen das Paradoxe nicht, außer bei Wissenschaftlern, die auf eine klare, zwei wertige Logik des wahr oder falsch, ein Drittes gibt es nicht fixiert sind. In diesem Zusammenhang, d.h. beim Prinzip des Entwe der–Oder sei noch kurz darauf hingewiesen, daß zwar Katzen uns im Leben häufig begegnen, Schrödingers Katze, die lebt und tot ist, solange man nicht nachgeschaut hat (526), hingegen selten. Deshalb gehört sie eigentlich nicht hierher, auch wenn sie ebenfalls mit der zweiwertigen Logik auf Kriegsfuß steht, wie die gesamte Quantenphysik. Eine eigene Erwähnung, die hier ihren Platz haben mag, verdient die Ironie als Form der Paradoxie. Während ein Lügner etwas anderes aussagt als seine eigentliche Ansicht ist, und dies verdecken will, sagt der Ironiker zwar ebenfalls das Gegenteil von dem, was er meint, doch er sagt es so, daß dieser Umstand dem Adressaten – sofern er nicht blind für Ironie ist – durchsichtig wird. Auf diese Weise ist beispielsweise ein ironisches Kompliment (»Das haben Sie sehr klug gesagt!«) (527) gerade kein echtes Kompliment, sondern ein Tadel. Ein Tadel, der als sein Gegenteil, nämlich als Kompliment verkleidet ist. Darin liegt die Paradoxie. Davon gibt es viele Beispiele, Ironie begegnet uns häufig. Der Klassiker, vielleicht der Erfinder der Ironie ist der schon im Kapitel über die Antike erwähnte antike Philosoph Sokrates, der sie meist in die Form einer Frage kleidete: »Sag mir doch, was Schönheit eigentlich ist!« Dabei liegt die Ironie darin, daß Sokrates seine Ansprechpartner so einschätzte, daß von ihnen gar keine stichhaltige Antwort auf seine Frage zu erwarten sei. Und das wollte er im Gespräch aufdecken, um dann auf eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema zuzusteuern. Ironie soll durchschaut werden, und es liegt eine Art Witz darin, daß das Gegenteil des Gemeinten gesagt wird. Allerdings ein Witz, der immer von der Position des Überlegenen (oder sich überlegen Dünkenden) aus gemacht wird, was in der Regel nicht zur Beliebtheit des Ironikers beiträgt. Die Hinrichtung des Sokrates ist in dieser Hinsicht eine Warnung. Und wenn mal wieder etwas schiefgeht im Leben, dann sagt man – ironisch und paradox zugleich -: Schöne Scheiße! (528) Wen hingegen nichts aus dem Gleichgewicht bringen kann, der ist unheilbar gesund. [Elfriede Jelinek über Max Frisch; https://www.deutschlandfunk.de/ max-frisch-ingeborg-bachmann-briefe-100.html] (529)
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Aus der Literatur
Verschiedentlich habe ich in den bisherigen Kapiteln bereits Beispiele aus der belletristischen Literatur zitiert. Nunmehr möchte ich als Ergänzung einige längere Fundstücke präsentieren, die einfallsreich mit dem Paradoxon umgehen. Die Auswahl basiert selbstverständlich auf meiner persönlichen Lektüre und könnte von anderen sicherlich beinahe beliebig ausgeweitet werden. Von dem Vorsatz, Paradoxien des Alltags vorzustellen, entferne ich mich hier ein wenig, was ich dadurch rechtfertigen möchte, daß eine unterhaltsame Lektüre in einem gewissen Sinne ebenfalls zur täglichen Freude gehört; den Bereich der akademischen Diskussion betreten wir damit nicht.
1. [...] »Der Babelfisch«, ließ der Reiseführer Per Anhalter durch die Gala xis in ruhiger Stimme vernehmen, »ist klein, gelb und blutegelartig und wahrscheinlich das Eigentümlichste, was es im ganzen Universum gibt. Er lebt von Gehirnströmen, die er nicht seinem jeweiligen Wirt, sondern seiner Umgebung entzieht. Er nimmt alle unbewußten Denk frequenzen dieser Gehirnströme auf und ernährt sich von ihnen. Dann scheidet er ins Gehirn seines Wirtes eine telepathische Matrix aus, die sich aus den bewußten Denkfrequenzen und Nervensignalen der Sprachzentren des Gehirns zusammensetzt. Der praktische Nutzeffekt der Sache ist, daß man mit einem Babelfisch im Ohr augenblicklich alles versteht, was einem in irgendeiner Sprache gesagt wird. Die Sprachmuster, die man hört, werden durch die Gehirnstrommatrix entschlüsselt, die einem der Babelfisch ins Gehirn eingegeben hat. Nun ist es aber verdammt unwahrscheinlich, daß sich etwas so wahn sinnig Nützliches rein zufällig entwickelt haben sollte, und so sind ein paar Denker zu dem Schluß gelangt, der Babelfisch sei ein letzter und entscheidender Beweis dafür, daß Gott nicht existiert. Die Argumentation verläuft ungefähr so: ›Ich weigere mich zu beweisen, daß ich existiere‹, sagt Gott, ›denn ein Beweis ist gegen den Glauben, und ohne Glauben bin ich nichts.‹ ›Aber‹, sagt der Mensch, ›der Babelfisch ist doch eine unbewußte Offen
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Aus der Literatur
barung, nicht wahr? Er hätte sich nicht zufällig entwickeln können. Er beweist, daß es dich gibt, und darum gibt es dich, deiner eigenen Argumentation zufolge, nicht. Quod erat demonstrandum.‹ ›Ach du lieber Gott‹, sagt Gott, ›daran habe ich gar nicht gedacht‹, und löst sich prompt in ein Logikwölkchen auf. ›Na, das war ja einfach‹, sagt der Mensch und beweist, weil’s gerade so schön war, daß schwarz gleich weiß ist, und kommt wenig später auf einem Zebrastreifen ums Leben. Die meisten führenden Theologen behaupten, dieser ganze Streit sei absoluter Humbug, aber er hinderte Oolon Coluphid nicht daran, ein kleines Vermögen damit zu verdienen, daß er ihn zum zentralen Thema seines neuesten Bestsellers Na, lieber Gott, das war’s dann wohl machte. Mittlerweile hat der arme Babelfisch dadurch, daß er alle Verständi gungsbarrieren zwischen den verschiedenen Völkern und Kulturen nieder riß, mehr und blutigere Kriege auf dem Gewissen als sonst jemand in der ganzen Geschichte der Schöpfung.« [...] [Douglas Adams: Per Anhalter durch die Galaxis. München 1981, S. 60 f.]
Da hat Gott sich in der Logik verwickelt, eine unvorsichtige Prämisse gesetzt (daß seine eigene Existenz nicht zu beweisen, sondern zu glau ben sei) und dann angesichts eines Beweises für seine Existenz seine Nichtexistenz zugestehen müssen. Auf eine Reaktion der Theologie darf man gespannt sein; sie könnte darauf hinauslaufen, daß es auch die Theologie nicht gibt, wenn es keinen Gott gibt. Mit der Gleichsetzung von schwarz und weiß sollte man ange sichts der Existenz von Zebrastreifen allerdings vorsichtig sein.
2. Retro Me Satanas Mein armer Freund Andrei Bumblowski, vormals Professor der Philo sophie an einer inzwischen aufgelassenen mitteleuropäischen Univer sität, schien mir an einer harmlosen Art von Verrücktheit zu leiden. Ich selbst bin ein Mensch von unverwüstlich gesundem Menschenver stand. Ich halte dafür, daß man den Intellekt nicht als Wegweiser durchs Leben, sondern nur als Begleiter ansieht, der mit vergnüglichen Disputationsspielen und Methoden zur Verärgerung weniger wendiger Opponenten aufwartet. Bumblowski indessen war nicht dieser Ansicht; er gestattete seinem Intellekt, ihn, wes Wegs er auch wollte, anzufüh ren, und das zeitigte seltsame Resultate. Er ließ sich selten auf eine Diskussion ein, und was seinen Ansichten zugrunde lag, entzog sich
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Aus der Literatur
zumeist den Blicken seiner Freunde. Man wußte nur, daß er beharrlich das Wort »nicht« und alle dessen Synonyme vermied. Er würde z.B. nicht sagen »Dieses Ei ist nicht frisch«, sondern: »In diesem Ei sind chemische Veränderungen vor sich gegangen, seit es gelegt wurde.« Er würde auch nicht sagen »Ich kann dieses Buch nicht finden«, sondern: »Was ich gefunden habe, sind andere Bücher als dieses Buch.« Er würde nicht sagen »Du sollst nicht töten«, sondern: »Du sollst das Leben werthalten.« Sein Leben war unpraktisch, aber unschuldig, und ich hatte viel für ihn übrig. Deshalb zweifellos ließ er mich schließlich auch in sein Inneres sehen, und er berichtete mir von einem sehr merkwürdigen Erlebnis, das ich hier in der Folge in seinen eigenen Worten wiedergebe: Ich hatte einmal ein sehr böses Fieber, an dem ich fast gestorben wäre. In meinem Fieber fiel ich in ein lang anhaltendes Delirium. Ich träumte, ich sei in der Hölle, und diese Hölle war ein Ort, an dem all das passierte, was unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich ist. Das hatte seltsame Auswirkungen. Einige der Verdammten wähnen bei ihrer Ankunft drun ten, daß sie sich die Langeweile der Ewigkeit mit Kartenspiel vertreiben können. Aber dies wird ihnen dadurch vereitelt, daß der Packen, den sie eben gemischt haben, in perfekter Ordnung herauskommt, mit dem Schippeas zuoberst und dem Herzkönig zuunterst. Eine Sonderabteilung der Hölle ist Studenten der Wahrscheinlichkeitstheorie vorbehalten. In dieser Abteilung gibt es viele Schreibmaschinen und viele Affen. Jedesmal, wenn ein Affe über die Schreibmaschine läuft, tippt sie zufällig eins von Shakespeares Sonetten. Ein anderer Ort der Qual ist für Physiker bestimmt. Dort gibt es Wasserkessel und Kohlenfeuer, wenn aber die Kessel über die Feuer gestellt werden, friert das Wasser in ihnen ein. Auch stickige Räume gibt es da unten. Erfahrung aber hat die Physiker gelehrt, nie eins der Fenster zu öffnen, denn wenn sie es tun, schießt alle Luft hinaus und macht den Raum zu einem Vakuum. Eine andere Region ist Feinschmeckern eingeräumt. Man genehmigt ihnen die erlesensten Zutaten und die geschicktesten Köche. Wenn ihnen aber das Beefsteak serviert ist und der erste herzhafte Bissen auf der Zunge zergeht, schmeckt plötzlich alles wie faule Eier; wenn sie aber ein Ei zu essen versuchen, schmeckt es wie eine verdorbene Kartoffel. Eine besonders qualvolle Kammer wird einzig und allein von Philosophen bewohnt, die Hume16 widerlegt haben. Obwohl in der Hölle, sind sie deshalb doch nicht weiser geworden. Sie lassen sich weiterhin von ihrem tierischen Hang zur Induktion leiten. Aber jedesmal, wenn sie eine Induk tion gemacht haben, wird sie vom nächsten Moment falsifiziert. Dies passiert allerdings nur während der ersten hundert Jahre ihrer Verdamm 16 David Hume, Entdecker des Induktionsproblems, d.h. der Frage nach der Berech tigung der Verallgemeinerung von Einzelbeobachtungen.
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nis. Danach wissen sie, daß sie bei einer Induktion eine Falsifikation erwarten müssen, und also werden sie nicht falsifiziert, bis ein weiteres Jahrhundert logischer Tortur ihre Erwartungen wiederum verändert hat. Die ganze Ewigkeit hindurch gibt es fortgesetzt Überraschungen, aber jedesmal auf einer höheren logischen Ebene. Dann ist da auch ein Inferno für die Volksredner, die, solange sie lebten, daran gewöhnt waren, große Menschenmassen mit ihrer Beredtheit fort zureißen. Sie sind noch so beredt wie immer, und auch die Volksmassen stehen bereit, aber seltsame Winde blasen den Schall umher, so daß die Massen, statt der Worte des Redners, nur öde und ungefüge Platitüden zu hören bekommen. Genau in der Mitte des infernalischen Königreichs sitzt Satan, bei dem nur die prominenteren Verdammten vorgelassen werden. Je näher man an Satan herankommt, desto grandiosere Dimensionen nehmen die Unwahrscheinlichkeiten an, und Er Selbst ist die vollkommenste Unwahrscheinlichkeit, die man sich vorstellen kann. Er ist reines Nichts, totale Nicht-Existenz, und doch fortwährend in Verwandlung begriffen. Als eminentem Philosophen wurde mir schon früh eine Audienz beim Fürsten der Finsternis gewährt. Ich kannte Satan aus meiner Lektüre als »Geist, der stets verneint«17. Bei meinem Eintritt aber gewahrte ich konsterniert, daß Satan nicht nur einen negativen Geist, sondern auch einen negativen Körper hat, ja, daß er ein reines und komplettes Vakuum ist, nicht nur aller Materieteilchen, sondern auch aller Lichtpartikel entleert. Seine ausgedehnte Leere wird durch ein Non-plus-ultra von Unwahrscheinlichkeit gesichert: Wann immer ein Masseteilchen sich Seiner äußeren Oberfläche nähert, stößt es zufällig mit einem anderen Partikel zusammen, was es davon abhält, in die leere Region einzudrin gen. Die leere Region ist absolut schwarz, da kein Licht je in sie eindringt – und zwar ist sie nicht etwa mehr oder weniger schwarz, wie die Dinge, denen wir aufs Geratewohl diese Eigenschaft zuschreiben, sondern gänzlich, völlig und unendlich schwarz. Sie hat eine Form, und die Form ist die, welche wir gewöhnlich Satan zuschreiben: Mit Hörnern, Hufen, Schwanz und allem. Die Hölle ist sonst ganz mit trüben Flammen erfüllt, und vor diesem Hintergrund hebt sich Satan in furchterregender Majestät ab. Er ist nicht unbeweglich. Im Gegenteil ist die Leere, aus der Er besteht, in beständiger Bewegung. Wenn Ihn etwas verärgert, entrollt Er seinen greulichen Schwanz und peitscht damit den Boden wie eine wütende Katze. Manchmal macht Er sich auf, neue Reiche zu erobern. Zuvor hüllt Er sich in eine glänzende weiße Rüstung, die völlig Sein inneres Nichts verdeckt. Nur Seine Augen bleiben unverdeckt, und aus diesen Seinen Augen schießen durchdringende Strahlen des Nichts in den Raum, auf 17
So kennzeichnet sich Mephistopheles in Goethes Faust.
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Aus der Literatur
der Suche nach Eroberungen. Wo immer sie auf Verneinung stoßen, auf Verbot, oder auf einen Kult des Nicht-Tuns, da dringen sie in die innerste Substanz derer ein, die bereit sind, Ihn zu empfangen. Jede Verneinung strahlt von Ihm aus und kehrt zurück mit einer Ernte eingefangener Frus trationen. Die eingefangenen Frustrationen werden ein Teil von Ihm und blähen Seinen Leib auf, bis er den ganzen Weltraum auszufüllen droht. Jeder Moralist, dessen Moral aus »Tu-das-nicht-tu-jenes-nicht«-Sätzen besteht, jeder Duckmäuser, der immer wissen muß, »was sich ziemt«, jeder Tyrann, der sein Volk in Furcht zu leben zwingt, sie alle werden mit der Zeit ein Teil von Satan. Er ist von einem Chor speichelleckerischer Philosophen umgeben, die Pantheismus durch Pandiabolismus ersetzt haben. Sie behaupten, daß alles Seiende nur zum Schein existiert; das Nicht-Sein ist die wahre Wirklichkeit. Mit der Zeit hoffen sie, das Nicht-Sein des Scheins zur Erscheinung zu bringen, da dann alles, was wir jetzt als seiend anse hen, in Wahrheit nur als noch nicht einbezogener Teil des diabolischen Wesens erkannt werden wird. Obgleich diese Metaphysiker beträchtli chen Scharfsinn an den Tag legten, mußte ich ihnen widersprechen. Ich war in meinem Erdendasein gewohnt gewesen, mich gegen tyrannische Autorität aufzulehnen, und diese Gepflogenheit behielt ich auch in der Hölle bei. Ich begann, mit den metaphysischen Sykophanten18 zu streiten: »Was Ihr sagt, ist absurd«, rief ich aus. »Ihr erklärt die Nicht-Existenz zur einzigen Realität. Ihr macht Euch vor, daß dieses Schwarze Loch, das Ihr anbetet, existiert. Ihr versucht mich davon zu überzeugen, daß das NichtSeiende da ist. Aber das ist doch ein Widerspruch: und so heiß auch die Flammen der Hölle brennen mögen, werde ich mich als logisches Wesen doch nie derart dazu herabwürdigen, einen Widerspruch hinzunehmen.« Hier griff nun der Vorsteher der Sykophanten in die Diskussion ein: »Du gehst zu weit, mein Freund«, sagte er. »Du leugnest, daß das Nicht-Existierende existiert? Aber was ist das denn, dem Du die Existenz absprichst?« Wenn das Nicht-Seiende nichts ist, ist jede Aussage darüber unsinnig. Und also auch Deine Aussage, daß es nicht existiert. Ich fürchte, Du hast der logischen Analyse von Sätzen zu wenig Beachtung geschenkt, was man Dich schon in früher Jugend gelehrt haben sollte. Weißt Du denn nicht, daß jeder Satz ein Subjekt hat, und daß der Satz, wenn das Subjekt nichts ist, zu Unsinn würde? Wenn Du also in Deinem Tugendeifer verkündest, daß Satan – Der der Nicht-Existente ist – nicht existiert, so widersprichst Du schlicht und einfach Dir selber.« »Du«, versetzte ich, »bist ohne Zweifel schon eine geraume Zeit an diesem Ort und vertrittst deshalb noch immer etwas antiquierte Lehrmeinungen. All dieses Geschwätz von den Sätzen, die Subjekte haben, ist veraltet. 18
Verleumder, Denunzianten.
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Wenn ich sage, daß Satan, Der der Nicht-Existente ist, nicht existiert, meine ich weder Satan noch den Nicht-Existenten, sondern nur das Wort ›Satan‹ und das Wort ›nicht-existent‹. Deine Trugschlüsse haben mir eine große Wahrheit offenbart. Eine große Wahrheit ist es nämlich, daß das Wort ›nicht‹ überflüssig ist. Von jetzt an werde ich ›nicht‹ nicht mehr benutzen.« Darauf brach nun die ganze Versammlung der Metaphysiker in ein schallendes Gelächter aus. »Hört, hört, wie der Typ sich selbst widerspricht«, sagten sie, als der Freudentaumel sich etwas gelegt hatte. »Hört euch dieses grandiose Gebot an, womit er sich die Negation verbietet. Er wird nicht das Wort ›nicht‹ benutzen, so wahr er da steht!« Obwohl ich verärgert war, bewahrte ich doch die Ruhe. In meiner Tasche hatte ich ein Wörterbuch. Darin strich ich alle Wörter aus, die eine Negation ausdrückten, und sagte: »Meine Rede wird sich nun aus schließlich aus den Wörtern, die in diesem Wörterbuch verblieben sind, zusammensetzen. Mit Hilfe dieser mir verbliebenen Wörter werde ich fähig sein, alle Dinge im Weltall zu beschreiben. Meine Beschreibungen werden zahlreich sein, aber sie werden immer von Dingen handeln, die nichts mit Satan zu tun haben. Satan hat zu lange in diesem Höllenreich regiert. Seine glänzende Rüstung war real und verbreitete Schrecken, aber unter der Rüstung da war nur eine schlechte linguistische Angewohnheit. Meide das Wort ›nicht‹, und Sein Reich ist am Ende.« Im Verlauf dieses Streitgesprächs schlug Satan mit immer wütenderer Vehemenz mit Seinem Schwanz um sich, und wilde Strahlen schossen aus der Finsternis Seiner Augenhöhlen. Zuletzt aber, da ich Ihn als schlechte linguistische Angewohnheit anprangerte, gab es eine gewaltige Explosion, die Luft strömte von allen Seiten herein, und die gräßliche Form schwand dahin. Die trübe Luft der Hölle, die von den eingedampften Strahlen des Nichts hergerührt hatte, klarte auf wie durch Zauberei. Was an den Schreibma schinen wie Affen ausgesehen hatte, waren plötzlich Literaturkritiker. Die Teekessel kochten, die Karten waren kunterbunt vermischt, eine frische Brise blies durch die Fenster herein, und die Beefsteaks schmeckten wie Beefsteaks. Mit einem köstlichen Gefühl der Befreiung wachte ich auf. Ich sah, daß Weisheit in meinem Traum gewesen war, wenn auch vielleicht in der Maske des Deliriums. Von diesem Moment an ließ das Fieber nach, aber das Delirium – wie Sie vielleicht denken mögen – ist geblieben. [Bertrand Russell: Der Alptraum des Metaphysikers; in: Sta nisław Lem (Hrsg.), Ist Gott ein Taoist? Ein phantastisches Lese buch. Frankfurt/Main 1988, S. 15–19]
Der britische Mathematiker, Philosoph, politische Aktivist und zuweilen – wie hier – auch Verfasser belletristischer Texte Bertrand Russell (1872–1970) war im Bereich der Paradoxien (bzw. Antino
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mien) eine bekannte Autorität, etwa durch die Entdeckung der Men genantinomie (Zermelo-Russellsche Antinomie) im Jahre 1902, die zu einer lebhaften Diskussion und Grundlagenkrise der Mathematik geführt hat. Nicht dies soll uns hier, da es um Alltäglicheres geht, beschäftigen, sondern die gedankenspielerische Weise, in der Russell den common sense, den gesunden Menschenverstand in diverse Fallen laufen läßt. Da ist zunächst die nicht ganz unbedeutende Frage, ob man in der normalen Kommunikation jede Negation, jedes ›nicht‹ vermei den kann. Könnte man das wirklich konsequent durchhalten, dann wäre es möglich, Paradoxien zu vermeiden (falls man es denn will); denn diese behaupten schließlich, daß etwas sich so und zugleich nicht so verhalte. Nehmen wir als Beispiele den jungen Greis und das alte Kind. Da kommt zwar kein ›nicht‹ vor, aber es ist ja die Bedeutung von Greis, nicht mehr jung, und von Kind, noch nicht alt zu sein. Professor Bumblowski, offenbar selbst ein Kind gebliebener älterer Mann, »löst« das Problem, indem er das ›nicht‹ umschreibt, etwa durch ›anders‹ oder ›Veränderungen‹ (= nicht mehr so) ... und ansonsten Diskussionen möglichst vermeidet. Diskussion drehen sich bekanntlich um unterschiedliche Ansichten, d.h. solche, in denen einer sagt, es verhalte sich so, während ein anderer (!) behauptet, es verhalte sich gerade nicht so. Solange die Ersatzbegriffe gleichbe deutend (äquivalent) mit ›nicht‹ sind, ist die Negation nur scheinbar vermieden. Letztlich liegt auch der Sinn einer Feststellung darin, ihr Gegenteil auszuschließen: »Es regnet« heißt, daß das Wetter nicht mehr trocken und daher die Aussage »Es regnet nicht« falsch ist. Alles andere, also eine Aussage, die nichts ausschließt, wäre im Alltag auch völlig uninformativ – etwa wie »Alles ist wahr«. Möglicherweise wollte Russell in diesem Passus übervorsichtige Logiker karikieren, die mit dem Bade (den Paradoxien) zugleich das Kind (die sinnvolle Kommunikation) ausschütten. Weitere Ängste werden in dem folgenden Abschnitt angespro chen, etwa die, daß es zum Verfassen sämtlicher bedeutender Werke der Weltliteratur keines besonders begabten Geistes bedarf, sondern ein Affe genügt, der rein zufällig die Tasten einer Schreibmaschine betätigt, wenn man ihm nur sehr, sehr viel Zeit dafür läßt; dann wird – sagen wir: – zu 99,9999 % Unsinn herauskommen, aber ab und zu, rein aus Zufall, auch ein sinnvolles Werk, und irgendwann auch Shakespeares Sonette.
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Indem Russell nun Satan als seiendes Nichts und höchstmögli che Unwahrscheinlichkeit (d.h. Unmöglichkeit) einführt, ihm dabei aber allerlei körperliche und charakterliche Eigenschaften zuspricht, kommt die Paradoxie so recht in Schwung. Wie ihn bekämpfen? Da er das personifizierte Nicht, Nein, Nichts ist (eine in der Theologie nicht ganz unbekannte Vorstellung), bleibt nur die komplette, aber – wie gesagt – illusorische Vermeidung jeder Negation, die Beschreibung aller Dinge des Weltalls ohne irgendeine Verneinung. Angesichts dieser Enttarnung als bloße linguistische Angewohnheit löst sich Satan durch eine Implosion des Vakuums (das physikalische Nichts) auf – darin ganz ähnlich seinem großen Gegenspieler, wie Douglas Adams ihn beschrieben hat. So einfach ist das – nur dürfen wir jetzt nicht (!) mehr »nicht« sagen. Das kann wohl nur ein Albtraum, ein Delirium sein. Der Albtraum oder der Scherz eines Logikers.
3. Ebenfalls auf Russell und seine Faszination durch Paradoxa bezogen ist die folgende Geschichte, die übrigens etliche Vorläufer in der Tradition hat: Als junger Mann träumte Bertrand Russell, daß unter den Papieren, die er auf seinem Nachttisch im College hatte liegen lassen, eines war, auf dem zu lesen stand: »Was auf der anderen Seite steht, stimmt nicht.« Er drehte das Blatt um und las: »Was auf der anderen Seite steht, stimmt nicht.« Kaum erwacht, suchte er auf dem Tischchen. Das Papier war nicht da. [Jorge Luis Borges: Buch der Träume. Frankfurt/Main 1994, S. 207]
So dementieren sich zwei – identische – Aussagen gegenseitig. Russell hat solche Fälle durch die Einführung seiner Typentheorie zu eliminieren versucht, nämlich durch das Verbot von Aussagen, die sich auf sich selbst beziehen; zugelassen sind dann nur noch Aussagen über etwas, das auf einer niedrigeren Ebene steht: Aussagen über Sachverhalte, Aussagen über Aussagen über Sachverhalte, Aussagen über Aussagen über Aussagen über Sachverhalte, also stets nur von einer Metaebene aus über die darunter liegende. Abgesehen davon, daß es sich dabei um eine rechte Herodes-Strategie handelt, die eine Menge von unproblematisch auf sich selbst zu beziehenden Aussagen (z.B. »Sprache ist ein Mittel der Kommunikation.«) mitsamt den
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unerwünschten eliminiert, kann man fragen, ob dieses Verbot (»Keine Aussage darf sich auf sich selbst beziehen!«) auch für diese Aussage gilt. Verneint man das, dann tut man, was das Verbot beinhaltet ... und wendet es gerade dadurch auf sich selbst an; bejaht man das, dann widerspricht man dem Verbot, und zwar, indem man es befolgt.19 Doch damit geraten wir – ein literarischer Einfall hat uns dazu verführt – in den Bereich der akademischen Diskussion.
4. Gleichsam zur Erholung von solchen abstrakten Erwägungen können wir zwei Liedzeilen zur Kenntnis nehmen: Everything’s a lie and that’s a fact. [Meat Loaf: Life Is A Lemon and I Want My Money Back. 1993] All the truth in the world adds up to one big lie. [Bob Dylan: Things Have Changed. 2001]
Die Lüge wird die Wahrheit (»fact«) ebensowenig los wie die Wahr heit die Lüge. Wohin führt das? Zu einem universellen Mißtrauen wohl. Nikita S. Chruschtschow hat dies an Josef Stalin beobachtet: Eines Tages [im Jahre 1951] – Mikojan und ich machten gerade einen Spaziergang auf dem Grundstück – trat Stalin auf die Veranda des Hauses. Er schien Mikojan und mich nicht zu bemerken. »Ich bin am Ende«, sagte er vor sich hinsprechend. »Ich traue niemandem, nicht einmal mir selbst.« [Chruschtschow erinnert sich. Die authentischen Memoiren. Hrsg. v. Strobe Talbott. Reinbek 1992, S. 284]
5. Wiederum amüsant ist die Raben-Paradoxie: Ein bekannter Ornithologe führte eine Gruppe wohlwollender Geldge ber durch das neue Vogelhaus, zu dessen Errichtung sie beigetragen hatten. An einer Stelle des Rundgangs erklärte er: »Und hier haben wir zwei der eindrucksvollsten Raben, die ich je zu Gesicht bekommen habe. Beachten Sie das glänzend schwarze Gefieder, für das diese Vögel berühmt sind.« 19 Vgl. Wolfgang Weimer: Schopenhauer und Hegels Logik; in: Jörg Salaquarda: Wege der Forschung – Schopenhauer. Darmstadt 1985, S. 320 f.
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Der Ornithologe fuhr in seinem Vortrag fort, berichtete über die Freßund Nistgewohnheiten der Raben und kam schließlich auf die im Volksglauben verankerte Rolle dieser Vögel als Vorboten des Unglücks zu sprechen. Als der Ornithologe seine Ausführungen beendet hatte, meinte ein junger Mann: »Verzeihen Sie, Sir, aber haben Sie nicht eben gesagt, ›Alle Raben sind schwarz‹?« »Ich bin nicht sicher, ob ich genau das gesagt habe, aber es stimmt. Alle Raben sind schwarz.« »Aber woher wollen Sie das wissen – ich meine, mit Bestimmtheit?« fragte der junge Mann. »Nun, ich habe in meinem Leben ein paar hundert Raben gesehen, die allesamt schwarz waren.« »Schon, aber ein paar hundert sind nicht alle. Wie viele Raben gibt es denn eigentlich?« »Schätzungsweise ein paar Millionen. Doch was Ihre Frage angeht, so haben viele andere Wissenschaftler – und natürlich auch Nicht-Wis senschaftler – über Tausende von Jahren Raben beobachtet und bisher sind alle schwarz gewesen. Zumindest weiß ich nicht von einem einzi gen Fall, in dem jemand einen nicht-schwarzen Raben gesehen hätte.« »Das mag schon stimmen, aber es sind immer noch nicht alle – nur die meisten.« »Richtig, aber es gibt noch andere Beweise. Nehmen Sie beispielsweise alle diese herrlichen, bunten Vögel, die wir heute gesehen haben – die Papageien, die Pfefferfresser, die Pfauen ...« »Sie sind wirklich herrlich, aber was haben sie mit Ihrer Behauptung, daß alle Raben schwarz sind, zu tun?« »Sehen Sie das denn nicht?« fragte der Ornithologe. »Nein, das sehe ich nicht. Bitte erklären Sie es mir doch.« »Also gut. Sie akzeptieren die Ansicht, daß jeder neue Fall, in dem ein weiterer schwarzer Rabe beobachtet wird, zur Bestätigung der Verallge meinerung, daß alle Raben schwarz sind, beiträgt?« »Ja, natürlich.« »Gut. Dann ist die Aussage ›Alle nicht-schwarzen Dinge sind NichtRaben‹ äquivalent. Weil alles, was eine Aussage bestätigt, auch jede logisch äquivalente Aussage bestätigt, liegt es auf der Hand, daß jeder beliebige nicht-schwarze Nicht-Rabe die Verallgemeinerung ›Alle Raben sind schwarz‹ bestätigt. Folglich bestätigen auch alle diese farbenprächti gen, nicht-schwarzen Nicht-Raben die Verallgemeinerung.« »Das ist aber doch lächerlich«, empörte sich der junge Mann. »Dann könnten Sie ja gleich sagen, daß Ihr blaues Jackett und Ihre graue Hose ebenfalls die Aussage ›Alle Raben sind schwarz‹ bestätigen. Schließlich sind das ja auch nicht-schwarze Nicht-Raben.«
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»Ganz richtig«, entgegnete der Ornithologe. »Jetzt denken Sie schon allmählich wie ein richtiger Wissenschaftler.« [Nicholas Falletta: Paradoxon. A.a.O., S. 131 f.]
Diese Geschichte spielt auf das bekannte, von dem schottischen Philosophen David Hume (1711–1776) entdeckte Induktionsproblem an, demzufolge selbst eine beliebig große Zahl von Einzelbeobachtun gen logisch keine Verallgemeinerung zu ›alle< rechtfertigt; das wird anfangs am Beispiel der schwarzen Raben (gerne auch bei weißen Schwänen) dargestellt. So weit, so unparadox. Aus der logischen Äquivalenz von »Alle Raben sind schwarz« mit »Alle nicht-schwarzen Dinge sind Nicht-Raben« läßt sich dann ableiten, daß jeder Papagei, jeder Pfau, ja jede graue Hose und jedes blaue Jackett die Behauptung, alle Raben seien schwarz, bestätigt. Das heißt: auch etwas, das über haupt nichts mir Raben zu tun hat, sagt uns etwas über Raben. Und das ist dann in der Tat paradox. Daran kann man demnächst denken, wenn einem eine gelbe Butterblume begegnet.
6. Lassen sich unsere Entscheidungen durch die folgende Überle gung optimieren? »Ich war damals überzeugt [...], daß sich unterm Strich mehr als 50 Prozent der eigenen Entscheidungen als falsch herausstellen. Und wenn es nur 51 Prozent wären, dann wäre es klüger, daß man grundsätzlich immer das Gegenteil von dem tut, was einem sinnvoll erscheint.« »Und warum hast du dich nicht daran gehalten?« »Eben deshalb. Das war schon die erste einleuchtende Entscheidung, an die ich mich nicht halten durfte, wenn ich mich daran halten wollte.« »Da wird’s kompliziert.« »Jaja. Das Leben läßt sich nicht austricksen. Man muß durch den ganzen Mist durch.« [Wolf Haas: Komm, süßer Tod. Reinbek 132004, S. 161]
Das ist logisch. Wenn mehr als die Hälfte unserer Entscheidungen zu unerwünschten Ergebnissen führen (was ich für vorsichtig geschätzt halte), dann ist es sinnvoll, sich nicht für das zu entscheiden, was man eigentlich möchte (und was eben meist schlecht ausgeht), sondern für das Gegenteil. Indem aber zugunsten dieses Gegenteils entschieden werden soll, tritt die Regel erneut in Kraft: man sollte sich für das Gegenteil des Gegenteils entscheiden. Man darf sich mithin an etwas nicht halten, wenn man sich daran halten will. Dann wird’s wahrlich
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kompliziert. Es braucht lediglich ein wenig Skepsis gegenüber den Erfolgsaussichten unserer Entscheidungen. Kürzer könnte man es so sagen: Folge nicht deinen Intentionen! oder Entscheide dich gegen deine Entscheidungen! Von Wolf Haas stammt auch noch: Es gibt ja nichts, was es nicht gibt auf der Welt. Ich sage sogar, das ist der größte Fehler an unserer Welt, dass es nicht wenigstens ein paar Dinge gibt, die es nicht gibt. [Wolf Haas: Der Brenner und der liebe Gott. Hamburg 2009, S. 185]
Ja, von ein paar Dingen in unserer Welt möchte man sich wünschen, daß es sie nicht gäbe. Paradoxien gehören freilich nicht zu ihnen: die gibt es, und diesen Umstand macht sich Haas mit erkennbarer Freude zunutze.
7. Eine Fabel über eine Mücke, eine Henne und einen Löwen erzählt Günther Anders: Als die Mücke zum ersten Male den Löwen brüllen hörte, da sprach sie zur Henne: »Der summt aber komisch.« »Summen ist gut«, fand die Henne. »Sondern?«, fragte die Mücke. »Er gackert«, antwortete die Henne. »Aber das tut er allerdings komisch.« [Günther Anders in: DIE ZEIT vom 4.3.1996]
Es geht um die Begegnung mit dem Anderen, in diesem Falle einem Löwen, zunächst aus der Perspektive einer Mücke, dann einer Henne. Die Mücke versteht den Löwen ihrem eigenen Horizont entspre chend, d.h. die Laute, die er von sich gibt, sind ein Summen. Insofern ist der Löwe wie sie. Aber natürlich stimmt etwas nicht mit dieser Gleichsetzung: er summt anders, also komisch (aus der Perspektive der Mücke). Die Henne widerspricht und muß es aus ihrer Perspektive tun; sie macht also das Gleiche wie die Mücke und stimmt ihr daher zu, indem sie widerspricht. Für sie gackert der Andere, der Löwe, aber er gackert anders, und zwar komisch. Dies ist ein Spiel mit Gleichheit und Andersheit, mit Zustim mung durch Widerspruch, wie wir es oft spielen (meist ohne es als Spiel zu erkennen), wenn wir etwas Fremdes verstehen, d.h. uns
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angleichen wollen, und uns doch bewußt sind, daß es sich um etwas Fremdes handelt.
8. Einen kaum noch zu entwirrenden Gordischen Knoten von Parado xien gibt uns Frank Kafka in folgendem Anti-Gleichnis-Gleichnis: Viele beklagen sich, daß die Worte der Weisen immer wieder nur Gleich nisse seien, aber unverwendbar im täglichen Leben, und nur dieses allein haben wir. Wenn der Weise sagt: »Gehe hinüber«, so meint er nicht, daß man auf die andere Seite hinübergehen solle, was man immerhin noch leisten könnte, wenn das Ergebnis des Weges wert wäre, sondern er meint irgendein sagenhaftes Drüben, etwas, das wir nicht kennen, das auch von ihm nicht näher zu bezeichnen ist und das uns also hier gar nichts helfen kann. Alle diese Gleichnisse wollen eigentlich nur sagen, daß das Unfaßbare unfaßbar ist, und das haben wir gewußt. Aber das, womit wir uns jeden Tag abmühen, sind andere Dinge. Darauf sagte einer: »Warum wehrt ihr euch? Würdet ihr den Gleichnissen folgen, dann wäret ihr selbst Gleichnisse geworden und damit schon der täglichen Mühe frei.« Ein anderer sagte: »Ich wette, daß auch das ein Gleichnis ist.« Der erste sagte: »Du hast gewonnen.« Der zweite sagte: »Aber leider nur im Gleichnis.« Der erste sagte: »Nein, in Wirklichkeit; im Gleichnis hast du verloren.« [Franz Kafka: Von den Gleichnissen; in: Beschreibung eines Kampfes. Novellen, Skizzen, Aphorismen aus dem Nachlaß. Frankfurt/Main 21980, S. 72]
Der erste Abschnitt ist noch relativ klar: Der Sprecher beklagt, daß die Weisen gleichnishaft sprechen und damit Unbestimmtes, Rätselhaf tes über eine andere, jenseitige Ebene sagen (was Gleichnissen ja eigentümlich ist: »Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Senf korn« usw.; Mt 13, 31 f.), während die eigentlichen Probleme unseres Lebens durch und durch diesseitig sind, zu deren Lösung das Gleichnis freilich nichts beiträgt. Ein anderer entgegnet zur Verteidigung der Gleichnisrede, wir sollten doch selber Gleichnisse werden, dann wäre die Kluft zwischen der Gleichnisebene und unserem Leben geschlos sen. Was es heißt, selber Gleichnis zu werden, ist nicht leicht zu ver stehen. Mit dem guten Menschen ist es wie mit mir? Da kommt einem dritten Gesprächspartner ein kluger Einfall: daß nämlich genau dies wohl wiederum ein Gleichnis sein solle. Damit ist die Kluft natürlich sofort wiederhergestellt. Nur ein Gleich
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nis! Das ist ganz im Sinne des Ersten, der Kritikers von Gleichnissen, der das daher bestätigt: »Du hast gewonnen.« Aber, so entgegnet der Zweite, wenn es sich hier – und vielleicht sogar in dem ganzen Text oder in unserem Leben als Gleichnis – um ein Gleichnis (ein Gleichnis über Gleichnisse) handelt, dann hat der Dritte lediglich im Gleichnis gewonnen, weil eben alles nur Gleichnis ist. Das läßt der Erste nicht so stehen. Er beharrt auf dem Gegensatz von Gleichnis einerseits und Wirklichkeit andererseits, weshalb er feststellt, daß der Dritte, was die Wirklichkeit unseres Lebens angeht, gewonnen, als Kritiker der Gleichnisse aber auf der Ebene der Gleich nisse verloren habe; was Gleichnisse dementiert, kann kein gutes Gleichnis sein. Es spricht einiges dafür, daß dieser Text als Gleichnis gemeint ist, und zwar als Gleichnis über Gleichnisse und ihr Verhältnis zu unserem Leben. Auch wenn man bei manchen, selbst religiösen Gleichnissen nicht den Eindruck hat, daß sie über etwas Jenseitiges wie das Himmelreich sprechen, sondern Irdisches mit Irdischem vergleichen20, so geht der kritische Standpunkt doch nicht ganz vorbei an dem, was »die Worte der Weisen« kennzeichnet. Ab der Verteidigung der Gleichnisse gegen diese Kritik wird es paradox. Wenn das Gleichnis der Wirklichkeit ein transzendentes Ideal entge genhält und man dann als Mensch selbst ein Vertreter dieses Ideals (ein naheliegender Gedanke), damit aber selbst Gleichnis werden soll, dann kann auch dies nur ein Gleichnis sein. Der in der Kritik hervorgehobenen Gegensatz zwischen Gleichnis und Wirklichkeit wird negiert, und zwar in einem Gleichnis! Selbst eine Kritik daran kann nur zu einem Erfolg im Gleichnis führen – wobei der Verteidiger unvorsichtigerweise sagt: nur im Gleichnis ... und damit den Unter schied, den er leugnet, bestätigt. Was das dann letztlich über unser Leben sagt, ist hier wie auch sonst bei Kafka nicht leicht zu ermitteln, haben doch seine Bücher fast durchweg einen gleichnishaften Charakter, so daß man ihm eine grundsätzliche Kritik der Gleichnisrede nicht leicht abnehmen kann. Vgl. etwa Buddhas Gleichnis vom Kot: »Gleichwie, ihr Mönche, selbst schon ein wenig Kot, Urin, Schleim, Eiter oder Blut übel riecht, so auch preise ich nicht einmal ein kurzes Dasein, auch nicht für einen Augenblick.« Die Lehrreden des Buddha aus der Angereihten Sammlung. Neue Gesamtausgabe in fünf Bänden. Übersetzt von Nyanatiloka, herausgegeben von Nyanaponika. Nachdruck Freiburg/Br. 1984; Bd. 1, S. 34. 20
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Vielleicht so: Wenn man unser Leben in der bildlichen Sprache von Gleichnissen deutet, dann werden diese Gleichnisse (Deutungen) selber Teil unseres Lebens, und damit geraten Unterscheidungen, die wir normalerweise machen, ins Verschwimmen. Wir haben uns nicht nur mit den Problemen unseres Lebens (Liebe, Haß, Freundschaft, Feindschaft, Krieg, Krankheit, Alter, Tod) auseinanderzusetzen, son dern auch mit den Deutungen, die wir diesen Phänomenen geben (Religion, Literatur, Philosophie). Wir haben die Zahl unserer Pro bleme vergrößert, ohne daß man für einen Verzicht auf solche Deu tungen plädieren könnte; schließlich wäre auch dieses Plädoyer eine Deutung ... ein Gleichnis. »Vermeide im Leben Weltanschauungen« ist eben auch nur eine Weltanschauung. Dies hängt wohl mit der geistigen Natur des Menschen zusammen.
9. Ich lebe nur, weil es in meiner Macht steht zu sterben, wann es mir belieben wird: ohne die Idee des Selbstmordes hätte ich mich schon längst getötet. [E. M. Cioran: Syllogismen der Bitterkeit. Frankfurt/Main 1980, S. 43]
Der aus Rumänien stammende Pessimist Cioran (1911—1995), der den größten Teil seines literarischen Wirkens in Frankreich vollbracht hat, äußert sich hier über die – für ihn persönlich bestehende – Not wendigkeit der Idee des Suizids für die Vermeidung des Suizids. Das Bewußtsein des »Ich kann es machen« führt dazu, es nicht zu machen. Wenn man sich in einer schier unerträglichen Lage befindet bzw. der Ansicht ist, das Leben überhaupt sei eine schlechthin unerträgliche Lage, dann ist die Möglichkeit, dem durch Suizid zu entkommen, natürlich von größter Wichtigkeit. Diese Möglichkeit macht also die Lage etwas weniger unerträglich und kann so dazu führen, daß man es noch etwas länger aushält. Das ist schon etwas paradox; aber verstärkt wird dieser Eindruck dann noch durch den Zusatz: Ohne die Idee bzw. Möglichkeit, mich umzubringen, hätte ich mich schon längst umgebracht.
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10. Hierhin passend (wenngleich auch zu den Witzen gehörend) ist die folgende Geschichte aus der jüdischen Tradition: Jom Kippur in der Synagoge. Der Kantor sendet ein persönliches Gebet gen Himmel: »Lieber Gott, Herr über Himmel und Erde, ich bin ein Nichts, ein Nichts.« Als er das hörte, sprach auch der Rabbiner ein ähnliches Gebet: »O Herr, ich bin ein Nichts, weniger als ein Nichts.« Eine dritte Stimme aus den hinteren Reihen erhob sich. Sie gehörte dem Schammes, dem Synagogendiener. Laut schrie er auf: »Auch ich bin ein Nichts, ein Nichts, o Herr, ein Nichts.« Darauf flüsterte der Rabbiner naserümpfend zum Kantor: »Schau mal, wer sich heutzutage schon für ein Nichts hält.« [ZEIT-Magazin Nr. 14 vom 31.3.2010]
Selbst in der Demut gibt es Rangunterschiede zu beachten, steht ein Synagogendiener unter einem Rabbi. Was Gott davon, hält, weiß man nicht.
11. Erst wenn man die Hoffnung aufgegeben hat, darf man hoffen – das ist paradox. Eine jede Hoffnung ist ohne Sinn. Kein Mensch verfalle auf die Idee, auf die Erfüllung seiner Träume zu sinnen. Vielmehr soll er den Irrsinn des Hoffens begreifen. Hat er ihn begriffen, darf er hoffen. Wenn er dann noch träumen kann, hat sein Leben einen Sinn. [Robert Schneider: Schlafes Bruder. Leipzig 1994, S. 135]
Die Hoffnung verführt uns zu allerlei Trugschlüssen und Illusionen, wo es vernünftiger wäre, sich der Realität zu stellen; deshalb nahm sie im Krug der Pandora, alle Übel der Welt enthaltend, eine Sonder stellung ein [Hesiod: Theogonie, V. 570–597; Werke, V. 53–105]. Schneider lehnt die Hoffnung auf die Erfüllung von Träumen radikal ab (er spricht von Irrsinn, warum auch immer); erst wenn man sich von diesem Irrsinn befreit hat, dürfe man wieder hoffen. Wie das? Er meint die Hoffnung als Traum, d.h. wenn der Traum sich nicht selbst mit einer künftigen Wirklichkeit verwechselt, dann mag er, weil ungefährlich, geträumt werden.
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12. Es folgt eine Auswahl von paradoxen Aphorismen des polnischen Autors Stanisław Jerzy Lec (1909–1966), soweit sie hier nicht schon verwendet worden sind: Es bedarf großer Geduld, um sie zu lernen. Daß er starb, ist noch kein Beweis dafür, daß er gelebt hat. Manchmal muß man verstummen, um erhört zu werden. Sprichworte widersprechen sich. Und das ist eben Volksweisheit. Ich hege Gedanken, die ich sogar mir selbst nicht offenbare. Ihr kennt sie alle. Alle unsere unterschiedlichen Fiktionen ergeben zusammen die gemein same Wirklichkeit. Je mehr wir uns der Wahrheit nähern, desto mehr entfernen wir uns von der Wirklichkeit. Ich stimme mit der Mathematik nicht überein. Ich meine, daß die Summe von Nullen eine gefährliche Zahl ist. Es gibt eine ideale Welt der Lüge, wo alles wahr ist. Der Selbsterhaltungstrieb ist manchmal Antrieb für den Selbstmord. In Wirklichkeit sieht alles anders aus, als es wirklich ist. Die Wahrheit siegt zuweilen, wenn sie aufhört zu sein. Ich bin Optimist. Ich glaube an den erlösenden Einfluß des Pessimismus. [Stanisław Jerzy Lec: Sämtliche unfrisierten Gedanken. Frank furt/Main 1996]
Das nun Stück für Stück zu durchdenken, ist eine Freude, die ich getrost dem Leser überlassen, da es nach meiner Meinung wenig ersprießlich ist, den Hintersinn eines witzig und ebenso knapp wie pointiert formulierten Gedankens vorgekaut zu bekommen. So folge ich Lecs eigener Warnung: Ein Wort genügt – der Rest ist Geschwätz.
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13. Ein Spiel mit dem Wort ›Zweifel‹ betreibt Henning Mankell in einem seiner Kriminalromane: »Hast du Zweifel?« »Ich weiß nicht, ob ich Zweifel habe. Deshalb möchte ich deine Mei nung hören.« [Henning Mankell: Die Rückkehr des Tanzlehrers. München 2009, S. 415]
Wer etwas nicht weiß, zweifelt. Das kommt oft vor. Daß jemand nicht weiß, ob er zweifelt, ist vergleichsweise selten. Eigentlich könnte er gewiß sein, daß er zweifelt, und man muß schon sehr stark zweifeln, um selbst an seinem Zweifeln zu zweifeln.
14. Ein oft erlittenes Paradox ist die Haßliebe, wo doch Haß und Liebe als Gegensätze erscheinen. Dieses Phänomen hat natürlich auch in der Literatur seinen Niederschlag gefunden, am berühmtesten wohl bei dem römischen Dichter (C. Valerius) Catull(us) (87–57 v.u.Z.): Odi et amo. Quare id faciam, fortasse requiris. Nescio, sed fieri sentio et excrucior. Oh, ich hasse und liebe! Weshalb ich es tue, du fragsts wohl. Weiß nicht! Doch daß es geschieht, fühl ich – unendlich gequält. [LXXXV; Catull: Sämtliche Gedichte. Hrsg. v. Otto Weinreich. Zürich/Stuttgart 1969, S. 270 f.]
Er weiß den Grund nicht; und man muß schon tief in das Phänomen eindringen und es analysieren bei Werken wie etwa Edward Albees Wer hat Angst von Virginia Woolf?, um dieses Seelengefängnis von anhaltender Sehnsucht und wiederholter Enttäuschung nachvollzieh bar zu machen. Übrigens hat dieses Gedicht einen etwa 500 Jahre älteren, weniger bekannten, aber ebenfalls paradox sprechenden Vorläufer bei dem Griechen Anakreon: Ἐρέω τε δηὖτε κοὐκ ἐρέω καὶ μαίνομαι κοὐ μαίνομαι.
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Wiederum lieb ich und liebe doch nicht, Bin besessen und bin es doch nicht. [Griechische Lyriker. Hrsg. v. Horst Rüdiger. Zürich/Stuttgart ²1968, S. 130 f.]
15. Eine spezielle Form nicht von Selbsthaß, aber Selbstdistanzierung ist mir aus zwei Zitaten bekannt, die ich hier wiedergeben, auch wenn sie beide nicht im engeren Sinne zur Literatur gehören: Rousseau an Madame d’Houdetot: »Wenn Sie mein werden, so verliere ich, eben dadurch, daß ich Sie dann besitze, Sie, die ich ehre.« Groucho Marx: »Es würde mir nicht im Traum einfallen, einem Klub bei zutreten, der bereit wäre, jemanden wie mich als Mitglied aufzunehmen.« [Paul Watzlawick: Anleitung zum Unglücklichsein. A.a.O., S. 98 f.]
Rousseau möchte etwas, das er eben dadurch, daß er es gewönne, verlöre; und Groucho Marx hat Schwierigkeiten, einem Verein beizu treten, da er nie einem Verein beträte, der ihn aufnähme. Das sind paradoxe Wünsche.
16. Gerne kleiden sich Paradoxien in Rätsel; ein bekanntes Beispiel dafür stammt von dem Philosophen und Theologen Friedrich Schleierma cher (1768–1834): Nimm mir ein Nu, so bleib ich ein Nu. [Schleiermacher‘s Räthsel und Charaden. Berlin ³1883, Nr. 247]
Die Lösung? Da muß ich einen Monument nachdenken.
17. Ein um Witze nie verlegener Autor wie Mark Twain (1835–1910) konnte sich den Effekt, den paradoxe Formulierungen haben, selbst verständlich nicht entgehen lassen. Hier sind zwei von zahlrei chen Beispielen: [...] ich bin überzeugt, dass ich über das Lügen mehr weiß als jeder, der vor mir auf diesem Planeten gelebt hat. Ich glaube, dass ich der einzige
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Mensch bin, der vernünftig über dieses Thema reden kann. Seit siebzig Jahren bin ich damit vertraut. Die erste Äußerung, die ich je von mir gegeben habe, war eine Lüge, denn ich tat so, als ob mich eine Nadel gestochen hätte, was gar nicht stimmte. Seither interessiere ich mich für diese große Kunst. Seither übe ich mich in ihr, manchmal zum Vergnügen, meistens um einen Gewinn herauszuschlagen. Und bis zum heutigen Tag bin ich mir nicht immer sicher, wann ich mir selbst Glauben schenken darf und wann die Angelegenheit überprüft werden sollte. [Mark Twain: Meine geheime Autobiographie. Berlin 2012, S. 394 f.]
Im Folgenden schildert Mark Twain seinen Wunsch, mit seiner Reise begleitung während eines Aufenthaltes in der Schweiz einen Sonnen aufgang in den Alpen zu sehen. Ein Hornbläser hat versprochen, ihn rechtzeitig zu wecken. Er hielt Wort. Wir hörten sein Horn und standen sofort auf. Es war dunkel, kalt und gräßlich. Während ich nach den Streichhölzern herum kramte und mit zitternden Händen Sachen herabstieß, wünschte ich, die Sonne würde mitten am Tag aufgehen, wenn es warm, hell und freundlich wäre und man sich nicht müde fühlte. [Mark Twain: Bummel durch Europa. Zürich 1990, S. 226]
Ein Mensch, der sich selber nicht glauben mag, bevor er sich einer Überprüfung unterzogen hat, mag sich auch wünschen, die Sonne sollte mitten am Tage aufgehen und ihn ausgeschlafen vorfinden. Auch wenn dies als Scherz gemeint ist, handelt es sich doch um eine spezielle Art von Humor, welche sich darüber amüsiert, daß der Lauf des Lebens bei weitem nicht immer so klar und logisch ist, wie manche Logiker es gerne hätten.
18. Ein altbekanntes Spiel mit sich selber aufhebenden Äußerungen betreibt Lion Feuchtwanger (1884–1958) hier: »Ministerialverordnung. In Zukunft müssen alle nachweislich wahren Sachen auf gelbem Papier geschrieben sein, alle falschen auf weißem. Gegeben in Niedertannhausen. Der Statthalter Gottes und der Eisenbahn zu Wasser und zu Lande Fritz Eugen Brendel.«
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Aus der Literatur
Dieses Manifest schlug er feierlich im Krankensaal [sc. der psychi atrischen Klinik] an. Es war auf weißem Papier geschrieben. [Lion Feuchtwanger: Erfolg. Berlin/Weimar 1989, S. 480]
Brendel, so muß man sagen, gilt als schizophren und lebt in einer geschlossenen Anstalt. Aber das Problem sich selbst dementierender Mitteilungen wird schon seit der Antike auch außerhalb solcher Anstalten diskutiert. Glauben Sie mir nicht!
19. Ein dunkler Autor mit rätselhaften Aussagen, die der Logik zu spotten scheinen, ist der Portugiese Fernando Pessoa (1888–1935). Dies sind zwei Beispiele: Die Vorstellung zu reisen erfüllt mich mit Ekel. Ich habe bereits alles gesehen, was ich nie gesehen habe. Ich habe bereits alles gesehen, was ich noch nicht gesehen habe. [Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares; Nr. 122. Frankfurt/Main 2011, S. 140] Wenn eintrat, was ich erwartete, kam es stets unerwartet. [Die Großen Texte – Luzides Tagebuch; a.a.O., S. 507]
Dies mögen Wiedergaben von Empfindungen und Arten des Erlebens sein, die nicht paradox sein sollen, sondern unmittelbar das ausdrü cken, was in besonderen – luziden – Bewußtseinszuständen in einem aufsteigt. Der Ekel vor dem Reisen läßt alles, was man auswärts noch nie gesehen hat, als etwas Gesehenes, Bekanntes erscheinen, das nur Überdruß auslöst. Und alle Erwartung schützt, der Logik zum Trotz, uns nicht davor, überrascht zu sein, wenn es dann tatsächlich eintritt; dazu ist unser Empfinden zu vielschichtig. Hierhin mögen auch Bob Dylans Verse gehören: You always got to be prepared but / You never know for what. [Sugar Baby; Album Love an Theft (2001)] Worauf soll man sich dann vorbereiten? Man kann sich offen halten. Sich für Paradoxa offen zu halten, schützt uns auch in dieser Hinsicht vor einer allzu großen Vereinfachung der inneren wie der äußeren Welt.
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20. Wir können, da wir von Bob Dylan sprechen, auch seine folgenden Verse erwähnen: She knows there’s no success like failure / And that failure’s no success at all. [Love Minus Zero/No Limit; Album Subter ranean Homesick Blues (1965)] Einen Fehlschlag – das Gegenteil eines Erfolges – als Erfolg anzusehen, bedeutet, ihm eine andere Wertung zu geben: Wir lernen aus Fehlern, und wir lernen daraus mehr als aus Erfolgen. »trial an error« heißt es, nicht »trial and success«.
21. In den Bereich des Scherzes gehören die folgenden Verse von Johann Nepomuk Nestroy (1801–1862): O, es is‘ ein bitteres Gefühl, wenn man oft so hungrig is‘, daß man vor Durst nicht weiß, wo man die Nacht schlafen soll! [Johann Nestroy: Frühere Verhältnisse (1862), 6. Szene, Monolog des Hausknechts Muffl]
Aus anderer Quelle (Leonhard Frank) auch in der Variante: Ich hab so einen Hunger, daß ich vor Durst nicht weiß, wo ich heut nacht schlafen soll, so friert‘s mich.
Im Volksmund gibt es den Spruch: Ich hab‘ einen solchen Durst, ich könnte ein halbes Pferd essen, so müd‘ bin ich. Hier vermischt jemand spaßeshalber die Kategorien, um – vielleicht nicht einmal im Ernst – seine allgemeine Unzufriedenheit auszudrücken.
22. Seinem Freund, dem DDR-Wissenschaftler und Dissidenten Robert Havemann, der beharrlich in der DDR aushielt, hat Wolf Biermann ein Lied gewidmet, um dessen Bestürzung über die Flucht seines Sohnes in den Westen zu lindern: Der kleine Flori HaveZwei-Meter-Mann, das brave das uralt kluge Kind
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Ist abgehaun nach Westen Mit seiner derzeit Festen - wie die wohl rüber sind? Er ist hinüber – enfant perdu Ach, kluge Kinder sterben früh Von Ost nach West – ein deutscher Fall Laß, Robert, laß sein Nee, schenk mir kein‘ ein! Abgang ist überall [Wolf Biermann: Enfant perdu; Album: Warte nicht auf beßre Zeiten (1972)]
Diese Eröffnung besteht aus lauter Widersprüchen: der kleine ZweiMeter-Mann, das uralte Kind, brav abgehaun mit seiner derzeit Festen. Besser kann man die Zerrissenheit, die ein Vater gegenüber seinem treulosen Kind empfindet, kaum ausdrücken. Auch dazu kön nen paradoxe Formulierungen dienen: als Ausdruck einer Emotion, die uns schier das Herz zerreißt. Im hohen Alter hat Biermann noch diese Äußerung getan: Noch lach ich, mach mein Ding ... und sing ... ich, der Lebendigste! leb nicht mehr gerne. [Wolf Biermann: Elegie im 86. Jahr; zitiert nach: Nun schließt mein Lebenskreis sich höllenwärts; Frankfurter Allgemeine vom 5.5.2022]
Man kann da an den Lyriker Friedrich Hölderlin (1770–1843) denken, der, alt und schon von der Schizophrenie gezeichnet, schrieb: Das Angenehme dieser Welt hab ich genossen, Die Jugendstunden sind, wie lang! wie lang! verflossen, April und Mai und Julius sind ferne, Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne! [Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe in zwei Bänden. Herausgegeben von Günter Mieth. München 1970; Band 1, S. 440]
Aber diese Version ist nicht paradox, sondern nur traurig.
22. Bei Wolf Biermann spielt selbstverständlich auch noch eine DDRtypische Schulung in Dialektik hinein, welche die Welt und speziell die Gesellschaft von Widersprüchen her versteht – was selbst bei
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Kritikern der DDR Spuren hinterläßt. So steht es auch bei dem DDR-Lyriker Richard Leising (1934–1997), dessen Gesamtwerk aus einem schmalen Gedichtband (Gebrochen deutsch) und einem ebenso schmalen Nachlaßband (Die Rotzfahne) besteht. Beide haben es aller dings in sich. Für unseren Zweck möchte ich einige dialektische bzw. paradoxe Formulierungen zitieren, die sich in seinen Gedichten fin den: Und dieses Land [sc. DDR] darin ich leben will Aber muss [Mein Frühjahr (1967)] Und wird kein Traum sein In dem du nicht bist Aber da ist kein Traum. [September 1975, Februar 1986] Ich weiß keinen Weg, und den gehe ich. [Der Rabe, Tragikomische Legende (Nach Carlo Gozzi)] [Richard Leising: Gebrochen deutsch. Gedichte. Ebernhausen bei München 1990, S. 8, 21, 37]
Auch hier geht es – wie bei Biermann – um das Gefühl einer Zerrissenheit, in diesem Falle der eigenen. Man muß nicht Bürger der DDR gewesen sein, um das zu kennen; es genügt Verzweiflung, es genügt eine Depression.
23. Von schriftstellerischer Bescheidenheit, aber mehr noch von Humor und Freude am Paradox zeugt es, wenn Autoren über sich selbst sagen: Ich bin der bekannteste unbekannte Schriftsteller der Welt [Ambrose Bierce] oder I’m in the very first row of second class writers (Ich stehe in der allerersten Reihe zweitklassiger Schriftsteller) [W. Somerset Maugham]. Das ist, ebenfalls paradox, Selbstlob und Bescheiden heit zugleich.
24. Einer der geistreichsten und witzigsten Romane der Weltliteratur ist nach meiner Ansicht der Tristram Shandy des Engländers Lau rence Sterne (1713–1768). Es handelt sich dabei um eine fiktive Autobiographie, die unendlich mäandriert und sich genußvoll in
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Nebenereignissen und -figuren ergeht, so daß der Protagonist, wo andere Erzähler schon in der Mitte ihres Lebens angelangt sind, noch nicht einmal bis zu seiner Geburt gelangt ist. Zu diesen scheinbaren Abschweifungen gehört auch, daß Laurence Sterne alias Tristram Shandy sich gelegentlich an seine Leser wendet, so wie hier: Ich bin in diesem Monat ein ganzes Jahr älter als heute vor zwölf Monaten, und da ich, wie Sie sehen, schon bald die Mitte meines vierten Bandes erreicht habe und noch nicht weiter als bis zum ersten Tag meines Lebens gekommen bin, so ist es klar, daß ich schon jetzt dreihundertvierundsech zig Tage mehr zu schreiben habe, als da ich zuerst begann, so daß ich, statt wie ein gewöhnlicher Schriftsteller in meinem Werk mit dem, was ich daran getan habe, weiterzukommen, vielmehr ebenso viele Bände zurückgeworfen worden bin. Sollte noch jemals ein Tag in meinem Leben so geschäftig sein wie dieser – und warum nicht? – und die Schilderung der Ereignisse und Meinungen an demselben soviel Zeit wegnehmen – und aus welchen Gründen sollten sie kürzer abgefertigt werden? –, so muß, da ich auf diese Weise genau dreihundertvierundsechzigmal geschwinder lebe, als ich schreibe, mit Euer Gnaden Erlaubnis daraus folgen, daß ich um so mehr zu schreiben habe, je mehr ich schreibe, und daß somit Euer Gnaden um so mehr zu lesen haben. [Laurence Sterne: Das Leben und die Meinungen des Tristram Shandy IV 13]
Wenn man schneller lebt und mehr erlebt, als man schreiben kann, und dann noch umständlich schreibt, dann muß man umso mehr schreiben, je mehr man schreibt, und der Leser kommt die unglückli che Lage, immer mehr lesen zu müssen, ohne voranzukommen.
25. Ein solches Spiel mit dem eigenen Text hat sich auch William Shake speare (1564–1616) erlaubt, und zwar im Epilog seiner Komödie Wie es euch gefällt: [...] Ist es wahr, daß der »gute Wein keines Kranzes bedarf«, so ist es auch wahr, daß ein gutes Stück keinen Epilog nötig hat: doch braucht man beim guten Wein gute Kränze, und gute Stücke werden durch gute Epiloge nur um so besser. In welcher Lage bin ich denn nun, da ich weder ein guter Epilog bin, noch auch wegen eines guten Stückes angenehm sein kann?
Ein gutes Stück benötigt keinen Epilog, und dies ist ein Epilog. Mein Stück ist weder ein gutes Stück, noch ist mein Epilog ein guter Epilog. Zumindest ist es das Paradox der Bescheidenheit.
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26. Zu diesem Paradox der Bescheidenheit gehört auch eine Passage aus dem Werk von Charles Dickens (1812–1870): Menschen, die von Grund aus falsch und hohl sind, versuchen nur selten, diese Laster vor sich selbst zu verbergen; und dennoch erheben sie durch die Tatsache, daß sie sie offen bekennen, Anspruch auf gerade die Tugenden, die sie vorgeben am meisten zu verachten. »Denn«, so sagen sie, »dies eben ist die Ehrlichkeit, dies eben ist die Wahrheit. Alle Menschen sind so wie wir, aber sie haben nicht den Mut, es einzugestehen.« Je mehr sie vorgeben, das Vorhandensein der Ehrlichkeit in der Welt zu leugnen, um so mehr schreibt man sie ihnen in ihrer kühnsten Form zu; und dies ist ein unbewußtes Kompliment an die Wahrheit gerade seitens jener Philosophen, die am Tage des Gerichts verhöhnt und verlacht sein werden. [Charles Dickens: Barnaby Rudge. München 1963, S. 263 f.]
Ein bestimmter, gänzlich falscher (unaufrichtiger) und hohler (geist loser) Typus Mensch neigt dazu, diesen Mangel weder vor sich noch vor anderen zu verbergen, aber eben dadurch sich eine Auszeichnung zuzuschreiben: nämlich die der besonderen Ehrlichkeit. Die anderen, so sagen sie, sind im Grunde ebenso wie wir – nur daß sie es im Gegensatz zu uns nicht zugeben. Damit machen sie unbewußt der Ehrlichkeit und Wahrheit ein Kompliment, ohne selbst ehrlich und wahrhaftig zu sein; sie dichten lediglich ihre Schwäche zu einer Stärke um.
27. Eine sehr vielzitierte, weil besonders krasse literarische Paradoxie stammt von Arthur Rimbaud (1854–1891): Es ist falsch zu sagen: ICH denke: man müßte sagen: ES DENKT MICH. – Verzeihen Sie das Wortspiel. ICH ist ein ANDERER. Pech für das Holz, das sich als Violine vorfindet, und HOHN über die Ahnungslosen, die über Dinge räsonieren, von denen sie keinen blassen Schimmer haben! [Arthur Rimbaud: Das poetische Werk. München 1988, S. 12]
»Ich ist ein Anderer« vor allem sticht hier ins Auge und macht das häufig zitierte Wort aus. Das soll wohl heißen: Ich ist ein Anderer als ich denke ... vielmehr: als es denkt; denn es ist nicht Ich, bin nicht ich, was denkt, sondern es wird gedacht. Von wem oder was? Rimbaud sagt es uns in seiner knappen und thetischen Art nicht. Und wem
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sollte man sowas auch sagen? Philosophisch ist das Ich schwer zu bestimmen, auch wenn Philosophen es seit dem 17. Jahrhundert, seit René Descartes (1596–1650) gerne bemühen und gar zur Grundlage ihrer Systeme machen. Da stellt Rimbaud immerhin eine kluge Frage, die ich (wer?) verständlicherweise nicht beantworten kann.
28. Zwei Beispiele des Skeptikers Michel de Montaigne (1533–1592) zeigen, daß auch er Paradoxien zu erkennen und einzusetzen wußte: Auf der Welt hat es noch nie zwei gleiche Meinungen gegeben – sowenig wie zwei gleiche Haare oder Samenkörner. In nichts ist sich alles gleicher als in der Ungleichheit. [Essais II, 37] Es gibt nichts Unnützes in der Natur, nicht einmal das Unnütze selbst. [Essais III 1]
Den ersten Gedanken kann man so formulieren: Alles, was es gibt, ist sich darin gleich, daß es ungleich ist; wenn jedes Ding bzw. überhaupt jede Entität von jedem anderen, selbst seiner eigenen Art (Haar, Samenkorn), unterschieden, also individuell ist, dann ist alles gleichermaßen individuell. Einschränkend sagen könnte man wohl, daß die Verschiedenheit eines Haares von einem anderen Haar von anderer Art ist als die eines Haares von einem Samenkorn. Zur Nützlichkeit des Unnützen fällt einem leicht das Sprichwort ein: Alles ist zu irgendetwas gut, und sei es als schlechtes (d.h. warnen des) Beispiel.
29. Einige der liebenswerten Schnurren des badischen Erzählers Johann Peter Hebel (1760–1826) spielen mit dem Paradoxen auf eine sehr unterhaltsame Art: Eine sonderbare Wirtszeche Manchmal gelingt ein mutwilliger Einfall, manchmal kostet’s den Rock, oft sogar die Haut dazu. Diesmal aber nur den Rock. Denn obgleich einmal drei lustige Studenten auf einer Reise keinen roten Heller mehr in der Tasche hatten, alles war verjubelt, so gingen sie doch noch einmal in ein Wirtshaus, und dachten, sie wollten sich schon wieder hinaushelfen, und doch nicht wie Schel
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Aus der Literatur
men davonschleichen, und es war ihnen gar recht, daß die junge und artige Wirtin ganz allein in der Stube war. Sie aßen und tran ken guten Mutes, und führten miteinander ein gar gelehrtes Gespräch, als wenn die Welt schon viele tausend Jahr alt wäre, und noch ebenso lang stehen würde, und daß in jedem Jahr, an jedem Tag und in jeder Stunde des Jahr alles wieder so komme und sei, wie es am nämlichen Tag und in der nämlichen Stunde vor sechstausend Jahren auch gewesen sei. »Ja«, sagte endlich einer zur Wirtin – die mit einer Strickerei seitwärts am Fenster saß und aufmerksam zuhörte, – »ja, Frau Wirtin, das müssen wir aus unsern gelehrten Büchern wissen.« Und einer war so keck, und behauptete, er könne sich wieder dunkel erinnern, daß sie vor sechstausend Jahren schon einmal dagewesen seien, und das hüb sche freundliche Gesicht der Frau Wirtin sei ihm noch wohlbe kannt. Das Gespräch wurde noch lange fortgesetzt, und je mehr die Wirtin alles zu glauben schien, desto besser ließen sich die jungen Schwenkfelder den Wein und Braten und manche Bretzel schmecken, bis eine Rechnung von 5 fl. 16 kr. auf der Kreide stand. Als sie genug gegessen und getrunken hatten, rückten sie mit der List heraus, worauf es abgesehen war. »Frau Wirtin«, sagte einer, »es steht diesmal um unsere Batzen nicht gut, denn es sind der Wirtshäuser zu viele an der Straße. Da wir aber an Euch eine verständige Frau gefunden haben, so hoffen wir als alte Freunde hier Kredit zu haben, und wenn’s Euch recht ist, so wollen wir in 6000 Jahren, wenn wir wiederkommen, die alte Zeche samt der neuen bezahlen.« Die verständige Wirtin nahm das nicht übel auf, war’s vollkommen zufrieden, und freute sich, daß die Her ren so vorliebgenommen, stellte sich aber unvermerkt vor die Stu bentüre, und bat, die Herren möchten nur so gut sein, und jetzt einstweilen die 5 fl. 16 kr. bezahlen, die sie vor 6000 Jahren schuldig geblieben seien, weil doch alles schon einmal so gewesen sei, wie es wiederkomme. Zum Unglück trat eben der Vorgesetzte des Ortes mit ein paar braven Männern in die Stube, um miteinander ein Glas Wein in Ehren zu trinken. Das war den gefangenen Vögeln gar nicht lieb. Denn jetzt wurde von Amts wegen das Urteil gefällt und voll zogen: »Es sei aller Ehren wert, wenn man 6000 Jahre lang geborgt habe. Die Herren sollten also augenblicklich ihre alte Schuld bezah len, oder ihre noch ziemlich neue Oberröcke in Versatz geben.« Dies letzte mußte geschehen, und die Wirtin versprach, in 6000 Jahren, wenn sie wiederkommen, und besser als jetzt bei Batzen seien, ihnen alles, Stück für Stück, wieder zuzustellen. Dies ist geschehen im Jahre 1805 am 17. April im Wirtshaus zu Segringen.
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Aus der Literatur
Willige Rechtspflege Als ein neu angehender Beamter zu Zeiten der Republik das erstemal zu Recht saß, trat vor die Schranken seines Richterstuhls der untere Müller, vortragend seine Beschwerden gegen den obern, in Sachen der Wasserbaukosten. Als er fertig war, erkannte der Richter: »Die Sache ist ganz klar. Ihr habt recht.« Es verging eine Nacht und ein Räuschlein, kam der obere Müller und trug sein Recht und seine Verteidigung auch vor, noch mundfertiger als der untere. Als er ausgeredet hatte, erkannte der Richter: »Die Sache ist so klar als möglich. Ihr habt vollkommen recht.« Hierauf als der Müller abgetreten war, nahte dem Richter der Amtsdiener. »Gestrenger Herr«, sagte der Amtsdiener, »also hat Euer Herr Vorfahrer nie gesprochen, solange wir Urteil und Recht erteilten. Auch werden wir dabei nicht bestehen. Es können nicht beide Parteien den Prozeß gewinnen, sonst müssen ihn auch beide verlieren, welches nicht gehen will.« Darauf antwortete der Beamte: »So klar war die Sache noch nie. Du hast auch recht.« Die Ohrfeige Ein Büblein klagte seiner Mutter: »Der Vater hat mir eine Ohrfeige gegeben.« Der Vater aber kam herzu und sagte: »Lügst du wieder? Willst du noch eine?« Ich wußte nichts von der Lust, so das Gesetz nicht hätte gesagt, laß dich nicht gelüsten! [Johann Peter Hebel: Poetische Werke. Darmstadt (München) 1968, S. 101–103; 444 f.; 521; 536]
Die Studenten denken, es pfiffig angestellt zu haben, um der Bezah lung ihrer Zeche zu entgehen. Doch wer angeblich in der ewigen Wie derkehr des Gleichen lebt, der hat halt noch die Schulden vergangener Episoden zu zahlen. So erweist sich die Entlastung als Belastung. Und wer jedem recht gibt, der muß auch Widersprüchliches bestätigen und sogar die Kritik daran – das kam hier schon häufi ger vor. Der Vater bestätigt in schöner Manier den gegen ihn erhobenen Vorwurf, indem er ihn bestreitet. Und ein Gesetz wirkt seiner eigenen Intention entgegen, weshalb es im Vaterunser heißt: »Und führe uns nicht in Versuchung.« Die Versuchung tritt aber nicht als böser Verführer auf, sondern als Gutes in Gesetzesform.
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Aus der Literatur
30. Von Gottfried Benn (1886–1956) ist die folgende Notiz überliefert: Als der Diamantenhändler Salomon Rossbach vom Empire State Buil ding sprang, hinterließ er eine geheimnisvolle Botschaft: »Kein Oben, kein Unten mehr, so springe ich ab.« [Gottfried Benn: Altern als Problem für Künstler; in: ders., Das Hauptwerk. Wiesbaden/München 51980, Band 2, S. 383]
Wenn es kein Oben und kein Unten mehr gibt, wird das Abspringen rätselhaft. Vielleicht hat Herr Rossbach angenommen, es sei dann gefahrlos? Aber das klingt nicht plausibel, weil es dann eigentlich keinen Absprung mehr gäbe.
31. Einige Fundstücke von Jean Paul (Johann Paul Friedrich Richter, 1763–1825) seien hier vorgestellt: Wer übersetzt werden kann (ins Französische wenigstens), verdient nicht übersetzt zu werden. Im Briefchen an meine Frau: dein gehorsamster – Herr. Die Menschen sind so dumm, dass sie Gott selber kaum begreifen kann. Nur Gott könnte einen Selbstmord begehen; denn wir sterben doch alle von selber. [Jean Paul: Ideengewimmel. Frankfurt/Main 1996, S. 57, 191, 205, 240]
Das benötigt keinen Kommentar – das kann nicht nur der allwissende Gott als paradox begreifen, mag er auch ansonsten an der Dummheit der Menschen scheitern.
32. Eine kluge Analyse der menschlichen Klugheit findet sich bei dem spanischen Jesuiten Baltasar Gracián y Morales (1601–1658): Bald aus zweiter, bald aus erster Absicht handeln. Ein Krieg ist das Leben des Menschen gegen die Bosheit des Menschen. Die Klugheit führt ihn, indem sie sich der Kriegslisten, hinsichtlich ihres Vorhabens, bedient. Nie thut sie das, was sie vorgiebt, sondern zielt nur, um zu täuschen. Mit Geschicklichkeit macht sie Luftstreiche; dann aber führt sie in der
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Aus der Literatur
Wirklichkeit etwas Unerwartetes aus, stets darauf bedacht ihr Spiel zu verbergen. Eine Absicht läßt sie erblicken, um die Aufmerksamkeit des Gegners dahin zu ziehen, kehrt ihr aber gleich wieder den Rücken und siegt durch das, woran Keiner gedacht. Jedoch kommt ihr andrerseits ein durchdringender Scharfsinn durch seine Aufmerksamkeit zuvor und belauert sie mit schlauer Ueberlegung: stets versteht er das Gegentheil von dem, was man ihm zu verstehn giebt, und erkennt sogleich jedes falsche Miene machen. Die erste Absicht läßt er immer vorüber gehn, wartet auf die zweite, ja auf die dritte. Indem jetzt die Verstellung ihre Künste erkannt sieht, steigert sie sich noch höher und versucht nunmehr durch die Wahrheit selbst zu täuschen: sie ändert ihr Spiel, um ihre List zu ändern, und läßt das nicht Erkünstelte als erkünstelt erscheinen, indem sie so ihren Betrug auf die vollkommenste Aufrichtigkeit gründet. Aber die beobachtende Schlauheit ist auf ihrem Posten, strengt ihren Scharfblick an und entdeckt die in Licht gehüllte Finsterniß: sie entziffert jenes Vorhaben, welches je aufrichtiger, desto trügerischer war. Auf solche Weise kämpft die Arglist des Python gegen den Glanz der durchdringen den Strahlen Apolls. [Baltasar Gracián y Morales: Handorakel und Kunst der Welt klugheit, Nr. 13. Stuttgart 1967, S. 5 f.]
Gracián spricht von einem Krieg, den das Leben des Menschen gegen die Bosheit des Menschen führt. Zu diesem Krieg – das rät die Klugheit – gehören Kriegslisten. Eine Kriegslist täuscht eine Absicht vor, lenkt die Aufmerksamkeit des Feindes in eine falsche Richtung. Das dürfte nicht nur in einem Krieg gegen die Bosheit, sondern in jedem Krieg so sein. Aber auch der Gegner bedient sich der Klugheit, indem er hinter der suggerierten Absicht die Täuschung vermutet und daher etwas anderes als dieses Suggerierte unterstellt. Man mag sich, diesseits eines echten Krieges, als Beispiel die Konfrontation zwischen einem Elfmeter-Schützen und einem Torwart beim Fußball vorstellen: der eine täuscht, als wolle er in die recht Ecke schießen, der andere hechtet darauf in die linke. Oder, wie Gracián es schreibt, er wartet noch ab, ob der Schütze eine zweite oder gar dritte Absicht zu erkennen gibt. Da auch der Schütze diese Taktik seines Gegenüber kennt bzw. unterstellt, wird die Lage immer komplizierter. Natürli ches und Erkünsteltes, Aufrichtigkeit und Betrug (Gegensätze also) vermischen sich, und ein Vorhaben ist oder erscheint zumindest als umso trügerischer, je aufrichtiger es ist. Die Aufrichtigkeit erscheint als Trug, der Trug erweckt den Eindruck der Aufrichtigkeit – die perfekte Camouflage.
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Aus der Literatur
Wenn Gracián dies abschließend mit dem Kampf Apollons, des Lichtgottes, gegen das mythische Ungeheuer Python21 vergleicht, dann sollte man wohl hinzufügen, daß der Vertreter des Guten (der Wahrheit), will er Erfolg haben, sich der Mittel seines Gegners bedienen muß: Die Wahrheit selber wird unwahr. Aus dem Handorakel des besagten Gracián stammt auch: Sich verzeihliche Fehler erlauben, denn eine Nachlässigkeit ist zu Zeiten die größte Empfehlung der Talente. Der Neid übt einen niederträchtigen, frevelhaften Ostrazismus aus. Dem ganz Vollkommenen wird er es zum Fehler anrechnen, daß es keine Fehler hat, und wird es als ganz vollkommen ganz verurteilen. Er wird zum Argus, um am Vortrefflichen Makel zu suchen, wenn auch nur zum Trost. Der Tadel trifft, wie der Blitz, grade die höchsten Leistungen. Daher schlafe Homer bisweilen, und man affektiere einige Nachlässigkeiten, sei es im Genie, sei es in der Tapferkeit, – jedoch nie in der Klugheit, – um das Mißwollen zu besänftigen, daß es nicht berste vor Gift. Man werfe gleichsam dem Stier des Neides den Mantel zu, die Unsterblichkeit zu retten. [Handorakel Nr. 83; a.a.O., S. 34]
Der Gedanke ist klar: Die höchste Stufe der Vollkommenheit ist dann erreicht, wenn sie wenigstens kleine Fehler enthält, mithin nicht ganz vollkommen oder ein wenig unvollkommen ist; erst in dieser Form bietet sie dem Neid keine Angriffsfläche mehr.
33. In erlebte und erlittene Paradoxien führt einen auch - wen sollte es wundern? – die Liebe: Ist dieses nun das süße Wesen, Nach dem mich so verlanget hat? Ist dieses der gesunde Rat, Ohn den ich konnte nicht genesen, Und ist dies meiner Wehmut Frucht, Die ich so emsig aufgesucht? Wie unverwirrt ist doch ein Herze, Das nicht mehr als sich selbst erkennt, Von keiner fremden Flamme brennt, Selbst seine Lust und selbst sein Schmerze! 21
Vgl. Homerische Hymnen III 300–374.
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Aus der Literatur
Seit daß ich nicht mehr meine bin, So ist mein ganzes Glücke hin. Ich schlaf, ich träume bei dem Wachen, Ich ruh und habe keine Ruh. Ich tu und weiß nicht, was ich tu; Ich weine mitten in dem Lachen. Ich denk, ich mache dies und das; Ich schweig, ich red und weiß nicht was. Die Sonne scheint für mich nicht helle, Mich kühlt die Glut, mich brennt das Eis. Ich weiß und weiß nicht, was ich weiß. Die Nacht tritt an des Tages Stelle. Itzt bin ich dort, itzt da, itzt hier. Ich folg und fliehe selbst vor mir. Wie wird mirs doch noch endlich gehen? Ich wohne nunmehr nicht in mir. Mein Schein nur ist es, den ihr hier In meinem Bilde sehet stehen. Ich bin nun nicht mehr selber ich. Ach Liebe, wozu bringst du mich! [Paul Fleming: Liebesqual; Deutsche Dichtung der Neuzeit. Hrsg. v. Ernst Bender. Karlsruhe o.J., S. 37 f.]
Der Barocklyriker Paul Fleming (1609–1640), der beinahe sein gesamtes kurzes Leben im Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) ver bracht hat, befaßt sich gleichwohl in diesem eindrucksvollen Gedicht mit einer anderen Art von Kampf, dessen Schlachtfeld das eigene Innere in der Konfrontation mit einer geliebten Person bildet. Die Ausgangslage ist Unverwirrtheit, solange man nur sich selber kennt und in sich selber bleibt. Dann aber tritt eine Sehnsucht, ein Verlangen ein, ein Wunsch nach Genesung – von dem wir gar nicht erfahren, warum er eigentlich entstanden ist, da man doch (etwa bis zur Puber tät) klar und ruhig war. Von einer hormonellen Erklärung konnte Fleming noch nichts wissen. Aus dem in ihm liegenden, anscheinend relativ harmlosen Wechselspiel von Lust und Schmerz wird nun die von einer fremden Flamme entzündete Leidenschaft, zunächst als süßes Verlangen erlebt. Damit ist das ganze Glück hin, denn offenbar verläuft – wie so häufig vor allem in der ersten Liebe – nichts diesem Verlangen nach dem anderen Menschen gemäß. Bedeutet ein Lächeln dies, ein kritischer Blick jenes? Was ist Verstellung, was aufrichtig? Und all die Phantasien, wenn man nicht beisammen ist!
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Aus der Literatur
Was folgt, ist eine beeindruckende Erfahrung von Paradoxien: Man träumt im Wachen, man ist ruhelos in der Ruhe, man weint im Lachen und weiß weder, was man sagt, noch was man tut. Die Sonne wird dunkel, die Nacht Tag, die Glut kalt, das Eis brennend, man folgt und flieht sich selbst. Und schließlich verliert man sich selbst: »Ich bin nun nicht mehr selber ich«. Größer kann die Verwirrung nicht sein. Liebe, erste Liebe vor allem ist die Paradoxie unseres Lebens, die Auflösung par excellence alles klaren Entweder-Oder.
34. In der Literatur des 20. Jahrhunderts wird die paradoxe Absurdi tät unseres Daseins existentiell, wofür als Beispiel Samuel Beckett (1906–1989) stehen mag, aus dessen Werk man wahrlich viele Beispiele zitieren könnte. Nehmen wir nur dieses: Beckett: »Yet I speak of an art turning from it in disgust, weary of puny exploits, weary of pretending to be able, of being able, of doing a little better the same old thing, of going a little further along a dreary road.« Duthuit: »And preferring what?« Beckett: »The expression that there is nothing to express, nothing with which to express, nothing from which to express, no power to express, no desire to express, together with the obligation to express.« [Samuel Beckett: Proust and Three Dialogues with Georges Duthuit. London 1965, p. 103]
Die Kunst als Ausdrucksweise unseres Lebens sieht sich vor der Auf gabe, die Sinnlosigkeit alles Ausdrückens auszudrücken, bei gleich zeitiger Notwendigkeit, sie auszudrücken. Es gibt nichts mitzuteilen, und das teilt sie mit. Es ist eine reizvolle Herausforderung, sich bewußt zu machen, wie es zu einem solchen Lebensgefühl und Kunstverständnis kommen konnte. Man könnte auf eine Krise aller Werte, eine tiefere Einsicht in die Probleme des Einander-Verstehens, den Mißbrauch allen Glau bens verweisen ... und geriete doch sofort in die Falle, etwas mitteilen und den Wert der Erkenntnis vertreten zu wollen; man geriete also sofort wieder in eine Paradoxie. Auf die Frage von »anders oder gleich?, nein: anders und gleich« in unseren Beziehungen kommt Beckett an anderer Stelle zu sprechen: they come different and the same with each it is different & the same
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Aus der Literatur
with each the absence of love is different with each the absence of love is the same [...] sie kommen andere und gleiche [anders und gleich] bei jeder ist es anders und [ist es] gleich bei jeder ist das Fehlen der Liebe anders bei jeder ist das Fehlen der Liebe gleich [Samuel Beckett: Gedichte. Wiesbaden 1959, S. 54 f.]
Gleich ist das Fehlen von Liebe, auch wenn dieses Fehlen in jedem Falle variiert, d.h. in etwas anderer Weise auftritt: einmal vielleicht als Gleichgültigkeit, ein andermal als Rücksichtslosigkeit, ein drittes Mal als Verständnislosigkeit. Um an Heraklit zu denken, so sind alle Phänomene dieselben und nicht dieselben. Freilich beruft sich Beckett nicht auf Heraklit, und er beruft sich ohnehin selten auf einen anderen Autor; möglicherweise war er nicht zu der Annahme imstande, er hätte einen anderen Menschen verstanden.
35. Das Paradox des Zerstörens um des Bleibenden willen spricht der Philosoph Hans Blumenberg (1920–1996) in literarischer Form an: In einem seiner dem Lukian nachgebildeten »Totengespräche« läßt Fon tenelle den Tempelbrandstifter von Ephesus, Herostrat, mit Demetrius von Phaleron darüber streiten, ob man zum eigenen Ruhm sowohl bauen wie zerstören dürfe. Dieser hatte 360 Bildsäulen in Athen zu seinem Ruhm aufstellen lassen, jener den Tempel von Ephesus eingeäschert. Herostrat verteidigt die Zerstörung mit dem Paradox, nur sie verschaffe den Menschen Platz, sich zu verewigen: Die Erde gleicht den großen Steinplatten, darauf ein jeder seinen Namen schreiben will. Wenn sie nun voll sind, so muß man ja notwendig die alten auslöschen, um neue an die Stelle zu setzen. Was wäre das, wenn alle Denkmale der Alten noch stehen sollten? [Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Frankfurt/Main 1979, S. 31 – nach Fonetenelles »Dialogues des Morts«]
Lukian von Samosata (ca. 120–180 u.Z.) war ein antiker Autor, des sen Totengespräche zahlreiche Nachfolger in der Literaturgeschichte gefunden haben, u.a. bei Bernard Le Bovier de Fontenelle (1657– 1757). Herostrat, zu einem Eponym geworden für einen Zerstörer
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Aus der Literatur
(in seinem Falle die Brandstiftung an dem seinerzeit berühmten Artemis-Tempel) bloß um des eigenen Ruhmes willen, steht hier dem Demetrios von Phaleron gegenüber, der den Ruhm über das Aufstellen möglichst zahlreicher Bildsäulen suchte. Herostrat verteidigt in dem fiktiven Gespräch im Reich der Toten seinen Standpunkt mit einem Paradox: Nur die Zerstörung ermöglicht ewigen Nachruhm. Dies deshalb, weil zahllose Menschen sich durch die Errichtung von etwas verewigen wollen. Die Erde ist voll davon, und diese Fülle erzeugt etwas Gewöhnliches, allüberall zu Findendes, was den Ruhm des Einzelnen vermindert, ja unmöglich macht. Die einzig mögliche große Tat, welche den Ruhm sichert, besteht daher in der Zerstörung. Das Neue erfordert den Abbruch des Alten – ein Gedanke, der etwas Wahres an sich hat. Der Logik der Argumentation des Herostrat versuchten die Ephesier seinerzeit durch das Verbot entgegenzutreten, seinen Namen in irgendeiner Weise zu erwähnen. Fast hätte das funktioniert, doch der antike Historiker Theopomp hat es ausgeplaudert22.
36. Die Fremdheit in der Welt spricht Christa Wolf (1929–2011) in ihrem Roman Medea an: Wohin mit mir. Ist eine Welt zu denken, eine Zeit, in die ich passen würde. Niemand da, den ich fragen könnte. Das ist die Antwort. [Christa Wolf: Medea. Stimmen. o.O. (Luchterhand) 1996, S. 236]
Eine denkbare Welt, in die man bzw. die betreffende Person passen würde, wäre eine, in der über persönliche Probleme sinnvoll und hilfreich kommuniziert werden könnte. Gibt es dies? Wenn nicht einmal jemand da ist, dem man die Frage stellen könnte, dann ist dies eine, nein die Antwort. Daß eine Frage nicht sinnvoll und genau dies die Antwort sei, finden wir als These auch in der Sprachanalytischen Philosophie. [Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 6.52] Ich weiß freilich nicht, ob Christa Wolf sich darauf beziehen wollte; man kann auch ohne philosophische Klassiker auf dieses paradoxe Ergeb nis kommen. 22
Vgl. Valerius Maximus VIII 14, ext. 5.
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37. In einem in einem Roman vorgestellten Kurznachrichten-Wechsel zweier Vetter, Jacob und Tamir Bloch, finden wir folgendes: Was hat sich verändert? Alles. Nichts. Verstehe. Wir sind nun mal, wer wir sind. Dieses Eingeständnis stellt die Veränderung dar. Daran arbeite ich auch. [Jonathan Safran Foer: Hier bin ich. Köln 2016, S. 654]
»Was hat sich verändert?« – »Alles. Nichts.« Das ist gewiß paradox. Hat dies einen Sinn? Ja, irgendwie verändert sich alles, man wird älter, Menschen werden geboren und sterben, Beziehungen entstehen und scheitern, Dinge verfallen, neue entstehen, Glück wechselt mit Leid. Aber irgendwie ist das auch immer dasselbe und ein Problem, seit Menschen sich damit auseinandersetzen. Die Veränderung verändert sich nicht. Wir können das verdrängen oder es uns eingestehen. Und dieses Eingeständnis ist die einzig mögliche echte Veränderung, insofern eben zwar alle Menschen es erleben, jedoch nicht alle es sich eingestehen. Daran können wir also arbeiten.
38. Die klassischen Fabeln arbeiten selten mit dem Paradoxon. Die fol gende allerdings schon: Ein Lamm, verfolgt von einem Wolf, floh in den Tempel. »Der Priester wird dich fangen und opfern«, sagte der Wolf, »wenn du da drin bleibst.« »Es ist mir ganz egal, ob ich vom Priester geopfert oder von dir gefressen werde«, sagte das Lamm. »Mein Freund«, sagte der Wolf, »es schmerzt mich zu sehen, daß du eine so wichtige Frage von einem rein egoistischen Standpunkt her betrachtest. Mir ist es keineswegs egal.« [Ambrose Bierce: Lügengeschichten und Fantastische Fabeln. Zürich 1987, S. 292 f.]
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Das Paradoxe besteht hier darin, daß der Wolf aus einem ganz und gar egoistischem Motiv den Egoismus des Lammes verurteilt. Dieses Phänomen, so scheint mir, kann man extrem häufig beobachten – beinahe immer, wenn jemand sich über den Egoismus eines anderen beklagt. »Sei doch mal selbstlos und tu‘ etwas für mich!« hatte ich weiter oben bereits zitiert.
39. Ein geradezu tragischer Fall von paradox konstruierter Situation ist der folgende. Der Syrer Mustafa Khalifa wird in Syrien unter dem Vorwurf verhaftet, er sei Mitglied einer illegalen Organisation. Bei der Einlieferung ins Gefängnis wird Khalifa mit verbundenen Augen einer Bastonade unterzogen. Dabei kommt es zu folgendem Dialog: »Bei Gott, beim Leben des Herrn, ich weiß nicht, wonach Sie fragen! Von welcher Organisation reden Sie?« [...] »Die Organisation der Schwuchteln wie du eine bist. Die Organisation der Muslimbrüder ... Kennst du deine Organisation etwa nicht?« [...] »Aber ich bin Christ, Sīdi ... ich bin Christ!« »Was sagst du, du Hurensohn? Du bist Christ? Verdammte Scheiße ... Warum hast du das nicht vorher gesagt? Warum haben sie dich dann hergebracht? Du hast bestimmt ein ganz großes Ding gedreht! Ein Christ, sagt er?!« »Sie haben mich ja gar nicht danach gefragt, Sīdi. Aber nicht nur das, ich bin nicht nur Christ, ich bin sogar Atheist ... ich glaube nicht an Gott!« Bis jetzt habe ich keine Erklärung für diesen Unsinn. Warum hatte ich diesem Ermittler gegenüber erklärt, ich sei Atheist? Ich weiß es nicht. »Und Atheist sogar?!« sagte er nachdenklich. »Ja, wirklich. Bei Gott! Sehen Sie doch in meinem Reisepaß nach!« Der Rotgesichtige schwieg eine Weile, die mir sehr lange vorkam. Ich hörte, wie sich seine Schritte entfernten. Dann sagte er deutlich: »Atheist, sagt der! Also so was! Aber wir sind doch ein islamischer Staat! Ayyub ... mach weiter!« Und damit setzte Ayyubs Rohrstock seine Arbeit fort. [Mustafa Khalifa: Das Schneckenhaus. Bonn 2019, S. 14–16]
Mustafa Khalifa ist Atheist; aber es erweist sich in der Folgezeit seiner dreizehnjährigen Haft als katastrophaler Fehler, das in einem islamischen Land offen gesagt zu haben – sogar im Gefängnis eines islamischen Landes.
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Ein Atheist gibt sich gegenüber Moslems als Christ – immerhin! – aus und schwört schließlich, da ihm dies nichts hilft, »bei Gott«, ein Atheist zu sein, und dies alles nur, um dem Vorwurf zu entgehen, er gehöre den »Schwuchteln«, den Muslimbrüdern an, was – in einem islamisch geprägten Land wie Syrien – ein tödliches Vergehen wäre. Religion und Diktatur ergeben einen wahren Cocktail lebensbedroh licher Wirrnis, aus der es kein Entkommen gibt. Schon gar nicht mittels Logik.
40. Bleiben wir noch in einem diktatorischen System. Der fünfzehnjäh rige, hochintelligente Andreas Wolf ist von seinem Vater, einem Staatssekretär und Mitglied des ZK der SED in der DDR, wegen exzessiven Onanierens zum Psychiater geschickt worden. [...] Dr. Gnel fragte ihn, ob er wisse, warum sein Vater ihn herge schickt habe. »Er ist vernünftig und auf der Hut«, sagte Andreas. »Wenn ich mich als Sexualstraftäter entpuppen sollte, wird in den Akten stehen, dass er etwas unternommen hat.« »Du selbst siehst also keinen Grund, warum du hier sein solltest?« »Ich wäre wesentlich lieber zu Hause, um zu onanieren.« Dr. Gnel nickte und kritzelte etwas auf seinen Notizblock. »Das war ein Witz«, sagte Andreas. »Worüber wir Witze machen, kann aufschlussreich sein.« Andreas seufzte. »Können wir gleich mal festhalten, dass ich viel intelli genter bin als Sie? Mein Witz war nicht aufschlussreich. Er bestand darin, dass Sie ihn für aufschlussreich halten würden.« »Aber das ist an sich schon aufschlussreich, meinst du nicht?« »Nur weil ich es darauf angelegt habe.« [...] [Jonathan Franzen: Unschuld. Reinbek bei Hamburg 2015, S. 176]
Jemanden wegen exzessiven Onanierens zu einem Psychiater zu schi cken, ist bei einem Jugendlichen schon seltsam genug; aber in diesem Fall ist der Grund dafür noch befremdlicher: Der Vater ist weniger um seinen Sohn als um den absichernden Eintrag in seiner Kaderakte bemüht. Dem Psychiater widerfährt nun auch noch das Unglück, mit einem hochintelligenten, ihm intellektuell überlegenen Patienten konfrontiert zu werden. Der Junge bestätigt ihm sein Vorurteil, erklärt dies jedoch für einen Witz, worauf der Psychiater – immer noch in den
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Grenzen seines Denkens – ihn darüber belehrt, wie aufschlußreich es sei, was wir für witzig halten. Genau dies hatte der Junge aber intendiert, d.h. er spielt mit den ihm bekannten Annahmen des Arztes. Dieser kann sich nicht von seinem Schema lösen und hält nunmehr auch dies für aufschlußreich. Ja, das ist es, bestätigt der unfreiwillige Patient, aber nur insofern er das Schema kennt und es bewußt einsetzt. Ein Mensch, der sein Gegenüber durchschaut und sich spielerisch darauf einläßt, was der andere hören will, bestätigt diesen, indem er ihn infrage stellt. Einen Schritt weiter, und der Junge würde auch die eigene Beschränktheit, die in der Überheblichkeit des sich überlegen Füh lenden liegt, durchschauen. Darüber schreibt Jonathan Franzen an anderer Stelle: Dummheit hielt sich für Intelligenz, während Intelligenz ihre eigene Dummheit durchschaute. Ein interessantes Paradox. [a.a.O., S. 204] Im selben Roman findet sich auch noch eine weitere Passage, die eine paradoxe Kommunikationssituation enthält. In einem Gespräch über eine zu veröffentlichende Biographie diskutieren ein Sohn und seine Mutter – beide charakterlich nicht ganz unbedenklich und in angespanntem Verhältnis lebend –, wer darin wohl gut und wer schlecht wegkommen werde. [Der Sohn:] »[...] hier ist ein Gedankenspiel: Was wäre dir lieber – wenn ich schlecht dastünde oder du? Denk gut nach, bevor du antwortest.« Sie biss die Zähne zusammen und sah starr geradeaus. »Verzwicktes kleines Problem, nicht wahr?« Sie ließ sich nach hinten in die Sofakissen fallen und starrte weiter ausdruckslos vor sich hin. Es war, als würde er Zeuge eines Kurzschlusses, den seine Frage in ihrem gestörten Gehirn verursacht hatte. Er stellte sich den aus der Bewusstseinseinengung resultierenden Gedankengang vor: Für eine liebende Mutter hat das Wohl ihres Sohnes immer Vorrang, und eine liebende Mutter zu sein lässt einen gut dastehen, aber dem Wohl meines Sohnes Vorrang zu geben ließe in diesem Fall auch mich schlecht dastehen, und es geht ja gerade darum, nicht schlecht dazustehen; wenn ich mir allerdings Sorgen mache, ich könnte schlecht dastehen, bedeutet das, dass ich dem Wohl meines Sohnes keinen Vorrang gebe, und für eine Mutter hat das Wohl ihres Sohnes immer Vorrang ... und so weiter im Kreis. [a.a.O., S. 712 f.]
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Die verzwickte Situation ergibt sich aus dem Wunsch der Mutter, einerseits gut dazustehen, andererseits als Mutter gut dazustehen. Als gute Mutter muß sie dem Wohl ihres Kindes den Vorzug geben, was in diesem Konfliktfall bedeuten würde zuzugeben, eine schlechte Mutter zu sein.
41. Bei Karl Julius Weber (1767–1832), der hier bereits erwähnt wurde, finden sich – gemäß seinem programmatischen Anspruch, ein lachen der Philosoph (und unterhaltsamer Autor) zu sein - etliche wei tere Paradoxa: Wahrlich, es ist ein Unglück, nie Unglück gehabt zu haben, wie Poly krates, der seinen ins Meer geworfenen Siegelring selbst in einem Fisch wiederfinden mußte. [a.a.O.; Bd. 1, S. 30] Der große Brite [sc. Shaftesbury] sagt nämlich genau: ›Humour is he only test of gravity and gravity of humour‹ – ›Humor ist der einzige Test für Ernst und Ernst für Humor.‹ [a.a.O.; Bd. 1, S. 42] Bei der Totenfeier für den Minister von Münchhausen schloß der erste Redner seine Ausführungen: »Er ist tot, Brüder! Seid stark und weinet nicht.« Und der nächste begann die seinige mit den Worten: »Weinet, Brüder, weinet!« – und so lachte alles. [a.a.O.; Bd. 1, S. 49] Schwierig, wenn nicht unmöglich ist es, den Weibern Vernunft beibringen zu wollen. Mit der Entschuldigung »in größter Eile« schmieren sie ellen lange Briefe, und eine Dame, die gewettet hatte, daß sie sehr wohl einen Brief ohne Postskriptum schreiben könne, schrieb ganz klein unter den ersten Brief: »Na, was sagen Sie zu meinem Brief ohne P.S.?« [a.a.O.; Bd. 1, S. 75] Es darf aber einmal nicht dabei bleiben, – die Natur will kein Mittel ohne Zweck, was andrerseits fast schade ist, den[n] nirgends ist das Paradoxon ›Die Hälfte ist mehr als das Ganze‹ wahrer als in der Liebe, und Tausende haben die Hälfte wieder zurückgewünscht, als sie das Ganze kennengelernt hatten. Verliebte leben im Paradies und deshalb werden ihre Augen nicht eher aufgehen, als bis sie vom Baum der Erkenntnis genascht haben. [a.a.O.; Bd. 1, S. 139]
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Einmal setzte der Herr einen Preis für seine drei Diener aus, wer von ihnen am besten lügen könne. »Herr, ich habe nie gelogen«, sagte der erste. »Ich kann gar nicht lügen«, fuhr der zweite fort, aber der dritte schoß den Vogel ab: »Wir reden alle drei die reine Wahrheit.« [a.a.O.; Bd. 1, S. 246 f.] Graf Lynar erzählt von einem schwedischen Reichsrat, der seine Vota immer nach der Majorität zu richten pflegte und sodann dagegen stimmte ... »Ist die Sache gut«, pflegte er zu sagen, »so geht sie ohne mich; ist sie nicht gut, so habe ich keine Verantwortung.« [a.a.O.; Bd. 2, S. 115] Kurz vor der Revolution war es bei der feinen Welt beinahe lächerlich, an Gott zu glauben; selbst Damen freigeisterten à la Voltaire, und eine Zofe schwur bei Gott, eine – Atheistin zu sein. [a.a.O.; Bd. 2, S. 135]
Hier ist ein Kommentar überflüssig. Deshalb möchte ich mich mit den Hinweis begnügen, daß manches davon klassisch geworden ist und uns auch an manch anderer Stelle begegnet – etwa der Mensch, der »bei Gott« schwört, Atheist zu sein.
42. Ein Paradox väterlicher Fürsorge lesen wir bei Henry Fielding (1707– 1754) in seinem berühmtesten Roman: [Der Junker Western:] »Fehlt dem Mädchen [seiner Tochter] irgend etwas?« – »Ich glaube wohl«, erwiderte sie [seine Schwester], »und etwas von nicht geringer Tragweite.« – »Was? Sie klagt doch über nichts! Und die Blattern hat sie ja gehabt.« – »Mein Bruder«, bemerkte sie, »junge Mädchen sind, außer den Blattern, noch andern und mit unter viel schlimmeren Krankheiten ausgesetzt.« Hier fiel ihr Herr Western sehr ernsthaft ins Wort und bat sie, wenn seiner Tochter irgend etwas fehle, so möge sie ihm das augenblicklich sagen; er setzte hinzu, sie wisse doch, daß er seine Tochter mehr liebe als seine eigene Seele und daß er bis ans Ende der Welt nach dem besten Arzt für sie schicken wolle. »Nein, nein!« antwortete das Fräulein lächelnd, »ganz so schrecklich ist die Krankheit doch wohl nicht; aber ich glaube, lieber Bruder, Sie sind überzeugt, ich kenne die Welt; und ich versichere Ihnen, nichts würde mich so enttäuschen, wie wenn meine Nichte nicht rasend verliebt wäre.« – »Wie, was?« rief Western ganz erbost, »verliebt, verliebt, ohne mir etwas zu sagen! Ich enterbe sie; ich jag sie aus dem Haus, wie sie ist, ohne einen Heller. Hab ich das von meiner Liebe und
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Aus der Literatur
Güte, daß sie sich verliebt, ohne mich um meine Erlaubnis zu bitten?« – »Aber Sie werden doch«, erwiderte Fräulein Western, »Ihr Fräulein Tochter, das Sie mehr lieben als Ihre eigene Seele, nicht auf die Straße setzen, bevor Sie wissen, ob Sie ihre Wahl billigen können? Dann würden Sie darüber doch nicht ärgerlich sein, hoffe ich.« – »Nein, nein!« rief Western, »so wär’s was anderes. Nimmt sie den Mann, den ich für sie haben möchte, so mag sie lieben, wen sie will, ich kümmere mich nicht darum!« – »Das heiße ich vernünftig gesprochen«, sagte die Schwester. [Henry Fielding: Tom Jones; a.a.O., S. 236]
Ja, die freie Wahl des Partners hat man bei autoritären Eltern erst dann, wenn man denjenigen wählt, den sie vorschreiben. Du darfst tun, was du willst, wenn du nur tust, was ich will!
43. Der Kulturhistoriker Jacob Burckhardt (1818–1897) hat in den Quel len aus der Renaissance ein hübsches Stück aufgetan, von dem man sagen möchte: Se non è vero, è ben trovato (Wenn es nicht wahr ist, ist es doch gut erfunden): [...] Von dieser Zeit an [sc. dem frühen 15. Jhdt.] bildete sich dann jenes über alle Maßen unmoralische Verhältnis zwischen den Regierungen und ihren Kondottieren aus, welches für das 15. Jahrhundert charakte ristisch ist. Eine alte Anekdote von jenen, die nirgends und doch überall wahr sind, schildert dasselbe ungefähr so: Einst hatten die Bürger einer Stadt – es soll Siena gemeint sein – einen Feldherrn, der sie von feindlichem Druck befreit hatte; täglich berieten sie, wie er zu belohnen sei[,] und urteilten, keine Belohnung, die in ihren Kräften stände, wäre groß genug, selbst nicht, wenn sie ihn zum Herrn der Stadt machten. Endlich erhob sich einer und meinte: Laßt uns ihn umbringen und dann als Stadtheiligen anbeten. Und so sei man mit ihm verfahren ungefähr wie der römische Senat mit Romulus. [...] [Jacob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien. Frank furt/Main 1956, S. 11]
Ihn umzubringen, kommt dem Bedürfnis entgegen, sich von der Gefahr eines Menschen zu befreien, der sich zum Tyrannen machen könnte; ihn danach als Stadtheiligen anzubeten, entspricht dem Bedürfnis nach Dankbarkeit. Daß beides zusammen paradox ist – sei’s drum! In kundiger Weise hebt Burckhardt hervor, daß diese Vorgehensweise nicht einmal neu war, sondern bereits beim legendä
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ren Gründer der Stadt Rom angewandt wurde [Plutarch: Romulus 27], indem der Senat Romulus zunächst ermorden und dann als Stadtpatron verehren ließ – was so überliefert, aber ebensowenig eindeutig zu belegen ist.
44. Sogar Mauern können – jedenfalls in Mythos und Literatur – spre chen, und wenn sie sprechen können, können sie auch paradox spre chen: In der Abenddämmerung kam ein Mann ins Dorf und sagte, er sei der Prophet. Die Bauern aber glaubten ihm nicht. »Beweise es!«, forderten sie. Der Mann zeigte auf die gegenüberliegende Festungsmauer und fragte: »Wenn diese Mauer spricht [...], glaubt ihr mir dann?« »Bei Gott, dann glauben wir dir«, riefen sie. Der Mann wandte sich der Mauer zu, streckte die Hand aus und befahl: »Sprich, o Mauer!« Da begann die Mauer zu sprechen: »Dieser Mann ist kein Prophet. Er täuscht euch. Er ist ein Lügner.« [Zülfü Livaneli: Der Eunuch von Konstantinopel. Zürich 2000, S. 9]
Daß eine Mauer spricht – für uns ist es wie für die Bauern ein Wunder. Wo aber ein Wunder als Legitimation eines Propheten dienen soll, da irritiert es doch, wenn das, was die Mauer dann sagt, den Propheten delegitimiert. So wird der angebliche Prophet durch ein Paradox geschlagen. Noch an einer anderen Stelle setzt uns Zülfü Livaneli (geb. 1946) ein Paradox vor: Sie sah mich eindringlich an und fragte dann etwas ganz Sonderbares: »Leiden Sie manchmal unter Gedächtnisverlust?« »Hm, wie soll jemand mit Gedächtnisverlust das wissen? Wie der Name schon sagt, hapert es da mit dem Gedächtnis. Und wer sich an so was erinnern kann, hat sein Gedächtnis eben nicht verloren.« [Zülfü Livaneli: Schwarze Liebe, Schwarzes Meer. Stuttgart 2015, S. 87 f.]
Ist das logisch? Falls ja, dann ist die Frage, ob man an Gedächtnisver lust leidet, paradox. Wer einmal versucht hat, einem Alzheimer-Pati enten verständlich zu machen, daß er an Alzheimer leidet, wird wohl zugeben, daß das Problem nicht bloß ausgedacht ist.
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Aus der Literatur
45. Richter mögen nicht korrigiert werden – das widerspräche ihrem beruflichen Selbstverständnis; sie mögen es weder bei Personen noch bei Tatsachen: Ein Richter lebte – sagt uns Seneca23 – Der zornig war. Und eines Tags geschah, Daß von zwei Rittern, die durch Zufall grade Zusammen zogen auf demselben Pfade, Der eine heimkam und der andre nicht. Gleich schleppte man den Ritter vor Gericht, Und der erwähnte Richter sprach sodann: Du tötetest den andern Rittersmann! Drum mußt Du sterben! – Und darauf gebot Er einem andern Ritter, ihn zum Tod Zu führen. – Doch, vom Richtplatz nicht mehr fern, Sah auf dem Wege man denselben Herrn, Den man für tot gehalten, noch lebendig. Und mithin dachten sie, es sei verständig, Sie abermals dem Richter vorzustellen, Und sprachen: Herr, er hat den Mitgesellen Nicht umgebracht. Hier steht er lebend noch! Bei Gott! – rief er – des Todes seid ihr doch! Eins, zwei und drei, ihr alle, Mann für Mann! Du bist – fuhr er den ersten Ritter an – Des Todes, weil Dein Urteil schon gefällt! Du aber wirst ihm gleichfalls beigesellt, Denn jenes Ersten Tod liegt Dir zur Last. Und zu dem Dritten sprach er: Und Du hast Nicht ausgeführt, wozu Befehl gegeben! Und so verloren alle drei ihr Leben. [Geoffrey Chaucer: Die Canterbury Tales. München 1974, S. 391 f.]
Die Argumentation dieses Rechthabers ist geradezu atemberaubend: Der des Mordes Angeklagte ist bereits (offenbar rechtskräftig) zum Tode verurteilt; der Umstand, daß der angeblich Ermordete in Wahr heit noch lebt, macht den Überbringer dieser Nachricht – nicht etwa den Richter! – verantwortlich für den Tod des Angeklagten; und derjenige, der die angeordnete Hinrichtung verweigerte, weil er den 23
De ira (Über den Zorn) I 18, 3–6.
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Aus der Literatur
Umstand des Nicht-Mordes für erheblich hielt, ist wegen Widersetz lichkeit dran. Ich zögere, dies für ein unmögliches Ereignis in der Geschichte der Rechtsprechung zu halten – zumal Seneca der Jüngere versichert, es habe zu seinen Lebzeiten mit Gnaeus Calpurnius Piso als Richter einen solchen Fall gegeben. Immerhin hat dieser Piso, aus anderem Grunde selbst vor Gericht gestellt, Suizid begangen.
46. Bewußt paradox ist es, ein Sonett gegen das Schreiben von Sonetten zu verfassen. Dies hat Robert Gernhardt (1937–2006) getan: Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs Sonette find ich sowas von beschissen, so eng, rigide, irgendwie nicht gut; es macht mich ehrlich richtig krank zu wissen, daß wer Sonette schreibt. Daß wer den Mut hat, heute noch so’n dumpfen Scheiß zu bauen; allein der Fakt, daß so ein Typ das tut, kann mir in echt den ganzen Tag versauen. Ich hab da eine Sperre. Und die Wut darüber, daß so’n abgefuckter Kacker mich mittels seiner Wichserein blockiert, schafft in mir Aggressionen auf den Macker. Ich tick nicht, was das Arschloch motiviert. Ich tick es echt nicht. Und wills echt nicht wissen: Ich find Sonette unheimlich beschissen. [Robert Gernhardt, https://www.fulgura.de/sonett/karussel/st euern/1autor.htm; aufgerufen am 29.8.2022]
Ein weniger bekannter Autor hat hier noch einen draufgesetzt, nämlich dieses Gedicht plagiiert und sich zugleich gegen das Plagiie ren geäußert: »Es gibt ein Vorbild, das mein Werk befeuert«, so hör ich manchen jungen Dichter sprechen. »Ich will ihm folgen, statt mit ihm zu brechen. Wenn das gelingt, hab ich genug erneuert.«
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Um solche Dichter mach ich einen Bogen. Denn steht beim Schreiben nur das Alte Pate, entstehen haufenweise Plagiate – ums Schöpferische werden wir betrogen. So nett Gedichte alter Meister klingen, sie nachzuahmen kann‘s doch wohl nicht bringen – das sei an dieser Stelle klar beteuert. Sei mutig, Dichter, und zerschlag die Formen und lache Hohn den hergebrachten Normen: Sonette schreiben ist total bescheuert. [Martin Möllerkies; https://www.keinverlag.de/450333.text; aufgerufen am 24.8.2022]
Ein solches ironisches Spiel mit der Paradoxie ist unterhaltsam und zeigt uns eine wichtige Funktion von Paradoxa unter mehreren.
47. Ein Beispiel für die Anrufung Gottes durch einen Ungläubigen, wie sie uns schon mehrmals begegnet ist, stellt der folgende, nicht einfach witzige, sondern beinahe tragische Fall dar. Der Folterer Dulics, der eben Ostojin grausam zu Tode gequält hat mit der Angst im Nacken, dass sein Sohn, Igelchen genannt, zuhause durch Gottes rächende Hand an einer Krankheit sterben könnte, erfährt am Telephon von seiner vor Glück schluchzenden Frau, dass es mit dem Jungen aufwärts gehe, das Fieber nachgelassen habe. Er legte auf, ihren Redeschwall wollte er nicht mehr hören. Er fühlte, wie durch eine unmerkliche Berührung die Last von ihm genommen wurde, wie die Übelkeit verging und sein Kopf klar wurde. Alles kommt wieder in Ordnung, dachte er oder fragte sich eher, ob das möglich wäre. Das Leben ging also weiter, als sei nichts geschehen, er blieb ein Mensch, er hatte einen Sohn, eine Zukunft, eine unendlich lange Zukunft vor sich. Leben! In einem übermächtigen Gefühl, einer Mischung aus Rührung und Verzweiflung, wandte sich Dulics zu Tür, verschloß sie, kehrte zurück, fiel auf die Knie, faltete die Hände, hob den Blick zur Decke und rief laut, befreit: »Ich danke dir, Gott! Es gibt dich nicht, Gott! Nein, es gibt dich wirklich nicht. Ich danke dir!« [Aleksandar Tišma: Die Schule der Gottlosigkeit. Hanser 1993, S. 70 f.]
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Aus der Literatur
Die bekannte Paradoxie des betenden Atheisten begegnet uns hier in einer emotional stark aufgeladenen Version, so daß man beinahe annehmen möchte, es sei dem Protagonisten mit beidem gleicherma ßen ernst: seinem Glauben und seinem Unglauben.
48. Orhan Pamuk schreibt über die vier Istanbuler Schriftsteller Abdülhak Șinasi Hisar, Yahya Kemal, Ahmet Hamdi Tanpınar sowie Reşat Ekrem Koçu: Um sich ihre innere Freiheit zu bewahren, entschieden die vier Schriftstel ler sich instinktiv dafür, sich den Anforderungen zu entziehen, die vom Staat, den Institutionen und den diversen Volksgruppen an sie gestellt wurden, und bestanden darauf, »orientalisch« zu sein, wenn man sie »westlich« haben wollte, und »westlich« aufzutreten, wenn man ihnen »Orientalisches« abverlangte. [Orhan Pamuk: Istanbul. Frankfurt/Main ³2010, S. 192]
Hier kann man von einer Paradoxie des Trotzes sprechen: Ihr wollt mich so? Dann bin ich das Gegenteil davon! Frei gegenüber den Erwartungen der anderen ist man dann freilich ebensowenig wie wenn man ihnen zu entsprechen versucht.
49. Der schon erwähnte Autor Ambrose Bierce (1842–1913/4) haßte den Optimismus und unterstellte ihm, vielleicht nicht ganz zu Unrecht, in seinem zynischen Wörterbuch die folgende Einstellung: Optimismus: Die Lehre oder der Glaube, daß alles schön sei, eingeschlos sen das Häßliche, daß alles gut sei, besonders das Ungute, und daß alles richtig sei, was verkehrt ist. [Ambrose Bierce: Das Wörterbuch des Teufels]
Gemeint ist im Grunde die Tendenz, sich alles schönzureden, um das, was unschön ist, nicht an sich heranzulassen.
50. Auch der Charakter eines Volkes kann staunenswert sein: Sie [sc. die Engländer] hätten die schlauesten Dummköpfe und die dümmsten Weisen der ganzen Welt und seien die schwächste starke,
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Aus der Literatur
reichste arme, freigiebigste geizige, tapferste feige, verlogenste ehrliche, nüchternste begeisterte, mürrischste zuvorkommende, faulste fleißige, friedlichste streitende und loyalste rebellische Nation, von der man jemals gehört habe. [Daniel Defoe: Der Consolidator oder Erinnerungen an allerlei Vorgänge aus der Welt des Mondes. Berlin 2018, S. 50]
Da Völker ebensowenig wie einzelne Menschen dazu neigen, konse quent und logisch zu sein, dürfen wir vermuten, daß man auch bei anderen Völkern solche Feststellungen treffen könnte, sobald man nur genau beobachtet, was sie tun und wie sie sich äußern.
51. Ein wahres Fest des bewußten Negierens einer Entweder-Oder-Logik, eine hymnische Verklärung des Sich-Selbst-Aufhebens von Gedan ken begegnet uns in dem Werk des taoistischen Meisters Zhuangzi (ca. 365–290 v.u.Z.), über dessen Identität und Leben nur eine eher mythische als historische Überlieferung existiert. Erkenntnis wanderte im Norden an den Ufern des dunklen Wassers und bestieg den Berg des steilen Geheimnisses. Da begegnete sie von ungefähr dem schweigenden Nichtstun. Erkenntnis redete das schweigende Nichtstun an und sprach: »Ich möchte eine Frage an dich richten. Was muß man sinnen, was denken, um den SINN zu erkennen? Was muß man tun und was lassen, um im SINN zu ruhen? Welche Straße muß man wandern, um den SINN zu erlangen?« Dreimal fragte sie, und das schweigende Nichtstun antwortete nicht. Nicht daß es absichtlich die Antwort verweigert hätte; es wußte nicht zu antworten. So konnte Erkenntnis nicht weiter fragen und kehrte um. Da kam sie im Süden an das weiße Wasser und bestieg den Berg der Zweifelsendung. Da erblickte sie Willkür. Erkenntnis stellte dieselben Fragen an Willkür. Willkür sprach: »Oh, ich weiß es; ich will es dir sagen.« Aber während sie eben reden wollte, hatte sie vergessen, was sie reden wollte, und Erkenntnis konnte nicht weiter fragen. Da kehrte sie zurück zum Schloß des Herrn, trat vor den Herrn der gelben Erde und fragte ihn. Der Herr der gelben Erde sprach: »Nichts sinnen, nichts denken: so erkennst du den SINN; nichts tun und nichts lassen: so ruhst du im SINN; keine Straße wandern: so erlangst du den SINN.« Erkenntnis fragte den Herrn der gelben Erde und sprach: »Wir beide wissen es, jene beiden wußten es nicht. Wer hat nun recht?« Der Herr der gelben Erde sprach: »Schweigendes Nichtstun hat wirklich
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Aus der Literatur
recht; Willkür kommt ihm nahe; wir beide erreichen es ewig nicht ...« Erkenntnis fragte den Herrn der gelben Erde: »Wieso erreichen wir es nicht?« Der Herr der gelben Erde sprach: »Das schweigende Nichtstun ist wirklich im Recht, deshalb, weil es kein Erkennen hat; Willkür kommt ihm nahe, weil sie Vergessen hat; wir beide erreichen es ewig nicht, weil wir Erkennen haben.« Willkür hörte es und meinte vom Herrn der gelben Erde, daß er zu reden verstehe ... [Dschuang Dsi: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Hrsg. von Richard Wilhelm. Düsseldorf/Köln 1969, S. 226 f.]
Dies zu interpretieren, d.h. verständlich zu machen, ist bei eine Aussage, die darin mündet, daß der Sprecher sein eigenes Unver ständnis artikuliert, natürlich eine kaum lösbare Aufgabe; es hat den Anschein, daß der Sinn gerade in der wiederholten Negation von Sinn, Denk- und Aussprechbarkeit besteht. Das gleicht einer Leiter, die uns Stufe um Stufe zu der Einsicht führt, daß es gar keine Leiter gibt. Klar benennbar sind die auftretenden »Personen«: Erkenntnis, schweigendes Nichtstun, Willkür und Herr der gelben Erde. Klar ist auch die Frage der Erkenntnis suchenden Erkenntnis: Was muß man denken, sagen, tun oder nicht tun und wohin gehen, um den Sinn (das Tao, den vernünftigen, klugen Weg) zu erlangen? Schweigendes Nichtstun gibt darauf keine Antwort und gibt eben damit die Antwort: nichts. Laß es bleiben! Das versteht die Erkenntnis nicht. Was für eine Antwort soll das sein? Die Willkür als nächste Befragte nimmt eine Zwischenposition ein: Sie will antworten, hat jedoch vergessen, was sie sagen wollte. Der Herr der gelben Erde schließlich sagt das, was ich soeben geschrieben habe: nichts muß man denken, sagen und tun. Das macht die Antwort nicht verständlicher, wird aber noch dadurch übertroffen, daß der Herr der gelben Erde seine eigene, unzulängliche Antwort ausdrücklich dementiert und betont, allein schweigendes Nichtstun habe die Sache angemessen verstanden, während Willkür ihr wenigstens nahe gekommen sei, sie beide jedoch – Erkenntnis und Herr der gelben Erde – es niemals begreifen würden – und zwar genau deshalb, weil sie (glauben) Erkenntnis (zu) haben. Es handelt sich dabei offensichtlich um eine Frage, die zwar die wichtigste von allen, nämlich die nach unserer Lebensgestaltung, ist, aber keine Antwort zuläßt. Und dies ist die Antwort. Das Problem liegt – dieser Auffassung zufolge – anscheinend schon in der Frage, in der Absicht, Erkenntnis zu gewinnen, etwas tun zu wollen usw.
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Aus der Literatur
Wer davon ergriffen ist und mehr über den Verzicht auf das Wissen wissen will, muß sich wohl oder übel näher mit dem Taoismus befassen ... und wird dabei unter anderem auf die Rede (!) des Lao Tse stoßen: Wer weiß, redet nicht. Wer redet, weiß nicht. [Tao tê king, Gedicht 56]. Das wird, soviel kann man versprechen, eine faszinierende Reise.
52. Schließen wir diesen Blick in die Literatur ab mit einem ebenfalls existentiellen, aber tieftraurigen Bekenntnis des britischen Autors T. H. (Terence Hanbury) White (1906–1964): [...] Das Leben ist eine solch unaussprechliche Hölle, weil’s eben manch mal schön ist. Wenn’s einem bloß die ganze Zeit über elend wäre, wenn’s nicht so was wie Liebe oder Schönheit oder Glaube oder Hoffnung gäbe, wenn ich absolut sicher sein könnte, daß meine Liebe nicht erwidert wird – wieviel leichter wäre dann das Leben! Man könnte durch die sibirischen Salzstollen der Existenz stolpern, ohne sich um etwas derartiges wie Glücklichsein kümmern zu brauchen. Leider gibt’s das: – Glück. Immerzu besteht die Chance (ungefähr achthundertfünfzig zu eins), daß ein ande res Herz zu meinem findet. Ich kann nicht anders: ich muß hoffen und Treue bewahren und Schönheit lieben. Ziemlich häufig ist mir gar nicht so elend zumute, wie’s wohl weiser wäre. [...] [T. H. White: Der Troll; in: Kopfkalamitäten und andere Geschich ten. Düsseldorf – Köln 1982, S. 25]
Das Leben ist eine unaussprechliche Hölle, weil es manchmal schön ist. Besser wäre es, wenn das Leben nie schön wäre. Warum? Dann hätte man keine Hoffnung. Weil es aber manchmal schön ist, gibt es die Hoffnung: auf Glück und Liebe. Und diese Hoffnung narrt uns, denn die Chance ist verschwindend gering, wofür T. H. White sogar ein deprimierendes Zahlverhältnis angibt. Da wäre es weiser, ohne Hoffnung in seinem Elend zu verharren. Es liegt nahe, hier T. H. Whites Neigung zu sadomasochistischer Homosexualität zu erwähnen, welche ihm die Suche nach einem liebenden Partner extrem erschwert haben muß, im damaligen Groß britannien noch weit mehr als in heutigen LGBTQ-Zeiten. Auch die anderen, die »normalen« Menschen können freilich eine Bilanz ihrer Beziehungen ziehen, über die Lord Byron (1788– 1824) jedenfalls in seinem Gedicht Euthanasia schreibt:
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Aus der Literatur
Count o’er the joys thine hours have seen, Count o’er thy days from anguish free, And know, whatever thou hast been, ‘Tis something better not to be. [The Works of Lord Byron. Complete in Five Volumes. Leipzig Bernhard Tauchnitz 1866. Vol. IV, p. 85]
Wenn jemand, der unzweifelhaft da ist, versichert, es sei besser, nicht da zu sein, dann ist auch dies möglicherweise: paradox.
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Paradoxie im Witz
Wir stehen hier vor dem Paradox und dem Drama des Lachens: Wenn es wirklich gut ist, macht es sich früher oder später Feinde. [Irene Valljeo: Papyrus. Die Geschichte der Welt in Büchern. Zürich 2022, S. 321]
Geht man davon aus, daß das Witzige im Wortwitz häufig in einem Widerspruch zwischen dem, was man erwartet oder sieht, und dem, was gesagt wird, besteht, dann darf man erwarten, daß auch in Witzen das Paradox eine wichtige Rolle spielt. Natürlich sind Witze ein beinahe unendliches Feld, und beinahe jeder Mensch kann dazu einen Beitrag leisten – selbst wenn einem auf Nachfrage oft gerade keiner einfällt. Eine kleine Auswahl möchte ich beisteuern. Es versteht sich, daß der Ursprung eines Witzes in der Regel nicht angebbar ist; sofern ich ihn an einer bestimmten Stelle gefunden habe und mich daran auch noch erinnere, gebe ich dem Autor gerne die Ehre. Andererseits sollte man es gerade bei Witzen mit der Zitierweise nicht ganz so verbissen sehen.
1. Auf die Frage, warum Mona Lisa wohl lächelt, erklärte ein Achtjähriger: »Eines Abends kam Herr Lisa von der Arbeit nach Haus und fragte sie: ›Nun, was hast du heute getan?‹ Und Mona Lisa lächelte und sagte: ›Stell dir vor, Leonardo ist gekommen und hat mich gemalt.‹“ [Paul Watzlawick: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? A.a.O., S. 26]
Die Ursache (von Mona Lisas berühmtem Lächeln auf da Vincis Gemälde) soll die Wirkung (des Gemaltwordenseins) sein.
2. Wie froh bin ich, daß ich Spinat nicht leiden kann; denn schmeckte er mir, dann würde ich ihn essen, und ich hasse das Zeug! [Paul Watzlawick, das.]
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Paradoxie im Witz
3. Ich habe einige unerschütterliche Grundsätze. Aber wenn die Ihnen nicht gefallen, habe ich auch noch ein paar andere. [Groucho Marx zugeschrieben; genaue Quelle mir unbekannt]
So unerschütterlich können die Grundsätze ja nicht sein, wenn auch noch eine Alternative zu ihnen angeboten wird. Dazu paßt ein Scherz von Hauck & Bauer: Drei Vorsätze fürs neue Jahr: Weniger Alkohol trinken, mehr Sport machen, nicht stur an Plänen festhalten. [Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 31.12.2021]
4. Mehr Käse, mehr Löcher. Mehr Löcher, weniger Käse. Mehr Käse, weniger Käse.
Je mehr Käse es gibt, desto weniger Käse gibt es – das ist das Paradoxon in einer Nußschale, zumindest als Witz. Eine Steigerung davon ist: If less is more, maybe nothing is everything. [Rem Koolhaas; https://de.wikipedia.org/wiki/Weniger_ist_mehr; aufgerufen am 8.10.2019] »Weniger wäre mehr« gibt es ja auch als Sprichwort.
5. Ein kniffligerer Witz als Paradox folgt hier, wobei ich der Rechenkunst des Lesers nicht durch eine Auflösung zu nahe treten will: Drei Reisende erreichen spät eine Herberge. Der Wirt gibt ihnen gemein sam sein letztes Zimmer und verlangt 30 €. Später fällt ihm ein, dass das Zimmer nur 25 € kostet. Er gibt seinem Diener 5 €, damit der sie den Reisenden zurückgibt. Der Diener zahlt aber nur je 1 € an jeden Reisen den aus. 2 € behält er für sich selbst. Nun haben die Reisenden je 9 € bezahlt. 2 € wurden unterschlagen. 3x9 € = 27 €. Plus 2 € = 29 €. 30 € wurden bezahlt. Wo ist der 1 € geblieben?
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Paradoxie im Witz
Ein im Vergleich geradezu plumper Trick ist dieser: Sie geben mir einen Kredit von 10000 Euro, von dem Sie mir nur 5000 Euro auszahlen. Dann schulden Sie mir noch 5000 Euro, und ich schulde Ihnen 5000 Euro. Also sind wir quitt.
Ein von mir unternommener Versuch bei der Sparkasse ist gescheitert.
6. Mit vollem Bewußtsein und mit einigem Recht sagte der am Zen geschulte Musiker John Cage (1912–1992): »Ich sage nichts. Und das sage ich.« [Hans Lenk: Kritik der kleinen Vernunft. Einführung in die jokologische Philosophie. Frankfurt/Main 1987, S. 37]
7. A: B: A: B:
»Essen Sie eine Bratwurst mit mir?« »Nein, ich esse kein Fleisch.« »Sind Sie Vegetarier?« »Nein, ich hasse es nur, Fleisch zu essen. Das einzige, was ich noch mehr hasse, als Fleisch zu essen, sind Vegetarier.« [Harry Rowohlt auf einer Lesung]
Was also unterscheidet einen Vegetarier von jemandem, der kein Fleisch ißt, ja das Fleischessen sogar haßt? Daß letzterer nicht nur Vegetarier ist, sondern sie auch noch haßt.
8. Ich habe sagen hören, Wagners Musik sei besser, als sie klingt. [Mark Twain: Meine geheime Autobiographie. A.a.O., S. 154] Das klingt doch nach einer interessanten Musik. Ohne noch zu wissen, wo ich es aufgeschnappt habe, kann ich von Mark Twain weiterhin zitieren: Der kälteste Winter, den ich jemals erlebt habe, war ein Sommer in San Francisco. Oft erwähnt wird auch (mit unterschiedlichen Zahlenangaben, daher etwas verdächtig): Mit dem Rauchen aufzuhören ist kinderleicht. Das habe ich schon hundertmal geschafft.
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Paradoxie im Witz
9. Man kann den Adelsstolz auch witzig formulieren und auf diese Weise ironisch brechen: In der römischen Adelsfamilie der Massimo wird die Anekdote erzählt, wie Kaiser Napoleon einen ihrer Ahnen gefragt habe, ob es stimme, daß diese Familie schon in römischer Zeit nachweisbar sei. Fürst Massimo erwiderte: »Kaiserliche Hoheit, das ist natürlich ein Gerücht; aber es hält sich beharrlich seit 2000 Jahren.« [Frei nach einem Bericht der Frankfurter Allgemeine vom 29.5.2013]
10. Die Kritik an politischen Zuständen klingt in witziger Form gleich weniger verbissen und unterhaltsamer: Wenn Sie mich bitten, die Lage der Türkei in einem Wort zusammenzufas sen, dann sage ich: »Gut.« Wenn Sie mich aber bitten die Lage der Türkei in zwei Worten zusammenzufassen, dann sage ich: »Nicht gut.« [Süleyman Demirel, zitiert nach: Frankfurter Allgemeine vom 12.10.2015]
Süleyman Demirel (1924–2015) war mehrfacher türkischer Minister präsident und von 1993 bis 2000 Staatspräsident, sodaß wir sehen: es handelte sich offenbar auch um eine Selbstkritik.
11. Der Kabarettist Olaf Schubert sagte 2016: »Mein Computer ist traurig, weil er keine Gefühle hat.« Da haben wir doch wenigstens Mitgefühl.
12. »Ob Homer überhaupt gelebt hat, ist unbekannt; daß er blind war, steht jedoch fest.« Dies ist als eine Kathederblüte des Historikers Johann Georg August Galletti (1750–1828) überliefert.
13. Mit den Eigentümlichkeiten des Dialekts spielt der folgende Witz. Eine sächsische Mutter möchte ihrem Sohn feines Hochdeutsch bei bringen und sagt: »Mei Guder, das heißt nicht heeßt, das heeßt heißt.«
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[Tom Pauls/Peter Ufer: Deutschland, deine Sachsen] Da wird das Kind verwirrt zurückbleiben.
14. Gehört habe ich einmal von einem Autofahrer, genervt von einem langsam vor ihm Fahrenden: »Wenn der nicht vor uns führe, könnte man meinen, der verfolgt uns.«
15. Wenn Du schon nichts machst, dann mach wenigstens etwas anderes. Dafür kann ich keine Quelle angeben, wohl aber mir so manche Situation denken, in der man es sagen möchte.
16. Ein User, der sich ues nannte, schrieb in einem Literaturforum: »Wenn du die Wahl hättest, was für ein Universum schüfest du?« – »In jedem Falle eines ohne alles.« [https://www.keinverlag.de/404030.text; aufgerufen am 5.9.2022] Damit wären viele Probleme gelöst.
17. An Niels Bohr und seinen schon erwähnten paradoxen Glauben an das glückbringende Hufeisen über der Tür erinnert der folgende Astrologie-Skeptiker: Ich glaube ohnehin nicht an die Sterne. Typisch Skorpion halt.
18. Fast dialektisch soll der Dialektiker Karl Marx auf seinem Sterbebett gesagt haben: »Letzte Worte sind etwas für die törichten Leute, die nicht genug zu sagen gehabt haben.« [Hans Halter (Hrsg.): Ich habe meine Sache hier getan. Leben und letzte Worte berühmter Frauen und Männer. Berlin 22007, S. 160] Das ist ein letztes Wort! Dabei spricht selbstverständlich jeder Mensch, der überhaupt einmal etwas gesagt hat, ein letztes Wort. Nur meint er es manchmal nicht so. Aber letzte Worte, die gar nicht die letzten sein sollten, hat wohl noch niemand gesammelt.
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Paradoxie im Witz
19. Was man anfängt, das sollte man auch zu Ende
So ist es! Hält man sich aber nicht immer dran.
20. Ich habe mich jetzt entschieden und sage: vielleicht. Diesen reizenden Kalenderspruch habe ich einmal gefunden, weiß jedoch nicht mehr, wo es war. Es paßt oft.
21. A: B: A:
»Ich schlafe.« »Sie schlafen doch gar nicht!« »Mit Ihnen rede ich nicht.« [https://www.albertmartin.de/altgriechisch/forum/?view=30 2#925; filix, aufgerufen am 18.8.2019]
Hier streift der Witz den Nonsens und paart sich mit Gereiztheit.
22. Für diejenigen, die sich in den feinen Unterschieden bei Alkoholika nicht auskennen, mag der folgende Hinweis hilfreich sein: Gin ist ein entfernter Stiefzwilling von Genever. [Kurt Tucholsky: Panter, Tiger & Co. Reinbek 1954, S. 79] Was das geschmacklich bedeutet, verrät Tucholsky freilich nicht.
23. Aus dem jüdischen Milieu stammen die beiden folgenden Witze: »Ein tolles Restaurant! Die haben sogar einen koscheren Schweinebraten. Ich weiß auch nicht, wie die das machen.« Und: »Diese beiden Frauen, das waren eineiige Cousinen. Wie ist das möglich?« – »Haben die Deutschen nicht an sowas gearbeitet?« [Billy Crystal in Der letzte Komödiant (1992)] Um im jüdischen Humor zu bleiben, bei dem man schwer um Woody Allen herumkommt: »Kleinmann, Sie sind völlig inkompetent.« – »Ich? Nein! Ich weiß gar nicht genug, um inkompetent zu sein!« [Schatten und Nebel (1991)]
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24. Auch Stan Laurel wußte den Witz des Paradoxons einzusetzen, etwa so: Wer auf meiner Beerdigung weint, mit dem rede ich nie wieder ein Wort! [Zitiert nach: Die komische Liebesgeschichte von »Dick & Doof« (2011)] Zu spielenden Kindern sagt er einmal: Wenn ihr schon laut seid, dann seid es wenigstens leise! [Das Kind in der Wanne / Glückliche Kindheit (1930)] In dem Film Die Gattenmörderin (1934), der als Ganzes eine Traumsequenz ist, sagt Stan Laurel: Ich habe geträumt, ich wäre wach, und als ich aufgewacht bin, habe ich gemerkt, daß ich geschlafen habe. Das erinnert an den berühmten Schmetterlingstraum des Zuangzhi: Einst träumte Dschuang Dschou, daß er ein Schmetterling sei, ein flattern der Schmetterling, der sich wohl und glücklich fühlte und nichts wußte von Dschuang Dschou. Plötzlich wachte er auf: da war er wieder wirklich und wahrhaftig Dschuang Dschou. Nun weiß ich nicht, ob Dschuang Dschou geträumt hat, daß er ein Schmetterling sei, oder ob der Schmetterling geträumt hat, daß er Dschuang Dschou sei, obwohl doch zwischen Dschuang Dschou und dem Schmetterling sicher ein Unterschied ist. So ist es mit der Wandlung der Dinge. [Dschuang Dsi: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. A.a.O., S. 52]
Ist nicht das einzige Kriterium zwischen Traum und Wachsein der Moment des Aufwachens? Rätselhaft und vollends paradox wird es, wenn man auch das Aufwachen träumt. Das kommt vor.
25. Über den SPD-Politiker Karl Lauterbach, der bekanntlich als etwas nervig gilt, geht innerhalb seiner Partei ein Witz um: Lauterbach trifft auf einen kleinen Jungen und fragt ihn: »Wie alt bist du, Kleiner?« »Acht Jahre«, erwidert der Junge. Darauf Lautertbach: »Acht Jahre? In deinem Alter war ich schon zwölf!« [Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 7.6.2020]
Die Paradoxie der Altklugheit könnte man dies nennen. Altkluge Menschen sehen das freilich als persönliche Auszeichnung, nicht als Paradox an.
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26. Der Komiker Rainer Pries alias Fips Asmussen (1938–2020) sagte einmal: Ich mache jetzt drei Diätkuren auf einmal – von einer wird man ja nicht satt. Schlank allerdings auch nicht.
27. Ein paradoxer Trost für Delinquenten ist der Galgen mit Blitzableiter. [Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher I, Heft L 550]
28. Kenner der Düsseldorfer Bierspezialität werden den sublimen Witz der Bestellung verstehen: Köbes, ein neues Alt! Für die Nicht-Kenner sei hinzugefügt, daß ein Köbes ein Kellner ist.
29. Immer wieder als Ausspruch von George Bernard Shaw (1856–1950) wird zitiert: Britannien und die Vereinigten Staaten sind zwei Länder, die eine gemeinsame Sprache trennt. Gehen wir davon aus, daß Shaw das tatsächlich irgendwo gesagt hat; zuzutrauen wäre es ihm.
30. Wenn sich die Stimmung verdüstert, kann man sagen: Meine gute Laune ist zunehmend abnehmend.
31. In dem Film Die Eule und das Kätzchen (1970, Regie: Herbert Ross) ist der folgende Dialog zu hören: [Barbara Streisand:] »Komisch, daß die Wörter nie das Gegenteil dessen bedeuten, was sie bedeuten.« [George Segal:] »Nein, das tun sie meistens nicht.«
Wenigstens, so muß man feststellen, tun sie es manchmal – was die Kommunikation schwierig genug macht.
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Paradoxie im Witz
32. Auf Konrad Adenauers Mahnung »Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos«, antworteten Kabarettisten: Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst. Das nennt man Galgenhumor.
33. Den bekannten Wiener Charme artikulierte einst Fritz Eckardt in der Tatort-Folge Wunschlos tot (1987): Besuchen ´S mich doch mal – bin eh ned da. Die Einladung als Ausladung.
34. Eine durch die Vermischung der Ebenen paradoxe Stimmungsbe schreibung stammt von Heinz Erhardt (1909–1979): Äußerlich bin ich ganz ruhig, aber innerlich schlage ich die Hände über dem Kopf zusam men.
35. In einem Spot mit den württembergischen Dialektfiguren Äffle und Pferdle begegnet uns dieser Dialog: Äffle: »Warum könnet bloß Menscha denka und mir Viecher net?« Pferdle: »Weil mir des net nötig hend.« [Frankfurter Allgemeine vom 25.7.2022]
Dafür, daß sie nicht denken können, denken sie schon recht pfiffig, die beiden Tiere.
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Resümee
Daß Paradoxien ein fester Bestandteil unseres Lebens sind, sehe ich durch die zahlreichen, verschiedenen Bereichen entnommenen Beispiele als nachgewiesen an. Es läßt sich bezweifeln, ob die Welt angemessen ohne Paradoxa beschrieben werden kann ... und ob wir dann die gleiche Freude an ihr hätten. Was bleibt, ist die Aufgabe, den Befund nach Typen zu gliedern. Wir haben da zunächst die absichtlich benutzten Paradoxien, die wir unterscheiden können in solche, die witzig gemeint sind, und solche die durch den Widerspruch unsere Aufmerksamkeit wecken sollen, aber auch solche, die auf paradoxe Verhältnisse aufmerksam machen wollen. Daneben stehen dann diejenigen Fälle, in denen dem Sprecher das Paradox unfreiwillig und unbewußt unterläuft; wird er darauf aufmerksam gemacht, erscheint es ihm (sofern es er nicht einfach leugnet) als Fehler, indem er der populären zweiwertigen Logik des Entweder-Oder verhaftet bleibt. Subjektiv mag es ein Fehler sein, doch aus anderer Perspektive hat der Sprecher vielleicht etwas über sein und unser Denken geäußert, das so falsch gar nicht ist. Es mag etwas über die tatsächliche Struktur seiner Beziehungen zu anderen Menschen sagen oder über unsere Tendenz, unsere Einstellung sehr flexibel – bis zum Paradox – an die jeweiligen Umstände anzupassen. Es ist ja ein bekanntes Phänomen, daß wir dazu neigen, ganz andere Grundsätze zu vertreten, wenn wir Erwartungen an andere Menschen haben, als die, die wir bevorzugen, wenn Erwartungen an uns selbst herangetragen werden. Moralphilosophen wie etwa Immanuel Kant sehen dies oft geradezu als Kriterium eines bösen Willens an: »Man soll Menschen in Not helfen«, wenn man selbst sich in Not befindet, ist eben ein Widerspruch zu »Jeder ist sich selbst der Nächste«, sobald das eigene Engagement gefragt ist. Ob das böse ist, können wir hier auf sich beruhen lassen; ein häufig auftretendes Phänomen ist es allemal. Und, von derselben Person mit Bezug auf dasselbe Thema (Hilfe für andere) geäußert, ist es ein Widerspruch, ist es paradox. In diesen Fällen, also in der moralischen Praxis, wird der Widerspruch
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Resümee
gerne geleugnet. Das tut seiner Alltäglichkeit keinen Abbruch – wir sind eben so. Wir sind Menschen, die mit Widersprüchen – gewollten wie ungewollten, bewußten und unbewußten – leben. Los werden wir sie nicht. Wir sollten es akzeptieren und, so meine ich, sogar als Teil unserer Existenz bejahen. Wie Walt Whitman (1819–1892) es in seinem Song of Myself schreibt: Do I contradict myself? Very well then. ... I contradict myself, I am large. ... I contain multitudes. Widersprech ich mir selbst? Nun gut, so widersprech ich mir selbst. (Ich bin weiträumig, enthalte Vielheit.) [Leaves of Grass – Song of Myself 51; Walt Whitman: Grashalme. Zürich 22019, S. 127]
Eine andere Frage ist die, ob es eine Grenze gibt für die Verwendung von Paradoxien und ob nicht bei einem inflationären Gebrauch das sinnvolle Gespräch dadurch bedroht ist, daß man Beliebiges sagen kann. Jedenfalls wird durch die Anerkennung von Paradoxien als verbreiteter und legitimer Bestandteil der Kommunikation diese komplizierter, als es bei einer strikte Orientierung an zweiwertiger Logik der Fall wäre. Interessanter, aber eben auch vielschichtiger und hintergründiger. Sollte es da eine Grenze geben, so bestünde sie nicht in einer Norm, an die sich alle Sprecher des Sprachspiels halten werden. Eher ist sie zu suchen in einer Empfehlung, an den Zweck des Gesprächs zu denken und sich bewußt zu machen, was ihn vereiteln kann. Wer auf ein Problem hinweisen, wer zum Nachdenken anregen oder zum Lachen bringen will, kann mit Paradoxien eine gute Wirkung erzielen; wer hingegen in einer Entscheidungssituation Eindeutigkeit und Klarheit erreichen will, bewirkt mit widersprüchlichen Aussagen eher das Gegenteil. Wer unbewußt und ohne Absicht paradox spricht, sorgt für ein ihm unerwünschtes Lachen, macht sich zum Gespött der Besserwisser: »Dummheit, die man bei andern sieht, / Wirkt meist erhebend aufs Gemüt.« [Wilhelm Busch: Reime und Sprüche] Da die wenigsten Menschen sich gerne lächerlich machen, kann man nur empfehlen, auf alles, was paradox ist, zu achten, ohne es deshalb gleich zu scheuen wie der Teufel das Weihwasser. Denn das erkannte, bewußt gemachte Paradox bereichert unser Verständnis der
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Resümee
Welt und unsere Möglichkeiten, über sie und unsere menschlichen Beziehungen zu kommunizieren. Das Paradoxe umgibt uns teils in wohltuender Weise (so wohltuend, wie Offenheit, Einsicht in Komplexität und Humor sein können), teils als ein Glatteis, auf dem wir leicht ausrutschen können.
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